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German Pages 468 [470] Year 2020
Gwendolin Lübbecke
Die Cité nationale de l’histoire de l’immigration im Palais de la Porte Dorée Transformationen eines Kolonialpalastes von der Exposition coloniale 1931 bis heute
Geschichte
Schriftenreihe des Deutsch-Französischen Historikerkomitees
Franz Steiner Verlag
17
Schriftenreihe des deutsch-französischen Historikerkomitees Herausgegeben im Auftrag des Vorstands des Deutsch-Französischen Komitees für die Erforschung der deutschen und französischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts von Catherine Maurer und Matthias Schulz Band 17
Gwendolin Lübbecke DIE CITÉ NATIONALE DE L'HISTOIRE DE L'IMMIGRATION IM PALAIS DE LA PORTE DORÉE Transformation eines Kolonialpalastes von der Exposition coloniale 1931 bis heute
Franz Steiner Verlag
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2020 Zugleich: Dissertation an der Universität Kassel, Fachbereich Gesellschaftswissenschaften Verfasserin: Gwendolin Lübbecke, Datum der Disputation: 11.01.2018 Layout und Herstellung durch den Verlag Satz: DTP + TEXT Eva Burri, Stuttgart Druck: Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-12779-0 (Print) ISBN 978-3-515-12780-6 (E-Book)
Meinen Eltern
Danksagung
Mein besonderer Dank gilt Herrn Prof. Dr. Dietmar Hüser vor allem für die Betreuung meiner Arbeit, aber auch für die vielen kleineren und größeren Inspirationen im und nach dem Studium sowie das in mich gesetzte Vertrauen. Ich danke zudem Herrn Prof. Dr. Jörg Requate sehr herzlich für die unkomplizierte Unterstützung und Betreuung meiner Arbeit, die sicherlich vor dem Hintergrund der damaligen Arbeitssituation nicht selbstverständlich waren. Ich danke dem CIERA für die Ermöglichung der Teilnahme an Tagungen und Workshops zur Museologie und/oder Immigration, in denen ich mein Thema vorstellen und in der Diskussion weiterentwickeln konnte. Ich danke auch dem Archiv des Musée du Quai Branly, das mir die Erarbeitung des ersten Teils der vorliegenden Arbeit ermöglicht hat. Zudem danke ich allen Personen, die sich bereitgefunden haben, durch persönliche Gespräche und Interviews meine Arbeit zu bereichern. Ich danke dem deutsch-französischen Historikerkomitee für die Aufnahme in ihre Schriftenreihe. Ich möchte zudem allen KollegInnen, FreundInnen und WegbegleiterInnen danken, die mich immer wieder auf unterschiedliche Weise – mit Beratung, Zuspruch, mit hilfreichen Anmerkungen oder auch einfach mit einem offenen Ohr – begleitet haben, und ohne die eine solche Arbeit für mich schlichtweg nicht denkbar gewesen wäre. Ein besonderer Dank gilt dabei meinen beiden ehemaligen KollegInnen Jürgen Dierkes und Dr. Clelia Caruso für eine freundschaftliche und sehr produktive Zusammenarbeit, dem ‚Lesekreis‘ (Prof. Dr. Frauke Heß, Prof. Dr. Norbert Kruse, Dr. Bernd Maubach, Prof. Dr. Tanja Wetzel) für eine ‚Fort- und Weiterbildung‘ abseits des normalen Universitätsbetriebs, allen KorrekturleserInnen – Dr. Clelia Caruso, Vanessa Dietz, Katharina Hirsch, Dr. Sandra Issel-Dombert, Katharina Keller-Grein, Ines Lübbecke, Dr. Bernd Maubach, Arno Westerhoff – wobei ich hier besonders Dr. Bernd Maubach danke, der sich umfassend bereit gefunden hat, meinen Text intensiv Korrektur zu lesen. Ich möchte aber auch ganz besonders meinen Eltern, meiner Schwester und meinem Bruder danken, die mich immer in allem unterstützt haben.
Inhalt
Danksagung Einleitung
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. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
1. Teil Von der Exposition coloniale internationale bis zur Schließung des Musée national des arts africains et océaniens 2003 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 1.2
1.2a 1.2b 1.3
1.3a 1.3b 1.3c
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Die ‚Exposition coloniale internationale‘ von 1931 und das Musée des Colonies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vom Musée permanent des Colonies zum Musée de la France d’outre-mer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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62 Die Anfänge: Gaston Palewski und Ary Leblond . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 Die Nachkriegszeit: Marcel Lucain . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Vom Musée de la France d’outre-mer zum Musée des arts africains et océaniens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
107 Theorie und Praxis der neuen Funktion als Musée des arts africains et océaniens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 Wiedergeburt und Ablehnung des eigenen kolonialen Erbes: Die Zerreißprobe des MAAO unter Henri Marchal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Höhepunkt vor dem Ende: ‚Star-Kuratoren‘ im MAAO . . . . . . . . . . . . . . . . . 159
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Inhalt
2. Teil Das Projekt der CNHI von 2003 bis 2016/17 2.1
2.1a 2.1b 2.1c 2.1d 2.2
2.2a 2.2a.a 2.2a.b 2.2a.c 2.2a.d 2.2b 2.2b.a 2.2b.b 2.2b.c 2.2b.d 2.3
2.3a 2.3b 2.3c 2.3d
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175
Vorläufer und Entstehung des Projekts eines Museums für Immigrationsgeschichte (1990er Jahre bis 2003) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
175 Zivilgesellschaftliche Akteure als Katalysatoren für eine öffentliche Thematisierung und Anerkennung der Immigrationsgeschichte in Frankreich und die AMHI (1992) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 Der Modellcharakter von ‚Toute la France‘ und anderen Ausstellungen. . . 190 Der Rapport von Driss El Yazami und Rémy Schwartz von 2001 . . . . . . . . . 218 Die politischen Rahmenbedingungen: Das Ende der ersten Amtszeit Jacques Chiracs und die Wiederwahl von 2002 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Planung und Umsetzung einer Cité de l’histoire de l’immigration (ab 2003/04 bis 2007) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
233 Die Lettre de Mission an Jacques Toubon und der Rapport von 2004 . . . . 233 Akteure und Planungsgruppen: Conseil scientifique (wiss. Beirat) und Forum des associations (Vereine) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Das Kolloquium ‚Leur histoire est notre histoire‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 Die ADRI als ‚zentrale‘ Trägerstruktur und die Rolle Jacques Toubons. . . . . . . 261 Der Rapport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 Die Umsetzung von 2004 bis 2007 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 Wahrnehmung durch die Akteure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Rezeption in der Presse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Aufkeimende Debatten: Erinnerungspolitik und die Lois mémorielles. Der Artikel 4 von 2005 zur positiven Rolle des Kolonialismus . . . . . . . . . . . . . . . 323 Die Eröffnung vor dem Hintergrund der Präsidentschaft Sarkozys: Debatten um nationale Identität und Immigration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 Entwicklung seit der Eröffnung 2007 bis heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 Von der CNHI zum MNHI – Wirkmacht und Wahrnehmung der Institution: Politischer Kontext, Selbstdarstellung, Imagekampagnen, Besucherzahlen und Rezeption durch die Besucher. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Die Dauerausstellung ‚Repères‘ und die Galerie des dons . . . . . . . . . . . . . . . 359 Die Ausstellung zur Vergangenheit des Palais de la Porte Dorée . . . . . . . . . 382 Wechselausstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 Schluss
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410
Abkürzungsverzeichnis
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424
Verzeichnis der geführten Interviews Bibliografie
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425
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Einleitung
Am 31. Januar 2003 berichtete die Neue Zürcher Zeitung unter dem Titel „Karneval der Kolonien“ von der Schließung des Pariser Museums für afrikanische und ozeanische Kunst (Musée des arts africains et océaniens, kurz MAAO).1 Es handelte sich um eines der großen nationalen Museen, das seit den 1960er Jahren die Kunst außereuropäischer Kulturen ausstellte. Es sollte einem neuen musealen Großprojekt, dem von Präsident Chirac erdachten Museum für die ‚Art premiers‘ am Quai Branly, weichen.2 Die Neue Zürcher Zeitung konstatierte in diesem Zusammenhang, dass „[…] wegen der Eitelkeit (eines) Präsidenten, (Frankreich) einen Ort (verliert), wo ein wichtiger und bei weitem nicht nur ruhmvoller Teil der nationalen Vergangenheit hätte aufgearbeitet werden können“3 – damit war, wie im Titel des Artikels angedeutet, die koloniale Vergangenheit Frankreichs gemeint. Schließlich war das MAAO4 im Palais de la Porte Dorée untergebracht, auch als Palais des Colonies bekannt. Er wurde 1931 im Rahmen der ersten internationalen Kolonialausstellung Frankreichs als erstes nationales Kolonialmuseum errichtet.5 Dieser Ort, der ursprünglich als nationales Kolonialmuseum erbaut wurde und bis heute existiert, steht im Zentrum dieser Arbeit. Aus heutiger Perspektive6 kann er als materieller ‚lieu de mémoire‘ (Erinnerungsort) des Empire gesehen werden, der über einen Zeitraum von ca. 70 Jahren hinweg erst als Kolonial- dann als Überseemuseum und schließlich als Museum für afrikanische und ozeanische Kunst genutzt wurde,
Vgl. Herzog, Samuel, Karneval der Kolonien, in: Neue Zürcher Zeitung (31.01.2003). S. 33. Vgl. Bordier, Julien, Jacques Chirac a „son“ musée, in: L’Express (20.06.2006). Herzog, Karneval der Kolonien, S. 33. Es werden jeweils die französischen Namen der Museen verwendet. Um die Lesbarkeit zu erhöhen, wird allerdings der deutsche Artikel ‚das‘ für ‚Musée‘ verwendet. In allen anderen Fällen wurde der deutsche Artikel dem französischen Genus des Nomens angepasst. 5 Vgl. u. a. Morton, Patricia, The Musée des Colonies at the Colonial Exposition, in: Art Bulletin Vol. 80, No. 2 ( June 1998). S. 357–377. 6 Der Untersuchungszeitraum erstreckt sich insgesamt von 1931 bis 2016/17. Darauf wird am Ende der Einleitung noch einmal eingegangen. Die neuesten Entwicklungen nach 2017 fallen aus dieser Studie heraus, werden aber in den betreffenden, relevanten Kapiteln in den Fußnoten aufgegriffen. 1 2 3 4
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Einleitung
bevor er in den 2000er Jahren zum Museum für die Geschichte der Immigration in Frankreich umgewidmet wurde. Diese verschiedenen institutionellen Schichten machen ihn zu einem relevanten Untersuchungsgegenstand: Sie zeigen, wie Frankreich gesellschaftlich, politisch und kulturell über verschiedene Museumstypen, die sich alle sukzessive an diesem Ort ausbildeten, mit dem Thema Kolonialismus umging und umgeht. Jede der genannten institutionellen Schichten steht dabei für ein verändertes Verhältnis und eine damit einhergehende veränderte museale Repräsentation der kolonialen Vergangenheit, des Kolonialreichs und des ‚kolonialen Anderen/Fremden‘,7 dem man sich als Metropole gegenübersah. Mit der neueren Entwicklung, die diesen Ort in das Projekt eines nationalen Immigrationsmuseums einband, änderte sich dies nicht: Nach wie vor bleibt die Verhandlung und Einbindung der kolonialen Vergangenheit des Palais de la Porte Dorée in die neue Struktur und Funktion als Immigrationsmuseum ein ambivalentes Thema, auch wenn dies vonseiten des Immigrationsmuseums selbst und der Akteure, die für die Planung und Umsetzung verantwortlich waren, nicht vorgesehen war. Mit dem heutigen Fokus auf Immigration wird sogar eine neue Dimension der Reflexion von kolonialer Vergangenheit eingebracht: Themen wie (post-)koloniale Einwanderung und Rassismus sorgen im Umfeld der Institution für eine verstärkte Präsenz von Debatten über zeitgenössische Einstellungen und Wahrnehmungen, die sich aus dem Kolonialismus speisen. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass die Umnutzung dieses vor allem mit der kolonialen Vergangenheit verbundenen Ortes als Immigrationsmuseum von vielen als problematisch gesehen wurde. Allen voran forderte Pascal Blanchard, im Sinne des vorherigen Zitats aus der Neuen Zürcher Zeitung, dass hier vorzugsweise ein Kolonialmuseum zur Aufarbeitung des ambivalenten historischen Kapitels französischer Nationalgeschichte untergebracht werden sollte.8 Er mahnte, die Verbindung der kolonialen Vergangenheit des Ortes mit dem Thema der Immigrationsgeschichte sei riskant. Aber nicht nur Blanchard, sondern auch große Teile weiterer Akteure rund um das Museum und seine Planung hatten Angst vor einer Reduzierung des Themas Immigration auf das der Kolonisation.9 Die Verbindung dieser beiden ‚thème d’histoire mal digéré‘ (schlecht verarbeitete Themen der Geschichte) zeichnet den Ort des Palais de la Porte Dorée daher aus heutiger Sicht in besonderem Maße aus und rechtfertigt seine Betrachtung als doppelten
Das Begriffspaar ‚Eigen – Fremd/Anders‘ wird im Laufe der Einleitung, im Kontext der Erläuterung des analytischen Bezugsrahmens der Arbeit, näher definiert. 8 Vgl. u. a. Blanchard, Pascal, Un musée pour la France coloniale, in: Libération (17.06.2000); Blanchard, Pascal, Musée des immigrations ou Musée des colonies?, in: L’Humanité (03.12.2003); Bancel, Nicolas / Blanchard, Pascal, Incompatibilité: la CNHI dans le sanctuaire du colonialisme français, in: hommes & migrations, Une collection en devenir, No. 1267 (mai-juin 2007), S. 112–127. 9 Vgl. u. a. Poinsot, Marie, Le rôle central de l’historien. Entretien avec Nancy L. Green, Gérard Noiriel, Janine Ponty, Marie-Christine Volovitch-Tavarès, in: hommes & migrations „Une collection en devenir“ No. 1267 (mai-juin 2007). S. 92–101. 7
Einleitung
‚Lieu de mémoire‘: Hier begegnen sich einerseits der historisch gewachsene Erinnerungsort des ‚glorreichen Empire‘ und andererseits der neu geschaffene, hier eingesetzte Erinnerungsort für die Geschichte und das Gedächtnis der Immigration in Frankreich. Ersterer ist über den Bau selbst, seine architektonische wie visuelle Gestaltung präsent, während letzterer vorrangig über Dauer- und Wechselausstellungen sowie das Programm der neuen Institution innerhalb des Gebäudes sichtbar wird. Im Anschluss an die beschriebene Gemengelage wird in dieser Arbeit die Frage danach gestellt, ob sich gesellschaftlich etablierte, öffentlichkeitswirksame, mit einem deutlich lesbaren Diskurs versehene Lieux de mémoire / Erinnerungsorte tatsächlich umdeuten lassen. Damit verbunden sind Fragen danach, inwiefern materielle Erinnerungsorte dauerhaft Träger bestimmter kollektiv geteilter, gesellschaftlich wirksamer Perspektiven auf die Welt, auf das ‚Fremde‘ und das ‚Eigene‘ sind und inwiefern sich konkret im Fall des Palais de la Porte Dorée ‚damals‘ gestiftete Diskurse und Wahrnehmungsmuster in Bezug auf das Empire und das ‚koloniale Fremde/Andere‘ und Diskurse und Wahrnehmung in Bezug auf die ‚fremden Immigranten‘ ‚heute‘ beeinflussen. Die verschiedenen Museen, die sich an diesem Ort sukzessive befanden, legen dabei die Frage nach ihren Funktionen in Bezug auf den kolonialen Diskurs nahe: Haben sie diesen fortwirken lassen oder haben sie versucht, ihn zu dekonstruieren? Im Hinblick auf das heute hier untergebrachte Museum für Immigration stellt sich die Frage nach den institutionellen Strategien, die genutzt werden, um mit den Verbindungen zwischen Kolonialismus und Immigration umzugehen.10 Wenn man die Geschichte des Palais seit 1931 sowie seine Umnutzung in den 2000er Jahren zusammennimmt und das genannte Fragen-Bündel einbezieht, führt dies zu vier Spannungsfeldern, die diesen Ort und seine Verwendung aus heutiger Sicht maßgeblich kennzeichnen: öffentlicher Umgang mit baulichen Lieux de mémoire der Kolonialzeit, erinnerungspolitischer Umgang mit der kolonialen Vergangenheit Frankreichs, museumspolitische Umwälzungen im Bereich der Museen für außereuropäische Kulturen ab den 1990er bzw. 2000er Jahren sowie aktuelle politische Debatten um das Thema Immigration und seine gesellschaftliche Repräsentation. Wie Robert Aldrich zeigt, hat das Empire in Frankreich eine relativ breite Spur von materiellen, baulichen Erinnerungsorten hinterlassen, die teilweise bis heute unverändert präsent und öffentlich zugänglich sind.11 Der Palais de la Porte Dorée nimmt
Tatsächlich scheint sich hier 2019/2020 ein erneuter Wandel abzuzeichnen. So wurde offenbar der Historiker Patrick Boucheron gebeten, eine neue Vision für die Dauerausstellung vorzustellen. In der Vorankündigung zu seinem Vortrag geht aus einem Zitat hervor, dass er beabsichtigt, stärker den Aspekt der kolonialen Vergangenheit einzubeziehen. Vgl. URL: https://www.histoire-immigration.fr/agenda/2020–01/ musee-national-de-l-histoire-de-l-immigration-faire-musee-d-une-histoire-commune utm_source=sendin blue&utm_campaign=Fvrier_2020&utm_medium=email (Zugriff 10.02.2020). 11 Vgl. Aldrich, Robert, Monuments et mémoires: les traces coloniales dans le paysage français, Paris 2011. Ein Beispiel hierfür ist die Skulptur, die gegenüber dem Palais de la Porte Dorée, am Eingang des Bois de Vincennes, zu Ehren von General Marchand zu sehen ist. Sie gedenkt der Expedition des Generals zum Nil, 10
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dabei aufgrund seiner Größe, seiner konkreten Gestaltung, seiner Einbindung in die Pariser Infrastruktur und seines Entstehungskontextes im Rahmen der Kolonialausstellung eine besondere Position ein. Er wurde als koloniale Propaganda gebaut, die den Franzosen ‚ihr‘ Kolonialreich näherbringen und bei ihnen ein ‚koloniales Bewusstsein‘ wecken sollte.12 Diese zukünftige Funktion spielte bereits bei seinem Bau eine wesentliche Rolle: Die Gestaltung des gesamten Bildprogramms des Palais wurde auf diese Zielsetzung hin ausgerichtet.13 Bis heute zieht sich hier das visuelle Narrativ des (wirtschaftlichen) Beitrags der Kolonien an Frankreich und umgekehrt die von Frankreich in den Kolonien vollbrachte zivilisatorische Leistung durch. In den 1930er Jahren wurde das Haus zwar offiziell zum Überseemuseum, behielt aber die ursprüngliche Funktion bei. Erst in den 1950er Jahren, im Rahmen der Dekolonisation, verlor es langsam seine Legitimation – doch dies führte nicht zu seiner Schließung oder seinem Abriss, wie es beispielsweise im Fall des Imperial Institute in London passierte,14 sondern es wurde weiterhin, nun als Museum für außereuropäische Kunst, genutzt.15 Seine Vergangenheit wurde vor diesem Hintergrund nicht weiter thematisiert. Vielmehr begriff man sich mit der neuen Funktion und dem neuen Namen des Museums für afrikanische und ozeanische Kunst als völlig getrennt von den ‚kolonialen‘ Vorgängern.16 Jedoch funktionierte diese Trennung in den Augen der Öffentlichkeit nur bedingt. So fand der Palais de la Porte Dorée beispielsweise in den Kanon der ‚Lieux de mémoire‘ von Pierre Nora Eingang, indem er im Kapitel zur Exposition coloniale genannt wurde, was die vorherige koloniale Funktion des Palais im kollektiven Gedächtnis betonte.17 Trotz aller Distanzierungs- und Abgrenzungsversuche ab den 1960er Jahren über eine Positionierung als Kunstmuseum trat das koloniale Erbe immer wieder in den Vordergrund und beeinflusste das Image des Museums. Diese Tatsache bewahrheitete sich auch für die zeitgenössisch hier untergebrachte Institution zur Anerkennung von Immigration: Nach einigen Jahren der Distanz zur kolonialen Vergangenheit entschied man sich nach 2010, eine explizite, dauerhafte Ausstellung zur Geschichte des die am Ende zur Faschoda-Krise geführt hat, in unverblümt propagandistischer Manier. Bis heute ist sie an diesem Ort zu sehen und wird nicht weiter kontextualisiert oder erklärt. 12 Vgl. Ageron, Charles-Robert, L’Exposition coloniale de 1931, in: Nora, Pierre (Hrsg.), Les Lieux de mémoire, Paris 1992. S. 561–591. S. 566 f. 13 Vgl. u. a. Jarrassé, Dominique, Le décor du palais des colonies: un sommet de l’art colonial, in: François, Dominique (Hrsg.), Le palais des Colonies. Histoire du Musée des Arts d’Afrique et d’Océanie, Paris 2002. S. 83–121, sowie Bouché, Catherine, Le décor peint du musée national des Arts africains et océaniens, in: La Revue du Louvre et des Musées de France No. 5/6 (1985). S. 402–407. 14 Vgl. Bremner, Alex G., „Some Imperial Institute“: Architecture, Symbolism, and the ideal of Empire in Late Victorian Britain, 1887–93, in: Journal of the Society of Architectural Historians, Vol. 62, No. 1 (2003), S. 50–73. S. 50. 15 Vgl. Taffin, Dominique, Les avatars du Musée des Arts d’Afriques et d’Océanie, in: François, Dominique (Hrsg.), Le palais des Colonies. Histoire du Musée des Arts d’Afrique et d’Océanie, Paris 2002. S. 179–220. 16 Vgl. u. a. die Stellungnahme des damaligen Chefkonservators des MAAO Henri Marchal: Marchal, Henri, L’avenir d’un musée, in: Histoire de l’Art No. 11 (1990). S. 87–89. S. 87. 17 Vgl. Ageron, L’Exposition coloniale de 1931, S. 561–591.
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Ortes zu realisieren.18 Die koloniale Prägung dieses Erinnerungsortes, die bis in seine konkrete visuelle Sprache hineinging, erwies sich damit durch die verschiedenen institutionellen Schichten hinweg als resistentes Element des Ortes. Dieser Aspekt ist eng mit dem zweiten Spannungsfeld, dem des erinnerungspolitischen Umgangs mit der kolonialen Vergangenheit, verknüpft. Wie bereits im Fall der Erinnerungsorte des Empire angedeutet, blieben koloniale Denkmäler im öffentlichen Raum oft auch deutlich nach der Dekolonisation und dem Verlust des Empire bestehen und wurden von offizieller Seite nicht in Frage gestellt. Es wurden sogar durchaus neue Denkmäler zu Ehren großer Kolonialherren errichtet, wie beispielsweise 1985 eine Statue für Maréchal Lyautey, den Generalgouverneur von Marokko.19 Das koloniale Erbe und sein ambivalenter Charakter spielten offensichtlich lange in der öffentlichen Debatte und in der Erinnerungspolitik keine Rolle. So sprechen auch Bancel und Blanchard für die Zeitpanne von 1962 bis 1992 von einer ‚Unsichtbarkeit‘ der kolonialen Vergangenheit, die in den 1990er Jahren erst über die vermehrte Thematisierung des Algerienkriegs langsam greifbar wurde.20 Diese lange Abwesenheit führte laut Bancel und Blanchard zu der These, dass eine ‚fracture coloniale‘ die französische Gesellschaft und Kultur durchziehe: Sie verweise auf den Fortbestand bestimmter stereotyper kolonialer Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster in der französischen Gesellschaft, die mangels Aufarbeitung dieser Vergangenheit weiter existierten und nicht hinterfragt würden.21 Dies hatte u. a. auch damit zu tun, dass die Kolonialgeschichte als gesellschaftswissenschaftliches Forschungsfeld in Frankreich zwar durchaus auf eine lange Tradition zurückblicken konnte, aber keinesfalls ein kohärentes Forschungsfeld darstellte: Ein großer Teil dieses Feldes blieb der klassischen Perspektive der Metropole als erfolgreicher Kolonialmacht und der ‚epopée coloniale‘ verhaftet.22 Studien, die beispielsweise außerhalb der Metropole von (nichtfranzösischen) Forschern aus alternativen Perspektiven verfasst wurden, blieben dünn gesät.23 Insbesondere die postkolonialen Studien entwickelten in Frankreich kein dem angloamerikanischen Raum vergleichbares Äquivalent. Zudem fehlte laut Catherine Coquery-Vidrovitch lange eine direkte Kommunikation zwischen Fachwissenschaft und Öffentlichkeit, die ein Vgl. u. a. die Planungen diesbezüglich in folgendem Jahresbericht: EP Porte Dorée (Hrsg.), Rapport d’activités de l’Etablissement Public de la PorteDorée (2012), URL: http://www.histoire-immigration.fr/sites/ default/files/musee- numerique/documents/rapport_activite_epppd_2012.pdf (Zugriff 24.07.2017). 19 Vgl. Bancel, Nicolas / Blanchard, Pascal, Colonisation: commémorations et mémoriaux. Conflictualité sociale et politique d’un enjeu mémoriel, in: dies. (u. a.) (Hrsg.), Ruptures postcoloniales, Paris 2010. S. 480–508. S. 493 f. 20 Vgl. ebd. S. 507. 21 Vgl. Bancel, Nicolas / Blanchard, Pascal / Lemaire, Sandrine, La fracture coloniale: une crise française, in: dies. (Hrsg.), La fracture coloniale: la société française au prisme de l’héritage colonial, Paris 2005. 9–30. S. 14 ff. 22 Vgl. Coquery-Vidrovitch, Catherine, Enjeux politiques de l’histoire coloniale, Paris 2009. S. 18. 23 Vgl. dazu die umfangreiche und differenzierte Darstellung zur Kolonialgeschichte als Forschungsfeld von Catherine Coquery-Vidrovitch: Coquery-Vidrovitch, Enjeux politiques de l’histoire coloniale. S. 18 ff. 18
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‚Sichtbarwerden‘ des Themas in der Gesellschaft ermöglicht hätte.24 Erst im Zuge der Aufarbeitung historischer ‚Tabuthemen‘ wie dem Vichy-Regime und dem Algerienkrieg fand auch eine zunehmende Thematisierung der kolonialen Vergangenheit und ihrer Folgen statt.25 In den 2000er Jahren kamen dann im Kontext der aufkommenden Debatte über die Folter im Algerienkrieg vermehrt Arbeiten heraus, die versuchten, die koloniale Vergangenheit Frankreichs umfassend zu verhandeln und Kolonialismus und Dekolonisation als Kontinuum zu denken.26 Der Algerienkrieg war auch auf erinnerungspolitischer Ebene ein wichtiger Katalysator zur offenen und kritischen Diskussion der kolonialen Vergangenheit insgesamt.27 Allerdings änderte sich diese Tendenz der erinnerungspolitischen Aufarbeitung und Anerkennung wieder mit der Übernahme der Präsidentschaft durch Nicolas Sarkozy. Bereits 2005 hatte es mit dem Artikel 4 von 2005 einen Vorgeschmack auf die nun folgende, staatlich geförderte ‚Nostalgie‘ in Sachen kolonialer Vergangenheit gegeben.28 Regte sich hier 2005 nach einem anfänglichen Zögern noch relativ starker Protest, wurde dieser angesichts dem von Sarkozy ab 2007 offen zur Agenda erklärten ‚non à la repentance‘ (‚Nein zur Reue!‘) in historischen Fragen weniger. Sarkozy machte unmissverständlich klar, dass er die Vergangenheit Frankreichs als Quelle des Stolzes und des nationalen Selbstbewusstseins begriff, inklusive der kolonialen Vergangenheit.29 Jede kritische Infragestellung der nationalen Geschichte wurde von ihm als Angriff auf die Nation und ihre Werte begriffen.30 Damit fiel die Umgestaltung und neue Verwendung des alten Kolonialpalastes in eine Phase der vermehrten Präsenz des Themas Kolonialismus an sich, wobei dies zunehmend zu einer durchaus breitenwirksamen, kollektiv geteilten, nostalgischen Verklärung des Themas geriet. Diese beiden Spannungsfelder kolonialer Vergangenheitsbewältigung Vgl. ebd. S. 53 ff. Vgl. u. a. Hüser, Dietmar, RAPublikanische Synthese. Eine französische Zeitgeschichte populärer Musik und politischer Kultur, Köln 2004. S. 1ff, sowie Hüser, Dietmar, Das Gestern im Heute. Zum Wandel französischer Geschichtspolitik und Erinnerungskultur, in: Kimmel, Adolf / Uterwedde, Hendrik (Hrsg.), Länderbericht Frankreich, Bonn 22005. S. 45–62. 26 Vgl. u. a. die Arbeiten: Blanchard, Pascal / Bancel, Nicolas, De l’indigène à l’immigré, Paris 1998; Blanchard / Bancel / Lemaire (Hrsg.), La fracture coloniale: la société française au prisme de l’héritage colonial; Blanchard, Pascal / Bancel, Nicolas, Culture post-coloniale 1961–2006, Paris 2005. 27 Vgl. Hüser, Dietmar, Quai Branly, Paris 7ème. Ein Algerienkriegsdenkmal und (k)ein Ende des Gedenkstreits?, in: Heinen, Armin / Hüser, Dietmar (Hrsg.), Tour de France, 2008. S. 479–488. 28 Vgl. Bancel / Blanchard, Colonisation: commémorations et mémoriaux. Conflictualité sociale et politique d’un enjeu mémoriel, S. 489 und Ebert, Alice, Frankreichs Umgang mit belasteter Vergangenheit – Die Debatten und Kontroversen um das „Kolonialismusgesetz“ von 2005, in: Hüser, Dietmar (Hrsg.), Frankreichs Empire schlägt zurück, Kassel 2010. S. 189–216. 29 Vgl. u. a.: Le discours de Dakar de Nicolas Sarkozy, in: Le Monde (09.11.2007), URL: http://www.le monde.fr/afrique/article/2007/11/09/le-discours-de-dakar_976786_3212.html (Zugriff 22.06.2017) sowie: Manceron, Gilles, Passé colonial: le propos inquiétants de Nicolas Sarkozy, (02.05.2007), URL: http://cvuh. blogspot.de/2007/05/passe-colonial-les-propos-inquietants.html (Zugriff 22.06.2017). 30 Vgl. Perrault, Guillaume, Colonies: Sarkozy contre „l’excès de repentance“, in: Le Figaro (12.12.2005) und Zitzmann, Marc, Grosse Nation, starke Identität, bereinigte Geschichte, in: Neue Zürcher Zeitung (01.06.2007). S. 26. 24 25
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führen in der vorliegenden Arbeit zu der These, dass der Prozess der Auswahl und der anschließende Umgang mit dem Ort des ‚Kolonialpalastes‘ im Kontext der Schaffung eines nationalen Immigrationsmuseums die noch nicht vollzogene gesamtgesellschaftliche Ver- und Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit in Frankreich spiegeln. Die mehrfach erwähnte Schließung des Museums für afrikanische und ozeanische Kunst und die damit einhergehende Verwandlung des Palais in ein Immigrationsmuseum hatten eine spezifische Ursache: die Umgestaltung der Pariser Museumslandschaft durch Jacques Chirac.31 Dies führt zum dritten Spannungsfeld, den museumspolitischen Umwälzungen der 1990er und 2000er Jahre im Bereich der Museen für außereuropäische Kulturen. Bereits 1995 hatte Chirac angekündigt, dass er ein neues Museum für die ‚Arts premiers‘ schaffen wolle und sie damit in den westlichen Kunstkanon integrieren möchte. Dahinter stand der Gedanke, über das Zugeständnis des ‚Kunst-Status‘ eine Aufwertung und Gleichberechtigung der betreffenden kulturellen Erzeugnisse und der jeweiligen Kulturen selbst zu erreichen.32 Aufgrund dieser Pläne wurde das Museum für afrikanische und ozeanische Kunst geschlossen – das neue chiracsche Museum, das in einem extra zu diesem Zweck entworfenen Bau an der Seine untergebracht werden sollte, würde sich aus der Sammlung des MAAO und der ethnologischen Abteilung des Musée de l’homme zusammensetzen.33 Damit wurden zwei museale ‚Urgesteine‘ der Repräsentation des ‚kolonialen außereuropäischen Fremden/Anderen‘ aufgelöst. Sie repräsentierten die koloniale Vergangenheit großer ethnologischer und anthropologischer Sammlungen sowie den Versuch, über die Präsentation der aus kolonialen Erwerbszusammenhängen stammenden Artefakte als ‚Kunst‘ eine Loslösung von der ambivalenten Vergangenheit zu erreichen. Trotz dieser Transformationsansätze, vor allem auf Seiten des MAAO, wurden beide Häuser in den 1990er Jahren als ‚überholt‘ und ‚verstaubt‘ empfunden.34 Daher beschloss die von Chirac betraute Kommission, dass man sie schließen müsse und ein neues museales Konzept für diese Artefakte finden müsse.35 Zwar würde am Ende Chiracs neues Musée du Quai Branly die Tradition des MAAO schlicht fortsetzen – es behielt den westlichhegemonialen Blick auf die ‚fremden‘ Kulturen bei und verstärkte die bisher schon praktizierte Methode, über Ästhetisierung eine vermeintliche Emanzipation leisten zu wollen, die aber eigentlich nur die Vereinnahmung durch die westliche Kultur beton-
Vgl. De L’Estoile, Benoît, Le goût des Autres. De l’Exposition coloniale aux Arts Premiers, Paris 22010. S. 10 ff. 32 Vgl. u. a. o. A. Jacques Chirac rend hommage aux „peuples humilités et méprisés“, in: Le Monde (21.06.2006). 33 Vgl. u. a. Brédy, Aude, Le musée de l’Homme en colère, in: L’Humanité (17.12.2001); Dargent, Françoise, La fin d’une époque porte Dorée, in: Le Figaro (1./2.02.2003). S. 23. 34 Vgl. Bericht der zuständigen Kommission ‚Friedmann‘: Friedmann, Jacques, Rapport de la commission ‚Arts premiers‘, Paris 1996. S. 4. Einsehbar unter: URL: http://www.ladocumentationfrancaise.fr/rapportspublics/974042200/index.shtml (Zugriff 22.08.2016). S. 5 ff. 35 Vgl. ebd. S. 25 ff. 31
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te.36 Aber institutionell wurde hier mit der bisherigen ethnologischen und künstlerischen Tradition der Repräsentation dieser fremden Kulturen gebrochen. Dieser Bruch war für den Palais deutlich größer als beispielsweise für das Musée de l’homme, das nach einigen Umbauten und einer Umgestaltung der Sammlung und Präsentation 2015 wieder unter seinem alten Namen öffnen konnte.37 Der Palais hingegen wurde einem völlig neuen Thema gewidmet, das nun auf einer anderen Ebene mit der Verhandlung des ‚Fremden‘ im Museum zu tun hatte. Das neue, hier untergebrachte Museum für die Geschichte der Immigration sollte helfen, die Wahrnehmung von Immigration in Frankreich zu verändern und vorgefertigte, weit verbreitete Stereotype in diesem Bereich zu dekonstruieren.38 Es ging hier also erneut darum, ‚Fremde‘ und ‚Fremdes‘ zu repräsentieren und den nationalen, französischen Blick hierauf zu steuern. Allerdings sollte nun das ‚migrantische Fremde‘ gleichsam in die Nation integriert werden. Daraus lässt sich die zweite These für diese Arbeit ableiten: Mit der Entscheidung, das MAAO zu schließen und wenig später das Immigrationsmuseum hier zu platzieren, wurde der Kolonialpalast Teil einer museumspolitischen Neubestimmung der Beziehung Frankreichs zum ‚kulturellen Anderen/Fremden‘. Zwei wesentliche Elemente dieser Neubestimmung waren hierbei die Aufwertung der ‚Arts premiers‘ und ihre Integration in den westlichen Kunstkanon sowie die Anerkennung des Beitrages von Immigration zur nationalen Konstruktion Frankreichs, der Integration von Immigrationsgeschichte in den Kanon der Nationalgeschichte. Die politische Entscheidung Chiracs, ein Immigrationsmuseum zu schaffen, war maßgeblich von der Präsidentschaftswahl 2002 abhängig. Dies führt zum vierten Spannungsfeld: den aktuellen politischen Debatten um Immigration. Die Initiative für ein Immigrationsmuseum entstand in Frankreich bereits Ende der 1980er Jahren und ging maßgeblich auf zivilgesellschaftliche Akteure zurück.39 Es handelte sich dabei meist um Akademiker, die sich mit Immigration befassten und feststellen mussten, dass trotz der gesamtgesellschaftlichen Bedeutung des Phänomens und seiner langen Tradition, Immigration in der öffentlichen Debatte oft eindimensional betrachtet, politisch ignoriert oder instrumentalisiert wurde.40 Noiriel, der als einer der ersten französischen Historiker gilt, die sich umfassend mit der französischen Immigrationsgeschichte befasst haben, konstatierte Anfang der 1980er Jahre, dass Immigration ein illegitimes For-
Vgl. dazu u. a. Clifford, James, Quai Branly in process, in: October Magazine 120 (Spring 2007). S. 3–23 und Martin, Alexandra, Quai Branly and the Aesthetic of Otherness, in: St. Andrews Journal of Art History and Museum Studies Vol. 15 (2011). S. 53–63. 37 Vgl. Robert, Martine, Le nouveau musée de l’Homme ouvre ses portes samedi, in: Les Echos (16.10.2015). 38 Vgl. Cité nationale de l’histoire de l’immigration, Dossier de presse 10 octobre 2007 Ouverture de la Cité nationale de l’histoire de l’immigration, S. 1. 39 Vgl. AMHI, Rapport de L’A ssociation pour un musée de l’histoire de l’immigration (AMHI), Paris (21.04.1992), Mediathek CNHI Cote 1B 900.075 CNH. 40 Vgl. Weil, Patrick, La France et ses étrangers, Paris 1991. S. 19 ff. 36
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schungsthema sei, das öffentlich weitestgehend ignoriert werde.41 So war er es denn auch, der eine der ersten großen Initiativen für ein nationales Immigrationsmuseum anstieß.42 Vor allem der parallele Erfolg des Front national in dieser Zeit, der sich einer klaren Stigmatisierung der Immigration als einem aktuellen, ahistorischen, sozialen Problem bediente, machte es notwendig, Immigration differenzierter zu betrachten. Das bedeutete in den Augen von Wissenschaftlern wie Noiriel vor allem Immigration als historisches Phänomen mit einer langen Tradition zu betrachten, das die französische Gesellschaft dauerhaft geprägt und beeinflusst hatte. Hierbei stand durchaus auch im Vordergrund, zu betonen, inwiefern Frankreich vom Beitrag und der Leistung der Immigranten profitierte, um der Stigmatisierung als Problem durch Parteien wie dem Front national entgegenzuwirken. Als es Jean-Marie Le Pen, der damalige Parteivorsitzende des Front national, 2002 in den zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen schaffte, schien dies umso relevanter.43 Kurz nach seiner Wiederwahl entschied sich Chirac, ein Zeichen gegen den Front national und seinen ausländerfeindlichen Diskurs zu setzen. Er wählte dafür das bereits mehrfach angeregte, aber nie umgesetzte Projekt eines nationalen Immigrationsmuseums aus.44 Es sollte offiziell, für alle sichtbar, das Phänomen der Immigration anerkennen und seinen Beitrag zur französischen Gesellschaft veranschaulichen. Immigrationsgeschichte sollte als Teil der nationalen Geschichte begriffen werden. Dieser neue politische ‚Wind‘ verhalf dem Projekt zur tatsächlichen Umsetzung. Doch zeigte der baldige politische Wechsel hin zu Sarkozy, wie fragil diese politische Unterstützung sein konnte. So schuf der neue Präsident kurz vor der Eröffnung des chiracschen Immigrationsmuseums eine von vielen Politikern und Akademikern als diesem diametral entgegengesetzt begriffene Institution: ein Ministerium für Immigration und nationale Identität.45 Besonders die Akteure, die das neue Immigrationsmuseum mit geplant und umgesetzt hatten, begriffen dies als Provokation: Nun sollte ein Ministerium bestimmen können, was nationale Identität Vgl. Noiriel, Gérard, L’Histoire de l’immigration en France. Note sur un enjeu, in: Actes de la recherche en sciences sociales, Vol. 54 (Septembre 1984). „Le savoir-voir“, S. 72–76, Noiriel, Gérard, L’immigration en France, une histoire en friche, in: Annales No. 4/41 (juillet-août 1986), S. 751–769 sowie Noiriel, Gérard, Le creuset français, Paris 1988. 42 Vgl. AMHI, Rapport de L’A ssociation pour un musée de l’histoire de l’immigration. 43 Vgl. Ritzenhofen, Medard, Der Schock als Chance, der Triumph als Trompe-l’Œil, in: Dokumente 3/2002, S. 6–14. 44 Vgl. El Yazami, Driss / Schwartz, Rémy, Avant-propos, in: dies. Rapport pour la création d’un Centre national de l’histoire et des cultures de l’immigration (22.11.2001). Dieser Bericht verweist auf die Tatsache, dass es bereits vor der Präsidentschaftswahl von 2002 eine Initiative von staatlicher Seite gab, ein Museum für Immigration umzusetzen. Damals wurden Driss El Yazami und Rémy Schwartz mit einer Vorstudie beauftragt. Im Kontext der anstehenden Wahlen wurde das Projekt jedoch fallengelassen. 45 Vgl. Décret no. 2007–999 du 31 mai 2007 relatif aux attributions du ministre de l’Immigration, de l’Intégration, de l’Identité nationale et du Codéveloppement, zit. nach Valluy, Jérôme, Quelles sont les origines du ministère de l’Identité nationale et de l’immigration?, in: Cultures & Conflits (en ligne) (69/2008) (mis en ligne le 16 juin 2008); URL: http://conflits.revues.org/10293;DOI:10.4000/conflits.10293. (Zugriff 08.09.2017), S. 8 f. 41
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bedeutete und wer zu ihr gehörte und wer nicht.46 Sarkozys exklusive Immigrationspolitik, die vor allem auf einer Erhöhung der Zahl der Ausweisungen, einer harten Bekämpfung illegaler Einwanderung, einer Erschwerung der Familienzusammenführung und der sogenannten ‚immigration choisie‘ bestand, schien die Botschaft des neuen Museums auszuhöhlen. Daran knüpft die dritte und letzte leitende These der Arbeit an: Der politische Umgang mit dem Museum, seine Abhängigkeit von dem jeweiligen aktuellen tagespolitischen Kurs der Regierung in Sachen Immigrationspolitik und die begrenzte Legitimität und Autonomie, die ihm dabei zugestanden werden, reflektieren das problematische Verhältnis Frankreichs zu seiner eigenen durch Immigration geprägten Geschichte und Identität. Das damit skizzierte Feld, in dem sich die Arbeit bewegt, knüpft an verschiedene Forschungsfelder an wie beispielsweise unterschiedliche Teilgebiete der Geschichtswissenschaft wie die Kolonialgeschichte, die postkolonialen Studien, die Immigrationsgeschichte sowie an Disziplinen wie die Museologie oder auch Teilgebiete der Ethnologie und der Anthropologie. Das Museum bleibt jedoch als Forschungsgegenstand der zentrale Orientierungspunkt: Es ist vermehrt bereits ab den 1980er Jahren in den Fokus des wissenschaftlichen Interesses verschiedener Disziplinen gerückt.47 In diesem Zuge entwickelten sich vor allem in den 1990er Jahren fachwissenschaftliche Arbeiten, die den kolonialen Ursprung von verschiedenen Sammlungspraktiken und Ausstellungs- sowie Museumstypen und ihrem Verbleib in der postkolonialen Ära thematisierten.48 Besonders in Frankreich waren Arbeiten, die den Verbleib ehemals kolonial geprägter musealer Institutionen in der Gegenwart in Frankreich untersuchen, bis in die 2000er Jahre deutlich seltener als beispielsweise im angloamerikanischen Raum. Für Frankreich entstehen erst im Zuge des umfassenden Wandels, der mit Mitte der 1990er Jahre in der französischen Museumslandschaft angebahnt und in den 2000er Jahren umgesetzt wird, entsprechende Arbeiten.49 Ein relativ frühes Beispiel für ein solches Herangehen bietet der Sammelband „Du Musée colonial au musée des cultu-
Vgl. u. a. Patrick Weil, Nancy Green, Gérard Noiriel, Patrick Simon, Vincent Viet, Marie-Christine Volovitch-Tavarès, Marie-Claude Blanc-Chaléard und Geneviève Dreyfus-Armand, Un amalgame inacceptable!, in: Le Monde (22.05.2007). 47 Vgl. Baur, Joachim, Museumsanalyse: Zur Einführung, in: ders. (Hrsg.), Museumsanalyse, Bielefeld 2009. S. 7–14. S. 7 f. Dies hatte u. a. mit der Ausbildung von Konzepten wie der ‚New Museology‘ im angloamerikanischen Raum zu tun oder dem Modell des Éco musée in Frankreich: Vgl. dazu: Korff, Gottfried, Die „Écomusées“ in Frankreich – eine neue Art die Alltagsgeschichte einzuholen, in: Eberspächer, Martina u. a. (Hrsg.), Museumsdinge deponieren – exponieren, Köln u. a. 22007. S. 75–84. 48 Beispiele sind hier: Karp, Ivan / Lavine, Steven D., Exhibiting cultures. The poetics and politics of museum display, Washington u. a. 1991 sowie Price, Sally, Primitive Kunst in zivilisierter Gesellschaft, Frankfurt/New York 1992, Barringer, Tim (Hrsg.), Colonialism and the object: empire, material culture and the museum, London (u. a.) 1998. 49 Ein frühes Beispiel, das sich vorrangig mit der Vergangenheit eines der großen ethnografischen Museen kolonialen Ursprungs beschäftigt, ist hier: Dias, Nélia, Le musée d’Ethnographie du Trocadéro 1878– 1908, Paris 1991. 46
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res du monde“, der vom MAAO selbst anlässlich eines Kolloquiums herausgegeben wurde.50 Anlass ist hier die absehbare Schließung des Hauses und die Neugründung des MQB. Die Autoren reflektieren hier den Typus des ‚kolonialen Museums‘ an sich sowie den Übergang dieser Häuser in die Phase der Dekolonisation und den Umgang mit indigenen Artefakten, Kunstobjekten. Neben dem MAAO selbst werden dabei verschiedene Kolonialmuseen wie das belgische Kongomuseum unter dem Aspekt der zeitgenössischen Transformationen in den Blick genommen. Dieser Band ist ein seltenes Beispiel für die Selbst-Befragung eines ehemaligen ‚Kolonialmuseums‘ anlässlich der bevorstehenden Veränderungen der französischen Museumslandschaft. Einen weiteren wichtigen und deutlich umfassenderen Beitrag in diesem Bereich leistete die Arbeit von Benoît de l’Estoile „Le Goût des autres“ von 2007 aus dem Bereich der Anthropologie.51 Seine Analyse geht, ebenso wie die vorliegende Arbeit, von der Exposition coloniale internationale aus und zieht dann über das Bild des kolonialen und außereuropäischen ‚Fremden‘ in verschiedenen Museen eine Kontinuitätslinie hin zum heutigen Musée du Quai Branly. De l’Estoile untersucht hier die Art und Weise, in der die Welt, vorrangig verstanden als außereuropäische Kulturen, in das Museum gebracht und hier vermittelt wurde. Er nimmt das in dieser Arbeit als für den Palais de la Porte Dorée wesentlich verstandene Spannungsfeld des museumspolitischen Wandels, der durch Chirac ausgelöst wurde, in den Blick.52 Ein weiteres zentrales Werk aus dem angloamerikanischen Raum, das den Wandel von kolonialen Institutionen aus den Perspektiven verschiedener Forschungsdisziplinen in den Blick nimmt, ist der Sammelband von Dominic Thomas „Museums in postcolonial Europe“, der die Entwicklung von Kolonialmuseen in Europa nach der Dekolonisation untersucht – hier dient vor allem der Artikel des australischen Historikers Robert Aldrich als Bezugspunkt.53 Aldrich untersucht in seinem Artikel vergleichend die Entwicklung verschiedener Kolonialmuseen in Westeuropa: das Kongomuseum in Tervuren, das Tropenmuseum in Amsterdam, das Imperial Institute in London sowie den Palais de la Porte Dorée in Paris. Dieser Ansatz ist insbesondere in Bezug auf
Vgl. Musée national des Arts d’Afrique et d’Océanie, Du musée colonial au musée des cultures du monde, Paris 2000. 51 Vgl. De L’Estoile, Le goût des Autres. De l’Exposition coloniale aux Arts Premiers. 52 Ein weiterer Sammelband, der hingegen stärker die Entwicklung französischer, ethnologischer Museen in den Blick nimmt, ist 2013 erschienen. Er nimmt ebenfalls die bei de l’Estoile untersuchten Veränderungen der Pariser Museumslandschaft in den Blick: Mazé, Camille (u. a.) (Hrsg.), Les Musées d’ethnologie, Lassay-les-Châteaux 2013. Ein deutschsprachiges Beispiel versucht die aktuellen Rückwirkungen kolonialer Vergangenheiten zu beleuchten: Kazeem, Belinda (u. a.) (Hrsg.), Das Unbehagen im Museum, Wien 2009. Eine weitere Monografie wurde von Maureen Murphy verfasst, die allerdings nicht die Repräsentation des Fremden als Fixpunkt wählt, sondern die Schaffung der Kategorie ‚Afrikanische Kunst‘ und den musealen Umgang damit in Paris und New York: Murphy, Maureen, De l’imaginaire au musée – Les arts d’Afrique à Paris et à New York (1931–2006), Saint-Etienne 2009. 53 Vgl. Aldrich, Robert, Colonial museums in postcolonial Europe, in: Thomas, Dominic (Hrsg.), Museums in postcolonial Europe, London 2009. S. 12–31. 50
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diesen letztgenannten Ort, der den Fokus der vorliegenden Arbeit bildet, neu.54 Im Falle des Palais wurde die Kontinuität bestimmter kolonial geprägter Wahrnehmungsund Repräsentationsmuster bisher kaum untersucht. Es existieren einige wenige Gesamtdarstellungen zur Geschichte des Palais bis 2003: Emblematisch ist hier der von Dominique François herausgegebene Sammelband „Le Palais des Colonies. Histoire du Musée des Arts d’Afrique et d’Océanie“, der anlässlich der Schließung des MAAO 2003 herausgegeben wurde und den Ort primär als Denkmal, als Erinnerungsort in seiner Geschichte kontextualisiert.55 Diese Geschichte wird mit seiner Schließung 2003 als abgeschlossen betrachtet. Ähnlich verfährt Maureen Murphy, die eine kurze Darstellung zur Geschichte des Palais anlässlich seiner Wiedereröffnung als Immigrationsmuseum publiziert hat: Für sie sind die Geschichte des Palais vor und nach 2003 als getrennt zu betrachten.56 Eine Ausnahme bildet nur der Beitrag von Monjaret und Roustan aus dem Sammelband „Les musées d’ethnologie“ von 2013, der sehr allgemein versucht, über den roten Faden des Gebäudes eine Kontinuität von 1931 bis heute herzustellen.57 Die konkrete Geschichte des Palais von den 1930er Jahren bis in die 1960er geriet insgesamt also selten in den Blick der Forschung. Der breitere Bezugsrahmen dieser Phase, der sich auf die allgemeine gesellschaftliche Wahrnehmung des Empire, seine Rolle und Funktion im Alltag der Franzosen, die Vermittlung des Empire in Welt- und Kolonialausstellungen etc. bezieht, wurde vor allem in der Geschichtswissenschaft mittlerweile breit rezipiert.58 Hier sind die Arbeiten von Nicolas Bancel, Pascal Blanchard und Sandrine Lemaire wichtige Orientierungspunkte für die vorliegende Arbeit.59 Insbesondere ihre These von der Präsenz eines
Aldrich äußerte sich auch explizit zu dieser Umwandlung: Vgl. Aldrich, Robert, Le musée colonial impossible, in: Bancel, Nicolas / Blanchard, Pascal (Hrsg.), Culture post-coloniale 1961–2006, Paris 2005. S. 83–102. 55 Vgl. François, Dominique (Hrsg.), Le palais des Colonies. Histoire du Musée des Arts d’Afrique et d’Océanie, Paris 2002. 56 Vgl. Murphy, Maureen, Un palais pour une cité: Du musée des Colonies à la Cité Nationale de l’Histoire de l’Immigration, Paris 2007; darüber hinaus hat Murphy weitere Artikel zur Geschichte des Palais und seiner heutigen Umnutzung publiziert: Murphy, Maureen, Un lieu de mémoire pour une cité d’histoire, in: Museum international, Le patrimoine culturel des Migrants, Nr. 233/234 (2007). S. 67–73; Murphy, Maureen, Le CNHI au Palais de la Porte Dorée, in: hommes & migrations, Une collection en devenir, No. 1267 (mai-juin 2007), S. 44–55. 57 Vgl. Monjaret, Anne / Roustan, Mélanie, La repatrimonialisation du Palais de la porte dorée: du musée des Colonies à la Cité nationale de l’histoire de l’immigration, in: Mazé, Camille / Poulard, Frédéric / Ventura, Christelle (Hrsg.), Les Musées d’ethnologie, Lassay-les-Châteaux 2013. S. 101–126. 58 Einige Beispiele sind hier: Grewe, Cordula (Hrsg.), Die Schau des Fremden, Stuttgart 2006; Edwards, Elizabeth / Gosden, Chris / Philipps, Ruth B. (Hrsg.), Sensible objects. Colonialism, Museums and Material culture, Oxford/New York 2006; Demeulenaere-Douyère, Christiane, Exotiques expositions … Les expositions universelles et les cultures extra-européennes. France, 1855–1937, Paris 2010; Boëtsch, Gilles / Blanchard, Pascal / Bancel, Nicolas / Lemaire, Sandrine / Deroo, Éric (Hrsg.), Zoos humains et exhibitions coloniales: 150 ans d’inventions de l’Autre, Paris 2011. 59 Vgl. u. a. Blanchard, Pascal / Lemaire, Sandrine (Hrsg.), Culture coloniale. La France conquise par son empire, 1871–1931, Paris 2003; Blanchard, Pascal / Bancel, Nicolas / Vergès, Françoise, La République colo54
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‚kolonialen Habitus‘ in der Zwischenkriegszeit ist für die Darstellung der Entwicklung des Palais von 1931 bis in die 1950er/60er Jahre wesentlich.60 Zudem findet sich in ihren Arbeiten die bereits erwähnte These der ‚fracture coloniale‘, die es erlaubt, koloniale Wahrnehmungen und Verhaltensmuster in Kontinuität zu heutigen Rassismen und Diskriminierungen zu denken.61 Die gleichsam in der vorliegenden Arbeit als Grundlage verstandene Darstellung des Empire in der Kolonialausstellung von 1931 ist dabei ein gut rezipiertes Thema. Sie taucht nicht nur häufig als ‚Nebenschauplatz‘ in Handbüchern zur Kolonialgeschichte der Dritten Republik, insbesondere der Zwischenkriegszeit, auf,62 sondern wird durchaus auch als Hauptthema verhandelt, wie es in der emblematischen Monografie von Pierre Michel und Catherine Hodeir „L’exposition coloniale de 1931“ von 2011 der Fall ist.63 Die Autoren untersuchen hier umfassend den politischen Kontext, die Planung und Umsetzung der Ausstellung sowie ihre konkrete Struktur, Ausgestaltung und die hier verwendeten Motive und Narrative zur Vermittlung des Empire in der Metropole. Für die Entwicklungen des Palais zwischen 1931 und 2003 gibt es kaum Bezugspunkte in der Sekundärliteratur.64 Weder seine Umwandlung in das nationale Überseemuseum noch die viel umfassendere Umwandlung in das Museum für afrikanische und ozeanische Kunst (MAAO) haben zu Studien geführt. Jedoch wird das MAAO in Arbeiten zur Verhandlung und Repräsentation von außereuropäischer, häufig afrikanischer Kunst und Kulturgegenstände als Beispiel herangezogen: So untersucht Daniel J. Sherman in seiner Monografie „French Primitivisme and the ends of Empire“ vorrangig den Charakter der Institution in den 50er Jahren und ihren Übergang zum Kunstmuseum,65 während Joëlle Busca in seiner Monografie „L’Art contemporain africain: du colonialisme au postcolonialisme“ das MAAO zu einem sehr viel späteren Zeitpunkt, den 1990er Jahren, als Beispiel des Umgangs mit
niale: essai sur une utopie, Paris 2003; Blanchard, Pascal / Lemaire, Sandrine (Hrsg.), Culture Impériale. Les colonies au cœur de la République, 1931–1961, Paris 2004. 60 Vgl. Blanchard, Pascal / Lemaire, Sandrine, Avant-propos. La constitution d’une culture coloniale en France, in: dies. (Hrsg.), Culture coloniale 1871–1931. La France conquise par son Empire, Paris 2003. S. 5–39. 61 Vgl. Bancel/Blanchard/Lemaire, La fracture coloniale: une crise française, S. 14 ff. 62 Vgl. u. a. Rioux, Jean Pierre, 1931. L’Empire s’expose, in: ders. (Hrsg.), Dictionnaire de la France coloniale, Paris 2007, S. 61–65; Rioux, Jean-Pierre, Le France coloniale. Sans fard ni déni, Bruxelles 2011; Coquery-Vidrovitch, Catherine, L’apogée. L’Exposition coloniale internationale, in: Thobie, Jacques (u. a.) (Hrsg.), Histoire de la France coloniale 1914–1990, Paris 1990, S. 213–225; sowie Aldrich, Robert, Greater France. A History of French overseas expansion, London u. a. 1996. S. 260 ff. 63 Vgl. Hodeir, Catherine / Michel, Pierre, L’exposition coloniale de 1931, Paris 2011. 64 Einige wenige Ansatzpunkte bilden in diesem Bereich unveröffentlichte Abschlussarbeiten, die an der École du Louvre eingereicht und in der Folge archiviert wurden: Vgl. Frapier, Magali, Pierre Meauzé et l’élaboration de la section „Arts Africains“ au Musée des Arts Africains et Océaniens, Monographie de Museologie, École du Louvre, Paris 1995–1996, Côte Br 4° 8736 sowie Martin, Angèle / Blind, Camille-Frédérique, Les sources du musée de la France d’outre-mer (1931–1960), Année scolaire 1996/97, Annexes 0–2. Bibliothèque de l’Ecole du Louvre, Cote: Br 4° 19696 ; Br 4° 19697; Br 4° 19698. 65 Vgl. Sherman, Daniel J., French Primitivism and the ends of Empire, Chicago/London 2011.
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zeitgenössischer afrikanischer Kunst heranzieht.66 Erst die Schließung des MAAO rief ein größeres Interesse vonseiten der Forschung hervor, diesmal aus dem Bereich der Soziologie: Es wurde neben mehreren Beiträgen in Fachzeitschriften der Sammelband „MAAO. Mémoires“ publiziert, der das Erbe dieses Museums dokumentieren und ihn als Erinnerungsort erfassen sollte.67 Die Arbeiten, die sich schwerpunktmäßig mit dem zeitgenössischen Immigrationsmuseum befassen, nehmen die koloniale Vergangenheit des Ortes durchweg mit in den Blick, in der Regel aber als Nebenschauplatz. Lediglich Mary Stevens, die ihre Arbeit „Re-membering the nation“ auf einer umfassenden Feldbeobachtung während der Planungsphase des Immigrationsmuseums 2005/06 aufbaute, widmet dem Umgang mit dem Thema Kolonialismus einen größeren Abschnitt und stellt hier die institutionelle Marginalisierung des Themas Kolonialismus heraus – es stellt aber nicht den Untersuchungsfokus ihrer Arbeit dar.68 Zwei weitere neuere Arbeiten aus dem deutschsprachigen Raum widmen sich zentral dem Projekt des Immigrationsmuseums an sich: Es handelt sich einerseits um die Arbeit von Nadine Pippel „Museen kultureller Vielfalt. Diskussion und Repräsentation französischer Identität seit 1980“ von 2013 und andererseits um die Arbeit von Patricia Deuser „Grenzverläufe – Migration, Museum und das Politische“ von 2016.69 Beide Arbeiten gehen vergleichend vor und beziehen die Untersuchung des Falls der CNHI auf jeweils ein anderes Museumsmodell: Pippel zieht das erwähnte Musée du Quai Branly heran und arbeitet anhand des Vergleichs heraus, inwiefern die beiden Häuser für ein jeweils unterschiedliches Verständnis von Universalität und Diversität stehen – zwei Begriffe, die laut Pippel die französische Nationalidentität maßgeblich bestimmen. Deuser hingegen zieht das berühmte amerikanische Modell eines Immigrationsmuseums, ‚Ellis Island‘, das auch für das französische Immigrationsmuseum als Inspiration diente, heran. Sie untersucht bei beiden Häusern ihre Genese sowie deren Verhältnis zum jeweiligen Publikum und die verwendeten Ausstellungsnarrative. Dabei bedienen sich beide Arbeiten hauptsächlich der Methode der Diskursanalyse, um vorrangig die Dauerausstellung der CNHI bzw. der Wechselausstellungen und Teile des erweiterten Museumsprogramms zu untersuchen. Das Thema des Kolonialismus und die koloniale Vergangenheit stellen nur Vgl. Busca, Joëlle, L’Art contemporain africain: du colonialisme au postcolonialisme, Paris 2000. Vgl. Plossu, Bernard / Eidelman, Jacqueline / Monjaret, Anne / Roustan, Mélanie (Hrsg.), MAAO. Mémoires, Paris 2002. Vgl. u. a. auch Rault, Wilfried / Roustan, Mélanie, Du MAAO au Musée du Quai Branly: le Point de vue des publics sur une mutation culturelle, in: Culture & Musées No. 6. S. 65–83; Eidelman, Jaqueline / Monjaret, Anne / Roustan, Mélanie, MAAO, mémoire d’une organisation, in: Culture & Musées No. 2 (2003). S. 101–127; Monjaret, Anne (u. a.), Fin du MAAO: un patrimoine revisité, in: Ethnologie française Vol. 35 (2005/4). S. 605–616. 68 Vgl. Stevens, Mary, Remembering the Nation: The project for the Cité nationale de l’histoire de l’immigration, unveröffentlichte Diss., Mediathek CNHI, Cote 1B 900.075 STE. 69 Vgl. Pippel, Nadine, Museen kultureller Vielfalt. Diskussion und Repräsentation französischer Identität seit 1980, Bielefeld 2013 und Deuser, Patricia, Grenzverläufe – Migration, Museum und das Politische, Berlin (u. a.) 2016. 66 67
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Teilaspekte dar. Die Wahl einer Vergleichsperspektive wird in der Forschung offenbar vor allem im Hinblick auf die beiden innerfranzösischen Museumsneugründungen CNHI und MQB als fruchtbar begriffen: So wählt auch Maryse Fauvel in ihrer Monografie „Exposer l’„Autre“. Essai sur la Cité nationale de l’histoire de l’immigration et le Musée du quai Branly“ einen solchen Ansatz.70 Auch sie geht primär diskursanalytisch vor und stellt ihre vergleichende Analyse der beiden Häuser unter den von De L’Estoile gelieferten Ansatz der Erfassung der Repräsentation des ‚Fremden‘ in diesen beiden Museen. Sie liefert mit dieser Arbeit einige Ansätze und Kategorien, die für die vorliegende Arbeit fruchtbar gemacht werden konnten. Diese Arbeiten sind vor dem Hintergrund zu betrachten, dass vergleichende Ansätze im Bereich der Untersuchung von Immigrationsmuseen an sich recht weit verbreitet sind. Im deutschsprachigen Raum ist dabei, wie auch die Arbeiten von Pippel und Deuser erkennen lassen, vor allem die Arbeit von Joachim Baur „Die Musealisierung der Migration. Einwanderungsmuseen und die Inszenierung der multikulturellen Nation“ von 2009 als Bezugspunkt maßgeblich.71 Baur untersuchte hier vergleichend drei Immigrationsmuseen: Ellis Island in den USA, Pier 21 in Kanada und das Immigrationsmuseum in Melbourne, Australien. Für ihn waren die Kategorien der ‚politics‘ und der ‚poetics‘ dieser Museen zentrale Analyseinstrumente, die auch als Konzepte in diese Arbeit eingeflossen sind. Für die internationale Forschung zu Immigrationsmuseen stellt Laurence Gouriévidis in dem Sammelband „Museums and Migration. History, Memory and Politics“ von 2014 fest, dass diese schon lange kein „Non-Lieu-de-mémoire“ mehr seien.72 Sie begründet dies vor allem mit dem (Wieder-) Erstarken des politischen Glaubens an Museen als Akteure von sozialem Wandel – so liege das Interesse an Immigrationsmuseen auch und vor allem in ihrem Potenzial als Vermittler zwischen dem Phänomen Immigration und den jeweiligen Gesellschaften begründet. Aus dieser kurzen Darstellung des Forschungsstandes zu den einzelnen Teilaspekten des Themas dieser Arbeit lässt sich bereits erkennen, dass ein gewisses Ungleichgewicht in der Literaturgrundlage herrscht: Während der Ausgangspunkt der Arbeit, die Kolonialausstellung von 1931 sowie der größere Bezugsrahmen der Repräsentation und Wahrnehmung des Empire in der Metropole in der Zwischenkriegszeit, relativ breit rezipiert wurden, kann für die Entwicklung des Ortes nach 1931 bis in die 1990er Jahre nur auf eine relativ dünne Literaturgrundlage zurückgegriffen werden. Diese beschäftigt sich dann meist mit dem Palais als Teilaspekt, beispielsweise der Biografie
Vgl. Fauvel, Maryse, Exposer l’„autre“. Essai sur la Cité nationale de l’histoire de l’immigration et le Musée du Quai Branly, Paris 2014. 71 Vgl. Baur, Joachim, Die Musealisierung der Migration: Einwanderungsmuseen und die Inszenierung der multikulturellen Nation, Bielefeld 2009. 72 Vgl. Gouriévidis, Laurence, Representing migration in museums: history, diversity and the politics of memory, in: dies. (Hrsg.), Museums and Migration. History, Memory and Politics, London u. a. 2014. S. 1–23. 70
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eines bekannteren, hier tätig gewesenen Kurators,73 oder es dient als exemplarisches Beispiel für den Umgang mit außereuropäischen Kulturen und ihren Erzeugnissen.74 Die Phase der Umwandlung in ein Immigrationsmuseum ist hingegen mittlerweile in unterschiedlichen Arbeiten aus dem Blickwinkel verschiedener Fachdisziplinen in Frankreich, Deutschland, aber auch den USA rezipiert worden, wie die Arbeiten von Fauvel, Pippel, Deuser und Stevens zeigen.75 Dies ist vor dem Hintergrund des allgemeinen Trends zur vermehrten internationalen Untersuchung von Immigrationsmuseen zu erklären.76 Die vorliegende Arbeit macht es sich zur Aufgabe, im Gegensatz zu den bisher vorliegenden Arbeiten, die Geschichte des ‚Kolonialpalastes‘ seit 1931 über seine sukzessive Umwandlung in ein Übersee- und dann in ein Kunstmuseum bis hin zu seiner heutigen Nutzung als Immigrationsmuseum als Kontinuität zu betrachten. Damit soll gezielt die bisher übliche Darstellung der kolonialen Vergangenheit des Palais als abgeschlossen und damit für die heutige, neue Institution irrelevant, modifiziert werden. Diese avisierte Gesamtschau der Geschichte dieses konkreten Ortes soll es möglich machen, Aussagen über das Fortwirken kolonialer Denk- und Wahrnehmungsmuster in der zeitgenössischen Aneignung und Wahrnehmung des ‚Fremden‘, verkörpert durch die Figur des Immigranten, zu machen. Insbesondere Wonisch betont diesen Zusammenhang als relevant für jegliches Immigrationsmuseum: […] [B]ei der musealen Repräsentation von Migrationsgeschichten [ist] zu bedenken, dass dem Format Museum – auch wenn Ausstellungen im Zeichen von Emanzipation oder sozialer und kultureller Anerkennung konzipiert werden – ein kolonialer Gedanke zutiefst eingeschrieben ist und daher die Gefahr besteht, Migranten gewissermaßen einer erneuten Kolonialisierung zu unterwerfen. Daran ändern auch die Forderungen nach Par-
Vgl. Fournier, Catherine, Marius-Ary Leblond, Écrivains et critiques d’art, Paris 2001. Vgl. die Arbeiten von Busca und Sherman. Hierzu sind auch die Beiträge der Historikerin Marie-Claude Blanc-Chaléard, die in verschiedenen historischen Fachzeitschriften publiziert wurden, zu zählen: Blanc-Chaléard, Marie-Claude, Du „non-lieu“ de mémoire à la „CNHI“, in: Diasporas, Migrations en mémoire, No. 6 (1/2005); Blanc-Chaléard, MarieClaude, Une Cité nationale pour l’histoire de l’immigration. Genèse, enjeux, obstacles, in: Vingième siècle No. 92 (2006/4). S. 131–140. 76 Dieses vermehrte Interesse zeigt sich auch an der Präsenz der CNHI als Thema in verschiedenen Fachzeitschriften wie beispielsweise die kontinuierlichen Veröffentlichungen von Beiträgen zur CNHI in der Zeitschrift hommes & migrations, die mittlerweile selbst vom Museum herausgegeben wird. Neben den Themenausgaben, die sich explizit dem Museum widmen: Vers un lieu de mémoire de l’immigration (2004), Une collection en devenir (2007), La Cité nationale de l’histoire de l’immigration – Quels publics? (2007), finden sich auch in weiteren Ausgaben immer wieder Beiträge, die einzelne Aspekte des Museums und seiner Entstehung beleuchten. Hinzu kommen einige Sonderausgaben von einschlägigen Fachzeitschriften, die sich dem Thema der Immigrationsmuseen bzw. der Darstellung der Immigration im Museum widmen und in diesem Rahmen auch Beiträge zur CNHI präsentieren, so die Zeitschrift der ICOM Museum international oder die Zeitschrift l’Ethnologie française. Weitere Beiträge stammen aus der Zeitschrift, die von der Institution Génériques herausgegeben wird: Migrances. Hier wurde beispielsweise 2001 ein Band explizit zur Schaffung eines Immigrationsmuseums in Frankreich herausgegeben: Rapport pour la création d’un centre national de l’histoire et des cultures de l’immigration. 73 74 75
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tizipation oder aktiver Beteiligung nichts, solange das Museum seiner Struktur nach konventionell, also als repräsentative Institution angelegt ist.77
Für die vorliegende Arbeit ist daher das Museum als Repräsentant kolonialer Hierarchien, Denkweisen und Wahrnehmungen ein wichtiger Ausgangspunkt. Für den analytischen Bezugsrahmen bedeutet dies, dass das Museum als Quelle begriffen wird, die Aufschluss über die Denk- und Wahrnehmungsmuster der jeweiligen Zeit geben kann.78 Für diesen Ansatz schlägt Thomas Thiemeyer die Verwendung der beiden Kategorien ‚Politik‘ und ‚Ästhetik‘ vor, die die vorliegende Arbeit durchgängig begleiten. Thiemeyer leitet diese beiden Kategorien einerseits von Jörn Rüsen ab,79 andererseits bezieht er sich auf Karp und Lavine, die von Politik und Poetik sprechen.80 Die Kategorie ‚Politik‘ meint dabei die Erfassung der Entstehungsbedingungen, des institutionellen Umfeldes, der Planungsprozesse und Ziele des Museums. Die Kategorie der ‚Ästhetik‘ hingegen ergänzt dies durch die Untersuchung der konkreten Umsetzung des Museums: Wie präsentiert, erzählt es sein Thema. Damit soll gewährleistet werden, dass das Museum einerseits umfassend kontextualisiert und damit die Einflüsse und Parameter seiner Entstehung und Umsetzung deutlich hervortreten. Andererseits wird die konkrete Form, in die es gegossen wird, näher beleuchtet, um es als ästhetisch, materiell-konkret geformte Institution der Gesellschaft, die ein bestimmtes Narrativ anbietet, erfassen zu können: The museum is at once an architectural form, a concrete environment for reflection, a reservoir of tangibilities, a school for the senses, a space of conviviality, an autopoetic system, and a projection of the ideal society, notwithstanding the amply documented tensions between the utopian ideal of the museum and its instrumentalizations.81
Die Relevanz des Museums als Untersuchungsgegenstand ergibt sich damit aus seinem mehrdimensionalen Charakter als gesellschaftlicher und kultureller Institution: Das Museum ist zum einen ein Ort mit einer materiellen Präsenz, der sich durch eine bestimmte architektonische und ästhetische Form auszeichnet. Zudem kennzeichnet das Museum in seiner institutionellen Funktion sein Charakter als öffentlich zu-
Wonisch, Regina, Museum und Migration, in: Wonisch, Regina / Hübel, Thomas (Hrsg.), Museum und Migration. Konzepte – Kontexte – Kontroversen, Bielefeld 2012. S. 9–32. S. 32. 78 Vgl. Thiemeyer, Thomas, Geschichtswissenschaft: Das Museum als Quelle, in: Baur, Joachim (Hrsg.), Museumsanalyse, Bielefeld 2009. S. 73–94. 79 Vgl. u. a. Rüsen, Jörn, Die Rhetorik des Historischen, in: Fehr, Michael / Grohé, Michael (Hrsg.), Geschichte-Bild-Museum, Köln 1989, S. 113–125. 80 Vgl. Thiemeyer, Geschichtswissenschaft: Das Museum als Quelle, S. 83 ff. 81 Kirshenblatt-Gimblett, Barbara, The Museum – A Refuge for Utopian Thought, URL: https://www. nyu.edu/classes/bkg/web/museutopia.pdf (Zugriff 19.09.2017), u. a. auf Deutsch als Einleitung erschienen in: Rüsen, Jörn / Fehr, Michael / Ramsbrock, Annelie (Hrsg.), Die Unruhe der Kultur: Potentiale des Utopischen, Weilerswist 2004. S. 187–196. 77
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gänglichem Ausstellungsraum, der bestimmte Themen und Inhalte, in der Regel über Objekte, vermittelt. Als Raum, in dem Wissen, Objekte, Traditionen etc. gesammelt, bewahrt und präsentiert werden, ist das Museum ein Ort der kollektiven wie individuellen Erinnerung, Reflexion, Erkenntnis, der Begegnung und des Dialogs. Es ist ein sinnlich erfahrbarer Raum, der als Projektionsfläche dienen, aber auch als ‚Sprachrohr‘ instrumentalisiert werden kann. Durch seine offizielle Funktion, Wissen zu sammeln, zu selektieren, zu präparieren und zu inszenieren, erzeugt es Ordnungen. Diese spiegeln wiederum eine spezifische Perspektive auf die Welt. Barbara Kirshenblatt-Gimblett geht hier sogar noch einen Schritt weiter und spricht mit Goodman von Museen als „Orten der Welterzeugung“.82 Museen wird damit einhergehend oft per se bereits im Vorhinein eine gewisse Autorität und damit durchaus eine gewisse Deutungshoheit zugeschrieben. Dieser ‚Vorschuss‘ an Autorität und die damit einhergehende Wirkmacht machen aus dem Museum einen umkämpften Ort, einen Raum, in dem verschiedenste Akteure um Besitz-, Präsentations- und Deutungshoheit kämpfen: „They (museums) have become essential forms through which to make statements about history, identity, value, and place and to claim recognition.“83 Dieser Zusammenhang ist besonders im Falle von Museen, die in irgendeiner Form Geschichte thematisieren und repräsentieren, relevant. Die (Re-) Konstruktion von Vergangenheit im Museum ist ein besonders hart umkämpftes Feld.84 Schließlich sind Museen, in Anlehnung an Jan Assmann, Träger und Vermittler des kulturellen Gedächtnisses einer Gesellschaft.85 Sie sorgen für die dauerhafte Bewahrung von Erinnerungen, die durch die zwangsläufige Begrenztheit des kommunikativen Gedächtnisses vom Vergessen bedroht sind. Daher wird in (Geschichts-)Museen meist der kollektiv geteilte, konsensfähige Blick auf die als ‚eigen‘ begriffene Geschichte einer Gesellschaft etabliert und legitimiert. Andere marginalere, soziale Gruppen können hier bewusst ein- oder ausgeschlossen werden, je nachdem, ob sie als ein Teil der ‚eigenen‘ Geschichte begriffen werden oder nicht:
Vgl. Goodman, Nelson, Weisen der Welterzeugung, Frankfurt 1984. S. 20 ff. Kratz, Corinne A. / Karp, Ivan, Introduction, in: dies. (u. a.) (Hrsg.), Museum frictions, Durham/London 2006. S. 1–31. S. 4. 84 Wie erst kürzlich wieder die Einflussnahme der polnischen Regierung auf die Thematisierung der Kollaboration im Rahmen des neuen polnischen Museums zum Zweiten Weltkrieg gezeigt hat. Vgl. Logemann, Daniel, Streit um das Museum des Zweiten Weltkriegs in Gdansk: Wie soll man polnische Geschichte schreiben?, in: Zeitgeschichte online, URL: http://www.zeitgeschichte-online.de/geschichtskultur/streitum-das-museum-des-zweiten-weltkriegs-gdansk (Zugriff 31.08.2017). 85 Diese Einordnung wird auf Grundlage der Gegenüberstellung von kommunikativem und kulturellem Gedächtnis vorgenommen. Die Merkmale des ‚hohen Grades an Geformtheit‘, ‚der festen Objektivationen‘, ‚traditionellen symbolischen Kodierung und Inszenierung‘ deuten darauf hin. Das Museum wird hier also als ‚spezialisierter Traditionsträger‘ verstanden. Vgl. Assmann, Jan, Das kulturelle Gedächtnis, München 6 2007. S. 56. 82 83
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As lieux de mémoire, museums are implicated in the recovery, rehabilitation and legitimization of social groups, and the dissemination of their image and status with the view, in many cases, of eventually strengthening the social fabric. Yet in the case of once marginalized memories, the resulting effects may well be the emergence or resurgence of tensions and discord, symptomatic of lingering social malaise.86
Museen sind umkämpfte Orte der Identitätsbildung bzw. der Repräsentation von Identität. Sie sollen die Identität der meist dominierenden sozialen Gruppe über ihre Repräsentation und Inszenierung legitimieren. Damit kann unter Umständen der Zusammenhalt der Gruppe gestärkt werden. Wie das Zitat jedoch auch andeutet, kann dabei die zunehmende Bedeutung von bisher marginalisierten Gruppen das Museum und seine Repräsentation in Frage stellen und zu Konkurrenz um museale Repräsentation führen.87 So begreift Wonisch das Aufkommen bisher verdrängter Erinnerungen von Immigranten und ihre Integration in den nationalen Geschichtskanon als Herausforderung für das nationale (Geschichts-)Museum.88 In der Tat beziehen sich Museen in der Regel auf den Rahmen der Nation, ebenso wie die im vorherigen Zitat eingebrachten Erinnerungsorte: Die Bezugsgröße der zu repräsentierenden Identität, des ‚Eigenen‘, ist in der Regel in den meisten westlichen (Geschichts-)Museen die Nation. Die Ursprünge, auf denen sich die modernen, westlichen Museumstypen gründen, liegen im 19. Jahrhundert: Sie begleiten die westliche Nationalstaatenbildung. Daher ist ihre oft heute noch spürbare nationale Rahmung, wie Tony Bennett zeigt, nicht verwunderlich.89 Heute scheint dieser Bezugsrahmen besonders im Fall von Museen, die sich mit Migration befassen, zunehmend ein Hindernis darzustellen. Er überformt jegliche ‚unvoreingenommene‘ Darstellung dieses Phänomens und bezieht es immer auf die Nation als Zentrum. Als Orte der (nationalen) Identitätsstiftung sind Museen auch immer Räume der Zuordnung von ‚Eigen‘ und ‚Fremd‘. Die beiden Kategorien helfen, innerhalb des Museums eine Ordnung zu stiften, in der man das als ‚eigen‘ Verstandene vom ‚Anderen/Fremden‘ abgrenzt.90 Laut Mieke Bal handelt es sich um eine Paradoxie, die dem Museum grundsätzlich inhärent sei: Es ginge hier immer darum, zu zeigen, was als Normalität und was im Gegensatz dazu als Fremdheit oder
Gouriévidis, Representing migration in museums: history, diversity and the politics of memory, S. 14. Vor dem Hintergrund der zahlreichen Umformungen von Museen, Ansprüche an das Museum etc. haben Kratz und Karp um die vielfältigen Spannungen, in die das Museum inbegriffen ist, erfassen zu können, den Begriff der ‚Museumfrictions‘ geprägt: „[…] the range of museum roles, definitions, and cross-institutional relations entails conjunctions of disparate constituencies, interests, goals, and perspectives. These conjunctions produce debates, tensions, collaborations, contests, and conflicts of many sorts, at many levels – museums frictions that have both positive and negative outcomes.“ Kratz, Corinne A. / Karp, Ivan, Introduction, in: dies. (u. a.) (Hrsg.), Museum frictions, Durham/London 2006. S. 1–31. S. 2. 88 Vgl. Wonisch, Museum und Migration, S. 20 f. 89 Vgl. Kratz/Karp, Introduction, S. 3. 90 Vgl. Said, Edward, Orientalismus, Frankfurt a. M. 52017. S. 70. 86 87
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Andersartigkeit begriffen werde.91 Es soll eine Orientierung geschaffen werden, eine normative Ordnung, die dem Besucher beibringt, wie bestimmte kulturelle Formen und Ausprägungen, Naturphänomene etc. ‚richtig‘ zu bewerten sind. Dabei wird das ‚Eigene‘, die eigene Gesellschaft, Kultur, ihr Entwicklungsstand etc. meist als Normalität gesetzt. Das hier gewählte Fallbeispiel des Palais veranschaulicht über die unterschiedlichen musealen Institutionen, die es beherbergte, auch unterschiedliche Konzepte von ‚Eigen‘ und ‚Fremd‘, diese beiden Ordnungskategorien waren stets wesentliche Elemente seiner Funktion und Präsentation. Der Palais behielt seinen nationalen Bezugsrahmen für die Definition des ‚Eigenen‘ stets bei. Ob als ‚ruhmreiche‘ Metropole des Empire, als Mittelpunkt der brüderlichen Gemeinschaft der Union / Communauté française oder als Kulturnation, die die Kunstwerke fremder Kulturen bewahrte und ihnen zu Anerkennung verhalf, stets war die Nation, die Republik, der Kern der ‚Wir-Identität‘, die hier präsentiert wurde. Selbst im Fall des heutigen Immigrationsmuseums bleibt dieser Bezug erhalten, wie sich sogar an seinem Status als mittlerweile ‚nationalem Museum‘ ablesen lässt. Doch zeigt sich hier, inwiefern sich die Definition des ‚Fremden‘ im Vergleich dazu deutlich stärker verändert hat. Vom kolonialen ‚sujet‘, dem faszinierenden und zugleich abstoßenden, stets unterlegenen, exotischen ‚Fremden‘ über die menschlichen Brüder, die es paternalistisch zu behüten galt, bis hin zu ‚primitiven‘ Künstlern, deren Kreativität aufgewertet werden musste, variierten die Auffassungen und Repräsentationen des Fremden stark. Die deutlichste Wende vollzog man aber mit der Ausrichtung am ‚Immigranten‘ als neuem ‚Fremden‘, dessen Geschichte nun im Palais erzählt wird. Neu ist dieser ‚Fremde‘ auch insofern, als dass er zwar ‚fremd, anders‘, da ausländisch, ist – doch nun ist er in der Metropole selbst präsent und soll hier gleichsam über das Museum ‚in die Nation‘ integriert werden. Allerdings weisen diese Konzepte des ‚Fremden/Anderen‘ auch Gemeinsamkeiten auf: Es handelt sich durchweg um ein ‚Fremdes‘ im kulturellen bzw. ethnischen Sinn. Es wird über die Zugehörigkeit zu einem anderen, fremden Kulturraum, einer anderen ethnische Zugehörigkeit als die eigene Französische definiert. Diese Definition gilt in besonderem Maße für die Identität des Museums zwischen 1931 und 2003, wobei dies teilweise auch heute noch gültig ist. Zwar wird nun im Immigrationsmuseum auch die europäische Immigration thematisiert, aber die (post-) koloniale Einwanderung spielt ebenso eine Rolle, vor allem in Bezug auf die zeitgenössische Wahrnehmung von Immigration. Bennett formuliert treffend das hieraus resultierende Dilemma bzw. die Aufgabe, der sich die Museen wie das heutige Immigrationsmuseum im Palais de la Porte Dorée stellen müssen: […] museums – particularly those with an ethnographic focus – are now subject to radical interrogation „by members of the disjunctive populations they once tried to represent,“ 91
Vgl. Bal, Mieke, Kulturanalyse, Frankfurt a. M. 2002. S. 81.
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as their audiences are „increasingly made up of peoples they once considered as part of their object.” […] The challenge now is to reinvent the museum as an institution that can orchestrate new relations and perceptions of difference that both break free from hierarchically organized forms of stigmatic othering […] and provide more socially invigorating and […] more beneficial interfaces between different cultures.92
Vor diesem Hintergrund wird der Funktionswandel des Ortes in den 2000er Jahren, hin zu einem nationalen Immigrationsmuseum, in der Untersuchung als ein besonderer Kristallisationspunkt begriffen, der die vorliegende Arbeit strukturiert. So wird der erste Untersuchungszeitraum von 1931 bis 2003 gesetzt und der zweite von 2003 bis heute.93 Für die Darstellung der ersten Phase von 1931 bis 2003 orientiert sich die Arbeit in der Gliederung an den einzelnen, sukzessive aufeinander folgenden musealen Institutionen. Diese Struktur wird durch die ständige Bezugnahme der jeweiligen musealen Institution auf die vorherige gerechtfertigt: Der Vorgänger dient grundsätzlich als wichtiger identitärer Orientierungspunkt für die nachfolgenden Institutionen. Mit einer Mischung aus Identifikation und Abgrenzung versuchen sich hier immer wieder neue Museumstypen zu etablieren. Für die jeweilige Zeit- und Entwicklungsstufe des Museums wird eine charakteristische Grundkonzeption herausgearbeitet, die sich an den bereits genannten Kategorien der Politik und Poetik orientiert. Diese Konzeption ergibt sich aus dem offiziellen Programm des Museums sowie den Themen und Konzeptionen der Dauer- und Wechselausstellungen. Zentraler Ausgangspunkt sind dabei die einzelnen Chefkonservatoren, die das Museum jeweils geleitet haben, und ihr Konzept vom Museum. Sie werden im Sinne Karps und Lavines als wesentliche Größe in Bezug auf die dem Museum und seinen Ausstellungen inhärente Perspektive angesehen.94 Ihre Vorannahmen dominieren den expositorischen Diskurs, der hier über die Jahre hinweg präsentiert wird. So dienen hier vor allem persönliche Äußerungen der Chefkonservatoren zum Museum, beispielsweise in Form von Stellungnahmen für die Presse oder persönlichen Notizen, als Grundlage. Für die Erfassung der (Wechsel-)Ausstellungen werden ergänzend offizielle Museumsführer sowie die Kataloge zu Wechselausstellungen untersucht. Parallel wird diese Darstellung des Museums von innen heraus gleichsam durch eine Sicht von außen ergänzt: Hier steht die Rezeption des Museums und seiner Ausstellungen in der Presse im Vordergrund. Teilweise lässt sich aus den Presseartikeln auch ansatzweise die Rezeption des Museums durch die Besucher erschließen. Allerdings gibt es insgesamt zu diesem Aspekt nur wenige Quellen. Ziel dieser Herangehensweise ist es, die für den jeweiligen Zeitab-
Bennett, Tony, Exhibition, Difference and the Logic of Culture, in: Kratz, Corinne A. / Karp, Ivan (u. a.) (Hrsg.), Museum frictions, Durham/London 2006. S. 46–69. S. 58 f. 93 Wie bereits zuvor angemerkt, endet der Untersuchungszeitraum 2016/2017. 94 Vgl. Lavine, Steven D. / Karp, Ivan, Introduction: Museums and Multiculturalism, in: dies. (Hrsg.), Exhibiting cultures. The Poetics and Politics of Museum Display, Washington (u. a.) 1991. S. 1–9. S. 1 f. 92
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schnitt gültige museale Identität des Palais zu rekonstruieren und diese in Beziehung miteinander zu setzen. Daher liegt der Fokus in diesem Teil der Arbeit auf einer vergleichenden Betrachtung der verschiedenen Entwicklungs- und Bedeutungsebenen, die das Museum durchlaufen hat. Es wird herausgearbeitet, welche Funktion und Zielsetzung es zu welchem Zeitpunkt verkörperte und inwiefern damit eine veränderte Einstellung zum Empire, den Kolonien und seinen materiellen Zeugnissen einherging. Außerdem wird thematisiert, wie man vonseiten des Museums ab 1960 mit dem Thema der außereuropäischen Kulturen und Künste umging. Daher stellt innerhalb dieses Untersuchungszeitraums die Umwandlung des Palais in ein Kunstmuseum für außereuropäische Kunst einen wichtigen Wendepunkt dar. Es geht hier darum herauszuarbeiten, wie dieser Wandel vollzogen wurde und was dies für die Definition des ‚Selbst‘ und die Perspektive auf das ‚Fremde/Andere‘ bedeutete. Dieser Teil der Arbeit stützt sich vorrangig auf die Archivbestände des Palais bzw. seiner unterschiedlichen musealen Institutionen. So hat das heutige Musée du Quai Branly den Großteil der Archive der Exposition coloniale, des Musée permanent des Colonies, des Musée de la France d’outre-mer und des Musée d’arts africains et océaniens in seine Bestände aufgenommen und digitalisiert. Es kann zudem auf einige, weniger umfangreiche Dossiers aus den Archives nationales zurückgegriffen werden, die das Archiv der Direction des Musées de France (DMF) betreffen: Die DMF legte ihrerseits, seitdem das MAAO ihr unterstellt war, Akten zu dem Museum an. Die einzige Ausnahme stellt hier das Kapitel zur Exposition coloniale dar: Es wird zwar der offizielle Bericht des Kolonialministeriums zur Exposition coloniale herangezogen, aufgrund der breiten Rezeption in der Fachliteratur wird hier aber ansonsten weniger umfassend auf Archivmaterial zurückgegriffen. Das Vorgehen für die Darstellung der zweiten Phase ab 2003 orientiert sich an dem Vorgehen von Joachim Baur in seiner Arbeit „Die Musealisierung der Migration“.95 So wird einerseits die konkrete Entstehungsgeschichte des Immigrationsmuseums und ihr zeitgeschichtlicher Kontext berücksichtigt und andererseits die konkrete, aktuelle Form des Museums sowie seine Erzähl- und Präsentationsweise des Hauptthemas Immigration und des Nebenthemas der kolonialen Vergangenheit des Ortes untersucht. Daher wird dieser Teil der Arbeit in drei größere Unterkapitel aufgeteilt: Der erste Teil widmet sich den Planungen seit dem Ende der 1980er Jahre, der zweite Teil nimmt die konkrete Umsetzung des Projekts ab 2003/04 in den Blick und ein abschließender dritter Teil thematisiert die Entwicklungen nach der Eröffnung 2007 bis 2016. Bei dieser Strukturierung dient als maßgeblicher Orientierungspunkt, dass der Ort des Palais de la Porte Dorée, der im ersten Teil im Fokus stand, bei diesem Projekt erst mit den Planungen ab 2003/04 ins Spiel kam. Bis dahin war das Projekt eines nationa-
Vgl. Baur, Joachim, Die Musealisierung der Migration: Einwanderungsmuseen und die Inszenierung der multikulturellen Nation, Bielefeld 2009. S. 19 f. 95
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len Immigrationsmuseums noch nicht an einen konkreten Ort gebunden. Diese Phase kann gleichsam als ‚Vorspiel‘ der 2004 offiziell beschlossenen Institution begriffen werden. Sie wird über die Erfassung verschiedener Initiativen und Vorgängermodelle bzw. Inspirationsquellen untersucht. Eine wichtige Rolle spielen in dieser Frühphase die zivilgesellschaftlichen, meist akademischen Akteure und ihre Vorschläge bezüglich eines Immigrationsmuseums. Von ihnen werden erste Entwürfe in Bezug auf Form und Inhalte gemacht, auf die man sich später bei der Planung des heutigen Immigrationsmuseums rückbezog. Parallel gab es in dieser Zeit der ersten Projektentwürfe verschiedene Ausstellungsformate, die Immigration in Frankreich in den Blick nahmen. Viele der akademischen Akteure, die die ersten Initiativen für ein Museum begleiteten, wirkten auch an diesen Ausstellungen mit und halfen so, Modelle für spätere Ausstellungsformate in der CNHI zu schaffen. Letztendlich waren es dann Anfang der 2000er Jahre die politischen Rahmenbedingungen, die für eine tatsächliche Umsetzung des Projekts eines nationalen Immigrationsmuseums sorgten. In der Folge wird die Umsetzung des Projekts einerseits von innen heraus betrachtet. Dazu werden sowohl die offiziellen Planungsdokumente, allen voran der offizielle Bericht der zuständigen Kommission, als auch die Wahrnehmung einzelner in unterschiedlichen Phasen und Feldern der Planung und Umsetzung beteiligten Akteure herangezogen. Der Blick von außen auf das Projekt wird andererseits über die Rezeption in der Presse rekonstruiert. Dies wird durch begleitende Darstellungen der jeweiligen gesellschaftlichen und politischen Debatten um Immigration einerseits und koloniale Vergangenheit andererseits ergänzt. An die Analyse der Planung und Umsetzung schließt ein letzter, abschließender Teil an, der die Entwicklung der Institution nach 2007 in den Blick nimmt. Hier wird anhand der Dauer- und Wechselausstellungen, dem musealen Umgang mit dem Ort und seiner musealen Vermittlung herausgearbeitet, welche Identität der Palais im Laufe der Zeit entwickelt hat und wie er sich heute dem Publikum und der Öffentlichkeit präsentiert. Es wurden hier die offiziellen Dokumente herangezogen, die neben dem publizierten Bericht über die Mediathek des Museums selbst bzw. seine Website einsehbar sind, sowie die offiziellen Dekrete von Regierungsseite. Die Wahrnehmung der Akteure hingegen wurde mithilfe von halbgeleiteten Experteninterviews erfasst. In Bezug auf die Dauer- und Wechselausstellungen wurden die entsprechend publizierten Kataloge und museumspädagogischen Zusatzmaterialien, die auf der Website des Museums verfügbar sind, herangezogen. Zudem wurden hier ergänzend die Tätigkeitsberichte des Museums, die für 2007/08 und dann wieder ab 2011/12 zugänglich sind, verwendet. Für die Analyse der Wahrnehmung durch die Medien wurden alle Presseartikel der Tages-, Wochen- und Monatspresse von 2003 bis 2016, die sich mit dem Museum beschäftigt haben, ausgewertet. Anhand der hier entworfenen ‚Gesamtschau‘ der Entwicklung des Palais de la Porte Dorée sollen relevante Aussagen über das Potenzial und die mögliche Funktion von Institutionen wie dem Museum mit Blick auf die Konstruktion und Repräsentation von Identität, Geschichte und gesellschaftlicher Wahrnehmung getroffen werden. Im
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Mittelpunkt steht die Frage, wie Frankreich zu unterschiedlichen Zeitpunkten mit seiner kolonialen Identität und Vergangenheit im musealen Kontext umgegangen ist und umgeht. Dies bedeutet auch danach zu fragen, was dies für die Konzeption einer offiziellen ‚Wir-Identität‘ und im Umkehrschluss für die Konzeption und den Umgang mit einem ‚Fremden/Anderen‘ bedeutet hat und bedeutet. Das konkrete Fallbeispiel des Palais de la Porte Dorée ermöglicht es, diese Fragen anhand der Entwicklung einer einzigen musealen Institution zu untersuchen: Seine zeitgenössische Nutzung als Immigrationsmuseum erlaubt es sogar, nach den Rück- und Auswirkungen der kolonialen Vergangenheit Frankreichs bis in die Gegenwart, beispielsweise in die Wahrnehmung von außereuropäischen, (post-)kolonialen Immigranten heute, zu fragen.
1. Teil Von der Exposition coloniale internationale bis zur Schließung des Musée national des arts africains et océaniens 2003
In dieser Arbeit ist die Annahme leitend, dass der Palais de la Porte Dorée, der ursprünglich 1931 anlässlich der internationalen Kolonialausstellung in Paris entstanden ist und in der Folge mehrere unterschiedliche Entwicklungsstufen durchlaufen hat, vor dem Hintergrund seiner Umnutzung ab 2007 als erstem nationalen Immigrationsmuseum als doppelter ‚Lieu de mémoire‘/Erinnerungsort zu betrachten ist. Einerseits findet sich hier die ältere, mittlerweile Teil des kollektiven bzw. kulturellen Gedächtnisses gewordene Erinnerung an die koloniale Vergangenheit Frankreichs, die sich bis heute in der Architektur sowie dem Dekor des Palais zeigt. Andererseits hat der Ort gleichsam nun eine neue, aktualisierte ‚Füllung‘ bekommen: eine Institution, die es zur Aufgabe hat, die Geschichte und das kollektive Gedächtnis der Immigration in Frankreich zu bewahren und zu vermitteln. Diese beiden kollektiven Erinnerungsschichten liegen nun nebeneinander an ein und demselben Ort vor. Dabei hat das Haus damals wie heute eine klare politische Mission: Bei seiner Gründung sollte es den Franzosen ihr Empire näherbringen und den Mehrwert der Kolonien veranschaulichen und so ein ‚koloniales Bewusstsein‘ beim Volk wecken. Heute soll es den Beitrag der Immigranten zur Herausbildung und Entwicklung der französischen Gesellschaft und Nation veranschaulichen und damit Immigration als zentralen Bestandteil der Nation und ihrer Meistererzählung aufwerten. In beiden Fällen geht es darum, eine Beziehung zu einem ‚Fremden/Anderen‘ zu konstruieren: einmal zu einem fernen, äußeren Fremden in den Kolonien, das andere Mal zu einem vertrauten, alltäglich in der Metropole wahrgenommenen ‚Fremden‘, das in die nationale Identität integriert werden soll. In der Folge soll es daher darum gehen, die Geschichte dieses doppelten Erinnerungsortes anhand seiner einzelnen Entwicklungsstufen nachzuvollziehen. Es geht darum, in einem ersten Schritt herauszuarbeiten, welche Konzeptionen des ‚kolonialen Fremden‘ hier entwickelt wurden und wie sie sich im Laufe der Zeit verändert haben. Die Analyse orientiert sich bei diesem Vorgehen an den großen institutionellen Umbruchphasen, die der Palais seit 1931 bis zu seiner Schließung 2003 erlebt hat. Dabei ist die These
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leitend, dass der Palais mit diesen Umbrüchen auch immer ein Stück weit den gesamtgesellschaftlichen Umgang mit dem ‚kolonialen Anderen‘, aber auch mit dem Empire an sich spiegelte. So entwickelt er sich von einer offen der Propaganda innerhalb der Kolonialausstellung gewidmeten Institution zum offiziellen nationalen Kolonialmuseum, das dann erst mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs langsam aber sicher seine Funktion verliert und durch eine ‚Umwidmung‘ zum Museum für primitive Kunst in den 1960er Jahren gerettet werden konnte. In einem zweiten Schritt wird es darum gehen, herauszuarbeiten, wie das heute hier ansässige Immigrationsmuseum mit dem Ort umgeht, welche Strategien es zur Thematisierung der kolonialen Vergangenheit wählt und welche Verbindungen hier zwischen Kolonialismus und Immigration abgeleitet werden können. 1.1
Die ‚Exposition coloniale internationale‘ von 1931 und das Musée des Colonies
L’Exposition coloniale […] devenue l’une des dates et l’un des lieux de mémoire de la IIIe République1
Die hier zitierte ‚Exposition coloniale internationale‘ von 1931 hat sich als Symbol der Hochphase des französischen Empire in den 30er Jahren fest in die französische Erinnerungskultur eingeschrieben. Unter allen Ausstellungsformaten ihrer Zeit ist besonders diese Kolonialausstellung zu einem prägenden Ereignis der Geschichte der Dritten französischen Republik geworden. Ihre schiere Größe, der Aufwand, der für sie getrieben wurde, die Höhe der Besucherzahlen, ihr ereignishafter Charakter, ihre pompöse Inszenierung und die Tatsache, dass sie die letzte ihrer Art sein sollte, rechtfertigen ihre Aufnahme in den noraschen Kanon der französischen ‚Lieux de mémoire‘ – der Erinnerungsorte.2 Ein weiterer Indikator für ihre Bedeutung sind die verschiedenen Ausstellungen, die in den vergangenen Jahrzehnten bis heute auf dieses Ereignis rekurriert haben. Einige Beispiele dafür sind die Ausstellung der Bibliothèque de la ville de Paris von 1981,3 die Ausstellung „Coloniales 1920–1940“ des Musée municipal de Boulogne-Billancourt von 1989/90,4 die Inszenierung der Erinnerung an die Exposition coloniale durch die Stadt Paris von 2006, also 75 Jahre danach.5
Ageron, L’exposition coloniale de 1931, S. 562. Vgl. ebd. Vgl. Palà, Sylvie, Documents Exposition coloniale Paris 1931, Bibliothèque de la ville de Paris, 1981. Vgl. Musée municiaple de Billancourt (Hrsg.), Coloniales 1920–1940, Paris 1989. Vgl. Mairie de Paris (Hrsg.), Programmes des manifestations. L’Exposition coloniale – 75 ans après, Paris 2006. 1 2 3 4 5
Die ‚Exposition coloniale internationale‘ von 1931 und das Musée des Colonies
Der letzte materielle Überrest dieses kollektiven Lieu de mémoire ist das im Rahmen dieser internationalen Kolonialschau entstandene erste nationale französische Kolonialmuseum. Mit ihm entsteht gleichsam der Ort, das Gebäude und seine ihm inhärente Botschaft eines ‚erfolgreichen Empire‘, in dem sich heute das Immigrationsmuseum, das 2007 eröffnet wurde, befindet. Dieser wesentlichen Verbindung wird in einer der ersten großen Wechselausstellungen der CNHI unter dem Titel ‚1931. Les étrangers aux temps de l’Exposition coloniale‘, zu der ein Sammelband unter Leitung Laure Blévis’ erschienen ist, Rechnung getragen.6 Hier wird die Exposition coloniale in Verbindung gebracht zur Situation der ‚Fremden‘ im Paris der 1930er Jahre: Wie lebten Immigranten aus verschiedenen Ursprungsländern 1931 in Paris? Welche Verbindung hatten sie zur Kolonialausstellung? Diese Veröffentlichung spiegelt gleichsam den Versuch, mit dem Erbe des Ortes, das bis heute sicht- und spürbar ist, umzugehen. Dies stellt sich als immer wiederkehrende Herausforderung und ein Hindernis für das neue Museum für Immigration heraus. Die koloniale Vergangenheit scheint dabei bis heute keinen angemessenen Platz in der neuen Institution gefunden zu haben. Trotzdem drängt sie sich vor allem über den Ort und das Gebäude immer wieder in den Vordergrund. Daher soll im Folgenden erläutert werden, wie dieser Ort entstanden ist, mit welchen ideologischen Narrativen des Empire und des französischen Kolonialismus er aufgeladen wurde und welche Funktion er als erstes nationales, französisches Kolonialmuseum innehatte. Durch die Tatsache, dass das Gebäude bis heute mehr oder weniger in seinem Originalzustand erhalten ist, sind diese Ursprünge visuell immer noch sichtbar und scheinen bisweilen den Eindruck vieler Besucher zu beeinflussen. In der Folge soll dabei einerseits der allgemeine gesellschaftliche, kulturelle und politische Kontext der Exposition coloniale internationale betrachtet werden und andererseits die spezifische Planung, Umsetzung und Funktion des Kolonialmuseums näher beleuchtet werden. Im Anschluss daran stellt sich die Frage, inwiefern sich hier ein koloniales Bewusstsein, ein kolonialer Habitus und bestimmte Wahrnehmungen in Bezug auf das (koloniale) Andere herausgebildet haben, die den Ort des Palais des Colonies gleichsam ‚imprägniert‘ zu haben scheinen und bis in die Arbeit der heutigen CNHI weiterwirken. Durch ihre immense Bedeutung für die französische Erinnerungskultur ist die Exposition coloniale ein in der Sekundärliteratur relativ stark rezipiertes Thema. Neben der Thematisierung in der Belletristik7 ist sie ein in der Forschungsliteratur durchaus präsentes, wenn auch nicht überrepräsentiertes Kapitel der Geschichte der 30er Jahre in Frankreich. Sie hat als Ereignis Eingang in zahlreiche Überblicksdarstellungen, Handbücher und Fachlexika gefunden, obgleich sie hier häufig nur einen marginalen Platz einnimmt. Die Exposition coloniale findet sich in den meisten Werken zur Ko-
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Vgl. Blévis, Laure u. a. (Hrsg.), 1931. Les Étrangers au temps de l’Exposition coloniale, Paris 2008. Vgl. Orsenna, Erik, L’Exposition coloniale, Paris 2006 sowie Daeninckx, Didier, Cannibale, Paris 2000.
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lonialgeschichte Frankreichs des 19. und 20. Jahrhunderts8 bzw. zur Geschichte der Dritten Republik,9 speziell der Zwischenkriegszeit. Daneben sei vor allem auf die einschlägige Monografie von Catherine Hodeir und Pierre Michel verwiesen10 sowie auf das Kapitel zur Exposition coloniale in der Monografie von Benoît de l’Estoile.11 Bei den Herausgeberbänden ist die Arbeit von Pascal Blanchard, Nicolas Bancel und Sandrine Lemaire zu erwähnen: Pascal Blanchard greift das Thema in Zusammenarbeit mit anderen Autoren mehrfach in dem Sammelband Culture coloniale von 2003 auf12 sowie in der Reihe Le Paris Asie, Le Paris Noir, Le Paris Arabe.13 In diesem Rahmen ist auch die Publikation von Blanchard, Bancel und Laurent Gervereau „Images et Colonies“ zu erwähnen.14 Außerdem finden sich einige wichtige Beiträge im Bereich der Architektur15 und Bildenden Kunst bzw. Kunstgeschichte.16 Hier ist aus dem Bereich der Architekturgeschichte die Arbeit von Patricia Morton zu erwähnen: „The civilizing mission of architecture: the 1931 international colonial exposition in Paris“.17 Die Autorin räumt darin dem Musée des Colonies einen besonderen Platz ein. Hinzu kommen einige Beiträge in Fachzeitschriften,18 die einzelne Aspekte der Ausstellung untersuchen. Insgesamt wird die Kolonialausstellung in der Sekundärliteratur jedoch meist als ganzheitliches Symbol einer kolonialen Propagandakultur, die in der Zwischenkriegszeit recht dominant war, dargestellt. Nur wenige Arbeiten untersuchen detaillierter einzelne Teile der Ausstellung. Dies gilt in besonderem Maße für das Musée des Colonies, das vorrangig von P. Morton näher beleuchtet wird. Darüber hinaus wird dem Musée wenig Aufmerksamkeit geschenkt, speziell seine Funktion innerhalb der Vgl. u. a. Rioux, 1931. L’Empire s’expose, S. 61–65; Rioux, Le France coloniale. Sans fard ni déni; Coquery-Vidrovitch, L’apogée. L’Exposition coloniale internationale, S. 213–225; sowie: Aldrich, Greater France. A History of French overseas expansion, S. 260 ff. 9 Vgl. u. a. Bonnefous, Édouard, Histoire politique de la Troisième République. La République en danger: des ligues au front populaire (1930–1936), Paris 1973. S. 83 und Beaupré, Nicolas, Les Grandes Guerres 1914–1945, Paris 2012, S. 604. 10 Vgl. Hodeir/Michel, L’exposition coloniale de 1931. 11 Vgl. De L’Estoile, Le Goût des Autres. S. 43–96. 12 Vgl. Blanchard/Lemaire, Culture coloniale. 13 Vgl. Blanchard, Pascal / Deroo, Éric, Le Paris Asie, Paris 2004; Blanchard, Pascal / Deroo, Éric / Manceron, Gilles, Le Paris noir, Paris 2001; Blanchard, Pascal / Deroo, Éric / Manceron, Gilles / El Yazami, Driss / Fournié, Patrick, Le Paris arabe, Paris 2003. 14 Vgl. Bancel, Nicolas / Blanchard, Pascal / Gervereau, Laurent (Hrsg.), Images et Colonies. Iconographie et propagande coloniale sur l’Afrique française de 1880 à 1962, Paris 1993. 15 Vgl. u. a. Lemoine, Bertrand / Rivoirard, Philippe, L’architecture des années 30, Lyon 1987. 16 Vgl. u. a. aus der Reihe „Nouvelle histoire de Paris“: Poisson, Georges, Histoire de l’Architecture à Paris, Paris 1997; Villefosse, Réné Héron de, Nouvelle histoire de Paris. Solennités, fêtes et réjouissances parisiennes, Paris 1980; Bastié, Jean / Pillorget, René, Paris de 1914 à 1940, Paris 1997. 17 Vgl. Morton, Patricia, The civilizing mission of architecture: the 1931 international colonial exposition in Paris, Michigan 1997, sowie: Morton, The Musée des Colonies at the Colonial Exposition. 18 Vgl. Kuster, Brigitta, „If the images of the present don’t change, then change the images of the past“ – Zur Exposition Coloniale Internationale, Paris 1931, in: Comparativ, 19/5 (2009), S. 84–103; Norindr, Panivong, Representing Indochina: The French colonial fantasmatic and the Exposition Coloniale de Paris, in: French Cultural Studies VI (1995), S. 35–60. 8
Die ‚Exposition coloniale internationale‘ von 1931 und das Musée des Colonies
Ausstellung; seine Bedeutung und die ihm zugeschriebene Wirkmacht werden kaum herausgearbeitet. Dies stellt den maßgeblichen Ausgangspunkt, auch für die weiterführende Analyse nach 1931, der Botschaft und Wirkmacht dieses Ortes, dar. ‚Die Exposition coloniale internationale‘ im Kontext des ‚kolonialen‘ Zeitgeistes sowie verschiedener Ausstellungs- und Repräsentationsformen Die Exposition coloniale internationale von 193119 stellte eine bis dato noch nie dagewesene Überblicksschau des französischen Empire, aber auch anderer Kolonialgebiete dar. Sie umfasste insgesamt eine riesige Fläche von 110 Hektar, die die urbane Erschließung des Großteils des Pariser Ostens (Bois de Vincennes) bedeutete. Sie hatte zur Aufgabe, in Form von eigens für diesen Zweck errichteten temporären Pavillons der Weltöffentlichkeit, aber auch der eigenen breiten Bevölkerung, die Größe und Vielfalt des französischen Empire, die Leistung und den Erfolg der Franzosen als Kolonisatoren zu demonstrieren. Dem Leitmotiv der Ausstellung folgend, sollte der Besucher der Ausstellung eine (Welt-)Reise durch die Kolonien an einem Tag unternehmen können.20 Dem Besucher wurde es auf dieser Ausstellung ermöglicht, selbst zum ‚Kolonisator‘ zu werden und eine eigenständige Expedition in die fremde Welt der Kolonien zu unternehmen und sich so von ihrer Schönheit berauschen zu lassen.21 Dieses Angebot wurde vom Publikum offenbar äußerst dankbar angenommen. So waren die Besucherzahlen der Exposition im Vergleich zu anderen Schauen enorm: Bei ca. 32 000 00022 verkauften Eintrittskarten geht man in etwa von 8 Mio. Besuchern zwischen Mai und November aus.23 Dabei kamen ca. 4 Mio. Besucher aus Paris und den
Der Einfachheit halber wird in der Folge durchgängig der Begriff Exposition coloniale verwendet. Vgl. De L’Estoile, Le goût des Autres, S. 47. Vgl. Rivoirard, Philippe, L’Exposition coloniale ou l’incitation au voyage, in: Musée municipale de Billancourt (Hrsg.), Coloniales 1920–1940, Paris 1989. S. 67–81. Einen solchen Spaziergang durch die koloniale Welt gibt Eugène Marsan in Le Figaro wieder: Vgl. Marsan, Eugène, À l’Exposition coloniale, in: Le Figaro (20.07.1931), S. 5. Diese Wahrnehmung spiegelt sich durchaus auch in den Fotografien, die Zeitungen wie Le Petit Journal, Le Petit Parisien oder Paris Soir auf ihren Titelseiten brachten: Sie zeigten häufig pittoreske Szenen vor den jeweiligen Pavillons meist mit ‚indigenen‘ Gruppen ‚geschmückt‘, die einer vermeintlich typischen Tätigkeit nachgingen: Vgl. dazu Paris Soir (07.05.1931), Titelseite; Le Petit Journal (16.05.1931), Titelseite, Le Petit Journal (22.05.1931), Titelseite, Le Petit Journal (23.05.1931), Titelseite; Le Petit Parisien (16.05.1931), Titelseite, Le Petit Parisien (28.06.1931), Titelseite. 22 Le Figaro gibt zum Ende der Ausstellung eine Zahl von 35 490 339 Eintrittskarten an. Vgl. Le Figaro, Le Bilan des Visites à l’Exposition coloniale (17.11.1931), S. 4. 23 Damit wurde zwar nicht der Rekord der Weltausstellung von 1900 geknackt, man übertraf aber deutlich die Besucherzahlen der Exposition des Arts décoratifs von 1925 und befand sich mit der Weltausstellung von 1889 auf Augenhöhe. Vgl. Gouverneur général Olivier (Hrsg.), Rapport général. Tome III – Exploitation technique, Paris 1934, S. 570. 19 20 21
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Vororten, 3 Mio. aus der Provinz und 1 Mio. aus dem Ausland.24 Diesen Erfolg hatte die Ausstellung nicht zuletzt auch der Darstellung in den Medien, der Begeisterung der Presse für dieses Ereignis und der Möglichkeit der Vermarktung der Ausstellung insgesamt zu verdanken:25 Unter anderem wurde eine Lotterie veranstaltet, es wurden besondere Eintrittskarten ausgegeben, es gab Tickets, die eine Anreise einschlossen, Plakate, Postkarten, Sondernummern der großen Magazine.26 Hierbei spielte wiederum das Musée des Colonies eine bedeutende Rolle. Es wurden hier zahlreiche Veranstaltungen dargeboten: Bankette, Galas, Konzerte und Kongresse fanden mehrmals wöchentlich statt. Darüber hinaus konnte der Salle des fêtes des Musée des Colonies auch gemietet werden.27 Laut dem Rapport erfreute sich das Musée des Colonies mit seiner Section de synthèse recht großer Beliebtheit: Es wird sogar davon gesprochen, dass das Wachpersonal aufgrund des hohen Publikumsaufkommens in den Sälen Mühe gehabt habe, seinen Aufgaben nachzukommen.28 Damit steht diese Ausstellung, die sich vor allem in der Dimension von ihren Vorgängern abgrenzt, in einer spezifischen Tradition von zeitgenössischen Ausstellungsformaten und -institutionen. Sie bewegt sich vor einem Hintergrund von zunehmend differenzierteren und auf ein Massenpublikum ausgerichteten Präsentations- und Inszenierungskontexten. Als Grundlage für diese Formen und Kontexte dienen die Weltausstellungen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden sind.29
Vgl. Olivier, Rapport. Tome III, S. 577. Allerdings finden sich auch etwas höhere Einschätzungen: Le Figaro gibt zum Abschluss der Ausstellung ca. 35 000 000 verkaufte Eintrittskarten an. 25 Die Presse machte konstant in Form von Anzeigen Werbung für die Exposition coloniale, vgl. exemplarisch: Le Petit Parisien (16.05.1931). Anlässlich eines Mittagessens zu Ehren des Luftfahrtministers und Maréchal Lyauteys, ausgerichtet von dem Komitee der ‚Journées nationales d’aviation‘, berichtet ein Journalist in Le Matin, dass sich Lyautey explizit bei der Presse für die Unterstützung bei der Umsetzung seines Projekts, der Exposition coloniale, bedankt habe. Vgl. o. A. L’Exposition coloniale et les journées nationales de l’aviation, in: Le Matin (08.05.1931), S. 2. Kurz vor dem Ende der Exposition coloniale wurde eigens ein Bankett für die französische und ausländische Presse gegeben, um sich für ihr Engagement zu bedanken: vgl. Le Figaro, La presse française et étrangère remerciée par le maréchal Lyautey à l’Exposition coloniale (13.11.1931), S. 3. 26 So wurde schon vor dem Beginn der Ausstellung für die Lotterie geworben, sie fand kontinuierlich ihren Platz in den großen Tageszeitungen. Darüber hinaus wies Le Figaro vermehrt auf das Angebot der französischen Bahnlinien hin, mit dem man zu einem Sonderpreis zur Exposition coloniale anreisen konnte: Vgl. Le Figaro (07.08.1931). Die großen illustrierten Magazine wie l’Illustration gaben Sondernummern heraus: vgl. Le Petit Journal (22.05.1931). Außerdem wurde während der Ausstellung ein Wettbewerb zur Erstellung einer Medaille als Erinnerung an die Exposition coloniale ausgeschrieben: vgl. Le Figaro, À l’Exposition coloniale (23.05.1931), S. 4. In den großen Tageszeitungen (Le Petit Journal, Le Petit Parisien, Le Matin, Le Figaro) tauchte die ‚Exposition‘ regelmäßig auf der Titelseite oder aber zumindest in der Rubrik Veranstaltungen auf. Einige Zeitungen wie Le Figaro oder Le Matin schufen hier sogar eine eigene Rubrik: „À l’Exposition coloniale“. 27 Vgl. Olivier, Rapport general. Tome III, S. 451 f. 28 Vgl. Gouverneur général Olivier, Rapport général. Tome V. Première Partie – Les sections coloniales, Paris 1933, S. 49. Zum Erfolg der Section rétrospective: Vgl. Olivier, Rapport. Tome V, S. 144 f. 29 Vgl. Schriefers, Thomas, Für den Abriss gebaut? Anmerkungen zur Geschichte der Weltausstellungen, Hagen 1999. S. 14 ff. 24
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Diese als Produkt- und Leistungsschauen im nationalen Rahmen angesiedelten Ausstellungsformate dienten gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Selbstdarstellung als moderne, industrialisierte Nation.30 Allerdings fanden im Kontrast zu ‚eigenen‘ Produkten auch zunehmend ‚fremde‘, exotische Produkte und Darbietungen ferner Kulturen Eingang in das Programm.31 So finden sich bereits auf der Weltausstellung von 1855 in Paris Interpretationen und Darstellungen des Orients sowie u. a. eine Sektion zu Algerien. Hier stand allerdings noch die Werbung für einzelne exotische Produkte aus den Kolonien im Vordergrund. Die Weltausstellung von 1867 in Paris räumte den Kolonien einen deutlich größeren Raum ein: Die Zahl der dargestellten Kolonien wurde ausgeweitet, Algerien erhielt eine Sondersektion. Aber vor allem wurde der Aspekt des Spektakels, der Demonstration von Tänzen, Handwerksund Kochkunst etc. verstärkt, was auch eine Erhöhung der ‚indigenen‘ Präsenz auf der Ausstellung bedeutete.32 1889 waren bereits Völkerschauen und Rekonstruktionen von indigenen Dörfern fest in das Ausstellungskonzept integriert.33 Es gab ein ‚Negerdorf ‘ und sogar eine ‚Rue du Caire‘ auf der Weltausstellung zu sehen: „An unprecedented sample of colonial life was culled together in order to seduce the metropolitan public and familiarize it with ‚its‘ far off possessions.“34 Auch auf der Weltausstellung von 1900 gab es eine eigene koloniale Sektion am Trocadéro in Form verschiedener Pavillons. Hier bot man ein lebendes Diorama der Insel Madagaskar dar.35 Die Weltausstellungen waren nicht zuletzt für die Parti colonial und die koloniale Lobby in Frankreich eine Möglichkeit, mit der ‚kolonialen Idee‘ eine breitere Masse an Franzosen zu erreichen.36 Parallel entwickelte sich ein Format, das teilweise in die Welt- und Kolonialausstellungen integriert wurde, aber von diesen zu unterscheiden ist. Ab 1877 gab es im Pariser Jardin d’acclimatation sogenannte ‚spectacles ethnologiques‘ zu sehen, die die Zur-
Vgl. Plato, Alice von, Zwischen Hochkultur und Folklore: Geschichte und Ethnologie auf den französischen Weltausstellungen im 19. Jahrhundert, in: Grewe, Cordula (Hrsg.), Die Schau des Fremden, Stuttgart 2006. S. 45–68. 31 Vgl. Schriefers, Für den Abriss gebaut?, S. 30. sowie: Plato, Alice von, Präsentierte Geschichte, Ausstellungskultur und Massenpublikum im Frankreich des 19. Jahrhunderts, Frankfurt/New York 2001. S. 142 f. Von Plato schildert hier bereits auf der ersten Pariser Weltausstellung von 1855 die Präsenz kolonialer ‚Werbeprodukte‘, die die Franzosen von ‚ihren‘ Kolonien überzeugen sollten. 32 Vgl. Lemaire, Sandrine / Blanchard, Pascal / Bancel, Nicolas, Milestones in colonial culture under the second empire (1851–1870), in: Blanchard, Pascal / Lemaire Sandrine / Bancel, Nicolas / Thomas, Dominic (Hrsg.), Colonial culture in France since the revolution, S. 75–89. S. 75 ff. 33 Vgl. bildliche Dokumentation in: Crary, Jonathan, Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur, Frankfurt a. M. 2002. S. 186f, sowie die Ausführungen von Alice von Plato, vgl. dies., Zwischen Hochkultur und Folklore: Geschichte und Ethnologie auf den französischen Weltausstellungen im 19. Jahrhundert, S. 55 f. 34 Lemaire, Sandrine / Blanchard, Pascal, Exhibitions, Expositions, Media Coverage, and the colonies (1870–1914), in: Blanchard, Pascal / Lemaire Sandrine / Bancel, Nicolas / Thomas, Dominic (Hrsg.), Colonial culture in France since the revolution, S. 90–97. S. 92. 35 Vgl. ebd. S. 91 f. und Rioux, La France coloniale. Sans fard ni déni, S. 55 ff. 36 Vgl. Bancel/Blanchard/Gervereau, Images et Colonies, S. 61. 30
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schaustellung bestimmter Ethnien und Volksgruppen vor einem Publikum meinten.37 Auf den Weltausstellungen kann man davon für Paris ab 1879 ausgehen. Sie waren für das breite Publikum zugänglich und dienten der Belustigung, dem Vergnügen, aber auch der wissenschaftlichen Untersuchung der verschiedenen menschlichen ‚Rassen‘. Auch während der Exposition coloniale von 1931 gab es eine solche Ausstellung von ‚Canaques‘, die als ‚Menschenfresser‘ präsentiert wurden. Diese fand allerdings im Bois de Boulogne auf Veranlassung der Fédération des anciens coloniaux statt und war nicht mit der internationalen Kolonialausstellung verbunden. In der Zeit der 1930er Jahre hatte die französische Bevölkerung dementsprechend schon länger Gelegenheit, sich mit verschiedenen Repräsentationen der Kolonien und des Kolonialreichs in der Metropole vertraut zu machen. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts hatte der Kolonialismus indirekt in Form des Orientalismus und Exotismus seinen Weg in die Presse und in das Verlagswesen gefunden.38 Die Faszination für ferne, fremde Kulturen wurde in Reiseberichten, Abenteuerromanen und Reportagen über Expeditionen befördert.39 Neben der Präsenz des Themas in Büchern, Zeitschriften und in der Werbung40 lassen die Zahl der Kolonialausstellungen, die quantitative Steigerung der Präsenz von kolonialen Sektionen auf den Weltausstellungen und der Veranstaltungen im Jardin d’acclimatation sowie die Höhe der dort verzeichneten Besucherzahlen vermuten, dass zumindest im Alltag der Pariser Bevölkerung die Kolonien präsent waren. So zählt Bancel zwischen 1877 und 1912 etwa 30 ethnologische Schauen im Jardin d’acclimatation.41 Und darüber hinaus gibt Régis Guyotat für die ethnologische Ausstellung von 1878 eine Besucherzahl von bereits 985 000 an.42 Ende des 19. Jahrhunderts waren die kolonialen Sektionen auf den Weltausstellungen etabliert und 1906 hatte die erste nationale Kolonialausstellung der Metropole in Marseille stattgefunden. Daneben gab es auch kleinere Schauen bzw. umherziehende Völkerschauen in kleineren Städten im ländlichen Gebiet. Wenn man die Studie von Gilbert Meynier hinzuzieht, waren die Kolonien im visuellen Alltag der Franzosen sehr präsent, auch wenn der Schwerpunkt der jeweiligen Darstellung in Bezug auf das Thema der Kolonien durchaus variieren konnte.43 Bancel, Blanchard und Lemaire stellen hier sogar die These von einer kolonialen bzw. imperialen Kultur auf. Sie gehen davon aus, dass sich eben diese zwischen 1871
Vgl. Bancel, Nicolas / Blanchard, Pascal / Lemaire, Sandrine, Ces zoos humains de la République, in: Le Monde diplomatique (août 2000). S. 16–17. S. 16. 38 Vgl. Bancel/Blanchard/Gervereau, Images et Colonies, S. 61. 39 Vgl. Thomas, Martin, The French Empire between the wars. Imperialism, politics and society. Manchester u. a. 2005. S. 185 ff. 40 Vgl. Droz, Bernard, La fin des colonies françaises, Paris 2009. S. 26. 41 Vgl. Bancel/Blanchard/Lemaire, Ces zoos humains de la République, S. 16. 42 Vgl. Guyotat, Régis, Zoos humains, in: Le Monde (16./17.01.2000), S. 12. 43 Vgl. Meynier, Gilbert, L’organisation de la propagande, in: Bancel, Nicolas / Blanchard, Pascal / Gervereau, Laurent (Hrsg.), Images et Colonies. Iconographie et propagande coloniale sur l’Afrique française de 1880 à 1962, Paris 1993. S. 113–124. S. 124. 37
Die ‚Exposition coloniale internationale‘ von 1931 und das Musée des Colonies
und 1931 ausbildete und 1931 zu ihrem Höhepunkt gelangt. Die Autoren verstehen unter diesem Konzept ein Kolonialdispositiv, also ein Bündel von Diskursen, Praktiken und Institutionen, das die französische Gesellschaft durchzog und sogar zur Ausprägung eines kolonialen Habitus führte.44 Patricia Morton betont die ‚koloniale‘ Flut, die besonders in den 1920er Jahren die Republik erfasste und sich in den verschiedenen Medien ausdrückte.45 Aber auch parallele Phänomene wie die Zunahme der Einwanderer aus den Kolonien während und auch nach dem Ersten Weltkrieg46 oder die Etablierung von Subkulturen wie der Jazz-Szene in Paris um 1920 im Umfeld einer Josephine Baker machten die Präsenz der Kolonien im Herzen der Republik deutlich.47 Trotzdem ist hier anzumerken, dass die schlichte Präsenz der Kolonien über verschiedene Repräsentationsformen in der Metropole noch lange keine Rückschlüsse auf die tatsächliche Wirkung derselbigen auf die breitere öffentliche Wahrnehmung zulässt.48 Durch die allgemein zunehmende Begeisterung der breiten Masse für fremde Völker und ihre Kultur wurden auf internationaler wie auf nationaler Ebene explizite Kolonialausstellungen konzipiert, die eine Vorbildrolle für die Exposition coloniale von 1931 hatten. Im Ausland hatte sich schon vermehrt das Konzept der Kolonialausstellung gezeigt. So zum Beispiel die große ‚Empire Exhibition‘ in Wembley von 1924/2549 oder 1930 in Antwerpen die ‚Internationale, koloniale und maritime Schau und Ausstellung der alten flämischen Kunst Antwerpen 1930‘.50 Die nationalen Kolonialschauen spielten sich häufig in großen Handelsstädten wie Lyon, Bordeaux oder Marseille ab.51 Die erste nationale koloniale Ausstellung in der Metropole fand 1906 in Marseille statt. Welt- und Kolonialausstellungen als Gründungsanlässe für nationale Kolonialmuseen in Europa Die Welt- und Kolonialausstellungen boten dabei häufig den Anlass, wie auch im Falle des Musée des Colonies, zur Errichtung eines nationalen Kolonialmuseums. Auch wenn die Konzeptualisierung eines solchen Museums nicht immer direkt mit der Planung der Ausstellung einherging, so wurden doch zumindest oft Forderungen nach
Vgl. Blanchard, Pascal / Lemaire, Sandrine, Avant-propos. La constitution d’une culture coloniale en France, in: dies. (Hrsg.), Culture coloniale 1871–1931. La France conquise par son Empire, S. 5–39. 45 Vgl. Morton, The civilizing mission of architecture: the 1931 international colonial exposition in Paris, S. 25 f. 46 Vgl. Blévis, Laure, Des „indigènes“ en métropole?, in: dies. (u. a.) (Hrsg.), 1931. Les étrangers au temps de l’exposition coloniale, Paris 2008. S. 28–35. S. 28 f. 47 Vgl. Rioux, La France coloniale. Sans fard ni déni, S. 66 f. 48 Vgl. Thomas, The French Empire between the wars. Imperialism, politics and society, S. 186. 49 Vgl. McKenzie, John, Propaganda and Empire, Manchester 2003. S. 98. 50 Vgl. Schriefers, Für den Abriss gebaut?, S 63. 51 Vgl. Palà, Documents Exposition coloniale Paris 1931, S. 6. 44
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einem solchen gestellt. Das früheste Beispiel wird von Belgien geliefert: Das belgische Kongomuseum wurde im Rahmen einer Kolonialausstellung in Tervuren 1897 gegründet.52 Das Musée du Congo belge ging auf eine erste Sammlung von Objekten aus dem Kongo zurück, die Stanley mitgebracht hatte. Darüber hinaus kannte Belgien bereits früh in den 1880er und 1890er Jahren Kolonialschauen, wie beispielsweise in Antwerpen. Vor diesem Hintergrund und dem Engagement Leopolds II. wurden schnell Forderungen nach einem eigenen Kolonialmuseum laut. Es sollte zur kolonialen Erziehung der Belgier beitragen und der kolonialen Propaganda dienen. Dementsprechend wurde ein prachtvolles Gebäude bei C. Girault in Auftrag gegeben, der zuvor beispielsweise den Petit Palais in Paris entworfen hatte. Gefolgt wurde Belgien von Großbritannien: 1886 ging aus der Colonial and Indian Exhibition in South Kensington die Forderung des Prince of Wales hervor, zu Ehren der Queen ein Kolonialmuseum zu errichten. So wurde 1893 das Imperial Institute of the United Kingdom, the colonies and India mit großem Pomp unter Präsenz eines Massenpublikums zu Ehren des Thronjubiläums von Königin Viktoria (1887): „Conceived during a moment of high imperial sentiment […]“ eröffnet.53 Es hatte zum Ziel, die Entwicklung, den Ausbau und die Nutzbarmachung der Kolonien zu fördern, eine Art Volkserziehung in Kunst und Wissenschaft zu leisten und die Verbreitung und Förderung der kommerziellen und industriellen Potenziale des Empire zu unterstützen. Zu diesem Zweck wurde von Thomas Collcut ein imposanter Neubau im viktorianischen Stil gebaut. Es sollte die konkrete physische Präsenz des Empire in der Metropole London darstellen und hatte daher einen starken Symbolcharakter.54 Das deutsche Kolonialmuseum, das von 1899 bis 1915 bestand, wurde in Folge einer Gewerbeausstellung in Berlin-Moabit (1896), die eine große koloniale Sektion beinhaltete, vom Kaiser gegründet.55 Es wurde in einem bereits existierenden Bau, dem Lehrter Bahnhof untergebracht. Bereits bevor es geschaffen wurde, gab es eine rege Aktivität in Form von Vorträgen und Ausstellungen zu den Kolonien, die einerseits der Legitimation, andererseits der Popularisierung des deutschen Kolonialreichs dienen sollten. Die Masse der deutschen Bevölkerung sollte erreicht und ein koloniales Bewusstsein geweckt werden. Besonders die Flotten- und Kolonialverbände oder auch die deutsche Kolonialgesellschaft setzten sich für Handelsmuseen oder auch Exportmusterlager ein, die allerdings eher einem pro-
Vgl. Cornelis, Sabine, Le musée du Congo belge, vitrine de l’action coloniale (1910–1930), in: Taffin, Dominique, Du musée colonial au musée des cultures du monde, Paris 2000. S. 71–86. 53 Bremner, Alex G., „Some Imperial Institute“: Architecture, Symbolism, and the ideal of Empire in Late Victorian Britain, 1887–93, in: Journal of the Society of Architectural Historians, Vol. 62, No. 1 (2003), S. 50–73. S. 50. 54 Vgl. ebd. S. 50 f. 55 Vgl. Zeller, Joachim, „das Interesse an der Kolonialpolitik fördern und heben“ – Das deutsche Kolonialmuseum in Berlin, in: Heyden, Ullrich van der (u. a.) (Hrsg.), Kolonialmetropole Berlin, Berlin 2002. S. 142–149. 52
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fessionellen Publikum galten.56 Damit zählt das Musée des Colonies zu den eher späten Gründungen im europäischen Vergleich, was durchaus auch Anlass zur Sorge gab. Bereits während der Planung der Exposition coloniale verglich man sich in Bezug auf das Museum mit anderen Nationen: C’est ici [à Paris] encore que l’Exposition Coloniale doit avoir lieu si nous voulons qu’elle se survie par une institution plus durable qu’elle. Ses promoteurs désirent qu’un musée colonial permanent soit enfin constitué en France. « Beaucoup connaissent le musée colonial de l’Université de Londres. Plus nombreux encore sont ceux qui ont visité, à Tervueren [sic], les imposantes collections qui témoignent de la grandeur de l’œuvre accomplie par le roi Léopold et sont, pour le Congo belge, le plus efficace instrument de propagande. […] « C’est en fondant un musée de ce genre que nous ferions connaître les colonies françaises et que nous aiderons à leur prospérité. »57
Man wollte in Frankreich nun endlich auch einen dauerhaften Ort schaffen, an dem die ‚koloniale Idee‘ ihren Platz fand und auf die französische Bevölkerung wirken konnte. Vor diesem Hintergrund besuchte denn auch der mit der Section de synthèse betraute Beauftragte des Kolonialministeriums, Victor Beauregard, die anderen europäischen Häuser. Allerdings wurden diese als Inspiration für wenig hilfreich befunden, da sie jeweils unterschiedlichen Zielen folgten.58 Auch wenn also am Ende wenig aus den anderen bereits vorhandenen Museen übernommen wurde, so war doch die reine Existenz dieser Häuser und die zu ihnen empfundene Konkurrenz eine starke Motivation für die Umsetzung des eigenen Museums. Vergleich: Das Musée d’ethnographie du Trocadéro und das Musée des Colonies Das Musée d’ethnographie kann vor diesem Hintergrund als alternatives Museumsmodell verstanden werden, das aber auch im weitesten Sinn seine Ursprünge im französischen Kolonialismus hatte. Es wurde bereits 1882 gegründet und befand sich im Palais du Trocadéro. Ähnlich wie das Musée des Colonies wurde es während einer Weltausstellung aus einer speziellen, den Kolonien gewidmeten Sektion heraus geplant: 1878 gab es als eigene Sektion das Musée d’ethnographie des missions scientifiques im Palais de l’Industrie, das verschiedene außereuropäische Objekte zeigen Vgl. Schneider, Gerhard, Das deutsche Kolonialmuseum Berlin und seine Bedeutung im Rahmen der preußischen Schulreform um die Jahrhundertwende, in: Hist. Museum Frankfurt a. M. (Hrsg.), Die Zukunft beginnt in der Vergangenheit, Frankfurt a. M. 1982. S. 155–186. S. 157 ff. 57 Gouverneur général Olivier, Rapport général. Tome Premier – Conception et Organisation, Paris 1932. S. 10. 58 Vgl. Olivier, Rapport général. Tome V, S. 36. Natürlich gab es in Frankreich bereits vereinzelt lokale Kolonialmuseen wie in Lille, Marseille oder Lyon. Vgl. dazu Fournier, Catherine, Marius-Ary Leblond, Écrivains et critiques d’art, Paris 2001. S. 309 ff. 56
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sollte. Aus dieser Sektion heraus erwuchs die Idee, ein permanentes ethnografisches Museum einzurichten.59 Im Gegensatz zum Musée des Colonies herrschte hier von Beginn an ein wissenschaftlicher Ansatz vor. Sein erster Leiter E. T. Hamy entwickelte für sein Museum ein eigenes ethnografisches Ordnungssystem:60 Er wählte die geografische Herkunft bzw. das jeweilige Ursprungsland oder die Ursprungskultur als Orientierungspunkt sowie die Tatsache, ob es sich um noch existierende oder bereits verschwundene Kulturen handelte. Die grundlegende Basis für seine Ordnung war darüber hinaus die Zuordnung der Objekte zu menschlichen Bedürfnissen. Er ging davon aus, dass jeder Mensch eine Art ‚Instinkt‘ zur Schöpfung solcher Manifestationen hatte. Dabei konnten diese Objekte durchaus einen bestimmten ästhetischen Wert haben. Er sprach ihnen einen eigenständigen Kunstcharakter aber ab, da dieser für ihn ein besonderes Maß an ‚intelligence‘ verlangte, das eben nicht jeder menschlichen Rasse eigen war.61 Einerseits wird also ganz klar die Orientierung an den zeitgenössisch aktuellen, ethnografischen Erkenntnissen sichtbar. Andererseits wird die Einbindung in eine koloniale, evolutionär gedachte Hierarchie der Kulturen deutlich. Dies wurde in der Folge, nach einer längeren Phase des Verfalls, teilweise durch Georges-Henri Rivières fortgesetzt und auf eine neue Ebene gehoben.62 Er war ab 1928 im Musée ethnographique tätig und gestaltete mit Paul Rivet gemeinsam in den 30er Jahren, also parallel zur Schaffung des Kolonialmuseums, das Musée ethnographique komplett um. Er wollte es einerseits sehr viel stärker am Publikum ausrichten und entwickelte dazu explizit neue Vermittlungsstrategien. Andererseits blieb jedoch die Wissenschaft, die Ausrichtung an der Ethnografie zentral, wobei er eine neue Dimension ergänzte: Das Museum sollte nun auch vermehrt Künstler anziehen und inspirieren. Die grundsätzliche Strukturierung der Sammlungsbestände orientierte sich an geografischen, ethnischen und materiellen Kriterien, wobei Rivière zwei grundsätzliche Präsentationsformen unterschied: die Herausstellung einzelner besonderer Objekte und die Inszenierung als ‚begehbare Depots‘.63 Zudem wollte er die bisher üblichen Präsentationsformen wie die Verwendung von Wachspuppen oder Dioramen etc. komplett abschaffen. Hier sollte das Objekt für sich stehen und nicht als Teil einer folkloristischen Animation instrumentalisiert werden. Dazu sollte auch beitragen, dass Objekte umfassend dokumentiert und kontextualisiert wurden. Das Musée permanent des Colonies
Vgl. Gorgus, Nina, Georges Henri Rivière: „Lehrjahre“ am Pariser Musée d’ethnographie, 1928–1937, in: Grewe, Cordula, Die Schau des Fremden, Stuttgart 2006, S. 187–206. S. 187. 60 Wie Susanne Mersmann erklärt, ordnete Hamy die Ethnografie den Naturwissenschaften und genauer den Wissenschaften über den Menschen zu, zu denen er auch die Linguistik, die vergleichende Mythologie und die Soziologie zählte. Er grenzte sie von der Anthropologie bzw. der physischen Ethnografie, aber auch von der Ethnologie ab. Vgl. Mersmann, Susanne, Die Musées du Trocadéro: Viollet-le-Duc und der Kanondiskurs im Paris des 19. Jahrhunderts, Berlin 2012. S. 30 ff. 61 Vgl. ebd. S. 243 ff. 62 Vgl. Gorgus, Georges Henri Rivière: „Lehrjahre“ am Pariser Musée d’ethnographie, 1928–1937, S. 190 ff. 63 Vgl. ebd. S. 191. 59
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kann in vielerlei Hinsicht als das Gegenmodell dieses Hauses gesehen werden: Auch wenn das Musée des Colonies thematische Einheiten zur indigenen Kunst, Anthropologie, Ethnologie und Ethnografie besaß, so war doch von Anfang an für dieses Museum ein anderer Ansatz gewählt worden. Hier ging es eben gerade nicht um einen wissenschaftlichen Ansatz, sondern um die Darstellung eines glorreichen und siegreichen Empire. Die Objekte wurden dementsprechend willkürlich ausgewählt und keinesfalls in eine eigens entworfene wissenschaftliche Systematik eingeordnet. Es ging vielmehr darum, thematische Einheiten zu finden, die halfen, die koloniale Meistererzählung eingängig und interessant zu schildern. Daher war die bei Rivière ‚verpönte‘ Inszenierung in Dioramen, lebendigen Szenen, gang und gäbe: ‚Die Kolonialgeschichte‘ musste schließlich lebendig und interessant erzählt werden, damit der französische Besucher ein entsprechendes Bild vom siegreichen, ruhmreichen Empire, der Exotik der Kolonien, der dortigen Schätze etc. bekam und die Sinnhaftigkeit des Kolonialreichs dementsprechend begriff. Symbolisch für diesen Gegensatz stand auch die Sammlungspolitik der beiden Häuser: Das Musée d’ethnographie bezog dabei viele Bestände aus den von der Regierung ausgesandten Forschungsexpeditionen, die explizit Objekte bestimmter Kulturen sammeln sollten und die darin geschult wurden, die gefundenen Objekte genau zu dokumentieren.64 Das Musée des Colonies hingegen suchte wahllos Souvenirs und Accessoires für die Illustrierung eines fiktiven kolonialen Märchens, die es möglichst einfach kombinieren und inszenieren konnte. Trotz dieser augenfälligen Unterschiede darf hier nicht übersehen werden, dass auch das überarbeitete Musée d’ethnographie noch einige Zeit kolonialen Zwecken diente. So beschreibt Rivet selbst die Funktion des Hauses folgendermaßen: „Sie (die Museen) sind auch für die zukünftigen Siedler und selbst für die gegenwärtigen Siedler ein wichtiges und unerlässliches Dokumentationszentrum der Bevölkerungen, die verwaltet werden sollen.“65 Diese Einordnung veranschaulicht den Grad der Einbindung solcher Institutionen in die koloniale Propaganda der Zeit. Gleichzeitig wird ein wesentliches Merkmal des Musée des Colonies in Abgrenzung vom Musée ethnographique deutlich: Ersteres richtete sich vor allem an die Bevölkerung der Metropole und sollte diese für das Empire begeistern. Daher konnte es hier gar nicht um einen wissenschaftlichen, systematisch erfassenden Zugang gehen. Vielmehr stand die Konstruktion der Fiktion eines fernen Paradieses zur Legitimation der eignen Kolonialpolitik im Vordergrund. Ein Zugang, wie Rivière ihn wählte, konnte in diesem Museum erst avisiert werden, als es in den 1960er Jahren in ein Kunstmuseum umdeklariert wurde. Zu diesem Zeitpunkt finden sich dann viele der Überlegungen Rivières in der Museumskonzeption wieder.
Im Rapport wird wortwörtlich von einer „chasse aux documents“ gesprochen. Vgl. Olivier, Rapport général. Tome V, S. 37. 65 Paul Rivet zit. nach: Gorgus, Georges Henri Rivière: „Lehrjahre“ am Pariser Musée d’ethnographie, 1928–1937, S. 194. 64
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Ephemere Kolonialausstellung und permanentes Kolonialmuseum – Planung und Umsetzung des Musée des Colonies Aus dem zuvor beschriebenen nationalen Konkurrenzgedanken heraus und der Tatsache, dass das Musée d’ethnographie sich wenig als koloniales Propagandamuseum eignete, wurde daher von Beginn der Planung der großen internationalen Kolonialausstellung an, die Verwirklichung eines eigenen nationalen Kolonialmuseums, das denen anderer Länder ebenbürtig sein sollte, vorgesehen. Dabei werden die ersten Ideen diesbezüglich zwischen 1910 und 1912/13 angesetzt.66 Im offiziellen Bericht des Kolonialministeriums wird als Ausgangspunkt die Initiative des Abgeordneten Louis Brunet zwischen 1912 und 1913 genannt.67 Im Bericht der Abgeordnetenkammer von 1919 wird sowohl auf die frühe Initiative der Abgeordneten Brunet und Robaglia als auch auf die des damaligen Kolonialministers Lebrun von 1912 verwiesen, der eine Vorstudie zu einem Kolonialmuseum bei Louis Dumoulin in Auftrag gegeben hatte, die aber durch den Ersten Weltkrieg zum Erliegen gekommen war.68 Nach dem Krieg wurde das Vorhaben fortgesetzt. Auch jetzt wurden in der Planung Ausstellung und permanentes Museum verbunden. So stand auch fest, dass das künftige Musée permanent des Colonies69 als einziger Bau der Ausstellung dauerhaft erhalten werden sollte,70 während die übrigen Bauten wieder verschwinden würden und der Bois de Vincennes damit in seinen Ursprungszustand zurückversetzt werden würde. Die Exposition coloniale wurde maßgeblich vom Kolonialministerium geplant. Daher unterstand auch das zukünftige Musée des Colonies ab 1920 in der Planung direkt diesem Ministerium.71 Eine der Hauptaufgaben des Museums während der Exposition sollte die Präsentation einer Section de synthèse, die den aktuellen Stand des französischen Empire zur Zufriedenheit des Ministeriums resümierte, sein.72 Dies ist vor dem Hintergrund der Propagandaoffensive der Regierung in der Zwischenkriegszeit, Vgl. Duval, Eugène-Jean, Aux sources officielles de la colonisation française. 1870–1940, Paris 2008. S. 231. 67 Vgl. Olivier, Rapport général. Tome Premier, S. 16. 68 Vgl. Outrey, Ernest, Rapport à la Chambre des Députés No. 6061. Session de 1919. (19.04.1919). S. 4; Archiv MQB, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outre-mer, Série II – Organisation DA000911/57337. 69 Im Folgenden wird der Begriff Musée des Colonies verwendet. Daneben werden in der Literatur auch die Bezeichnungen Palais de la Porte Dorée oder Palais des Colonies verwendet. 70 Vgl. Gouverneur général Olivier, Rapport général. Tome II – Construction, Paris 1933, S. 65. 71 Vgl. Olivier, Rapport général, Tome V, S. 23. 72 Lyautey äußerte bereits im August 1928, welche Aufgabe das Musée des Colonies übernehmen solle: „Le musée permanent présentera, pendant la durée de l’Exposition la synthèse de notre grande œuvre coloniale: il contiendra des stands réservés à nos grands produits coloniaux et présentera une documentation complète sur le développement moral, physique, intellectuel et social des indigènes. Une section rétrospective fera revivre dans le même palais les plus glorieux souvenirs de notre magnifique histoire coloniale.“ Lyautey zit. nach Jacques Hubert, vgl. Hubert, Jacques, L’Exposition coloniale de 1931, in: L’Illustration No. 4458 (11.08.1928). S. 149–152. S. 150. 66
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hauptsächlich getragen von Albert Sarraut, zu betrachten. Er sorgte dafür, dass in den 1920er Jahren vermehrt wieder die Betonung des Konzepts der Plus Grande France und die Promotion der Kolonien im Vordergrund standen. Nach der Beteiligung kolonialer Truppen am Ersten Weltkrieg und ihrem Einsatz zur Verteidigung der Metropole bemühte er sich, die Notwendigkeit der Nutzbarmachung der Kolonien für das Mutterland zu demonstrieren und damit verbunden Modernisierungsmaßnahmen einzuleiten.73 Dies bedeutete in der Folge eine regelrechte Propagandaoffensive für die 1920er und 1930er Jahre.74 Die Größe und das Ausmaß der Exposition coloniale sind u. a. vor diesem Hintergrund zu sehen. Das Kolonialreich konnte auf der Exposition coloniale in all seiner Blüte gefeiert werden und machte die Stärke der Republik und Frankreichs nach innen und außen deutlich. Doch 1931 war bereits auch der Niedergang des Empire spürbar: Das Kolonialreich geriet immer mehr unter Druck, Mythos und Realität klafften immer stärker auseinander. Vor diesem ambivalenten Hintergrund kann man sich die Frage stellen, ob die Exposition coloniale nun tatsächlich für den letzten großen Höhepunkt des französischen Kolonialismus stand oder aber den Zeitgenossen der Niedergang des Empire schon bewusst war und die Ausstellung daher nur eine illusorisch-nostalgische Konstruktion einer längst vergangenen ‚epopée coloniale‘ darstellte. Doch bevor diese ‚epopée‘ überhaupt gefeiert werden konnte, gestaltete sich die Umsetzung der Ausstellung als schwierig. Es gab vor allem auf zwei Ebenen Probleme: auf der zeitlichen und auf der räumlichen Ebene. Zeitlich musste die Ausstellung und damit auch der Bau des Palais des Colonies mehrfach verschoben werden. Der Bau wurde ab 1916 immer wieder neu angesetzt, bis schließlich 1931 als realistisch angesehen wurde. Dies hatte zum Teil auch mit dem zweiten Problem, der räumlichen Festlegung auf Paris, zu tun. Es gab einige andere Ausstellungsformate, die hier auf die Festlegung Einfluss nahmen, wie die Exposition des Arts décoratifs von 1924. Doch viel schwieriger gestaltete sich der Umgang mit den Ansprüchen Marseilles, das sich zu ‚der kolonialen Stadt‘ Frankreichs entwickelt hatte und wo bereits 1906 eine koloniale Schau stattgefunden hatte.75 Marseille war zu diesem Zeitpunkt die große Konkurrenzstadt in Bezug auf Kolonialausstellungen und man hatte durchgesetzt, dass hier 1922 eine nationale Schau stattfinden sollte. Daher musste man sich zeitlich unterordnen.76 Der zweite räumliche Aspekt betraf die Positionierung der Ausstellung innerhalb Paris‘. Erst nach einigen Überlegungen entschied man sich für einen eher peripher gelegenen Teil von Paris: den Bois de Vincennes. Dieses Viertel musste für die Ausstellung völlig neu urban erschlossen werden. Die Während der Exposition coloniale wurde für das Werk Sarrauts geworben: Vgl. Artikel in Le Figaro, Grandeur et servitude coloniale, (20.07.1931), S. 5. Darüber hinaus war Sarraut teilweise bei Eröffnungszeremonien zugegen und hielt eine Konferenz über Indochina ab. Vgl. Le Petit Journal, À l’Exposition coloniale (16.05.1931); Le Matin, À l’Exposition coloniale – Les conférences à l’Exposition, (23.05.1931). 74 Vgl. Bancel/Blanchard/Gervereau, Images et Colonies. S. 100. 75 Vgl. Rioux, La France coloniale. Sans fard ni déni, S. 55 ff. 76 Vgl. Outrey, Rapport à la Chambre des Députés No. 6061. Session de 1919. (19.04.1919). S. 2 f. 73
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Metro-Linie 8 wurde extra zu diesem Zweck verlängert, Straßen wurden gebaut, alte Baracken abgerissen. Der offizielle Bericht des Kolonialministeriums konstruiert 1927 als das entscheidende Jahr für die tatsächliche Umsetzung des Vorhabens, das Jahr, in dem Maréchal Lyautey die Funktion des Generalkommissars der Ausstellung von General Angoulvant übernommen hatte.77 Lyautey blieb in der Folge der offizielle Leiter der Ausstellung. Vor allem die Dauer der Planungsphase und die Beharrlichkeit, mit der hier von politischer Seite das Projekt eines nationalen Kolonialmuseums vorangetrieben wurde, veranschaulichen die Bedeutung, die diesem offenbar beigemessen wurde. Man versprach sich viel von der Wirkmacht einer dauerhaft in der Hauptstadt verankerten Institution zur Verbreitung der kolonialen Propaganda. Das architektonische Ebenbild der „Plus Grande France“: Laprade und das Musée des Colonies Die Grundsteinlegung für das Musée des Colonies konnte allerdings erst am 5. November 1928 erfolgen.78 Albert Laprade vollendete den Bau dann in Zusammenarbeit mit Léon Jaussely innerhalb von zweieinhalb Jahren. Sein Partner und Vorgänger in der Planung des Museums, hatte sich einen verspielten und exotischeren Bau vorgestellt,79 jedoch hatte sich schließlich Laprade mit einem klassischen Art Déco-Bau durchgesetzt, der sich stilistisch an der griechischen Antike orientierte.80 Im Fall von Laprades Entwurf wurde die koloniale Ausrichtung des Baus eher über die dekorative Ausgestaltung verdeutlicht, weniger über die Architektur an sich. Der Bau Laprades umfasst 5 000 m2 und orientiert sich an einem rechteckigen Grundriss. Er formiert sich um ein Atrium, das den Festsaal des Gebäudes ‚Salle des fêtes‘ beherbergte.81 Die einzelnen Etagen laufen um dieses innere Atrium herum. Das Gebäude ist in ein Untergeschoss, ein leicht erhöhtes Erdgeschoss, ein Zwischengeschoss, das vor allem aus Galerien um den Salle des fêtes besteht, und ein Obergeschoss (erster Stock) aufgeteilt.82 Der Eingang des Gebäudes befindet sich im erhöhten Erdgeschoss: symmetrisch in der Mitte der Frontfassade positioniert und nur über eine eindrucksvolle Treppe zugänglich. Die Front des Gebäudes wird durch dünne Säulen und die Skulptur Driviers auf der Haupttreppe gestaltet. Das immense Steinrelief, das Alfred Janniot umsetzte, nicht selten als ‚Steinteppich‘ betitelt, verleiht der frontalen Außenfassade einen monumenVgl. ebd. S. 28. Vgl. Olivier, Rapport general. Tome Premier, S. VI. Vgl. Morton, Patricia, The Musée des Colonies at the Colonial Exposition, S. 361 f. Vgl. Lemoine/Rivoirard, L’architecture des années 30, S. 159. Vgl. Rivoirard, Philippe, L’Exposition coloniale ou l’incitation au voyage, in: Musée municiaple de Billancourt (Hrsg.), Coloniales 1920–1940, Paris 1989. S. 67–81. S. 73 ff. 82 Vgl. Plans du musées des Colonies (1931), Archives du Musée du Quai Branly, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outre-mer, Série XI – Architecture DA000605/61644, S. 1. 77 78 79 80 81
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talen Charakter. Das Relief wurde innerhalb von 2 Jahren gefertigt und umfasst 1200 m2. Es thematisiert inhaltlich den wirtschaftlichen Nutzen der Kolonien für Frankreich. Seitlich am Gebäude angebracht wird dies durch eine Ehrentafel – „À ses fils qui ont étendu l’empire de son génie et fait aimer son nom au-delà des mers, la France reconnaissante.“ – und eine Liste mit den Namen der ‚Kolonialhelden‘ ergänzt.83 Das Motiv Janniots findet sein Pendant in den Fresken Ducos de la Hailles‘ im Festsaal, im Inneren des Palais: Hier wird in einem Hauptfresko dargestellt, welche Leistung Frankreich in den Kolonien vollbracht hat – eine bildgewordene Darstellung der Mission civilisatrice. Vollendet wird diese Darstellung von den Fresken in den beiden im erhöhten Erdgeschoss gelegenen ovalen Büros, seitlich des Haupteingangs, die dem leitenden Kommissar der Ausstellung Lyautey und dem Kolonialminister Reynaud zugedacht waren: Sie waren der Darstellung der asiatischen und der afrikanischen Kultur gewidmet. Da der Bau insgesamt von seiner Grundform her recht klassisch und schlicht gehalten wurde, fungierte die visuelle Ausgestaltung der dekorativen Elemente des Gebäudes als wichtiges Medium der Funktion des Museums.84 Das Bildprogramm des Musée des Colonies bedient sich im Fall der Außenfassade stark stereotyper Darstellungen der indigenen Völker aus den französischen Kolonien. Nacheinander von links nach rechts gelesen werden die verschiedenen Völker repräsentativ dargestellt: Amerika, Afrika, Asien und Ozeanien. Den häufig wenig bekleidet dargestellten Vertretern des jeweiligen Volkes werden typische Tiere, Pflanzen und Produkte der Region an die Seite gestellt. Die dargestellten Menschen sind fast ausnahmslos bei der Arbeit zu sehen. Hier dominiert die Idee des wirtschaftlichen Nutzens und Beitrags der Kolonien für/an die Metropole, die in Form einer nackten, weiblichen Gestalt, zentral über der Eingangstür positioniert, dargestellt wird. Der Logik des Inhalts folgend sind die meisten Figuren zentral auf die Personifikation Frankreichs ausgerichtet.85 Das Programm Ducos de la Hailles im Inneren des Museums entspricht der umgedrehten Variante dieser Meistererzählung: Im Hauptfresko an der hinteren Wand des Salle des fêtes findet sich zentral eine Personifikation Frankreichs als Frau, die von weiteren Frauengestalten, die die fünf Kontinente Afrika, Asien, Ozeanien, Amerika und direkt, neben Frankreich, Europa darstellen, umringt wird und ihnen den Frieden in Form einer Taube sendet. In diesem Fall werden die Werte und Tugenden, die Frankreich den Kolonien brachte, in den Vordergrund gerückt. Ergänzt wird diese Hauptdarstellung durch weitere Allegorien an den Seitenwänden des Saales, die u. a. die Industrie, Freiheit, Gerechtigkeit, Wissenschaft, die Kunst, den Frieden, die Arbeit und den Handel darstellen. Darüber hinaus finden sich in diesem Raum überall kleinere Szenen, die die Errungenschaften, die Frankreich den Kolonien brachte, veranschaulichen: Hygiene, medizinische Versorgung, den christli83 84 85
Vgl. Olivier, Rapport général. Tome II, S. 68. Vgl. Bouché, Le décor peint du musée national des Arts africains et océaniens, S. 402. Vgl. Jarrassé, Le décor du Palais des Colonies: un sommet d’art colonial, S. 91 ff.
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chen Glauben, Zivilisation, Kultur, Technik.86 Das Gebäude und seine konkrete visuelle Gestaltung sprechen also schon, bevor sie als Museum fertiggestellt waren und eine Sammlung präsentieren konnten, eine deutliche Sprache: Die Kolonien hatten einen unbestreitbaren wirtschaftlichen Nutzen, der die Metropole mit Produkten versorgte, umgekehrt einen Absatzmarkt für Frankreich bot und es in seiner Unabhängigkeit auch gegenüber anderen Nationen nur stärken konnte. Zudem legitimierte sich das Empire ganz klar über die Werte, Tugenden und die Zivilisation, die die Metropole den Kolonien im Gegenzug brachte. Kolonialgouverneur Léon Cayla verfasste zu Beginn der Ausstellung diesbezüglich einen Artikel.87 Cayla macht zum einen klar, dass das Museum für ihn die Idee der „toute la France d’outre-mer“ oder auch der „plus grande France“ verkörpere.88 Zum anderen verwendet auch er die Argumentationsfigur der doppelten Vision eines Gewinns für die Metropole, aber auch eines Dienstes an den Kolonien. Diese Botschaft gründete sich nach wie vor auf einer klaren Hierarchie der Kulturen und Rassen. Die Grundsätzlichkeit, mit der architektonisch und visuell der Nutzen und die Rechtfertigung des Empires serviert wurden, erklärt auch die wesentliche Funktion, die das Musée des Colonies von Beginn an innerhalb der Exposition coloniale hatte: „En définitive, la visite du Musée permanent des Colonies doit servir de préface à la grande leçon des choses qui constituera l’Exposition coloniale“89. Dementsprechend befand es sich unmittelbar an der Porte d’honneur oder Porte Picpus, einem Haupteingangspunkt der Ausstellung. So lag es in unmittelbarer Nähe zu der eigens zu diesem Zweck ausgebauten Metrolinie 8, der Haltestelle an der Porte Dorée.90 Durch diese Lage strömte hier die größte Masse an Besuchern zuerst am Musée vorbei: Immerhin wurden an diesem Eingangspunkt ca. 20 000 000 von 32 000 000 Tickets gekauft.91 Bevor die Besucher die Ausstellung betraten, wurde ihnen der Rahmen der Ausstellung und damit auch ihre Hauptbotschaft durch das Museum vermittelt: Das Kolonialreich ist ein sinnvolles, Frankreich ebenso wie die Kolonien bereicherndes Unterfangen, das es fortzusetzen gilt. Frankreichs Großzügigkeit und Güte gegenüber den fremden Völkern rechtfertigen dabei sein Vorgehen. Seine kulturelle Höherwertigkeit und seine technisch wie wirtschaftlich weiterentwickelte Gesellschaft legitimieren die Herrschaft über andere Völker.
Vgl. Bouché, Catherine, Allegories coloniales, in: L’objet d’Art No. 7 (mai 1988). S. 88–97. S. 96. Vgl. Cayla, Léon, La Maison de la „Grande France“, in: Le Matin (05.11.1928), Titelseite. Vgl. dazu auch Bancel/Blanchard/Gervereau, Images et Colonies, S. 60. Exposé des motifs, Rapport au Chambre des députés 17 novembre 1927, zit. nach: Olivier, Rapport général. Tome Premier, S. 110. 90 Die Bezeichnung ‚Porte Dorée‘ rührt von der Lage ‚à l’orée du bois‘ her. Vgl. dazu: Murphy, Un palais pour une Cité, S. 27. 91 Im Rapport wird eine Aufschlüsselung der verkauften Eintrittkarten nach Eingängen aufgeführt. Für die Schätzung bezüglich der Besucher, die am Musée des Colonies vorbeikamen, wurden hier die Eingänge, die sich in unmittelbarer Nähe zum Musée, also an der Porte d’honneur, befanden, addiert. Im Rapport fallen darunter Eingang 2, 3, 3bis, 4 und 5. Vgl. Olivier, Rapport général. Tome III, S. 397. 86 87 88 89
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Lyautey und das „grand enseignement colonial“ des Musée des Colonies Neben dieser ganz konkreten Funktion des Musée und seiner Botschaft innerhalb der Ausstellung maß der Leiter der Exposition coloniale, Maréchal Lyautey, dem Kolonialmuseum auch in Zukunft eine prägende Rolle für Frankreich bei: Un grand enseignement colonial doit se dégager de cette manifestation [l’exposition coloniale], appelée à se perpétuer après sa disparition par l’édification d’un musée colonial permanent qui se dressera sur l’emplacement même de l’Exposition et qui sera l’indispensable annexe de la Maison coloniale, centre de renseignements, d’étude et de propagande que la France se doit de constituer en plein Paris. […] Ce musée constituera donc, sous une forme instructive et attrayante, la meilleure leçon de choses coloniale [sic] qu’il est d’un intérêt national de comprendre désormais dans nos programmes scolaires et de faire ensuite largement pénétrer dans tous les milieux.92
Der pädagogische, instruktive Charakter, der sich besonders in Bauten wie der Cité de l’information und eben im Musée des Colonies zeigte, war Lyautey besonders wichtig.93 Er wollte ein ‚koloniales Bewusstsein‘ beim französischen Volk wecken und die Bedeutung der Kolonien für Frankreich hervorheben. Das Museum konnte und sollte dies dauerhaft über die zeitlichen Grenzen der Exposition coloniale hinaus gewährleisten. Die Person Lyauteys selbst und seine Vision von den Kolonien war in Bezug auf das Musée des Colonies in der Folge maßgeblich. So ließ er in der Einleitung der Sonderausgabe zur Expostion coloniale von L’Illustration aus dem Jahr 1931 unter dem Titel „Le sens d’un grand effort“ seine Vision des Zusammenlebens von Metropole und Empire verlauten. Er sah das koloniale Engagement Frankreichs unter dem Paradigma „de réaliser une notion de solidarité humaine“ als Kampf gegen die Misere und Ignoranz in der Welt und interpretiert die Kolonialisierung als Möglichkeit der Eroberung der Herzen der Menschen in den Kolonien94 – gefolgt von einem Text des Generals Olivier unter dem Titel „L’exposition coloniale, œuvre de paix“. Auch in der Präsentation des Musée des Colonies im Rapport général wird auf die friedliche bzw. Frieden spendende Mission der Franzosen in den Kolonien hingewiesen.95 Dies bot eine mächtige Legitimationsformel, die es erlaubte, das eigene Wirken in den Kolonien als Dienst an der Menschheit zu deuten. Brigitta Kuster geht
Lyautey zit. nach Jacques Hubert, vgl. Hubert, Jacques, L’Exposition coloniale de 1931, in: L’Illustration No. 4458 (11.08.1928). S. 149–152. S. 150. Das in dem Zitat erwähnte „Maison coloniale“ war ein Wunschprojekt Lyauteys, das nie umgesetzt wurde. 93 So wurde noch während der Exposition pädagogisches Material für die Volksschulen herausgegeben: Le Petit Parisien, Autour de l’exposition coloniale – Un manuel tom-pouce pour les enfants des écoles primaires, (12.07.1931). S. 2. 94 Vgl. Maréchal Lyautey, Le sens d’un grand effort, in: L’Illustration, Exposition coloniale et internationale de Paris 1931, album hors série, 89e année/No. 4603 (mai 1931). 95 Olivier, Rapport général. Tome V, S. 10. 92
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so weit, diese ‚Friedensformel‘ der Ausstellung in Richtung einer neuen „colonisation de progrès“ zu deuten, die die friedliche Integration der fremden Völker meinte.96 Lyautey hatte als Gouverneur in Marokko eine durchaus neue Politik gegenüber den indigenen Volksgruppen angeschlagen und hatte vor allem vorhandene Machtstrukturen bestehen lassen wollen, um mit diesen zu kollaborieren und so nur indirekt ‚bestimmend‘ mitzuwirken.97 Dieser wohlwollende Diskurs der Kolonisation, der den kolonisierten Ethnien und ihren Eigenheiten einen gewissen Raum ließ und gleichsam eher einen ‚mitbestimmenden‘ Einfluss vorsah, bestimmte den Grundton der Ausstellung. Entsprechend dieser Ausrichtung betonte Lyautey für die Exposition coloniale, dass es ihm um einen würdigen Umgang mit den auf der Ausstellung präsenten, indigenen Volksgruppen gehe, und lehnte jede Art von Zurschaustellung einzelner Individuen oder auch Gruppen im Sinne einer Völkerschau oder eines ‚zoo humain‘ ab.98 Auch De l’Estoile erkennt diese neue differentialistische Perspektive auf die Kolonien in der Ausstellung und stellt fest, dass hier die Diversität der Völker und Kulturen als etwas Positives anerkannt wurde.99 Der bereits zitierte Artikel von Kolonialgouverneur Cayla bestätigt dies, indem er einen ähnlich humanen und paternalistisch-verständnisvollen Ton anschlägt: „Nous nous devons de les (les indigènes) mieux connaître, de respecter leurs coutumes quand elles n’ont rien de choquant et de veiller à la conservation de leurs arts populaires que nous aurions grand intérêt à moins ignorer.“100 Cayla erwähnt in seinem Artikel also durchaus auch die Aufgabe, die Alltagskunst der verschiedenen Völker bewahren zu müssen. Das Musée des Colonies übernahm in seiner ersten Funktion auf der Exposition coloniale nur sehr begrenzt diese Aufgabe. Es war zu sehr als Propagandainstrument des Kolonialministeriums vereinnahmt worden, als dass es sich der Bewahrung indigener Alltagskunst hätte widmen können.
Vgl. Kuster, „If the images of the present don’t change, then change the images of the past“ – Zur Exposition Coloniale Internationale, Paris 1931. S. 87 f. 97 Dieser neue Ansatz Lyauteys wird ausführlich in einem Beitrag der Zeitschrift L’Illustration aus dem Jahr 1934, dem Jahr, in dem Lyautey verstarb, erläutert: Beauplan, Robert de, „Lyautey“, in: L’Illustration No. 4771 (11.08.1934), S. 472–474. S. 472 ff. 98 Vgl. Grandsart, Paris 1931. Revoir l’Exposition coloniale, S. 64. Trotzdem kann man hier in vielen Fällen nicht von einer freiwilligen bzw. freien Beteiligung der betreffenden Individuen sprechen: Sie durften häufig das Gelände der Ausstellung nicht verlassen und wurden streng überwacht. Für eine differenzierte Darstellung der Situation der indigenen Völker auf der Exposition coloniale, vgl. De L’Estoile, Benoît, Les indigènes des colonies à l’Exposition coloniale de 1931, in: Blévis, Laure (u. a.) (Hrsg.), 1931. Les étrangers au temps de l’Exposition coloniale, Paris 2008. S. 36–43. 99 Vgl. De L’Estoile, Le goût des Autres, S. 56 f. 100 Cayla, La Maison de la „Grande France“, Titelseite.
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Retrospektive und Synthese: Die Struktur des Musée des Colonies 1931 Inhaltlich war das Museum zum Zeitpunkt der Exposition coloniale in zwei Hauptsektionen aufgeteilt: die Section rétrospective und die Section de synthèse.101 Die retrospektive oder historische Abteilung wurden von Albert Duchêne102 konzipiert und rekonstruierte die Geschichte der französischen Kolonialisierung seit den Kreuzzügen bis ca. 1870.103 Sie befand sich im erhöhten Erdgeschoss des Gebäudes, auf der Ebene des Eingangs. In chronologischer Reihenfolge wurde der Aufbau und Niedergang des ersten Kolonialreichs seit den Kreuzzügen über das Mittelalter und die Renaissance, das Ancien Régime bis hin zur Revolution, das Empire Napoleons, die Restauration, die Julimonarchie und das zweite Empire unter Napoleon III gezeigt.104 Die Abteilung endete mit dem Beginn der Dritten Republik. Die Aufgabe dieser Sektion innerhalb des Musée des Colonies bestand darin „[…] de faire revivre aux yeux des visiteurs la France coloniale des siècles passés, de manière à constituer une véritable leçon d’histoire […]“.105 Dieser erste Teil folgte also dem Narrativ einer ‚Meistererzählung‘ der erfolgreichen Eroberungs- und Kolonialpolitik der Franzosen seit den Kreuzzügen. Hier sollte die Länge dieser Tradition, der Grad ihrer Verankerung in der französischen Nationalgeschichte und -identität, veranschaulicht und damit ein historisch kontextualisiertes Kolonialbewusstsein geweckt werden. Die zweite große Sektion widmete sich der Synthese. Sie unterstand Victor Beauregard und veranschaulichte den zeitgenössischen Stand der Kolonien, die letzten Errungenschaften der Dritten Republik auf diesem Gebiet und die wirtschaftlichen Vorteile, die sich durch die Kolonien boten.106 Die Section de synthèse befand sich im Obergeschoss und knüpfte inhaltlich mit den Erfolgen der Dritten Republik an die Section retrospective an, um dann den aktuellen Stand der Kolonien auf verschiedenen Ebenen synthetisierend darzustellen: „Quelle a été dans ces vastes territoires l’œuvre de la France? Qu’a-t-elle apporté? Qu’a-t-elle reçu? […]“.107 Dazu wurden verschiedene Bereiche der französischen Einflusssphäre
Vgl. Roussier, Paul, Le Musée des Colonies, in: Nicoll, Edna, À travers l’Exposition coloniale, Paris 1931. S. 113–119, sowie: Olivier, Rapport général. Tome II, S. 69. 102 Sowohl Albert Duchêne als auch Victor Beauregard wurden per Dekret ernannt und entstammten dem Kolonialministerium. Ihnen wurde jeweils eine beratende Kommission an die Seite gestellt, die Experten aus verschiedenen Bereichen, aber vor allem aus allen betroffenen Ministerien beinhaltete. Vgl. Le Matin, À l’Exposition coloniale. Inauguration de la section de synthèse au palais permanent des Colonies, (17.05.1931). 103 Die Section de synthèse wurde offiziell am 16.05.1931 eröffnet, während die Section rétrospective mit einer leichten Verzögerung am 22.05.1931 eröffnet wurde. Vgl. H., H., À l’Exposition coloniale. M Paul Reynaud inaugure le Musée permanent des Colonies, in: Le Figaro (17.05.1931). 104 Vgl. Gallotti, Jean, Le Palais permanent des Colonies, in: L’Illustration No. 4616 (22.08.1931). S. 555– 557. S. 555. 105 Olivier, Rapport général. Tome V, S. 145. 106 Vgl. ebd. S. 10. 107 Ebd. S. 11. 101
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in den Kolonien ausgewählt: koloniale Truppen, die Kolonien im Krieg, Armee, Marine, Handelsmarine, Tourismus, Hygiene/Medizin, Infrastruktur, öffentliche Bauten und Transportwege, Bildung, pflanzliche, tierische und mineralische Produkte sowie koloniale Hölzer. Für jede thematische Einheit wurde versucht, einen Gesamtüberblick zu schaffen und dem Besucher immer den entwicklungstechnischen Fortschritt, der durch die Präsenz der Franzosen erzielt wurde, zu verdeutlichen. Ergänzt wurden die beiden Hauptsektionen durch Einheiten zur indigenen Kunst, Anthropologie, Ethnologie, Ethnografie und einer ‚Galerie des Races‘ im Zwischengeschoss. In diesem Bereich wurde eine eindeutig evolutionistische Konzeption der einzelnen ‚Menschenrassen‘ zugrunde gelegt: Die Kunstwerke, anthropologischen Objekte (Schädel, Skelette, Modelle), archäologischen Fundstücke (aus den jeweiligen Kolonien) sollten zeigen, wie unterschiedlich entwickelt die Völker jeweils waren. Man folgte dabei der Theorie des Anthropologen Papillault, der diese Sektion konzipierte. Des Weiteren wurde eine Abteilung zum Einfluss der Kolonien auf die französische bildende Kunst und das Kunsthandwerk in der Eingangshalle im erhöhten Erdgeschoss sowie in den seitlichen Galerien eingerichtet. Hier ging es darum, die Kolonien als Quelle der Inspiration für europäische Künstler zu zeigen bzw. indirekt durch deren Darstellung die Atmosphäre der Kolonien lebendig werden zu lassen. Im Untergeschoss wurden das Aquarium, das die Flora und Fauna der Kolonien repräsentieren sollte und Abschnitte zum Transportwesen in den Kolonien eingerichtet. Neben diesen beiden thematischen Einheiten im Untergeschoss befanden sich dort auch ein großer, beleuchteter Erdball mit den französischen Kolonien und eine 12-minütige Projektion, die die Geschichte der französischen Kolonisation zusammenfasste. Allgemein wurde damit das Musée des Colonies dem pädagogischen Gedanken untergeordnet, hier das koloniale Werk Frankreichs als Gesamtschau zu vermitteln. Folglich fungierte dieses Gebäude zugleich als Prolog und Fazit der Exposition coloniale. Daher wurde den Besuchern folgerichtig eine festgelegte Route durch das Museum vorgegeben, die eingehalten werden musste.108 Diese Aufgabe und Funktion hatten nicht nur für die Präsentation, sondern auch für die Sammlungsstruktur des Hauses Folgen. Insgesamt kann man das Musée als eine Ansammlung von diversen Objekten, verschiedensten Medien und einer großen Menge privater Souvenirs bezeichnen. Bereits der Umgang mit den zu erstellenden Objektsammlungen im Rapport général deutet an, dass es vorrangig darum ging, möglichst viele unterschiedliche und interessante Objekte zu finden, und weniger darum, wie diese konkret beschaffen waren, aus welchem Erwerbszusammenhang sie stammten oder wie repräsentativ sie tatsächlich waren.109 In den beiden Hauptsektionen dienten sie einzig dem Zweck, die glorreiche Vgl. Olivier, Rapport général. Tome V, S. 43. Um an die Objekte für das Musée des Colonies zu gelangen, wurden umfassende Recherchen angestellt und Bittgesuche an die einzelnen Kolonien gesendet. Man suchte nach Korrespondenten, die in jeder Kolonie Objekte zusammentragen sollten. Dabei hatten diese größtmögliche Freiheit, es sollten Souvenirs 108 109
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Kolonialgeschichte Frankreichs zu illustrieren.110 Auf der Inventarliste des Musée des Colonies von 1931 finden sich verschiedene für jede Sektion immer wiederkehrende Objekttypen.111 Ein Fokus lag auf veranschaulichendem Bildmaterial: Landkarten, Statistiken, Fotografien, Gemälde. Dabei visualisierten sie entweder Merkmale und Besonderheiten der jeweiligen Kolonie, Indikatoren für einen erreichten Fortschritt, oder aber sie thematisierten wichtige Ereignisse oder Persönlichkeiten in Bezug auf die französische Kolonialgeschichte. So zeigten Gemälde oder Fotografien meist eine Landschaft, Stadt, geografische Begebenheiten, ein historisches Ereignis oder sie zeigten das Porträt einer berühmten Persönlichkeit wie Maréchal Lyautey selbst. Die einzige Ausnahme bildet die Sektion, in der es um den Einfluss der indigenen Kulturen auf die europäische Kunst ging. Hier fand man hingegen verschiedene Werke europäischer Meister wie beispielsweise von Decamps, Delacroix, Fromentin oder auch Gauguin.112 Sie wurden vor allem unter dem Aspekt ausgestellt, dass sie durch ihre Darstellungen, die oft auf eigenen Reisen in die Kolonien beruhten, die Atmosphäre, den Flair der Kolonien und ihrer Kulturen heraufbeschwören konnten. Sie waren so als Vertreter des Exotismus und Orientalismus ihrer Zeit ausgesucht worden. Daher erfreuten sich auch Dioramen großer Beliebtheit in der Ausstellung:113 Man legte Wert darauf, die Atmosphäre der jeweiligen Kolonie heraufzubeschwören und dem Ganzen einen lebendigen Charakter zu geben.114 Darüber hinaus wurden zur Veranschaulichung auch gerne Modelle und Nachbauten aller Art verwendet: Stadt- oder Landschaftsmodelle, Architekturmodelle. Ergänzend konnten auch persönliche Souvenirs verwendet werden. Diese bekamen häufig innerhalb der Ausstellung einen anekdotischen Charakter, wie der geschilderte Eindruck eines Journalisten zeigt: „Une grande peau de lion: celui qui faillit dévorer le comte de Neubourg […]“.115 Ein weiterer Schwerpunkt lag auf allen Objekten des ‚indigenen Alltagslebens‘ wie Möbel, Kleidungsstücke, Trachten oder Masken. Einige Objekte wurden jedoch eher unter dem Aspekt des indigenen Kunsthandwerks gezeigt: so zum Beispiel Schmuck und Fetische. Da es auch eine Abteilung zur ‚Art indigène‘ gab, ist zu vermuten, dass
aller Art an die Metropole gesendet werden. Darüber hinaus wurde in Paris selbst, aber auch im regionalen Bereich, in Museen, Privatsammlungen etc., nach möglichen Ausstellungsstücken gesucht. Meist handelte es sich bei den Objekten um Leihgaben, die nach der Ausstellung wieder zurückgegeben werden mussten. Das stellte das Museum in der Folge trotz der Tatsache, dass es von vornherein als dauerhafte Institution vorgesehen war vor seine erste große Aufgabe: eine neue Sammlung zu erstellen. Vgl. Olivier, Rapport général. Tome V, S. 133 ff. 110 Vgl. ebd. S. 57 f. 111 Vgl. Inventaire Musée des Colonies, Archiv MQB, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outre-mer, Série X Collections et Inventaires DA 000876. 112 Vgl. Gallotti, Jean, Le Palais permanent des Colonies, S. 556. 113 Vgl. Olivier, Rapport général. Tome V, S. 128 f. 114 Vgl. ebd. S. 14. 115 H., H., À l’Exposition coloniale. M Paul Reynaud inaugure le Musée permanent des Colonies. Dieser Artikel gibt den wunderkammerartigen Zustand des Museums wieder.
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hier zumindest ansatzweise auch der ästhetische und künstlerische Wert der Objekte eine Rolle spielte. Es ist allerdings festzuhalten, dass diese im Rapport général eindeutig in den Kontext einer evolutionistischen Vorstellung von den verschiedenen Entwicklungsstufen der menschlichen Rassen eingeordnet wurden.116 Hinzu kommen Skulpturen und Büsten, die ‚indigene Typen‘ stereotyp veranschaulichen sollten und zur Galerie des Races gehörten (insgesamt acht Statuen und Büsten), sowie in indigene Bekleidung, Trachten oder aber typische Kolonialuniformen gehüllte Mannequins, die den lebendigen und pittoresken Charakter der Ausstellung unterstreichen sollten. Auch große Kolonialherren fanden in Form von Statuen Eingang in die Ausstellung. Eine weitere Objektgruppe bildeten die Waren- und Produktproben als „symphonie de la production coloniale“,117 die vor allem in der wirtschaftlichen Sektion ihren Platz fanden. Ergänzt wurde diese bunte Mischung durch Schriftstücke und Dokumente, die einerseits einen administrativ-offiziellen Charakter haben konnten, andererseits aber auch durch Bücher, Romane oder Zeitschriften, wie es bei der Sektion ‚Paul et Virginie‘ der Fall war.118 Insgesamt ging es hier um den illustrierenden Charakter der Objekte, der Neugier wecken, Aufmerksamkeit erzeugen, für Unterhaltung sorgen und so die selbst entworfene Meistererzählung der erfolgreichen französischen Kolonialgeschichte möglichst interessant und ansprechend vermitteln sollte.119 In der Praxis ergab sich aus diesem Sammelsurium an Objekten, wenn man dem Rapport folgt, folgende Präsentation der Kolonialisierung Indochinas in der Section de synthèse: Dans cette salle, quatre cartes montraient les différentes étapes de la pénétration en Indochine ; accrochées aux murs, elles s’entouraient des souvenirs de l’épopée correspondante : portraits de Francis Garnier ; bustes de Henri Rivière, de Joffre et de Pavie ; mannequins du caporal français en Indochine et du tirailleur tonkinois en 1910. Dans les vitrines d’angle : des objets d’art indochinois ; dans une vitrine centrale : des photographies du corps expéditionnaire de Chine et des troupes d’occupation d’Indochine, un album des costumes de l’armée annamite sous le règne de Tu Duc et des documents historiques : le Journal du siège de Tuyen-Quanq ; des rapports du général Négrier et de Brière de l’Isle, une lettre signée de Jules Ferry, trois images d’Épinal datant de l’époque et représentant la défense de Tuyen-Quanq, l’enlèvement de Namh-Duinh, la prise de Sontay ; des armes indochinoises et des tableaux montrant la baie d’Along, l’attaque de Tourane, la canonnière Fargy dans les rapides du Mékong et le combat de Palikao.120 Vgl. Olivier, Rapport général. Tome V, S. 51 ff. Ebd. S. 14. Der Roman „Paul et Virginie“ wurde von Jacques-Henri Bernardin de Saint Pierre 1788 veröffentlicht. Er galt schnell als Symbol der Darstellung einer paradiesischen Idylle (Mauritius), die durch eine tragische Liebesgeschichte zwischen zwei Menschen unterschiedlichen Standes bespielt wird. Die Sektion dazu wurde auch nach der Exposition coloniale beibehalten, vor allem durch die Einwirkung Ary Leblonds. 119 Vgl. Olivier, Rapport général. Tome V, S. 37. 120 Olivier, Rapport général. Tome V, S. 226. Eine ähnliche Wahrnehmung der Präsentation im Musée des Colonies findet sich in verschiedenen Beiträgen aus der Presse. Exemplarisch: Gallotti, Le Palais per116 117 118
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Dieser Eindruck der Präsentation und die Struktur der Sammlung zeichnen das Musée des Colonies in besonderer Weise aus. Man hatte es hier mit einem ‚bunten Durcheinander‘ pittoresker Objekte und didaktischer Materialien zu tun. Daneben bediente man sich gerne einer explizit inszenierten, exotischen Atmosphäre, die die Abenteuerlust wecken und mannigfaltig Paradiesvorstellungen aktivieren konnte. Daher schenkte man den ethnografischen Objekten an sich, ihrer Herkunft oder gar ihrer Kontextualisierung kaum Aufmerksamkeit – sie waren Illustrationsobjekte der kolonialen Idee. Funktion und Aufgabe des Museums waren es dabei, die Ausstellung zu krönen und zu überdauern: Man wollte vonseiten Lyauteys, aber auch vonseiten des Kolonialministeriums ‚nachhaltig‘ handeln. Da man von der Bedeutung und Wirkmacht des Empire auch in Frankreichs Zukunft überzeugt war, sollte dieses Museum für den entsprechenden Rückhalt aus dem eigenen Volk sorgen. 1931 – Frankreich feiert sich, das Empire und seine ‚zivilisatorische Leistung‘ Die Dimensionen der Kolonialausstellung und die Emphase, mit der sie von den verantwortlichen Akteuren gefeiert wurde, sind als eine Form der nationalen Kompensation zu verstehen. Denn die 1930er Jahre waren generell für die Dritte Republik eine schwere Krisenphase: Das Kolonialreich wurde zu diesem Zeitpunkt bereits von den ersten Unabhängigkeitsbestrebungen erschüttert, innenpolitisch wurde die Republik durch Regierungsinstabilität und einen zunehmenden Antiparlamentarismus geschwächt, wirtschaftspolitisch durch die nahende Weltwirtschaftskrise, außenpolitisch durch die Ausbreitung des Faschismus in Europa und Aufstände in Indochina. Die Erschütterungen der eigenen Nation und ihrer Identität waren spürbar und sorgten für Unbehagen. Daher wurde nun das Kolonialreich zum zentralen Moment der Selbstbestätigung und -versicherung einer Nation.121 Somit erscheint hier die Exposition coloniale im Sinne des Konzepts der Weltausstellungen als Möglichkeit, die eigene Identität und nationale Stärke auch vor einer internationalen Öffentlichkeit zu demonstrieren und damit Sicherheit zurückzugewinnen.122 Gleichzeitig konnten die Kolonien als tatsächlicher, konkreter Lösungsansatz für eine drohende wirtschaftliche Einbuße, eine kriegerische Herausforderung oder eine Bedrohung des eigenen Status als Weltmacht angesehen werden. Die Exposition coloniale wird in diesem Zusammanent des Colonies, S. 555–557. Besonders die Fotografie des Saales zur „Afrique occidentale“, abgedruckt auf Seite 556 unten rechts, zeigt das typische Arrangement der Objekte in dem Museum. 121 Vgl. Bonnefous, Histoire politique de la Troisième République, La République en danger: des ligues au front populaire (1930–1936), S. 83. 122 Dazu eine zeitgenössische Einschätzung: „J’imagine une République […] radieuse, saine et forte qui vient accueillir ses hôtes à la porte de l’Exposition; – une grand’mère encore jeune qui vient présenter ses petits-enfants, avec la fierté de dire: – Voilà ce que j’en ai fait!“. Dieudonné, Robert, Les Français, la France et ses colonies, in: Le Petit Journal (06.05.1931), Titelseite.
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menhang zu einer notwendigen Manifestation der eigenen Position als Kolonialmacht in der Welt. Der aufkeimende Protest in den Kolonien wird dabei außen vor gelassen, obwohl dieser schon äußerst präsent war. Gerade in Folge des Ersten Weltkriegs und befördert durch das von Präsident Wilson proklamierte Selbstbestimmungsrecht der Völker wurden die Stimmen aus den Kolonien, die die eigene, unabhängige Nationen für die Kolonien forderten, lauter.123 Die neuen Unabhängigkeitsbestrebungen in der Zwischenkriegszeit hatten dann auch insofern Auswirkungen, als dass nun offiziell statt des Prinzips der Assimilierung der Assoziationsstatus der Kolonien proklamiert wurde. Unter der ‚mise en valeur des colonies‘ in den 1920er und 1930er Jahren war jetzt „[…] de laisser les indigènes „évoluer dans leur civilisation“, tout en conservant l’objectif de les maintenir dans la mouvance et pour tout dire sous la domination de la France.“ zu verstehen.124 Es ging also darum, die lokalen indigenen Kulturen und Strukturen zu respektieren, aber gleichzeitig auch um eine klare Rassenpolitik. Dieser Ansatz war dementsprechend auch auf der Kolonialausstellung spür- und sichtbar, nicht zuletzt Lyautey selbst hatte diese ‚humanistische‘ Vision des Kolonialismus mit eingebracht. Die Notwendigkeit des Kolonialreiches war und blieb dabei aber unanzweifelbar, so sah es auch Paul Reynaud, der vom 27. Januar 1931 bis zum 16. Februar 1932, also auch während der Exposition coloniale, Kolonialminister war. Er blieb trotz des neuen politischen Kurses bei seinem Konzept der zivilisatorischen Assimilierung und lehnte beispielsweise die Einführung des allgemeinen Wahlrechts für die indigenen Völker ab.125 Entgegen der Situation in der Dritten Republik am Ende des 19. Jahrhunderts war das Kolonialreich in den 30er Jahren Konsens. Die Kolonialisierung wurde befürwortet und die Opposition war klein. Es gab kaum Protest gegen die Exposition coloniale. So formierte sich um die Surrealisten und die PCF eine Gruppe, die eine Gegenausstellung unter dem Titel ‚La Vérité aux Colonies‚ organisierte. Die Besucherzahlen blieben mit ca. 5 000 unter denen der Exposition coloniale.126 Auch die Zeitschrift L’Humanité engagierte sich gegen die Ausstellung und prangerte sie als „Apothéose du crime“ an.127 León Blum schrieb kritische Artikel im Le Populaire und enttarnte die Propagandafunktion der Ausstellung. Eine der wenigen unmittelbar sichtbaren Proteste auf der Ausstellung selbst ging von der indochinesischen Sektion In Indochina hatte sich 1923 eine Verfassungspartei gegründet sowie 1925 die nationalistische Partei VNQDD. Letztere organisierte einen Aufstand am 10. Februar 1930 in Yen Bai, also kurz vor der Exposition coloniale, auf den Repressionen folgten. L’Humanité stellte kritisch die Parallelität der Kolonialausstellung und der Repressionen in Annam gegenüber: Vgl. L’Humanité (07.05.1931), Titelseite. Vgl. auch: Duval, Aux sources officielles de la colonisation française. 1870–1940, S. 230. 124 Saada, Emmanuelle, L’Empire, in: Dictionnaire critique de la République, Paris. S. 481–487. S. 484. 125 Vgl. Grüner, Stefan, Paul Reynaud (1878–1966). Biographische Studien zum Liberalismus in Frankreich, München 2001. S. 204. 126 Sophie Leclerq widmet in ihrer Monografie „La rançon du colonialisme“ dem Widerstand der Surrealisten und der kommunistischen Partei gegen die Exposition coloniale eine längere Passage. Vgl. Leclerq, Sophie, La rançon du colonialisme, Paris 2010. S. 186 ff. 127 Vgl. L’Humanité (06.05.1931), Titelseite. 123
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aus: Hier fand eine Protestbewegung vonseiten der indochinesischen Studenten statt, was zur Folge hatte, dass diese Sektion besonders überwacht wurde. Insgesamt wurde die Ausstellung als Riesenerfolg von allen beteiligten Akteuren gewertet. Schließlich ging man sogar finanziell mit einem leichten Plus aus der Veranstaltung heraus.128 Generalgouverneur Olivier war unmittelbar nach der Ausstellung noch ganz von der ‚kolonialen Feier‘ berauscht: Nous saurons, dans quelques années, de quelle substance l’Exposition a enrichi les réserves spirituelles de l’Europe et quels nouveaux horizons elle a ouvert à nos artistes, à nos écrivains, à nos sociologues, à tous ceux dont l’effort concourt, directement ou indirectement, à modeler l’avenir.129
Olivier erhoffte sich viel von der Wirkmacht der Ausstellung in der Zukunft. Doch machte sich relativ schnell die ernüchternde Erkenntnis breit, dass die Franzosen noch immer nicht ‚kolonial‘ dachten und sich kein relevantes koloniales Bewusstsein gebildet hatte. Lyautey stellt dies selbst in seinem Vorwort zum Rapport so dar. Er beginnt mit dem faktischen Erfolg und fährt in seiner Einführung mit dem ernüchternden Fazit fort: À un an de sa clôture, l’on est en mesure de constater que si l’Exposition a produit son maximum d’effet et atteint ses buts d’éducation vis-à-vis des masses et surtout de la jeunesse, elle n’a en rien modifié la mentalité des cerveaux adultes […].130
Natürlich lässt sich im Nachhinein äußerst schwer rekonstruieren, welche tatsächliche Veränderung die Exposition coloniale in der Wahrnehmung ihrer Besucher in Bezug auf die Kolonien verursacht haben mag. Jedoch bietet der eingangs zitierte Text von Ageron zur Exposition coloniale in den noraschen Lieux de mémoire einen Anhaltspunkt. So zieht denn Ageron das Fazit, dass laut Umfragen die Franzosen in den 1940er Jahren ebenso ignorant gegenüber ihrem ‚Empire‘ waren wie zuvor. Dies entspricht der in der Forschung vorherrschenden Annahme, dass die Kolonien im Bewusstsein der Franzosen eine weiterhin eher unbedeutende Rolle spielten. Der Artikel
Dazu Maréchal Lyautey: „Dans l’opinion publique, et notamment à l’étranger, il paraît entendu qu’elle (l’exposition coloniale) a été un „succès“. J’ai moi-même parlé, le 14 novembre 1931, dans le discours de clôture, de son „succès inespéré“. Son succès matériel, en tant qu’Exposition est incontestable. Les visiteurs ont afflué malgré un été exceptionnellement défavorable. Elle s’est soldée sans déficit et même, pour l’État, d’après les contestations d’un rigoureux contrôle financier, avec un sérieux bénéfice.“ Lyautey, Préface, in: Olivier, Rapport général. Tome Premier, S. V. 129 Generalgouverneur Olivier, L’Exposition coloniale est close – les enseignements qu’elle nous laisse, in: Le Petit Parisien (16.11.1931), S. 2. Diese Meinung wurde auch teilweise durch Besucherreaktionen gestützt: „L’Exposition de Vincennes n’est pas qu’un ensemble pittoresque qui plait à l’imagination; elle parle à la raison; chaque mur ornementé semble nous dire en passant: „Français, vous ne vous connaissez pas; vous ne savez point ce dont vous êtes capables; vous ne savez pas même ce que vous avez fait de bien dans le monde.“ Aus: Forest, Louis, Propos d’un Parisien – Les Ingénieurs coloniaux, in: Le Matin (03.06.1931), Titelseite. 130 Lyautey, Préface, in: Olivier, Rapport general. Tome Premier, S. VII. 128
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Agerons an sich und seine Präsenz in dem Kanon der französischen Erinnerungsorte zeigt hingegen die feste Verankerung im dauerhaften kollektiven, kulturellen Gedächtnis Frankreichs. Denn auch wenn die Franzosen kein verstärktes Bewusstsein für das Empire entwickelten, so war die Ausstellung selbst ein derartig großes, prägendes Ereignis, das zudem in dieser Form nie wieder stattfinden sollte, dass es eine ganze Generation von Franzosen prägte. Viel bedeutender erscheint für diese Arbeit hingegen die Frage, ob nicht ein viel indirekteres, weniger offensichtliches, immaterielles Erbe aus dieser Zeit entstanden ist und sich sukzessive im Palais und den hier beherbergten Museen fortgeschrieben hat: einerseits eine bestimmte Perspektive auf die Welt, die Frankreich als Leuchtturm der Zivilisation begreift, eine Nation, die anderen, vermeintlich schwächeren Kulturen zu Hilfe eilt und ihnen Werte und Tugenden vermittelt; andererseits die damit verbundene Konzeptualisierung eines ‚Fremden‘, der immer mindestens eine Stufe unter der eigenen Kultur und Identität steht und der nur insofern eine Rolle für Frankreich spielt, als dass er einen (wirtschaftlichen) Beitrag zu leisten hat. Diese Auffassung, die aus der Kolonialzeit Frankreichs erwachsen ist und sich bis heute in bestimmten rassistischen Diskriminierungen zeigt, wird gleichsam zu einem dauerhaften Narrativ des Palais, der dieses durch verschiedene Diskurse hinweg beibehält. 1.2
Vom Musée permanent des Colonies zum Musée de la France d’outre-mer
Der Fortbestand des Musée des Colonies war, wie bereits zuvor geschildert, von Anfang an fundamentaler Bestandteil der Planungen zur Exposition coloniale. Mit der Schließung der Ausstellung Ende 1931 und ihrem Rückbau stellte sich nun daher die Frage, wie man das Haus fortan weiterführen und bespielen wollte: Welche Funktion und Identität sollte es in der Folge verkörpern? Es zeigt sich in dieser Übergangsphase relativ schnell, dass trotz der Bedeutung, die dem Haus noch während der Ausstellung insbesondere von Lyautey bezüglich einer erfolgreichen ‚kolonialen Prägung und Erziehung‘ der Franzosen in der Zukunft beigemessen wurde, seine Fortführung und Neugestaltung finanzielle und institutionelle Probleme aufwarf.131 Es schien daher in dieser Phase teilweise ungewiss, ob das Kolonialministerium das Museum dauerhaft weiterführen würde. Tatsächlich wurde das Museum dann aber durchgängig von 1932 Zuallererst gab es vor allem technische Probleme, die sich darauf zurückführen lassen, dass das Musée zu Beginn seiner Existenz in relativ kurzer Zeit für eine ephemere Ausstellung konstruiert worden war, die überwiegend im Sommer stattgefunden hatte: Es mussten nun Heizungen und Elektrizität eingerichtet werden. Vgl. Brief des Chargé de Mission G. Palewski an General Messimy (octobre 1932), Archives du Musée du Quai Branly, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outre-mer, Série II – Organisation DA000915/57272. Zudem musste eine neue juristische und institutionelle Form gefunden werden und bedingt durch die Auflösung der Kolonialausstellung eine völlig neue Sammlung konzipiert und das Museum als eigenständige Institution innerhalb der Pariser Museumslandschaft etabliert werden. 131
Vom Musée permanent des Colonies zum Musée de la France d’outre-mer
bis in die 1950er Jahre an das Kolonialministerium angegliedert, sodass sich hier ein relativ dominanter Einfluss des selbigen im Laufe der Jahre zeigte. In dieser ambivalenten Phase, in der der Fortbestand des Hauses nicht gesichert schien, wurde Gaston Palewski, ein enger Vertrauter Lyauteys aus Marokko, damit betraut, das Musée permanent des Colonies neu auszustatten und zu gestalten. So bemüht sich Palewski denn auch, die pädagogische Propaganda-Mission des Museums fortzuführen und den Besuchern ein ‚grand enseignement colonial‘ zu bieten. Trotzdem wurde Palewskis Arbeit von staatlicher Seite nicht unbedingt unterstützt: Er kam nur schwer an finanzielle Mittel, musste oft bei der konkreten Präsentation der Sammlung improvisieren und bei der Eröffnung der von ihm gestalteten Museumsteile wurde ihm eine offizielle Einweihung untersagt. Auch wenn sein Auftrag nicht lange dauerte und er aufgrund der begrenzten Mittel nur Grundsteine legen konnte, so waren diese doch maßgeblich für die zukünftige Struktur und Ausrichtung des Musée des Colonies. So wurde Palewskis Ansatz denn auch von seinem Nachfolger, Ary Leblond, aufgenommen und fortgeführt. Allerdings stellt Leblond in vielerlei Hinsicht einen Gegenpol zu Palewski dar: Er war kein Akteur des Kolonialministeriums, sondern Schriftsteller von der Insel La Réunion und in vielerlei Hinsicht eher ein ‚Mann der Kultur‘. In ihm findet das Haus seinen emblematischen Kurator, der es bis in die Nachkriegszeit leiten wird und ihm eine wichtige zusätzliche, ergänzende Ausrichtung gab: die Präsentation der Kolonien als künstlerischer Inspirationsquelle für das französische ‚Genie‘. Der Ansatz dieser beiden sehr unterschiedlichen Kuratoren des Museums soll im Folgenden die Analyse strukturieren, wobei hier ein Fokus sowohl auf den Gemeinsamkeiten und Kontinuitäten zwischen beiden Ansätzen als auch auf den Unterschieden liegen wird. Dabei ist die Annahme leitend, dass sich das Musée mit seiner Sammlung und Präsentation zwar dauerhaft an dem bereits während der großen Kolonialausstellungen präsenten pädagogischen Auftrag der Erzeugung eines kolonialen Bewusstseins orientierte, zusätzlich in der Folge aber vor allem durch das Wirken Leblonds immer stärker das Konzept einer Beitragsgeschichte betont wurde. Die Idee, die bereits im Bildprogramm des Palais angelegt worden war, dass das ‚koloniale Andere/Fremde‘ vor allem über seinen (wirtschaftlichen) Nutzen, seinen Beitrag zur Prosperität der französischen Nation positiv gedacht werden konnte, wird neu gewendet. Nun steht das ‚koloniale Andere/Fremde‘ als Inspirationsquelle des französischen, künstlerischen ‚Genies‘ im Vordergrund. Dabei finden zeitgenössische Debatten über den möglichen künstlerischen Eigenwert ‚indigener Kunst‘ nur sehr sporadisch Eingang in den Diskurs des Museums – hier bleibt vielmehr die Orientierung an einem evolutionistisch gedachten Konzept der Hierarchie der Kulturen erhalten, das eine Umwertung ethnografischer Objekte indigener Völker in ‚Kunstwerke‘ und ihre Integration in den westlichen Kunstkanon vorerst unmöglich machte. Vor dem Hintergrund dieser Grundannahmen ist es sinnvoll, nach der generellen Wirkmacht der Institution zu fragen. Die Besucherzahlen des Museums in dieser Phase lassen durchaus auf einen regelmäßigen Publikumsverkehr schließen, der erst
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mit dem Krieg zum Erliegen kam: In den 1930er Jahren werden zwischen 120 000 und 150 000 Besucher jährlich angegeben, 1935 sogar eine Zahl von 210 825.132 Trotz dieser offensichtlichen, durchaus präsenten Rolle, die das Museum in den 1930er Jahren in der Pariser Museumslandschaft spielte, ist diese Phase des Hauses in der Forschung wenig rezipiert worden: Neben einigen einzelnen Beiträgen in fachwissenschaftlichen Zeitschriften und Katalogen133 findet sich lediglich eine umfassende Darstellung in dem zur endgültigen Schließung des Museums 2003 erschienenen Katalog.134 Zudem ist eine ausführliche Untersuchung der Tätigkeit Leblonds als Museumsdirektor in der Monografie von Catherine Fournier zu erwähnen.135 Eine vergleichbare Analyse gibt es für die Ära Palweski nicht. Zudem wird die Tätigkeit beider selten in Beziehung gesetzt. Daher soll die Phase von 1932 bis 1950 als Ganzes betrachtet werden um Aufschluss darüber erhalten, welchen Einfluss die beiden Kuratoren jeweils hatten und was dieser Einfluss für die Grundausrichtung des Museums bedeutete: Welche Identität entwickelte das Museum in dieser Zeit? 1.2a
Die Anfänge: Gaston Palewski und Ary Leblond
Kontinuität und Neubeginn: Das Musée des Colonies als dauerhafte Institution – Gaston Palewskis Konzept Mit der Schließung der Exposition coloniale im November 1931 wurde eine neue Phase eingeleitet: Sie zeichnete sich für das Museum vor allem durch einen ambivalenten Status und eine unsichere Zukunft aus. Das Museum selbst befand sich nun als einziger dauerhafter Bau inmitten einer großen Baustelle: Um es herum wurden die Pavillons der Ausstellung abgebaut und der Bois de Vincennes wurde wieder in seinen Ursprungszustand zurückversetzt. Parallel wurde ein Großteil der Ausstellungsstücke des Museums selbst, die nur für die Ausstellung geliehen worden waren, abtransportiert – das Museum benötigte daher eine neue Sammlung, auf die es dauerhaft zugreifen konnte. Offiziell gehörte das Musée dabei gesetzlich noch zum Établissment public
Vgl. Taffin, Les avatars du musée des Arts d’Afrique et d’Océanie, S. 202. Hier seien vor allem die Beiträge von Catherine Bouché erwähnt: Bouché, Catherine, Un visage de l’exotisme au XXe s.: du musée des colonies au musée de la France d’outre-mer à Paris (1931–1960), in: Palais des Beaux-Arts-Charleroi (Hrsg.), L’exotisme au quotidien, Charleroi 1987. S. 47–63. Und: Bouché, Le décor peint du musée national des Arts africains et océaniens. Zudem wird diese Phase explizit in dem bereits erwähnten Katalog zur Ausstellung ‚Coloniales. 1920–1940‘, in dem Beitrag von S. Cornilliet-Watelet, thematisiert: Vgl. Cornilliet-Watelet, Sylvie, Le Musée des Colonies et le Musée de la France d’outremer (1931–1960), in: Musée Municipal de Boulogne-Billancourt (Hrsg.), Coloniales 1920–1940, Paris 1989. S. 83–93. 134 Vgl. François, Le palais des Colonies. Histoire du Musée des Arts d’Afrique et d’Océanie. 135 Vgl. Fournier, Marius-Ary Leblond, Écrivains et critiques d’art. 132 133
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der Exposition coloniale, die aber auch gegen Ende 1933 aufgelöst werden sollte. Diese schwierige Übergangsphase dauerte für das Museum von seiner Schließung im November 1931 bis Ende 1933 an. In dieser Zeit war tatsächlich auch nur das Aquarium dauerhaft für das Publikum geöffnet. Personell verlässt man sich in dieser Phase auf Generalgouverneur Olivier, der bereits die Exposition coloniale mitorganisiert hatte. Olivier wurde damit beauftragt, das Museum in der Übergangsphase mit Hilfe von Gaston Palewski zu reorganisieren. Dieser wird Anfang 1932 berufen. Palewski gehörte zu diesem Zeitpunkt zum Personal des Kolonialministeriums. Er war darüber hinaus mit der Exposition coloniale vertraut und hatte an deren Eröffnung an der Seite von Maréchal Lyautey und Kolonialminister Reynaud teilgenommen. Er war mit Ersterem gemeinsam in Marokko gewesen.136 1931 war er Mitglied des Stabs von Kolonialminister Reynaud geworden und als solcher nahm er an der Eröffnung teil.137 Gleichzeitig ließ ihn auch besonders die Tatsache, dass er u. a. einen Teil seiner Studienzeit an der École du Louvre verbracht hatte und später an zwei größeren Pariser Museen, dem Musée Guimet und dem Musée d’ethnographie du Trocadéro tätig gewesen war, für diese Aufgabe geeignet erscheinen.138 Mit der Betrauung Oliviers und Palewskis blieb das Musée trotz seines ungewissen Status‘ nach wie vor Sache des Kolonialministeriums. Dieser Tatbestand wurde schließlich 1933 nach verschiedenen Überlegungen zur institutionellen Weiterführung des Museums139 mit der Anbindung an die Agence générale des Colonies, was faktisch einer Unterstellung unter das Kolonialministerium gleichkam, bestätigt. Diese ministerielle Zugehörigkeit und die damit verbundene offizielle Propagandafunktion ziehen sich in der Folge bis in die 1950er Jahre durch die Geschichte des Museums. Es konnte sich dabei nie ganz dem direkten Einfluss des Kolonialministeriums entziehen, das teilweise, wie im Fall der von Kolonialminister Rollin anberaumten ‚Conférence-promenade‘, direkten Einfluss ausübte.140 Mit dieser institutionellen Anbindung und der Besetzung Palewskis wurde auch klar, dass das Musée des Colonies seinen bereits anlässlich der Exposition coloniale formulierten Propaganda-Auftrag weiterführen sollte. So schätzte Palewski die pädagogische Bedeutung des Museums weiterhin hoch ein: […] [le] Palais de Vincennes [doit être] un organe important d’éducation et de propagande pour l’idée coloniale ainsi que d’information sur les différentes parties de notre
Vgl. Palewski, Gaston, Mémoires d’action 1924–1974, Paris 1988. S. 30 ff. Interessanterweise erwähnt Palewski selbst in seinen Memoiren die Zeit im Musée des Colonies nicht. 137 Vgl. Bernot, Jacques, Gaston Palewski. Premier Baron du gaullisme, Paris 2010. S. 51. 138 Vgl. Cornilliet-Watelet, Le Musée des Colonies et le Musée de la France d’outre-mer (1931–1960), S. 86 und vgl. Brief des Chargé de Mission G. Palewski an General Messimy (octobre 1932), Seite 3. 139 Vgl. Note sur l’organisation du Musée des Colonies (16.09.1933), Archives du Musée du Quai Branly, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outre-mer, Série II – Organisation DA000915/57284. 140 Vgl. o. A. M. L. Rollin inaugura le 13 mars les visites conférences au musée de la France d’outre-mer, in: Le Matin (09.03.1935). 136
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empire […] Pour chacune des parties de notre empire colonial et pour l’idée coloniale en France, ce [le musée] sera l’instrument de présentation synthétique et de propagande indispensable. Chaque colonie aura intérêt à coopérer, de la manière la plus active à sa réalisation, pour que les organisateurs du Musée puissent, en toute connaissance de cause, rendre justice à sa figure propre, à son attrait touristique et à ses ressources économiques.141
Weiterhin sollte das koloniale Bewusstsein der Franzosen gebildet und über die Kolonien und ihren Nutzen informiert werden. Palewski knüpfte daher an die Struktur des Museums während der Exposition coloniale an und beschloss, eine historische Sektion umzusetzen.142 Sie schien besonders geeignet, die Erfolge der kolonialen Eroberung in der Vergangenheit darzustellen und so einerseits die Besucher über diese Geschichte zu informieren und andererseits die Sinnhaftigkeit des Kolonialismus zu veranschaulichen. Darüber hinaus stellte er sich ein umfassendes Museumskonzept vor, das u. a. eine Sektion zum Einfluss des ‚Exotismus‘ auf die französische Kultur vorsah sowie eine Sektion zum indigenen Leben und zur indigenen Kunst, zum Leben in den Kolonien, einen Bereich der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Synthese und einen Abschnitt zur Naturgeschichte. Letzterer bestand bereits zumindest in Ansätzen mit dem Aquarium.143 In der Umsetzung allerdings musste sich Palewski auf die historische Sektion fokussieren und konnte aufgrund seiner begrenzten Zeit und Mittel die Sektionen zur indigenen Kunst und zum Exotismus nur andeutungsweise einrichten. Er hatte zuvor, als Vorbereitung auf seine Aufgabe, selbst zwei europäische Kolonialmuseen begutachtet und sie mit seinen Vorstellungen für Paris abgeglichen: das Kolonialinstitut in Amsterdam und das belgische Kongomuseum in Tervuren.144 Er stellte im Vergleich mit den beiden Museen fest, dass das Pariser Kolonialmuseum recht klein geraten sei, wenn man tatsächlich das ganze französische Empire hier darstellen wollte. Er folgerte, dass es sinnvoll wäre, die Fläche des Museums zu erweitern bzw. effektiver zu nutzen. Ein weiterer Gedanke war, das Museum auf die „vulgarisation po-
Projet de circulaire aux Gouverneurs Généraux, Archives du Musée du Quai Branly, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outre-mer, Série II – Organisation DA000915/57286, S. 1 ff. 142 Palewski orientierte sich dabei an im Vorfeld entstandenen Ansätzen und Ideen vonseiten Dritter. Vgl. u. a. Brief vom 10.01.1932 von Dr. Papillault an Monsieur le Commissaire, Archives du Musée du Quai Branly, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outre-mer, Série II – Organisation DA000914/57289; Brief vom 07.01.1932, Suggestions de M Depreaux, Archives du Musée du Quai Branly, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outre-mer, Série II – Organisation DA000914/57290. 143 Vgl. Darstellung der Pläne Palewskis anlässlich der Eröffnung der bereits fertiggestellten Teile: Laut der Angabe im Dokument („Historique du musée“), dass noch in derselben Woche Palewski die Sektionen eröffnen werde, ist zu vermuten, dass es vom November 1933 stammt, Archives du Musée du Quai Branly, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outre-mer, Série XI – Architecture, Muséographie DA000598/59725. 144 Vgl. Undatiertes Dokument, versehen mit dem Vermerk ‚Palewski‘, Archives du Musée du Quai Branly, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outre-mer, Série XI – Architecture, Muséographie DA000603/59708. 141
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pulaire“, die Vermittlung der kolonialen Idee, zu beschränken und andere Aspekte wie den potenziellen wissenschaftlichen Charakter des Hauses auszuklammern.145 Palewski hob zudem die Strukturiertheit der Häuser hervor. Er forderte, dass das Museum in Paris vor allem eine lebendige Struktur sein sollte und daher die Etablierung von engen Beziehungen zu den Museen und Institutionen, die mit den Kolonien zu tun hatten, unabdingbar sei. Einen engen Kontakt zu den Kolonien pflegte Palewski auch bei seiner Hauptaufgabe, der Erstellung einer neuen Sammlung, die als Grundlage für seine avisierten Sektionen dienen konnte. Er wandte sich in dem bereits zitierten Rundschreiben direkt an die Kolonialgouverneure und forderte sie zur Beisteuerung von Objekten aller Art auf.146 Außerdem kontaktierte er auch erneut die lokalen und die Pariser Museen.147 Es scheint so, als ob Palewski relativ klar an die Sammlungsstrategie seiner Vorgänger während der Exposition coloniale angeknüpft hätte.148 Es ging auch jetzt weniger darum, welcher Natur die Objekte waren, als vielmehr um die Ansammlung einer repräsentativ wirkenden Menge von Objekten, die dem Publikum vorführbar schien, schließlich ging der Auftrag Palewskis nur bis zum Dezember 1933. Davor sollten bereits Teile fertiggestellt und ausgestellt werden. Er hatte also nur vom 01. Januar 1932 bis zum Ende (November) des Jahres 1933 Zeit, eine Sammlung ‚auf die Beine‘ zu stellen. Bei der Erstellung der Sammlung suchte er einerseits vor allem nach Objekten und Dokumenten für die historische Sektion. Darunter fielen Büsten, Statuen, Gemälde berühmter Persönlichkeiten,149 Weltkarten, Fotografien, die wichtige Ereignisse und Persönlichkeiten dokumentierten. Andererseits wurden zur Sektion der indigenen Kunst, die den zweiten Sammlungsschwerpunkt Palewskis bildete, systematisch aus verschiedenen Sammlungen Kunstobjekte angekauft: Sammlung Charles Ratton; Pierre Loeb; Paul Guillaume etc.150 Einige Objekte dienten auch der Ausstattung einer noch nicht vollständig konzipierten Sektion zum ‚Exotismus‘: Porzellan, Möbelgruppen, ein vollständiger Salon etc.151 Bereits vorhandene Objekte wurden restauriert oder umgestaltet: so beispielsweise kleine Dioramen mit verschiedenen Themen,
Vgl. Undatiertes Dokument, versehen mit dem Vermerk ‚Palewski‘, DA000603/59708. Vgl. Projet circulaire aux Gouverneurs Généraux, DA000915/57286. Dieses Vorgehen war bereits von der Exposition coloniale bekannt. Es hatte zur Folge, dass hier häufig sehr unterschiedliche Objekte, häufig primär Souvenirs, gesendet wurden. 147 Vgl. Note pour Monsieur le Gouverneur Belet (16.12.1932), Archives du Musée du Quai Branly, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outre-mer, Série II – Organisation DA000967/57363. 148 Vgl. Bernot, Gaston Palewski. Premier Baron du gaullisme, S. 54. 149 Vgl. Brief vom 28.10.1932, Courrier du gouverneur général, délégué général à Monsieur le Ministre des Colonies, Archives du Musée du Quai Branly, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outre-mer, Série II – Organisation DA000915/57271. 150 Vgl. Etat des objets en depot au musée des colonies (20.12.1933), Archives du Musée du Quai Branly, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outre-mer, Série IV – Gestion DA000846/58513. 151 Vgl. Brief vom 28.10.1932, DA000915/57271. 145 146
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die noch von der Exposition coloniale stammten. Gleichzeitig benutzte man Fotografien um Originale, die (noch) nicht vorhanden waren, ersetzen zu können.152 Sie waren Teil der Überbrückungsstrategie, um die man aus zeitlichen und finanziellen Gründen nicht herumkam. Neben den instandgesetzten oder käuflich erworbenen Objekten handelte es sich einerseits um Leihgaben aus den lokalen und den Pariser Museen: Musée du Louvre, Musée Guimet, Musée de Versailles, Musée de l’Armée.153 Andererseits gab es durchaus auch private Spenden an das Museum. Palewski hatte hier nicht nur mit zeitlich engen Vorgaben umzugehen. Das knappe Budget, das ihm vom Kolonialministerium zugestanden wurde, machte es ihm zusätzlich schwer, eine herzeigbare Sammlung zu erstellen. Daher erscheint die Notwendigkeit der Überbrückung von Präsentationslücken durch Fotos umso bezeichnender für diese prekäre Phase. Zu diesen Einschränkungen kam noch die Notwendigkeit, eine eigene Identität auch und vor allem in Abgrenzung zu anderen Häusern wie dem Musée d’ethnographie du Trocadéro zu entwickeln. Interessant erscheint in diesem Zusammenhang die Beteiligung Rivières an der Planungsphase, da er ein Honorar für die Zusammenarbeit erhalten hatte. Er war zu dieser Zeit am Musée Ethnografique du Trocadéro beschäftigt. Offenbar wurde er zur Begutachtung von Objekten und zur Gestaltung/Konzeption einer möglichen Sektion zum ‚vie indigène‘ herangezogen.154 Gleichzeitig bekennt man sich noch 1933 zumindest in Bezug auf Teile des Museums zu einer dezidiert ästhetischen Ausrichtung – und grenzt sich damit eindeutig von der ethnografischen Ausrichtung des Musée d’ethnographie du Trocadéro ab: Le Musée des Colonies organise sa section de la vie et des arts indigènes. L’ethnographie des colonies françaises étant déjà représentées au Musée du Trocadéro, nous avons l’intention de considérer les objets du point de vue de leur valeur esthétique et non ethnographique.155
Vgl. Commission d’organisation du musée des colonies & l’aquarium (28.04.1933), Archives du Musée du Quai Branly, Fonds du Musée des Colonies / Musée de la France d’outre-mer, Série II – Organisation DA000913/57313. 153 Vgl. u. a. Brief Palewskis an General Messimy (octobre 1932), DA000915/57272, sowie: Note sur les premières mesures urgentes à prendre pour seconder le travail d’organisation du Musée des Colonies (12.09.1933), Archives du Musée du Quai Branly, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outremer, Série II – Organisation DA000915/57282. 154 Vgl. Korrespondenz mit und über Rivière, Archives du Musée du Quai Branly, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outre-mer, Série II – Organisation DA000914/57297. 155 Brief von E. Dijour an M E. von Sydow (17.11.1933), Archives du Musée du Quai Branly, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outre-mer, Série II – Organisation DA000967/57363. 152
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Die Neueröffnung des Musée permanent des Colonies 1933 – Rezeption Trotz der genannten Schwierigkeiten und Einschränkungen konnte Palewski schließlich das Musée erneut eröffnen: Am 30.11.1933 wurde das Musée der Öffentlichkeit wieder zugänglich gemacht, wobei es sich bezeichnenderweise nicht um eine offizielle Veranstaltung vonseiten der Regierung handelte. Dies wurde Palewski untersagt.156 Dadurch wird die These gestützt, dass, trotz der klaren ministeriellen Anbindung, die Einrichtung des Hauses keine Priorität mehr für das Kolonialministerium darstellte und man sich gegenüber dem Musée skeptisch zeigte. Palewski begnügte sich daher damit, einigen Vertretern der Presse und berühmten politischen Persönlichkeiten wie Maréchal Lyautey das Haus zu zeigen. Dementsprechend wurde die Eröffnung recht breit in der Presse rezipiert. Diese teilweise sehr ausführlichen Darstellungen der von Palewski geleisteten Arbeiten, erlauben überhaupt erst eine Rekonstruktion der konkreten Gestaltung der Ausstellungsräume des Museums zu diesem Zeitpunkt. Insgesamt ist in der Presse eine relativ breite Anerkennung der Leistung Palewskis, vor allem in so kurzer Zeit eine annehmbare Sammlung konzipiert zu haben, spürbar.157 So wurde vom Le Petit Parisien eingeräumt: „M. Gaston Palewski, conservateur du nouveau musée, est parvenu – non sans difficultés – à réunir une collection des plus rares.“.158 Es werden ihm also die Schwierigkeit, die er wohl gehabt haben mag, angerechnet. Doch schließlich habe er es geschafft, eine seltene, ausgefallene Sammlung zusammenzutragen. Bereits am 01. Dezember wird folglich geurteilt: „[…] c’est une présentation qui mérite d’être vue, même après les merveilles de l’Exposition coloniale“.159 Auch das Journal des débats spricht zum einen von der „immense et patient travail“ mit der sich Palewski seiner aktuellen Aufgabe gewidmet habe und zum anderen von seiner „[…] intelligence et active direction“.160 La Liberté lobt das Ergebnis der Arbeit Palewskis als „véritable Institut colonial“ und führt aus, dass Palewski es angesichts der Mittel, die ihm zur Verfügung gestanden hatten, wohl kaum hätte besser machen können.161 Mehrere Artikel widmen sich, wie bereits angedeutet, der ausführlichen Beschreibung der präsentierten Sammlung. Anhand des bereits zitierten Artikels von Édouard Vgl. Kommunikation zwischen Palewski und dem Kolonialministerium (29.11./30.11./04.12.1933), Archives du Musée du Quai Branly, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outre-mer, Série II – Organisation DA000967/57363. 157 Catherine Fournier liest aus der Presse an dieser Stelle in ihrer Arbeit eine deutlich negativere Bewertung der Arbeit Palewskis heraus, was hier so nicht bestätigt werden kann. Vgl. Fournier, Marius-Ary Leblond, écrivains et critiques d’art, S. 335 f. 158 Mas, Édouard, À la Porte Dorée va s’ouvrir un musée des Colonies, in: Le Petit Parisien (29.11.1933). 159 Boulanger, René, Le Musée permanent des Colonies a ouvert ses portes hier au public, in: Le Petit Parisien (01.12.1933). 160 Grandidier, G., Le Musée des colonies, in: Journal des débats (28.10.1933). 161 Vgl. Richard, Marius, À partir de demain le public pourra visiter le Musée des Colonies, in: La Liberté (30.11.1933). 156
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Mas vom 29.11.1933 und dem Artikel von René Boulanger im Le Petit Parisien vom 05.12.1933 lassen sich folgende Elemente rekonstruieren: Die Eingangshalle im erhöhten Erdgeschoss sei laut den Autoren dem Exotismus in Frankreich gewidmet gewesen. Hier scheinen u. a. ein Ensemble von exotischen Möbeln aus Indien vorhanden gewesen zu sein (17./18. Jahrhundert) sowie auch acht Gemälde von Vernet, die die verschiedenen Häfen Frankreichs darstellten. Die Eingangshalle diente also gleichsam als Prolog, der in die Thematik einstimmen und die Atmosphäre der Kolonien aus französischer Sicht wiedergeben sollte. Beide Artikel erwähnen in der Folge eine umfangreiche historische Galerie, die u. a. mit Schrifttafeln ausgestattet sei und vermutlich im erhöhten Erdgeschoss lag. Zu Beginn jeder (historischen) Sektion seien Pavillons der alten königlichen Marine rekonstruiert worden sowie in Uniformen der kolonialen Regimenter eingekleidete Puppen aufgestellt worden.162 Hinsichtlich der Schrifttafeln in jeder Sektion präzisierte Boulanger, dass die Inhalte der jeweiligen Sektion in wenigen Sätzen zusammengefasst worden seien. Diese Präsentationsform macht den pädagogischen Charakter und das eindeutig didaktische Vorgehen Palewskis klar: Jedem Besucher sollte nach dem Museumsbesuch zweifelsfrei klar sein, was die wichtigen Etappen der Kolonialgeschichte waren, welche Informationen man hier herausziehen und welche Botschaft man verinnerlichen sollte. Die historische Galerie war dabei in folgende chronologische Phasen eingeteilt: Von den Kreuzzügen über den Saal der Entdecker bis in das 17./18. Jahrhundert und der Schilderung des Niedergangs des ersten Kolonialreichs, dem amerikanischen Unabhängigkeitskampf sowie der Eroberung Indochinas wurde der Siegeszug des französischen Empire bis in das 19. Jahrhundert veranschaulicht. Die Präsentation schloss mit der zeitgenössischen Situation des Kolonialreichs. Diese Struktur orientierte sich also im Wesentlichen an der historischen Sektion, die es schon während der Exposition coloniale zu sehen gegeben hatte. Weitere Abteilungen umfassten eine Synthese zur Wirtschaft und Gesellschaft in den Kolonien, Überreste der Exposition coloniale; die Bibliothek der Agence des Colonies. Im Untergeschoss befand sich die naturhistorische Sektion mit dem Aquarium. Außerdem beschrieben die Mas und Boulanger u. a. auch eine Galerie der Art indigène. Diese Darstellungen finden sich zumindest ansatzweise auch in weiteren Zeitungsartikeln.163 Einige nennen konkrete Ausstellungsstücke. So der Echo de Paris: Teppich von Arras (Vicomte de Noailles), Porzellan der Indochina-Kompagnie, Möbel von Jouveau-Dubreuil, ‚Arts indigènes‘ aus Madagaskar, spezifische Leihgaben und Schenkungen, beispielsweise von Gouverneur Merwart oder dem Musée d’ethnographie du Trocadéro. Darüber hinaus werden einzelne Per-
Wahrscheinlich stellt das erste Foto des Artikels aus der La Liberté vom 30.11.1933 diese Situation dar. Das Foto lässt darüber hinaus vermuten, dass sich die historische Sektion im erhöhten Erdgeschoss befand. Vgl. auch Fotografien des Artikels von Roger Valbelle, À la Porte Dorée le musée des Colonies, réorganisé, ouvrira demain au public ses nouvelles salles, in: Excelsior No. 8388 (29.11.1933). 163 Vgl. beispielsweise Grandidier, Le Musée des colonies. 162
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sonen genannt, denen hier besondere Aufmerksamkeit geschenkt wurde: Faidherbe, Lyautey, Jules Ferry, Paul Doumer, Gallieni, Auguste-Jean Marie Pavie.164 Der anekdotische Charakter einzelner Objekte, der eine besonders lebendige und unterhaltsame Erfahrung und Erinnerung an den Museumsbesuch hervorrufen sollte, blieb auch in der Folge ein Kennzeichen der Museumspräsentation. Die Hervorhebung einzelner Kolonialhelden entsprach dabei der propagandistischen Ausrichtung des Hauses und hielt sich bis weit in die 1950er Jahre. Es fällt auf, dass die Sektion zur indigenen Kunst eher selten in den Artikeln erwähnt oder gar beschrieben wird. Eine Ausnahme bildet der Artikel vom 01.12.1933 im Echo de Paris.165 Hier wird ausführlicher auf diese Abteilung eingegangen, die allerdings laut dem Artikel noch wachsen müsse. Es werden einige bereits vorhandene Schenkungen und Leihgaben erwähnt und betont, dass es um den ästhetischen Charakter der Objekte gehe. So wolle man eine Doppelung mit dem Musée d’ethnographie du Trocadéro vermeiden. Daran knüpft La Liberté erneut an und spricht von ‚chefs-d’œuvre‘, um dies aber gleich wieder zu revidieren und zu fragen, ob man überhaupt von Meisterwerken sprechen könne, da sie offensichtlich ohne jeden Anspruch an Schönheit gefertigt worden seien.166 Es werden Werke aus dem Kongo, Kamerun und aus Madagaskar genannt. Darüber hinaus wird erwähnt, dass Palewski plane, Sprichwörter aus den jeweiligen Kolonien auf Tafeln einzufügen. So kristallisierte sich hier die ‚ästhetische‘ Komponente der im Musée des Colonies präsentierten Objekte in zweierlei Hinsicht als prägend heraus: Einerseits stellt sie sich als eine Möglichkeit heraus, sich von Konkurrenzinstitutionen wie dem ethnografischen Museum abzugrenzen und eine eigene, museale Identität aufzubauen. Andererseits erwies es sich jetzt und auch in der Folge als Herausforderung für das eigene museale Konzept vom ‚kolonialen Anderen/Fremden‘, den Begriff der ‚Kunst‘ auf bestimmte Sammlungsobjekte indigenen Ursprungs anzuwenden. Diese ambivalente Perspektivierung des ‚Ästhetischen‘ blieb bis in die 1950er Jahre erhalten und wurde erst durch die eindeutige Orientierung an dem Konzept der ‚primitiven Kunst‘ in den 1960er Jahren abgelöst. Der Schwerpunkt der Darstellungen in der Presse liegt eindeutig auf relativ genauen Beschreibungen der historischen Sektion einerseits und der anekdotischen Beschreibung einzelner besonders interessanter Stücke andererseits. Die historische Sektion hatte hier eine klar instruktive Aufgabe und sollte nach wie vor, in den Augen der Presse, die Franzosen über ihr Kolonialreich informieren und dafür begeistern: „C’est un Diese Fixierung auf einzelne bedeutende Persönlichkeiten lässt sich auch mit einer Liste von 1933 bestätigen, die die Personen benennt, deren Porträts, Fotos, Büsten pro Sektion ausgestellt werden sollten. Vgl. Archiv MQB, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outre-mer, Série XI – Architecture, Muséographie DA000598/59728. 165 Vgl. L., J.-G., L’ouverture au public du Musée des Colonies, in: L’Echo de Paris (01.12.1933), Titelseite. 166 Vgl. Richard, Marius, À partir de demain le public pourra visiter le Musée des Colonies, in: La Liberté (30.11.1933). Das dritte Foto des Artikels zeigt eine Aufnahme der Sektion zur indigenen Kunst, die hier schon recht gut ausgestattet scheint. 164
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voyage intéressant, instructif et peu couteux“167. Dabei war aber auch die pittoreske, unterhaltsame Wirkung bestimmter Ausstellungsteile zentral. Die einzelnen ausgestellten Objekte trugen teilweise noch durch ihren anekdotischen Charakter dazu bei: so auch der Käfig, in dem der Rogui Bou Hamara gefangen gehalten wurde.168 Der lebendige Charakter des Museums wurde häufig betont. Besonders die nachgestellten Szenen wichtiger Ereignisse erfreuten sich großer Beliebtheit: „[…] les grandes scènes de notre Histoire coloniale, qui sont pourtant d’un saisissant effet car elles sont figurées „au naturel“ par des personnages de cire. C’est la partie la plus „parlante“ du nouveau musée“169 Vor allem die Artikel, die von Fotografien begleitet werden, verdeutlichen dies:170 Gezeigt wurden zum Beispiel die Inszenierung des „cour de Hué“171, ebenso wie die „Scène familiale chez M. et Mme Tascher de la Pagerie, les parents de l’impératrice Joséphine“.172 Die doppelte Mission des Museums, einerseits instruktiv zu sein und andererseits unterhaltend, wurde nicht nur von der Presse so gesehen, sondern war vom Museum, dem Kolonialministerium und Palewski durchaus auch so gewollt. Man setzte so die Tradition der Exposition coloniale fort und sah damit das Museum vor allem als Propagandainstrument. In der ‚kolonialen‘ Botschaft an das französische Volk war durchaus immer noch deutlich der humanistisch-gutmütige und in einen relativen Pazifismus gehüllte Ton Lyauteys zu erkennen. Palewski selbst äußerte sich gegenüber der Presse folgendermaßen zu seinen Zielsetzungen: Je me suis principalement efforcé d’illustrer les deux grandes leçons que doit donner le musée […]. D’abord ce fait que la part des colonies dans notre vie économique comme dans l’évolution de notre vie intellectuelle et sociale a été, depuis les Croisades, primordiale. Ensuite que le succès de la politique coloniale de la France est surtout dû à sa curiosité sympathique vis-à-vis des races indigènes.173
Das Bild des ‚neugierigen Abenteurers‘, der sich auf gutmütige, hilfsbereite Art und Weise fremden, meist unterlegenen Völkern zuwendete, war bis in die 1950er Jahre wichtig für das Museum. Mithilfe dieses Konzepts konnte man das Empire als Ergebnis eines spezifisch französischen Abenteurergeistes und einer spezifisch französischen Neugier auf die Welt und ihre Reichtümer darstellen. Das Empire zeugte vom französischen Entdeckergeist und dem humanistischen Sendungsbewusstsein der Franzosen.
Mas, À la Porte Dorée va s’ouvrir un musée des Colonies. Vgl. o. A. Au Musée permanent des Colonies, in: L’Echo de Paris (29.11.1933). L., L’ouverture au public du Musée des Colonies. Vgl. u. a. den Beitrag von Pierre Chaigneaux in Photomonde (16.12.1933), Palabre des Ombres au Musée des Colonies. 171 Vgl. Mas, À la Porte Dorée va s’ouvrir un musée des Colonies. 172 L., L’ouverture au public du Musée des Colonies. Vgl. auch Fotografien des Artikels von Roger Valbelle, À la Porte Dorée le musée des Colonies, réorganisé, ouvrira demain au public ses nouvelles salles. 173 o. A. Les Parisiens pourront maintenant „voir“ l’histoire coloniale en France, in: Paris-Midi (30.11.1933). 167 168 169 170
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Übergänge – Umbenennung in Musée de la France d’outre-mer und Amtsübergabe an Ary Leblond 1934 Palewski hatte damit den Grundstein für die Arbeit seines Nachfolgers Leblond bereits gelegt.174 Doch bevor dieser das Amt übernehmen konnte, standen einige institutionelle Umgestaltungen bevor.175 Das Musée des Colonies wurde per Dekret vom 17. Mai 1934 mit dem Institut national d’Agronomie colonial zusammengelegt und bekam im Anschluss daran einen neuen Namen:176 Das Musée des Colonies wurde damit zum Musée de la France d’outre-mer (kurz MFOM). Faktisch blieb das Museum auch jetzt dem Kolonialministerium unterstellt.177 So blieb auch in der Phase des MFOM unter Leblond dieser politische Einfluss präsent: Die direkte Beteiligung an Ausstellungen, die Einweihung der Ausstellungen durch den Kolonialminister Louis Rollin, die Beeinflussung des Vermittlungsprogramms, aber auch die öffentliche Ehrung der Kolonialhelden im und durch das Museum machten seinen staatlich-propagandistischen Auftrag deutlich. Taffin geht in ihrem Text sogar so weit zu behaupten, dass Leblond eigentlich keinen großen Einfluss mehr auf die Gestaltung des Museums gehabt habe, so sehr habe sich das Institut d’Agronomie coloniale eingemischt.178 Dieser Einfluss lag auch darin begründet, dass das Empire immer noch als wesentlicher Bestandteil der eigenen Nationalidentität begriffen wurde. Es galt daher nach wie vor, den Franzosen ihr Kolonialreich näherzubringen, um es auch in Zukunft fortgeführt und gesichert zu wissen. So bestärkte die Zeitschrift L’Illustration sowohl anlässlich des Salons de la France d’outre-mer von 1935 als auch anlässlich der Conférence impériale von 1936, an denen beide Male auch Leblond beteiligt war, die Identität Frankreichs als KoloPalewskis Amtszeit als Konservator endete kurze Zeit nach der Neueröffnung im Dezember 1933. Der damalige Leiter der Agence des Colonies, der das Musée des Colonies unterstellt war, Joucla, übernahm interimsmäßig die Leitung des Musée ab dem 01.01.1934. Schließlich wurde das Amt des Chefkonservators erst noch geschaffen, sodass der Nachfolger Palewskis erst im November 1934 sein Amt antreten konnte. Vgl. Procès-verbal de passation de service (29.12.1933), Archives du Musée du Quai Branly, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outre-mer, Série IV – Gestion DA000846/58510, sowie: vgl. Journal officiel de la République (23.11.1934). S. 11555. 175 Neben diesen institutionellen Veränderungen bleibt zu bemerken, dass das MFOM in dieser Zeit auch städteplanerisch in einige Entwicklungsprozesse an der Porte Dorée integriert war. Im März 1933 hatte die Zeitschrift l’Illustration einen Artikel zum Umbau des Viertels veröffentlicht, aus dem hervorging, dass hier ein „ensemble décoratif de caractère monumental dégageant la silhouette du musée permanent des Colonies“ entstehen sollte. Es handelte sich um große Wohnungsbauten, die nun das MFOM umrahmten und bis heute in dieser Form bestehen geblieben sind. Vgl. o. A., Une sortie d’honneur sur le bois de Vincennes, in: L’Illustration No. 4697 (11.03.1933). S. 305. 176 Vgl. Musée permanent des Colonies, Albert Lebrun / Louis Rollin (13.02.1935), Archives du Musée du Quai Branly, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outre-mer, Série II – Organisation DA000911/57343. 177 Vgl. o. A. Le „Musée de la France d’outre-mer“ est enfin doté d’un statut, in: La Nouvelle Dépêche (20.02.1935), Titelseite. In der Folge wir die Abkürzung MFOM für das Musée de la France d’outre-mer verwendet. 178 Vgl. Taffin, Dominique, Les avatars du musée des Arts d’Afrique et d’Océanie, S. 183 f. 174
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nialmacht. Im Artikel von 1935 zum Salon de la France d’outre-mer wird 1935 als ‚großes koloniales Jahr‘ gelobt,179 während in dem Artikel von 1936 der ‚idée coloniale‘ in Frankreich attestiert wird: Et la manière dont l’opinion a répondu à toutes ces initiatives a prouvé que les yeux s’ouvraient chez nous, qu’une éclosion morale se produisait, que, du paysan beauceron au commerçant du Sentier, de l’artisan de province au grand industriel du Nord, de l’homme de la rue au financier, le pays tout entier commençait à sentir en profondeur l’étroite solidarité de devoirs et d’intérêts qui lie la Métropole à tous les territoires où sa culture a essaimé et sur lesquels plane la clarté de son drapeau. […] l’idée coloniale a pris son essor chez nous.180
Diese Euphorie bezüglich des Empire lässt sich durchaus auch mit der Tatsache begründen, dass die ‚koloniale Woche‘, die es seit 1927 auf Anregung der Koloniallobby gab, bis 1939 fortbestehen sollte.181 Auch am Grundtenor der Kolonialpolitik änderte sich in dieser Zeit wenig. Trotz der Reformbestrebungen der Volksfront-Regierung von 1936 hielt man insgesamt am Empire und dem damit verbundenen System der Unterwerfung fremder Völker fest. So waren die an der Volksfront-Regierung beteiligten politischen Parteien weder antikolonial ausgerichtet, noch konnte mithilfe der Reformvorhaben der Volksfront ein tatsächlich signifikanter Wandel der Situation in den Kolonien bewirkt werden.182 Zwar versuchte man über die Ermittlung der „[…] besoins et les aspirations légitimes des populations habitant les colonies, les pays de protectorat et sous mandat“ eine Verbesserung der Lebensumstände der jeweiligen Bevölkerungsteile zu erreichen und damit eine humanere Version des Kolonialismus zu entwickeln.183 Jedoch folgte auch dieser Ansatz der Logik, dass man so die Herrschaft über die Kolonien aufrechterhalten, das Empire bewahren und den wirtschaftlichen Austausch erleichtern und effektiver gestalten könnte. Selbst im Zuge der Vorbereitungen des herannahenden Kriegs Ende der 1930er Jahre, rückte das Empire wieder als wichtiger Rückhalt und als Reserve in den Fokus. Vor diesem Hintergrund und der immensen Bedeutung, die dem Empire immer noch beigemessen wurde, erscheint die Beibehaltung der Propaganda-Mission des MFOM verständlich und folgerichtig. Lediglich die neue Besetzung des Postens des Chefkonservators mit Ary Leblond erscheint hier ungewöhnlich, schließlich handelte es sich bei dem neuen Chefkonservator diesmal nicht um eine Person aus den Reihen des Kolonialministeriums. Dennoch begeisterte sich der eingesetzte Ary Leblond für koloniale Fragen und war mit diesen
Vgl. C., P.-E., Au salon de la France d’outre-mer, in: L’Illustration No. 4841 (14.12.1935). S. 497. o. A. L’idée coloniale, in: L’Illustration ( Janvier 1936). Vgl. Thomas, The French Empire between the wars. S. 196. Vgl. ebd. S. 277 ff. Vgl. Coquery-Vidrovitch, Catherine, La colonisation française de 1931 à 1939, in: Thobie, Jacques (u. a.) (Hrsg.), Histoire de la France coloniale 1914–1990, Paris 1990, S. 213–308, hier: S. 259. 179 180 181 182 183
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durch seine Herkunft in der Praxis vertraut.184 Der aus La Réunion stammende Schriftsteller Leblond hatte darüber hinaus bereits Erfahrung im Bereich des Museums gesammelt, hatte er doch auf La Réunion zusammen mit Marius Leblond das Musée Léon Dierx eingerichtet.185 Zudem war Ary Leblond bereits während der Exposition coloniale kontaktiert worden, um als Mittelsmann Objekte zu beschaffen, und war so mit dem Musée des Colonies in Berührung gekommen. Auch in der Folgezeit wurde er als Präsident der Société des Écrivains coloniaux von Palewski um verschiedene literarische Werke gebeten, die man in der Sektion zum ‚Exotismus‘ ausstellen wollte.186 Seine professionelle Karriere und seine starke Ausrichtung am Bereich der Kultur sollten das MFOM in der Folge maßgeblich prägen. Zwar knüpfte Leblond an den durch Palewski erarbeiteten Grundstrukturen an und übernahm beispielsweise die von diesem angelegte historische Galerie. Gleichzeitig ergänzte er einen neuen Fokus, der aus seinem ganz persönlichen Interesse erwuchs. Er wollte explizit einen großen Bereich des Museums der Darstellung des Einflusses des ‚Exotismus‘ auf die französische Kunst und Kultur widmen und visierte auf lange Sicht eine ‚galerie d’art exotique‘ an. Leblond dachte hier an, aus einer ganz und gar französischen Sicht, den Mehrwert, den die Betrachtung und Einbeziehung der exotischen Welt der Kolonien für westliche Künstler und ihre Werke haben konnte, zu veranschaulichen. Dabei dachte er vor allem an die Präsentation von älteren und zeitgenössischen Meisterwerken des ‚Orientalismus‘. Gleichzeitig sollte anhand der Ausstellung ‚indigener Kunstobjekte‘ der positive Einfluss der französischen Kolonialmacht gezeigt werden. Er band diesen doppelten Fokus in eine, teilweise schon vor seinem Amtsantritt formulierte,187 besonders lebendige Vision des MFOM ein: Es solle ein Ort entstehen, der die Aufmerksamkeit seiner Besucher errege und ein ‚Foyer d’attraction‘ darstelle. Dazu empfahl er die Verwendung visueller Elemente, also Gemälde, aber auch Kunstgewerbe, da solche Objekte laut Leblond die ‚kindliche Neugier‘ beim Betrachter weckten: „Faire servir l’Art et l’Histoire […] à éclairer l’Economique qui non encadrés par eux, risque d’enVgl. Dodille, Norbert, Introduction aux discours coloniaux, Paris 2011. S. 48 f. Die scheinbaren Brüder Ary und Marius Leblond stammten zwar beide von La Réunion, waren aber tatsächlich nur Cousins. Sie benutzten das Pseudonym Marius-Ary Leblond für ihre Publikationstätigkeit. Hinter Ary Leblond verbarg sich Aimé Merlo. Vgl. Fournier, Marius-Ary Leblond, Écrivains et critiques d’art. S. 11ff und S. 340 ff. 186 Vgl. Brief von G. Palewski an Ary Leblond als Président de la Société des Écrivains coloniaux (05.07.1933), Archives du Musée du Quai Branly, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outremer, Série II – Organisation DA000967/57363. 187 Noch während der Amtszeit Palewskis, im September 1933, formulierte Leblond in einem Brief in Anknüpfung an seine Bewerbung für die Stelle des Konservators seine Vorstellungen zum Musée des Colonies: Er entwirft ein neues Bild der Struktur des Museums. Er sah dabei eine eher künstlerische Einführung in das Museum vor, die in den Seitenflügeln durch Darstellungen der einzelnen Kolonie ergänzt werden sollte. Leblond mahnt hier, eine Vermischung von geografischen und historischen Ordnungsprinzipien zu vermeiden. Vgl. Brief von A. Leblond an Monsieur le Ministre des Colonies (23.09.1933), Archives du Musée du Quai Branly, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outre-mer, Série II – Organisation DA000967/57366. 184 185
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nuyer le public au lieu d’en capter l’attention.“188 Für Leblond stand ganz grundsätzlich die Kunst bzw. das Kunstwerk als Medium der Vermittlung des kolonialen Bewusstseins im Vordergrund. Damit grenzte sich Leblond hier, ähnlich wie Palewski, über die Betonung des Ästhetischen vom Musée d’ethnographie du Trocadéro ab. Gleichzeitig betonte er aber die Möglichkeit, ethnologische Objekte für die Präsentation zu nutzen: […] créer ainsi une atmosphère pittoresque et, au milieu de ce décor d’un attrait plastique et intellectuel, présenter de façon méthodique et instructive les produits principaux de cette colonie – ce qui sera l’Histoire du travail à la fois du français et de l’indigène.189
In der konkreten Umsetzung bedeutete dies, dass der Besucher in Leblonds Vision des Museums im Eingangsbereich von einem Prolog in Form der ‚Galerie des races‘ und der Einführung in den französischen ‚Exotismus/Orientalismus‘ empfangen wurde. Anschließend erhielt er eine Einführung in die historischen Grundlagen der französischen Kolonisation und bewegte sich danach durch die Sektion zu ‚Paul und Virginie‘ vom erhöhten Erdgeschoss in das Zwischengeschoss, wo ihn die indigene Kunst erwartete. Danach betrat er mit dem ersten Stock die zeitgenössische Darstellungsebene der Kolonien. Abschließend konnte er das Untergeschoss mit dem Aquarium besichtigen. Bei diesem Parcours hatte sich Leblond weitestgehend an seine eigenen Vorgaben aus seinem frühen Entwurf von 1933 sowie die Ansätze seines Vorgängers Palewski gehalten. Dies lässt sich bei einer genaueren Analyse der einzelnen Sektionen erkennen, die nur indirekt über die Darstellungen Cornilliet-Watelets,190 im Abgleich mit Leblonds persönlichen Angaben zur Struktur und dem Konzept des Museums, rekonstruiert werden können.191 Sie benennt als erste Sektion die ‚Galerie historique‘, die von Leblond in allen drei Texten beschrieben wurde und weitestgehend schon seit 1932/33 aufgebaut worden war. Sie stellte die „passé de notre colonisation“ in Form der „epopée de la colonisation française“ dar und war nach Leblond in acht Säle bzw. Abschnitte aufgeteilt, die der Chronologie Palewskis entsprachen: Salle des Croisades, Salle des découvreurs du XVIe siècle, Salle du XVIIe siècle, Salle du XVIIIe siècle, Salle de la Révolution et de l’Empire, la Restauration, Second Empire, Troisième Répu188 189 190
S. 90.
Ebd. S. 2. Ebd. S. 4. Vgl. Cornilliet-Watelet, Le Musée des Colonies et le Musée de la France d’outre-mer (1931–1960),
Es können drei verschiedene Beschreibungen Leblonds herangezogen werden. Zwei stammen aus dem Jahr 1935 und eine von 1937/38. Vgl. Leblond, Ary, Le Musée de la France d’outre-mer (1935), Archives du Musée du Quai Branly, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outre-mer, Série V – Communication DA000926/57687, Leblond, Ary, Aménagement général du Musée, (07.06.1935), Archives du Musée du Quai Branly, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outre-mer, Série II – Organisation DA000967/57368 und Leblond, Ary, Au Musée de la France d’outre-mer (1937/38), Archives du Musée du Quai Branly, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outre-mer, Série V – Communication DA000926/57689. 191
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blique und l’Afrique noire 1838–1916.192 Sie wurden in einer chronologischen Darstellung arrangiert. Der Fokus innerhalb der einzelnen Zeitabschnitte lag auf den einzelnen Figuren der großen Abenteurer, Eroberer und Kolonialherren und Ausschnitten ihrer jeweiligen Geschichte. Diese Art der Perspektivierung der Geschichte des französischen Empire über die einzelnen ‚grands hommes‘ der Kolonisation entsprach einerseits durchaus der Tradition der öffentlichen Geschichtsdarstellung der Dritten Republik.193 Andererseits scheint es auch speziell dem Geschichtsverständnis der Leblonds in Bezug auf das Empire entsprochen zu haben.194 So veranstaltete Ary Leblond in der Folge häufig Feierlichkeiten zu Ehren der großen Helden der Kolonialgeschichte: Er ließ Büsten aufstellen und Porträts aufhängen, meist verbunden mit einer Ehrenfeier für den jeweiligen ‚Helden‘.195 Der historische Abriss nahm den Großteil des erhöhten Erdgeschosses ein und wurde durch die zweite Sektion ergänzt, die von Cornilliet-Watelet als Einheit des „Exotisme dans l’art et la littérature“ bezeichnet wird: Sie stellt den Fokus des leblondschen Schaffens dar.196 Sie lag dementsprechend in der ‚Hall d’honneur‘ im Eingangsbereich und teilte sich den Platz mit der ‚Galerie des Races‘.197 Hierzu zählten u. a. der thematische Saal ‚Paul et Virginie‘,198 aber auch verschiedene Wandteppiche, ein Möbelensemble von Jouveau-Dubreuil und das Porzellan der Compagnie des Indes – Objekte, die ebenso den Einfluss des ‚Exotismus‘ auf Frankreich zeigen sollten. Leblond erwähnte zudem auch die ‚peinture orientaliste française‘, zu der er u. a. Werke von Gericault, Décamps, Chassériau und Gauguin zählte. Er deutete darüber hinaus in dem Text von 1937/38 an, dass er sich hier einen zukünftigen ‚Salon d’Art exotique‘ vorstellen könne.199 Die dritte Sektion bilden die ‚Arts indigènes‘ im Zwischengeschoss. Zu ihr gehören zwei Galerien: die eine thematisiert vorerst noch Madagaskar, später die Art noir,200 die andere Galerie widmet sich allgemein den ‚Arts indigènes‘. Als vierte Sektion wird die ‚Section économique et sociale‘ benannt, die die Präsentation des ‚présent des colonies‘ im Kontrast zur historischen Sektion meinte und damit die Synthesesektion der Exposition coloniale beerbte. Jede Kolonie wurde einzeln dargestellt und charak-
Vgl. Leblond, Au Musée de la France d’outre-mer (1937/38), DA000926/57689. S. 3 f. Vgl. Dodille, Introduction aux discours coloniaux, S. 47. Vgl. ebd. S. 48 f. Vgl. o. A. La commémoration du général Marchand au Musée de la France d’outre-mer, in: Le Matin (10.07.1935) und o. A. Un buste de l’abbé Grégoire est offert au musée de la France d’outre-mer, in: Le Matin (09.07.1939). 196 Vgl. Cornilliet-Watelet, Le Musée des Colonies et le Musée de la France d’outre-mer (1931–1960), S. 91. 197 Sie zeigt in Form von Büsten und Skulpturen sogenannte ‚types indigènes‘. Vgl. Leblond, Ary, Le Musée de la France d’outre-mer (1935), DA000926/57687. S. 1. 198 Vgl. Leblond, Aménagement général du Musée, (07.06.1935), DA000967/57368. S. 1 f. 199 Vgl. Leblond, Au Musée de la France d’outre-mer (1937/38), DA000926/57689. S. 2. 200 Vgl. Leblond, Aménagement général du Musée, (07.06.1935), DA000967/57368. S. 2. und Leblond, Le Musée de la France d’outre-mer (1935), DA000926/57687. S. 2. 192 193 194 195
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terisiert. Dies geschah durch Darstellungen der „meilleurs peintres d’outre-mer“, aber auch Dioramen, Waren- und Produktproben.201 Die fünfte und letzte Sektion bildete im Untergeschoss das Aquarium.202 Bei allen Gemeinsamkeiten mit dem Vorgänger und mit der Struktur des Museums während der Exposition coloniale stechen hier doch zwei Elemente hervor, die die Eigenart der ‚Periode Leblond‘ auszumachen scheinen: die Betonung der ‚kolonialen, exotischen, orientalistischen‘ Kunst203 und die vermeintliche Integration von indigener Kunst204. Leblond und die Rolle der Kunst im MFOM – zwischen ‚Orientalismus‘ und ‚primitiver Kunst‘ Die Stellung der indigenen Kunst als Sammlungsbestand des MFOM ist durchaus als ambivalent einzustufen und sollte nicht im Sinne eines emanzipatorischen Anspruchs überbewertet werden. Leblond selbst vertrat durchaus auch eine ambivalente Haltung zu dieser ‚Art sauvage‘. Er hatte sich, wie Catherine Fournier zeigt, schon vor seiner Arbeit im MFOM mit der ‚wilden‘ oder auch ‚primitiven Kunst‘ auseinandergesetzt.205 Er glaubte an ein Modell von Entwicklungsstufen der einzelnen Kulturen, wobei manche in einem primitiven, fast infantilen Zustand verblieben. Dies bedeutete, dass er solchen Objekten durchaus einerseits einen ästhetischen Eigenwert absprach, da es sich um praktische Gebrauchsobjekte oder rituelle Objekte handelte, die eng an die ursprünglichen, primitiven Lebenszusammenhänge wie die Jagd oder die Religion gebunden waren. Andererseits erkannte er durchaus den Wert der Objekte, besonders der ‚Art Noir‘, für die Erneuerung der westlichen modernen Kunst an und setzte sich dafür ein, dass diese Eingang in den Louvre fanden. Genau dieser letzte Aspekt war es, um den sich für Leblond die Orientierung des MFOM drehte und der sein Konzept des ‚kolonialen Anderen/Fremden‘ verdeutlicht: Die fernen und fremden Kulturen dienten als Inspirationsquelle für das ‚französische Genie‘. Sie konnten einen Beitrag dazu leisten, die französische Kultur und Kunst zu bereichern, jedoch stand nicht zur Debatte, dass ihre eigenen Objekte und Erzeugnisse immer noch weit unter dem ‚Niveau‘ der französischen Kunst und Kultur lagen. Ihre Präsenz im Louvre wurde rein über ihre Inspirationskraft gerechtfertigt. Eine ähnliche janusköpfige Einstellung zur ‚Art Noir‘ findet sich in einem zeitgenössischen Zeitungsartikel des Le Matin, der am 201 202
S. 93.
Vgl. Leblond, Le Musée de la France d’outre-mer (1935), DA000926/57687. S. 2. Vgl. Cornilliet-Watelet, Le Musée des Colonies et le Musée de la France d’outre-mer (1931–1960),
Damit sind hier die französischen Künstler gemeint, die von den Kolonien in ihrem Schaffen maßgeblich beeinflusst wurden und deren Arbeiten vorrangig ihre Wahrnehmung der Kolonien wiedergeben. 204 Hierunter werden die tatsächlich von indigenen Völkern, also als ‚primitiv‘ verstandenen Völkern, angefertigten Werke verstanden. 205 Vgl. Fournier, Marius-Ary Leblond, Écrivains et critiques d’art. S. 209 ff. 203
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16. August 1936 über das MFOM und seine Sammlung erschien. Einerseits will man hier in den Werken der ‚Art Noir‘ einen „preuve d’une imagination puissamment créatrice“ erkannt haben. Andererseits wird festgestellt, dass „(c)et art nègre […] avant tout décoratif “ sei. Dazu wird eine Aussage des Gouverneurs Antonetti herangezogen, der u. a. auch ein Mäzen des MFOM war und den „goût de la décoration“206 dieser Werke betonte. Der Autor des Artikels führt weiter aus: Sans doute pour nos esprits classiques tout cet art des noirs, où le sens des volumes et de la composition parait manquer, ne saurait nous séduire et il faut un effort, pour suivre des esprits exaltés par l’expressionnisme contemporain lorsqu’ils affirment la supériorité de l’art noir […].207
Das Zitat verdeutlicht die vage, unsichere Haltung gegenüber diesen ‚Künsten‘ sowie das Eingeständnis, die Begeisterung für solche Formen nur begrenzt nachvollziehen zu können. Dahinter steckte auch das Motiv, die ‚Kunst‘ dieser ‚Fremden, Wilden‘ auf Distanz zu halten und trotz der Anerkennung eines offensichtlichen ästhetischen Talents dieser Ethnien, die eigene kulturelle und ästhetische Höherwertigkeit herauszustellen. Leblond selbst machte seine Einstellung zur ‚primitiven Kunst‘ innerhalb des MFOM mit folgendem Zitat zur ‚Section d’Art indigène‘, zu der auch die Abteilung der ‚Art Noir‘ gehörte, klar: Voici quelle sera l’affection permanente de ces deux galeries [de l’entresol] : dans la première, l’on verra toutes les formes de l’Art Indigène dans leur primitivité avant la Colonisation française ; dans la seconde, les manifestations de l’Art de ces mêmes indigènes sous l’inspiration et sous l’Enseignement de nos Écoles d’Art Appliqué.208
Es wird hier also deutlich, dass die Präsentation der indigenen Kunst dazu benutzt wurde, den entwicklungsbedingten Unterschied zwischen ihrer eigentlichen, ursprünglichen Primitivität und der Veränderung, hervorgerufen durch den positiven Einfluss der Kolonialmacht Frankreich, zu veranschaulichen – eine materielle Übersetzung des Motivs „heureusement qu’on était là“. Dies wird von Fournier bestätigt, die schlussfolgert: „Le propos est clair. A partir des années 30, l’art noir est perçu, pour Marius-Ary Leblond, comme un moyen de propagande pour la colonisation française.“209 Sie erläutert weiter, dass es nicht im Interesse Ary Leblonds gewesen sei, im MFOM den ästhetischen Eigenwert der ‚Art Noir‘ zu demonstrieren, sondern vielmehr die ‚Kunst in den Kolonien‘ zu zeigen.210 Die Rolle der ‚Art indigène‘ oder ‚Art Noir‘ bestand also einerseits darin, die einzelnen Kolonien und ihre Kulturen näher
206 207 208 209 210
Campagnac, Edmond, Au Musée de la France d’outre-mer, in: Le Matin (16.08.1936). Page Magazine. Ebd. Leblond, Ary, Aménagement général du Musée, DA000967/57368. S. 2. Fournier, Marius-Ary Leblond, Écrivains et critiques d’art. S. 218. Vgl. ebd. S. 219.
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zu beschreiben und zu illustrieren und damit die Höherwertigkeit der französischen Kultur und ihren positiven Einfluss zu bestätigen. Andererseits konnte die ‚indigene Kunst‘, wie vorher analysiert, als Inspirationsquelle für französische Künstler dienen. In beiden Fällen war sie aber nur ein Mittel zum Zweck, dem kein künstlerischer Eigenwert zugeschrieben wurde. Zu dieser Perspektive auf die indigene Kunst und ihre Rolle im MFOM passte auch die Vorliebe Leblonds für die ‚orientalistische‘ und ‚koloniale‘ Malerei und Skulptur. Strukturell waren diese Werke in der Sektion ‚Exotisme dans l’art et la littérature‘ verortet. Von Leblond werden bezüglich dieser Sektion verschiedene Begriffe bzw. Konzepte angewendet. Er benennt u. a. in seinem Text von 1933 die ‚Peinture orientaliste‘ und die ‚Peinture coloniale‘.211 Leblond unterschied hier einerseits Werke aus einer Phase des 19. Jahrhunderts, in der bereits orientalistische Sujets Eingang in die künstlerischen Darstellungen der Zeit fanden, die betreffenden Regionen aber teilweise eben noch keine französischen Kolonien im eigentlichen Sinne waren. Anderseits benennt er eine zweite Phase, die mit der Dritten Republik beginnt und der er die ‚koloniale Malerei‘ zuordnet.212 In der einschlägigen Übersicht von Lynn Thornton findet man den größten Teil der von Leblond genannten Künstler als den ‚Orientalisten‘ zugeordnet. Thornton definiert diese als „peintres occidentaux du monde oriental“.213 Die beiden Artikel des Katalogs des Musée de Boulogne-Billancourt, die sich mit der ‚Peinture coloniale‘ und der ‚Sculpture coloniale‘ befassen, verdeutlichen, dass in diese Kategorien Werke eingeordnet werden können, die aus dem künstlerischen Netzwerk entstanden sind, was in und um die Kolonien gebildet wurde. Es entwickelte sich vor allem aufgrund von staatlichen Anreizen und Initiativen, die in Form von Preisen und Stipendien sowie neu gegründeten Akademien entstanden und die einen Aufenthalt von französischen bildenden Künstlern in den Kolonien fördern sollten. Aus diesen Angeboten entwickelten sich in den einzelnen Kolonien teilweise eigene künstlerische Schulen und Stile. Einige Künstler fertigten auch im Rahmen von Expeditionen direkt Auftragsarbeiten an wie beispielsweise die ethnografische Dokumentation von bestimmten ‚indigenen Typen‘.214 Für Leblond waren in diesem Zusammenhang besonders Werke interessant, die unmittelbar die Atmosphäre und das alltägliche Leben in den Kolonien spiegelten und ihm dadurch halfen, diese Atmosphäre in sein Museum zu bringen.215
211
te 2.
Vgl. Brief von A. Leblond an Monsieur le Ministre des Colonies (23.09.1933), DA000967/57366. Sei-
Vgl. Bouché, Un visage de l’exotisme au XXe s.: du musée des colonies au musée de la France d’outremer à Paris (1931–1960), S. 49. 213 Vgl. Thornton, Lynn, Les Orientalistes. Peintres voyageurs 1828–1908, Paris 1983. S. 13. 214 Vgl. Bréon, Emmanuel, Les peintres de la plus Grande France, in: Musée Municipal de Boulogne-Billancourt (Hrsg.), Coloniales 1920–1940, Paris 1989. S. 13–27 und Lefrançois, Michèle, La sculpture coloniale: une leçon des choses?, in: Musée Municipal de Boulogne-Billancourt (Hrsg.), Coloniales 1920–1940, Paris 1989. S. 29–43. 215 Vgl. Fournier, Marius-Ary Leblond, Écrivains et critiques d’art, S. 350. 212
Vom Musée permanent des Colonies zum Musée de la France d’outre-mer
Da Leblond ähnlich wie Palewski immer noch die Werbung für das Empire als eine der wichtigsten Leitlinien verfolgte, überrascht nicht, dass das MFOM im Sammlungsteil der ‚Orientalisten‘ eine idealisierte, harmonische Vision der Kolonien präsentieren wollte. Catherine Bouché, die in ihrem bereits erwähnten Artikel den Sammlungsteil der ‚Orientalisten‘ untersucht, bescheinigt dem Museum hier eine homogene, fast idyllische Vision des Orients.216 Sie beschreibt einen Orientalismus ‚de bon ton‘, der zwar typische Sujets zeige, aber besonders gewalttätige, brutale oder erotische Darstellungen auslasse, um ein „[…] image […] attrayante, certes, appelant à l’évasion mais mesurée, un peu conventionnelle, limitée par des tendances didactiques […]“ zu geben.217 Sie vergleicht die Inszenierung des Orients in der Malerei in der Sektion ‚Exotisme dans l’art et la littérature‘ mit dem Saal zu Paul et Virginie, der den Einfluss des Exotismus in der Literatur zeigen sollte. Sie erkennt hier eine ähnlich harmonisierte, idyllische Vision des fernen Paradieses, der ‚Île fortunée‘. So konnten die Werke als Propaganda für das Empire, ein fernes fruchtbares Paradies, von dem die Metropole in vielerlei Hinsicht profitieren konnte, benutzt werden. Schließlich war der Einfluss des Kolonialministeriums und sein Wille, via dem MFOM das koloniale Bewusstsein der Franzosen zu wecken, immer noch stark prägend für das Haus.218 Dies zeigt sich u. a. an der direkten Einflussnahme des Kolonialministers auf die pädagogische Vermittlung im MFOM. Rollin selbst beschloss 1935 die Einrichtung sogenannter ‚Cycles de Conférence-promenade‘, die vor allem das junge Publikum für die Kolonien gewinnen sollten.219 Um seinem Wunsch Nachdruck zu verleihen, führte der Minister die erste ‚Conférence-promenade‘ gleich selbst durch.220 Dem Einfluss des Kolonialministeriums konnte Leblond also nicht entkommen. Darunter litten auch seine künstlerischen Ambitionen in Bezug auf das Museum. Sprach er noch 1933 von seiner Vision bezüglich der ‚peinture orientaliste‘ und der ‚peinture coloniale‘ und ließ er 1937/38 seine Vorstellung eines zukünftigen ‚Salon d’Art exotique‘ verlauten – so wenig ging die Tendenz des MFOM im Laufe der Jahre tatsächlich in diese Richtung. Dies lag an der offiziellen Funktion des Museums, wohl aber auch an dem recht geringen Budget für Neuanschaffungen und auch der Tatsache, dass vermehrt ehemalige Abenteurer, Gouverneure etc. ihre privaten Sammlungen an das Museum gaben.221 Diese waren meist nicht systematisch erworben worden,
Vgl. Bouché, Un visage de l’exotisme au XXe s.: du musée des colonies au musée de la France d’outremer à Paris (1931–1960), S. 49 ff. 217 Ebd. S. 51. 218 Vgl. Le Ministre des Colonies, Louis Rollin (17.01.1935), Archives du Musée du Quai Branly, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outre-mer, Série III – Administration DA000967/57364. 219 Vgl. o. A. M. L. Rollin inaugura le 13 mars les visites conférences au musée de la France d’outre-mer, in: Le Matin (09.03.1935). 220 Vgl. Fournier, Marius-Ary Leblond, Écrivains et critiques d’art, S. 350. 221 Der Hauptteil der Sammlung des MFOM wurde laut Taffin vor 1939 angeschafft und setzte sich aus Objekten aus früheren Ausstellungen, Abgaben von kolonialen Institutionen und privaten Spenden und Leihgaben zusammen. Vgl. Taffin, Les avatars du musée des Arts d’Afrique et d’Océanie, S. 186. 216
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sondern stellten ein Sammelsurium an persönlichen Souvenirs dar. Sie verstärkten den Charakter des Museums als ‚Propaganda-Stützpunkt‘ im Herzen der Metropole. Darstellung des Empire in den Wechselausstellungen: Themen, Künstler und Objekte Diese Aufgabe spiegelt sich auch in den Themen der verschiedenen Wechselausstellungen, die in der Amtszeit Leblonds organisiert wurden. Die Ausrichtung lässt sich in drei thematische Felder gliedern: zum einen Künstler und Autoren, die längere Aufenthalte in verschiedenen Kolonien hinter sich gebracht hatten. Als Beispiel können Jean Besancenot, Pierre Heidmann oder auch André Maire genannt werden. Einzelne Kolonien oder Regionen, die von Interesse waren, bildeten einen weiteren Ausstellungsschwerpunkt, so zum Beispiel Indien, Madagaskar, die Antillen oder Französisch-Guyana; und schließlich Produkte und Erzeugnisse aus den Kolonien wie beispielsweise Tee, Kaffee, Kakao, Vanille oder auch koloniale Hölzer. Leblond merkt selbst an, dass zumindest zwischen 1935 und 1939 jährlich ca. sechs Ausstellungen stattgefunden haben sollen.222 Es lassen sich von 1935 bis 1949 folgende Ausstellungen nachweisen:223 1935
(Février)
Exposition de l’Inde224
(Avril/Mai)
Exposition de Madagascar225
(Juillet)
Remise du buste de General Marchand226
(Octobre – Novembre)
Exposition du Tricentenaire du rattachement des Antilles et de la Guyane à la France 1635–1935227
(Décembre)
Exposition de trois collections d’Art noir (AEF).228
Vgl. Note pour Monsieur Croccicchia, délégué à Paris de Monsieur le Secrétaire d’Etat aux Colonies (31.03.1942), Archives du Musée du Quai Branly, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outremer, Série III – Administration DA000918/57370. 223 Als Ausgangspunkt für die Recherche wurde hier die Liste der „différentes inaugurations et manifestations ayant eu lieu au Musée de la France d’outre-mer, depuis sa réouverture (1935) à ce jour“, verwendet, Archives du Musée du Quai Branly, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outre-mer, Série X – Collections DA000616/59635. Sowie die Angaben von Fournier S. 367 ff. und die Angaben aus: Martin/ Blind, Les sources du musée de la France d’outre-mer (1931–1960). 224 Vgl. Leblond, Marius-Ary, L’Inde au musée des Colonies, in: Le Petit Parisien (15.02.1935). 225 Vgl. o. A. M. Rollin, ministre des Colonies au Musée de la France d’outre-mer, in: Le Matin (30.04.1935), S. 7. 226 Vgl. o. A. La commémoration du général Marchand au Musée de la France d’outre-mer, und o. A. M. Louis Rollin inaugure au musée des Colonies un buste de Marchand, le héros de Fachoda, in: Le Petit Parisien (13.07.1935). 227 Vgl. o. A. M. Louis Rollin inaugure l’Exposition rétrospective et artistique des Antilles et de la Guyane, in: Le Matin (19.10.1935); Katalog zur Ausstellung: Musée national de la France d’outre-mer (Hrsg.), Exposition du Tricentenaire du rattachement des Antilles et de la Guyane à la France 1635–1935, Paris 1935. 228 Vgl. o. A. L’art noir au musée de la France d’outre-mer, in: Le Matin (10.12.1935). 222
Vom Musée permanent des Colonies zum Musée de la France d’outre-mer
1936229
(Janvier/Mars)
Le Sahara. Exposition des collections rapportées par L. Lhote et des peintures de René Pottier230
(Février)
Exposition de Juliette Delmas und Pierre Heidmann (peintres): Madagascar231
(Mars)
Maurétanie. Collections Senones et Puygaudeau Exposition Paysages, types et scènes de Madagascar
(Avril)
Inauguration de la Section d’Art khmer, ensemble de sculptures offertes par F. Michelin en souvenir de M Citroën et de la Croisière Jaune. Exposition Indochine d’André Maire
1937
(15 avril – 15 octobre)
Exposition des Bois précieux des Colonies françaises et leur utilisation décorative dans l’ébénisterie et la menuiserie232
(Juin)
Exposition Morillot (peintre)
(Octobre)
Exposition de la collection Antonetti
(Oct. 1936 – Janv. 1937)
Exposition Le café et le thé des Colonies Françaises: Présentation pittoresque avec rétrospective artistique233
(Mars)
Exposition René Pottier: Sahara (03.03. Ouverture)234
(23 avril – 25 juin)
Exposition Types et costumes du Maroc: Peintures et Dessins de Jean Besancenot235
(Mai – Octobre)
Salon/Exposition de la Société coloniale des artistes français236 Exposition Paul und Roland Mascart (peintres): NouvelleCalédonie
(Juin)
Exposition Georges Rohner (peintre) und Beldjian (céramiste) Participation à l’Exposition internationale de Paris
Für das Jahr 1936 finden sich Angaben im Brief von Ary Leblond an Monsieur le Directeur du Centre national d’expansion et du tourisme, du thermalisme et du climatisme (22.02.1936), Archives du Musée du Quai Branly, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outre-mer, Série V – Communication DA 000901. 230 Vgl. Brief von Ary Leblond an Monsieur le Ministre des Colonies (27.01.1936), Archives du Musée du Quai Branly, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outre-mer, Série III – Administration DA000917/57368. 231 Vgl. Brief von Ary Leblond an Monsieur Maigret (11.01.1936), Archives du Musée du Quai Branly, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outre-mer, Série III – Administration DA000917/57368. 232 Vgl. o. A. M. Albert Lebrun a visité, hier, l’exposition des mobiliers en bois coloniaux, in: Le Matin (10.07.1936). 233 Vgl. Brief von Ary Leblond an Monsieur le Ministre des Colonies (28.10.1936), Archives du Musée du Quai Branly, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outre-mer, Série III – Administration DA000917/57368. 234 Vgl. Le Matin (04.03.1937) und Brief von Ary Leblond an Monsieur Lapart, chef du service de la propagande au ministère des Colonies (01.03.1937), Archives du Musée du Quai Branly, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outre-mer, Série III – Administration DA000917/57368. 235 Vgl. Ministère des Colonies / Musée de la France d’outre-mer (Hrsg), Types et costumes du Maroc. Peintures et Dessins de Besancenot, Paris 1937; Ausstellungskatalog: Musée de la France d’outre-mer (Hrsg.), Exposition nationale de trophées de chasse, Paris 1938. 236 Vgl. Le Figaro (07.05.1937). 229
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1938
(Janvier)
Exposition Paysages, Coutumes, peintures du Sud Oranais, Père de Foucauld
(Avril)
Commémoration du Centenaire Léon Dierx (02 avril Ouverture)237
(19 mai – 19 juin)
Exposition nationale de trophées de chasse238 Exposition d’art khmer
1939
(Juin)
Exposition des peintures de l’Algérie et du Maroc
(Juillet)
Remise du portrait (peinture) de René Gaillot
(06 juillet – 30 septembre)
Exposition des peintures d’André Hambourg (Afrique) et Jordan (Antilles)239
(Octobre)
Exposition de la collection Antonetti
(Décembre)
Exposition Cacao, vanille, épices240
(Mars)
Exposition des peintures de Fontaine (Afrique) et Cadoret (Antilles)241
(Juin)
Exposition Maurice Bouviolle (peintre): ‚Les sept villes de M’Zab‘
(15/20 juin)
Exposition de photographies de nos colonies faites par des artistes
(Juillet)
Remise du buste d’Abbé Grégoire242
1943
Exposition Tricentenaire de la Révolution
1945
Exposition sur la Résistance243
1946
Exposition Madagascar: ‚Madagascar vu par nos peintres et nos sculpteurs‘244
1947
Exposition L’urbanisme de Lomé
1948
Exposition Commémoration de l’Abolition de l’esclavage245
1949
Exposition Trophés de chasse: races et faunes d’AEF Centenaire Nouvelle Caledonie
Vgl. Le Figaro (02.04.1938). Vgl. Le Figaro (09.04.1938) und o. A. M. Albert Sarraut a inauguré hier l’exposition nationale des trophées de chasse, in: Le Matin (20.05.1938). 239 Vgl. Einladung zur Ausstellung (06.06.1938), Archiv MQB, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outre-mer, Série XIII – Section économique DA000591/59771. 240 Vgl. L’Exposition „Vanille – Cacao – Epices“, in: Bulletin mensuel „Pour l’art“ 18e année/No. 11–12 ( Jan.-Fév. 1939) Archiv MQB, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outre-mer, Série XIII – Section économique DA000591/59771. 241 Vgl. Brief des Ministère des Colonies, direction des affaires économiques, Institut national d’agronomie de la France d’outre-mer an das Musée de la France d’outre-mer (05.04.1939), Archives du Musée du Quai Branly, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outre-mer, Série III – Administration DA000965/57310. 242 Vgl. o. A. Un buste de l’abbé Grégoire est offert au musée de la France d’outre-mer. 243 Vgl. Brief an den Ministre des Colonies (31.07.1945), Archives du Musée du Quai Branly, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outre-mer, Série III – Administration DA000917/57369. 244 Vgl. Thornton, Lynn, Les Africanistes. Peintres Voyageurs, Paris 1990. S. 320. 245 Vgl. o. A. Une exposition sur la lutte contre l’esclavage, in: Le Monde (05.05.1948). 237 238
Vom Musée permanent des Colonies zum Musée de la France d’outre-mer
Künstler wie René Pottier, die Eheleute Juliette Delmas und Pierre Heidmann oder André Maire werden namentlich im Ausstellungstitel geführt und oft bestimmten Regionen oder Kolonien, in denen sie tätig waren, zugeordnet. Es handelt sich durchweg um französische oder aber im Fall von Léon Dierx um in der Kolonie geborene, aber von französischen Siedlern abstammende Künstler. Einige von ihnen waren in das Fördernetzwerk des französischen Staates eingebunden, so André Hambourg, der 1933 gleich zwei Preise, den ‚prix Abd-el-Tif ‘ und den ‚prix de l’AOF‘ erhielt. Viele von ihnen wurden durch berufliche oder militärische Karrieren in die Kolonien verschlagen und begannen dort, das Leben und die Menschen vor Ort bildlich festzuhalten. So ähneln sich beispielsweise die Lebensläufe von Octave Morillot und Georges Rohner, die beide durch ihren Militärdienst jeweils nach Tahiti und Guadeloupe auf die Antillen verschlagen wurden, während Paul Mascart, Vater von Roland Mascart, als Zöllner mit seinem Sohn nach Neu-Kaledonien gelangte und sich dort den ‚Kanaks‘ malerisch widmete, was ihm sein Sohn gleichtun würde. Die Mascarts wurden wie andere Künstler der Zeit aufgrund ihrer Werke für Welt- und Kolonialausstellungen ausgesucht. Auch André Maire, der sich besonders auf die Darstellung fremder Architekturen spezialisiert hatte, beteiligte sich beispielsweise auf der Exposition coloniale an der Ausgestaltung des Tempels von Angkor Vat, da er sich im Besonderen in Indochina aufgehalten hatte.246 Ebenso gestaltete Pierre Heidmann das ‚théâtre malgache‘ auf der Exposition coloniale. Er lebte auf Madagaskar und leitete dort die ‚Ateliers d’Arts appliqués malgaches‘, die 1928 von Gouverneur Cayla gegründet worden waren und die helfen sollten, das madagassische Kunsthandwerk neu zu beleben. Die Wechselausstellungen repräsentierten damit die beiden zentralen Ansätze Leblonds im Hinblick auf die Präsentation von Kunst und im weitesten Sinne ästhetischen Werken: einerseits die Veranschaulichung des Potenzials der Kolonien als Inspirationsquelle für die Metropole, wobei damit indirekt auch die Atmosphäre der Kolonien in das Museum transportiert wurde; andererseits die Demonstration des positiven französischen Einflusses auf die Entwicklung der Kunst und Kultur in den Kolonien wie es die Arbeit Heidmanns zeigte. Teilweise gab es aber auch einen ethnologischen Anspruch bei einzelnen Künstlern, so bei Jean Besancenot, der es sich zur Aufgabe machte, die marokkanische Trachtenmode bildlich möglichst genau zu dokumentieren. Er ergänzte seine Zeichnungen und Fotos durch umfassende Kommentare und Anmerkungen. Dies führte zu einer bis heute anerkannten Darstellung der marokkanischen Mode seiner Zeit. Er wurde dabei sowohl von Paul Rivet als auch von Leblond unterstützt.247 Zu seiner Ausstellung wurde ein kleiner Katalog vom MFOM herausgegeben, in dem
Vgl. Bréon, Emmanuel, André Maire, ou l’aventurier de l’arche perdue, in: ders. (u. a.) (Hrsg.), André Maire, peintre voyageur 1898–1984, Paris 2002. S. 6–7. Und: Thierry, Solange, André Maire et l’art khmer, in: Bréon, Emmanuel (u. a.) (Hrsg.), André Maire, peintre voyageur 1898–1984. Paris 2002. S. 162–177. S. 168. 247 Vgl. Ministère des Colonies / Musée de la France d’outre-mer, Types et costumes du Maroc. Peintures et Dessins de Besancenot. 246
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der Autor des Geleittextes die Werke Besancenots als „[…] œuvres peintes constituant des documents décoratifs à l’intérêt ethnographique précis.“248 kennzeichnete. In der Ausstellung selbst waren laut dem Katalog vor allem Darstellungen verschiedener Typen, beispielsweise ‚homme berbère‘, ‚femme juive‘ etc., ausgestellt, die eine jeweils typische Kleidung/Tracht trugen. Der Künstler selbst, der hier auch zu Wort kam, schien sich weniger als Maler als vielmehr als Darsteller, der dem Ethnografen sein exaktes Material liefert, zu sehen. Ähnlich bedeutend wie das Werk Besancenots war für die Ethnologie die Sammlung des Père de Foucauld, der zwar kein Künstler war, aber umfassendes Material über das Leben der Tuareg sammelte – bis heute gilt seine Arbeit als Grundstein der Forschung über diese Volksgruppe. Fallbeispiele: Die ‚Exposition du Tricentenaire du rattachement des Antilles et de la Guyane à la France 1635–1935‘ Ein Beispiel für ein koloniespezifisches Ausstellungsformat bildet die Exposition du Tricentenaire du rattachement des Antilles et de la Guyane à la France 1635–1935.249 Der Untertitel des Ausstellungskatalogs ergänzt: „Trois cents ans d’histoire commune et l’art contemporain et les Antilles“. Hier herrschte der ‚gutmütig-humanistische‘ Ton vor, den das Haus seit Lyautey vertrat: Die Betonung der gemeinsamen Geschichte drückte eine gewisse ‚brüderliche Beziehung‘ zwischen Metropole und Kolonie aus. Gleichzeitig sah aber die Konzeption der Ausstellung selbst, laut dem Katalog, eine übergeordnete ‚Rétrospective historique‘ vor, die durchaus wieder auf die ‚epopée coloniale‘ von der Eroberung der Antillen und Guyanas durch die Franzosen zurückgriff. Dies hatte u. a. auch damit zu tun, dass die Hauptsektion von Maurice Besson, einem Vertreter des Kolonialministeriums, in Zusammenarbeit mit den Musée nationaux gestaltet wurde. Der Einfluss des Ministeriums schlug sich also unmittelbar in der Ausstellung nieder. Insgesamt bildete daher auch in dieser Ausstellung, ähnlich wie im MFOM insgesamt, die historische Meistererzählung der Eroberung und Angliederung der Antillen und französisch Guyanas an die Metropole den Leitfaden. Das Ganze wurde von illustrierenden Objekten und Dokumenten zu einzelnen Ereignissen und wichtigen Persönlichkeiten der Eroberung ergänzt. Allerdings fällt parallel die Betonung der ‚zeitgenössischen Kunst‘ der Antillen im bereits zitierten Untertitel auf: Offenbar ging es auch darum, die spezifische Eigenheit der Kunst und Kultur der Antillen zu präsentieren und ihnen damit eine gewisse Eigenständigkeit zuzugestehen.
Professeur Ruppert, Introduction, in: Ministère des Colonies / Musée de la France d’outre-mer (Hrsg.), Types et costumes du Maroc. Peintures et Dessins de Besancenot, Paris 1937. S. 1. 249 Vgl. Morlet, Jean, L’Art précolombien des Antilles, in: Musée national de la France d’outre-mer (Hrsg.), Exposition du Tricentenaire du rattachement des Antilles et de la Guyane à la France 1635–1935, Paris 1935. S. VII. 248
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Dies zeigte sich durchaus auch in den thematischen Untergruppen, durch die die Ausstellung strukturiert wurde: section caraïbe, de l’urbanisme, de peinture, sculpture, gravure, numismatique, philatélie, section économique und section littéraire (1600 à nos jours). Innerhalb der Sektionen und im Katalog wurden hier die indigenen Kunstobjekte explizit hervorgehoben. Die Ausstellungsobjekte wurden im Katalog aufgeführt und von kleinen Texten begleitend erklärt. Zum einen gab es eine größere Zahl von ethnologischen Objekten aus dem Musée d’ethnographie du Trocadéro, die als Beispiel der indigenen Kunst dienten. Zum anderen wurden die präkolumbianischen Kulturen thematisiert und damit die kulturelle Geschichte der Antillen vor der französischen Besiedelung integriert. Dies erscheint deshalb ungewöhnlich, weil man damit das Alter der Kultur, ihre lange Tradition, hervorhob und damit automatisch die Bedeutung der kolonialen Eroberung relativierte. Dies wurde üblicherweise eher vermieden. Leblond selbst war hauptsächlich an der Sektion zur Bildenden Kunst beteiligt.250 Hier widmete er sich erneut dem Einfluss des ‚Exotismus‘ auf die französische bildende Kunst. Er entschied sich, in dieser Abteilung hauptsächlich Werke von Lethière, T. Chassériau, P. Gauguin, C. Pissarro, P. Merwart, A. Rabardelle zu zeigen.251 Zusätzlich wurden die verschiedenen Objekttypen durch sogenannte ‚Documents caraïbes‘, eine Leihgabe des Gouverneurs Merwart, ergänzt. Insgesamt kann man diese Ausstellung daher als ‚Mischform‘ bezeichnen: Zwar herrschte insgesamt immer noch der Wille vor, die erfolgreiche Eroberung und den positiven Einfluss der Franzosen auf die Kultur darstellen zu wollen, schließlich wurde die Ausstellung vom Kolonialministerium mitbetreut. Gleichzeitig gestand man der thematisierten Kultur der Antillen einen deutlichen kulturellen und künstlerischen ‚Eigenwert‘ zu. Fallbeispiele: ‚Exposition du thé et du café‘ Neben diesem Ausstellungsschwerpunkt scheint die Präsentation bestimmter Produkte aus den Kolonien von Bedeutung gewesen zu sein. Zu der Ausstellung über Tee und Kaffee findet sich ein relativ ausführlicher Bericht einer Besucherin in der Revue des Deux Mondes.252 Sie beschreibt, dass es sich hier um eine Ausstellung mit zwei
Abgesehen von diesem Katalog legte Leblond selbst Zeugnis anlässlich dieser Ausstellung in der Zeitschrift l’Illustration ab. Er verfasste hier mit seinem Bruder einen Artikel zum „Rayonnement des Antilles dans la littérature et l’art“. Vgl. Leblond, Marius-Ary, Rayonnement des Antilles dans la littérature et l’art, in: L’Illustration No. 4385 (02.11.1935). 251 Vgl. P.-E. C., 1635–1935 – Une exposition des Antilles et de la Guyane, in: L’Illustration No. 4385 (02.11.1935). S. 285. 252 Vgl. Madame Gérard d’Houville, Exposition du thé et du café au Musée de la France d’outre-mer, in: La Revue des deux mondes (01.02.1937), S. 668–672. 250
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größeren Sektionen gehandelt habe: eine wirtschaftliche Abteilung und eine künstlerische. Erstere zeigte die Verfahren und Produkte der Kaffee- und Teeherstellung. Dabei wurde auf bestimmte Kolonien ein Schwerpunkt gelegt: Madagaskar, AEF (Kamerun), Martinique für den Kaffee und Annam, Niederländisch-Indien und Japan für den Tee. Die Dokumentation erfolgte über Gemälde und Drucke, Fotografien, Waren- und Pflanzenproben sowie schriftliche Dokumente (Handschriften, Bücher) und Landkarten. Zusätzlich gab es eine ‚bar de dégustation‘, an der man sich gütlich tun konnte – animiert wurde die Ausstellung durch die Nachstellung bestimmter klassischer Szene wie der Tee-Zeremonie am Hof von Hué via lebensgroßer Wachspuppen. Die künstlerische Sektion kann als kunsthandwerkliche Abteilung verstanden werden, die vor allem kunstvoll gefertigte Objekte aus Edelmetall und Porzellan für den Kaffee- und Teeverzehr zeigte, ergänzt von Gemälden, Drucken und Aquarellen. Der anekdotische Stil, in dem die Verfasserin schreibt, ihre Einbindung von persönlichen Erinnerungen und ihre Freude über pittoreske Darstellungen und Szenen in der Ausstellung gipfelten in der Aussage: Son directeur, M. Ary Leblond, mérite que l’on encourage et applaudisse ses efforts et ses succès pour rendre ce musée de plus en plus vivant, attrayant et contribuant à faire mieux connaître aux Français de Paris les gloires et les richesses de nos Frances lointaines.253
Die Ausstellung kann in vielerlei Hinsicht als emblematisch für das MFOM gesehen werden: Hier wurde dem breiten Publikum ein spezifisches ‚koloniales‘ Produkt, Tee und Kaffee, vermittelt. Diese Präsentation hatte sowohl einen informativen Charakter als auch eine propagandistische Zielsetzung: Solche Produkte machten die Kolonien für Frankreich sinnvoll und bereicherten die Metropole wirtschaftlich. In der Präsentation brachten solche Ausstellungen den Vorteil, dass man sie mit praktischen Vorführungen, wie es die Besucherin beschreibt, also der Zubereitung der entsprechenden Getränke, umspielen und damit den Eindruck eines äußerst lebendigen Hauses hinterlassen konnte: Man brachte auf unterhaltsame und animierende Art und Weise den französischen Besuchern ‚ihr‘ Empire und den entsprechenden Nutzen nahe. Leblonds Ziele, die er 1933 formulierte, scheinen damit auch in dieser Ausstellung realisiert worden zu sein. Zumindest spricht das Echo dieser Besucherin für eine Gestaltung im Sinne Leblonds – er scheint die traditionelle Ausstellungskultur des Museums fortgesetzt zu haben und gleichzeitig seinen Wunsch verwirklicht zu haben, den wirtschaftlichen Aspekt der Kolonien mit dem künstlerischen zu verbinden. So konnte eine lebendige, spannende und trotzdem lehrreiche Ausstellung entstehen.
253
Ebd. S. 672.
Vom Musée permanent des Colonies zum Musée de la France d’outre-mer
Das Ende der Ära Leblond – das MFOM und der Zweite Weltkrieg Leblond war damit über lange Zeit prägend für das Museum: Er bekleidete das Amt des Chefkonservators von 1934 bis 1950. So wird er denn auch von Sylvie CornillietWatelet, die selbst später die historische Sektion leitete, als die zentrale Kuratorenfigur eingeschätzt.254 Er gestaltete und begleitete die Hochphase des Museums. Mit dem zweiten Weltkrieg und dem sich langsam aber sicher verändernden Verhältnis zu den Kolonien wurde das MFOM nach der ‚Ära Leblond‘ überflüssig. Zwar hatte es Leblond geschafft, dass das Museum während des Kriegs überwiegend geöffnet bleiben konnte. Fournier geht davon aus, dass das Museum nur im Jahr 1940 für 4 Monate geschlossen war und ansonsten weitestgehend geöffnet blieb.255 Es scheinen sich daher auch trotz des Krieges entsprechend Besucher im Haus eingefunden zu haben.256 Allerdings scheinen die Aktivitäten des Museums trotzdem deutlich eingeschränkt gewesen zu sein: Es findet sich nur eine Wechselausstellung im Jahr 1943 mit dem Thema ‚Exposition Tricentenaire de la Révolution‘. Darüber hinaus wird in einer Notiz an Monsieur Croccicchia, délégué à Paris de Monsieur le Secrétaire d’État aux Colonies, bemerkt, dass die meisten der Künstler, deren Werke man in der Vergangenheit ausgestellt habe, sich nun in der Freien Zone befänden und man sich daher nur vorstellen könne, eine Reihe von Konferenzen über die Kolonien abzuhalten. Vorgeschlagen werden als Themen u. a. die großen Kolonialhelden wie Bugeaud, Faidherbe, Brazza, Galliéni oder auch Lyautey.257 Allerdings scheint es hier nicht zur Realisierung gekommen zu sein. Zudem hatte Leblond direkt zu Beginn des Krieges verschiedene Objekte aus dem Museum auslagern müssen.258 Damit waren viele der ‚Vorzeigestücke‘ des Museums nicht mehr vor Ort und das Haus entsprechend eingeschränkt in seiner dauerhaften Präsentation. Dieser ambivalente Zustand des Hauses wurde begleitet
Vgl. Cornilliet-Watelet, Le Musée des Colonies et le Musée de la France d’outre-mer (1931–1960), S. 90. Die Datierung in dem Zitat ist nicht korrekt, denn bereits ab 1950 übernahm Marcel Lucain die Leitung. 255 Vgl. Fournier, Marius-Ary Leblond, Écrivains et critiques d’art, S. 376 ff. 256 Dossier Compte-rendu des entrées au Musée de la France d’outre-mer, Archives du Musée du Quai Branly, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outre-mer, Série II – Organisation DA000971/57388 und DA000971/57389. 257 Vgl. Note pour Monsieur Croccicchia, délégué à Paris de Monsieur le Secrétaire d’Etat aux Colonies (31.03.1942), Archives du Musée du Quai Branly, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outremer, Série III Administration DA000918/57370. 258 In einem Brief vom 06. September 1939 von Leblond an den Chef du bureau du Cabinet du Ministère des Colonies bittet er um die Unterbringung von 33 Kisten, die kostbare Objekte der Sammlung beinhalten Vgl. Brief von Ary Leblond an den Chef du bureau du Cabinet du Ministère des Colonies (06.09.1939), Archives du Musée du Quai Branly, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outre-mer, Série II – Organisation DA000970/57376. Sie scheinen zumindest zeitweise in Kirchengewölben von St. Nicolas-duChardonnet und St. Sulpice untergebracht worden zu sein, vgl. Mitteilung der Préfecture de la Seine an Ary Leblond (24.05.1944), Archives du Musée du Quai Branly, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outre-mer, Série III – Administration DA000918/57371. 254
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von verschiedenen Versuchen, sowohl vonseiten Vichys als auch vonseiten der deutschen Besatzer, das Haus für sich zu vereinnahmen: So sah die Regierung in Vichy die Gründung eines Centre de documentation coloniale vor, das in einem Brief vom Kolonialministerium bzw. dem Contre-amiral, Secrétaire d’État aux Colonies, an Monsieur l’archiviste paléographe bibliothécaire archiviste du secrétariat d’état aux colonies à Paris vorgestellt wurde.259 Es wurde angedacht, alle Materialien, die zu den Kolonien existierten, in eine zentrale Institution zu überführen: Dabei wurde das Musée de la France d’outre-mer als ein möglicher Knotenpunkt eines solchen Zentrums genannt. Dieses Interesse lässt sich sicherlich aus der generellen Bedeutung heraus erklären, die das Vichy-Regime den Kolonien beimaß: Hier waren die Kolonien immer noch ein wichtiger Baustein der eigenen Nationalidentität. Zudem konnten sie im Angesicht des deutschen Besatzers als Reserve und Rückhalt begriffen werden. Doch auch die deutschen Besatzer hatten nach Angabe der Agence France-Presse durchaus großes Interesse an dem Museum: Dans les premiers temps de l’occupation, les Allemands, eux aussi, s’intéressèrent beaucoup au Musée qu’ils parcouraient longuement et minutieusement. Sans doute était-ce l’indice que leur rêve insensé d’hégémonie ne se limitait pas à l’Europe et que leurs visées impérialistes se sont étendues un temps au continent africain.260
Im Anschluss daran wird berichtet, dass zwar die Deutschen auch selbst Ausstellungen in diesem Museum hätten veranstalten wollen, man dies aber zu verhindern gewusst habe. Wie im Zitat angedeutet, waren die Kolonien im Sinne des ‚deutschen Expansionsdranges‘ durchaus interessant, zumal man im Falle Frankreichs auf ein relativ großes, zu diesem Zeitpunkt noch intaktes Kolonialreich hätte zugreifen können. Daher mag die im MFOM dargestellte Geschichte der erfolgreichen Eroberung der Kolonien, der Ausdehnung des Kolonialreichs und die wirtschaftliche wie kulturelle Rechtfertigung, die für die koloniale Expansion angeboten wurde, die deutschen Besatzer angesprochen haben. Das MFOM wollte sich aber offensichtlich hier nicht von den Deutschen vereinnahmen lassen und wies deren Ausstellungswünsche zurück. Die Pläne Vichys konnten aufgrund der Kürze seiner Machtausübungen, die bereits 1942 mit der Besetzung der freien Zone endeten, nicht umgesetzt werden. Das Museum überlebte so den Krieg, geriet danach aber zunehmend in einen zweifelhaften Zustand. So beteiligte es sich direkt nach dem Krieg an dem Versuch, die eigene nationale Identität über die Glorifizierung des Widerstands wiederherzustellen: Un-
Vgl. Note pour Monsieur l’archiviste paléographe bibliothécaire archiviste du secrétariat d’Etat aux colonies à Paris (16.12.1941), Archives du Musée du Quai Branly, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outre-mer, Série III – Administration DA000918/57370. 260 Agence France-Presse, La Future Extension du Musée de la France d’outre-mer (1.11.1944), Archives du Musée du Quai Branly, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outre-mer, Série V – Communication DA000900/57707. 259
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mittelbar nach dem Krieg wurde im MFOM eine Ausstellung zur Résistance und den ‚Grausamkeiten der Nazis‘ veranstaltet sowie eine Gedenkplakette angebracht anlässlich der offensichtlich zum Ende des Krieges bzw. während der Libération im Museum gelagerten Leichname gefallener Soldaten.261 Institutionell wurde das Museum auch jetzt wieder an das Kolonialministerium gebunden, an die wiederbelebte Agence des Colonies bzw. dann an seinen Nachfolger, das Ministère de la France d’outre-mer. Damit folgte es erneut seinem kolonialen Propagandaauftrag. Das MFOM steht in dieser Phase emblematisch für die Bedeutung der Kolonien für die Metropole. Sie waren ein wichtiger Bestandteil des eigenen nationalen Selbstbewusstseins und ‚Stolzes‘. Das Empire konnte als Beweis der Bedeutung und der Leistung Frankreichs in der Welt gelesen werden. Dies sollte das Museum verdeutlichen und damit die eigene nationale Identität stärken – besonders in Zeiten der Krise, während, aber auch und vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg konnte es so helfen, die Nation als Konstrukt zu stützen. Bereits in den 1930er Jahren hatte es diese Aufgabe übernommen, jetzt konnte es sie erneut wahrnehmen. 1.2b
Die Nachkriegszeit: Marcel Lucain
Mit den 1950er Jahren tritt das MFOM, das an sich in seiner alten Form und Funktion weiter existierte, in eine Phase der zunehmenden In-Fragestellung ein: Nach wie vor an den institutionellen Nachfolger des Kolonialministeriums angebunden, das Ministère de la France d’outre-mer, sollte es die Beziehung zu den Kolonien aufrechterhalten helfen und die Überführung in ein dem britischen Commonwealth ähnliches Konzept, der Union française, propagieren. Frankreich wollte sich schließlich nach dem Krieg nicht einfach von seinen Kolonien lösen. Zwar musste es ab 1946 unmittelbar den ersten großen Kolonialkrieg ausfechten – doch das bestärkte, zumindest vorerst, den Willen, die übrigen Kolonien, vor allem Algerien, bei sich behalten zu wollen. Das MFOM sollte daher weiterhin die Notwendigkeit der Kolonien legitimieren helfen, allerdings unter einem sehr viel humanistisch gedachteren Konzept der ‚brüderlichen Beziehung‘ zwischen Metropole und Kolonien. Lucain, der in dieser Phase das Amt des Konservators innehatte,262 wusste an die ältere Tradition Lyauteys anzuknüpfen
Die Ausstellung wurde von einem Monsieur Rosen, seines Zeichens Mitglied der Fédération nationale des Anciens de la Résistance, organisiert. Er hatte zuvor bereits eine ähnliche Ausstellung unter dem Titel „Atrocités nazies“ in Troyes organisiert, Vgl. Brief an Monsieur le Ministre des Colonies (31.07.1945), Archives du Musée du Quai Branly, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outre-mer, Série III – Administration DA000918/57369 und Brief an Monsieur Walter, Directeur de l’Information et de la Documentation, Ministère des Colonies (25.07.1945), Archives du Musée du Quai Branly, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outre-mer, Série III – Administration DA000918/57369. 262 Am 08. Dezember 1950 wird in einem Bericht über die Aktivitäten des Museums im Monat November, der an das Ministère de la France d’outre-mer gerichtet war, vermerkt, dass nun der neue Konservator 261
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und präsentierte diesen erneut als Apologeten eines ‚humanistischen Kolonialismus‘. Das Haus folgte hier insgesamt der ambivalenten Haltung Frankreichs zu seinen Kolonien und dem Ringen um einen Erhalt des Empire. Dabei musste aber trotzdem ein neues Konzept des nunmehr teilweise schon ‚post-kolonialen Anderen/Fremden‘ entwickelt werden. Hier wurde die ‚humanistische Komponente‘, die Lucain einbrachte, zentral. So erweist sich die enthierarchisierende Umgestaltung und Differenzierung der Sektion ‚Archéologie et Arts Indigènes‘ als emblematisch. In der Folge wird daher ein analytischer ‚Dreischritt‘ leitend sein, der sich aus diesen Vorannahmen ergibt: In einem ersten Schritt wird die Kontinuität zwischen der Phase des MFOM vor dem Krieg und den 1950er Jahren untersucht, die sich vor allem anhand der expliziten Rückbeziehung Lucains auf die Tradition des Museums im Sinne einer ‚Maison Lyautey‘ zeigte. Hierbei kann Lucains Konzept eines ‚neuen kolonialen Anderen/Fremden‘ nachvollzogen werden. In einem zweiten Schritt wird der parallel durchaus ambivalente Status des Hauses, seine zunehmende Absurdität und die damit verbundenen Zweifel und die Kritik an Lucain, die sich in dem chaotischen Zustand des Museums spiegeln, herausgearbeitet. In einem letzten Schritt werden dann im Kontrast dazu die Innovationsversuche Lucains thematisiert: Welche Ansätze sah er als geeignet für eine Neuorientierung des Hauses an? Insgesamt geht es darum, nachzuvollziehen, wie das MFOM in dieser Übergangsphase bis hin zu seiner völligen Neuorientierung in den 1960er Jahren versucht, an seiner alten Funktion festzuhalten und diese durch die Bezugnahme auf die aktuelle ‚Übersee-Politik‘ parallel zu modernisieren. Kontinuitäten: Lucains Konzept der ‚Maison de Lyautey‘ Wie bereits erwähnt, änderte sich in den 1950er Jahren an der grundsätzlichen institutionellen Zuordnung und der damit verbundenen Zielsetzung des Museums nicht viel, was sich u. a. durchaus auch an der Einladung des neuen Chefkonservators Lucain vor allem zu zahlreichen Ausstellungen der ‚Galerie de l’Agence de la France d’outre-mer‘ zeigte.263 Aus einem Brief an den damaligen Leiter der ‚Section Économique‘ des Museums, Alphonse Fritz, geht hervor, dass zwar durchaus in Erwägung gezogen wurde, das Haus neu zu strukturieren – es sollte aber weiterhin als künstlerisches, kulturelles und humanistisches Propagandainstrument für das überseeische Frankreich, also die
Marcel Lucain eingesetzt wurde. Vgl. Monsieur Gery, bureau de presse, rédaction de bulletin, Ministère de la France d’outre-mer, Activité du Musée (novembre 1950). Archives du Musée du Quai Branly, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outre-mer, Série II – Organisation DA000971/57389. 263 Vgl. diverse Einladungen an den Chefkonservator, Archives du Musée du Quai Branly, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outre-mer, Série V – Communication DA000886.
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Kolonien, dienen.264 Dies betraf insbesondere die Propagierung des neuen Konzepts der Union française. Lucains eigene Auffassung vom MFOM bestärkte inhaltlich die Kontinuität zur Orientierung und Zielsetzung des Museums vor dem Krieg. Er formulierte diesbezüglich sein Konzept des Hauses äußerst explizit in zwei Interviews aus dem Jahr 1952.265 In beiden ordnet er das Museum seiner Gründerfigur Lyautey unter: Für ihn ist das MFOM das ‚Haus Lyauteys‘. Diesen interpretiert Lucain als Apologeten eines ‚humanen Kolonialismus‘: „Lyautey voyait grand, il voyait juste, il voyait „humain“ […]“.266 Dementsprechend verband Lucain die Zielsetzung des Museums mit der humanistischen Vision Lyauteys: In diesem Museum sollte der humanistische Geist im Mittelpunkt stehen. So beschrieb er denn auch die Galerie historique, die mehr oder weniger in ihrem alten Zustand präsentiert wurde, als „longue épopée humaine“.267 Die Präsentation der französischen Kolonialgeschichte wird unter den positivistisch gedachten Impetus ‚des Humanismus‘ gestellt – die Kolonialgeschichte Frankreichs spiegelt seine humanistische Mission in der Welt und sein damit verbundenes ‚immenses Werk der Zivilisation‘. Frankreich realisiert so einen Traum vom universell geteilten ‚Menschlichen‘, entdeckt durch den Kontakt zu anderen Kulturen das sich immer wieder manifestierende Genie der Menschheit. Lucain geht sogar so weit, die ‚Maison Lyautey‘ als Anker in Notzeiten zu interpretieren, der helfe, auch in schwierigen, leidvollen Zeiten zu erkennen, dass Frankreich nie den ‚rechten Pfad‘ verlassen habe.268 Dabei ist der lebendige, dynamische Charakter des Museums für Lucain zentral. Es soll im ständigen Austausch mit der Außenwelt stehen und ein breites Publikum anziehen, vor allem aber die Jugend, da es gilt, dieser die neue Idee der Union française zu vermitteln und damit die Zukunft der Überseegebiete zu sichern: „[…] l’avenir de l’Union française repose en grande partie sur la connaissance et la compréhension qu’en auront les générations de demain“.269 Er erwähnt, dass speziell zu diesem Zweck u. a. die École Supérieure d’Application d’Agriculture gegründet und an das Museum angegliedert worden sei. Der propagandistische Wille, zukünftige Generationen für
Vgl. Brief vom Conservateur du Musée de la France d’outre-mer an Monsieur Alphonse Fritz, Chef de la Section Économique (13.03.1951), Archives du Musée du Quai Branly, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outre-mer, Série II- Organisation DA000971/57390. 265 Vgl. Viard, René, Le Musée de la Porte Dorée demeure la Maison Lyautey (1952), Archives du Musée du Quai Branly, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outre-mer, Série V – Communication DA000898/57713 sowie Interview mit M. Lucain, undatiert, für die Revue mensuelle de l’union française „France outre-mer“, Archives du Musée du Quai Branly, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outre-mer, Série V – Communication DA000898/57713. 266 Interview mit M. Lucain DA000898/57713. S. 1. 267 Vgl. ebd. S. 2. 268 Vgl. Savy, Jean, Le monde des tropiques aux portes de Paris, in: Climats No. 410/7année (semaine du 22.–28. Octobre 1953), Titelseite. Archives du Musée du Quai Branly, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outre-mer, Série V – Communication DA000897/57750. 269 Viard, René, Le Musée de la Porte Dorée demeure la Maison Lyautey (1952), DA000898/57713. S. 3. 264
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den Fortbestand der Beziehung zwischen Metropole und Überseegebieten zu begeistern, wird also, wenn auch in neuem verbalem Gewand, fortgeführt und entspricht dem Impetus des MFOM vor dem Krieg. Damit reflektierte das Museum die Einstellung bzw. den Umgang mit den Kolonien nach dem Zweiten Weltkrieg. Zwar hatte die erneute Beteiligung der Kolonien am Krieg ihre bedeutende Rolle sowohl anfangs für das Vichy-Regime, aber dann auch für De Gaulle und den äußeren Widerstand zu Aufständen und erneuten Formulierungen von Unabhängigkeitsbestrebungen geführt. Doch wollte man das Kolonialreich so schnell nicht aufgeben, vor allem nicht in einer Phase, in der das Ansehen Frankreichs sich nach innen und außen extrem verschlechtert hatte und es galt, das eigene Nationalbewusstsein wiederaufzubauen. Der Indochina Krieg, der unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg 1946 begann, offenbarte das Unvermögen der Franzosen, sich von ihren Kolonien loszulösen und der Tatsache ins Gesicht zu sehen, dass es auf Dauer unmöglich sein würde, die nationalen Unabhängigkeitsbewegungen aufzuhalten. Dabei war die Union française, die offensichtlich als Thema auch Eingang in die Sammlung des MFOM fand, ein zentrales Konzept. Sie sollte, nach dem englischen Vorbild des Commonwealth, eine fortdauernde, sich langsam reformierende Bindung der Kolonien an das Mutterland gewährleisten. Selbst De Gaulle hielt mit seiner Idee einer Communauté française, die er in die erste Version der Verfassung der Fünften Republik integrieren ließ und die die Union française ablösen sollte, noch an einer engen Beziehungen zwischen Metropole und (ehemaligen) Kolonien fest. Es wirkte also sinnvoll für das Museum und seine fortdauernde Legitimation nach dem Krieg, auf diese neuen Konzepte einzugehen und sie als ‚Renaissance des Empire‘ zu feiern – würde doch mit dem Verlust der Überseegebiete auch die Daseinsberechtigung für ein nationales Kolonial- bzw. Überseemuseum schwinden. Daher reihte Lucain diese Konzepte in seine Vision des ‚Menschlichen‘ ein. So formuliert er gegenüber der Zeitschrift Climats 1953: Un musée tel que le nôtre, appelé à servir de témoignage – j’insiste sur ce mot – de l’œuvre humaniste de la France et de l’unité spirituelle de l’Union française, se doit d’exalter l’homme sous toutes les latitudes et de faire la preuve de notre compréhension fraternelle de ces races animées par un pareil idéal.270
Daher erscheint es logisch und konsequent, dass die Struktur des Museums auch in dieser Phase weitestgehend aufrechterhalten wurde und man sich stark an der Arbeit des Vorgängers Leblond orientiert. In einer undatierten Beschreibung von Jean Morlet,271 die wahrscheinlich aus dem Jahr 1952 stammt und als Vorlage für den ersten offiziellen Guide des Museums diente, wird ausführlich auf die Struktur des Museums
Savy, Jean, Le monde des tropiques aux portes de Paris, DA000897/57750. Vgl. Morlet, Jean, Guide du Musée de la France d’outre-mer, Archives du Musée du Quai Branly, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outre-mer, Série V – Communication DA000885. 270 271
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eingegangen.272 Morlet stellt das Museum eindeutig in die vorherige Tradition. Er teilt seine Beschreibung in drei Hauptkategorien auf, die die wesentlichen Sammlungsteile des Museums beschreiben: Peinture-Sculpture-Arts de la Compagnie des Indes, Galerie Historique, Archéologie et Arts indigènes. Dabei nahm die erste Sektion die Ehrenhalle, den Festsaal und die seitlichen Galerien des erhöhten Erdgeschosses ein. Inhaltlich schien diese Sektion sich stark an den Vorgänger, die Sektion zum ‚Exotismus‘ bzw. dem Einfluss desselbigen auf die französische Bildende Kunst, anzulehnen. Emblematische Stücke, die schon unter Leblond hervorgehoben wurden, wie die Tapisserie d’Arras, die orientalistische Malerei oder das Porzellan und die Möbelstücke der Compagnie des Indes, wurden auch hier betont.273 Diese einzelnen ‚Paradestücke‘ der Dauerausstellung schienen mittlerweile mit ihrem anekdotischen Charakter zu Symbolen des MFOM geworden zu sein. Bei den ‚Orientalisten‘ beginnt Morlet im 17. Jahrhundert und geht dann chronologisch vor. Er benennt u. a. Géricault, Marilhat, Decamps, Delacroix, Chassériau, Fromentin und Dehodencq. Er verfolgt die Spur des ‚exotischen‘ Einflusses bis zu Gauguin und Bernard, deren Werke er als ‚art-néo-primtif ‘ einstuft. Daran schließt er die Sammlung der offensichtlich als zeitgenössisch begriffenen ‚artistes coloniaux‘ an. Abschließend folgt, wie bei Leblond, der Einfluss des ‚Exotismus‘ auf die Literatur über den Saal ‚Paul et Virginie‘. Die Galerie historique, die im erhöhten Erdgeschoss an die vorherige Sektion anknüpft, umfasst in seiner Darstellung drei Untersektionen: Les Croisades; Le premier Empire colonial français und le Second Empire colonial français. Die chronologische Darstellung der einzelnen Etappen dieser ‚Meistererzählung‘ entspricht der Darstellung zu Zeiten Leblonds. Die dritte Untersektion schließt mit der schwerpunktmäßigen Darstellung der Eroberung und Befriedung einzelner Regionen: Schwarzafrika, Madagaskar, Indochina, Marokko. Besonders der Bereich ‚Archéologie et Arts Indigènes‘ veranschaulicht den Wandel, der durchaus in dem Konzept der neueren, ‚humanistischeren‘ Vision des Hauses durch Lucain möglich war. Die Sektion befand sich im Zwischengeschoss und in Teilen des ersten Obergeschosses. Sie war sowohl chronologisch als auch geografisch sortiert. Es werden folgende Untersektionen benannt: Préhistoire/Antiquités méditerranéens; Art musulman en Syrie et en Afrique du Nord; Art berbère; Maurétanie et Sahara, Afrique Noire, Madagascar, Indes, Indochine, Antilles et Guyanes, Océanie. Diese Sektion zeichnete sich vor allem dadurch aus, dass hier eine deutlich stärkere Berücksichtigung einzelner zeitlicher Phasen, der verschiedenen Einflüsse und Ent-
Der erste offizielle ‚Guide‘ des Museums wird 1953 herausgegeben, 1956 folgt eine weitere Auflage, die aber in weiten Teilen der Version von 1953 entspricht: Le Musée de la France d’outre-mer (Guide du musée), Paris 1956. Archives Musée du Quai Branly, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outre-mer, Série V – Communication DA000885/57832. 273 Diese werden in der Folge auch in den verschiedenen Versionen des Guides von 1953 und 1956 fotografisch dokumentiert und damit betont. 272
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wicklungen innerhalb der einzelnen Kulturen, thematisiert wurde. Zudem wurde den Objekten ein gewisser ästhetischer und künstlerischer Wert zugestanden. So werden beispielsweise in der indochinesischen Sektion verschiedene Stile benannt und den Kategorien Malerei und Skulptur zugeordnet. Es ergibt sich der Eindruck, dass diese Sektion einerseits generell an Bedeutung gewonnen hatte und sich andererseits stärker in Richtung einer gut dokumentierten ethnologisch-anthropologischen Darstellung entwickelt hatte. Es ging hier nun weniger um eine klare Hierarchisierung der Kulturen anhand ihrer Erzeugnisse als vielmehr um eine Darstellung der Charakteristika der verschiedenen zeitlich und geografisch verorteten Entwicklungen, Stile und Einflüsse. Im ersten offiziellen Guide des MFOM von 1953 werden neben diesen Hauptsektionen auch noch ‚la section économique et sociale, l’aquarium exotique, la salle de cinéma, la bibliothèque, la salle des dioramas‘ aufgeführt.274 Bei der neuen Struktur fällt auf, dass der Sektion zu den ‚Arts indigènes‘ relativ viel Platz eingeräumt wurde und die differenzierte Darstellung Morlets übernommen wurde. Ergänzend wird verdeutlicht, dass man sich besonders Mühe gegeben hatte, die einzelnen kulturellen Räume und ihre Entwicklung in dieser Sektion als Einheiten darzustellen und damit Unübersichtlichkeit und Fragmentarisierungen zu vermeiden. Insgesamt lässt sich also feststellen, dass die Sektion zur indigenen Kunst eine Ausweitung und Differenzierung erfahren hat, der wirtschaftlichen Sektion mehr Raum gegeben wurde und sie um den Aspekt des ‚Sozialen‘ sogar noch erweitert wurde. Offensichtlich unverändert sind die historische Galerie und der Abschnitt zum Exotismus geblieben. All dies wurde unter folgende Perspektive gestellt: La répartition des possessions françaises dans les différentes parties du monde a permis d’effectuer un grand nombre de civilisations. Les contacts qui ont pu s’exercer entre elles apparaissent ainsi avec évidence. Le visiteur peut également retrouver, sous une diversité apparente, des similitudes frappantes prouvant que les possibilités de l’esprit humain ne sont pas infinies. Il comprend, de plus, l’intérêt que la France n’a cessé de porter à l’indigène et à ses traditions.275
Der französische Einfluss auf die Kolonien wird harmonisierend als wertneutraler ‚Kontakt‘ dargestellt. Zudem werden die durchaus sehr unterschiedlichen Objekte und Kulturen, die hier repräsentiert werden, unter das Konzept eines ‚gemeinsamen menschlichen Geistes‘ gestellt, der zeigt, dass die Möglichkeiten der menschlichen Natur eben doch begrenzt sind im Sinne einer Wiederkehr bestimmter Ideen und Elemente. Abschließend kommt eine stärker positiv gefärbte Wertung des französischen Kolonialismus in Form des stetigen Interesses der Franzosen an indigenen Völkern und ihren Traditionen zum Ausdruck. Dieser Impetus verstärkt sich noch in der Darstellung Vgl. Le Musée de la France d’outre-mer (Guide), 1953, Archives Musée du Quai Branly, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outre-mer, Série V – Communication DA000885/57832. 275 Ebd. S. 7. 274
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der wirtschaftlichen Sektion. Hier wird vor allem die ‚gigantische Leistung‘ Frankreichs im Bereich der Modernisierung, der Ausstattung, der Infrastruktur, der Bildung etc. in den überseeischen Gebieten hervorgehoben, denn: „Il y a là un témoignage vivant de l’œuvre humain dont la France est l’animatrice. Témoignage d’humanisme, puisque cette œuvre vise l’homme […].“276 Zum Ende der Schilderungen des ‚Guide‘ kehrt nun auch das Motiv der Reise, das im Zuge der Exposition coloniale von 1931 bemüht wurde, wieder in die Sprache des Museums zurück: Es wird von einer ‚schönen Reise durch das überseeische Frankreich‘ gesprochen, die eine Tour durch die ‚humanistische Welt‘ erlaube.277 Dieses Motiv wurde durchaus auch in die zeitgenössische Rezeption des Museums in der Presse aufgenommen. So schreibt Jean Savy in seinem Artikel, dass man allen, die die Union française näher kennenlernen wollten und bereit seien, sich auf eine ‚wunderbare Reise um die Welt‘ zu begeben, den Besuch des MFOM nur empfehlen könne, zumal man darüber die „amour de la Grande France“ bewahre.278 Aus der vorgegebenen festen Route durch das Museum geht hervor, dass im Bereich der historischen Galerie eine Erweiterung um die Union française in Planung war. Trotz der teilweise neuen Ansätze des Museums, in Bezug auf die Darstellung indigener Kulturen beispielsweise, wird hier deutlich, dass man sich in weiten Teilen auf das alte Erbe zurückbesann, das schon zu Zeiten der Exposition coloniale geholfen hatte, die koloniale Vormachtstellung Frankreichs zu rechtfertigen. Der ‚humanistische Kolonialismus‘ eines Lyautey wurde erneut propagiert und in das neue Gewand der ‚brüderlichen Union française‘ gekleidet. Dies änderte aber nichts an der grundsätzlichen Überzeugung von der Richtigkeit des eigenen herrschaftlichen und kulturellen Einflusses in der Welt, den es aufrechtzuerhalten galt. So pflegte Lucain durchaus auch einen nostalgisch-verklärten Blick auf die koloniale Vergangenheit. Dies traf auch auf das Filmprogramm des MFOM zu: Um für ein breites Publikum interessant zu bleiben, hatte Lucain einen Kinosaal einrichten lassen, der mit einem entsprechenden Programm bespielt wurde.279 Bereits 1951 lagen verschiedene Filmprojekte vor.280 Im Laufe der 1950er Jahre wurde zu mehreren Filmvorführungen eingeladen: ‚À tra-
Le Musée de la France d’outre-mer (Guide) 1953, DA000885/57832, S. 8. Vgl. ebd. S. 10. Vgl. Savy, Jean, Le monde des tropiques aux portes de Paris, DA000897/57750. Lucain schien die Umsetzung eines solchen Elements recht wichtig zu sein, wie in einem Brief an Monsieur Fritz, den Leiter der wirtschaftlichen Sektion, deutlich wird: So wird die Einrichtung eines Kinosaales hier zum zentralen Element der Dynamisierung des Museums, vgl. Brief an Monsieur Fritz, chef de la section économique (13.03.1951), Archives Musée du Quai Branly, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outre-mer, Série XII – Service de documentation DA000675/59864. 280 Unter anderem finden sich Vorschläge zur Erstellung eines Films zu „L’Europe en tant que „communauté“ de civilisation“. Vgl. Archives Musée du Branly, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outre-mer, Série XII – Service de documentation DA000583/59838. Oder auch zur Projektion des Programms: „Occident, humaine aventure“ (1951), entworfen von Ph. Brunet, Dépôt à la Société des Auteurs des Films. Vgl. Archives Musée du Quai Branly, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outremer, Série XII – Service de documentation DA000583/59838. 276 277 278 279
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vers le Shara occidental‘ (24. Januar 1951) (M. de Besuchène, Musée de l’Homme, réalisateur)281; ‚Film et projections réalisées par la Mission 1949–50 à l’île d’Amsterdam par le docteur Louis-Paul Aujoulat‘ (13. Februar 1953)282, Filmvorführung ‚Niger, Saigon, Kairouan‘ (27. März 1952)283. Dabei arbeitete Lucain mit dem Service cinématographique der Agence de la France d’outre-mer zusammen, die ihm eine Liste von möglichen Filmzusammenstellungen zusandte, die sie in ihrem Archiv aufbewahrte und nach vorheriger Ankündigungen an das Museum ausleihen konnte. Darunter fanden sich u. a. ‚La Croisière Noire‘; ‚Chasses en A. E. F‘, ‚La France en Indochine‘, ‚Hue – ville impériale‘, ‚Jeunesse congolaise‘ oder auch ‚La grande caravane‘.284 Sowohl die Auswahl der Filme als auch die Tatsache, dass sie zumindest teilweise von der Agence de la France d’outre-mer geliehen wurden, lässt vermuten, dass hier eher ein nostalgischer Blick auf die eigene koloniale Vergangenheit geworfen wurde und die Filme vor allem für die Überseegebiete begeistern und über sie informieren sollten – ganz im Sinne der Propaganda-Mission des MFOM. Die Rechnung Lucains schien durchaus aufzugehen: Für das Jahr 1950 werden von Februar 1950 bis Januar 1951 monatlich zwischen 6 000 und 11 000 verkaufte Eintrittskarten angegeben, hinzu kommen ca. 11 000 freie Eintritte, die vor allem SchülerInnengruppen betrafen. Nimmt man diese hinzu, so hat das MFOM von Februar 1950 bis Januar 1951 ca. 135 000 Eintrittskarten verkauft.285 Weitere Angaben über die Besucherzahlen finden sich u. a. in Zeitungsartikeln. So wird 1952 im Journal des Lettres des Intransigeant eine Zahl von 300 000 Besuchern jährlich angegeben,286 im Figaro 1956 sogar eine Zahl von jährlich 600 000 Besuchern.287 Der Artikel im Figaro, der so großzügig mit der hohen Besucherzahl des Museums warb, betonte noch einen anderen interessanten Aspekt. Hier wurde danach gefragt, ob man nicht bald das Museum vergrößern müsse angesichts der zunehmenden Größe seiner Sammlung. Offensichtlich hatte Lucains Konzept durchaus Erfolg beim Publikum und das Haus erfreute sich weiterhin einer gewissen Aufmerksamkeit. Diese Wirkung steht in Kontrast zu der Beurteilung und Wahrnehmung Lucains als Konservator. Ihm wurde von professioneller
Vgl. Archives Musée du Quai Branly, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outre-mer, Série XII – Service de documentation DA000583/59826. 282 Vgl. ebd. 283 Vgl. ebd. 284 Vgl. Projets de programmes cinématographiques pour le Musée de la France d’outre-mer, Archives du Musée du Quai Branly, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outre-mer, Série III – Administration générale DA000919/57385. 285 Vgl. Activité du Musée 1950, Archives Musée du Quai Branly, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outre-mer, Série II – Organisation DA000971/57389. 286 Vgl. Mauxion, Jacques, L’exposition internationale d’art missionnaire présente les collections personnelles de Pie XII au Musée de la France d’outre-mer, in: Le Journal des Lettres – Paris-presse-l’intransigeant (27.06.1952). 287 Vgl. Rollot, Jean, Le musée de la France d’outre-mer enrichit sans cesse ses collections, in: Le Figaro (8–9.12.1956). 281
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Seite, der DMF, aber auch in der Presse viel Kritik und Skepsis zuteil – dies scheint den zu dem Erfolg der Institution parallelen ambivalenten Status des Hauses und seinen zunehmenden Verfallszustand widerzuspiegeln. Ambivalenzen, Chaos und die ‚Kuratorische Apokalypse‘ – die langsame Auflösung des MFOM To this essentially willed heterogeneity [of the museum], the 1950 appointment of Marcel Lucain, a journalist lacking any museum experience or relevant expertise, as curator added nearly a decade of confusion and neglect.288
Diese äußerst negative Beurteilung der Zeit Lucains als Museumsdirektor im MFOM spiegelt emblematisch seine zeitgenössische Wahrnehmung von professioneller Seite. Ihm wurden, wie das Zitat verdeutlicht, berufliche Inkompetenz und damit einhergehend eine Chaos stiftende Rolle im Museum vorgeworfen. So wurde im Laufe der 1950er Jahre ein Bericht, der vonseiten der DMF über den Zustand des Museums in der Zeit von 1951 bis 1954 angefertigt wurde, herausgegeben, der konstatierte:289 „En 1950, le Musée de la France d’outre-mer était, dans ce domaine (de la restauration des musées), une des réussites les plus parfaites. Or la vie même de cet établissement a été brutalement arrêtée et suspendue depuis la nomination de M. Marcel Lucain au poste de Conservateur“290 – seine Ernennung sei „un véritable défi à la culture française“.291 In der Tat erschien seine Besetzung als Chefkonservator des MFOM äußerst überraschend: In einem Interview mit Lucain Anfang der 1950er Jahre wird erwähnt, dass dieser bis 1940 Journalist bei ‚Le Temps‘ gewesen sei und vorher von 1923 bis 1925 in Marokko unter Lyautey gedient habe.292 Er kam bei seiner Ernennung als Konservator aber nicht mehr unmittelbar aus dem Dunstkreis des Ministère de la France d’outremer und hatte auch keine museale Vergangenheit vorzuweisen. Diese doppelte Fehlstelle war im Vergleich zu den bisher ernannten Kuratoren ungewöhnlich. Der zitierte Bericht der DMF schätzt ihn daher als umfassend inkompetent ein: Dies träfe sowohl Sherman, French Primitivism and the ends of Empire, S. 89. Vgl. Rapport sur l’Etat du Musée de la France d’outre-mer de 1951 à 1953 suivi de la liste des Depots consentis par les Musées nationaux, Archives nationales: Signatur: 20144795/1, Karton U AAO, Mappe U 1 Arts Africains, Dokument U I AAO (1953). 290 Rapport sur l’Etat du Musée de la France d’outre-mer de 1951 à 1953 suivi de la liste des Depots consentis par les Musées nationaux, S. 1 f. 291 Ebd. 292 Vgl. Viard, René, Le Musée de la Porte Dorée demeure la Maison Lyautey (1952), DA000898/57713. In der Folge des Berichts wird seine Ernennung sogar als illegal bezeichnet, da Lucain weder einen universitären Abschluss besitze noch Erfahrung im Bereich des Museums habe. Er habe nicht den notwendigen Qualifikations-Parcours durchlaufen, dem sich üblicherweise Restauratoren der DMF unterziehen müssten. 288 289
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auf seine Kenntnisse im Bereich der Kunstgeschichte als auch der Museologie zu. Er sei unfähig, ein Kunstwerk oder ein ethnografisches Objekt zu beurteilen und einzuordnen.293 Bei einem Besuch vor Ort habe man feststellen können, dass Lucain historische Ereignisse falsch zuordne oder über Werke und Objekte nicht Bescheid wisse und auf die Auskunft des Wachpersonals angewiesen sei.294 Man beschwört hier einen ‚Horrorzustand‘ herauf, der zu einer museologischen und konservatorischen ‚Apokalypse‘ in der Zukunft führen werde, wenn man jetzt nicht eingreife.295 So würden keine Käufe und Erwerbungen getätigt, Verkäufe würden nicht überwacht, die Sammlung zeige keine erkennbare (Neu-)Ordnung seit der Ernennung Lucains. Zwar würden Spenden durchaus angenommen, aber niemand könne sie sachkundig beurteilen und so würden alle Objekte im ‚Block‘ aufgenommen, ohne vorher Kunstwerke von wertlosen folkloristischen Objekten zu trennen. Die Räume wirkten überladen, Objekte verdeckten einander.296 Das Nebeneinander von verschiedensten Objekten und Dokumenten unterschiedlichster Qualität erzeugte hier ein chaotisches und wenig ansprechendes Bild.297 Der Bericht drückt zudem das Bedauern darüber aus, dass das Museum nicht mehr das ‚foyer intellectuel‘ sei, das es vor 1950 angeblich gewesen war.298 Besonders die Bälle und Feierlichkeiten, für die das Museum nun zunehmend gemietet würde, schienen das Museum laut dem Autor in Mitleidenschaft zu ziehen: Die Gemälde und Skulpturen würden beim Tanzen oft beschädigt und litten unter dem Verhalten der ‚ausgelassenen Gäste‘. Teilweise seien die Räume auch einfach zugestellt, mit Dokumenten und Stühlen überladen, was den Besuchern kaum Platz ließe, um sich hier zurechtzufinden. Insgesamt ist als Fazit zu ziehen, dass aus Perspektive der DMF mit Lucain das Chaos, die Willkür und der Verfall in das MFOM Einzug gehalten hatten. Seine Besetzung war tatsächlich auch vor dem Hintergrund der institutionellen Zugehörigkeit des Museums und seinem durchaus politisch motivierten Auftrag überraschend. Die Willkürlichkeit, mit der er das Haus in der Folge führte, schien den unklaren Status des Museums und seine zunehmend absurde Existenz zu spiegeln. Allerdings stand das klare
Vgl. Rapport sur l’Etat du Musée de la France d’outre-mer de 1951 à 1953 suivi de la liste des Depots consentis par les Musées nationaux, Dokument U I AAO (1953). S. 2. 294 Der Bericht wirkt dabei teilweise sehr direkt und konstatiert, dass Lucains Büro einem ‚bric-à-brac‘ von verschiedensten Objekten gleiche, was auch sarkastischerweise zugleich als seine einzige eigene Realisierung im Museum bezeichnet wird. 295 Vgl. Rapport sur l’Etat du Musée de la France d’outre-mer de 1951 à 1953 suivi de la liste des Depots consentis par les Musées nationaux, Dokument U I AAO (1953). S. 6. 296 Vgl. ebd. S. 8 f. 297 Dies gehe soweit, dass das Wachpersonal bei der Reinigung von Vitrinen die Etiketten der Objekte versehentlich vertausche, so würden auch teilweise Gemälde falsch zugeordnet. Geliehene Dokumente verschwänden hier, die Besitzer sähen sie nicht wieder. Vgl. Rapport sur l’Etat du Musée de la France d’outremer de 1951 à 1953 suivi de la liste des Depots consentis par les Musées nationaux, Dokument U I AAO (1953), S. 10. 298 Vgl. ebd. 293
Vom Musée permanent des Colonies zum Musée de la France d’outre-mer
Konzept, das Lucain nach außen verkaufte, seine ‚Maison Lyautey‘, in hartem Kontrast dazu. Denn trotz der offensichtlich chaotischen Präsentation im Museum selbst vertrat Lucain nach außen eine klar prokoloniale, die Union française bewerbende Position, die keinen Zweifel an der Funktion und Zielsetzung des Hauses aufkommen ließ. Jedoch wurde die Tätigkeit Lucains im MFOM durch die explizit negative Bewertung seiner Arbeit auch im Nachhinein wenig, wenn nicht sogar überhaupt nicht gewürdigt, und bis in die 80er Jahre wurde sein Vorgänger Ary Leblond als die emblematische Kuratorenfigur gesehen. Selbst der ‚Guide‘ des MFOM aus dem Jahr 1987 greift die bereits im vorherigen Kapitel von S. Cornilliet-Watelet zitierte Einschätzung, dass Leblond der ‚wahre Kurator‘ des Museums gewesen sei, auf.299 Doch scheint diese äußerst negative Einschätzung der Figur Lucains nicht nur aufgrund seines insgesamt recht klaren Konzepts des Hauses nicht gerecht zu werden, sondern auch aufgrund seiner innovativen Ideen im Bereich der Wechselausstellungen. Wechselausstellungen: Zwischen traditioneller Repräsentation des Empire und Innovation mit ‚Event-Charakter‘ Lucain folgte in weiten Teilen nicht nur in Bezug auf die Sammlungsstruktur dem Vorbild Leblonds – auch die Wahl der Themen für Wechselausstellungen orientierte sich an dem Konzept des Vorgängers. Lucain erwähnte in dem bereits zitierten Interview von 1952, dass ca. viermal pro Jahr Wechselausstellungen stattfinden würden:300 1951
1952
Cinquantenaire du Tchad (Octobre – Novembre)
Journées de l’Exploration française d’aujourd’hui: Exposition ‚Le tour du monde avec les explorateurs‘301
(18 avril – 18 mai)
Centenaire de la naissance de Pierre Savorgnan de Brazza: ‚Brazza et ses compagnons‘302
(Juin)
Exposition du Livre, des écrivains de la Mer et de l’Outre-mer303 Exposition habitat au Cameroun (élèves)
Vgl. Ministère de la Culture et de la communication / RMN (Hrsg.), Musées des Arts africains et océaniens – Guide, Paris 1987. S. 15. 300 Als Ausgangspunkt diente hier das Dokument: Note pour Monsieur Minet (09.11.1954), Archives Musée du Quai Branly, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outre-mer, Série V – Communication DA000897, in dem verschiedene zentrale Ausstellungen dieser Zeit erwähnt werden. 301 Vgl. o. A. Le tour du monde avec les explorateurs, in: Zoo, l’ami des bêtes, Archives Musée du Quai Branly, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outre-mer Série V – Communication DA000898/57709. 302 Couvreur, Jean, „L’exposition „Brazza et ses compagnons“ fait revivre l’aventure du grand conquérant pacifique“, in: Le Monde (19.04.1952), sowie Note pour Monsieur Minet (09.11.1954), DA000897. 303 Wird in dem Artikel von Mauxion erwähnt: vgl. Mauxion, Jacques, L’exposition internationale d’art missionnaire présente les collections personnelles de Pie XII au Musée de la France d’outre-mer. 299
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Von der Exposition coloniale internationale bis zur Schließung des MNAAO
1953
Exposition d’Art missionnaire304 (Mai)
Salon de l’Armée305
(Déc. 1953 – Fév. 1954)
Exposition Nouvelle-Calédonie/Nouméa: Centenaire de la Nouvelle-Calédonie306 Exposition Exploration Moderne des Travaux et Techniques d’outre-mer307
1954
1955
(30 avril – 16 mai)
Exposition François de Hérain: peintures-dessins-sculptures: Algérie-Maroc-Tunisie308
(Juin/Juillet)
Commémoration Lyautey (centenaire)309
(Décembre)
Exposition d’art africain310
(18 déc. 1954 – 9 janv. 1955)
Exposition Georges Coran: Panneaux décoratifs, tissus d’ameublement, écharpes, bijoux, émaux sur argent et sur cuivre, gravures, dessins, gouaches (La Martinique)311
(01 avril – 11 avril)
Exposition Lepesqueux – Magnard (prix de Madagascar)312
(16 avril – 08 mai)
Exposition Paul Jouve ‚Les animaux de la jungle‘313 Exposition Afrique-Inde
(Juin – Octobre)
Cinquantenaire du décès de Jules Verne:314 ‚La Vie, l’œuvre, les Machines extraordinaires du Grand Écrivain et des Conquêtes de la Science moderne’
(04 novembre – 20 nov.)
Exposition Lantoine: Peintures-dessins-illustrations / Madagascar-Somalie-A. O. F-A. E. F-Congo-Algérie-Maroc-Tunisie315
(Décembre)
SIFOM (Société des Ingénieurs pour la France d’outre-mer) – Exposition des réalisations techniques françaises dans le monde316
Vgl. ebd. Vgl. Notiz in: Le Monde (30.05.1953). Vgl. Ménier, Marie-Antoinette, Exposition du Centenaire de la Nouvelle-Calédonie au Musée de la France d’outre-mer, décembre 1953 – février 1954 – Catalogue de la Section historique, in: Journal de la Société des océanistes (tome 9) (1953). S. 339–358. 307 Vgl. Note pour Monsieur Minet (09.11.1954), DA000897. 308 Vgl. Kommentar in Plaisir de France, revue mensuelle, Rubrik ‚Ici et là-bas‘ (juin 1954), S. 71, Archives Musée du Quai Branly, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outre-mer, Série X – Collection DA000621/59563. 309 Vgl. Note pour Monsieur Minet (09.11.1954), DA000897. 310 Vgl. ebd. 311 Vgl. Notiz/Einladung, Archives Musée du Quai Branly, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outre-mer Série X – Collection DA000621/59564. 312 Vgl. Artikel aus der Zeitschrift „Climats“ (Rubrik „Arts“) (avril 1955), sowie Einladung und Kommentar zur Ausstellung, Archives Musée du Quai Branly, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outre-mer Série X – Collection DA000621/59565. 313 Vgl. Einladung und Zeitungsartikel in Quatorze CB (29.04.1955), Archives du Musée du Quai Branly, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outre-mer Série X – Collection DA000621/59566. 314 Vgl. C., J., L’exposition Jules Verne est inaugurée aujourd’hui au Musée de la France d’outre-mer, in: Le Monde (06.06.1955). 315 Vgl. Einladung, Archives du Musée du Quai Branly, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outre-mer, Série X – Collection DA000621/59567. 316 Vgl. Einladung, Archives du Musée du Quai Branly, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outre-mer, Série X – Collection DA000621/59568. 304 305 306
Vom Musée permanent des Colonies zum Musée de la France d’outre-mer
1956
(14 novembre – 28 nov.)
Exposition Zofia – Visages du Cameroun, peintures de Zofia, Ivoires-Ébènes du Centre Artisanal d’Ebolowa317
1957
(06 novembre – 18 nov.)
Exposition Germaine Casse: Exposition de tableaux AntillesOutre-mer318
1958
(14 novembre – 28 nov.)
Exposition André Maire: Vietnam – Cambodge – Laos; peintures – gouaches – sépias319
(01 mai – 12 mai)
Exposition A. O. F – Dahomey, Indes-Indochine
(23 octobre – 10 nov.)
Exposition Jeanne Thil ‚Rivages méditerranéens‘320
Insgesamt lassen sich deutliche Kontinuitäten erkennen:321 Die Tradition der Ausstellungen anlässlich größerer Jubiläen in den überseeischen Gebieten wurde fortgesetzt. So wurde das ‚Cinquantenaire du Tchad‘ und auch das ‚Centenaire de la Nouvelle-Calédonie‘ mit einer Ausstellung gefeiert. Daneben wurden auch die ‚Großmeister der Kolonisation‘ nach wie vor mit Ausstellungen geehrt: ‚Centenaire de la naissance de Pierre Savorgnan de Brazza‘, ‚Commémoration Lyautey (centenaire)‘. Dabei wurde die Tradition fortgesetzt, wie man dem Zeitungsartikel von Jean Couvreur entnehmen kann, dass vor allem die ‚große, friedliche, humanistische Leistung des einzelnen Helden‘ (der Kolonisation) dargestellt wurde. Das Ausstellungsformat, was besonders explizit an ältere Präsentationsformate anknüpfte, war die Ausstellung zur missionarischen Kunst. Sie schien von ihrem Konzept her durchaus den Kolonialausstellungen verwandt – es wird hier davon gesprochen, indigene Dörfer und Hütten sowie einen Kirchennachbau um das Museum herum einzurichten.322 Ein weiteres Themenfeld, das fortgesetzt wird, betrifft die Künstler, die die Inspiration für ihre Werke aus dem Besuch der überseeischen Gebiete gewannen. So werden weiterhin André Maire und Paul Jouve ausgestellt, wie schon zuvor unter Leblond. Darüber hinaus finden sich Künstler wie Georges Coran, der von La Martinique stammte und dort in dem französischen Ausbildungssystem der ‚Arts Appliqués‘ in Fort France seine Berufung als Kunsthandwerker fand. H. Lepesqueux und S. Magnard wiederum gewannen als Nachwuchstalente den ‚prix de Madagascar‘, eine französische Aus-
Vgl. Einladung, Archives du Musée du Quai Branly, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outre-mer, Série X – Collection DA000621/59569. 318 Vgl. Einladung, Archives du Musée du Quai Branly, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outre-mer, Série X – Collection DA000621/59570. 319 Vgl. Einladung, Archives du Musée du Quai Branly, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outre-mer, Série X – Collection DA000621/59572. 320 Vgl. Einladung, Archives du Musée du Quai Branly, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outre-mer, Série X – Collection DA000621/59571. 321 Neben diesen Kontinuitäten machten sich Veränderungen in den Ausstellungsthematiken insofern bemerkbar, als dass die Ausstellungen zu einzelnen wirtschaftlichen Produkten offensichtlich wegfielen und auch die Aufstellung einzelner Büsten oder Porträts zu Ehren der ‚Kolonialhelden‘ nicht mehr stattfanden. 322 Vgl. Mauxion, L’exposition internationale d’art missionnaire présente les collections personnelles de Pie XII au Musée de la France d’outre-mer. 317
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Von der Exposition coloniale internationale bis zur Schließung des MNAAO
zeichnung aus der Kolonialzeit. In einem Kommentar in der Zeitschrift Climats zu ihrer Ausstellung wird deutlich, dass die Ausstellung dieser Werke vermutlich dem Zweck dienen sollte, die Atmosphäre der überseeischen Gebiete in das Museum zu holen.323 Auch hier wird also eine vor allem durch Leblond eingebrachte Tradition fortgesetzt: die Kolonien als exotische Inspirationsquelle, die den Flair und die Atmosphäre der fernen Paradiese in die Metropole bringen konnte. Ein besonderes Kennzeichen der Phase des Museums unter Lucain ist jedoch, trotz aller Gemeinsamkeiten mit dem Konzept seines Vorgängers, die Konzeption von Ausstellungen wie ‚Le tour du monde avec les explorateurs‘ oder der Ausstellung anlässlich des ‚Cinquantenaire du décès de Jules Verne‘. Sie stellen innovative Ansätze dar, die in mehrfacher Hinsicht dem Museum eine alternative Ausrichtung zu geben vermochten, die an das Bild des ‚humanistischen Werks‘ der Franzosen in der Welt anknüpfte und einen generellen ‚Geist des Abenteuers‘ erlebbar machte. In der Rezeption und der nachträglichen Beurteilung dieser Ausstellungsformate wurde dementsprechend immer wieder hervorgehoben, dass diese beiden Ausstellungen einen besonders ereignishaften Charakter gehabt haben sollen. Mit Jules Verne um die Welt im Musée de la France d’outre-mer Insbesondere die Ausstellung zu Jules Verne wurde als spektakulär bewertet und soll besonders viele Besucher angesprochen haben. Die Ausstellung begleitete einen ganzen Zyklus zur Feier des Todestages von Jules Verne, der über das Museum hinaus gefeiert wurde.324 Die Ausstellung im Museum wollte sowohl dem ‚Genie‘ als auch dem ‚Menschen‘ Jules Verne gerecht werden. Im großen, zentralen Salle des fêtes wurden die ‚Machines d’anticipation de Jules Verne‘ ausgestellt – u. a. Modelle der Nautilus, Albatros etc. In zwei seitlichen Galerien wurde zum einen eine Sektion zum ‚Menschen Jules Verne‘ mit Hilfe von persönlichen Souvenirs des Autors eingerichtet, zum anderen wurde eine zweite Sektion zum ‚Genie-Autor‘ Jules Verne mit verschiedensten Ausgaben und Auflagen seiner Werke eingerichtet.325 Die Ausstellung selbst wurde unter Beteiligung der ‚Association nationale des écrivains de la mer et de l’outre-mer‘
Vgl. Kommentar aus der Zeitschrift Climats, Rubrik „Arts“ (avril 1955), Archives du Musée du Quai Branly, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outre-mer, Série X – Collection DA000621/59565 und vgl. Kommentar von Robert Rey zur Ausstellung aus dem dazugehörigen Katalog, Archives du Musée du Quai Branly, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outre-mer, Série X – Collections DA000621/59565. 324 Vgl. Couvreur, Jean, „Une vie toute de labeur ne manqua cependant pas de pittoresque“, in: Le Monde (18.03.1955), und Cycle Jules Verne, Archives du Musée du Quai Branly, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outre-mer, Série XV – Action culturelle DA000582/59855. 325 Vgl. ebd. sowie das Dokument DA000620/59567, Archives du Musée du Quai Branly, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outre-mer, Série X – Collections. 323
Vom Musée permanent des Colonies zum Musée de la France d’outre-mer
konzipiert, die in dem Ausstellungskatalog ihre Zielsetzung folgendermaßen darstellt: „L’Association Nationale des Écrivains de la Mer et de l’Outre-Mer a voulu que le cinquantenaire de la mort de celui qui a donné a tant de générations, le sens de l’aventure, du courage et de la probité connaisse le plus vif éclat.“.326 Es ging darum, die Atmosphäre der Zeit Jules Vernes und seiner Bücher zum Leben zu erwecken und die Besucher mit dem Werk und der Fantasie Jules Vernes zu beeindrucken, worauf auch der Titel des dazugehörigen Werbeplakats zu verweisen schien: ‚La Vie, l’Œuvre, les Machines extraordinaires du Grand Écrivain et des Conquêtes de la Science Moderne‘.327 Aufschlussreich scheint zudem die Fotografie, die von der Ausstellung gemacht wurde: Sie zeigt, dass Puppen mit Unterwasseranzügen und allerlei Meeresdekoration im Museum aufgestellt wurden.328 Damit wird verdeutlicht, dass die Besucher in die Atmosphäre der Bücher eintauchen sollten. Lucain wollte hier die Begeisterung für das ‚Ferne‘, die Neugier auf das Abenteuer, über die allseits bekannten, von den meisten Kindern und Jugendlichen in dieser Zeit gelesenen Bücher Jules Vernes wecken. Der populärkulturelle Charakter der Werke und der Rückgriff auf eine fiktive, ferne, exotische Welt boten für das MFOM einen doppelten Vorteil: Einerseits war das Thema ein Publikumsmagnet, andererseits war es konsensfähig. Es ging nicht mehr um die realen (ehemaligen) Kolonien, die damit mittlerweile verbundenen Kolonialkriege und die Infragestellung des Empire – es ging um eine universelle Lust am Abenteuer, an der Erkundung ‚fremder, exotischer Welten‘. Diese Lesart bekräftigt auch Sherman, wenn er feststellt: […] the main temporary exhibition at the Musée de la France d’Outre-mer in 1955 paid tribute to Jules Verne on the fiftieth anniversary of his death. Organized in just a few months, the Verne exhibition, which Lucain intended to be “very spectacular” (it included a model of the Nautilus loaned by the Walt Disney company, from its film adaption of 20,000 Leagues under the Sea), offered one option for distracting the public a year after the French defeat at Dien Bien Phu and the beginning of the French-Algerian War.329
Die Ausstellung wird hier also als Möglichkeit der Ablenkung von der ersten großen französischen Niederlage in den Überseegebieten und dem beginnenden Algerienkrieg gesehen. Darüber hinaus kann dies eventuell auch als ein möglicher Ansatz gesehen werden, der darauf zielte, dem Museum eine neue, alternative Ausrichtung zu geben, die ihm eine Legitimation über die Überseegebiete hinaus geben konnte. Das Comité d’organisation, Einleitung des Katalogs zur Ausstellung „Cycle Jules Verne 04. Juin-15. Octobre 1955“, Archives du Musée du Quai Branly, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outre-mer, Série X – Collections DA000619/59586. 327 Vgl. Plakat zur Ausstellung, Archives du Musée du Quai Branly, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outre-mer, Série X – Collections DA000616/59593. 328 Vgl. Fotografie, Archives du Musée du Quai Branly, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outre-mer, Série X – Collections DA000616/59590. 329 Sherman, French Primitivism and the ends of Empire, S. 89. 326
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Thema ‚Abenteuer‘ war schließlich nicht an die Kolonien gebunden, auch wenn bereits die ‚Exposition colonial‘ mit einer ‚Weltreise‘ geworben hatte. Das Potenzial dieses Themas offenbarte sich auch in der zweiten zitierten Ausstellung. ‚Le tour du monde avec les explorateurs‘ Bei der Ausstellung zu den ‚Journées de l’Exploration française d’aujourd’hui‘, die den Titel ‚Le tour du monde avec les explorateurs‘ trug, wird vor allem der bereits dargestellte humanistische Aspekt der französischen ‚Eroberung der Welt‘ hervorgehoben. Die Ausstellung zu den französischen Abenteurern griff das ‚Ereignishafte‘ der JulesVerne-Ausstellung auf und versammelte die verschiedenen lebenden Abenteurer im Museum, um sie in direkten Kontakt mit dem Publikum zu bringen.330 Im Katalog zu der Ausstellung zu den ‚Journées de l’Exploration française d’aujourd’hui‘ wird besonders der humanistische Charakter der Expeditionen der französischen Abenteurer wie La Pérouse oder Dupleix hervorgehoben sowie die Tatsache stark gemacht, dass sie an einer Erschließung der Welt und damit an dem Erwerb neuen Wissens teilgehabt hätten. Sie werden als Einzelpersonen dargestellt, die keinerlei ‚Fanatismus‘ unterlegen seien und sich gegenüber anderen Völkern immer freundlich und brüderlich gezeigt hätten. Dabei erscheint der Abenteuergeist als spezifisch ‚französisch‘ und weist eine lange Tradition auf, die es fortzuführen gelte.331 Diese pazifistische und humanistische Umdeutung eines kolonialen Erbes, auf das man doch immer noch stolz war, deutet auch der Titel des Artikels von Jean Couvreur an: „L’exposition ‚Brazza et ses compagnons‘ fait revivre l’aventure du grand conquérant pacifique“.332 Es setzt sich also in der Phase Lucains allmählich immer stärker ein Leitmotiv durch, das das französische Volk als im positiven Sinne ‚neugierig‘ und ‚wissbegierig‘ darstellt und damit seinen Drang, in die Welt hinauszugehen und fremde Orte und Völker zu erkunden, rechtfertigte. Gleichzeitig wird betont, dass diese Erkundungen immer mit einer den ‚Fremden‘ gegenüber wohlgesonnen Einstellung geschah, die die menschliche Brüderlichkeit hervorhob. Es ging um eine ‚positiv-paternalistisch helfende Haltung‘ gegenüber den weniger entwickelten oder ‚andersgearteten‘ Völkern, die die Verbindung zwischen ‚ihnen‘ und der französischen Metropole stärken sollte. Der Aspekt der gewaltsamen Eroberung und des brutalen Eingriffs wurden hier zugunsten einer geglätteten Version der ‚mission civilisatrice‘ verdeckt.
Vgl. o. A. Le tour du monde avec les explorateurs, DA000898/57709. Vgl. Flornoy, Bertrand, Les Explorations Françaises d’aujourd’hui (1950), Archives du Musée du Quai Branly, Fonds Musée des Colonies / Musée de la France d’outre-mer, Série XV, DA000558/59948. 332 Couvreur, Jean, „L’exposition „Brazza et ses compagnons“ fait revivre l’aventure du grand conquérant pacifique“, in: Le Monde (19.04.1952). 330 331
Vom Musée de la France d’outre-mer zum Musée des arts africains et océaniens
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In den 1960er Jahren findet eine fundamentale Wende in der Funktion und Ausrichtung des Museums statt. Es wird nun von seiner institutionellen Anbindung an das Ministère de la France d’outre-mer gelöst und dem neu gegründeten Kulturministerium unter André Malraux zugeordnet. Schon in der Ära Lucains hatte sich offenbart, dass das Museum mit seiner ursprünglichen kolonialen Propaganda-Mission, die es vorerst nach dem Krieg unter dem Deckmantel des Konzepts der Union française beibehalten hatte, zunehmend unter Legitimationsproblemen litt. Frankreich musste sich von seinen Kolonien lösen, und der Algerienkrieg, der 1962 zu Ende ging, gab dem endgültigen Abschied einen bitteren Beigeschmack. Das Kolonialreich befand sich in seiner endgültigen Auflösung. Zwar war in der ursprünglichen Version der Verfassung der neuen Fünften Republik von 1958 noch die Communauté française als Nachfolgeinstitution der Union française enthalten – De Gaulle wollte hier den Gedanken an ein französisches Commonwealth noch nicht aufgeben, aber wenige Jahre später schien dieses Konzept irrelevant geworden zu sein. Dementsprechend gab es endgültig keinen Bedarf mehr für ein Kolonial- oder Überseemuseum. Die Anbindung an das neue Kulturministerium und die Pläne des ersten Kulturministers Malraux bescherten dem MFOM eine völlige Neuausrichtung. Es sollte nun zum Museum für afrikanische und ozeanische Kunst werden: das Musée des arts africains et océaniens (MAAO). Dieser fundamentale Wandel vollzog sich jedoch nicht plötzlich, sondern sehr langsam und wurde in der Folge nie ganz abgeschlossen. Dies lag u. a. daran, dass das Museum mittlerweile über die Jahre hinweg eine sehr heterogene Sammlung angehäuft hatte, die teilweise nicht inventarisiert worden war und zudem unübersichtlich präsentiert wurde. Diese alten Sammlungsteile, darunter vor allem auch die historische Ausstellung zur Geschichte des Empire, die sich beim Publikum weiter großer Beliebtheit erfreute, blieben im Museum und erschwerten den zu vollziehenden Wandel. Damit wurden ab den 1960er Jahren einerseits die Umwandlung der alten Sammlungs- und Museumsteile in ein modernes Kunstmuseum und andererseits der daraus resultierende notwendige Umgang mit der eigenen Vergangenheit und ihrer stetigen Präsenz zu Hauptproblemfeldern des Hauses. Dabei spielten die mangelnde Expertise des Personals bezüglich außereuropäischer Kunst sowie die Unfähigkeit, die eigene koloniale Vergangenheit bewusst einzubeziehen und aufzuarbeiten, eine große Rolle bei der langwierigen und unvollständigen Verwandlung des Museums. Die Idee, die hinter dieser Verwandlung stand, rührte von Malrauxs Konzept der ‚Weltkunst‘ und des ‚Musée imaginaire‘ her. Man wollte hier die außereuropäischen Kulturen und ihre ästhetischen Erzeugnisse in den Kanon der westlichen Kunst aufnehmen und sie gleichsam über das Zugeständnis des ‚Kunst-Status‘ aufwerten. Die so angeregte Emanzipation sollte die Wahrnehmung dieser Kulturen verändern und enthierarchisieren. Jedoch ignorierte man, dass diese Vorstellung einer Aufwertung
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rein westlichen Ideen und Kategorien entsprang – allein der Begriff ‚Kunst‘ sowie das ‚Kunstwerk‘ waren rein westliche Figurationen, die in den Ursprungskulturen der ausgestellten Erzeugnisse teilweise gar nicht existierten. Das MAAO begegnete damit einerseits einer grundsätzlichen Problematik von Museen im Allgemeinen: Museen lösen Objekte aus ihrem originalen Funktionszusammenhang und laden sie mit neuer Bedeutung auf, um sie an einem vom Ursprungskontext isolierten Ort auszustellen. Andererseits verwies dieser Sachverhalt im Fall des MAAO auf eine spezifische Problematik: Die gezeigten Objekte wurden nicht nur aus irgendeinem beliebigen originalen Kontext gelöst, sondern aus einem kulturellen Kontext, der völlig verschieden war von dem der europäischen/westlichen ‚Empfänger-Kultur‘, die das Objekt wiederum in ‚ihrer‘ spezifischen kulturellen Institution, dem Museum, ausstellen wollte. Zudem wurde das jeweilige Objekt mit diesem Vorgang in der Regel Teil einer kulturellen, ethnischen Hierarchie, auf der auch der Kolonialismus fußte. Das so erworbene und präsentierte Objekt half somit, eine imperiale Weltsicht fortzuschreiben: die ästhetisierte Zurschaustellung außereuropäischer Kulturerzeugnisse in westlichen Kunstmuseen. Damit bediente man, um mit Price zu sprechen, das Konzept des „Die Welt gehört uns (dem Westen)“333 – ‚der Westen‘ behält damit grundsätzlich die Besitz-, Deutungs- und Anerkennungshoheit über die ausgestellten Objekte fremder Kulturen. Dabei war aber für die Befürworter dieses Konzepts viel wichtiger, dass es über die Ästhetisierung möglich wurde, den ursprünglichen, mittlerweile ambivalenten Kontext der kolonialen Vergangenheit mit dem all diese Objekte verbunden waren, auszublenden. Dies stellte allerdings auch einen der wesentlichen Konflikte für das neue MAAO dar: Man tat sich einerseits schwer, die eigene koloniale Vergangenheit anzuerkennen und aufzuarbeiten, und andererseits wollte man die Objekte nicht als reine Kunstwerke präsentieren, sondern gab sich Mühe, sie für den Besucher zu kontextualisieren und so auch als ethnologische Objekte zu präsentieren. Damit vollzog das MAAO hier zunehmend einen Spagat zwischen Kunst und Ethnologie. Es wurde so u. a. zum Vorläufer des heutigen Musée du Quai Branly (MQB), dessen Schaffung schließlich zur Schließung des MAAO führen sollte. Das MQB würde in der Zukunft das Modell des MAAO fortführen, allerdings mit einer noch deutlicheren Tendenz zur Ästhetisierung der Objekte. Im folgenden letzten Abschnitt zur Umwandlung des MFOM in das MAAO wird herausgearbeitet, mit welchen Mitteln das Haus versuchte, sich in ein genuines Kunstmuseum für außereuropäische Kulturen zu verwandeln. Dabei ist die These leitend, dass diese Umwandlung letztendlich eine ‚Pseudo-Emanzipation‘ repräsentierte, die helfen sollte, den ‚kolonialen Schatten‘ zu verdecken – über die Ästhetisierung sollte eine historische Neutralisierung der Objekte und des Ortes vollzogen werden. Dieses Konzept war an sich zur damaligen Zeit nicht neu und wird bis in die Gegenwart ange-
333
Vgl. Price, Primitive Kunst in zivilisierter Gesellschaft, S. 121.
Vom Musée de la France d’outre-mer zum Musée des arts africains et océaniens
wendet. Das Spezifische am Fallbeispiel des MAAO ist, dass es nur teilweise und unter großen Schwierigkeiten gelang, diesen Prozess umzusetzen und abzuschließen. Die Präsenz der kolonialen Vergangenheit, die überdeutlich über das Gebäude und die verschiedenen Sammlungsteile sichtbar war, und die Unfähigkeit vonseiten der Konservatoren diese einzubeziehen und aufzuarbeiten, verhinderten den erfolgreichen Abschluss des Vorhabens. Damit tritt zum ersten Mal der Ort als problematischer Teil des kolonialen Erbguts in Erscheinung. Das Ringen mit der eigenen Vergangenheit ist daher bei der Darstellung des benannten Wandlungsprozesses ein wesentliches Element. Das konkrete Vorgehen in diesem Abschnitt orientiert sich vor allem an verschiedenen Einzelpositionen von Akteuren, die das Haus in diesem Wandlungsprozess maßgeblich geprägt haben. Malraux liefert dazu den grundsätzlichen theoretisch-intellektuellen Boden, auf dem das Konzept der ‚Neutralisierung durch Ästhetisierung‘ wachsen konnte. Ihm wird daher der erste Abschnitt gewidmet, um hier danach zu fragen, welche Vorstellung vom Anderen/Fremden einerseits und von der Kunst andererseits hinter seinen Vorstellungen steckten und inwiefern sie das MAAO prägten. Anschließend wird anhand von drei Akteuren des Museums, die zentral die Umgestaltung in der Praxis steuerten, analysiert, wie mit der neuen Ausrichtung an der afrikanischen und ozeanischen Kunst umgegangen wurde. Alle drei Akteure stehen für einen spezifischen Zugang zu den zu präsentierenden Objekten und den dazugehörigen Kulturen. So wählte Olagnier-Riottot für die Sektion zum Maghreb einen gemischten Ansatz, der eine ethnologische Kontextualisierung grundsätzlich zuließ, aber eine ästhetisierende Präsentation befürwortete. Meauzé, der sich der Sektion Afrika widmete, tendierte eindeutig zur Präsentation einzelner ‚star-objects‘, die als vollwertige Kunstwerke für sich stehen konnten und keiner Kontextualisierung bedurften, während Guiart, verantwortlich für die Sektion Ozeanien, für eine differenzierte Darstellung des Entstehungskontextes der Objekte plädierte und sich gegen eine reine Wahrnehmung als Kunstobjekte mit einem bestimmten Marktwert richtete. Die Entwicklungen und Hemmnisse, die sich aus der Tätigkeit dieser drei Akteure ergaben, gipfelten in der Tätigkeit Henri Marchals im MAAO – er steht emblematisch für die Zerrissenheit und ambivalente Identität des Hauses. Dieser Abschnitt führt dann in die Analyse der Endphase des MAAO über, die mit der Überführung der Sammlungsteile in das neue MQB endet. Dabei offenbart sich auch innerhalb dieser Entwicklungen eine neue Konzeption des nunmehr ‚postkolonialen Anderen/Fremden‘ auf mehreren Ebenen. Zum einen wollte man das Andere/Fremde nun differenzierter darstellen und die Differenz durch Vermittlung und Information überwinden helfen. Fremde Kulturen und ihre ‚Eigenarten‘ und ‚ästhetischen Reichtümer‘ sollten den Franzosen vermittelt werden. Dabei führte zum anderen der Wunsch nach einer ästhetischen Aufwertung teilweise auch zu einer Anerkennung der Kreativität und Schaffenskraft der jeweiligen Kulturen. Das malrauxsche Konzept der ‚Weltkunst‘ war an dieser Stelle zentral. In diesem Rahmen sollten insbesondere zeitgenössische, außereuropäische ‚Künstler‘ aus der Anonymität gehoben werden: Sie wurden nun mit ihrem Namen benannt und
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ihre Werke als die ihrigen gekennzeichnet und ausgestellt. Zudem wurden sie westlichen Künstlern an die Seite gestellt und als gleichwertig betrachtet. Man bemühte sich daher auch zunehmend, mit den Kulturen selbst zusammenzuarbeiten und hier einen Dialog zu etablieren. Diese neue anerkennende und aufwertende Betrachtung des ‚postkolonialen Anderen/Fremden‘ hatte aber auch eine Kehrseite, wie die Arbeit von Jean-Hubert Martin emblematisch veranschaulicht: Die ‚Überstülpung‘ des westlichen Konzepts der Kunst kann als Herrschaftspraxis interpretiert werden, mit der sich Frankreich die Welt zu eigen machte. Die Loslösung von kolonial geprägten Wahrnehmungs- und Deutungsmustern stellte sich also als schwierig dar. Der dauerhafte Kampf mit den kolonialen ‚Altlasten‘ ging u. a. auf die schwierige Ausgangslage für das MAAO in den 1960er Jahren zurück. Prekärer Zustand des MFOM verbunden mit dem Verlust der institutionellen Anbindung und Funktion In einem Bericht von Jean Morlet, dem Leiter der historischen Sektion des Museums, kann man nachvollziehen, dass die Hauptschwierigkeit gegen Ende der 1950er Jahre auf institutioneller Ebene angesiedelt war. Das Ministère de la France d’outre-mer wurde vor dem Hintergrund des veränderten Verhältnisses zu den ehemaligen Kolonien sowie im Zuge der institutionellen Umgestaltung bei der Schaffung der Fünften Republik aufgelöst.334 Das MFOM hatte seine Anbindung verloren und musste nun neu verortet werden. Morlet erwähnt die Verhandlungen mit dem neuen Kulturministerium, das mit der Fünften Republik gemeinsam entstand. De Gaulle hatte hier ein neues Ministerium geschaffen, das es so, bis auf wenige Experimente in der Dritten Republik, noch nicht gegeben hatte.335 In einer Note an die Konservatoren der Musées Nationaux vom 31.12.1959 wird bestätigt, dass mit demselben Tag das MFOM offiziell an das Kulturministerium angegliedert wurde und damit nun der Direction des Musées de France unterstand.336 Das Museum sollte damit gleichzeitig inhaltlich der Präsentation von Kunstwerken ‚primitiver Kulturen‘ gewidmet werVgl. Morlet, Jean, Projet de rattachement éventuel du Musée de la France d’outre-mer à la Direction des musées de France, Archives Musée du Quai Branly, Fonds Musée national des Arts d’Afrique et d’Océanie, Série K – Politique scientifique DA001484/61510. 335 Vgl. u. a. Dubois, Vincent, Le ministère des arts (1881–1882) ou l’institutionnalisation manquée d’une politique artistique républicaine, in: Sociétés et Représentations (2001/1) No. 11. S. 229–261 und Mersmann, Die Musées du Trocadéro, S. 54 ff. Zuvor war der Bereich der Kultur meist in Form von (Unter-) Staatssekretariaten an andere Ministerien angebunden worden, die sich im weitesten Sinn mit Erziehung, Bildung, der Jugend oder dem Sport befassten. Erste Grundlagen für eine gezielte, staatlich geplante Kulturpolitik finden sich bei der Volksfront-Regierung. Aber erst mit der Fünften Republik erhielt die ‚Kultur‘ tatsächlich ein eigenes autonomes Ministerium. Vgl. Goetschel, Pascale / Loyer, Emmanuelle, Histoire culturelle de la France. De la Belle Époque à nos jours, Paris 2002. S. 191 ff. 336 Vgl. Le Directeur des Musées de France, Note de service (31.12.1959), Archives Musée du Quai Branly, 334
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den.337 Dass diese neuerliche Ausrichtung an der Kunst außereuropäischer Kulturen für das Museum nicht unproblematisch war, wird sich in der Folge noch zeigen.338 Trotz der Namensänderung in „Musée des arts africains et océaniens“339 ab 1961 fand die inhaltliche Umorientierung nicht unmittelbar statt.340 Vor diesem Hintergrund ist auch ein Briefwechsel zwischen Florisoone und dem Direktor der DMF zu betrachten: In diesem äußert Florisoone die Bitte, dass man die alten Inschriften „Musée des Colonies“ und „Musée de la France d’outre-mer“ entfernen möge, vor allem mit Blick auf die baldige Präsenz von afrikanischen Besuchern anlässlich des ‚mois de la Communauté‘.341 E. Loubet, Direktor der DMF, antwortet mit folgenden Worten: Tel qu’il est encore, l’ex-musée de la France d’Outre-Mer correspond bien à une époque qui, si elle est révolue du point de vue institutionnel, ne doit faire de notre part l’objet d’aucun complexe. Aussi bien, les africains eux-mêmes sont assez conscients de la réalité des choses pour ne pas se choquer d’une survivance provisoire qui n’est pas destinée à durer.342
Loubet bestätigt hier den überholten Charakter des Hauses, macht aber auch deutlich, dass man sich der Vergangenheit des Hauses nicht schämen müsse. Diese Aussage
Fonds Musée national des Arts d’Afrique et d’Océanie, Série A – Circulaire des textes réglementaires DMF et Ministère DA001593/61049. In der Folge wird hier DMF als Abkürzung verwendet. 337 Selbstverständlich kann man den Typus des MFOM und seiner Vorgänger nicht als rein ethnologisches Museum beschreiben wie im Falle des Musée de l’homme, jedoch verstand es sich bis 1960 eindeutig nicht als Kunstmuseum für ‚primitive Kunst‘. Bei der Unterscheidung dieser beiden Museumstypen beziehe ich mich auf die Darstellung von Sally Price: Price, Primitive Kunst in zivilisierter Gesellschaft, S. 129 ff. 338 Zur Problematik des Kunstbegriffs in diesem Zusammenhang möchte ich zwei Positionen zur Wahrnehmung und Deutung primitiver Kunst heranziehen. Zum einen die Haltung Susan Vogels, die mehrfach thematisiert, dass die Verwendung des Kunstbegriffs in Bezug auf diese Objektkategorie schon deshalb schwierig ist, weil es sich immer um eine eurozentrische Setzung handelt. Im Falle des MFOM bedeutet dies beispielsweise, dass die, vorher meist als ethnologische Objekte behandelten, ausgestellten Produkte fremder Kulturen meist ursprünglich nicht als ‚Kunstwerke‘ im europäischen, westlichen Sinne entstanden sind, sondern als funktionale Objekte anzusehen sind, die oft nur in einem bestimmten Handlungs- oder Sinnzusammenhang zu verstehen sind. Die äußerst westliche Konzeption von ‚Kunst‘, die ihnen nun hier recht willkürlich zugeschrieben wurde, ist also wenig passend und durchaus für die Rezeption auch problematisch. Vgl. u. a. Vogel, Susan, Foreword, in: The Center of African Art, ART/artifact, New York 1988. S. 10 und Vogel, Susan, Introduction, in: The Center of African Art, ART/artifact, New York 1988. S. 11–17. Zum anderen macht Sally Price klar, dass sowohl die Zuschreibung des Kunststatus als auch seine Aberkennung bzw. vielmehr das Urteil, dass solche ‚primitiven Kulturen‘ ihre Produkte nicht als Kunstwerke ansähen oder keinen ‚Kunstbegriff ‘ kennen würden, gleichermaßen der westlichen Dominanzlogik entspringen. Vgl. Price, Primitive Kunst in zivilisierter Gesellschaft, S. 105 ff. 339 In der Folge mit MAAO abgekürzt. 340 Vgl. Marchal, Henri, La vocation du musée, in: RMN (Hrsg.), Musée national des arts africains et océaniens. Guide, Paris 1987. S. 9–11. S. 11. 341 Vgl. Briefwechsel vom 11.03.1960/16.04.1960 zwischen M. Florisoone und G. Loubet, Archives Musée du Quai Branly, Fonds Musée national des Arts d’Afrique et d’Océanie, Série B – Administration générale DA000519/60694 und DA000519/60689. Der ‚Mois de la Communauté‘ fand zwischen Juni und Juli 1960 statt und wurde von der Union pour la Communauté organisiert. 342 Georges Loubet, Brief an M. Florisoone (16.04.1960), Archives Musée du Quai Branly, Fonds Musée national des Arts d’Afrique et d’Océanie, Série B – Administration générale DA000519/60689.
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scheint dem damaligen Zustand des Museums zu entsprechen, das sich in einer Übergangsphase befand: Man konnte sich noch nicht von der Vergangenheit lösen, war ihr in weiten Teilen verhaftet, und so konnte das Museum auch nicht von heute auf morgen in ein genuines Kunstmuseum für außereuropäische Kunst verwandelt werden. Eine Beschreibung des Museums, die sich augenscheinlich auf den Beginn der 60er Jahre bezog, zeigt, dass das Museum vorerst in seiner alten Sammlungsstruktur bestehen blieb.343 Dies lag u. a. auch an dem Zustand des Museums Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre.344 Der bereits zitierte Morlet, Leiter der historischen Sektion, verfasste 1960 einen Bericht, der die notwendigen Maßnahmen zusammenfasste, die nötig seien, um das Museum wieder in einen ‚respektablen Zustand‘ zu versetzen.345 Die Veränderungen seit 1950, also unter Lucain, klassifizierte Morlet explizit als negativ. Er beklagte vor allem, dass die Ausstellungsflächen ineffizient genützt würden, dass viele Gemälde unsystematisch verteilt seien, dass einige Ausstellungsstücke wie beispielsweise bestimmte Teppiche mittlerweile durch ihre Positionierung zur reinen Dekoration degradiert worden seien, dass kaum ein Unterschied zwischen wertvollen und weniger wertvollen Objekten gemacht würde, die nun in der Präsentation willkürlich nebeneinander stünden. Diese Einschätzung entsprach derjenigen eines Besuchers, der sich nach seinem Besuch des MAAO schockiert zeigte und es als ‚Musée sans vie‘ beschrieb: „Ce musée, déjà en sommeil depuis des longues années, s’est enfoncé un peu plus dans le silence. On se trouve maintenant dans un musée sans vie dans des salles tristes, devant des objets inexpressibles.“346 Trotz des neuen ‚Etiketts‘
Vgl. Musée national des Arts Africains et Océaniens (undatiert), Archives Musée du Quai Branly, Fonds Musée national des Arts d’Afrique et d’Océanie, Série H – Communication DA001581/61227. 344 Das Gebäude litt unter der jahrelangen baulichen und restaurativen Vernachlässigung. So werden in den 1960er Jahren immer wieder Probleme mit dem in das Gebäude eintretenden Wasser nach Regenschauern bemerkt sowie die langsam zerfallenden Fresken und etliche andere bauliche Mängel. In einem Brief des ‚Chef du service de surveillance et d’entretien‘ an Monsieur le Directeur des musées de France von 1961 wird nach einer umfassenden Untersuchung des technischen Zustands des Gebäudes konstatiert: „Au point de vue sécurité, le Musée des Arts Africains et Océaniens est dans un état désastreux.“ Vgl. „Rapport de monsieur Peretti sur la secudite (sic) au musée des A. A. O., à la suite d’un incident technique“, Archives nationales, Signatur 20144795/1, Karton U-AAO, U2 S Arts Africains (1961, 7 novembre), S. 2. Außerdem wird in den jährlichen Rapports d’activités der 1960er Jahre fast durchgängig der schlechte Zustand des Gebäudes bemängelt, vgl. Rapports d’activités von 1962: „Le bâtiment est dans un état très défectueux.“, Archives Musée du Quai Branly, Fonds Musée national des Arts d’Afrique et d’Océanie, Série B – Administration générale DA000519/60732. Sherman erwähnt in seinem Werk einen Bericht von 1954, der bereits die Defizite des Museums aufzeigte, der jedoch, da er an die Direction des Musées de France adressiert war, nichts bewirkte. Vgl. Sherman, French Primitivism and the ends of Empire, S. 90. 345 Vgl. Morlet, Jean, Rapport sur la remise en état du Musée de la France d’outre-mer (06.01.1960), Archives Musée du Quai Branly, Fonds Musée national des Arts d’Afrique et d’Océanie, Série K – Politique scientifique DA001484/61504. 346 M Chautard, Considérations générales sur le M. A. A. O, Archives Musée du Quai Branly, Fonds Musée national des Arts d’Afrique et d’Océanie, Série B – Administration générale DA001559/61619. Leider ist der Brief undatiert, allerdings lässt der Museumsname in der Überschrift (MAAO) auf die Zeit ab 1960 schließen. Die äußerst negative Beschreibung des Zustands und die Erwähnung eines geplanten museums343
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blieben also die alten Sammlungsteile im Museum, teilweise in einer ‚chaotischen‘ und ‚wenig ansprechenden‘ Präsentation, die zudem durch den schlechten baulichen Zustand des Hauses beeinträchtigt wurde.347 In logischer Konsequenz bot Morlet daher, kurz nach dem ersten Bericht im Januar 1960, im März ein Konzept für eine Übergangsstruktur an.348 Bei diesem Konzeptvorschlag zur Überarbeitung hielt Morlet aber an vielen traditionellen Elementen des MFOM fest. Allerdings wollte er in diesem Zusammenhang von der militärischen Konnotation der Sammlung und ihrer Präsentation weg. So schlug er die Entfernung der Puppen mit Uniformen und Flaggen in der historischen Sektion vor. Besonders im Bereich der Geschichte des zweiten Empire wollte er tiefgreifende Änderungen vornehmen: Hier sollte die Perspektive der indigenen Völker eingenommen werden, deren Einfluss auf die französische Kultur zuvor vorgestellt wurde.349 Morlet wollte die Geschichte der indigenen Völker aufwerten. So sollte die Phase der Kolonialisierung in der Darstellung nunmehr nur eine zeitliche Phase, einen Abschnitt unter vielen in der Geschichte der indigenen Kulturen, darstellen: Die kolonialisierten Völker sollten als Völker mit einer viel längeren und umfassenderen Geschichte dargestellt werden, die sich eben nicht mehr auf die Kolonialisierung reduzieren ließe.350 Zudem wollte er den Fokus stärker auf Kunst- und Kulturerzeugnisse der ‚exotischen Völker‘ legen und betonte die Präsentation der ‚Art Noir‘. Jedoch auch wenn er damit eine klare Verschiebung der Perspektive von der rein französischen, kolonialen Sichtweise auf die Perspektive der indigenen Völker selbst sowie eine Relativierung der Bedeutung des kolonialen Einflusses auf diese Kulturen vorsah, wollte er doch die Grundausrichtung des Hauses beibehalten. Ähnlich wie es bereits in dem Statement Loubets, des Leiters der DMF, angeklungen ist, wollte man sich von diesem historischen Kapitel nicht völlig lösen, auch weil man es grundsätzlich nicht als ‚schändlich‘ empfand, sondern im Gegenteil doch immer noch die ‚humane und zivilisatorische Leistung‘ Frankreichs hochhalten wollte. Das Empire wurde immer noch, trotz aller Kolonialkriege, als wichtiger Teil der nationalen Meistererzählung begriffen, der das eigene Selbstbewusstsein in der Welt stützte. Daher erscheint
politischen Wandels lassen eher auf den Beginn der 1960er Jahre schließen, da im Laufe der 60er Jahre umfassende Umbaumaßnahmen begonnen wurden. 347 In einem Brief des Directeur général de l’Architecture an Monsieur le Directeur général des Arts et Lettres (29.06.1960) wird festgehalten, dass sich das Gebäude des MAAO, das nun den nationalen Museen zugeordnet wird, in einem bedenklichen Zustand befinde, allerdings sei dies nicht verwunderlich, da Gebäude, die ursprünglich für ephemere Ausstellungen gebaut wurden, so schnell hochgezogen würden, dass sie in der Folge etwaige Mängel aufwiesen. Vgl. Brief des Directeur général de l’Architecture an Monsieur le Directeur général des Arts et Lettres (29.06.1960) Archives nationales, Signatur 20144795/1, Karton UAAO, Mappe U 23 AAO 19…, Dokument U AAO 1960–61 „Travaux aménagements des services administratifs“. 348 Vgl. Morlet, Jean, „Le futur musée national des Arts d’Afrique et d’Océanie“, Archives nationales, Signatur 20144795/1, Karton U-AAO, Mappe U 1 AAO, Dokument U 1 AAO (1960, 30 mars). 349 Vgl. ebd. S. 11. 350 Vgl. ebd. S. 12.
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es nicht verwunderlich, dass die historische Sektion noch bis in die 1970er Jahre im Museum verblieb und sich der angedachte Wandel nur sehr langsam umsetzen ließ. 1.3a
Theorie und Praxis der neuen Funktion als Musée des arts africains et océaniens
André Malrauxs Einfluss auf das MAAO: Weltkunst und ‚Musée imaginaire‘ André Malraux war der erste Kulturminister der Fünften Republik und ein Kenner und Liebhaber außereuropäischer Kunst.351 Diese Leidenschaft spiegelte sich in der Folge auch in der Festlegung der Zielsetzung des neuen Kulturministeriums: „Le ministère chargé des affaires culturelles a pour mission de rendre accessibles les œuvres capitales de l’humanité, et d’abord de la France, au plus grand nombre possible de Français […]“352 Mit dem neu gegründeten MAAO und seiner Zugehörigkeit zum Kulturministerium bestand die Möglichkeit, einen Beitrag zu diesem Projekt der Herstellung eines Zugangs zu zentralen (Kunst-)Werken der Menschheit zu leisten.353 Vor diesem Hintergrund ist es wenig erstaunlich, dass Malraux nach seinem Besuch des MAAO am 30. Juli 1963 einen größeren Sonderkredit für Neuanschaffungen bewilligte, um so das Haus umstrukturieren zu können.354 Frapier konstatiert, dass Malraux aus der Neu-Gründung dieses Museums seine ‚ganz persönliche Sache‘ gemacht habe.355 Malraux erscheint darüber hinaus in der Literatur und durchaus auch in einigen Quellen als der maßgebliche Akteur für die weitere Entwicklung des Museums,356 wohingegen der neue Chefkonservator – Michel Florisoone – eine eher marginale Rolle spiel-
Malraux war selbst begeisterter Sammler außereuropäischer Kunst und unternahm beispielsweise mit seiner Frau Clara Malraux verschiedene Reisen, von denen er Objekte mitbrachte. Wie W. Grasskamp zeigt, schien Malraux diesen Objekten teilweise einen großen persönlichen Wert zuzusprechen, da er sich immer wieder mit ihnen ablichten ließ, so auch für die Zeitschrift Paris Match. Allerdings sorgten diese Objekte auch teilweise für kleinere Skandale um die Person Malrauxs, da ihre Herkunft und der Erwerbszusammenhang nicht eindeutig geklärt waren. Es wurde hier teilweise unterstellt, dass Malraux sie illegal entfernt habe. Für diesen Verdacht würde sprechen, dass er schon in den 20er Jahren versucht hatte, herausgesägte Reliefs nach Frankreich zu bringen, dabei aber verhaftet und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde. Vgl. Grasskamp, Walter, André Malraux und das imaginäre Museum. Die Weltkunst im Salon, München 2014. S. 23 ff. 352 Journal officiel (26.07.1959), S. 7413. 353 Vgl. Frapier, Pierre Meauzé et l’élaboration de la section „Arts Africains“ au Musée des Arts Africains et Océaniens. S. 8. 354 Vgl. Archives Musée du Quai Branly, Fonds Musée national des Arts d’Afrique et d’Océanie, Série B – Administration générale DA000519/60705. 355 Vgl. Frapier, Pierre Meauzé et l’élaboration de la section „Arts Africains“ au Musée des Arts Africains et Océaniens, S. 9. 356 Vgl. Notiz zum Tode von André Malraux (01.12.1976), Archives Musée du Quai Branly, Fonds Musée national des Arts d’Afrique et d’Océanie Série H – Communication DA001581/61228. 351
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te.357 Florisoone war eine ungewöhnliche Wahl – er war Spezialist für die europäische Malerei des 18. Jahrhunderts und zuvor im Louvre tätig gewesen. Er hatte Werke zum Sammlungsbestand des Louvre und beispielsweise den großen italienischen Meistern herausgebracht.358 Allerdings war er auch durch seine Tätigkeit im Louvre zum Konservator der nationalen Museen aufgestiegen und wurde als solcher vom Louvre in das MAAO versetzt. Georges Poisson führt in seinem Werk über die Geschichte des Louvre aus, dass Florisoone von Malraux ‚zwangsversetzt‘ worden sei, als dieser sich mit Florisoone nicht mehr verstand.359 Von seiner beruflichen Ausbildung her passte Florisoone also nicht besonders gut in dieses Museum, nichtsdestotrotz wurde er zuerst übergangsweise und dann definitiv als Chefkonservator eingesetzt.360 Über seine persönlichen Pläne für das Museum ist wenig bekannt. Malraux war auch deshalb prägender als Florisoone, weil er konkrete theoretische Ansätze für die Umwandlung des alten ‚Kolonialmuseums‘ in ein Museum für die Kunst außereuropäischer Kulturen anbot. Er etablierte damit gleichsam eine museale Option der Ästhetisierung und Entkontextualisierung, die bis heute verwendet wird und sich beispielsweise im MQB wiederfindet. Malraux legte mit seinen Ansichten zur Weltkunst und seinem Konzept des ‚Musée imaginaire‘ die Grundlage für einen neuen Museumstyp, der es möglich machte, koloniale Altlasten abzulegen und trotzdem eine eurozentrische, hegemoniale Aneignungs- und Machtposition beizubehalten.361 Daher erscheint eine nähere Beleuchtung des Konzepts von Malraux und die Umsetzung im MAAO von Interesse. Malraux ging dabei grundsätzlich vom Konzept der ‚Weltkunst‘ aus. Hier wird „Kunst als anthropologische Konstante“, als „Stilmerkmal der Menschheit“ verstanden.362 Ein ähnlicher Gedanke findet sich schon deutlich früher, um 1927, bei Franz Boas. Dieser spricht davon, dass „[a]lle menschlichen Tätigkeiten […] Formen annehmen [können], die ihnen ästhetischen Wert verleihen […]“.363 Für ihn ist also die ästhetische Schaffenskraft ein allen Völkern und Kulturen eigenes Charakteristikum, eine menschliche, universale Konstante. Gleichzeitig macht er deutlich, dass es aber
Vgl. Eidelman/Monjaret/Roustan, MAAO, mémoire d’une organisation, S. 103. Vgl. u. a. die Monografien Les grandes périodes de l’histoire de l’art au musée du Louvre (1955), Les grands maîtres italiens, XVIe-XVIIe siècle (1958), Dictionnaire des cathédrales de France (1971). 359 Vgl. Poisson, Georges, La grande histoire du Louvre, Paris 2013. S. 1968 f. In diesem Zusammenhang ist eine Bemerkung in einem Artikel von Le Monde interessant, aus der hervorgeht, dass das MAAO schon seit langem innerhalb der Direction des Musées de France als ‚Abstellort‘, als ‚Sackgasse‘ für unliebsam gewordene Konservatoren galt: Vgl. o. A. „Des musées exposés“, in: Le Monde (09.01.1992). 360 Vgl. Le Directeur des Musées de France, Note de service (31.12.1959), Archives Musée du Quai Branly, Fonds Musée national des Arts d’Afrique et d’Océanie, Série A – Circulaire des textes réglementaires DMF et Ministère DA001593/61049. 361 Vgl. Malraux, André, Le Musée imaginaire (Version von 1965), Paris 2012. 362 Grasskamp, André Malraux und das imaginäre Museum. Die Weltkunst im Salon, S. 116. 363 Boas, Franz, Primitive Kunst, in: Prussat, Margit / Till, Wolfgang (Hrsg.), Neger im Louvre. Texte zu Kunstethnographie und moderner Kunst, Dresden 2001. S. 84–96. S. 85. 357 358
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auch ebenso eine nicht-universale Seite gibt: die der Bedeutung.364 Diese ist laut Boas nicht einfach universal versteh- und begreifbar und erschließt sich nur über die Rekonstruktion des ursprünglichen kulturellen Kontexts des Objekts. Malraux allerdings glaubte an die Fähigkeit des Werks, für sich zu sprechen, zu transzendieren, eine Aura zu verströmen, mit der sich jeder Rezipient das Werk aneignen könne. Claude LéviStrauss hat sich ebenso mit dieser Problematik beschäftigt und kam zu einem anderen Schluss als Malraux.365 Er tendiert deutlich stärker in Boas’ Richtung, wenn er bemerkt, dass ihm im Laufe seiner Begeisterung für außereuropäische ‚Kunst‘ auch einige Masken begegneten, die ihm ganz und gar unverständlich in ihrer Form und Ausführung sowie Bedeutung blieben.366 An ihnen sei ihm klar geworden, dass eine isolierte Deutung einzig der Masken nicht möglich sei. Sie waren schließlich nur Fragmente, materiell wie inhaltlich. Das verweist auf ein fundamentales Problem bei der Beschäftigung mit Objekten außereuropäischer Herkunft in der Phase ab 1960. Sie wurden einerseits wegen ihrer ästhetischen, formalen Schönheit und Ungewöhnlichkeit als Kunstwerke bewundert, die man als singuläre Unikate betrachtete und bei denen der Entstehungs- und Herkunftskontext sowie ihre Funktion uninteressant waren. Andererseits konnte man sie als Illustration bzw. Spur einer fernen, eventuell schon vergangenen Zivilisation, die bestimmte Spezifika veranschaulichte und Informationen über die jeweilige Kultur preisgab, betrachten.367 Allerdings entstammten beide Vorstellungen und Perspektiven bezüglich dieser Objekte einem spezifisch westlichen Verständnis vom Sammeln und Ausstellen von Objekten: Die eine Deutungsweise entspringt der Idee des modernen Kunstmuseums, dem die Vorstellung des ‚l’art pour l’art‘, der Kunst als Selbstzweck, zugrunde liegt, in dem das Kunstwerk für sich alleine, isoliert stehen kann. Die andere Deutungsweise entstammt einer enzyklopädischen Vorstellung von der Sammlung bzw. dem Museum als Repräsentation der Welt. Das MAAO bewegte sich mit seiner neuen Ausrichtung zunehmend zwischen diesen beiden Vorstellungen: Mal wurden die authentischen Objekte als Meisterwerke der Bildenden Kunst präsentiert, mal als ethnologische Artefakte. Die Schwierigkeit bestand darin, dass
Vgl. ebd. S. 91. Vgl. Lévy-Strauss, Claude, Der Weg der Masken, in: Prussat, Margit / Till, Wolfgang (Hrsg.), Neger im Louvre. Texte zu Kunstethnographie und moderner Kunst, Dresden 2001. S. 206–216. 366 Vgl. ebd. S. 213 ff. 367 Vgl. James Clifford setzt sich ausführlich mit der Einordnung von außereuropäischen/‚exotischen‘ Objekten in das westlich ‚Kunst-Kultur-System‘ auseinander und bezeichnet die seit der Jahrhundertwende existierenden Kategorien zur Einordnung dieser Objekte als „wissenschaftliche Kulturgegenstände“ oder als „ästhetische Kunstwerke“. Vgl. Clifford, James, Über das Sammeln von Kunst und Kultur, in: Prussat, Margit / Till, Wolfgang (Hrsg.), Neger im Louvre. Texte zu Kunstethnographie und moderner Kunst, Dresden 2001. S. 280–318. Sally Price verdeutlicht, dass mit der jeweiligen Einordnung eines Objekts in die eine oder andere Kategorie auch eine veränderte finanzielle Wertschätzung sowie eine veränderte museologische Präsentation des Objekts in Bezug auf den Raum, der dem einzelnen Objekt eingeräumt wird, und den Grad der textuellen Vermittlung und Erläuterung einhergeht. Vgl. Price, Primitive Kunst in zivilisierter Gesellschaft, S. 126 ff. 364 365
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man beiden Vorstellungen gerecht werden wollte: Einerseits wollte man die bisher, in einer evolutionistisch gedachten Hierarchie, als ‚primitiv‘ eingestuften Objekte als Kunstwerke aufwerten. Andererseits war klar, dass man sie ohne ihren Kontext kaum verstehen konnte und ihnen nicht gerecht wurde, denn ihre Bedeutung erschloss sich erst aus spezifischen funktionalen und rituellen Zusammenhängen.368 Diese verwiesen aber wieder automatisch stärker auf den kolonialen Kontext, den man ausgrenzen wollte. Der Umgestaltung des MAAO lag also eine weite Auslegung des (Welt-) Kunstbegriffs zugrunde, den man zu enthierarchisieren suchte. Dieses neue Selbstverständnis des MAAO im Kontext des Weltkunst-Begriffs erinnert eindeutig an die Konzeption, die Marcel Lucain in den 1950er Jahren vom MFOM entwickelt hatte: Er begriff einen universalen schöpferischen Geist der Menschheit als das verbindende Element zwischen den verschiedenen Sammlungsteilen des Museums, zwischen der Metropole und ihren ehemaligen Kolonien,369 obgleich er nicht an der Sinnhaftigkeit einer paternalistisch-fürsorglichen Haltung der Metropole gegenüber den ehemaligen Kolonien und damit an einer immanenten Hierarchie zweifelte. Damit konnte sich das MAAO auch in den 1960er Jahren nicht von einer gewissen implizit vorausgesetzten Position der Deutungs- und Besitzhoheit über die Objekte und Kulturen, die es zeigen wollte, freimachen. Malraux entwickelte zudem ein wichtiges museales Präsentationskonzept für diesen ‚Weltkunstbegriff ‘: das ‚musée imaginaire‘. Es handelte sich hierbei um eine Form der Darbietung von Kunstwerken durch (fotografische) Abbildungen. Malraux schwebte dabei vorrangig eine Präsentation in Katalogform vor, die es erlaubte, verschiedene Kunstwerke über ihre Abbildung auf den Doppelseiten des Katalogs frei zu kombinieren. Die Kunstwerke lösten sich durch ihre Abbildung von ihrer Ortsgebundenheit und konnten frei mit völlig anderen Kunstwerken (von anderen Orten der Welt, aus anderen Epochen) neu zusammengestellt, verglichen und inszeniert werden. Zudem erlaubte die Fotografie, einen gezielten Ausschnitt, eine bestimmte Perspektive auf das Objekt auszuwählen. Damit konnte Malraux die von ihm als zentral empfundene Eigenschaft, das für ihn entscheidende Stilmerkmal des Werks, hervorheben. So entstanden neue Analogien und Vergleiche, die aber ahistorisch und unsystematisch waren und rein über Form- und Stilmerkmale funktionierten. Eine solche Umgangsweise mit Objekten anderer Kulturen kam dem MAAO sehr entgegen. Auf diese Weise konnte man die kolonialen Erwerbszusammenhänge der Objekte, ihre Eingliederung in eine Kulturhierarchie, vergessen machen und sie rein über ihre ästhetische Form inszenieren. Das Museum übernahm zwar nicht unmittelbar die Methode der Repräsentation der Objekte über fotografische Abbildungen. Jedoch orientierte es sich an der FokusVgl. dazu auch: Sydow, Eckart von, Die ästhetische Funktion im Leben der Primitiven, in: Prussat, Margit / Till, Wolfgang (Hrsg.), Neger im Louvre. Texte zu Kunstethnographie und moderner Kunst, Dresden 2001. S. 97–112. 369 Vgl. dazu Kapitel 1.2b). 368
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sierung auf das Ästhetische, den Stil sowie der damit einhergehenden Vernachlässigung von historischen Erwerbskontexten und übernahm teilweise die relativ unbekümmerte Kombination von Werken aus verschiedenen Kulturen und Zeiten. Damit wurde es zu einem Vorläufer des Musée du Quai Branly, das 2006 eröffnet wurde und große Teile der Sammlung des MAAO übernahm.370 Malraux erscheint als gedanklicher Vorläufer von Sammlern wie Jacques Kerchache,371 der mit Chirac zusammen das MQB plante. Dass diese Sichtweise auch problematisiert wurde und wird und u. a. aus diesem Grund wahrscheinlich auch nicht vollständig vom MAAO angewandt wurde, macht Chris Marker im Kommentar zu seinem Film ‚Les statues meurt aussi‘ deutlich: In dem Paradies der Form stellen sich geheimnisvolle Bezüge her: wir erkennen Griechenland in einem afrikanischen Kopf, der älter als 2000 Jahre ist, Japan in einer Maske aus Ogue, wir erkennen Indien, die sumerischen Idole, unsere romanischen Christusbilder oder unsere moderne Kunst.372
Die Beliebigkeit, die sich hier offenbart, drückt die Problematik des Umgangs mit diesen speziellen Objekten aus: Sie werden unter Einnahme einer spezifisch westlichen Perspektive gelesen, die bestimmte Vorannahmen und Assoziationen impliziert. Zudem werden die Objekte an einem spezifisch westlichen Ort der kulturellen Repräsentation, dem Museum, gezeigt.373 Das, was der westliche Betrachter dabei in den Objekten zu sehen glaubt, ist nur das, was seiner eigenen Vorstellung dieser fremden Kulturen entspricht – es sagt kaum etwas über deren kulturelle Realität aus. Trotz dieser Problematik deuten die Vorschläge, die Florisoone 1964 in einem Brief an den Direktor der DMF bezüglich der kompletten Umgestaltung des MAAO machte, auf eine Übernahme der malrauxschen Vorstellungen für das Haus hin. Besonders die Verdeckung der Fresken und anderer visueller Elemente sowie die Verlagerung der historischen Galerie lassen diesen Schluss zu.374 Eine in diesem Sinne ästhetisierende Es wird später noch genauer darauf eingegangen, inwiefern das MAAO tatsächlich in der Praxis diesem Bild entsprochen hat. Sicherlich kann man schon hier festhalten, dass es sich nicht ausschließlich der ästhetischen und formalen Dimension der Objekte widmete. 371 Auf Jaques Kerchache, der seines Zeichens Kunsthändler war, wird im Verlauf der Arbeit noch mehrfach eingegangen, er ist zusammen mit Jacques Chirac der Initiator des Musée du Quai Branly gewesen und forderte bereits zuvor mehrfach die Aufnahme der Arts Premiers in den Louvre, was dann von Chirac mit dem Palais des Sessions noch vor der Schaffung des MQB umgesetzt wurde. 372 Marker, Chris, Die Statuen sterben auch, in: Prussat, Margit / Till, Wolfgang (Hrsg.), Neger im Louvre. Texte zu Kunstethnographie und moderner Kunst, Dresden 2001. S. 172–185. S. 180. 373 Vgl. dazu auch das Zitat von Susan Vogel, die dies in Bezug auf die Ausstellung „Art and Artifact“ kritisch reflektiert: „How, then, are we to see African Art? The only context available to most Westerners is the museum. If the original African experience was variable and can be only imperfectly simulated outside its culture, then a museum presentation can only be arbitrary and incomplete.“ Vogel, Susan, Introduction, in: Art and Artifact, S. 15. 374 Vgl. M. Florisoone an Monsieur le Directeur des Musées Nationaux (10.02.1964), Archives Musée du Quai Branly, Fonds Musée national des Arts d’Afrique et d’Océanie, Série B – Administration générale DA000519/60772. 370
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Präsentation, die den Fokus auf die Form und den Stil der Objekte legte, scheint sich im Laufe der Zeit im MAAO durchgesetzt zu haben, wie eine Fotografie von 1986/87 von der umgestalteten westlichen, seitlich gelegenen Halle zeigt: Von der ursprünglichen Raumstruktur und dem Dekor ist nichts mehr zu sehen, der Raum wurde mehr oder weniger in einen rechteckigen ‚Whitecube‘ verwandelt,375 obgleich zumindest in dem Katalog zur Dauerausstellung von 1987 auch auf die Rekonstruktion des ursprünglichen Bedeutungszusammenhangs der Objekte und ihrer Funktion in der jeweiligen Kultur Wert gelegt wurde und das ästhetische Kriterium in der Darstellung in den Hintergrund rückt.376 Somit wird hier erneut der Spagat offenbar, den das Haus ab den 60er Jahren umzusetzen versuchte: Es wollte seine eigene Vergangenheit und ihre Überbleibsel durch Ausblendung neutralisieren und die präsentierten Kulturen und ihre Erzeugnisse über die Erhebung in den ‚Stand der Kunst‘ aufwerten. Jedoch barg die isolierte Präsentation als ‚Kunstwerk‘ Gefahren: Man riskierte, dass das breite Publikum die Objekte und ihre Bedeutung nicht verstand. Daher tendierte man vor allem in den Katalogen zu einer stärker ethnologisch motivierten Kontextualisierung, bei der man aber den kolonialen Erwerbszusammenhang und die Verbindung zur früheren Funktion des Hauses in der Regel marginalisierte oder aber als ‚abgeschlossen‘ und damit irrelevant darstellte.377 Jedoch waren die beiden Aspekte der Aufwertung der Objekte als Kunstwerke, im Sinne der malrauxschen ‚Weltkunst‘ einerseits sowie ihre dem ‚Musée imaginaire‘ nachempfundene Präsentation über primär stilistische Merkmale und ihre damit verbundene Entkontextualisierung andererseits, nicht unproblematisch. Man übersah hier vonseiten des MAAO, dass damit die eurozentrische Deutungshoheit und das französische Besitzrecht gegenüber diesen fremden, vormals unterworfenen Kulturen keinesfalls infrage gestellt, sondern vielmehr bestätigt wurde. Umwandlung der Sammlung: Die Arbeit von Pierre Meauzé, Jean Guiart und Marguerite Olagnier-Riottot im MAAO Malraux hatte damit nunmehr den theoretischen Rahmen für das neue Museumskonzept des MAAO geliefert. In der Praxis bedeutete dies jedoch vor allem, dass eine komplett neue Sammlung erworben werden musste. Die umfangreiche Untersuchung von Martin und Blind zeigt, dass die Sammlung des institutionellen Vorgängers unVgl. Fotografie No. 283, in: François, Le palais des Colonies. Histoire du Musée des Arts d’Afrique et d’Océanie, S. 210. 376 Vgl. auch S. 15 und Noll, Colette, Les Arts africains, in: RMN (Hrsg.), Musée national des arts africains et océaniens. Guide, Paris 1987. S. 52–133. S. 61 ff. 377 Nicht selten gab es in den entsprechenden ‚Guides‘ einen Abschnitt zur Geschichte des Gebäudes und seiner ursprünglichen Funktion, was beispielsweise mit dem Titel ‚le monument‘ überschrieben wurde. Damit machte man unmissverständlich klar, dass man die koloniale Vergangenheit hier in die Geschichte des Gebäudes, verstanden als ein Denkmal, verlagerte. Damit war sie für das aktuelle Museum irrelevant. 375
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ausgeglichen war.378 Der Schwerpunkt lag dort eher auf der afrikanischen Kunst, Ozeanien war nur zu einem viel kleineren Prozentsatz in der Sammlung mit Objekten vertreten.379 Also musste das MAAO, um überhaupt seiner neuen Bezeichnung und Funktion gerecht werden zu können, einerseits völlig neue Objekte erwerben, die vor allem den Fokus auf Ozeanien legitimieren sollten.380 Andererseits mussten die alten, bereits vorhandenen Sammlungsteile umstrukturiert werden. Für diese umfassenden Maßnahmen hatte das Museum durch Malraux von 1963 bis 1967 einen Sonderkredit des Kulturministeriums zugeteilt bekommen.381 Vor diesem Hintergrund bildete sich eine von der DMF unabhängige Expertenkommission, bestehend aus: Georges Salles, Jean Chatelain, Michel Florisoone, Marguerite Olagnier-Riottot, Jean Guiart, Pierre Meauzé, Henri Rivière, Pierre-David Weill, Claude Lévi-Strauss und Michel Leiris.382 Sie bewerteten vor allem zu erwerbende Objekte, um diese in die Sammlung zu integrieren und dem neuen Fokus auf Afrika und Ozeanien gerecht zu werden. Für die Auswahl der neuen Objekte durch die Kommission gab es keine festen Richtlinien.383 Der ästhetische Aspekt schien im Vordergrund gestanden zu haben, gefolgt vom Status als Martin und Blind hatten in ihrer Studie die Sammlungsbestände des MFOM zwischen 1931 und 1960 auf Basis der Inventarlisten des Museums untersucht. Dabei konnte festgestellt werden, dass ein Großteil der Sammlung, die auch später die Grundlage des Nachfolgers des MFOM, des Musée des arts africains et océaniens, bildete, bereits vor dem Zweiten Weltkrieg erworben wurde. Ein kleinerer Teil kommt in den 50er Jahren hinzu, wobei gegen 1960 der Erwerb von Objekten gegen null tendierte. Dabei wurden hauptsächlich ethnologische Objekte (31 % der Sammlung) und pädagogisches Material (32 %) erworben. Persönliche Souvenirs, naturkundliche Objekte und vor allem auch Kunstwerke machten einen deutlich geringeren Teil aus (alle zusammen 10 % der Sammlung). Dabei erstaunt die Autorinnen, dass der Anteil der Gemälde, die in den Katalogen und Sammlungsbeschreibungen immer einen recht wichtigen Platz einnahmen, nur sehr gering ausfällt, wohingegen die große Zahl an ethnologischen Objekten erstaunt, da diese in der Präsentation und Selbstdarstellung des MFOM insgesamt keine so bedeutende Rolle gespielt haben. Die Dominanz des pädagogischen Materials lässt sich laut den Autorinnen durchaus mit der Zielsetzung des Museums erklären. Vgl. Martin/Blind, Les sources du musée de la France d’outre-mer (1931–1960). 379 Dazu Martin und Blind: „Au terme de notre étude sur les objets, nous pouvons souligner: – une prédominance de l’ethnographie africaine dans les objets entrant au musée. – une grande importance des interventions ponctuelles effectuées par un même intervenant. – la faiblesse des collections océaniennes (s’expliquant par les limites de l’empire colonial), quasi insignifiantes par rapport au reste. Il est donc surprenant que cette aire géographique ait été incluse dans le programme ultérieur de Malraux, pour le musée des arts africains et océaniens.“. Martin/Blind, Les sources du musée de la France d’outre-mer (1931–1960), Band 1, S. 22. 380 Diese Pläne riefen durchaus entsprechende Reaktionen in der Presse hervor: Le Monde meldet am 02.12.1963, dass das MAAO nun endlich aus seinem Schlaf geweckt werden und eine neue Sammlung bekommen solle. Dazu wurden laut Le Monde bereits mit dem Senegal und der Elfenbeinküste Kontakte angebahnt. Vgl. B., E., Le ministère des affaires culturelles fait le point des réalisations prévues au budget 1964, in: Le Monde (02.12.1963). 381 Vgl. Sherman, French Primitivism and the ends of Empire. S. 96. 382 Vgl. ebd. S. 96 f. 383 Zu dem erschwerten und oft unklaren Umgang mit Objekten der sogenannten ‚primitiven Kunst‘ in Frankreich ist erhellend, dass es offensichtlich bis in die 80er Jahre keine ausgebildeten Experten auf diesem Gebiet geben konnte: Eidelman, Monjaret und Roustan schildern in ihrem Artikel, dass es zwar seit den 1970er Jahren Ansätze in der École du Louvre gab, auch die ‚Arts premiers/primitifs‘ in die Ausbildung von Konservatoren zu integrieren, jedoch wurde erst 1986 an der École nationale du patrimoine das Fach378
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‚Rarität‘. Sherman spricht hier von der Suche nach sogenannten ‚star objects‘.384 LéviStrauss, der an der Kommission teilnahm, äußert 1975, nach dieser Tätigkeit: Sicher ist die Zeit nicht mehr fern, da die Sammlungen aus diesem Teil der Welt [er spricht von der Nordküste des Pazifik: Alaska, Britisch-Columbia] aus den ethnografischen Museen verschwinden werden, um in den Museen der Schönen Künste zwischen dem alten Ägypten oder Persien und dem europäischen Mittelalter Platz zu nehmen. Denn diese Kunst darf sich mit den größten Kunstformen messen […].385
Hier wird noch einmal der äußerst ‚westliche‘ Wunsch deutlich, über die Kategorisierung als Kunstwerke eine Aufwertung und damit eine Emanzipation dieser Objekte zu vollziehen, sie gleichsam in den eigenen europäischen bzw. westlichen Kunstkanon aufzunehmen, und dass trotz der Tatsache, dass der Kunstbegriff an sich sich nur äußerst vage auf diese Objekte anwenden ließ. Sally Price verdeutlicht in ihrer Analyse in Bezug auf diese ‚feierliche Aufnahme primitiver Kulturprodukte‘ in den westlichen Kunstkanon, wie sehr dies aus der Idee eines ‚Wohlwollens‘ des Westens, einer paternalistischen Großzügigkeit entstanden ist, die den Kolonialismus lediglich beerbte.386 Neben Lévi-Strauss waren in der Kommission zum Neuerwerb von Objekten drei Personen vertreten, die die Entwicklung des Museums in besonderem Maße geprägt haben: Jean Guiart, Marguerite Olagnier-Riottot und Pierre Meauzé.387 Alle drei führten mehrere Reisen zum Erwerb neuer Objekte durch, die auch in der Folge die Sammlungsstruktur des Museums nachhaltig veränderten. Außerdem wurde Marguerite Olagnier-Riottot nach ihrer langjährigen Tätigkeit als Chefin der Sektion zum Maghreb zur Nachfolgerin Florisoones im Amt des Chefkonservators. Sie war bereits seit 1960 als Konservatorin für die Sektion der muslimisch-afrikanischen Kunst im MAAO tätig.388 Zuvor war sie als Konservatorin der Musées des Arts et du Folklore au Maroc tätig gewesen.389 Sie setzte sich von Beginn an für eine Inventarisierung der bisherigen Bestände und eine daran anschließende Neustrukturierung der Sektion ein.390 Mit ihrer Übernahme der Verantwortung für diese Sektion scheint diese auch insgesamt in der Sammlung des Museums an Bedeutung gewonnen zu haben und zu gebiet ‚Arts africains et océaniens‘ eingeführt. Vgl. Eidelman/Monjaret/Roustan, MAAO, mémoire d’une organisation, S. 108 f. 384 Vgl. Sherman, French Primitivism and the ends of Empire, S. 99. 385 Lévy-Strauss, Der Weg der Masken, S. 207. 386 Vgl. Price, Primitive Kunst in zivilisierter Gesellschaft, S. 46. 387 Auch Frapier stellt in ihrer Arbeit fest, dass es sich hierbei um die drei wesentlichen Figuren der Neuorganisation gehandelt habe: Vgl. Frapier, Pierre Meauzé et l’élaboration de la section „Arts Africains“ au Musée des Arts Africains et Océaniens, S. 15. 388 Vgl. Michel Florisoone an den Direktor der DMF (29.02.1960), Archives Musée du Quai Branly, Fonds Musée national des Arts d’Afrique et d’Océanie, Série B – Administration générale DA000519/60700. 389 Vgl. Florisoone, Michel, Note de service (24.02.1960), Archives Musée du Quai Branly, Fonds Musée national des Arts d’Afrique et d’Océanie, Série B – Administration générale DA000519/60694. 390 Vgl. Compte rendu relatif aux acquisitions de la section des arts musulmans, année 1960, Archives
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einem der Herzstücke des MAAO geworden zu sein. 1961 reiste sie nach Marokko, um verschiedene Textilien zu erwerben. Sie selbst präsentierte den Zwischenstand ihrer Arbeit, die, wie sie selbst sagte, sechs Jahre gedauert hatte, in der Zeitschrift Museum, herausgegeben von der UNESCO, aus dem Jahr 1968 – „Musée des arts africains et océaniens, Paris. Section des arts musulmans d’Occident“:391 Le Musée des arts africains et océaniens vient d’ouvrir des salles consacrées à la présentation d’objets d’art et d’archéologie maghrébins. C’est là un évènement artistique et muséographique d’importance. Jusqu’à ce jour, en effet, il n’y avait en France aucun musée possédant un ensemble d’objets des trois pays du nord de l’Afrique qui, tant par la qualité que par la quantité de ces objets, méritât le nom de collection.392
Sie schätzt also selbst die Bedeutung dieser neuen Sektion als relativ hoch ein, vor allem weil es, wie sie es ausdrückt, kein zweites Museum in Frankreich gäbe, was eine derartige Sammlung von Objekten aus Marokko, Algerien und Tunesien besitze. Das macht auch klar, dass mit solchen neuen Sammlungsteilen eine neue Legitimation für das MAAO geschaffen werden sollte: Einerseits konnte es sich als ‚Kunstmuseum‘ von seiner kolonialen Vergangenheit verabschieden und sich vom Musée de l’homme mit seiner ethnologischen Ausrichtung abgrenzen, andererseits konnte es sich nun im Bereich der außereuropäischen Kunst durch die Einmaligkeit bestimmter Sammlungsteile etablieren. Bei der Umsetzung der Sektion legte Olagnier-Riottot besonders Wert auf die Vergleichbarkeit der Objekte aus den drei Ländern und die Erläuterung der Herkunft sowie eine klare durchgängige Strukturierung. Sie betonte, dass zwar weitestgehend mit den alten Ausstattungen des Museums gearbeitet wurde, aber trotzdem auf eine moderne und ästhetische Präsentation geachtet wurde. Es fällt auf, dass bei der Präsentation der einzelnen Objekte vor allem auf eine zurückhaltende Inszenierung, die das einzelne Objekt hervorhebt, geachtet wurde. Die Tendenz zur Präsentation einzelner, ästhetisch besonders wertvoller Objekte ist hier bereits vorhanden und wird bei Meauzé, der die Sektion zu Afrika betreute, noch verstärkt. Pierre Meauzé war für den übrigen Teil der Sektion zu Afrika zuständig. Dabei war seine Wahl als Hauptverantwortlichem für diese Sektion eher ungewöhnlich: Meauzé war eigentlich Künstler und hatte lange in Afrika gelebt.393 Er war vor allem über seine
Musée du Quai Branly, Fonds Musée national des Arts d’Afrique et d’Océanie, Série B – Administration générale DA000519/60700. 391 Vgl. Olagnier-Riottot, Marguerite, Musée des arts africains et océaniens, Paris. Section des arts musulmans d’Occident, in: Museum (Unesco), Vol. XXI, no. 2 (1968). S. 170–171. 392 Ebd. S. 170. 393 1938 bekommt Meauzé ein staatliches Stipendium, um in der AOF zeichnen zu können. Daraus macht er eine Rundreise durch die Länder Senegal und Dahomey. Er wird 1940 von der Regierung der AOF und dem Institut Français d’Afrique noire kontaktiert, um ein Museum für indigene Kunst zu begründen, dem späteren Musée d’Abidjan. Vgl. Frapier, Pierre Meauzé et l’élaboration de la section „Arts Africains“ au Musée des Arts Africains et Océaniens, S. 12.
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Kontakte dort und seine selbst angeeignete Kenntnis der afrikanischen Kunst für Malraux und das MAAO interessant geworden.394 Zudem teilte er Malrauxs Vorstellungen von der Weltkunst durchaus und bediente sich der Methode der direkten Gegenüberstellung unterschiedlichster Werke und Kunstformen mit der afrikanischen Kunst im Sinne des ‚Musée imaginaire‘. Seine Tätigkeit im MAAO begann 1963. Er war relativ autonom für die Erstellung der neuen Afrika-Sektion zuständig und richtete seinen Sammlungsfokus auf die afrikanische Skulptur aus.395 Er bevorzugte Masken, Statuen, Statuetten, Kultobjekte und andere kleine Alltagsobjekte, die teilweise präzise Funktionen übernahmen. Grundsätzlich kann man dabei mit Frapier zwei schwerpunktmäßige Erwerbsphasen ausmachen: 1963–67 und 1968–78. Während die erste Phase eher durch Massenkäufe bestimmt wurde, ist die zweite Phase durch viel selektivere Käufe geprägt. Bezüglich dieser zweiten Phase bestätigt Frapier hier das Urteil von Sherman: „Ces acquisitions ont généralement une caractéristique bien précise: ce sont des pièces exceptionnelles par leur qualité ou leur rareté.“.396 Bei der späteren musealen Präsentation dieser Objekte ist die Annahme Meauzés zentral, dass man, ohne die Funktion der Objekte zu kennen, ihre ‚Wahrheit‘ erfassen könne. Dementsprechend ist Meauzé auch die Form, die ‚Architektur‘ der Skulptur, am wichtigsten, Bedeutung, funktionaler Zusammenhang etc. sind sekundär. Ihm ist eher ihre ‚magische, lebendige Kraft‘ wichtig. Gleichzeitig sieht er diese Kunstobjekte den europäischen Werken als ebenbürtig an, er vergleicht einzelne afrikanische Kunstobjekte beispielsweise mit der mittelalterlichen europäischen Kunst. Auch hier wird wieder die Nähe zu den malrauxschen Vorstellungen deutlich: Meauzé begreift die Objekte ganz klar als Kunstwerke, was für ihn auch den Schlüssel zu ihrem Verständnis bereithält. Sie sind über ihre ästhetische Schönheit, ihre Seltenheit und die formal-stilistischen Merkmale zu erfassen, nicht über ihren ursprünglichen funktional-rituellen Zusammenhang. Bezeichnend für die Haltung und Arbeit Meauzés ist, dass er nicht nur die afrikanischen Objekte als Kunstwerke innerhalb des MAAO aufwerten wollte. Er war auch über die Grenzen des Hauses hinaus darum bemüht, die Emanzipation der afrikanischen Kunst voranzutreiben: Er betonte den großen Erfindungsreichtum, die Vielfalt der Formen und die Kreativität als wichtige Merkmale der afrikanischen Kunst. Gleichzeitig versuchte Meauzé, das Spezifische der Werke, die wesentlichen Stilmerkmale des einzelnen afrikanischen Künstlers herauszuarbeiten und sie damit als individuelle Kunstschaffende zu präsentieren. Damit wollte er der häufig auftretenden Verachtung dieser
Dass er kein ausgebildeter Konservator war, konnte durchaus als problematisch gesehen werden, wie man im Falle Marcel Lucains zuvor gesehen hatte. Meauzé konnte diese potenzielle Schwäche vor allem durch seine gute Beziehung zum damaligen Leiter der DMF, Jean Chatelaîn kompensieren. Vgl. Frapier, Pierre Meauzé et l’élaboration de la section „Arts Africains“ au Musée des Arts Africains et Océaniens, S. 25 f. 395 Vgl. ebd. S. 17. 396 Ebd. S. 26. 394
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Künstler als reinen ‚Kopisten‘ eines tradierten Stils entgegenwirken.397 Folgerichtig entschied sich Meauzé im ersten Schritt für eine sehr reduzierte Präsentation von 50 Werken, was angesichts der enormen Menge (ca. 1 858 Objekte allein unter Meauzé), die er u. a. selbst erworben hatte, eine starke Selektion bedeutete. Er wollte nur die ‚Meisterwerke‘ zeigen: En effet, le but de ce musée est d’exprimer la valeur et les caractères de la sculpture d’Afrique noire par le choix qualitatif des œuvres exposés. Pierre Meauzé souhaite par la qualité esthétique très forte des œuvres exposées et par une présentation digne d’elle mettre en valeur la plastique africaine afin de convaincre un public qui ne connaît pas ou peu l’art africain.398
Meauzés Bedeutung für das MAAO und die Afrika-Sektion wird in einem Artikel von J. Kerchache aus dem Jahr 1975 in der Zeitschrift L’Œil hervorgehoben. Er rühmte hier die umfassende Tätigkeit Meauzés im Museum, die darin bestanden habe, vor allem die vorhandenen Sammlungsteile zu inventarisieren, eine Ordnung zu schaffen und jedes einzelne Objekt möglichst genau zu dokumentieren. Aber vor allem könne Meauzé die Stücke mit einem ‚wahren‘ Auge des Künstlers beurteilen und so schlechte von guter Qualität unterscheiden.399 Zudem beschreibt Kerchache hier eine von Meauzé neu angelegte Präsentationsform: In der Mitte der Räume seien immer die rein ästhetisch, plastisch-wertvollen ‚Star-Objekte‘ der jeweiligen Einheit zu finden, während am Rand des Raums die ‚informativen‘ Objekte, in einem eher ethnografischen Sinn, präsentiert würden. Neben der Neugestaltung der afrikanischen Sektion war Meauzé im MAAO für ein zentrales ‚Austauschprogramm‘ von Objekten mit den jeweiligen afrikanischen Staaten zuständig. Malraux lag dieses Programm besonders am Herzen: Er wollte abseits des üblichen Kunstmarktes einen Austausch etablieren, der vorsah, dass das MAAO zeitgenössische Kunstobjekte der westlichen Kultur an die afrikanischen Staaten gab und dafür weitere originale Kunstobjekte aus diesen Staaten in Form von Leihgaben dauerhaft erhielt. Meauzé zeigte sich als besonders engagiert und nahm dieses Projekt persönlich in die Hand und konnte bereits 1968 mit konkreten Maßnahmen beginnen: So wurde unmittelbar ein Austauschvertrag zwischen dem Senegal und Frankreich unterzeichnet400 und ein weiterer mit der Elfenbeinküste wurde angekündigt. Dieses Vorgehen stieß aber durchaus nicht überall im MAAO auf Begeisterung. So war die Vorgängerin Meauzés, Denise Paulme, die sich übergangsweise um seine Sektion kümmern sollte, aufgrund dieses Projekts gegangen:
Vgl. Frapier, Pierre Meauzé et l’élaboration de la section „Arts Africains“ au Musée des Arts Africains et Océaniens, S. 18 ff. 398 Ebd. S. 38 f. 399 Vgl. Kerchache, Jacques, Le Musée de la Porte Dorée. Un nouveau regard sur l’art africain, in: L’Œil No. 237 (avril 1975), S. 4–9 und S. 61. 400 Vgl. RMN (Hrsg.), Musée national des arts africains et océaniens. Guide, Paris 1987. S. 60. 397
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En effet, dans une lettre adressée au directeurs [sic] des musées de France elle [Denise Paulme] dénonce le caractère abusif de cette entreprise : « les collections du futur musée réuniront en priorité des œuvres se trouvant aujourd’hui dans les musées de certains états africains francophones. Une telle façon de procéder ne peut être que désapprouvées par des africanistes soucieux de voir l’Afrique conserver le peu qui lui reste d’un patrimoine suffisamment pillé.401
Paulme drückte ihre Bedenken bezüglich dieses Vorgehens aus: Sie befürchtete, dass auf diese Weise unter einem pseudo-fairen, humanisierten Deckmantel weiterhin afrikanische Staaten ihrer Kunstobjekte beraubt würden, wie es auch schon zu Zeiten des Kolonialismus der Fall gewesen war. Zwar zeichnete sich Meauzé innerhalb des MAAO sicherlich als Akteur aus, der an einer tatsächlichen Aufwertung und Emanzipation afrikanischer Kunst interessiert war. Jedoch sollte dies im Rahmen des westlichen, französischen Kunstkanons stattfinden. Letztendlich gestand damit das MAAO, aber auch Meauzé, nur den westlichen, französischen Museen zu, die afrikanischen Kulturen und ihre Erzeugnisse angemessen bewahren und ausstellen zu können. Vor diesem Hintergrund ist die Kritik Paulmes zu lesen: Unter dem Vorwand des kulturellen Dialogs sowie der angemessenen Aufbewahrung und Präsentation erschlich man sich hier weitere Objekte und legte eine neokoloniale Haltung an den Tag. Meauzé hatte damit offensichtlich keine Probleme und baute dieses Projekt aus. Während Olagnier-Riottot sich vorrangig der nordafrikanischen Kunst widmete und Pierre Meauzé für den übrigen Teil der Afrika-Sektion zuständig war, widmete sich Jean Guiart der Sektion Ozeanien. Diese konnte sich auf deutlich weniger bereits vorhandene Sammlungsteile stützen und musste fast völlig neu konzipiert werden. Guiart ist seines Zeichens Anthropologe und Ethnologe und wurde nach seiner Tätigkeit im Museum, die er 1961 begann, von 1973 bis 1988 Direktor des Musée de l’homme.402 Er hatte bereits 1963 in Malrauxs Reihe ‚L’Univers des formes‘ bei Gallimard den Band zu Ozeanien herausgebracht.403 Er betonte in der Einleitung, dass es bei der Behandlung solcher Objekte der sogenannten ‚primitiven Kunst‘ oft nur noch um Waren mit einem bestimmten Marktwert gehe. Dabei werde vernachlässigt, woher sie genau stammten und wer ihre Urheber gewesen seien: Peu se préoccupent des conditions sociales, de lieu et de temps, définissant chacune de ces œuvres. Pour la commodité, un vague étiquetage par grandes régions géographiques suffit.
Frapier, Pierre Meauzé et l’élaboration de la section „Arts Africains“ au Musée des Arts Africains et Océaniens, S. 33. 402 Jean Guiart hat sich als Ethnologe umfassend mit der Kultur Ozeaniens beschäftigt, seine breite Werkpalette, die Erläuterung seines Ansatzes und weitere Angaben zu seiner Arbeit finden sich auf seiner Website: http://www.jeanguiart.org/index.html (Zugriff 17.05.2016). 403 Vgl. Guiart, Jean, Océanie, dans la collection ‚L’univers des formes‘ dirigée par André Malraux et Georges Salles, Paris 1963. 401
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Les formes de l’art océanien sont devenues des objets morts, des signes vides auxquels chacun désire accrocher ses émotions et son propre système de valeurs.404
Daher plädierte Guiart dafür, sie in all ihrer Komplexität zu untersuchen und systematischer zu erfassen. Guiart stand damit im Gegensatz zu Meauzé deutlich stärker in einer ethnologischen Tradition und plädierte für eine stärkere Kontextualisierung der Werke. Er baute in der Folge die Sammlung des MAAO zu Ozeanien systematisch aus.405 Wie Sherman deutlich herausstellt und Price andeutet, ging Guiart relativ kritisch an sein Museumsumfeld heran – er sah die fehlende Expertise am MAAO, die lückenhafte Sammlung und die teilweise schwierigen Voraussetzungen des Gebäudes als große Hindernisse für die Neukonzeption dieses Museums. Jedoch schien ihn vor allem die unklare Mission des Museums am meisten zu stören.406 Insgesamt war diese Periode dank des Sonderkredits von Malraux insofern fruchtbar für das Museum, als dass eine relativ große Menge neuer Objekte erworben werden konnte und eine Neustrukturierung des Hauses entlang der thematischen Schwerpunkte Maghreb, Afrika und Ozeanien stattfinden konnte. In einer Notiz vom 01.12.1976, die die zentrale Rolle Malrauxs für das Museum anlässlich seines Todes betonte, werden für den Zeitraum seit 1960 insgesamt 3 008 neu erworbene Objekte für die Sektion Maghreb und 1 537 neu erworbene Objekte für die Sektion Ozeanien benannt.407 Die drei genannten Hauptakteure waren maßgeblich dafür verantwortlich, dass die jeweilige Sektion ausgebaut und präsentiert werden konnte – sie orientierten sich dabei alle mehr oder weniger explizit am Konzept Malrauxs: Das ästhetisch wertvolle Einzelobjekt stand klar im Vordergrund. Gleichzeitig verweist besonders die kritische Haltung Guiarts ob der diffusen Ausrichtung des Museums auf den Konflikt, der von dieser zentralen Grundausrichtung verdeckt wurde: Man wollte einerseits die Objekte differenziert betrachten und vermitteln und musste sie daher in einen Kontext stellen, andererseits positionierte man sich als Kunstmuseum, in dem eine solche ethnologische Einordnung unpassend war, das Werk sollte schließlich in dieser Museumstradition für sich sprechen können.
Ebd. S. 2. Vgl. Boulay, Roger, Avant-propos, in: Musée national des arts africains et océaniens, Musée imaginaire des Arts de l’Océanie, Paris 1985. 406 Vgl. Sherman, French Primitivism and the ends of Empire, S. 93 f. 407 Vgl. Note (01.12.1976), Archives Musée du Quai Branly, Fonds Musée national des Arts d’Afrique et d’Océanie, Série H – Communication DA001581/61228. 404 405
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Die neue Konzeption und Sammlung des MAAO (Maghreb, Afrika, Ozeanien) und der Umgang mit dem kolonialen Erbe Trotz dieser umfassenden Neuerungen litt das Haus nach wie vor unter seinem musealen und baulichen Erbe. Nicht zuletzt der desolate Zustand des Gebäudes, der seit den 50er Jahren bis Mitte der 60er Jahre anhielt, erschwerte die Umwandlung des Museums.408 So druckte Le Monde am 22.12.1967 eine äußerst kritische Stellungnahme zu dem Museum, die letztendlich für eine Schließung desselben plädierte. Der Autor kritisierte, dass trotz der bereits vergangenen Zeit von sechs bis acht Jahren nichts von den neuen Sammlungsbeständen zu sehen sei: À l’entrée, une discrète pancarte indique tous juste que les salles d’art africain sont temporairement fermées ; l’art océanien est purement et simplement passé sous silence, et pourtant il n’est pas moins invisible. Il faut de la bonne volonté, en revanche, pour découvrir la belle collection de bijoux maghrébins présentée de façon moderne, bien que sommaire, dans une galerie supérieure. À part ce modeste témoignage de l’activité de la conservation du musée, le visiteur surpris n’est appelé à contempler que les reliques poussiéreuses, telles qu’en elles-mêmes l’idéologie et la muséographie de 1931 les ont figées […].409
Diese Beschreibung veranschaulicht den Zustand des Museums emblematisch: Viele Teile des Museums waren (noch) nicht zugänglich, es gab eine große Menge an Überresten aus der Zeit des MFOM, mit denen man nicht umzugehen wusste und die daher zunehmend vernachlässigt in Teilen des Museums vor sich hinvegetierten. Gleichzeitig gab es einzelne neue, bereits modern inszenierte Sektionen, wie die Abteilung zum Maghreb, die aber schwierig zu finden war. Dieses Urteil lässt sich vor allem darauf zurückführen, dass über die gesamte Dekade der 60er Jahre immer wieder umfangreiche Restaurierungsmaßnahmen sowohl am Gebäude als auch an den Sammlungsbeständen durchgeführt wurden, was die zahlreichen Rechnungen von entsprechenden Dienstleistern und die Berichte des leitenden Architekten zeigen.410 Letztendlich befand es sich in dieser Phase in einem dauerhaften Zustand der Renovierung, Instandsetzung und Neugestaltung. Dass der Autor in Le Monde daher für So wird in den jährlichen Rapports d’activités der 1960er Jahre fast durchgängig der schlechte Zustand des Gebäudes bemängelt, vgl. Rapports d’activités von 1962: „Le bâtiment est dans un état très défectueux.“, Archives Musée du Quai Branly, Fonds Musée national des Arts d’Afrique et d’Océanie, Série B – Administration générale DA000519/60732. 409 Nardin, M. D., Il faut qu’un musée soit ouvert ou fermé, in: Le Monde (22.12.1967). 410 Vgl. Archives nationales, Signatur 20144795/1, Karton U-AAO, das gesamte Dossier U 23 A-A-O (19…) zeugt von umfangreichen Restaurierungs- und Reparaturarbeiten im ganzen Museum, die teilweise unter Leitung Bazins durchgeführt wurden, sie erstreckten sich praktisch über die ganze Dekade der 60er Jahre (begonnen mit 1960). Vgl. Dossier U 16 Arts africains MAAO – Restaurations de fresques (1974, 3 décembre): Restaurierung eines Teils der Fresken im MAAO; Restauration verschiedener Objekte: Dossier U 16 1961–1973 „Musée des Arts africains et océaniens“: Facture vom 11. Juni 1971, die eine relativ große Menge an restaurierten Objekten in Rechnung stellt (vor allem Afrique noire). 408
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die Schließung des Hauses plädierte, scheint nicht verwunderlich: Die Umwandlung in ein genuines Kunstmuseum für außereuropäische Kulturen war von außen nicht erkennbar. Die Präsenz der alten Sammlungsteile und ihr schlechter Zustand ließen darauf schließen, dass man es hier mit einem Relikt der Kolonialzeit zu tun hatte, das den Besuchern nichts mehr zu bieten hatte. Diese Übergangssituation wurde zusätzlich noch durch die notwendigen Umstrukturierungsmaßnahmen der Sammlung und das begrenzte Budget beeinflusst, sodass das MAAO im eigenen Haus keine Wechselausstellungen mehr umsetzen konnte. Die Angabe des Berichts aus dem Jahr 1961 stellt diese Situation emblematisch dar: „Présentation des collections: Aucune présentation n’a été envisagée cette année, vu le mauvais état et le délabrement des salles d’exposition […].“411 Dieser Zustand schien einer vorläufigen ‚Kapitulation‘ zu entsprechen. Die Aufgabe, ein ehemaliges koloniales Propagandamuseum in ein modernes Kunstmuseum zu verwandeln, schien zum ‚Kollaps‘ des Hauses geführt zu haben. Für die 1960er und 1970er Jahre beteiligte man sich daher lediglich an in anderen Häusern stattfindenden Ausstellungen mit äußerst beliebigen Thematiken412 – was von außen wie ein ‚letztes Aufbegehren‘ des Hauses wirken musste. Dieser ambivalente, chaotische Zustand änderte sich erst gegen Ende der 1960er Jahre, als das Haus in wesentlichen Teilen umstrukturiert worden war: 1968 stellte Olagnier-Riottot ihre Sektion zum Maghreb in der Zeitschrift Museum als vollendet dar, in einem Schreiben von 1969 wurden sowohl die Sektionen zum Maghreb als auch zu Schwarz-Afrika als zufriedenstellend und präsentabel beurteilt, während Ozeanien noch weiter ausgebaut werden müsse.413 Dafür spricht auch, dass laut einem Brief von Michel Florisoone an Monsieur l’architecte en chef, der die Restaurierungs-
Rapport d’activité 1961, Archives Musée du Quai Branly, Fonds Musée national des Arts d’Afrique et d’Océanie, Série B – Administration générale DA000518/60803. 412 In den 70er Jahren zeugen davon die Rapports d’activité du musée et des sections von 1974–83. Unter Archives Musée du Quai Branly, Fonds Musée national des Arts d’Afrique et d’Océanie, Série B – Administration générale DA001537 einsehbar: Beispiel 1974: Rapport DA001537/61426, Beispiel 1975 DA001537/61427, Beispiel 1976 DA0001537/61428, Beispiel 1977 DA0001537/61429 etc. Das scheint durchaus bis in die 80er die Regel gewesen zu sein. Rapport 1982 DA001537/61434. Für die 60er Jahre vgl. weiter vorne Archives Musée du Quai Branly, Fonds Musée national des Arts d’Afrique et d’Océanie, Série M – Collections. Diese Annahme wird zusätzlich durch verschiedene Dossiers über die „prêts pour expositions temporaires à l’extérieur“, die für die Jahre 1965–67, 1968, 1969, 1971 und 1974 existieren, gestützt. Vgl. Dossier: prêts pour expositions temporaires à l’extérieur (1965–67), Archives Musée du Quai Branly, Fonds Musée national des Arts d’Afrique et d’Océanie, Série M – Expositions DA001536. Weitere Angaben für die folgenden Jahre in derselben Serie unter: DA001459; DA001458; DA001457; DA001456. Dabei hat man sich an sehr unterschiedlichen Ausstellungen beteiligt, einige Beispiele aus den Jahren 1965 bis 1968 sind: „Gauguin and the Pont Aven Group“ (London); „Exposition sur la marine normande“ (Baronnie de Douvres); „Tricentenaire de la Réunion“; „Exposition à l’ambassade de Gabon“; „Un siècle d’art français 1850–1950“; „Trois Millénaires d’Art et de Marine“, Prêt pour le musée ethnographique de Bâle etc. 413 Vgl. Brief von M. Florisoone an den Direktor der DMF (14.03.1969), Archives Musée du Quai Branly, Fonds Musée national des Arts d’Afrique et d’Océanie, Série B – Administration générale DA000519/60789. 411
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maßnahmen leitete, vom 15. Januar 1968, Malraux persönlich für dieses Jahr zu einer Teileröffnung der neuen Sektionen eingeladen wurde.414 Wesentlich ist, dass trotz des äußerst ambivalenten Status bis Ende der 1960er Jahre und der deutlichen Kritik in der Presse, die sogar für eine Schließung plädierte, die Besucherzahlen von Mitte bis Ende der 1960er Jahre relativ stabil blieben und eine recht hohe Zahl an Besuchern das Haus weiterhin frequentierte: 1966 (133 540), 1967 (124 378), 1968 (89 963)415, Anfang der 1970er Jahre liegt die Zahl wieder bei 120 000 Besuchern.416 Die Wirkmacht des Hauses blieb also erhalten und basierte vor allem auf der Präsenz alter Ausstellungsteile des früheren MFOM, die vielen Besuchern noch vertraut gewesen sein mögen. Neben dem Aquarium traf das beispielsweise auf die ehemalige historische Sektion (‚galerie historique‘) zu. Erneut stellte sich hier die eigene museale Vergangenheit in Form der Hartnäckigkeit der kollektiven Erinnerung an diesen Ort als ‚Kolonialpalast‘ der funktionalen und identitären Verwandlung des Hauses in den Weg. Daher stellte seit der Neuausrichtung besonders die historische Sektion zur Geschichte des Empire ein schwieriges Thema für das Museum dar. Mit der Orientierung an der Kunst schien sich nun stärker als je zuvor die Frage in den Vordergrund zu drängen, welche Funktion und Legitimität diese noch haben konnte. In einem Brief vom Chefkonservator des MAAO, Florisoone, an den Direktor der DMF wird Folgendes festgestellt: […] vous penserez sans doute comme moi-même que la prochaine étape de la réorganisation du Musée devrait porter sur le réaménagement de la Galerie de l’Expansion française dans le monde, dite « Galerie historique ». L’aspect de celle-ci est en effet suranné, ses murs d’étoffe sont délavés, son plafond déplâtré, et l’exposition des œuvres désuète.417
Florisoone knüpft an diese Diagnose mit der Idee an, aus der Galerie historique eine Ausstellung zur Geschichte der Frankophonie machen zu wollen, was ihm in Malrauxs Sinne erschien. Doch gerade in seinem Umfeld gab es durchaus Befürworter des ‚alten‘ Konzepts der historischen Galerie, wie Taffin ausführt: Émile Biasini, dans une note du 10 mai 1960, précise : « Si telle est bien la destinée principale de cet établissement [d’être consacré à l’art africain, malgache et océanien] […] il est exclu qu’il cesse d’être aussi le musée historique qui présentera l’épopée coloniale de la France. Pour être clos, ce chapitre ne doit pas pour autant être oublié.418
Offensichtlich wurde hier durchaus Wert auf die Erinnerung an die koloniale Vergangenheit gelegt und die ‚epopée coloniale‘ hatte noch nicht an Strahlkraft verloren. BiaVgl. Brief von Michel Florisoone an Monsieur l’architecte en chef (15.01.1968), Archives nationales, Signatur 20144795/1, Karton U-AAO, Mappe U. 23. AAO, Dokument (1967) Travaux aménagement. 415 Der Einbruch der Besucherzahlen 1968 ist nicht geklärt. 416 Vgl. Archives Musée du Quai Branly, Fonds Musée national des Arts d’Afrique et d’Océanie, Série B – Administration générale DA001535/61517. 417 Brief von M. Florisoone an den Direktor der DMF (14.03.1969), DA000519/60789. 418 Taffin, Les avatars du musée des Arts d’Afrique et d’Océanie, S. 205. 414
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sini wollte an diesem Narrativ festhalten, da es für die eigene nationale Identität nach innen und nach außen immer noch konstitutiv war. Der Direktor der DMF, Chatelain, äußert in seiner Antwort an Florisoone, dass an sich eine komplette Überarbeitung der Sektion wünschenswert wäre, er sich aber auch nicht sicher sei, ob man die koloniale Vergangenheit Frankreichs ganz ausgrenzen sollte und das Thema der Frankophonie nicht andererseits ein zu breites Thema für dieses Haus sei.419 Die Entscheidung über den Fortbestand oder die Auflösung dieses Sammlungsteils zog sich daher noch einige Jahre hin, letztendlich wurde die historische Sektion um das Jahr 1976 endgültig geschlossen.420 Die koloniale Vergangenheit und ihre Repräsentation innerhalb der alten geerbten Sammlungsteile stellte einerseits eine ständige Quelle des Unbehagens dar. Andererseits war sie ein Faktor, der die Besucher an das Haus band und in ihren Augen immer noch einen Teil der Identität des Hauses ausmachte, zumal auch auf Seiten einzelner (politischer) Akteure wie Biasini offensichtlich die Überzeugung vorherrschte, dass die ‚koloniale Leistung‘ Frankreichs weiterhin vermittelt werden müsse. Die endgültige Schließung der historischen Galerie fiel dann in die Amtszeit von Marguerite Olagnier-Riottot, die ab 1973, einhergehend mit dem Tod Florisoones,421 die Funktion der Chefkonservatorin übernahm. Zuvor, 1971, war das Museum endgültig in den Rang der nationalen Museen aufgenommen worden und trug den Zusatz ‚national‘ nun auch im Namen: Musée national des arts africains et océaniens. Olagnier-Riottot war aufgrund ihrer vorherigen langjährigen Tätigkeit im Museum eine durchaus verständliche Wahl, zumal sie eine wichtige neue Sektion zum Maghreb etabliert hatte und auch weiterhin fortführte.422 Das MNAAO wurde erst Mitte der 1970er Jahre vollständig wiedereröffnet.423 Die damalige zeitweilige Direktorin Olagnier-Riottot äußert dazu: La réouverture tardive des salles témoigne de la difficulté d’adapter ce « musée palais » à une présentation cohérente des collections. Dès 1961, il apparaît « indispensable qu’une
Vgl. Brief des Direktors der Musées de France an Florisoone (03.04.1969), Archives Musée du Quai Branly, Fonds Musée national des Arts d’Afrique et d’Océanie, Série B – Administration générale DA000519/60789. 420 Trotzdem verblieben die entsprechenden Sammlungsteile in den Reserven des Museums und werden bei der Bestandsaufnahme durch die Kommission ‚Friedmann‘, die die Schaffung des MQB mit ermöglichte, als besonders umfangreicher Sammlungsteil wieder erwähnt. Vgl. Friedmann, Rapport de la commission „Arts premiers“, S. 4. Einsehbar unter: URL: http://www.ladocumentationfrancaise.fr/rap ports-publics/974042200/index.shtml (Zugriff 22.08.2016). Diese Sammlungsteile wurden dann in der Folge mit in die Sammlung des MQB aufgenommen, wobei in den Tätigkeitsberichten des neuen Immigrationsmuseums (CNHI/MNHI) ab 2011 wieder Anmerkungen zur Restaurierung und Rücknahme der Objekte durch die EP Palais de la Porte Dorée auftauchen. 421 Vgl. o. A. Michel Florisoone est mort, in: Le Monde (14.07.1973). 422 Vgl. Rapport d’activité du département des Arts Maghrébins – Réalisations en 1973, Archives Musée du Quai Branly, Fonds Musée national des Arts d’Afrique et d’Océanie, Série B – Administration générale DA001575/61207. 423 Vgl. Frapier, Pierre Meauzé et l’élaboration de la section „Arts Africains“ au Musée des Arts Africains et Océaniens, S. 37. 419
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transformation complète des salles dites exposition soit entreprise … cette transformation permettrait de faire une exposition permanente, rationnelle, didactique et artistique des objets.424
Olagnier-Riottot stellt hier ganz offen die Schwierigkeit dar, ein ‚musée palais‘, also einen ehemaligen Kolonialpalast, in eine völlig neue Institution zu verwandeln, die eine rationale, didaktische und vor allem ästhetische Präsentation der Objekte erlaubte. Dieser Prozess dauerte über zehn Jahre und war damit immer noch nicht völlig abgeschlossen. Die Öffentlichkeit hatte also erst ab Mitte der 1970er Jahre in Gänze Zugang zu der neuen Museumsstruktur mit den Sammlungsteilen: Art Africain bzw. Art Noir; Art du Maghreb; Art d’Océanie und Aquarium. Ab 1976 erschienen dementsprechend auch die ersten Beiträge des Museums zu der Reihe ‚Petits Guides des Grands Musées‘ der RMN (Réunion des Musées nationaux):425 Die 1976/77 erschienenen Ausgaben (Nr. 28, 29 und 18) thematisierten einzeln die Sammlungsteile ‚Art du Maghreb‘, ‚Art d’Afrique‘ und das Aquarium.426 Zur Abteilung Ozeanien gab es hier keinen Sonderführer. Allerdings erscheint eine weitere Ausgabe 1981 (Nr. 17), die alle Teile des Museums vorstellte und dabei unter der Leitung von M. Olagnier-Riottot herausgegeben wurde.427 Aus dem Abgleich verschiedener Darstellungen und unter Hinzunahme der grafischen Darstellung in der Ausgabe von ‚ABC Décor‘ von 1980 lässt sich folgende räumliche Aufteilung ableiten: Im erhöhten Erdgeschoss wurden in der ‚hall d’honneur‘ Sammlungsteile zu Afrika und Ozeanien ausgestellt, wobei der Teil zu Afrika eine eher synthetische Funktion hatte. Der Rest des erhöhten Erdgeschosses wurde dann Ozeanien gewidmet: Diese Sektion wurde später in Ozeanien und Australien aufgeteilt bzw. zusätzlich in Nouvelles Hébrides und Nouvelle-Guinée. In der Zwischenetage (oft als ‚premier étage‘ bezeichnet) findet man die Fortsetzung der Sammlung zu Afrika, aufgeteilt in ‚Afrique occidentale‘ und ‚Afrique centrale et orientale‘. Abschließend fand man im ersten Stock (Obergeschoss) die Kunst des Maghreb mit den drei Sammlungsteilen: Marokko, Tunesien, Algerien.428
M. Olagnier-Riottot zit. nach Frapier, Pierre Meauzé et l’élaboration de la section „Arts Africains“ au Musée des Arts Africains et Océaniens, S. 37. 425 Vgl. Hua, Régine, Les éditions de la Réunion des Musée Nationaux. Évolution, transformation, mutation?, Mémoire d’étude, École Nationale Supérieure des Sciences de l’Information et des bibliothèques 1992. URL: http://www.enssib.fr/bibliotheque-numerique/documents/62649-les-editions-de-la-reunion-des-mu sees-nationaux-evolution-transformation-mutationmemoire-d-etude.pdf (Zugriff 13.09.2017). 426 Vgl. RMN (Hrsg.), Petits Guides des Grands Musées: Musée national des arts africains et océaniens – art africain, Paris 1976 und RMN (Hrsg.), Petits Guides des Grands Musées: Musée national des arts africains et océaniens – L’Aquarium, Paris 1977, sowie RMN (Hrsg.), Petits Guides des Grands Musées: Musée national des arts africains et océaniens – art maghrébin, africain, océanien, Paris 1981. 427 Vgl. Petits Guides des Grands Musées: Musée national des arts africains et océaniens – art maghrébin, africain, océanien, 1981. 428 Vgl. u. a. o. A. Musée national des Arts Africains et Océaniens, in: ABC Décor No. 191 (septembre 1980), S. 13–18. 424
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Im Gegensatz zum in der Präsentation der Objekte vorherrschenden Prinzip der Inszenierung von ‚star objets‘, von Kunstwerken, überwog im Katalog die ethnologischdifferenzierte Darstellung und Kontextualisierung der Objekte. So ist bei der Darstellung der Sammlung in den verschiedenen Katalogen kennzeichnend, dass zuerst eine primär geografische und ethnische Verortung der jeweiligen Objekte stattfand: Ihre Herkunft und Zuordnung wurden klar benannt (teilweise ergänzt durch Datierungen). Auch die Rekonstruktion der ursprünglichen Bedeutung in der jeweiligen Kultur wurde einbezogen. Anschließend folgte man der malrauxschen Logik des ‚Musée imaginaire‘ und etablierte eine stilistische Charakterisierung der Objekte: Es ging hier um die möglichst exakte Beschreibung und Benennung eines Stils. Diese Stile sollten sichtbar gemacht werden und mit anderen Stilen verglichen bzw. die Einflüsse, die auf den Stil eingewirkt hatten, benannt werden. Allerdings ging man über den rein formalen Ansatz Malrauxs hinaus und knüpfte an diese Erläuterungen des Stils auch Beschreibungen der angewendeten Technik und des verwendeten Materials. Gleichzeitig wurden immer wieder ästhetische, künstlerische Aspekte der Objekte herausgearbeitet und betont. Besonders die gestalterische Freiheit der Urheber wurde immer wieder herangezogen. Zudem legte man besonderen Wert auf die namentliche Benennung des Künstlers, wenn dies möglich war – er sollte hier, soweit es ging, aus der Anonymität gehoben werden. Dieser Aspekt veranschaulicht die Strategie der Aufwertung über das Zugeständnis des Kunststatus und der folgerichtigen Benennung und Präsentation des Autors als ‚Künstler‘ mit einer Identität. Insgesamt wird deutlich, dass man sich einerseits eben nicht als reines Kunstmuseum verstand, das dem einzelnen Objekt als Unikat isoliert von seinem Entstehungszusammenhang huldigte. Vielmehr wollte man über eine zusätzlich differenzierte Kontextualisierung das Verständnis dieser Kulturen fördern und einer eindimensionalen Wahrnehmung vorbeugen. Andererseits war man stark um die Aufwertung und Emanzipation der fremden Kulturen durch die Ästhetisierung ihrer Erzeugnisse und die Inszenierung als ‚kunstschaffend‘ bemüht. Der erste Aspekt der differenzierten Vermittlung und Darstellung spiegelte sich vor allem in den zusätzlichen Maßnahmen von Museumsseite, die darauf zielten, das Haus besser in der Museumslandschaft zu verorten und mehr Publikum anzuziehen. Man konzipierte spezielle pädagogische Begleitblätter für das große Publikum, die Grundkenntnisse zu den verschiedenen Kulturen und ihren Kunstformen vermitteln sollten. Zudem bahnte man spezielle Kontakte mit der École du Louvre und den Universitäten an, um den professionellen Nachwuchs für solche Museen zu fördern, aber auch um Konferenzen und andere Veranstaltungen organisieren zu können und damit stärker die aktuelle Forschung einbeziehen zu können. Weiterhin versuchte man das Angebot auf Filmvorführungen auszuweiten, die Sammlung medial zu begleiten und Kontakte mit anderen Museen im In- und Ausland zu knüpfen, vor allem über die Organisation von externen Ausstellungen. Inwiefern dieses umfangreiche Programm tatsächlich umgesetzt wurde, ist nur in Teilen zu beantworten, die externen Ausstellungen und Kontakte zu anderen Institutionen scheint es beispielsweise durchaus gegeben zu
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haben sowie auch die Zusammenarbeit mit der École du Louvre. Allerdings bleibt unklar, inwiefern dieses Engagement breitenwirksam wahrgenommen wurde. Die Besucherzahlen werden in diesem Bericht mit 300 000 jährlich angegeben,429 was durchaus einen signifikanten Unterschied zu den Besucherzahlen Ende der 60er Jahre, die um 120 000 und dann sogar nur noch um 90 000 lagen, darstellt. Offensichtlich wurde das MAAO in seinem neuen Gewand wahrgenommen und zahlreich von Besuchern frequentiert. Es ist anzunehmen, dass die genannten Ansätze einer neuen, differenzierten Vermittlungsstrategie, die es in dieser Form zuvor noch nie gegeben hatte, dazu beigetragen haben. In dieser Phase und mit dieser Strategie wurde nun ein völlig anderes Bild des ‚postkolonialen Anderen/Fremden‘ vertreten: Statt sich in einer klar gedachten Hierarchie wie zuvor im MFOM einfach von den fremden, als primitiv beurteilten Kulturen abzugrenzen, wollte man nun das Verständnis der Komplexität und Spezifik dieser fremden Kulturen und ihrer Erzeugnisse in den Vordergrund rücken. Man wollte sie dem Publikum differenziert präsentieren und über die Anerkennung der Länge und des Alters der thematisierten Traditionen, Herstellungsweisen, Rituale etc. einer eindimensionalen Wahrnehmung entgegenwirken. Es waren nun keine eroberten und unterworfenen Kulturen mehr, die man in die eigene Eroberungsgeschichte und die dazugehörigen Fantasien eines fernen exotischen, aber zurückgebliebenen, unterlegenen Paradieses inkorporierte. Ganz im Gegenteil: Die französischen Besucher sollten das Fremde in all seiner Eigenheit und Komplexität kennen- und verstehen lernen. Dabei sollten die fremden Kulturen durch die Hervorhebung der Ästhetik ihrer ausgestellten Erzeugnisse und dem damit verbundenen Zugeständnis, dass sie Kunst im westlichen Sinne erzeugten, aufgewertet und den eigenen, westlichen Kunstwerken und Künstlern an die Seite gestellt werden. Dass man aber lediglich auf einer anderen Ebene (der der Kunst), mit einer anderen Sprache (einem wohlwollend anerkennenden, aufwertenden Diskurs) die eigene Besitz- und Deutungshoheit fortschrieb, blieb unbeachtet. 1.3b
Wiedergeburt und Ablehnung des eigenen kolonialen Erbes: Die Zerreißprobe des MAAO unter Henri Marchal
Henri Marchal verkörperte als einer der am längsten amtierenden Chefkonservatoren in besonderem Maße die innere Spannung, die das MAAO als Institution ab den 1980er Jahren dominierte. Zum einen gab es viele Ansätze für einen innovativen Neuanfang, der dem MAAO eine eigene Identität als Kunstmuseum verschaffen konnte. Anderseits blockierte man sich in der Institution durch die dauerhafte Weigerung, sich
Vgl. Rapport 1978, Archives Musée du Quai Branly, Fonds Musée national des Arts d’Afrique et d’Océanie, Série B – Administration générale DA001537/61430. 429
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mit der eigenen kolonialen Vergangenheit auseinanderzusetzen, zunehmend selbst. Marchal übernahm 1979 von M. Olagnier-Riottot das Amt des Chefkonservators. Er war in Marokko geboren und studierte in der Folge u. a. an der École du Louvre, wo er sich auf islamische Kunst spezialisierte.430 In einem recht ausführlichen Artikel, der 1980 in Le Monde erschien, äußerte Marchal offen seine Sicht auf die Problematik des Museums.431 Dabei wurde in diesem Rahmen offenbar auch schon von außen, durch die Presse, die koloniale Vergangenheit des Ortes bzw. Gebäudes als schwieriger Bestandteil des zeitgenössischen Images des Hauses problematisiert. In diesem Zusammenhang wurde zwar betont, dass das Museum immerhin jährlich 300 000 Besucher empfange, dies wird aber durch Marchal relativiert, der klarstellt, dass ein Großteil der Besucher lediglich das Aquarium besuche. Es wird außerdem erwähnt, dass sich immer noch alte Sammlungsteile der Vorgänger-Museen im Hause befänden, auch wenn viele Stücke bereits an andere Museen abgegeben432 und im Gegenzug zahlreiche Neuerwerbungen zwecks der Anpassung an die Neuausrichtung des Museums angeschafft worden seien. Hier findet erneut Jean Guiart mit seinen Erwerbungen für die Sektion Ozeaniens Erwähnung. Trotz dieser Veränderungen bleibt für Marchal das Haus generell ambivalent: Le premier souci de M. Marchai [sic] reste l’image du Musée dans le public, car, dit-il, « celle-ci est ambiguë, dans la mesure où le souvenir de l’Exposition coloniale reste vivace … ». Pour M. Marchal, « il faut décoloniser l’image du Musée dans l’opinion publique parce que celui-ci est désormais sans aucun rapport avec l’ancien Empire. Mais en acceptant précisément ce bâtiment et en choisissant d’y abriter les arts africains et océaniens, André Malraux a perpétué l’ambiguïté, parce qu’il y a eu coïncidence dans le temps entre la décolonisation et la constitution du nouveau musée ».433
Für Marchal blieb trotz der bereits vollzogenen Veränderungen immer noch das alte ‚koloniale‘ Image des Museums in der öffentlichen Wahrnehmung erhalten: Wie schon in den 1960er Jahren assoziierte das Publikum das Gebäude mit der großen Kolonialausstellung und einem nostalgischen Bild des Empire. Der Palais war nach wie vor ein Lieu de mémoire des Empire. Für Marchal galt es daher, das Image des Museums zu dekolonisieren, was sich für ihn angesichts des Gebäudes und des Zeitpunktes der
In der Folge war er als Konservator im Louvre sowie auch in verschiedenen französischen Kulturzentren im Ausland (u. a. in Bagdad) tätig. Man entschied sich also hier erneut für einen Spezialisten auf dem Gebiet außereuropäischer, islamischer Kulturen. Vgl. Marchals Lebenslauf auf der Seite der Académie des Sciences d’outres mers, bei der er seit 2008 Mitglied ist: http://www.academieoutremer.fr/academiciens/ fiche.php?aId=254 (Zugriff 07.07.2016). 431 Vgl. Decraene, Philippe, Difficultés et ambiguïté d’une décolonisation, in: Le Monde (24.04.1980). 432 Als Beispiel kann der ‚Brazza-Fonds‘ benannt werden, der in den Vorgänger-Museen noch recht bedeutend war, nun aber an das Marinemuseum abgegeben wurde: Vgl. o. A. Un Fonds Brazza, in: Le Monde (03.03.1980). 433 Decraene, Difficultés et ambiguïté d’une décolonisation. 430
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Umwandlung in ein Kunstmuseum während der großen Welle der Dekolonisation als äußerst schwierig darstellte. Er warf hier Malraux vor, mit dieser abrupten, überstürzten Umwidmung die Ambiguität des Ortes verstärkt zu haben. Allerdings bedeutete für Marchal ‚Dekolonisierung‘ in diesem Zusammenhang keinesfalls, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen oder diese in die Institution zu integrieren, vielmehr habe das heutige Museum nichts mit dem Empire zu tun. Das müsse man jetzt auch so dem Publikum vermitteln.434 Dass immer noch ein Großteil der ausgestellten ‚Kunstwerke‘ kolonialen Erwerbszusammenhängen entsprang, schien dabei keine Rolle zu spielen. Marchal steht damit für das in dieser Zeit vorherrschende Bedürfnis im MAAO, den ‚kolonialen Schatten‘ ein für alle Mal abzuschütteln. Man wollte schlichtweg mit diesem Teil der Vergangenheit nichts zu tun haben. Dass der Ort mit seiner Bildsprache und die Sammlung mit ihren Objekten jedoch unweigerlich immer wieder dieses Kapitel aufscheinen ließen und beim Publikum die Assoziation der Kolonialausstellung von 1931 wachriefen, wurde nur als unliebsamer Störfaktor, nicht als ernst zu nehmendes Problem begriffen. Diese Missachtung und Tabuisierung der eigenen Vergangenheit erschien dem Autor des zitierten Zeitungsartikels bemerkenswert. Er wunderte sich darüber, dass im MAAO alles, was mit der kolonialen Vergangenheit des Gebäudes in Zusammenhang stand, offenbar missachtet, ja verborgen wurde und es fast so schien, als wolle man die koloniale Vergangenheit auslöschen. Der Autor äußert in diesem Rahmen sein Bedauern darüber und formuliert die Idee für ein neues französisches Überseemuseum. Insgesamt wird die hier herausgearbeitete Wahrnehmung verschiedener Akteure, die das Museum zwischen einer problematischen Vergangenheit und einer dramatischen Neuorientierung, in einem andauernden ambivalenten Prozess der Umformung sahen, die Institution bis zu ihrer Schließung 2003 maßgeblich prägen. Zu Beginn der Amtszeit Marchals hingegen schien sich nichts grundsätzlich an der Ausrichtung des Museums und an seinem Zustand im Vergleich zur Amtszeit seiner Vorgängerin geändert zu haben.435 Der thematische Fokus auf Afrika und Ozeanien blieb erhalten, die Sammlungsaufteilung im Museum wurde beibehalten. Selbst die etwaigen Instandsetzungs-, Inventarisierungs- und Umstrukturierungsmaßnahmen, die Das problematische Image des Museums als ehemaligem Kolonialpalast wird wenig später erneut von Marchal selbst in Le Monde aufgegriffen, anlässlich des Jubiläums der Exposition coloniale internationale von 1931, an dessen Feierlichkeiten auch das MAAO teilnahm. Marchal äußert in seinem Artikel, dass den meisten der Besucher immer noch nicht klar sei, dass das MAAO seine Vorgänger vollständig ersetzt habe und nun eine neue Ausrichtung verkörpere. Vgl. Marchal, Henri, Musée, in: Le Monde (04.01.1982). Auch in einem Artikel von 1990 beklagt Marchal, dass die Wandlung des Museums, seine Umorientierung und Neuausrichtung, vom Publikum nicht wirklich verstanden würde. Vgl. Marchal, Henri, L’avenir d’un musée, in: Histoire de l’Art No. 11 (1990). S. 87–89. S. 87. Auf die hier erkennbaren Einstellungen und Überzeugungen Marchals bezüglich des Museums wird später noch eingegangen. 435 Der Jahresbericht von 1981 konstatiert dementsprechend keine besonderen Vorkommnisse. Vgl. Rapport d’activité pour l’année 1981, Archives Musée du Quai Branly, Fonds Musée national des Arts d’Afrique et d’Océanie, Série B – Administration générale DA001537/61433. 434
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teilweise seit 1977 liefen, setzten sich fort und scheinen dauerhaft das Bild des MAAO in der Öffentlichkeit geprägt zu haben. Das Museum befand sich also auch jetzt noch in einem relativen Übergangsstadium. Der 1987 unter Henri Marchal herausgegebene, recht ausführliche ‚Guide‘ des MAAO legt nahe, dass die ursprüngliche Aufteilung in „deux continents, l’Afrique et l’Océanie; trois aires culturelles, le Maghreb, les civilisations sub-sahariennes […] et les archipels du Pacifique du Sud“ beibehalten wurde.436 Entgegen der Position Marchals, der sich immer dafür einsetzte, das MAAO in seiner Wahrnehmung von der Vergangenheit zu lösen, thematisierte der Guide recht umfangreich die Vergangenheit des Gebäudes und seine ursprüngliche Funktion sowie die Rolle des Aquariums, bevor die zeitgenössische afrikanische Sektion an sich vorgestellt wird.437 Die einleitenden Worte Marchals zur ‚vocation‘ des Museums scheinen zu Beginn auf eine kritische Reflexion der eigenen Vergangenheit im Hinblick auf die zeitgenössische Institution hinzudeuten. Schließlich spricht Marchal von einer gewissen Kontinuität der Institutionen im Palais de la Porte Dorée.438 Jedoch schließt er nach seiner kurzen Darstellung der Geschichte des Palais mit der Feststellung, dass man nun einen ‚regard nouveau‘ auf diese ‚fremden‘ Kulturen werfe, der nichts mehr mit dem des ‚Abenteurers von damals‘ zu tun habe.439 Diese Art der Darstellung erlaubte es, den Ort und seine unliebsame Vergangenheit als abgeschlossenes historisches Kapitel auf Distanz zu halten und sich davon abzugrenzen. Dies wird auch von der auf Marchals Einführung folgende ausführlichere Darstellung der Geschichte des Palais als ‚Denkmal‘ untermauert. Diese Darstellung findet sich bereits in den ‚Guides‘, die unter Olagnier-Riottot herausgegeben worden waren, und deutet den Palais klar als ‚témoin d’une époque‘ einer vergangenen Epoche. Hier wird also durchaus die koloniale Vergangenheit des Hauses explizit einbezogen, allerdings nur, um sich in der Folge besonders klar und eindeutig von ihr abzugrenzen. ‚Die dunkle koloniale Vergangenheit‘ übernimmt gleichsam die Funktion eines ‚historisch Anderen/Fremden‘, von dem man sich mit seiner neuen ‚Wir-Identität‘ als Kunstmuseums distanzieren möchte. Die folgende Darstellung der Sektion ‚Afrika‘ ist in die Abschnitte ‚AOF‘ und ‚AEF‘ aufgeteilt – die Struktur der Präsentation folgt dementsprechend geografischen und Allerdings geht dieser ‚Guide‘ nur auf den afrikanischen Teil der Sammlung des MAAO ein. Marchal äußert hier den Plan, dass für die ozeanischen Sammlungsteile sowie für den Maghreb gesondert ähnliche Kataloge gestaltet werden mögen, was aber augenscheinlich nie umgesetzt wurde Vgl. Marchal, Henri, La vocation du musée, in: RMN (Hrsg.), Musée national des arts africains et océaniens. Guide, Paris 1987. S. 9–11. S. 10. 437 Vgl. Bouché, Catherine, Historique et architecture, in: RMN (Hrsg.), Musée national des arts africains et océaniens. Guide, Paris 1987. S. 12–35 und Hignette, Michel, L’Aquarium Tropicale, in: RMN (Hrsg.), Musée national des arts africains et océaniens. Guide, Paris 1987. S. 36–51. Marchal hatte oft betont, dass verkannt würde, welchen Funktionswechsel das Museum durchgemacht habe und dass das aktuelle MAAO keinerlei Verbindung mehr zu den Vorläufer-Institutionen habe. 438 Vgl. Marchal, La vocation du musée, S. 9. 439 Vgl. ebd. S. 11. 436
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ethnischen Zugehörigkeiten.440 Das entspricht auch der Vorgehensweise unter Olagnier-Riottot. Es wird aber in diesem Zusammenhang explizit betont, dass die Hauptkriterien für die Auswahl der Objekte ihre Authentizität und ihre rituelle Funktion in der jeweiligen Kultur seien. Dies scheint mit Blick auf das Image als Kunstmuseum, das von Marchal selbst immer wieder betont wurde, erstaunlich. Offenbar ist das ästhetische Kriterium nicht das primäre. Colette Noll streicht heraus, dass die Funktion und Herkunft der Objekte essenziell seien, wie auch die originale Autorenschaft – das ästhetische Kriterium wird hier also eindeutig als sekundär begriffen, obwohl auch sie durchgängig von ‚arts africains‘ spricht. Zudem wird beschrieben, dass man versuche, die Sichtweise und Beurteilung der Objekte durch die Ursprungskulturen selbst zu beachten.441 Der bereits zuvor mehrfach herausgearbeitete Spagat, den das MAAO vollzog, hatte mittlerweile zur Ausbildung eines ‚Misch-Typs‘ des ethnologischen und des Kunstmuseums außereuropäischer Kulturen geführt. Einerseits bemühte man sich, die Objekte einzeln, als Kunstwerke oder auch ‚star objects‘,442 zu präsentieren, die im Sinne Malrauxs vor allem über ihre Form zu rezipieren waren. Andererseits versuchte man, ihre Herkunft und Funktion genau zu rekonstruieren und die Perspektive ihrer Ursprungskulturen einzunehmen. Der hier eingenommene, einerseits ethnologische, andererseits ästhetische Blick führte zur (Re-)Etablierung einer neokolonialen Aneignungshaltung, die unter dem Deckmantel der Aufwertung und Emanzipation die Klassifizierung, Kategorisierung, Bestimmung und Interpretation der fremden Kulturen nach wie vor nach westlichen Maßstäben vornahm. Das Innovationspotenzial des MAAO: Die erste große Ausstellung ‚Musée imaginaire de l’Océanie‘ 1985 und ihre Nachfolger Aus dieser ambivalenten Rolle des Hauses heraus und mit dem Bewusstsein, dass für viele der Palais immer noch mit seiner vormaligen Funktion als Kolonialmuseum verbunden war, wollte Marchal verstärkt die neue Funktion des Hauses als Museum für außereuropäische Kunst vermitteln und ausbauen. Dies sollte vor allem durch Kontakte in die Ursprungsländer und einen kulturellen Austausch passieren. Daher sorgte er für die Schaffung des sogenannten ADEIAO – der Association pour le développement des échanges interculturels au musée des arts d’Afrique et d’Océanie. Diese Institution wurde 1984/85 mit Unterstützung durch die Direction des Musées de France (DMF)
Vgl. Noll, Les Arts africains, S. 61 ff. Diese Bemerkung erscheint deshalb seltsam ambivalent, weil die Ursprungskulturen hier von vornherein ganz sicherlich nicht von ‚Arts‘/‚Kunst‘ gesprochen hätten. Vgl. Vogel, Introduction, in: ART/artifact. 442 Sherman, French Primitivism and the ends of Empire, S. 99. 440 441
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und die Réunion des Musées nationaux (RMN) gegründet.443 Dabei waren zwei Aktionspole für diese neue Säule des MAAO vorgesehen: Sie sollte zum einen durch kreative Ateliers, in denen in einer Art Workshop zu verschiedenen Themen gearbeitet werden konnte (z. B. Kalligraphie; Maghreb), Besucher anziehen. Zum anderen sollte sie konkret kulturelle Veranstaltungen aller Art organisieren, vor allem auch Wechselausstellungen für das MAAO.444 Die Wechselausstellungen stellten damit eine Möglichkeit dar, in Kontakt mit den außereuropäischen Ländern selbst zu treten und sie an der Konzeptualisierung zu beteiligen. Zudem konnte sich das MAAO damit stärker als Ausstellungsort für aktuelle Kunst aus den modernen außereuropäischen Kulturen (vor allem dem Maghreb, Schwarzafrika und Ozeanien) positionieren. Das ADEIAO wurde daher zu einem wesentlichen Pfeiler des Museums, der den Pol der Innovation im Haus, die Wechselausstellungen, maßgeblich gestaltete und umsetzte. Damit wurde ein großes Manko des Museums aufgebrochen:445 Schließlich hatte das Museum seit seiner Umfunktionierung und damit seit den 1960er Jahren keine Wechselausstellungen mehr in den eigenen Räumen organisiert. Die erste Ausstellung, die von der ADEIAO mit unterstützt wurde, war auch gleichzeitig die erste Wechselausstellung des MAAO seit den 1960er Jahren: Sie wurde 1985 unter dem Titel ‚Musée imaginaire de l’Océanie‘ eröffnet. Hier wurde auch gleich emblematisch der neue Austausch mit den außereuropäischen Kulturen demonstriert. So wurde sie ursprünglich nicht vom MAAO selbst initiiert und konzipiert, sondern vom Conseil des Arts du Pacifique, der alle vier Jahre ein Festival der Kunst Ozeaniens veranstaltet hatte.446 Anlässlich dieses Festivals sollte 1984 die Ausstellung in Neukaledonien, in Nouméa, gezeigt werden, was aufgrund der schwierigen politischen Verhältnisse aber nicht zustande kam.447 Das französische Kulturministerium setzte sich daher in der Folge dafür ein, dass die Ausstellung in Paris unter Schirmherrschaft des Präsidenten Mitterrand stattfinden konnte. Diese Ausstellung kann in vielerlei Hinsicht als Vgl. Albaret, Lucette / Balta, Paul, Introduction, in: ADEIAO (Hrsg.), Art contemporain d’Afrique et d’Océanie. ADEIAO 1984–1994, Paris 1995. 444 Vgl. u. a. Développement du Musée national des arts africains et océaniens, Archives Musée du Quai Branly, Fonds Musée national des Arts d’Afrique et d’Océanie, Série B – Administration générale DA001537/61425. 445 Wie aus der Zusammenfassung in dem Überblicksband „Art contemporain d’Afrique et d’Océanie. ADEIAO 1984–1994“ hervorgeht, wurden die Räume, die eventuell für Wechselausstellungen hätten genutzt werden können, entweder als Depot genutzt oder waren in einem zu schlechten baulichen Zustand. Vgl. Albaret/Balta, Introduction, in: Art contemporain d’Afrique et d’Océanie. ADEIAO 1984–1994. 446 Es handelt sich dabei um ein Kunst- und Kultur Festival, das 1972 auf Fidji das erste Mal stattfand und zur Bewahrung und Konstruktion eines pazifischen Kunst- und Kulturraumes im Zuge der Dekolonisation beitragen sollte. Es findet seitdem alle vier Jahre statt und wird jeweils in einem der drei geografischen Kulturbereiche Melanesien, Mikronesien und Polynesien veranstaltet. Der hier benannte ‚Conseil des Arts du Pacifique‘ ging aus dem ersten Organisationskomitee von 1972 hervor. Vgl. Brown, Peter, Le Festival des Arts du Pacifique, in: Hermès, la Revue, No. 65 (1/2013). S. 162–164. 447 Vgl. Beyer, Victor, Avis au visiteur, in: Musée national des arts africains et océaniens (Hrsg.), Musée imaginaire des Arts de l’Océanie, Paris 1985. 443
Vom Musée de la France d’outre-mer zum Musée des arts africains et océaniens
maßgebliches Modell gesehen werden, das das Innovationspotenzial, das im MAAO durchaus vorhanden war, veranschaulichte. So hatten die Planung und Gestaltung der Ausstellung zu einem nicht unbedeutenden Teil die ozeanische Seite übernommen – sie waren somit nicht mehr nur die Urheber von ästhetischen Erzeugnissen, die ‚passiv‘ im Westen ausgestellt wurden, sondern hatten nun als Kulturraum selbst Einfluss auf die Auswahl der Objekte, ihre Inszenierung und Kontextualisierung. Mit dem Interview von Jean-Marie Tjibaou, der von ozeanischer Seite die Ausstellung mit geplant hatte, wird dabei eine deutlich kritische Note in die Auseinandersetzung mit den Objekten in dieser Ausstellung getragen: Les cultures océaniennes ont cessé d’être elles-mêmes avec la colonisation et sont toujours dominées par des influences étrangères qui tendent à les réduire ou tout au moins à les marginaliser ou les folkloriser. Que peut-on tirer de ces vieux morceaux de bois, traces de cultures mortes déjà pour certaines ? Je crois profondément qu’ils sont des points de repères dans un environnement encombrés [sic] d’éléments qui nous sont extérieurs. Ils constituent les aspects apparents du schéma d’identification propre aux personnes de cette culture. Une crise d’identité est toujours liée à la dispersion de ces points de référence matériels qui, avec d’autres, permettent la construction de la personne. Aussi, la crise du sens dans une société provient de l’éclatement des schémas d’identification et aboutit même à ce que les personnes les vivent comme gênants et encombrants.448
Tjibaou macht hier deutlich, welche vernichtende Auswirkung der Kolonialismus auf die ozeanische Kultur und Identität gehabt hat. Gleichzeitig macht er die ambivalente Rolle der materiellen Reste dieser an sich ‚vernichteten‘ ozeanischen Kultur klar: Sie sind einerseits für manche Rezipienten bereits bedeutungslos und sinnentleert, gleichzeitig sind sie andererseits die einzigen Bezugspunkte für eine mögliche neue ozeanische Identität. In Anbindung an die offene Thematisierung der kritischen Aspekte, die mit dem Erwerb der Objekte und den Ursprungskulturen in Bezug auf die Kolonialisierung verbunden sind, ist zu vermuten, dass in diesem Ausstellungsprojekt explizit von ‚Kunstwerken‘ im Sinne einer Anerkennung und damit auch einer symbolischen Wiedergutmachung gesprochen wird,449 obgleich mehrfach in den Katalogtexten, u. a. vom französischen Kurator Victor Beyer, aber auch von Jean Guiart aus dem MAAO, reflektiert wird, dass diese Objekte nur in einem sehr weiten Kunstverständnis als Kunstwerke bezeichnet werden können bzw. berücksichtigt werden muss, dass sie nicht ursprünglich als Kunstwerke entstanden seien. Guiart verdeutlicht darüber hinaus die ethnozentrische Perspektive, die hinter dieser Einstufung als ‚Kunstwerk‘
Questions à Jean-Marie Tjibaou, Heft zur Einführung, in: Musée national des arts africains et océaniens (Hrsg.), Musée imaginaire des Arts de l’Océanie, Paris 1985. Bibliothèque des Arts décoratifs, Cote BA 92/6. 449 Vgl. Beyer, Victor, Avis au visiteur, in: Musée national des arts africains et océaniens (Hrsg.), Musée imaginaire des Arts de l’Océanie, Paris 1985. 448
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steckt. Gleichzeitig trägt man in der konkreten Ausstellungsumsetzung offenbar dieser Problematik Rechnung: Die Anbindung der Objekte an ihren praktischen Verwendungszusammenhang, ihren sozialen Kontext und ihre originale Bedeutung werden zum Leitmotiv der Ausstellungsstruktur: ‚l’objet et les Morts; l’objet et l’échange cérémoniel; l’objet et le mythe; etc.‘. Begrifflich wird sich hier also auf das neutrale ‚objet‘/ ‚Objekt‘ verlagert und nicht vom Kunstwerk gesprochen. Das MAAO ließ in dieser Ausstellung einen deutlich kritischen Ansatz, der den Kolonialismus offen als Bezugspunkt und Problemquelle des westlichen Umgangs mit den außereuropäischen Kulturen und ihren Erzeugnissen nennt, zu. Die Stimme der eigentlichen Urheber und Besitzer der im MAAO ausgestellten Objekte wurde Teil der Konzeption und Umsetzung. Gleichzeitig wurde man sich dabei der problematischen Seite des Versuchs der Aufwertung durch Ästhetisierung bewusst: Dies spiegelte sich explizit sowohl in der Reflexion über den Kunstbegriff im Katalog als auch über die Verwendung des Begriffs ‚objet‘ in der Ausstellung. Dieser stark innovative Aspekt wurde allerdings von dem Versuch begleitet, die Ausstellung auch in die Vorstellungen und Konzepte des MAAO einzuordnen und sie sich damit zu eigen zu machen. So stellte dieses Ausstellungsformat in den Augen von Ausstellungsmacher Victor Beyer eine moderne Umsetzung des malrauxschen Konzepts des imaginären Museums dar, schließlich seien hier Werke vereint worden, die unter Beteiligung von sieben okzidentalen Ländern zusammengestellt werden konnten und teilweise so noch nie zusammengeführt worden seien.450 Außerdem betont der Katalog die Anerkennungsleistung dieser Ausstellung, die bislang häufig vom Kunstbetrieb missachtete Werke zeige, die oft nur als vage ‚exotisch‘ eingestuft würden, ohne ihrer Spezifik Rechnung zu tragen. Die ausgestellten Objekte wurden, obwohl sie auch als Zeichen einer sozialen und spirituellen Lebenswelt verstanden wurden, als Kunstwerke betrachtet. In der konkreten Umsetzung der Ausstellung bedeutete dies, dass in insgesamt neun thematischen Sektionen versucht wurde, verschiedene Objekte in einen inhaltlichen bzw. symbolischen Zusammenhang einzuordnen und damit Orientierung zu schaffen. Sie sollten dazu dienen, die Inspirationsquelle des jeweiligen Objekts zu verdeutlichen. Daher wurden sie um die Themen gruppiert, die für diese Kultur essenziell waren. Laut dem Katalog dient als Oberthema und genereller roter Faden das Thema ‚Tod‘.451 Jean-Marie Tjibaou erläutert die Herkunft und Auswahl der Objekte: Sie stammen aus den großen europäischen und nord-amerikanischen Museen und repräsentieren die charakteristischen Objekte der jeweiligen Kulturen Ozeaniens, die in Nouméa vertreten werden sollten. Hier wird damit das ursprünglich noch deutlich stärker innovative Konzept der Ausstellung klar: Man wollte von ozeanischer Seite Objekte aus westlichen Museen zurück in die ‚Heimat‘ holen, um sie nun an ihrem eigentlichen Vgl. ebd. Vgl. Boulay, Avant-propos, in: Musée national des arts africains et océaniens (Hrsg.), Musée imaginaire des Arts de l’Océanie, Paris 1985. 450 451
Vom Musée de la France d’outre-mer zum Musée des arts africains et océaniens
Ursprungsort ausstellen und ehren zu können. Man wollte gleichsam einen emanzipierenden Akt vollziehen, der es erlaubte, der eigenen kulturellen Stimme eine gewisse Autorität gegenüber dem Westen und seinen Kulturinstitutionen zu verleihen. Dieser Aspekt ging durch die Verlagerung nach Paris teilweise verloren, trotzdem bemühte man sich, die ursprüngliche Planung in Nouméa in den Katalog und die Umsetzung mit einzubeziehen. Dadurch wird ein weiterer Aspekt des imaginären Museums nach Malraux integriert: Nicht alle Objekte werden, wie ursprünglich vorgesehen, gezeigt, daher gibt man sie in einer alternativen Komposition als Fotografien wieder – eine Technik, die bereits Malraux verwandte.452 Die Problematik, aber auch das Potenzial, die in dieser Ausstellung steckten, werden in einem begleitenden Text des Katalogs zusammengefasst: L’œuvre d’art océanien présentée au musée, isolée dans sa vitrine, est coupée à la fois de ses racines culturelles et du réseau des significations qui l’explique. Là où les Européens tendent à ne voir que des objets esthétiquement analysables, les artistes océaniens recherchent avant tout l’adéquation de leur expression figurative aux conceptions et aux valeurs qu’elle exprime.453
Zum ersten Mal wurde innerhalb des MAAO damit in dieser Ausstellung offen über die Problematik des Kolonialismus in Verbindung mit dem aktuellen westlichen Umgang mit diesen Objekten und ihrer Bedeutung aus Sicht der Ursprungskulturen gesprochen. Dabei standen die Zerrissenheit der ozeanischen Identität, die durch den Kolonialismus eingeleitet wurde und teilweise bis heute durch die damit einhergehende Entfremdung von der eigenen Kultur spürbar war sowie die Fortsetzung neokolonialer Inbesitznahmen durch die Kategorisierung als ‚Kunst‘, die in westlichen Museen gezeigt wurde, im Fokus. Parallel konnte man sich jedoch, besonders von französischer Seite nicht vom Reiz des malrauxschen ‚Musée imaginaire‘ freimachen: Die Zusammenführung noch nie in Frankreich gezeigter ‚Kunstschätze‘ aus Ozeanien im MAAO übte eine große Faszination aus und spiegelte doch zugleich ein Stück weit das price’sche Stereotyp des „die Welt gehört uns“ wider. Wichtig für diese innovative und kritische Ausstellung war, dass sie eine relativ große Medienaufmerksamkeit erreichte und damit eine gewisse Wirkmacht entfaltete, die sogar die politische Realität in Nouméa mit nach Frankreich trug.454
Vgl. dazu die Ausführungen von Walter Grasskamp. o. A. L’œuvre d’art océanien, in: Musée national des arts africains et océaniens (Hrsg.), Musée imaginaire des Arts de l’Océanie, Paris 1985. 454 Diese erste große Ausstellung des MAAO wird interessanterweise in Le Monde breit und mehrfach thematisiert. Betont wird zum einen die relativ spektakuläre Einweihung durch Kulturminister Jack Lang und den bereits erwähnten J. Tjbaou. Man spricht zum anderen auch von einer ‚doppelten‘ Einweihung, da Dick Ukeiwé, der Präsident der Territorialregierung getrennt von Lang und Tjbaou erschien. Tjbaou und Ukeiwé standen jeweils für zwei unterschiedliche politische Gruppen, die sich in Nouméa unversöhnlich gegenüberstanden. Es ging 1985 um die Frage, ob Neukaledonien bei Frankreich verbleiben sollte oder 452 453
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Von der Exposition coloniale internationale bis zur Schließung des MNAAO
Kontinuierliche Wechselausstellungen ab 1985: Reflexion, Dekonstruktion und Ästhetisierung Für das MAAO bedeutete die Ausstellung insgesamt zum einen den Beginn der avisierten Zusammenarbeit mit außereuropäischen Ländern zum Zweck des Austauschs von Werken. Zum anderen begann nun wieder eine Phase der kontinuierlichen Dauerausstellungen. Sie erscheinen vor allem deshalb zentral, weil sie einerseits den innovativen Charakter der Ausstellung zu Ozeanien erbten und weitertrugen: Sie stellten in der Folge eine wichtige Möglichkeit für das MAAO dar, eine legitime Identität als modernes, bisweilen zeitgenössisches Museum für außereuropäische Kunst zu entwickeln. Dabei versuchten sie im Sinne des ‚Musée imaginaire de l’Océanie‘, den Einfluss des Kolonialismus offenzulegen, stereotype Wahrnehmungen durch differenzierte Darstellungen aufzubrechen sowie die Kulturen selbst sprechen zu lassen. Andererseits spiegelten sie auch in Teilen den problematischen Fortbestand westlicher Besitz- und Deutungshoheit. So tauchten hier im Gewand der Aufwertung durch Ästhetisierung auch immer wieder paternalistisch- humanisierte neokoloniale Positionen auf. Das ADEIAO begleitete einen Großteil der Ausstellungen organisatorisch und museumspädagogisch. So wurden zu einigen Ausstellungen die sogenannten ‚Cahiers de l’ADEIAO‘ herausgegeben, die die jeweilige Ausstellung dokumentierten. Zudem erwarb das ADEIAO auch Werke aus Ausstellungen, sodass das MAAO potenziell auf lange Sicht um eine Abteilung für zeitgenössische Kunst hätte erweitert werden können. Dass dies nicht umgesetzt wurde, hatte auch mit der Tatsache zu tun, dass 1996/97 das ADEIAO ausgelagert wurde und damit seine institutionelle Zugehörigkeit, seinen Namen und seinen Standort änderte.455 nicht. Anlässlich der Unruhen im Jahr 1985 gerieten diese Gruppen aneinander. So wurden hier die politischen Hintergründe aus Nouméa in das MAAO getragen und überschatteten die Eröffnung. Vgl. Scheidermann, Daniel, Deux inaugurations pour un „musée imaginaire“, in: Le Monde (20.04.1985), sowie Vgl. Edelmann, Frédéric, Les „Arts de l’Océanie“ à Paris. Un continent sans masque, in: Le Monde (24.04.1985). Ein weiterer Artikel bewertet unter dem Titel „Éveil d’un musée“ diese Ausstellungsinitiative als positiv, gleichzeitig wird betont, dass das Museum Schwierigkeiten habe, sich von seinem ‚kolonialen Schatten‘ zu lösen. Vgl. Durand-Souffland, S., Éveil d’un musée, in: Le Monde (01.08.1985). 455 Interessant erscheint in diesem Zusammenhang die Äußerung von Eidelman et al., dass sich allmählich zwischen dem herkömmlichen Museumspersonal des MAAO und den Mitarbeitern des ADEIAO eine Konkurrenzsituation herausgebildet habe. Vgl. Eidelman/Monjaret/Roustan, MAAO, mémoire d’une organisation, S. 104. Nach seinem Auszug befand sich das ADEIAO in der Maison des sciences de l’Homme und wurde an die École des hautes études en sciences sociales angebunden. Seine Abkürzung stand nunmehr für „Association pour la défense et l’illustration des arts d’Afrique et d’Océanie“. Vgl. Busca, L’Art contemporain africain: du colonialisme au postcolonialisme, S. 107. Seine Sammlung verließ das Museum mit dem ADEIAO. Der bereits zitierte Katalog „Art contemporain d’Afrique et d’océanie. ADEIAO 1984–1994“, der 1995 vom ADEIAO herausgegeben wurde, zieht dementsprechend ein Zwischenfazit der eigenen Tätigkeit und dokumentiert die Sammlung, die hier angelegt wurde. In dem Katalog wird die Frage, was mit der Sammlung geschehen soll und ob sie jemals in einem Museum untergebracht werden wird, noch offengelassen. Allerdings wurden die Werke dann schließlich in den 2000er Jahren an das Musée national du Mali übergeben. Vgl. u. a. URL: http://www.contemporaryand.com/de/place/musee-national-du-mali/ (Zugriff
Vom Musée de la France d’outre-mer zum Musée des arts africains et océaniens
1985456
1986
1987
1988
(18 avril – 1 juillet)
Musée imaginaire des Arts de l’Océanie457
(26 juin – 26 août)
19 peintres du Maroc458
(Novembre ’85 – Janv. ’86)
Arts africains – sculptures d’hier, peintures d’aujourd’hui459
(Février – Mai)
Hoggar, l’univers des pasteurs touaregs
(Juin – Octobre)
Signe et Calligraphie (en pays arabe)460
(07 nov. ’86 – 05 janv. ’87)
Beau comme un camion … jouets des enfants du Ghana et du Congo461
(21 janv. – 23. Mars)
Six peintres tunisiens contemporains462
(20 mai – 14 sep.)
Souweres: peintures populaires du Sénégal463
(24 sep. ’87 – 04 janv. ’88)
Algérie expressions multiples464
(27 janv. – 09 mai)
Paroles de devin – La fonte à la cire perdue chez les Sénoufo465
(09 juin – 04 sep.)
La Révolution française sous les tropiques466
(8 juin – 25 juillet)
Art pour l’Afrique467
(04 nov.’88 – 13 fév. ’89)
Cameroun, art et architecture468
19.07.2016) und Cherruau, Pierre, Les collections exceptionnelles du Musée national du Mali, in: Le Monde (01.01.2009), URL: http://abonnes.lemonde.fr/voyage/article/2009/01/01/les-collections-exceptionnell es-du-musee-national_1339546_3546.html (Zugriff 19.07.2016). 456 Ausgangspunkt für die nachfolgende Übersicht war der Bericht, der nach 1981, aber vor 1987 herausgegeben wurde: Développement du Musée National des Arts Africains et Océaniens, Archives Musée du Quai Branly, Fonds Musée national des Arts d’Afrique et d’Océanie, Série B – Administration générale DA001537/61425, sowie die Übersicht in: ADEIAO, Art contemporain d’Afrique et d’océanie. ADEIAO 1984–1994. 457 Vgl. Musée national des arts africains et océaniens, Musée imaginaire des Arts de l’Océanie. 458 Vgl. Gaudibert, Pierre (u. a.) (Hrsg.), 19 peintres du Maroc, Grenoble 1985. 459 Vgl. Musée national des Arts africains et océaniens / ADEIAO (Hrsg.), Arts africains: sculptures d’hier, peinture d’aujourd’hui, Cahiers de l’ADEIAO No. 1, Paris 1985. 460 Vgl. Musée national des Arts africains et océaniens / ADEIAO (Hrsg.), Signe et calligraphie, Cahiers de l’ADEIAO No. 2, Paris 1986. 461 Vgl. Musée national des Arts africains et océaniens / ADEIAO (Hrsg.), Beau comme un camion … jouets des enfants du Ghana et du Congo. Cahiers de l’ADEIAO No. 3, Paris 1986. 462 Vgl. Chaigneau, Marie-Anne / Chaigneau, Pierre-René / Louati, Ali, Six peintres tunisiens contemporains, Lille 1986. 463 Vgl. Musée national des Arts africains et océaniens / ADEIAO (Hrsg.), Souwères, peintures populaires du Sénégal, Cahiers de l’ADEIAO No. 4, Paris 1987. 464 Vgl. Musée national des Arts africains et océaniens / ADEIAO (Hrsg.), Algérie, expressions multiples, Cahiers de l’ADEIAO No. 5, Paris 1987. 465 Vgl. Musée national des Arts africains et océaniens / ADEIAO (Hrsg.), Paroles de devin – La fonte à la cire perdue chez les Sénoufo, Cahiers de l’ADEIAO No. 6, Paris 1988. 466 Vgl. Musée national des Arts africains et océaniens (Hrsg.), Révolution française sous les tropiques, Paris 1989. 467 Vgl. Musée national des Arts africains et océaniens / ADEIAO (Hrsg.), Art pour l’Afrique, Paris 1988. 468 Vgl. Musée national des Arts africains et océaniens / ADEIAO (Hrsg.), Cameroun, art et architecture, Cahiers de l’ADEIAO No. 7, Paris 1988.
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Von der Exposition coloniale internationale bis zur Schließung des MNAAO
1989 1990
(01 mars – 21 mai)
Madagascar, arts de la vie et de la survie469
(Automne/Novembre)
Art Makondé: tradition et modernité470
(07 fév. – 02 avril)
Afrique: formes sonores471
(06 juin – 03 sep.)
Bogolan et arts graphiques du Mali472
(Oct. ’90 – Janv. ’91)
De jade et de nacre. Patrimoine artistique kanak473
1991 1992
Broderies marocaines: textiles474 (25 sep.’91 – 14 janv. ’92)
Congo-Zaïre, Thango de Brazza à Kin475
(04 mars – 04 mai)
Vohou-Vohou – Hommage à Véronique Wirbel476
(20 mai – 31 août)
Tingatinga, peintures de Tanzanie477
(20 oct. ’92 – 25 janv.’93)
Le roi Salomon et les maîtres du regard. Art et médecine en Éthiopie478
(Oct. ’92 – Mars ’93)
RAO Polynésies479
1993
1994
Les Rois sculpteurs: art et pouvoir dans le Grassland camerounais (Mai – Novembre)
Peinture des Aborigènes d’Australie au Musée des Arts d’Afrique et d’Océanie480
(12 oct. ’93 – 10 janv. ’94)
Les Vallées du Niger481
(Déc. ’93 – Fév. ’94)
Pierre Verger: le Messager – The Go-Between Photographies 1932–1962482
(Juin – Octobre)
Clément Marie Biazin – peinture centrafricaine
(25 oct. ’94 – 09 janv. ’95)
Sièges africains483
Vgl. Musée national des Arts africains et océaniens / ADEIAO (Hrsg.), Madagascar, arts de la vie et de la survie, Cahiers de l’ADEIAO No. 8, Paris 1989. 470 Vgl. Musée national des Arts africains et océaniens (Hrsg.), Art makondé: tradition et modernité, Paris 1989. 471 Vgl. RMN / Musée national des Arts Africains et Océaniens (Hrsg.), Afrique: Formes sonores, Paris 1990. 472 Vgl. Musée national des Arts africains et océaniens / ADEIAO (Hrsg.), Bogolan et arts graphiques du Mali, Cahiers de l’ADEIAO No. 9, Paris 1990. 473 Vgl. Musée national des arts africains et océaniens / RMN (Hrsg.), De jade et de nacre. Patrimoine artistique kanak, Paris 1990. 474 Vgl. Musée des arts d’Afrique et d’Océanie (Hrsg.), Broderies marocaines: textiles, Tours 1991. 475 Vgl. Musée national des Arts africains et océaniens / ADEIAO (Hrsg.), Congo-Zaire, Thango, de Brazza à Kin, Cahiers de l’ADEIAO No. 10, Paris 1991. 476 Vgl. Musée national des Arts africains et océaniens / ADEIAO (Hrsg.), Vohou-Vohou – Hommage à Véronique Wirbel, Cahiers de l’ADEIAO No. 11, Paris 1991. 477 Vgl. Musée national des Arts africains et océaniens / ADEIAO (Hrsg.), Tingatinga, peintures de Tanzanie, Cahiers de l’ADEIAO No. 12, Paris 1992. 478 Vgl. Musée national des Arts d’Afrique et d’Océanie / RMN (Hrsg.), Le roi Salomon et les maîtres du regard. Art et médecine en Éthiopie, Paris 1992. 479 Vgl. Jacquemin, Sylviane (Hrsg.), Rao Polynésies, Collections arts témoins, Éditions Paranthèses RMN, Paris/Marseille 1992. 480 Vgl. Dussart, Françoise, La Peintures des Aborigènes d’Australie, Collections Arts témoins (dirigé par Roger Boulay), Marseille 1993. 481 Vgl. RMN (Hrsg.), Vallées du Niger, Paris 1993. 482 Vgl. Pivin, Jean Loup / Saint Léon, Pascal Martin / Favrod, Charles-Henri, Pierre Verger – Le Messager – The Go-Between Photographies 1932–1962, Paris 1993. 483 Vgl. Bocola, Sandro (Hrsg.), Sièges africains, München u. a. 1994. 469
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Insgesamt fallen bei den Ausstellungen, die unter Leitung Henri Marchals und des ADEIAO entstanden, bestimmte grundsätzliche Tendenzen inhaltlicher und funktionaler Natur auf, die auch schon in Ansätzen in der Ausstellung zu Ozeanien 1985 zu erkennen waren. Ganz grundsätzlich orientierte man sich inhaltlich bei der Wahl der Themen an den drei geografisch-kulturellen Angelpunkten des MAAO: Maghreb, Afrika und Ozeanien. Darüber hinaus konzentrierte man sich auf die schwerpunktmäßige Thematisierung einzelner Kulturen.484 Damit sollten die besonderen Charakteristika der jeweiligen Kultur vermittelt und ihre Alleinstellungsmerkmale betont werden, dies wird meist schon über die Wahl der Titel für die Ausstellungen verdeutlicht.485 Dieser Fokus hatte zwei Funktionen: Zum einen sollten die meist für die Besucher recht fremden Merkmale und die Geschichte der jeweiligen Kultur differenziert vermittelt werden. Zum anderen wollte man so gezielt die Erzeugnisse einer bestimmten, meist bis dahin als ‚verkannt‘ geltenden Kultur aufwerten. Damit werden die Werke der jeweiligen Ausstellung zum einen im malrauxschen Sinne als Teil der ‚art universel‘ begriffen. Zum anderen wird in den meisten Fällen ganz klar ihr kolonialer Erwerbszusammenhang und die damit lange Zeit einhergehende Abwertung als Teil der ‚primitiven Kunst‘ reflektiert. Dies ist ein weiterer inhaltlicher Aspekt, der bei mehreren Ausstellungen stark gemacht wird: die Reflexion des Einflusses des Westens auf diese Kulturen und ihre Bewertung durch die Brille der Kolonisation. Dabei wurden, wie beispielsweise im Fall der Ausstellung ‚De jade et de nacre. Patrimoine artistique kanak‘, häufig zum allerersten Mal die verschiedenen, als charakteristisch für eine Kultur angesehenen Objekte an einem Ort, in einem Museum, vereint.486 Hier drang also tatsächlich ein Grundanliegen Malrauxs durch: Die ‚(Kunst-) Werke der Menschheit‘, die überall verstreut waren, wurden an einem Ort versammelt und in neue strukturelle und räumliche Verbindungen gebracht. Dies galt auch für die Ausstellung ‚RAO Polynésies‘ von 1992/93. ‚Rao‘ bezeichnet eine spezifische Form der polynesischen Holzskulptur, die hier das erste Mal für sich allein, ohne als Vergleichsobjekt für andere, meist europäische Formen zu dienen, ausgestellt werde.487 Wie die Ausstellung zum Kinderspielzeug aus dem Jahr 1986 unter dem Titel ‚Beau comme un camion … jouets des enfants du Ghana et du Congo‘ zeigt, versuchte man Dies konnte bedeuten, dass ein Land in den Fokus genommen wurde, Beispiele: Marokko, Algerien, Tunesien, Ghana, Kamerun etc., eine Region, Beispiele: Kongo, Ozeanien etc. oder eine Ethnie bzw. Volksgruppe, Beispiel: Sénoufo, Makondé etc. Vgl. Liste der Ausstellungen. 485 Beispiele: ‚Souweres: peintures populaires du Sénégal‘; ‚Bogolan et arts graphiques du Mali‘; ‚De jade et de nacre. Patrimoine artistique kanak‘ etc.; Vgl. Liste der Ausstellungen. 486 Vgl. Marchal, Henri, Un lieu de rayonnement des traditions culturelles océaniennes, in: Musée national des arts africains et océaniens / RMN (Hrsg.), De jade et de nacre. Patrimoine artistique kanak, Paris 1990. S. 23. 487 Zuvor wurden diese Skulpturen meist zum Vergleich mit europäischen Skulpturen herangezogen, um eine gewisse kulturelle Hierarchie zu verdeutlichen. Sie wurden nicht als eigenständige ‚Kunstwerke‘ betrachtet und präsentiert, sondern als Maßstab für die westliche Kunstfertigkeit und das westliche Genie verwendet. 484
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inhaltlich zunehmend auf die zeitgenössischen Produktions- und Erscheinungsformen der außereuropäischen Kulturen einzugehen. Dies war ein Ziel, das man seit 1985 kontinuierlich verfolgt hatte und das die Legitimität des Hauses stärken sollte: Wenn man die zeitgenössische Handwerks- und Kunstproduktion der verschiedenen Kulturen anerkannte, machte man sich zu ihrem Fürsprecher und half ihnen, sich als den westlichen, zeitgenössischen Kunstproduktionen gleichwertig zu positionieren. Daher interessierte man sich neben der Kunst im engeren Sinn auch stärker für populärkulturelle Phänomene.488 Innerhalb dieses Ausstellungsformates diente das von Kindern aus Ghana und dem Kongo selbst gefertigte Spielzeug als Thema – es sollte den aktuellen Umgang dieser Kinder mit ihrer Umwelt zeigen. Besonderer Wert wurde darauf gelegt, wie die Kinder mit der ihr Umfeld verändernden Industrialisierung, eine Folge der Kolonisation, umgingen. Sie erscheinen als kreative Akteure, als ‚enfants-artisans‘ ihres eigenen materiellen Umfeldes.489 Die Einstufung der Produkte als ‚art brut‘, sollte offensichtlich dazu dienen, den ästhetischen Wert der Spielzeuge hervorzuheben und ihre Originalität und damit auch ihren ‚Schauwert‘ zu betonen. Hier tritt erneut deutlich die Idee der Aufwertung über das Zugeständnis des ‚KunstStatus‘ hervor – und das selbst bei Objekten, die im eigentlichen Sinn nicht als Kunstwerke produziert worden waren und diese Funktion auch nicht erfüllen sollten. Damit zeigt sich an dieser Stelle auch wieder die Kehrseite dieser rein westlichen Zuschreibung, die ein aus der alltäglichen Situation entstandenes Kinderspielzeug zum Kunstwerk verklärt. Die Strategie, einen sehr weit gedehnten Kunstbegriff anzuwenden, der es erlaubte, auch Objekte als Kunstwerke zu präsentieren, die eigentlich rein formal nicht unbedingt in diese Kategorie gehörten (z. B. afrikanische Musikinstrumente) veranschaulicht die willkürliche, eurozentrische Deutungshoheit, der diese Objekte unterlagen.490 Der offensichtlich gewünschte Aktualitätsbezug zeigte sich auch in anderen Ausstellungen, so beispielsweise in ‚Art Makondé: tradition et modernité‘ von 1989. Hier wurde explizit auf die zeitgenössische künstlerische Produktion der Makondé hingewiesen und ihr wurde zudem innerhalb der Ausstellung eine eigene Sektion gewidmet. Anlässlich dieser Ausstellung weist Henri Marchal ganz explizit darauf hin:
Vgl. o. A. Avant-propos, in: Musée national des Arts africains et océaniens / ADEIAO (Hrsg.), Beau comme un camion … jouets des enfants du Ghana et du Congo. Cahiers de l’ADEIAO No. 3, Paris 1986. S. 5. 489 Vgl. Schwartz-Kleiber, Liliane, Tacots et bolides, in: Musée national des Arts africains et océaniens / ADEIAO (Hrsg.), Beau comme un camion … jouets des enfants du Ghana et du Congo. Cahiers de l’ADEIAO No. 3, Paris 1986. S. 7. 490 Dies wurde beispielsweise im Katalog zur Ausstellung ‚Afrique: forme sonores‘ von 1990 auch offen so eingestanden: Man wollte die Instrumente hier explizit als Skulpturen verstanden wissen. Vgl. Brincard, Marie-Thérèse, Préface, Formes sonores, in: RMN / Musée national des Arts Africains et Océaniens (Hrsg.), Afrique: Formes sonores, Paris 1990. S. 16. 488
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Cette exposition veut montrer au public français non seulement l’existence d’une expression contemporaine des arts africains, mais aussi son renouvellement en dehors des normes occidentales : l’art makondé est l’un des exemples les plus significatifs pour permettre d’appréhender cette mutation.491
Hier schwingt nicht nur die Idee mit, über diese Thematisierung aktueller künstlerischer Produktion eine zunehmende Anerkennung der neu entstandenen Werke zu erreichen und damit insgesamt diese Kulturen und ihr kulturelles Schaffen ebenbürtig neben die europäische Kultur zu stellen bzw. ihre Unabhängigkeit von dieser zu proklamieren. Gleichzeitig stand diese Ausstellung für die Fortsetzung des avisierten Austauschs von Objekten und Konzepten mit den außereuropäischen Partnerländern, wie man es bereits mit der Ausstellung zu Ozeanien 1985 angebahnt hatte. J. Pelletier vom Ministerium für Kooperation betont im Katalogtext, dass es sich hierbei um ein Beispiel für das ‚partenariat artistique avec nos amis d’Afrique‘ handele und die Ausstellung das Ergebnis eines echten Dialogs sei.492 In diesem Rahmen wurde auch wieder die Notwendigkeit der Anerkennung dieser Kulturen und ihres kulturellen Erbes, legitimiert durch ihre besonders authentischen, ästhetisch anspruchsvollen und lange vom Westen verkannten Erzeugnisse, betont. Man macht es sich als Museum zur Aufgabe „de relancer de manière concrète le débat sur l’art africain“.493 Dieser Diskurs setzte sich auch in der Ausstellung ‚De jade et de nacre. Patrimoine artistique kanak‘ von 1990 fort.494 In diesem Fall ging es um die Anerkennung des kanakischen Kulturerbes. War es bei der Ausstellung zur ‚Art Makondé‘ das Ministerium für Kooperation und das Außenministerium,495 so findet sich in diesem Fall ein Katalogtext von Jack Lang, dem damaligen Kulturminister, was darauf hinweist, dass das Kulturministerium, neben dem Ministerium der überseeischen Départements, Pate gestanden hatte.496 Offensichtlich bestand von staatlicher Seite ein gewisses Interesse, diese Formen des Kontakts und Austausches zu fördern. Vor diesem Hintergrund kann auch die Ausstellung ‚Art pour l’Afrique‘ betrachtet werden, die als Benefiz-Ausstellung gedacht war. Hier wurden verschiedene Werke bekannter europäischer und außereuropäischer Künstler angeboten, der Erlös aus dem Verkauf ging dann an den Marchal, Henri, Enjeu de l’exposition, in: Musée national des Arts africains et océaniens (Hrsg.), Art makondé: tradition et modernité, Paris 1989. S. 17. 492 Vgl. Pelletier, J., Avant-propos du Ministère de la Coopération, in: Musée national des Arts africains et océaniens (Hrsg.), Art makondé: tradition et modernité, Paris 1989. S. 13. 493 Marchal, Henri, Enjeu de l’exposition, in: Musée national des Arts africains et océaniens (Hrsg.), Art makondé: tradition et modernité, Paris 1989. S. 17. 494 Vgl. Lang, Jack, Avant-propos, in: Musée national des arts africains et océaniens / RMN (Hrsg.), De jade et de nacre. Patrimoine artistique kanak, Paris 1990. S. 19. 495 Vgl. Musée national des Arts africains et océaniens (Hrsg.), Art makondé: tradition et modernité, Paris 1989. 496 Vgl. Lang, Jack, Avant-propos, in: Musée national des arts africains et océaniens / RMN (Hrsg.), De jade et de nacre. Patrimoine artistique kanak, Paris 1990. 491
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Fonds international du développement agricole.497 Für das Museum wurde also damit eine politische ‚Dritte Welt-Perspektive‘ eröffnet.498 Man zeigte sich als Institution, die international Verantwortung für die Dritte Welt, vor allem auch Länder, die ehemals Kolonien waren, übernahm und konstruierte so eine besondere gesellschaftliche und internationale Relevanz des Museums: L’exposition que le Musée national des arts africains et océaniens accueille aujourd’hui est à bien des égards exemplaire : associant le propos artistique à un but humanitaire dans une perspective internationale, elle est aussi un vecteur des recherches plastiques contemporaines tandis qu’elle s’identifie à une cause qui ne cesse de nous solliciter : le combat pour l’autosuffisance alimentaire dans le monde, plus particulièrement en Afrique.499
Es wird erkennbar, dass man mit diesen Ausstellungen durchaus gegen bestimmte stereotype Wahrnehmungsmuster ‚primitiver Kulturen‘, wie auch Sally Price sie benennt, ankämpfen wollte: Es galt Anonymität und Zeit- bzw. Geschichtslosigkeit zu beseitigen, Kontextualisierungen aufzumachen, Künstlernamen zu benennen, den Eigenwert und Stil bestimmter kultureller Produktionsformen zu veranschaulichen und sie den westlichen Künsten an die Seite zu stellen. Allerdings stand dem durchaus reflektierten Umgang mit der problematischen Vergangenheit vieler ausgestellter Objekte, dem Willen zur Anerkennung dieser Objekte als Teil eigener, spezifischer, kultureller und künstlerischer Produktion und ihrer Aufwertung als Kunstwerke, eine problematische Haltung zu den außereuropäischen Kulturen gegenüber. Teilweise klingt in den Katalogtexten ein paternalistischer Ton an: Die fernen, fremden Kulturen werden per se als ‚faszinierend‘ und ‚reich an Schöpferkraft‘ im Sinne eines neuen postkolonialen ‚Exotismus‘ bewertet und nicht zuletzt wird mit einer vermeintlich guten Absicht, eine beschönigende Version besonders des afrikanischen Kontinents serviert. Dies klingt vor allem dann an, wenn von ‚révélation de mondes lointains et secrets‘500, einer ‚fraîcheur naïve‘501, oder auch der ‚facul-
Es handelt sich hierbei um einen Fonds, der zu den Vereinten Nationen gehört und in den 1970er Jahren zur Bekämpfung des Welthungers gegründet wurde. 498 An dieser Stelle bieten sich durchaus einige Bemerkungen zum Tropenmuseum in Amsterdam an – bei diesem Museum handelte es sich auch um ein ehemaliges Kolonialmuseum, das vor allem zwischen den 1960er und 1990er Jahren verschiedene Wandlungsprozesse durchlaufen hat, um sich den veränderten politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen anzupassen. Dabei wurde u. a. einen ‚Dritte Welt‘-Perspektive avisiert. Vgl. u. a. Aldrich, Robert, Colonial museums in postcolonial Europe, in: Thomas, Dominic (Hrsg.), Museums in postcolonial Europe, London 2009. S. 12–31. S. 24 ff. 499 Albaret, Lucette / Marchal, Henri, Une Exposition a valeur de symbole, in: Musée national des Arts africains et océaniens / ADEIAO (Hrsg.), Art pour l’Afrique, Paris 1988. S. 7. 500 Marchal, Henri, Avant-propos, in: RMN / Musée national des Arts Africains et Océaniens (Hrsg.), Afrique: Formes sonores, Paris 1990. S. 10. 501 Marchal, Henri, Avant-propos, in: Musée national des Arts africains et océaniens / ADEIAO (Hrsg.), Souwères, peintures populaires du Sénégal, Cahiers de l’ADEIAO No. 4, Paris 1987. S. 5. 497
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té d’invention et de la capacité d’adaptation propre aux Africains‘502 gesprochen wird. Es schwingt hier die eindeutig eurozentrische Bewertung und Einschätzung mit, die sich einem gewissen Überlegenheitsgefühl gegenüber den thematisierten Kulturen nie ganz entledigen konnte. Dies liegt natürlich auch an dem bewusst verfolgten Ziel der neuerlichen Anerkennung dieser Kulturen und ihrer künstlerischen Produktion – implizierte diese doch von vornherein, dass Frankreich als die ausstellende Nation entschieden hatte, diese Kulturen neu zu bewerten und anzuerkennen, immer gemessen am Maßstab der eigenen westlichen, französischen Kultur. Dies kann teilweise zu einer merkwürdig verzerrten Perspektivierung führen, wie sie in dem Beitrag von Marchal im Katalog zur Ausstellung ‚Le roi Salomon et les maîtres du regard. Art et médecine en Éthiopie‘ deutlich wird. Er betont hier, dass es notwendig sei, das aktuelle öffentliche Bild von Äthiopien als ‚vom Hunger und der Armut geprägtem Land‘ hinter sich zu lassen und stattdessen zu betonen, welche ‚kulturellen Schätze‘ es eben auch berge.503 Sicherlich ist die Verwendung eines solchen Vokabulars und solcher Metaphern auch der Tatsache geschuldet, dass man bei einem breiten Publikum Werbung für das eigene Haus machen wollte, das sich aufgrund seiner Lage und Ausrichtung nicht unbedingt automatisch als erste Adresse für das Pariser Museumspublikum oder gar Touristen aus aller Welt anbot. Doch die beschriebenen Diskurse offenbaren noch eine andere Perspektive auf das MAAO. Wenn man das Sammeln und Ausstellen ‚primitiver Kulturobjekte‘ sowie ihre Anerkennung und Deutung als Kunst im Rahmen des MAAO näher betrachtet, so kann man mit Price dahinter das Konzept des „Die Welt gehört uns (dem Westen)“ erkennen504 – der Westen hat die Besitz-, Deutungsund Anerkennungshoheit über diese Objekte fremder Kulturen; man hat es also mit einer modernen Figuration des Kolonialismus zu tun. Damit scheint das MAAO in deutliche Nähe zu seinen Vorgängerinstitutionen und ihrer Aufgabe zu rücken: Das Museum blieb auch jetzt ‚ein Kind‘ der westlichen Dominanz über den Rest der Welt, ein Haus, das die Macht und den Einfluss Frankreichs in der Welt veranschaulichte. Es verkörperte nun gleichsam eine neue, angepasste Form der zivilisatorischen Mission. Konkurrenz und Kritik am MAAO: Mangelnde Expertise und Borniertheit Das MAAO war mittlerweile mit seiner Funktion und Ausrichtung nicht mehr alleine. Hatte noch Olagnier-Riottot betont, dass kein anderes französisches Museum eine derartige Sammlung zum Maghreb besitze, war das MAAO an sich in Bezug auf die Präsentation außereuropäischer Kunst nicht mehr der einzige große Pariser Akteur. Ebd. Vgl. Marchal, Henri, Préface, in: Musée national des Arts d’Afrique et d’Océanie / RMN (Hrsg.), Le roi Salomon et les maîtres du regard. Art et médecine en Éthiopie, Paris 1992. S. 13. 504 Vgl. Price, Primitive Kunst in zivilisierter Gesellschaft, S. 121. 502 503
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Es musste sich zunehmend mit anderen Institutionen, die sich ebenfalls mit außereuropäischer Kunst befassten, messen lassen. Dabei spielte nicht nur seine langjährige Konkurrenz, aber auch Zusammenarbeit mit dem Musée de l’homme eine Rolle. Es sah sich auch mit etwaigen Neuschöpfungen konfrontiert. Dieser Vergleich, der nun zunehmend von außen zwischen dem MAAO und den anderen Institutionen gezogen wurde, offenbarte die Defizite des Hauses: Vor allem die fehlende Expertise vonseiten des Personals505 und die Reduzierung von Problemursachen auf externe Faktoren durch den Chefkonservator Marchal zeigten sich hier als problematisch. Gleichzeitig war Marchal darum bemüht, ‚sein‘ Haus, das er immer wieder stark verteidigte, durch eine recht ungewöhnliche Zielgruppenpolitik in die Zukunft zu retten: Er betonte explizit die Rolle des MAAO für Nachkommen von (post-)kolonialen Einwanderern, die in Kontakt mit ihrem kulturellen Erbe gebracht werden könnten. Im Folgenden sollen daher sowohl die beiden Problemfelder des MAAO als auch die Zukunftsvision Marchals untersucht und gegenübergestellt werden. Die vor allem von außen an das MAAO herangetragene Kritik äußerte sich u. a. in mehreren Presseartikeln. So wurde in einem Artikel von Le Monde aus dem Jahr 1988, anlässlich der Ausstellung ‚Cameroun, art et architecture‘, der Vergleich mit der Fondation Dapper bemüht.506 Diese hatte ihr Museum seit 1986 in Paris und organisierte regelmäßig Ausstellungen.507 Der Autor kritisiert gleich mehrere Pariser Institutionen für ihren Umgang mit den ‚primitiven Künsten‘: Er hebt hervor, dass das Musée Dapper alleine dauerhaft Ausstellungen zur afrikanischen Kunst veranstalte und damit den Platz einnehme, den eigentlich das Musée de l’homme bzw. vor allem das MAAO einnehmen müssten. Das Musée de l’homme beschreibt er als ‚unter In Bezug auf diesen Aspekt macht die Studie von Eidelman, Monjaret und Roustan deutlich, dass es hier drei sehr unterschiedlich ausgebildete Generationen von Konservatoren im MAAO gegeben hatte: Kam die erste Generation von der École du Louvre, bestand die zweite oft aus Quereinsteigern, die als Praktikanten ins Museum kamen, die dritte schließlich wurde meist an der École du patrimoine ausgebildet. Vonseiten der Ausbildungsstätten gab es erst sehr spät eine Spezialisierungsmöglichkeit in Richtung der „Arts premiers“ – schließlich war es erst ab 1986 möglich, die Fachrichtung „Arts africains et océaniens“ an der École nationale du patrimoine zu wählen. Ergänzend kann hinzugefügt werden, dass offensichtlich gerade aus dem Bereich der Gruppe der Wärter des Museums, die zu Beginn oft aus Kriegsveteranen bestand, einzelne Personen aufgrund ihres handwerklichen Geschicks oder schlicht ihres Interesses, in Restaurierungsateliers hineinglitten, meist nach Absprache mit der Direktion. Ihnen fehlte teilweise eine professionelle Ausbildung, teilweise wurde diese nachgeholt, daher mag der lange gehegte Vorwurf der mangelnden Expertise am MAAO durchaus berechtigt gewesen sein: „Enfin, le service de la restauration des objets est passé du quasi-bricolage à la science de la conservation préventive, et, en quelques années, ses animateurs en ont fait la référence majeure en matière de collections ethnographiques.“. Eidelman/Monjaret/Roustan, MAAO, mémoire d’une organisation, S. 101–127. S. 110. 506 Vgl. o. A. Deux expositions d’art africain. Quand le Louvre s’ouvrira-t-il aux „primitifs“?, in: Le Monde (09.11.1988). 507 Die Fondation Dapper wurde 1983 in Amsterdam gegründet und ist nach einem niederländischen Humanisten benannt, der sich u. a. mit der afrikanischen Kultur befasst hatte. 1986 wurde das dazugehörige Museum in Paris gegründet. Das Museum thematisiert die afrikanischen und karibischen Kulturen. Vgl. Website der Fondation: URL: http://www.dapper.fr/fondation-dapper.php (Zugriff 07.09.2017). 505
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seiner eignen Staubschicht schlafend‘ und das MAAO als ‚peripher abgedrängtes Museum ohne finanzielle Mittel‘. Dabei wurde vor allem die letzte Ausstellung des MAAO zu Kamerun kritisiert, die als zu vage, beliebig und breit angelegt beschrieben wurde – Fehlstellen würden durch Fotografien von entsprechenden Objekten ersetzt, alle möglichen Aspekte und Ansätze, von der Kunst über die Architektur bis zur Soziologie, würden vermischt, die Kunst könne hier nicht für sich sprechen. Wohingegen das Musée Dapper mit qualitativ wertvollen Werken und einer klaren, gradlinigen Präsentation überzeuge. Ein weiterer Artikel, der ein Jahr später zur Ausstellung über die ‚Makondé‘ erschien, kritisierte die ‚politesse diplomatique‘, die das Museum praktiziere und sich damit schlecht präsentierte Ausstellungen mit wenig bedeutsamen Werken einhandele.508 Insgesamt schien das Museum an der Porte Dorée also für eine etwas unklare Ausstellungsstruktur, eine geringe Expertise vonseiten des Personals und wenig qualitätsvolle Objekte zu stehen.509 Wenn man einbezieht, dass das MAAO, wie bereits anlässlich der Gründung des ADEIAO erwähnt, große Probleme hatte, überhaupt geeignete Ausstellungsräume bereitzustellen bzw. dauerhaft in Renovierungsarbeiten involviert war und finanziell wie personell eher schlecht ausgestattet war, verwundert die Kritik an den Wechselausstellungen weniger. Besonders wenn man einbezieht, dass sich in den 1980er Jahren eine neue Museumsund Galerieszene um die afrikanische und außereuropäische Kunst bildete, mit der das MAAO aufgrund seiner Ausstattung nicht mithalten konnte, wird klar, dass das Museum seiner eigentlichen Aufgabe als dem großen, repräsentativen Museum für die Kunst Afrikas und Ozeaniens im internationalen Vergleich nicht gerecht werden konnte.510 Zudem wurde 1987 das Institut du Monde arabe gegründet, ein weiterer Vgl. o. A. Les malentendus de l’art africain. Deux expositions nous donnent à voir de la sculpture africaine. Avec quelles lunettes l’européen doit-il les visiter?, in: Le Monde (01.11.1989). 509 Dies scheint tatsächlich auch teilweise indirekt durch die besonders positive Reaktion auf eine Ausstellung gerechtfertigt zu sein, die nun ausgerechnet nicht vom MAAO selbst konzipiert und umgesetzt wurde, sondern extern von einem anderen Haus übernommen wurde: Es handelt sich um die Ausstellung ‚Afrique: formes sonores‘, die das MAAO von der American Federation of Arts teilweise übernommen hatte und die von Marie-Thérèse Brincard arrangiert wurde. Sie wird in dem Artikel: o. A. L’œil et le son. Une très belle exposition consacrée aux instruments de musique africains est ouverte au musée de la Porte Dorée, in: Le Monde (07.03.1990) besonders positiv hervorgehoben. 510 Dies wird noch offensichtlicher, wenn man sich alternative Projekte vor Augen führt, die in ihrer Planung und Umsetzung durchaus fortschrittlicher angelegt waren. Dazu zählt sicherlich die Ausstellung ‚Art/Artifact‘ von 1988, die u. a. von dem Center for African Art organisiert wurde und versucht, afrikanische Kunst unter einem kritisch-dekonstruierenden Blick zu präsentieren bzw. die westliche Perspektive auf afrikanische Objekte als Kunstwerke zu hinterfragen. Insbesondere die beiden einleitenden Texte in dem dazugehörigen Ausstellungskatalog von Susan Vogel legen nahe, dass es hier ganz grundsätzlich darum geht, die Sammlung und Präsentation von afrikanischen (Kunst-)Objekten mithilfe der Ausstellung explizit kritisch zu reflektieren, um so ein verändertes Bewusstsein beim Besucher/Betrachter zu schaffen. Eine derart kritische und selbstreflexive Herangehensweise an die eigene Sammlung und die eigenen Ausstellungen wies das MAAO noch nicht auf, auch wenn Ansätze dafür in den Wechselausstellungskatalogen bereits gezeigt wurden. Es schien insgesamt sogar eher, zumindest von der Präsentationsweise der Objekte her, dem von Vogel in ihren Beiträgen beschriebenen klassischen Umgang mit Objekten außereuropäi508
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Konkurrenzbau innerhalb von Paris, an den das Museum sogar Sammlungsstücke abgeben musste.511 Die hier immer wieder auftauchende Kritik an schlecht präsentierten Ausstellungen und der mangelnden Expertise waren aber nur eine Seite der Kritik. Zu einem Großteil richteten sich die kritischen Meinungen auch direkt gegen die Person des Chefkonservators Marchal. Dieser verteidigte trotz der immer wieder aufscheinenden negativen Beurteilung des Hauses und den zahlreichen Defiziten des Museums, ‚sein‘ Haus. In einer Stellungnahme zur Zukunft des Museums aus den 1990er Jahren betont er, dass dieses Museum und seine Entwicklung immer missverstanden worden seien.512 Leider wäre der Funktionswandel in den 1960er Jahren vom Publikum nicht nachvollzogen worden und das Interesse an afrikanischer und ozeanischer Kunst sei teilweise gering. Zudem beklagte er die Tatsache, dass es zwei staatliche museale Institutionen im Bereich der außereuropäischen Kulturen in Paris gäbe – das Musée de l’homme, das dem Bildungsministerium zugeordnet war und das MAAO, das dem Kulturministerium unterstellt war. Diese Spaltung führe zu Inkohärenzen zwischen den beiden Häusern und zu Irritationen beim Besucherpublikum. Für Marchal bestanden die Ursachen für die ambivalente Stellung des Hauses und die Kritik, die geäußert wurde, vor allem in externen Faktoren: die Borniertheit des Publikums und die institutionelle Schizophrenie. Zudem thematisierte er die Diskussion um den Ort des MAAO, der oft als Manko empfunden wurde. Dies wies Marchal entschieden zurück und betont, dass das Museum auch an diesem Ort ‚mit seiner Sammlung glänzen könne‘. Die von Marchal an den Tag gelegte Haltung, die sich offensichtlich, wie aus seinen Aussagen erkennbar wird, aus ‚Selbstbehauptung‘ und ‚Trotz‘ speiste, schien die Kritik vonseiten der Presse noch zu verstärken. So erscheint 1991 erneut in Le Monde ein Artikel, der deutliche Kritik am MAAO äußerte und hier sowohl die personelle Inkompetenz als auch die Borniertheit Marchals kritisierte. Der Autor rekapituliert die Vergangenheit des Museums, von der es sich in der öffentlichen Wahrnehmung offenbar nie ganz lösen konnte, und deutet die Unbeständigkeit der Geschichte des Museums als Grundproblem:
scher Kulturen als Kunstwerken zu entsprechen. Vgl. Vogel, Susan, Foreword, in: The Center of African Art, ART/artifact, New York 1988. S. 10 und Vogel, Susan, Introduction, in: The Center of African Art, ART/ artifact, New York 1988. S. 11–17. 511 Vgl. o. A. Le Musée de l’IMA Art arabe ou art islamique?, in: Le Monde (31.12.1987). Das IMA zählt zu den Grands Travaux, die in der Ära Mitterrand entstanden sind, es wurde von Jack Lang in Auftrag gegeben. Das INA wurde 1987 als ‚Vermittler‘ zwischen westlicher und arabisch-islamischer Welt eröffnet – Frankreich hat hier explizit mit der Liga der arabischen Staaten zusammengearbeitet. Das Institut war von Beginn an mit einem Museum ausgestattet. Vgl. u. a. Waast, Laure, L’Institut du monde arabe, in: Nouvel, Jean / Lezenes, Gilbert / Soria, Pierre / Architecture Studio (Hrsg.), Institut du monde arabe, Paris 1995. S. 5–9. 512 Vgl. Marchal, L’avenir d’un musée, S. 87.
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Cette valse des étiquettes [du musée] résume le malaise d’un établissement à la vocation bousculée par la marche de l’Histoire et du goût. Ses collections, dont il n’existe aucun inventaire complet, étant évacuées, au fur et à mesure de ses mutations, dans des réserves où elles s’entassent en strates significatives.513
Hier erscheint das MAAO als staubiges Lager seiner Vorgänger-Institutionen, das es nicht schaffte, sich von diesen zu emanzipieren. Im Verlauf des Artikels wird auf die schlechte Lage des Museums innerhalb Paris‘ und sein mangelhaft geschultes Personal eingegangen. Aber auch das Desinteresse der DMF an der ‚primitiven Kunst‘ und die veraltet wirkende Ablehnung dieses Museumsgegenstandes, der doch mittlerweile international Interesse verschiedener Häuser errege, wird beklagt. Schließlich wird erwähnt, dass die DMF aber nun endlich den Zustand des MAAO ändern wolle und daher Henri Marchal eine Expertenkommission unter Leitung Jean Devisse‘ an die Seite gestellt bekommen habe. Diese würde nun daran arbeiten, wie es im Titel des Artikels bereits angedeutet wird, ein Haus zu schaffen, das den Europäern, dem Westen, die Kulturen der südlichen Hemisphäre erkläre. Trotz dieser neuen Perspektive erscheint im Januar 1992 erneut in Le Monde ein ausführlicher Artikel, der sich zwar etwas allgemeiner dem Thema von Museen in Frankreich und vor allem in Paris widmet, aber explizit das MAAO in einem sehr schlechten Licht zeigt und das Personal verunglimpft: […] le Musée des Arts d’Afrique et d’Océanie [MAAO] a toujours servi d’exil pour les conservateurs « mal notés ». Et comme il n’existe pas, à ce jour, de conservateur spécialiste des arts « primitifs », ceux qui végètent à la Porte Dorée ne sont pas forcément les plus brillants de leur profession.514
Die Vermutung, dass das MAAO als ‚Abstellgleis‘ für unliebsame oder in Ungnade gefallene Konservatoren diente, wurde schon bei Michel Florisoone angedeutet und scheint hier wieder auf. Die fehlende Expertise am MAAO wurde sowohl von Sherman bezüglich der Expertenkommission zum Neuerwerb von Objekten in den 1960er Jahren als auch in einigen Zeitungsartikeln bezüglich einzelner Wechselausstellungen beklagt. Die zitierte Studie von Monjaret, Roustan und Eidelman bestätigt schließlich diese Fehlstelle. Kurze Zeit nach dem Erscheinen dieses letzten, äußerst negativen Artikels, kam es im Mai 1992 zum Eklat: Offensichtlich war das Unbehagen bezüglich des MAAO und vor allem bezüglich seines Leiters so groß geworden, dass Marchal seiner Funktion enthoben und durch Cécile Guitart ersetzt wurde, der das Museum umgestalten
o. A. Une vitrine pour le Sud. Le Musée des arts d’Afrique et d’Océanie fait peau neuve. Son ambition: faire comprendre aux Occidents les cultures de l’hémisphère Sud, in: Le Monde (25.01.1991). 514 o. A. Des musées exposés, in: Le Monde (09.01.1992). 513
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sollte.515 Allerdings reagierte Marchal mit Protest und erreichte, dass ein offener Brief an Kulturminister Jack Lang verfasst wurde, in dem u. a. gegen seine Amtsenthebung protestiert wurde.516 Guitart hatte indessen bereits ein Programm entwickelt, das unter dem Titel „Du musée colonial au dialogue des cultures“ dem Museum eine neue Ausrichtung geben sollte.517 Die Interimszeit Guitarts sollte am Ende nicht lange dauern, Henri Marchal kehrte gegen Ende des Jahres 1993 als Chefkonservator wieder zurück. Allerdings schaffte es die Unruhe um das MAAO zwischenzeitlich bis in den Senat. Hier stellte Camille Cabana im Dezember 1992 die Frage nach der zukünftigen Ausrichtung des MAAO, dem Umgang mit der kolonialen Vergangenheit des Gebäudes und den Gerüchten um die Unrechtmäßigkeit der Amtsenthebung Marchals.518 Zentral ist hier, dass Cabana die Vergangenheit des Gebäudes als wichtigen Punkt für die zukünftige Darstellung des Hauses sieht und hofft, dass dieser genug Platz eingeräumt werde. Cabana betont, dass gerade wenn man den Dialog mit den Kulturen und Ländern, die die ehemaligen Kolonien Frankreichs verkörpern, über das Museum anregen wolle, man die Vergangenheit des Museums eben nicht ausblenden dürfe. In der Antwort des Senats wird dann auch durchaus die Integration der Geschichte des Gebäudes in das neue Konzept bestätigt.519 Marchals Absetzung wird als rechtmäßig bewertet und über ‚graves conflits internes‘ eines ‚musée perturbé‘ begründet. Dieser Rechtmäßigkeit wird jedoch im Juli 1993 widersprochen:
Vgl. o. A. Arts – changement à la tête du Musée des arts d’Afrique et d’Océanie, in: Le Monde (20.05.1992) sowie vgl. De Roux, Emmanuel, Le Musée des Arts d’Afrique et d’Océanie à Paris. Sévère bataille pour la direction du Musée. Monsieur le Conservateur est revenu, in: Le Monde (15.10.1993) und vgl. Journal officiel du Sénat (18.03.1993), Réorganisation du musée des arts d’Afrique et d’Océanie. S. 472. 516 Vgl. o. A. Lettre ouverte de conservateurs de musées à M. Jack Lang, in: Le Monde (08.07.1992). 517 Zudem wollte Guitart das Museum in ein neues Netzwerk einbinden und vor allem auch den Kontakt zur Universität herstellen. Féau gibt in seinem Beitrag an, dass immerhin drei Wechselausstellungen des MAAO unter diesem neuen ‚Esprit Guitart‘ entstanden sind: ‚Le roi Salomon et les maîtres du regard. Art et médecine en Éthiopie‘, ‚Les Rois sculpteurs: art et pouvoir dans le Grassland Camerounais‘ und ‚Les Vallées du Niger‘. Auch wenn diese Ausstellungen durchaus ähnliche Tendenzen spiegeln, wie sie bereits für die vorherigen Wechselausstellungen herausgearbeitet wurden, so fällt hier doch auf, dass neben dem Schwerpunkt auf bestimmten Kulturräumen stärker wert gelegt wird auf eine Kulturraum übergreifende Thematik, so auch bei ‚Le Roi Salomon‘. Vgl. Féau, Étienne, Au Musée des Arts d’Afrique et d’Océanie (MAAO). Du Musée colonial au dialogue des cultures, in: Les Combats de Cécil Guitart. Une vie pour la culture 1944–2010, Éditions du Musée dauphinois (octobre 2011), einsehbar unter: URL: https://issuu. com/museedauphinois/docs/cecil_guitart (21.07.2016). S. 56–57. S. 57. In dem Beitrag von D. Taffin zur Geschichte des MAAO wird betont, dass C. Guitart zusammen mit I. Blanchard einen Bericht verfasst habe, der genau diese neue Ausrichtung auf den Dialog der Kulturen beinhaltete und vor allem eine Ausgrenzung der kolonialen Vergangenheit des Museums vorsah. Vgl. Taffin, Les avatars du musée des Arts d’Afrique et d’Océanie, S. 217. 518 Vgl. Journal officiel du Sénat (17.12.1992), Réorganisation du musée des arts d’Afrique et d’Océanie. S. 2760. 519 Vgl. Journal officiel du Sénat (18.03.1993), Réorganisation du musée des arts d’Afrique et d’Océanie. S. 472. 515
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Le tribunal administratif de Paris a annulé l’arrêté du ministre de l’Éducation nationale et de la Culture ainsi que la décision du directeur des musées de France déchargeant Henri Marchal de ses fonctions de directeur du Musée des Arts d’Afrique et d’Océanie à Paris, « entachés d’excès de pouvoir ». « La mise à l’écart arbitraire » du directeur avait été dénoncée par les syndicats CGC et CFDT des conservateurs des musées de France. Cent vingt conservateurs avaient signé une pétition auprès du ministre de la Culture de l’époque, Jack Lang, critiquant « une chasse aux sorcières ».520
Marchal kehrte also gegen Ende 1993 zurück und die Mission Guitart wurde damit beendet. Dies wurde dann im Anschluss in einem ausführlichen Artikel von Emmanuel de Roux auf das heftigste kritisiert:521 Er klagt hier an, dass das MAAO sich in den 1980er Jahren in einen ‚Dauerschlaf ‘ begeben habe und Marchal nichts dagegen getan habe. Im Gegenteil, er habe seine komfortable Situation mehr oder weniger ausgenutzt. Und als sich die DMF endlich dazu durchgerungen habe, an dieser Situation etwas zu ändern, habe Marchal das Bild einer ‚Verschwörung‘ heraufbeschworen, um sich, erfolgreich, auf seinem Posten zu halten. Allerdings habe der ‚triumphale Wiedereinzug‘ Marchals u. a. die Kündigung von Jean Devisse, dem Leiter der neuen Expertenkommission von 1991, nach sich gezogen. Marchal antwortete noch im selben Monat auf die Vorwürfe.522 Er verteidigte sich als Person bzw. als kompetenter Chefkonservator, der relativ umfangreich versucht habe, die Sammlung zu erweitern, unterschiedliche Ausstellungs- und Besucherprojekte anzuschieben. Er betonte dabei vor allem das Kolloquium, das er 1990 zur ‚Arts d’Afrique Noire‘ an das Museum geholt habe und das nun seine Fortsetzung finde.523 Zukunftsvision Marchals: Immigranten und ihre Nachkommen als Zielgruppe des MAAO Bei dieser Problematisierung der Figur Marchals darf aber nicht übersehen werden, dass dieser durchaus sehr stark darum bemüht war, das MAAO in die Zukunft zu retten, was ihn eine ungewöhnliche Zukunftsvision für ‚sein‘ Haus entwerfen ließ: […] le Musée poursuit une réflexion qui s’attache à préciser le rôle dévolu à un véritable musée d’art africain et océanien. Ses fonctions essentielles sont doubles puisqu’on veut
MAAO, in: L’Humanité (25.06.1993). Vgl. De Roux Le Musée des Arts d’Afrique et d’Océanie à Paris. Sévère bataille pour la direction du Musée. Monsieur le Conservateur est revenu. 522 Vgl. Marchal, Henri, Arts – Une lettre d’Henri Marchal, in: Le Monde (26.10.1993). 523 Es handelte sich dabei um das Colloque Européen sur les Arts d’Afrique Noire, das vom 10. bis 11. März 1990 im MAAO stattfand und aus dem eine Publikation unter dem Titel: „De l’art nègre à l’art africain“ hervorgegangen ist. 520 521
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en faire un lieu de découverte et de dialogue à partir d’une démarche essentiellement esthétique tout en permettant la connaissance de l’Autre et de ses valeurs. Il doit aussi pouvoir offrir aux jeunes générations d’Africains vivant en France, coupés de leur patrimoine artistique, la possibilité de s’en imprégner. D’autre part, il doit faciliter le dialogue qui va s’établir entre l’objet et le regard du visiteur. […] Contrairement à d’autres institutions, le Musée doit dépasser une conception élitiste de l’art. Par définition, il doit s’ouvrir à tous les publics sans réserver ses richesses à un petit cercle de connaisseurs, et s’attacher à réaliser une présentation documentée des œuvres.524
Marchal betont hier die Funktion als Kunstmuseum, das sich aber eben nicht als ‚Musentempel‘, als Bildungsinstitution einer gesellschaftlichen Elite, verstehe, sondern sich einem möglichst breiten Publikum öffnen möchte. In diesem Rahmen warnt er auch im weiteren Verlauf des Textes vor einer rein ethnozentrischen Blickrichtung, in die dieses Museum schnell zu rutschen drohe. Besonders hervorzuheben ist dabei eine Perspektive, die speziell kennzeichnend für Marchal war und eine weitere Neuausrichtung des Museums bedeutete: der Fokus auf die Nachkommen von Einwanderern aus den Kulturräumen, mit denen sich das Museum befasste, als wichtige zu avisierende Zielgruppe. Die Idee, dass sich diese im MAAO mit der Kultur ihrer Vorfahren auseinandersetzen und damit ihre möglicherweise weit entfernten Wurzeln wiederentdecken könnten, ist 1990 nicht neu und taucht während der Amtszeit Marchals immer wieder auf. So hatte das MAAO bereits 1986 unter diesem Aspekt den ‚Journée consacrée aux communautés du Maghreb vivant en France‘ mitveranstaltet.525 Darüber hinaus klingt diese Zielgruppenorientierung auch bei den Ateliers des ADEIAO an.526 In einem Interview mit Liliane Kleiber-Schwartz, die selbst im MAAO im Bereich der ‚action culturelle‘ tätig war,527 betonte Marchal diesen Aspekt:528 L. K. [Liliane Kleiber] – La France accueille aujourd’hui des communautés culturelles diverses, dont beaucoup viennent de ses anciennes colonies. Comment le musée définit-il par rapport à ses publics potentiels ? H. M. [Henri Marchal] – A partir du moment où ces communautés ont commencé à prendre en France une plus grande importance, les missions du musée ont évolué. Il lui revient, notamment, de maintenir – ou de rétablir – un lien entre ces publics et les objets qui
Marchal, L’avenir d’un musée, S. 88. Vgl. Développement du Musée National des Arts Africains et Océaniens, Archives Musée du Quai Branly, Fonds Musée national des Arts d’Afrique et d’Océanie, Série B – Administration générale DA001537/61425. 526 Vgl. Marchal, La vocation du musée, S. 11. 527 Vgl. Musée des Arts d’Afrique et d’océanie, Organigramme, Archives Musée du Quai Branly, Fonds Musée national des Arts d’Afrique et d’Océanie, Série B – Administration générale DA001514/61403. 528 Vgl. Kleiber-Schwartz, Liliane, Du Musée des colonies au musée des communautés, in: Museum (Unesco), No. 175 (Vol. XLIV, No. 3, 1992). S. 137–141. 524 525
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sont leur héritage, de leur permettre d’y retrouver une partie de leur mémoire culturelle. Or ce lien est parfois très distendu, du fait des conditions de vie difficiles des immigrés en France.529
Diese gezielte Ausrichtung an den Nachkommen der (post-)kolonialen Einwanderer bot eine neue gesellschaftliche und politische Legitimierung für das MAAO. Darüber hinaus konnte es so seinen Bezug zur Aktualität ausbauen und ein breiteres Publikum ansprechen – damit war es nicht mehr ‚nur‘ ein Kunstmuseum für außereuropäische Kulturen, sondern ein Multiplikator für das diverse, multiethnische Frankreich, das sich zunehmend sicht- und bemerkbar machte. In diesem Rahmen erscheint auch bemerkenswert, dass Kleiber- Schwartz am Ende des Interviews Mehena Mahfoufi, der für das MAAO u. a. Musik-Workshops organisiert hatte, danach fragt, was er von der Schaffung eines Immigrationsmuseums halte. Auch wenn Mahfoufi nicht direkt auf die Frage antwortet, ist doch bemerkenswert, dass sich hier offenbar schon Ideen zu einem Immigrationsmuseum bzw. zur Integration des Themas Immigration im Schoße des MAAO gebildet bzw. übertragen hatten. Dies scheint dadurch erklärbar, dass Marchal in dem bereits zitierten Interview angeben hatte, dass man vonseiten des Museums mit verschiedenen zivilgesellschaftlichen Vereinen, die Immigrationsgruppen vertreten, zusammenarbeite, u. a. mit der Zeitschrift hommes & migrations.530 Dieses innovative, auf die Zukunft gerichtete Projekt, das eine völlig neue Zielgruppe für das MAAO erschließen und seine gesellschaftliche Relevanz stärken sollte, steht in deutlichem Kontrast zu der harschen, immer wiederkehrenden Kritik am MAAO. In der Presse entstand hier zunehmend das Bild eines alten, wenig reformfreudigen, staubigen Museums, das primär ein Überbleibsel aus der Kolonialzeit darstelle und daher als Abstellgleis für ‚unliebsam‘ gewordene Konservatoren der DMF bewertet wurde. Dabei trugen die fehlende Expertise am Museum und die ‚engstirnige‘ Haltung Marchals zur Verstärkung dieses Bildes bei. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass, auch wenn Marchal immer versuchte, dagegen anzukämpfen, das MAAO kontinuierlich von öffentlicher Seite mit seiner Vergangenheit in Verbindung gebracht wurde – der Umgang mit dieser Vergangenheit wurde oftmals, wie im Falle des Abgeordneten Cabana, als Schlüssel zur neuen Identität des Hauses begriffen. Diese Ansicht wurde aber im MAAO nicht geteilt. Vielmehr versuchte man durch eine Distanzierung von diesem Erbe, es auszublenden, zu verdecken. Die koloniale Vergangenheit wurde einzig in Wechselausstellungen in Bezug auf einzelne Themen, Objekte etc. thematisiert – aber explizit nicht in Beziehung zur neuen Identität des Hauses gesetzt. Das MAAO begriff sich immer als getrennt vom MFOM und der Thematik des Empire. Diese PosiEbd. S. 138. Vgl. ebd. S. 138 f. Die Zeitschrift hommes & migrations, die bereits seit den 1960er Jahren existiert, wird im Folgenden noch ein wichtiger Bestandteil der Entstehungsgeschichte der CNHI sein und daher ausführlich im zweiten Teil der Arbeit aufgegriffen. 529 530
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tion und die daraus resultierende innere Spannung zwischen Vergangenheit und neuer Identität trugen mit zur öffentlichen Meinung bei, die sich Ende der 1980er/Anfang der 1990er Jahre durchsetzte, dass dieses Museum seine Aufgabe nicht erfüllen könne. In dieser Phase der durchweg negativen Beurteilung des MAAO begann ein musealer Umwälzungsprozess ungeahnten Ausmaßes, der 1992, parallel zum Skandal um Marchal, seinen Anfang genommen hatte und in dessen Strudel das MAAO nun zunehmend gezogen werden sollte. In diesem Jahr hatten sich Jacques Chirac, damals noch Bürgermeister von Paris, und der Kunstsammler Jacques Kerchache auf der Île Maurice kennengelernt.531 Aus dieser Bekanntschaft erwuchs die Idee, ein großes, neues Museum für die ‚Arts premiers‘ zu schaffen. Dies verkündete Chirac dann offiziell, kurz nach seinem Amtsantritt als Präsident 1995.532 Er beauftragte dazu Jacques Friedmann, einen engen Freund, mit der Leitung einer Kommission, die die Machbarkeit evaluieren und erste Entwürfe kreieren sollte.533 Diese Kommission ‚Friedmann‘ legte bereits im August 1996 ihren Bericht vor.534 Aus diesem ging eindeutig hervor, dass das zukünftige Museum hauptsächlich aus den Sammlungen des Musée de l’homme und des MAAO bestehen und damit die von Marchal bereits beklagte ‚institutionelle Schizophrenie‘ auf diesem Gebiet ein Ende haben sollte.535 Der überholte Charakter, der den beiden Häusern nachgesagt wurde, und speziell die äußerst negative Wahrnehmung des MAAO beförderten diese Pläne. Des Weiteren war dem Bericht zu entnehmen, dass auch wenn man sich über die konkrete Umsetzung und Form des neuen Museums nicht ganz einig war, das MAAO auf jeden Fall völlig in dem neuen Museum aufgehen sollte.536 Darüber hinaus wurde klar gemacht, dass das Gebäude des MAAO, der Palais de la Porte Dorée, für das neuen Museum auf keinen Fall in Frage käme.537 Die klare Ablehnung des Palais de la Porte Dorée scheint vor dem Hintergrund der vermehrten Problematisierung des Ortes in der Zeit des MAAO, der offensichtlichen Auswirkung, die die Vergangenheit auf das Museum hatte, nachvollziehbar. Man entschied sich vorläufig für die Unterbringung des neuen Museums im Palais du Trocadéro, im Passyflügel. Hier sollte das Musée de l’homme aufgelöst und das Musée de la Marine verlagert werden. Erst später entschied man sich dann doch für einen kompletVgl. Raizon, Dominique, Chronique d’une naissance difficile, in: Rfi (27.04.2006). Chirac hatte von Beginn seiner Präsidentschaft an klar gemacht, dass seine (einzige) Grands Travaux ein Museum für die ‚Art premier‘ werden sollte – er war selbst ein Liebhaber und Sammler von Kunstwerken außereuropäischer Kulturen und wollte sich als solcher ein Denkmal schaffen. Vgl. Raizon, Chronique d’une naissance difficile. 533 Vgl. Lebovici, Elisabeth, Quel musée pour les arts premiers?, in: Libération (08.08.1996). 534 Vgl. Friedmann, Rapport de la commission „Arts premiers“, Einsehbar unter: URL: http://www.la documentationfrancaise.fr/rapports-publics/974042200/index.shtml (Zugriff 22.08.2016). 535 Vgl. ebd. S. 3ff und S. 7 f. 536 Insbesondere vom Direktor des Muséum d’Histoire naturelle, Lumeley, gab es Widerstände gegen bestimmte Pläne, wie beispielsweise die drei Laboratorien des Musée de l’homme zu trennen. Das lag u. a. darin begründet, dass das Musée de l’Homme formal zum Muséum d’Histoire naturelle gehörte. 537 Vgl. Friedmann, Rapport de la commission „Arts premiers“, S. 15. 531 532
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ten Neubau. Obgleich Chirac immer davon sprach, ein Museum für die ‚Arts premiers‘ kreieren zu wollen, wurde im Bericht der Wunsch geäußert, eher ein „Musée des arts et de civilisation“ schaffen zu wollen, das sowohl ästhetische als auch ethnologische Aspekte beinhaltete und damit die alte Trennung zwischen Kunstmuseum und ethnologischem Museum aufheben sollte.538 Der Fokus der Sammlung wurde dabei auf Afrika, Ozeanien, Asien und Amerika gerichtet. Es war klar, dass Frankreich außen vor bleiben sollte, da es hierfür bereits das Musée national des Arts et traditions populaires (MNATP) gab. Darüber hinaus wurde die Einrichtung einer Abteilung für die ‚Arts premiers‘ im Louvre stark befürwortet.539 Mit diesem Bericht war das Ende des MAAO abzusehen. 1.3c
Höhepunkt vor dem Ende: ‚Star-Kuratoren‘ im MAAO
Von der Veröffentlichung des Berichts der Kommission Friedmann 1996 bis zur endgültigen Schließung des MAAO 2003 blieb das Museum äußerst aktiv – das hatte vor allem mit der Besetzung des Amtes des Chefkurators zu tun. Hier wurden in der Folge zwei renommierte Kuratoren des Musée d’Art moderne de la ville de Paris eingesetzt: Jean-Hubert Martin und Germain Viatte. Sie begleiteten das MAAO in seiner letzten Phase und sorgten für spektakuläre Wechselausstellungen, die die Ausrichtung des Hauses an der modernen Kunst betonten und förderten. Diese beiden Akteure stehen daher auch für den Höhepunkt der Vereinnahmung außereuropäischer Kulturen durch den westlichen Kunstkanon und die dazugehörigen musealen Institutionen. Jean-Hubert Martin und ‚Les Magiciens de la terre‘ 1994/95 bekam das Museum einen neuen Chefkonservator. In diesem Fall handelte es sich um einen ‚Shooting-Star‘ der Ausstellungswelt in Sachen außereuropäische und europäische zeitgenössische Kunst: Jean-Hubert Martin. Er hatte 1989 die Ausstellung ‚Magiciens de la Terre‘ im Centre Pompidou und in La Vilette kuratiert und damit einen Coup gelandet.540 Im Anschluss daran wurde er neuer Chefkonservator des
Vgl. ebd. S. 25 ff. Vgl. ebd. S. 16 ff. Der Erfolg der Ausstellung wird durch die Hommage, die ihr 2015 zuteil wurde, untermauert, indem die Ausstellung das Thema der Summer School des Centre Pompidou wurde und im Anschluss daran eine Dokumentation der Ausstellung von Martin in Form einer aktuellen Wechselausstellung im Centre Pompidou stattfand, die Dokumente, Archivmaterial etc. bereitstellte. Vgl. URL: http://magiciensdelaterre.fr/ home.php (Zugriff 28.07.2016) und Centre Pompidou (Hrsg.), Le journal de l’université d’été de la Bibliothèque Kandinsky #1 2014 „Magiciens de la terre“. Sources, Archives, Documents exposés (10.07.2014). 538 539 540
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MAAO.541 So erscheint es nicht verwunderlich, dass er nun bestrebt war, das MAAO viel stärker als zuvor an der zeitgenössischen Kunst in europäischen und vor allem außereuropäischen Ländern zu orientieren. Dazu passte auch, dass das MAAO seit 1994 autorisiert war, auch zeitgenössische Werke selbst zu erwerben.542 Insgesamt beurteilt Busca Martin als ‚selbsternannten Propheten‘, der das MAAO retten sollte und wollte: L’initiateur de « Magiciens de la terre » se vit comme un innovateur qui a dû payer ses audaces au prix fort. Lorsqu’il a pris la direction du MAAO, le musée était devenu un champ de friche, un bateau ivre, avec une tutelle perpétuellement désemparée face à un musée à l’objet si tendancieux, une direction controversée, un budget étriqué, des projets irréalisés, une image mal identifiée. Il est arrivé avec sa notoriété, son style, et sans doute le désir de tout bouleverser en jouant sur les deux tableaux, de la création et de l’institution, expérimentateur, auteur et administrateur […] jouer le rôle du découvreur, du révélateur.543
Hier werden alle negativen Merkmale, die dem MAAO gerade in der Zeit Marchals immer wieder vorgeworfen wurden, akkumuliert, um zu verdeutlichen, in welches Fahrwasser sich Martin begab: das MAAO als ‚Brachland‘, als ‚leckes Schiff ‘, das mit wenig Budget, einer umstrittenen institutionellen Zugehörigkeit und einem unklaren Image zu kämpfen hatte. Martin selbst beurteilte die Situation des MAAO bei seiner Ankunft durchaus ähnlich: „Le début des années 90 marque pour le musée une période de réflexion et de trouble. […] il peine à définir son identité et à établir une dynamique de propositions.“.544 Im Folgenden soll nun näher das Konzept von ‚Magiciens de la terre‘ beleuchtet werden, da es einerseits die Ansätze Martins in Bezug auf die Ausstellung außereuropäischer Kunst aufzeigt und andererseits als Vorläufer für die Ausstellung ‚Galerie des cinq continents‘ gesehen werden kann, die eine der wichtigsten (Wechsel-)Ausstellungen des MAAO in der Zeit Martins darstellte. Die Ausstellung ‚Magiciens de la Terre‘ fand 1989 in Paris statt und wurde im Centre Pompidou und in La Villette veranstaltet.545 Hundert zeitgenössische Künstler aus der ganzen Welt waren ausgewählt und eingeladen worden, um ihre Werke auszustellen. Von Anfang an war hierbei eine zentrale Idee Martins gewesen, den klassischen Begriff der zeitgenössischen Kunst zu entgrenzen und Kulturen, Künstler und ihre Werke zu zeigen, die man bisher nicht
Vgl. Biographie de Jean-Hubert Martin, URL: http://magiciensdelaterre.fr/pdf/Biographie_Jean_ Hubert_Martin (Zugriff 28.07.2016). 542 Vgl. Busca, L’Art contemporain africain: du colonialisme au postcolonialisme, S. 107. 543 Ebd. S. 110. 544 Martin, Jean-Hubert, Préface, in: RMN (Hrsg.), Le Musée des Arts d’Afrique et d’Océanie, Paris 1999. S. 5–7. S. 7. 545 Vgl. Katalog zur Ausstellung: Centre Pompidou (Hrsg.), Magiciens de la Terre, Paris 1989; daneben wurde mittlerweile auch online Material zur Verfügung gestellt, was anlässlich einer Jubiläumsdokumentation im Centre Pompidou erstellt wurde: URL: http://magiciensdelaterre.fr/home.php (Zugriff 28.07.2016). 541
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unbedingt zu dieser Kategorie gezählt hatte.546 Er wollte der Behauptung entgegenwirken, dass nur der Westen Kunstwerke im klassischen Sinn hervorgebracht habe bzw. zeitgenössisch hervorbringe. Die zeitgenössische westliche Kunstproduktion sollte aus ihrem ‚Ghetto‘ befreit werden. Er wollte eine umfassende Anerkennung und Aufwertung der außereuropäischen Kulturen erreichen, indem er ihnen den Status des ‚Zeitgenössischen‘ einerseits und der ‚Kunst‘ andererseits zuerkannte und sie auf eine Ebene mit der zeitgenössischen westlichen Kunstproduktion stellte.547 Es ging hier um Gleichberechtigung und die Ablehnung eines rein eurozentrischen Blicks. Martin zielte auf eine „enquête sur la création dans le monde aujourd’hui“,548 die wieder den Gedanken der Weltkunst, der ästhetisch-schöpferischen Tätigkeit als anthropologischer Konstante, aufscheinen ließ. Dabei benutzte Martin die globale Kommunikation, den globalen Dialog als Leitmotiv seiner Ausstellung.549 Die ausgewählten Künstler wurden nach besonderen Vorarbeiten selektiert: Sie wurden alle an ihrem Schaffensort besucht und nach bestimmten Kriterien ausgewählt. Zu diesen gehörte u. a. die Originalität und Innovationskraft der Arbeiten, die erkennbare Beziehung des Künstlers zu seinem sozialen Umfeld, die erkennbare Intention des Künstlers in seinem Werk, die Energie des Künstlers, seine Verbindung zu anderen Kulturen550 – trotz dieser Kriterien oblag es Martin persönlich und einem kleinen Kreis von Auserwählten, am Ende die endgültige Auswahl zu treffen. Als Kunstwerk konnte für Martin alles gelten, was eine Aura, eine metaphysische Strahlkraft besaß. Daher schien für ihn auch der Begriff der ‚Magie‘ für den Ausstellungstitel naheliegend. Er ließ sich dabei von Joseph Beuys als ‚Schamanen der Kunst‘ inspirieren.551 Gleichzeitig konnte er über den Begriff der ‚Magie‘ die Verwendung des Wortes ‚Kunst‘ im Titel der Ausstellung vermeiden, was für ihn von Bedeutung war, denn einige der präsentierten Künstler kamen aus Kulturen, in denen dieses Konzept nicht vorhanden war und dementsprechend nicht verstanden wurde. Daran knüpfte auch eine große Kritik an der Ausstellung an: Zwar machte sie es sich zur Aufgabe, den zeitgenössischen Kunstbegriff zu entgrenzen, doch gleichzeitig war er auch die Grundlage des Ausstellungskonzepts.552 Es stellte sich also die Frage, ob nicht unterschwellig Vgl. Martin, Préface, in: Magiciens de la Terre, S. 8. Vgl. ebd. Diesen Gedanken betont Martin nach seiner Amtszeit am MAAO erneut anlässlich der ersten Ausstellung, die er an einem neuen Haus, dem Museum Kunstpalast in Düsseldorf umgesetzt hat: Er äußert in einem Interview, dass besonders den zeitgenössischen, außereuropäischen Kunstproduktionen der Status des Kunstwerks verweigert bliebe. Vgl. Danelzik-Brüggemann, Christoph / Scholz, Dieter, Altäre ins Museum! Interview mit Jean-Hubert Martin, in: Kritische Berichte 1/01 (2001). S. 47–52. 548 Martin, Préface, in: Magiciens de la Terre, S. 8. 549 Vgl. ebd. 550 Vgl. ebd. S. 9. 551 Vgl. o. A. Contexte politique et culturel, in: Centre Pompidou (Hrsg.), Le journal de l’université d’été de la Bibliothèque Kandinsky #1 2014 „Magiciens de la terre“. Sources, Archives, Documents exposés (10.07.2014). 552 Vgl. Laurent, Jeanpierre, L’Art sans frontières: dernière frontière de l’Art? Réflexions sur Magiciens 546 547
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ein westlich-neokolonialer Blick etabliert wurde, der die Unterschiede zwischen dem Westen und den anderen Kulturen nicht eher betonte als sie zu überwinden? Einige der vertretenen ‚Künstler‘ und ihre Werke passten nicht recht in den westlichen ‚Kunstbegriff ‘, ihre Arbeiten gehörten in einen funktional-rituellen Kontext, der in der Ausstellung aber oft gar keinen Platz fand. Gleichzeitig äußerte Martin selbst, dass er hier Werke, die zu sehr von ihrem Kontext abhängig waren, unabhängig von diesem zu schwer lesbar waren, gar nicht erst ausgewählt habe, ebenso wie Werke, die als zu marginal erschienen und zu wenig repräsentativ wirkten.553 Das subjektive Vorgehen Martins, die zwangsläufig unmöglich völlig ausgeglichene und ebenbürtige Auswahl und Präsentation der Werke, handelte der Ausstellung viel Kritik ein. Martin erschien als ‚Kurator-Künstler‘, der sich die Ausstellung zum Werk machte und oft autonom handelte. Martin trieb hier das Konzept der Aufwertung und Emanzipation durch Ästhetisierung und Eingliederung in den westlichen Kunstkanon auf die Spitze: Die Werke aller Kulturen der Welt standen ihm als von ihm selbst ernannte Kunstwerke zur Verfügung. Martin, als westlicher Kurator, konnte frei über sie verfügen und sie zu Arrangements seiner Wahl zusammenstellen, die dann das ‚schöpferische Genie der Menschheit‘ veranschaulichen sollten. ‚Die Galerie der fünf Kontinente‘ Die größte Wechselausstellung Martins im MAAO, die ‚Galerie der fünf Kontinente‘, stellte ein Echo des analysierten Vorgehens Martins dar. Bedeutend, auch im Hinblick auf die Ausstellung ‚La Galerie des cinq continents‘, erschienen die Nähe, aber auch die Distanz zu Malrauxs Konzept von Kunst und vom ‚Musée imaginaire‘. Die Verwandtschaft zur Idee der Weltkunst wurde bereits erwähnt, aber ein weiterer Aspekt scheint in diesem Beispiel auf: „Il s’agit bien […] de rassembler dans un même lieu des œuvres d’art du monde entier. Il s’agit surtout de rassembler en un même lieu ce qui ne l’est jamais.“554 Hier sollte also im Sinne des Musée imaginaire und der Ausrichtung des Kulturministeriums ein großer Teil der (Kunst-)Werke der Menschheit zum ersten Mal zusammengetragen werden. Dabei ging es weniger um deren Entstehungskontext und seine Rekonstruktion als vielmehr um die Aura und die metaphysische Strahlkraft des Werks. Gleichzeitig wurde aber bewusst vermieden, eine direkte visuelle Konfrontation der Werke zu inszenieren, die einen formalen, ästhetischen Ver-
de la terre et ses critiques, in: Centre Pompidou (Hrsg.), Le journal de l’université d’été de la Bibliothèque Kandinsky #1 2014 „Magiciens de la terre“. Sources, Archives, Documents exposés (10.07.2014). 553 Vgl. Martin, Préface, in: Magiciens de la Terre, S. 9 ff. 554 Kommentar der Organisatoren zit. nach Laurent, Jeanpierre, L’Art sans frontières: dernière frontière de l’Art? Réflexions sur Magiciens de la terre et ses critiques.
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gleich erlaubt hätte, dies entsprach nicht Martins Ziel.555 Wie bereits angedeutet, geriet die Ausstellung von Anfang an in die Kritik.556 Die problematischen und ambivalenten Aspekte dieses Ausstellungskonzepts zeigten sich sechs Jahre später ebenso in der Ausstellung ‚La Galerie des cinq continents‘ im MAAO. Die Ausstellung, die 1995 im MAAO stattfand, war ursprünglich als Dauerprojekt des Hauses gedacht und sollte beliebig fortgesetzt werden können, was aber nicht gelang. Die Idee war hier, im Anschluss an ‚Magiciens de la Terre‘, zeitgenössische Künstler von allen fünf Kontinenten einzuladen und auszustellen. Die erste und einzige Auswahl von fünf Künstlern umfasste: David Malangi aus Australien, Frédéric Bruly Bouabré aus Afrika, Huang Yong Ping aus Asien, Joe Ben Junior aus Nordamerika und Bertrand Lavier aus Europa. Ein Teil der Künstler war auch schon bei der Ausstellung ‚Magiciens de la Terre‘ dabei gewesen und wurde ‚recycelt‘. Im Mittelpunkt standen der einzelne Künstler, sein Werk und seine Verbindung zu seiner Ursprungskultur. Untereinander und in ihrem Werk verband die Künstler erst einmal nichts. Martin formulierte die generelle Ausrichtung und Zielsetzung der Ausstellung so: […] pour toutes ces raisons il [l’Occident] peut aujourd’hui tenter d’établir un dialogue avec leurs auteurs [de ces cultures]. Il est urgent de le faire pour montrer que l’Occident peut ne pas se contenter de manipuler – scientifiquement et financièrement – des objets, mais qu’il peut également s’intéresser à des êtres humains et à leur capacité de communiquer. C’est donc à une sorte d’addition d’expositions personnelles qu’ont été conviés les artistes dans le cadre de la « Galerie des Cinq Continents ». Chacun est invité à montrer son œuvre, mais également à choisir un certain nombre d’objets de sa propre culture et à les commenter.557
Jedoch gerade der Aspekt, dass die Künstler durchaus auch als Repräsentanten der Kultur gesehen wurden und Objekte aus ihrer Kultur mitbringen sollten, erwies sich
Vgl. o. A. Contexte politique et culturel. Obgleich in einer Ausstellung Martins von 2016 genau dies zum Leitprinzip erhoben wird und ein Journalist dies als ‚autobiografischen‘ Aspekt der Ausstellung Martins deutet, also verdeutlicht, dass dies schon immer sein markanter Ansatz gewesen sei. Vgl. Dagen, Philippe, Le cabinet de curiosités de Jean-Hubert Martin, in: Le Monde (02.03.2016). 556 Ausführlich dokumentiert in: Centre Pompidou (Hrsg.), Le journal de l’université d’été de la Bibliothèque Kandinsky #1 2014 „Magiciens de la terre“. Sources, Archives, Documents exposés (10.07.2014). Dabei erscheint ein Interview mit Daniel Buren, der selbst an der Ausstellung teilnahm und in einem Interview seine damaligen Bedenken äußert, besonders interessant: „I was thinking specifically about the heritage of that culture which is not exempt from colonialism, neocolonialism, or paternalism […] For example, there was a woman from somewhere in South Africa who spent the time of the show painting false houses, reconstructed in La Vilette, that looked like the ones in her village! Unbelievable! As you know, in the mid 19th century, Europe was very interested in showing people from Africa, the Amazon, or Australia, in the context of the circus and even as animals. In Paris, for example, a huge exhibition was held […] where complete families from Africa and Australia were supposed to be living „as at home“.“ Interview with Daniel Buren, in: Centre Pompidou (Hrsg.), Le journal de l’université d’été de la Bibliothèque Kandinsky #1 2014 „Magiciens de la terre“. Sources, Archives, Documents exposés (10.07.2014). 557 Martin, Jean-Hubert, Préface, in: Musée national des Arts d’Afrique et d’Océanie (Hrsg.), Galerie des cinq continents. David Malangi, Paris 1995. 555
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Von der Exposition coloniale internationale bis zur Schließung des MNAAO
als ambivalent: F. Bruly Bouabré beispielsweise bat explizit darum, nicht auf seine Ursprungskultur, die der Bété, reduziert zu werden und wollte auch Arbeiten von sich ausstellen, die nichts mit dieser Kultur zu tun hatten.558 Huang Yong Ping hingegen zweifelte in dem mit ihm geführten Interview daran, dass er als repräsentativ für seine Kultur gesehen werden könne.559 Auch die in dem Zitat angewandte Bezeichnung der Ausstellenden als Künstler mit einem Werk und der daraus resultierende Umgang mit ihnen ist für die Betroffenen selbst nicht immer nachvollziehbar: Anlässlich des mit ihm geführten Interviews macht D. Malangi klar, dass er diese Form der Kommunikation nicht kenne und gar nicht verstehe, warum ihm all diese Fragen gestellt würden, er sehe sich in diesem Rahmen nicht unbedingt als Künstler und wollte hier auch keine Intention vermitteln. Er stellte sogar Martins Konzept eines universellen Gedankens der Kunst in Frage, in dem er äußerte, dass er die ‚Kunst der Weißen‘ nicht verstehe und sie uninteressant finde.560 Joe Ben Junior hingegen präsentierte sich selbst eindeutig als Künstler, obwohl es bei ihm um die Realisierung von Arbeiten ging, die einen stark rituell-funktionalen Charakter hatten und in ihrer Kultur weniger als Kunstwerke, denn als Methode/Mittel zur Heilung kranker Menschen verstanden werden. Er positionierte sich ganz eindeutig als Repräsentant der Navajo-Kultur und eines dort üblichen Rituals.561 Im engeren Sinne als zeitgenössische Künstler, die sich auch so verstanden und deren Werk einen kontextunabhängigen Selbstzweck erfüllte, konnten vermutlich nur Huang Yong Ping und Bertrand Lavier verstanden werden. Gerade bei letzterem beruhte die Arbeit zu einem nicht unwesentlichen Teil auf der Voraussetzung, ‚Kunst zu machen‘ im Sinne des Ready-mades.562 Er präsentierte sich im Interview bewusst als Künstler, der irritieren will, der dies als Stilmittel verwendete.563 Sowohl die Äußerung der Künstler zu ihrer eigenen Person und Rolle sowie zu dem Konzept von Martin als auch die ambivalente Reaktion auf den Vorläufer ‚Magiciens de la Terre‘ zeigt, dass diese Vorgehensweise nicht gerade unumstritten war und ist. Die Gegenüberstellung von Künstlern und Werken, die kaum eine Gemeinsamkeit aufwiesen, die auch nicht aufgrund von Themen oder Inhalten, die präsentiert werden sollten, ausgewählt wurden, sondern einzig und allein, um möglichst unterschiedliche, aber eben dennoch als verwandte, da künstlerisch tätig gedachte, Autoren von Werken Vgl. Féau, Étienne, Avant-propos, in: Musée national des Arts d’Afrique et d’Océanie (Hrsg.), Galerie des cinq continents. Frédéric Bruly Bouabré, Paris 1995. 559 Vgl. De la Rosa, Philippe Garcia, Interview avec Huang Yong Ping, in: Musée national des Arts d’Afrique et d’Océanie (Hrsg.), Galerie des cinq continents. Huang Yong Ping, Paris 1995. 560 Vgl. Peltier, Philippe, Interview avec David Malangi, in: Musée national des Arts d’Afrique et d’Océanie (Hrsg.), Galerie des cinq continents. David Malangi, Paris 1995. S. 41 ff. 561 Vgl. De la Rosa, Philippe Garcia, Interview avec Joe Ben Junior, in: Musée national des Arts d’Afrique et d’Océanie (Hrsg.), Galerie des cinq continents. Joe Ben Junior, Paris 1995. 562 Vgl. Martin, Jean-Hubert, Préface „Mettre cartes sur table“, in: Musée national des Arts d’Afrique et d’Océanie (Hrsg.), Galerie des cinq continents. Bertrand Lavier, Paris 1995. S. 13. 563 Vgl. De la Rosa, Philippe Garcia, Interview avec Bertrand Lavier, in: Musée national des Arts d’Afrique et d’Océanie (Hrsg.), Galerie des cinq continents. Bertrand Lavier, Paris 1995. 558
Vom Musée de la France d’outre-mer zum Musée des arts africains et océaniens
an einem Ort zu versammeln, ist nicht jedem zugänglich oder verständlich. Joëlle Busca beurteilt diese Ausstellung entsprechend als ‚Versuch ein Kuriositätenkabinett moderner Art‘ zu errichten. Es sei weniger um die Werke, die Künstler und ihren künstlerischen Ausdruck gegangen als vielmehr um das Gesamtkonzept der Ausstellung, das Konzept des Kurators – Martin praktiziere hier eine „auto-célébration de l’inventeur du concept“, die den Künstler eindeutig dem Willen und dem Ziel des Kurators unterwerfe.564 Gleichzeitig bot diese Perspektive verstärkt eine neue Relevanz für das MAAO – indem es sich als tatsächliches modernes Kunstmuseum präsentierte, das in seinem Bezug zur zeitgenössischen Kunstproduktion versuchte, außereuropäische und europäische Künstler und ihre Werke zusammenzubringen. So schien es endlich seinem Namen und seiner institutionellen Zuordnung gerecht zu werden. In der Folge machte Martin bei der Präsentation von Wechselausstellungen in den dazugehörigen Katalogtexten immer wieder klar, dass die präsentierten Objekte für ihn den Status von Kunstwerken einnahmen und als solche anerkannt werden sollten, auch wenn eine Ausstellung wie ‚De soie et d’or, broderies du Maghreb‘ von 1996 eher an die bereits unter Marchal vorherrschende Ausstellungspraxis erinnerten, die ästhetische und ethnologische Präsentationsweisen mischte – schließlich wurden hier Textilien aus dem Maghreb, mit dem Schwerpunkt Marokko, die allein von den Frauen hergestellt wurden, als Beispiel für eine der bekanntesten Kulturtechniken Nordafrikas ausgestellt. So ließ es sich Martin nicht nehmen, in seinem Text im Katalog der Ausstellung zu betonen: „Le monde des musées a fait accéder maints objets qui étaient voués à la destruction au statut d’œuvres d’art. Dans le cas des broderies maghrébines, les ouvrages rivalisent de richesse et de complexité technique“.565 Diese Aufwertung und Anerkennung wurde von Martin aber auch über einen anderen Weg erreicht, so lud er Annette Messager ein, das MAAO zu bespielen.566 Über die Präsentation bekannter zeitgenössischer europäischer Künstler wollte er erreichen, dass die außereuropäische zeitgenössische Kunstproduktion mit dieser auf einer Ebene gesehen wurde, wie er es bereits bei den ‚Magiciens‘ geäußert hatte: Über das Zugeständnis des ‚zeitgenössischen Kunststatus‘ wollte er eine Gleichberechtigung erreichen. Darüber hinaus diente beispielsweise die Wechselausstellung ‚Arts du Nigéria‘ von 1997 dazu, einen bedeutenden Neuerwerb des MAAO zu dokumentieren und gleichzeitig damit dem Publikum eine neue, bisher durchaus verkannte Kunstform zu vermitteln. Man hatte mit Hilfe des damaligen Kulturministers Philippe Douste-Blazy erreicht, dass die Sammlung Barbier-Mueller, die schwerpunktmäßig Objekte aus Nigeria umfasste, für das MAAO erworben wurde. Damit konnte das Museum eine wichtige Fehlstelle ausgleichen und zugleich seine Rolle als Museum zur Vermittlung Vgl. Busca, L’Art contemporain africain: du colonialisme au postcolonialisme, S. 109. Martin, Jean-Hubert, Charme des ouvrages d’aiguille du Maghreb, in: Institut du monde arabe, De soie et d’or, broderies du Maghreb, Paris 1996. S. 11 566 Vgl. Busca, L’Art contemporain africain: du colonialisme au postcolonialisme, S. 111 ff. 564 565
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fremder, unbekannter Kulturen und ihrer ästhetischen Produktion stärken. Ähnliches verfolgte man in der Ausstellung ‚Batéké. Peintures et Sculptures d’Afrique centrale‘ von 1998. Auch hier war die Zielsetzung, diese unbekannte Ethnie und ihre künstlerische Produktion einem breiteren Publikum zu vermitteln und dabei ihre Vielfältigkeit und ihren Reichtum zu zeigen. In diesem Fall betonen Etienne Féau und Marie-Claude Dupré, dass es in einer langfristigen Perspektive um eine vollumfängliche Anerkennung und eine Abnabelung von der eurozentrischen, westlichen Perspektive auf die afrikanische Kunst gehe.567 Das MAAO war mit dieser Entwicklung und diesen Wechselausstellungen seiner eigentlich ursprünglich angedachten Identität und Funktion als Museum für außereuropäische Kunst näher als jemals zuvor gekommen. Die von Dupré und Féau angedeutete Reflexion über den durch Eurozentrismus und Kolonialismus geprägten Umgang mit Objekten außereuropäischer Kulturen barg das Potenzial, aus dem MAAO ein Museum zu machen, das seine Ursprünge und die damit einhergehenden Wahrnehmungs- und Beurteilungsmuster hinterfragen und durchbrechen hätte können. Nur kam dieser Ansatz für das Museum zu spät. Jean-Hubert Martin war damals als Direktor des MAAO bereits Teil der Kommission, die die Konzeption des neuen chiracschen Museums für die ‚Arts premiers‘ vorantrieb. Er blieb in der Folge noch bis 1999 und wurde dann von Germain Viatte abgelöst. Dies schien konsequent, denn Viatte war bereits 1997, als er noch Direktor des Centre Pompidou war, zum Vorsitzenden der museologischen Planung und Umsetzung des neuen chiracschen Museums ernannt worden.568 Dies bedeutete auch, dass Viatte ab 1999 in einer Doppelfunktion parallel die Schaffung des neuen chiracschen Museums überwachte und die Schließung des MAAO begleitete. Germain Viatte und ‚La mort n’en saura rien‘ Nach Jean-Hubert Martin wurde ein zweites Mal ein Direktor des Musée d’Art moderne (Centre Pompidou) zum Chefkonservator des MAAO. Wie Monjaret et al. betonen, wollte Viatte, dass das MAAO bis zum letzten Tag wie üblich weitergeführt wurde und all seine Aktivitäten fortsetzte. Es sollte sogar im ‚bestmöglichen Zustand‘ schließen.569 So wurde auch das Programm der Wechselausstellungen in Kontinuität zur Arbeit Marchals und Martins fortgesetzt:
Vgl. Dupré, Marie-Claude / Féau, Etienne, Batéké, in: Musée national des Arts d’Afrique et d’Océanie, Batéké. Peintres et sculpteurs d’Afrique centrale, Paris 1998. S. 18–23. S. 18. 568 Vgl. o. A. Germain Viatte aux Arts premiers?, in: Libération (06.02.1997). 569 Vgl. Monjaret, Fin du MAAO: un patrimoine revisité, S. 609. 567
Vom Musée de la France d’outre-mer zum Musée des arts africains et océaniens
1995
1996
1997
1998
1999
2000
2001
(23 mars – 03 juillet)
Noces tissées, noces brodées: parures et costumes féminins de Tunisie
(21 sep. ’95 – 15 janv. ’96)
Exposition Galerie des cinq continents570
(Février – Avril)
Géographie tapissée (Hervé Di Rosa / Romuald Hazoumè)
(Mai – Septembre)
Asmat et Mimika (nouvelles Acquisitions d’Océanie)
(11 juin – 29 septembre)
De soie et d’or, broderies du Maghreb571
(Septembre – Novembre)
‚Court Yard‘, 12 artistes femmes sud-africaines
(Octobre – Novembre)
Portraits kanak. Paroles kanak, photos de Fritz Sarasin 1911–1912
(03 déc. ’96 – 17 fév. ’97)
Arman et l’art africain
(22 avril – 18 août)
Arts du Nigeria. Collection du musée des Arts d’Afrique et d’Océanie
(Mai – Août)
Chéri Samba
(Septembre – Octobre)
Mémoires Vaudou, art contemporain
(Octobre ’97 – Février ’98)
Vanuatu. Océanie. Arts des îles de cendre et de corail
(Janvier – Juin)
Esther Mahlangu, peintures murales
(Avril – Juin)
Annette Messager „C’est pas au vieux singe qu’on apprend à faire la grimace“
(Juin – Août)
Ils sortent de leurs réserves, nouvelles acquisitions du MAAO
(30 sep. ’98 – 04 janv. ’99)
Batéké: peintres et sculpteurs d’Afrique centrale572
(Nov. ’98 – Janv. ’99)
Et voilà de Xavier Lucchesi, radiographies d’œuvres d’art africain
(Nov. ’98 – Janv.’99)
Veilleurs du monde, cinq installations d’artistes africains et européens
(21 avril – 09 août)
Coiffures/sculptures d’Océanie, les Melkoi de Nouvelle Bretagne et les Marind d’Irian Jaya
(13 oct. ’99 – 28 fév. 2000)
La Mort ne saura rien: reliques d’Europe et d’Océanie
(Oct. ’99 – Janv. 2000)
Farid Belkahia, Monographie de l’artiste
(Oct. ’99 – Janv. 2000)
Clovis Trouille, Monographie de l’artiste
(07 avril – 26 juin)
Makishi. Rituels et masques en Afrique australe
(18 oct. 2000 – 15 janv. ’01)
Soundiata Keïta, dessins de Dialiba Konaté et paroles de Griots
(01 avril – 25 juin)
Tahiti 1842–1848
(25 avril – 16 juillet)
Marc Couturier – Secrets
(24 oct. 2001 – 18 fév. ’02)
Kannibals et vahinés573
Vgl. Die mehrbändige Publikation Musée national des Arts d’Afrique et d’Océanie (Hrsg.), Galerie des cinq continents, Paris 1995. 571 Vgl. Institut du monde arabe (Hrsg.), De soie et d’or, broderies du Maghreb, Paris 1996. 572 Vgl. Musée national des Arts d’Afrique et d’Océanie, Batéké. Peintres et sculpteurs d’Afrique centrale, Paris 1998. 573 Vgl. RMN / Boulay, Roger (Hrsg.), Kannibals & Vahinés. Imagerie des mers du Sud, Paris 2001. 570
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Von der Exposition coloniale internationale bis zur Schließung des MNAAO
2002/2003
(20 février – 17 juin)
Ubuntu: Arts et cultures d’Afrique du Sud
(21 sep. ’02 – 31 janv. ’03)
Exposition parcours ‚mémoires du lieu‘
(09 oct. ’02 – 6 janv. ’03)
Le boubou – c’est chic: les boubous du Mali
(09 oct. ’02 – 06 janv. ’03)
Mali Photos. Sténopés d’Afrique
(06 nov. ’02 – 20 janv. ’03)
Kodiak, Alaska. Les masques de la collection Alphonse Pinart574
Innerhalb des Programms der Wechselausstellungen wurde der Fokus auf zeitgenössische westliche wie nicht-westliche Kunstproduktion verstärkt. Ein Beispiel dafür war die Ausstellung ‚Marc Couturier. Secrets‘ von 2001, in der der zeitgenössische Künstler Couturier die Kultur der Aborigines in seiner Installation aufgriff.575 Parallel wurde die traditionelle und zeitgenössische Kunstproduktion der Aborigines ausgestellt. Damit wurde die ‚Kunst‘ der Aborigines durch ihre Integration in das Werk eines westlichen Künstlers und die zeitgleich explizite Präsentation ihrer eigenen, zeitgenössischen Arbeiten aufgewertet. Ähnlich geht man bei der Ausstellung ‚Soundiata Keïta, dessins de Dialiba Konaté et paroles de griots‘ von 2000/2001 vor.576 Allerdings ist es in diesem Fall ein nach Frankreich emigrierter, ursprünglich senegalesischer Künstler, dem die Ausstellung gewidmet wird: Dialiba Konaté. Er illustriert in Zeichnungen hier die Sagen um den Volkshelden Soundiata Keïta aus seiner Heimat. So wird ein Bezug zwischen zeitgenössischer Kunstproduktion und der Tradition Senegals hergestellt. Mit diesen Beispielen wird klar, dass das MAAO seit Martin verstärkt den Zugang über die zeitgenössische westliche und außereuropäische Kunst wählte. Dies hatte die doppelte Funktion, einerseits die Emanzipation der außereuropäischen Kulturerzeugnisse über ihre Ästhetisierung und Aufnahme in den Kunstkanon voranzutreiben. Andererseits konnte man sich damit als modernes Kunstmuseum präsentieren, das sich so stärker an der Gegenwart orientieren und von der eigenen Vergangenheit lösen konnte. Daneben widmete man sich aber auch wieder ganz klassisch der Präsentation bisher in Frankreich unbekannter oder verkannter Kulturen und ihrer Produkte, um diese dem französischen Publikum näher zu bringen. Dabei wurden viele Objekte, ganz im malrauxschen Sinne, zum ersten Mal im MAAO gezeigt und damit dem französischen Publikum zugänglich gemacht. Dies war der Fall bei der Ausstellung ‚Makishi‘, die Masken und ihre rituelle Verwendung aus verschiedenen Regionen Afrikas zeigte.577 Hier wurde eine eher ethnologische Präsentationsweise gewählt, mit illustrierenden Vgl. Desveaux, Emmanuel (Hrsg.), Kodiak, Alaska. Les masques de la collection Alphonse Pinart, Paris 2002. 575 Vgl. Rapport d’activité 2001, Archives Musée du Quai Branly, Fonds Musée national des Arts d’Afrique et d’Océanie, Série B – Administration générale, Dokument DA003200/67174. S. 19. 576 Vgl. Rapport d’activité 2000, Archives Musée du Quai Branly, Fonds Musée national des Arts d’Afrique et d’Océanie, Série B – Administration générale, Dokument DA003200/67173. S. 20. 577 Vgl. Rapport d’activité 2000 DA003200/67173. S. 19. 574
Vom Musée de la France d’outre-mer zum Musée des arts africains et océaniens
Fotos und Erläuterungen sowie einer Demonstration bestimmter Riten und Herstellungsprozesse. Man wollte nach wie vor über die Differenzierung eine Enthierarchisierung erreichen. Auch der Fokus auf den Alltagskulturen und populärkulturellen Phänomenen außereuropäischer Kulturen blieb erhalten, so wurde die Mode Westafrikas mit der Ausstellung ‚Le Boubou, c’est chic‘ in den Mittelpunkt gerückt.578 Das MAAO bediente sich, wie zu Zeiten Marchals, eines weiten Kunstbegriffs, der es erlaubte, möglichst viele ästhetische Objekte und Erscheinungsformen in den Kanon des eigenen Kunstbegriffs aufzunehmen und sie damit für ein westliches Publikum zugänglich zu machen. Die kritische Reflexion und Darstellung der eigenen Kolonialgeschichte blieb eher ein Randthema, fand aber durchaus ihren Ausdruck in der Ausstellung ‚Tahiti 1842–1848‘ von 2001.579 Es wurde dabei explizit auf die koloniale Eroberung und den verheerenden Einfluss, den dies auf die Kultur der Tahitianer gehabt hatte, eingegangen. Diese Ausstellung schloss damit an die kritische Herangehensweise der Ausstellung ‚Musée imaginaire de l’Océanie‘ an, die dies bereits für die ozeanische Kultur getan hatte. Ein besonderer Fokus soll auf die Ausstellungen ‚La mort n’en saura rien‘ von 1999/2000 und ‚Kannibals et Vahinés: imagerie des mers du Sud‘ von 2001/02 gerichtet werden: Sie erscheinen emblematisch für die mittlerweile etablierte Perspektive von Wechselausstellungen auf fremde Kulturen im MAAO. Erstere griff den Gedanken auf, dass ästhetische und künstlerische Schöpfungen ein universaler Zug der Menschheit seien. Es wurden ozeanische Objekte, die sich mit dem Tod auseinandersetzen, ebensolchen europäischen Objekten an die Seite gestellt. So entstand das Bild einer ‚Menschheitsfamilie‘, die sich mit den gleichen Kernthemen, in diesem Fall ‚Tod‘, auseinandersetzte: „En rapprochant des „crânes-reliquiaires“ provenant d’Océanie et d’Europe, l’exposition fait saisir, entre deux civilisations lointaines, les similitudes et les différences dont ils témoignent dans le comportement des hommes face à la mort.“580 Die Idee der Gegenüberstellung und des Vergleichs solch unterschiedlicher Objekte erinnert an Malrauxs ‚Musée imaginaire‘. Dieser Gedanke wurde in der Ausstellungskonzeption noch weiter ausgebaut, indem der Ausgangspunkt der Ausstellung, die Präsentation von fünf ‚œuvres majeures‘ von vier Kontinenten (Europa, Asien, Südamerika und Afrika) dargestellt wurde. Diese sollten explizit den ‚caractère universel de la pratique des reliques‘ veranschaulichen. Diese Wechselausstellung stellt einen Typus dar, der sich auf die Ideen der Weltkunst und des imaginären Museums stützt. Dieser Typus war für das MAAO wesentlich, da er es erlaubte, innerhalb der Ausstellung die Last des kolonialen Erbes, des Hauses, aber auch der Objekte, zu thematisieren und erfolgreich in einem ‚wohlwollenden‘ Anerkennungsgestus zu überwinden, Vgl. Rapport d’activité 2002, Archives Musée du Quai Branly, Fonds Musée national des Arts d’Afrique et d’Océanie, Série B – Administration générale, Dokument DA003200/67176. S. 28 579 Vgl. Rapport d’activité 2001 DA003200/67174. S. 18. 580 Rapport d’activité 2000 DA003200/67173. S. 17. 578
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Von der Exposition coloniale internationale bis zur Schließung des MNAAO
um im gemeinsamen ‚Happy end‘ einer großen schöpferischen Familie aufzugehen und im ästhetischen Reichtum der Welt zu schwelgen. Die Ausstellung ‚Kannibals et Vahinés, imagerie des mers du Sud‘ stellte hingegen einen etwas kritischeren Ausstellungstypus dar.581 In diesem Fall wurde versucht, die westliche Wahrnehmung Ozeaniens zu dekonstruieren und historisch zu verorten: Autour des figures emblématiques du cannibale et de la vahiné s’articule un ensemble de thèmes qui ont nourri toute une imagerie populaire dont l’origine se trouve dans les illustrations accompagnant les récits des grands navigateurs de la fin du XVIIIe et du début du XIXe siècle.582
Hier ging es also um das Hinterfragen bestimmter westlicher Wahrnehmungsmuster in Bezug auf außereuropäische Kulturen und ihren Ursprung. So werden auch konsequent sowohl verschiedene verbale als auch visuelle Stereotype als ‚Überschriften‘ für die einzelnen Ausstellungssektionen gewählt: der Kannibale, die ‚Vahiné‘, die Reise in die Hölle, die Reise in den Garten Eden etc. Hierbei wird sogar als Höhepunkt der Etablierung dieses Ausstellungstypus eine Beziehung zum Gebäude des Palais de la Porte Dorée und der Exposition coloniale hergestellt – die eigene Vergangenheit als museale Institution wird zum ersten Mal explizit und bewusst als Teil des Diskurses und der Wahrnehmung anderer Völker reflektiert. Zudem wurden vor diesem Hintergrund verschiedene Ateliers angeboten, die den Zusammenhang dieser Wahrnehmungsmuster mit dem aktuellen Phänomen des Rassismus in Verbindung bringen sollten. Insgesamt haben die beiden letzten Chefkonservatoren des MAAO, Martin und Viatte, das Potenzial des MAAO umfassend ausgeschöpft. Es gelang ihnen vor allem über das Format der Wechselausstellungen, sowohl den Aspekt der ‚Kunst‘ in einen kohärenten Teil der Identität des Hauses zu verwandeln, als auch eine kritische Reflexion der eigenen kolonialen Vergangenheit in die Wege zu leiten. Dass dies erst gelang, als schon abzusehen war, dass das MAAO geschlossen würde, erscheint paradox. Somit waren die innovativsten und modernsten Ausstellungen des MAAO auch zugleich seine letzten. Das Ende des MAAO und seine Inszenierung als ‚Lieu de mémoire‘: Bewahrung der Erinnerung Obgleich also nun im Museum die eigene Vergangenheit zumindest temporär ihren Platz gefunden hatte und zeitweise kritisch hinterfragt wurde, schien vor dem Hintergrund der baldigen Schließung das Museum wieder von seiner eigenen Geschichte
581 582
Vgl. RMN / Boulay, Roger (Hrsg.), Kannibals & Vahinés. Imagerie des mers du Sud, Paris 2001. Rapport d’activité 2001 DA003200/67174. S. 20.
Vom Musée de la France d’outre-mer zum Musée des arts africains et océaniens
eingeholt zu werden. So kam nun eine kollektive, institutionelle Erinnerungswelle bezüglich des alten Kolonialpalastes auf. Diese drückte sich vor allem in einer umfassenden, wissenschaftlichen Erfassung des musealen Ortsgedächtnisses des MAAO aus. Anlässlich der beiden letztgenannten Ausstellungen wurde eine Besucherbefragung durch das CNRS unter Leitung von J. Eidelman und H. Gottesdiener durchgeführt.583 Es sollte evaluiert werden, wie die Besucher des MAAO seine Schließung und den Wechsel hin zum neuen Musée du Quai Branly (MQB) empfanden. Dieses Projekt wurde dann insofern erweitert, als dass zusätzlich in der Folge durch dieselben Forschungseinrichtungen eine Studie zum Gedächtnis des Museums im Auftrag der Direktion des MAAO durchgeführt wurde. Hiermit sollten die Erinnerungen und Erfahrungen des Personals, das hier gearbeitet hatte, aufgefangen und bewahrt werden.584 Für die Erfassung dieses ‚Ortsgedächtnisses‘ wurden ca. 60 Interviews mit dem damaligen Personal des MAAO geführt.585 Diese umfangreiche Erfassung und Dokumentation des kommunikativen, kollektiven Gedächtnisses des MAAO gipfelte in der umfangreicheren Publikation „MAAO-Mémoires“ von 2002. Sie bestand zum einen aus den Ergebnissen der erwähnten Studie und zum anderen aus der umfangreichen fotografischen Dokumentation Bernard Plossus, der damit bereits 1985 begonnen hatte.586 Zudem organisierte das Museumspersonal für die Besucher einen Parcours im Museum, der anhand der Fotos von Plossu und verschiedenen Texttafeln versuchte, die Geschichte des MAAO, wohlgemerkt von 1931 an, darzustellen. Dies war das erste Mal, dass in solcher Ausführlichkeit die eigene museale Vergangenheit in einem Ausstellungsparcours thematisiert wurde. Die Konservatoren des Museums gaben anschließend einen umfangreichen Sammelband zur Geschichte des Museums, seiner Architektur und seiner Sammlung heraus.587 Damit offenbarte sich die immense Bedeutung, die dem Ort vonseiten des Museumspersonals als Erinnerungsort zugeschrieben wurde. Dies ging einher mit einer äußerst engen persönlichen Verflechtung des Personals mit dem Museum. Dies bestätigen auch Monjaret et al., die trotz aller ambivalenten Wahrnehmungen des Museums und durchaus vorhandener interner Differenzen eine Art ‚esprit maison‘ feststellten. Offenbar schien gerade dieses oft von der Direction des Die Ergebnisse wurden zum Teil in dem Beitrag Du MAAO au Musée du Quai Branly: le point de vue des publics sur une mutation culturelle in der Zeitschrift Culture & Musées veröffentlicht. Vgl. Rault/Roustan, Du MAAO au Musée du Quai Branly: le point de vue des publics sur une mutation culturelle, S. 65–83. 584 Vgl. Rapport d’activité 2002 DA003200/67176. S. 3. Dies geschah unter Leitung von J. Eidelman, A. Monjaret und M. Roustan. Die Ergebnisse dieses Teils der Studie wurden in dem Artikel „MAAO, mémoire d’une organisation“ ebenfalls in der Zeitschrift Culture & Musées veröffentlicht. Vgl. Eidelman/Monjaret/ Roustan, MAAO, mémoire d’une organisation, S. 101–127. Eine Zusammenfassung und Gegenüberstellung aller Ergebnisse findet sich in dem Artikel Fin du MAAO: Un patrimoine revisité in der Zeitschrift Ethnologie française. 585 Vgl. Eidelman/Monjaret/Roustan, MAAO, mémoire d’une organisation, S. 101. 586 Vgl. MAAO, Mémoires – MAAO. Photographies de Bernard Plossu. Die Fotos sind 1985, 1988, 1999 und 2002 entstanden. Die Texte stammen von J. Eidelman, A. Monjaret und M. Roustan. 587 Vgl. François, Le palais des Colonies. Histoire du Musée des Arts d’Afrique et d’Océanie. 583
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musées de France (DMF) ‚stiefmütterlich‘ behandelte Museum bei seinen Mitarbeitern ein Gefühl der starken Zugehörigkeit hervorzurufen: „tous ces gens avaient une passion absolue pour ce musée, pour ces murs, et il y vivaient quasiment […]“.588 Diese enge Verbundenheit bezog sich nicht nur auf den aktuellen Zustand des Museums, sondern vielmehr auf den Ort als Ganzem, als ‚Lieu de mémoire‘, der nunmehr ca. 70 Jahre zur Pariser Museumslandschaft gehört hatte. Hier zeigte sich, dass nicht nur das Publikum, die Besucher, den Ort mit seiner ursprünglichen, eng mit dem Kolonialismus verbundenen Geschichte assoziierten und ihn daher als ‚Lieu de mémoire‘ frequentierten, sondern, dass auch das Personal selbst diese Assoziation zum Ausgangspunkt eines starken Zugehörigkeitsgefühls machte: Avec la fermeture du MAAO, c’est un « lieu de mémoire » qui ferme ses portes. La période évoquée par ce qui s’appela, un temps, le musée des Colonies, n’est pas source de nostalgie : c’est en tant que témoin que le bâtiment est perçu et apprécié, en tant qu’incarnation des rapports complexes entre mémoire et nation. […] L’évolution est ressentie tantôt comme honteuse, tantôt comme salvatrice.589
Diese Einschätzung, dass das Museum bzw. der Palais vor allem als Zeitzeuge, als Inkarnation der Beziehung zwischen Nation und Gedächtnis, begriffen werden konnte und so auch in Erinnerung bleiben sollte, ist zentral. Es bedeutete, dass sich der Palais in der Folge nie ganz von seiner Identität würde lösen können, die maßgeblich darin bestand, ein ‚Lieu de mémoire des Empire‘ zu sein. Die beiden im Zitat genannten Optionen, die sich daraus ergaben, den Wandel als ‚Schande‘ oder als ‚Chance‘ zu begreifen, spiegelten sich in dem damaligen Meinungsbild der Besucher zur Schließung des MAAO.590 Die Schließung und die Schaffung des neuen Musée du Quai Branly (MQB) wurde durchaus ambivalent wahrgenommen. Ein wichtiger Punkt war die damit einhergehende Lösung der Sammlung des MAAO von ihrem angestammten Ort. Hier wurden, in den Augen vieler, zwei historisch miteinander verwachsene Elemente getrennt – das wurde sowohl kritisch gesehen als auch als Chance verstanden. Die Kritiker sahen hierin die Zerstörung eines ‚lieu de mémoire‘, sie befürchteten die Ausblendung der kolonialen Vergangenheit und damit die Verstümmelung des Ursprungskontextes der Sammlung. Einige Besucher deuteten dies aber auch als Chance, als Erleichterung, als Neuanfang, der eine echte Aufwertung dieser Sammlung und der damit verbundenen Kulturen im Sinne von ‚Kunst‘ und ‚Kunstwerken‘ bedeutete. Die ‚koloniale‘ Last wurde von ihnen genommen, um sie nun als vollwertige Kunstwer-
Monjaret, Fin du MAAO: un patrimoine revisité, S. 609 f. Rault/Roustan, Du MAAO au Musée du Quai Branly: le point de vue des publics sur une mutation culturelle, S. 67. 590 Hierbei beziehe ich mich vor allem auf die Ergebnisse der Besucherbefragung, die in dem Artikel: Rault/Roustan, Du MAAO au Musée du Quai Branly: le point de vue des publics sur une mutation culturelle, S. 65–83, dargestellt werden. 588 589
Vom Musée de la France d’outre-mer zum Musée des arts africains et océaniens
ke zu zeigen und sie damit zu emanzipieren. Damit sind die wesentlichen Parameter zur Beurteilung der nachfolgenden Entwicklung sowohl des Palais als auch des neuen MQB genannt: Tatsächlich musst sich das MQB zunehmend den Vorwurf gefallen lassen, die Objekte, die es aus den anderen Museen übernommen hatte, völlig entkontextualisiert als rein ästhetische Objekte, als Kunstwerke, zu zeigen. Am zentralsten erschien jedoch neben dieser Kritik das Wiederaufflammen der Debatte um den Begriff ‚arts primitifs/premiers‘. Schließlich tauchte dieser in der Konzeption des MQB von Anfang an als zentrales Element auf. Um ihn entspann sich die Frage, wie das Verhältnis Frankreichs zu den fremden Kulturen innerhalb dieses neuen Museums gedacht werden sollte. Implizierte nicht die Bezeichnung als ‚premiers‘ eine gewisse evolutionistisch gedachte Hierarchie, bei der Frankreich erneut an der Spitze der Entwicklung stand und deshalb konsequenterweise als Kultur in diesem Museum gar nicht erst auftauchte? Ging es wirklich um eine Anerkennung als ‚Kunst‘, um eine Gleichberechtigung mit westlicher Kunst? Oder war dieses Museum nicht eher Symbol einer Fortsetzung der Dominanzlogik des Westens, der immer noch die Besitz-, Deutungs- und Interpretationshoheit innehatte? Handelte es sich hier nicht um eine neuerliche Auflage der ‚wohlwollenden Gutmütigkeit‘ des Westens, um mit Sally Price zu sprechen, der ‚galanterweise‘ bereit ist, die von ihm unrechtmäßig erworbenen Objekte in einem eigens von ihm errichteten Haus auszustellen und als Kunst zu etikettieren? Gibt es so etwas wie ein Universalitätsprinzip künstlerischer Schöpfung, das dieses Museum rechtfertigt? Und wenn ja, warum fehlen dann wichtige Kulturen als Themenbereiche? Es ist offensichtlich, dass dies alles Fragen sind, die maßgeblich bereits die Schaffung des MAAO in den 1960er Jahren begleitet hatten und die nach wie vor nicht zufriedenstellend geklärt werden konnten. Damit beerbte das MQB das MAAO nicht nur in Sachen Sammlung, sondern führte auch wesentliche Debatten um den Umgang mit diesen aus kolonialen Erwerbszusammenhängen stammenden Objekten außereuropäischer Kulturen fort. Dabei wurde keinesfalls eine Lösung für das Dilemma gefunden – vielmehr wurde die ästhetische Inszenierung in den Vordergrund gerückt, um so etwaige ambivalente Kontexte auszublenden. Viel wesentlicher waren aber die Auswirkungen auf den Palais: Als funktionslos gewordenes ‚Denkmal des Empire‘ wurden verschiedene neue Verwendungsformen avisiert. Bereits der Rapport Friedmann hatte beispielsweise die Unterbringung des Musée de la Marine in diesem Gebäude vorgeschlagen. Im Rapport d’activités von 2002 werden verschiedene Möglichkeiten ausgewiesen:591 Es gab die Idee, eine ‚Cité des outre-mers‘ einzurichten oder ein Musée des arts décoratifs zu schaffen, alternativ schien auch ein Centre pour la Francophonie sinnvoll. Es offenbarten sich damit zwei große Optionen: Entweder würde man hier eine Institution unterbringen, die es ermöglichte, den Bau als Denkmal zu bewahren, ohne sich gleichzeitig mit dem am-
591
Vgl. Rapport d’activité 2002 DA003200/67176. S. 6 ff.
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Von der Exposition coloniale internationale bis zur Schließung des MNAAO
bivalenten, kolonialen Erbe auseinandersetzen zu müssen. Dies hätte beispielsweise auf ein Art-Déco-Museum zugetroffen. Oder man knüpfte an ältere Entwürfe an und versuchte seine ursprüngliche Funktion in eine zukunftstaugliche Repräsentation des Verhältnisses Frankreichs zu den ehemaligen Kolonien einzubinden. Dafür hätte sich ein Centre de la France d’outre-mer angeboten. Aufgrund seiner Größe, infrastrukturellen Einbindung und Verfügbarkeit wurde der Palais tatsächlich relativ schnell in ein neues Projekt eingebunden: Er wurde zum Standort der neuen Cité de l’histoire de l’immigration (CNHI). Die Probleme, die bereits MAAO-Direktor Marchal mit dem ‚Schatten der Vergangenheit‘ des Ortes über 20 Jahre lang gehabt hatte, wurden hierbei ignoriert. Man ging vonseiten der Planungskommission davon aus, dass man den Palais durch seine Umnutzung auch umdeuten könne. Das jahrzehntelange Ringen des MAAO-Personals um den Umgang mit der eigenen Vergangenheit bzw. den kolonialen Erblasten spielten bei dieser Einschätzung keine Rolle. Man fiel sogar vonseiten des Personals der neuen CNHI in die ‚alte‘ Haltung Marchals zurück und berief sich stetig darauf, dass das Projekt der CNHI nichts mit dem Palais und seiner Vergangenheit zu tun habe. Schließlich sei das Projekt ursprünglich gar nicht für diesen Ort geplant worden. Mit dieser offensichtlichen Verweigerungshaltung sorgte man erneut dafür, dass auch jetzt mit der neuen Identität des Ortes, das Thema der kolonialen Vergangenheit des Palais zu einem dauerhaften Problemfeld wurde: Es sollte eine der wesentlichen Aufgaben des neuen Museums werden, einen Weg zur Integration und Aufarbeitung dieses ambivalenten Teils der Geschichte des Palais zu finden.
2. Teil Das Projekt der CNHI von 2003 bis 2016/17
2.1
Vorläufer und Entstehung des Projekts eines Museums für Immigrationsgeschichte (1990er Jahre bis 2003)
Die Schaffung eines nationalen Museums für Immigrationsgeschichte hatte lange Zeit in Frankreich keine hohe gesellschaftliche Priorität und schien politisch undenkbar. Zwar gab es bereits seit den 1980er Jahren parallel zur Herausbildung als historischem Forschungsfeld erste Initiativen diesbezüglich – doch eine tatsächliche Umsetzung mit entsprechender Unterstützung von staatlicher Seite schien zu diesem Zeitpunkt in weiter Ferne zu liegen. Diese ersten Planungen umfassten noch keine konkreten Vorstellungen zur Unterbringung des Museums; der ehemalige Kolonialpalast konnte auch schon deshalb nicht im Gespräch sein, da dieser damals noch das Musée des Arts d’Afrique et d’Océanie (MAAO) beherbergte. Die Frage des Ortes, der räumlichen Positionierung und damit der kulturpolitischen und öffentlichen Verortung war aber von Anfang an zentral. Bereits im ersten Bericht zu den Maßgaben für ein Museum wurde der Ort als zentraler Faktor verhandelt. Ein zweiter wichtiger Kernpunkt der Diskussionen betraf den grundsätzlichen Charakter der Institution: Sollte es ein Museum, ein Forschungszentrum oder doch eher ein Erinnerungsort sein? Auch in der Folge sollte es immer wieder zu Diskussionen kommen über die grundsätzliche Funktion der Institution. Sollte die Vermittlung von Informationen über Immigration im Vordergrund stehen, die Ausstellung von Immigrationsgeschichte, die Erinnerung an Immigration und die Bewahrung ihres kollektiven Gedächtnisses oder doch eher die Forschung zur Immigrationsgeschichte, der Ausbau dieses historischen Forschungsfeldes? Damit verbunden war die Frage danach, wie das Phänomen Immigration in dieser Institution präsentiert werden sollte. Entlang dieser Grundannahmen und Fragestellungen soll im Folgenden in einem ersten Schritt (Kapitel 2.1) untersucht werden, wie es überhaupt zu der Planung eines nationalen Immigrationsmuseums kam, unter welchen Bedingungen, mit der Beteiligung welcher Akteure und unter Einbeziehung welcher externen Einflüsse? In einem zweiten Schritt (Kapitel 2.2) sollen dann
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Das Projekt der CNHI von 2003 bis 2016/17
die in der endgültigen Planung herausgearbeitete konkrete Form, der Charakter der Institution sowie die Frage nach ihrer Unterbringung im Palais untersucht werden. Entsprechend wird eine relativ lange Zeitspanne, die vom Ende der 1980er Jahre bzw. Anfang der 1990er Jahre bis 2003 bzw. 2007 reicht, betrachtet. Die endgültige Entscheidung zugunsten eines nationalen, staatlich getragenen Immigrationsmuseums fiel erst nach der Wiederwahl Chiracs 2002. Premierminister Raffarin verkündete 2004 offiziell die Schaffung des Museums, sodass es schließlich 2007 eröffnet werden konnte. In einem letzten und dritten Schritt (Kapitel 2.3) soll dann die von Verwerfungen und Wandlungsprozessen gekennzeichnete Entwicklung der Institution nach der Eröffnung 2007 nachvollzogen werden. Die Auseinandersetzung mit der ‚Frühphase‘ der Museumsplanungen von 1980/90 bis 2003 führt unweigerlich zu einem Kreis von zivilgesellschaftlichen Akteuren, die sich seit dem Ende der 1980er Jahre im Bereich der Immigration auf gesellschaftlicher, politischer und kultureller Ebene engagiert hatten. Dieser Personenkreis kann in zwei ‚Grade des Engagements‘ eingeteilt werden, wobei hier näher nach zeitlichen Phasen zu unterscheiden ist. Es findet sich u. a. eine Gruppe von ‚Akteuren der ersten Stunde‘, die sich persönlich und direkt seit den 1990er Jahren als Fürsprecher eines Projekts für ein Immigrationsmuseum im öffentlichen Raum engagiert haben: Es handelte sich dabei vorrangig um Akademiker und Aktivisten aus dem Bereich der migrantischen Vereine. Zu ihnen können als Hauptakteure Gérard Noiriel, Patrick Weil und Driss El Yazami gezählt werden. Sie werden das Projekt eines nationalen Immigrationsmuseums bis in die spätere Planungs- und konkrete Umsetzungsphase der CNHI begleiten. Noiriel gilt als emblematische Figur der ersten öffentlichen Initiative für ein Immigrationsmuseum, die er 1990 gemeinsam mit Pierre Milza startete. Patrick Weil sorgte 1998 zusammen mit dem Journalisten Philippe Bernard für eine Wiederaufnahme der Idee zur Schaffung eines nationalen Immigrationsmuseums. El Yazami wurde dann nach der Initiative Noiriels und Weils mit einem offiziellen Bericht für die Regierung beauftragt, der die Umsetzbarkeit eines Immigrationsmuseums in Frankreich evaluieren sollte. Er brachte diesen Bericht gemeinsam mit Rémy Schwartz 2001 heraus. In einem erweiterten Wirkungskreis mit einem teilweise zeitversetzten Engagement finden sich weitere Akteure, die indirekt über ihre Arbeit im Bereich der Immigration zur Schaffung der CNHI beigetragen haben. Zu ihnen zählen u. a. Vermittler aus dem kulturellen Bereich wie Laurent Gervereau.1 Er ist als eine zentrale Figur einzustufen, da er die Ausstellung ‚Toute la France‘ von 1998 organisiert hat, die als ein wesentlicher Orientierungspunkt und Vorläufer für das Projekt der CNHI gesehen werden kann. Zudem hat eine große Anzahl von Akademikern, die bereits bei dieser Ausstellung Dies stellt eine Auswahl dar, die nicht allen in dieser Frühphase insgesamt beteiligten Akteuren gerecht werden kann – diese Auswahl gründet sich vor allem auf den Einfluss, der hier auf das zukünftige Projekt der CNHI ausgeübt wurde sowie auf die Häufigkeit der Nennung der Akteure in den Interviews, den verschiedenen Initiativen und Ausstellungskatalogen und der Sekundärliteratur. 1
Vorläufer und Entstehung des Projekts eines Museums für Immigrationsgeschichte
mitgearbeitet hatte, später an der Umsetzung der CNHI mitgewirkt.2 Allerdings hat Gervereau selbst sich nicht dauerhaft explizit öffentlichkeitswirksam für ein Immigrationsmuseum eingesetzt.3 Ähnliches gilt für den Historiker Philippe Dewitte, der bei der Ausstellung ‚France des étrangers. France des libertés‘ zentral mitwirkte, aber bis zur konkreten Planung der CNHI nicht explizit als Fürsprecher eines Immigrationsmuseums auftrat. In der Folge wurde er jedoch als Chefredakteur der Zeitschrift hommes & migrations zentral an der Planung der CNHI beteiligt und wurde so zu einem der wichtigsten Organisatoren des Projekts. In diesem Kapitel soll es anhand dieses Akteur-Kreises einerseits insgesamt um die Bedeutung und die konkrete Rolle der einzelnen Personen in Bezug auf die Schaffung eines Immigrationsmuseums in Frankreich gehen. Andererseits soll gezeigt werden, dass Arbeit und Engagement dieser einzelnen Personen stark mit dem jeweiligen zeitgeschichtlichen Kontext in Bezug auf die öffentliche, politische, kulturelle und fachwissenschaftliche Thematisierung von Immigration in Frankreich zusammenhingen. Neben den frühen öffentlichen Initiativen zugunsten eines zentralen Immigrationsmuseums spielen hier verschiedene Ausstellungsformate, die sich mit dem Thema Immigration in Frankreich seit den 1980er Jahren befasst haben und teilweise als Modell bzw. Inspirationsquelle für das heutige Museum verstanden werden können, eine wichtige Rolle. Sie stellten erste Experimentierfelder im Bereich der ‚Musealisierung von Immigration‘ dar und boten somit Anregungen, offenbarten aber gleichzeitig auch schon früh Problemquellen. Man begann also mit dem Projekt eines nationalen Immigrationsmuseums nicht an einem Null-Punkt, insbesondere Organisationen wie Génériques hatten schon länger über das Medium der Ausstellung versucht, das Phänomen Immigration einer breiteren Öffentlichkeit zu vermitteln. Die verschiedenen Entwicklungen im Bereich der Forschung, der Kultur bzw. dem Ausstellungswesen und der Öffentlichkeit führten schließlich dazu, dass auch die Politik sich der Forderung nach einem Immigrationsmuseum annahm – dies sollte am Ende in den 2000er Jahren den entscheidenden Ausschlag geben. Die folgenden Ausführungen kreisen um vier wesentliche Momente, die sowohl direkt als auch indirekt in den geführten Interviews, aber auch in der Sekundärliteratur immer wieder auftauchen und anhand derer die Entstehung der CNHI nachvollzogen werden kann: Initiative und Einfluss zivilgesellschaftlicher Akteure, Prägung durch verschiedene Ausstellungsformate, die Immigration verhandelten, die Dauer der Vorbereitungsphase, die durch eine erste große Machbarkeitsstudie abgeschlossen wurde, sowie die Spezifik der politischen Entstehungssituation der CNHI. Beispielsweise wirkten folgende Akademiker sowohl bei den Ausstellungen ‚France des étrangers, France des libertés‘ (1989/90), als auch ‚Toute la France‘ (1998) und der Planung der CNHI ab 2003 mit: Philippe Dewitte, Geneviève Dreyfus-Armand, Janine Ponty, Benjamin Stora. 3 Wenn man davon absieht, dass Gervereau unter Catherine Trautman mit einem Entwurf für eine mögliche Umnutzung des Palais de la Porte Dorée beauftragte wurde, indem er eine „Maison des cultures métisses“ vorsah. Dieser Vorschlag wurde allerdings nie publiziert oder anderweitig in die Öffentlichkeit getragen und politisch nicht umgesetzt. 2
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Das Projekt der CNHI von 2003 bis 2016/17
2.1a
Zivilgesellschaftliche Akteure als Katalysatoren für eine öffentliche Thematisierung und Anerkennung der Immigrationsgeschichte in Frankreich und die AMHI (1992)
Ein Element, das sowohl in den geführten Interviews als auch in diversen Texten zur Entstehungsgeschichte des Immigrationsmuseums wiederholt auftaucht, ist die Betonung der Tatsache, dass es ursprünglich auf die alleinige Initiative von zivilgesellschaftlichen Akteuren zurückging und erst im Laufe der Zeit und aus bestimmten formellen Zwängen heraus zu einem staatlichen Projekt wurde.4 Als erste öffentliche, zivilgesellschaftliche Initiative gilt die Gründung der Association pour un Musée de l’histoire de l’immigration (AMHI), die 1990 entstand und 1992 einen Bericht vorlegte, der erste Ideen und Richtlinien für ein mögliches Immigrationsmuseum bieten wollte.5 Mit diesem Projekt ist vor allem ein Name verbunden: Gérard Noiriel. Noiriel gehörte in den 1980er Jahren zu einer neuen Generation von HistorikerInnen, die die große Fehlstelle der Forschung zur Immigration, die sich bis in die 1970er/80er Jahre hinein in Frankreich hielt, aufzudecken und zu füllen versuchte. Noiriel beschreibt selbst in einem seiner Artikel von 1984, dass im Jahr 1973 von 1500 bibliografischen Referenzen, die von der Zeitschrift hommes & migrations zum Thema Immigration erfasst wurden, nur etwa 30 sich direkt auf die Geschichte der Immigration bezogen. Im Anschluss konstatiert er, dass trotz einiger neuerer historischer Arbeiten auch zehn Jahre danach eine frappierende Abwesenheit des Themas zu verzeichnen sei.6 Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt der von der Regierung eingeforderte Bericht zum Stand der Forschung zur Immigration von 1986.7 Insgesamt kann man festhalten, dass in etwaigen Darstellungen zur Entstehung der Immigration als Forschungsfeld der Geschichtswissenschaft Konsens darüber herrscht, dass dieses sich erst in den 1980er Jahren ausbildete. Noiriel wird dabei von den interviewten Experten als Akteur ‚der ersten Stunde‘ begriffen. Darüber hinaus wird die Bedeutung seiner Arbeit als Historiker für die Etablierung des Feldes Immigrationsgeschichte in Frankreich gewürdigt:
Vgl. Deuser, Grenzverläufe – Migration, Museum und das Politische. Einzig Angéline Escafré-Dublet zitiert eine weitere, bereits 1986 eingeleitete Initiative: Driss El Yazami und Majid Daboussi reichten bei der Direction du développement culturel ein Programme de préfiguration du musée de l’immigration ein, was aber an dem baldigen Regierungswechsel scheiterte. Diese Initiative wird sonst nicht erwähnt und scheint in der Öffentlichkeit keinerlei Bekanntheit bzw. kein größeres Echo erlangt zu haben. Vgl. Escafré-Dublet, Angeline, La Cité nationale de l’histoire de l’immigration. Histoires, mémoires, in: Histoire@Politique (10.09.2008). URL: https://www.histoire-politique.fr/index.php?numero=1&rub=comptes-rendus&item=101 (Zugriff 02.02.2017). S. 2. 6 Vgl. Noiriel, Gérard, L’Histoire de l’immigration en France. Note sur un enjeu, in: Actes de la recherche en sciences sociales. Vol. 54, septembre 1984. Le savoir-voir, S. 72–76. S. 72. 7 Vgl. Gastaut, Yvan, L’immigration et l’opinion en France sous la Ve République, Paris 2000. S. 7. 4 5
Vorläufer und Entstehung des Projekts eines Museums für Immigrationsgeschichte
Gérard Noiriel qui est un des historiens en France qui a découvert l’histoire de l’immigration et […] c’est important de comprendre [que] Gérard Noiriel […] c’est un historien qui a fait sa thèse de doctorat d’histoire sur l’histoire du mouvement ouvrier en Lorraine donc sur les mines de charbon et d’acier et il a fait une espèce de découverte scientifique c’est que tous les gens qui avait travaillé dans les mines et dans les aciéries c’était pas des Français c’était des étrangers et depuis la Révolution industrielle l’histoire du mouvement ouvrier n’a jamais traité de cette question […] et donc il a fait cette découverte […] (et) […] il a écrit […] ce qui est considéré en France comme le premier livre où on crée une historiographie d’immigration qui s’appelle le creuset français […].8
Wie in dem Zitat ausgeführt, hatte sich Noiriel in seiner Promotion, die 1984 veröffentlicht wurde, mit dem Thema der Immigrationsgeschichte in Frankreich auseinandergesetzt.9 Das Thema der Arbeit drehte sich um die Geschichte der Arbeiterschaft in Longwy – Noiriel wollte herausarbeiten, welche immense Bedeutung innerhalb der Industriearbeiterschaft in diesem geografischen Bereich ausländischen Arbeitern zukam. In der Folge setzte er sich immer wieder für eine wissenschaftliche Aufarbeitung und Anerkennung der Immigrationsgeschichte in Frankreich ein. Er betonte, dass Immigration als Phänomen ein integraler Bestandteil der französischen Nationalgeschichte sei und einen immensen Beitrag zur Konstruktion der modernen Französischen Republik und Nation geleistet habe. Aus genau diesem Grund sei ihre Geschichte bisher vernachlässigt bzw. ignoriert worden, schließlich stellte das Phänomen die jakobinische Vorstellung von der Einheit der Nation in Frage. Für Noiriel stand die Beschäftigung mit dem Thema Immigration in den Geistes- und Gesellschaftswissenschaften also in fundamentalem Widerspruch zum Französischen Nationalgründungsmythos. Dieser basierte auf der Idee, dass mit der französischen Revolution der französische ‚Melting pot‘, das Sich-Vermischen verschiedener Volksgruppen zu einer Nation, ein Ende gehabt hatte. Die ‚Grande nation‘ verstand sich nun als einheitliches Ganzes, bestehend aus einem durch Assimilation entstandenen einheitlichen Volk, das sich als solches nach außen abgrenzte. Gleichzeitig etablierte die Französische Revolution mit dem Universalismus der Gleichheit aller ein Prinzip, was jede Unterscheidung oder Bevorzugung Einzelner aufgrund ihrer Herkunft tabuisierte. Andere individuelle und potenziell gesellschaftlich spaltende Elemente, die mit religiöser, kultureller oder ethnischer Zugehörigkeit verbunden waren, wurden als individuelle Merkmale in den Bereich des Privaten verbannt.10 Diese Ausblendung, Tabuisierung und Auslagerung von Elementen wie Differenz und Heterogenität im Identitätskonzept der französi-
Interview mit CC (18. Mai 2015/Dauer: 01 Std. 29 min. 45 sec.). Vgl. Noiriel, Gérard, Longwy. Immigrés et Prolétaires (1880–1980), Paris 1984. Vgl. Noiriel, Gérard, Difficulties in french historical Research in Immigration, in: Horowitz, Donald L. / Noiriel, Gérard (Hrsg.), Immigrants in two democracies. French and American Experience, New York u. a. 1992. S. 66–79. S. 69 ff. 8 9 10
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schen Nation führten laut Noiriel dazu, dass Immigration nicht als Teil der Nationalgeschichte und schon gar nicht als konstitutiver Teil der Republik betrachtet werden konnte. Diese Tatsache wurde laut Noiriel durch die Geschichtswissenschaft weiter bestätigt, indem Nora in seinem umfassenden Projekt der ‚Lieux de mémoire‘ Frankreichs die Immigration nicht explizit thematisierte. Es war vor dem Hintergrund des beschriebenen nationalen Gründungsmythos schlichtweg unmöglich, sich mit dem heterogenen, diversen und kommunitaristische Tendenzen beinhaltenden Phänomen der Immigration als legitimem Forschungsthema in der Geschichtswissenschaft zu befassen. Diesen Gedanken führte Noiriel u. a. umfassend in seinem 1988 publizierten Buch ‚Le creuset français‘ aus, einer der ersten umfassenden Darstellungen zur Immigrationsgeschichte.11 Er verdeutlicht in seiner Einleitung die Aktualität des Themas und kritisiert gleichzeitig die Darstellung des Themas in der Öffentlichkeit als eines aktuellen ahistorischen Phänomens, das als soziales Problem gedeutet werde.12 Er konstatierte das Fehlen der Stimme der HistorikerInnenschaft, die weder in Schulbüchern noch in den Überblicksdarstellungen zur Geschichte Frankreichs oder noch mit wissenschaftlichen Werken vertreten sei. Die wenigen Fallstudien, die es gäbe, stellten regionale Einzelfallbeispiele dar, die kaum wahrgenommen würden. In seinem ersten Kapitel bezeichnet er hier die Immigration als ‚non-lieu-de-mémoire‘ und als illegitimes Forschungsthema.13 Er beschreibt aufbauend auf der zuvor dargestellten Idee der Fehlstelle und der Herleitung ihrer Ursachen, dass Immigration ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und dann vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem in drei wissenschaftlichen Bereichen eine Rolle gespielt habe, die Noiriel als die ‚origines honteuses‘ der Immigrationsgeschichte bezeichnet:14 der physiologischen Anthropologie, der Demografie und der Geografie. Häufig würden Einwanderer entsprechend nur als Arbeitskräfte, als wirtschaftlicher Faktor oder unter demografischer Perspektive als Beiträger zum Ausgleich der Geburtenschwäche Frankreichs oder als Forschungsobjekt der zu dieser Zeit neu entstehenden physiologischen Anthropologie betrachtet, die versuchte, bestimmte ‚rassische‘ Typen zu erfassen. Damit war Immigration eindeutig kein Thema der Geistes- oder Gesellschaftswissenschaften. Die ersten Arbeiten zu diesem Komplex kamen in den 1970er Jahren,
Damit war er zu diesem Zeitpunkt nicht der Einzige, es kam im selben Jahr auch der Sammelband von Yves Lequin zur französischen Geschichte der Immigration seit dem Mittelalter: „Le mosaïque France“ heraus. Vgl. Lequin, Yves, La mosaïque France: histoire des étrangers et de l’immigration, Paris 1988. 12 Vgl. Noiriel, Gérard, Le creuset français, Paris 1988. S. 7 ff., die Problematik der zeitgenössischen Darstellung der Immigration führt Noiriel in seinem Artikel in Vingtième siècle 1985 aus: Noiriel, Gérard, Le fin mot de l’histoire, in: Vingtième siècle No. 7 (jul.-sep. 1985), S. 141–150. 13 Vgl. Noiriel, Le creuset français, S. 13 ff. Die Beschreibung als ‚illegitimes Forschungsthema‘ taucht bereits in seinem Artikel von 1986 auf, in dem er u. a. auch die verspätete Thematisierung durch die Soziologie beschreibt: Noiriel, Gérard, L’immigration en France, une histoire en friche, in: Annales No. 4/41 ( Jul.Aug. 1986), S. 751–769. 14 Vgl. Noiriel, Le creuset français, S. 34. 11
Vorläufer und Entstehung des Projekts eines Museums für Immigrationsgeschichte
wie Gastaut beschreibt, aus der Soziologie und der Politologie.15 Noiriel schreibt dazu, dass sich die Soziologie erstaunlicherweise bis in die 1960er Jahre nicht mit dem Phänomen befasst habe und Soziologen wie Durkheim und Mauss sich ausschließlich für die amerikanische Immigration interessierten, sich aber nicht dem ‚eigenen‘, also Frankreichs, Beispiel widmeten.16 Dies änderte sich mit dem Auftauchen des Themas Immigration in öffentlichen und politischen Debatten der Zeit, und die ersten soziologischen Studien erschienen. Die öffentliche Präsenz des Themas verstärkte sich ab Mitte bis Ende der 1970er Jahre:17 Mit dem Ende des Algerienkriegs, seinen Folgewirkungen in den 1960er Jahren und dem massiven Ansteigen der Einwanderung aus Nordafrika veränderte sich im Laufe der 70er Jahre das Bild der Immigration in Frankreich. Die Einwanderung begann sich zunehmend mit dem Stereotyp des Arabers, Maghrebiners, Nordafrikaners und Algeriers zu verbinden.18 Im Zuge dessen wurde ein antiarabischer Rassismus sichtbar, der die franko-algerische Vergangenheit aktueller denn je erscheinen ließ. Rassistisch motivierte Gewaltakte und Verbrechen an Nordafrikanern und vor allem an Algeriern blieben während dieser Zeit ein Dauerphänomen mit dramatischen Höhepunkten wie 1973.19 Gleichzeitig wich das Bild des einzeln eingewanderten, männlichen Industriearbeiters dem der Immigrantenfamilie. Das trug der Dauerhaftigkeit der Immigration, befördert durch Familienzusammenführung und damit dem Sesshaftwerden vieler Einwanderer in Frankreich, Rechnung.20 Auch die politische Rechte, die das Phänomen bis in die 70er Jahre hinein offiziell ignoriert hatte, musste nun eine Haltung gegenüber dem Phänomen Immigration entwickeln. Der offizielle Einwanderungsstopp Valérie Giscard d’Estaings von 1974, der versuchte, eine neue Zuwanderung absolut zu begrenzen, konnte nichts an der bereits in Frankreich herrschenden Situation ändern: Mit den wirtschaftlichen Problemen, vor allem verursacht durch die beiden Ölschocks, mehrten sich auch die sozialen Probleme, die Einwandererfamilien ebenso betrafen wie ‚französische‘ Familien: Vor allem Arbeitslosigkeit wurde zu einem wichtigen Thema.21 Das Argument, das den Einwanderer als ‚Generalschuldigen‘ an der Krise und der Arbeitslosigkeit bewertete, wurde reaktiviert. Der Umgang mit der Immigration
Vgl. Gastaut, L’immigration et l’opinion en France sous la Ve République. S. 7 ff. Vgl. Noiriel, Le creuset français, S. 27 ff. Gastaut führt das Drama von Aubervilliers von 1970 als ersten Moment der öffentlichen, breitenwirksamen Thematisierung von Immigration an. Laut Gastaut begann damit die Bewusstwerdung und das Sichtbarwerden des Themas Immigration als für sich eigenständigem Phänomen in der Öffentlichkeit. Vgl. Gastaut, L’immigration et l’opinion en France sous la Ve République, S. 52 ff. 18 Vgl. Ponty, Janine, L’immigration dans les textes, Paris 2003. S. 365 und Gastaut, L’immigration et l’opinion en France sous la Ve République, S. 71. 19 Vgl. Gastaut, L’immigration et l’opinion en France sous la Ve République, S. 282 ff. 20 Vgl. Wihtol de Wenden, Catherine / Leveau, Rémy, La beurgeoisie. Les trois ages de la vie associative issue de l’immigration, Paris 2001. S. 21 f. 21 Vgl. Blanc-Chaléard, Marie-Claude, Histoire de l’immigration, Paris 2001. S. 73 ff. 15 16 17
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mit Blick einerseits auf die schon im Land lebenden Einwanderer und andererseits auf die weiterhin und zukünftig einwandernden Menschen, wurde zu einem der wichtigsten tagespolitischen Themen in Frankreich. Die Schaffung des Secrétariat d’État à l’immigration 1974 sollte hier ein effektives Vorgehen ermöglichen. Jedoch führte die rigide Politik zuerst Paul Dijouds und dann Lionel Stolérus, der u. a. für die Rückführungspolitik über Prämien verantwortlich war, nur begrenzt zum Erfolg.22 Bereits Anfang der 1970er Jahre machte sich zum ersten Mal die Lyoner Jugend aus den Hochhausburgen, meist Nachkommen von Immigranten, in Konfrontationen mit den polizeilichen Ordnungskräften Luft. In der Folge sollten die Rhodéos in den Minguettes Lyons zu einem Dauerphänomen der 1970er und auch Anfang der 80er werden. Zuerst wenig mediatisiert, erhielten sie ab 1981 volle Aufmerksamkeit.23 Die städteräumliche Ausgrenzung, die schlechte Wohnsituation und infrastrukturelle Anbindung sowie die weitreichende Benachteiligung im Bildungssektor und der dadurch oft vorprogrammierte soziale Misserfolg ließen den Nährboden für gewaltsame Auseinandersetzung mit dem Staat und seinen Ordnungshütern entstehen. Daneben versuchten die Sanspapiers ab den 1980er Jahren durch Hungerstreiks und Proteste, die teilweise von der politischen Linken und vor allem von katholischen und protestantischen Mittlern unterstützt wurden, auf ihre Situation aufmerksam zu machen.24 Schließlich wurde das Thema der illegalen Einwanderung zum Brennpunkt – weder der komplette Einwanderungsstopp noch eine autoritäre Ausweisungsstrategie konnten dieses Phänomens Herr werden. Zudem rissen in dieser Zeit die Proteste und Krisen, die sich aus den schwierigen Lebens- und Arbeitsbedingungen der bereits in Frankreich lebenden Immigranten ergaben, nicht ab. Hier sind die Affären um die Wohnungsbau-Genossenschaft SONACOTRA zwischen 1976 und 81 ebenso zu nennen wie die Streiks der türkischen Arbeiter in der Textilindustrie oder die Streiks in der Automobilindustrie.25 Die französische Öffentlichkeit begann nach und nach, sich der Tatsache bewusst zu werden, dass in ihrem modernen, demokratischen Land Menschen unter menschenunwürdigen Bedingungen lebten, beispielsweise in Biddonvilles, und in ausbeuterischen Systemen arbeiteten. Diese Entwicklungen oder vielmehr ihre öffentliche Wahrnehmung ließen das Thema Immigration verstärkt auch für die Wissenschaften an Bedeutung gewinnen. Zwei weitere, fast parallele Phänomene hielten das Interesse der Forschung in der Folge aufrecht: die Marches des Beurs, die Anfang der 1980er Jahre stattfanden und ein breites mediales Echo fanden, und der zunehmende Wahlerfolg des Front National mit dem
Vgl. Ponty, L’immigration dans les textes, S. 344 ff. Vgl. Bantigny, Ludivine, L’appel des Minguettes. Vénissieux, ses habitants et le président, in: hommes & migrations „1983 le tournant médiatique“, No. 1313 (2016). S. 11–17. S. 12. 24 Vgl. Battegay, Alain / Boubeker, Ahmed, Les images publiques de l’immigration, Paris 1993. S. 55 ff. 25 Vgl. Wihtol de Wenden / Leveau, La beurgeoisie. Les trois ages de la vie associative issue de l’immigration, S. 17. 22 23
Vorläufer und Entstehung des Projekts eines Museums für Immigrationsgeschichte
von dieser Partei gepflegten rassistischen Diskurs. In diesem veränderten Kontext der 80er Jahre sah sich auch die Geschichtswissenschaft dazu angehalten, sich mit dem Phänomen der Immigration auseinanderzusetzen: Wie bereits erwähnt, gehörte Noiriel dabei zu einer neuen Generation, die in den 1980er Jahren promovierte und damit das Thema zu ‚Ihrem‘ machte: In diese Generation fallen auch Ralph Schor (Promotion 1980 zur Wahrnehmung der Immigration zwischen 1919 und 1939), Janine Ponty (Promotion 1985 zum Thema der polnischen Einwanderer), Nancy Green (Promotion 1985 zur jüdischen Einwanderung), Catherine Wihtol de Wenden (Promotion 1985 zum Verhältnis von Politik und Immigranten) und Patrick Weil (Promotion 1988 zur Immigrationspolitik Frankreichs zwischen 1974 und 1988). Bis auf Ralph Schor sind alle diese Wissenschaftler später maßgeblich an den Planungen zur CNHI sowie an deren Umsetzung und auch an der Organisation von Ausstellungen nach der Eröffnung beteiligt. Green selbst bemerkt, dass viele ihrer Kolleginnen und Kollegen, die sich in der Folge mit Immigrationsgeschichte befassten, bereits 1972 an einer Konferenz zur Geschichte der französischen Arbeiterschaft und ihres Verhältnisses zur Immigration in Montpellier teilgenommen hatten und dadurch nachhaltig geprägt wurden.26 Diese Entwicklung führte in der Folge zur Etablierung der Immigrationsgeschichte:27 1992 erschien ein Artikel in Le Monde, der betonte, dass sich nun endlich die Forschung mit dem Thema Immigration auseinandersetze und einige Studiengänge in diesem Bereich entstanden seien. Außerdem wurde auf eine bibliografische Datenbank hingewiesen, die mithilfe des Minitelsystems vom CNRS mit Unterstützung des FAS unter dem Namen ‚Réseau d’information sur les migrations internationales‘ (REMISIS) eingerichtet wurde und künftige Forschungen erleichtern sollte.28 In derselben Ausgabe erschien ein Artikel, der sich hauptsächlich mit der Gründung der Zeitschrift Migrances, herausgegeben von der Vereinigung Génériques, beschäftigte. Hier wurde auch, am Rande, das Projekt zu einem Immigrationsmuseum von Pierre Milza und Gérard Noiriel erwähnt.29
Vgl. Green, Nancy, A French Ellis Island? Museums, Memory and History in France and the United States, in: History Workshop Journal (2007) 63 (1). S. 239–153. 27 Auch Driss El Yazami, der selbst Teil dieser gesellschaftlichen Bewusstwerdung des Immigrationsphänomens war, sieht die zunehmende Dynamisierung und Beschleunigung des Sichtbarwerdens der Immigration in den 1990er Jahren in der Publikationswelle der 1980er Jahre. Vgl. Poinsot, Marie, Droit de Cité pour les associations. Entretien réalisé par Marie Poinsot avec Driss El Yazami, in: hommes & migrations „La Cité nationale de l’histoire de l’immigration. Une collection en devenir“, No. 1267 (2007). S. 102–111. S. 103. 28 Vgl. o. A. L’université découvre l’immigration de l’histoire à la littérature, in: Le Monde (11.06.1992). 29 Vgl. o. A., L’université découvre l’immigration. Une revue pour la mémoire (11.06.1992). 26
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Die Association pour un musée de l’histoire de l’immigration und ihre Entwürfe Noiriels Ansatz, die Wahrnehmung der Immigration im öffentlichen, politischen und historischen Bewusstsein verändern zu wollen, beschränkte sich nicht auf seine Publikationen: Er wollte dies nun auch in einer eigens dafür geschaffenen Institution vorantreiben. Zu diesem Zweck hatte Noiriel 1990 zusammen mit Pierre Milza die Association pour un musée de l’histoire de l’immigration (AMHI) begründet. Er selbst beschreibt den Auslöser für die Gründung folgendermaßen: Ce devait être à l’automne de l’année 1989. Je me souviens que Zaïr Kedadouche était venue me voir dans le petit bureau que j’occupais alors à l’École normale, rue d’Ulm, pour me dire que la lecture du premier chapitre de mon livre Le Creuset français (Seuil, 1988), intitulé « Non lieu de mémoire », et la tribune que j’avais fait paraître dans Le Monde « L’immigration, enjeu de mémoire » (20 octobre 1989), l’avaient convaincu de la nécessité d’agir sans tarder pour obtenir des pouvoirs publics la création d’un musée rappelant le rôle essentiel joué par des millions d’immigrants dans l’histoire contemporaine de la France. […] Pour tenter de faire évoluer les choses, il fallait ressembler les bonnes volontés et impulser la dynamique. C’est cette conviction qui nous a incités à créer une association d’historiens de toutes tendances, destinée à convaincre les pouvoirs publics de l’importance de ce projet.30
Inwiefern die Idee, eine Initiativgruppe für die Umsetzung dieses Museums zu bilden, tatsächlich durch das Treffen mit Kedadouche entstanden ist, sei dahingestellt – allerdings nahm Kedadouche in der Folge an den Planungsgruppen zur Schaffung der CNHI teil.31 Darüber hinaus bildete Noiriel tatsächlich kurz darauf im Jahr 1990 die AMHI.32 Es wurde von Pierre Milza präsidiert und umfasste außer Noiriel selbst folgende Mitglieder: Marc Auge, Yves Lequin, Claude Liauzu, Anne Morelli, Janine Ponty, Madeleine Rebérioux, Dominique Schnapper, Émile Témime, Patrick Weil. Es waren hier also Akademiker versammelt, die sich in ihren Werken mehr oder weniger explizit mit Immigrationsgeschichte beschäftigten. Die Gruppe unternahm in der Folge Reisen zu zwei Orten, an denen sich Museen befanden, denen potenziell Modellcharakter für ein Immigrationsmuseum in Frankreich zugeschrieben werden konnte: dem Immigrationsmuseum auf Ellis Island in New York und dem Museum der
Noiriel, Gérard, Histoire, mémoire, engagement civique, in: hommes & migrations No. 1247 ( Janv./ Fév. 2004), S. 17–26. S. 17. 31 Vgl. Toubon, Rapport au premier ministre. Mission de préfiguration du Centre de ressources et de mémoire de l’immigration, S. 130. 32 Vgl. Blanc-Chaléard, Marie-Claude, Du „non-lieu de mémoire“ à la „CNHI“, in: Diasporas 6 (1/2005). S. 12–22. S. 14. 30
Vorläufer und Entstehung des Projekts eines Museums für Immigrationsgeschichte
jüdischen Diaspora in Tel Aviv.33 Aus diesen Besichtigungen ging ein Bericht hervor, der erste Ideen und Skizzen zu einem möglichen Immigrationsmuseum in Frankreich vorstellte.34 Insgesamt stellte die Gruppe in Bezug auf die beiden Museen ganz grundsätzlich fest, dass sie an sich keine wirklich passenden bzw. relevanten Vorbilder für das Projekt in Frankreich darstellten. So sei das Museum in Tel Aviv auf die Darstellung der Rückkehr der jüdischen Bevölkerung nach Palästina begrenzt. Es versuche vorrangig, einen Mythos um diesen Prozess der Rückkehr als Höhepunkt des Schicksals des jüdischen Volkes zu konstruieren. Neben dem Gebäude und der Lage wurden die einseitige Thematik und die Mystifizierung bemängelt. Ellis Island hingegen sei insofern ungeeignet, als es ausschließlich die Geschichte der Einwanderung verschiedener Gruppen über den Kontrollposten auf Ellis Island darstelle. Es handele sich nicht zuletzt deshalb um die Darstellung einer geschlossenen Geschichte. Auch hier wird vonseiten der AMHI Kritik an der zu starken Mystifizierung der Einwanderungsgeschichte geübt. Immigration würde vorrangig einseitig positiv dargestellt – die Schattenseiten der Immigration würden weitestgehend ausgeblendet. Die Wahl des Ortes hingegen wurde sehr positiv hervorgehoben, da es sich um einen historischen Ort handele, der in seinen Originalzustand zurückversetzt worden sei und daher den Besucherinnen und Besuchern eine authentische Erfahrung ermögliche. Bei beiden Häusern bemängelte die Gruppe die fehlende Anbindung an die universitäre Forschung. Basierend auf diesen Beobachtungen wurden Vorschläge und Ansätze formuliert, an denen man sich bei der Schaffung einer eigenen Institution würde orientieren können. Zuschnitt und Funktion der zukünftigen Institution wurden in dieser Phase der Planungen offenbar nicht klar gefasst. An einigen Stellen des Schriftstücks taucht der Begriff ‚Museum‘, an anderen ‚Forschungszentrum‘ auf – beide Konzepte wurden aber als ungeeignet beurteilt. Man legte sich allerdings darauf fest, dass die neue Institution sowohl ein Ort der Forschung als auch ein Ort des Gedenkens und Erinnerns sein solle. In diesem Sinne wurde dem Projekt eine zweifache Funktion zugewiesen, eine wissenschaftliche und eine kulturelle: Dem wissenschaftlichen Aspekt sollte eine Bibliothek dienen, die wie ein Forschungszentrum funktionieren sollte und wo gezielt Forschung gefördert und vernetzt werden konnte. Damit hätte die von der Gruppe als essenziell angesehene Anbindung an die universitäre Forschung gewährleistet werden können. Die kulturelle Funktion sollte im Rahmen einer Dauerausstellung erfüllt werden, die die Immigrationsgeschichte Frankreichs in einem Parcours darstellen sollte. Es wurde betont, dass hier keine negativen Aspekte kaschiert oder ausgespart werden dürften.
Dabei ist die Anerkennung Ellis Islands als möglichem Modell besonders bemerkenswert. Obwohl es in diesem Bericht bereits als unpassendes Vorbild begriffen wird, taucht es in der Folge immer wieder als wichtiger Bezugspunkt auf und dient oft der Legitimierung des eigenen Vorhabens. Darauf wird später noch beim Rapport von 2001 und 2004 eingegangen. 34 Vgl. AMHI, Rapport de L’A ssociation pour un musée de l’histoire de l’immigration (AMHI). 33
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Dabei wurde der Frage nach dem Ort und dem Gebäude der zukünftigen Institution, basierend auf den Beobachtungen in Ellis Island, schon in diesen frühen Überlegungen eine spezielle Aufmerksamkeit zuteil: „[…] l’aspect décisif du site et du bâtiment tant d’un point de vue de la situation géographique que de l’architecture, qui ont fait du musée d’Ellis Island une réussite et de celui de la Diaspora un échec public.“35 Auch wenn betont wurde, dass Frankreich keinen einheitlichen Erinnerungsort für die Immigration besitze, so sollte laut dem Bericht doch ein Ort gewählt werden, der in der Vergangenheit und auch aktuell mit dem Phänomen Immigration verbunden sei.36 Damit meinte man konkret Orte, wie beispielsweise verschiedene Vororte von Paris (Île Seguin, Saint-Denis), die eine spezifische Verbindung zur Immigration aufwiesen. Besonders die Île Seguin mit ihrer Industrie und der Verbindung zur in der Automobilindustrie tätigen ausländischen Arbeiterschaft schien hier potenziell interessant. Ein anderer Vorschlag sah Marseille vor, das als Hafenstadt eine lange Tradition der nordafrikanischen Einwanderung kannte und kennt. Man war sich also ganz offensichtlich des Defizits eines fehlenden einheitlichen, konsensfähigen ‚Erinnerungsortes‘ der Immigration in Frankreich bewusst. Daher bemühte man sich, dieses Defizit durch die Wahl eines Ortes auszugleichen, der zumindest irgendeine geschichtliche oder aber auch aktuelle Verbindung zur Immigration haben sollte. Zu diesem Zeitpunkt scheint damit der Authentizität des Ortes in Bezug auf das Phänomen Immigration noch der Vorrang vor seiner in späteren Berichten als deutlich wichtiger eingestuften Prestigeträchtigkeit gegeben worden zu sein. Bei der Formulierung des Inhalts und der Funktion der Institution, besonders mit Blick auf die geplante Dauerausstellung, wurden zwei Optionen gesehen: Einerseits erschien ein inhaltlicher Fokus auf einzelnen Einwanderungsgruppen oder Ethnien und auf den jeweiligen Herkunftsländern sinnvoll. Andererseits schien auch eine Fokussierung auf das ‚creuset français‘ und den Integrationsprozess denkbar. Dabei sollten der universelle Charakter der Immigration, eine chronologische Grundorientierung und die Rolle der transnationalen Identitätsbildung sowie die europäische Integration reflektiert werden. Gleichzeitig wurde die Notwendigkeit einer prägnanten Botschaft betont. Die Präsentation der Inhalte sollte durch möglichst unterschiedliche Objekte und Dokumente erfolgen. Um dem Ort einen lebendigen Charakter zu verleihen, wurde zusätzlichen kulturellen Veranstaltungen und Ereignissen in der Planung eine zentrale Rolle eingeräumt. Auch die Vernetzung mit migrantischen Vereinen und anderen Institutionen wurde als wichtige Ergänzung angesehen, die die Institution bereichern und erweitern würde. Formal-organisatorisch wurde eine institutionelle Anbindung an das BildungsEbd. S. 10. Noiriel hatte bereits in seinem Artikel von 1986 in Annales beklagt, dass einige der französischen Erinnerungsorte der Immigration nicht mehr existierten. Vgl. Noiriel, L’immigration en France, une histoire en friche, S. 751–769. 35 36
Vorläufer und Entstehung des Projekts eines Museums für Immigrationsgeschichte
oder Innenministerium abgelehnt, es wurde eine plurale Vormundschaft angestrebt bzw. eine Anbindung an das Kulturministerium bevorzugt. Bemerkenswert erscheint im Rückblick, dass hier bereits wesentliche Grundmerkmale der späteren CNHI formuliert wurden. Das gilt in besonderem Maße für die Kombination eines Forschungszentrums im Kleinen über die Konzeption einer Bibliothek, kombiniert mit einer parcoursartigen Dauerausstellung sowie die Anbindung an die Universität und die migrantischen Vereine. Jedoch hatte dieser erste planerische Vorstoß zeitgenössisch wenig Erfolg bei den entsprechenden politischen Akteuren und Institutionen: Deux ans plus tard, le projet était enterré. En 1993, la « formule innovante » en matière d’immigration était davantage la révision du mode d’accès à la nationalité que la construction d’un lieu de mémoire. L’association dépérit, d’autant qu’aucun lieu matériel ne s’imposait : pas d’Ellis Island en France, et seule une volonté nationale hors du commun aurait pu réserver un site à l’égal de celui des usines Renault sur l’île Séguin. De plus, quelle serait la définition institutionnelle de ce lieu de mémoire, le ministère de la Culture ne voyant pas là matière à musée ? La paralysie politique dura près de dix ans.37
Mit diesem Zitat wird indirekt ein weiterer wichtiger Akteur benannt, der selbst einerseits dem akademischen Kreis angehörte, parallel aber im Bereich der Immigrationspolitik für die Regierung tätig war: Patrick Weil. An dem im Zitat erwähnten veränderten Zugang zur Nationalität hatte er in der Folge mit dem Rapport Weil von 1997 seinen Anteil.38 Zudem engagierte er sich zusammen mit dem Journalisten Philippe Bernard, der für Le Monde arbeitet und sich zu dem Zeitpunkt mit Fragen der Immigration auseinandersetzte, für eine Wiederaufnahme des Projekts eines Immigrationsmuseums in Frankreich.39 Bernard beschreibt in einem Interview von 2008 für die Zeitschrift Projet, dass er damals im Zuge seines beruflichen und persönlichen Interesses für Immigration in Frankreich und ihrer Aktualität das Ellis Island-Museum in New York besucht habe und danach davon überzeugt gewesen sei, dass es ein ebensolches Museum für Frankreich geben müsse.40 Er pflegte durchaus auch Kontakt zu den Mitgliedern der AMHI, jedoch war er hier nur als Beobachter von außen präsent Blanc-Chaléard, Une Cité nationale pour l’histoire de l’immigration. Genèse, enjeux, obstacles, S. 132 f. 1993 war mit einer Reform des ‚Code de la nationalité‘ die Regelung eingeführt worden, dass Kinder von Ausländern, die in Frankreich geboren waren, nicht mehr einfach automatisch die französische Staatsbürgerschaft bekamen, sondern diese explizit einfordern mussten. Weil hingegen betonte in seinem 1997 publizierten Bericht die Errungenschaft des Bodenrechts und betonte seinen Mehrwert, was schlussendlich zu einer erneuten Reform des ‚Code de la nationalité‘ und einer Retablierung der automatischen Vergabe der Staatsbürgerschaft führte. Vgl. u. a. Loi n° 93–933 du 22 juillet 1993 réformant le droit de la nationalité, URL: https://www.legifrance.gouv.fr/affichTexte.do?cidTexte=LEGITEXT000006082393&date Texte=20110404 (Zugriff 14.09.2017) und Weil, Patrick, Mission d’étude des législations de la nationalité et de l’immigration: rapports au Premier ministre (Décembre 1997), URL: http://www.ladocumentation francaise.fr/rapports-publics/994001043/index.shtml#lettre_mission (Zugriff 14.09.2017). 39 Vgl. Blanc-Chaléard, Du „non-lieu de mémoire“ à la „CNHI“, S. 14. 40 Vgl. Bernard, Philippe, Les fondations d’une Cité, in: Revue Projet 2008/3 (no. 304). S. 4–11. 37 38
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und bestätigte in seinem Interview, dass diese Gruppe an dem Widerstand der FAS scheiterte, die das Museumsprojekt nicht übernehmen wollte. Bernard selbst brachte 1993 eine kleine Monografie im Rahmen von Le Monde Edition zur Immigration in Frankreich heraus, die einen Überblick über die Immigrationsgeschichte in Frankreich, aber auch über die aktuelle Situation geben sollte.41 Am Ende des Buches fügte Bernard ein Interview mit Patrick Weil ein, der hier über die europäische Dimension der Immigration spricht.42 Sowohl Bernard als auch Weil stellten sich in ihren Arbeiten klar gegen die zeitgenössische Darstellung der Immigration, die diese als ahistorisches Phänomen sah und darauf zielte, Immigranten zu stigmatisieren und sie als soziales Problem darzustellen. Weil verdeutlicht in der Einleitung zu seinem 1991 erschienenen Buch „La France et ses étrangers“, dass aus seiner Sicht Immigration öffentlich oft überspitzt entweder als Bedrohung oder als Chance für Frankreich begriffen würde. Die Debatte um Immigration schwankte für ihn seit ca. einem Jahrzehnt zwischen diesen beiden extremen Polen. Dabei beklagte er, dass Immigration hier oft nicht als Thema der Wissenschaft und der Forschung, sondern vielmehr als Wahrnehmungs- und Meinungsphänomen betrachtet würde.43 Ähnlich wie Noiriel setzte sich Weil seit Beginn der 1990er Jahre gegen die beschriebene öffentliche Wahrnehmung der Immigration, den Diskurs des Front National, ein und kämpfte für eine umfassende historische Rekontextualisierung, die die Bedeutung des Phänomens für Frankreich öffentlichkeitswirksam verdeutlichen sollte. Es scheint daher nicht überraschend, dass Weil, der wie erwähnt auch für die Regierung tätig war, zusammen mit Philippe Bernard im Kontext der Fußball WM von 1998 und der Euphorie um das Phänomen Black, Blanc, Beur einen Brief an den damaligen Premierminister Lionel Jospin verfasste, um das Projekt eines nationalen Immigrationsmuseums wiederzubeleben. Bernard beschreibt, dass das Vorhaben dann an das Kulturministerium und die Direction des Musée de France weitergeleitet wurde, die hier jedoch keinen Bedarf für ein Museum sahen.44 Jedoch erreichten Weil und Bernard indirekt, dass 2001 Driss El Yazami und Rémy Schwartz mit einer Machbarkeitsstudie beauftragt wurden.45 Die Tatsache, dass die Ursprünge des ersten nationalen staatlichen Immigrationsmuseums in Frankreich ausschließlich auf zivilgesellschaftliche Initiativen zurück-
Vgl. Bernard, L’immigration, Paris 1993. Vgl. ebd. S. 170 ff. Vgl. Weil, La France et ses étrangers, S. 19. Diese Problematik um das Kulturministerium und die dazugehörige DMF (Direction des Musées de France) tauchte bereits in dem vorherigen Zitat von Marie-Claude Blanc-Chaléard auf und bleibt ein Dauerproblem für das Projekt: Die offensichtliche Opposition des Ministeriums und der DMF gegenüber diesem Projekt erscheint kontinuierlich als Konflikt – Immigration wird nicht als ‚musealisierbares Thema‘ von der DMF gesehen. 45 Vgl. Bernard, Les fondations d’une Cité, S. 4–11 und Stevens, Re-membering the nation. The project for the Cité nationale de l’histoire de l’immigration. 41 42 43 44
Vorläufer und Entstehung des Projekts eines Museums für Immigrationsgeschichte
gehen, ist wesentlich. Denn diese frühen Initiativen waren maßgeblich von dem Ansinnen verschiedener AkademikerInnen und Akteure migrantischer Vereine geprägt, Immigration als historisches Phänomen einerseits sichtbar zu machen und damit andererseits die zeitgenössische gesellschaftliche und politische Wahrnehmung von Immigration verändern zu wollen. Ihr Ziel war es, die zentrale Funktion, die Immigranten immer wieder im Laufe der französischen Geschichte übernommen hatten, zu würdigen. Diese Zielsetzung schrieb sich in der Folge tief in die Konzeption der CNHI ein und ist bis heute in ihrer Dauerausstellung sichtbar. Das ist auch und vor allem über die personelle Kontinuität zu erklären, die sich von diesen frühen Initiativen bis hin zur konkreten Umsetzung des heutigen Museums zeigt. Es gab über den Zeitraum vom Ende der 1990er bis in die 2000er Jahre einen relativ kleinen, festen Personenkreis von AkademikerInnen und Vereinsakteuren, die sich im Bereich einer musealen und expositorischen Vermittlung des Themas Immigration in Frankreich engagierte und somit auch die spätere CNHI mit prägte. Der starke Einfluss dieser Gruppe und ihrer Zielsetzung bedeutete in der Folge aber durchaus auch eine Einengung der Perspektive auf Immigration innerhalb der CNHI. Die hier durchaus dominant propagierte ‚Beitragsgeschichte‘, die die Leistung der Immigranten betonen und ein miserabilistisches Bild von Immigration vermeiden wollte, ließ Konfliktfelder, negative Aspekte, wie beispielsweise das Scheitern von Integration, rund um das Phänomen Immigration als dem Vorhaben abträglich erscheinen. Im folgenden Kapitel wird erneut die erwähnte personelle Kontinuität aufgegriffen. So hatten einige der genannten Akteure großen Einfluss auf verschiedene Ausstellungsformate der Zeit, die sich mit Immigration befassten. Der zivilgesellschaftliche Ursprung ist aber auch insofern wesentlich, als dass er das Projekt eines nationalen Immigrationsmuseums bis in die 2000er Jahre zum Scheitern verurteilte. Wie fast alle Interviewpartner bestätigt haben, ist in Frankreich die politische, staatliche, wenn nicht sogar präsidentielle Unterstützung für ein solches Projekt existenziell – ohne sie kommt es nicht zustande. So schaffte es selbst der von Weil und Bernard angestoßene und von El Yazami und Schwartz ausgearbeitete Bericht nicht, die entsprechende politische Unterstützung zu bekommen. Allerdings wird er als wichtige Vorlage und Orientierung für die ab 2003 konkret in Angriff genommene Planung des ersten nationalen Immigrationsmuseums (der CNHI) genutzt. Daher wird er in der vorliegenden Arbeit unmittelbar als Vorläufer des offiziellen Berichts von Jacques Toubon von 2004 zur konkreten Schaffung der CNHI besprochen. Die Analyse des Berichts von El Yazami und Schwartz von 2001 folgt daher erst im Anschluss an die Untersuchung der verschiedenen Ausstellungsformate.
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2.1b
Der Modellcharakter von ‚Toute la France‘ und anderen Ausstellungen
Die 1980er Jahre scheinen auf mehreren Ebenen eine öffentliche Thematisierung von und Auseinandersetzung mit dem Phänomen Immigration angestoßen zu haben. Parallel zu der Etablierung der Immigrationsgeschichte als historischem Forschungsfeld und den ersten Initiativen für ein Museum gab es ab den 1980er Jahren verschiedene Versuche, Immigration als Ausstellungsthema zu etablieren. Zwischen 1980 und 2000 sind solche Ansätze noch relativ dünn gesät, obwohl es auf lokaler wie auf nationaler Ebene bereits verschiedene Ausstellungen gegeben hatte.46 Auf nationaler Ebene wird dabei meist ‚Les enfants de l’immigration‘ als erste große Ausstellung zur Immigration in Frankreich benannt. Weitere Beispiele auf nationaler wie regionaler Ebene für solche Ausstellungsformate sind seit dem Ende der 1970er Jahre: 1979
Cent ans de vie juive (Paris)
1983
Ausstellung zur Immigration (Montbéliard)47
1984
Les enfants de l’immigration (Paris)
1985
Ville en couleurs (Straßburg) / Toulouse multiple (Toulouse)48
1987
Immigration d’en France (Paris)49
1988
Corato-Grenoble (Grenoble)50
1989
Le rêve portugais. 25 ans d’immigration portugaise en France (Paris)
1989
Champs et sirène (Écomusée Nord-Dauphiné de Saint Quentin-Fallavier)
1989/90
France des libertés, France des étrangers (Marseille/Paris)
Vanderlick macht diesbezüglich in seinem Artikel eine Grenze hin zu den 2000er Jahren auf. Er konstatiert, dass zumindest in den Regionalmuseen in Frankreich nach 2000 die Dichte der Thematisierung von Immigration in Ausstellungsformaten deutlich zugenommen habe. Vgl. Vanderlick, Benjamin, Les institutions culturelles face aux histoires et aux mémoires d’immigration, in: hommes & migrations „L’immigration dans les musées: une comparaison internationale“, No. 1293 (2011). S. 86–95. 47 Eine Ausstellung, die auf lokaler Ebene in Montbéliard stattfand und anschließend durch verschiedene kleinere französische Städte wanderte. Sie wurde u. a. von dem Künstler Antoine de Bary organisiert und soll die Realität der Immigration verdeutlichen, Stereotype abbauen und Rassismus vorbeugen. Speziell Montbéliard ist durchaus stark von (maghrebinischer) Einwanderung geprägt. Vgl. Fabert, Claude, Une exposition à Montbéliard. Les immigrés chez eux, in: Le Monde (27.04.1983). 48 Diese beiden Ausstellungen sind laut R. Derderian als Folgeprojekte der Ausstellung ‚Les enfants de l’immigration‘ zu verstehen. Vgl. Derderian, Richard L., North Africans in Contemporary France: Becoming visible, New York u. a. 2004. S. 117 f. 49 Diese Ausstellung wurde nach „Enfants de l’immigration“ im Centre Pompidou veranstaltet und thematisierte diesmal die innerfranzösische Binnenmigration aus den Provinzen nach Paris. Vgl. Centre Pompidou URL: https://www.centrepompidou.fr/cpv/resource/cazjyn7/rajKeqn (Zugriff 10.02.2017). 50 Dem Musée dauphinois in Grenoble kommt eine Sonderstellung zu: Es ist eines der wenigen regionalen Museen, das sich bereits seit den 1980er Jahren – Vanderlick benennt 1982 eine Ausstellung, die bereits die algerische Immigration der Region mit thematisierte – mit dem Phänomen Immigration in der eigenen Region befasste. Es taucht hier mit seinen wichtigsten Ausstellungen zwischen 1980 und 2000 auf. Vgl. Vanderlick, Les institutions culturelles face aux histoires et aux mémoires d’immigration, S. 86–95. 46
Vorläufer und Entstehung des Projekts eines Museums für Immigrationsgeschichte
1989/90
Aktion Composition française (FAS, Kulturministerium) Ausstellung im Centre Pompidou51 (Paris)
1992
L’immigration juive et son intégration dans la nation de 1880 à 1948 (Paris)
1993
Ressemblance: un siècle d’immigration en Ile-de-France (Éco-Musée Val de Marne)
1993
Des Grecs (Grenoble)
1997
D’Isère et d’Arménie (Grenoble)
1998
Un voyage pas comme les autres (Paris)
1998
Toute la France (Paris)
1998
Paroles de femmes tunisiennes (Éco-Musée Val de Marne)
1999
Pour que la vie continue. D’Isère et du Maghreb (Grenoble)
Einige der interviewten Akteure nehmen explizit Bezug auf diese frühen Ausstellungen, was sie als relevantes Modell für die spätere CNHI und ihre Ausstellungsformate erscheinen lässt. Es offenbaren sich bei der Betrachtung dieser verschiedenen Formate bestimmte Grundmuster und Narrative, die sich eindeutig später in der Dauerausstellung der CNHI bzw. ihren Wechselausstellungen wiederfinden: so die zuvor erwähnte ‚Beitragsgeschichte‘ der Immigration, aber auch das Narrativ der Immigration als Hort eines kreativen Innovationspotenzials, als kultureller Bereicherung der französischen Gesellschaft, als Quelle eines intellektuellen Appells an die französischen Grundwerte etc. Drei der hier aufgeführten Ausstellungen werden in den geführten Interviews und weiteren Quellen explizit als wichtige Vorläufer des Projekts der CNHI zitiert: die von der Organisation Génériques gestaltete Ausstellung ‚France des étrangers. France des libertés‘,52 die von der Bdic organisierte Ausstellung ‚Toute la France‘53 und die Ausstellung ‚Les enfants de l’immigration‘ im Centre Pompidou. Dabei wird in der Folge ein auf Grundlage der Analyse von ‚Les enfants de l’immigration‘ entwickelter Katalog von Fragen, Konzepten, Potenzialen und Konfliktlagen in Bezug auf Ausstellungen zur Immigration im Allgemeinen ver- und auf die anderen beiden Ausstellungen ‚France des étrangers. France des libertés‘ und ‚Toute la France‘ angewendet. So können hier gleichsam in einem ‚Dreischritt‘ sowohl der Analysekatalog selbst als auch seine Grundlage nachvollzogen werden sowie seine Validität anhand zweier weiterer Beispiele überprüft werden. In einem abschließenden Schritt wird im Anschluss daran ein Vergleich zwischen diesen frühen Ausstellungen und der aktuellen DauerausstelEs handelt sich hierbei um eine Initiative von Lionel Jospin, die unter dem Titel „Composition française“ mit Beteiligung des Kultur- und Bildungsministeriums sowie dem FAS alle französischen SchülerInnen und ihre LehrerInnen dazu aufrief, sich Projekte, Ausstellungen, kleine Publikationen, Untersuchungen zum Thema „les apports étrangers dans le patrimoine français“ zu erarbeiten. Die besten Präsentationen sollten dann im Juni 1990 im Centre Pompidou ausgestellt werden. Vgl. o. A. Dans toutes les classes. Un exercice de composition française sur „les apports étrangers“, in: Le Monde (06.10.1989). 52 Vgl. Interview mit PC (04. Februar 2015/Dauer 40 min. 01 sec). 53 Vgl. Interview mit KI (10. Februar 2015/Dauer 1 Std. 03 min. 33 sec.). 51
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lung der CNHI gezogen, um den Modellcharakter der genannten Ausstellungen für das heutige Immigrationsmuseum zu veranschaulichen. ‚Die Kinder der Immigration‘ zu Gast im Centre Pompidou Die Ausstellung ‚Les enfants de l’immigration‘ ist in vielerlei Hinsicht in besonderem Maße für die Ableitung genereller Fragen und Probleme in Bezug auf Ausstellungsformate zur Immigration relevant. Sie ist nicht nur, was ihre Größe und ihre Unterbringung an einem prestigeträchtigen Ort wie dem Centre Pompidou angeht, die erste ihrer Art. Sie zeichnet sich zudem durch einen besonders neuen und progressiven Ansatz aus: Ihr partizipativer Anspruch, ihre Fokussierung auf ein spezifisches, aktuell gesellschaftlich relevantes Folgephänomen der Immigration, das der sog. ‚Zweiten Generation‘, und ihre Orientierung an ephemeren Dynamiken, am ‚Ereignishaften‘, zählen zu ihren Alleinstellungsmerkmalen. Gleichzeitig ließen sie eben diese Merkmale in der Folge als wenig massentaugliches, übertragbares Format erscheinen. Die Ausstellung selbst fand 1984 von Januar bis April im Centre Pompidou statt und wurde u. a. von staatlicher Seite unterstützt: Der Fonds d’interventions culturelles, die Direction du développement culturel des Kulturministeriums sowie das FAS unterstützten das Vorhaben finanziell und organisatorisch.54 Konzeptionell war sie maßgeblich von dem im Centre Pompidou ansässigen Centre de création industrielle entworfen und umgesetzt worden.55 Diese Institution hatte es sich bereits seit 1982 zur Aufgabe gemacht, die Nord-Süd-Beziehungen im europäischen und globalen Kontext zu untersuchen, wobei für sie ein wichtiges Thema die Immigration darstellte. Im Januar 1984 hatte man vonseiten des Centre in diesem Kontext bereits ein Themenheft zu den Kindern der maghrebinischen Einwanderer herausgegeben: L’objectif de ce […] cahier était de créer « une autre perception de la réalité des jeunes issus de l’immigration pour que l’on prenne davantage en considération leurs réalisations, leurs aspirations et leurs luttes. Ces jeunes expriment à travers leurs initiatives, ce qu’ils
Ursprünglich als „Fonds d’action sociale pour les travailleurs musulmans d’Algérie en métropole et pour leur famille“ (kurz FAS) 1959 gegründet, weitet diese Institution bereits in den 60er Jahren ihren Aktionsradius auf alle Einwanderer aus. Sie stellte eine der ersten Sozialmaßnahmen der Regierung zugunsten von Immigranten dar. Es war und ist dabei das zentrale Instrument der Integration. Mittlerweile wurde es in „Fonds d’Action et de Soutien pour l’Intégration et la Lutte contre les Discriminations“ (kurz FASILD) umbenannt. Vgl. Frybès, Marcin, France, in: Lapeyronnie, Didier (Hrsg.), Immigrés en Europe: politiques locales d’intégration, Paris 1992. S. 83–110. S. 88 ff. 55 Der CCI befasst sich vor allem mit dem täglichen Umfeld der Menschen in der modernen industrialisierten Gesellschaft. Vgl. Perroti, Antonio, Etude de cas „L’exposition: „Les enfants de l’immigration“ au centre National d’art et de Culture Georges Pompidou“; Projet No 7 du CDCC „L’éducation et le développement culturel des Migrants“, Conseil de l’Europe, Straßburg (25.09.1984). S. 5. 54
Vorläufer und Entstehung des Projekts eines Museums für Immigrationsgeschichte
vivent, ressentent, souhaitent et proposent, dans le contexte de la société française d’aujourd’hui et de demain.56
Dementsprechend wurde in der offiziellen Ankündigung des Centre Pompidou die Tatsache, dass es mittlerweile in Frankreich ca. 2 Millionen Kinder von Einwanderern aus unterschiedlichsten Ländern gab, die ganz offensichtlich Teil der französischen Gesellschaft geworden waren bzw. nach einem Platz in ihr suchten, zum Ausgangspunkt der Ausstellung gemacht.57 Nicht zuletzt der ‚Marche pour l’égalité et contre le racisme‘ 1983 hatte die Präsenz dieser ‚Zweiten Generation‘ und ihrer Forderung nach Sichtbarkeit, Respekt und Toleranz offen gelegt.58 Dabei wurde, wie in dem vorherigen Zitat angedeutet, besonders den eigenständigen Schöpfungen der Jugendlichen Raum gegeben. Neben migrantischen Künstlern sollten vor allem auch Jugendliche und junge Erwachsene der sog. ‚Zweiten Generation‘ die Gelegenheit erhalten, ihren eigenen Alltag, ihr Leben, ihr Verhältnis zur Migration, ihre Beziehung zur französischen Gesellschaft zum Ausdruck bringen zu können.59 Die Ausstellung behandelte drei thematische Kernaspekte der Immigration: ‚Arrachement‘ (Verbindung der Eltern und der Kinder zur Ursprungskultur, dem Heimatland, Zerrissenheit der Identität); ‚Creuset‘ (Integration der Jugendlichen in einen ihnen teilweise fremden, ‚aufgezwungenen‘ Ort: Aneignungs- und Umgestaltungsprozesse); ‚Construction‘ (Orte, Institutionen, die von den Jugendlichen für ihre Zukunftskonstruktion genutzt werden, Beitrag der Interkulturalität zur Zukunft Frankreichs). Die erste thematische Einheit richtete sich auf die Vergangenheit und blickte auf über hundert Jahre Immigrationsgeschichte in Frankreich zurück. Die zweite Einheit verkörperte die Gegenwart und enthielt neun Teilsektionen, die jeweils einen anderen Aspekt des Alltags der migrantischen Jugend in Frankreich zeigen sollten. Die letzte Einheit widmete sich der Zukunft dieser Bevölkerungsgruppen. Vier Türme versinnbildlichten hier die Initiativen der Jugend, ihre eigene Zukunft zu gestalten.60 Die Ausstellung war als ‚exposition action‘ konzipiert, die nicht unwesentlich durch Theaterstücke, Performances und Diskussionen etc. ergänzt wurde und so einen möglichst lebendigen Charakter bekommen sollte. Perotti, der einen zeitgenössischen Bericht
Ebd. S. 6. Perotti zitiert hier selbst einen Ausschnitt des erwähnten Themenheftes. Vgl. Information Presse CCI, Communiqué de presse „Les enfants de l’immigration“, Centre Georges Pompidou (18. janvier – 23. avril 1984), URL: https://www.centrepompidou.fr/media/document/a6/97/ a69705bb54a0b753ffd94bc25c9454d4/normal.pdf (Zugriff 05.02.2017). 58 Vgl. Galloro, Piero-D., La Marche pour l’égalité des droits et contre le racisme. Une tentative de démonstration?, in: hommes & migrations „1983 le tournant médiatique“, No. 1313 (2016). S. 19–26. Und Vgl. Perroti, Etude de cas L’exposition: „Les enfants de l’immigration“ au centre National d’art et de Culture Georges Pompidou“, S. 4. 59 Vgl. Perroti, Etude de cas „L’exposition: „Les enfants de l’immigration“ au centre National d’art et de Culture Georges Pompidou“, S. 6 f. 60 Vgl. Derderian, North Africans in Contemporary France: Becoming visible, S. 104 f. 56 57
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zur Ausstellung verfasste, spricht davon, dass damit die Grenzen einer konventionellen Ausstellung gesprengt wurden und der Besucher viel direkter als sonst üblich angesprochen wurde.61 Dieses Ausstellungskonzept und seine Struktur spiegeln sich in der praktischen räumlichen Realisierung.62 Die Ausstellung war schwerpunktmäßig um eine große Bühne herum aufgebaut. Der Besucher betrat sie über einen relativ kleinen Gang, in dem der Abschnitt ‚Arrachement‘ gezeigt wurde, und ging dann in den größten Raum der Ausstellung, gewissermaßen das Herzstück, das die Bühne und den Abschnitt ‚Le creuset‘ beinhaltete. Die von Derderian benannten neun Einheiten bildeten hier thematische Inseln: ‚L’espace subi‘, ‚L’espace concédé‘, ‚Dedans, dehors‘, ‚Territoires‘, ‚Le retour et l’image du pays d’origine‘, ‚Les espaces d’intégration‘, ‚L’espace des filles‘, ‚Le patrimoine commun‘, ‚L’espace du squat‘. Sie waren räumlich an der Bühne ausgerichtet. Der Besucher verließ die Ausstellung über den Abschnitt ‚construction‘. Innerhalb der einzelnen Abschnitte wurden unterschiedlichste Beiträge aus den Bereichen Musik, Malerei, Radio, Presse, Video, Theater, Poesie, Literatur und Fotografie gezeigt. Sie waren alle das Produkt einer umfassenden Zusammenarbeit von verschiedenen Mittlern mit den Jugendlichen und Künstlern vor Ort, im urbanen bzw. lokalen Raum, häufig auch mit Unterstützung migrantischer Vereine, die sich über das ganze Jahr 1983 hinweg vollzog.63 Die Ausstellung wurde dann schließlich am 08. Januar 1984 unter großem Aufwand von Kulturminister Jack Lang und der Staatssekretärin für Familie, Bevölkerung und ausländische Arbeiter Georgina Dufoix eröffnet und von einem großen Medienecho begleitet.64 Mit dieser Ausstellung sollte öffentlichkeitswirksam einer marginalisierten Gruppe Sichtbarkeit verliehen und ein Raum der öffentlichen Äußerung und Stellungnahme gegeben werden. Derderian wertet die Ausstellung insofern vor diesem Hintergrund als ‚landmark event‘: Sie war die erste Ausstellung dieser Größenordnung, die Immigration zu ihrem Hauptthema machte und an einem dafür eher untypischem Ort, einem prestigeträchtigen ‚Tempel der modernen Kunst‘, untergebracht wurde.65 Nicht nur das Thema, auch die Art der Umsetzung, der partizipatorische Aspekt, die Präsenz vor allem auch nordafrikanischer Einwanderer und ihrer Nachkommen sowohl als Besucher als auch als Künstler/Ausstellende scheint diese Bewertung zu unterstützen:66 Vgl. Perroti, Etude de cas „L’exposition: „Les enfants de l’immigration“ au centre National d’art et de Culture Georges Pompidou“, S. 1. 62 Vgl. ebd. Annexe 1, S. 29. 63 Vgl. ebd. S. 14. 64 Vgl. Mommeja, Adèle, Les enfants de l’immigration au Centre Pompidou. Espoirs et malentendus de la mise en scène des cultures immigrés dans la France des années 1980, in: hommes & migrations „1983 le tournant médiatique“, No. 1313 (2016). S. 97–102. S. 97. 65 Dies bestätigt auch der von Antonio Perroti verfasste Bericht zur Bewertung der Ausstellung: Vgl. Perroti, Etude de cas „L’exposition: „Les enfants de l’immigration“ au centre National d’art et de Culture Georges Pompidou“, S. 1. 66 Derderian zitiert hier eine Besucherstudie, die auch Perotti verwendet und die eine tägliche Besucherzahl der Ausstellung von 4 800 benennt und betont, dass vor allem auch mehrheitlich migrantische Besu61
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The response to Les enfants de l’immigration by North African visitors attests the powerful need for positive forms institutional recognition. Long relegated to the margins of French society, criminalized in the press and official discourse, subjected police controls and the threat of expulsion, Beaubourg offered North Africans, and Algerians in particular, the opportunity to speak for themselves and to make themselves heard in the very heart of the nation’s capital from within one of its most renowned cultural institutions.67
Die Ausstellung erschien also als Chance, als Möglichkeit für die ‚Zweite Generation‘, ihre Themen und Fragen auf ihre Art zu präsentieren und über den Ort eine gesteigerte Aufmerksamkeit zu bekommen. Allerdings traf Letzteres nur begrenzt zu, denn laut der bereits zitierten Besucherstudie kamen zwar viele Migranten, vor allem MaghrebinerInnen, aber das klassische, französische, gutbürgerliche und durchaus auch etwas ältere Museumspublikum blieb aus. So drängte sich der Verdacht auf, dass es sich wohl eher um eine Ausstellung von Migranten für Migranten handelte. Dabei scheint ein von Mommeja kritisierter Aspekt wesentlich zu dieser Problematik beigetragen zu haben: Dès l’origine, le projet dévoile son ambiguïté : il se présente à la fois comme une exposition d’œuvres d’art et comme une exploration anthropologique de la vie des enfants d’immigrés dans les banlieues françaises. […] Le catalogue de l’exposition assimile ainsi les artistes à des « sujets » de l’exposition : « Le catalogue souhaite rendre compte de la richesse de l’expression des jeunes issus de l’immigration qui sont à la fois sujets et acteurs de la manifestation.68
Es wird hier das Problem deutlich, dass nicht, wie sonst üblich, der Künstler durch sein Werk vertreten wurde und quasi hinter ihm zurücktrat, sondern selbst mit seiner Biografie und seinem ‚Schicksal‘ als Einwandererkind ausgestellt wurde – er wurde selbst zum Exponat. Dies bestätigte sich auch weiterhin dadurch, dass die Auswahl der Künstler und Jugendlichen primär über ethnische Kriterien entschieden wurde und auch hier die Biografie und Herkunft das entscheidende Merkmal waren. Es drängte sich damit das Gefühl auf, dass sich eine Art ‚Mitleid‘ mit dem sozialen Schicksal dieser bisher ausgegrenzten Gruppe ausstellungstechnisch materialisiert hatte: Die Personen und ihre Werke wurden nur aufgrund ihrer Herkunft zugelassen, nicht die Qualität ihrer Werke oder die Qualität ihrer Auseinandersetzung mit dem Thema waren entscheidend. Derderian konstatiert, dass es sich um eine soziokulturelle Ausstellung handelte, bei der der soziale Aspekt den kulturell-künstlerischen verdrängt habe.
cher sich hier in den Centre Pompidou wagten. Dies scheint für ihn umso bemerkenswerter, als dass viele von ihnen explizit für die Ausstellung kamen und vorher oft nicht im Centre Pompidou gewesen waren. Vgl. Derderian, North Africans in Contemporary France: Becoming visible, S. 103 und 106. 67 Ebd. S. 106. 68 Mommeja, Les enfants de l’immigration au Centre Pompidou. Espoirs et malentendus de la mise en scène des cultures immigrés dans la France des années 1980, S. 99.
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Er zitiert dabei auch einen teilnehmenden Künstler, der bedauert habe, als ‚Kind von Einwanderern‘ und nicht als Künstler ausgestellt worden zu sein.69 Dies scheint ein Zeitungsartikel in Le Monde zu bestätigen, der berichtet, dass bereits am Tag der Eröffnung einige der ausstellenden Künstler eine Protestschrift veröffentlicht hätten und sich gegen den „Carcan institutionnel de Beaubourg“ wehrten.70 Trotzdem erkennt der Artikel als positiv an, dass hier stets die soziale Realität mitgedacht und -präsentiert wurde und so die ‚Falle des Exotismus‘ vermieden worden sei.71 Die Priorisierung der ethnischen Zugehörigkeit, Herkunft und der sozialen Zugehörigkeit mag mit dazu beigetragen haben, dass sich viele Franzosen ohne Bezug zur Migration nicht angesprochen fühlten. Darüber hinaus waren auch die Unterstützung und Befürwortung der Ausstellung von staatlicher und musealer Seite alles andere als klar. So stand die Finanzierung der Ausstellung noch vor ihrer Eröffnung auf der Kippe. Bei der Eröffnung hielten weder Dufoix noch Lang eine offizielle Rede. Der Centre Pompidou selbst schien recht unberührt von dieser thematisch neuen Ausstellung und stand dem Thema teilweise skeptisch gegenüber.72 Diese Zurückhaltung von öffentlicher Seite gegenüber der Ausstellung war sicherlich auch dem Kontext der Zeit geschuldet. Mit der Präsidentschaft Mitterrands und der linken Regierung ab 1981 kündigte sich eine neue Immigrationspolitik an, die allerdings nicht lange auf dem zunächst eingeschlagenen, tendenziell immigrationsfreundlichen Kurs blieb. An die mitterrandschen Wahlversprechen hingegen knüpften sich für viele Immigranten (noch) große Hoffnungen.73 Zu den vorerst positiven Vorstößen der Regierung gehörte u. a. die Wiederherstellung des Vereinsrechts für Ausländer von 1901, das seit 1939 deutlich eingeschränkt worden war. Dies führte in der Folge zu einem regelrechten Boom an Vereinsneugründungen von Migranten.74 Gleichzeitig riss mit dem fortgesetzten Phänomen der Rhodéos des Minguettes in Vénissieux, Rillieux-la-Pape (Lyon) von 1981 die Präsenz des Themas Immigration in den Medien nicht ab.75 Während diese Phänomene in den 1970er Jahren kaum breiten-
Vgl. Derderian, North Africans in Contemporary France: Becoming visible, S. 115. Vgl. Beau, Nicolas, Les enfants de l’immigration, au Centre Pompidou. Ambitions fraternelles, in: Le Monde (31.01.1984). 71 Vgl. ebd. 72 Auch Perotti misst in seinem Bericht über die Ausstellung dem allgemeinen sozialen, kulturellen und politischen Kontext eine gewisse Bedeutung bei, er benennt hier drei wesentliche Faktoren bzw. Bedingungen für die Ausstellung: die Bewusstwerdung verschiedener sozialer Schichten in Bezug auf die dauerhafte Präsenz von Immigration und die daraus resultierende Realität der ethnischen Pluralität; die wachsende Bedeutung der Jugendlichen innerhalb der Gruppe der Migranten; die Krise von zwei wesentlichen Faktoren der sozialen Integration: des Arbeitsmarkts und des Wohnungsbaus. Vgl. Perroti, Etude de cas „L’exposition: „Les enfants de l’immigration“ au centre National d’art et de Culture Georges Pompidou“, S. 2. 73 Vgl. Schor, Ralph, Histoire de l’immigration en France, Paris 1996. S. 273 ff. 74 Vgl. Ponty, Janine, Les étrangers et le droit d’association au XXe siècle, in: Matériaux pour l’histoire de notre temps, no. 69 (2003). S. 24–25. 75 Vgl. Battegay/Boubeker, Les images publiques de l’immigration, S. 55 ff. 69 70
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wirksam aufgegriffen worden waren, fanden sie nun verstärkt Aufmerksamkeit: Der große mediale Wandel in Sachen Präsenz vor allem nordafrikanischer Einwanderer wird zwischen 1981 und 1984 angesetzt.76 Das Thema gewann dabei zunehmend an Brisanz. Davon profitierte auch der berühmte ‚Marche pour l’égalité et contre le racisme‘, der maßgeblich der zweiten Generation maghrebinischer Einwanderer, den sog. ‚Beurs‘, zugeschrieben wurde. Dieser Marsch von 1983 war zwar nur einer von mehreren, jedoch stellte er von seiner Wirkung und dem Mobilisierungsgrad her den Höhepunkt der Bewegung dar und bildet daher auch den Bezugspunkt für die Ausstellung ‚Les enfants de l’immigration‘.77 Diese Bewegung bezog sich auf die wiederholten rassistischen Verbrechen, wie den Mord an einem Algerier 1983 im Zug Bordeaux-Vintmille, die alltäglichen Diskriminierungen, zu deren Opfer die Kinder von Einwanderern wurden, und den aufkommenden rassistischen Diskurs des Front National.78 Sie stellten damit auch eine neue Generation von Demonstranten, Wortführern und Vereinen dar, die sich nicht mehr notwendigerweise mit den von ihren Eltern ausgefochtenen Kämpfen identifizierte. Auf dieser Basis gründete sich auch 1984 die Organisation SOS Racisme, die zwar nicht von der Gruppe der sogenannten ‚Beurs‘ getragen wurde, sich aber mit dem Slogan ‚Touche pas à mon pote‘ vor allem medial wirksam gegen Rassismus einsetzte. Das Schlagwort der Zeit war der sog. ‚Effet Dreux‘, der die politische Übernahme einer sozialistisch dominierten Kleinstadt mit einem hohen Einwanderer-Anteil durch den Front National bezeichnete.79 In der Folge feierte der FN 1984 seinen ersten großen Wahlerfolg bei den Europawahlen. Jedoch blieb der ausländerfeindliche, rassistische Diskurs nicht auf den FN begrenzt, es mehrten sich entsprechende Äußerungen der gemäßigteren Rechten, die in eine ähnliche Richtung argumentierten.80 Im Zuge dessen wurde vor allem der Islam zum ‚Feindbild‘.81 Auch die linke Regierung stand diesem Diskurs nicht ganz fern: Die zunehmende Kritik an ihrer Immigrationspolitik veränderte ihre öffentliche Haltung und Politik allmählich. Ab 1983 lässt sich eine Trendwende beobachten, hin zu einer Politik der Härte gegenüber neuer und illegaler Einwanderung.82 Dieser kurze Abriss der öffentlichen und politischen Thematisierung von Immigration um 1983/84 verweist auf eine ambivalente Gemengelage, die es für Politik und Institutionen wie das Museum keinesfalls eindeutig und sinnvoll Vgl. Mills-Affif, Édouard, 1983, le tournant pas très cathodique, in: hommes & migrations „1983 le tournant médiatique“, no. 1313 (2016). S. 37–43. S. 38 f. 77 Vgl. Wihtol de Wenden/Leveau, La beurgeoisie. Les trois ages de la vie associative issue de l’immigration, S. 34 ff. 78 Vgl. Hargreaves, Alec G., La percée du front national, in: hommes & migrations „1983 le tournant médiatique“, no. 1313 (2016). S. 29–35. 79 Vgl. Ponty, L’immigration dans les textes, S. 381 f. 80 Vgl. ebd. S. 383 ff. 81 Vgl. El Yazami, Driss, Associations de l’immigration et pouvoirs publics: éléments pour un bilan, in: Falga, Bernard / Wihtol de Wenden, Catherine / Leggewie, Claus (Hrsg.), De l’immigration à l’intégration en France et en Allemagne, Paris 1994. S. 351–357. 82 Vgl. Bantigny, L’appel des Minguettes. Vénissieux, ses habitants et le président, S. 16 f. 76
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erschienen ließ, ‚Immigration‘ offen in einer Ausstellung als Beitrag zur Gesellschaft anzuerkennen und zu respektieren, obgleich Perotti in seinem Bericht betont, dass das Kulturministerium bereits einige Zeit vor der Ausstellung damit begonnen hatte, die ‚Kulturen der Immigration‘ in sein Programm aufzunehmen und ihre Vermittlung zu fördern.83 Auch das Interesse des Europa-Rates, den Perotti selbst vertritt, zeigt zumindest im kulturellen Bereich eine gewisse Aufmerksamkeit auf europäischer Ebene am Thema Immigration und seiner Vermittlung. Besonders die Tatsache, dass Vertreter des Europarates die Ausstellung besuchten und mit den Teilnehmern sprachen und diskutierten, spiegelt das Bewusstsein für die Aktualität des Themas und die Notwendigkeit, sich mit ihm zu befassen.84 Konzepte, Konfliktlagen und Potenziale der musealen Repräsentation von Immigration Im Folgenden wird der bereits beschriebene Konzept- und Fragenkatalog erläutert, der aus der Untersuchung dieser ersten emblematischen nationalen Ausstellung zur Immigration (‚Les enfants de l’immigration‘) entstanden ist. Der innovative, progressive und dadurch teilweise ambivalente Charakter dieser Ausstellung lässt in besonderem Maße grundlegende Konzepte, Fragen und Probleme, die sich bei der Darstellung von ‚Immigration‘ innerhalb musealer Ausstellungsformen ergeben, aufscheinen. Sie sollen im Folgenden am genannten Fallbeispiel herausgearbeitet und im Anschluss auf die beiden ausgewählten Wechselausstellungen ‚France des étrangers. France des libertés‘ und ‚Toute la France‘ bezogen werden.85 Ein erstes Moment der Analyse bildet die thematische Ausrichtung und Orientierung von Ausstellungen innerhalb des Themenfeldes ‚Immigration‘. Hier scheinen sich verschiedene Zuschnitte angeboten zu haben und anzubieten: Der Fokus einer Ausstellung kann gezielt auf die Darstellung einer einzelnen oder mehrerer Ethnien, einer Gruppe von Migranten, einem bestimmten Phänomen innerhalb der Immigration oder einer aktuellen Problematik im Zusammenhang mit Immigration gerichtet werden. Als Alternative dazu stellt sich eine Konzeption dar, die einen allgemeineren Überblick über Immigrationsgeschichte als Teilphänomen gesellschaftlicher Entwicklung nachzeichnet. Mit diesen verschiedenen Ansätzen sind jeweils unterschiedliche Risiken verbunden: Im Falle der Thematisierung einzelner Ethnien wird oft der Vorwurf einer Begünstigung kommunitaristischer Tendenzen laut. Zudem wird hier
Vgl. Perroti, Etude de cas „L’exposition: Les enfants de l’immigration“ au centre National d’art et de Culture Georges Pompidou“, S. 9. 84 Vgl. ebd. S. 12. 85 Die Dauer- und Wechselausstellungen der CNHI werden dabei nicht im Detail analysiert, da ihnen in der Folge der Arbeit, in Kapitel 2.3, ein gesonderter Teil gewidmet wird. 83
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häufig vor der möglichen Vereinnahmung der Geschichte der Immigration durch das Gedächtnis einer einzelnen Gruppe und ihrer Perspektive auf die Geschichte gewarnt. Die Beschäftigung mit aktuellen Themen und Konfliktlagen birgt die Gefahr der Verwicklung in Polemiken und der Instrumentalisierung durch verschiedene Akteursgruppen. Im Fall von ‚Les enfants de l’immigration‘ stand ein Folgephänomen von Immigration, also das Leben der Nachkommen von Migranten in Frankreich, das Phänomen der Zweiten Generation und ihrem Alltag, im Fokus. Damit wurden einige der genannten Gefahrenquellen und potenziellen Kritikpunkte vermieden. So vermied man eine Fokussierung einzelner Ethnien oder Kulturen. Vielmehr betraf das Phänomen der Zweiten Generation viele verschiedene Einwanderungsgruppen, obgleich sich bei der konkreten Umsetzung eine stärkere Sichtbarkeit der Nachkommen von nordafrikanischen Einwanderern erkennen ließ. Die Tatsache, dass das Phänomen der Zweiten Generation als gesamtgesellschaftlich relevantes und kulturell bereicherndes Phänomen dargestellt wurde, half eine ungewollte Marginalisierung, Stigmatisierung oder miserabilistische Darstellung des Phänomens zu vermeiden. Gleichzeitig trug die Auswahl dieses Folgephänomens der Einwanderung als Hauptthema der Präsentation die politische Aktualität und gesellschaftliche Konflikthaftigkeit rund um das Thema Immigration in die Ausstellung. Mit der Definition des thematischen Schwerpunkts ist gleichzeitig die Bestimmung der Funktion einer Ausstellung verbunden. Im vorliegenden Fall sollte ein zur zeitgenössischen Wahrnehmung alternatives Bild der Immigration breitenwirksam vermittelt werden. Gleichzeitig sollte Immigration als soziales Phänomen aufgewertet, anerkannt und sichtbar gemacht werden. Es war eher sekundär, dass man damit auch Informationen über Immigration vermittelte bzw. es als historisches, gesellschaftliches, politisches, wirtschaftliches oder kulturelles Phänomen (re-)kontextualisierte. Es lag in der Absicht der Ausstellungsmacher, eine aktuelle Thematik aufzugreifen und kulturell wirkmächtig im Deutungsrahmen einer durchaus gelungenen, wenn auch noch nicht abgeschlossenen Integration und Inklusion zu präsentieren. Im Fall der hier vertieft betrachteten Ausstellung hatten die ersten beiden Faktoren auch Auswirkungen auf das zweite wichtige Moment: die Autorenschaft der Ausstellung – Wer erstellt und koordiniert die Ausstellung? Wer stellt hier aus? Im vorliegenden Fall war die Idee maßgeblich, eine Ausstellung zu konzipieren, die von authentischen Akteuren der Migration erstellt wurde. Die Wahl fiel so auf zwei in Ausstellungsfragen völlig unerfahrene Kuratoren, die aber selbst Verbindung zur Migration hatten. Das Gleiche gilt für die ausgestellten Künstler mit Migrationshintergrund. Dass deren Werke sich auch mit Biografie, Erfahrung, Schicksal als Migrant oder Migrationskind beschäftigten, wurde unhinterfragt angenommen. Die Gefahr bei dieser Herangehensweise ist, wie es ‚Les enfants de l’immigration‘ zeigte, dass das ethnische bzw. migrantische Kriterium alle anderen für eine Ausstellung relevanten Kriterien sticht. Trotzdem erscheint die Wahl von hauptsächlich aus der Migration stammenden Akteuren sinnvoll, da bei dieser Ausstellung der partizipatorische Gedanke klar
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im Vordergrund stand. Bei der betrachteten Vorläuferausstellung scheint gerade dieser Faktor dazu beigetragen zu haben, dass die Ausstellung in der Umsetzung primär als ‚von Migranten für Migranten‘ rezipiert wurde und außerhalb migrantischer Milieus insgesamt wenig Besucher fand. Zudem ergab sich eine relative Heterogenität in Bezug auf die Qualität der Werke: Laien stellten hier neben professionellen Künstlern aus. Dies führt zu einem dritten Moment, der Auswahl der auszustellenden Objekte und Werke: Wie soll Immigration präsentiert werden? In vielerlei Hinsicht ist das Thema Immigration, was ihre öffentliche Präsentation angeht, ein spezielles Thema. Bestimmte Objekttypen bieten sich sicher im Zusammenhang mit Ausstellungen zum Thema Immigration an: Papierquellen in Form von Ausweisdokumenten, Ein- und Ausreisepapieren etc. sind hier klassische Ausstellungsobjekte. Daneben ist es möglich, eher das persönliche, individuelle Schicksal der Immigranten in den Vordergrund zu rücken, repräsentiert über persönliche, authentische mitgebrachte Objekte, Zeitzeugenberichte. An der Objektwahl ist in diesem Zusammenhang meist auch zu erkennen, um welche Phase, welchen Moment der Immigration es geht: So kann die Darstellung schwerpunktmäßig eher auf der Reise/Flucht, dem Ankommen oder aber auch dem Leben im Ankunftsland liegen. Die Aufteilung in drei thematische Abschnitte in der Ausstellung ‚Les enfants de l’immigration‘ spiegelt dies, wobei der Fokus insgesamt auf dem Leben der Jugendlichen in Frankreich lag. Darüber hinaus hatte man sich hier objekttechnisch für eine weitere, alternative Variante entschieden: für von Migranten und migrantischen Künstlern geschaffene Kunstwerke (im weitesten Sinn), die im Medium der Malerei, der Fotografie, des Videofilms oder auch mittels der Performance präsentiert wurden. Diese Auswahl und die Tatsache, dass die Objekte in einem Kunstmuseum präsentiert wurden, führte zu einer schwierigen Konkurrenz von Prioritäten: ästhetischer Wert versus migrantische Exemplarität. Es scheint eine essenzielle Strategie für die museale Darstellung der Immigration zu sein, sich aus dem Bereich der herkömmlichen, meist demografischen, sozialen, historischen oder auch wirtschaftlichen Verortung des Themas Immigration zu befreien, indem man es in einen völlig anderen, gesellschaftlich deutlich positiv konnotierten Bereich überführt: die Kunst. Dahinter steht die Absicht, das Thema von jedem Miserabilismus zu befreien und in einen kulturell geschätzten Schutzraum, den der Kunst, zu überführen. So erst wird das Thema auch im klassischen Sinne bestimmter kultureller Institutionen wie der DMF musealisierbar. Ein viertes Moment bildet die Zielgruppe: Für wen ist die Ausstellung gedacht? Neben dem im vorliegenden Fall stark angesprochenen migrantischen Publikum wollte man sich eben auch an ein Publikum richten, das wenig bis gar keine Beziehung zur Migration hatte. Bei dem Versuch, für die ‚Zweite Generation‘ spezifische Themen und Probleme sichtbar zu machen und einem breiteren Publikum zu vermitteln, stießen die Autoren/Verantwortlichen der Ausstellung jedoch rasch an Grenzen. Erfolgreicher war die Ausstellung darin, Menschen, die sonst diesen kulturellen Institutionen fern-
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blieben, ein Gefühl der Öffnung und eine Möglichkeit zur Teilhabe zu vermitteln. Dies ist vor dem Hintergrund des fünften Moments der Ausstellungsanalyse zu betrachten: des gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Kontexts. Gerade bei einer staatlich mitfinanzierten Ausstellung sind die staatliche Immigrationspolitik und ihr Rückgriff auf bestimmte Konzepte, Traditionen und Leitbegriffe zur Beurteilung der Ausstellung von Interesse. Die gesamtgesellschaftliche Wahrnehmung von Immigration, die Bilder und Stereotype, die sie beinhaltet und die medial aufgegriffen und thematisiert werden, ist ja grundsätzlich relevant. Im Falle von ‚Les enfants de l’immigration‘ ist interessant, dass sie zwar zu großen Teilen staatlich finanziert wurde und auch von Lang und Dufoix eröffnet wurde, aber darüber hinaus kaum politische Unterstützung fand. Ebenso vonseiten des Centre Pompidou: Es organisierte die Ausstellung, finanzierte sie mit, maß ihr aber insgesamt in der eigenen institutionellen Geschichte kaum Bedeutung bei. Medial dagegen fand die Ausstellung ein großes und durchaus auch positives Echo. Ein weiteres, sechstes Moment ist der Ort, an dem Immigration repräsentiert werden soll: Wird Immigration über die Wahl des Ausstellungsortes bewusst aufgewertet, verkörpert der Ort die Anerkennung und Aufwertung, die der Immigration zuteilwerden soll? Oder spiegelt der Ort eher indirekt und vielleicht auch ungewollt die marginale Bedeutung, die dem Thema gesellschaftliche zugestanden wird? Ist es ein temporärer oder dauerhafter Ort? Wie prestigeträchtig ist er in der öffentlichen Wahrnehmung? Die Wahl eines Kunstmuseums im Fall von ‚Les enfants de l’immigration‘ ist sicherlich insgesamt eine eher ungewöhnliche Wahl, die aber betont, dass es hier um Kunstwerke bzw. um ästhetische Werke im weitesten Sinn ging und der Fokus trotz der ethnischen Orientierung auch inhaltlich stark auf der kulturellen, ästhetischen Ebene liegen sollte. Immerhin führte diese ungewöhnliche Ortswahl zu vermehrter Aufmerksamkeit und umgekehrt zur Öffnung einer relativ klassischen kulturellen Institution. Diese sechs Grundmomente: Thematischer Fokus und Funktion, Autorenschaft, Ausstellungsobjekte, Zielgruppe, Kontext und Ort sollen in der Folge als wesentliche Analyseelemente für die beiden weiteren Modellausstellungen ‚France des étrangers. France des libertés‘ und ‚Toute la France‘ dienen und zur Erfassung der Dauerausstellung der CNHI ‚Repères‘ und ihrer Wechselausstellungen in Kapitel 2.3 genutzt werden. Zwar bedienen sich die genannten Momente dabei durchaus klassischer Analysekategorien für Ausstellungen, wie Materialgrundlage oder Besucherpolitik, gleichzeitig haben sie aber in Bezug auf die museale Repräsentation von Immigration eine besondere Bedeutung, wie die zuvor entwickelten Fragen-Bündel und Problemfelder demonstrieren.
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‚France des étrangers. France des libertés‘ – Génériques und das Jubiläum der Revolution Im Folgenden wird sich systematisch auf die sechs genannten Grundmomente rückbezogen, um ihre Validität zu überprüfen bzw. sie weiter auszuführen. Die Ausstellung ‚France des étrangers. France des libertés‘ wies eine wesentliche Gemeinsamkeit mit ‚Les enfants de l’immigration‘ auf. Beide bezogen sich mehr oder weniger direkt auf den Marche des Beurs. Die Organisation, die ‚France des étrangers. France des libertés‘ konzipierte, gründete sich 1987 – Génériques. Driss El Yazami war ihr Mitbegründer: Sie wurde in Reaktion auf den Marche des Beurs bzw. das vermehrte Auftauchen der sog. ‚Zweiten Generation‘ in der Öffentlichkeit und in den Medien gebildet. Für El Yazami war zentral, dass offensichtlich die Geschichte der Eltern, der ersten Generation, vor dem Hintergrund des Aufbegehrens ihrer Kinder, der zweiten Generation, in Vergessenheit geriet. Einerseits schienen die Kinder dieser Generation selbst zunehmend den Bezug zur Geschichte ihrer Eltern zu verlieren, andererseits geschah dies durch die stark mediatisierten Marchs des Beurs auch in der Wahrnehmung der breiteren Öffentlichkeit: „[…] El Yazami stressed the rich history of North African struggles in France. ‚Rejecting this past, the beur movement has deprived itself of a Part of its future, and without re-appropriating this patrimony, it will remain diminished.‘“86 Die hier thematisierte, in El Yazamis Augen dringend notwendige Kenntnis und Bewahrung dieses Teils der Immigrationsgeschichte und der Erinnerung daran, mündete in die Gründung des Vereins Génériques. So wurde „Faire connaître l’histoire et la mémoire de l’immigration“ der Slogan der Organisation.87 Zu diesem Zweck verfolgte man hier verschiedenste Wege der Veröffentlichung, Vermittlung und Präsentation von Immigration und ihrer Geschichte in Frankreich und Europa: Es wurden Ausstellungen organisiert, verschiedene Mitherausgeberschaften bei Büchern veranlasst, man gab eine eigene Zeitschrift ‚Migrances‘ heraus, es wurde hier das erste Inventar zu öffentlichen Archiven zur Immigration zusammengestellt, private Fonds wurden vor der Auflösung bewahrt und gesammelt, internationale Kolloquien wurden veranstaltet, es gab verschiedene Weiterbildungsmaßnahmen und es wurden Projekte von migrantischen Vereinen unterstützt.88 Dabei war es El Yazami wichtig, zu betonen, dass sich trotz der privaten, zivilgesellschaftlichen Initiative hier auch ein professionelles Team zusammenfand, das mit der Welt der Universität und der Forschung vertraut war und zusammenarbeitete. So konnte bei allen Publikationen und Präsentationen ein inhaltlich hohes Niveau erfüllt werden und gleichzeitig konnten visuell wie grafisch ansprechende
Derderian, North Africans in Contemporary France: Becoming visible, S. 40. Vgl. Website der Organisation Génériques: URL: http://www.generiques.org/ (Zugriff 13.02.2017). Vgl. El Yazami, Driss, Quinze années d’archéologie de la mémoire de l’immigration, in: hommes & migrations „Vers un lieu de mémoire de l’immigration“, No. 1247 (2004). S. 36–39. 86 87 88
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Produkte geboten werden.89 Teil dieser Vermittlungsstrategie war auch die Ausstellung ‚France des étrangers. France des libertés‘, die 1989 zuerst in Marseille und dann, eingebettet in die Feierlichkeiten zum Bicentenaire, in Paris auf dem Dach des Arche de la Défense gezeigt wurde. Die Ausstellung entstand aus der Zusammenarbeit von verschiedenen Akademikern, u. a. auch Philippe Dewitte, der später Chefredakteur von hommes & migrations werden sollte, sowie in Zusammenarbeit mit der Bibliothèque de documentation internationale contemporaine (Bdic)90, die später auch maßgeblich ‚Toute la France‘ gestaltete, und verschiedenen Vereinen und Gruppen, die sich mit dem Thema befassten. Die Idee war hier, Immigrationsgeschichte in Frankreich durch die Brennlinse der von Migranten begründeten und herausgegebenen Zeitschriften zu betrachten. Man setzte sich mit dieser Ausstellung daher das Ziel, fast 200 Jahre Einwanderungsgeschichte anhand der dazugehörigen Zeitschriften, etwa 2000 Titel seit 1830, nachzuvollziehen. Es wurde dabei vor allem versucht, die dahinterstehenden migrantischen Akteure (VerlegerInnen, JournalistInnen, AutorInnen, KünstlerInnen) mit einzubeziehen bzw. ihren Parcours als Immigranten in Frankreich vorzustellen. Der Ausstellung lag das Konzept eines riesigen ‚journal mural‘ von 150 m Länge und 3 m Höhe zugrunde, aufgeteilt in fünf große, chronologische Sequenzen: 1830–1914 ‚La presse des bannis‘; 1919–1939 ‚La plus grande France‘; 1922–1944 ‚La menace fasciste‘, 1945–1962 ‚Contraste et transition‘; 1960–1989 ‚Miracle économique et crise‘.91 Der dazugehörige Ausstellungskatalog, der eine andere Struktur aufweist als die tatsächliche Ausstellung, sich aber stark an ihr orientierte, erlaubt nachzuvollziehen, dass inhaltlich ein zweiter Leitfaden zum Tragen kam.92 Neben dem chronologischen Vorgehen war auch die Zuordnung zu ethnischen, kulturellen und religiösen Gruppen zentral. So werden Deutsche, Amerikaner, Armenier, Spanier, Einwanderer aus dem Nahen und Fernen Osten, Italiener, Juden, Lateinamerikaner, Maghrebiner, ‚Schwarze‘, Polen, Portugiesen, Rumänen, Russen und Türken als Gruppen aufgegriffen. Innerhalb jeder Gruppe wurden einzelne Personen, die im Bereich von Zeitschriften, Veröffentlichungen etc.
Vgl. Poinsot, Marie, Droit de Cité pour les associations. Entretien réalisé par Marie Poinsot avec Driss El Yazami, in: hommes & migrations „La Cité nationale de l’histoire de l’immigration. Une collection en devenir“, No. 1267 (2007). S. 102–111. 90 Diese Bibliothek ging aus einer Privatsammlung zum Ersten Weltkrieg hervor, die 1917 von ihren Besitzern dem Staat vermacht wurde. Damit konnte sie 1918 offiziell als Bibliothèque-Musée de la Guerre begründet werden, um sich mit den Ursachen des Ersten Weltkriegs zu beschäftigen. Sie weitete 1934 ihr Tätigkeitsfeld auf die gesamte zeitgenössische Geschichte und ihre Zeugnisse aus, änderte ihren Namen in den heutigen und wurde 1968/70 an die Universität Nanterre angeschlossen. Das dazugehörige Museum befindet sich heute im Invalidendom. 91 Vgl. Dewitte, Philippe. 1789–1989. France des étrangers, France des libertés. Presse et communautés dans l’histoire nationale. Nos ancêtres … In: Matériaux pour l’histoire de notre temps, n°15, 1989. Septembre 1939. Postérité de 1789. pp. 24–27. S. 24 f. 92 Vgl. Génériques (Hrsg.), Presse et mémoire. France des étrangers. France des libertés, Paris 1990. 89
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tätig waren, herausgehoben und vorgestellt. Ebenso wurden einzelne Zeitschriften und Textbeiträge aus den Zeitschriften exemplarisch thematisiert. Die Ausstellung wurde insgesamt räumlich von einem langen bedruckten Banner, dem ‚journal mural‘, dominiert, das vorrangig Textteile in Form von Titelseiten der wichtigsten Zeitschriften, kleine Textauszüge aus Artikeln, biografische Notizen zu den wichtigsten JournalistInnen und HerausgeberInnen und ihre Einbettung in den gesellschaftlichen Kontext, aber auch Bildmaterial wie Fotografien wichtiger Personen zeigte.93 Die Funktion und Zielsetzung der Ausstellung lief darauf hinaus, dass mithilfe der Geschichte der Zeitschriften, die im Laufe der Zeit von Einwanderern gegründet und herausgegeben wurden, gezeigt werden sollte, dass Immigration in Frankreich eine lange Tradition hatte – dass Immigration ein kontinuierliches, wenn auch nicht konstantes, aber immer wiederkehrendes Phänomen war, das die Gesellschaft zu allen Phasen und Momenten der Geschichte betroffen hatte. Damit sollte die allgemeine Wahrnehmung der Einwanderung verändert werden: D’une visite à l’exposition France des étrangers, France des libertés comme lasimple [sic] lecture de son catalogue on retient quelques impressions fortes propres à modifier le regard que porte sur notre histoire quiconque n’est pas spécialiste de l’histoire de l’immigration et des minorités étrangères sur notre territoire et n’avait donc que des notions sommaires, quand elles n’étaient pas erronées.94
Die ‚Meistererzählung‘ der französischen Nationalgeschichte hatte laut den Machern der Ausstellung die Immigrationsgeschichte bisher vernachlässigt, was sich hier zumindest ein Stück weit ändern sollte, denn wie Rémond in der Folge konstatiert: „La France ce sont aussi des étrangers!“.95 Dies wird ergänzt durch den Text von Saïd Bouziri, dem damaligen Präsidenten von Génériques, zur Funktion des Katalogs, der sich aber letztendlich auch auf die Ausstellung selbst bezog: Le but de cet ouvrage est de redonner vie à ce qui est partie intégrante de l’histoire nationale, en choisissant un angle éminemment actuel : la presse et les médias. […] Car découvrir l’aventure de la « France plurielle », ce n’est pas étudier « l’immigration » comme un objet isolé, sans influence sur le reste de la société, c’est au contraire revoir notre passé à la lumière d’un constat trop souvent oublié : la France est une terre d’immigration.96
Die tatsächliche räumlich-visuelle Umsetzung wird teilweise durch die Fotografien der Ausstellung in dem zitierten Katalog deutlich. Vgl. Génériques, Presse et mémoire. France des étrangers. France des libertés. 94 Rémond, René, Préface, in: Génériques (Hrsg.), Presse et mémoire. France des étrangers. France des libertés, Paris 1990. S. 5. 95 Ebd. 96 Bouziri, Saïd, Presse et mémoire, in: Génériques (Hrsg.), Presse et mémoire. France des étrangers. France des libertés, Paris 1990. S. 7. 93
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Er betonte hier die untrennbare Verflechtung des Phänomens Immigration mit der französischen Gesellschaft und ihrer Geschichte. Bouziri wollte sie daher auch als solches vom Publikum verstanden wissen und spielte damit auf die häufig verkürzte Wahrnehmung der Immigration als ahistorisch und ‚aktuell‘ an. Außerdem sollte sie nicht als isoliertes Phänomen verstanden werden oder, wie es Dewitte in seinem Artikel zu der Ausstellung formuliert, als reines ‚Orchideen-Thema‘ einiger weniger Wissenschaftler, als auf dem Grund der Archive ‚schlafende Unbekannte‘, die nur selten ans Tageslicht geholt wird. Es erscheint offensichtlich und im Rahmen der bisher angestellten Überlegungen strategisch nachvollziehbar, dass es Génériques sehr wichtig war, bei dieser Ausstellung von öffentlicher bzw. staatlicher Seite unterstützt zu werden. Deshalb beteiligte man vonseiten der Organisation im Rahmen der Planung und Umsetzung der Ausstellung sowohl einen wissenschaftlichen Beirat, dessen Mitglieder zum Teil auch den Katalog mit realisierten, als auch ein Komitee, das die Schirmherrschaft übernahm und aus verschiedenen bekannteren Persönlichkeiten bestand.97 El Yazami etwa sah dies als die notwendige Grundlage für eine öffentliche Legitimität der Ausstellung an: „Cette double caution et (sic) morale et scientifique, nécessaire pour tout projet culturel ambitieux, l’est à la vérité encore plus pour l’histoire de l’immigration […]“.98 Nur so könne man die Marginalität des Themas kompensieren und es relevant erscheinen lassen. Darüber hinaus zielte auch die Einbettung der Ausstellung in die Feier des Bicentenaire der Revolution sicherlich in diese Richtung.99 El Yazami bestätigte die symbolische Funktion, die diese Kontextualisierung für die Immigrationsgeschichte haben sollte.100 Wenn man die Geschichte der Immigration in den Rahmen der Feierlichkeiten zur Französischen Revolution stellte, die zudem auch noch in diesem Fall den Schwerpunkt auf den revolutionären Wert der Brüderlichkeit legten, wurde ein bis dato marginalisiertes Phänomen der französischen Geschichte in den Kontext der großen nationalen Meistererzählung eingeschrieben und als Teil der eigenen republikanischen Identität stilisiert. Die Betonung der Brüderlichkeit erlaubte es, im homogenen nationalstaatlichen Rahmen kulturelle Andersartigkeit und Fremdheit als Beitrag zur eigenen gesellschaftlichen Entwicklung zu begreifen. Ähnlich ließ sich das Thema der Ausstellung verorten: Die von vielen Einwanderern als
Vgl. El Yazami, Quinze années d’archéologie de la mémoire de l’immigration, S. 38. Ebd. Mitterrand hatte beschlossen, dass die Zweihundertjahrfeier der Revolution in seiner Präsidentschaft besonders groß inszeniert werden sollte. Er richtete eine eigene „Mission de commémoration du bicentenaire de la Révolution française et de la Déclaration des droits de l’homme et du citoyen“ zu diesem Zweck ein, die die umfassenden Planungen übernehmen sollte. Zudem erhielt das Kulturministerium den Zusatz ‚des Grands travaux et du Bicentenaire‘. Zu der umfassenden Inszenierung, die vor allem von Jean-Paul Goude umgesetzt wurde, gehörte ein riesiges Defilee auf der Champs Elysées unter dem Thema ‚Marseillaise‘. Insgesamt wurde besonders der revolutionäre Wert der Brüderlichkeit hier hervorgehoben. Vgl. u. a. Goude, Jean-Paul (in Zusammenarbeit mit Patrick Mauriès), So weit, so Goude, München 2005. 100 Vgl. El Yazami, Quinze années d’archéologie de la mémoire de l’immigration, S. 37 f. 97 98 99
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essenziell für ihre Verlagstätigkeit empfundene (Meinungs- und Presse-)Freiheit, wie sie in Frankreich im Gegensatz zu vielen der Herkunftsländer geherrscht hatte, wurde als zentraler Auswanderungsgrund dargestellt und zeigte so die Verbundenheit der ‚Fremden‘ mit den revolutionären republikanischen Grundwerten, die ein so wichtiger Teil der ‚eigenen‘ Identität waren. Die symbolische Anerkennung wurde unterstrichen durch die Platzierung der Ausstellung in Paris auf dem Arche de la Défense, wo eine Menschenrechtsstiftung untergebracht werden sollte: Der prestigeträchtige Ort, von Mitterrand als Grands travaux errichtet, ein kulturelles Symbol im Herzen des wirtschaftlichen Zentrums von Paris, war wirkmächtig gewählt.101 Aber auch in Marseille, wo die Ausstellung ihren Ausgangspunkt hatte, gab man sich laut El Yazami Mühe, dass sie eben nicht an einem eher unbedeutenden Ort, der ‚Maison de l’étranger‘, untergebracht wurde, sondern in dem weitaus prestigeträchtigeren Musée de l’histoire gezeigt werden konnte. Aber es hatte sich nun auch im Vergleich mit ‚Les enfants de l’immigration‘ der zeitgenössische, gesellschaftliche und politische Kontext verändert. Die Feierlichkeiten zur Revolution konnten nicht verdecken, dass die Kohabitation unter Jacques Chirac, die bis 1988 gedauert hatte und erst mit der Wiederwahl Mitterrands zum Präsidenten zu Ende ging, von einer restriktiven Immigrationspolitik geprägt war.102 Schließlich stand das Thema der inneren Sicherheit ganz oben auf der Agenda Chiracs, stark verbunden mit einer diffusen Angst vor dem ‚kriminellen Immigranten‘. Die Bewegung der ‚Beurs‘ hatte zwar 1984 Mitterrand noch eine neue ‚carte de séjour‘ über zehn Jahre abgerungen, doch prinzipiell setzten die Sozialisten den 1983 begonnenen Politikwechsel fort hin zu einer stärkeren Kontrolle von Einwanderung allgemein und der Bekämpfung illegaler Einwanderung im Besonderen. Das Jahr 1989 stellte immigrationspolitisch ein besonderes Jahr dar: Die Sozialisten leiteten erneut einen offiziellen Wandel ihrer Positionierung in diesem Politikfeld ein. Sie gingen nun von den Konzepten des ‚Rechts auf Differenz‘ und der ‚multikulturellen Gesellschaft‘ auf das Konzept der ‚Integration‘
Der Arche de la Défense war eine der ‚Grands Travaux‘ Mitterrands und sollte symbolisch wie materiell die Achse, die sich vom Louvre über den Obelisk und den Arc de Triumph bis ins Défense-Viertel ziehen ließ, abschließen und Mitterrand als großen Bauherren in die Tradition des Absolutismus einschreiben. Die Form des Triumphbogens wurde in moderner Formsprache von Johann Otto von Spreckelsen neu konzipiert. Auf dem Dach sollte eigentlich ein Kommunikationszentrum untergebracht werden, zur Eröffnung anlässlich der Feier des Bicentenaire sollte schließlich eine Stiftung für Menschenrechte hier ihren Platz finden. Keines dieser Projekte fruchtete tatsächlich, sodass zumindest das Dach heute leer steht. Im Laufe der Planung des Immigrationsmuseums wurde auch dieser Ort in Erwägung gezogen. Vgl. u. a. Sinz, Dagmar, Steinerne Zeugen der Ära Mitterrand. Kultur-Bauten in Frankreich, in: Dokumente, Jg. 44 1988. S. 468–472 sowie: Sinz, Dagmar, Architektur und Politik. Die großen Pariser Bauprojekte der Mitterrand-Ära, in: Dokumente, Jg. 40, 1984. S. 349–354 und Rudelle, Odile. Zweihundertjahrfeier oder zweite Jahrhundertfeier?: Das Schweigen des François Mitterrand, in: Bizeul, Yves (Hrsg.). Politische Mythen und Rituale in Deutschland, Frankreich und Polen. Berlin, 2000. S. 197–210. 102 Vgl. Schor, Histoire de l’immigration en France, S. 279 ff. 101
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über.103 In der Folge wurde der Haute conseil à l’intégration begründet sowie wenig später das Secrétariat général à l’intégration. 1989 drängte auch ein neuer, sehr spezifischer Konflikt in Bezug auf die Frage der Integration prominent auf die nationale politische Bühne: die Debatte um das Tragen des Kopftuchs an öffentlichen Orten.104 Bei dieser Debatte ging es nur vordergründig um das Thema dieses spezifischen Kleidungsstücks; letztlich wurden hier Fragen nach einer angemessenen Integration und der Wahrung der Werte der Republik, vor allem der Laizität, verhandelt. Nun ging es hier weniger um den Islam als vielmehr um die Frage nach der konkreten Umsetzung und Ausformung einer multikulturellen Gesellschaft und nach den dazugehörigen Regeln des Zusammenlebens. Die bereits erwähnte interministerielle Initiative des Kultur- und Bildungsministeriums unter Lionel Jospin ‚Composition française‘ versuchte indessen, den gesellschaftlichen Realitäten Rechnung zu tragen und veranlasste LehrerInnen und SchülerInnen, Arbeiten zur multikulturellen Gesellschaft Frankreichs anzufertigen, die dann später im Centre Pompidou ausgestellt werden sollten. Vor diesem Hintergrund ist besonders hervorzuheben, dass die Ausstellung ‚France des étrangers. France des libertés‘ (1989) in besonderem Maß zu zeigen versucht hatte, dass sich Immigranten durchaus der Werte der Republik bewusst waren und diese für sich nutzten und diese unterstützten. In Bezug auf die vor diesem zeitgeschichtlichen Hintergrund analysierte Ausstellung ‚France des étrangers. France des libertés‘ kann man zusammenfassend Folgendes festhalten: Bei diesem Ausstellungsformat ging es stärker als bei ‚Les enfants de l’immigration‘ darum, die gesamtgesellschaftliche Wahrnehmung von Immigration dahingehend zu verändern, dass es als dauerhaftes, kontinuierlich wiederkehrendes Phänomen wahrgenommen würde, das untrennbar mit der französischen Gesellschaft verbunden ist. Immigration wurde unter dieser Langzeitperspektive als Erfolgsgeschichte dargestellt, als wichtiger Faktor bei der Ausformung der französischen Gesellschaft, Öffentlichkeit und Kultur. Dies erscheint besonders vor dem Hintergrund der Einbettung der Ausstellung in die Feierlichkeiten um das Jubiläum der Revolution und die Hervorhebung des revolutionären Werts der Brüderlichkeit bedeutsam. Die Aufwertung dieser Geschichte über die Wahl des Arche de la Défense als prestigeträchtigem Ort ist dabei offensichtlich und unterstreicht die Zielsetzung. Die Wahl des Ausstellungsortes und die inhaltliche Kontextualisierung über die Feierlichkeiten zur Revolution machen einen zentralen Punkt in den Absichten der Ausstellungsmacher klar: Die Ausstellung richtete sich ganz klar an ein Publikum, das wenig bis gar keinen
Vgl. ebd. S. 278. Ausgangspunkt war hier 1989 der Verweis von drei muslimischen Schülerinnen gewesen, die auf das Gymnasium in Creil gingen. Da sie sich trotz Anweisung der Schulleitung weigerten, in der Schule das Kopftuch abzunehmen, wurden sie vom Unterricht beurlaubt. Dies führte in der Folge zu einer umfassenden, landesweiten Diskussion über Immigration, Integration und Religion. Gastaut, L’immigration et l’opinion en France sous la Ve République, S. 570 ff. 103 104
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Kontakt und Wissen zu/über Immigration hatte. Daraus erklärt sich der informative Charakter der Ausstellung, der vor allem auf Text und Bild in gedruckter Form setzte und sich chronologisch orientierte. Auch in diesem Fall war die Autorenschaft der Ausstellung im migrantischen Milieu verankert, indem sie bei einer migrantischen Vereinigung, nämlich Génériques, lag. Génériques entschied sich jedoch für die Einrichtung eines wissenschaftlichen Beirates, der sich aus Experten zur Immigrationsgeschichte zusammensetzte. In vielerlei Hinsicht war ‚France des étrangers. France des libertés‘ damit anders gelagert als ‚Les enfants de l’immigration‘. Zwar stellten sie beide eine mehr oder weniger direkte Reaktion auf den Marche des Beurs dar und waren im migrantischen Milieu angesiedelt, doch es gab signifikante Unterschiede. ‚France des étrangers. France des libertés‘ wurde ausschließlich von einem zentralen, relativ einflussreichen migrantischen Verein organisiert. Dahinter stand klar das Interesse des Vereins, sich und damit einhergehend letztendlich alle ‚Immigranten‘ in Frankreich über eine kulturelle Ebene sichtbar zu machen und in den Kanon der Nation und ihrer Geschichte zu integrieren. Das eindeutig von einem gruppenspezifischen Anerkennungsbedürfnis geleitete Vorgehen war strategischer und gezielter als das der Ausstellung ‚Les enfants de l’immigration‘. Vor allem die von El Yazami gewählte Strategie, über die Kombination von wissenschaftlicher Expertise, einer Schirmherrschaft, getragen durch bekannte Persönlichkeiten, und die Integration in eine der größten öffentlichen Feierlichkeiten zu Ehren der Republik und der Nation, Aufmerksamkeit, Anerkennung und Wirkmacht zu generieren, findet in der Ausstellung ‚Les enfants de l’immigration‘ keine Entsprechung. Bei letzterer stand vielmehr ein teilweise diffuses, aber offenes und partizipatives Vorgehen zur Sichtbarmachung eines Teilphänomens von Immigration in Frankreich im Vordergrund. Während ‚France des étrangers. France des libertés‘ vorrangig Informationen über Immigration an ein möglichst breites Publikum vermitteln wollte, um gleichsam ‚pädagogisch/didaktisch‘ das Bild der Immigration gesamtgesellschaftlich zu verändern, wollte ‚Les enfants de l’immigration‘ vor allem eine Thematisierung von Immigration in einem Bereich präsentieren, den man so nicht erwartete: dem der Kunst. Dabei sollten die Immigranten selbst eine Stimme bekommen und sich an einem Ort ausdrücken können, an dem sie normalerweise keine Rolle spielten. Das diverse und multikulturelle Frankreich mit allen Sinnen erfahren – ‚Toute la France‘ Fast zehn Jahre später, 1998, entstand im Museum der Bdic eine weitere große Ausstellung zur Geschichte der Immigration in Frankreich: ‚Toute la France‘. Sie erscheint unter zwei Gesichtspunkten besonders relevant. Zum Ersten hatten einige der hier beteiligten Forscher schon an den ersten Planungen und Entwürfen für ein Immigrationsmuseum mitgearbeitet bzw. waren an der Ausstellung ‚France des étrangers.
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France des libertés‘ beteiligt und/oder nahmen in der Folge auch an den Planungen zur CNHI teil; beispielsweise: Geneviève Dreyfus-Armand, Pierre Milza, Nancy Green, Janine Ponty, Jacqueline Costa-Lacoux, Benjamin Stora, Christine VolovitchTavarès, Philippe Dewitte und auch Gérard Noiriel. Nicht zuletzt Laurent Gervereau, der damalige Leiter des Museums der Bdic – er kuratierte die Ausstellung und nahm später auch an den Planungen zur CNHI teil.105 Zum Zweiten stellte die Ausstellung in Zielsetzung, Inhalt und Umsetzung ein wichtiges Modell für die spätere Dauerausstellung in der CNHI dar – viele relevante inhaltliche und formale Aspekte des später umgesetzten Museums waren hier schon nachvollziehbar. Darüber hinaus wird auch sie von den Interviewpartnern als wichtiger Vorläufer genannt. Auch bei dieser Ausstellung spielte der gesamtgesellschaftliche und politische Kontext eine große Rolle. So gingen die Autoren der Ausstellung von der Tatsache aus, dass Immigration mittlerweile zu einem brisanten Thema der gesellschaftlichen und politischen Aktualität geworden war. Vor allem der zeitgenössischen Immigrationspolitik maßen sie besondere Bedeutung bei: En un moment où l’immigration est devenue, dans notre pays, un objet majeur du débat politique, où l’accès à la nationalité française suscite des polémiques toujours renouvelées, où la quête de l’identité – nationale ou régionale – s’accompagne parfois de réactions de rejet ou de repli, il nous a paru intéressant de refaire, sous une forme visible et lisible, une brève histoire des populations « qui ont fait la France ». […] nous désirons […] offrir au public des éléments indispensables d’appréciation, en opposition à un discours qui véhicule aujourd’hui des affirmations dangereuses, liées à des approximations hasardeuse.106
Das Zitat spielt auf eine wichtige Thematik der Immigrationspolitik Ende der 80er, aber vor allem der 90er Jahre an: Seit der ersten Kohabitation Chiracs von 1986 bis 88 war das Thema der nationalen Identität mit der Frage nach der Reform des Code de la nationalité kontinuierlich auf der Agenda der konservativen Rechten erhalten geblieben. Vor dem Hintergrund der andauernden Debatten über die Regelung der Nationalität und der Staatsbürgerschaft erschien es den Ausstellungsmachern besonders relevant, sich mit den verschiedenen Bevölkerungsgruppen zu beschäftigen, die Frankreich in seiner zeitgenössischen multikulturellen Form ausmachten. Das Ziel der Ausstellung war laut dem Zitat, eine ‚kurze Geschichte‘ der Völker und Kulturen zu
Gervereau selbst hat sich ausgiebig mit der Rolle des Bildes bzw. visueller Medien in der Öffentlichkeit auseinandergesetzt. Er begründete eine ‚Geschichte des Bildes‘, die er ‚Histiconologia‘ nannte. Er beteiligte sich beispielsweise an Projekten wie ‚Images des Colonies‘ zusammen mit Nicolas Bancel und Pascal Blanchard, was eine umfassende Publikation nach sich zog. Er ist auch insofern von Interesse für das Projekt der CNHI im Kolonialpalast, weil er bereits zuvor einen Entwurf für die Umnutzung des Gebäudes erstellt hatte. Vgl. Gervereau, Laurent, Projet/Rapport „Palais de l’Image“ (février 1999), URL: http:// www.gervereau.com/traces.php?id_trace=114 (Zugriff 21.03.2017). 106 Gervereau, Laurent, Témime, Émile, Milza, Pierre, Avant-propos, in: dies. (Hrsg.), Toute la France. Histoire de l’immigration en France au XXe siècle, Paris 1998. S. 11. 105
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zeichnen, die nach Frankreich gekommen waren und in der Vergangenheit das Land und seine Kultur mitgeformt und beeinflusst hatten. Dabei sollte der Fokus auf dem Beitrag, den die Migranten zum Aufbau der Nation geleistet hatten, im Vordergrund stehen und damit eine miserabilistische Vision von Immigration vermieden werden. Der eher klassische Ansatz, Immigration über Demografie und sozio-ökonomische Themen und Aspekte zu erfassen, sollte aufgebrochen werden zugunsten einer Geschichte der ‚apports culturels de toute nature‘, die Frankreich den Einwanderern zu verdanken habe.107 Um dabei den Charakter eines Überblicks und einer Gesamtschau zu wahren, hatte man sich hier dafür entschieden, ein ganzes Jahrhundert Immigrationsgeschichte in den Blick zu nehmen. So würde man u. a. stärker auf die Prozesshaftigkeit und die tiefe Verankerung des Immigrationsphänomens eingehen können. Pierre Milza veranschaulichte dies in seinem Beitrag zum Katalog, indem er chronologisch die Geschichte der Immigration Frankreichs seit 1860/70 schilderte und abschließend konstatierte: Vieille histoire donc que celle de l’immigration de masse dans notre pays. Un phénomène qui fait de la France l’un des États de la planète qui, avec ceux des « nouveaux mondes », a eu recours, avec le plus d’intensité, aux populations étrangères non seulement pour faire fonctionner son économie, pour occuper des postes de travail désertés par les nationaux, mais aussi pour compenser les effets ravageurs qu’ont eus sur sa démographie les hécatombes des deux guerres mondiales, ou simplement la rétraction précoce et durable […] de nombre de naissance. Sans l’apport des étrangers, la population actuelle de la France ne dépasserait guère, semble-t-il, ce qu’elle était au début de ce siècle et son vieillissement serait encore plus accentué qu’il ne l’est aujourd’hui.108
Die konkrete Struktur der Ausstellung orientierte sich dabei sowohl an einem chronologischen, ethnografischen als auch an einem thematischen Vorgehen: So bildeten einzelne Einwanderungsgruppen mit ihrer jeweiligen Geschichte die Grundlage thematischer Einheiten, beispielsweise Polen, Portugiesen, Algerier, Deutsche etc. Daneben gab es chronologische Einheiten beispielsweise zu den beiden Weltkriegen oder der Nachkriegszeit. Es wurden aber auch Einheiten integriert, die sich thematisch mit dem Kino, der Kunst, der Mode, der Küche oder dem Sport, losgelöst von dem Fokus auf einer ethnischen Gruppe oder einem bestimmten Zeitraum, beschäftigten. Innerhalb der einzelnen Einheiten wurden historische Dokumente und persönliche Geschichten bzw. Perspektiven gegenübergestellt.109 Einzelne Personen wurden vorgestellt bzw.
Vgl. ebd. Milza, Pierre, L’immigration en France depuis la fin du XXe siècle, in: Gervereau, Laurent, Témime, Émile, Milza, Pierre (Hrsg.), Toute la France. Histoire de l’immigration en France au XXe siècle, Paris 1998. S. 13–21. S. 21. 109 Vgl. Bernard, Philippe, Une encyclopédie vivante de l’immigration aux Invalides, in: Le Monde (11.12.1998). 107 108
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legten selbst über audiovisuelle Trägermedien und persönliche Objekte Zeugenschaft von ihrer Geschichte ab. Philippe Bernard äußerte in seinem Artikel zur Ausstellung, dass es schwierig erschien, eine Ausstellung mit einer solch komplexen Herangehensweise in nur vier Sälen unterzubringen. Das stärke die Bedeutung des Katalogs zur Ausstellung, der eine „véritable encyclopédie de l’immigration dans la France moderne“ sei.110 Der Katalog ist in zwei inhaltliche Abschnitte unterteilt: ‚Ces populations qui ont fait la France‘ und ‚De l’exclusion à l’intégration‘. Im ersten Abschnitt werden die verschiedenen Immigrationsgruppen anhand ihrer Herkunftsländer vorgestellt und die Entwicklung ihrer jeweils idealtypischen Immigrationsgeschichte nach/in Frankreich beschrieben: Wann kamen die ersten Immigranten dieser Nationalität? Warum kamen sie, was waren ihre Motive? Sind sie dauerhaft geblieben? Wann sind wie viele von ihnen eingewandert? Wie wurden sie in Frankreich behandelt? Inwiefern konnten sie sich integrieren? Was waren typische Orte, an denen sie sich niederließen, Berufe, die sie ergriffen? Welche bekannten Persönlichkeiten gibt es in Frankreich, die selbst oder deren Familie aus dem jeweiligen Herkunftsland stammen? Was haben sie in die französische Kultur hineingetragen? Dabei folgt man innerhalb dieses Abschnitts nicht stringent, aber doch tendenziell einer chronologischen Vorgehensweise: Man geht von den ältesten Einwanderungsgruppen zu den jüngeren Gruppen: ‚L’immigration belge en France, Les juifs d’Europe orientale et centrale, Les Espagnols en France au XXe siècle, Grecs de Marseille et ailleurs, Les migrants de l’Asie du Sud-Est‘ etc. Der zweite Abschnitt versucht teils chronologisch, teils thematisch Phasen und Faktoren zu benennen und zu analysieren, die einerseits zur Ausgrenzung beigetragen haben oder Gefahr liefen, eine Ausgrenzung zu befördern. Andererseits werden hier ebenso Phasen und Faktoren, die die Integration beförderten, gezeigt. Dabei sind die ersten Kapitel dieses Abschnitts stärker an einer Chronologie vom Ersten Weltkrieg bis in die 1960er Jahre orientiert, während die übrigen Kapitel sich eher an thematischen Schwerpunkten wie Kunst oder Bildungswesen orientieren: ‚La Grande Guerre, La France des années trente, Les réfugiés politiques et l’intégration, Xénophobie, antisémitisme entre les deux guerres, Persécutions et résistance des étrangers durant la Seconde guerre mondiale, Les rapatriements (1954–1964), Exilés d’Europe centrale depuis 1945, Théâtre, littérature, mode, cinéma, dessin, après-guerre, De l’assimilation à l’intégration, L’immigration en débats, Religion et intégration des étrangers en France dans l’entre-deux-guerres, L’école, Sport et immigration: Coups de projecteur, Melting Cuisine, L’art de l’étranger, World Art‘. Die Ausstellung und der Katalog versuchten ‚toute la France‘ zu erfassen und dabei zu verdeutlichen, in welchem Ausmaß zugewanderte Gruppen aus unterschiedlichsten Ländern Frankreich mitgeformt hatten: „‚Toute la France‘ est bien ce miracle
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toujours vivant de l’unicité de la République, grâce, précisément, à la diversité des apports.“.111 Dabei wurde zwar betont, dass es sich bei den repräsentierten Gruppen um eine Auswahl handele, die beispielsweise bewusst die französische Binnenmigration oder auch die koloniale Migration vernachlässige. Trotzdem sollte der Umfang des Phänomens und sein Grad an Verflechtung mit der Gesellschaft deutlich werden, denn „Quel lien unit Marguerite Yourcenar et Annie Cordy, Andreï Makine et Michel Jazy, Marc Chagall et Uderzo, Khaled et Édith Piaf?“ fragt Bernard rhetorisch und gibt die Antwort: „Tous, comme un habitant sur cinq de notre pays, sont des immigrés ou des enfants d’immigrés […]“112. In offener Ablehnung einer miserabilistischen Vision von Immigration, trotz der offenen Thematisierung von ‚Schattenseiten‘ wie der Xenophobie, sollte der als positiv gewertete, vor allem kulturelle Beitrag der Immigranten zur Konstruktion der Nation aufgezeigt werden – Immigrationsgeschichte als Erfolgsgeschichte. Es wurde hier ähnlich wie in ‚France des étrangers. France des libertés‘ ein der Immigration wenig informiert, skeptisch oder neugierig gegenüberstehendes Publikum adressiert, dem man Informationen und Eindrücke vermitteln sowie Erfahrungen ermöglichen wollte. Das Publikum sollte die Chance erhalten, Immigration anders zu sehen und zu denken, als es der öffentliche Diskurs vorgab. Die Autoren der Ausstellung waren vor allem Akademiker, die zur Immigrationsgeschichte arbeiteten und hier als Experten eingesetzt wurden. Sie bedienten sich einer sehr umfangreichen Auswahl von Objekt- und Dokumenttypen, um die wissenschaftlich etablierte Meistererzählung der Immigrationsgeschichte möglichst vielfältig und lebendig zu vermitteln: Fotografien, Plakate, Postkarten, Briefmarken, Karikaturen, Gemälde, Kunstwerke, typische Objekte aus dem Herkunftsland, persönliche Objekte, Platten-/CD–Cover, Zeitschriften/Zeitungen, Bücher/Buch-Cover, Ausweispapiere, Kleidung/Mode, Lebensmittel etc. Diese sehr umfassende Auswahl setzt sich deutlich von den anderen beiden Ausstellungen ab, die hier jeweils stärker auf eine Präsentationsform und Objektgruppe begrenzt waren. So konzentrierte sich ‚Les enfants de l’immigration‘ auf Kunstwerke, auch wenn diese aus sehr unterschiedlichen Materialien und Medien bestehen konnten. ‚France des étrangers. France des libertés‘ hingegen beschränkte sich auf eine Präsentation in Form des ‚journal mural‘: gedrucktes Text- und Bildmaterial. Allerdings spielte bei allen drei Ausstellungen der Ort eine wichtige Rolle: Étonnant emplacement que ce haut lieu du militarisme français pour évoquer la richesse d’une France fécondée par toutes les migrations […]. En dépit de la solennité et de l’exiguïté des lieux, historiens et muséographes ont réussi à rendre vivante et actuelle une histoire complexe et méconnue […].113
Gervereau/Témime/Milza, Avant-propos, in: Toute la France. Histoire de l’immigration en France au XXe siècle, S. 11. 112 Bernard, Une encyclopédie vivante de l’immigration aux Invalides. 113 Bernard, Une encyclopédie vivante de l’immigration aux Invalides. 111
Vorläufer und Entstehung des Projekts eines Museums für Immigrationsgeschichte
Zwar war der Ort nur bedingt freiwillig gewählt, denn das Museum der Bdic befindet sich eben im Invalidendom. Trotzdem hat dieser wichtige Ort der Republik eine gewisse Strahlkraft und verlieh der Ausstellung und ihrem Thema Bedeutung,114 schließlich befinden sich hier das Grabmal Napoleons und das Museum der Militärgeschichte. Zudem ist es ein wichtiger touristischer Anlaufpunkt am Ufer der Seine auf dem Weg zum Eiffelturm. Bezüge zwischen der Dauerstellung der CNHI ‚Repères‘ und den drei Vorläufern Im Folgenden soll es nun in einem letzten Schritt darum gehen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den beschriebenen emblematischen Vorläufer-Ausstellungen und der aktuellen Dauerausstellung der CNHI ‚Repères‘ herauszuarbeiten. Dabei wird der Vergleichsfokus von einer weiten Perspektivierung aller Vorläufer-Ausstellungen auf den Vergleich zwischen ‚Les enfants de l’immigration‘, ‚Toute la France‘ und der Dauerausstellung der CNHI ‚Repères‘ sukzessive verengt. Insgesamt soll damit verdeutlicht werden, von welchen inhaltlichen und strukturellen Ansätzen, Konzepten und Narrativen die Macher der CNHI sich haben inspirieren lassen bzw. von welchen Ansätzen sie sich abgegrenzt haben. Der Fokus liegt dabei vorerst auf der Dauerausstellung der CNHI, da diese als erstes Element des Projekts geplant und umgesetzt wurde. Um ihre Konzeption, inhaltliche Füllung, Struktur sowie ihre formale Ausgestaltung drehen sich maßgeblich die Diskussionen der Planungsphase ab 2003/04. Sie bildet zudem bis heute das Kernstück der CNHI und ist dem Publikum dauerhaft zugänglich. Die Wechselausstellungen hingegen wurden erst mit bzw. nach der Eröffnung sukzessive von unterschiedlichen Kuratoren geplant und umgesetzt. Sie werden daher vorerst hier nicht einbezogen, obgleich die hier herausgearbeiteten Elemente in der Analyse der Wechselausstellungen in Kapitel 2.3 eine Rolle spielen. Zusammenfassend kann man in Bezug auf die sechs Analysekategorien festhalten: Der thematische Fokus variierte bei allen drei Vorläufer-Ausstellungen stark: von der Thematisierung eines relativ isolierten Folgephänomens der Immigration, dem der ‚Zweiten Generation‘ über den Fokus auf ein Teilphänomen migrantischer Präsenz in Frankreich, den migrantischen Zeitschriften bis hin zu einer stark überblicksartigen Ausstellung, die den gesamten Bereich der vor allem kulturellen Beiträge von Immigranten in den Fokus nimmt. Allen drei Ausstellungen ging es dabei aber darum, ‚Immigration‘ sichtbar zu machen, ihre Präsenz und Verflechtung innerhalb der französischen Gesellschaft zu verdeutlichen und den Beitrag der Immigranten zur Der Invalidendom war ursprünglich als königliche Kapelle unter Ludwig XIV. errichtet worden. Anschließend wurde er mit der Revolution in einen Tempel des Mars umgewidmet, bevor Napoleon daraus ein militärisches Pantheon machte. Heute sind hier u. a. das Grabmal Napoleons I. und das Musée de l’Armée untergebracht. 114
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französischen Gesellschaft und Nation hervorzuheben. Damit wollen letztendlich alle drei Formate gegen die Dominanz eines vereinfachenden, meist aktuell präsenten Konzepts von Immigration ankämpfen. Der letzte Aspekt wurde zu einer zentralen Zielsetzung der CNHI. Das in der Vorgängerausstellung ‚Toute la France‘ prominente Narrativ einer aufwertenden und aufklärenden Beitragsgeschichte bildet den Leitfaden der Dauerausstellung der CNHI. Die ‚Ausstellungsmacher‘ sind, im Falle der drei Beispiele, dabei teilweise selbst Akteure der Immigration, der migrantischen Vereine, häufig aber auch Akademiker, die zu dem Thema forschen und als Experten herangezogen werden. Bei der CNHI wird die Gruppe der migrantischen Akteure gezielt über die gesonderte Gruppe des ‚Forums‘ repräsentiert, hatte aber wenig bis gar keinen Einfluss auf die Dauerausstellung. Diese wurde hingegen maßgeblich von den eigens in einer Arbeitsgruppe versammelten Akademikern geplant, wohingegen die migrantischen Vereine in der Folge verstärkt die Möglichkeit erhielten, über Wechselausstellungen ihren Beitrag zur CNHI zu leisten. Die Zielgruppe orientiert sich bei den drei Fallbeispielen mal stärker an den Migranten selbst, mal stärker an einem breiteren Publikum. Da die CNHI sich als nationales Projekt positioniert und eines ihrer maßgeblichen Ziele die Veränderung der Wahrnehmung von Immigration ist, richtet sich die Dauerausstellung mit ihrem Überblickscharakter eindeutig an ein breites Publikum, obgleich sie gerade zu Beginn Probleme hatte, dieses zu erreichen. Bei allen drei Ausstellungen ist dabei der Bezug zur tagespolitischen Aktualität spürbar bzw. wird über die Stellungnahme in den Katalogtexten hergestellt. Eine besondere Bedeutung wird bei allen drei Ausstellungen dem Ort zuteil. Es scheint hier besonders wichtig, dass über den Ort eine gewisse Legitimität, Aufwertung und Anerkennung des Themas symbolisch und visuell bzw. geografisch wahrnehmbar wird. ‚Immigration‘ soll an prestigeträchtigen Orten der Republik gezeigt werden. Beide Aspekte, die Beziehung zur tagespolitischen Aktualität und die besondere Bedeutung des Ortes, treffen auf die CNHI in besonderem Maße zu. Ihre schon vor der eigentlichen Eröffnung sicht- und spürbare Verwicklung in aktuelle politische und öffentliche Debatten wurde in der Folge sogar zu ihrem speziellen Kennzeichen bzw. Handicap. Dabei drehte sich ein Teil der Polemik immer auch um die Ortswahl. Im Hinblick auf die Grundstruktur der Dauerausstellung ‚Repères‘ kann man besonders zu zwei der drei behandelten Ausstellungen Parallelen ziehen (vgl. Abbildungen S. 34 f.):115 ‚Les enfants de l’immigration‘ zeigte bereits Ansätze, die in der CNHI fortgeführt wurden. Die Grundstruktur dieser Vorläufer-Ausstellung, die sich an der Die chronologische Grundstruktur von ‚France des étrangers. France des libertés‘ macht sie zwar durchaus als Bezugspunkt für ‚Repères‘ interessant. Auch die Hervorhebung einzelner Migranten und ihrer Biografien taucht hier auf. Aber die insgesamt dominante Fokussierung auf ein Element bzw. Detail der migrantischen Präsenz in Frankreich ist für die Dauerausstellung ‚Repères‘ wenig relevant. 115
Vorläufer und Entstehung des Projekts eines Museums für Immigrationsgeschichte
Prozesshaftigkeit von Immigration orientierte – Ausreise/Loslösung, Integration/Leben im neuen Heimatland und Gestaltung der Zukunft – tauchte teilweise später in der Dauerausstellung der CNHI wieder auf. Darüber hinaus ist die insgesamt eher thematische Ausrichtung bei ‚Repères‘ ganz offensichtlich. So finden sich die Themen der Eingangssequenz von ‚Les enfants de l’immigration‘, ‚arrachements‘, und des ‚Hauptteils‘ der Ausstellung ‚Les enfants de l’immigration‘, der die Überschrift ‚creuset‘ trägt, wieder. Besonders die neun thematischen Untersektionen von ‚creuset‘ sind mit den thematischen Einheiten von ‚Repères‘ vergleichbar. Außerdem scheint die Struktur des Katalogs von ‚Toute la France‘ Pate gestanden zu haben: Die häufig dreifache Orientierung an einzelnen schlaglichtartigen Themen, einer stichpunktartig einbezogenen allgemeinen Chronologie und der Hervorhebung einzelner Migranten-Biografien und -Schicksale scheint in die Dauerausstellung der CNHI Eingang gefunden zu haben. Beim Vergleich der Grundstrukturen kann man des Weiteren feststellen, dass ‚Toute la France‘ mit der Aufteilung in zwei Großkategorien versuchte, eine doppelte Perspektivierung einerseits über die ethnischen Gruppen und andererseits über Themen zu kombinieren, wovon nur die zweite Perspektive sich als solche in der Struktur von ‚Repères‘ wiederfindet: Man hatte sich hier eindeutig gegen eine explizite Thematisierung einzelner Ethnien oder Nationalitäten gestellt. Die zehn Einheiten von ‚Repères‘ lassen sich sehr gut in den prozessualen Charakter der zweiten Einheit von ‚Toute la France‘: ‚De L’exclusion à l’intégration‘ einordnen. Es geht um eine Entwicklung vom ‚Fremden‘, ‚Ausgegrenzten‘, über den ‚Neuankömmling‘ bis hin zur Integration und der konkreten Verflechtung mit der französischen Gesellschaft – eine Entwicklung, die auch bei ‚Les enfants de l’immigration‘ auftauchte und vor allem durch die Begriffe ‚Arrachement‘ und ‚Creuset‘ veranschaulicht wird. Wenn man in einem zweiten Schritt den Vergleich der konkreten inhaltlichen Ausgestaltung der Einheiten hinzunimmt, kann man nun erkennen, dass der Ansatz aus dem ersten Teil von ‚Toute la France‘, die ethnografische Perspektive, bei ‚Repères‘ deutlich in den Hintergrund rückt. Allerdings greift ‚Repères‘ Einzelschicksale und Einzelbiografien auf, wie es auch ‚Toute la France‘ macht, ebenso stellen beide berühmte Persönlichkeiten der Immigration heraus. Dies scheint ein wichtiges Element der potenziellen Identifizierung des Publikums mit dem Thema zu bilden und ist daher meist unabdingbar. Den bereits erwähnten Ansatz, Immigration über Kunst darzutsellen, der in ‚Les enfants de l’immigration‘ das Hauptthema bildet, greift ‚Repères‘ auf. In einem dritten Schritt bietet es sich an, die strukturellen und inhaltlichen Einheiten zu vergleichen, die sich von ihrem Aufbau, ihrer Ausgestaltung und ihrer Umsetzung her zu ähneln scheinen, um idealtypische Kernelemente der Immigrationsausstellungen erfassen zu können. Hierbei fällt auf, dass in allen drei Ausstellungen bzw. ihren Katalogen die Einheiten ‚Ankunft, Leben im neuen Land, Kompromisse, Aneignung, Probleme‘ sowie ‚Integration, Anpassung, Verwurzelung‘ und ‚Kultureller Beitrag, Leistung‘ eine wichtige Rolle spielen. Während die beiden Einheiten
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‚Auswanderung, Loslösung, Trennung‘ und ‚Zerrissene Identität: zwischen alter und neuer Heimat‘ deutlich stärker bei ‚Repères‘ und ‚Les enfants de l’immigration‘ zu erkennen sind. Da es sich ‚Toute la France‘ bewusst zur Aufgabe gemacht hat, eine miserabilistische Vision auf die Immigration zu vermeiden und eine Erfolgsgeschichte zu erzählen, scheint es konsequent, dass diese beiden eher ambivalenten und durchaus auch negativ konnotierten Ansätze hier nicht explizit genannt sind. Zudem scheint es vor dem Hintergrund des französischen Nationalverständnisses, das bereits Noiriel als Hindernis für die Integration des Phänomens Immigration in die nationale Meistererzählung herausgearbeitet hatte, sinnvoll, vor allem die positiven Aspekte, den Beitrag, die Leistung, die die französische Kultur und Nation bereichert und weiterentwickelt haben, zu betonen. Schließlich kann so das eigentlich als spaltend wahrgenommene Phänomen der Immigration in die Einheit der Nation integriert werden. Die Darstellung von potenziell die Differenz betonenden Elementen, wie die Zerrissenheit der migrantischen Identität zwischen zwei Kulturen, die Sehnsucht nach der Heimat, die Zurückweisung oder Ausgrenzung durch das neue ‚Heimatland‘ Frankreich oder auch die misslungene oder verweigerte Integration, scheinen aus dieser Perspektive eher problematisch. 1. Schritt: Analyse der Grundstruktur Repères (Exposition et catalogue)
Toute la France (Exposition et catalogue)
Les enfants de l’immigration (Exposition)116
10 Thematische Einheiten (Catalogue); 9 Thematische Einheiten (Exposition)
2 Thematisch-prozessuale Einheiten (Catalogue); 20 Thematisch-prozessuale Einheiten (Exposition)117
3 Thematisch-prozessuale Einheiten
I) II) III)
I
Partie – Ces populations qui ont fait la France
I) L’Arrachement II) Le creuset III) La Construction
II
Partie – De l’exclusion à l’intégration
Émigrer Face à l’État Terre d’acceuil – France hostile IV) Ici et là-bas V) Lieux de vie VI) Au travail VII) Enracinements VIII) Sport/Sportifs IX) Religions Diversité X) Cultures
Im Falle der Ausstellung „Les enfants de l’immigration“ wurde der Katalog nicht konsultiert, da allerdings der Bericht Perrotis umfangreich die Ausstellung selbst und ihren Inhalt analysiert, wird sich primär auf seinen Bericht gestützt. Vgl. Perroti, Etude de cas „L’exposition: „Les enfants de l’immigration“ au centre National d’art et de Culture Georges Pompidou“. 117 Die 20 thematischen Einheiten der Ausstellung entsprechen inhaltlich den Untersektionen des Katalogs: (1) La France se nomme diversité (2) Nos voisins, nos immigrés (3) Les Italiens migrant en masse 116
Vorläufer und Entstehung des Projekts eines Museums für Immigrationsgeschichte
2. Schritt: Analyse der Ausgestaltung der einzelnen Einheiten Die 10 Sektionen haben eine unterschiedliche Binnenstruktur, die sich entweder stärker chronologisch oder thematisch gestaltet:
Im Katalog konzentriert sich der erste Teil auf ein ethnografisches Vorgehen, der zweite Teil enthält chronologische und thematische Aspekte; die konkrete Ausstellung lässt die beiden großen Hauptteile weg, hält sich aber an die Darstellung von ethnografischen, chronologischen und thematischen Einheiten:
In allen Einheiten werden Werke von Künstlern und Laien ausgestellt, die einzelnen Untersektionen zugeordnet sind:
Sektion I bis III sowie V/VI und IX: Aufteilung in chronologische Untersektionen; Beispiel I) Émigrer: XIXe – 1914 Des immigrés surtout’ Européens/1914–1944 France – terre d’accueil/1945–1975 Besoin de main d’œuvre/ 1975 – heute Réduction des flux Sektion IV/VII/VIII und X: Rein thematische Sektionen: Beispiel VIII) Sport: Les jeux de ‚l’entresoi‘/Rencontres/Champions
I Partie: Einzelne Ethnien, Nationalitäten, Gruppen werden nach folgendem Muster vorgestellt: – Nationalität: Belgier (‚L’immigration belge en France‘) – Zeitliche Einordnung (‚Du milieu du XIXe siècle à la Seconde Guerre mondiale‘) – Bekannte Einwanderer: Jacques Brel, Marguerite Yourcenar, etc. – Zeitzeuge/Biografie: ‚Paroles: Annie Cordy (chanteuse, comédienne)‘
I)
II. Partie: Chronologische und thematische Einheiten: – Rein chronologisch: ‚La Grande Guerre‘ – Rein thematisch: ‚Melting Cuisine‘ – Gemischt: ‚Xénophobie, antisémitisme entre les deux guerres‘
III) La construction: ‚L’égalité des droits‘ ‚Une place à l’école‘ ‚Une réhabilitation particulière‘ ‚Qui est le peuple?‘ ‚Les fresques troglodytes de Mantes-la-Jolie‘
Zusätzlich werden zu jeder Sektion Einzelbiografien, thematische Sondereinheiten und Kunstwerke mit Bezug zur Migration zugeordnet: Beispiel II) Face à l’Etat: Biografien: Famille Pozzera (Italien) / Famille Futtersack (Ungarn) / Victor-Hugo Iturra etc. Werke: Plantu ‚Formalités‘ und ‚L’immigré exhibitionniste‘ / ‚Jacqueline Salmon‘ ‚Le Hangar‘ ‚Sangatte‘ etc.
L’Arrachement: ‚Déchirures‘ ‚Le patrimoine de Longwy‘
II) Le creuset: ‚L’espace subi‘ ‚L’espace concédé‘ ‚Dedans, dehors‘ ‚Territoires‘ ‚Le retour et l’image du pays d’origine‘ ‚Les espaces d’intégration‘ ‚L’espace des filles‘ ‚Le patrimoine commun‘ ‚L’espace du squat‘
(4) Les coloniaux et les étrangers dans la Grande Guerre (5) Les Grecs et les Arméniens und (6) Migration
due au régime tsariste (7)Littérature, Théâtre, Arts plastiques (8) Les Polonais und (9) Les Espagnols (10) Les étrangers dans la Seconde Guerre mondiale (11) Les chocs de l’après-guerre (12) Cinéma, Musique, Danse (13) Les Algériens und (14) Les Marocains, les Tunisiens, sowie (15) Les Portugais (16) L’Afrique noire (17) L’Asie du Sud-Est (18) Diversité, toujours und (19) Les voies de l’intégration (20) Le sport. Sie werden daher hier mit in die Analyse, die in der zweiten Tabelle zur Ausgestaltung dargestellt ist, integriert.
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3. Schritt: Vergleich der einzelnen Elemente/Einheiten: Repères
Toute la France
I)
Émigrer
II) III)
Face à l’État Terre d’accueil – France hostile Lieux de vie
V)
II. Partie: Xénophobie, antisémitisme entre les deux guerres L’immigration en débats
IV) Ici et là-bas
Les enfants de l’immigration L’Arrachement
Auswanderung, Loslösung, Trennung
Le Creuset: L’espace subi, L’espace concédé, Territoires
Ankunft, Leben im neuen Land, Kompromisse, Aneignung, Probleme
Le Creuset: Dedans, dehors, Le retour et l’image du pays d’origine
Zerrissene Identität: zwischen alter und neuer Heimat
VII) Enracinements IX) Religions
II. Partie: De l’assimilation à l’intégration La France des années trente. Les réfugiés politiques et l’intégration Religion et intégration des étrangers en France dans l’entre-deux-guerres
Le Creuset: Les espaces d’intégration
Integration, Anpassung, Verwurzelung
VIII) Sports, X) Cultures
II. Partie: L’école, Sport et immigration, Melting Cuisine, L’art de l’étranger, World Art Théâtre, littérature, mode, cinéma, dessin, aprèsguerre
Le Creuset: Le patrimoine commun
Kultureller Beitrag, Leistung
2.1c
Der Rapport von Driss El Yazami und Rémy Schwartz von 2001
In diesem Kapitel wird der erste Bericht, der von Regierungsseite in Auftrag gegeben und veröffentlicht wurde, untersucht. Er stellte sich in der Folge als wichtige Vorlage für den offiziellen Bericht Toubons dar, der 2004 zur tatsächlichen Umsetzung eines nationalen Immigrationsmuseums führte. Toubon und die entsprechenden Planungsgruppen übernahmen wesentliche Elemente und Ideen des Berichts von 2001, daher wird dieser in der vorliegenden Arbeit als ‚Vorstudie‘ betrachtet und untersucht. Teilweise bezieht er die bereits besprochenen Ausstellungen mit ein und belegt damit ihren Modellcharakter. Der Bericht von 2001 verwies auf eine verstärkte gesellschaftliche Relevanz eines nationalen Immigrationsmuseums um die 2000er Jahre. So nutzten Patrick Weil und Philippe Bernard, die für eine politische Wiederaufnahme der Idee zu einem natio-
Vorläufer und Entstehung des Projekts eines Museums für Immigrationsgeschichte
nalen Immigrationsmuseum sorgen wollten, die Euphorie um die Fußballweltmeisterschaft von 1998 und das Phänomen des Black – Blanc – Beur, um den damaligen Premierminister Lionel Jospin von der Notwendigkeit eines nationalen Immigrationsmuseums zu überzeugen. Parallel initiierten Mohammed Telhine und Hakim el Karoui medial einen öffentlichen Appell für ein Immigrationsmuseum in La Libération.118 Sie wollten im Kontext der aktuellen Konflikte zwischen Muslimen und Juden in Frankreich auf die Identitätskrise vieler Nachkommen von Migranten aufmerksam machen. Laut den Autoren wurde diese maßgeblich durch die Unmöglichkeit, die eigene, oft familiär gefärbte, Immigrationsgeschichte in der großen nationalen Meistererzählung aufgehoben zu sehen, verursacht. Dabei sahen die Autoren zum einen die Schule in der Pflicht, Immigrationsgeschichte stärker zu thematisieren. Zum anderen forderten sie ein Immigrationsmuseum. Sie beklagten den Umgang mit dem konkret zur Verfügung stehenden ‚lieu de mémoire‘, der Renault-Fabrik auf der Île Séguin in Billancourt – laut Telhine und El Karoui ein prädestinierter Ort für ein französisches Immigrationsmuseum.119 Dieser Appell hatte allerdings noch vor der Veröffentlichung des genannten Berichts im Juli 2001 ein ungewöhnliches Nachspiel: Claude Bartolone, delegierter Minister für die Stadt, gab an, ein Immigrationsmuseum auf der Île Séguin zu planen, ohne dabei jedoch auf die vorherigen Initiativen u. a. von Telhine und El Karoui einzugehen. Telhine verfasste daraufhin einen Beschwerdeartikel, der dieses ‚Plagiat‘ anprangerte und die Autorenschaft für die Idee eines Immigrationsmuseums für die AMHI und alle beteiligten Akteure einforderte. Zudem warnte man vor einer zu einseitigen Sicht ‚à la Bartolone‘ auf Immigration, die diese nur als Wirtschaftsfaktor oder Arbeitskraft sehe.120 Die Idee eines nationalen Immigrationsmuseums fing also an, wenn auch vorerst im Kleinen, Polemiken und Diskussion hervorzurufen, eine neue Qualität, die vor den 2000er Jahren nicht erkennbar gewesen war und mit dazu beitrug, ein solches Projekt auch auf oberster staatlicher Ebene relevant erscheinen zu lassen. Lionel Jospin betraute schließlich Driss El Yazami, den Begründer von Génériques, und Rémy Schwartz mit einer Machbarkeitsstudie: Après avoir rappelé que l’immigration est une donnée constitutive de l’histoire de France et du patrimoine national, le Premier ministre a suggéré de créer un « lieu » ou « musée », pour mettre en valeur le rôle de l’immigration dans le développement économique, social
Vgl. Telhine, Mohammed / El Karoui, Hakim, Un musée de l’immigration à Billancourt, in: Libération (09.11.2000). S. 9. 119 Telhine tritt hier als Präsident der Organisation ‚Mémoire active‘ in Erscheinung. Er wird später auch als Vertreter dieses Vereins an der Planung der CNHI teilnehmen. 120 Vgl. Telhine, Mohammed, Bartolone, mémoire courte et peu courtoise, in: Libération (09.07.2001). Claude Bartolone antwortet auf die Vorwürfe in einem Brief, der am 11. Juli in La Libération veröffentlicht wird und in dem er verdeutlicht, wie sehr ihm dieses Projekt eines Immigrationsmuseums am Herzen liege. Laut eigener Aussage habe er sich gegenüber Jospin vermehrt für ein solches Projekt eingesetzt, vor allem aufgrund seiner Treffen mit Vereinen und Akteuren, die dies auch einforderten. Vgl. Bartolone, Claude, La mémoire appartient à tous, in: Libération (11.07.2001). 118
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et culturel de notre pays. Il s’agirait de réaffirmer par l’édification d’un tel « lieu » l’enjeu civique et politique lié à l’intégration des générations issues de l’immigration et plus largement la transmission aux jeunes générations de cette part considérable de l’histoire nationale.121
Der offizielle Bericht, der im November 2001 veröffentlicht wurde, entstand aus der Arbeit einer informellen Arbeitsgruppe, die sich regelmäßig traf und aus folgenden Personen bestand: Philippe Bernard, Nicolas Georges, Olivier Rousselle, Patrick Weil, Hayet Zeggar und Laurence Canal sowie den beider Verfassern des Berichts.122 Bernard und Weil führten also ihr Anliegen fort und beteiligten sich an der Ausarbeitung des Berichts. Der Bericht basierte auf einer Vielzahl von Treffen und Interviews mit verschiedenen Personen. Hierbei handelte es sich einerseits schwerpunktmäßig um Akademiker und Forscher aus dem Bereich der Immigration und andererseits um Beamte, Verwaltungspersonal auf nationaler und lokaler Ebene. Unter den interviewten Personen finden sich: Michel Wieviorka, Nancy Green, Philippe Dewitte, MarieClaude Blanc-Chaléard, Marie-Christine Volovitch-Tavarès, Geneviève Dreyfus-Armand, Ralph Schor, Gabriel Gaso Cuenca, Benjamin Stora und Gérard Noiriel. So war hier wieder eine große Zahl von Experten beteiligt, die zum Thema Immigration arbeiteten und die teilweise auch schon an der Arbeit der AMHI oder einer bzw. mehrerer der Vorläufer-Ausstellungen beteiligt gewesen waren und später auch an der Planung der CNHI teilnehmen würden. Zwar war in diesem Fall aufgrund des Zeitmangels keine Auslandsreise für den Besuch von eventuellen Vorbildern möglich. Jedoch wurden trotzdem Beispiele und Konzepte aus dem Ausland herangezogen, die fruchtbar erschienen. Zusätzlich wurden zwei Studien bei externen Forschern in Auftrag gegeben, die die aktuelle Situation in Bezug auf audiovisuelle Archive zur Immigration in Frankreich ermitteln und zudem die Darstellung der Immigration in Schulbüchern der Abschlussklassen in Frankreich untersuchen sollten.123 Das Material fügt sich zu einem dreiteiligen Bericht zusammen, der ein grundlegendes Konzept für die geplante Institution enthielt, sowie Vorschläge für einen konkreten Ort. Der Bericht formuliert zu Beginn, dass aufgrund der positiven Aufnahme des Projekts bei den kontaktierten Personen aller Bereiche von einem großen Interesse und Rückhalt in Bezug auf diese Initiative gesprochen werden könne und deshalb davon ausgegangen werden könne, „(qu’i)l y a donc une place, en France, pour un tel projet […]“.124 Die Autoren benennen dafür vier Gründe: die lange Tradition der Im-
El Yazami, Driss / Schwartz, Rémy, Avant-propos, in: dies. Rapport „Pour la création d’un Centre national de l’histoire et des cultures de l’immigration“ (22.11.2001). S. 1. 122 Vgl. ebd. S. 2. 123 Vgl. ebd. 124 El Yazami, Driss / Schwartz, Rémy, Avant-propos, in: dies. Rapport „Pour la création d’un Centre national de l’histoire et des cultures de l’immigration“ (22.11.2001). S. 2. 121
Vorläufer und Entstehung des Projekts eines Museums für Immigrationsgeschichte
migration in Frankreich, eine starke gesellschaftliche Forderung nach einem solchen Ort, den Stand der Forschung und den europäischen Kontext. Die Behauptung der starken sozialen Nachfrage wird mit dem Erfolg der Ausstellungen ‚France des étrangers. France des libertés‘ und ‚Toute la France‘ begründet, die beide laut den Autoren ein breites Publikum angezogen hatten und damit ‚das Bedürfnis nach Erinnerung‘ in diesem Bereich spiegelten. Der Bericht benennt darüber hinaus weitere Initiativen zur Bewahrung und Vermittlung der Immigrationsgeschichte: die Vereinigung ‚Au nom de la mémoire‘, die ‚Association connaissance de l’histoire de l’Afrique contemporaine‘ (ACHAC) sowie Génériques, aber auch die ‚Fédération d’associations et centres d’émigrés espagnols en France‘ (FACEEF). Einige dieser Vereinigungen hatten dazu beigetragen, Archive und Sammlungen anzulegen, zugänglich und öffentlich bekannt zu machen. Zudem wird eine Versammlung von rund 50 migrantischen Vereinen benannt, die am 14. Oktober 2001 stattfand und auf der sich die Vereine kollektiv für ein nationales Immigrationsmuseum ausgesprochen hatten. Der Bericht selbst weist drei inhaltliche Schwerpunkte auf: Formulierung der Botschaft und Zielsetzung der Institution, die sich stark an denen der bereits behandelten Ausstellungen orientierten, Diskussion des Charakters der Institution, die sich erneut in die Verhandlung von Museum versus Forschungszentrum einschrieb und versuchte, einen dritten Weg zu formulieren, daher wählte man die Bezeichnung ‚Centre national de l’histoire et des cultures de l’immigration‘ sowie Definition des Status’ und Erläuterung der Optionen für die Ortswahl, die hier eine zentrale Rolle spielte, wobei man sich explizit für eine nationale, staatliche Institution und gegen einen prestigeträchtigen Ort aussprach. Diese drei inhaltlichen Kernaspekte sollen im Folgenden kurz erläutert werden: In Bezug auf die Botschaft und Zielsetzung setzte man bei den Narrativen der großen Immigrationsausstellungen an. So sollte Immigration als universelles, dauerhaftes Phänomen dargestellt werden, das zum Fortschritt und zum Reichtum von Gesellschaften beitragen könne. Ganz im Sinne der Ausstellung ‚Toute la France‘ wollte man hier vermitteln, dass Immigranten als fester Teil der französischen Geschichte immer schon auf kultureller, wirtschaftlicher und verteidigungspolitischer Ebene ihren Beitrag zur Nation geleistet haben. Zur grundsätzlichen Definition des Phänomens Immigration wurde das Kriterium der Nationalität herangezogen. Dabei hob man in Abgrenzung von der Ausstellung ‚Les enfants de l’immigration‘ hervor, dass man dadurch aber nicht zum ‚Musée des étrangers‘ werden wolle. Es ging vielmehr darum‚ jede ‚Ghettoisierung‘ des Themas zu vermeiden. Bemerkenswert ist, dass den Autoren ganz klar war, dass bei der Darstellung und Untersuchung von Immigration in Frankreich die koloniale Vergangenheit immer eine Rolle zu spielen hatte – hier wurde diese Annahme wie selbstverständlich in den Bericht integriert, während später im Bericht zur Schaffung der CNHI von 2004 deutlich wird, dass große Uneinigkeiten ob der Integration dieses Themas herrschten. Diese Liste an zu vermittelnden Inhalten spiegelte im Wesentlichen die Anliegen der vorherigen Ausstellungen und des Berichts der AMHI. Hier wird insbesondere das Motiv des Beitrags, den Immigranten
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zur Gesellschaft leisteten, betont. Zudem scheint durch, dass hier die negativen Seiten der Immigration, beispielsweise ihre Verbindung zur Kolonialgeschichte, stärker betont werden sollten, als dies bisher der Fall gewesen war. In Bezug auf den Charakter des Ortes stellte man sich sowohl in Abgrenzung zum Konzept ‚Museum‘ als auch in Abgrenzung zu einem Forschungszentrum ein ‚multifunktionales Zentrum‘ vor. Es werden vor allem große Bedenken gegenüber dem Konzept ‚Museum‘ deutlich, das, laut den Autoren, aus dem Thema Immigration ‚ein totes Ausstellungsobjekt‘ machen könne, was es zu vermeiden gelte. Man zielte auf einen lebendigen Ort, der polyvalente Aktivitäten zuließ und bereithielt. Im Vergleich zum Bericht der AMHI weitete man daher die Funktionen des Ortes deutlich aus: Es sollte ein Ort des Verstehens von Geschichte, der Debatte, des Austauschs, der Forschung, ein Erinnerungsort, ein Lern- und Bildungsort und ein Instrument der politischen Kultur sein. Daher sollten die Aktivitäten deutlich über die üblichen Tätigkeiten eines Museums hinausgehen. Trotzdem wurden aber durchaus auch explizit klassisch museale Aufgaben und Funktionen integriert – so die Präsentation von Dauer- und Wechselausstellungen. Eine weitere wichtige Aufgabe wird in der Erfassung, Unterhaltung und Erweiterung sowie im Zugänglichmachen von Archiven gesehen. Ähnlich wie in dem Bericht der AMHI wird auch hier eine enge Anbindung an die Universität angestrebt: Das Zentrum wird als Knotenpunkt der Forschung zur Immigration gedacht und soll die Kommunikation zwischen Forschern, aber auch zwischen Forschern und der Öffentlichkeit verstärken und verbessern. Entsprechend der überraschend breiten Angebotspalette, die man hier entwarf, wollte man auch ein möglichst breites Publikum erreichen. Als Grund-Emotion, die bei den Besuchern geweckt werden sollte, wurde in Anlehnung an Ellis Island, der Stolz der Besucher, sowohl Franzosen als auch Immigranten, auf die Republik genannt: „Cette pédagogie de la fierté semble indispensable pour lutter contre la crise d’identité qui se manifestent périodiquement.“125 Dieser Aspekt der emotionalen Komponente war neu und wurde so zuvor nicht einbezogen. Im Anschluss an diese neue, emotionale Komponente sollte ein Schwerpunkt auf der Präsentation einzelner Biografien liegen: Der Besucher sollte sich mit einzelnen Migranten identifizieren und sich in ihr Schicksal einfühlen können. Ein besonders wichtiges Element des Berichts stellte dabei die Formulierung von Vorschlägen für einen potenziellen Ort der Institution dar, was auch der Position der AMHI entsprach: Da in diesem Fall davon ausgegangen wurde, dass die Ortswahl in keinem Fall neutral sein würde, wurde davon abgeraten, einen Ort zu wählen, der zu sehr durch eine Dimension der Immigrationsgeschichte ‚vorbelastet‘ sei. Signifikanterweise werden hier als Beispiel die Dimension der Arbeitergeschichte und die Kolonialgeschichte genannt. Als Merkmale eines idealen Ortes werden die sofortige Verfügbarkeit
El Yazami/Schwartz, Rapport „Pour la création d’un Centre national de l’histoire et des cultures de l’immigration“, S. 25. 125
Vorläufer und Entstehung des Projekts eines Museums für Immigrationsgeschichte
und die Zugehörigkeit zur öffentlichen Hand genannt sowie eine ausreichende Größe, da hier auch eine Bibliothek, ein Kinosaal etc. eingeplant werden, ein erkennbar weiterentwickelbares Potenzial, eine gewisse Offenheit, gute Zugänglichkeit, Einbindung in die Infrastruktur und die Einbindung in lokale Bauprojekte. Im Gegensatz zum Bericht der AMHI wurde in diesem Fall von einem authentischen ‚Lieu de mémoire‘ wie der Île Seguin Abstand genommen. Der Bericht von 2001 distanzierte sich von der Authentizität des Ortes zugunsten der Prestigeträchtigkeit: Mit einem prestigeträchtigen Ort könnte man ‚Immigration‘ stärker aufwerten. Die Orte, die als ernsthafte Optionen betrachtet werden, sind: Saint-Denis, Marseille, Paris. Dabei würde Saint-Denis laut dem Bericht aufgrund seiner Geschichte und seiner aktuellen Bevölkerungsstruktur, beide stark durch Immigration geprägt, eine besondere Authentizität und damit auch Legitimität mitbringen, ohne durch seine Geschichte vorbelastet zu sein. Eine ähnlich starke, wenn nicht sogar noch stärkere Legitimation wurde Marseille zugeschrieben: Sie wird in dem Text als ‚emblematische Stadt der Immigration‘ bezeichnet. Zudem ist sie Metropole und Universitätsstadt, die eine entsprechende Ein- und Anbindung der Institution an verschiedene Institutionen der Stadt, an den öffentlichen Verkehr etc. erlauben würde. Marseille wird als echte Konkurrenz für Paris gesehen und als ‚idealer Ort‘ für die Institution bezeichnet. Als klarer Favorit erscheint dann aber doch Paris, denn mit einer Unterbringung in der Hauptstadt würde das ‚Centre‘ eine stärkere Legitimität und Aufmerksamkeit bekommen. Eigentlich erscheint aber nur der Osten von Paris als möglicher Ort, da dieser am stärksten vom Phänomen Immigration betroffen sei. Es wird hier ein Ort in der Nähe des Parc de la Villette vorgeschlagen: die alten Zollhäuser am Bassin de la Villette. Insgesamt wird die Implantierung im Pariser Osten stark favorisiert, um dem Projekt Wirkmacht und Vernetzung zu verleihen. Das Bedürfnis, dem zukünftigen ‚Centre‘ ausreichend Aufmerksamkeit bzw. Wirkmacht zu verschaffen und damit letztendlich dem Phänomen der Immigration eine gesamtgesellschaftliche Aufwertung widerfahren zu lassen, waren hier wesentliche Motivationen. Dies spiegelte sich auch in der Betonung der notwendig nationalen Dimension des Projektes. Man zielte auf eine Trägerschaft durch den Staat – nur so könne man den Erfolg des Projekts garantieren und eine möglichst große Wirkmacht erzielen. Da dieses Zentrum sehr unterschiedliche Felder abdecken und verschiedene Funktionen übernehmen sollte, wurde hier, ähnlich wie im Bericht der AMHI, eine Trägerschaft durch mehrere Ministerien angestrebt. Zudem müsse die Institution als Kopf eines Netzwerks von migrantischen Vereinen und Initiativen gedacht werden und diese verbinden. So könne eine Konkurrenzsituation vermieden und stattdessen eine bessere Zusammenarbeit der einzelnen Projekte ermöglicht werden. In diesem Kontext wurde die Verbindung mit der Agence pour le développement des relations interculturelles (ADRI) avisiert.126 Die ADRI existiert in ihren Grundstrukturen bereits seit den 1970er Jahren und war ein zentrales Instrument der öffentlichen Hand zur Integration von Immigranten. Sie wurde bereits im Bericht von 2001 über eine Anbindung dieser Institution an das neue Zentrum nachgedacht, später fusionierte das neue Im126
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Kurz nach Erscheinen des Berichts verkündete Le Monde bereits euphorisch „Lionel Jospin annonce la création d’un musée de l’immigration“ – der Artikel bewertete die Initiative als recht erfolgreich und sah in dem Bericht einen wichtigen Schritt zur Realisierung einer solchen Institution. Die Autorin des Artikels betrachtete dabei schon die Entscheidung Jospins bis Mitte Dezember als sicher und sah eine ‚Mission de préfiguration‘ als nächsten Schritt.127 Dass es anschließend nicht zu diesem nächsten Schritt kam und das Projekt erneut auf Eis gelegt wurde, wird von einem der Interviewteilnehmer folgendermaßen erklärt: […] le rapport a été rendu en novembre 2001, si vous connaissez un peu l’histoire de France c’est six mois avant les élections d’avril 2002 donc Lionel Jospin qui n’a pas voulu donner suite à ce rapport parce qu’il pensait que quand on parle d’immigration, on perdait des élections moi j’ai connu plusieurs personnes qui avaient travaillé à l’époque dans le gouvernement qui m’ont dit non, non mais de toute façon, Lionel Jospin, l’immigration il pense que c’est mauvais sujet pour les élections donc à force de pas traiter les sujets politiques on perd les élections donc on a eu […] le Front national au deuxième tour […]128
Es gab zu diesem Zeitpunkt also zwei umfassende Berichte, die Konzepte, Maßstäbe und konkrete Ortsvorschläge für ein nationales Immigrationsmuseum bzw. Zentrum für Immigrationsgeschichte vorschlugen. Zwar war der Bericht der AMHI noch gänzlich auf die Initiative zivilgesellschaftlicher Akteure hin entstanden, doch der Bericht von 2001 war bereits auf Anfrage des damaligen Premierministers Lionel Jospin verfasst worden. Dieser sich allmählich vollziehende Aufstieg zum politischen Projekt der amtierenden Regierung war ein wesentlicher Schritt – eine rein zivilgesellschaftliche Initiative ohne politische Unterstützung hätte sich in Frankreich mit einem solchen Projekt nicht durchsetzen können. Das Zustandekommen des Berichts von 2001 spiegelte dabei die von den Autoren des Berichts selbst konstatierte, verstärkte gesamtgesellschaftliche Relevanz einer Institution zur offiziellen Repräsentation und Aufwertung der Immigration in Frankreich. Um die 2000er Jahre wurden vor allem in den Medien vermehrt Forderungen nach einem solchen Ort laut. Dies gründete sich auch auf die Tatsache, dass bereits seit den 1980er Jahren das Thema Immigration vermehrt in Ausstellungsformate auf lokaler und nationaler Ebene integriert worden war und damit zunehmend öffentlichkeitswirksam sichtbar wurde. Bereits der Bericht der AMHI, aber auch die folgenden frühen Ausstellungsformate sowie der Bericht von 2001 waren stark von der Motivation geprägt, Immigration einerseits sichtbar zu machen und zu rekontextualisieren, und andererseits das Phänomen und seine Bedeu-
migrationsmuseum tatsächlich mit dem GIP CNHI. Vgl. El Yazami/Schwartz, Rapport „Pour la création d’un Centre national de l’histoire et des cultures de l’immigration“, S. 11. 127 Vgl. Zappi, Sylvia, Lionel Jospin annonce la création d’un musée de l’immigration, in: Le Monde (24.11.2001). S. 11. 128 Interview mit CC (18. Mai 2015/Dauer: 01 Std. 29 min. 45 sec.).
Vorläufer und Entstehung des Projekts eines Museums für Immigrationsgeschichte
tung damit aufzuwerten. Wie bereits angedeutet war die letzte Hürde auf dem Weg zur konkreten Umsetzung eines nationalen Immigrationsmuseums eine politische – bis 2001 hatte hier die entscheidende Unterstützung von oberster staatlicher Ebene gefehlt. 2.1d
Die politischen Rahmenbedingungen: Das Ende der ersten Amtszeit Jacques Chiracs und die Wiederwahl von 2002
Im vorherigen Kapitel wurde bereits deutlich, welche immense Bedeutung die tagespolitische Aktualität für das Projekt eines nationalen Immigrationsmuseums in Frankreich hatte. Dies lässt sich u. a. darauf zurückführen, dass die großen, nationalen (Museums-)Projekte in der Regel von staatlicher Seite getragen werden: „Any project of that nature in France, where museums are state-founded, needs a certain level of official backing […]“.129 Daher war es auch für ausnahmslos alle interviewten Akteure klar, dass ein solches Projekt auf lokaler Ebene, nur mit Unterstützung der Vereine und zivilgesellschaftlicher Gruppen niemals eine reale Chance haben würde.130 Die meisten der Akteure betonen das äußerst kleine politische ‚Zeitfenster‘ zwischen 2002 und 20005/06, in dem das Projekt eines Immigrationsmuseums die entsprechende politische Unterstützung bekam. Es erscheint daher sinnvoll, danach zu fragen, was sich zwischen 2001, als der Bericht von El Yazami und Schwartz zwar publiziert, aber nicht weiterverfolgt wurde, und 2003/04, der Bewilligung des Projekts der Cité nationale de l’histoire de l’immigration (CNHI), politisch in Frankreich verändert hat. Was kann die politischen Akteure dazu bewogen haben, das Projekt einer nationalen Institution zur Erinnerung und Aufwertung der Immigration als Phänomen in Frankreich inzwischen zu befürworten und den Weg für eine Umsetzung auf höchster Ebene frei zu machen? Die Präsidentschaftswahlen waren dabei, wie bereits mehrfach angedeutet, ein wesentlicher Faktor. Die Tatsache, dass bei dieser Wahl der rechtsextreme Le Pen in den zweiten Wahlgang kam, schockierte alle: Wie konnte dasselbe Land, das 1998 die Équipe Tricolore mit all ihrer Diversität feierte, 2002 den Front national wählen und damit dem ausländerfeindlichen Diskurs Le Pens zustimmen?131 Aus dieser Frage heraus werden hier die Präsidentschaftswahlen im Kontrast zu dem prägenden öffentlichen Ereignis am Ende der ersten Amtszeit Chiracs betrachtet, das maßgeblich die Wahrnehmung von Immigration in Frankreich veränderte: der Fußball-WM 1998 und dem Phänomen Black-Blanc-Beur. Sie bilden gleichsam das Spannungsfeld, in dem sich die Vektoren für die Schaffung einer nationalen, staatlichen Institution zur Anerkennung 129 130 131
Green, A French Ellis Island? Museums, Memory and History in France and the United States. Vgl. Interview mit PC und Interview mit KI (10. Februar 2015/1 Std. 03 min. 33 sec.). Vgl. Ritzenhofen, Der Schock als Chance, der Triumph als Trompe-l’Œil, S. 7.
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der Immigration bewegen. Neben diesen beiden Schlüsselmomenten erscheint aber auch die Haltung Chiracs als Präsidenten in Bezug auf drei politischer Felder in dieser Zeit wesentlich: die Immigrationspolitik, die Kulturpolitik und die Geschichtspolitik. Schließlich kam Chirac bei der endgültigen Bewilligung des Projekts eine wichtige Rolle zu, wie es die Aussage von Philippe Bernard andeutet: „Après l’élection présidentielle de 2002, nous avons repris nos démarches. Et, cette fois, un membre du cabinet du Président de la République a convaincu Jacques Chirac […]“132. Spätestens seit Mitterrand verband sich mit dem Amt des Präsidenten der Republik eine wichtige kulturpolitische Funktion, die womöglich effizienteste Form des ‚official backing‘ – die Unterstützung durch Chirac garantierte dem Projekt daher größtmögliche Chancen, auch tatsächlich umgesetzt zu werden.133 Chiracs kulturpolitische Agenda fokussierte sich auf die öffentlichkeitswirksame Anerkennung außereuropäischer, oft als ‚verkannt‘ bzw. ‚primitv‘ geltender Kulturen und ihrer ästhetischen Erzeugnisse. Er wollte diesen Kulturen einen Platz in der französischen Nation, ihrem Kultur-Kanon und damit in ihren kulturellen Institutionen wie dem Museum einräumen. Chirac verfolgte, wie bereits angerissen, seit dem Beginn seiner Amtszeit das Ziel, die sog. ‚Arts premiers‘ anzuerkennen und ihre Werke denen der europäischen Meister an die Seite zu stellen. Diesem Vorsatz wurde er bereits im Jahr 2000 gerecht: Chirac weihte gegen den Widerstand des Louvre-Direktors eine Galerie zur außereuropäischen Kunst im Louvre, im Palais des Sessions, ein.134 Diese Objekte sollten in Ästhetik und Erscheinung den europäischen Kunstwerken gegenüber als gleichwertig empfunden werden und damit die häufige Verunglimpfung und Missachtung als ‚primitive Kunst‘ wieder gutgemacht werden. Letztendlich sollte diesen Vorsatz dann das Musée du Quai Branly (MQB) als eigenes Museum für die ‚Arts premiers‘ krönen. Le Figaro honorierte Chiracs Vorgehen und titelte: „Chirac défend le droit des peuples à l’histoire“.135 Chirac selbst äußerte laut dem Artikel, dass es für ihn kein größeres Unrecht gäbe, als einem Volk das Recht auf Geschichte
Bernard, Les fondations d’une Cité, S. 7. So hatte sich bereits für das Centre Beaubourg (Pompidou), das zwar von Pompidou selbst geplant, aber von VGE umgesetzt worden war, und den Gare d’Orsay, den wiederum VGE hatte umbauen lassen, der aber von Mitterrand eingeweiht worden war, gezeigt, dass einmal offiziell beschlossene präsidiale Großprojekte im kulturellen Bereich durchaus vom Nachfolger weitergeführt wurden. Vgl. u. a. zum Centre Pompidou: Gaüzère, Mireille, Le Centre Georges-Pompidou, in: Groshens, Jean-Claude / Sirinelli, Jean-François (Hrsg.), Culture et action chez Georges Pompidou, Paris 2000. S. 413–428; und zum Musée d’Orsay: Rebérioux, Madeleine, Ort der Erinnerung oder Ort der Geschichte? Das Museum des 19. Jahrhunderts in der Gare d’Orsay, in: Korff, Gottfried / Roth, Martin, Das historische Museum. Labor, Schaubühne, Identitätsfabrik, Frankfurt u. a. 1990. S. 167–178. 134 Der Widerstand war bis in die Eröffnung hinein zu spüren und zog sich bis in die Frage nach der Dauerhaftigkeit der Präsenz der Werke im Louvre. Vgl. Noce, Vincent, Jacques Chirac inaugure aujourd’hui les salles consacrées aux œuvres africains, amérindiennes et océaniennes. Le Louvre s’ouvre enfin aux arts premiers, in: Libération (13.04.2000). 135 Varenne, Françoise, Chirac défend le droit de peuples à l’histoire, in: Le Figaro (14.04.2000). S. 6. 132 133
Vorläufer und Entstehung des Projekts eines Museums für Immigrationsgeschichte
zu verweigern, und daher sei dieser Schritt essenziell. Darüber hinaus wurde die Verwendung eines neuen begrifflichen Konzepts, dem der erwähnten ‚Arts premiers‘ im Gegensatz zu der vorherigen Bezeichnung als ‚Arts primitifs‘ als deutliche Aufwertung inszeniert.136 Neben der mit dem chiracschen Projekt verbundenen Polemik um die Schließung des Musée de l’homme und die Frage der Inszenierung der Objekte – es wurden hier eindeutig ästhetischen vor ethnografischen Gesichtspunkten Vorrang gegeben – rief Chiracs Vorgehen aber auch eine ganz andere Kritik hervor. Schließlich dachte Chirac bei dieser ‚Aufwertung‘ und ‚Anerkennung‘ stark aus der französischen Perspektive. Er zog beispielsweise keinesfalls die Möglichkeit in Betracht, die Objekte ihren Ursprungskulturen zurückzugeben. Sie sollten in Frankreich anerkannt werden, in einer französischen Institution, die den westlichen Kunstkanon verkörperte. Und das obwohl dieser Schritt doch eigentlich „nichts weniger als das Ende des Eurozentrismus“ darstellen sollte.137 Ein verzögertes Echo auf diese deutliche Ambivalenz des chiracschen Vorgehens, bildete der Protest der Sans-papiers im Juni 2000. Sie fochten bereits seit 1996 einen öffentlichkeitswirksamen Kampf für ihre Rechte aus und mischten sich hier ein. Sie besetzten kurzerhand einen Teil des Louvre: Sie wollten damit gegen den ‚Diebstahl‘, den westliche Länder an anderen Kulturen in der Vergangenheit, aber auch durchaus bis heute begingen, protestieren. Zudem wollten sie auf den Zusammenhang hinweisen, den dieses westliche Dominanz-Verhalten mit der Auswanderung aus vielen (afrikanischen) Ländern aufweise: „[…] l’émergence des sans-papiers est „la conséquence directe de la pauvreté et de l’immigration forcée“, provoquées par ces pillages, dont l’exposition sur les Arts premiers organisée au Louvre serait l’un des exemples.“138 Damit stellten die Protestierenden eine klare Verbindung zwischen (post-)kolonialer Einwanderung und dem museumspolitischen Umgang mit ‚indigenen Kunstobjekten‘, die mit kolonialen Herrschafts- und Besitzpraxen in Zusammenhang standen, her. Chirac trug in seiner Rede zur Eröffnung der Galerie im Louvre seine Lösung des durchaus problematischen Verhältnisses zu den Ursprungskulturen der Objekte vor, das Konzept des Dialogs: „Progressivement, nous avons construit avec ces pays (des anciennes colonies) des rapports fondés sur la compréhension, les respect mutuel, le dialogue et l’échange […]“.139 Dies verdeutlichte er 2001 in seiner viel beachteten Rede vor der UNESCO. Chirac schlug hier als Antwort auf die modernen Krisen und
Vgl. Monier, Françoise, La revanche des primitifs, in: L’Express (13.04.2000). Vgl. Lambardière, Astrid, Tabubruch in Paris, in: Badische Zeitung (18.04.2000). S. 11. o. A. Des sans-papiers dénoncent les „pillages“ du Musée du Louvre, in: Le Monde (20.06.2000). Eine Position, die auch von anderen Forschern bzw. Akteuren aus den Ursprungsländern durchaus geteilt wurde: „[…] à l’ère du pillage devrait succéder l’ère du respect.“, Monier, Françoise, La revanche des primitifs, in: L’Express (13.04.2000). Ein Artikel in l’Humanité beschäftigt sich mit dem florierenden illegalen Kunstmarkt und der Präsenz von illegal erworbenen Objekten in der Ausstellung des Louvre: Langaney, André, Le „musée des voleurs“, in: L’Humanité (16.06.2000). 139 Varenne, Françoise, Chirac défend le droit des peuples à l’histoire, in: Le Figaro (14.04.2000). S. 6. 136 137 138
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Konflikte, die sich für ihn vor allem als ‚Schock der Kulturen‘ äußerten, einen Dialog der Kulturen vor. Für ihn war es in einer Welt, die sich immer mehr vernetzte, immer mehr austauschte, damit aber auch ihre Identität zunehmend verlor und sich hilflos gegenüber ihren eigenen Ängsten sah, absolut essenziell, einen lebendigen Dialog der Kulturen zu fördern, der auf Respekt und gegenseitiger Bereicherung beruhte. Zwar war für ihn klar, dass sich nicht alle Kulturen auf demselben Entwicklungsstand befanden und nicht immer im gleichen Maß an diesem Austausch teilhaben konnten, es sei jedoch essenziell, dass sie trotzdem im kollektiven Gedächtnis präsent seien und auch über diesen Weg andere Kulturen bereichern könnten. Dabei konstatierte er die aus diesem Verständnis resultierende absolute Notwendigkeit der kulturellen Diversität und ihrer Bewahrung. Letzteres sei dringend notwendig, da sie gerade auch durch die vereinheitlichenden Tendenzen bestimmter globaler Entwicklungstrends bedroht sei. Er betonte daher seine Unterstützung für die Verabschiedung einer UNESCO-Konvention, die dieses Recht auf kulturelle Diversität verankere. Die konkrete Realisierung seines Dialogs der Kulturen stellte er sich vor allem über eine Reetablierung von mehr Gerechtigkeit und Solidarität vor sowie über eine Überwindung grundsätzlicher Brüche wie dem, der aus dem ungleichen Zugang zu Bildung entstünde. Gerade die Bildung nahm dabei für Chirac eine immense Rolle ein: Sie konnte dafür sorgen, dass wir den ‚Anderen‘ besser verstünden, ihn in Relation zu uns dächten und respektieren könnten, in all seiner Andersartigkeit: „Respecter l’autre, c’est d’abord le connaître“.140 Dabei sieht er Frankreich durchaus als Vorbildnation und stilisiert die revolutionären Werte Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zum Ausgangspunkt für eine universelle Ethik.141 Dies solle aber nicht als westlicher Dominanz-Versuch verstanden werden, sondern als allgemeingültige Wertegemeinschaft, von der alle profitieren könnten und die nicht in Widerspruch zur Diversität der Kulturen stehe. Die Betonung der Bereicherung durch Diversität, das Konzept des Dialogs der Kulturen und die Aufforderung, den kulturell ‚Anderen/Fremden‘ zu tolerieren, erscheinen konstruktiv und fortschrittlich. Zentral ist, dass Chirac diese Elemente als ‚fruchtbar‘ im Umgang Frankreichs, begriffen als relativ homogene Nation, mit anderen, von Frankreich klar abzugrenzenden Kulturen und Ethnien, verstand. Die Präsenz anderer/fremder Kulturen und Ethnien im eigenen Land bedachte Chirac lange mit einem völlig anderen Diskurs. Chiracs Position zur Immigration bzw. zur Immigrationspolitik hatte sich, wie schon angerissen, im Laufe seiner politischen Karriere mehrfach gewandelt. Während der Kohabitation von 1986 bis 1988 stand er
Discours de M. Jacques Chirac, Président de la République sur la question du choc des civilisations, les échanges et le dialogue entre les civilisations et cultures, la diversité culturelle, la mondialisation et le respect de l’autre, Paris (15.10.2001). URL: http://discours.vie-publique.fr/notices/017000232.html (Zugriff 12.03.2017). 141 Vgl. ebd. 140
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für den rechtsliberalen Kurs in Sachen Immigration.142 1987 bekundete Chirac trotzdem offiziell, dass für ihn die ‚Grandeur de la France‘ auf einer offenen, demokratischen, pluralistischen und multiethnischen Gesellschaft beruhe.143 Am Ende der Kohabitation mit Mitterrand versprach Chirac hingegen markig in einer Rede in Marseille 1988, das ‚Problem der Immigration‘ in fünf Jahren lösen zu können: „La France, „terre d’hospitalité“, ne doit pas „accueillir n’importe qui, n’importe comment […]“.144 Zwar lässt sich in dem gleichen Statement auch durchaus der Wille, über gesteigerte Maßnahmen zur Integration eine höhere gesellschaftliche Partizipation zu ermöglichen, erkennen. Jedoch wurde nicht grundsätzlich an den repressiven Maßnahmen zur Bekämpfung der Immigration gezweifelt. Chiracs Haltung zur Immigration schwankte in der Folge immer zwischen diesen zwei Polen: Auch wenn er sich nicht grundsätzlich gegen Immigration stellte, so stand er restriktiven Maßnahmen und striktem Vorgehen in Sachen Immigration keinesfalls abgeneigt gegenüber. Er tat sich drei Jahre später (1991) durch eine Rede in Orléans hervor, die unter dem Schlagwort ‚Le bruit et l’odeur‘ berühmt wurde.145 Chirac bediente sich hier durchaus rassistischer Bilder von arbeitslosen, auf Kosten des Staates lebenden (nordafrikanischen) Einwanderern. Es lässt sich erkennen, wie essenziell für Chirac und den Flügel der liberalen Rechten die Definition der eigenen Haltung in Sachen Immigration vom Diskurs des Front national abhing. Es ging hier stets um eine Mischung aus eindeutiger Abgrenzung und Distanzierung einerseits und vorsichtigen Zugeständnissen andererseits. Schließlich blieb Chirac der Erfolg des Diskurses des Front national bei bestimmten Bevölkerungsgruppen nicht verborgen. Es galt hier also durchaus, über Anleihen an diesen Diskurs Wählerstimmen für sich zu gewinnen.146 Teilweise wird aber hier betont, dass die Regierung Chirac auch gleichzeitig 1976 für die Stärkung der Familienzusammenführung zuständig war. 143 Vgl. Repères, in: hommes & migrations (1987) Vol. 1108/No. 1. S. 89–94. S. 90. Sowie: o. A. La fin de la visite du premier ministre aux Antilles. La France est une société „pluraliste et multiraciale“ déclare le chef du gouvernement, in: Le Monde (15.09.1987). 144 Chirac zit. nach: o. A. À Marseille, M. Chirac se propose de „régler en cinq ans les problèmes de l’immigration“ in: Le Monde (12.03.1988). 145 Vgl. Chirac zit. nach: Artikel Le bruit et l’odeur (discours Jacques Chirac), URL: https://fr.wikipedia. org/wiki/Le_bruit_et_l’odeur_(discours_de_Jacques_Chirac), Ausschnitte der Originalrede: INA Chirac et l’immigration: „Le bruit et l’odeur“, Ausschnitt aus der Nachrichtensendung Midi 2, (20.06.1991), URL: http://www.ina.fr/video/CAB91027484 (Zugriff 10.03.2017). 146 Chirac kehrte in seiner ersten Amtszeit, nach seinem ‚Ausrutscher‘ von 1991, zu einer gemäßigteren Haltung zurück. Dies hatte u. a. mit den Effekten der 1993 verabschiedeten Pasqua-Gesetze zu tun. Ihr komplexer und repressiver Charakter sollte verändert werden. Chirac konzentrierte sich dabei zu Beginn seiner Amtszeit vor allem auf die Veränderung der Bedingungen auf städtischer Ebene, beispielsweise mit der Schaffung der sog. ZUPs (Zone urbain prioritaire). Eine Leitlinie seiner Politik, die hier sichtbar wird, war es, gegen soziale Ausgrenzung und für gesellschaftliche Solidarität zu kämpfen wie es auch schon sein Schlüsselkonzept für den Wahlkampf, die Bekämpfung der ‚fracture sociale‘ gezeigt hatte. Die Kohabitation mit dem Sozialisten Jospin brachte mehrere Reformen mit sich, die u. a. auch von Jean-Pierre Chévènement eingebracht wurden. Er ließ sich durchaus von dem Rapport Weil beeinflussen, der u. a. eine Abmilderung der Pasqua-Gesetze vorgesehen hatte. 142
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Die Positionierung zum FN war für Chirac allerdings von der jeweils aktuellen gesamtgesellschaftlichen Wahrnehmung von Immigration abhängig. Diesbezüglich markierte 1998 einen Paradigmenwechsel. Er wurde durch die Fußball-WM und den Sieg des multikulturellen französischen Nationalteams gegen die brasilianischen Gegner ausgelöst. Dabei war zuvor diese WM schon unter das Motto der ‚Universalität‘ und des Fußballs als ‚gemeinsamer, universeller Sprache‘ gestellt worden.147 Auch die Eröffnungsfeier präsentierte laut Gastaut vier riesige Statuen als Vertreter der vier ‚menschlichen Familien des Fußballs‘.148 Das eigentliche Match wurde dann zum erstaunlichen „révélateur de la diversité culturelle de la France“.149 Zwar war, wie Janine Ponty es beschreibt, das Phänomen der ausländischen Fußball-Stars in Frankreich längst kein neues. Aber anlässlich dieser WM erreichte die Präsenz von Spielern mit Wurzeln in der Migration wie Zinédine Zidane, Christian Karembeu oder Lilian Thuram in der gesamtgesellschaftlichen Wahrnehmung eine völlig neue Dimension.150 Damit fungierte die Fußball-WM auch als Symbol gegen den immer noch sehr präsenten Diskurs des Front national: Hier war ganz offensichtlich die scheinbar homogene, sich nach außen abgrenzende Gesellschaft der ‚Français de souche‘ fähig, sich als Nation im Plural, als eine Gesellschaft, die von dem Beitrag der zugewanderten ‚Fremden‘ profitierte, zu sehen und die Spezifik und Einmaligkeit der kulturellen und ethnischen Herkunft eines jeden Einzelnen anzuerkennen. Die brüderliche Toleranz gegenüber dem Anderen, das Versprechen der Gleichheit und die Idee der Bereicherung der französischen Kultur von außen waren plötzlich real greifbar. Hier wurde Immigranten ein ‚Ehrenplatz‘ in der Meistererzählung der französischen Nation eingeräumt, wenn auch vorerst nur über die sportliche Leistung für die Nation. Zinédine Zidane wurde dabei in besonderem Maße geehrt: Das ‚Merci Zizou‘, das nach dem finalen Match auf den Triumphbogen projiziert wurde, prägte Frankreich und wurde zu einem Symbol der Anerkennung der migrantischen Diversität Frankreichs.151 Wenn man diese Aspekte des chiracschen Wirkens und seiner Positionierung während seiner ersten Amtszeit zusammennimmt, entsteht das Bild einer präsidialen Figur, die für das Projekt eines nationalen Immigrationsmuseums durchaus offen sein konnte: Chiracs Wille, sich mit unliebsamen historischen Themen und Erbschaften auseinanderzusetzen und einen neuen alternativen, durchaus plural gedachten, nationalen Konsens auf diesem Gebiet zu schaffen, sein Engagement für die Aufwertung der Arts premiers und sein Plädoyer für ein Recht auf Geschichte sowie seine VorVgl. Gastaut, Yvan, Le Coupe du monde 1998: une France universelle, in: Boli, Claude / Gastaut, Yvan / Grognet, Fabrice (Hrsg.), Allez la France. Football et immigration, Paris 2010. S. 156–159. S. 156 f. 148 Vgl. ebd. S. 157. 149 Ebd. 150 Vgl. Jean Daniel zit. nach: Ponty, L’immigration dans les textes, S. 395 f. 151 Vgl. Abbildung in dem Beitrag: Gastaut, Yvan, Zinédine Zidane, héros français ou immigré?, in: Boli, Claude / Gastaut, Yvan / Grognet, Fabrice (Hrsg.), Allez la France. Football et immigration, Paris 2010. S. 152–155. S. 153. 147
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stellung eines Dialogs der Kulturen und einer notwendigen kulturellen Diversität, die fruchtbar und bereichernd erschien, ließen ein Projekt für die Anerkennung der Rolle der Immigranten in Frankreich als plausibles präsidiales Großprojekt erscheinen. Auch seine Äußerung von 1987, dass er selbst die französische Gesellschaft als pluralistisch und multiethnisch ansehe und dies sogar einen Teil der französischen ‚Grandeur‘ für ihn ausmache, wies in diese Richtung. Da er keine eindeutige Position zur Immigration einnahm und seine Position hier immer wieder variierte, wurden die Positionierung gegenüber dem Front national und der Ausgang des ersten Wahlgangs der Präsidentschaftswahlen zum ‚Zünglein an der Waage‘. Die Präsidentschaftswahl zeichnete sich in der Rückschau betrachtet vor allem durch das unerwartete Ergebnis des ersten Wahlgangs aus. Niemand, nicht einmal die gängigen Tageszeitungen oder die Erhebungen der großen Umfrageinstitute hatten vorhergesehen, dass Jean-Marie Le Pen, Parteivorsitzender und Gründer des rechtsextremen Front national, es in den zweiten Wahlgang schaffen würde. Die Erwartungen hatten eigentlich den amtierenden Präsidenten und seinen sozialistischen Premierminister der Kohabitation, Lionel Jospin, im zweiten Wahlgang gesehen. Dass Letzterer nun nur knapp, aber eben immerhin, von Le Pen überholt worden war und damit ausschied, kam einem Schock gleich.152 Le Pen profitierte dabei letztendlich stark von der Tatsache, dass Chirac die Themen ‚innere Sicherheit‘ und ‚Kriminalität‘ unterschätzte;153 zwei Paradethemen von Le Pen, nicht zuletzt deshalb, weil sie sich direkt mit seinem Hauptthema, der Immigration, zu einer vereinfachten, xenophoben Argumentation verbinden ließen.154 Er hatte in seinem Wahlprogramm klassischerweise das Thema Immigration und ihre Bekämpfung als roten Faden in alle anderen Themenfelder eingewoben.155 Angesichts dieses Gegners im zweiten Wahlgang war das Entsetzen
Vgl. Engelkes, Heiko, König Jacques. Chiracs Frankreich, Berlin 2005. S. 186 ff. Vgl. Ritzenhofen, Der Schock als Chance, der Triumph als Trompe-l’Œil, S. 8 f. Wie Nonna Meyer es in ihrer Untersuchung veranschaulicht, zeichnet sich die Stammwählerschaft Le Pens vor allem durch ihre feindliche Haltung gegenüber ‚dem Fremden‘ aus. Die Zurückweisung der Differenz/des Anderen führt laut Meyer vor allem zu einer Befürwortung repressiver Maßnahmen in Sachen Immigration sowie zu einer gedanklichen Verbindung von Immigration und Kriminalität, was dieses Vorgehen noch sinnvoller erscheinen ließ und beispielsweise zur Forderung der Wiedereinführung der Todesstrafe führte. Immigration und Unsicherheit sind daher auch die Hauptthemen, die rechtsextreme Wähler beschäftigten. Trotz der relativ klaren Verortung der rechtsextremen Wähler in sozial schwachen Milieus, bei Gruppen mit geringem Bildungsabschluss und Arbeitslosen, wurde der FN im Laufe der Zeit immer mehr ein Sammelbecken für alle sozial und politisch frustrierten Wähler. Dabei gewann der FN durchaus auch Stimmen hinzu, die sonst beispielsweise der radikalen Linken zuzuordnen waren, oder 2002 liberale rechte Stimmen, die sich sonst eher bei der UMP und Chirac fanden. So ist zwar zu erkennen, dass Le Pen seine Wählerschaft durchaus ausbauen konnte und sich ihre Struktur auch durchaus veränderte – an der typischen Kernwählerschaft hatte sich 2002 jedoch nicht viel geändert. Vgl. Mayer, Nonna, Les hauts et les bas du vote Le Pen 2002, in: Revue française de science politique 2002/5 (Vol. 52), S. 505–520. 155 Vgl. Programme de M. Jean-Marie Le Pen, président du Front national et candidat à l’élection présidentielle 2002, intitulé: „Pour un avenir français“, avril 2002, URL: http://discours.vie-publique.fr/noti ces/023001406.html (Zugriff 13.03.2017). 152 153 154
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groß. Zwar bezweifelten viele ernsthaft, dass Le Pen eine reale Chance haben würde, im zweiten Wahlgang tatsächlich zu gewinnen, doch das Risiko, dass dies zumindest passieren könnte, war da. Chirac verstand laut Engelkes in dieser Situation schnell, was zu tun war und wie sein Wahlkampf vor dem zweiten Wahlgang auszusehen hatte: „mit großen und hehren Worten die Werte der Republik beschwören“ und auf einen „sursaut démocratique, eine(n) demokratischen Ruck“ in der Wählerschaft hoffen.156 Genau dies vollzog Chirac in einer Fernsehansprache vor dem zweiten Wahlgang, in der er die Wähler einschwören wollte: Er sprach davon, dass die nationale Kohäsion wiederhergestellt werden müsse und dass die demokratischen Werte hoch gehalten werden müssten. In diesem Rahmen sprach er auch von der langen humanistischen Tradition Frankreichs, seiner Universalität, seinem Kampf um die Verteidigung der Menschenrechte, seiner Großzügigkeit und Offenheit: „C’est dans la fraternité, dans l’ouverture aux autres que la France est vraiment elle-même“ und „J’en appelle à la France, cette France vivante, diverse, humaine et chaleureuse que nous aimons.“157 Diese klare Abgrenzung vom Front national und seinem Diskurs scheint auch in der Folge Auswirkungen zugunsten eines nationalen Immigrationsmuseums gehabt zu haben. Chiracs eindeutiges Bekenntnis zu einem offenen Frankreich, das die Werte der Brüderlichkeit und Gleichheit hochhält und sich divers und multikulturell versteht, ist auch ein Bekenntnis zur Immigration. Bereits im März 2003 verfasste der neue Premierminister Jean-Pierre Raffarin einen Brief an den Vertrauten Chiracs, Jacques Toubon, um ihn mit einer ‚Mission de préfiguration‘ zu beauftragen: Le modèle républicain d’intégration « à la française » est aujourd’hui à la recherche d’un nouveau souffle. En effet, divers évènements survenus au cours de ces dernières années attestent d’une certaine tentation communautariste, fondée sur le repli identitaire, à rebours de notre conception de la société civique et politique. D’autres comportements illustrent, eux, des formes d’intolérance, des attitudes discriminatoires toutes aussi incompatibles avec notre ambition démocratique. Seul un projet d’envergure nationale, soutenu par une volonté politique inscrite dans la durée peut utilement contribuer à ressouder la cohésion nationale. C’est là la perspective d’une politique publique d’intégration telle que j’entends la conduire. La reconnaissance de l’apport des étrangers à la construction de la France doit y jouer un rôle important.158
Raffarin, der neue Premierminister unter Chirac, der auf Jospin folgte und diesmal wieder aus dem Lager der UMP stammte, griff hier die Konzepte des ‚modèle républicain‘
Vgl. Engelkes, König Jacques. Chiracs Frankreich, S. 190. Déclaration de Jacques Chirac (21.04.2002), Soirée electorale: élection présidentielle 1er tour, France 3; URL: http://www.ina.fr/video/1992852001029 (Zugriff 07.09.2017). 158 Brief von Jean-Pierre Raffarin an Jacques Toubon (10.03.2003), abgedruckt in: Toubon, Jacques, Rapport au premier ministre. Mission de préfiguration du Centre de ressources et de mémoire de l’immigration, Paris 2004. S. 5. 156 157
Planung und Umsetzung einer Cité de l’histoire de l’immigration (ab 2003/04 bis 2007)
und der ‚cohésion nationale‘ auf. Chirac selbst hatte vor allem den Willen nach einer Wiederherstellung der nationalen Kohäsion in seinem Kampf gegen den Font national als Konzept verwendet. Raffarin nahm darauf Bezug, indem er über die Formen von Intoleranz und diskriminierende Haltungen sprach, die sich in der Vergangenheit gezeigt hätten und in Widerspruch zur eigenen Konzeption einer französischen Zivilgesellschaft stünden. Die Forderung nach einer Institution zur nationalen Anerkennung der Immigration wurde in die Abgrenzungsversuche der Konservativen unter Chirac gegen den rechten Diskurs des FN, in den Kampf gegen den vermuteten Zerfall der nationalen Kohäsion, der u. a. durch kommunitaristische Tendenzen befördert würde, und die Rückbesinnung auf die eigentliche, republikanische, demokratische und humanistische Identität eingebunden. In dieser Funktion rückte erstmals die tatsächliche Umsetzung einer solchen Institution in greifbare Nähe, denn jetzt hatte die nationale politische Elite ein Motiv, sich für dieses Projekt einzusetzen und sich damit offiziell vom Front national und seinem Diskurs zu distanzieren. Nur unter diesen Umständen war es denkbar, dass ein Projekt der linken, sozialistischen Regierung schließlich von einer rechten konservativen UMP-Regierung akzeptiert und umgesetzt wurde. 2.2
Planung und Umsetzung einer Cité de l’histoire de l’immigration (ab 2003/04 bis 2007)
2.2a
Die Lettre de Mission an Jacques Toubon und der Rapport von 2004
Nach den im ersten Schritt thematisierten frühen Forderungen eines nationalen Immigrationsmuseums aus dem Kreis akademischer, zivilgesellschaftlicher Akteure wird nun die konkrete Umsetzung ab 2003 untersucht. Die zuvor untersuchten VorläuferAusstellungen und insbesondere der Bericht von El Yazami und Schwartz von 2001 standen Pate bei dieser Realisierung – die in der Frühphase bereits beteiligten, vor allem akademischen, aber auch aktivistischen Akteure spielten erneut eine wesentliche Rolle und beeinflussten das Projekt maßgeblich. Deutlich stärker als zuvor kommt nun allerdings die Gruppe der politischen Akteure hinzu, die jetzt unmittelbar am Projekt beteiligt wurde und letztlich das Gelingen der Umsetzung garantierte. Besonders auffällig sind in dieser neuen Phase die Kontinuitäten, die sich hier in Bezug auf die Frühphase ableiten lassen. Sie zeigen sich von Beginn an und werden teilweise explizit von den Akteuren aufgegriffen: Bereits der zuvor zitierte Brief des Premierministers an Jacques Toubon, der diesen offiziell mit dem Vorsitz für eine Vorstudie für ein ‚Centre de ressources et de mémoire de l’immigration‘ betraute, zeigt dies.159 In diesem Brief bezog Raffarin sich explizit auf die vorherigen Initiativen und Ansätze für eine solche
159
Vgl. Brief von Jean-Pierre Raffarin an Jacques Toubon (10.03.2003), S. 6.
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Das Projekt der CNHI von 2003 bis 2016/17
Institution und betonte das Engagement der Vorgänger-Regierung, die den Bericht von El Yazami und Schwartz in Auftrag gegeben hatte. Raffarin drückte hier aus, dass er wünsche, dass dieser Bericht und seine Vorschläge wieder aufgegriffen würden, indem er eine zentrale Schlussfolgerung der Studie von 2001 übernahm: Es sollte sich ausdrücklich nicht um ein klassisches Museum handeln, sondern eher um einen ‚centre de ressources‘ mit verschiedenen Aufgaben. Raffarin griff also eine der zentralen Grundfragen der vorherigen Planungsprojekte auf und entschied sie vorerst zu Ungunsten des Museums. Hier wird bereits deutlich, dass die Frage des Charakters der Institution und seiner Funktion weiterhin ein wichtiges Diskussionsthema blieb. Aber auch darüber hinaus griff Raffarin Aspekte aus älteren Initiativen als Rahmenvorgaben auf: Die Institution sollte überblicksartig die wesentlichen Immigrationswellen seit Mitte des 19. Jahrhunderts thematisieren, mit Betonung der Vernetztheit der Immigration mit der zeitgenössischen Geschichte, zudem sollte sie als Kopf eines Netzwerks fungieren und so Zugang zu Archiven und Sammlungen schaffen und sie sollte ein lebendiger Ort sein, an dem verschiedenste Veranstaltungen stattfinden konnten. Damit wurden wesentliche Leitlinien aus dem Bericht von 2001 wieder aufgenommen – allerdings diesmal mit einer realen Chance, auch umgesetzt zu werden. Denn Raffarin betraute nicht nur Toubon offiziell mit der Leitung der Studie, sondern benannte auch für die konkrete Arbeit bereits zwei wesentliche Organe: eine wissenschaftliche Kommission, die mit entsprechenden Experten besetzt werden sollte, die vorrangig für den Inhalt zuständig sein würde. Außerdem sah er ein technisches Komitee vor, das vor allem die Koordination mit der staatlichen Seite, der Verwaltung etc. zur Aufgabe haben sollte. Dabei empfahl er die Agence pour le développement des affaires sociales (ADRI) als wesentlichen Partner und Unterstützer des Projekts.160 Mit diesem offiziellen Auftrag der Regierung und der Besetzung eines ehemaligen (Kultur-)Ministers und Chirac-Vertrauten als Vorsitzenden der Vorstudie schien das Projekt eines nationalen Immigrationsmuseums das erste Mal tatsächlich realisierbar. Daher soll in der Folge näher beleuchtet werden, wie Toubon in der Planungsphase vorging, wen er in die Planungsgruppen einbezog und welche Akteure aus den vorherigen Initiativen sich hier wiederfanden. Zudem soll verdeutlicht werden, welche Themen und Probleme in dieser Phase diskutiert wurden: Wo entstanden Debatten, wo fanden sich Hindernisse und Schwierigkeiten und wie wurde mit ihnen umgegangen? Wie sah am Ende dieser Vorbereitungs- und Planungsphase der offizielle Bericht von Toubon aus und welche Ergebnisse präsentierte er? Entsprechend der festgestellten Kontinuität bleiben die Frage des Charakters und der Funktion der Institution, Museum versus Forschungszentrum, sowie die Essenzialität der Ortswahl Kristallisationspunkte der Umsetzungsphase. Hinzu kommen allerdings zwei neue wesentliche Aspekte: die gezielte Beteiligung einerseits der migrantischen Vereine und anderer-
160
Vgl. ebd. S. 6 f.
Planung und Umsetzung einer Cité de l’histoire de l’immigration (ab 2003/04 bis 2007)
seits der Politik. In beiden Fällen wird die Frage nach dem Grad ihres Einflusses und der Art der Beteiligung am Projekt zu einem weiteren Kristallisationspunkt. Über die Tatsache, dass es nun nicht mehr nur um theoretische Planungen ging, sondern auch um eine konkrete Umsetzung, kommt ein letzter essenzieller Punkt hinzu, der sich erst im Laufe der Planungen sukzessive als wesentlich herausstellen wird: die konkrete Gestaltung einer Dauerausstellung und die damit verbundene Frage nach der Definition und Repräsentation von Immigration innerhalb einer nationalen, staatlichen Institution. Diese Aspekte bilden im Folgenden die Kernpunkte der Diskussionen in den Planungstreffen und werden daher als Analyseansätze gewählt. Dabei bieten gerade die ersten beiden Aspekte, Charakter und Ort, mehrfach Anlass für sehr kontroverse Diskussionen, die zunehmend die Ambivalenz und innere Konflikthaftigkeit des Projekts zeigen. Die Beteiligung der migrantischen Vereine sowie die Definition und Repräsentation von Immigration warfen die zentrale Frage auf, wie man im Rahmen dieses Projekts das Verhältnis ‚Wir – die Anderen‘ eigentlich dachte und konstruierte. Dies zeigte sich vor allem an der Verwendung und Wahrnehmung des Slogans ‚Leur histoire est notre histoire‘, der zwischenzeitlich im Projekt verwendet und später verworfen wurde. Der Einfluss der politischen Akteure erwies sich in dieser Phase als fundamental, wenn auch nicht immer als fruchtbar. So sind verschiedene Akteure zu unterscheiden, die dem Projekt sehr unterschiedlich gegenüberstanden: Während Toubon trotz der Skepsis, die einige Akteure ihm gegenüber zu Beginn äußerten, langsam aber sicher zu ‚dem‘ Fürsprecher des Projekts avancierte, obgleich er durchaus auch im Alleingang handelte und manche Akteure außen vor ließ, erwies sich das Kulturministerium, und hier vor allem die Direction des Musées de France (DMF), als Gegner des Projekts – sie sah Immigration als nicht musealisierbar an und wollte der neuen Institution auf keinen Fall den Status eines nationalen Museums verleihen. Der Präsident hingegen, der dies Projekt angestoßen hatte und es durchaus als Teil seiner ‚Grands travaux‘ hätte begreifen können, blieb hier, ganz im Gegensatz zum Musée du Quai Branly, ‚abwesend‘ und überließ das Feld seinem Vertrauten, Toubon. Dieser bediente sich als wesentlicher Trägerstruktur einer staatlichen Organisation, der Association pour le développement des relations interculturelles (ADRI), die bereits seit den 1980er Jahren im Bereich der interkulturellen Vermittlung tätig gewesen war. 2.2a.a
Akteure und Planungsgruppen: Conseil scientifique (wiss. Beirat) und Forum des associations (Vereine)
Der zitierte Brief an Toubon war im März 2003 versendet worden, im Mai 2004 lag bereits der fertige Bericht der Vorstudie vor. Toubon hatte somit lediglich etwa ein Jahr Zeit, seine Planungsgruppen zu organisieren und ihre Ergebnisse zusammenzutragen. Er bildete daher nach der Übernahme des Vorsitzes unmittelbar drei Arbeitsgruppen. Zwei davon beriefen sich auf die Vorgabe Raffarins: das wissenschaftliche Komitee
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und die technische Kommission. Zusätzlich bildet er ein Komitee, das die migrantischen Vereine vertrat. Das wissenschaftliche Komitee (Conseil scientifique) umfasste laut dem Bericht von 2004 etwa 20 bis 30 Forscher, vor allem HistorikerInnen, SoziologInnen, aber auch PolitologInnen, Demograf Innen sowie JournalistInnen.161 Darüber hinaus fanden sich hier Mittler aus dem kulturellen Bereich, den Museen und dem Kulturministerium. Von den bereits thematisierten Akteuren, die sich aktiv als Fürsprecher und ‚Geburtshelfer‘ des Projekts seit den 1980er Jahren in Stellung gebracht hatten, waren hier: Philippe Bernard, Driss El Yazami und Rémy Schwartz, Zaïr Kedadouche, Gérard Noiriel und Patrick Weil dabei. Darüber hinaus waren viele der Akademiker vertreten, die an den Vorgänger-Initiativen und -Ausstellungen als Experten partizipiert hatten: Marie-Claude Blanc-Chaléard, Philippe Dewitte, Geneviève Dreyfus-Armand, Nancy Green, Émile Témime, Christine Volovitch-Tavarès, Catherine Wihtol de Wenden. Einige der Mitglieder, so beispielsweise Geneviève Dreyfus-Armand, Catherine Wihtol de Wenden und Driss El Yazami, nahmen parallel an dem ‚Forum des associations‘ teil. Der wissenschaftliche Beirat trat ca. zwei Mal pro Monat zusammen und befasste sich mit den inhaltlichen Fragen und Problemen des Projekts: Er beschäftigt sich mit möglichen Themen, ihrer Präsentation und Vermittlung, der Auswahl von zu repräsentierenden Bevölkerungsgruppen und Ethnien, der Art der ausgestellten Objekte und Trägermedien, den möglichen Veranstaltungen und Wechselausstellungen.162 Dabei sollte auch das potenzielle Publikum und der museografische Zuschnitt auf selbiges berücksichtigt werden. Zudem sollte über eine Möglichkeit der Einbindung der Vereine, aber auch der bereits existierenden Archive und Sammlungen nachgedacht werden. Der Bericht gibt die Ergebnisse aus drei Planungstreffen des wissenschaftlichen Beirates wieder, die zwischen Juni und Oktober 2003 stattgefunden haben. Zusammenfassend kann man festhalten, dass folgende Fragestellungen den Kern der Diskussionen in diesem Frühstadium der Planung bildeten: Eine ganz grundsätzliche Frage, die gleich zu Beginn aufgeworfen wurde und sich durch die gesamte Planungsphase zog, ist die nach der Definition von Immigration im Rahmen der neuen Institution. Der wissenschaftliche Beirat ging vorerst vor allem der grundsätzlichen Frage nach, ob hier eher nach juristischen oder demografischen Kriterien entschieden werden sollte. Eine reine Orientierung an der juristischen Definition wurde relativ schnell und konsensuell abgelehnt, wobei trotzdem die ‚Grenze‘, die den ‚Ausländer‘ formal juristisch vom Franzosen unterscheidet, eine wichtige Rahmung des Projekts bleiben sollte. Um sowohl der rein juristischen als auch letztendlich der demografischen Ausrichtung zu entgehen, entschied man sich schließlich für eine Defini-
Vgl. Toubon, Rapport au premier ministre. Mission de préfiguration du Centre de ressources et de mémoire de l’immigration, S. 113 ff. 162 Die folgende Analyse der Arbeit im Conseil scientifique bezieht sich auf die Protokolle der Planungstreffen, die im Bericht von Jacques Toubon mit veröffentlicht wurden: Vgl. Toubon, Rapport au premier ministre. Mission de préfiguration du Centre de ressources et de mémoire de l’immigration, Annexe 2, S. 133 ff. 161
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tion, die vor allem die ‚Erfahrung der Migration‘ zur Grundlage hatte. Einen wichtigen Streitpunkt bildete dabei jedoch die Frage, ob mit dieser Definition auch die Rapatriés aus Algerien oder die Bewohner der DOM-TOM einbezogen würden. Viele sahen dies aufgrund des wohlgemerkt juristischen Status‘ dieser Einwanderer als problematisch an – obwohl gerade die Betonung der ‚migratorischen Erfahrung‘ als Definitionsgrundlage es erlaubt hätte, diese Gruppen einzubeziehen. Die Frage der Repräsentation der überseeischen und algerischen Migration blieb in der Folge offen, sie wurde im Allgemeinen sehr kontrovers gesehen und ihre Einbeziehung schien ein heikler Punkt: Deuxième difficulté c’était un débat de fond […] qui opposait finalement des gens comme moi d’ailleurs qui voulaient faire un musée de l’immigration et d’y parler de l’immigration et d’autres qui disaient il faut parler aussi de l’esclavage, il faut parler de la guerre d’Algérie, il faut parler des indigènes et cetera […] et ça c’était un débat vraiment de fond parce que certains disaient finalement, on peut pas traiter de l’immigration si on traite pas aussi de la question noire et cetera […] c’était un débat de fond d’autant plus que certains voulaient associer au thème de l’immigration la question précisément des indigènes en disant l’immigrant c’est les indigènes de la République, il y a eu toute une mémoire sur cette population qu’il faut raconter, leur traitement notamment en Algérie, leur participation à la Première Guerre mondiale, les zoos humains et cetera ce qui est quand même une autre histoire si j’ose dire donc ça a été une bataille et finalement on a gagné en disant nous, on va s’en tenir à la question de l’immigration et on ne va pas parler de la guerre d’Algérie sauf qu’elle a un impact sur l’immigration, on va pas parler de l’esclavage parce que c’était aussi une autre histoire […].163
Es schien laut dem Interviewpartner, der hier selbst an den Sitzungen des Conseil scientifique teilgenommen hatte, für viele Teilnehmer keineswegs offensichtlich, auf welche Gruppen, Ethnien und Erzählungen man sich beschränken wollte – gerade die Verbindung zum Kolonialismus bzw. zur Dekolonialisierung als mögliche thematische Erweiterung schien hier nicht konsensfähig, aber von einigen Akteuren gewollt gewesen zu sein. Jedoch schien die Thematik der kolonialen Vergangenheit für einige Akteure, darunter auch der zitierte, das Thema der Immigration zu überfrachten. Zudem gab es, wie auch im Falle des zitierten Interviewpartners, einige Akteure, die die ältere europäische Immigration aufgewertet wissen wollten: Sie zielten damit auf eine stärkere Betonung der Länge der französischen Einwanderungstradition. Dieses Narrativ würde auch eine stärkere Distanzierung von der aktuellen Wahrnehmung besonders der nordafrikanischen Einwanderung erlauben: […] et puis aussi qu’on ne parle pas que des Algériens c’est vrai que l’immigration algérienne en France elle est importante, c’est la deuxième nationalité après les Portugais mais il faut justement aussi parler des Portugais qu’on a un petit peu oublié, aussi parler des 163
Interview mit PC.
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autres nationalités plus anciennes, les Italiens, les Polonais et puis beaucoup d’autres qui sont présents sur le territoire aujourd’hui, Marocains, Subsahariens et cetera et il avait une sorte de réduction aux Algériens qui ont longtemps été considérés comme les migrants un peu idéal typique, idéo typique de l’immigration ouvrière en France avec un passé colonial entrant dans le mouvement ouvrier […].164
Interessant ist, dass in dem zweiten Zitat die koloniale Komponente, die zuvor noch eindeutig abgelehnt wurde, automatisch mit in die Geschichte der algerischen Einwanderung hineinrutscht und sich damit indirekt sehr wohl als relevante Thematik darstellt. Schließlich kann die nordafrikanische Einwanderung, vor allem seit dem Ende des Algerienkriegs, kaum ohne die koloniale Vergangenheit Frankreichs verstanden werden. Jedoch scheint der Einwand gegen einen (Über-)Thematisierung der nordafrikanischen Einwanderung gerade vor dem Hintergrund verständlich, dass sowohl in zeitgenössischen Debatten als auch in der damaligen universitären Forschung diese Einwanderungsgruppe stark in den Fokus rückte. Außerdem gab es einige Expertenstimmen, die mahnten, dass gerade die Bewohner der DOM-TOMs bzw. durchaus auch die ‚Rapatriés‘ sich nicht als Immigranten betitelt sehen wollten, da sie streng genommen französische Staatsbürger seien. Insgesamt erscheint hier das Unbehagen gegenüber der Verbindung von Immigration und kolonialer Vergangenheit oder gar Themen wie der Sklaverei überdeutlich. Die Tatsache, dass viele Akteure die (post-) koloniale Einwanderung bzw. die Einwanderung aus den Übersee-Gebieten ausgrenzen wollten, spiegelte das Bedürfnis, Komplexitätsreduktion zu betreiben und in gewisser Weise die traditionellere und weniger konfliktträchtige, weil weniger aktuelle europäische Migration zu bevorzugen. Daher war man sich wiederum recht einig, dass man die Geschichte der Massenimmigration seit dem 19. Jahrhundert überblicksartig erzählen wollte. Man wollte einem möglichst breiten Publikum einen Überblick über die wichtigsten Migrationsbewegungen nach Frankreich bieten und damit essenzielle historische Kontextinformationen zur Immigration bereitstellen. Insgesamt wird hier aber trotzdem vor einer zu breiten und zu weit zurückgreifenden Erzählung gewarnt: „Il n’est pas sûr qu’un „musée de tous ceux qui ont bougé“ depuis les Gaulois permette une meilleure appropriation symbolique de l’immigration comme un fait majeur de notre histoire nationale“.165 Eine zweite wichtige Kernfrage, die an die erste anknüpft, ist die des ‚Wie‘ – der Art und Weise der Präsentation von Immigration. Jedwede Darstellung, die kommunitaristische Tendenzen aufweisen würde, wurde hier klar von vornherein abgelehnt. Schließlich ging es vorrangig darum, die Immigration als Teil der ‚großen‘ Nationalgeschichte zu erzählen. Man wollte daher keiner spezifischen Immigrationsgruppe den Interview mit PC. Toubon, Rapport au premier ministre. Mission de préfiguration du Centre de ressources et de mémoire de l’immigration, S. 134. 164 165
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Vorrang vor anderen geben und sich damit womöglich in Debatten um Erinnerungskonkurrenzen verstricken lassen. Daher wird eine Kombination von thematischen, chronologischen und regionalen Ansätzen bevorzugt. So könne man die isolierte Darstellung einzelner Bevölkerungsgruppen vermeiden. Generell wurde die Form eines oder mehrerer Parcours bevorzugt: Der Besucher sollte der Geschichte einer Familie oder eines einzelnen Migranten folgen können. Dabei sollte er von den dargestellten Geschichten affektiv angesprochen werden, sich mit den Geschichten identifizieren und sich in sie einfühlen können. Damit wollte man auch der potenziellen Gefahr eines ‚musée ghetto‘, einem ‚Museum von Migranten für Migranten‘ entgehen. Immigration sollte an ein breites Publikum als etwas ‚Bereicherndes‘ vermittelt werden, was es sowohl den ‚Franzosen‘ als auch den verschiedenen Einwanderern und ihren Nachkommen erlaube, sich stärker in der nationalen Identität aufgehoben zu fühlen und Immigration als einen Teil der nationalen Identität zu begreifen. Dazu wurde hier der Slogan ‚Leur histoire est notre histoire‘ eingeführt, der in der Folge stark diskutiert wurde. Die Debatte, die sich um diesen Satz entspann, hatte vor allem mit dem Auftauchen der Begriffe ‚leur‘ und ‚notre‘ zu tun. Man wollte keine Unterscheidung in ein ‚wir‘ und ein ‚sie‘, wie es viele kulturelle Institutionen und politische Diskurse zuvor schon verwendet hatten, um hier ein klare Differenz zwischen dem ‚Anderen/Fremden‘ und dem ‚Eigenen‘ aufzumachen. Trotzdem führte der Slogan aber zu sehr unterschiedlichen Interpretationen, besonders bei Akteuren mit Migrationshintergrund: „Oui, je me rappelle qu’il y avait un débat sur ce slogan, […] moi, je le voyais plus comme quelque chose inclusive et d’autres le considèrent comme quelque chose qui excluait donc moi, comme je ne suis pas née en France je (ne) pouvais pas tranché donc […]“.166 Hier wird der Slogan grundsätzlich als inklusiv verstanden, während der eigene Migrationshintergrund sogar an dieser Stelle die neutrale bis positive Stellungnahme zu rechtfertigen scheint. Ganz anders sieht es diesbezüglich bei diesem Interviewpartner aus: […] ce qui me gêne c’est le ‹ leur › parce que c’est comme s’il y avait encore une fois le ‹ nous › et le ‹ eux ›, on a essayé de se battre pendant tout le comité de pilotage là-dessus […] enfin je veux dire […] chacun a son histoire mais moi je suis de l’immigration italienne, bon, je veux dire ça c’est gênant […] ça me gêne un peu moi, le ‹ leur histoire › – c’est notre histoire, c’est notre histoire à nous sans distinction du ‹ leur › et du ‹ nous › voilà après c’est un slogan marketing […].167
Der zweite Akteur äußert hier also aus einer ähnlichen Ausgangsposition eine andere Wahrnehmung und Interpretation des Slogans: Er wird hier als exkludierend begriffen, da er die Gruppe der Einwanderer, als deren Teil sich der Akteur selbst begreift,
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Interview mit HE (04. Februar 2015/Dauer: 43 min. 07 sec.). Interview BC (09. Februar 2015/Dauer: 38 min. 16 sec.).
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aussondert und von den Franzosen trennt, obwohl für den Akteur die Aussage sein sollte, dass es sich eben nicht um eine getrennte, unterschiedliche Geschichte handele, sondern um eine gemeinsame, geteilte Geschichte. Trotz der hier sichtbar gewordenen sehr unterschiedlichen Positionen der Akteure zu dem Slogan wurde er als Titel in der Folge für das erste große Kolloquium in der Bibliothèque nationale verwendet, das helfen sollte, das Projekt weiterzuentwickeln. Insgesamt stand hier die Frage des ‚wie‘ der Präsentation von Immigration stark unter dem noirielschen Impetus, Immigration als Phänomen aufzuwerten und den Beitrag der Immigranten zur Nation und ihrer Geschichte darzustellen. Gleichzeitig war den hier präsenten Experten und Akademikern klar, dass man die Schattenseiten der Immigration, die ‚schmerzhaften‘ Seiten nicht aussparen konnte, wenn man als Institution auch von wissenschaftlicher Seite ernst genommen werden wollte. Der Spagat, den man zwischen der Vermeidung sowohl einer miserabilistischen Vision von Immigration als auch einer durchweg geglätteten Perspektive auf Immigration vollziehen wollte, stellte sich in der Folge als dauerhaftes Konfliktpotenzial für die spätere CNHI heraus. Immer wieder gerieten diese beiden Ansätze in Widerspruch zueinander und spiegelten sich auf unterschiedliche Weise in den einzelnen späteren Sammlungsteilen. Die Zielsetzung, Immigration vorrangig positiv darstellen zu wollen und sie damit aufwerten und in die nationale Meistererzählung integrieren zu können, ließ sich dauerhaft nur schwer mit der Zielsetzung, stereotype Wahrnehmungsmuster aufbrechen zu wollen, verbinden. In Bezug auf die Idee der Aufwertung des Themas Immigration war auch die dritte Kernfrage, die nach dem Ort der zukünftigen Institution, weiterhin entscheidend. Es schien sich, anknüpfend an die Berichte der AMHI und El Yazamis, immer stärker die Überzeugung durchzusetzen, dass man einen bedeutenden, ‚noblen‘ Ort wählen müsse, um so materiell, aber auch symbolisch das Thema Immigration in den Kanon der Nationalgeschichte, den Kanon der Republik, aufzunehmen. Daher wurde hier betont, dass auch bei der Wahl des Ortes jeder Miserabilismus vermieden werden müsse. Man forderte daher einen zentral gelegenen, prestigeträchtigen Ort, der sich für eine symbolische Aufladung anböte. Diese Einsicht schien äußerst konsensfähig gewesen zu sein und stieß auf keinen Widerstand. Zu diesem Zeitpunkt waren insgesamt noch der Palais de la Porte Dorée, ein Teil des Palais Chaillot, das Hôpital Laennec, das Entrepôt des Magasins généraux de la Villette, der Ex-centre américain à Bercy oder das Toit de la grande Arche als potenzielle Orte denkbar, wobei im Laufe der Diskussionen die Wahl eines historischen Gebäudes innerhalb von Paris favorisiert wurde. Damit rückte der Palais de la Porte Dorée relativ schnell als ‚idealer‘ Ort in die engere Auswahl. Im Bericht von 2001 war man diesbezüglich noch deutlich offener gewesen und hatte durchaus auch Marseille, als eng mit der Geschichte der Immigration verknüpft, favorisiert – zumal man hier bei der konkreten Wahl eines Gebäudes vor einer zu starken symbolischen Vorprägung oder historischen Aufladung gewarnt hatte, da diese das Thema Immigration überfrachten könne. Dieses Argument schien gar keine
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Rolle mehr gespielt zu haben, obgleich genau diese Befürchtung in Bezug auf den Palais de la Porte Dorée zutraf und zu einer großen Belastung des Projekts werden würde. Eine vierte und letzte Kernfrage drehte sich immer noch und fortlaufend, über die ganze Planungsphase hinweg, um den Charakter der Institution. Hierbei stand das Konzept des Museums im Mittelpunkt der Diskussionen. Obgleich es zwar grundsätzlich als Modell für die neue Institution nach wie vor abgelehnt wurde, tauchte in den Diskussionen immer wieder das Wort ‚Musée‘ statt ‚Centre‘ auf. Nicht zuletzt die Tatsache, dass man eine Dauerausstellung zur Vermittlung der essenziellen Informationen über Immigration an ein breites Publikum für durchaus sinnvoll erachtete und Wechselausstellungen eine relativ große potenzielle Bedeutung zugestand, ließ das Konzept des Museums immer wieder aufscheinen. Jedoch, und dass scheint das wesentliche Argument gegen ein Museum gewesen zu sein, wollte man hier trotz der klaren Zielsetzung der Aufwertung, Immigration keinesfalls sakralisieren. Dem sollte der multifunktionale Charakter der Institution entgegenwirken: Das zukünftige ‚centre‘ sollte als Kopf eines Netzwerks von Initiativen, Vereinen und Archiven fungieren, selbst aber kein eigenes Archiv beherbergen. Daneben sollten die besagten Ausstellungsformate angeboten werden, die helfen sollten, dauerhaft Informationen an ein breites Publikum zu vermitteln. Zu diesem Zweck sollte auch eine eigene Sammlung angelegt werden. In Bezug auf den Aspekt der Beziehung zur Forschung und Universität wollte man sich nicht als Forschungszentrum missverstanden wissen. Vielmehr wollte man eine Brückenfunktion zwischen Besuchern und Archiven sowie Instituten einnehmen. Entsprechend der Uneinigkeit über den eigentlichen Charakter der Institution war man mit dem bisherigen Namen des Projekts unzufrieden: Statt des Worts ‚Erinnerung‘ wünscht man sich hier ‚Geschichte‘ als Bestandteil, zudem würde man lieber von Migrationen im Plural sprechen. ‚Centre de ressource‘ erschien als zu kompliziert und abstrakt und daher ungeeignet. Die Frage des Namens würde auch in der Folge lange unbeantwortet bleiben und rief Konflikte hervor. Diese Diskussion wurde später erneut aktualisiert, als man sich für das Konzept ‚Cité‘ entschied, das aber dann doch 2013 schließlich durch ‚Musée‘ ersetzt wurde. Die hier geführten Diskussionen um die Definition von ‚Immigration‘ und ‚Immigrant‘, die daran geknüpfte Frage der Repräsentation von Immigration, der Versuch der Abgrenzung vom Konzept ‚Museum‘ sowie die damit verbundene Diskussion um den Namen der zukünftigen Institution, zeichnen die Planungsgruppe der Akademiker signifikant aus. Parallel wurde getrennt von dem wissenschaftlichen Beirat in einer gesonderten Planungsgruppe unter den Vertretern der migrantischen Vereine die Gestaltung der zukünftigen Institution diskutiert. Sie betonten teilweise deutlich andere Fragen und Aspekte als der wissenschaftliche Beirat. Insgesamt verdeutlicht die Wahl von gleich zwei Expertengruppen, dass man ähnlich dem Vorgehen von Génériques bei der Ausstellung ‚France des étrangers. France des libertés‘ sowohl akademische Experten beteiligen wollte, die für die entsprechende Anbindung an die universitäre Forschung sorgen sollten, als auch die migrantischen Vereine, die sich zum Teil seit Jahrzehnten für eine Anerkennung
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des Phänomens Immigration einsetzten und die Stimme der Migranten selbst in das Projekt tragen konnten. Forum Die Gruppe, die die Vereine versammelte (Forum), war etwas umfangreicher von ihrer Mitgliederzahl her angelegt als der wissenschaftliche Beirat und versammelte vor allem Mitglieder und Verantwortliche migrantischer Vereine und soziale Akteure aus dem Bereich Immigration. Hier waren u. a. Saïd Bouziri als Präsident von Génériques vertreten, Mehdi Lallaoui als Vorsitzender von ‚Au nom de la mémoire‘, Mohammed Telhine, Präsident von ‚Mémoire active‘, ebenso Pascal Blanchard und Nicolas Bancel, die hier als Direktor und Vize-Präsident des ACHAC vertreten waren.168 Allerdings wurden auch hier Experten, wie beispielsweise Benjamin Stora oder Janine Ponty, herangezogen um die Arbeit der Kommission zu ergänzen. Das Forum wurde von Beginn an als Umsetzung des Wunsches nach Beteiligung der bereits existierenden Projekte, Initiativen und Vereine im Bereich Immigration verstanden. Sie sollten mit diesem Komitee eine Möglichkeit zur Partizipation erhalten und die Vorschläge des wissenschaftlichen Beirates ergänzen.169 Wenn man die Diskussionen und Entscheidungen des Forums vor dem Hintergrund der Kernfragestellungen des wissenschaftlichen Beirats betrachtet, ergeben sich einige Gemeinsamkeiten, aber auch deutliche Unterschiede in der Diskussion und Beantwortung der jeweiligen Fragen: In Bezug auf die erste Frage – nach der Definition von Immigration – ist besonders ein Wortbeitrag Nicolas Bancels wesentlich, der anmerkt, dass in dem Protokoll über die Arbeit dieser Gruppe einige Diskussionspunkte fehlten und man sich beispielsweise nicht einig über die Definition von Immigration sei – dieser Punkt würde aber gar nicht aufgeführt. Daher kann hier nicht nachvollzogen werden, welche Punkte im Forum diesbezüglich diskutiert wurden. Signifikant erscheint aber, dass im Falle des wissenschaftlichen Beirats im Protokoll sehr wohl die betreffende Diskussion wiedergegeben wurde. Eine Vermutung in Bezug auf die Auslassung im Protokoll des Forums ist, dass man den einzelnen sehr spezifischen Interessen der unterschiedlichen migrantischen Vereine und Vertretern nicht zu viel Raum geben wollte. Allerdings wird in der Diskussion trotzdem deutlich, dass hier eindeutig eine reine ‚Immigrationsgeschichte‘, als eine isolierte Geschichte ‚der‘ Immigration, vermieden und vielmehr die Verflechtung des Phänomens mit der französischen Gesellschaft thematisiert werden
Vgl. Toubon, Rapport au premier ministre. Mission de préfiguration du Centre de ressources et de mémoire de l’immigration, S. 119 ff. 169 Die folgende Analyse der Arbeit im Forum bezieht sich auf die Protokolle der Planungstreffen, die im Bericht von Jacques Toubon mit veröffentlicht wurden: Vgl. Toubon, Rapport au premier ministre. Mission de préfiguration du Centre de ressources et de mémoire de l’immigration, Annexe 2, S. 149 ff. 168
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sollte. Diese Darstellung wollte man aber nicht aus franko-französischer Perspektive realisieren, sondern mit einer internationalen Perspektive, die Migration ganzheitlich als Phänomen erfasste, die Herkunftsländer und die Gründe der Auswanderung mit einbezöge und es als Phänomen, das auch Europa und die Welt beträfe, darstellen sollte. Indirekt lässt sich hier vermuten, dass daher auch die Diskussion um die Definition der einzubeziehenden Immigration eine andere war als im Beirat. Dieser Ansatz führt zur zweiten Kernfrage nach dem ‚Wie‘ der Umsetzung: Der Fokus auf einer Verflechtungsgeschichte implizierte hier für das Forum, dass es eindeutig um die Schaffung eines neuen ‚Wir‘ gehen sollte, die Schaffung eines neuen ‚destin commun‘, das Immigranten und ihre Nachkommen in die Gesellschaft für die Zukunft integrieren könne. Daher stimmte es in der Ablehnung einer kommunitaristischen Orientierung mit dem Beirat überein und schlug ein thematisches Vorgehen vor: Dieses sollte bereits bei 1789 einsetzen und die großen Migrationsverläufe verstehen helfen. Das Forum betonte die Darstellung der Immigration als ‚Strom‘ bzw. fließende Bewegung. Bezeichnend ist, dass das Forum explizit die Rolle der Kultur als Themenfeld bei der Vermittlung von Immigration hervorhob. Die Darstellung des kulturellen Beitrags der Migranten wird als zentraler Fokus gesehen, dabei wird auch der Kunst und insbesondere jungen, zeitgenössischen Künstlern eine wichtige Funktion zugeschrieben: Die Veränderung der Wahrnehmung der Immigration funktioniere laut dem Forum primär über künstlerische Aktionen und Realisierungen. Hier wird erneut das aus ‚Les enfants de l’immigration‘ bekannte Instrument der Auslagerung des Phänomens Immigration in ein positiv konnotiertes, vom Publikum selten mit der Immigration assoziiertes Feld, dem der Kunst und Kultur, verwendet, um es aus einer miserabilistischen Sichtweise zu befreien und ihm eine neue Legitimität zu verleihen. Zudem erleichterte dies die Etablierung eines Narrativs der ‚positiven Beitragsgeschichte‘. Ein besonderes Anliegen war allerdings dabei, jede Exotisierung zu vermeiden und Themen, die bewusst aus dieser Beitragsgeschichte herausfielen, wie Immigrationspolitik, zu integrieren. Das Bewusstsein der Notwendigkeit, das Thema ‚Immigration‘ aus seiner bisherigen sozialen und politischen Verortung emanzipieren zu müssen, ohne jedoch in die Falle eines neuen kulturelle Exotismus im Sinne der Arts premiers zu verfallen, war hier vonseiten der migrantischen Vereine ungleich größer. Der wissenschaftliche Beirat hatte primär die historische Kontextualisierug des Phänomens im Blick und wollte über die Vermittlung von Informationen die Wahrnehmung der Besucher verändern. Das Ziel der Akteure im Forum war hingegen, Immigration von vornherein anders zu inszenieren, den Besucher mit ihrem Zugriff zu überraschen und das Thema damit attraktiver zu machen, obgleich beide Akteursgruppen die Zielsetzung einer Beitragsgeschichte als Rahmenkonstrukt benutzten. In Bezug auf die Frage des Ortes der zukünftigen Institution waren sich Forum und Beirat einig: Das Forum wollte noch viel deutlicher als der Beirat dem zukünftigen ‚Centre‘ größtmögliche Bedeutung und Wirkmacht verleihen, auch um diese für ihre eigenen Projekt zu nutzen. Daher sahen sie ebenso eine Verortung in Paris, an einem
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historischen und prestigeträchtigen Ort, als absolut notwendig an. Dies war auch verbunden mit ihrer Auffassung vom Charakter der Institution: Das Forum sah diese neue Institution vor allem als Möglichkeit, die bisher existierenden, meist lokalen Projekte besser hervorheben und aufwerten zu können und sie damit aus einer, häufig der lokalen oder regionalen Verortung geschuldeten, Isolation zu befreien. Sie betonten hier die aus ihrer Perspektive absolut notwendige und längst überfällige Unterstützung von oberster nationaler Ebene. Eine Verbindung der nationalen und der lokalen Ebene schien daher aus Sicht der Vereine unabdingbar: Sie sahen die Rolle des Zentrums als Multiplikator, der ihre Initiativen vermitteln, präsentieren und unterstützen würde. Schließlich verstanden sich die Akteure der Vereine ganz konkret als Träger des Gedächtnisses der Immigration. Ihre Beteiligung erschien daher maßgeblich, was durchaus auch im wissenschaftlichen Beirat berücksichtigt wurde, beispielsweise bei der Vorstellung des Zentrums als Kopf eines Netzwerks von migrantischen Initiativen. Jedoch tendierten sie aus ihren eigenen, stark an den jeweiligen Verein gebundenen Interessen heraus eher als der Beirat zu einem ‚lieu d’histoire et de mémoire‘, der ihnen endlich die Aufmerksamkeit verschaffen konnte, die bisher von staatlicher Seite ausblieb. Dazu würde auch die Aufgabe gehören, als ‚Retter‘ von Archiven und Sammelstelle zu fungieren. So seien beispielsweise viele private Archive gar nicht erfasst und daher vom Verschwinden bedroht. Der Umgang mit der Archiv-Funktion bezüglich des Zentrums war auch hier aufgrund des potenziellen Aufwandes nicht klar. Trotzdem sollte das Zentrum als Partner der Vereine auf Archive und ihr mögliches Verschwinden ein Auge haben und sich mit möglichst vielen Archiven und Sammlungen vernetzen. In Bezug auf die Diskussionen des Forums muss hier im Vergleich mit denen des Beirats eine weitere Kernfrage angeschlossen werden: die des Publikums. Hatte der Beirat bisher nur sehr vage von einem breiten Publikum gesprochen, visierte das Forum dieses Thema gezielter an: Sie legten den Fokus besonders auf ein junges Publikum, das sie als ‚véritable cœur de cible‘ des Zentrums sahen.170 Darüber hinaus wurde der Komponente der Bildungsarbeit hier große Bedeutung eingeräumt, insbesondere das schulische Publikum müsse an diesen Ort gebunden werden. Zudem solle, im Sinne des wissenschaftlichen Beirats, Einfluss auf die schulischen Curricula genommen werden und daher eng mit dem Bildungsministerium zusammengearbeitet werden. Die migrantischen Vereine hatten hier offenbar großes Interesse daran, bereits bei den zukünftigen Erwachsenen anzusetzen und das Bild der Immigration von Grund auf zu beeinflussen. Obgleich die Beteiligung der migrantischen Akteure durch die Gruppe des Forums wichtig und notwendig war, nahm sie in den folgenden Planungen bis in die
Vgl. Toubon, Rapport au premier ministre. Mission de préfiguration du Centre de ressources et de mémoire de l’immigration, S. 153. 170
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Umsetzung hinein eine ambivalente Rolle ein. So bemängelte Bancel als Mitglied des Forums, dass es keinen Austausch mit dem wissenschaftlichen Beirat gäbe.171 Dabei waren die Vereine einerseits als jahrzehntelange Träger der einzelnen kollektiven Erinnerungen der Immigration unabdingbare Partner und Experten, andererseits machten sie ihre teilweise sehr spezifischen, an ihren Verein gebundenen Interessen auch zu schwierigen Gesprächspartnern. Insbesondere Driss El Yazami reflektierte dies explizit in einem im Protokoll von ihm wiedergegeben Statement: Il faut raconter des histoires, mais ce n’est pas aux historiens, ni aux scientifiques, mais aux scénographes de faire de la mise en scène. Ça ne sert à rien de donner des exemples. Ce qui est sûr, c’est qu’il faut des moyens considérables, évidemment des talents, mais aussi une scénographie ambitieuse et des lieux ambitieux […] N’y a-t-il pas un problème de méthode ? On sent bien une projection des associations impliquées dans ce groupe de travail. Mais ne faut-il pas un peu plus de hauteur ? Pour la programmation, n’aurait-il pas fallu un muséographe dans le groupe de travail ? Il faut cesser de se projeter individuellement et voir réellement quels sont les besoins, pour que les compétences réelles sur le champ de la mémoire soient mobilisées.172
Wesentlich erscheint, dass El Yazami hier teilweise seine Position zu Ausstellungen, wie er sie im Rahmen von ‚France des étrangers. France des libertés‘ schon benannt hatte, wiederholt: Um ihre Qualität zu garantieren, bedarf es verschiedener Experten, die eben auch explizit nicht aus dem Vereinsmilieu stammten. Hier betont er besonders seine Überzeugung, dass die konkrete museografische Umsetzung Sache der Szenografen sei und weder von den wissenschaftlichen Experten noch vom Forum entschieden werden könne. Zudem klagt er die Selbstprojektionen seiner Kollegen auf das Projekt an. El Yazami scheint die Problematik, speziell der Gruppe des Forums, bewusst gewesen zu sein: Die Vereine und ihre Akteure handelten nicht unbedingt im Sinne eines möglichst wirkmächtigen, prestigeträchtigen Projekts, sondern verfolgten ihre eigene Agenda und wollten vor allem ihre Projekte vertreten wissen. Das Zitat El Yazamis rechtfertigt damit nachträglich das Vorgehen Toubons und seine Arbeit mit zwei unterschiedlichen Expertenkommissionen. Beide Perspektiven auf das Projekte, sowohl die der Akademiker als auch die der Vereine, waren wichtig – schließlich wollte man einerseits in der neuen Institution differenzierte Darstellungen des Phänomens auf dem aktuellen Stand der Forschung präsentieren, andererseits wollte man dadurch auf keinen Fall die migrantischen Akteure, ihre Arbeit, ihr Engagement und ihre Erfahrung ausgrenzen oder missachten. Als nationales Immigrationsmuseum hätte man sich weder eine subjektive, unwissenschaftliche oder gar undifferenzierte Darstellung noch eine die ‚Stimme der Migranten‘ ignorierende Präsentation leisten können. TouVgl. ebd. S. 157. Driss El Yazami zit. nach: Toubon, Jacques, Rapport au premier ministre. Mission de préfiguration du Centre de ressources et de mémoire de l’immigration, Paris 2004. S. 161. 171 172
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bon wollte, dass die neue Institution sowohl von der universitären Forschung als auch von den Migranten und ihren kulturellen bzw. gesellschaftlichen Repräsentanten ernst genommen wurde. Gleichzeitig waren die mit den beiden Gruppen verbundenen Vorstellungen, Zielsetzungen und Wünsche nicht immer vereinbar. So war es schwierig, eine überblicksartige historische Rekontextualisierung des Phänomens Immigration zu konzipieren, die dem aktuellen Stand der Forschung entsprach und gleichzeitig den einzelnen Bedürfnissen nach Erinnerung und Anerkennung vonseiten verschiedener migrantischer Vereine und der ihnen zugehörigen ethnischen Gruppen gerecht werden. 2.2a.b Das Kolloquium ‚Leur histoire est notre histoire‘ Nach den ersten Beratungen wurden die gesammelten Ideen und Fragen in ein großangelegtes Kolloquium getragen, das hier gleichsam eine Scharnierfunktion übernahm.173 Es fungierte als Übergang zum Comité de pilotage, das Toubon im Anschluss an das Kolloquium im November 2003 aus den Mitgliedern des Forums und des Conseil scientifique sowie dem Comité technique bildete: Es wurden hier nicht alle Mitglieder aus allen Gruppen übernommen, aber aus allen drei Gruppen wurden Experten zugelassen.174 Das Comité de pilotage hatte dann in der Folge die Aufgabe, die Planung weiterzuführen und vor allem im Mai 2004 den Bericht der Vorstudie der interministeriellen Kommission vorzulegen. Das Kolloquium sollte also die bisherigen Ergebnisse einem breiteren Publikum aus Experten präsentieren und diese mit ihnen diskutieren, um dann den Eintritt in eine weitere, konkretere Planungsphase zu ermöglichen: Ce colloque s’inscrit à mi-parcours du travail élaboré par la mission de préfiguration du futur Centre de ressources et de mémoire de l’immigration. Les études faites ces derniers mois sur la muséographie, la pédagogie, les archives et la médiation par le Conseil scientifique et le Forum des associations seront confrontées aux points de vue d’experts français et étrangers, d’élus locaux, de responsables associatifs, afin d’apprécier la validité du futur Centre.175
Die hier avisierte Überprüfung der Validität der bereits gesammelten Ideen und die Klärung offener Fragen sollten über die Einbeziehung eines größeren Kreises an ExDas Kolloquium wurde auch in den Bericht von Toubon aufgenommen, was seine Bedeutung für die Planungsphase unterstreicht. Sein Programm bzw. Ablauf sowie Protokolle der Inhalte und Diskussionen werden im Bericht mit veröffentlicht. Vgl. Toubon, Rapport au premier ministre. Mission de préfiguration du Centre de ressources et de mémoire de l’immigration, S. 174 ff. 174 Vgl. ebd. S. 128. 175 Mission de préfiguration du centre de ressources et de mémoire de l’immigration / Gip ADRI, Leur histoire est notre histoire. La Place des immigrés dans la construction de la France, programme du colloque (28 et 29 novembre 2003 à la Bibliothèque nationale de France) (novembre 2003). 173
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perten gewährleistet werden. Dies war u. a. auch für einige Akteure, die zuvor noch nicht an der Planung beteiligt gewesen waren, eine Gelegenheit, neu dazu zustoßen. Die relative Offenheit des Verfahrens: Das Programm wurde an, wie im Zitat erwähnt, unterschiedlichste Akteure geschickt, die sich über ein angehängtes Anmeldeformular zu dem Kolloquium melden konnten – erlaubte hier ein breites Publikum an Interessierten zu erreichen, die frei ihre Ideen, Fragen und Kritik beisteuern konnten. Den Teilnehmern wurde eine zusammenfassende Dokumentation der Ergebnisse aus der Arbeit der beiden Gruppen zur Verfügung gestellt,176 wobei einige der Ergebnisse von den Gruppen auch selbst noch einmal zur Einführung im Kolloquium vorgestellt wurden. Die hier zusammengetragenen Ideen, Fragen und Probleme entsprechen dem, was aus den bereits vorgestellten Protokollen der verschiedenen Arbeitstreffen hervorgeht. Im Anschluss an die Präsentation der Ergebnisse wurden diese offen mit dem Plenum bzw. einzelnen Experten diskutiert, was erneut wichtige Kristallisationspunkte unter anderer Perspektivierung aufscheinen ließ. Einen wichtigen Diskussionspunkt bildete dabei weiterhin der Grundcharakter der zukünftigen Institution und der Grad ihrer musealen Prägung. In diesem Fall kommt er durch die Beteiligung Françoise Cachins, der ehemaligen Direktorin der Direction des Musées de France, am Kolloquium zum Ausdruck: Françoise Cachin est très réservée sur la dénomination de lieu « grand public ». Certes, les expositions temporaires, les évènements peuvent attirer le grand public, mais le reste du temps, il n’en est pas question. Elle est également très perplexe, quant à la désignation de ce lieu sous le terme de « musée » (il n’y a pas de collections pour notre sujet) et le fait d’axer la programmation sur la muséographie. Le musée n’est pas un lieu magique, on sait, par exemple, que les visiteurs du Louvre et du musée d’Orsay sont à 70 % des étrangers.177
Trotz der von Beginn an offen demonstrierten Ablehnung bzw. Skepsis gegenüber dem Konzept ‚Musée‘, sowohl von Premierminister Raffarin selbst als auch vonseiten des wissenschaftlichen Beirats und des Forums, schien sich laut der Aussage von Cachin doch das Konzept durchaus etabliert zu haben. Zudem war bereits in den Protokollen der beiden Arbeitsgruppen aufgefallen, dass häufig der Begriff Museum bzw. Museografie verwendet wurde. Allerdings schien ein Museum aus der Perspektive von Françoise Cachin bei diesem Projekt mit dieser Thematik kaum in Frage zu kommen, was einer immer wiederkehrenden Position des Kulturministeriums bzw. der Direction des musées de France entsprach: Hier argumentierte man, dass sich ‚Museum‘ nur eine Institution nennen könne, die auch eine Sammlung besitze und man berief sich dabei auf die Definition des International council of museums (ICOM). Die Weigerung der Direction des musées de France hier ein Museumskonzept gelten zu lassen, Vgl. ebd. Toubon, Rapport au premier ministre. Mission de préfiguration du Centre de ressources et de mémoire de l’immigration, S. 176 f. 176 177
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zog sich durch die gesamte Planungsphase und wurde auch von den interviewten Akteuren aufgegriffen. Sie lässt sich aus der Tatsache heraus erklären, dass die Definition des Museums, wie die DMF sie verwendete, sich stark auf eine bereits vorhandene Sammlung als Grundlage des potenziellen Museums stützte – nach der Reform von 2002 war die Sammlung und ihre Dokumentation über ein entsprechendes Register das essenzielle Kriterium für ein potenzielles ‚Musée de France‘.178 Dabei stützte man sich auf die Definition der ICOM, die vorsah, dass ein Museum als permanente Institution „[…] acquires, conserves, researches, communicates and exhibits the tangible and intangible heritage of humanity and its environment […].“179 Jedoch wird hier auch deutlich, dass die Definition der ICOM zwar vom Sammeln als einer (permanenten) Aktivität, die das Museum essenziell kennzeichnet, ausgeht, dies bedeutete aber keinesfalls die notwendige Existenz einer Sammlung bei der Gründung eines Museums. Die Direction des musées de France legte also sehr viel stärker als die ICOM den Fokus auf eine bereits existierende Sammlung. Im Falle eines potenziellen ‚Immigrationsmuseums‘ machte sie dies sogar zum essenziellen Kriterium und schloss damit ein Museum aus: Sie wollte bei dem Phänomen der Immigration schlichtweg keine Sammlung sehen. Man ging hier bisweilen so weit, zu behaupten, es sei auch gar keine denkbar. Immigration erschien als ‚nicht-musealisierbares‘ Phänomen. Diese Beurteilung des Themas Immigration durch das Kulturministerium bzw. die DMF wird auch von einem Interviewpartner deutlich betont: Jacques Toubon […] avait choisi de travailler […] avec des conservateurs des monuments historiques […] et donc ils ont une conception très stricte de leur éthique professionnel et dans un musée [d’après eux] il faut montrer d’une part des œuvres originales et d’autres part des belles choses et certains [entre eux] ont [demandé] : comment est-ce qu’on va pouvoir faire un musée avec toutes ces choses moches qui concernent l’histoire de l’immigration qui sont le paysage des bidonvilles, des banlieues, des usines, il n’y a aucun objet […].180
Für die Konservatoren gab es bei diesem Thema schlichtweg keine denkbaren Objekte und Werke, die einem Museum in ihrer Vorstellung gerecht würden. Darüber hinaus vermutete Cachin persönlich ein ganz offensichtliches Problem bei der Anziehungskraft und Wirkmacht der Institution. Sie unterstellte, dass ‚Immigration‘ über längere Zeit kein größeres Publikum begeistern würde, dies erst recht nicht in Form eines Museums. Allerdings ignorierte sie die Tatsache, dass die Planungsgruppen von vornherein vorgesehen hatten, eine eigene Objektsammlung, vor allem bestehend aus
Vgl. Journal officiel de la République Française (28.04.2002). S. 7742–7747, sowie: Poulot, Dominique, Musée et muséologie, Paris 2005. S. 76. 179 ICOM, Museum Definition, URL: https://icom.museum/en/standards-guidelines/museum-defini tion/ (Zugriff 21.03.2020). 180 Interview mit PC. 178
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Spenden von Migranten, anzulegen. D. h. dass hier die Kritik der fehlenden Sammlung genau genommen zu kurz griff – es handelte sich eher um eine Frage der Zeit als um ein tatsächliches Defizit. Bei der Öffnung der Debatte für das breite Plenum wurde direkt auf die Verwendung des Konzepts Museum eingegangen: An dieser Stelle wurde dann das Argument gebracht, mit dem die Planungsgruppen bisher vorrangig ebenso wie Raffarin selbst das Konzept abgelehnt hatten: Es galt als ‚poussiéreux‘ und schien jedweder Wertschätzung und Aufwertung der Immigration diametral entgegengesetzt.181 Dahinter stand die offensichtlich von den meisten Teilnehmern geteilte Ansicht, dass Museen konservative, wenig lebendige und verstaubte Institutionen seien, die diesem Thema nicht gerecht würden. Diese seltsam verkürzte und stereotype Wahrnehmung wurde in der Folge von einem Kolloquiumteilnehmer entsprechend als veraltet und wenig konstruktiv kritisiert.182 So einhellig die Ablehnung gegenüber dem Konzept Museum war, so häufig tauchte der Begriff in der Diskussion auf – zudem wurde nach wie vor von ‚Museologie‘ und ‚Museografie‘ in Bezug auf die Umsetzung der Institution gesprochen. Die Frage nach einer möglichen Sammlung wurde kontrovers diskutiert und die Meinung Cachins, dass es hier gar keine Sammlung geben könne, wurde nicht unbedingt geteilt: Gerade die Alltagskultur der in Frankreich lebenden Migranten schien hier ein großes Objektreservoire zu bieten. In der Folge wurde auch weiterhin an dem Konzept der Dauer- und Wechselausstellung festgehalten, obwohl man kein ‚Musée‘ wollte. So wurde auch in einem der Paper des Kolloquiums unter dem Punkt ‚Museografie‘ festgehalten, dass die Institution unbedingt eine Dauerausstellung benötige. Die Überzeugung, dass eine historische Rekontextualisierung für die Besucher unabdingbar sei, vor allem wenn man sich zum Ziel setze, die Länge der Tradition der Einwanderung nach Frankreich zu verdeutlichen und damit zeigen zu wollen, welchen enormen Anteil Immigranten an der Konstruktion der französischen Nation hatten und haben, war konsensfähig. Diese Rekontextualisierung konnte am besten, so die einhellige Meinung, in Form einer Dauerausstellung realisiert werden. Diese wurde mittlerweile auch schon unter dem Titel ‚Repères‘ geführt. In dem Zitat des Papers wird zudem angenommen, dass es an sich grundsätzlich gar nicht abwegig sei, hier eine eigene Sammlung anzulegen, die Grundlage einer Dauerausstellung sein könne: Sans doute y a-t-il moins d’objets uniques, d’œuvres d’art, mais des collections très riches et émouvantes (gravures du XIXe siècle, photos, films, souvenirs de famille, journaux, documents administratifs, musiques et sons, œuvres d’art méconnues, documents d’époque, journaux, récits de vie, objets emblématiques de la vie quotidienne, etc.) peuvent être constituées sans trop de difficultés. Sans avoir à puiser dans des collections existantes, il
Vgl. Toubon, Rapport au premier ministre. Mission de préfiguration du Centre de ressources et de mémoire de l’immigration, S. 178. 182 Vgl. ebd. S. 181. 181
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semble qu’il y ait beaucoup de « matière première ». Les collections se constitueront progressivement, et les appels à collecte pourront, dès avant l’ouverture du lieu, constituer le « matériau de base » du Centre.183
Perspektivisch schien dabei von Interesse, dass man sich in der Folge vorerst für die Bezeichnung ‚Cité nationale de l’histoire de l’immigration‘ entschieden hatte. Dies wurde vor allem konzeptuell gerechtfertigt über die vorgesehene Multifunktionalität des Zentrums. Zudem führte man immer noch die Kritik am ‚Museum‘ als konservativem Hort der Kultur an, der viele Besucher abschrecken und das Thema ‚langweilig‘ erscheinen lassen könnte. Jedoch wurde die Institution dann aber 2013, trotz ihrer nach wie vor alternativ-lebendig-multifunktionellen Ausrichtung, in ‚Musée nationale de l’histoire de l’immigration‘ umbenannt. Sie wurde damit offiziell in den Kanon der großen nationalen Museen aufgenommen. Diese Wende lässt die Vermutung zu, dass die vorherige bewusste Entscheidung gegen ‚Musée‘ und für ‚Cité‘ weniger konzeptuelle Gründe hatte, als vielmehr vor allem in der bereits geschilderten Ablehnung vonseiten der Direction des musées de France (DMF) begründet lag. Schließlich hatte die Institution nun, sieben Jahre nach ihrer Eröffnung, das Kriterium der DMF – eine feste Sammlung – gleich in mehrererlei Hinsicht erfüllt: Es besaß nun eine Sammlung moderner Kunst, eine Sammlung von Alltagsobjekten und Dokumenten zur Immigration sowie auch ein audiovisuelles Archiv. Neben der Frage nach dem Charakter der Institution und dem Grad ihrer musealen Prägung wurde bei diesem Kolloquium auch das Thema des Ortes kontrovers diskutiert: Nicht zuletzt die Präsenz von Pascal Blanchard und Nicolas Bancel, die sich schon zuvor, während der Planungstreffen, gegen die Nutzung des Palais de la Porte Dorée eingesetzt hatten, wurde hier deutlich, dass auch andere Gruppen, wie teilweise Vertreter der Vereine, diesen Ort als ungeeignet empfanden. Zwar war bereits sehr früh im wissenschaftlichen Beirat geäußert worden, dass es sich um einen nahezu idealen Ort handele, was aber angesichts der Vergangenheit des Palais nicht alle Akteure so sahen. Vordergründig passte der Palast ganz offensichtlich gut zu den sowohl vom Forum als auch von Conseil scientifique geäußerten Kriterien: Es handelte sich um einen historischen, prestigeträchtigen Ort in Paris, der entsprechend groß und in das Viertel integriert war sowie eine gute infrastrukturelle Anbindung genoss. Zudem war er mit der Schließung des MAAO ab 2003 für das neue Zentrum vakant und wurde von der Stadt Paris verwaltet, womit er über die öffentliche Hand zugänglich war. Der Punkt an dem hier jedoch Bancel und Blanchard, aber auch die Akteure der Vereine mit ihrer Kritik ansetzten, war die ‚koloniale Vergangenheit‘ des Palastes. Er wurde zwar in den Protokollen und Diskussionen durchgängig neutral als ‚Palais de la PorPaper zur Mission de préfiguration du centre de ressources et de mémoire de l’immigration, Gip ADRI, Leur histoire est notre histoire. La Place des immigrés dans la construction de la France, Colloque des 28 et 29 novembre 2003 à Bibliothèque nationale de France. 183
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te Dorée‘ bezeichnet. Vor diesem Hintergrund wird der Versuch Françoise Cachins‘ verständlich, die Vergangenheit des Gebäudes zu negieren: Sie behauptete in der Diskussion um den Ort, dass der Palais niemals ein Musée des Colonies gewesen sei. Viel schwerer noch als diese Vergangenheit schien dabei aber zu wiegen, dass das Gebäude des Palais visuell durchdrungen war von seinem kolonialen Erbe: Die bereits im ersten Teil beschriebenen Fresken und Reliefs ließen daran keinen Zweifel aufkommen. Pascal Blanchard hatte bereits im Jahr 2000 anlässlich der bereits bekanntgegebenen Schließung des MAAO einen Artikel veröffentlicht, der eine Umnutzung des Palais de la Porte Dorée als Kolonialmuseum vorschlug.184 Er sah mit einem solchen Museum die Möglichkeit, die immer noch nicht breitenwirksam aufgearbeitete Kolonialgeschichte Frankreichs zu thematisieren und kritisch aufklärerisch an ein breites Publikum zu vermitteln. Besonders die Weigerung vonseiten des Staates, dieses ‚dunkle Kapitel‘ der französischen Geschichte anzugehen, war für Blanchard ein Hindernis für eine solchen Aufarbeitung. Dabei verwies er auf die Situation in den Banlieues und den Identitätskonflikt vieler Einwanderer aus den DOM-TOM-Staaten, die zeigten, wie das unverarbeitete Tabu der Kolonialgeschichte bis heute die französische Gesellschaft belaste und wie sehr ein solcher ‚lieu par excellence de mémoire et de l’histoire coloniale française‘ nötig wäre.185 Er griff diese Idee eines Kolonialmuseums in der Diskussion des Kolloquiums wieder auf und verfasste im Nachgang einen kritischen Artikel, der am 03. Dezember 2003 in L’Humanité veröffentlicht wurde: Installer le futur centre dans l’ex-musée des Colonies, vestige de l’Exposition coloniale internationale de 1931, c’est résumer l’histoire de l’immigration à ce passé et, effacer pour les générations futures la possibilité de mettre en place, un jour (certes lointain !), dans ce lieu, un musée des colonisations. Enfin, c’est marquer d’une façon indélébile l’histoire de l’immigration dans un lieu à forte identité. Car, l’histoire du Musée de la porte Dorée […] souligne amplement son inscription dans la mémoire coloniale. Soixante-quinze ans après le début de sa construction, ce lieu a conservé les traces et l’identité de ces origines, celles de l’empire colonial.186
Gerade wenn, was sich bereits in den vorherigen Treffen der Planungsgruppen und den Diskussionen angedeutet hatte, die Rapatriés und die Bewohner der DOM-TOM keinen bzw. nur einen marginalen Platz in der neuen Institution bekommen sollten, schien die Wahl dieses Ortes umso unpassender: für Blanchard stand außer Frage, dass ein solcher ‚Lieu de mémoire‘ der französischen Kolonialgeschichte nur eine Institution beherbergen könne, die die Kolonialgeschichte zumindest mitbehandeln sollte bzw. musste. Solange dies nicht gegeben war, stellte die Unterbringung des Zentrums zur Immigrationsgeschichte im alten Kolonialpalast für Blanchard eine unzulässige 184 185 186
Vgl. Blanchard, Un musée pour la France coloniale. Vgl. ebd. Blanchard, Musée des immigrations ou Musée des colonies?
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Belastung des Themas Immigration mit dem Thema des Kolonialismus dar. Völlig unbeachtet schien bei dieser Kritik geblieben zu sein, dass ein anderer Akteur, Laurent Gervereau, der die Ausstellung ‚Toute la France‘ kuratiert hatte und auch an den Planungen innerhalb des Forums beteiligt gewesen war, bereits viel früher ein ‚versöhnlicheres‘ Konzept für den Palais de la Porte Dorée entwickelt hatte: eine „Maison des cultures métisses, liant colonisation et immigration“, das also beide Themen gleichermaßen beherbergen sollte.187 Eine solche Konzeption fand hier keine Beachtung und wurde gar nicht erst als Option formuliert. Trotz der Unklarheiten und der Kritik bezüglich der Ortswahl wurde diese ähnlich wie bereits in den vorherigen Planungsgruppen auch von außen als gesetzt wahrgenommen: Am 01. Dezember 2003 wurde in Le Monde in Reaktion auf das Kolloquium ein Artikel veröffentlicht, der den Palais de la Porte Dorée als mehr oder weniger beschlossene Sache betrachtete. Man sei sich zwar nicht einmal über den Namen der neuen Einrichtung klar, wobei der Artikel selbst im Titel von einem ‚Musée de l’immigration‘ spricht, aber der Ort sei eindeutig.188 Einige Akteure der migrantischen Vereine hatten sich auch gegen diese Wahl gestellt und des Weiteren beklagt, dass sie gerade bei bestimmten Fragen und Problemen nicht zentral in die Entscheidungsfindung einbezogen worden seien, so auch bei der Wahl des Ortes. Damit wird ein weiterer wichtiger Diskussionspunkt des Kolloquiums angesprochen: die Rolle der Vereine und ihre Einbindung in den Planungsprozess. Das bereits zitierte Paper griff diese Problematik auf: Certains représentants associatifs se demandent si vraiment les associations sont et seront associées au travail de la Mission. Il faut en tout cas que le Centre reconnaisse le travail effectué par les associations depuis vingt ans, en particulier dans le domaine de la collecte et de l’archivage. Mais la Mission donne parfois l’impression d’avancer comme si elle était en terrain vierge, et c’est une des raisons pour lesquelles certaines associations ne se sentent pas assez impliquées. Certains vont jusqu’à penser que le schéma présenté relègue les associations au niveau d’usagers du Centre […]189
Diese Kritik bzw. der Zweifel bezüglich der Rolle der Vereine schien umso berechtigter, als dass Nicolas Bancel während der Tagung der Planungsgruppen und auch während des Kolloquiums darauf hinwies, dass es keinen wirklichen Austausch, keine Zusammenarbeit zwischen dem Forum, den Vereinen und dem Conseil scientifique, den wissenschaftlichen Experten, gäbe. Es stellte sich ganz klar aus Sicht der Vereine die Frage, wie ihre Ideen und Forderungen Gehör finden sollten, wenn sie mit dem zweiten zentralen Planungsgremium gar nichts zu tun hatten und offensichtlich bei bestimmten
Vgl. Gervereau, Projet/Rapport „Palais de l’Image“ (Februar 1999). Vgl. Zappi, Sylvia, Le musée de l’immigration pourrait s’installer porte Dorée, à Paris, in: Le Monde (30.11./01.12.2003). 189 Paper zur Mission de préfiguration du centre de ressources et de mémoire de l’immigration / Gip ADRI, Leur histoire est notre histoire’. La Place des immigrés dans la construction de la France. 187 188
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Thematiken gar nicht einbezogen wurden. Ihre Kritik lässt sich umso besser verstehen, wenn man die Diskussion von Telhine und Bartolone von 2000 in der Presse miteinbezieht: Hier hatte sich bereits ‚im Kleinen‘ ein Politiker der Vorleistung der Vereine und zivilgesellschaftlichen Akteure bedient, um die daraus entstandenen Ideen für ein Immigrationsmuseum für sich zu vereinnahmen.190 Aus dem zitierten Text geht klar die Angst hervor, dass die Vorläufer und Ideengeber vergessen würden und der Staat sich dieses Projektes bemächtigen und sie damit zu reinen ‚Nutzern‘ des Zentrums degradieren würde. Für die Vereine war es enorm wichtig, dass ihre Bedeutung, ihre geleistete Arbeit, hier einbezogen und gewürdigt wurde, sodass letztendlich auch die jahrelang fehlende offizielle Anerkennung kompensiert werden konnte und ihre persönlichen Projekte von der Wirkmacht der neuen Institution profitieren konnten. Gleichzeitig hatte man vonseiten der wissenschaftlichen Experten und der Politik gewisse Vorbehalte gegenüber einer zu starken Beteiligung der migrantischen Vereine und ihrer Akteure. Wie es zuvor bereits anhand des Zitats von El Yazami gezeigt wurde, bestand hier die Gefahr darin, dass sie nur die Interessen ihres Vereins und der damit verbundenen Migrantengruppe vertreten wollten und damit der Schaffung einer großen, nationalen, wirkmächtigen Institution zur Anerkennung der Immigration eher entgegenstanden. Sie konnten als ‚kommunitaristische Bedrohung‘ gesehen werden, die das Projekt fragmentieren und ihren eigenen Interessen unterordnen konnten. Trotz dieser potenziellen Gefahr schienen die Vereine allerdings erheblich unter einem Repräsentativitätsund Autoritätsdefizit in der Planungsphase gelitten zu haben. Auch Mary Stevens stellt in ihrer Arbeit die schwierige Stellung der Vereine sowohl in der Planungsphase als auch in der Umsetzungsphase dar.191 Sie bemängelt hier, dass trotz der anfänglichen Bemühungen, möglichst viele Akteure am Forum zu beteiligen, sich diese Arbeitsgruppe am Ende als wenig repräsentativ für die tatsächliche gesamtfranzösische Vereinslandschaft darstellte. Die Auswahl wirkte laut Stevens sehr selektiv und willkürlich und minderte damit die Legitimität und Autorität dieser Gruppe. Trotz der eigentlich vorgesehenen Offenheit des Systems zur Ernennung der Vertreter für das Forum zu Beginn waren am Ende tatsächlich nur bestimmte, nicht offen ernannte Vertreter, die teilweise auch nicht repräsentativ für eine migrantische Gruppe waren, im Conseil scientifique et culturel vertreten. Im Rahmen des Kolloquiums versuchte Toubon hier die Wogen zu glätten und schlug gemischte Arbeitsgruppen vor, was nur teilweise in der Folge umgesetzt wurde: Allerdings wurden auch Vertreter der migrantischen Vereine zu dem Comité de pilotage, das im Anschluss an das Kolloquium gebildet wurde, zugelassen.192
Vgl. u. a. Telhine, Bartolone, mémoire courte et peu courtoise sowie: Bartolone, La mémoire appartient à tous. 191 Vgl. Stevens, Re-membering the Nation: The project for the Cité nationale de l’histoire de l’immigration, S. 177 ff. 192 Vgl. Toubon, Rapport au premier ministre. Mission de préfiguration du Centre de ressources et de mémoire de l’immigration, S. 128. 190
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Das Comité de pilotage – Übergang zur Fertigstellung des Berichts Wie bereits zuvor erwähnt, bildete das Kolloquium eine Scharnierstelle, die von Toubon dazu genutzt wurde, das Projekt in eine neue Phase zu überführen. Das nun mit einer Auswahl der Akteure aus den Planungsgruppen weitergeführte ‚Comité de pilotage‘ sollte die Arbeit der Vorstudie abschließen.193 In dem Comité fanden sich Vertreter aus allen drei Planungsgruppen wieder. Dabei sind alle der vorher genannten Akteure, die bereits seit längerem an diesem Projekt gearbeitet hatten, hier auch wieder vertreten: Philippe Bernard, Driss El Yazami und Rémy Schwartz, Zaïr Kedadouche, Gérard Noiriel, Patrick Weil, Laurent Gervereau, Marie-Claude Blanc-Chaléard, Philippe Dewitte, Geneviève Dreyfus-Armand, Nancy Green, Émile Témime, Christine VolovitchTavarès, Catherine Wihtol de Wenden, Janine Ponty, Mehdi Lallaoui, ebenso Nicolas Bancel.194 Allerdings waren hier beispielsweise Pascal Blanchard oder aber auch Saïd Bouziri und Mohammed Telhine ausgeschieden. Das Auswahlverfahren kann nicht klar rekonstruiert werden, es wird nur deutlich, dass es sich um einen verkleinerten Kreis handelte, wobei einer der Interviewteilnehmer äußert, dass es sicherlich auch politische Gründe für die Auswahl gab.195 Das Comité trat dann ab Dezember 2003 zusammen, um die Vorüberlegungen zu dem geplanten Centre abzuschließen und den Rapport anzufertigen. In diesem Kontext wurde erneut die Bedeutung der politischen Agenda und des ‚kleinen politischen Zeitfensters‘, in dem man mit diesem Projekt operiert, hervorgehoben: Le comité interministériel à l’intégration devant prendre une décision en avril 2004, il faut que nous ayons terminé le 15 février le travail d’élaboration, avant que soient pris les grands arbitrages budgétaires pour l’année 2005. Il nous faut tenir ce calendrier, car nous sommes à un moment critique : nous avons toutes les chances de mettre sur pied ce projet dans les mois et les années qui viennent, mais si nous ratons ce moment, les conditions actuelles, très favorables, risquent de ne pas se reproduire avant longtemps.196
Es wurde hier sehr deutlich reflektiert, dass man sich mit den Planungen an einem kritischen Punkt befand, an dem das Projekt auch schnell wieder ‚beerdigt‘ werden konnte, wenn man nicht den momentanen vorteilhaften politischen Willen, dieses Projekt umzusetzen, für sich nutzte. Wie die Eröffnung im Jahr 2007 unter der Präsidentschaft Sarkozys zeigen sollte, war diese Befürchtung durchaus berechtigt – nach Die folgende Analyse stützt sich auf die im Bericht von Toubon veröffentlichten Protokolle der Planungstreffen, sowie auf die endgültig beschlossene Version des Berichts von 2004 und zwei Protokolle der Planungstreffen des Comité de pilotage von Januar und Februar 2004. 194 Vgl. Toubon, Rapport au premier ministre. Mission de préfiguration du Centre de ressources et de mémoire de l’immigration, S. 128 ff. 195 Vgl. Interview mit DI. 196 Toubon, Rapport au premier ministre. Mission de préfiguration du Centre de ressources et de mémoire de l’immigration, S. 199. 193
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2007 wäre selbst die Planung eines solchen Projekts auf nationaler Ebene mit staatlicher Unterstützung sicherlich nicht mehr möglich gewesen.197 Daher setzte man hier eine klare Agenda fest, mithilfe derer man zügig die Arbeiten abschließen und pünktlich im April/Mai 2004 den Bericht vorlegen konnte. Das nächste Treffen sollte am 13. Januar stattfinden und das letzte, bereits abschließende Treffen wurde auf den 12. Februar gelegt. In der Zeit dazwischen waren die Konsultationen der externen Experten vorgesehen sowie die Museumsbesuche in Frankreich und im Ausland, die allerdings nur von Toubon selbst und dem Leiter des ADRI, Luc Gruson, durchgeführt wurden. Der Arbeitsfokus des Comités wurde von vornherein auf die Ausarbeitung der Inhalte, Methoden und das Programm des zukünftigen Zentrums gelegt. Das Comité ging von einer überraschend klar formulierten Grundlage aus, mit der man mit Blick auf den Rapport weiterarbeiten wollte: Es stand eindeutig im Vordergrund, dass man eine Dauerausstellung erstellen wollte, die es möglich machen sollte, dass die Besucher die essenziellen Elemente und Inhalte in Bezug auf die Immigration in Frankreich vermittelt bekämen.198 Die Unentschlossenheit, ob überhaupt diese recht museale Form der Präsentation gewählt werden sollte, schien überwunden worden zu sein. Offenbar bildete die Umsetzung einer solchen dauerhaften Struktur eine Art Minimalkonsens, der der Vermittlung der Immigrationsgeschichte an ein breites Publikum am nächsten kam und relativ zeitnah umgesetzt werden konnte. Als roter Faden der Dauerausstellung diente die Vorstellung, dass ‚Immigration‘ ein wesentlicher konstitutiver Bestandteil der Nationalgeschichte sei. ‚Immigranten‘ werden hierbei im weitesten Sinn als Menschen und Gruppen definiert, die aus dem Ausland nach Frankreich gekommen sind und dort die französische Staatsbürgerschaft erworben haben. Insgesamt sollte dabei Immigration als ‚fait social total‘ begriffen und dargestellt werden, das mit allen Lebens- und Gesellschaftsbereichen untrennbar verflochten ist. Strukturell sah man eine Art einführenden Prolog vor, der dann in den Teil ‚Repères‘ überführt werden sollte, der chronologisch strukturiert würde. Insgesamt wählte man hier einen stark historischen Zugriff, der sich an den großen Phasierungen der französischen Nationalgeschichte orientierte: ‚Le printemps du peuple (1820–1870), le début de l’ère industrielle (1870–1914), les deux guerres mondiales et l’entre-deuxguerres (1914–1945); les Trente Glorieuses et les décolonisations (1945–1974), la crise de l’emploi, la fermeture des frontières, la mondialisation des flux migratoires (depuis 1974)‘.199 Gleichzeitig sollten hier auch immer wieder aktuelle Themen eingebunden bzw. in Wechselausstellungen behandelt werden. Diese chronologische, vertikale
Vgl. Interview mit KI. Vgl. Toubon, Rapport au premier ministre. Mission de préfiguration du Centre de ressources et de mémoire de l’immigration, S. 199 ff. 199 Diese grobe chronologische Struktur wurde bereits im Planungstreffen des Comité de pilotage am 18.12.2003 festgelegt, Vgl. Toubon, Rapport au premier ministre. Mission de préfiguration du Centre de ressources et de mémoire de l’immigration, S. 200. 197 198
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Struktur sollte parallel von einzelnen Themen transversal durchzogen werden, sodass sich eine vertikale Stützstruktur ergab, die aus dem chronologischen Bezug bestand, und eine transversale Ergänzungsstruktur, die das Grundgerüst mit ‚thematischen Füllungen‘ anreicherte. Daraus sollte auch die Kontinuität bestimmter Themen der Immigration ablesbar werden: beispielsweise Phasen der Willkommenskultur und der Ausgrenzung, politisches Exil und Flucht etc. Der Ansatz des Forums, der eher eine Abkehr von der franko-französischen Perspektive vorsah und Immigration als globales und europäisches Phänomen vermittelt sehen wollte, wurde eindeutig abgelehnt. Für den Topos einer Aufwertung von Immigration über ihren Mehrwert für die französische Nation war eine Orientierung an der Nationalgeschichte unabdingbar. Die Schaffung einer eigenen Objektsammlung wurde als essenziell hervorgehoben: Man wollte man sich aber nicht als ‚Museum der Bildenden Kunst‘ missverstanden wissen, sondern vor allem ein orales Archiv anlegen, Fotos und Filme sammeln, Alltagsobjekte von Migranten. Hier schien allerdings ein schnelles Handeln geboten, da gerade letztere Objektgruppe von Prekarität bedroht war. Daneben waren aber letztendlich alle Objekte und Trägermaterialien, die mit Immigration zu tun hatten, willkommen. Trotzdem wurde bei der Sammlung von Objekten zur Vorsicht gemahnt: Es sollte hier nicht beliebig und ohne Zweck gesammelt werden. Außerdem müsse man vor allem eine ‚Folklorisierung‘ der Immigration vermeiden. Im Laufe der beiden vorab festgelegten Treffen im Januar und Februar 2004 kristallisierten sich dann Präzisierungen rund um die beschriebene Grundlage heraus: Die Grundausrichtung des Centre wurde wieder stärker in den Blick genommen und fünf Hauptziele formuliert: „Reconnaître, Transformer, donner accès, valoriser, ennoblir, préparer l’avenir“.200 Dabei wurde die symbolische Wirkmacht des Centre und seine Aufgabe der Stärkung der ‚cohésion nationale‘, einer gemeinsamen, geteilten Identität, hervorgehoben. Im Gegensatz zur Klarheit bei der Entscheidung für eine Dauerausstellung tauchte hier erneut die Diskussion um das Konzept des Museums auf. Dieses wurde immer noch von vielen Akteuren befürwortet, einige schlugen sogar den Titel ‚Musée de l’histoire et des cultures de l’immigration‘ als konsensfähig vor. Trotzdem wurde konzeptuell daran festgehalten, dass es sich um kein klassisches Museum, sondern um eine Institution mit kulturellen, pädagogischen und sozialen Funktionen und Zielen, einen Ort der Geschichte und der Kultur, handeln solle. Man definierte die Institution vielmehr als ‚espace de rencontres‘, ‚nœud de réseaux‘ und ‚centre de ressources‘. Dabei wurde gegen die Stimmen, die ein Museum befürworteten, erneut angeführt, dass man hier auf keinen Fall eine Musealisierung oder Sakralisierung des
Mission de préfiguration du centre de ressources et de mémoire de l’immigration / Gip ADRI, Leur histoire est notre histoire’, Comité de pilotage. Propositions Janvier 2004, S. 5. Dies wird in den Bericht des Treffens vom 12.02.2005 übernommen: Vgl. Mission de préfiguration du centre de ressources et de mémoire de l’immigration / Gip ADRI, Leur histoire est notre histoire’, Comité de pilotage. Propositions pour la réunion du 12 février 2004. S. 9 f. 200
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Themas Immigration erreichen wolle. Mit der nun zum Kernstück des Projekts avancierten Dauerausstellung wurde der Protest gegen das Konzept ‚Museum‘ allerdings immer unglaubwürdiger, zumal die Idee der Aufwertung zentral war und blieb: Wenn man ein Phänomen öffentlichkeitswirksam aus einer franko-französischen Perspektive aufwerten wollte, bot sich das Museum, als klassischer und respektierter Ort des westlichen Kulturkanons, geradezu an. Das Konzept der Dauerausstellung wurde nun präzisiert: Man sah die Abschnitte ‚Repères‘ und ‚Synthèse‘ vor, die auf ca. 1500 m2 in Form eines Parcours mit einer grundsätzlich chronologischen Orientierung, unter Hinzunahme ergänzender thematischer Schwerpunkte, präsentiert werden sollte. Es sollte grob einen Prolog, chronologische und thematische Sequenzen und abschließend ein Forum für Fragen geben. Die Wahl einer chronologischen Ausrichtung wurde über ihre direkte und klare Struktur, die, nach Ansicht des Comités, ‚nicht lüge‘,201 gerechtfertigt – diese Interpretation des Zeitstrahls erscheint bezeichnend für die Bedeutung, die der Dauerausstellung hier beigemessen wurde: Ihre klar historische Ausrichtung an den großen Eckpfeilern der Nationalgeschichte sollte gewährleisten, dass der Besucher Immigrationsgeschichte in Frankreich ‚korrekt‘ einordnen konnte und keinerlei Uneindeutigkeit bezüglich der historischen Kontextinformationen entstünde. Eine korrekte historische Verortung des Phänomens stellte das Herzstück der Institution und damit die Grundlage für alle anderen Bereiche und Aktivitäten dar. Dabei hatte man fünf große zeitliche Abschnitte gewählt, die alle grundsätzlichen Themen wie Ausreise aus dem Heimatland, Ankunft in Frankreich, Aufnahme, Niederlassung, Integration, Konflikte etc. als binnenstrukturierende Elemente beinhalteten:202 – Prolog ‚Nos ancêtres les Gaulois?‘: Einführung in die Thematik der Immigration in Frankreich; – Séquence 1820–1870; Les bannis et les proscrits; Module: Savoyards, artisans allemands en France; – Séquence 1871–1914; Les pionniers de l’ère industrielle; Module: Le Juifs d’Europe centrale; La Xénophobie ouvrière, Coloniaux durant la Première Guerre mondiale; Les Étrangers durant la Première Guerre mondiale; – Séquence 1919–1939; Les grandes vagues économiques de l’entre-deux-guerres; – Séquence 1914–1945; Au service de la liberté; Module: Les orphelins arméniens après le génocide; Mouvements indépendantistes des colonisés en France;
Vgl. Mission de préfiguration du centre de ressources et de mémoire de l’immigration / Gip ADRI, Leur histoire est notre histoire’, Comité de pilotage. Propositions Janvier 2004, S. 17. 202 Vgl. ebd. S. 21 ff. Vgl. ebenso: Mission de préfiguration du centre de ressources et de mémoire de l’immigration / Gip ADRI, Leur histoire est notre histoire’, Comité de pilotage. Propositions pour la réunion du 12 février 2004. S. 27 ff. 201
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Séquence 1945–1974; Les artisans du miracle économique; Module: Guerre d’Algérie, Rapatriés d’Algérie, Intellectuels et hommes politiques africains, Exilés de la guerre froide, Européens de l’est, Exilés des dictatures latino-américaines; Séquence 1974 à nos jours; la diversité française, Module: Boat people, Réfugiés des années 90: Afghanes, Kurdes, Africains subsahariens, Fuite des cerveaux.
Die thematischen Einheiten, die diese Struktur transversal durchziehen sollten, lauteten:203 1) France, terre d’accueil et terre d’écueils 2) Comment devient-on français? 3) Paris, ville lumière 4) Les femmes dans l’immigration 5) À l’école de la République 6) La France qui gagne 7) La colonisation et la décolonisation 8) Des microcosmes de l’immigration Dieses Grundkonzept der Dauerausstellung sollte durch Wechselausstellungen auf einer Fläche von 1500–2000 m2, die ca. zwei bis drei Mal pro Jahr stattfinden würden, ergänzt werden. Diese könne vom Centre selbst, aber auch von den lokalen Partnern bzw. in Zusammenarbeit mit diesen erstellt werden. Das Forum sollte dabei ein permanenter Teil des Centre werden und damit die Rolle der Vereinsakteure aufgewertet werden. Zusätzlich wurde zum ersten Mal, angesichts der Wahl des Palais de la Porte Dorée als Ort, eine Ausstellung zu dem Gebäude und seiner Geschichte vorgeschlagen. Der Ort wurde auch in dieser vorläufig letzten Diskussionsrunde des Comités zu einem wichtigen Thema: Nicolas Bancel trug in seiner Eigenschaft als Vertreter der Organisation ACHAC erneut die Bedenken gegenüber dem Ort vor und stellte die Forderung, dass, wenn das zukünftige Zentrum hier tatsächlich untergebracht werden sollte, man es mit einer Ausstellung zur Exposition coloniale von 1931 eröffnen müsse, um die Ambiguität der Wahl dieses Ortes offen anzugehen. Diese Ausstellung müsse dann laut Bancel auch einen dauerhaften Platz im Zentrum bekommen. Obwohl es hier beispielsweise vonseiten Marie-Christine Volovitch-Tavarès‘ einige positive Reaktionen auf diesen Ausstellungsvorschlag gab, stellte sich beispielsweise Philippe Bernard kategorisch dagegen: Ein Zentrum für Immigration mit einer Ausstellung zur Vgl. Mission de préfiguration du centre de ressources et de mémoire de l’immigration / Gip ADRI, Leur histoire est notre histoire’, Comité de pilotage. Propositions Janvier 2004, S. 23 f. Vgl. ebenso: Mission de préfiguration du centre de ressources et de mémoire de l’immigration / Gip ADRI, Leur histoire est notre histoire’, Comité de pilotage. Propositions pour la réunion du 12 février 2004. S. 30 f. 203
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Kolonisation zu eröffnen, sei für ihn kontraproduktiv. Trotzdem nahm die Frage nach der Thematisierung der Kolonisation insgesamt diesmal in der Diskussion eine wichtige Rolle ein. U. a. Michel David von der Organisation ‚D’un monde à l’autre‘ forderte eine eigene Sektion zur Kolonisation im Zentrum, was durchaus von weiteren Akteuren unterstützt wurde.204 Zumindest in dem ersten Entwurf zur Dauerausstellung wurde eine explizite thematische Sektion zur Kolonisation/Dekolonisation vorgesehen.205 Toubon konstatierte, dass insgesamt die Präferenz eindeutig beim Palais de la Porte Dorée liege, es jedoch mittlerweile einige Hindernisse gäbe: So wurde dort zwischenzeitlich das Insitut français d’architecture untergebracht, der Ort war also nicht mehr vakant. Toubon sah hier die deutliche Gegnerschaft des Kulturministeriums bezüglich des Projekts. Zudem brachte Toubon selbstkritisch ein, dass der Palais eigentlich viel zu groß sei: Man bräuchte für das Projekt ca. 7000/8000 m2, während der Palais eine Fläche von 15–16000 m2 bereithalte. In diesem Kontext stellte dann El Yazami klar, dass sich für ihn die Ablehnung des Projekts durch das Kulturministerium nicht auf die Ortswahl begrenze, sondern sich insgesamt auf das ganze Konzept beziehe: [Driss El Yazami] [s]ouligne que l’opposition du ministère de la Culture ne porte pas seulement sur le lieu de la Porte Dorée, mais bien sur l’ensemble du projet. C’est la raison pour laquelle il ne faut pas être ambigu sur la question, en disant que l’institution ne sera pas un musée « au sens des grandes institutions muséales dépendant de la Direction des musées de France ». Car il s’agit, au contraire, de sortir l’histoire de l’immigration du domaine des Affaires sociales, étant donné que la dimension économique et sociale ne peut pas être seule à même d’identifier tout ce qui touche à l’immigration. Si on veut « ennoblir », il faut que le projet s’inscrive dans le domaine de la culture.206
El Yazami machte hier auch klar, dass seiner Meinung nach, gerade durch die Verortung des Projekts im Bereich des Kulturministeriums und der Kultur im Allgemeinen, Immigration anders wahrgenommen würde und gleichsam auf einer neuen Ebene anerkannt und dadurch gewürdigt werde. Immigration müsse aus dem Bereich des ‚Sozialen‘ befreit werden und in eine andere gesellschaftliche Dimension, die der Kultur, integriert werden. Eine Vertreterin des Kulturministeriums, Ariane Salmet, führte daraufhin aus, dass das Kulturministerium keine sehr zukunftsorientierte Vision eines ‚Musée de l’histoire de l’immigration‘ habe – wobei sie glaube, dass das Konzept eines Museums hier die wirkliche Legitimation für das Thema bringen würde, obwohl das nach wie vor ohne Sammlung unmöglich umzusetzen sei.207 Die ministerielle Zuge-
Vgl. Toubon, Rapport au premier ministre. Mission de préfiguration du Centre de ressources et de mémoire de l’immigration, S. 207. 205 Vgl. ebd. S. 52 f. 206 Toubon, Rapport au premier ministre. Mission de préfiguration du Centre de ressources et de mémoire de l’immigration, S. 215. 207 Vgl. ebd. 204
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hörigkeit und Trägerschaft kristallisierte sich damit zunehmend als wichtige Frage heraus – jedoch wandte Lydia El Haddad, selbst Museologin, ein, dass für sie dies nicht die essenzielle Frage sei, sondern vielmehr, ob es ein Projekt des Präsidenten sei, das entsprechende Rückendeckung bekäme.208 Diese Diskussion verdeutlicht, wie fragil das Projekt immer noch von den beteiligten Akteuren gesehen wurde und es vermutlich politisch auch tatsächlich war: Die Gegnerschaft des Kulturministeriums, das als wichtiger Partner angesehen wurde, stellte sich als großes Hindernis dar und erschwerte die Vorüberlegungen. Trotz der präsidialen Unterstützung, die nicht zuletzt auch durch Toubon selbst, einen Vertrauten Chiracs, gewährleistet wurde, war dieses Projekt politisch nicht unbedingt anerkannt. Die Idee, dass man über eine Etablierung des Themas in der Kulturlandschaft eine neue Vision von Immigration etablieren könne, stieß sich am Protest der entscheidenden politischen Träger der Kultur. Damit wird hier im Umgang mit dem Projekt der CNHI die Fortschreibung der Marginalisierung und Miserabilisierung von Immigration veranschaulicht. Parallel zu den beiden Sitzungen im Januar und Februar 2004 bereisten Jacques Toubon und Luc Gruson, der Direktor des ADRI, verschiedene Museen: das Musée dauphinois in Grenoble, das Musée d’ethnografie de Neuchâtel in der Schweiz, das jüdische Museum in Berlin sowie das Haus der Geschichte in Berlin, das Musée des civilisations de Québec, Ellis Island in New York und das Tenement museum in New York sowie das Holocaust-Museum in Washington D. C.209 Diese Besuche sollten die bisher gesammelten Ideen und Konzepte ergänzen. Man wollte sich von bereits existierenden Strukturen bezüglich der Inhalte, der Zielsetzung, aber auch der Besucherorientierung und der Programme inspirieren lassen. Laut dem Bericht bot sich hier auch die Gelegenheit, mit weiteren Experten und Spezialisten in diesem Bereich zu sprechen und ‚zweite Meinungen‘ zu dem eigenen Vorhaben einzuholen. Zentral war, dass man das Musée dauphinois einbezog, das als eines der ersten Regionalmuseen, wie bereits zuvor erläutert, Ausstellungen zur lokalen Immigrationsgeschichte konzipierte. Ellis Island blieb dabei ein wichtiges Vorbild und wurde durch sein Äquivalent in Kanada ergänzt. Neu war auch, dass man zwei deutsche und ein schweizerisches Museum einbezog, obwohl es in beiden Ländern kein explizites Immigrationsmuseum gab. Aus den relativ begrenzten Notizen zu den Besuchen, die im Rapport wiedergegeben werden, lässt sich nicht herauslesen, welchen Einfluss diese Anregungen auf die Planungen bzw. den wenig später veröffentlichten Bericht hatten. Allerdings ist bemerkenswert, dass an diesem Punkt keine Mitglieder der Comités beteiligt waren, sondern nur Toubon und Gruson gemeinsam diese Besuche absolvierten. Dies scheint zu bestätigen, dass an bestimmten Punkten der Einfluss der verschiedenen Gruppen recht begrenzt war und Toubon hier mehr oder weniger eigenständig und unabhängig handelte.210 208 209 210
Vgl. ebd. S. 216. Vgl. ebd. S. 231 ff. Vgl. Interview mit DI.
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2.2a.c
Die ADRI als ‚zentrale‘ Trägerstruktur und die Rolle Jacques Toubons
Das vorherige Kapitel deutete bereits an, dass Luc Gruson als Leiter der Agence pour le développement des relations interculturelles (ADRI) von der Planung an zu einer wichtigen Bezugsperson für Jacques Toubon wurde. Dies lag daran, dass, wie bereits mehrfach angerissen, die ADRI, wie von Raffarin gewünscht, zur zentralen Trägerstruktur der Planungsmission und später des Zentrums selbst wurde. Da die Agence pour le développement des relations interculturelles keine neue Struktur war und noch dazu Teil eines spezifischen staatlichen Ansatzes der Immigrationspolitik war, muss hier danach gefragt werden, welches Bild von Immigration sie in das Projekt der CNHI hineintrug und welche Position der Staat gegenüber dem Phänomen Immigration über die Agence einnahm. Dabei wird die These Keyhanis leitend sein, die eine Entpolitisierung des Themas Immigration über seine Verlagerung in den kulturellen Bereich unterstellt – dies kann durchaus auch als Kehrseite der vor allem von den Vereinen propagierten kulturellen Verortung der CNHI gedanklich weitergeführt werden: Mit der Schaffung der CNHI machte der Staat ein Zugeständnis in Richtung Immigranten, das aber keinen tatsächlichen politischen Wert hatte, sondern rein symbolischer Natur war. Natürlich war dies wichtig für die Veränderung gesamtgesellschaftlicher Wahrnehmung, aber es schuf keine veränderte politische Haltung gegenüber illegaler Einwanderung, einer schnelleren Ausstellung von Papieren oder einer Verbesserung der Wohnsituation. Es kann gleichsam als Zugeständnis begriffen werden, das die Regierung davon befreite, sich mit anderen Themen kritisch auseinandersetzen zu müssen, frei nach dem Motto: ‚Jetzt habt ihr eure Cité, was wollt ihr denn noch?‘. Bei der Agence pour le développement des relations interculturelles und ihren Vorläufern handelte es sich um eine verhältnismäßig alte staatliche Struktur, die von Beginn an die Aufgabe hatte, Integration zu fördern und Informationen über Immigration zu sammeln und zu vermitteln. Die Vorgänger-Organisationen der ADRI wurden bereits in den 1970er Jahren im Kontext der politischen Bewusstwerdung der Dauerhaftigkeit des Phänomens Immigration gegründet, was sich u. a. in der Gründung des ersten Staatssekretariats für Immigration niederschlug.211 Die Vorläufer waren der ONPCI (Office national pour la promotion des cultures immigrées) und der CEDIM (Centre d’études et de documentation sur l’immigration), die beide 1976 begründet wurden.212 Sie sollten der Tatsache Rechnung tragen, dass die Immigranten Träger anderer/fremder Kulturen waren, die man mit ihrer dauerhaften Etablierung in Frankreich nicht mehr einfach ignorieren konnte. Der ONPCI bemühte sich daher Vgl. Girardot, Jean-Jacques, Entretien de Luc Gruson: Directeur de l’Agence pour le développement des relations interculturelles, In: Cités, No. 1 (2000). S. 139–151. S. 139. 212 Vgl. Keyhani, Narguesse, Former pour dépolitiser. L’administration des immigrés comme cible de l’action publique, in: Gouvernement et action publique 2012/4 (no. 4). S. 91–114. S. 95. 211
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darum, die Verbindung der Immigranten zu ihrer Heimatkultur aufrechtzuerhalten, zu fördern und ihre Kultur zu vermitteln. Diese Institution produzierte beispielsweise u. a. die Fernsehsendung ‚Mosaïque‘, die die Kultur der Immigranten thematisieren und öffentlichkeitswirksam aufwerten sollte.213 Vordergründig war die Funktion des ONPCI damit, den Dialog zwischen Immigranten und Franzosen sowie die Integration der Immigranten in die französische Gesellschaft zu fördern.214 Der CEDIM wiederum hatte primär die Aufgabe, die Kenntnisse der Immigranten in Bezug auf die französische Verwaltung zu verbessern und ihnen damit einen besseren Zugang zu öffentlichen Stellen zu ermöglichen.215 1977 fusionierten die beiden Organisationen zum ICEI (Information, Culture et Immigration), das fortan ihre Aufgabe fortsetzte, „(de) „favoriser l’intégration des populations immigrés et le développement de relations harmonieuses entre les communautés françaises et étrangères“.216 Das ICEI war institutionell an das Ministerium für Soziales angebunden und sollte vor allem Informationen und Wissen über die fremden Kulturen sammeln und vermitteln, um die Integration von Immigranten zu fördern. Hier räumt Gruson selbst ein, dass es ähnlich wie schon beim ONPCI nicht nur um eine ‚unschuldige‘ Vermittlung ging, sondern auch darum, die Ursprungskulturen in den Einwanderergruppen wach zu halten, damit sie eventuell wieder zurückgehen würden. Dieser Hintergedanke ist vor der, unter der Präsidentschaft VGEs begründeten Initiative zur Rückführung von Immigranten zu verstehen. Damit hatten sowohl die beiden Vorgänger ONPCI und CEDIM, als auch das spätere ICEI eine äußerst ambivalente Rolle inne: Einerseits sollten sie offiziell über den kulturellen Dialog Integration fördern und andererseits eher inoffiziell die ‚Sehnsucht‘ der Einwanderer nach ihrer Heimat und ihrer Kultur schüren, um eine Rückreise wahrscheinlicher zu machen. Gerade diese Ambivalenz führte in der Folge zur Abschaffung des ICEI und zur Gründung der Agence pour le développement des relations interculturelles. Laut Gruson vollzog sich hier der entscheidende Wandel 1981 mit dem Rapport Gaspard. Sowohl in Bezug auf die Immigrationspolitik im Allgemeinen als auch die Politik des ICEI im Speziellen wurde der Fokus nun auf den interkulturellen Dialog gesetzt. Der Bericht wollte stärker die interkulturelle Komponente der französischen Gesellschaft betont wissen und einen echten Dialog zwischen den verschiedenen Kulturen etablieren. Hier waren damit nun nicht mehr die Assimilierung oder die Integration das primäre Ziel – es sollte vielmehr die kulturelle Andersartigkeit durchaus berücksichtigt und respektiert wer-
Vgl. ebd. Vgl. Vie publique, Dossier „Immigration et intégration“, URL: http://www.vie-publique.fr/politiquespubliques/politique-immigration/immigres-cite/ (Zugriff 27.03.2017). 215 Vgl. Keyhani, Former pour dépolitiser. L’administration des immigrés comme cible de l’action publique, S. 95. 216 Girardot, Entretien de Luc Gruson: Directeur de l’Agence pour le développement des relations interculturelles, S. 139. 213 214
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den und in Austausch mit der französischen Kultur treten.217 Unterschiede wurden als fruchtbar und produktiv zur Fortentwicklung der französischen Gesellschaft begriffen. Zudem wollte man Integration nicht mehr nur auf sozialer, sondern auch auf kultureller Ebene realisieren. In diesem Kontext kritisierte der Rapport Gaspard die bisherige Arbeit des ICEI scharf als doppelgesichtig und heimtückisch.218 Infolge des Berichts wurde der ICEI 1982 in ADRI – Agence de développement des relations interculturelles – umbenannt und in die neue vor allem auch kulturell orientierte Integrationspolitik des Rapports eingebunden: Le rapport Gaspard souhaite que la politique culturelle en direction des immigrés se libère « de l’assistanat et du contrôle social ». Pour que la reconnaissance des autres cultures ne signifie pas repli identitaire, le rapport préconise en parallèle le développement des échanges interculturels. Cette nouvelle politique doit privilégier 3 axes d’intervention : – le développement du mouvement associatif (pour lequel L’ADRI devra être mobilisée) – l’encouragement des expressions identitaires, en particulier par le biais de la musique, de la création audio-visuelle, du développement des radios locales et des médias, et enfin par la reconnaissance du culte musulman. – l’aide à la mise en pratique de l’approche interculturelle par les collectivités locales, notamment à travers les financements du FAS.219
Die Agence wurde in der Folge auf zwei funktionalen Säulen aufgebaut: einem Dokumentationszentrum, das Informationen über die verschiedenen Kulturen sammelte, und einem Ausbildungszentrum, das Verwaltungspersonal im Hinblick auf Immigration schulen sollte. Die konkrete Aufgabe der Agence würde es in der Folge sein, durchaus im Sinne ihrer Vorgängerinstitutionen, weiterhin Informationen zur Immigration zu sammeln und zu vermitteln, die der Integration förderlich sein könnten. Zu diesem Zweck sollte die Agence Instrumente der Information selbstständig entwickeln, konzipieren und umsetzen, die sich vor allem an das Verwaltungspersonal und an Staatsbedienstete richteten, die mit dem Phänomen zu tun hatten, sowie für Akteure (migrantischer) Vereine, Sozialarbeiter, aber auch für Unternehmen, die mit Immigration in Kontakt kamen. Besonders die ‚agents de guichet‘ wurden hier als wichtige zu schulende Multiplikatoren begriffen, die entscheidend zum interkulturellen Dialog beitragen konnten.220 Laut Keyhani wird mit der Schaffung erst des ICEI Vgl. Gruson, Luc, Immigration et diversité culturelle: 30 ans d’intégration culturelle des immigrés en France, (novembre 2008), URL: http://luc.gruson.pagesperso-orange.fr/interculturel-Luc-gruson.pdf (Zugriff 27.03.2017). S. 3. 218 Vgl. ebd. S. 4. 219 Gruson, Immigration et diversité culturelle: 30 ans d’intégration culturelle des immigrés en France, (novembre 2008) S. 5. 220 Vgl. Keyhani, Former pour dépolitiser. L’administration des immigrés comme cible de l’action publique, S. 100 ff. 217
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und dann des ADRI die Frage der Integration zu einer Frage des Umgangs mit kulturellen Unterschieden und der Schaffung eines interkulturellen Dialogs.221 Für Keyhani findet mit dieser Entwicklung eine zunehmende Entpolitisierung der Frage der Integration statt: Indem man eine gelungene Integration auf die Ebene der Kultur und der Vermittlung von Kultur (in beide Richtungen) verlagerte, erschien das Thema weniger politisch. Es ging nun nicht mehr um die Fragen nach Familienzusammenführung, Quotenregelungen oder Wohnungsbaupolitik – jetzt war Integration eine Sache des gut geschulten Schalterbeamten, der mit den Migranten in interkulturellen Austausch trat. So kann man auch im Fall der CNHI konstatieren, dass sie einen Teil einer solchen Vermittlungsarbeit übernommen hatte: Sie sollte den Besuchern ein historisch fundiertes, differenziertes Bild der Geschichte der Immigration vermitteln, um so Stereotype abzubauen und ein besseres Miteinander zu ermöglichen. Jedoch waren und sind Probleme wie Rassismus und Diskriminierung sicherlich nicht durch ein solches Vorgehen alleine zu bekämpfen. In der Folge hatte die neu gegründete Agence besonders in den 1980er Jahren mit zunehmender Konkurrenz zu kämpfen: Die Akteure im Feld der Immigration multiplizierten sich, besonders migrantische Vereine erlebten im Zuge der Reform des Gesetzes zur Gründung von migrantischen Vereinen einen Boom. Gleichzeitig hatte die Agence mit finanziellen Problemen zu kämpfen. Bis 1986 erlebt die Agence laut Gruson eine Hochphase, die sich durch ein relativ bedeutendes Budget und eine relativ große Mitarbeiterzahl auszeichnete. Außerdem trug die Fernsehsendung ‚Mosaïque‘, die die Agence übernommen hatte, zum Erfolg der Organisation bei. Allerdings wurde sie 1986 abgesetzt. Im Kontext dieser Maßnahme wurden die personellen und finanziellen Mittel der Agence stark beschnitten, sodass ihr Handlungsspielraum empfindlich eingeschränkt wurde.222 Mit den 1990er Jahren litt die Organisation zunehmend unter dem sich verändernden politischen Diskurs und dem Aufstieg des Front national.223 Die ursprüngliche Zielsetzung und Arbeitsweise schienen ins Leere zu laufen, da der interkulturelle Dialog und die interkulturelle Vermittlung von der politischen Agenda verschwunden waren. In dieser Phase der relativen Bedeutungslosigkeit der ADRI wurde 1995 Luc Gruson ihr Direktor. Drei Jahre später wurde die Agence in einen GIP umgewandelt.224 Sie war nun sowohl an das Ministerium für Arbeit und
Vgl. ebd. S. 97. Vgl. Keyhani, Former pour dépolitiser. L’administration des immigrés comme cible de l’action publique, S. 104. 223 Vgl. Girardot, Entretien de Luc Gruson: Directeur de l’Agence pour le développement des relations interculturelles, S. 141 f. 224 Die juristische Form der ‚Groupement d’intérêt public‘ tauchte in den 1980er Jahren auf und stellte eine neue Kategorie der ‚juristischen Person‘ dar: Sie erlaubte es öffentlichen Gruppen und Vereinen, sich untereinander oder mit Privatpersonen für einen begrenzten Zeitraum zusammenzuschließen, um ein gemeinsames Projekt oder eine Aktivität von allgemeinem, gemeinschaftlichem Interesse auszuüben. Sie unterscheiden sich dabei von den sog. ‚Établissement publics‘. Vgl. URL: http://www.legifrance.gouv. 221 222
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Solidarität, das Ministerium der Stadt, das Wirtschafts- und Finanzministerium, das Innen- und Kulturministerium als auch das FAS angebunden. Es änderte sich formal nichts an ihrer bisherigen Funktion und Zielsetzung, wobei bereits seit 1996 eine Ergänzung der Aufgaben vorgenommen wurde: Zusätzlich sollten jetzt auch vermehrt Netzwerkbildung betrieben und Treffen von verschiedenen Akteuren im Bereich der Integration und der interkulturellen Vermittlung organisiert werden. Insgesamt versuchte die Agence auch nach ihrer personellen und finanziellen Schwächung, durch die Betonung ihres Alleinstellungsmerkmals – dem Ausmaß und der Dichte an Wissen und Informationen über Immigration und migrantische Kulturen in Frankreich – ihre Relevanz zu legitimieren. Besonders diese beiden letzten Punkte – die Kapazität des ADRI als Netzwerk-Generator und seine Informationskompetenz – schienen es als attraktive Trägerstruktur für die zukünftige CNHI qualifiziert zu haben. Zudem führten sie anlässlich ihrer Umwandlung in einen GIP eine Reformulierung ihrer Funktion in Form von sechs Aufgaben durch. Dabei wurde neben den klassischen, bereits benannten Aufgaben auch die Schaffung eines ‚centre de ressources documentaires à vocation nationale sur l’intégration‘ als maßgebliches Ziel formuliert. Die Zeitschrift hommes & migrations Die CNHI übernahm von der Agence pour le développement des relations interculturelles auch die Zeitschrift hommes & migrations. Sie wurde zu einem Vorzeigebeispiel des erweiterten Aufgabenbereichs, den die Cité wahrnehmen und der sie deutlich vom Charakter eines Museums abheben sollte. Mittlerweile gibt es einen Schaukasten zu den Ursprüngen dieser Zeitschrift in der Dauerausstellung der CNHI, da sie in besonderem Maße einerseits ein Stück Immigrationsgeschichte spiegelte und andererseits spezifisch für die nordafrikanische, vor allem algerische Einwanderung stand: Die Zeitschrift verweist auf eine der ältesten zivilgesellschaftlichen Initiativen zur Integration von Immigranten in Frankreich. 1947 hatte Père Ghys, der eine Zeit lang als Geistlicher in Tunesien gearbeitet hatte, bei seiner Rückkehr eine Solidaritätsorganisation für nordafrikanische Einwanderer gegründet: die AMANA (Assistance morale et aide aux Nord-africains).225 Diese hatte die Alphabetisierung der algerischen Arbeitsmigranten, die nach Frankreich kamen, zum Ziel. Gleichzeitig wurde sich Ghys im Laufe seiner Arbeit bewusst, dass die Franzosen über die afrikanischen, arabischen und zudem häufig muslimischen Einwanderer wenig wussten und diese oft stereotyp wahrnahmen. Daher sah er es als zusätzliche Aufgabe an, die Franzosen aufzuklären fr/Droit-francais/Guide-de-legistique/V.-Schemas-logiques-et-cas-pratiques/5.2.-Cas-pratiques/5.2.4.Groupements-d-interet-public (Zugriff 12.02.2013). 225 Vgl. Dewitte, Philippe, 1950–2000. Des Cahiers nord-africains à hommes & migrations, in: hommes & migrations No. 1257 (sep./oct. 2005). S. 62–68. S. 62.
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und zu informieren und so zwischen den beiden Gruppen zu vermitteln. Er trug zur Gründung der Études sociales nord-africaines bei, die zwei Zeitschriften herausgab: die Documents nord-africains und die Cahiers nords-africains. Während Erstere bereits erschienene Artikel und Studien zum Thema zusammentrug, veröffentlichte Letztere noch nicht veröffentlichte neue Studien und Ansätze der Forschung.226 Mit der Ankunft von immer neuen Einwanderungsgruppen vor allem ab den 1960er Jahren weitete man die Themenschwerpunkte der beiden Zeitschriften aus: Sie wurden daher konsequent in hommes & migrations documents und hommes & migrations études umbenannt. Mit dem Boom der Immigrationsfrage in der öffentlichen und politischen Debatte in den 1980er Jahren wurde schließlich die Zweiteilung der Formate aufgegeben. Ab 1987 wurden nur noch neue, unveröffentlichte Studien in hommes & migrations publiziert.227 1990 wurde Philippe Dewitte ihr neuer Chefredakteur. Der ursprüngliche Gründer Ghys starb kurz darauf. Allerdings geriet die Zeitschrift während dieser Zeit zunehmend in Schwierigkeiten: Sie musste daher zuerst von der Organisation AMANA gelöst werden und schließlich an eine neue Trägerinstitution gebunden werden. Daher wurde die Zeitschrift schließlich dem neugegründeten GIP ADRI zugeteilt. Beide Elemente, des GIP ADRI und die Zeitschrift hommes & migrations, wurden in der Folge zu wichtigen Pfeilern des zukünftigen Museums für Immigration. Beide waren darüber hinaus wichtige Rekrutierungspole für die Planungsgruppen und das Comité de pilotage, wie auch aus den Interviews mit den Akteuren deutlich wird. Dabei wurden sowohl Luc Gruson als Leiter der ADRI als auch Philippe Dewitte als Chefredakteur von hommes & migrations zu zentralen Akteuren der Planung und Umsetzung des zukünftigen Zentrums: Mais le GIP Adri avait une durée de vie programmée de cinq ans. En 2002, soucieux de proposer une nouvelle dynamique pour l’agence, je [Luc Gruson] fus approché par le gouvernement pour participer à la création d’un « Centre de ressources et de mémoire de l’immigration ». D’abord circonspect, Philippe [Dewitte] comprit très vite l’enjeu d’un tel projet. Dès que Jacques Toubon eut pris la présidence de la mission de préfiguration, il accepta dans notre petite cellule d’assurer le secrétariat et l’animation du conseil scientifique.228
Indem man die staatliche Institution der Agence pour le développement des relations interculturelles als Trägerstruktur des neuen Zentrums für die Anerkennung der Immigration in Frankreich vorsah, wurde das Projekt einerseits politisch legitimiert und andererseits in den staatlichen Willen zur Förderung von Integration und interkultu-
Vgl. ebd. S. 63. Vgl. Herrero, Christiane, Une revue, des institutions et des hommes, in: hommes & migrations No. 1257 (sep./oct. 2005). S. 69–72. S. 70. 228 Gruson, Luc, Il „mélangeait les regards“, in: hommes & migrations No. 1257 (sep./oct. 2005). S. 16–20. S. 19. 226 227
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rellem Dialog eingebettet. Zudem konnte man der GIP ADRI, die auf eine Dauer von fünf Jahren bei ihrer Gründung begrenzt worden war, in ein neues Projekt überführen, ohne sie auflösen zu müssen. Da, wie bereits erwähnt, das ‚official backing‘ für ein solches Projekt in Frankreich eine fundamentale Rolle spielt, war dies eine wichtige Entscheidung Raffarins. Eine zweite wichtige, fundamentale Entscheidung war die Auswahl Jacques Toubons als politischem Mentor des Projekts: […] je pense que ce lieu a réussi à émerger grâce à la volonté d’un homme qui était Jacques Toubon et qui pouvait s’adresser directement au président de la République sinon ce lieu n’aurait jamais exister – ça c’est un point important, donc on ne peut retirer ça à Jacques Toubon mais ça a été à la fois la force du projet et en même temps ça a été l’écueil du projet c’est-à-dire qu’aucun des ministères ne voulaient […] porter ce lieu et comme aucun des ministères ne voulaient porter ce lieu […] il a dû passer en force […]229
Die Rolle Jacques Toubons Jacques Toubon gilt als essenzieller personeller Vektor bei der tatsächlichen Umsetzung des Projekts. Das lässt sich u. a. als überraschend konsensfähige Wahrnehmung aus allen Interviews herauslesen. Ohne Toubon, so sind sich alle interviewten Akteure einig, wäre das Projekt nicht zustande gekommen.230 Diese Bewertung der Rolle Toubons überrascht, besonders weil er ein rechts-liberaler, konservativer Politiker ist, der, wie das Zitat es bestätigt, ein enger Vertrauter Chiracs war. Wie es die meisten der Akteure bestätigen, war dies auch der Grund für eine anfängliche Skepsis gegenüber seiner Person, sowohl vonseiten der wissenschaftlichen Experten als auch vonseiten der Vereine: Sie standen politisch überwiegend links. Doch dieser politische Graben, der sich zwischen ihm und den konsultierten Gruppen auftat, wurde relativ schnell überwunden, was offensichtlich vor allem an dem von allen Akteuren wahrgenommenen persönlichen Engagement Toubons lag. Wie ein interviewter Akteur formuliert, sah er den Mehrwert und das Engagement Toubons vor allem darin, dass ‚er sich nicht einfach für den Bericht bezahlen ließ und ging‘, sondern das Projekt auch darüber hinaus weiterführte und begleitete.231 Allerdings hatte Toubon in seiner vorherigen politischen Laufbahn kein besonderes Interesse an oder Erfahrung im Bereich Immigration vorzuweisen. Trotzdem begriff er aus Sicht der interviewten Akteure die Relevanz und Aktualität des Themas und war sensibel für das enge politische Zeitfenster, in dem das Projekt realisiert werden musste: Interview mit KI. Vgl. Interview mit PC, Interview mit BC (09. Februar 2015/Dauer: 38 min. 16 sec.), Interview mit DI (15. Mai 2015/Dauer: 39 min. 54 sec.). 231 Vgl. Interview mit HP (15. Mai 2015/Dauer: 52 min. 25 sec.). 229 230
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Jacques Toubon qui est un homme politique qui avait une sorte d’intelligence de l’action que moi j’avais surement pas à l’époque c’est qu’il avait compris l’immigration, c’est un sujet qui fait pas consensus et qu’en fait qu’il fallait se dépêcher d’avancer parce que si quelque part, si on prenait pas les gens de vitesse ça peut comme une voiture sur un chemin boueux […] et en fait il y a plein de projets qui n’aboutissent pas parce qu’il n’y a pas une volonté assez forte de les faire avancer […].232
Immigration war und ist politisch kein konsensfähiges Thema – es ist daher nicht verwunderlich, dass von institutioneller Seite vieles dafür getan wurde, dass es genauso marginal blieb, wie man es gerne gehabt hätte. Das Konfliktpotenzial dieses Themas, seine Fähigkeit, die französische Identität und ihr Verhältnis zum ‚Fremden‘, ‚Anderen‘ in Frage zu stellen, machte es zu einer Bedrohung, auch im kulturellen Bereich. Es bedurfte daher eines Politikers, der bereit war, sich persönlich für dieses Projekt einzusetzen, und der gute Verbindungen ‚bis nach ganz oben‘ hatte – wider der Erwartung vieler erfüllte Toubon diese Kriterien beide. Seine politische Karriere führte Toubon bis in die Ämter des Kulturministers von 1993 bis 1995 und danach bis 1997 in das des Justizministers. Seine Freundschaft mit Chirac stammte allerdings bereits aus seiner Zeit als Abgeordneter der Stadt Paris und dauerte über seine Zeit als Generalsekretär der RPR bis zur Betrauung mit der Vorstudie für das neue Zentrum an. Mit seiner politischen Erfahrung verkörperte er eine gewisse politische Autorität und konnte auf ein umfassendes Netzwerk zugreifen, was vor allem im Bereich der Kultur für dieses Projekt von Vorteil gewesen zu sein scheint. In den Interviews taucht immer wieder die Feststellung auf, dass Toubon von seinen Kontakten aus seiner Zeit als Kulturminister profitieren konnte und darüber hinaus durch sein politisches Standing effektiver Entscheidungen, wie zum Beispiel die Wahl des Palais de la Porte Dorée als Ort, durchsetzen konnte.233 Allerdings schien diese Autorität und Vernetztheit durchaus aus Sicht anderer Akteure auch Nachteile zu haben, so wird beispielsweise kritisiert, dass er zunehmend die Konservatoren der Direction des musées de France einbezog und durch ihre Ansprüche und Vorstellungen Konflikte entstanden seien.234 Ebenso stellte Toubon den Szenografen ein, der schlussendlich die Dauerausstellung konzipierte und damit in Konflikt mit dem wissenschaftlichen Beirat geriet.235 Einige der interviewten Akteure lassen anklingen, dass Toubon gerade in Fragen der Ortswahl vor allem eigenverantwortlich handelte und diese Dinge am Ende alleine entschied. Trotzdem rechnete man ihm hoch an, dass er das Projekt insgesamt erstaunlich offen gestaltete und ein „système collégiale pour co-construire le projet en mode participa-
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Interview mit CC. Vgl. Interview mit DI. Vgl. Interview mit PC. Vgl. Interview mit HE.
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tif “ entwarf.236 Dabei schätzte man besonders sein ‚offenes Ohr‘ für die Belange der einzelnen Gruppen und Akteure, die er teilweise persönlich ansprach und zur Teilnahme animierte und unterstützte.237 Besonders fiel auch sein Wille zur Integration der Vereine und anderer Akteure in das Projekt auf: J’ai [Toubon] un message et un seul : je considère que le centre de ressources n’aura de réalité, de chance, de réussite que s’il est fondé sur le partenariat. Et en particulier, le partenariat avec tous ceux qui représentent l’immigration sur les plans culturel ou économique, tous les organismes, grands ou petits, qui ont pris des initiatives, dont il n’est pas question de se priver. Notre objectif est fédérateur.238
Diese offene Herangehensweise an das Projekt, die sich bereits in der Planungsphase manifestierte, war bei nationalen staatlichen Kulturprojekten nicht unbedingt eine Selbstverständlichkeit, vor allem wenn man zum Vergleich das zweite Großprojekt Chiracs, das MQB oder aber die Projekte seines Vorgängers Mitterrand heranzieht. Diesem Vorgehen wird auch im offiziellen Bericht, der im Mai 2004 veröffentlicht wurde, Rechnung getragen. Es gab von präsidentieller Seite keine auffälligen Einmischungsversuche: Chirac trat hier in der Planungsphase gar nicht in Erscheinung und überließ das Terrain Toubon. Insgesamt entsprach die Integration der ADRI in das Projekt einer Bestätigung der Tendenz zur Entpolitisierung des Themas Immigration durch seine Verschiebung in den kulturellen Bereich. Von staatlicher Seite wollte man hier den Willen affirmieren, das Phänomen offiziell anzuerkennen. Gleichzeitig wollte man aber seine politische Brisanz entschärfen, indem man das Projekt als ein kulturelles formulierte. Parallel konnte man mit der Integration der ADRI in das neue Projekt selbiges mit älteren zivilgesellschaftlichen, kulturellen und sozialen Ansätzen zur Integration, wie der AMANA bzw. ihrer Publikation, der Zeitschrift hommes & migrations, verbinden und diese damit anerkennen. So konnte sich der Staat gleichsam als wohlwollend und dieses Erbe der Immigration wertschätzend inszenieren. Toubon selbst, der als Leiter der Umsetzung des Projekts berufen worden war, stellte sich bei diesem Vorhaben als ungewöhnlicher Akteur dar. Sein persönliches Engagement für das Projekt, seine Bereitschaft, direkt im politischen Feld zu intervenieren und das Projekt zu verteidigen, war für alle Akteure eine Überraschung. Dieses Verhalten trug maßgeblich zur tatsächlichen Umsetzung des Projekts bei.
Vgl. Interview mit CC. Vgl. Interview mit BC. Fasild, Entrevue: „Un projet réalisé pour être réalisable“, in: La Lettre „Mémoire de l’immigration“ no. 60 (décembre 2003). S. 6–7. S. 7. 236 237 238
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2.2a.d Der Rapport Der 2004 endgültig fertiggestellte Bericht239 für die Regierung orientierte sich stark an dem Bericht von El Yazami von 2001 – Toubon stellt bereits in der Einleitung den Bericht explizit in den Kontext des ursprünglichen Bestrebens Noiriels, der AMHIGruppe der 1990er Jahre und migrantischer Organisationen wie Génériques, Immigration als konstitutiven Bestandteil der eignen nationalen Identitätskonstruktion zu begreifen. Dies wird mit der langen und umfangreichen Tradition der Einwanderung nach Frankreich begründet. Dabei wird dieser veränderte, wertschätzende Blick auf Immigration immer in Bezug auf das Konzept der Nation gedacht: Aus dieser veränderten Perspektive könne ein neuer sozialer und nationaler ‚Kitt‘ entstehen, der die französische Identität stärken sollte. Toubon verweist auf die bereits geleisteten Vorarbeiten und definiert die avisierte zukünftige Institution folgendermaßen: [L]a dénomination [de la nouvelle institution culturelle] […] pourrait être : Musée de l’histoire et des cultures de l’immigration en France. Il [le programme du centre] vise à créer un centre d’histoire et de mémoire vivante, à vocation culturelle, installé dans un lieu central à identité forte, emblématique et chargé d’histoire. Largement ouvert au grand public et aux scolaires, conçu comme un point de repère national, mais également comme un nœud de réseaux et d’acteurs, il devra fédérer autour de lui les initiatives déjà existantes pour les rendre accessibles à l’ensemble de la population française. L’institution sera donc constituée d’un équipement central prestigieux et d’un réseau d’acteurs concourant à l’appropriation collective de ce projet.240
Toubon spricht sich also hier, trotz der vorherigen Diskussionen und der Konflikte mit der DMF, überraschend eindeutig für ein Museum aus. Offensichtlich war es aus seiner Perspektive für die Legitimation und Vermittelbarkeit der Institution unabdingbar, dass sie ein Museum sein müsse. Darüber hinaus betonte er stark die kulturelle Perspektive auf Immigration, die zuvor vor allem vom Forum eingebracht worden war. Hier schien man sich also auf die emanzipatorische Kraft, die diese Einordnung haben konnte, geeinigt zu haben. Auch der Netzwerkcharakter und die Funktion als Förder-Pol für andere Initiativen wurden hier besonders hervorgehoben, sodass die migrantischen Vereine trotz der anfänglich ambivalenten Stellung weiterhin als wichtiger Partner erschienen. Unter all diesen Aspekten wurde die fundamentale Rolle des Ortes hervorgehoben, der offenbar als ‚Zünglein an der Waage‘ für das Gelingen des Projekts gesehen wurde. Im darauffolgenden Abschnitt verdeutlicht der Bericht die Eckpfeiler des Projekts. Ganz grundsätzlich orientierte man sich bei der Gestaltung der neuen Institution Toubon, Rapport au premier ministre. Mission de préfiguration du Centre de ressources et de mémoire de l’immigration. 240 Ebd. S. 9 f. 239
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daran, dass Immigration aus dem Bereich der sozialen Problematisierung und der politischen Polemiken herausgehoben werden müsse. Man wollte das Thema daher ausschließlich aus historisch-kultureller Sicht darstellen und es als legitimen Teil der französischen Geschichte etablieren. Damit sollte es eine starke symbolische Signalwirkung verliehen bekommen. Daneben wird vorgesehen, dass das Établissement public, das ab jetzt die erste konkrete Realisierungsphase des Projekts übernehmen würde, sich an folgenden Leitlinien orientieren sollte: Stärkung der nationalen Kohäsion, der Kultur sowie der Bildung und Erziehung. Mit der nationalen Kohäsion tauchte das politische Ansinnen Raffarins und Chiracs wieder auf, schließlich hatten sie, insbesondere Raffarin, explizit als Funktion für diese Institution vorgesehen, dass sie dazu beitragen solle, die nationale Kohäsion, die zunehmend durch den Diskurs des Front national, aber auch durch Kommunitarismus bedroht zu sein schien, wiederherzustellen. Dies solle über das Wecken von ‚Stolz‘ beim Besucher gewährleistet werden: Einerseits sollte sich der Besucher stolz fühlen, Franzose zu sein, andererseits sollte auch der Immigrant sich stolz fühlen können, einen Beitrag zur Nation geleistet zu haben, ein Teil von ihr geworden zu sein. Dieses Konzept passte zur Betonung der Notwendigkeit einer affektiven Bindung des Besuchers, die zuvor in beiden Gruppen, sowohl dem wissenschaftlichen Beirat als auch dem Forum, diskutiert worden war. Die zentrale Bezugsgröße ist die Nation: Es wird hier noch stärker als zuvor deutlich, dass die Stiftung eines einheitlichen, wenn auch in Teilen heterogenen, nationalen Ganzen zur zentralen Aufgabe der Institution gemacht wurde. Dabei wird eine kulturelle Vision des Phänomens bevorzugt, was letztendlich sicherlich auch eine Thematisierung der als positiv zu wertenden Beiträge der Migranten zur Nation erleichtert. Dieser Ansatz war von den Ursprüngen des Projekts her in den 1980/1990er Jahren nachvollziehbar, erschwerte aber indessen die Aufgabe der CNHI – nimmt man die zweite essenzielle Funktion der Veränderung der Wahrnehmung hinzu. So wurde hier ein fundamentaler Interessenskonflikt bereits in der Planung in die Identität der Institution eingeschrieben. Die Orientierung an einem kulturellen Zugriff war vor allem ein Anliegen der Vereine im Forum gewesen und entsprach den Erfahrungen aus den vorherigen, bereits vorgestellten Immigrationsausstellungen. Insbesondere ‚Toute la France‘ demonstrierte, wie über die Betonung kultureller Beiträge, Immigration in einer positiven, nicht miserabilistischen Vision präsentiert werden konnte. Die kulturelle Ausrichtung sollte sich sowohl im Namen der Institution als auch in der Ortswahl sowie der Qualität des Programms widerspiegeln. Aus diesem Fokus auf Kultur heraus wurde einerseits die Unterstellung der Institution unter das Kulturministerium befürwortet und andererseits das Konzept des Museums erneut als besonders relevant präsentiert, wobei ganz klar von einem modernen, demokratischen Verständnis des Konzepts ausgegangen wurde. Dies war offenbar ein Versuch, die Kritiker des Konzepts ‚Museum‘ milde zu stimmen und die Idee eines multifunktionellen Zentrums mit der eines Museums zu versöhnen. Der folgende Haupttext des Berichts, der die Umsetzung präzisierte, ist in
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drei Abschnitte unterteilt, die jeweils die Methode, Angebot und Inhalt sowie das Programm gesondert thematisieren. Angesichts der Tatsache, dass dieser Text die Grundlage für die spätere Umsetzung der CNHI bildete, soll er im Folgenden detailliert besprochen und seine Implikationen für die Realisierung herausgearbeitet werden. Methode Im Abschnitt der ‚Methode‘241 wird die Einmaligkeit dieser neuen Institution betont, die laut den Autoren darin begründet liege, dass hier eine zentrale, nationale Operationsbasis, die in Paris an einem prestigeträchtigen Ort platziert werde, mit einem Netzwerk aus lokalen Akteuren, die zumeist aus dem migrantischen Milieu kämen, verbunden sei und komplementär funktioniere. Dabei wird die ‚starke Identität‘, die der Ort in Paris mitbringen sollte, betont: „Un consensus assez fort se dégage sur le fait que le musée ne peut atteindre son objectif symbolique qu’en étant implanté dans un monument de la capitale, au contenu historique et patrimonial fort.“242 Seine symbolische Funktion könne die zukünftige Institution überhaupt nur an einem solchen Ort, der bereits eine gewisse symbolische, erinnerungskulturelle Aufladung mitbringe, erfüllen. Diese Entscheidung war nun der Argumentation El Yazamis und Schwartz‘ diametral entgegengesetzt: Warnten letztere vor einer erinnerungstechnischen Überfrachtung des Themas Immigration durch die Belastung durch ein bereits vor Ort präsentes Thema, so sieht man nun diese Aufladung durch eine bereits präsente, ältere Erinnerungsschicht als unabdingbare Voraussetzung für eine entsprechende Wirkmacht der zukünftigen Institution an. Es wird offensichtlich davon ausgegangen, dass die Legitimität einer solchen Institution nur über die Implantierung in einen bereits öffentlich akzeptierten, in der Pariser Kulturlandschaft etablierten Ort herstellbar sei: Ein illegitimes Thema, Immigration, soll an einem legitimen Ort untergebracht werden. Nicht zuletzt müsse es sich um einen Ort mit genug Räumlichkeiten für eine möglichst polyvalente Nutzung handeln. Die polyvalente Nutzung beruht auf den unterschiedlichen Aktivitäten, die hier realisiert werden sollen und die im Wesentlichen den in der Planungsphase geäußerten Ideen und getroffenen Entscheidungen entsprechen. Damit sollte deutlich der über ein ‚klassisches Museum‘ hinausgehende Charakter der Institution betont werden. Der Ort bzw. sogar das konkrete Gebäude spielte hier insgesamt also eine ungewöhnlich große und aufgeladene Rolle. In Bezug auf den Charakter und die Funktion des ‚Museums‘ hielt man an dem doppelten Ausstellungskonzept fest: So waren zwei bis drei Mal pro Jahr Wechselausstellungen im Museum auf einer Fläche von 1500–2000 m2 und auch außerhalb des Vgl. Toubon, Rapport au premier ministre. Mission de préfiguration du Centre de ressources et de mémoire de l’immigration, Première partie – La méthode, S. 23–48. 242 Ebd. S. 23. 241
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Museums in Zusammenarbeit mit den Akteuren des Netzwerkes vorgesehen. Daneben sollte es in der Institution selbst eine Dauerausstellung auf ca. 1500 m2 Fläche in Form eines Parcours geben. Sie sollte sich an einer chronologischen Grundstruktur orientieren sowie einzelnen thematischen Einstiegen. Der Schwerpunkt in der Darstellung lag dabei auf audiovisuellen Medien und Materialien. Zudem wurde anderen, alternativen Veranstaltungen für das Publikum wie beispielsweise Kolloquien, Foren etc. eine relativ große Bedeutung beigemessen. Parallel zu dieser starken musealen Prägung hielt man aber weiter an der Funktion eines ‚Centre de ressource‘ fest, was sich beispielsweise in der Anlage einer hauseigenen Publikationstätigkeit äußerte. Daher wurde beispielsweise auch eine Mediathek vorgesehen, die zwar primär als virtueller Raum gedacht war, aber auch vor Ort ca. 50 Besucher aufnehmen können sollte. Die Ideen bezüglich einer Archiv-Funktion der Institution wurden nur insofern wieder aufgenommen, als dass grundsätzlich die individuelle Biografie-Forschung der Besucher unterstützt werden sollte, was über die Digitalisierung der ‚Dossier de naturalisation‘ und die Aufenthaltsgesuche gewährleistet werden sollte. Es wurde betont, dass die vorrangige Aufgabe des Museums das Zugänglich-Machen von Informationen sei und nicht das (Auf-)Bewahren von Archivquellen an sich. Hier wurde also die Funktion als klassisches Archiv abgelehnt, aber bezüglich der avisierten Ausrichtung auf das Konzept ‚Museum‘ wurde die Möglichkeit zur Sammlungsbildung angeregt. Es wurden hier drei mögliche Sammlungslinien formuliert: audiovisuelle Dokumentation des lebendigen Gedächtnisses der Immigration, Sammlung persönlicher Alltagsobjekte von MigrantInnen über einen Aufruf auf lokaler Ebene, zeitgenössische Kunst mit Bezug zum Thema. Bei der Definition des zukünftigen Besucherpublikums wurden vorerst recht grob zwei Großgruppen unterschieden: Experten (WissenschaftlerInnen, LehrerInnen, StudentInnen etc.) und das ‚große Publikum‘ (alle, die sich über Immigration informieren wollen). Dabei wurde festgehalten, dass Besucher, die selbst einen Migrationshintergrund hätten, selbstverständlich in beide Gruppen fallen könnten, ihnen solle aber, trotz der eindeutigen Vermeidung eines Museums ‚von Migranten für Migranten‘, besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Ähnlich wurde das schulische Publikum eingeschätzt, das auch einen besonderen Platz einnehmen sollte vor allem aufgrund des Bildungsauftrages des Museums. Bezüglich des Ortes und der Ansprüche, die an ihn während der Planungsphase zunehmend gestellt wurden, wurde festgestellt, dass man sich eindeutig gegen den Neubau eines Gebäudes und sich mehr oder weniger definitiv für den Palais de la Porte Dorée entschieden habe. Dieser stand zur Verfügung und benötigte eine neue Funktion, zumal er sich im Besitz der öffentlichen Hand befand und einen prestigeträchtigen, durchaus gut angebundenen Ort innerhalb Paris‘ darstellte. Die ersten Machbarkeitsstudien zu diesem Ort zeigten, dass er ausreichend Flächen bereitstelle. Allerdings handele es sich um ein ‚monuments historiques‘, was spezielle Vorgaben bezüglich der Restaurierung selbst und ihrer Finanzierung nach sich ziehe: So könne beispielsweise
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der geschützte Salle des fêtes nur für temporäre Installationen genutzt, aber nicht dauerhaft umgebaut oder verändert werden. Trotzdem sah man hier bereits einen groben Zeitplan vor, der drei Etappen enthielt: 2005 sollte das EP im Gebäude Fuß fassen, um seine Planungsarbeiten aufzunehmen; 2006 sollten die Büros und das Zentrum selbst in dem Gebäude untergebracht werden und 2007 sollte das Museum offiziell eröffnet werden. Wie der Zeitplan und seine bis auf wenige Ausnahmen erfolgreiche Einhaltung zeigten, war hier natürlich der finanzielle, materielle und zeitliche Aufwand viel geringer als bei einem Neubau wie dem Musée du Quai Branly. Es ist anzunehmen, dass aus diesem Grund auch für Toubon ein bereits existierender, vakanter Bau attraktiver war: Wie zuvor von einem Interviewteilnehmer in einem Zitat geäußert, war Toubon sehr wohl bewusst, dass ein Museum dieser Art, mit dieser Thematik, wenn es in der Planungs- und Umsetzungsphase zu lange brauchte, schnell, bedingt durch Änderungen beim politischen Personal oder regierungspolitische Kurswechsel in Sachen Immigration, eingestampft werden konnte.243 Obwohl hier deutlich wird, dass auch externe, pragmatische Faktoren bei der Wahl des Palais eine Rolle gespielt haben, so ist kaum zu unterschätzen, dass viele Akteure diesen Ort auch deshalb befürworteten, weil er ein ‚prächtiger, beeindruckender Palast der Republik‘ war, der den potenziellen Besuchern teilweise noch durch seine Zeit als MAAO vertraut war. Ein Stück weit scheinen einige Akteure erneut dem gezielt konstruierten Charme und der Wirkmacht dieses ‚Meisterwerks des Art déco‘, wie es in der Folge häufig bezeichnet werden sollte, erlegen zu sein, ohne sich der Wirkung der visuellen kolonialen Propaganda des Gebäudes wirklich bewusst zu sein. Verwaltungstechnisch sollte die Institution ihren innovativen Charakter beispielsweise in der dauerhaften Beteiligung einer beratenden Gruppe der Akteure der migrantischen Vereine und der Zivilgesellschaft offenbaren, dazu wurde aber noch nichts konkretisiert. Es schien klar, dass der GIP ADRI vorerst als Trägerinstitution erhalten bleiben sollte, obwohl man sich eindeutig dafür aussprach, so schnell wie möglich ein Établissement public zu bilden, das dann auch den GIP ADRI schlucken würde. Allerdings wird hier angemerkt, dass die bisherigen Versuche, eine solche Gründung, basierend auf dem Modell des EP Musée du Quai Branly, anzubahnen, bisher eher auf Ablehnung stießen. Dabei wurde es u. a. als äußerst dringlich empfunden, die Frage der ministeriellen Zugehörigkeit zu klären, wobei hier drei Ministerien als Option genannt wurden: Ministerium für Kultur, für Soziales und das Bildungsministerium. Bezüglich der Zugehörigkeit und Finanzierung nach der Eröffnung wurde folgende Aufteilung vorgesehen: Bei einem Gesamt-Budget von ca. 7 Mio. Euro pro Jahr für das Museum, die auf die drei Ministerien verteilt werden müssten, übernähme das Kulturministerium 1.5 Mio., das Ministerium für Bildung 1.5 Mio., das Ministerium für Soziales und Arbeit 3 Mio. Euro. Die übrige 1 Mio. sollte über andere Sponsoren eingenom-
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Vgl. Interview mit CC.
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men werden. Die ministerielle Trägerschaft und die Überführung in eine dauerhafte juristische Struktur erschienen als unabdingbare Faktoren, um das Projekt überhaupt realisieren zu können. Dargebotene Inhalte In diesem Abschnitt244 werden vor allem die Rolle, Funktion und der Inhalt der Dauerausstellung ‚Repères‘ erläutert und hervorgehoben. Sie sollte einem möglichst breiten und diversen Publikum die Geschichte der Immigration als Teil der Nationalgeschichte vermitteln: Le fil rouge de l’installation permanente « Repères », c’est l’histoire de l’immigration, en tant que saga constitutive de l’Etat-nation France. Comment l’immigration, fait social total dont les dimensions sont à la fois juridiques, économiques, politiques, a fait la France contemporaine, avec des hauts et des bas, des conflits, des rejets et des intégrations, des réussites et des échecs ? […] Il ne s’agit pas d’un conservatoire de l’immigration, le musée a un objectif politique par rapport à son public qui est de changer le regard de la société française sur l’immigration, et par rapport à son objet : l’immigration, qui doit être montrée comme un fait historique et actuel faisant partie intégrante de l’identité de la France.245
Hier zeigten sich die beiden Pole, die teilweise unvereinbar schienen und in der Folge essenziell den späteren Charakter der Dauerausstellung prägen werden: historische Saga der Immigration als konstitutiver Bestandteil der Nation versus Veränderung des Blicks auf Immigration. In den Augen der Verfasser des Berichts machte diese Kombination Sinn: Die Idee war hier, über diese für viele Franzosen neue Darstellung der Immigration als Beitrag zur und Bestandteil der eigenen Nationalgeschichte, eine veränderte Wahrnehmung des Phänomens zu erreichen. Dies mochte auch in Teilen gelingen, tauschte aber im Endeffekt in der Umsetzung meist nur eine eindimensional ‚negative‘ Wahrnehmung durch eine eindimensional ‚positiv gewendete‘ Wahrnehmung aus. Es ist äußerst wichtig, dass der Bericht im Folgenden einen bereits relativ detaillierten Entwurf der Dauerausstellung lieferte, da sich dieser dann von der endgültig umgesetzten Version deutlich unterscheiden würde.246 Auf einer rechteckigen Fläche wurde ein chronologischer Parcours vorgesehen, der sich hufeisenförmig an der Außenwand des Raums entlangzog und mehrere Ebenen beinhaltete. Gefüllt wurde diese ‚Rahmung‘ durch thematische Einheiten, die in unterschiedlicher Reihenfolge Vgl. Toubon, Rapport au premier ministre. Mission de préfiguration du Centre de ressources et de mémoire de l’immigration, Deuxième partie – l’offre de contenu, S. 51–67. 245 Ebd. S. 51. 246 Vgl. ebd. S. 52 und 53. 244
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und Anbindung an unterschiedliche chronologische Einheiten angeschaut werden konnten. Der Besucher betrat den Ausstellungsraum über einen Prolog, der laut dem Bericht mit der Frage ‚Nos ancêtres les Gaulois?’ beginnen sollte und damit gleich einen der wichtigsten Nationalgründungsmythen Frankreichs durchbrechen würde. Hier sollten ein grundlegendes Interesse und Bewusstsein für die Thematik und ihre Komplexität geschaffen werden. Nach dem Prolog bewegte sich der Besucher dann entlang der Wand in die chronologische Rahmenstruktur der Ausstellung: Sie bestand aus einem Zeitstrahl, der an der Wand mitlief und die ‚großen‘ Daten der Geschichte als Kontext anbot. Parallel zu diesem ‚journal mural‘, wie es mit Verweis auf die Ausstellung ‚France des étrangers. France des libertés‘ im Bericht genannt wurde, finden sich spezifisch zugeschnittene chronologische Einheiten, die sich auf die französische Nationalgeschichte bezogen.247 Zu diesem zweiten Zeitstrang parallel verlief eine dritte Strukturlinie, die einzelne Bevölkerungsgruppen, Ethnien, Themen wie Xenophobie oder Erinnerungsorte passend zu dem jeweiligen zeitlichen Abschnitt präsentierte. Die Füllung dieses dreisträngigen Rahmens erfolgte durch unabhängige thematische Sondereinheiten, die autark funktionierten. Das Ende der Ausstellung bildete ein Forum für Fragen. Konkret bedeutete dies inhaltlich,248 dass der Besucher nach dem Prolog in die Sektion ‚1820–1871 Les bannis et les proscrits‘ eintrat, die dem roten Faden ‚Terre d’asile’ folgte und in der ihm als zusätzliche Einheiten die Ethnien ‚Savoyards‘ und ‚Allemands‘ gezeigt wurden. Anschließend ging er in die Sektion ‚1871–1914 Les pionniers de l’ère industrielle‘, bei der die Themen ‚Juifs d’Europe centrale et orientale‘, ‚Xénophobie ouvrière‘ und ‚Arméniens‘ präsentiert wurden. Der rote Faden der Einheit war das Narrativ ‚Manque des bras‘. Darauf folgte die Einheit ‚1914–1918 Étrangers et coloniaux dans la Grande Guerre‘, wozu die Einheit ‚Coloniaux en métropole‘ gehörte, die aber auch schon in den nächsten Abschnitt ‚1919–1939 Les grandes vagues économiques de l’entre-deux-guerres‘ überführte. Diese Einheit folgte dem Narrativ ‚Un grand mouvement d’installation et d’apports en dépit de moments de crise douloureux‘. Hier wurden auch die Erinnerungsorte ‚Les corons du Nord‘ und ‚Pont-deChéruy (Isère)‘ gezeigt. Die nächste Einheit lautete ‚1919–1939 Au service de la liberté‘, die die thematischen Einheiten ‚L’intégration par le sang versé‘ und ‚1939–1945 Dans la Guerre de la Résistance‘ umfasste – zu denen die Sondereinheit zum Erinnerungsort ‚Le port de Marseille‘ gehörte. Der folgende Abschnitt ‚1945–1974 Les Artisans du miracle économique‘ folgte dem roten Faden ‚La France ne serait pas la quatrième puissance mondiale sans le labeur des immigrés‘ und beinhaltete die Sektionen ‚Guerre d’Algérie‘, ‚Renault-Billancourt‘ und ‚Intellectuels et hommes politiques africains en France‘. Die abschließende Sektion ‚1974 à nos jours Une identité française faite de diversité’ folgte dem Narrativ Noiriels ‚La nation française est un creuset‘ und themaVgl. Toubon, Rapport au premier ministre. Mission de préfiguration du Centre de ressources et de mémoire de l’immigration, S. 57. 248 Vgl. schematische Darstellung im Bericht, S. 52 und 53. 247
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tisierte ‚Exilés de la guerre froide et des dictatures‘, ‚Boat people d’Asie du Sud-est‘, ‚Réfugiés des années 90 et fuite des cerveaux‘ sowie ‚Belleville‘ und ‚Tsiganes d’Europe orientale‘. Die frei zugänglichen Einheiten in der Mitte des Raums sollten entweder allgemeine soziale Phänomene der Immigration veranschaulichen, wichtige Orte der Immigration erläutern oder auf zentrale Fragen in Bezug auf das Phänomen Immigration eingehen. Sie trugen hier die Titel: ‚Comment devient-on Français?“, ‚Artistes, intellectuels, scientifiques“, ‚À l’école de la République‘, ‚La République et les religions‘, ‚Les politiques d’immigration au fil des décennies‘, ‚Langues de France‘, ‚La France qui gagne (sportifs)‘, ‚Femmes dans l’immigration‘, ‚Colonisation et décolonisation‘. Insgesamt fällt die starke Orientierung an einer chronologischen Struktur auf, die bereits bei der Planung konsensfähig war und zum einen den Einfluss der HistorikerInnen spiegelte, zum anderen aber auch den Willen demonstrierte, einer breiten Publikumsmasse mit heterogenem Wissen möglichst klar und kontextgebunden Immigrationsgeschichte zu vermitteln. Die großen chronologischen Phasen, die gesetzt wurden, waren bereits im Abschlussprotokoll des Comité de pilotage enthalten und schienen auf Zustimmung bei allen Gruppen zu stoßen. In diesem Zusammenhang erscheint auch die mehrfach geäußerte Begründung für die Wahl des Zeitstrahls interessant: ‚Er lüge nicht!‘249 – man erhoffte sich hier dadurch also eine einfache, klare, wenig angreifbare Präsentation. Die Dominanz der Chronologie wurde aber durchaus durch die einzelnen thematischen Einheiten aufgebrochen: Die Integration sowohl von einzelnen Ethnien als auch von Erinnerungsorten über diese Zusatzsektionen erscheint sinnvoll, wobei natürlich auch die Schwierigkeit der geeigneten Auswahl einzelner Gruppen und Orte und damit die Selektivität der Ausstellung betont wurden. Auffällig bei den freien thematischen Sektionen in der Mitte des Raums war, dass hier der Kolonisation und der (post-)kolonialen Einwanderung eine gesonderte Einheit und damit insgesamt in diesem Konzept ein recht großer Platz zugestanden wurde: Ob koloniale Einwanderung im Ersten Weltkrieg, Algerienkrieg oder afrikanische Intellektuelle in Frankreich – das Thema erscheint hier sehr präsent. Zusätzlich wurde festgehalten, dass im Anschluss an die Diskussionen in der Planungsphase eine Ausstellung zum Gebäude und seiner Vergangenheit konzipiert werden sollte: Sie sollte zwar an sich die Form einer Architekturausstellung haben, jedoch sollte sie auch vermeiden helfen, dass Besucher Kolonialismus und Immigration verwechselten. Bei den Wechselausstellungen wurden grundsätzlich zwei unterschiedliche Typen vorgesehen: die großen, thematischen Sonderausstellungen, die länger vorbereitet werden sollten, und die kleinen Ausstellungen, mit Hilfe derer man auf die Aktualität schnell reagieren könne. Sie könnten zudem nicht nur vom Museum selbst, sondern
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auch von den Partner-Vereinen und Akteuren konzipiert werden. Sie gäben dem Museum die Möglichkeit, zusätzliche Themen, einzelne Ethnien, Fragen, Orte gesondert zu vertiefen und damit eine größere Breite an Themen anzubieten. Programm Das Konzept der Wechselausstellungen wurde darüber hinaus auch im dritten thematischen Bereich des Berichts, der sich dem Programm widmete,250 aufgegriffen: Man wollte erreichen, dass die ersten Ausstellungen bereits während der Vorbereitungsphase ‚hors les murs‘ realisiert wurden. Eine Gruppe sollte dafür gebildet werden, die das Programm von 2004 bis 2007 festlegen und konzipieren sollte. Zudem wurde einem erweiterten Veranstaltungsprogramm, das deutlich über die klassischen Funktionen eines Museums hinausgehen sollte, viel Wert beigemessen: Es wurde als Garant für das dauerhafte Überleben und die Lebendigkeit des Ortes gesehen. Neben den Wechselausstellungen stellte man sich u. a. Kolloquien für Experten und Besucher vor, die jährlich oder halbjährlich stattfinden könnten, sowie monatliche Konferenzen für die Besucher, anknüpfend an die Dauerausstellung mit Hilfe von Experten. Daneben sollte es explizit an Experten gerichtet Seminare geben, von denen man sich drei Sorten vorstellen konnte: ‚Séminaires de recherche/séminaires du réseau/séminaires pédagogiques‘. Es wurde darüber hinaus ein ‚Festival du cinéma de l’immigration‘ geplant, das jährlich stattfinden und der Tatsache Rechnung tragen sollte, dass das Bild und der Film in der Geschichte der Immigration und ihrer Repräsentation eine große Rolle spielten. Zudem plante man eine mögliche Unterstützung vor allem von jungen Künstlern, die selbst Migranten sind. Sie könnten mit ihren Arbeiten in das Museum eingeladen werden oder im Sinne eines ‚artists in residence‘-Ansatzes für den Aufenthalt und für die Arbeit direkt vor Ort Stipendien erhalten. Über die Planung eines Auditoriums sollten vermehrt auch Events und Veranstaltungen im Museum möglich werden. Zudem sollte, wie bereits zuvor erwähnt, ein digitales Informationssystem entwickelt werden, das Informationen über Migranten und Migration bereithalten und einem breiteren Publikum zur Verfügung stellen würde. Es sollte der Fokus auf Einzel- und Familiengeschichten von Migranten gelegt werden. Eine mögliche Idee war ein mündliches Archiv im Sinne der oral history. Eine besonders wichtige Rolle spielte insgesamt die Beziehung des Museums zu Schule und Universität, sowie die Verbindung mit dem Bildungsministerium. Es wurde vorgesehen, dass das Museum umfangreich Weiterbildungen von LehrerInnen – in Form von Einführungen in das Angebot des Museums, Befähigung zur Nutzbarmachung des Museumsangebots – mit einer transdisziplinären Ausrichtung anbieten sollte. Mögliche
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Vgl. ebd. Troisième partie – le programme d’activités, S. 71–109.
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Schwerpunkte waren dabei: Ausbildung eines Gedächtnisses (individuell, kollektiv, gesellschaftlich, national), Begegnung zwischen LehrerInnen und universitärem Personal, Heranführung an wissenschaftliche Publikationen, gemeinsame Konzeption von pädagogischen Dossiers, Entwicklung von Programmen für Schulklassen, klassen- und schulübergreifende Zusammenarbeit von Lehrkräften. Zudem sollte ein Archiv der (pädagogischen) Erfahrungen zugunsten der Académie in Créteil geschaffen werden, mit dessen Hilfe LehrerInnen sich gegenseitig inspirieren und weiterhelfen konnten. Zudem sollte das Museum eine eigene Publikations- und Verlagstätigkeit entwickeln, die analog wie auch digital funktionierte, wobei dem Internetauftritt des Museums, besonders auch in der Phase vor der Eröffnung, große Bedeutung zugeschrieben wurde. Der Bericht sah bereits vor, dass das Magazin Altérités der ADRI digital in die Website des Museums integriert werden sollte, während es daneben auch Publikationen in gedruckter Form geben sollte, wie beispielsweise über die Herausgabe der Zeitschrift hommes & migrations (erste Ausgabe 2004), sowie der Reihe ‚Le Point sur …‘ der Documentation française. Zusätzlich könnten zu den eigenen Ausstellungen selbst die Kataloge herausgegeben werden. Ebenso wurde die Anerkennung universitärer Arbeit vonseiten des Museums durch die Vergabe eines Preises für die beste Dissertation zum Thema der Immigrationsgeschichte angedacht. Auffällig sind insgesamt die Komplexität und Vielzahl der zusätzlichen Aktivitäten und Funktionen, die dem Museum zugedacht wurden und die aus ihm einen lebendigen Ort machen sollten. Hier scheint deutlich die Angst durch, dass ein klassisches Museum, das nur Dauerund Wechselausstellungen zu bieten hat, beim Thema Immigration, das offenbar per se als schwerer vermittelbar eingestuft wurde, vom Publikum schnell aufs ‚Abstellgleis‘ geschoben würde. Die ständige Bespielung mit unterschiedlichsten Aktionen, die Experten und breites Publikum gleichermaßen ansprechen sollten, sollte gewährleisten, dass die Besucher mehrmals kämen, es als ihren Ort annähmen, es als Ort des sozialen Miteinanders, der Diskussion, des Vergnügens, der Information etc. erlebten. Dabei schien insbesondere die Auffassung als Bildungsinstitution zentral: Schulen wurden als besondere Partner begriffen, die einerseits ein potenzielles Publikum mitbringen und andererseits, ähnlich wie Museen, als Institutionen Wahrnehmung zentral steuern und beeinflussen können, Wissen auswählen und vermitteln und damit die Weltsicht zukünftiger Generationen formen. Aber auch die Anbindung an die Universität schien von großer Wichtigkeit: Man wollte sich als renommierter Kontaktpunkt für Forscher und Forschung zur Immigration etablieren und damit am aktuellen Diskurs teilhaben. Insgesamt sah der Bericht ein multifunktionales Zentrum vor, das trotz seines recht breit gefächerten Angebots primär museale Funktionen verkörpern sollte. Insbesondere die deutlich im Fokus stehende Dauerausstellung streicht dies heraus. Sie sollte die Geschichte der Immigration in Frankreich umfassend historisch rekontextualisieren und dabei den Beitrag der Migranten zur französischen Nation betonen. Über diesen Beitrag sollte ein Gefühl des Stolzes sowohl bei Franzosen als auch bei den Immigranten und ihren Nachkommen geweckt werden und damit Immigration
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als Phänomen aufgewertet werden. So sollte denn auch der gesamtgesellschaftliche Blick auf Immigration verändert werden. Für Toubon war klar, dass es sich eigentlich um ein Museum handeln müsse, da es hier auch und vor allem um eine historische und kulturelle Thematisierung von Immigration ging. Zudem war für ihn auch klar, dass eine echte Anerkennung nur über ein nationales Museum funktionieren könne, das an einem prestigeträchtigen Ort wie dem Palais de Porte Dorée untergebracht sein müsse. Unabdingbar war auch, dass an dieser Institution maßgeblich die migrantischen Vereine beteiligt werden sollten. 2.2b
Die Umsetzung von 2004 bis 2007
Mit dem Abschluss der Planungsphase und dem nun vorliegenden Bericht wurde ein essenzieller Schritt in Richtung einer konkreten Umsetzung der CNHI gemacht. Es gab nun Parameter und Maßgaben, an denen man sich orientieren konnte. Besonders wichtig war dabei, dass man sich bereits auf einen Ort festgelegt hatte, der verfügbar war: den Palais de la Porte Dorée. Mit dieser expliziten Verortung wurde eine schnelle Umsetzung wahrscheinlicher. Ein wesentliches Element der Umsetzung war demnach die Restaurierung und Aufbereitung dieses historischen Gebäudes im Hinblick auf seine neue Funktion. Ein zweites wichtiges Element war die Umsetzung der Dauerausstellung, die als erster Teil der neuen Institution für die Besucher zugänglich sein sollte. Mit ihr eng verknüpft war die Notwendigkeit, schnellstmöglich eine eigene Sammlung anzulegen, auf die sich die Dauerausstellung stützen konnte. Die Tatsache, dass nun die Dauerausstellung und die Schaffung einer eigenen Sammlung im Mittelpunkt standen, aktualisierte die Frage nach dem Charakter der Institution, der nun endgültig definiert werden musste und sich in dem Namen der Institution spiegeln sollte. Diesbezüglich wurde gleich zu Beginn eine relativ spontane Entscheidung von oberster Ebene getroffen: Nach der Vorlage des offiziellen Berichts im Mai 2004 verkündete Raffarin noch im Juli desselben Jahres die offizielle Schaffung einer ‚grande Cité nationale de l’histoire de l’immigration‘. Offiziell wurde der Name nun also auf ‚Cité‘ festgelegt – damit waren die Konzepte des ‚Musée‘ und des ‚Centre de ressources‘ vorerst außen vor. Die drei herausgearbeiteten Prioritäten der Umsetzung – Erschließung des Ortes, Erstellung einer Dauerausstellung und der dazugehörigen Sammlung sowie Definition der eigenen institutionellen Identität – werden im Folgenden maßgebliche Bezugspunkte der Analyse sein. Im Anschluss daran wird allerdings ein weiterer Punkt ergänzt, der nicht immer explizit, aber indirekt doch dauerhaft bei der Umsetzung mitverhandelt wurde: die Beziehung zur Kolonialgeschichte. Sie wurde einerseits inhaltlich als Beziehung zwischen Kolonialismus und Immigration verhandelt und andererseits pragmatisch in Form der Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit des Ortes. Diese Betrachtung der Umsetzung ist dabei vor dem formal-juristischen Hintergrund der Schaffung der neuen ‚Groupement d’intérêt public Cité nationale de l’his-
Planung und Umsetzung einer Cité de l’histoire de l’immigration (ab 2003/04 bis 2007)
toire de l’immigration‘ zu betrachten, in den der GIP ADRI aufgenommen wurde. Der neue Groupement d’intérêt public hatte nun offiziell laut Dekret die Aufgabe: […] de préfigurer et de réaliser la « Cité national de l’histoire de l’immigration » afin de rassembler, sauvegarder, mettre en valeur et rendre accessible tous les éléments relatifs à l’histoire et aux cultures de l’immigration en France […] Il contribue ainsi à la reconnaissance des parcours d’intégration des populations immigrés dans la société française.251
In dem Dekret wurde avisiert, dass die besagte CNHI 2007 eröffnet werden sollte. Der GIP diente hier also als administrative Übergangslösung. Sie wurde mit ihrer Schaffung den Ministerien für Kultur, Bildung und Wissenschaft sowie dem Ministerium für die Stadt und Integration und dem FASILD unterstellt. Man wählte bewusst nicht die alleinige staatliche Vormundschaft des Kulturministeriums, sondern band die neue Institution von Beginn an an verschiedene Ministerien an. In diesem Kontext wurden die drei vormaligen Arbeitsgruppen des Forum d’associations, des Comité technique und des Comité d’histoire (vormals Conseil scientifique) ebenso wie das Comité de pilotage vorerst weitergeführt, wobei sie bereits um neue Statusgruppen ergänzt wurden.252 In der ausführlichen Tätigkeitsbeschreibung des GIPs wurde einerseits der museale Charakter der zukünftigen Institution – die Bewahrung, Restaurierung und Präsentation von selbstständig erworbenen Sammlungsobjekten und Dokumenten aller Art – deutlich. Andererseits wurde auch ein sichtbar erweiterter Aufgabenbereich um-
Journal officiel (01.01.2005), Auszug einsehbar unter: URL: http://www.histoire-immigration.fr/ sites/default/files/musee-numerique/documents/ext_media_fichier_12_convention_Gip_cnhi.pdf (Zugriff 21.09.2017). 252 Bei der Beschreibung der formal-juristischen Veränderungen wird sich sowohl auf den entsprechenden Beitrag im Journal officiel als auch auf die Darstellung von Stevens bezogen. Bei den neuen zusätzlichen Statusgruppen handelte es sich um den Conseil culturel et scientifique, der das erste Mal im Februar 2005 zusammentrat. Er enthielt sowohl von den Ministerien ernannte Experten, Vertreter der Vereine, Personal der CNHI selbst, als auch externe Vertreter aus vergleichbaren kulturellen Institutionen. Daneben wurde ein Conseil d’administration eingesetzt, der Vertreter der Ministerien, des FASILD, der Stadt Paris und einen Teil des kulturellen und wissenschaftlichen Beirates umfasste. Zusätzlich wurde eine Assemblée générale eingesetzt, die ausschließlich staatliche Vertreter, Vertreter der Stadt Paris und des FASILD, umfasste. Letzterer hatte vor allem die Aufgabe, offizielle Beschlüsse bezüglich des GIPs zu fassen, wie die Veränderung der Statuten des GIPs, ihre Auflösung, den Ausschluss oder die Aufnahme eines Mitglieds des GIPs, die Verlängerung des Vertrags mit dem Staat. Sie genehmigte das Programm der Institution und das wissenschaftlich-kulturelle Konzept. Zudem ernannte die Assemblée aber auch die Vertreter der Vereine und anderer Institutionen, die im Conseil scientifique und culturel saßen. Der Verwaltungsrat arbeitete dieser höchsten Instanz zu und war vor allem mit internen Verwaltungsaufgaben, Regelung des Budgets, Erwerbspolitik, Personalfragen etc. betraut. Der wissenschaftliche und kulturelle Beirat beurteilte vor allem das inhaltliche, museologische Programm und Konzept, schlug Erwerbungen vor und steuerte die Sammlungskonzeption. Zudem wurde ein gesondertes pädagogisches Komitee geschaffen. Diese neuen Institutionen bereiteten den Übergang zur späteren CNHI vor, die 2006 als juristische Form des Établissement public begründet wurde. Vgl. u. a. Stevens, Re-membering the Nation: The project for the Cité nationale de l’histoire de l’immigration, S. 133 f. 251
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schrieben: die Bewahrung und Vermittlung des lebendigen Gedächtnisses der Immigration in materieller und immaterieller Form. Dies bedeutete eine klare pädagogische Aufgabe, die dazu dienen sollte, allen gleichermaßen einen demokratischen Zugang zu diesem Kulturgut zu ermöglichen. Dabei sollte sie mit Archiven, diversen Partnern aus der Kultur, aber auch den migrantischen Vereinen und Akteuren zusammenarbeiten und möglichst vielfältige Aktionen und Angebote für die potenziellen Besucher bereitstellen. Das Partnernetzwerk wurde gesondert hervorgehoben, ebenso wie der Wunsch nach einer europäischen und internationalen Vernetzung mit anderen Institutionen in diesem Bereich. Zwar gingen einige der genannten Aufgaben über die klassische Funktion eines Museums hinaus, jedoch bezeichnete man hier die zukünftige Institution trotzdem als ‚musée national‘.253 Mit dieser Überführung des Projekts in einen GIP hatte es Toubon geschafft, das Projekt in greifbare Nähe einer tatsächlichen Umsetzung zu bringen – sie war nun zumindest offiziell beschlossen worden. Die Überführung des Projekts in einen neuen formal-administrativen Rahmen leitete auch eine neue Arbeitsphase für die beteiligten Akteure ein – die verschiedenen, bereits aus der Planungsphase bekannten Arbeitsgruppen sollten nun helfen, die Theorie in die Praxis umzusetzen. Den Akademikern kam hier erneut eine zentrale Rolle zu: Sie waren maßgeblich an der Konzeption und Umsetzung der Dauerausstellung beteiligt. Daher wird in einem ersten analytischen Zugriff auf die Umsetzungsphase ihre Wahrnehmung der hier stattfindenden Prozesse thematisiert. Dabei sind die vier zu Anfang genannten Prioritäten leitend. Diese Analyse erlaubt es auch, einen erweiterten Akteurskreis einzubeziehen, da sie beispielsweise den Einfluss von Akteuren wie dem Szenografen verdeutlicht. Im Vordergrund stehen die Fragen danach, welche Entscheidungen, Debatten und Erfahrungen diese Umsetzungsphase aus Sicht der Akteure entscheidend geprägt haben. In einem zweiten Schritt wird dann gleichsam dieser Blick von innen durch einen Blick von außen ergänzt: Hier wird die Presseberichterstattung seit den 2000er Jahren einbezogen, um zu ermitteln, welche Rolle dieses Projekt in der öffentlichen Wahrnehmung gespielt hat, welche Bedeutung und Wirkmacht ihm hier zugestanden wurde und welche Themen und Konflikte in der Presse gespiegelt wurden. Dabei erlaubt ein stark chronologisches Vorgehen, die einzelnen Schichten und Entwicklungen dieser Berichterstattung von 2000 bis 2007 sichtbar zu machen. In einem letzten, dritten Schritt sollen dann zwei aus der Analyse der Wahrnehmung der Akteure, aber auch der Berichterstattung in der Presse erkennbare Kristallisationspunkte der Umsetzungsphase detailliert betrachtet werden: einmal die Debatte um den Artikel 4 von 2005, dem ‚Kolonialismusgesetz‘, und die Schaffung des Ministeriums für Immigration und nationale Identität unter Sarkozy. Sie stellen zwei wesentliche Bezüge der tagespolitischen Aktualität für die Umsetzung des Projekts Vgl. Mission de préfiguration GIP ADRI, Convention constitutive du groupement d’interet public Cité nationale de l’Histoire de l’immigration, URL: http://www.histoire-immigration.fr/sites/default/files/mu see-numerique/documents/ext_media_fichier_12_convention_Gip_cnhi.pdf (Zugriff 02.05.2017). 253
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dar, die es konkret beeinflusst und seine Identität geprägt haben. Gleichzeitig helfen sie, zwei wesentliche inhaltliche Bezugs- und Konfliktpunkte der CNHI – öffentlicher Umgang mit kolonialer Vergangenheit und der politische Umgang mit Immigration – vor dem zeitgenössischen Hintergrund einzuordnen. 2.2b.a
Wahrnehmung durch die Akteure Ort/Gebäude
Mit der Schaffung des GIP CNHI wurde zugleich ihr definitiver Ort, der Palais de la Porte Dorée, festgelegt. Trotz etwaiger Diskussionen und Einwände von verschiedenen Seiten hatte dieser Ort viele Befürworter, was auch Toubon selbst einschloss. Die Prestigeträchtigkeit des Ortes und seine leichte Verfügbarkeit schienen hier den Ausschlag gegeben zu haben. In der Wahrnehmung der Interviewpartner überwiegt so auch die positive Bewertung der Ortswahl: Die meisten halten dies für eine gute Entscheidung, da es sich um einen ‚schönen‘ Ort handele, der das Phänomen der Immigration aufwerte. So erwähnt ein Interviewpartner, dass andere Akteure sich beispielsweise für eine Platzierung in den Banlieues eingesetzt hätten, wo man aber ‚niemals einen so schönen Ort hätte finden können‘ wie den alten Kolonialpalast.254 Mit der Verknüpfung des Phänomens Immigration mit einem alten, prestigeträchtigen ‚Tempel der Republik‘ befreie man das Thema aus seiner miserabilistischen Vision. Die visuelle Erscheinung des Gebäudes, seine majestätische Formsprache und seine Anleihen an den Art Déco Stil münden hier in eine vereinfachte Wahrnehmung als ‚schönem, attraktivem Ort‘, der der Immigration einen noblen Platz gebe: ‚ça frappe!‘.255 Hinzu kommt eine etwas pragmatischere Sichtweise einiger Akteure, die die Wahl auch darüber gerechtfertigt sehen, dass der Ort zur Verfügung stand und relativ unproblematisch und mit geringem Aufwand verwendet werden konnte. Man musste sich nicht mit den umfassenden Planungen und der Finanzierung eines Neubaus wie im Falle des MQB auseinandersetzen, das Gebäude war bereits innerhalb Paris‘ gut integriert und infrastrukturell angebunden. Zudem, so verdeutlicht ein Interviewpartner, gäbe es keinen zentralen Erinnerungsort der Immigration wie im Falle der USA mit Ellis Island – es gäbe keinen für die Erinnerung der Immigration in Frankreich maßgeblichen, konsensfähigen Ort.256 Man erachtete außerdem Orte wie die RenaultFabriken in Boulogne-Billancourt, die mehrfach als ‚Lieu de mémoire‘ eingebracht wurden, als zu stark mit der Arbeitergeschichte verbunden und dadurch vorbelastet, wobei interessanterweise die Vorgeschichte des Kolonialpalastes bei der endgültigen 254 255 256
Vgl. Interview mit PC. Vgl. Interview mit HE. Vgl. Interview mit PC.
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Entscheidung für den Palais de la Porte Dorée offensichtlich paradoxerweise kein Hindernis mehr darstellte.257 Auch die Interviewpartner, die die ambivalenten und kritischen Punkte der Vorgeschichte des Gebäudes anerkennen, beurteilen den Palais oft trotzdem oder gerade deswegen als optimalen Ort: So wird angeführt, dass eine solche Transformation eines historisch vorbelasteten Ortes völlig alltäglich und im Bereich des kulturellen Erbes üblich sei.258 Man müsse auch solche Orte wieder nutzen und weiter verwenden können. Ein weiterer Akteur geht sogar so weit zu sagen, dass es für ihn das „plus beau retournement de l’histoire“ sei, wenn im ehemaligen Kolonialpalast nun den Immigranten gehuldigt werde.259 Eine Umnutzung wird als selbstverständlich und ohne weiteres realisierbar angesehen. Zwar sei der Ort durchaus ‚geschichtsbeladen‘ und man müsse seine Vergangenheit thematisieren und dekonstruieren, doch sei dies möglich und werde einbezogen.260 Die Polemik um den Ort sei daher eine ‚fausse polémique‘, die man zwar nachvollziehen könne, die aber völlig deplatziert sei, da man mit dieser Vergangenheit sehr wohl umzugehen wisse.261 Trotzdem gibt es auch Stimmen, die die Wahl nach wie vor ablehnen oder zumindest kritisieren. Die Positionen reichen hier von entschärfenden Stellungnahmen, die den Ort als ‚nicht-optimal‘, aber eben auch nicht als wirkliches Hindernis für das Projekt sehen, bis hin zu klarer Kritik, die den Ort als „Palais des aires dont on n’avait pas pris la maîtrise“ beurteilt.262 Die notwendige Umdeutung des Ortes wurde von Anfang an als relativ problemlos und sich automatisch vollziehend eingeschätzt.263 Dass dies tatsächlich dann in der Realität anders aussah, bestätigt ein Interviewteilnehmer, der maßgeblich an Planung und Umsetzung des Projekts beteiligt gewesen war: […] maintenant dix ans après, je peux un peu faire une autocritique et celle de la mission Toubon, je pense qu’on avait été un peu naïf parce que […] l’ombre porté de la colonisation est beaucoup plus fort de ce qu’on avait pensé c’est-à-dire en fait, […] c’est un peu facile de dire on va [le] détourner parce que la symbolique coloniale est tellement forte, c’est exactement quand vous rentrez dans une église même si vous ne croyez pas en Dieu,
Vor allem der Bericht von El Yazami und Schwartz hatte davor gewarnt, einen Ort zu wählen, der zu stark durch eine bestimmte sichtbare oder zumindest im kollektiven Gedächtnis verankerte Vorgeschichte geprägt sei, daher lehnten sie die Renault-Fabriken ab. Dass jedoch nun der Kolonialpalast gewählt wurde und hier aber scheinbar die Vergangenheit nicht als Vorbelastung gesehen wurde, scheint paradox. Schließlich waren El Yazami und Schwartz auch an den Planungen beteiligt und die Einwände Blanchards und Bancels zielten genau auf diesen Aspekt des Ortes. Trotzdem entschied man sich recht einhellig für ihn. 258 Vgl. Interview mit HE. 259 Vgl. Interview mit MC. 260 Vgl. ebd. 261 Vgl. ebd. 262 Vgl. Interview mit KI. 263 Vgl. Cité nationale de l’histoire de l’immigration, Dossier de presse: 10 octobre 2007 Ouverture de la Cité nationale de l’histoire de l’immigration, S. 4. 257
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les pierres expriment une spiritualité à laquelle on est sensible quel que soit sa croyance personnelle, fin, moi, j’adore visiter des monuments, quand je rentre dans une cathédrale, dans une mosquée, dans une synagogue ou dans n’importe quel lieu historique, il y a quelque chose que me disent des pierres qui dépasse les propres références culturelles que je peux avoir et je pense qu’ici on a sous-estimé le fait que les lycéens qui viennent voir l’exposition sur la mode quand ils montent les marches de ce palais […] ce palais il est quand même fait pour intimider […] et ça marche comme ça parce qu’il est un peu écrasant et donc je pense que la dimension coloniale on n’a pas assez problématisée dans notre projet au départ, on a été un peu naïf […].264
Der Akteur reflektiert hier ganz klar die ‚Naivität‘, mit der man der Vergangenheit des Gebäudes und seiner materiellen Präsenz begegnet sei. Diese Einstellung erstaunt umso mehr, als dass Monjaret und Roustan bereits 2002 noch im alten MAAO bei Konservatoren auf Unbehagen bezüglich einer erneuten Nutzung des Gebäudes stießen.265 Trotzdem zeugt der offizielle Bericht Toubons deutlich von einer Unterschätzung der Vorbelastung des Ortes: In dem Bericht steht eindeutig im Vordergrund, dass es ein prestigeträchtiger, emblematischer Ort sei, der zudem vakant sei und durch eine überschaubare Aufwendung finanzieller Mittel zeitnah hergerichtet werden könne.266 Stevens erwähnt in diesem Zusammenhang, dass man kurz vor der Eröffnung zum Zweck dieser ‚schnellen Umdeutung‘ eine Art ‚Exorzismus‘ praktiziert habe, der darin bestanden habe, einen Text Aimé Césaires zur Kolonisation öffentlich zu lesen – damit wollte man die Schatten der Vergangenheit ein für alle Mal ablegen.267 Jedoch wird aus dem Zitat klar, dass dies offenbar nicht gelungen ist: Der Sprecher vergleicht hier den Palast mit einer Kathedrale, die als Ort nicht nur über ihre materielle Präsenz zu definieren sei, sondern eben auch über ihre immaterielle Aura, die viel weiter und umfassender wirke und den Ort für jedermann als etwas Besonderes kennzeichne. Ebenso wirke sich im Kolonialpalast seine ursprüngliche Verwendung, seine Rolle als Kult-Ort des Empire, als ‚institutionalisierter Hierarchie-Diskurs der Kolonialherren‘, nach wie vor auch auf den unbedarften Besucher und seine Haltung gegenüber dem Ort aus. Im Rahmen der von der ACHAC und Bancel und Blanchard geäußerten Kritik an der Wahl dieses Ortes war in den Bericht die Idee einer Ausstellung zur Vergangenheit des Gebäudes aufgenommen worden, die zumindest zu einem Teil eine Rekontextualisierung und Dekonstruktion des Ortes hätte leisten können. Jedoch wurde diese Idee Interview mit CC. Vgl. Monjaret/Roustan, La repatrimonialisation du Palais de la porte dorée: du musée des Colonies à la Cité nationale de l’histoire de l’immigration, S. 109 f. 266 Vgl. Toubon, Rapport au premier ministre. Mission de préfiguration du Centre de ressources et de mémoire de l’immigration, S. 39 f. 267 Vgl. Stevens, Re-membering the nation. The project for the Cité nationale de l’histoire de l’immigration, S 235 f. 264 265
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im Laufe der Umsetzung vernachlässigt, und bei der Eröffnung 2007 war dieser Ausstellungsteil schlichtweg inexistent. Erst mit einer sechsjährigen Verspätung wurde im Zwischengeschoss eine solche Ausstellung eingerichtet. Allerdings wurde zum Ausgleich die erste große Wechselausstellung der CNHI dem Baujahr des Palastes ‚1931‘, der Kolonialausstellung und der Situation der Ausländer und Einwanderer zu dieser Zeit in Frankreich, gewidmet: ‚1931 Les étrangers au temps de l’exposition coloniale‘.268 Diese Ausstellung zu ‚1931‘ wurde von vielen Akteuren als völlig ausreichendes Zugeständnis an das Thema ‚koloniale Vergangenheit‘ in diesem Gebäude begriffen.269 Schließlich hatten sich einige Akteure schon in der Planungsphase ganz klar gegen eine Thematisierung von Kolonialismus und Dekolonisation gewendet.270 Neben diesen Debatten, die sich vor allem um die grundsätzliche Entscheidung für diesen Ort und den Umgang mit seiner Vergangenheit drehten, erscheint auch der konkrete Umgang mit dem Gebäude, seine Restaurierung und Restrukturierung durch ein Architektenteam zentral. Hierfür war maßgeblich Patrick Bouchain verantwortlich, der von Loїc Julienne unterstützt wurde. Sie bekamen nach einer offiziellen Ausschreibung den Zuschlag für die Instandsetzung und Umgestaltung des Gebäudes. Dabei erregte vor allem die Person Bouchains Interesse, denn er hatte sein Diplom für Architektur in den 1960er Jahren noch von Laprade, dem ursprünglichen Architekten des Gebäudes, persönlich erhalten. Konsequenterweise wollte Bouchain das Erbe Laprades nicht völlig verändern: So äußerte Bouchain in einem Interview mit der Zeitschrift hommes & migrations, dass für ihn bei diesem Projekt die Frage essenziell gewesen sei, was man er- bzw. behält.271 Er wolle den Zustand des Gebäudes mit seiner Vergangenheit erhalten und dem Palast seinen ‚majestätischen Zustand‘ zurückgeben. Für Bouchain war das Konzept der (historischen) ‚Spur‘ maßgeblich, die er hier sichtbar machen wollte. Bemerkenswert erscheint, dass er kaum technische Schwierigkeiten sah und behauptete, dass das Gebäude solide gebaut worden sei und ohne größeren Aufwand hergerichtet werden könne. Das steht in deutlichem Widerspruch zu den Aussagen verschiedener Architekten und Techniker in den 1960er Jahren, die von dem durchweg schlechten Grundzustand der Architektur sprachen und konstatierten, dass dies das Schicksal der schnell hochgezogenen, temporären Ausstellungsbauten sei.272 Sowohl auf die Ausstellung zum Gebäude als auch auf die Wechselausstellung wird später noch näher eingegangen werden. 269 Vgl. Stevens, Re-membering the nation. The project for the Cité nationale de l’histoire de l’immigration, S. 237 f. 270 Vgl. Kapitel 2.2a.a) Akteure und Planungsgruppen: Conseil scientifique (wiss. Beirat) und Forum des associations (Vereine). 271 Vgl. Poinsot, Marie, Porte Dorée: l’émancipation d’un palais. Entretien avec Patrick Bouchain, in: hommes & migrations „Une collection en devenir“ No. 1267 (mai-juin 2007). S. 56–60. 272 Im vorherigen Abschnitt zum MAAO wurde gezeigt, dass dies eines der wesentlichen Probleme des Baus über die 1960er Jahre hinweg darstellte: Es mussten fast permanent Ausbesserungsarbeiten vorgenommen werden, und der technisch und baulich schwierige Zustand des Gebäudes war immer wieder Thema innerhalb des Museums. Zwar war der Palais de la Porte Dorée von Anfang an als durchaus dauerhafter 268
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Zudem äußerte Bouchain, das Gebäude sei für ihn äußerst schön und funktional und sehr passend für seinen heutigen Gebrauch als Museum. Auch diese Aussage steht im Gegensatz zur Wahrnehmung vieler Akteure, die das Gebäude mit seiner Raumverteilung als äußerst unpraktisch beurteilten.273 Insgesamt wollte er den Ort offen, willkommen-heißend gestalten, gleichzeitig sollte er als Schutz- und Zufluchtsort dienen. In seinem Verständnis des zukünftig neu gestalteten Ortes setzte Bouchain dabei die ‚verlassenen, orientierungslosen‘ Immigranten, die hier anerkannt werden sollten, mit dem Schicksal des Gebäudes gleich: zwei verlassene Wesen, die rehabilitiert werden müssten.274 Auch er hielt den Ort für eine gute Wahl, da er annahm, dass Migranten sich immer zu majestätischen Orten hingezogen fühlten, sie bräuchten eine Art ‚Leuchtturm‘ als Orientierungspunkt in einem fremden Land. Zudem verstand er den Ort als ‚porte‘, durch die Welten und Kulturen in Kontakt kommen konnten. Trotz der Vergangenheit des Ortes und der häufig deutlich sichtbaren Kolonialpropaganda beurteilte Bouchain die meisten Räume des Gebäudes als ‚anonym‘ und beschrieb den Bau Laprades daher als einen ‚transhistorischen Tempel‘.275 In dieser Stellungnahme des Architekten wird eine entproblematisierende Sicht auf den Ort und das Gebäude deutlich: Er wollte hier das Erbe eines großen Vorgängers erhalten und die Vorzüge des Ortes, seinen grandiosen Charakter herausstreichen. Dabei stellte es für ihn offenbar keinen Widerspruch dar, wenn er einerseits die Einbeziehung der Vergangenheit und die Wiederbelebung der (historischen) Spur des Gebäudes betonte und andererseits einen Großteil der Räume als anonym auffasste und den Palais als einen ‚transhistorischen Palast‘ bezeichnete. Seine Deutung des Ortes als ‚Leuchtturm‘ und die Auffassung der Immigranten als ‚schutzbedürftig und verloren‘ ist, wie Pippel es herausstreicht, durchaus als problematisch zu sehen, da er hier damit ganz klar traditionelle (koloniale) Stereotype bestätigte und in sein Projekt integrierte.276 Ganz im Sinne Bouchains wurde dann in der Folge das Gebäude in seinen ursprünglichen Zustand weitestgehend zurückversetzt: Insbesondere die beiden Büros von Maréchal Lyautey und Kolonialminister Reynaud wurden, teilweise sogar mit dem originalen Mobiliar, wieder hergerichtet und sind Teil der musealen Präsentation.277 Auch der Salle des fêtes ist bis auf wenige Änderungen, so beispielsweise die
Bau geplant worden, doch die kurze Zeit für seinen Bau, lässt erahnen, dass hier schnell gearbeitet werden musste. Daher ist anzuzweifeln, dass die Instandsetzung in den 2000er Jahren, schließlich war das Gebäude nun schon an die 70 Jahre alt, so unproblematisch war, wie es Bouchain hier darstellt. 273 Vgl. Interview mit HP. 274 Vgl. Poinsot, Porte Dorée: l’émancipation d’un palais. Entretien avec Patrick Bouchain, S. 56–60. S. 57. 275 Vgl. ebd. S. 58. 276 Vgl. Pippel, Museen kultureller Vielfalt, Diskussion und Repräsentation französischer Identität seit 1980, S. 199 f. 277 Exakt an diesen beiden potentiell zu restaurierenden und als Prunkstück des Art-Déco zu präsentierenden Räumen entspann sich das Unbehagen des Konservators, den Monjaret und Roustan 2002 ge-
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Sitzgelegenheiten im Boden, wieder in seinem ursprünglichen Zustand zu sehen. Zwar wurden die Ausstellungsflächen, der Raum für die Mediathek oder auch das Auditorium, angepasst, jedoch sind in diesen Bereichen zuvor keine so starken Marker wie beispielsweise die Fresken im Salle des fêtes von Ducos de la Haille mehr vorhanden gewesen. Die Herrichtung des ursprünglichen, historischen Ortes bei einer gleichzeitigen Implantierung einer neuen Institution führte in der Folge zu einem unverbundenen Nebeneinander des Lieu de mémoire der Kolonisation, dem sich der Besucher anhand der Außenfassade, der Büros und des Salle des fêtes sowie des Aquariums nähern kann, und dem neuen Immigrationsmuseum, das sich hauptsächlich in einem der Seitenflügel bzw. dem Atrium des ersten Stocks befindet. Die Verbindung zwischen den beiden Elementen wird räumlich und inhaltlich nicht hergestellt. Lediglich einzelne Texttafeln zum Gebäude erklären stichpunktartig die Geschichte des Ortes. Auch die Nutzung und Aufteilung der Räume im Museum trägt zu dieser Spaltung bei: Zwar wurden im Erdgeschoss mit einiger zeitlicher Verzögerung schließlich Mediathek, Auditorium, später Café und Museumsshop untergebracht, aber die eigentliche Dauerausstellung und auch die Wechselausstellungen befinden sich in einem Seitenteil des oberen Stocks – diese Aufteilung lässt viel leeren, für den Besucher oft nicht klar strukturierten Raum entstehen, wie die Wahrnehmung eines Interviewteilnehmers zeigt: […] il y a (dans le Palais de Porte Dorée) des volumes […] ça fait du coup quelque chose un peu froid […] c’est vrai que ça fait beaucoup trop de vide, on a l’impression […] que l’essentiel en fait du bâtiment est dédié à on sait pas quoi et puis qu’il y a un petit endroit où il y a une exposition, du coup ça fait pas un lieu qui s’appelle le musée de l’immigration, on rentre dans le palais de la porte dorée dans lequel il y a un aquarium au sous-sol et un petit espace qui est le musée de l’immigration c’est un peu bizarre […].278
Allerdings wurde bereits im offiziellen Planungsbericht von Toubon geäußert, dass der Palais de la Porte Dorée eigentlich als Gebäude zu groß sei, schließlich benötige man für das Projekt zur Immigration nur ca. 7000–8000m2, während der Palais 15 000– 16 000m2 böte. Natürlich konnte der zusätzliche Raum als Chance für die Umsetzung der zusätzlichen Aktivitäten gesehen werden, die das Projekt erfüllen sollte: Mediathek, Kolloquien, Vorträge, Filmvorführungen etc. Gleichzeitig ist dieses räumliche Missverhältnis für den im Zitat geäußerten Eindruck der ‚Leere‘ und die für den Besucher unklare Zuordnung vieler Gebäudeteile verantwortlich.279 Zudem war die Entscheidung, das Herzstück des Projekts, nämlich die Dauerausstellung im ersten Stock,
sprochen hatten: Vgl. Monjaret/Roustan, La repatrimonialisation du Palais de la porte dorée: du musée des Colonies à la Cité nationale de l’histoire de l’immigration, S. 109 f. 278 Interview mit DI. 279 Dieser Eindruck herrscht laut Michel Guerrin auch noch Anfang 2010, als Le Monde erneut einen Artikel zur CNHI herausbringt. Hier wird explizit auf das „[…] premier sentiment […] d’un vide […]“ hingewiesen. Vgl. Guerrin, Michel, Le musée fantôme, in: Le Monde (20.03.2010).
Planung und Umsetzung einer Cité de l’histoire de l’immigration (ab 2003/04 bis 2007)
in einem relativ begrenzten Raum, der nur einen Teil des Stockwerks einnimmt, unterzubringen, wesentlich. So entsteht der im Zitat formulierte Eindruck, dass man sich in einem Gebäude befinde, von dem man nicht so genau wisse, wofür es eigentlich da sei, und dann plötzlich in einer Ecke die Ausstellung der Immigration entdecke. Mittlerweile wird dies räumlich zumindest teilweise durch einen Zeitstrahl kompensiert, der die Geschichte der Immigration thematisiert und vom Erdgeschoss am Treppenaufgang entlang den Besucher in den ersten Stock zur Dauerausstellung führt, sodass hier ein visueller Leitfaden entsteht. Jedoch bleibt die Tatsache bestehen, dass der ursprüngliche Lieu de mémoire und das neue Museum nicht als Einheit geplant wurden, die es herzustellen galt, räumlich wie inhaltlich, sondern sie als vollkommen getrennt begriffen wurden – Elemente, die nichts miteinander zu tun hatten, außer dass sie sich fast zufällig am selben Ort befanden. Diese Wahrnehmung wird auch durch das heutige Museumspersonal bestätigt, das nicht müde wird zu betonen, dass die Planung und Umsetzung dieses Immigrationsmuseums überhaupt nichts mit dem vormaligen Kolonialpalast zu tun gehabt hätten.280 Der Widerspruch zwischen dem offenbar empfundenen Bedürfnis sich einerseits mit dem neuen Vorhaben von diesem Ort zu distanzieren und andererseits die schlichte Tatsache, dass man sich mit dem Vorhaben an diesen Ort gebunden sieht, führt in der Umsetzung zu dieser nicht mehr nur intellektuellen, sondern auch räumlichen Spaltung. Der Besucher erfährt hier körperlich die Unvereinbarkeit der beiden Themen ‚koloniale Vergangenheit‘ und ‚Immigration‘ im französischen kollektiven und kulturellen Gedächtnis – sie können nicht zusammen gedacht und in Beziehung gesetzt werden, obwohl sie einen klaren Bezug untereinander aufweisen: die (post-)koloniale Migration und ihre Folgen. Natürlich ist diese räumliche Situation nicht das reine Resultat bewusster, freier Entscheidungen: Das von Bouchain erwähnte, stark beschränkte Budget ließ nur begrenzt Änderungen am Gebäude und seiner Struktur zu. Zudem steht das Gebäude unter Denkmalschutz, was eine Veränderung der Fresken beispielsweise ausschloss. Es erscheint sinnvoll, an dieser Stelle kontrastierend das eindeutig von Malraux und Florisoone in den 1960er Jahren empfundene Bedürfnis, die Fresken und alle Teile, die auf die Vergangenheit des Palastes verwiesen, zu verdecken, heranzuziehen. Sie zeigten damit ganz offen ihr Unbehagen gegenüber der hier präsenten Vergangenheit und ihrer ‚Schatten‘ – sie wollten sie verstecken und damit löschen – der Ort sollte zum neutralen ‚White Cube‘ werden. Das war ihre kuratorische Lösung für den Umgang mit dem Relikt des Gebäudes.281 Für die Umsetzung der CNHI entschied man
Diese Position offenbarte sich auch und vor allem im persönlichen Kontakt mit den Mitarbeitern der CNHI – hier wurde häufig in Reaktion auf das Promotionsvorhaben und seinen Ansatz eines doppelten Erinnerungsortes, der beide Erinnerungsebenen, die des Kolonialmuseums und die des Immigrationsmuseums, einbezieht, heftig kritisiert und betont, dass das Projekt des Immigrationsmuseums ‚absolut nichts‘ mit dem Kolonialpalast und seiner Geschichte zu tun habe. 281 Vgl. Kapitel 1.3 Vom Musée de la France d’outre-mer zum Musée des arts africains et océaniens. 280
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sich hingegen dafür, alle Teile des Gebäudes, die diese Spuren trugen, offen zu zeigen und sogar wieder original herzurichten. Doch trotz des nach wie vor vorhandenen Unbehagens ob dieser Elemente wurde die Entwicklung einer konsequenten Strategie des dekonstruierenden Umgangs mit selbigen unterlassen. Das Unbehagen ist daher spürbar und offensichtlich, jedoch gibt es keinen Weg der konstruktiven Aufarbeitung dieser Beziehung zum Ort und seiner Vergangenheit. Sammlung/Dauerausstellung/Film Eine wichtige Grundlage der neuen Institution und ihres Kerns, der Dauerausstellung, bildete die Konzeption einer Sammlung. Man begann hier ungewöhnlicherweise an einem ‚Nullpunkt‘: Es gab keine (Objekt-)Sammlung zur Immigration, auf die man hätte zurückgreifen können.282 Objekte und Dokumente waren in unterschiedlichsten Bereichen und Institutionen zu finden. So konstatierte auch Fabrice Grognet, ein Ethnologe, der an der Planung der Sammlung beteiligt war, dass potenziell jedes (Alltags-)Objekt, das mit der Immigration verbunden sei, zum ethnologischen und damit zum Ausstellungsobjekt hätte werden können,283 wobei es jederzeit auch wieder umgedeutet und neubewertet werden könnte und kann. Dabei war gerade die Frage danach, was eigentlich eine Sammlung zum kulturellen Erbe der Immigration umfassen könnte oder sollte, nicht unproblematisch. Bereits in der Planungsphase gab es, wie bereits erwähnt, Stimmen aus dem Bereich der DMF-Konservatoren, die meinten, es gäbe schlichtweg kein Erbe, das man sammeln und ausstellen könne, es gäbe nichts, was Immigranten hinterließen, bzw. es wäre teilweise auch einfach keiner Ausstellung würdig: Jacques Toubon […] avait choisi de travailler […] avec des conservateurs des monuments historiques […] et donc ils ont une conception très stricte de leur éthique professionnel et dans un musée (d’après eux) il faut montrer d’une part des œuvres originales et d’autres part des belles choses et certains [entre eux] ont [demandé] : comment est-ce qu’on va pouvoir faire un musée avec toutes ces choses moches qui concernent l’histoire de l’immigration qui sont le paysage des bidonvilles, des banlieues, des usines, il n’y a aucun objet […].284
Hier wird erneut ein ganz grundsätzlicher Widerstand gegenüber der Musealisierung der Immigration deutlich. Die Wahrnehmung, dass es hier nur ‚hässliche, unattraktive‘ Dinge zu zeigen gäbe, spiegelte genau die negative, miserabilistische Vision von Immi-
Vgl. Lafont-Couturier, Hélène, Les coulisses d’une collection en formation, in: hommes & migrations „Une collection en devenir“ No. 1267 (mai-juin 2007). S. 8–15. S. 9. 283 Vgl. Grognet, Fabrice, Quand „l’étranger“ devient patrimoine français, in: hommes & migrations „Une collection en devenir“ No. 1267 (mai-juin 2007). S. 28–37. S. 31 ff. 284 Interview mit PC. 282
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gration, die man mit der CNHI aufbrechen wollte. Daneben gab es aber auch durchaus gerechtfertigte Bedenken, die den prekären Zustand vieler Objekte und Dokumente, die Immigranten mit sich nach Frankreich brachten, anmerkten:285 […] l’immigration c’est ce qui s’efface quand les gens ne sont plus migrants, la culture d’origine, elle s’efface progressivement et les gens n’ont pas forcément des traces puisqu’ils sont venus avec pas grande chose, c’est difficile d’écrire une histoire qui n’a pas laissée de trace […].286
Besonders der Sammlungsaufruf, der bereits während der Planungsphase gestartet wurde, sollte hier Abhilfe leisten. Persönliche, private Objekte, die die Migranten mitgebracht oder bewahrt hatten, sollten im Museum einen maßgeblichen Sammlungsschwerpunkt bilden, der vor allem die anthropologische Perspektive auf das Phänomen spiegeln sollte. Stevens erläutert, dass diese Sammlungsaufrufe kein unproblematischer Aspekt der Vorbereitungsphase waren. So beschreibt sie, dass die anfänglichen Aufrufe oft erfolglos blieben, was u. a. an der fordernden Haltung der Institution lag, die zudem vielen Immigranten oder ihren Nachkommen fremd war und bei ihnen eher eine skeptische Haltung hervorrief.287 So wurde denn auch der im Museum explizit für diese Objekte vorgesehene Teil, die Galerie des dons, erst deutlich nach der Dauerausstellung, im Frühjahr 2008, eröffnet. Neben diesem materiellen Erbe wurde aber auch mehrfach, u. a. von Fabrice Grognet und Hélène Lafont-Couturier, das immaterielle Erbe als wichtige Quelle hervorgehoben: Die Geschichte, die Erlebnisse und Erfahrungen der Einwanderer waren ein wichtiger Bezugspunkt, der in Form von Zeitzeugenberichten beispielsweise als audiovisuelle Quellen Eingang in die Sammlung finden sollte und später auch in der Mediathek weiter gesammelt wurde.288 Zu diesem Zweck arbeitete man beispielsweise mit dem ‚Atelier du bruit‘ zusammen, das Zeitzeugenberichte aufzeichnete.289 Dies war umso wichtiger, als dass dies der Teil des kulturellen Erbes der Immigration war, der wie im Zitat befürchtet, am schnellsten und direktesten vom Verschwinden bedroht war.290 Zusätzlich wurden vor allem für die historische Perspektive klassische Dokumente und schriftliche Quellen Wonisch gibt hier zu bedenken, dass dies eine häufig beklagte Problematik von Ausstellungsmachern im Fall von Immigration darstelle: Zwar sei diese Sorge durchaus berechtigt, würde aber durchaus auch oft als ‚Totschlagargument‘ gegen eine Präsentation des Phänomens Immigration verwendet. Vgl. Wonisch, Museum und Migration, S. 22. 286 Interview mit CC. 287 Vgl. Stevens, Re-membering the nation. The project for the Cité nationale de l’histoire de l’immigration, S. 203 ff. 288 Vgl. u. a. URL: http://www.histoire-immigration.fr/la-diffusion-des-savoirs/la-mediatheque/les-res sources-documentaires-et-numeriques (Zugriff 17.05.2017). 289 Vgl. URL: http://www.atelierdubruit.net/?page_id=217 (Zugriff 17.05.2017). 290 Dies gilt auch und vor allem, wenn man Jan Assmanns Konzeption des kommunikativen Gedächtnisses folgt, das laut Assmann nur in der mündlichen Kommunikation bewahrt wird und maximal drei bis vier Generationen überdauert, bevor es endgültig verschwindet. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S. 50 f. 285
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einbezogen. Ein besonderer Punkt war, dass, wie Lafont-Couturier es betont, neben dieser anthropologischen und historischen Betrachtungsweise auch die künstlerische einen großen Raum einnehmen sollte.291 So wurden Kunstwerke, die einen Zusammenhang mit dem Thema aufwiesen, erworben und eine Sammlung zeitgenössischer Kunst angelegt. Grundsätzlich wurde laut Lafont-Couturier die Sammlungskonstitution an den Inhalten der Dauerausstellung entlang geplant, die aus ihrer Sicht drei wichtige Hauptteile umfasste: die migratorische Erfahrung, die Frage der Wohnsituation, der Arbeit und des ‚Creuset‘ sowie den Beitrag der Migranten im Bereich der Sprache, Religion, Kunst etc. Dementsprechend mussten für diese drei Themenfelder Objekte, Archivquellen und Werke gefunden werden. Sie erwähnt hier den Zeitdruck sowie die Problematik, parallel eine Dauerausstellung einrichten und eine völlig neue Sammlung zusammenstellen zu müssen. Dabei konstatiert sie, dass die Sammlung mit der Eröffnung der CNHI aus ihrer Sicht lange nicht fertiggestellt sein werde und fortlaufend weiter bereichert werden müsse. Insgesamt war für sie bei diesem Projekt zentral, dass man an einem ‚historischen Ort‘ der Kunst einen großen Raum gab und sie als legitime Quelle und Illustration der Darstellung von Immigrationsgeschichte wahrnahm, die vor allem auch die Emotion der Besucher ansprechen konnte. Die Orientierung der Sammlung an der Konzeption der Dauerausstellung zeigt die Bedeutung, die diesem Teil des Projekts in der Planungsphase zukam: Er war schon im Bericht von 2004 sehr konkret formuliert und ausgearbeitet worden, inklusive eines ersten Raum-Entwurfs für einen fertigen Ausstellungsparcours. Nun mussten die entworfenen Module mit Inhalt gefüllt werden und in eine Ausstellungssprache übersetzt werden. Hierbei scheint es zu einem zentralen Konflikt gekommen zu sein, der die Umsetzung der Dauerausstellung maßgeblich beeinflusst hat. Sowohl ein Interviewteilnehmer als auch Stevens heben diesen Konflikt zwischen dem wissenschaftlichen Beirat und dem Szenografen hervor:292 Offensichtlich bildete sich eine zunehmende Kluft zwischen der ästhetisch-szenografischen Umsetzung desselbigen und den wissenschaftlichen Inhalten, die der Beirat vermittelt wissen wollte. Dieser Konflikt führte laut dem Interviewteilnehmer so weit, dass die Kommunikation mit dem Szenografen völlig abbrach und die Wissenschaftler erst bei der Eröffnung das endgültige Resultat der Dauerausstellung sehen konnten, das in weiten Teilen nun anders aussah, als sie es geplant hatten. Der Konflikt zwischen den beiden Akteuren lässt sich u. a. durch eine Stellungnahme Pascal Payeurs und Lydia Elhadads, die beide für die szenografische Umsetzung zuständig waren, in hommes & migrations nachvollziehen. Sie betonten hier, dass eine Ausstellung für sie vorrangig am Aspekt der ‚Erfahrung‘ orientiert sein müsse. Sie dachten eindeutig primär von der Seite des Besuchers aus – bei ihm müss-
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Vgl. Lafont-Couturier, Les coulisses d’une collection en formation, S. 11. Vgl. Interview mit HE.
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ten Emotionen geweckt und Begegnungen mit dem Gegenstand ermöglicht werden. Die Verbindung des Besuchers mit dem Thema Immigrationsgeschichte, die Produktion von Erinnerung und sein emotionaler Zugang zum Thema standen hier im Mittelpunkt der Überlegungen. Payeur verglich die Ausstellung mit einer musikalischen Komposition. Er plädierte durchaus für eine Vermischung verschiedener Perspektiven und die Einbeziehung des wissenschaftlichen Zugangs, distanzierte sich aber zugleich klar von der Arbeit des Beirats, indem er konstatierte, dass die Zeitspanne, in der der Besucher sich durch den Ausstellungsparcours bewege, nichts mit der Zeitspanne gemein habe, die für eine wissenschaftlich fundierte Recherche notwendig sei. Er verdeutlichte hier also den für ihn völlig klaren Unterschied zwischen der ästhetischen Präsentation eines Themas in einer Ausstellung und der wissenschaftlichen Aufarbeitung eines Themas. Im ersten Fall gehe es um die Schaffung einer emotionalen Erfahrung für ein allgemeines Publikum, das hier seine Verbindung zum Thema und ein grundsätzliches Verständnis des Themas intuitiv erfahren solle. Im zweiten Fall gehe es um die Arbeit von Wissenschaftlern, die sich lange Zeit einem Thema ausführlich und differenziert widmen könnten, es aber auch nicht einem breiteren Publikum in ansprechender Form ästhetisch und formal gestaltet präsentieren müssten. Konkret zeigt sich der Unterschied in der Gestaltung der Dauerausstellung zwischen Payeur und dem wissenschaftlichen Beirat beispielsweise bei der Verwendung eines Zeitstrahls als gestaltendem Element. Dies zeigt auch eine spätere Aussage Elhadads: Les historiens s’inquiétaient beaucoup de la place de la chronologie. Ils avaient une vision un peu verticale. Nous savions qu’une exposition c’est un parcours en trois dimensions et libre, que les gens y butinent. Donc, l’idée d’un parcours linéaire nous paraissait totalement inappropriée. Nous avons dû un peu nous bagarrer pour imposer l’idée que certains supports allaient porter le discours « historien », et d’autres la part de la mémoire, de témoignage, d’oralité.293
Für die Wissenschaftler war der Zeitstrahl ein grundlegendes Element, das in seiner Stringenz den Raum als Leitfaden strukturieren helfen konnte. Payeur und Elhadad hingegen sahen es als notwendig an, das chronologische Element spielerisch über den Raum zu verteilen und damit die Stringenz des Zeitstrahls aufzubrechen. Der Interviewpartner, für den der Streit mit Payeur eine sehr prägende Erfahrung gewesen zu sein scheint, äußert, dass für ihn der Film, der auf der Website der CNHI zur Verfügung steht und auch schon vor der Eröffnung, ab Juli 2006, eingesehen werden konnte, eher der Vision des wissenschaftlichen Beirats in Bezug auf die Dauerausstellung entsprochen hätte.294 Diese Aussage scheint bei der Betrachtung des Films unmittelHerzberg, Nathaniel, Cité de l’immigration. La mémoire et l’Histoire, in: Le Monde (10.10.2007). Der Film ist auch aktuell in seiner Originalversion auf der Website der CNHI einsehbar: URL: http:// www.histoire-immigration.fr/ressources/histoire-de-l-immigration/le-film-deux-siecles-d-histoire-de-l-im migration-en-france (Zugriff 04.05.2017). 293 294
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bar einleuchtend. Der Film orientiert sich bereits von seiner Grundstruktur her an der im Comité de pilotage und im Planungsbericht vorgeschlagenen chronologischen Ordnung. Pro zeitlichem Abschnitt werden essenzielle Informationen zur Immigrationsgeschichte in der jeweiligen Phase von einer Stimme aus dem Off eingesprochen, während dazu in einer Art Diashow illustrierende Bilder in Form von Karikaturen, Gemälden und Fotografien gezeigt werden sowie offizielle Dokumente und weiteres Archivmaterial. Auffällig ist hier, dass trotz der offiziellen Orientierung der Planungen zur Dauerausstellung an der Periode der Massenimmigration ab ca. 1850 der Film auch die Phase vor der Französischen Revolution, das Ancien Régime, im Prolog thematisiert. Hier wird deutlich die Länge der Tradition der Einwanderung nach Frankreich hervorgehoben und besonders die anfängliche, vor allem grenznahe, binneneuropäische Migration betont. Daneben werden auch besonders deutlich die sehr unterschiedlichen Formen, Motivationen und die Dauer der Migration herausgestrichen. Im weiteren Verlauf des Films ist man bemüht, sich einerseits auf die wesentlichen Marker und prägnanten Punkte der Immigrationsgeschichte zu beschränken: So sind hier die demografische Schwäche Frankreichs, der Arbeitskräftebedarf im Rahmen der Industrialisierung, die Rolle Frankreichs als Aufnahmeland für politische und religiöse Flüchtlinge, die Rolle der Immigranten in den beiden Weltkriegen oder ihr Beitrag zur Wirtschaftsblüte der Trente Glorieuses wesentliche Anhaltspunkte. Andererseits ist man bemüht, die Vielfalt und Diversität der Migration zu veranschaulichen. So werden neben Intellektuellen und Künstlern auch einfache Handwerker und ungelernte Arbeitskräfte thematisiert und die alltäglichen Sorgen und Nöte beispielsweise in Bezug auf die Wohnsituation herausgestellt. Insgesamt kommt hier deutlich weniger, die später in der Dauerausstellung recht präsente, Beitragsgeschichte der Immigration zum Tragen, es wird eher versucht, die unterschiedlichen Einwanderungsgruppen, verschiedene soziale Milieus und ihre jeweiligen Lebens- und Arbeitsräume zu zeigen, ohne ausschließlich den positiven Effekt von Immigration zu illustrieren. Rassismus, Xenophobie, staatliche Repression und soziale Exklusion finden hier deutlich und durchgängig ihren Platz. Zudem fällt auf, dass die koloniale und postkoloniale Immigration, insbesondere auch der Fall Nordafrikas und Algeriens, kontinuierlich einen wichtigen Platz in der Präsentation der Immigrationsgeschichte einnimmt. Der Unterschied zwischen der ursprünglichen Konzeption der Dauerausstellung durch den wissenschaftlichen Beirat, die sowohl im offiziellen Bericht als auch in dem Film deutlich wird, und der tatsächlichen Umsetzung durch den Szenografen ist dabei offensichtlich. Payeur hatte sich gegen die recht deutliche Orientierung an einer Chronologie, einem Zeitstrahl, entschieden und diesen, wie im Interview ausgeführt, auf die thematischen Sektionen, denen er den deutlichen Vorzug als strukturierenden Elementen gegeben hat, verteilt. So blieb die Chronologie innerhalb einiger Einheiten erhalten und wurde aufgegriffen, war und ist aber nicht als übergreifender Leitfaden in der Ausstellungsstruktur erkennbar. Die thematischen Einheiten dominieren und sorgen damit einerseits für einen freieren Zugang zur Thematik und zur Ausstellung:
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Sie können, müssen aber nicht in einer festen Reihenfolge rezipiert werden.295 Andererseits macht es den Ausstellungsraum unübersichtlicher, lässt ihn weniger klar strukturiert erscheinen, es wird nicht unbedingt deutlich, welche Hierarchie hier zugrunde liegt, wo Anfang und Ende der Ausstellung sind. Es scheint, als habe Payeur den beschriebenen Ausstellungsentwurf aus dem Bericht gleichsam ‚umgestülpt‘: Den Kern des entworfenen Raums, den die thematischen Einheiten bildeten, die als zusätzliche Elemente zur dominant chronologischen Struktur dienen sollten, nimmt Payeur als roten Faden und macht aus ihm die Leitstruktur, während die Chronologie in das Innere der Einheiten verlagert wurde. Den Widerstand der Wissenschaftler kann man sich hier vorstellen – für sie war die Chronologie als Orientierungspunkt essenziell, an ihr ließ sich überhaupt erst eine kontextualisierte und differenzierte Betrachtung der Immigration zu einem spezifischen Zeitpunkt ermöglichen. Mit der neuen Struktur bestand die Gefahr, dass die ‚korrekte‘ Kontextualisierung verloren ging, besonders der laienhafte Besucher die Informationen nicht mehr in den korrekten Gesamtzusammenhang einordnen konnte und nur ein sehr vages, diffuses Bild von Immigration erhielt.296 Es ging hier letztendlich um zwei essenzielle Punkte: das der Präsentation zugrunde liegende Verständnis von Immigration und die Art des Konzepts einer breitenwirksamen Vermittlung des Themas. Der Beirat hatte sich stark mit dieser ersten Problemstellung auseinandergesetzt und war zu dem Entschluss gekommen, dass man hier eine historisch fundierte Erzählung der Geschichte der Massenimmigration seit ca. 1850 bieten müsse, die durch ihre profunde Verortung und Anbindung an einen Zeitstrahl eine möglichst klare Sprache sprechen sollte und daher wenig angreifbar erscheinen sollte, während Payeur die inhaltliche Definition von Immigration als völlig sekundär begriff – für ihn ging es darum, eine ansprechende Ausstellung zu gestalten, die aus seiner Sicht an der Erfahrung des Besuchers anknüpfte. Dabei unterschätzte er zum Teil die Komplexität des Themas und vor allem auch die Unvertrautheit vieler Besucher mit der Thematik. Umgang mit dem „prétendu couple Immigration-Colonisation“ Besonders deutlich fällt das Fehlen der ursprünglich angedachten, autonomen, inhaltlichen Einheit zur Kolonisation bzw. Dekolonisation auf: Stevens spricht hier davon, dass dieser Teil langsam im Zuge der Planungen und Umsetzungen aus der Institution Sie sind in der konkreten Ausstellung in einem Parcours angeordnet, sodass es eine durchaus erkennbare, vorgegebene Reihenfolge gibt, jedoch kann man sie auch völlig losgelöst von dieser Anordnung einzeln betrachten, ohne dass man wesentliche Informationen oder Aussagen der Ausstellung verpasst. Wobei dies durchaus ein gewisses historisches Vorwissen verlangt, es ist sonst relativ schwierig, die Chronologien innerhalb der thematischen Einheiten und die zusätzlich inhaltlich gegebenen Informationen zu kontextualisieren. 296 Vgl. Interview mit HE. 295
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‚hinausgeschoben‘ worden sei.297 ‚Kolonialismus‘ wird daher im Resultat in der Institution kaum mehr verhandelt. Dies wird durchaus auch von den Interviewpartnern so erkannt.298 Stevens argumentiert hier mit dem Freud’schen Verdrängungs-Konzept, was ihrer Meinung nach den historischen Diskurs in Bezug auf den Kolonialismus dominiere und damit der Bildung eines kollektiven Gedächtnisses in diesem Bereich entgegenstehe. Stevens konstatiert, dass ein solches Projekt wie die Cité auf keinen Fall die ‚fracture coloniale‘ auslassen könne und sich eigentlich explizit mit ihr befassen müsse, besonders wenn man sich die Zielsetzung der CNHI, also die Wahrnehmung von Immigration im heutigen Frankreich verändern zu wollen, anschaue: Denn diese Wahrnehmung sei häufig von ‚kolonialen‘ Stereotypen und Wahrnehmungsgewohnheiten bestimmt. Stevens geht dabei auch auf den Protest Pascal Blanchards und des ACHACs gegen die Ortswahl und den Umgang mit dem Thema der Kolonisation in diesem Kontext ein. In diesem Zusammenhang erläutert sie, dass der Protest, aber auch der Skandal um den Artikel 4 von 2005 einerseits zur Konzession in Form einer Wechselausstellung zum Thema Kolonialismus (‚1931‘) geführte hätten. Andererseits habe die damit einhergehende Dauerthematisierung von kolonialer Vergangenheit bei vielen Akteuren der Planungsphase zu Frustration und der Auffassung geführt, dass man Kolonialismus hier einfach als irrelevant für das Projekt darstellen müsse, um sich von der Diskussion zu befreien.299 Dieses Vorgehen wurde noch von der Angst bestärkt, dass das Thema eine gefährliche Eigendynamik entwickeln könne und am Ende Kolonialismus und Immigration missverständlicherweise gleichgesetzt werden würden. Besonders diese spezifische Angst schien in der Folge wesentlichen Einfluss auf das Verschwinden des Themas Kolonisation/Dekolonisation aus der Dauerausstellung gehabt zu haben. Sie taucht auch bei den Interviewpartnern und dem heutigen Museumspersonal wieder auf und wird in einem Interview von Janine Ponty klar formuliert: Quant au prétendu couple « Immigration-Colonisation », quelle confusion ! Au XIXe siècle tout immigrant était un Européen – qu’il vînt en France pour des raisons politiques ou économiques. L’Immigration européenne l’emporta en nombre sur celle issue des autres continents jusqu’au recensement de 1975 inclus. Et les originaires d’Afrique ou d’Asie n’ont pas toujours appartenu à l’Empire colonial français. Pensons aux Turcs, aux Sri Lankais, aux Chinois. Considérer les personnes en provenance du Maghreb, du Sénégal ou du Mali comme les seuls immigrés, c’est réduire l’immigration à une partie d’ellemême. Encore aujourd’hui, les Portugais restent la nationalité étrangère la plus nombreuse en France. Ramener l’histoire de l’immigration aux effets de la colonisation est un contreVgl. Stevens, Re-membering the Nation: The project for the Cité nationale de l’histoire de l’immigration, S. 226 ff. 298 Vgl. Interview mit DI. 299 Vgl. Stevens, Re-membering the Nation: The project for the Cité nationale de l’histoire de l’immigration, S. 228. 297
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sens historique destiné à survaloriser les problèmes psychologiques développés par les populations qui sont soumises à la loi du faciès. En ce qui concerne l’esclavage, l’erreur me paraît majeure, car les descendants des esclaves sont en réalité des citoyens français de la Martinique et de la Guadeloupe et l’on peut se demander s’il faut les considérer comme des immigrés lorsqu’ils arrivent en métropole. Je rejette la politique actuelle du mea culpa permanent et d’attribution de responsabilité collective.300
Interessant an der Befürchtung der Reduzierung der Immigration auf die Kolonisation ist, dass es im Rahmen der Planung und der Umsetzung der Institution nie um eine solche Reduzierung ging. Es ging lediglich um die Frage, ob nicht Kolonisation und Dekolonisation in der Dauerausstellung ihren legitimen Platz bekommen sollten und ob man nicht angesichts der kolonialen Vergangenheit des Ortes der neuen Institution eine Ausstellung zu eben dieser Geschichte in das Konzept der Institution integrieren sollte. Warum also diese Angst einer völligen Reduzierung von Immigration auf Kolonisation, die völlig übersteigert scheint, aber immer wieder bis heute bei den verschiedenen Akteuren aufscheint? Sicherlich weist hier das Freud’sche Konzepte der Verdrängung bzw. seine modifizierte Form, die Stevens in ihrer Arbeit entwirft, in die richtige Richtung: Offensichtlich ist es nicht möglich, eine plausible, angemessene Verbindung von Immigration und Kolonisation im Rahmen des kulturellen Gedächtnisses zu denken und zu entwerfen.301 Daher wird, wie in der Argumentation von Ponty erkennbar, die Verbindung zwischen den beiden Themen ad absurdum geführt, sodass man sie legitim ausgrenzen kann. Wie Ponty es formuliert: „Ramener l’histoire de l’immigration aux effets de la colonisation est un contresens historique“ – die Immigrationsgeschichte auf die Effekte der Kolonialgeschichte rückführen zu wollen, entspräche hier in der Darstellung einem ‚historischen Widersinn‘. Die Zuspitzung des Verhältnisses zwischen Immigration und Kolonisation auf eine Reduzierung des einen auf das andere erlaubt die Nivellierung der Verbindung und erlaubt ihre Verdrängung. Zudem argumentiert Ponty, dass mit der einseitigen Verbindung von Immigration und Kolonialismus die psychologischen Probleme von Bevölkerungsgruppen, die aufgrund ihres Aussehens stigmatisiert würden, überbetont würden. Aber diese Denkweise steht der Aufgabe der CNHI, aktuelle negative Stereotype der Immigration zu dekonstruieren, eindeutig entgegen. Gerade diese Probleme müssten in der CNHI thematisiert werden. Rassismus, der auch auf die koloniale Vergangenheit zurückzuführen ist, muss hier besprochen und dekonstruiert werden. Die offensichtliche Ausgrenzung der ganzen logischen Denkkette, Kolonialismus – Dekolonisation – Ras-
Poinsot, Marie, Le rôle central de l’historien. Entretien avec Nancy L. Green, Gérard Noiriel, Janine Ponty, Marie-Christine Volovitch-Tavarès, in: hommes & migrations „Une collection en devenir“ (mai-juin 2007). S. 92–101. S. 98 f. 301 Vgl. Stevens, Re-membering the Nation: The project for the Cité nationale de l’histoire de l’immigration, S. 257 f. 300
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sismus etc., wird dabei zum einen über eine stärkere Gewichtung der europäischen Immigration, begründet auf quantitativer Dominanz, gewährleistet. Zum anderen wird über eine Infragestellung der Legitimität, Einwanderer aus den Kolonien, die teilweise ja formal französische Staatsbürger waren und sind, als ‚immigrés‘ zu bezeichnen, ihre Ausgrenzung legitimiert. Dieses zweite Argument kam bereits zuvor in der früheren Planungsphase vor: Hier wurde geäußert, dass beispielsweise Nordafrikaner nicht als ‚immigrés‘ bezeichnet werden wollten, schließlich seien sie offiziell französische Staatsbürger und würden sich auch als solche verstehen.302 Gleichzeitig zeigt dieses Argument die ganze Widersprüchlichkeit der Positionen zu diesem Thema in der Planungsphase und auch danach auf: Selbst wenn Einwanderer aus den (ehemaligen) Kolonialgebieten nicht als ‚immigré‘ bezeichnet werden, so kommen sie auch aus einem kulturell fremden, anderen Land und vollziehen einen in der Regel anderen Migrationen ähnlichen Prozess der Migration. Damit wären sie ganz eindeutig ein legitimes Themenfeld der neuen Institution – besonders, wenn man sich, wie ursprünglich avisiert, hauptsächlich auf die Darstellung der Erfahrung von Migration konzentrieren will. Der Einfluss und die Bedeutung der (post-)kolonialen Immigration wird hier über die Thematisierung alternativer Einwanderungsgruppen und -phänomene sowie eine Delegitimierung des Status als ‚Immigration‘ relativiert. Als letzter Punkt scheint hier Pontys zusätzliche Zurückweisung der derzeitigen ‚Schuld-Bekennungs-Politik‘ Chiracs bedeutend. In der Tat machte Chirac die Anerkennung historischer Schuld (der französischen Nation) zu einem seiner wesentlichen Punkte auf der politischen Agenda. Doch diese Stärkung kontrapräsentischer Anteile des kollektiven kulturellen Gedächtnisses schien für viele einem Angriff auf die eigene Identität gleichzukommen und unnötig zu sein.303 Doch auch dieser Punkt müsste zentral in einer Institution wie der CNHI dargestellt und besprochen werden, um Wahrnehmung nachhaltig zu verändern und alternative Geschichtsdeutungen anzubieten. Doch insgesamt taucht Kolonialismus nur sehr einzeln und versprengt in der Dauerausstellung auf, die Tendenz scheint dahin gegangen zu sein, Kolonialismus und Dekolonisation nicht zu viel Platz einzuräumen und ihre Bedeutung herunterzuspielen. Stevens erläutert dies an einem Beispiel, in dem die problematische Beziehung zu Fremden und verschiedene Wellen der Xenophobie verallgemeinert und als immer wiederkehrend beschrieben werden, sodass hier die Erfahrung der Einwanderer aus den Kolonien und der Umgang der französischen Gesellschaft mit ihnen als nicht-spezifisch verstanden werden kann. Außerdem wird die Erfahrung der kolonialen Einwanderung beispielsweise mit der der jüdischen verglichen, auch hier verliert sie ihre Spezifik und Bedeutung. Fauvel ergänzt, dass sie hier einen ‚doppelten Diskurs‘ in Bezug auf das Thema Kolonialismus beobachtet, der von Anfang etabliert worden sei: Vgl. Kapitel 2.2a.a) Akteure und Planungsgruppen: Conseil scientifique (wiss. Beirat) und Forum des associations (Vereine). 303 Zum Begriff der kontrapräsentischen Erinnerung, vgl. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S. 78 f. 302
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[…] si l’histoire coloniale n’est pas racontée dans l’exposition permanente, et donc dans l’histoire de l’immigration, elle l’est dans les colloques, comme le colloque inaugural sur « la question coloniale » en septembre 2006 et dans une exposition sur « L’Exposition coloniale et les étrangers en France en 1931 » de mai à septembre 2008. Ce double discours reflète non pas les recherches actuelles sur la colonisation, qui ont fait d’elle une chose publique, et non plus réservée aux spécialistes, mais bien plutôt le discours politique en France qui met l’histoire coloniale dans les marges, pour ne l’utiliser qu’à son profit […] en niant les méfaits de la colonisation et en l’excluant du récit officiel de l’histoire de France.304
Fauvel konstatiert hier also ähnlich wie Stevens eine Verdrängung des Themas aus der Dauerausstellung des Museums in den Bereich der zusätzlichen Veranstaltungen rund um die Eröffnung des Museums, was von vielen Akteuren offenbar als legitime Kompensation des Fehlens in der Institution selbst begriffen wird. Fauvel sieht darin das Echo des politischen Umgangs mit dem Thema Kolonisation, das hier ebenso marginalisiert wird bzw. für bestimmte Zwecke instrumentalisiert und umgedeutet wird, wenn dies in die politische Agenda passe. Name/Identität Wie bereits zu Beginn des Kapitels erwähnt, entschied man sich bei der Betitelung des GIP bereits für ‚Cité nationale de l’histoire de l’immigration‘. Damit waren Alternativen wie ‚Centre de ressources et de mémoire de l’immigration‘, wie das Projekt noch im Brief von Raffarin an Toubon in Anlehnung an den Bericht von El Yazami gennant wurde, oder „Musée de l’histoire et des cultures de l’immigration en France“, ein Vorschlag, den Toubon im Bericht von 2004 eingebracht hatte, vom Tisch. Die Diskussion um ‚Centre‘ oder ‚Musée‘ wurde damit zugunsten eines dritten Vorschlags ‚Cité‘ beendet. Woher dieser Vorschlag genau stammt, ist nicht einwandfrei nachvollziehbar, trotzdem wurde er von Raffarin 2004 als offizieller Titel der Institution festgehalten und blieb bis 2013 erhalten, dem Jahr, in dem die Institution in Musée de l’histoire de l’immigration umbenannt wurde.305 Die Verwendung des Begriffs ‚Cité‘ in Kombination mit ‚immigration‘ rief durchaus Protest bzw. Widerwillen hervor. Einige Akteure sahen darin eine Bestätigung des negativen Stereotyps, der Immigration mit den Cités, den Hochhausburgen der Banlieues, assoziierte. In diesem Verständnis stigmatisierte
Fauvel, Exposer l’autre. Essai sur la Cité nationale de l’histoire de l’immigration et le Musée du quai Branly, S. 133. 305 Vgl. EP Porte Dorée (Hrsg.), Rapport d’activités 2013 – Etablissement Public de la Porte Dorée, URL: http://www.histoire-immigration.fr/sites/default/files/rapport_activites_epppd_2013.pdf (Zugriff 24.07.2017). 304
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man hier Immigration erneut und sah die Tendenz bestätigt, dass es sich am Ende eher um ein ‚musée ghetto‘ handeln könnte.306 Jedoch war diese Kritik für viele andere Akteure nicht nachvollziehbar: Sie sahen in der Namensgebung weniger die Assoziation mit den urbanen ‚Cités‘ und den ‚Jeunes des Cités‘. Vielmehr stellt es für sie einen Weg dar, den hybriden Charakter der zukünftigen Institution zu veranschaulichen, schließlich hatte man sich trotz der starken musealen Elemente und Anleihen deutlich gegen das Konzept eines ‚klassischen Museums‘ entschieden und wollte dies auch im Namen zeigen. Dabei sollte hier einerseits der deutlich erweiterte Aufgaben- und Aktivitätsbereich der zukünftigen CNHI zum Ausdruck kommen: Neben der Dauer- und den Wechselausstellungen sollte es schließlich eine Mediathek, ein Auditorium für Konferenzen, Kolloquien und Vorträge geben, begleitet von einem umfangreichen museumspädagogischen Programm, Filmvorführungen waren angedacht und ‚acitvités hors murs‘. Die Cité sollte andererseits ein lebendiger, belebter Ort sein, der für alle Menschen offen war und an dem man sich treffen und möglichst diversen Aktivitäten im Bereich Immigration nachgehen können sollte. In dieser Vorstellung bezog sich ‚Cité‘ eher auf die Idee einer kleinen belebten Stadt, eines Ortes der gemeinschaftlichen Zusammenkunft. In diesem Verständnis stand das Konzept eher für eine Öffnung gegenüber allen Besuchern und eben nicht für eine Begrenzung auf die Zielgruppe von Migranten und ihren Nachfahren. Irritierend blieb aber, dass das Konzept des Ortes, vor allem im offiziellen Bericht und auch in der Formulierung der Aufgabe und Funktion des GIPs, eher museal blieb und auch bei der Umsetzung die Konzeption einer Dauerausstellung und die Erstellung einer Sammlung deutlich im Mittelpunkt standen. Daher überraschte es wenig, dass 2014 schließlich auch offiziell die Bezeichnung ‚Musée‘ etabliert wurde. Zu diesem Zeitpunkt, Anfang der 2000er Jahre, war die Bezeichnung ‚Cité‘ für französische Kulturinstitutionen mit durchaus musealem Charakter nicht mehr unüblich: Die Cité de la Musique und die Cité de l’architecture sind Beispiele für diese Tendenz. Trotzdem ist hier die Überlegung angebracht, dass die Bezeichnung ‚Cité‘ auch der Funktion der Abgrenzung von anderen kulturellen Institutionen dienen sollte. Mit ihr sollte stärker das der Institution zugrunde liegende kulturelle Projekt hervorgehoben und damit ihr Alleinstellungsmerkmal verdeutlicht werden. Hier hat sicherlich auch eine Rolle gespielt, dass vermehrt von verschiedenen Akteuren das Konzept des Museums während der Planungsphase mit einem ‚alten, verstaubten, wenig attraktiven, elitären‘ Ort der Kultur assoziiert und daher abgelehnt wurde.307 Das Konzept der Cité sollte den innovativen, interdisziplinären und offenen Ansatz der Institution, der eine umfassende kulturelle Programmatik einschloss, spiegeln und sie damit als moderne, neue Institution im besonders dichten Museumsteppich Paris‘ sichtbar machen. Vgl. Interview mit BC. Vgl. Toubon, Rapport au premier ministre. Mission de préfiguration du Centre de ressources et de mémoire de l’immigration, S. 178. 306 307
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Schließlich war Paris zwar bewusst ob seiner geografischen, kulturellen und politischen Zentralität für die Cité ausgewählt worden, jedoch bedeutete diese Wahl auch, sich mit den zahlreichen, bereits existierenden alternativen Museen und Kulturinstitutionen messen zu müssen und mit ihnen in Konkurrenz um Besucherzahlen und Aufmerksamkeit zu treten. Dabei konnte ein auffälliger Name, der nicht das klassische ‚musée‘ im Namen trug, durchaus hilfreich sein, schließlich stand das Projekt zusätzlich von Beginn an im Schatten des zweiten präsidialen Großprojekts, dem Musée de Quai Branly, das Chirac bereits 1995 angekündigt und seitdem kontinuierlich vorangetrieben hatte. Das MQB war sicherlich das für Chirac bedeutendere und daher auch finanziell besser ausgestattete Projekt. Allein die Tatsache, dass hierfür ein Neubau am Seine-Ufer von Star-Architekt Jean Nouvel gebaut wurde, ließ das Budget und den zeitlichen Rahmen, die hierfür veranschlagt wurden, deutlich großzügiger ausfallen. Wie Bouchain hingegen im Interview mit Marie Poinsot angibt, waren durch das deutlich beschränkte Budget im Falle der CNHI kaum große Änderungen am wohlgemerkt eben schon vorhandenen Bau möglich. Auch H. Lafont-Couturier beklagt ihrerseits den zeitlichen Druck und die Unmöglichkeit, gleichzeitig Dauerausstellung und Sammlung erstellen zu müssen. Der zeitliche Druck war bei diesem Projekt natürlich u. a. der Tatsache geschuldet, dass man das Projekt möglichst noch vor dem Ende der zweiten Amtszeit Chiracs und damit vor seinem wahrscheinlichen Ausscheiden aus dem politischen Lebens Frankreichs fertigstellen und eröffnen wollte. Die Kernaspekte und Problemstellungen der Umsetzungsphase von 2004 bis 2007 bestimmen durchaus auch noch nach der Eröffnung der CNHI im Oktober 2007 den Diskurs um und in dieser Institution. Bevor sie endgültig eröffnet werden konnte, wurde sie 2006 in ein Établissement public umgewandelt, was von vielen Akteuren als Gewinn und Erleichterung begriffen wurde: Damit gewann die neue Institution an Autonomie und Legitimität. In der Folge wurde dann die CNHI wesentlich durch die Umstände ihrer Eröffnung geprägt. Besonders die zeitliche Verzögerung, mit der sie erst nach dem Ende der zweiten Amtszeit Chiracs eröffnet werden konnte, spielte hier eine große Rolle. 2.2b.b Rezeption in der Presse Im Folgenden sollen die Wahrnehmung und die Rolle des Projekts aus der Perspektive der Medien, speziell der Presse, untersucht werden. Diese Perspektivierung soll darüber Aufschluss geben, wie das Projekt von außen wahrgenommen wurde, welche Themen, Fragen und Konflikte von der Presse aufgegriffen und diskutiert wurden: Wie wurde ein nationales, staatliches Projekt zur Darstellung und Aufwertung von Immigration hier wahrgenommen? Um dabei die verschiedenen Stufen der Entwicklung einer durchaus wachsenden Aufmerksamkeit in Bezug auf das Projekt herausarbeiten und definieren zu können, wird die Berichterstattung von der ersten offiziellen Vor-
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studie 2001 bis zur Eröffnung 2007 einbezogen. Zudem werden Artikel herangezogen, die den durch Chirac angestoßenen Wandel der Pariser Museumslandschaft thematisieren. So soll die Entstehung und Umsetzung des Projekts zu einem Immigrationsmuseum in Frankreich umfassend durch die ‚Brille‘ der Presse rekontextualisiert werden. Die Presseartikel stammen mehrheitlich aus den großen, nationalen Tages- und Wochenzeitungen. Dieser Fokus liegt darin begründet, dass die hier relevanten Museen und Kulturinstitutionen einerseits alle in Paris ansässig sind und andererseits alle nationale bzw. staatlich unterstützte Institutionen sind. Daher werden sie meist in der nationalen Tages- und Wochenpresse aufgegriffen, wohingegen sie in regionalen Zeitungen selten bis gar nicht auftauchen. Die Schaffung des ersten nationalen und staatlichen Museums für die Geschichte der Immigration wurde von Anfang an in der Presse thematisiert, doch geschah dies in einer durchaus sehr heterogenen Dichte und Intensität. Dies lag u. a. auch daran, dass sich die neue CNHI die Aufmerksamkeit der Presse mit anderen, im Umbau befindlichen bzw. neu kreierten Institutionen im Kultursektor teilen musste, schließlich war die Cité Teil einer umfassenden Umstrukturierung der Pariser Museumslandschaft, die auch und vor allem bereits etablierte große Museen betraf. So war das Jahr 2000 im Frühjahr von der Einrichtung der neuen Abteilung der ‚Arts premiers‘ im Louvre in der Presse dominiert worden.308 Dieser Vorstoß Chiracs, der mit dem Protest des Louvre und seines damaligen Direktors konfrontiert worden war, machte im kulturellen Bereich Schlagzeilen: „Le Louvre s’apprête à accueillir froidement les „primitifs“.309 Die Integration außereuropäischer Kunstobjekte in eine der ‚grauen Eminenzen‘ der Pariser Museumswelt erregte die Gemüter.310 Jedoch wurde dieses Thema 2001 bald von einem weiteren, hiermit verknüpften Thema abgelöst: der Schließung des Musée de l’homme und seiner Zergliederung. Die Ankündigung Chiracs, ein neues Museum schaffen zu wollen, und der daraufhin in Auftrag gegebene Rapport Friedmann, sahen schließlich die Schließung des MAAO und des MH vor.311 Interessanterweise fiel der Protest in Bezug auf das Musée de l’homme viel virulenter aus als der des MAAO-
Vgl. u. a. Edelmann, Frédéric / de Roux, Emmanuel, Les arts primitifs entrent dans le XXIe siècle, in: Le Monde (02./03.04.2000); de Roux, Emmanuel, Les arts premiers au Louvre, in: Le Monde (14.04.2000); Prat, Véronique, Les arts lointains entrent au Louvre, in: Le Figaro (08.04.2000), Varenne, Françoise, Chirac défend le droit des peuples à l’histoire, in: Le Figaro (14.04.2000), Noce, Vincent, Le Louvre s’ouvre enfin aux arts premiers, in: Libération (13.04.2000); Wideman, Dominique, Le Louvre s’ouvre aux arts lointains, in: L’Humanité (18.04.2000); Monier, Françoise, Le revanche des primitifs, in: L’Express (13.04.2000); Godeluck, Armelle, Les sauvages au Louvre (01.06.2000). 309 De Roux, Emmanuel, Le Louvre s’apprête à accueillir froidement les „primitifs“, in: Le Monde (04.01.2000). 310 Es finden sich einige Artikel oder auch Dossiers, die den Einzug der Arts primitifs in den Louvre direkt in Zusammenhang mit dem MQB thematisieren, zudem finden sich parallel auch immer wieder Artikel zum MQB. 311 Vgl. Kapitel 1.3. 308
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Personals.312 Dies hing sicherlich mit dem offiziellen Image und der Prestigeträchtigkeit des Musée de l’homme als einer der wichtigsten musealen Instanzen, die für die Geburt der Ethnologie und Anthropologie in Frankreich standen und diese repräsentierten, zusammen,313 zumal es nun nicht nur geschlossen, sondern gleichsam ‚auseinandergerissen‘ werden sollte: Das Labor für Ethnologie sollte nun dem zukünftigen MQB angegliedert werden. Dies rief beim Personal des MH, aber auch bei dem Hause verbundenen Experten wie Jean Rouch, Wut und Protest hervor. Dies führte so weit, dass das MH mehrere Monate bestreikt wurde. Ein weiterer Streitpunkt war die ungewisse Zukunft des Überrestes des MH: Was sollte aus ihm werden, sollte es reformiert und wiedereröffnet werden oder für immer verschwinden?314 Im selben Zeitraum tauchte ebenso, aber weit weniger häufig und prominent, die Schließung eines zweiten ‚musealen Riesen‘, des Musée national des arts et traditions populaires (MNATP), das u. a. von Lévi-Strauss mitbegründet worden war, in der Presse auf. Es sollte in das erste dezentrale nationale Museumsprojekt eines neuen Musée des civilisations de l’Europe et de la Méditéranée (Mucem) umgewandelt werden.315 Dabei sollte es seinen primär französischen Fokus zugunsten einer Thematisierung Europas bzw. aller Mittelmeerkulturen, also auch Nordafrikas, aufgeben und völlig umgestaltet werden. Zu diesem Zweck wurde es im Zuge der kulturellen Dezentralisierung raus aus Paris, nach Marseille verlagert. Trotz des Umfangs und der Dimensionen dieses Projekts rief es zu Beginn der 2000er Jahre weit weniger Interesse vonseiten der Presse hervor als das Musée de l’homme und seine Widerständigkeit gegen die Pläne des Präsidenten. Im selben Zeitraum tauchte hier, wenn auch noch vereinzelt, wie im Falle der Debatte zwischen M. Telhine und C. Bartolone von 2000/01, die Idee eines Immigrationsmuseums auf,316 wobei erst mit der offiziellen Begründung eines Comité de pilotage
Vgl. de Roux, Emmanuel, Le Musée de l’Homme est en crise, sur fond de „guerre civile“, in: Le Monde (13.12.2001); o. A. Personnels en grève lundi, Musée de l’Homme, in: Le Figaro (03.02.2001); Romero, Anne-Marie, Mur de silence autour du Musée de l’Homme, in: Le Figaro (22.11.2001); Huet, Sylvestre, Musée de l’Homme: refus de déménager sans ménagement, in: Le Figaro (28.11.2001), Brédy, Aude, Le fonds de la colère, in: L’Humanité (17.12.2001). 313 Vgl. M. S., Requiem pour un „projet unique au monde“, in: L’Humanité (03.03.2003). 314 Vgl. o. A. Vingt mille lettres de soutien „Musée de l’Homme“, in: Le Figaro (30.11.2001); de Roux, Emmanuel, Le Musée de l’Homme se cherche un avenir, in: Le Monde (17.01.2002); Romero, Anne-Marie, Un musée de l’Homme tout neuf en 2007, in: Le Figaro (25.06.2002); Romero, Anne-Marie, Musée de l’Homme, le retour, in: Le Figaro (28.11.2002); o. A. Mouvement contre une liquidation, in: Libération (17.01.2002); Huet, Sylvestre, La grève prend racine au Musée de l’Homme, in: Libération (09.01.2002); Dupaigne, Bernard, L’Avenir du Musée de l’Homme, in: L’Humanité (21.01.2002); Huet, Sylvestre, Le Musée de l’Homme mis en caisses, in: Libération (09.01.2003); Steinmetz, Muriel, Le Musée de l’Homme refuse la fermeture, in: L’Humanité (05.03.2003). 315 Vgl. de Roux, Emmanuel, MNATP?, in: Le Monde 18.02.2001; o. A. Le Musée des civilisations de l’Europe et de la Méditerranée prend encrage à Marseille, in: Les Echos (06.04.2000); de Roux, Emmanuel, Le Musée des arts et traditions populaires ferme ses portes, in: Le Monde (23.06.2005). 316 Es erschien u. a. auch ein Artikel in Le Monde zu Jospins Ankündigung von 2001, ein Immigrationsmuseum schaffen zu wollen: Zappi, Sylvia, Lionel Jospin annonce la création d’un musée de l’immigration, 312
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und dem Abschluss der Vorarbeiten Ende 2003 bzw. Anfang 2004 das Thema gezielter in die kulturelle Berichterstattung aufgenommen wurde. Mit dem Beginn des Jahres 2004 debütierte offiziell die ‚Schaffung eines nationalen Immigrationsmuseums‘ mit dem Verweis auf die verschiedenen, bisher unerfolgreichen Vorläuferprojekte als Thema in den großen Tageszeitungen. Hier wurden meist die wesentlichen Vorgängerinitiativen wie die AMHI und die entsprechenden Akteure wie Gérard Noiriel oder Patrick Weil stichpunktartig aufgeführt. Zudem wurde auf die bisher fehlende politische Unterstützung hingewiesen. Im Jahr 2003, in dem immerhin der offizielle Brief Raffarins an Toubon zur Erstellung der Machbarkeitsstudie erging, stand noch die Schließung des MAAO und des Musée de l’homme als ‚Ende einer musealen Ära‘ auf der Agenda.317 Lediglich der Kommentar Pascal Blanchards in L’Humanité zur Wahl des Palais de la Porte Dorée als Ort für das neue Immigrationsmuseum verwies im Dezember 2003 auf das neue Projekt.318 Ab Januar 2004 fanden sich dann in den drei großen Tageszeitungen Le Monde, Le Figaro und La Libération Berichte zu dem neuen Projekt. Recht früh etablierte sich der Ort, der auch in den Planungskommissionen für Debatten gesorgt hatte, als wesentliches Thema. Le Monde brachte im Januar 2004 direkt einen Artikel zu den Arbeiten der Vorbereitungskommission und dem Kolloquium in der BNF unter dem Slogan ‚Leur histoire est notre histoire‘ heraus.319 Im Juli wurde hier wieder angeknüpft und das Projekt bereits unter dem Titel ‚Cité de l’immigration‘ geführt.320 Ort und Name wurden als beschlossene Größen des Projekts präsentiert, wobei ausgeführt wurde, dass Toubon sich einen anderen Namen vorgestellt habe, dies aber der einzige Punkt sei, in dem man ihm von Regierungsseite nicht gefolgt sei: Matignon n’a pas souhaité l’intituler « musée », le terme entraînant une tutelle forte du ministère de la culture, se traduisant en crédits et attribution de personnels (conservateurs) plus importants. Les services du ministre de la culture Renaud Donnedieu de Vabres, ont aussi estimé qu’en l’absence de collections constituées, il n’était pas juste de lui donner une telle appellation.321
Die Presse griff die deutliche Ablehnung vonseiten des Kulturministeriums gegenüber der Cité auf, wobei betont wurde, dass man u. a. deshalb den Titel Museum vermieden habe, weil sonst das Kulturministerium sich gezwungen gesehen hätte, mehr finanziel-
in: Le Monde (24.11.2001). In disem Kontext wird auch auf den Bericht von El Yazami und Schwartz hingewiesen. 317 Vgl. u. a.: Dargent, La fin d’une époque porte Dorée, und Raspiengeas, Jean-Claude, Les musée des Arts d’Afrique et d’Océanie ferme ses portes, in: La Croix (23.01.2003). 318 Vgl. Blanchard, Musée des immigrations ou Musée des Colonies?. 319 Vgl. Bédarida, Catherine, Des idées pour un musée de l’immigration, in: Le Monde (08.01.2004). 320 Vgl. Zappi, Sylvia, Lieu de mémoire et d’éducation, la Cité de l’immigration ouvrira ses portes en 2007, in: Le Monde (10.07.2004). 321 Zappi, Lieu de mémoire et d’éducation, la Cité de l’immigration ouvrira ses portes en 2007.
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le und personelle Mittel an die Cité abstellen zu müssen. Hier schien auch die Debatte um den Charakter der Institution, die sich vor allem um die Ablehnung bzw. Vermeidung des Konzepts ‚Musée‘ drehte, auf. Die Funktion der neuen Institution wurde mit einem Verweis auf die Vorgänger-Initiativen definiert: die Anerkennung der Immigration als wichtigem Bestandteil der französischen Gesellschaft und ihrer Geschichte. Zu diesem Zweck wurde erneut der Slogan ‚Leur histoire est notre histoire‘ in einem Zitat von Raffarin eingebracht. Die Cité wurde dabei als ‚Lieu de mémoire‘ und Vermittlungsort der Immigrationsgeschichte charakterisiert, der 2007 eröffnet werden solle. Als wesentliche Eckpfeiler des Projekts wurden die Dauerausstellung und die hybride Funktion vorgestellt und betont, dass man sich bewusst gegen das klassische Konzept des ‚Museums‘ stelle. Der Figaro setzte mit seiner Berichterstattung erst mit der öffentlichen Lancierung des Projekts durch Raffarin im Sommer 2004 ein. Hier wurde hervorgehoben, dass es sich bei der neuen Institution ursprünglich um ein Projekt der politischen Linken unter Jospin gehandelt habe, was nun aber von der politischen Rechten unter Raffarin umgesetzt werde. Zudem wurde explizit das Projekt der CNHI als Teil der Politik der sozialen Kohäsion kontextualisiert.322 La Libération hob Anfang 2004 auf einen anderen Aspekt des neuen Projekts ab: Hier wurde von den Bedenken der bereits bestehenden, häufig lokalen, Initiativen zur Immigration berichtet, die befürchteten, dass die CNHI mit ihrem Budget ihnen das Geld wegnähme,323 schließlich würden für die Vorbereitung bereits 3–4 Millionen gebraucht und in der Folge für die Instandhaltung etc. jährlich 5–6 Millionen Euro. Zudem sei das Vorhaben nicht unproblematisch, insbesondere mit Blick auf die Wahl des Ortes.324 Im Dezember brachte dann Libération einen ausführlicheren Beitrag zu dem Projekt – hier diente ein neuerliches Kolloquium „Musée et histoire de l’immigration, un enjeu pour toutes les nations“ als Anlass.325 In diesem Artikel wurde die Haltung des Präsidenten gegenüber der Immigration kritisiert: „La France semblait plus multiculturelle sur les affiches Benetton que dans la tête du Président“326 – damit sollte auch verdeutlicht werden, welch langen Weg man noch bei der Veränderung der Wahrnehmung von Immigration vor sich habe. Das genannte Kolloquium und das Projekt der Cité wurden hingegen als Schritt in die richtige Richtung verstanden, wobei am Ende des Artikels kritisiert wurde, dass diese neue Wende in Richtung einer Anerkennung der Immigration auch in eine Art ‚Überkompensation‘ umschlagen könne: So habe beispielsweise der Haut Conseil d’Intégration in der jüngeren Vergangenheit einige Persönlichkeiten mit Migrationshintergrund speziell aus-
Vgl. Gabizon, Cécilia, Le Musée de l’immigration ouvrira ses portes en 2007, in: Le Figaro (08.07.2004). 323 Vgl. o. A. Inquiétudes de financement, in: Libération (13.02.2004). 324 Vgl. Rotman, Charlotte, L’immigration, pièce de musée, in: Libération (13.02.2004). 325 Vgl. Rotman, Charlotte, Immigrés, une nouvelle histoire de France, in: Libération (10.12.2004). 326 Ebd. 322
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zeichnen wollen. Dies wurde von vielen dankend abgelehnt, da sie sich als Franzosen und nicht als Einwanderer verstanden.327 Im Kontext dieser Berichterstattung wurde auch Gérard Noiriel interviewt, der hier seine Absicht betonte, mit dieser Institution die fehlende Anerkennung der Immigrationsgeschichte als Teil der Nationalgeschichte etablieren zu wollen.328 Er sprach dabei dem Projekt der Cité eine ähnliche Bedeutung zu wie der offiziellen Anerkennung der Verantwortung des französischen Staates bei der Verfolgung der Juden im VichyRegime durch Chirac. Damit wird deutlich, dass Noiriel diesem Projekt eine enorme öffentlichkeitswirksame Strahlkraft unterstellte. Neben der Stellungnahme wissenschaftlicher Akteure wurde auch die Geschichte und Funktion der Organisation Génériques hervorgehoben, die das Gedächtnis der Immigration sammelt.329 Es wurde hier auf das umfassende Archiv und die Mengen an gesammeltem Material eingegangen, die die Vermutung der DMF und anderer Akteure, im Falle der Immigration gäbe es nichts zu zeigen oder auszustellen, konterkarierte. Trotzdem wurde die Prekarität dieses spezifischen Gedächtnisses deutlich: Les gens ne se rendent pas toujours compte que ce qu’ils ont peut devenir objet d’histoire et de recherche. […] « Dans les années 80, il y avait cette idée que les immigrés ne laissaient pas de traces », dit Patrick Veglia, autre membre de Génériques. Il cite cet homme d’origine algérienne, responsable associatif dans les Hauts-de-Seine, qui a œuvré pour les relations islamo-chrétiennes, les immigrés hospitalisés, et s’est occupé du rapatriement des corps vers le Maghreb. « Ces papiers ont une utilité historique ? », a-t-il demandé aux historiens. Il n’en avait pas conscience.330
Hier erscheint die verinnerlichte, vermeintliche Bedeutungslosigkeit der eigenen Geschichte im Bereich der Immigration ursächlich für das Nicht-Vorhandensein von Quellen. Zudem wird die Rolle von Organisationen, die solche Quellen oft bereits seit Jahrzehnten sammeln, aufgewertet. Im Januar 2005 wurde für Le Monde die Schaffung des GIPs Cité nationale de l’histoire de l’immigration, die am 01. Januar 2005 im Journal officiel publiziert wurde, zum Anlass, um die vorherigen, vergeblichen Anlaufversuche für ein solches Projekt zu rekapitulieren.331 In diesem Kontext wurden erneut die Funktion und der Charakter der zukünftigen Institution ausführlich beschrieben. Dabei war es mittlerweile üblich, den ambivalenten Ort und seine Vergangenheit zu nennen und durchaus auch den Konflikt hierum zu betonen. Diese Darstellung wurde in ausführlicherer Form
Vgl. Rotman, Charlotte, Immigrés, une nouvelle histoire de France, in: Libération (10.12.2004). Vgl. Rotman, Charlotte, „Ici, on n’accorde pas de noblesse à la migration“, in: Libération (10.12.2004). Vgl. Arnaud, Didier, Récolteurs de la mémoire des immigrés, in: Libération (10.12.2004). Ebd. Vgl. Zappi, Sylvia, Le projet de l’histoire de l’immigration est officiellement lancé, in: Le Monde (04.01.2005). 327 328 329 330 331
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im November desselben Jahres in Le Monde wiederholt.332 Nun wurde auch noch einmal verstärkt die Ambivalenz des Ortes, das Plädoyer Blanchards gegen den Ort sowie der Umgang mit dem Kolonialismus anlässlich des Artikels 4 von 2005 thematisiert: So hatte laut dem Artikel Blanchard den anderen am Projekt beteiligten Akteuren im November 2005 vorgeworfen, den Artikel zur positiven Rolle des Kolonialismus indirekt zu unterstützen. Es ging hier erneut um die Forderung Blanchards in den Palais de la Porte Dorée ein Museum zur kritischen Darstellung der Kolonialgeschichte zu setzen, statt eines Immigrationsmuseums. Mit der jetzigen Nutzung würde weiterhin die koloniale Vergangenheit ausgelassen und bekäme so keinen legitimen Platz in der nationalen ‚Meistererzählung‘. Ende November 2005 erschien dann zum ersten Mal eine direkte Stellungnahme der wissenschaftlichen Akteure des Projekts der Cité, die zur aktuellen Immigrationspolitik, den Banlieues-Unruhen und den Debatten um den bereits erwähnten Artikel 4 von 2005 Stellung bezogen: Die Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats der Cité M.-C. Blanc-Chaléard, N. Green, G. Noiriel, J. Ponty, É. Témime, V. Viet, M.-C. Volovitch-Tavarès und P. Weil bezogen unter dem Titel „Immigration et histoire“ zu ihrer Rolle als HistorikerInnen in diesem Projekt und in der Gesellschaft Stellung:333 Nous avons accepté de participer au conseil scientifique de ce projet parce qu’il nous paraissait inadmissible que la France soit le seul vieux pays d’immigration à n’avoir édifié aucun lieu de mémoire pour rappeler le rôle essentiel qu’ont joué les immigrants […] En tant qu’historiens, notre devoir civique est de contribuer à faire évoluer la mémoire collective en luttant contre les stéréotypes et les préjugés qui alimentent les haines racistes et les fantasmes xénophobes. Notre fonction ne consiste pas seulement à transmettre l’histoire de l’immigration aux élèves des écoles et aux visiteurs du futur musée. Nous nous adressons aussi aux élites qui nous gouvernent pour qu’elles méditent sur les leçons de cette histoire. Malheureusement, les évènements qui se sont produits récemment dans un grand nombre de quartiers populaires ont entraîné une brutale résurgence, au sein de la droite dite « républicaine », de propos et de propositions que l’on croyait cantonnés aujourd’hui à l’extrême droite. […] Ces discours révèlent une ignorance, feinte ou délibérée, de l’histoire de l’immigration.334
Sie betonten hier die Notwendigkeit eines ‚lieu de mémoire‘ für die Immigration in Frankreich, der einen Kampf gegen stereotype Wahrnehmungsmuster gegenüber Immigranten und ihren Nachkommen möglich mache und die Immigration als Phänomen der französischen Gesellschaft begreifen helfe. Sie kritisierten die Einstellung vor allem
Vgl. de Roux, Emmanuel, La Cité de l’immigration devait ouvrir en avril 2007, in: Le Monde (01.11.2005). 333 Vgl. M.-C. Blanc-Chaléard, N. Green, G. Noiriel, J. Ponty, E. Témime, V. Viet, M.-C. Volovitch-Tavarès und P. Weil, Immigration et histoire, in: Le Monde (29.11.2005). 334 Ebd. 332
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der ‚republikanischen Rechten‘ und der Regierung gegenüber Immigration: Beide begegneten Immigranten nur mit Ablehnung und Abwertung. Zudem würden von politischer Seite Elemente der Immigrationsgeschichte oft bewusst missverständlich oder falsch dargestellt. Als Beispiel für das Fehlverhalten vor allem von Politikern wurde hier das Verhalten des damaligen Innenministers, Sarkozy, in den Banlieues herangezogen. Man betreibe vonseiten der Regierung einen zunehmenden rechtspopulistischen Diskurs, der eine ‚Schuldabwälzung‘ sozialer Probleme auf die Immigranten fördere. Damit würde Immigration in der Öffentlichkeit als aktuelles, atemporales soziales Problem dargestellt, was nicht akzeptabel sei. Sie wiesen auf die Ambivalenz hin, die sich aus der Parallelität von Projekten wie dem der CNHI und der Initiative von Gesetzen wie dem Artikel 4 von 2005 zeige. Sie beklagten hier die Instrumentalisierung der Geschichte durch die Politik. Ihr Appell stellte sich direkt gegen den tagespolitischen Diskurs zur Immigration und den Umgang mit der Kolonialgeschichte – zudem wird das Selbstbild dieser wissenschaftlichen Akteure innerhalb der Cité als ‚Stimme der Immigration‘, die auf den öffentlichen Diskurs Einfluss nimmt, deutlich. Damit wurde das Projekt hier über die öffentliche Stellungnahme seiner wissenschaftlichen Akteure in direkte Verbindung mit der aktuellen Immigrationspolitik, dem Bild der Immigration der politischen Rechten und der Initiative zum Artikel 4 von 2005 gebracht. Es wird damit klar, dass diese Akteure in der Cité eindeutig auch ein politisches und gesellschaftsrelevantes Instrument sahen, das sich zu diesen Fragen positionieren musste. Le Figaro griff ähnlich wie Le Monde das Dekret im Journal officiel zur Schaffung des GIPs CNHI auf – es wurde betont, dass dieses Projekt der Immigration den Platz geben sollte, der ihr in der französischen Gesellschaft zustehe. Es wird hier umfassend Toubon zitiert, der darauf hinwies, dass es sich bei der Cité weniger um ein Museum für und über Immigranten handele als vielmehr um ein Museum der französischen Geschichte, das eine neue Vision der selbigen anbiete. Zudem liege ihm am Herzen, dass es vor allem ein kulturelles Projekt sei, das das Thema Immigration aus der ‚sozialen Falle‘ befreie. Man wolle zudem kein ‚écomusée de la banlieue‘ schaffen. Es wird konstatiert, dass die neue Institution zur Anerkennung der Immigration sehr dem momentanen Zeitgeist in den Industrienationen entspreche.335 Jedoch wurde auf derselben Seite nach diesem Artikel in einem kleinen Sonderabschnitt unter dem Titel „La revanche du Palais des Colonies“ auf die Vergangenheit des Gebäudes eingegangen. Der Autor wertete die jetzige Unterbringung des Immigrationsmuseums im ehemaligen Kolonialpalast als ‚Ironie‘, wobei er auch erklärte, dass Toubon diese Ironie für seine Zwecke nutzen wolle und das Gebäude gleichsam umdeuten wolle. In der Folge wurde das Projekt nur noch in Kurzmeldungen aufgegriffen:336 Hier spielten u. a. der Umgang mit dem Ort, sein Umbau durch Bouchain und die Beset-
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Vgl. Romero, Anne-Marie, Le musée des étrangers qui ont fait la France, in: Le Figaro (14.01.2005). Vgl. La Croix (04.01.2005); Les Echos (03.01.2005).
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zung des Gebäudes der Porte Dorée durch Sans-papiers eine Rolle. Dieser Aspekt wurde auch von La Libération thematisiert, die dazu titelte: „Dans l’ex-musée des colonies, la colère actuelle des sans-papiers“.337 Hier wurde also auf andere Art und Weise das Gebäude und seine Vergangenheit ins Spiel gebracht. Die aktuelle Situation der illegalen (häufig auch nordafrikanischen) Einwanderer wurde mit der kolonialen Vergangenheit des Ortes in Verbindung gebracht. Dabei sahen die Protestierenden laut dem Artikel dies bewusst als ihren Ort an: „On est chez nous!“ – und zwar einerseits aufgrund seiner Vergangenheit, aber andererseits auch aufgrund seiner zukünftigen Nutzung als Immigrationsmuseum. Dieses Ereignis sollte sich auch deutlich nach der Eröffnung der CNHI 2010 im Palais wiederholen und in diesem Falle ungeahnte Ausmaße annehmen.338 Mit dem Jahr 2006 wurde das Projekt der CNHI fast für ein ganzes Jahr deutlich von der Fertigstellung des MQB, das im Sommer dieses Jahres eröffnet wurde, verdrängt. Die Presse widmete sich nun dem eigentlichen Großprojekt Chiracs, dem neuen Museum für die Arts premiers. Die Berichterstattung war umfassend und erschöpfend, wobei sie um die Eröffnung am 20.06. kulminierte.339 Zur CNHI wurde kaum berichtet.
Vgl. Arnaud, Didier, Dans l’ex-musée des colonies, la colère actuelle des sans-papiers, in: Libération (26.05.2005). 338 Die Besetzung der Cité durch die Sans-papiers 2010 wird in der Folge noch ausführlicher thematisiert, zumal es sich dabei um ein Ereignis handelte, das das Bild des Hauses, aber auch die Arbeit und das Selbstverständnis des Personals maßgeblich geprägt hat. 339 Vgl. Edelmann, Frédéric, Musée du quai Branly. L’Art et la science, sowie: Une édifice hybride, mystérieux et joyeux in: Le Monde (20.06.2006); de Roux, Emmanuel, 300 000 objets en réserve, 3500 pièces exposées, in: Le Monde (20.06.2006); o. A. Jacques Chirac rend hommage aux „peuples humilités et méprisés“, in: Le Monde (21.06.2006); o. A. Un bel outil, in: Le Monde (21.06.2006); Marin, Jean-Yves, Un musée postcolonial, in: Le Monde (21.06.2006), de Roux, Emmanuel, Quai Branly. Batailles pour un musée, in: Le Monde (21.06.2006); de Roux, Emmanuel, La double mission du Quai Branly, in: Le Monde (04.07.2006); Biétry-Rivierre, Eric / Romero, Anne-Marie, Succès pour le quai Branly?, in: Le Figaro (09.01.2006); o. A. Répétition générale au Quai Branly?, in: Le Figaro (05.04.2006); Gouillaud, Philippe, Chirac, portrait d’un amateur éclairé, in: Le Figaro (20.06.2006); Héliot, Armelle, Quai Branly vérités premières, in: Le Figaro (20.06.2006); sowie Dossier von Armelle Héliot, Eric Biétry-Rivierre und Marie-Douce Albert zum MQB in: Le Figaro (20.06.2006); Breton, Stéphane, Musée du quai Branly: une idée apaisée de la différence des cultures, in: Le Figaro (21.06.2006); o. A. Rituel, in: Libération (20.06.2006); Fèvre, Anne-Marie, Plus une territoire qu’une architecture, in: Libération (20.06.2006); Guiral, Antoine, La seule constance de Chirac, in: Libération (20.06.2006); Debailleux, Henri-François / Noce, Vincent, Les arts premiers s’ancrent à Paris, in: Libération (20.06.2006); Guiral, Antoine, Chirac comme chez lui Quai-Branly, in: Libération (21.06.2006); Traroe, Aminata, Quai-Branly, musée des oubliés, in: Libération (20.07.2006); Noce, Vincent, Le musée du quai Branly étrillé par la presse étrangère, in: Libération (25.07.2006); Debailleux, François, 5 siècles et 3 continents, in: Libération (28.09.2006); Ullrich, Maurice, Le vaisseau du quai Branly appareille, in: L’Humanité (20.06.2006); Dupaigne, Bernard, À quoi sert le quai Branly?, in: L’Humanité (20.06.2006); Roy, Anne, Un respect à gagner, in: L’Humanité (20.06.2006), Zola, Christophe, Le musée de l’Homme „réduit à un squelette“, in: L’Humanité (20.06.2006), Jauffret, Magali, Jean Nouvel: „Je relie le sens et le sensible“, in: L’Humanité (20.06.2006); Traroe, Aminata, Œuvres de l’esprit, n’entendez-vous pas les cris des noyés de l’émigration?, in: L’Humanité (30.06.2006); Goubert, Guillaume / Gignoux, Sabine, Dossier „Le musée des cultures oubliées“, in: La Croix (24./25.06.2006); Leloup, Michèle, Le nouveau pari de Nou337
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Eine Ausnahme bildete Les Echos.340 Im Unterschied zu den bisherigen Vorstellungen des Projekts wurde hier vor allem auch die bereits vor der tatsächlichen Eröffnung des Ortes einsehbare Website des Projekts gelobt. Die vielfältigen Zeitzeugenberichte und Materialien bezeugten ein vielfältiges und alternatives Bild der Immigration, das einen vielversprechenden Vorgeschmack auf die neue Institution darstelle. Zudem wurde stärker als zuvor die Rolle der zeitgenössischen Kunst innerhalb der Cité betont. Es wurden auch wieder die konfliktträchtigen Punkte, wie der Ort oder aber die Eingebundenheit in politische Fragen, aufgegriffen. So konstatierte der Autor am Ende, selbst wenn sich das Immigrationsmuseum nach seiner Fertigstellung als ‚langweilig‘ erweise, würden es die Debatten um diese Institution sicherlich nie. Das Jahr über wurde die CNHI dann gar nicht mehr thematisiert, erst im Oktober 2006 tauchte sie wieder vereinzelt auf: In La Libération findet sich eine Notiz zur offiziellen Übergabe des Ortes des Palais an Toubon und die CNHI.341 Interessant erscheint dabei der Titel in La Libération ‚L’après-MAAO‘, der hier ganz klar eine Kontinuität oder zumindest ein Fortwirken der Vorgängerinstitutionen in der neuen Funktion des Ortes sah. Im Jahr seiner Eröffnung, 2007, änderten sich die Kräfteverhältnisse in der Berichterstattung jetzt nun wieder zugunsten der Cité. Nach der ersten Euphorie und Kritik am MQB gehörte nun die Aufmerksamkeit der Presse fast völlig dem neuen Immigrationsmuseum. Hier erstreckte sich die Berichterstattung insgesamt über das ganze Jahr – allerdings ist sie von zwei Höhepunkten gekennzeichnet, die sich bei den meisten Tageszeitungen beobachten lassen: Mai und Oktober 2007. Diese beiden Monate stehen für zwei wichtige Ereignisse und Debatten, die diese neue Institution von Anfang an als besonders ‚politisch‘ kennzeichneten. Im Mai 2007 traten verschiedene Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats der Cité symbolisch aus selbigem aus, um gegen das neue Ministerium Sarkozys für Immigration und nationale Identität zu protestieren. Im Oktober hingegen sollte die Cité nun endlich eröffnet werden – dies musste trotz ihres nationalen und staatlichen Charakters jedoch ohne Präsident Sarkozy oder einen seiner Minister stattfinden, was einen Skandal auslöste. La Croix verkündete noch im Januar 2007 die Eröffnung der Cité im April 2007342 – das entsprach der ursprünglichen Planung. So hätte Chirac als Präsident das von ihm in Auftrag gegebene Museum noch eröffnen können. Jedoch verzögerte sich die Eröffnung schließlich bis in den Oktober. Auch in diesem Artikel zog sich wieder der rote Faden der Thematik des Ortes und seiner ‚Umnutzung‘ durch: La Croix gab der Schwierigkeit und Vorbelastung durchaus großen Raum und thematisierte den Umbau durch Bouchain. Die Umgestaltung und endgültige Aufteilung des Gebäudes sowie seine einzelnen Be-
vel, in: L’Express (09.03.2006); Biais, Jean-Marc, Genèse d’un musée, in: L’Express (05.06.2006); Bordier, Julien Jacques Chirac a „son“ musée, Serri, Jérôme, Polémique aux arts premiers, in: L’Express (01.10.2006). 340 Vgl. Hazera, Jean-Claude, Quand les immigrés auront leur musée, in: Les Echos (27./28.01.2006). 341 o. A. L’après-MAAO, in: Libération (02.10.2006). 342 Vgl. Rouden, Céline, La mémoire de l’immigration aura bientôt son musée, in: La Croix (02.01.2007).
Planung und Umsetzung einer Cité de l’histoire de l’immigration (ab 2003/04 bis 2007)
standteile schienen festzustehen und entsprachen dem späteren Endzustand. L’Express international verkündete bereits im März unter dem Titel „Le chantier en retard du président“ die Verzögerung der Eröffnung, die nun um zwei Monate verschoben worden sei.343 Im selben Monat berichtete Le Monde recht ausführlich über eine der ersten Initiativen der Cité, die trotz oder gerade aufgrund der verschobenen Eröffnung bereits zu besuchen sei: die Performance „Zone Mai“ von dem Choreografen Sidi Larbi Cherkaoui und dem Videokünstler Gilles Delmas, die in Roubaix gezeigt wurde.344 Ab März kündigte sich dann bereits im Wahlkampf um die Präsidentschaftswahlen das Thema an, um das sich die erste große Polemik in Zusammenhang mit der Cité drehen sollte: die nationale Identität (‚identité nationale‘). Sarkozy verkündete am 08. März 2007, dass er, falls er Präsident werde, ein Ministerium für Immigration und nationale Identität gründen werde.345 Diese ‚Wiedergeburt‘ des Konzepts der ‚Nationalen Identität‘ sorgte für Diskussionsbedarf. Kurz nach der Präsidentschaftswahl und dem Machtwechsel von Chirac zu Sarkozy kam es dann zum Eklat: Sarkozy hatte sein Versprechen wahr gemacht und ein Ministerium für Immigration und nationale Identität auf den Weg gebracht.346 Am 18. Mai beschlossen daraufhin die acht Wissenschaftler Patrick Weil, Nancy Green, Gérard Noiriel, Patrick Simon, Vincent Viet, Marie-Christine Volovitch-Tavarès, Marie-Claude Blanc-Chaléard und Geneviève Dreyfus-Armand aus dem wissenschaftlichen Beirat der CNHI auszutreten, um gegen das neue Ministerium zu protestieren.347 In einer offiziellen Stellungnahme, die am 22. Mai in Le Monde abgedruckt wurde, begründeten sie ihr Vorgehen: Depuis 2003, nous avons participé au projet de la Cité nationale de l’histoire de l’immigration (CNHI). Cette cité […] entend changer le regard de nos contemporains sur leur société en rappelant comment, depuis deux siècles, les étrangers, venus par vagues successives, ont contribué à développer, à transformer et à enrichir la France. Rendre compte de la diversité des histoires et des mémoires individuelles et collectives […] aider ainsi au dépassement des préjugés et des stéréotypes, tels sont les enjeux qui nous ont mobilisés autour de ce projet. L’instauration d’un « ministère de l’immigration et de l’identité na-
Vgl. Saget, Estelle, Le chantier en retard du président, in: L’Express international No. 2906 (15.03.– 21.03.2007). S. 12. 344 Vgl. Herzberg, Nathaniel, Une „zone mai“ pour vingt et un danseurs venus d’ailleurs, in: Le Monde (24.03.2007). 345 Vgl. Coroller, Catherine, Changement d’ère. A savoir la naissance de la polémique, in: Libération (16.07.2007). 346 Dieses Ministerium wurde völlig neu als ‚ad-hoc‘ Struktur nach dem Wahlsieg Sarkozys geschaffen. Damit wurden die bisher auf verschiedene Ministerien verteilten Belange der Immigration in einem neuen Ministerium vereint. Zuvor waren hier Innen- und Justizministerium sowie das Ministerium für Arbeit und das Ministerium für Äußere Angelegenheiten involviert gewesen. Vgl. Van Eeckhout, Laetitia, Immigration, naissance d’un nouveau ministère, in: Le Monde (02.06.2007) 347 Vgl. o. A. Ministère de l’immigration: première crise, premières démissions, in: Libération (18.05.2007); Coroller, Catherine, L’identité nationale déjà en crise, in: Libération (19.05.2007); o. A. Identité nationale: démission d’universitaires, in: Le Nouvel Observateur (18.05.2007). 343
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tionale » remet en cause ces objectifs. Les mots sont pour le politique des symboles et des armes. Or il n’est pas dans le rôle d’un État démocratique de définir l’identité. Associer « immigration » et « identité nationale » dans un ministère n’a jamais eu de précédent dans notre République ; c’est, par un acte fondateur de cette présidence, inscrire l’immigration comme « problème » pour la France […]. Ce rapprochement s’inscrit dans la trame d’un discours stigmatisant l’immigration et dans la tradition d’un nationalisme fondé sur la méfiance et l’hostilité aux étrangers, dans les moments de crise.348
Der noch in der Stellungnahme von 2005 zur aktuellen Immigrationspolitik eher als Potenzialität enthaltene konkrete Protest wurde zur Realität. Für diese acht Akteure stand die Schaffung einer Institution zur Anerkennung der Immigration in absolutem Gegensatz zur Geburt eines Ministeriums, das Immigration und nationale Identität im Sinne eines rechtspopulistischen Diskurses im Namen assoziierte und damit implizierte, dass der Staat definieren könne, was nationale Identität sei und wer dazu gehöre. Im Rahmen dieser Stellungnahme dankten sie auch explizit Toubon und seiner geleisteten Arbeit und verliehen der Hoffnung Ausdruck, dass das Projekt erfolgreich fortgesetzt werden könne. Besonders Patrick Weil trat öffentlich als Sprecher der Protestgruppe in Erscheinung und verlieh diesem Handeln Nachdruck, indem er formulierte, dass es sich für ihn um eine ethische Frage gehandelt habe, sich gegen dieses Ministerium zu stellen.349 Dieser Austritt und die Stellungnahme wurden in allen großen Tageszeitungen rezipiert. Dementsprechend folgte die politische Reaktion auch prompt – von zwei Seiten: Einerseits bezog Valérie Pécresse, Ministerin für Bildung und Forschung, Stellung, in dem sie von einem Missverständnis sprach und die Akteure animieren wollte, ihre Entscheidung zu überdenken. Das Missverständnis bestand laut ihrer Meinung in der Auffassung des Begriffs der ‚identité national‘. Schließlich meine man damit lediglich staatsbürgerliche Zugehörigkeit bzw. die staatsbürgerlichen Rechte sowie die Werte der Republik und das Bekenntnis zu ihnen.350 Andererseits meldete sich Brice Hortefeux, neu im Amt als Minister des zur Debatte stehenden Ministeriums, zu Wort und erklärte sich bereit, die Akteure zu empfangen und mit ihnen zu diskutieren.351 Parallel ‚multiplizierten‘ sich die öffentlichen Stellungnahmen und Erläuterungen der einzelnen Mitglieder der ‚Protestgruppe‘.352 Darüber hinaus er-
Patrick Weil, Nancy Green, Gérard Noiriel, Patrick Simon, Vincent Viet, Marie-Christine VolovitchTavarès, Marie-Claude Blanc-Chaléard und Geneviève Dreyfus-Armand, Un amalgame inacceptable! 349 Vgl. Didelon, Camille, Immigration et identité nationale: une „confusion“ et une „régression“, in: Libération (18.05.2007). 350 Vgl. Rive, Émilie, Tentative de subordination des universitaires démissionnaires, in: L’Humanité (21.05.2007). 351 Vgl. Tabet, Marie-Christine, Hortefeux va recevoir les chercheurs du CNHI, in: Le Figaro (23.05.2007). 352 Vgl. Rive, Émilie, Gérard Noiriel: „Un classique du discours nationalistes“, in: l’Humanité (21.05.2007); Sicot, Dominique, Trois questions à Marie-Christine Volovitch-Tavarès, in: L’Humanité (24.05.2007); Coroller, Catherine, „Nous ne pouvons rester silencieux“, in: Libération (24.05.2007). 348
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hielten sie enormen Zuspruch, vor allem auch vonseiten des universitären Milieus. Am 29.05. berichtete dann Le Nouvel Observateur, dass nun Toubon und alle Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats, unter ihnen die Ausgetretenen, von Hortefeux empfangen worden seien. Zu diesem Anlass forderte die Gruppe klar die Umbenennung des Ministeriums. Dies schien auf wenig Wohlwollen zu stoßen. Es wurde im Gegenteil betont, dass sich das neue Ministerium mit diesem Namen als Ministeriums des ‚vivre ensemble‘ verstehe.353 Eine Umbenennung erfolgte nicht, jedoch war mit diesem Austausch der Protest nicht beendet, die Akademiker nahmen ihre Entscheidung nicht zurück. Zudem weitete sich der Protest bis in den Juni aus.354 Am 22. Juni wurde erneut unter Federführung der aus dem wissenschaftlichen Beirat ausgetretenen Akademiker in Libération eine Petition veröffentlicht.355 Man betonte erneut die Opposition zum Namen des Ministeriums und der Verbindung der Konzepte Immigration und nationale Identität innerhalb desselbigen: „Pour eux (les signataires de la pétition), „l’identité nationale constitue, aujourd’hui, une synthèse du pluralisme et de la diversité des populations et ne saurait être fixée dans le périmètre d’un ministère“.356 Die Gründung dieses Ministeriums wurde als Beginn einer Politik gesehen, die Immigration als Problem stigmatisieren wolle. Man leiste damit Vorurteilen und Stereotypen Vorschub, gegen die man eigentlich ganz im Gegenteil ankämpfen müsse, zumal so etwas wie ‚nationale Identität‘ nicht definierbar sei, schon gar nicht vonseiten des Staates. Das Erlassungsdekret, das auch die Aufgaben des Ministeriums definiere, zeige zudem, dass man vor allem eine Kontrollfunktion ausüben wolle, die ein statisches Konstrukt der nationalen Identität vorgebe und eine gezielte Erinnerungspolitik im Bereich der Immigration vorgeben wolle. Die Reaktion Hortefeux‘ blieb ‚naiv‘ bis ignorant: Man sehe hier kein Problem, man stehe in Dialog mit den Wissenschaftlern und arbeite gemeinsam an einer Definition des Konzepts der ‚nationalen Identität‘.357 Damit war die Cité noch vor ihrer Eröffnung Ort politischer Debatten um Immigration und Identität geworden, so titelte dann auch L’Express im August: „À un mois de son inauguration au palais de la Porte Dorée, à Paris, la Cité de l’histoire de l’immigration a subi les dommages collatéraux de la querelle sur l’identité nationale“.358 Die Kollateralschäden bestanden hier vor allem im Verlust wichtiger wissenschaftlicher
Vgl. o. A. Musée de l’immigration: des historiens reçus, in: le Nouvel Observateur (29.05.2007) und ergänzend: Parquet, Karine, Immigration: le ministère en quête „d’identité“, in: L’Humanité (30.05.2007). 354 Vgl. o. A. Une pétition contre le ministère de l’immigration et de l’identité nationale, in: La Croix (22.06.2007). 355 Vgl. o. A. „Nous protestons contre la dénomination et les pouvoirs dévolus à ce ministère“, in: Libération (22.06.2007), sowie: Coroller, Catherine, Immigration-nation: tollé sur un ministère, in: Libération (22.06.2007). 356 o. A. Une pétition contre le ministère de l’immigration et de l’identité nationale, in: La Croix (22.06.2007). 357 Vgl. Coroller, Immigration-nation: tollé sur un ministère. 358 Pène, Clémence, Immigration. Une Cité sous tension, in: L’Express (16.08.2007). S. 22–23. 353
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Akteure für die Arbeit des Beirates der Cité, auch wenn selbige durchaus den Kontakt zu der Institution nicht völlig abbrachen und in der Folge auch weiterhin ihren Beitrag beisteuerten. Jedoch war zudem die Eröffnung mehrfach verschoben worden und wurde mittlerweile erst für Oktober 2007 geplant.359 Die andauernde Polemik und ihre Folgen hatten dabei ganz offensichtliche Auswirkungen: Il y a en France un énorme besoin de réconciliation sur cette question de l’immigration. […] L’attente en ce qui concerne cette Cité de l’immigration était donc énorme. Hélas, ce projet a explosé en plein vol. Il y a d’abord eu la polémique suscitée en 2006 [sic] par la loi sur l’enseignement du « rôle positif » de la colonisation. Puis Nicolas Sarkozy a lancé le slogan d’ « immigration choisie » qui a dominé la campagne électorale, laissant accroire qu’il y a aujourd’hui des gens de trop en France. Enfin, la création d’un ministère de l’« immigration » et de « l’identité nationale » a fini de jeter la suspicion sur l’ensemble des populations immigrées. Pour toutes ces raisons, le Mrap [Mouvement contre le racisme et pour l’amitié entre les peuples] ne participera pas aux festivités d’inauguration de la Cité de l’immigration. Nous attendons un geste fort du gouvernement, qu’il revienne sur cet intitulé de ministère qui associe malencontreusement ces deux termes.360
Diese hohe Erwartung vonseiten der Vereinsakteure an die Regierung sollte in der Folge enttäuscht werden. Die tatsächliche Eröffnung der Cité im Oktober 2007 wurde vielmehr in weitere Polemiken und politische Debatten verstrickt. Kurz vor der geplanten Eröffnung am 10. Oktober erschien in der Presse ein neues Vorhaben Sarkozys, das am 19. September von Hortefeux angekündigt worden war – es erregte erneut vor allem die Gemüter der Wissenschaftler:361 „Nicolas Sarkozy tente-t-il de créer des think-tank de droite avec des chercheurs à sa botte sur les questions d’immigration et de colonisation?“.362 Es ging hier um die von Sarkozy avisierte Schaffung eines Institut d’études sur l’immigration et l’intégration sowie eine Fondation pour la mémoire de la guerre d’Algérie et des combats du Maroc et de la Tunisie. Für Patrick Simon, der hier federführend eine Petition gegen das geplante Institut anstrengte, offenbarte sich in dem neuerlichen Vorhaben ganz klar der Versuch der Politik, Einfluss auf die Forschung in Bezug auf Immigration, Integration sowie der Kolonialgeschichte und ihrer Darstellung zu nehmen.363 Diese Einschätzung wurde von vielen Akademikern geteilt und wurde insofern zusätzlich genährt, als dass das neue Institut vom Haute Conseil d’intégration geschaffen werden sollte, dessen Präsident direkt vom Premierminister ernannt wird. Der Haute Conseil wiederum unterstand mittlerweile dem umstrittenen
Vgl. Gorce, Bernard, Le musée de l’immigration, in: La Croix (14.09.2007). S. 12/13. Aounit, Mouloud, „Nous attendons un geste du gouvernement“, in: La Croix (14.09.2007). S. 13. Vgl. Van Eeckhout, Laetitia, Un nouvel institut vient faire de l’ombre à la Cité de l’immigration, in: Le Monde (04.10.2007). 362 Coroller, Catherine, Le malaise des historiens, in: Libération (02.10.2007). 363 Vgl. ebd. 359 360 361
Planung und Umsetzung einer Cité de l’histoire de l’immigration (ab 2003/04 bis 2007)
Ministerium unter Brice Hortefeux. Laut der damaligen Vorsitzenden des HCI, Blandine Kriegel, gehe es hier jedoch lediglich um eine Konzentrierung der Forschung zur Immigration an einem Pol sowie um eine Ausdehnung der Mittel für diese Forschung. Noiriel deutete dies damit als Versuch des neuen Ministeriums unter Hortefeux, sich nach den Polemiken auch gegenüber der wissenschaftlichen Community Legitimität und Respekt zu verschaffen.364 Neben Simon und Noiriel äußerten auch die anderen bereits durch ihren Austritt aus dem Beirat der CNHI bekannten Wissenschaftler Skepsis – nicht nur gegenüber dem Institut und seiner politischen Anbindung an sich, sondern auch gegenüber der geplanten Ernennung Hélène Carrère d’Encausse’ als Direktorin des Instituts, die in der Vergangenheit durch ihre öffentliche Herleitung einer Verbindung der Probleme in den Banlieues mit der ‚Vielehe‘ nordafrikanischer Einwanderer negativ auffiel.365 Paul Schor, ein Historiker, der zu seiner eigenen Überraschung feststellen musste, auf der Mitgliedsliste der Wissenschaftler des Instituts aufzutauchen, ohne jemals vorher von offizieller Seite kontaktiert worden zu sein, verfasste schließlich eine Stellungnahme in Le Monde.366 Er drückte klar seine Bedenken gegenüber der explizit formulierten Aufgabe des Instituts aus, ein ‚guichet unique‘ für die Immigrationsforschung zu sein, das auch noch die wesentlichen, allgemeinen Achsen der Forschung in diesem Bereich allgemeingültig festlegen solle. Dies widerspreche jeder behaupteten Unabhängigkeit des Instituts und lasse bereits mehr als deutlich durchklingen, dass es darum gehe, politisch erwünschte Forschung zu betreiben. Zudem widersetzte er sich hier entschieden jedweder Instrumentalisierung der Forschung und der Wissenschaftler durch die Politik. Er weigerte sich mit seinem Namen auf der Institutsliste ungefragt für die Legitimation einer Immigrationspolitik zu stehen, die Immigranten stigmatisiere, als Problem begreife und ausgrenze. Diese Form der Immigrationspolitik wurde auch kurz zuvor von Michel Wieviorka offen angegriffen und verurteilt. Besonders die Initiative zur Einführung von DNA-Tests bei der Familienzusammenführung wurde von ihm als Negativbeispiel genannt.367 Laut Wieviorka fische Sarkozy hier nur allzu deutlich im Wählerbecken des Front national.368 Allerdings wurde schließlich aufgrund der Polemik um das neue Institut seine Eröffnung, die eigentlich am 08.10., also unmittelbar vor der Eröffnung der Cité hätte stattfinden sollen, kurzerhand abgesagt.369
Vgl. Van Eeckhout, Laetitia, Un nouvel institut vient faire de l’ombre à la Cité de l’immigration, in: Le Monde (04.10.2007). 365 Vgl. u. a. Millot, Lorraine, „Beaucoup de ces Africains sont polygames …“, in: Libération (15.11.2005). 366 Vgl. Schor, Paul, L’instrumentalisation des historiens est inacceptable, in: Le Monde (05.10.2007). 367 Hortefeux hatte einen Ergänzungsantrag zu einem neuen Gesetzesvorhaben zur Immigration zugelassen, der u. a. einen Nachweis der Verwandtschaft bei der Familienzusammenführung über DNA-Tests vorsah. Vgl. u. a. o. A. Immigration: Besson enterre les tests ADN, in: Le Monde (13.09.2009). 368 Vgl. Wieviorka, Michel, La diversité reculons, in: Le Monde (04.10.2007). 369 Vgl. Tabet, Marie-Christine, La Cité de l’immigration naît dans la douleur, in: Le Figaro (08.10.2007). 364
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Vor diesem erneut problematischen, tagespolitischen Zusammenhang titelte dann auch Le Figaro kurz vor der Eröffnung der Cité: „La Cité de l’immigration naît dans la douleur“.370 Die Verwickelung der CNHI vor und während ihrer Eröffnung in politische Debatten wurde von vielen Akteuren negativ gewertet. Zwar wurde dem Projekt dadurch eine Menge Aufmerksamkeit zuteil, jedoch wurde die Cité damit auch zum politischen Spielball verschiedener Akteure – ihre wichtige Funktion als Pionier-Institution, die eine veränderte Wahrnehmung von Immigration öffentlichkeitswirksam vermitteln sollte, wurde hier durch tagespolitische Querelen und Machtkämpfe aufs Spiel gesetzt. Man verhielt sich vonseiten der Cité gegenüber dem Austritt der HistorikerInnen neutral und versuchte die eigene Institution ‚aus der Schusslinie‘ zu halten. So verwundert es denn auch nicht, dass sich Toubon anlässlich der Eröffnung in einem Interview mit Le Monde betont apolitisch gab und hervorhob, dass er vonseiten der Regierung oder des Präsidenten keine Probleme oder Antipathien in Bezug auf die Umsetzung der Cité habe spüren können.371 Zudem sehe er keinen Widerspruch zwischen der aktuellen Immigrationspolitik Sarkozys und der Cité, ebenso wenig wie zwischen dem neuen Institut und der Cité. Toubon war trotz der kritischen Nachfragen vonseiten der Journalistin, die immer wieder auf die Widersprüchlichkeit der neuen Cité und der Politik und Einstellung Sarkozys in Sachen Immigration abhob, extrem darum bemüht, jeglichen Widerspruch auszuschließen und der Cité jedwede politische Dimension zu nehmen: „La Cité est une institution culturelle éducative scientifique et civique, au sens où son rôle est d’éveiller la conscience politique des gens. Non par un discours politique mais par la connaissance.“372 Dies gelang allerdings im Laufe der Eröffnung mehr schlecht als recht, schließlich sorgte hier die Abwesenheit sowohl des Präsidenten als auch seiner Minister bei der Eröffnung einer staatlichen, nationalen Institution zur Anerkennung der Immigration einerseits für Verblüffung und Kritik, andererseits auch für Aufmerksamkeit.373 So widmete Le Monde der Eröffnung direkt einen Teil seiner Titelseite und mehrere Folgeseiten der Ausgabe vom 10. Oktober.374 Auch Le Parisien bot ein umfassendes Dossier zur Eröffnung am 10. Oktober an.375 Zudem nahmen fast alle Tageszeitungen den SkanTabet, La Cité de l’immigration naît dans la douleur. Vgl. Van Eeckhout, Laetitia, Changer le regard sur l’immigration, in: Le Monde (7./8.10.2007). Ebd. Dies scheint laut La Croix am Eröffnungstag nicht nur für die Presse zu gelten, Waintrop berichtet hier, dass die Zahl der Polizisten und Fernsehkameras deutlich höher war als die der eigentlichen Besucher: Vgl. Waintrop, Michel, „Trop de Français veulent oublier qu’ils ont des ancêtres étrangers“, in: La Croix (11.10.2007). 374 Vgl. o. A. Le discret hommage de la France à ses immigrés, in: Le Monde (10.10.2007); o. A. Éditorial. La France immigrée, in: Le Monde (10.10.2007) Herzberg, Nathaniel / Van Eeckhout Laetitia, Voulue par Jacques Chirac, la Cité nationale de l’Immigration ouvre dans une grande discrétion, in: Le Monde (10.10.2007). S. 11; o. A. Cité de l’immigration. La mémoire et l’histoire, in: Le Monde (10.10.2007), S. 22. 375 Vgl. Dossier „Génération après génération, ils ont rejoint l’Hexagone“, in: Le Parisien (10.10.2007); Mongaillard, Vincent / Égré, Pascale, Le premier lieu de mémoire sur l’immigration ouvre aujourd’hui, in: 370 371 372 373
Planung und Umsetzung einer Cité de l’histoire de l’immigration (ab 2003/04 bis 2007)
dal um die Eröffnung in die Titelzeile der jeweiligen Ausgabe auf: Le discret hommage de la France à ses immigrés (Le Monde), Voulue par Jacques Chirac, la Cité nationale de l’immigration ouvre dans une grande discrétion (Le Monde), Pas de flonflons pour la Cité de l’immigration (Libération), Une inauguration trop discrète pour être honnête (L’Humanité); Silence, on ouvre! (L’Humanité), Inauguration en catimini de la Cité de l’immigration (L’Express). Zwar war die Abwesenheit des politischen Personals ob seiner eigenen im Kontrast zur Funktion der CNHI stehenden Einstellung zur Immigration und den neuerlichen Spannungen im Bereich der Immigrationspolitik durchaus vorhersehbar gewesen, doch diese offensichtlich zur Schau getragene Ignoranz gegenüber der neuen Institution rief breite Kritik in der Presse hervor: Nicolas Sarkozy est en Russie, Brice Hortefeux, le ministre de l’immigration, en Espagne. Les agendas de François Fillon et de Valérie Pécresse, la ministre de l’Enseignement supérieure et de la Recherche, ne prévoient rien, et chez Xavier Darcos, ministre de l’Éducation nationale, la question suscite l’incompréhension : « La Cité quoi ? » « De l’immigration ? » « Il se passe quelque chose de particulier cette semaine ? » Oui, La Cité nationale de l’histoire de l’immigration (CNHI), musée national s’il vous plaît, premier du genre en France voire en Europe, ouvre ses portes au public ce matin. Côté inauguration officielle, en revanche, on attendra. Des quatre ministres de tutelle, seule Christine Albanel, la ministre de la Culture, s’y rendra ce soir, à 19 heures, non pas pour l’inaugurer, mais pour le visiter.376
Der Artikel hob vor allem im Vergleich mit der Eröffnung des MQB und der Cité de l’architecture auf die offensichtliche Abwesenheit jeglicher verantwortlicher Politiker ab. Dieser Skandal war in fast allen Artikeln Anlass, einerseits erneut auf die langwierige Entstehungsphase des Projekts hinzuweisen. Dabei wurden die zahlreichen Initiativen und auch die häufig fehlende politische Unterstützung benannt und betont.377 Andererseits wurde meist auch auf die Verstrickung in politische Debatten, vor allem im Laufe des Eröffnungsjahres 2007, hingewiesen. Zudem wurde nun auch stärker betont, dass die CNHI und ihre Botschaft in deutlichem Gegensatz zur aktuellen Immigrationspolitik der Regierung stehe,378 was sich im Umkehrschluss als Erklärung für die Abwesenheit von Regierungsvertretern bei der Eröffnung anbot.379 Ein weiteres damit verbundenes Thema bildete die Tatsache, dass das offizielle politische Machtvakuum umgehend von der politischen Linken, allen voran François Hollande, Generalsekretär Le Parisien (10.10.2007); Solonel, Julien, La Cité de l’immigration leur a plu, in: Le Parisien (10.10.2007), Lazard, Violette, Un retour aux origines bouleversantes, in: Le Parisien (10.10.2007) etc. 376 Coroller, Catherine, Pas de flonflons pour la Cité de l’immigration, in: Libération (10.10.2007). 377 Vgl. o. A. Le discret hommage de la France à ses immigrés, in: Le Monde (10.10.2007); Herzberg/Van Eeckhout, Voulue par Jacques Chirac, la Cité nationale de l’Immigration ouvre dans une grande discrétion, S. 11. 378 Vgl. o. A. Éditorial. La France immigrée. 379 Vgl. Corbière, Alexis, Silence, on ouvre!, in: L’Humanité (10.10.2007).
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der sozialistischen Partei, ausgefüllt wurde.380 Sowohl er als auch der Pariser Bürgermeister Bertrand Delanoë nutzten die Gunst der Stunde, um die Politik der rechten Regierung, ihre Initiativen und Einstellungen in Sachen Immigrationspolitik zu kritisieren und ihre Abwesenheit als vertane Chance und Ignoranz zu verurteilen.381 Anlässlich der Eröffnung bezogen dementsprechend auch die ausgetretenen Wissenschaftler des Beirates erneut Stellung: Diesmal warnten sie explizit vor einer Instrumentalisierung der CNHI.382 Daneben war auch für Vereinigungen wie der Ligue des Droits de l’Homme die Eröffnung ein wichtiges Ereignis – sie kamen, um zumindest an der ‚inauguration citoyenne‘ teilzunehmen. La Croix brachte einen Tag nach der Eröffnung einen umfassenden Artikel zur politischen Einbindung und Gemengelage der Eröffnung der Cité und machte damit deutlich, wie stark das Wegbleiben der verantwortlichen Politiker, ihre damit in Zusammenhang gebrachte Immigrationspolitik und die Stellungnahme der Opposition bei der Eröffnung von der Presse bewertet wurden.383 Für die Zeitungen war die Cité ganz eindeutig zum Spielball der Politik geworden und offensichtlich in die aktuellen Debatten um die Sarkozysche Immigrationspolitik verwickelt. Diese Position wurde dann einen Tag nach der Eröffnung durch die Entscheidung Chiracs bestärkt, seinen Besuch, der eigentlich am 11.10. stattfinden sollte, um eine Woche zu verschieben. Zwar gab er keine offizielle Begründung an, doch die Presse vermutete sofort, dass er sich der Polemik um die Abwesenheit der politischen Rechten entziehen und den JournalistInnen keine offene Flanke darbieten wollte.384 Neben diesem Fokus auf der politischen Brisanz der Eröffnung gingen fast alle Zeitungen ausführlich auf die Dauerausstellung, die als einzige fertig gestellt war, ein. Der Inhalt, die jeweiligen thematischen Sektionen und die Botschaft wurden hier erläutert.385 Zudem banden viele Zeitungen ein ausführlicheres Dossier zur allgemeinen Immigrationsgeschichte in Frankreich daran an und erläuterten überblicksartig verschiedene Einwanderungswellen und -gruppen oder auch z. Bsp. den Einfluss fremder Sprachen auf das Französische.386 Darüber hinaus gab es einige Beiträge u. a. in Le PaVgl. o. A. La gauche s’invite à l’ouverture de la Cité de l’immigration (11.10.2007). S. 7; sowie: Rotman, Charlotte, La Cité de l’immigration ouvre à gauche, in: Libération (11.10.2007). 381 Vgl. o. A. Cité de l’immigration: Delanoë critique le gouvernement, in: Le Nouvel Observateur (10.10.2007). 382 Vgl. Blanc-Chaléard, Marie-Claude / Dreyfus-Armand, Geneviève / Green, Nancy / Noiriel, Gérard / Simon, Patrick, Viet, Vincent / Volovitch-Tavarès, Marie-Christine / Weil, Patrick, Mémoire de l’immigration, par un collectif d’historiens, in: Le Monde (09.10.2007). 383 Vgl. Gorce, Bernard, L’immigration, otage des querelles politiques, in: La Croix (11.10.2007). 384 Vgl. Lucas, Rosalie, Chirac reporte sa visite, in: Le Parisien (11.10.2007). 385 Vgl. o. A. Bien plus qu’un musée, un forum citoyen, in: Libération (10.10.2007), Gorce, Bernard, La Cité de l’immigration veut donner une autre idée de la France, in: La Croix (10.10.2007); Sirach, Marie-José, Á tous les enfants de la patrie, in: L’Humanité (11.10.2007); Bécu, Elodie, Un Musée Hommage aux mémoires d’immigrés, in: Dernières Nouvelles d’Alsace (11.10.2007); N’Diaye, Pap, „Repères“ pour comprendre, in: Libération (19.10.2007). 386 Vgl. Dossier „Génération après génération, ils ont rejoint l’Hexagone“; sowie Mongaillard, Vincent, Ces mots qui ont nourri la langue française, in: Le Parisien (10.10.2007). 380
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risien und La Croix, die im Rahmen der Eröffnung die Meinungen von Franzosen mit Migrationshintergrund oder von Migranten zur CNHI einfingen und wiedergaben.387 Dabei wurden häufig auch die Einwanderungsgeschichten der jeweiligen Personen mit thematisiert, sodass hier die im Kontext der Eröffnung vielzitierte statistische Tatsache, dass etwa einer von vier Franzosen einen Migrationshintergrund habe, veranschaulicht werden konnte. Die Berichterstattung in den großen Tageszeitungen riss auch in den auf die Eröffnung folgenden Tagen nicht ab und erlaubte teilweise einen sehr detaillierten Einblick in diese Phase der unmittelbaren Eröffnung der Cité und der Rezeption durch das Publikum. So brachte La Parisien einen recht ausführlichen Artikel am 15.10. heraus, der einen ganzen Tag in der Cité mitprotokollierte und die Eindrücke der Besucher wiedergab.388 Hier wurden insbesondere auch die Besucher mit Migrationshintergrund thematisiert, die laut dem Artikel besonders zahlreich gekommen seien. Viele Besucher fanden laut diesem Artikel die Institution wichtig und bedauerten es, dass diese nicht offiziell eingeweiht wurde. Viele schien laut dem Artikel besonders die emotionale Dimension der Cité, so wie es Payeur angedacht hatte, berührt zu haben – sie fanden hier ihre (Familien-) Geschichte wieder. Zu Beginn des Artikels wurde festgestellt, dass nach dieser allerersten Phase der Eröffnung vonseiten der CNHI eine positive Bilanz gezogen würde, seit der Eröffnung am 10. Oktober seien 22 000 Menschen gekommen, 6 000 davon allein am Sonntag, was eine beachtliche Zahl darstellte. Allerdings muss einbezogen werden, dass der Eintritt in diesen ersten Tagen komplett erlassen wurde, was die Zahlen sicherlich gesteigert hat und ein wichtiger Schachzug vonseiten der Museumsleitung war. Auch Le Monde griff diesen Erfolg der ‚ersten fünf Tage‘ der CNHI auf.389 Trotz dieser allgemein positiven Bilanz gab es bereits bei der Eröffnung kritische Stimmen: So wurde in L’Humanité bereits direkt zur Eröffnung in Bezug auf die Dauerausstellung bemängelt, dass diese zwar vieles anspreche, u. a. auch die Thematik des Rassismus an sich nicht fehle, aber einerseits aufgrund der gewollten politischen Neutralität viele Aspekte verwässert würden und andererseits durch die Auflösung der chronologischen Struktur beispielsweise der Aspekt der Entwicklung der Immigrationspolitik nicht wirklich klar verständlich sei.390 Andere Besucher bemängelten erneut, wie es auch L’Humanité tat, die fehlende erkennbare Chronologie und zu wenig Erklärungen. Für zwei Besucher war die Ausstellung zu anekdotisch und konfus an-
Vgl. Lazard, Violette, Un retour aux origines bouleversantes, in: Le Parisien (10.10.2007) und Solonel, Julien, La Cité de l’immigration leur a plu, in: Le Parisien (10.10.2007); Waintrop, Michel, „Trop de Français veulent oublier qu’ils ont des ancêtres étrangers“, in: La Croix (11.10.2007); o. A. Intégration, une longue histoire des familles, in: La Croix (11.10.2007), Rotman, Charlotte, Visite guidée sur les chemins de l’immigration, in: Libération (22.10.2007). 388 Vgl. Lucas, Rosalie, Une journée à la Cité de l’immigration, in: Le Parisien (15.10.2007). 389 Vgl. o. A. Succès des cinq journées portes ouvertes à la Cité de l’immigration, in: Le Monde (20.10.2007). 390 Vgl. Sirach, Marie-José, Á tous les enfants de la patrie, in: L’Humanité (11.10.2007). 387
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gelegt.391 Die härteste Kritik kam jedoch in der Folge erst gegen Ende Oktober von der Gruppe ‚Qui fait la France?‘. Sie sahen die Cité als ‚Bric-à-Brac folklorique‘: Cette Cité de l’immigration est plus un bric-à-brac folklorique qu’un récit vivant et continué du roman national. Dépourvue de toute ligne claire, agencée en thématiques parfois grotesques (pourquoi un espace consacré aux sportifs ?), elle l’illustre l’immigration maghrébine par des couscoussiers accrochés aux murs, des cabas à carreaux et des photos de Peugeot surchargées. Clichés. C’est folklorique, culturaliste, anecdotique. […] Rien ne transparaît des raisons du départ de ces immigrés si particuliers, de leur odyssée, de leur condition une fois arrivés sur le sol français. Pourquoi ? Cela a sûrement à voir avec ce musée fantôme qu’il reste à bâtir, ce musée national des horreurs qui serait celui de la colonisation, des guerres, des massacres de Sétif, du 17 octobre 1961, évènements dont il n’y a trace dans la cité de la porte Dorée.392
Die Kritik fiel deutlich harscher aus, knüpfte aber in Teilen an die vorherige Kritik an: Auch sie beklagten die wenig klare Grundstruktur und den anekdotischen Charakter der Ausstellung. Allerdings ging die Gruppe viel weiter: Man begegne hier einem folkloristischen Improvisationsstück von klischeehaft dargestellter Immigrationsgeschichte, die dem Meisterstück der Nationalgeschichte nicht gleichkäme. Die Reduzierung maghrebinischer Einwanderung auf einen Couscous-Kochtopf, einige Plastiktaschen und Fotos von den Peugeotwerken sei nicht tragbar. Es fehlten wesentliche Themen wie die der Gründe für die Emigration, ihrer Odyssee auf dem Weg nach Frankreich und ihre Leben in Frankreich. Zudem blende das Museum wichtige Themen wie den Kolonialismus, trotz des Ortes an dem es sich befinde, aus, wohingegen völlig unklar sei, warum es eine explizite Einheit zu Immigranten als Sportlern gäbe. Die Cité sei ein Instrument des homogenisierenden, neutralisierenden republikanischen Konsenses‘, der heikle Erinnerungen und Themen hier nicht zulasse. Die Auslassung des Themas Kolonialismus und (post-)koloniale Immigration wurde auch an anderer Stelle wieder aufgenommen, wenn auch im Rahmen einer weitaus wohlwollenderen Beurteilung der CNHI. Benjamin Stora besuchte für das Magazin Politis die Dauerausstellung und betonte, wie wichtig dieser Ort an sich sei. Dabei wurden auch viele Teile der Ausstellung als durchaus gelungen bewertet, allerdings kritisierte Stora eindeutig das Fehlen der Thematik der Kolonisation und der Dekolonisation sowie der Spezifik der (post-) kolonialen Einwanderung: [L]a question coloniale est largement gommée de l’exposition, qui, précise-t-il, cherche surtout à positiver le rôle de l’immigration. Pourtant, il est absurde de considérer l’immigration en France comme la simple somme de vagues successives de populations d’origines diverses qui s’addition-
Vgl. Lucas, Une journée à la Cité de l’immigration. Collectif „Qui fait la France?“, La Cité de l’immigration, un bric-à-brac folklorique, in: Libération (29.10.2007). 391 392
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neraient au fil du temps : à partir 1960, ceux qui proviennent des territoires de l’ancien Empire ont une spécificité très marquée qui est malheureusement occultée ici.393
Offensichtlich war man sich grundsätzlich vonseiten der Presse, der Besucher und verschiedener Akteure darüber einig, wie wichtig dieser Ort sei und dass es dringend notwendig sei, dass er auch von offizieller Seite eingeweiht werde. Jedoch schien die konkrete Umsetzung, besonders die Dauerausstellung, einige Fehlstellen zu offenbaren. Die Struktur der Ausstellung sei nicht klar, es gebe nicht genug Erklärungen und Kontextualisierungen, Themen würden ausgelassen oder geglättet. Besonders stark schien dabei das Fehlen der Thematisierung von Kolonialismus und Dekolonisation ins Gewicht zu fallen. Auch der Ort und seine (Um-)Nutzung trafen nur teilweise auf Verständnis. Allerdings tauchte im Zuge der Berichterstattung um die Eröffnung der CNHI auch verstärkt das Thema Immigration allgemein in der Presse auf. Sowohl die Geschichte der Immigration als auch ihr aktuelles Bild, die Immigrationspolitik der Regierung, aber auch der Alltag und die Familiengeschichten von Migranten, tauchten nun vermehrt auf. Insofern hatte die Eröffnung zumindest 2007 zu einer Sensibilisierung der öffentlichen Wahrnehmung in diesem Bereich beigetragen. Aber auch darüber hinaus sorgte die CNHI bereits kurz nach ihrer Eröffnung für den Anstoß einer Diskussion über die Platzierung des Themas Immigration im schulischen Geschichtsunterricht. Die CNHI hatte in Kooperation mit dem Institut national de la recherche pédagogique eine zweijährige Studie betreut, deren Ergebnis am 19.10.2007 veröffentlicht wurde.394 Benoît Falaize hatte sich mit anderen Forschern damit auseinandergesetzt, inwiefern Immigrationsgeschichte im schulischen Geschichtsunterricht und in den Schulbüchern ihren Platz findet. Die Studie ergab, dass hier eine große Fehlstelle herrsche, die auch das Entstehen eines kollektiven Bewusstseins zu dem Thema und eines kollektiven Gedächtnisses, in dem die Immigration ihren Platz findet, verhindere. Dies wurde von der Presse aufgegriffen: Besonders Le Monde berichtete in einem längeren Artikel von dieser Studie. An die Eröffnung der CNHI wurde eine weiterführende Debatte über die Bedeutung des schulischen Sektors in Bezug auf die Veränderung der gesamtgesellschaftlichen Wahrnehmung der Immigration angeknüpft. In der Folge blieb die Cité zumindest vorerst Teil der tagespolitischen Aktualität: Brice Hortefeux meldete sich schließlich nach der vehementen Kritik an der NichtEröffnung der CNHI in Libération zu Wort. Er rechtfertigte hier sein Verhalten und seinen bisher rein privaten Besuch. Für ihn mache eine offizielle Einweihung erst dann Sinn, wenn das Museum auch wirklich fertiggestellt sei, was zu dem jetzigen Zeitpunkt Benjamin Stora zit. nach Doubre, Olivier, „Il fallait que ce musée existe“, in: Politis (25.10.2007). S. 10–11. S. 11. 394 Vgl. Cédelle, Luc, Selon des chercheurs, l’enseignement de l’histoire de l’immigration reste une „carence“ du système scolaire, in: Le Monde (23.10.2007). 393
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einfach nicht der Fall sei. Zudem nutzte er die Gelegenheit, die Immigrationspolitik der Regierung ins rechte Licht zu rücken.395 Hortefeux hob dabei zwar die Bedeutung der Cité und ihre Funktion hervor und gestand die wichtige Rolle der Immigration für die französische Gesellschaft ein, jedoch wollte er zugleich ein für alle Mal klarstellen, dass weder er noch Sarkozy der Immigration feindlich gegenüberstünden. Im Gegenteil, Sarkozy habe sich ja eben selbst als ‚Franzose mit gemischtem Blut‘ bezeichnet und darüber hinaus großen Mut bewiesen, sich gegen alle zu stellen und ein Ministerium explizit für Immigration und Integration zu schaffen. Hortefeux stellte diesen Schritt als Anerkennung der Immigration als zentralem Phänomen in Frankreich dar und nicht, wie es sich in der Perspektive der Akademiker abzeichnete, als einen Akt der Stigmatisierung. Er versicherte darüber hinaus, dass die Cité natürlich eingeweiht werde, wenn sie fertig sei. Dies wurde aber in der Folge unter Sarkozy nie Realität. Lediglich ein Besuch Hortefeux’ im November 2007 mit einigen Botschaftern stellte eine Ersatz-Geste dar.396 Das Jahr endete für die CNHI in der Presse mit der Berichterstattung über die Feierlichkeiten zu Ehren eines der beiden letzten Poilus Frankreichs in der CNHI: Lazare Ponticelli. Er war 1907 als Kind alleine von Italien nach Frankreich gekommen und hatte im Ersten Weltkrieg für Frankreich gekämpft. Die Cité feierte mit ihm seinen 110. Geburtstag.397 Zudem sollte mit ihm das orale Zeitzeugen-Archiv eingeweiht werden. Am 18.12. berichtete dann Libération über die erste große Fotoausstellung der Cité zu den Porträtaufnahmen von Augustus Frederick Sherman, der diese auf Ellis Island als dort angestellter Beamter von den neu ankommenden Einwanderern gemacht hatte.398 Bei der Untersuchung der Rezeption des Projektes der CNHI in der Presse fallen besonders zwei große Debatten auf, die nicht nur für die CNHI selbst relevant waren, sondern sowohl mit der tagespolitischen Aktualität als auch mit der aktiven Konstruktion einer nationalen Identität und ihrer historischen Verortung von politischer und zivilgesellschaftlicher Seite zusammenhingen: Es handelt sich einmal um die Debatte um den Artikel 4 von 2005 und um die Debatte um den Begriff der nationalen Identität und seine Verknüpfung mit ‚Immigration‘ innerhalb eines neuen Ministeriums. Diese beiden Momente sollen im Folgenden näher beleuchtet werden, da sie die Konflikthaftigkeit der beiden Themen ‚Koloniale Vergangenheit’ und ‚Immigration‘, die essenziell mit dem Projekt der CNHI verbunden sind, verdeutlichen. Zudem hatten beide Debatten unmittelbare Auswirkungen auf die Planung und Umsetzung des Projekts der CNHI.
Vgl. Hortefeux, Brice, Un musée vivant de la diversité française, in: Libération (31.10.2007). Vgl. o. A. Brice Hortefeux visite la Cité nationale avec vingt-cinq ambassadeurs, in: Le Monde (16.11.2007). 397 Vgl. Gorce, Bernard, La Cité de l’immigration fête le doyen des Italiens de France, in: La Croix (14.12.2007). 398 Vgl. Lefort, Gérard, Ellis Island, quand le rêve reste à quai, in: Libération (18.12.2007). 395 396
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2.2b.c
Aufkeimende Debatten: Erinnerungspolitik und die Lois mémorielles. Der Artikel 4 von 2005 zur positiven Rolle des Kolonialismus
Im Jahr 2005 war das Thema der kolonialen Vergangenheit in der öffentlichen Diskussion nicht neu, besonders um das Jahr 2000 hatte es bereits eine virulente und umfassende Debatte um den Algerienkrieg und die damit verbundene Anwendung der Folter durch die französische Armee gegeben – der Algerienkrieg als wohl blutigster Kolonialkrieg Frankreichs rief das Thema der lange wenig besprochenen oder gar aufgearbeiteten französischen Vergangenheit wieder auf den Plan. Jedoch bedeutete die öffentliche Thematisierung nicht unbedingt eine breitenwirksame Aufarbeitung, bzw. der Artikel 4 von 2005 zeigte anschaulich, dass es auch jetzt keinesfalls eine konsensfähige kritisch-reflexive Sichtweise auf die koloniale Vergangenheit gab. Es war immer noch möglich, ‚unbemerkt‘ ein Gesetz, das vor allem die positiven Seiten des Kolonialismus im schulischen Geschichtsunterricht hervorgehoben sehen wollte, verabschieden zu lassen, ohne dass dies vorerst großen Protest hervorrief. Diese Tatsache ist auch deshalb für die CNHI relevant, weil dieses Gesetz und die anschließende Polemik sich während seiner konkreten Umsetzungsphase abspielten und hierfür Relevanz besaßen: Schließlich musste gerade dieses Projekt mit seiner endgültigen Unterbringung im Palais de la Porte Dorée sich mit dem Thema koloniale Vergangenheit beschäftigen und einen Weg finden, diese zu integrieren. Zudem zeigt die Debatte um den Artikel 4 sehr klar die verschiedenen Standpunkte und ihre entsprechenden Vertreter in Bezug auf die öffentliche Darstellung und Verarbeitung des Themas Kolonialismus und kann daher als Momentaufnahme des französischen ‚state of mind‘ in Bezug auf dieses Thema gedeutet werden. Der Artikel 4 von 2005 sorgte nach einer anfänglichen Phase der konfliktlosen Akzeptanz für eine umfassende und lang anhaltende Diskussion über den Umgang mit Geschichte im Allgemeinen und der kolonialen Vergangenheit im Besonderen. Dabei war das Gesetzesvorhaben, zu dem der Artikel 4 gehörte, an sich ursprünglich unter Einflussnahme der entsprechenden Lobby als Entschädigungsgesetz für die Harkis und Rapatriés vorgesehen gewesen. Doch durch den späteren nachträglichen Zusatz einer bestimmten, relativ kleinen Passage wurde dieses Gesetz zu politischem Sprengstoff: Les programmes de recherche universitaire accordent à l’histoire de la présence française outre-mer, notamment en Afrique du Nord, la place qu’elle mérite. Les programmes scolaires reconnaissent en particulier le rôle positif de la présence française outre-mer, notamment en Afrique du Nord, et accordent à l’histoire et aux sacrifices des combattants de l’armée française issus de ces territoires la place éminente à laquelle ils ont droit.399
Gesetzestext zit. nach: Liauzu, Claude (u. a.), Colonisation: non à l’enseignement d’une histoire officielle, in: Le Monde (25.03.2005). 399
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Der erste Teil der Passage konnte noch relativ neutral ausgelegt werden, sah er doch erstmal lediglich vor, dass die universitäre Forschung der Kolonialgeschichte den Platz einräumen sollte, der ihr zustünde. Eine solche Formulierung und Vorgabe in einem Gesetz waren nicht neu. So hatte man bereits im sogenannten Loi Taubira, das die Sklaverei als Verbrechen gegen die Menschlichkeit ahndete, eine ähnliche Formulierung gewählt: Dem Thema Sklaverei sollte ein angemessener Platz in der universitären Forschung eingeräumt werden.400 Doch der zweite Teil der zitierten Passage schrieb dem schulischen Geschichtsunterricht direkt eine zu wählende Perspektive auf die koloniale Vergangenheit vor: Es sollte hier die positive Seite der Kolonialisierung hervorgehoben werden. Gerade dieser Teil der Passage sorgte für Furore: Wie konnte der Staat sich anmaßen, eine Bewertung von Geschichte zu diktieren? – zumal es sich um eine Bewertung handelte, die einen ambivalenten, komplexen Teil der französischen Geschichte in eine eindimensionale Perspektive pressen wollte. Um diese Frage und diese Kritik drehte sich dann auch hauptsächlich die virulente Debatte, die Anfang 2005 ihren Lauf nahm. Sie wurde einerseits von HistorikerInnen und LehrerInnen und andererseits von verschiedenen politischen Akteuren geführt. Dabei ist vor allem eine Tatsache bemerkenswert: der Zeitpunkt der Debatte. Alice Ebert rekonstruiert in ihrem Beitrag, dass das Gesetzesvorhaben im März 2004 eingereicht wurde,401 wobei Renken betont, dass die ursprüngliche Initiative für das Gesetz sich bereits im Anschluss an den Besuch Chiracs in Algerien 2003 gebildet habe.402 Doch bis zur endgültigen Abstimmung und Unterzeichnung des Gesetzes durch Chirac im Februar 2005 gab es weder eine Debatte noch Einwände dagegen. Das mag einerseits daran gelegen haben, dass der entsprechende Passus ursprünglich gar nicht enthalten war und erst durch die Intervention des Berichterstatters Kert und dann des Abgeordneten Vanneste sukzessive eingebracht wurde, schließlich sollte das Gesetz ursprünglich hauptsächlich der Entschädigung der Harkis und Rapatriés dienen, sowie, im Sinne der chiracschen Erinnerungspolitik, ihre erbrachten Opfer und erduldeten Leiden anerkennen. Andererseits mag die verzögerte Debatte auch durch das zielstrebige und dezidierte Vorgehen bestimmter rechtskonservativer Abgeordneter aus dem Süden bzw. Süd-Westen Frankreichs beeinflusst worden sein. Für sie waren die
Im Laufe der Debatte gerieten auch die sogenannten anderen ‚Lois mémorielles‘ ins Visier der Kritik: Im Herbst 2005 lag eine Petition verschiedener HistorikerInnen vor, die eine Abschaffung aller Lois mémorielles forderte. Vgl. Azéma, Jean-Pierre (u. a.), Liberté pour l’histoire, in: Libération (13.12.2005). Allerdings wurde wiederum von anderen HistorikerInnen darauf hingewiesen, dass die einzelnen Gesetze sehr unterschiedlich angelegt seien und daher auch nicht alle gleich bewertet werden dürften. So unterscheide sich gerade der Artikel 4 deutlich von den anderen Gesetzen. 401 Vgl. Ebert, Alice, Frankreichs Umgang mit belasteter Vergangenheit – Die Debatten und Kontroversen um das „Kolonialismusgesetz“ von 2005, in: Hüser, Dietmar (Hrsg.), Frankreichs Empire schlägt zurück, Kassel 2010. S. 189–216. S. 192 f. 402 Vgl. Renken, Frank, Das Gesetz vom 23. Februar 2005, in: ders., Frankreich im Schatten des Algerienkrieges, Göttingen 2006. S. 449–457. S. 451. 400
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Rapatriés und Harkis eine durchaus relevante Wählergruppe mit einer wirkmächtigen Lobby. Aus Sicht dieser Abgeordneten war daher ihr Vorgehen grundsätzlich politisch und auch erinnerungspolitisch sinnvoll und begründbar.403 Mit der Einfügung des oben genannten Passus allerdings wird klar, dass es hier aber eben nicht nur um die Anerkennung der Vergangenheit und Erinnerung einer bestimmten Gruppe ging, sondern auch um die Durchsetzung und gesetzliche Verankerung einer bestimmten Bewertung von Geschichte, die die Erinnerung dieser spezifischen Gruppe als die ‚richtige‘ erscheinen lassen sollte. Umso erstaunlicher ist es daher, dass während des gesamten Prozesses bis zur endgültigen Genehmigung kein Protest bezüglich dieser Passage geäußert wurde.404 Zwar betont Ebert, dass es durchaus Interventionen bezüglich anderer Passagen des Gesetzes gab, aber explizit nicht bezüglich des Artikels 4. Erst im März 2005 wurden HistorikerInnen, allen voran Claude Liauzu, auf den Artikel aufmerksam und verfassten eine Petition, die sich gegen den Artikel 4 richtete und ‚Freiheit für die Geschichte‘ forderte.405 In der darauf folgenden Debatte ging es dann vorrangig um die grundsätzliche Frage nach der Freiheit und Unabhängigkeit der Geschichtswissenschaft und des schulischen Geschichtsunterrichts sowie der Rolle des Staates in erinnerungspolitischen Fragen. Entscheidend ist aber neben diesen allgemeineren Fragen, dass hier die koloniale Vergangenheit, insbesondere die nordafrikanische, als ‚dunkler Fleck’ auf der historischen Weste Frankreichs offiziell ‚geweißt‘ werden sollte. Zwar waren beispielsweise, wie Frank Renken betont, die koloniale Vergangenheit in Algerien und der daran anschließende Algerienkrieg zu diesem Zeitpunkt längst keine Tabuthemen mehr.406 Auch Bancel und Blanchard stufen die Phase von 2002 bis 2008, in die das Gesetz unmittelbar fiel, als einen Zeitabschnitt ein, in dem das Thema der kolonialen Vergangenheit und der Dekolonisation immer wiederkehrend sichtbar wird und sich im öffentlichen Diskurs etabliert.407 Nicht zuletzt Chirac selbst hatte sich im Zuge seines erinnerungspolitischen Engagements bemüht, eine Aufarbeitung von staatlicher
Renken betont in seinem Beitrag, dass es unter Chirac bereits seit 2002 eine Kommission zur Saturierung der Entschädigungsforderungen der Harkis und der Rapatriés gegeben habe. Vgl. Renken, Das Gesetz vom 23. Februar 2005, S. 452 f. 404 Dies sollte später zu einem wichtigen Thema der Debatte werden: Wie hatte es sein können, dass keiner der linken Oppositionsparteien diese offensichtliche Geschichtsklitterung aufgefallen war? Die Linke startete zwar in der Folge nachträglich einen Versuch, über ein erneutes Gesetzesvorhaben den Artikel 4 abschaffen zu lassen, was aber an der Mehrheit in der Nationalversammlung scheiterte. Vgl. u. a. Thibaudat, Jean-Pierre, Les députés invités à réviser leur copie sur la colonisation, in: Libération (29.11.2005); Boissieu, Laurent / Castagnet, Mathieu, Droite et gauche s’affrontent sur l’enseignement de la colonisation, in: La Croix (29.11.2005). 405 Vgl. Liauzu, Colonisation: non à l’enseignement d’une histoire officielle. 406 Vgl. Renken, Das Gesetz vom 23. Februar 2005, S. 449 f. 407 Vgl. Bancel, Nicolas / Blanchard, Pascal, La colonisation: du débat sur la guerre d’Algérie au discours de Dakar, in: Blanchard, Pascal / Veyrat-Masson, Isabelle (Hrsg.), Les guerres de mémoires, Paris 2010. S. 137–154. S. 139 f. 403
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Seite anzuregen. Allerdings ging es hier fast ausschließlich um den Algerienkrieg und nicht um das weiter gefasste Thema der kolonialen Vergangenheit Frankreichs an sich. Ritzenhofen stellt diesbezüglich fest, dass das Thema Kolonialgeschichte in all seiner Komplexität eben noch lange nicht verarbeitet worden sei.408 Dies schien sich u. a. darin zu offenbaren, dass es eine recht präsente Gruppe von französischen Politikern gab und gibt, die eine positive Vision des Kolonialismus bevorzugen bzw. öffentlich präferiert wissen wollen. Schließlich wurde das Gesetz von 2005 nicht nur von Rapatriés und ihren Nachkommen angeregt und begrüßt, sondern auch von Abgeordneten, die dieses Gesetz einbrachten und in der Mehrzahl für es stimmten. Es wird immer wieder betont, dass speziell bei diesem Gesetz bei den Abstimmungen in der Nationalversammlung besonders wenig Abgeordnete anwesend gewesen seien,409 was auf das Desinteresse oder vielleicht sogar die Ablehnung vieler Abgeordneter schließen lassen könnte. Doch die Anwesenden waren offenbar teilweise glühende Verfechter dieser den Kolonialismus verklärenden und die ‚zivilisatorische Mission‘ reaktivierenden Geschichtsvision und sorgten auch in geringer Zahl für die Befürwortung des Gesetzes. An vorderster Front setzten sich Hamlaoui Mekachera und Lionnel Luca für das Gesetz inklusive des Artikels 4 ein. Offenbar gab es hier von Abgeordnetenseite nur zwei relevante Positionen: die der Ignoranz und des Desinteresses, demonstriert über ‚Abwesenheit‘, gegenüber dem Thema koloniale Vergangenheit oder die der Befürwortung und Bestärkung einer positiven Sicht auf den Kolonialismus. Diese beiden extremen Positionen scheinen die Annahme Ritzenhofens zu bestätigen: Sowohl die kategorische Abgrenzung als auch die Bereitschaft zur Verklärung des Themas sprechen eher für ein ‚thème d’histoire mal digéré‘. Ebenso zeigten zwei Umfragen der Agentur CSA diese ‚Aufspaltung‘ für die breitere französische Bevölkerung.410 Ein Großteil der Befragten, immerhin 64 %, befürwortete in der ersten Umfrage das Gesetz und explizit auch den Artikel 4. Allerdings offenbarte sich laut Ebert in der zweiten Umfrage eine breite Gruppe von Franzosen, immerhin 54 %, die mit dem Thema gar nichts zu tun haben wollten. Laut Blanchard und Bancel kristallisierten sich hier die parallelen Tendenzen der völligen Verdrängung und der Aufrechterhaltung eines positiven Mythos der zivilisatorischen Mission heraus.411 Diese zweite Tendenz der nostalgischen Verklärung wurde von einem öffentlichkeitswirksamen Konglomerat verschiedener Akteure vertreten: Hier finden sich u. a. Politiker der konservativen Rechten, darunter verschiedene UMP-Abgeordnete wie Hamlaoui Mékachéra, Politiker des rechtsextremen Front national, allen voran JeanVgl. Ritzenhofen, Medard, Schattenbeschwörung und Schönfärberei, in: Dokumente 2006 (2). S. 54– 59. S. 54. 409 Vgl. u. a. Ebert, Frankreichs Umgang mit belasteter Vergangenheit – Die Debatten und Kontroversen um das „Kolonialismusgesetz“ von 2005, S. 189–216. 410 Vgl. ebd. S. 200 f. und S. 214; sowie Perrault, Guillaume, Deux Français sur trois saluent le „rôle positif “ de la colonisation, in: Le Figaro (02.12.2005). 411 Vgl. Bancel/Blanchard, La colonisation: du débat sur la guerre d’Algérie au discours de Dakar, S. 139 f. 408
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Marie Le Pen und Bruno Gollnisch, aber auch Abgeordnete der sozialistischen Partei wie Kléber Mesquida sowie Vertreter der Rapatriés und Akademiker wie der Historiker Jean-Louis Harouel.412 Diese Fraktion, die sich eindeutig hinter das Gesetzesvorhaben stellte, argumentierte dabei einerseits, dass es hier gar nicht darum ginge, der Geschichtswissenschaft oder dem schulischen Geschichtsunterricht eine Perspektive vorzuschreiben. Vielmehr wolle man, laut Vanneste, ein Signal an die Gruppe der Rapatriés und der Harkis senden und ihnen damit zeigen, dass man ihre Opfer zu würdigen wisse.413 Andererseits, betonte Luca, sei das Gesetz rein als Indikator gedacht, nicht als Obligation.414 Dieser Versuch der Entschärfung und Relativierung konnte aber nicht die auf einer anderen Ebene liegende, eigentliche Zielsetzung, die diese Gruppe von Akteuren vertrat, verbergen: „Aujourd’hui on ne parle que de la face négative de la colonisation. Mais on oublie l’œuvre des Français d’Algérie, des autochtones qui ont dû être rapatriés et dont beaucoup étaient des gens modestes.“415 Unter dem Deckmantel, ein Gleichgewicht in der historischen Darstellung des Kolonialismus herstellen zu wollen, schien das ‚œuvre‘, die Leistung dieser ehemaligen Siedler und Kolonisatoren, wieder auf – man wollte ihr Werk anerkennen und damit mit einer Erinnerungspolitik des ‚mea culpa‘, der Reue und der Entschuldigung Schluss machen.416 Es solle endlich wieder möglich sein, als Franzose stolz auf die Nation und ihre Geschichte sein zu können, was eben nur möglich sei, wenn man auch die positiven Seiten der Kolonisation, die es unbestreitbar gegeben habe, betone. Oder wie H. Mekachera es formulierte: „Pourquoi les aspects positifs de la présence française – médecine, instruction, sécurité, équipements publics – devraient-ils être passés sous silence?“417 Es wundert nicht, dass Le Pen hier am weitesten ging und konstatierte, dass die positiven Aspekte bei weitem die negativen überwiegen würden. Das ließe sich auch daran erkennen, dass ja nun die meisten Bewohner der ehemaligen Kolonien, die jetzt unabhängig seien, in die Metropole strömten, ‚unter Mamas Rock‘, und dass daher die Kolonisation nicht so schlimm und missglückt gewesen seien könne.418 Es ging also eigentlich um die Rehabilitierung des kolonialen Habitus.
Vgl. u. a. Van Eeckhout, Laetitia, Une disposition adoptée avec l’aval du gouvernement français, in: Le Monde (11.06.2005); Harouel, Jean-Louis, Éviter l’amalgame entre colonisation et esclavage, in: Le Figaro (30.12.2005). 413 Vgl. Van Eeckhout, Laetitia, Une disposition adoptée avec l’aval du gouvernement français, in: Le Monde (11.06.2005). 414 Vgl. ebd. 415 Christian Vanneste zit. nach: Van Eeckhout, Laetitia, Une disposition adoptée avec l’aval du gouvernement français, in: Le Monde (11.06.2005). 416 Vgl. Roger, Patrick, L’Algérie outrée par le vote sur la colonisation, in: Le Monde (01.12.2005). 417 Perrault, Guillaume, Mekachera: „Pourquoi passer sous silence les aspects positifs?“, in: Le Figaro (12.12.2005). 418 Vgl. o. A. Le Pen juge positif le bilan de la colonisation, in: Le Figaro (17./18.12.2005). Der Front national setzte sich hier nicht ganz uneigennützig gegen die Abschaffung aller Lois mémorielles ein, da sie den Spielraum für Geschichtsklitterung deutlich einengten. Besonders Bruno Gollnisch, der wegen dem öffentlich 412
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Vor dem Hintergrund der zitierten Äußerungen war es nicht verwunderlich, dass nicht nur das Gesetz selbst, sondern auch die damit verbundene Haltung von Algerien, aber auch von den Übersee-Départements, vor allem von La Guadeloupe und La Martinique, als unerhörte Beleidigung gesehen wurde.419 Es wurde im Laufe des Jahres 2005 anhand des virulenten Protests der verschiedenen Seiten insbesondere für Chirac immer klarer, dass man so nicht weitermachen konnte und das Gesetz modifiziert bzw. der Artikel 4 am Ende rausgenommen werden musste. Der offensichtliche Ablenkungsversuch des Präsidenten mit einem Gedenktag an die Opfer der Sklaverei lässt die Unvereinbarkeit der Positionen, die Unfähigkeit mit dem Thema adäquat und souverän umzugehen, noch deutlicher aufscheinen. Aber warum schien es offenbar von politischer Seite so unmöglich, das Thema Kolonialismus offen und kritisch anzugehen, revisionistische Positionen klar auszuschließen und die Folgen des Kolonialismus und der Dekolonisation zu thematisieren? Was war hier die Gefahr, vor der man sich fürchtete? Sie bestand u. a. in einer imaginären Linie, die man vom Kolonialismus damals zur Lebenssituation vieler Nachkommen von Immigranten aus den Kolonien heute in Frankreich ziehen konnte und die sich im selben Jahr öffentlichkeitswirksam bemerkbar machte. Noch bevor die Debatte um den Artikel 4 im Februar 2005 mit seiner Unterzeichnung losbrach, hatte eine Gruppe, die sich selbst ‚Nous les indigènes de la République‘ nannte, diese Verbindung gezogen und auf ihre Folgen hingewiesen: Discriminés à l’embauche, au logement, à la santé, à l’école et aux loisirs, les personnes issus des colonies, anciennes ou actuelles, et de l’immigration postcoloniales sont les premières victimes de l’exclusion sociale et de la précarisation. Indépendamment de leurs origines effectives, les populations des « quartiers » sont « indigénisées », reléguées aux marges de la société. Les « banlieues » sont dites « zones de non-droit » que la République est appelée à « reconquérir » […] La France reste un État colonial ! […] Le traitement des populations issues de la colonisation prolonge, sans s’y réduire, la politique coloniale.420
geäußerten Zweifel an der Existenz von Gaskammern vor Gericht stand, hatte ein Interesse daran, dass das Loi Gayssot, das die Leugnung von öffentlich anerkannten Verbrechen gegen die Menschlichkeit unter Strafe stellte, abgeschafft wurde. Der FN setzte sich also oberflächlich betrachtet für die ‚Freiheit der Geschichte‘ an der Seite der Linken ein, bei genauerem Hinsehen wird aber klar, dass es hier nur darum ging, diese Freiheit für den eigenen Revisionismus und Negationismus zu nutzen. Vgl. dazu: Forcari, Christophe / Hassoux, Didier, Quand le FN enrôle de force les historiens sous sa bannière, in: Libération (15.12.2005). 419 Vgl. u. a. Ziemer, Ortwin, Kolonialismus und Sklaverei. Zur Debatte in den Überseegebieten, in: Dokumente 2006 (2), S. 72–75, sowie: Burnat, Patrice, La colonisation, miroir du malaise antillais, in: Le Figaro (12.12.2005); Dossier La Libération „La Martinique contre la „Loi de la honte“, (08.12.2005); Weintraub, Judith, Sarkozy ne veut pas tomber dans le piège antillais, in: Le Figaro (08.12.2005); Guiral, Antoine / Schneider, Vanessa, Contre la troupe UMP, Villepin cherche à sortir des colonies, in: Libération (09.12.2005), Jeudy, Bruno, Colonisation: Matignon cherche l’apaisement, in: Le Figaro (09.12.2005). 420 Appel pour les assises de l’anticolonialisme postcolonial: „Nous sommes les indigènes de la République!“ (janvier 2005), zit. nach: Robine, Jérémy, Les „indigènes de la République“: nation et question postcoloniale, in: Hérodote 2006/1 (no. 120), S. 118–148. S. 120 f.
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Für diese Gruppe war es offensichtlich, dass die Republik der Menschenrechte Immigranten, besonders aus den ehemaligen Kolonien, als Menschen zweiter Klasse behandelte und ihnen nicht dieselben Rechte und denselben Respekt zukommen ließ wie den übrigen ‚Français de souche‘. Die Werte der Republik gelten laut dieser Gruppe nicht für alle gleichermaßen. Damit setze sich letztendlich ein kolonialer Zustand, eine koloniale Hierarchie, fort. Diesen Zustand gelte es aufzubrechen und daher fordert die Gruppe eine ‚echte‘ Gleichheit für alle. Sie riefen dazu auf, gegen jedwede Diskriminierung von (postkolonialen) Immigranten und ihren Nachkommen anzukämpfen. Dabei nahmen die Begründer der Initiative selbst das Gefühl zum Anlass, nie wirklich Teil der Nation, ihrer Identität und Geschichte gewesen zu sein – sie fühlten sich als Ausgestoßene, die nie eine wirkliche Chance bekommen haben, ein Teil Frankreichs zu werden. Der Artikel 4, der wenig später verabschiedet wurde und der dahinter stehende Diskurs vieler rechtskonservativer Abgeordneter schienen diesen Vorwurf zu bestätigen. Wenn große Teile der Bevölkerung nicht bereit waren, die negativen Aspekte und Folgen der Kolonisation, die sich beispielsweise in Form von stereotypen Wahrnehmungsmustern und offenem Rassismus bis heute Bahn brechen, anzuerkennen, wie sollte sich dann die Situation der selbsternannten ‚Indigènes‘ ändern? Darüber hinaus schien auch die direkte Reaktion auf den Appell die Gruppe in ihrer Anklage zu bestärken: So hagelte es Kritik über ein angeblich ungenaues, verfälschtes Geschichtsbild, Vorwürfe des Antisemitismus und des Rassismus. Dies ging so weit, dass die Gruppe sich im März 2005 zu einer erneuten Stellungnahme in Le Monde gezwungen sah, wo sie ihre Ziele und Forderungen wiederholte.421 Sie betonte hier ihre direkte Forderung nach der Gleichheit aller und einem Ende des Rassismus in der französischen Gesellschaft. Sie erläuterte dabei die Botschaft ihres Namens und hob das ‚nous‘ als Symbol des gemeinsamen Kampfes gegen Rassismus und der Autonomie-Einforderung hervor. Sie wollte dies aber nicht als Rückzug auf einen wie auch immer gearteten Kommunitarismus missverstanden wissen. Zudem wehrte sie sich gegen den Vorwurf, sie würde die Gesellschaft spalten, denn für die ‚Indigènes‘ ist es offensichtlich, dass diese gar nicht als einheitlich gelten kann, sie ist bereits tief gespalten. Zudem hob sie das Konzept ‚indigènes de la République‘ hervor, da sie damit auf die postkoloniale Situation in Frankreich hinweisen und zeigen wollte, dass viele Elemente und Erfahrungen im Alltag der (postkolonialen) Einwanderer der Situation in den Kolonien glich. Sie wollte sich mit ihrer Kritik allerdings auch nicht anti-republikanisch begriffen wissen, sondern eher darauf hinweisen, dass die Situation vieler Menschen vor allem auch in den Vororten kein einfach so gegebener ‚Naturzustand‘ sei, sondern spezifische Ursachen habe, die auch im Rassismus lägen, der wiederum teilweise auf den Kolonialismus zurückginge. Sie betonte dabei interessanterweise,
Vgl. Azouz, Karim / Bammou, Fatima / Bouteldja, Houria / Gueye, Moustapha / Khanzy, Najat, Nous, „indigènes de la République“, in: Le Monde (17.03.2005). 421
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dass sie keine Entschuldigungen, kein Museum und keine Gedenktafel erwartete oder forderte, sondern eine reale Chance auf Gleichheit und Respekt. Bancel und Blanchard reagierten in derselben Ausgabe auf diese erneute Stellungnahme:422 Sie bemerkten zwar, dass die Gruppe aus ihrer Sicht teilweise unnötig provoziere und auch einige historische Unwahrheiten verbreite, an sich aber durchaus Recht habe: Die ‚fracture coloniale‘ sei noch lange nicht beseitigt. So zeige allein die Reaktion auf den Appell der ‚Indigènes‘, die Ignoranz/das Schweigen oder die Diffamierung der Gruppe als antisemitisch oder rassistisch, die Unfähigkeit der französischen Gesellschaft, mit dem Thema adäquat umzugehen. Trotzdem sei die koloniale Vergangenheit bis heute präsent und beispielsweise im Scheitern der Bekämpfung des Rassismus sichtbar. Es gehe nicht darum, in ein ständiges Schuldbekenntnis zu verfallen oder eine Konkurrenz der Opfer zu befördern, sondern vielmehr darum, sich einzugestehen, dass beispielsweise die erlebte Gegensätzlichkeit der Kulturen, ihr aktuell als schmerzlich empfundenes Aufeinanderprallen innerhalb der französischen Gesellschaft, aus der Kolonialzeit geerbt und die Kolonialgeschichte im Augenblick noch eine ‚passé qui ne passe pas‘ sein. Der Herbst desselben Jahres sollte den ‚Indigènes‘ und auch der Theorie der ‚fracture coloniale‘ von Bancel und Blanchard zumindest teilweise recht geben: Die gewalttätigen und medial umfassend thematisierten Unruhen in den Pariser Vororten zeigten den Unmut vieler Nachkommen von Migranten, die sich in den Banlieues gettoisiert, sozial ausgeschlossen und eben nicht als Teil der einen, unteilbaren Republik sahen. Zwar verdeutlicht Castel in seiner Untersuchung, dass diese Jugendlichen bei weitem keine völlig ausgegrenzte oder gettoisierte Gruppe darstellten: Schließlich seien die Pariser Banlieues durchaus Ziel einer staatlichen Sozialpolitik.423 Sie befänden sich laut Castel daher nicht ‚außerhalb der Gesellschaft‘, aber eben auch nicht innerhalb, weil „sie darin keine anerkannte Stellung einnehmen“.424 Gerade diese zweite Komponente war ursächlich für das Aufbegehren im Herbst 2005. Trotz der Tatsache, dass man sich laut Hüser bei diesen Vorstadt-Krawallen nicht immer über den Grad der Politisierung einig war, ist für ihn klar, dass eine der wichtigsten Ursachen, nicht nur bei den Jugendlichen, sondern bei allen an den Krawallen teilnehmenden Gruppen, das Gefühl des sozialen und politischen Ausgeschlossen-Seins war. ‚Die Marginalisierten‘ haben hier öffentlichkeitswirksam vermitteln wollen, dass sie sich an den Rand der Gesellschaft gedrängt fühlen, alltägliche Diskriminierungen ertragen müssten, kurzum als Menschen zweiter Klasse behandelt würden. Der Vorwurf an die Politik war „(d)en Geist des Republikmodells zu verraten, den Gleichheitsgrundsatz auszu-
Vgl. Bancel, Nicolas / Blanchard, Pascal, Comment en finir avec la fracture coloniale, in: Le Monde (17.03.2005). 423 Vgl. Castel, Robert, Negative Diskriminierung: Jugendrevolten in den Pariser Banlieues, Hamburg 2009. S. 26 ff. 424 Ebd. S. 36. 422
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höhlen und seinen alltagspraktischen Vollzug zu blockieren.“425 Die Abschiebung in die ‚Bannmeile‘ Banlieue, wie es Hüser beschreibt, hatte zur Folge, dass man sie zunehmend öffentlich als (koloniales) ‚Anderes‘ verteufeln und vorverurteilen konnte. Man konstruierte hier vor allem von politischer, aber durchaus auch von medialer Seite zunehmend ein koloniales Anderes am Rande der ‚Pariser Zivilisation‘, von dem man sich abgrenzen und das man als Schreckgespenst an die Wand malen konnte. Auch die ‚Indigènes‘ hatten diesen Gedanken bereits in ihren Namen integriert und dazu erläutert, dass die Bewohner der Banlieues ‚indigenisiert‘ würden und der Staat dazu aufrufe, diese ‚verwilderten‘, ‚rechtlosen‘ Bereiche der Republik, im kolonialen Sinne, ‚zurückzuerobern‘. Hüser sieht dabei die Banlieue-Unruhen u. a. auch als ‚Revolte ethno-kolonialer Amalgamierung‘: Gewiss lässt sich kein unmittelbarer Kausalzusammenhang zwischen Kolonial-Konjunktur und Banlieue-Krawallen herstellen. Auch haben die meisten Jugendlichen kaum mehr als eine vage Idee historischer Kolonialrealitäten. Gleichwohl sehen sich „Bann-Orte“Betroffene mit ethno-kolonialen Amalgamierungen konfrontiert, verstehen sich gewisse Analogieschlüsse zwischen damaliger und heutiger Ausgrenzung fast von selbst. Gerade im Falle Algeriens: mit hunderttausenden französischen und europäischen Siedlern und als integraler Bestandteil der einen und unteilbaren Republik das Prunkstück des Kolonialreiches, zugleich aber mit einer vielfach größeren autochthonen Bevölkerung ohne gleiche staatsbürgerliche Rechte das Symbol für den Grundwiderspruch der République coloniale. […].426
Auch Robert Castel konstatiert, dass sich in dem entwertenden Umgang mit bestimmten Bevölkerungsgruppen, in diesem Fall den Bewohnern der Banlieues, ‚koloniale‘ Herrschaftspraktiken zeigten. Dies träfe insbesondere die Jugendlichen mit Migrationshintergrund, da sie als Sündenböcke für die sozialen Probleme der französischen Gesellschaft herhalten müssten: Rassisch-ethnische Faktoren würden zu Alibi-Ursachen für aktuelle gesellschaftliche Probleme umgedeutet und auf die entsprechenden Gruppen abgewälzt.427 Der Staat ist damit bemüht, seine Verantwortung für soziale Schieflagen auf die Betroffenen selbst abzuwälzen und lässt ihnen so in der Folge oft keine andere Wahl, als einerseits die Vorurteile und Stereotype anzunehmen und sich andererseits auf einem öffentlichkeitswirksamen, gewalttätigen Wege Luft zu machen und den Politikern zu kommunizieren, dass man sich das nicht gefallen lasse. Castel sieht hier die ‚Indigènes‘ als Beispiel einer solchen radikalen Stellungnahme, wobei er auch verdeutlicht, dass die Banlieues noch nicht die ethnischen Enklaven seien, als die
Hüser, Dietmar, Die sechs Banlieue-Revolten im Herbst 2005 – Oder: Überlegungen zur sozialen, politischen und kolonialen Frage in Frankreich, in: ders. (Hrsg.), Frankreichs Empire schlägt zurück, Kassel 2010. S. 15–54. S. 34. 426 Ebd. S. 43. 427 Vgl. Castel, Negative Diskriminierung: Jugendrevolten in den Pariser Banlieues, S. 52. 425
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sie in diesem Diskurs erschienen. Die Gefahr aber bestünde, dass sie zu diesen würden. Die Dekonstruktion dieser Mechanismen schien vor dem Hintergrund der Debatte um den Artikel 4 umso unwahrscheinlicher: So lange es wirkmächtige Gruppen gab, die die Errungenschaften der Kolonisation preisten und das Bild der zivilisatorischen Mission verteidigten, würde es schwer bleiben, die koloniale Praxis des Staates und der Behörden in den Banlieues und gegenüber bestimmten Migranten-Gruppen zu hinterfragen. Auch im Kontext der Debatte um den Artikel 4 einerseits und über die Reflexion der Einweihung von Orten wie der CNHI andererseits äußert Boris Thiolay Bedenken: Comment sortir de ce passé traumatique ressassé, remâché ? La question est d’autant plus complexe qu’elle renvoie inévitablement au débat sur l’immigration et à l’enracinement dans la société de jeunes Français issus de minorités « visibles ». Est-il légitime de se revendiquer d’ascendants colonisés ou réduits en esclavage pour réclamer plus d’égalité ? Comment éviter une guerre des mémoires, une surenchère des souffrances, entre des communautés travaillés par la montée des communautarismes et la tentation du chacun-poursoi victimaire ?428
Er macht deutlich, dass die schmerzhafte Verhandlung von Themen wie u. a. der kolonialen Vergangenheit unmittelbar mit der Aktualität der Immigration verbunden sind. Gleichzeitig äußert er Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Instrumentalisierung des Konzepts ‚Indigènes‘ durch die Nachkommen entsprechenden Einwanderer, um eine Forderung nach echter Gleichheit durchzusetzen, zumal er die Gefahr eines Kriegs der Erinnerungen, eines Aufkommens des Kommunitarismus und einer zunehmenden Fragmentierung des Gedächtnisses sieht. Das hier angedeutete Spannungsfeld betraf in der Planung und Umsetzung auch in großen Teilen die CNHI. Stevens deutet in ihrer Arbeit an, dass die Debatte um den Artikel 4 und dessen Kontext bei vielen der beteiligten Akteure eine Art Saturiertheit in Bezug auf das Thema Kolonisation/ Dekolonisation verursacht habe.429 Man wollte mit dem Thema ‚nichts mehr am Hut haben‘ – die Omnipräsenz führt zu einer Ausblendung des Themas. Darüber hinaus scheint es wahrscheinlich, dass diese Tendenz sich auch auf den konkreten Umgang mit dem Projekt ‚Immigrationsmuseum‘ und mit dem Projekt ‚Kolonialpalast‘ ausgewirkt hat: Sie wurden getrennt behandelt und geplant, sie sollten sich nicht berühren oder gar Synergien entwickeln, und das, obwohl es bereits zumindest ein Vorgängerprojekt gab, das eine Verbindung des Ortes und des Themas eines pluralen, aktuellen Frankreichs vorsah. Doch es schien vermutlich einfacher, die beiden Themen komplett getrennt zu behandeln und sich hier nicht in das Fahrwasser der bereits laufenden Debatten zu begeben und eventuell auch noch Teil der Polemik zu werden. Allerdings hätte man die Debatte von 2005 auch als Chance begreifen können: Die neue InstituThiolay, Boris, Esclavage, colonisation. La mémoire à vif, in: L’Express (22.09.2005). S. 44. Vgl. Stevens, Re-membering the Nation: The project for the Cité nationale de l’histoire de l’immigration, S. 228. 428 429
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tion hätte ihre eigene Legitimität stärken und ausbauen können, indem sie sich eines hochaktuellen und brisanten Themas annimmt: der Fortdauer kolonialer Denk- und Verhaltensweisen im Verhältnis zur Immigration bzw. den Nachkommen von Immigranten. Aber ähnlich wie für die Politik schien dies auch im kulturellen Bereich noch nicht möglich. 2.2b.d Die Eröffnung vor dem Hintergrund der Präsidentschaft Sarkozys: Debatten um nationale Identität und Immigration Die Debatte um den Artikel 4 und die Banlieue-Revolten verwiesen aber auch auf die Präsenz einer politischen Figur, die ab 2007 insbesondere auch für die Eröffnung der CNHI eine große Rolle spielte: Nicolas Sarkozy. Am 08. Dezember 2005 gab Le Figaro bekannt, dass Sarkozy seinen geplanten Besuch als Innenminister auf den Antillen aufgrund der Proteste dort absagen musste.430 Ursprünglich wollte er auf La Guadeloupe und La Martinique mit den politischen Verantwortlichen über die Themen Sicherheit, wirtschaftliche Entwicklung und Beschäftigung sprechen. Allerdings hatte Aimé Césaire, den Sarkozy hier auch hätte treffen sollen, von sich aus den geplanten Besuch Sarkozys annulliert – er wollte ein klares Signal in Richtung Metropole senden: Initiativen wie den Artikel 4 verstand man als fast ‚persönliche‘ Beleidigung. Sarkozy begriff die Tragweite und die empfundene Demütigung allerdings erst sehr spät: Er drückte vorerst sein Unverständnis über die Polemik aus und betonte, dass er damit nichts zu tun habe und sprach von ‚Missverständnissen‘.431 Schließlich entschied er sich aber doch dazu, bevor er seinen Besuch Anfang 2006 nachholte, sich persönlich bei den betroffenen Bevölkerungsgruppen zu entschuldigen.432 Denn es ging nicht nur um den Artikel 4 und die beschönigende Darstellung der Kolonialzeit, es ging auch um die Person Sarkozys selbst und seinen Umgang mit der (postkolonialen) Immigration und ihren Nachkommen, hatte er doch noch im Juni 2005 direkt nach seinem zweiten Amtsantritt als Innenminister als ‚law-and-order‘-Mann der Regierung ‚versprochen‘, die kriminellen Jugendlichen mit Migrationshintergrund aus den Banlieue ‚kärchern‘ zu wollen.433 Diese Behandlung war vielen auch noch im Dezember 2005 im Gedächtnis geblieben, nach den Herbstunruhen, bei denen Sarkozy sich erneut durch entsprechendes Vokabular hervortat (‚racailles‘): Er sah offenbar Immigration als politisches und soziales Problem, das es zu bekämpfen galt.
Vgl. Waintraub, Judith, Sarkozy ne veut pas tomber dans le piège antillais, in: Le Figaro (08.12.2005). Vgl. ebd. Vgl. Ziemer, Kolonialismus und Sklaverei. Zur Debatte in den Überseegebieten, S. 74. Vgl. 20h heures Le Journal, Nicolas Sarkozy „Le terme Nettoyer au karcher est un terme qui s’impose“, URL: http://www.ina.fr/video/I09086606 (Zugriff 18.06.2017) und Vgl. Ziemer, Kolonialismus und Skla verei. Zur Debatte in den Überseegebieten, S. 74. 430 431 432 433
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Auch im Verlauf des folgenden Jahres zeigte Sarkozys Arbeit als Innenminister sein Engagement und seine Position in Fragen der Immigrationspolitik. So äußerte er sich im April 2006 in einem Interview mit der Zeitung Le Monde anlässlich der Debatte seines neuen Gesetzes zur Immigration in der Nationalversammlung zu seinen Überzeugungen und Prioritäten: Im Vordergrund stand klar, Immigration zu begrenzen und die ‚Immigration choisie‘ zu fördern. Diese ‚ausgesuchte‘ Immigration sollte zu einer erfolgreicheren Integration der betreffenden Immigranten führen. Er führte aus, dass sich diese Politik der ‚Immigration choisie‘ vor allem darüber rechtfertigen lasse, dass angeblich die meisten Demokratien eine solche Politik der ausgewählten Immigration praktizierten und trotzdem bzw. gerade deswegen besonders wenige Probleme mit Rechtsextremismus hätten. In Sarkozys Logik bedeutete dies, dass die ‚Immigration choisie‘ ein Mittel gegen Rassismus sei. Er argumentierte gleichzeitig, dass er natürlich nicht nur die Elite eines Landes haben wolle und auch der nordafrikanischen Einwanderung kein endgültiges Ende setzen wolle, dass aber Frankreich als Land wählen können müsse, wen es im Land haben wolle und wen nicht, besonders im Hinblick auf die eigenen, vorrangig wirtschaftlichen Bedürfnisse. So wollte er die Regelung der Familienzusammenführung verschärfen. Zudem verfolgte er sein Ziel von 25.000 Ausweisungen für 2006 weiter, dies sei eine seiner Prioritäten. Dabei sei neben dem Thema der Familienzusammenführungen auch die ‚Misch-Ehe‘ ein wichtiges ProblemThema, bei dem man Härte zeigen müsse: Sie werde mittlerweile zu oft missbraucht. Den Vorwurf, sich hier des Diskurses des FN zu bedienen, schmetterte er hingegen ab: „Êtes-vous tous fascinés à ce point par le Front national pour vous interdire de bon sens? Si Jean-Marie Le Pen dit: „le soleil est jaune“, devrais-je dire qu’il est bleu? […]“.434 Indirekt gab er also dem FN teilweise in Fragen der Immigration Recht – man könne jemanden wie Jean-Marie Le Pen nicht ignorieren, wenn er die Wahrheit über etwas sage, in diesem Fall die Immigration. Daher schreckte auch Sarkozy nicht davor zurück, klar zu machen, dass eine Begrenzung, Reglementierung und negative wie positive Diskriminierung von Immigranten durchaus legitim sei, wenn die Werte und die Identität der Republik und ihr Respekt zur Debatte stünden. In einer Pressekonferenz im Dezember 2006, auf der Sarkozy die bisherigen Ergebnisse seiner Regierung in Sachen Immigrationspolitik präsentierte und das neue Gesetz zur ‚Immigration choisie‘ und der Integration vorstellte, vertiefte er seine angedeuteten Positionen zur Immigration.435 Hier wird unmissverständlich klar, dass für Sarkozy die Vorgänger-Regierungen die Schuld an der zeitgenössischen ‚Misere‘ trugen – das Resultat seien u. a. 700 ‚Quartiers sensibles‘ und die Unruhen vom Herbst
Ridet, Philippe / Smolar, Piotr / Van Eeckhout, Laetitia, Pour Nicolas Sarkozy, „l’immigration choisie est un rempart contre le racisme“, in: Le Monde (27.04.2006). 435 Vgl. Ministère de l’intérieure, Interventions 11.12.2006 – Conférence de presse sur l’immigration, URL: https://www.interieur.gouv.fr/Archives/Archives-ministre-de-l-interieur/Archives-de-Nicolas-Sarkozy2005–2007/Interventions/11.12.2006-Conference-de-presse-sur-l-immigration (Zugriff 20.06.2017). 434
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2005.436 Er unterstellte besonders den Regierungen ab 1997 eine Politik der ‚Tabuisierung der Immigration‘ als politischem Thema. Seine Regierung habe hingegen seit fünf Jahren diesen Trend verändern und eine, in seinen Augen, erfolgreiche Immigrationspolitik realisieren können. Diese bestand bezeichnenderweise für ihn u. a. in einer deutlichen Reduzierung der Asylanträge, die gestellt wurden, einer erfolgreichen Bekämpfung der illegalen Einwanderung durch schnellere und effizientere Grenzrückführungen und Abschiebungen, Speicherung der Fingerabdrücke von illegalen Einwanderern, Verschärfung der Grenzkontrollen, Vorgabe an zu erreichenden Ausweisungszahlen für die Präfekten, Erhöhung der Aufnahmekapazitäten in den Transitzonen. Für Sarkozy war also vor allem ein restriktives Vorgehen, eine Politik der Härte in Sachen Immigration, maßgeblich. Er konstruierte daher auch das Jahr 2005 als Jahr des Umbruchs: Hier sei die Zahl der vergebenen Aufenthaltstitel das erste Mal signifikant gesunken. Das war also der Gradmesser des Erfolgs der sarkozyschen Immigrationspolitik: der Rückgang der Zahl der gestellten Asylanträge.437 In diesen Kontext der ‚erfolgreichen‘ Immigrationspolitik stellte er daher auch sein neues Gesetz zur ‚Immigration choisie‘ und zur Integration: Die beiden ‚Herzstücke‘ des Gesetzesvorhabens, die im Übrigen auch die beiden Konzepte im Titel des Gesetzes repräsentieren, sind einerseits die Schaffung der sog. „carte compétences et talents“ und die Verpflichtung jedes Einwanderers, den sog. „contrat d’accueil et d’intégration“ zu unterzeichnen. Erstere verkörperte die Umsetzung der ‚Immigration choisie‘, hiermit sollten einige wenige Einwanderer aufgrund ihrer Fähigkeiten und ihrer Qualifizierung die Möglichkeit erhalten, einen Aufenthaltstitel für drei Jahre zu bekommen und in jedem Bereich arbeiten zu können. Der ‚Contrat d’acceuil et d’intégration‘ sollte von allen Einwanderern unterschrieben werden und verpflichtete sie zu einer staatsbürgerlichen und im Zweifelsfall bzw. bei Bedarf auch einer sprachlichen Unterweisung. So sollte die Integration verbessert werden. Trotz dieser Errungenschaften bleibe, laut Sarkozy, viel zu tun: Er erwähnte an dieser Stelle bereits sein Vorhaben, ein Ministerium schaffen zu wollen, das allein für die Immigration zuständig sei und vor allem direkt gegen illegale Immigration vorgehen könne.438 Sarkozys Position trat hier also deutlich zutage: Immigration war für ihn ein aktuelles, soziales Problem, das er von den Vorgängerregierungen geerbt hatte, die nicht fähig gewesen seien, das tabuisierte und zunehmend brisanter werdende Thema in Angriff zu nehmen. Resultat seien die heutigen sozialen Verwerfungen, die Präsenz einer großen Zahl von Migranten und ihren Nachkommen, die unqualifiziert seien, sozial ausgeschlossen und am Rande der Gesellschaft lebten. Ihre Situation führe sie, vor allem die jugendlichen Nachkommen, in die Delinquenz, Gewalttätigkeit und verhindere Integration. Dies könne nicht im Sinne Frankreichs sein, das bemüht sei, die nationale 436 437 438
Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. ebd.
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Kohäsion wiederherzustellen, eine homogene Gesellschaft zu bilden und Konflikte zu vermeiden, um seine Strahlkraft nach außen und seine Stärke nach innen zu bewahren. Daher müsse Frankreich hier einerseits Einwanderung restriktiv bekämpfen, die unerwünschten, vor allem illegalen Immigranten ausgrenzen und präventiv ‚am Kommen‘ hindern. Während die, die Frankreich und seine Kultur, Gesellschaft und Wirtschaft bereichern könnten, natürlich willkommen seien. Zudem müssten die Immigranten, die bleiben dürften und wollten, in die Pflicht genommen werden, sie müssten sich integrieren und die Werte der Republik, ihre Kultur und Sprache annehmen. Alle, die aber als ‚wertlos‘ für die Republik, nicht-integrierbar etc. angesehen werden, würden mit aller Härte bekämpft und aus Frankreich rausgehalten. Dabei wird auch klar, dass selbst den Immigranten, die schon in Frankreich lebten, erstmal grundsätzlich unterstellt wurde, dass sie sich oder ihren Verwandten den Aufenthaltstitel oder die Staatsbürgerschaft erschleichen wollen würden – sie wurden als Generalverdächtige eingestuft. Seine Kandidatur für die Präsidentschaft und das dazugehörige Wahlprogramm standen dementsprechend in diesem Zeichen. Sarkozy hatte sich vorgenommen, im Wählerbecken des Front national zu fischen und machte u. a. die Themen innere Sicherheit, Rehabilitierung der staatlichen Autorität und Immigration zu Pfeilern seines Programms,439 wozu auch die Schaffung eines einheitlichen Ministeriums für Immigration und nationale Identität, Definition dessen, was eigentlich nationale Identität sei, gehörte.440 In diesem Kontext ist auch sein Versprechen der Wiederherstellung und Bestärkung der ‚Fierté nationale‘ zu sehen.441 Letztendlich stand hier wieder der Gedanke im Vordergrund, dass die Nation und ihre Identität sowie die republikanischen Werte und Traditionen gestärkt werden müssten. Der französische Staatsbürger sollte wieder stolz sein können auf seine Nation. Dies bedeutete auch, Individuen, vor allem Einwanderer, aber auch ihre Nachkommen, die diese Identität und diese Werte nicht teilen wollten oder konnten, auszuschließen. Vor diesem Hintergrund ist auch die Schaffung des neuen Ministeriums für Immigration und nationale Identität zu betrachten, was bereits erstaunlich schnell nach Sarkozys Wahl zum Präsidenten geschaffen wurde und für die bereits beschriebene Polemik im wissenschaftlichen Beirat der CNHI sorgte. Wie J. Valluy verdeutlicht, war es explizit zur Umsetzung einer äußerst
Vgl. Hüser, Dietmar, Frischzellenkur in der Mediendemokratie – Lehrstück oder Mogelpackung?, in: Lendemains „Im Westen viel Neues? – Das französische Wahljahr 2007“, No. 126/127 (2007/32), S. 9–18. S. 11. 440 Vgl. u. a.: o. A. Le programme de Nicolas Sarkozy: l’immigration choisi, in: L’Express (06.04.2007), URL: http://www.lexpress.fr/actualite/politique/le-programme-de-nicolas-sarkozy-l-immigration-chois ie_477401.html (Zugriff 21.06.2017); o. A. Le programme de Nicolas Sarkozy, in: Le Monde (01.03.2007), URL: http://www.lemonde.fr/societe/article_interactif/2007/03/01/le-programme-de-nicolas-sarkozy_ 877532_3224_6.html (Zugriff 21.06.2007). 441 Vgl. Nicolas Sarkozy – Mon projet – Ensemble tout devient possible, zit. nach: Boissieu, Laurent de, Blog „iPolitique“; URL: http://ipolitique.free.fr/francepolitique/sarkozy2007–2.pdf (Zugriff 21.06.2017). 439
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repressiven Immigrationspolitik gedacht: „lutte contre l’immigration illégale, contre la fraude documentaire des étrangers, contre le travail illégal des étrangers et sur la politique des visas qui leur sont délivrés“.442 Hier waren nun zudem alle politischen Kompetenzen zur Immigrationspolitik unter einem Dach versammelt. Der zuständige Minister hatte weitreichende Kompetenzen, die u. a. die Vorbereitung und Umsetzung der Politik der Regierung in Fragen der Immigration, des Asylrechts, der Integration, der Verbreitung und Vermittlung der nationalen Identität sowie der Kooperation und Entwicklungshilfe vorsahen. Das neue Ministerium für Immigration wurde an die meisten anderen Ministerien angebunden bzw. übernahm teilweise deren Kompetenzen.443 Eines der Ziele des neuen Ministeriums war die Begrenzung von Immigration und die Bekämpfung von illegaler Immigration. Dies schien laut dem von Valluy in seinem Artikel zitierten Brief Sarkozys an den zuständigen Minister, Hortefeux, auch die Hauptaufgabe der neuen Institution darzustellen.444 Zusätzlich wurden ihm aber auch Aufgaben im Bereich des Schutzes von politisch Verfolgten und anderen Flüchtlingen zugestanden, die aktive Förderung der Integration u. a. im Bereich der Bildung und der Kultur sowie der Kampf gegen Diskriminierungen. Auch der Bereich der Außenwirkung Frankreichs, vor allem im Rahmen der Frankophonie, gehörte zu den neuen Tätigkeitsbereichen des Ministeriums. Zusätzlich, und später für die CNHI relevant, wurde hier auch der Bereich der Erinnerungskultur und der Geschichtspolitik in Fragen der Immigration miteinbezogen: So wurde die CNHI schließlich neben dem Kultur- und dem Bildungsministerium auch diesem neu-kreierten Ministerium unterstellt. Der bereits zitierte Protest, der sich vor allem vonseiten der Akademiker in Reaktion auf das Ministerium bildete, bezog sich allerdings nicht allein auf seine hier zutage tretende restriktive, institutionalisierte Immigrationspolitik, sondern auch und vor allem auf die Verankerung des Konzepts der ‚identité nationale‘ sowohl in der Betitelung als auch in der inhaltlichen Ausrichtung des Ministeriums. Dieses Konzept war für Sarkozy augenscheinlich besonders wichtig. So hatte er bereits unmittelbar nach seiner Wahl betont: „Je veux réhabiliter le travail, l’autorité, la morale, le respect, le mérite. Je veux remettre à l’honneur la nation et l’identité nationale.“445 Le Cour Grandmaison
Valluy, Jérôme, Quelles sont les origines du ministère de l’Identité nationale et de l’immigration?, in: Cultures & Conflits (en ligne) (2008), mis en ligne le 16 juin 2008; URL: http://conflits.revues. org/10293;DOI:10.4000/conflits.10293. 443 Vgl. Décret no. 2007–999 du 31 mai 2007 relatif aux attributions du ministre de l’Immigration, de l’Intégration, de l’Identité nationale et du Codéveloppement, zit. nach: Valluy, Jérôme, Quelles sont les origines du ministère de l’Identité nationale et de l’immigration?, in: Cultures & Conflits (en ligne) (69/2008), mis en ligne le 16 juin 2008; URL: http://conflits.revues.org/10293;DOI:10.4000/conflits.10293. S. 8 f. 444 Vgl. ebd. S. 10. 445 Nicolas Sarkozy, zit. nach: Hüser, Dietmar, Frischzellenkur in der Mediendemokratie – Lehrstück oder Mogelpackung?, in: Lendemains „Im Westen viel Neues? – Das französische Wahljahr 2007“, No. 126/127 (2007/32), S. 9–18. S. 16. 442
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geht dabei darauf ein, dass dies keinesfalls ein neues Konzept sei, das darüber hinaus auch nicht zum ersten Mal als Legitimation zur Ausgrenzung und Stigmatisierung von Immigranten benutzt werde: Aujourd’hui encore, le droit des étrangers […] demeure soumis à des considérations de ce type ; l’ordre intérieure, l’unité, la sécurité et l’identité nationales étant toujours à l’origine d’un prurit législatif et réglementaire qui ne se dément pas. Quant à la création, en mai 2007, d’un ministère ad hoc déjà évoqué et à la politique appliquée par le gouvernement, ils institutionnalisent cette xénophobie puisque l’étranger est désormais devenu, de façon officielle et publique, l’incarnation de dangers multiples qu’il faut conjurer au plus vite […].446
Le Cour Grandmaison führt die ersten Ansätze einer solchen staatlich institutionalisierten Xenophobie auf die 1920er Jahre und den Umgang mit Einwanderern aus den Kolonien zurück. Doch gerade dieser Hintergrund hat mit zur Polemik um das Ministerium und seine Betitelung beigetragen: Die Analogie zu einer restriktiven und repressiven Immigrationspolitik, die in der Immigration ein Problem und im Immigranten einen Generalverdächtigen sieht und sich aus früheren Diskursen einer sozialdarwinistischen Rassenideologie speiste, wollte man nicht in einem neuen Ministerium auferstehen sehen. Zu groß war die Gefahr, in Diskussionen über die ‚Assimilierbarkeit‘ bestimmter Kulturen und Ethnien im Sinne eines G. Mauco abzurutschen. Man kann über die Zeit Sarkozys als Innenminister hinweg und dann als Präsident der Republik einen deutlichen ‚Klimawechsel‘ in Sachen Immigration verzeichnen. Zwar unterscheidet sich Sarkozy in seinem Diskurs nicht unbedingt deutlich von seinem präsidialen Vorgänger Chirac, insbesondere, wenn man an dessen ‚bruit et l’odeur‘-Rede denkt. Aber Chirac war in seiner Haltung gegenüber der Immigration sehr viel unbeständiger und noch dazu 2002 gezwungen, sich vom FN klar abzugrenzen und zu verdeutlichen, dass er zwar rechts-konservativ, aber eben nicht rechts-radikal war, schließlich wollte er ein ‚Präsident aller Franzosen‘ sein. Die Immigration spielte dabei eine wichtige Rolle und dies schlug sich in der Schaffung der CNHI gleichsam als Symbol nieder. Sarkozy hingegen sah nie eine Notwendigkeit, sich gegen den FN abzugrenzen, vielmehr wollte er diesen in Teilen beerben: freilich ohne die fremdenfeindlich und antisemitische Rhetorik, aber mit sehr ähnlichen Inhalten und Ansichten. Für ihn galt es daher, die rechtsradikalen Wähler von seiner Entschlossenheit, Härte und Unnachgiebigkeit in Fragen wie der Immigration und der inneren Sicherheit zu überzeugen, während er die liberaleren und gemäßigteren rechten Wähler nicht verschrecken durfte.
Le Cour Grandmaison, Olivier, Colonisés-immigrés et „périls migratoires“: origines et permanence du racisme et d’une xénophobie d’Etat (1924–2007), in: Cultures & Conflits (en ligne) (69/2008), mis en ligne le 16 juin 2008; URL: https://journals.openedition.org/conflits/10363 (Zugriff 21.03.2020). S. 32. 446
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Auch auf dem Gebiet der Geschichts- und Kulturpolitik versuchte sich Sarkozy dabei von seinem Vorgänger abzugrenzen: Bereits anlässlich des Artikels 4 von 2005 hatte sich Sarkozy von der Politik der ‚répentance‘ abgewendet. Er klagte hier die unaufhaltbare Tendenz zum systematischen Schuldbekenntnis, auch innerhalb des Staates, an.447 Diese Ablehnung jedweder Entschuldigung oder Verantwortungsübernahme vonseiten des Staates bezüglich der französischen Vergangenheit zog sich als roter Faden auch durch seine Präsidentschaft. Die damit in Zusammenhang stehenden und durch Sarkozy in Angriff genommene Neu-Konstruktion eines offiziellen Geschichtsbildes wurde dabei auch in der deutschen Presse aufgegriffen: Ein Artikel von Marc Zitzmann aus der Neuen Zürcher Zeitung griff die ersten Amtshandlungen Sarkozys, die Schaffung des neuen Ministeriums, aber auch seine Einflussnahme auf das Geschichtsbild und den schulischen Geschichtsunterricht auf.448 Besonders die allererste Verordnung des neuen Präsidenten sorgte hier für Verwunderung: die Lektüre des Briefs von Guy Môquet an seine Mutter im schulischen Geschichtsunterricht.449 Die emotional aufgeladene, aber völlig entkontextualisierte Quelle, die Sarkozy hier auswählte, stand laut dem Autor emblematisch für Sarkozys Geschichtsverständnis. Er baute sich selbst einen historischen Stammbaum aus männlichen Einzelfiguren, die er als Helden der Geschichte inszenierte, die aber losgelöst von ihrem historischen Kontext betrachtet wurden. Für ihn musste Geschichte konfliktfrei die Entwicklung der einen großen, unteilbaren Nation zeigen, die im Gegensatz zu anderen Nationen sich immer mehr oder weniger ‚richtig‘ entschieden habe und beispielsweise keine Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen habe: Jede Reue und jedes Schuldbekenntnis wurde dabei von ihm nahezu als Angriff auf die vielgepriesene ‚identité nationale‘ verstanden. Dies traf auch und sogar in besonderem Maße auf die koloniale Vergangenheit Frankreichs zu. Wie Manceron in seinem Artikel verdeutlicht, argumentierte Sarkozy auf mehreren Ebenen in jeweils unterschiedlicher Intensität und mit durchaus widersprüchlichen Argumenten zugunsten einer Rehabilitierung der kolonialen Vergangenheit. Er zitiert hier eine Rede Sarkozys in Caen im März 2007, die verdeutlicht, dass es Sarkozy vorrangig darum ging, wieder stolz auf Frankreich sein zu können. Denn Frankreich sei in seiner Vergangenheit beispielsweise nie der Versuchung des Faschismus erlegen, habe nie ein anderes Volk vernichtet, es habe nicht die ‚Endlösung‘ erfunden. Frankreich habe zwar Fehler gemacht, die man ‚reparieren‘ müsse, aber die ‚Mode des Schuldbekenntnisses‘ sei völlig unangebracht. Man könne Vgl. Perrault, Guillaume, Colonies: Sarkozy contre „l’excès de repentance“, in: Le Figaro (12.12.2005). Vgl. Zitzmann, Grosse Nation, starke Identität, bereinigte Geschichte, S. 26. Vgl. Môquet wurde als 17jähriger Widerstandskämpfer von den deutschen Besatzern gefangen genommen und erschossen. Bei der Quelle handelte es sich um den Abschiedsbrief an seine Mutter, in dem er allerdings nicht über den Widerstand oder den Kontext des Krieges, die Besatzung etc. spricht. Es handelt sich vielmehr um einen sehr emotionalen Abschiedsbrief eines Jugendlichen an seine Familie. Vgl. u. a. Wetzel, Johannes, „Es ist euer Land, ihr habt kein anderes“, in: Welt print (22.10.2007), URL: https://www. welt.de/welt_print/article1286746/Es-ist-euer-Land-ihr-habt-kein-anderes.html (Zugriff 11.09.2017). 447 448 449
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nicht die Vergangenheit aus der Gegenwart ver-/beurteilen, die Kinder könnten nicht über ihre Eltern richten. Zudem sei, was die koloniale Vergangenheit anbelange, klar: La vérité c’est qu’il n’y a pas eu beaucoup de puissances coloniales dans le monde qui aient tant œuvré pour la civilisation et le développement et si peu pour l’exploitation. On peut condamner le principe du système colonial et avoir l’honnêteté de reconnaître cela.450
Man kann dies laut Manceron mit der Rede, die Sarkozy bereits im Februar 2007 in Toulon gehalten hatte, in Beziehung setzen, in der er noch einmal verdeutlichte, dass er vorrangig das Werk und die Leistung der Franzosen in den Kolonien sehe: Diese Menschen hätten die zivilisatorische Leistung gestemmt und man könne zwar den Kolonialismus an und für sich ablehnen, aber eben nicht das Werk dieser Menschen. In Dakar, im November 2007, nach seiner Wahl zum Präsidenten, blieb diese Lesart der kolonialen Vergangenheit deutlich sichtbar. Bancel und Blanchard analysieren diese Rede ausführlich. Sie konstatieren in diesem Kontext, dass Sarkozy im zweiten Teil seiner Rede zwar einerseits das koloniale System kritisiere,451 andererseits aber gleichzeitig eine Hommage an die zivilisatorische Mission formuliere. Sarkozy erwähne zwar die Verbrechen und geißele sie auch als solche, doch gleichzeitig würden die Schuldigen nicht klar benannt, die Verantwortung abgelehnt. Sarkozy lade zum ‚Überwinden‘ dieser Verbrechen ein, indem man den Blick in die Zukunft richte und sich nicht länger an der Vergangenheit abarbeite. Parallel betonte er, dass die Kolonisation auch positive Aspekte gehabt habe und am Ende ‚gute Männer mit guten Absichten‘ dahinter gestanden hätten: La civilisation musulmane, la chrétienté, la colonisation, au-delà des crimes et des fautes qui furent commises en leur nom et qui ne sont pas excusables, ont ouvert les cœurs et les mentalités africaines à l’universel et à l’histoire.452
Hier habe also tatsächlich die Kolonisation trotz all ihrer Verbrechen das Herz und die Mentalität der Afrikaner für das Prinzip der Universalität geöffnet und ihnen den Weg in ‚die‘ Geschichte geebnet. Darüber hinaus lehnte er jede Verantwortung Frankreichs für Afrika ab, ebenso jede Entschuldigung für die französische Vergangenheit in Frankreich und affirmierte, dass die Afrikaner ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen müssten. Zum Ende der Rede brachte er dann auch doch noch das Thema der Ausbzw. Einwanderung auf und betonte, dass man hier Wege finden müsse, diese zu steuNicolas Sarkozy zit. nach: Manceron, Gilles, Passé colonial: les propos inquiétants de Nicolas Sarkozy, (02.05.2007), URL: http://cvuh.blogspot.de/2007/05/passe-colonial-les-propos-inquietants.html (Zugriff 22.06.2017). 451 Vgl. Bancel, Nicolas / Blanchard, Pascal, La colonisation: du débat sur la guerre d’Algérie au discours de Dakar, in: Blanchard, Pascal / Veyrat-Masson, Isabelle (Hrsg.), Les guerres de mémoires, Paris 2010. S. 137–154. S. 149 f. 452 Le discours de Dakar de Nicolas Sarkozy, in: Le Monde (09.11.2007), URL: http://www.lemonde.fr/ afrique/article/2007/11/09/le-discours-de-dakar_976786_3212.html (Zugriff 22.06.2017). 450
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ern und vor allem auch die Rückkehr der afrikanischen Jugend nach Afrika fördern müsse.453 Auch auf erinnerungs- und geschichtspolitischer Ebene hatte sich hier also deutlich das Klima für die CNHI verändert: Sarkozy kehrte die politische Agenda in Bezug auf die offenen Schuldeingeständnisse seines Vorgängers Chirac in ein kategorisches Nein zu jedweder Form der Reue in Geschichtsfragen um – niemand sollte die Vergangenheit der ‚glorreichen Republik‘ in Frage stellen dürfen oder gar den Staat vergangener Verbrechen beschuldigen können. Dies war ein Angriff auf die nationale Identität und den Stolz Frankreichs. Alle, die dies taten, stempelte er als Feinde Frankreichs ab, ebenso die, die Werte der Republik, ihre Kultur und Sprache, nicht teilen wollten. Er lud solche Personen, mit denen er durchaus auch und vor allem Einwanderer meinte, ein, Frankreich zu verlassen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass viele Akteure, die an der Planung und Umsetzung der CNHI beteiligt waren, nicht nur das neu gegründete Ministerium, sondern die gesamt sarkozysche Position in Fragen der Immigration, der nationalen Identität, der Geschichte und insbesondere der Kolonialgeschichte als absoluten Widerspruch zum Projekt der CNHI empfanden. Daher war auch sein Ausbleiben bei der Eröffnung für viele keine Überraschung.454 Im Gegenteil, einige der interviewten Akteure äußern, dass es für sie sogar ‚génant‘, gewesen wäre, wenn der Präsident die CNHI eröffnet hätte, der auch das Ministerium geschaffen habe, gegen das sie protestiert hätten.455 Zudem wird die Befürchtung geäußert, dass Sarkozy das Projekt für seine Zwecke hätte missbrauchen können und es beispielsweise in seine Kampagne um die ‚identité nationale‘ hätte einbinden können:456 [En] […] 2007 une partie des membres du comité des historiens dont moi ont démissionné en réaction à la création du ministère de l’immigration et de l’identité nationale […] il y avait une coïncidence […] entre la création du musée et les changements politiques, d’une certaine façon si Sarkozy était venu l’inaugurer il lui donnait une signification et […] il le contaminait d’une certaine façon donc ça peut paraître paradoxale mais c’est peut être mieux du point de vue du musée qu’il ne l’a pas fait et je me suis demandé à l’époque si de faite c’était pas un peu leur préoccupation c’est-à-dire, que est-ce que Toubon n’a pas […] demandé explicitement à Sarkozy et à Hortefeux de ne pas l’inaugurer pour éviter de le placer comme un enjeu politique et donc de le tenir à distance […] et donc […] il [le musée] est vu plutôt comme une victime de Sarkozy plutôt que comme son agent ce qu’il l’a protégé, si Sarkozy avait dit ben le musée de l’immigration c’est exactement ce qui nous faut pour lancer la campagne sur l’identité nationale, le musée était mort […].457
453 454 455 456 457
Vgl. Le discours de Dakar de Nicolas Sarkozy. Vgl. Interview mit KI. Vgl. Interview mit HE. Vgl. Interview mit DI. Ebd.
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Entwicklung seit der Eröffnung 2007 bis heute
Aus den bisherigen Analysen lassen sich für die CNHI für die Folgezeit zwei zentrale Aufgaben- bzw. Problemfelder formulieren: Einerseits musste ein Weg gefunden werden, mit dem Ort und dem Gebäude, in dem sie sich befand, umzugehen. Auch wenn man vonseiten der CNHI immer wieder betonte, dass man sich getrennt von dem Ort verstehe und schließlich das Immigrationsmuseum nicht explizit für diesen Ort geplant worden sei, so hatte doch die Diskussion um den Ort in der Planungsphase sowie die Wahrnehmung des Ortes und der CNHI nach ihrer Fertigstellung gezeigt, dass man diese Haltung nicht einfach beibehalten konnte. Man konnte den Ort nicht dauerhaft ignorieren. Andererseits musste man sich, vor allem vor dem Hintergrund der ständigen Verwicklung in verschiedene aktuelle Debatten und Polemiken, mit der eigenen Zielsetzung, die Wahrnehmung in Bezug auf Immigration verändern zu wollen, auseinandersetzen, schließlich wollte man hier gezielt Stereotype aufbrechen, eingefahrene Beurteilungen dekonstruieren helfen und damit Komplexität erzeugen. Dies schien aber durchaus zu bedeuten, sich weiterhin bewusst als Ort der Polemik zu definieren. Gerade vor dem Hintergrund der Entwicklungen zwischen 2009 und 2011 war man sich aber vonseiten der CNHI nicht mehr sicher, ob man diese Rolle noch spielen wollte. Besonders die verfehlte Einweihung der Mediathek des Hauses 2009 und die mehrmonatige Besetzung durch die Sans-papiers 2010/11 bildeten daher in der Folge Marksteine für die Entwicklung und (Außen-)Wahrnehmung des Projekts. Sie veranschaulichen die problematische Anfangsphase der CNHI, in der man noch auf der Suche nach einer institutionellen Identität war und gleichzeitig mehrfach in gesellschaftlich und politisch aktuelle Debatten um das Thema Immigration verwickelt wurde, ohne dies selbst steuern zu können. Das Fehlen einer Unterstützung und Legitimation von öffentlicher Seite beeinträchtigt dabei die Identitätsfindung massiv. Schließlich fand dieser konfliktbeladene und schmerzhafte Prozess erst mit der offiziellen Einweihung der Institution durch Sarkozys Nachfolger Hollande Ende 2014 einen Abschluss. Vor dem Hintergrund dieser externen Einflussfaktoren durchläuft die neue Institution auf verschiedenen Ebenen unterschiedliche Phasen der internen Veränderung. Tatsächlich waren erst 2010 alle Teile der Institution fertiggestellt und konnten dem Publikum zugeführt werden – diese dreijährige Fertigstellungs- und damit Übergangsphase ließ das Überleben der Institution teilweise fraglich erscheinen, sorgte aber dafür, dass mit der Überwindung dieser Phase ab 2011 eine ‚Konsolidierung‘ eintrat. Jedoch bedeutete dies keinesfalls ein Ende der internen Wandlungsprozesse. Nun stand die Überarbeitung der eignen Funktion und Identität im Vordergrund. In der Folge veränderte man daher das Image und die Kommunikation fundamental. Dazu gehörte auch die Überarbeitung des Status der Institution: Die CNHI wurde bereits 2012 mit dem Aquarium in eine gemeinsame EP zusammengelegt. Von nun an stand die Nutzung und Vermittlung des Palais als Ganzem im Vordergrund und wurde zu einer
Entwicklung seit der Eröffnung 2007 bis heute
wesentlichen Aufgabe. 2013/14 ging man sogar noch einen Schritt weiter und verabschiedete sich vom abstrakten Konzept der ‚Cité‘ und benannte sie offiziell in ‚Musée de l’histoire de l’immigration‘ um. Spätestens seit dieser Zeit kann man einen deutlichen Besuchererfolg und eine Belebung des Ortes feststellen, der nun eine Vielzahl an Angeboten für die Besucher bereithält. Die deutliche Veränderung des Programms der CNHI und ihrer Außenwirkung hatte dabei teilweise auch personelle Ursachen: So ist seit 2014 der Historiker Benjamin Stora an die Stelle Jacques Toubons getreten und auch sein langjähriger Mitstreiter in dieser Institution, Luc Gruson, ist abgetreten und wurde durch Françoise Orain ersetzt. Es war hier also gleichsam ein ‚Generationenwechsel‘ in den führenden Positionen der Institution zu beobachten – der zugleich im Falle von Benjamin Stora auch eine Kompetenzverschiebung bedeutet. An die Stelle des Politikers tritt der Historiker. Das Projekt durchläuft hier einen komplexen Prozess der Identitätsfindung, der u. a. einerseits durch die notwendige Entwicklung einer (neuen) Beziehung zu dem Ort, dem Gebäude, geprägt ist. Dabei taucht, wenn auch häufig indirekt, immer wieder die Frage nach dem Verhältnis von Immigration und Kolonisation auf. Andererseits ist ein wichtiger Aspekt die Suche nach einer Umgangsmöglichkeit mit Konflikten und Ambiguitäten, deren Teil die Institution immer wieder geworden ist. Daher soll es in diesem Kapitel darum gehen, die Entwicklungen und Veränderungen im Zeitraum ab 2007 nachzuvollziehen und ihre Auswirkungen auf die Identitätsfindung der Institution zu verstehen: Wie verändert sich der Umgang mit dem Ort und inwiefern schafft man es, den Palais und seine Vergangenheit in das Konzept eines Immigrationsmuseums und umgekehrt zu integrieren? Wie wird in diesem Kontext mit den dauerhaften Sammlungsteilen umgegangen, welche Rolle spielen sie insgesamt in Bezug auf die Funktion des MNHI und im Speziellen bei der Vermittlung des Ortes und der Herstellung einer Verbindung zwischen Immigration und Kolonialismus? Welchen Beitrag leisten dabei die Wechselausstellungen, inwiefern bereichern und ergänzen sie die dauerhaften Teile? Welche Perspektiven und Fokusse werden dem Publikum hier zusätzlich angeboten? Welche Strategien werden für den Ausgleich von Fehlstellen für die Integration kritischer und selbstreflexiver Elemente entwickelt? 2.3a
Von der CNHI zum MNHI – Wirkmacht und Wahrnehmung der Institution: Politischer Kontext, Selbstdarstellung, Imagekampagnen, Besucherzahlen und Rezeption durch die Besucher
Wie bereits in der Einführung angedeutet, durchlief die CNHI einige Entwicklungen, die als Kontext für Rolle und Funktion der dauerhaften Sammlungsteile sowie auch der Wechselausstellungen fundamental sind. Erst im Laufe dieser Entwicklungen erhielten die einzelnen Sammlungsteile ihre heutige Rolle und werden mittlerweile als Teil des Gesamtkonzepts des Palais de la Porte Dorée begriffen. Insbesondere die
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Phase zwischen 2008 und 2010 erwies sich dabei durchaus als Nagelprobe für die Institution. Sie geriet erneut und mehr oder weniger unfreiwillig ins Zentrum aktueller politischer und gesellschaftlicher Debatten, indem sie über mehrere Monate von einigen hundert Sans-papiers besetzt wurde. Dies prägte das Haus nachhaltig und sorgte für eine Neuausrichtung der eigenen Identität. Die CNHI konnte sich also auch in der Folge nicht von ihrem ‚polemischen Image‘ befreien. Genau dieser Aspekt wurde dann zu einer wesentlichen Zielsetzung der neuen Imagepolitik. Inwiefern dies gelang und inwiefern es zur Umsetzung der eigentlichen Zielsetzung des Hauses, die Wahrnehmung von Immigration verändern zu wollen, beitrug, soll im Folgenden untersucht werden. Dabei scheint es wesentlich, dies vor der von Hainard anlässlich der ersten großen thematischen Wechselausstellung, ‚1931‘, geäußerten Kritik zu tun:458 Hainard hatte ausdrücklich darauf hingewiesen, dass eine solche Institution nur erfolgreich sein könne, wenn sie sich bewusst als Ort der Debatte, der Polemik, des Konflikts positioniere und Ambiguität aushalte und thematisiere.459 Jedoch war schon im Kontext der Eröffnung und des Austritts der HistorikerInnen aus dem wissenschaftlichen Beirat deutlich geworden, dass die Institution und ihr Personal eher dazu tendierte, sich der Polemik entziehen zu wollen und in einer beruhigten Atmosphäre eine Identität als neuem nationalen Museum etablieren zu können. Daher war man vonseiten der Institution nach dem Ende der Eröffnungsphase und den ersten Monaten im Sommer 2008 bemüht, das Projekt als Erfolg darzustellen. So bezog die damalige Direktorin der Institution, Patricia Sitruk, öffentlich in der Presse Stellung und betonte, dass man in den ersten neun Monaten bereits 100 000 Besucher angezogen habe.460 Dabei sei auffällig, dass man auch und vor allem Besucher anlocke, die sonst nicht in die nationalen Museen gingen. Ein besonderer Schwerpunkt liege auf dem jungen Publikum der unter 18-Jährigen und sozial benachteiligten Gruppen. Dies meinte vor allem auch das schulische Publikum. Es ist hier deutlich erkennbar, dass man sich von den anderen kulturellen Institutionen in Paris abgrenzen und die eigene Legitimation untermauern wollte, die von offizieller Seite verwehrt wurde. Nach der Ablehnung des Projekts von staatlicher Seite und der fehlenden offiziellen Einweihung sah man sich quasi genötigt, umso stärker den eigenen Erfolg und die Be-
Hainard war als externer Kurator für die erste große thematische Wechselausstellungen eingeladen worden und äußerte in einem ‚table ronde‘ zur Ausstellung, dass er durch die Arbeit mit der CNHI das Gefühl gewonnen habe, dass man sich hier davor fürchte, ein Ort der Debatte und Polemik zu sein. Wortbeitrag Hainards: Conférence: 1931, Les étrangers au temps de l’Exposition coloniale: rencontre-débat avec les commissaires de l’exposition (17 juin 2008, 19h-20h30); Présentation: Marianne Amar – Intervenants: Laure Blévis, Jacques Hainard, Hélène Lafont-Couturier, Maureen Murphy, Olivier Schinz, Claire Zalc, Dauer: 84:57 min., URL: http://www.histoire-immigration.fr/musee-numerique/expositions-temporaires/1931les-etrangers-au-temps-de-l-exposition-coloniale (Zugriff 13.07.2017). 459 Vgl. ebd. 460 Vgl. Coroller, Catherine, „Nous accueillons beaucoup de jeunes et de personnes à faibles ressources“, in: Libération (04.08.2008). 458
Entwicklung seit der Eröffnung 2007 bis heute
deutung des Projekts hervorzuheben. Dies bestätigte auch der offizielle Bericht, der bereits nach einem Jahr eine knappe Bilanz des Zeitraumes von Oktober 2007, also dem Zeitpunkt der Eröffnung, bis Oktober 2008 zog.461 Es wird eine Zahl von 120 000 Besuchern für den genannten Zeitraum angeführt. Auch hier betonte man das junge und insbesondere das schulische Publikum: Immerhin 20 % der Besucher kämen in festen Gruppen, wovon gut die Hälfte Schulklassen wären. Zusätzlich wurden in diesem Zeitraum 800 LehrerInnen zum Thema Immigration weitergebildet. Dieser Fokus auf dem schulischen Publikum, seine besondere Hervorhebung und das gezielt auf diese Gruppe ausgerichtete Programm der Institution blieb auch in der Folge erhalten und wurde über die Jahre als wichtiger Bestandteil der eigenen Identität ausgebaut.462 Da man als wesentliches Ziel die Wahrnehmung in Bezug auf Immigration verändern und Stereotype abbauen wollte, schien dies konsequent. Man hoffte hier vonseiten der Institution, direkt bei den zukünftigen Generationen ansetzen zu können und so einerseits frühzeitig ein komplexes Verständnis von Immigration und ihren Bedingungen zu schaffen, sowie andererseits ein beständiges Besucherpublikum an sich binden zu können. Den Erfolg, den man bereits erzielt habe, belegte man anhand von Auszügen aus dem ‚Livre d’or‘, dem Besucherbuch. Hier wurden vorrangig sehr emotionale und persönliche Statements von Besuchern ausgewählt, die in der Regel selbst eine Verbindung zur Migration hatten. Die ausgewählten Statements bewerteten die Institution natürlich alle sehr positiv: Die Notwendigkeit einer solchen institutionellen Anerkennung der Immigration wurde hier betont, viele Besucher drückten ihre Rührung und stark emotionale Reaktion auf die Dauerausstellung aus. Für sie war es ein bedeutender Schritt, die Geschichte ihrer Familie, Freunde oder ihre eigene in einem Museum repräsentiert und anerkannt zu sehen.463 Gleichzeitig verdeutlichte der Bericht auch ein großes Defizit der neuen Institution, das auch in den Aussagen der Besucher anklang: ihr fragmentarischer Charakter. Schließlich war nur die Dauerausstellung ab der Eröffnung direkt zugänglich, alle anderen Teile der Institution eröffneten mit deutlicher Verzögerung. Das Auditorium, aber auch die Atelierräume für Workshops, der Buchladen und die Ausstellungshalle ‚Marie Curie‘ sowie die Galerie des dons konnten erst im Frühjahr 2008 eröffnet werden,464 die Mediathek sogar erst 2009. Die ausstehenden Arbeiten an der Institution
Vgl. CNHI / Palais de la Porte Dorée (Hrsg.), Cité nationale de l’histoire de l’immigration. Un an après son ouverture 10 octobre 2007–10 octobre 2008, URL: http://www.histoire-immigration.fr/sites/ default/files/musee-numerique/documents/ext_media_fichier_517_cite_immigration_un_an.pdf (Zugriff 22.07.2017). 462 Vgl. Bo., C., À la porte Dorée, à Paris, un musée en quête d’identités, in: Le Monde (16.12.2009). 463 Vgl. CNHI / Palais de la Porte Dorée (Hrsg.), Cité nationale de l’histoire de l’immigration. Un an après son ouverture 10 octobre 2007–10 octobre 2008, URL: http://www.histoire-immigration.fr/sites/ default/files/musee-numerique/documents/ext_media_fichier_517_cite_immigration_un_an.pdf (Zugriff 22.07.2017). S. 9. 464 Vgl. ebd. S. 12. 461
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konnten, laut dem Jahresbericht von 2011, erst 2010 vollständig abgeschlossen werden.465 So befand sich der neue Ort während der drei Jahre, die auf seine Eröffnung folgten, in einer Art Übergangszustand, der es den Besuchern schwer machte, die geplante Institution in Gänze in ihrer Funktion zu erschließen. Dies lag zu einem großen Teil an der verfrühten Eröffnung, die schließlich noch möglichst dicht an dem Ende der Präsidentschaft ihres politischen ‚Schöpfers‘ Chirac liegen sollte, um so zu vermeiden, dass das Projekt vielleicht doch noch von Sarkozy hätte geschluckt werden können. Einmal eröffnet, war diese Gefahr deutlich geringer, jedoch um den Preis einer unvollständigen, noch in der Umsetzung befindlichen, fragilen Institution. Die Tatsache, dass es denn auch, zumindest offiziell, für die Jahre 2009 und 2010 keine Jahresberichte gab, scheint diese offensichtlich auch von der CNHI selbst empfundene Unvollständigkeit zu spiegeln. Es wirkt so, als ob man vonseiten der Institution selbst unsicher ob der eignen Ausrichtung, dem Status und dem Funktionieren als Ganzem war. Denn trotz des noch 2008 affirmierten Erfolgs und Willens, sich trotz mangelnder politischer und öffentlicher Unterstützung zu behaupten, musste sich die Institution der eigenen Unabgeschlossenheit stellen und versuchen, eine kohärente Identität als Ort zu entwickeln. Dies wurde allerdings genau in dieser sehr fragilen Phase durch zwei Ereignisse perturbiert: Einerseits die gescheiterte Einweihung der Mediathek 2009466 und andererseits die Besetzung des Palais durch die Sans-papiers 2010/11. Der Versuch, die Mediathek467 der CNHI im März 2009 offiziell einweihen zu lassen, spiegelte dabei das starke Bedürfnis der Institution, offiziell anerkannt und unterstützt zu werden.468 Toubon hatte aus diesem Bedürfnis heraus und aufgrund des Bewusstseins, dass gerade diese Institution, die immerhin staatlicher Natur war und von vier Ministerien finanziert wurde, versucht, den Nachfolger im skandalträchtigen Ministerium für Immigration und nationale Identität, Eric Besson, dazu zu bewegen, die Mediathek, die 2009 fertig gestellt werden sollte, zu eröffnen.469 Besson besuchte im Februar desselben Jahres das Museum und beraumte kurz darauf, für März, die offizielle Einweihung an. Außer ihm sollten auch die Minister der anderen drei Ministerien, die die CNHI finanzierten, anwesend sein: Xavier Darcos für die Bildung, Vgl. CNHI (Hrsg.), Rapport d’activités de la Cité nationale de l’histoire de l’immigration (2011), URL: http://www.histoire-immigration.fr/sites/default/files/musee-numerique/documents/rapport_activites_ 20120402.pdf (Zugriff 24.07.2017). S. 5. 466 Vgl. CNHI / Palais de la Porte Dorée, Dossier de presse – Ouverture de la médiathèque de la Cité, Abdelmalek Sayad, URL: http://www.histoire-immigration.fr/sites/default/files/musee-numerique/do cuments/ext_media_fichier_641_dossier_presse_ouverture_mediatheque.pdf (Zugriff 24.07.2017). 467 Die Planungen zur CNHI sahen von Beginn an eine Mediathek, die sowohl als Bibliothek als auch als audiovisuelles Archiv für die Geschichte der Immigration dienen sollte, vor. Man wollte hier den Forschungscharakter der Institution stärken und sich gezielt als Referenzpunkt der Forschung zur Immigration in Frankreich etablieren. In der konkreten Umsetzung benannte man dann diesen Teil der CNHI nach dem franko-algerischen Soziologen Abdelmalek Sayad. 468 Vgl. Van Eeckhout, Laetitia, La Cité de l’immigration sera-t-elle inaugurée?, in: Le Monde (31.03.2009). 469 Vgl. Chabrun, Laurent, Immigration: Besson au musée, in: L’Express (11.02.2009). 465
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Christine Albanel für die Kultur, Valérie Pécresse für die Forschung. Schlussendlich waren Besson und Darcos aber die einzigen anwesenden Vertreter. Sie besuchten dann immerhin zu zweit am 30. März 2009 offiziell in Begleitung Toubons das Museum. Anschließend wollten sie im ehemaligen Salle des fêtes, dem jetzigen Forum, ihre Eröffnungsreden halten. Damit sollte die verpasste offizielle Einweihung vom Oktober 2007 nachgeholt und symbolisch vollzogen werden – jedoch wurde dies abrupt nach den einführenden Worten Toubons gestoppt. Sobald Besson das Wort ergriff, wurde er von anwesenden Besuchern lauthals unterbrochen: Er wurde als „ministre de la honte, ministre des rafles, fasciste“470 beschimpft. Mehrere Besucher drückten hier unverblümt ihre Kritik am amtierenden Minister für Immigration aus, unterstützt von ca. 300 Demonstranten vor dem Gebäude. Laut dem L’Express wurde der Appell zum Boykott der Rede Bessons durch die Organisation ‚Coordination des intermittents et chômeurs‘ (CIP) angeregt – man wollte hier die Rede zum Anlass nehmen, um primär gegen ihn und seine Politik der Härte gegenüber den Sans-papiers zu demonstrieren.471 Auch wenn also der primäre Grund der Intervention nicht unmittelbar mit der CNHI selbst zusammenhing, so ging es doch vielen Demonstranten auch darum, dass gerade dieser Minister die Mediathek des ersten und einzigen Ortes zur nationalen Ehrung der Immigranten einweihen sollte, die auch noch nach Sayad benannt werden sollte.472 Das stellte für sie eine untragbare Beleidigung dar. Wenn ein Minister, der eine repressive Immigrationspolitik anregte, den Ort zur Anerkennung des Beitrags der Immigranten zur französischen Gesellschaft einweihen sollte, wurde der Bogen in den Augen vieler überspannt. Besson und Darcos konnten in der Folge durch den lauten Protest ihre Reden nicht halten, Besson verschwand daraufhin sofort aus der Institution – damit war die CNHI erneut zur Bühne einer scharfen öffentlichen Kritik an der aktuellen Immigrationspolitik geworden. Dass hier um den Preis des Protests gegen eine als ‚unfair‘ empfundene staatliche Politik gegenüber den Sans-papiers ein zentraler Bestandteil der CNHI nunmehr zum zweiten Mal nicht eingeweiht werden konnte, belastete die Institution schwer, wollte man doch eigentlich das Image als Ort der Polemik ablegen – besonders Schlagzeilen wie „La police inaugure la Cité de l’immigration“ ließen dies aber vorerst nicht zu. Die erhoffte Legitimation blieb aus, die Beziehung zur Regierung und dem Präsidenten blieb schwierig: „Les relations entre le gouvernement de Nicolas Sarkozy et la Cité nationale de l’histoire de l’immigration continueront-t-elles de n’être qu’une succession de rendez-vous manqués?“473 Diese Coroller, Catherine, La police inaugure la Cité de l’immigration, in: Libération (31.03.2009). Vgl. o. A. À la Cité de l’immigration, des manifestants font taire Besson et Darcos (30.03.2009). Abdelmalek Sayad war ein französischer Soziologe algerischer Abstammung, der sich mit Immigration allgemein, aber auch speziell mit der nordafrikanischen Einwanderung beschäftigt hat. Er setzte dabei vor allem Emigration und Immigration in Beziehung und betrachtet Immigration als ‚fait social total‘. Er setzte sich dafür ein, Immigration als komplexes Phänomen zu sehen, das man nicht einfach als ‚soziales Übel‘ abtun konnte. 473 Van Eeckhout, Laetitia, La Cité de l’immigration sera-t-elle inaugurée?. 470 471 472
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‚offene Wunde‘ der fehlenden Anerkennung von offizieller Seite, verkörpert durch das Ausbleiben einer Einweihung durch Vertreter der Regierung oder gar dem Präsidenten, sollte allerdings in der Folge tatsächlich erst durch den Nachfolger Sarkozys, François Hollande, geheilt werden. Hollande war bereits bei der Eröffnung der CNHI als Parteivorsitzender der Parti socialiste anwesend gewesen und hatte die Regierung und den Präsidenten für ihre Abwesenheit scharf kritisiert. Dementsprechend gehörte es zu seinen Wahlversprechen bei der Wahlkampagne der Präsidentschaftswahlen, dass er die CNHI, wenn er gewählt werde, offiziell einweihen würde. Dies löste er dann auch 2014, sieben Jahre nach ihrer Eröffnung, ein. Doch vorerst bedeutete dies für die CNHI einen weiteren Fehlschlag auf dem Weg zu einer institutionellen Legitimation. Es ist daher nicht verwunderlich, dass sich auch in der Berichterstattung der Presse ein eher ambivalentes bis deutlich negativ konnotiertes Bild der CNHI zeigte. Die fehlende Anerkennung und Unterstützung von staatlicher Seite ist dabei ein wesentliches Narrativ, das immer wieder auftauchte.474 Gleichzeitig etablierte sich parallel dazu ein neues Motiv: das des ‚Musée fantôme‘, das Le Monde in einem ausführlichen Artikel vom März 2010 prägte. Anlass waren die problematischen Besucherzahlen und damit verbunden die fehlende Annahme der Institution durch das Publikum. Für Guerrin herrschte der Eindruck vor, dass die Besucher des Palais eigentlich nur wegen des Aquariums (90 %) kämen und kaum jemand Lust hatte, das Immigrationsmuseum im oberen Teil des Gebäudes zu besuchen: Après l’inauguration, le 10 octobre 2007, la Cité a connu trois mois d’euphorie, avec 50 000 entrées. Après, ce fut la chute. Jacques Toubon, président du conseil d’orientation, tient à bout de bras et avec passion la Cité. D’abord, il ferraille sur les chiffres : « 85 000 personnes sont venues en 2009, dont un tiers de groupes, surtout des scolaires. Et 80 % du public ne paie pas. » Deux agents dans les salles disent que, hors groupes, on arrive à 10 000 entrées. « On n’a que des ennemis, et ils mentent », s’indigne M. Toubon, qui reconnaît que la situation est déjà difficile : « C’est vrai que j’attendais le double de fréquentation ».475
Für die Entwicklung der CNHI wurde nach einer kurzen Phase der Euphorie der Niedergang diagnostiziert. Die schwache Besucherzahl von 85 000 für 2009 spricht für sich.476 Zudem handelte es sich überwiegend um Schulklassen, die also in der Regel im Rahmen des schulischen Unterrichts hierherkommen (mussten). Guerrin führte die schwachen Zahlen einerseits auf die harte Konkurrenz innerhalb Paris’ zurück. Andererseits sah er auch das Thema ‚Immigration‘, das im Fokus stand und laut Toubon von den Franzosen weitestgehend ignoriert werde, als Ursache an. Dabei hätten laut Tou-
Vgl. Bo., À la porte Dorée, à Paris, un musée en quête d’identités. Guerrin, Michel, Le Musée fantôme, in: Le Monde (20.03.2010). Das MQB konnte im Mai 2010 verkünden, dass sie in vier Jahren 6 Mio. Besucher empfangen hatten. Zwar ist das MQB auch sehr viel größer und zentraler gelegen, trotzdem macht es die Schwäche der Rezeption der CNHI deutlich. Vgl. o. A. Quai Branly: 6 millions de visiteurs, in: Libération (27.05.2010). 474 475 476
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bon die Debatten um die Banlieues und die nationale Identität nicht gerade geholfen, dies zu ändern, sondern die Distanz und Ignoranz eher noch erhöht: „C’est la France entière qui ne veut pas voir au musée ce qu’elle ne veut pas voir dans la vie“477 konstatierte hierzu Guerrin. Trotz der häufig betonten Notwendigkeit einer solchen Institution und ihrer gesellschaftlichen Relevanz war ihre Funktion und Zielsetzung offenbar für viele Franzosen entweder nicht verständlich oder entbehrlich. Neben dieser offensichtlichen Problematik wies Le Monde in derselben Ausgabe auf die institutionellen Probleme hin, die die CNHI im Moment habe. So sei nicht klar, ob die derzeitige Direktorin der Gesamtinstitution, Patricia Sitruk, ihren Vertrag verlängert bekäme oder nicht – man befinde sich hier in einem Schwebezustand, der vorerst nicht geklärt werde. Diese Darstellung in Le Monde, die alle Schwachstellen der CNHI aufgriff und es als ‚Phantom-Museum‘ charakterisierte, würde in der Folge prägend sein und mit dazu führen, dass man sich vonseiten der Institution mit dem Thema Image gezielt auseinandersetzte. Der Artikel wurde selbst noch im Jahresbericht für 2014 explizit erwähnt, um sich von diesem Zustand abgrenzen zu können und den nun zurückgelegten Weg positiv hervorheben zu können.478 Die Problematik der doppelten Ablehnung durch die Politik und die Öffentlichkeit ließ die Institution weiter mit ihrer Identität und Position in der Pariser Museumslandschaft hadern.479 Durch diesen Zustand entstand eine besondere Form der Verwundbarkeit, die es schlichtweg unmöglich machte, das Thema Immigration in all seiner Ambivalenz, mit all den damit verbundenen Debatten und Widersprüchen offen anzugehen und sich als Ort der Polemik zu positionieren, wie es Hainard 2008 vorgeschlagen hatte. Diese Tendenz wurde noch verstärkt durch die Besetzung der Institution durch die Sans-papiers von Ende 2010 bis Anfang 2011. Bereits ca. ein Jahr vor der Besetzung der CNHI hatten explizit die berufstätigen Sans-papiers unter Leitung der großen Gewerkschaft CGT in Paris begonnen, ihre Regularisierung über gezielte Arbeitsniederlegungen zu erreichen.480 Immerhin hatten sie damit auch im Juni 2010 einen Teilerfolg erzielt. Es wurde ihnen beim Nachweis einer regelmäßigen Berufstätigkeit über Arbeitsverträge und regelmäßige Lohnzahlungen eine schnellere Regularisierung von der Regierung in Aussicht gestellt. Dieser Teilerfolg wurde aber in der Folge verschleppt: Die Regierung setzte die neue Maßnahme nur sehr langsam um, es profitierten effektiv kaum illegale Arbeiter davon. Daher wollte man nun im Oktober 2010 einen neuen Schritt wagen, um die tatsächliche Umsetzung zu beschleunigen und die Regierung unter Druck zu setzen: Am 07. Oktober 2010 besetzten daher 500 SansGuerrin, Le Musée fantôme. Vgl. EP Palais de la Porte Dorée (Hrsg.), Rapport d’activités 2014 – Musée national de l’histoire de l’immigration, Aquarium tropical, S. 7. 479 Selbst zu Beginn des Jahres 2013 herrschte bei einem der Mitarbeiter der Mediathek noch der Eindruck vor, dass das Museum von den Medien, insbesondere der Presse, weitestgehend ignoriert werde und er sich daher nicht sicher sei, welche Zukunft das Haus habe. 480 Vgl. Piquemal, Marie, „12 mois de grève et toujours rien“, in: Libération (07.10.2010). 477 478
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papiers das Gebäude der CNHI.481 Die Meldung machte in allen großen Tages- und Wochenzeitungen die Runde und brachte die Cité erneut ins Gespräch.482 Besonders nach den ersten 40 Tagen dauerhafter Besetzung483 berichtete die Presse erneut ausführlich über diesen besonderen Umstand: Die Sans-papiers belagerten die CNHI mittlerweile dauerhaft Tag und Nacht, schliefen hier, aßen hier und warteten auf ein Entgegenkommen von Behördenseite.484 Man betonte zu diesem Zeitpunkt allerdings noch, auch vonseiten der Institution selbst, dass das Museum geöffnet bleibe, man die Dauerausstellung und das Aquarium weiterhin besuchen könne. Da die Sans-papiers vorrangig im Erdgeschoss lagerten und niemanden störten, wie auch einzelne Besucher bestätigten, versuchte man ein normales Funktionieren der CNHI zu gewährleisten.485 Ähnlich wie im Fall der verhinderten Eröffnung der Mediathek war der eigentliche Grund der Protestaktion nicht unmittelbar mit der Cité selbst verbunden. Gleichzeitig wurde auch hier wieder der Ort für den Protest durchaus bewusst und explizit ausgewählt. Dies hatte bereits die Stellungnahme von Mody,486 die mittlerweile in der Galerie des dons thematisiert wird, verdeutlicht – der Ort wurde eindeutig als symbolischer Ort von den Besetzern ausgewählt. So betont ein Teilnehmer der Besetzung klar: „Ils (les sans-papiers dans la CNHI) viennent tous des anciennes colonies, à part quelques Chinois qui sont arrivés récemment.“.487 Man eignete sich das doppelte Erbe des Ortes über die Besetzung an: einerseits den Kolonialpalast, der auf die Wurzeln dieser spezifischen afrikanischen Immigration verwies, die hier mehrheitlich anwesend war und ihre Rechte einforderte.488 Andererseits das Museum für Immigration, das sie als ‚ihren Ort‘ identifizierten, der ihnen eine Stimme geben konnte, da er schließlich ihre Geschichte darstellen und das Bild von Immigration verändern sollte.489 Vgl. o. A. 500 salariés sans-papiers occupent la Cité de l’immigration (07.10.2010). Vgl. o. A. La Cité de l’immigration occupée, in: Le Figaro (07.10.2010); o. A., Le musée de l’Immigration occupé par des centaines de salariés sans papiers, in: Le Point (07.10.2010); o. A., Des salariés sans papiers occupent la Cité de l’immigration, in: Le Monde (07.10.2010); Coroller, Catherine, Visite groupée à La Cité de l’Immigration, in: Libération (11.10.2010); Gastaut, Yvan, Les sans-papiers inaugurent la cité de l’immigration, in: Libération (15.10.2010). 483 Vgl. o. A. Cité/Immigration: 40 jours d’occupation, in: Le Figaro (18.11.2010). 484 Vgl. Choquet, Claudia, Des sans-papiers squattent le musée de l’immigration, in: L’Express (10.11.2010). 485 Vgl. ebd. 486 ‚Mody‘ war einer der Besetzer der CNHI, der sich später dazu entschieden hat, über sein Schicksal als Sans-papier und seine Zeit in der CNHI Zeugenschaft in der Galerie des dons abzulegen. Vgl. MNHI (Hrsg.), „L’histoire de Mody par lui-même“, in: MNHI (Hrsg.), Guide de la Galerie des dons, Paris 2014. S. 185. 487 Soyez, Fabien, À la Cité de l’immigration, les sans-papiers „ne lâchent pas le morceau“, in: Libération (25.11.2010). 488 Dies erinnert an die Besetzung des Palais 2003, nach seiner offiziellen Schließung. Auch hier hatten sich die Sans-papiers, mehrheitlich afrikanischer Herkunft, bewusst den Palais als Ort des Protests ausgesucht, da sie ihr Schicksal mit dem der dort dargestellten ‚Kolonisierten‘ assoziierten. 489 Vgl. MNHI (Hrsg.), „L’histoire de Mody par lui-même“, S. 185. 481 482
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Die Besetzer wollten mit dieser Aktion auch auf die Lage der Sans-papiers im Allgemeinen aufmerksam machen, ihr gesellschaftliches, von Voreingenommenheit geprägtes Bild verändern und nicht nur die persönliche, individuelle Problemlage lösen. Sie wollten zeigen, wie Frankreich, das Werte wie Gleichheit nach außen proklamierte, im Inneren mit Einwanderern ohne Papiere, die aber wie jeder Franzose auch arbeiteten und Sozialabgaben und Steuern zahlten, umging. Damit fand sich die CNHI erneut im Zentrum einer essenziellen Debatte um Immigration und den politischen Umgang mit ihr wieder. Diesmal war sie allerdings mehr denn je Schauplatz und Bühne dieser Debatte und wurde in ihrer alltäglichen Arbeit beeinträchtigt. Die Besetzung stellte sich nach gut zwei Monaten als enorme Belastung für die Institution heraus: Nicht nur musste man Sicherheitspersonal engagieren und hatte damit erhöhte Kosten, langsam wirkte sich die Besetzung auch auf die Besucherzahlen und die alltägliche Arbeit der CNHI aus. So wurde beschlossen, die CNHI schließlich Ende November 2010 zu schließen, bis eine Lösung gefunden wurde. Diese Entwicklung, die in einer temporären Schließung mündete, schadete dem Bild der CNHI in der Öffentlichkeit nachhaltig. Zwar wollte man sich auf keinen Fall gegen die Besetzer und ihr Vorhaben stellen, man trat sogar als Vermittler auf, jedoch wollte man auch nicht fortlaufend die eigene Existenz gefährden. Trotz aller Bemühungen zugunsten einer Lösung der Situation und einiger Versuche, die CNHI wieder zu öffnen, zog sich die Besetzung bis Anfang Februar 2011 hin und führte zu einem katastrophalen Zustand:490 […] [S]elon la direction, « la situation s’est progressivement enlisée et dégradée : (…) non respect des règles intérieures, insalubrité, personnes stationnant ou circulant en trop grand nombre dans les espaces ouverts au public ». Elle évoque également « des incidents sérieux, et notamment des menaces à l’encontre du personnel, intervenus à la fin de l’année 2010 et au début du mois de janvier. Une démarche engagée afin d’améliorer la situation sur le site (…) n’a pas rencontré de succès auprès des occupants et de leurs soutiens ».491
Diese Zuspitzung prägte die Institution nachhaltig, wie auch ein Interviewteilnehmer bestätigt, der selbst erst nach diesem Ereignis in der CNHI beschäftigt wurde, aber deutlich die Auswirkungen auf und die kollektive Prägung des übrigen Personals durch das Ereignis zu spüren bekam.492 Dieser Interviewteilnehmer verbindet die Erfahrung der fehlenden offiziellen Anerkennung mit der Besetzung durch die Sans-papiers, um zu verdeutlichen, welcher professionellen Verletzung das Personal hier ausgesetzt war. Nicht nur, dass die Institution keine offizielle Einweihung bekam, sie wurde auch noch in einer schweren Krise mehr oder weniger von offizieller Seite alleine gelassen. Die Dauer der Verweigerung einer offiziellen Unterstützung, einer Legitimation, und die Tatsache, dass zugelassen wurde, dass die Institution im Angesicht einer Krise, 490 491 492
Vgl. o. A. Des sans-papiers délogés du musée de l’immigration, in: L’Express (28.01.2011). Ebd. Vgl. Interview mit MC.
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die sie an die Grenzen ihrer Belastbarkeit führte, sich selbst überlassen wurde, kreierte eine Form der Verletzung, die jede Selbstreflexion, jede Offenheit gegenüber Kritik und Ambiguität unmöglich machte. Die vorrangige Aufgabe der Folgejahr bestand klar zu einem großen Teil darin, dies zu überwinden und eine eigene von diesen Verletzungen und Infragestellungen unabhängige, ‚geschützte‘ Identität zu entwickeln. Es wundert daher nicht, dass in dem Jahresbericht von 2011 mehrfach die Konsolidierung der Institution betont wurde: Man wollte mit der Besetzung abschließen und verdeutlichen, dass man trotz aller Schwierigkeiten diese Nagelprobe heile überstanden hatte.493 Die Folgen der Besetzung wurden hier sehr negativ bewertet: Der Bericht ging davon aus, dass sie katastrophale Auswirkungen auf die Besucherzahlen und das Image des Hauses gehabt habe. Tatsächlich befand sich die jährliche Besucherzahl 2011 auf einem für das Haus ‚historischen‘ Tiefpunkt: Nur 64 879 Besucher waren in dem Jahr in die CNHI gekommen, gegenüber immerhin 201 721 Besuchern im Aquarium.494 Toubon hatte für 2009 immerhin noch 85 000 Besucher angegeben. Daher wurden nun die Veränderung des eigenen Images und die Verbreitung der Bekanntheit der Institution beim breiten Publikum Hauptziele der CNHI. In diesem Kontext wurden besonders die beiden Wechselausstellungen ‚Polonia‘ und ‚J’ai deux amours‘ als Hoffnungsträger gesehen.495 Besonders letztere habe nachhaltig das Bild der CNHI verändert und ihre Bekanntheit und Beliebtheit erhöht. Dies ist insofern signifikant, als dass es sich um eine reine Ausstellung zur Kunst handelte: Die Tatsache, dass Immigration hier indirekt über die zeitgenössische Kunst und Künstler aus der Migration verhandelt wurde, erinnert erneut an den Ansatz von ‚Les enfants de l’immigration‘. Immigration konnte somit aus dem Bereich der sozialen und politischen Aktualität und Konfliktualität herausgehoben werden und über den ästhetischen Eigenwert der ausgestellten Werke in einen grundsätzlich vom Publikum positiv bewerteten Erfahrungsraum integriert werden. Die Neutralisierung und letztlich sogar Emanzipation des Themas Immigration über die Kunst schien fundamental für das neue Image der CNHI gewesen zu sein. Auch in der Folge, so im Jahresbericht von 2012, wurde auf den maßgeblichen Erfolg und die Wirkung dieser Ausstellung hingewiesen. Mit einer Besucherzahl von 36 235 im Gegensatz zu Polonia, die nur 28 579 Besucher anlockte, konnte man hier auch von einem vorbildlichen Erfolg in Zahlen sprechen.496 Den Wechselausstellungen wurde insgesamt eine sehr zentrale Rolle zugestanden, die darin bestand, deutlich mehr Publikum anzuziehen und dieses insgesamt zu diversifizieren. Gerade Ausstellungen wie ‚Polonia‘ schienen dies leisten zu können, da sie offenbar explizit die entsprechende
Vgl. CNHI (Hrsg.), Rapport d’activités de la Cité nationale de l’histoire de l’immigration (2011), S. 5 f. Vgl. ebd. S. 37. Vgl. ebd. S. 6 und S. 13. Vgl. EP Porte Dorée (Hrsg.), Rapport d’activités de l’Etablissement Public de la PorteDorée (2012), URL: http://www.histoire-immigration.fr/sites/default/files/musee-numerique/documents/rapport_acti vite_epppd_2012.pdf (Zugriff 24.07.2017), S. 86. 493 494 495 496
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Diaspora anzogen.497 Daher setzte man dies regelmäßig ein, was sich bis heute beispielsweise in Ausstellungen wie ‚Ciao Italia‘ von 2017 zeigte. Trotzdem wurde auch klar formuliert, dass man nicht allein über die Wechselausstellungen Besucher anziehen, Fehlstellen ausgleichen und alternative Perspektiven anbieten konnte. Es musste sich auch einiges an den dauerhaften Teilen der CNHI ändern. Dabei fallen drei Punkte zentral ins Auge: die Verbesserung der Lesbarkeit und Führung der Besucher in der Dauerausstellung Repères, die Überarbeitung der Galerie des dons, die zu wenig besucht wurde, und die ‚Mise en valeur du Palais‘. Bemerkenswert erscheint auf den ersten Blick die prominente Thematisierung des ‚Mise en valeur du Palais‘: Bereits 2011 plante man eine stärkere Einbeziehung des Palais und seiner Geschichte als Ganzem.498 In zwei großen Schritten sollte hier das Gebäude in seiner Form und Architektur besser erklärt und in seiner Geschichte verortet werden. In einem ersten Schritt sollte dazu eine konsequente Beschilderung der historischen, restaurierten Architektur angebracht werden. Im zweiten Schritt sollte eine historische Ausstellung zur Vergangenheit des Palais eingerichtet werden.499 Diese in ihrer Gezieltheit und Ganzheitlichkeit neue Form der Betrachtung des Palais und seiner einzelnen Bestandteile, die bisher eher noch isoliert nebeneinander standen, wurde vor allem durch eine entscheidende juristische und verwaltungstechnische Änderung befördert: Mit dem 01.01.2012 wurden das Aquarium und die CNHI in einer gemeinsamen EP zusammengeschlossen.500 Diese Zusammenführung und damit neue Positionierung der EP wurde in der Folge, im Jahresbericht von 2012, dann als Chance zum Neuanfang, zum Bruch mit der aus der Besetzung entstandenen „brouillage d’image“ gesehen und 2012 als ‚année zéro‘ der eigenen Identität konstruiert.501 Man sprach hier explizit von einer ‚Rückkehr zur Normalität‘ und verdeutlichte anhand der ausdrücklichen Thematisierung des Erfolgs der Wechselausstellung ‚Vies d’Exil‘ die eigene Zufriedenheit über die Beruhigung der Debatten um die CNHI: „La réussite de l’exposition Vies d’exil dès son ouverture montre également que la Cité peut aborder des sujets historiques délicats, sans faire l’objet de polémiques partisanes ou d’instrumentalisation.“.502 Die Erleichterung, ein durchaus schwieriges historisches Thema, die algerische Einwanderung nach Frankreich während des Algerienkriegs, erfolgreich thematisiert zu haben und damit keine
Vgl. CNHI (Hrsg.), Rapport d’activités de la Cité nationale de l’histoire de l’immigration (2011), S. 39. Vgl. ebd. S. 13f und S. 16 f. Vgl. ebd. S. 16 f. Vgl. CNHI, Communiqué de presse – Création de l’Etablissement public du Palais de la Porte Dorée regroupant la Cité nationale de l’histoire de l’immigration et l’Aquarium, URL: http://www.histoire-im migration.fr/sites/default/files/musee-numerique/documents/communique_presse_20111229.pdf (Zugriff 24.07.2017), sowie: Décret no. 2001–2008 (28.12.2011), in: Journal officiel (29.12.2011). 501 Vgl. EP Porte Dorée (Hrsg.), Rapport d’activités de l’Etablissement Public de la PorteDorée (2012), S. 3 ff. 502 Ebd. S. 3. 497 498 499 500
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Polemik ausgelöst zu haben, war überdeutlich. Es wurde hier klar, dass man nun eine gewisse Sicherheit empfand und eindeutig jegliches neuerliches Aufkommen von Debatten vermeiden wollte, auch wenn dies genau dem Gegenteil der Empfehlung Hainards entsprach. Bei dieser Ausstellung war aus Sicht des Personals der CNHI viel wesentlicher, dass zur Vernissage zum ersten Mal in der Geschichte der CNHI ein Minister, die damalige Kulturministerin Aurélie Filippetti, eine offizielle Rede hielt. Dies wurde als erstes zaghaftes, aber bedeutendes Zeichen einer wachsenden Anerkennung auch von offizieller Seite gewertet.503 Diesem Hoffnungsschimmer standen allerdings immer noch recht geringe Besucherzahlen gegenüber: 68 886 für die CNHI gegenüber 227 127 für das Aquarium.504 Wobei man nun deutlich auf die Tatsache setzte, dass beide Institutionen seit Januar 2012 zusammengehörten und auch zusammen beworben und geplant werden konnten, wodurch man sich ein kohärenteres Bild in der Öffentlichkeit und eine klarere Vermittlung der Funktion und Zielsetzung des Palais erhoffte.505 Der Palais an sich, als historisches Monument, aber auch als Brückenelement zwischen den verschiedenen Teilen des Museums rückten dabei zunehmend in den Fokus der Planungen: So wurde unter dem Titel ‚Le Palais, une nouvelle offre pour des nouveaux publics‘ versucht, ihn als neues zentrales Element in der Werbung zusätzlichen alternativen Publikums, aber auch als Mittel einer klareren Kommunikation zu verwenden.506 Schließlich gab es laut dem Jahresbericht vonseiten der Besucher eine verstärkte Nachfrage von Informationen zur Architektur des Palais und seiner Vergangenheit. Der wunde Punkt der CNHI in der Planung, der Ort bzw. das Gebäude des Palais de la Porte Dorée, wurde nun zum Publikumsmagnet und Kommunikationselement umfunktioniert. Damit sollte die oft öffentlich wahrgenommene Isoliertheit und Unklarheit der einzelnen Elemente der CNHI überwunden werden. Ein wichtiger Schlüssel dazu war seine Perspektivierung als historisches Monument und Meisterwerk des Art déco. Dies fand 2013 seinen Höhepunkt mit der Einführung eines neuen Logos, das nun die abstrahierte Frontfassade des Palais in goldener Farbe zeigte.507 Über diese Perspektivierung konnte man die bisher stiefmütterlich behandelte und mit Argwohn auf Distanz gehaltene Geschichte des Palais offen thematisieren, musste sie aber eben nicht in ausdrückliche Beziehung zur Immigration setzen. Dies entsprach den Vorstellungen und Vorgaben des Kulturministeriums, das das Monument des Palais ausdrücklich explizit vermittelt wissen wollte. In logischer Konsequenz wird in dem Bericht festgehalten, dass man bei der noch ausstehenden Gestaltung der historischen Ausstellung zur Vergangenheit
Vgl. ebd. Vgl. ebd. S. 5. Vgl. ebd. S. 3 ff. Vgl. ebd. S. 10 ff. Vgl. u. a. URL: http://logonews.fr/2013/07/25/de-la-cite-au-musee-le-nouveau-logo-dore-du-museede-limmigration/ (Zugriff 26.07.2017). 503 504 505 506 507
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des Palais die Gegebenheiten des Palais berücksichtigen und nichts an der grundsätzlichen Aufteilung in die einzelnen dauerhaften Sammlungsteile ändern wolle. Die Verbindung zwischen den Teilen sollte allein über die Reinszenierung des historischen Palais gewährleistet werden, ohne grundsätzlich etwas an Struktur und inhaltlicher Füllung zu ändern. Die Jahre 2013 und 2014 stellten dann in der Selbstdarstellung gleichzeitig die entscheidenden Wendemarken und Höhepunkte des Wandels dar: Unter dem Leitmotiv des ‚nouvel élan pour le Palais de la Porte Dorée‘ wurde die erfolgreiche Etablierung einer neuen Identität gefeiert.508 Die Neupositionierung spiegelte sich nun einerseits in einer neuen Corporate identity und andererseits im Übergang von der CNHI zum Musée de l’histoire de l’immigration. Damit war die Integration aller Elemente innerhalb des Monuments ‚Palais de la Porte Dorée‘ als einer funktionalen Einheit innerhalb der Kulturlandschaft Paris’ abgeschlossen – das Defizit von damals wurde nun endgültig zum Identifikationsfaktor von heute transformiert. Gleichzeitig wandte man sich vom Namen ‚Cité‘ ab, der schon in der Vorstudie zum zukünftigen, potenziellen Publikum als zu abstrakt, intellektuell abgelehnt wurde, und verwendete nun das schon in der Planungsphase häufig benutzte und dem Publikum vertrautere Konzept des ‚Musée‘.509 Dies wurde gestützt von einer bisher einmaligen Imagekampagne zugunsten des MNHI, die man im selben Jahr startete. Sie sollte dem breiten Publikum vor allem via Plakaten vermitteln, wie zentral das Phänomen der Immigration in der französischen Gesellschaft verankert war.510 Besonders die verwendeten Slogans „Nos ancêtres n’étaient pas tous les Gaulois“ und „Un Français sur quatre est issue de l’immigration“511 sollten die potenziellen Besucher zum Nachdenken anregen, ihnen die Verflochtenheit der Immigration mit der französischen Nation verdeutlichen und überholte Meinungen zur Immigration als aktuellem, sozialem Problem aufbrechen helfen. Wohingegen „Ton grand-père dans un musée“ die persönliche, emotionale Seite und die individuelle Bedeutung, die dieses spezielle Museum für den Einzelnen haben kann, aufzeigen sollte. Diese knappen Sätze wurden groß vor dem Hintergrund unterschiedlicher Fotografien aus der Sammlung des MNHI positioniert und als Plakate aufgehängt. So zeigt eines der Plakate das Foto eines jungen Paares, das die Aufschrift trägt: „L’immigration ça fait toujours des histoires“ – auch hier wurde die emo-
Vgl. EP Porte Dorée (Hrsg.), Rapport d’activités 2013 – Etablissement Public de la Porte Dorée, URL: http://www.histoire-immigration.fr/sites/default/files/rapport_activites_epppd_2013.pdf (Zugriff 24.07.2017), S. 7. 509 Vgl. ebd. S. 8. 510 Vgl. MNHI, Campagne Musée de l’histoire de l’immigration – juillet 2013, URL: http://www.histoi re-immigration.fr/sites/default/files/musee-numerique/documents/communique_presse_20130704.pdf (Zugriff 24.07.2017) und EP Porte Dorée (Hrsg.), Rapport d’activités 2013 – Etablissement Public de la Porte Dorée, S. 82 f. 511 Besonders zu diesem Aspekt bringt La Croix explizit einen Artikel: Noyon, Rémi, Un quart des Français issus de l’immigration?, in: La Croix (30.07.2013). 508
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tionale Komponente, die Dimension der individuellen, sehr persönlichen Geschichte betont. Mit dieser Kampagne sollte nicht nur der neue Name vermittelt und die Funktion des MNHI verdeutlicht werden, sondern auch speziell der überarbeitete und als wesentlich angesehene Teil der Galerie des dons in den Vordergrund gerückt werden. Schließlich sollte gerade dieser die individuelle und affektive Dimension von Immigration ansprechen. Entsprechend diesem offensiven Vorgehen und der abgeschlossenen Überarbeitung des eigenen Images sprach man von einer ‚notoriété renouvelée‘, die sich auch anhand der Besucherzahlen nachvollziehen ließ: Mit einer erstaunlichen Zahl von 92 080 Besuchern konnte man nun tatsächlich einen beträchtlichen Erfolg verbuchen, der sich deutlich von den vorherigen Jahren abhob.512 Die Strategie, Immigration aus dem Bereich der aktuellen politischen und sozialen Polemik herauszuheben, wie es bei der Kunstausstellung ‚J’ai deux amours‘ geschehen war, wurde mit einer im Bericht als besonders erfolgreich angesprochenen Wechselausstellung zur Bande dessinée fortgesetzt.513 Auch hier bot sich ein ästhetisches Medium, die BD, an, um Immigration zwar explizit, aber über den ‚Umweg‘ der künstlerischen Gestaltung und Verarbeitung, darzustellen. Neben den Werken und ihrer konkreten Form waren auch die Autoren selbst als häufig biografisch mit der Erfahrung der Migration vertraut im Fokus der Ausstellung thematisiert worden. Um den Erfolg, der sich hier zeigte – allein die Ausstellung zur BD zog 70 000 Besucher an – halten zu können, wurden neben den bisher genannten und durchaus beibehaltenen Zielsetzungen neue hinzugenommen.514 U. a. wollte man sich auch wieder stärker an den Richtlinien der Regierung in Sachen Immigrations- und Kulturpolitik orientieren, die darauf abzielten, die Wahrnehmung von Immigration zu verändern, den Prozess der gegenseitigen Bereicherung aufzuwerten, Gleichstellung zu fördern, gegen Diskriminierung zu kämpfen sowie eine dynamische Vision der Gesellschaft zu etablieren.515 Zusätzlich standen die Demokratisierung des Zugangs zur Kultur und eine künstlerische und kulturelle Erziehung im Vordergrund. Die explizite Hinwendung zur Regierungspolitik ist sicherlich vor allem mit dem Machtwechsel auf oberster Ebene verbunden: Mit François Hollande, der seit Mitte 2012 das Amt des französischen Präsidenten übernommen hatte, war die Immigrationspolitik kein Hauptthema der politischen Agenda mehr – das umstrittene Ministerium für Immigration und nationale Identität, das zwischenzeitlich auch mit die Trägerschaft für die CNHI übernommen hatte, war bereits 2010 eingestampft worden. Das Versprechen, das Hollande bezüglich der Einweihung des MNHI gegeben hatte, löste er 2014 ein – damit wird dieses Jahr zum Höhepunkt der bisherigen EntVgl. EP Porte Dorée (Hrsg.), Rapport d’activités 2013 – Etablissement Public de la Porte Dorée, S. 14 ff. 513 Vgl. EP Palais de la Porte Dorée (Hrsg.), Rapport d’activités 2014 – Musée national de l’histoire de l’immigration, Aquarium tropical, URL: http://www.histoire-immigration.fr/sites/default/files/museenumerique/documents/rapport_activites_epppd_2014.pdf (Zugriff 24.07.2017). S. 9. 514 Vgl. ebd. 515 Vgl. ebd. S. 11 ff. 512
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wicklungen.516 Dementsprechend wurde als Leitmotiv des Jahresberichts von 2014 „un nouveau cycle pour le Palais de la Porte Dorée“ gewählt.517 Anlässlich dieses neuen Zyklus des MNHI zog dieser Bericht eine Bilanz der letzten fünf Jahre und stellte die aus der eigenen Perspektive als enorm bewertete Entwicklung heraus, die man hier habe beobachten können. Die Beurteilung des Hauses durch die Zeitung Le Monde von 2010 als ‚Musée fantôme‘ wurde als Ausgangspunkt der Entwicklung konstruiert – sowie gleichzeitig als Gegenmodell zur Abgrenzung vom heutigen MNHI.518 Der Erfolg gipfelte laut dem Bericht in der endlich vom Präsidenten der Republik offiziell vollzogenen Einweihung. Man drückte diesbezüglich die große Erleichterung vonseiten des Personals aus und betonte, dass dies auch als enorme Entschädigung für die bisher geleistete Arbeit begriffen wurde. Dies bestätigte auch der Interviewteilnehmer, der bereits die Besetzung der Sans-papiers als prägend beurteilt hatte: […] si je dois parler des étapes marquantes […] si je parle vraiment de mon vécu professionnel, je citerais l’inauguration par le président de la République puisque c’est vraiment une étape extrêmement importante pour moi et pour l’établissement de manière générale parce que c’est enfin une forme de légitimité politique accordée au projet, légitimité qui a toujours été […] refusée et […] que ça avait beaucoup marqué les personnels quand moi j’suis arrivée c’est le sentiment de ne pas être assez reconnu […] et ce manque de reconnaissance était une vraie blessure professionnelle je parle pas de blessure narcissique […] mais je crois que ce manque de reconnaissance […] avait un impact sur notre travail et sur la manière dont on pouvait être perçu par le public donc moi j’ai senti ça très fortement.519
Mit dieser so lange erbetenen, aber bis sieben Jahre nach der Eröffnung nicht eingelösten, schlussendlichen Anerkennung fühlte man sich nun erst wirklich in den Kreis der Pariser Kulturinstitutionen aufgenommen. Zusätzlich fühlte man sich in der eigenen Arbeit durch den Erfolg der Öffentlichkeitsarbeit und die steigende Besucherzahl bestätigt: Man hatte mit 110 743 Besuchern allein für das MNHI einen neuen Rekord aufgestellt.520 Seit dem Bericht von 2011 war die Zahl der Besucher kontinuierlich von ca. 65 000 im Jahr 2011 über einen ersten Höhepunkt von ca. 90 000 Besuchern im Vorjahr auf nunmehr über 100 000 angestiegen. Zu diesem Erfolg trugen die umfangreiche Imagekampagne, die neue Vermittlung des Palais als ‚Gesamtpaket‘, aber auch die erfolgreichen Wechselausstellungen bei. Insbesondere die Ausstellung zu der BD wird
Interessanterweise war für Hollande bis zu diesem Zeitpunkt Immigration kein wichtiges Thema auf seiner politischen Agenda gewesen. Ausgerechnet die Rede in der CNHI nahm er daher zum Anlass, um das erste Mal über Immigrationspolitik zu sprechen. 517 Vgl. EP Palais de la Porte Dorée (Hrsg.), Rapport d’activités 2014 – Musée national de l’histoire de l’immigration, Aquarium tropical, S. 7. 518 Vgl. ebd. 519 Interview KI. 520 Vgl. EP Palais de la Porte Dorée (Hrsg.), Rapport d’activités 2014 – Musée national de l’histoire de l’immigration, Aquarium tropical, S. 9. 516
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hier erneut hervorgehoben, aber auch die Ausstellung ‚Fashion Mix‘521 wird bereits als äußerst vielversprechend erwähnt. Mit ihr wird die Tradition von ‚J’ai deux amours‘ und ‚Albums‘ fortgesetzt. Mit diesem Erfolg sei laut dem Bericht zum ersten Mal ein ‚cap de notoriété‘ erreicht worden.522 Die Prioritäten, die man für die nächsten Jahre formulierte, orientierten sich stark an denen des Berichts von 2013. Allerdings fällt auf, dass erneut das schulische Publikum und damit auch die pädagogische Arbeit des MNHI in den Fokus gerückt wurden: Sie wurden explizit in den Dienst der Förderung von sozialer Kohäsion gestellt und als Kernstück des MNHI in der Zukunft gesehen. Damit verbunden ist auch die Idee einer stärkeren Öffnung hin zur Zivilgesellschaft und den Netzwerken. Dabei wollte man sich explizit am Programm des Kulturministeriums (EAC) orientieren und lokale und territoriale Projekte einbeziehen.523 Die Tatsache, dass man nun die Konflikte der Anfangszeit überwunden, sich aus den verschiedenen Polemiken befreit und Anerkennung und Unterstützung von oberster Stelle gefunden hatte, schien es nun möglich zu machen, sich bisher vernachlässigten Aspekten der eigenen Institution zu widmen: Besonders die Öffnung zu den Partnern des Netzwerks und die Einbeziehung lokaler Projekte können hier genannt werden. Zudem war es nun möglich, die eigene Funktion und Identität stärker zu reflektieren und an einer Regierungspolitik auszurichten, die dem MNHI nicht mehr grundsätzlich feindlich gesinnt war. Das Motiv des ‚nouvel élan‘ ließ sich aber neben diesen positiven Entwicklungen auch noch an einem anderen Punkt festmachen: Auf der Leitungsebene der Institution stand ein bedeutender Wechsel an. Mercedes Erra und Luc Gruson würden ausscheiden. Besonders Luc Gruson war dabei ein Akteur der ‚ersten Stunde‘ gewesen. Er hatte das Projekt seit 2003 begleitet, war ein enger Vertrauter Toubons gewesen und hatte zuvor die ADRI, die dann in der CNHI aufging, geleitet. Doch auch Toubon, der zum ‚défenseur des droits‘ ernannt wurde, verließ die Institution. Er wurde bezeichnenderweise durch ‚den‘ Algerien-Historiker Frankreichs, Benjamin Stora, ersetzt, der bereits die Ausstellung ‚Vies d’Exil‘ zur algerischen Einwanderung nach Frankreich während des Algerienkriegs kuratiert hatte.524 Unter seiner Leitung wurden vor allem das Programm rund um die Wechselausstellungen und zusätzlich die Formate außerhalb der Ausstellungen ausgebaut. Dies scheint ein wesentlicher Faktor zum Erhalt der Erfolge der vorherigen Jahre (2013/14) gewesen zu sein, wie der Jahresbericht von 2015 belegte.525 Man erreichte eine erneute Steigerung der Besucherzahlen, was auch und vor allem mit dem Erfolg der Ausstellung ‚Fashion Mix‘ zusammenhing. Das MNHI Vgl. ebd. Vgl. ebd. S. 12. Vgl. ebd. S. 91. Vgl. Vincent, Elise, Benjamin Stora nommé à la tête de la Cité de l’immigration, in: Le Monde (02.08.2014). 525 Vgl. Palais de la Porte Dorée (Hrsg.), Rapport d’activités 2015, URL: http://www.palais-portedoree. fr/sites/default/files/rapport_activites_epppd_2015.pdf (Zugriff 24.07.2017), S. 3. 521 522 523 524
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konnte 143 780 Besucher verzeichnen, im Vergleich zu 110 743 im Vorjahr. Davon entfielen allein 87 375 Besucher auf die Ausstellung ‚Fashion Mix‘. Damit kann man anhand des Berichts zwei ‚Blockbuster-Ausstellungen‘ ausmachen: ‚Fashion Mix‘ mit 87 375 Besuchern und ‚Albums‘ mit 67 556 Besuchern – diese setzten sich im Vergleich deutlich von ‚Vies d’Exil‘ und ‚J’ai deux amours‘ mit jeweils ca. 35 000 Besuchern ab sowie von ‚Générations‘ und ‚Polonia‘, die zwischen 25 000 und 28 000 Besucher anzogen. Man widmete sich nun erneut verstärkt der Zielsetzung, die Wahrnehmung von Immigration verändern zu wollen. In Zusammenarbeit mit dem Kulturministerium veranstaltete man das Programm ‚12 heures pour changer de regard sur les migrants’. Während also insgesamt die Dauerausstellung, die sich auch über die Jahre hinweg als Herzstück der Institution behauptete, kaum verändert wurde, gab es andere Bereiche, die einer deutlichen Veränderung unterlagen. Dies traf zum einen auf die Galerie des dons als Erweiterung der Dauerausstellung zu, aber auch und vor allem auf den Palais an sich als neuem Brückenelement, das nun die einzelnen Teile miteinander verbinden und die Vergangenheit des Ortes bewusst mit einbeziehen helfen sollte. Es wurde hier also versucht, sich neu mit dem Ort und seiner Funktion für die CNHI/ MNHI auseinanderzusetzen, was u. a. zur Umsetzung einer Ausstellung zur Geschichte des Palais führte. Trotzdem führte diese neue Herangehensweise nicht unbedingt zu einer tatsächlich fruchtbaren Integration. Jedoch ist in diesem Kapitel bereits deutlich geworden, dass insbesondere die Wechselausstellungen hier eine wichtige ausgleichende Funktion eingenommen haben – sie werden im Laufe der Zeit zu dem Ort, an dem einerseits die Beziehung zwischen Kolonialismus und Immigration thematisiert wird und andererseits am deutlichsten die Zielsetzung der Veränderung der Wahrnehmung und des Aufbrechens von Stereotypen realisiert wird. Diese einzelnen konstitutiven Elemente der CNHI/MNHI werden vor dem Hintergrund der geschilderten Entwicklungen in Kapitel 2.3a) in der Folge analysiert. 2.3b
Die Dauerausstellung ‚Repères‘ und die Galerie des dons
Die Dauerausstellung ‚Repères‘ ist einer der wenigen Teile der Institution, der von der Eröffnung an für das Publikum bis auf wenige Ausnahmen kontinuierlich zugänglich war und ist.526 Sie soll einen dauerhaften Überblick über 200 Jahre Immigrationsgeschichte in Frankreich geben und dem Besucher ein alternatives, differenzierteres Bild von Immigration vermitteln, das sich von den aktuell durchaus üblichen Wahrneh-
Wie bereits in der Einleitung angemerkt, scheint es für 2020 Bestrebungen zu geben, die Dauerausstellung grundsätzlich zu überarbeiten. Hierfür wurde der Historiker Patrick Boucheron gebeten, eine Vision zu entwickeln. Vgl. URL: https://www.histoire-immigration.fr/agenda/2020–01/musee-nationalde-l-histoire-de-l-immigration-faire-musee-d-une-histoire-commune utm_source=sendinblue&utm_cam paign=Fvrier_2020&utm_medium=email (Zugriff 10.02.2020). 526
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mungen als atemporellem Phänomen, als sozialem Problem etc. unterscheidet. Sie ist damit ein fundamentaler Bestandteil der Mission der CNHI, Wahrnehmung in Bezug auf Immigration verändern zu wollen und Stereotype zu dekonstruieren. Sie kann als das Herzstück der Institution begriffen werden, allerdings entspricht ihre räumliche Position nicht unbedingt dieser fundamentalen Rolle. Die Ausstellung befindet sich im ersten Geschoss des Gebäudes, im rechten Seitenflügel – sie ist also vom Eingangsbereich relativ weit entfernt. Daher wurde nachträglich ein Zeitstrahl, der den Besucher als Wanddruck vom Erdgeschoss des Gebäudes visuell bis in den ersten Stock leitet, angebracht. Er zeigt die französische Immigrationsgeschichte von 1830 bis in die heutige Zeit. Oben angekommen findet der Besucher am Ende der Treppe einen Eingangsbereich (Prolog), der dann in die seitlich dazu gelegene Dauerausstellung führt. Sie erstreckt sich über eine Fläche von 1100 m2, die in zwei rechteckige, längliche Abschnitte aufgeteilt ist. Sie ist in neun thematische Einheiten aufgeteilt, die jeweils unterschiedlich strukturiert und gestaltet sind. Sie werden an den Außenwänden von Metallsäulen und Leuchttischen als Präsentationselementen gerahmt: Die Metallsäulen benennen das jeweilige Thema und grenzen die Einheiten damit voneinander ab, die Leuchttische bieten für jede Sektion Kontextinformationen. Zusätzlich sind an verschiedenen Stellen zeitgenössische Kunstwerke sowohl an den Wänden als auch innerhalb des Ausstellungsraums eingefügt worden.527 Sowohl Pippel als auch Deuser legen umfangreiche Analysen zu diesem Teil der Institution vor: Beide stehen der Ausstellung und ihrem Anspruch, Stereotype zu dekonstruieren und das Bild der Immigration verändern zu wollen, eher kritisch gegenüber. Sie kommen beide zu dem Schluss, dass in dieser Ausstellung vor allem die Nation bzw. Republik als maßgebliche Bezugsgröße rehabilitiert und vorrangig der Mythos der gelungenen Integration repräsentiert werde. Immigranten würden als ‚beifällige Bereicherung‘ gesehen, die einen Beitrag zum ‚patrimoine français‘ leisteten. Ambivalente Aspekte, wie zum Beispiel eine misslungene, bewusst verweigerte Integration, fänden hier keinen Platz. Vielfalt werde unter dem ‚homogenisierenden Mantel der Nation‘ versteckt. Dabei werde der Immigrant aber über die Betonung von kulturellethnischen Unterschieden als ‚fremd und anders‘ mehr oder weniger unfreiwillig vom ‚Eigenen, Nationalen, Französischen‘ separiert und bestimmte Stereotype damit eher reproduziert denn dekonstruiert. Damit sind wesentliche Merkmale und Defizite der Dauerausstellung benannt. Allerdings ergeben sich aus den bisherigen Analysen dieser Arbeit Punkte und Fragen, die es zu klären gilt. Dabei soll an vier Aspekte angeknüpft werden, die in dieser Arbeit in Bezug auf die Dauerausstellung teilweise bereits erwähnt wurden und hier genauer betrachtet werden sollen: der Bezug zu den in Kapitel 2.1b) besprochenen Modellausstellungen, die mit der Dauerausstellung verglichen
Vgl. CNHI (Hrsg.), Guide de l’exposition permanente, Paris 2009; CNHI (Hrsg.), Cité-plan; MNHI (Hrsg.), Repères. Exposition permanente. Parcours de visite. 527
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wurden, die ‚Umkehrung‘ der museologischen Grundstruktur durch den Szenografen, die sich während der Planung entgegen dem Entwurf der HistorikerInnen durchsetzte, die Gewichtung und Perspektivierung der Dauerausstellung durch die Institution selbst sowie die vereinzelte Kritik von Besuchern an der Dauerausstellung, die in der Presseberichterstattung zur Eröffnung der CNHI thematisiert wurde. Diese Elemente werden hier als Ausgangspunkte der Analyse der Dauerausstellung gewählt und sollen verstehen helfen, welche Funktion ‚Repères‘ innerhalb der CNHI übernimmt und welches Bild von Immigrationsgeschichte in Frankreich sie vermittelt. In Anknüpfung an den Vergleich der verschiedenen Modellausstellungen mit ‚Repères‘ aus dem Kapitel 2.1b) einerseits und der Darstellung des Vorgehens des Szenografen bei der Umsetzung aus Kapitel 2.2 b.a) andererseits lässt sich vor allem ein wesentliches Merkmal der Ausstellung herausstellen: ihre thematische Ausrichtung. Wie bereits erwähnt, hatte Payeur die ursprüngliche Strukturierung, die sich im Planungsbericht Toubons noch deutlich an einer Chronologie, einem Zeitstrahl als Leit- und Orientierungselement, ausrichtete, ‚umgestülpt‘: Die Chronologie wurde in die Binnenstruktur der neun thematischen Einheiten verlagert und vorrangig über ein spezifisches, museografisches Vermittlungselement, die Leuchttische, in die thematischen Einheiten integriert. Allerdings gibt es, wie aus der Vergleichstabelle ersichtlich wird, thematische Einheiten, die sich stärker oder aber weniger stark einer solchen Chronologie bedienen: Während sich beispielsweise ‚Émigrer‘ oder ‚Terre d’acceuil. France hostile‘ eindeutig an einer expliziten chronologischen Binnengliederung orientieren, ist dies beispielsweise bei ‚Ici et là-bas‘ oder der Sektion ‚Sports‘ deutlich weniger explizit der Fall. Durch den thematischen Fokus geht dabei die Vorgabe einer klaren Reihenfolge der Einheiten, wie es sie bei einer Orientierung an einem Zeitstrahl gegeben hätte, verloren: Zwar wird durch die räumliche Anordnung der einzelnen Einheiten durchaus eine Bewegungsrichtung, ein Parcours für den Besucher, impliziert, aber er wird nicht explizit, beispielsweise durch eine Durchnummerierung der Sektionen, kommuniziert. Man kann die Einheiten also auch in beliebiger Reihenfolge ansehen. Einige der ersten Besucher-Reaktionen auf die Dauerausstellung in der Presse offenbaren eine deutliche Kritik an dieser Grundstruktur. So wird einerseits bemängelt, dass man teilweise keine Orientierung habe bzw. die Informationen nur sehr fragmentarisch beim Betrachter ankämen: Das Fehlen einer explizit gesetzten Reihenfolge der einzelnen Einheiten wird hier eindeutig als verwirrend eingestuft. Dies ist auch insofern irritierend, als dass die Parcours, aber auch beispielsweise die kurzen Informationsbroschüren ‚Parcours de visite‘, die für jeden Besucher zugänglich sind, eine klare Reihenfolge vorsehen, die auch durchaus eine Relevanz hat. Die szenografische Offenheit, die suggerieren soll, dass man hier alles in seiner eigenen Reihenfolge besuchen könne und einen intuitiven Zugang wählen kann, erweist sich als widersprüchlich bzw. missverständlich, da offensichtlich von Museumsseite doch eine bestimmte Reihenfolge und Lesart als sinnvoll angesehen wird. Sicherlich ist es für den Besucher logischer, mit der Auswanderung zu beginnen und sich dann gleichsam
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durch die verschiedenen Phasen der Immigration und der Integration zu arbeiten, als in einer beliebigen Reihenfolge vorzugehen. Die Kritik, dass zudem Informationen nur fragmentarisch beim Besucher ankommen würden, hängt zu einem gewissen Teil auch mit der thematischen Ausrichtung zusammen: Die Titel der Sektionen sind teilweise ohne größeres Vorwissen nicht sofort klar verständlich. Andererseits gibt es eine zweite wesentliche Kritik, die die Setzung der thematischen Schwerpunkte bemängelt. So wird hier kritisiert, dass beispielsweise die Auswahl eines Themas wie ‚Sport‘ nicht verständlich sei: Inwiefern sei dieses Thema repräsentativ für Immigration in Frankreich? In der Tat ist es überraschend, dass bei neun Einheiten, die teilweise so umfassende und grundlegende Themenfelder wie die Lebens- und Wohnsituation der Immigranten umfassen, dem Sport auch ein relativ großer Abschnitt zugestanden wird. Die Auswahl der thematischen Schwerpunkte scheint dabei in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert: Wie Pippel betont, ist die Einrichtung einer relativ langen Eingangssektion zum Thema ‚Émigrer‘, also der Auswanderung, ungewöhnlich. Wie auch der Vergleich mit den Modellausstellungen zeigt, ist dies nicht unbedingt ein übliches Thema für eine Ausstellung zur Einwanderung. Die darauffolgenden Einheiten ‚Face à l’Etat‘ und ‚Terre d’acceuil. France hostile‘ präsentieren dann zwar durchaus typische Aspekte einer Ausstellung zur Immigration wie den Aspekt des staatlichen Umgangs mit dem Phänomen sowie den Prozess der Ankunft, des Ankommens, aber sie zeichnen sich in diesem konkreten Fall dadurch aus, dass sie besonders auch die ‚Schattenseiten‘ der Immigration wie Xenophobie und Rassismus thematisieren. Die nachfolgende Sektion ‚Ici et là bas‘ ist insofern bemerkenswert, als dass sie den Aspekt der identitären Zerrissenheit in den Blick nimmt, was im vorherigen Vergleich mit anderen Ausstellungen auch einen eher ungewöhnlichen Zugriff darstellt. Mit dem Abschnitt ‚Lieux de vie‘ wird der Besucher allerdings wieder mit einer eher klassischen Repräsentation von Immigration konfrontiert: das Thema der Wohnsituation, der Banlieues und Biddonvilles – ein häufig in den Medien auch visuell präsentes Thema, wenn es um Immigration geht. Dies setzt sich in den folgenden Abschnitten ‚Au travail‘ und ‚Enracinements‘ fort. Der Immigrant als Arbeiter ist ein weit verbreitetes Motiv, seine Verbindung mit der Industrialisierung etc. scheint auch hier aus den Medien sehr vertraut. So spricht Deuser im Fall der Sektion zur Arbeit von einem ‚nostalgischen Blick‘, der hier präsentiert werde. ‚Enracinements‘ zelebriert dann die (gelungene) Integration und zeigt verschiedene Pfade der Integration auf. Die letzten beiden Sektionen zum Sport und der ‚Diversité‘ (aufgeteilt in Kultur und Religion) stellen, wie Deuser und Pippel betonen, dann den typischen Ansatz der ‚Beitragsgeschichte‘ dar: Inwiefern leisten Immigranten einen (positiven) Beitrag zur französischen Gesellschaft und Kultur? Insgesamt kann man also in einem ersten Schritt festhalten, dass im ersten Teil der Ausstellung Sektionen untergebracht sind, die einen eher unüblichen Zugriff auf Immigration darstellen. Sie beziehen u. a. das ursprüngliche Heimatland, die Zugehörigkeit zu einer anderen Kultur, die man ver-
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lassen musste, und die damit einhergehende ‚zerrissene‘ Identität ein und zeigen die Schattenseiten der Immigration. Doch im zweiten Teil gleitet die Ausstellung über das Thema der Wohnungssituation vieler Migranten in stereotype althergebrachte Wahrnehmungsmuster zurück. Im zweiten Teil geht dieser ‚Rückschritt‘ dann in eine homogene Beitragsgeschichte über, die die gelungene Integration als Leitmotiv benutzt. Dass die Ausstellung mit dieser Perspektive endet, deutet darauf hin, dass man hier eine Art ‚Überkompensation‘ vornimmt: Das Ziel der CNHI, Wahrnehmungen verändern zu wollen, tritt hinter das Ziel der Anerkennung und Aufwertung der Immigration zurück. Die zu Beginn angeregte Öffnung und Ausdifferenzierung des Phänomens Immigration muss damit stufenweise einer tendenziell stereotypen Darstellung weichen, die am Ende in die zentrale Botschaft der Institution übergeht: Immigration bereichert die französische Gesellschaft und muss daher aufgewertet werden. Museumspädagogische Vermittlung Im Folgenden soll es in einem zweiten Schritt, ausgehend von dieser grundsätzlichen, rudimentären Analyse der Dauerausstellung, darum gehen, herauszuarbeiten, wie das Museum selbst die beschriebenen Inhalte und den angedeuteten Parcours an Besucher vermittelt und welche Akzente hier im Hinblick auf die Vermittlung der musealen Botschaft gesetzt werden. Zu diesem Zweck wird das pädagogische Material, das das Museum auf seiner Website zur Verfügung stellt, als Quelle einbezogen und analysiert.528 Es handelt sich hierbei um einen für die jeweilige Schulstufe bzw. Lerngruppe konzipierten Parcours, der explizit bestimmte Themen, Informationen, Dokumente und Werke in den Blick nimmt und dazu passende Aufgaben formuliert, die von den Lernern bearbeitet werden sollen.529 Leitend ist dabei die These, dass die Institution über die Vermittlung die bereits analysierte Struktur und ihre Funktion zugunsten einer ‚Überkompensation‘ und zuungunsten einer kritischen, dekonstruierenden Perspektivierung verstärkt.
Ich beziehe mich hier auf das vom Museum selbst auf der Website bereitgestellte Material, das für LehrerInnen und ihre Schulklassen konzipiert wurde, die einen eigenständigen Besuch ohne Führung planen. Es handelt sich um drei für unterschiedliche Altersstufen und Schulformen entwickelte Parcours, die die komplette Dauerausstellung in den Blick nehmen: Parcours Pédagogique Lycée, Parcous Pédagogique Collège und Parcours Pédagogique élementaire (cycle 3). 529 Sicherlich kann man hier bemängeln, dass es nur um die Vorgaben für eine ganz bestimmte Besuchergruppe geht, nämlich die Schulklassen. Jedoch stellen diese eine Hauptzielgruppe für das Museum dar und ihnen wird daher vonseiten der Institution große Aufmerksamkeit geschenkt. So ist davon auszugehen, dass eine entsprechende Sorgfalt bei der Gestaltung des pädagogischen Materials angewendet wird und man die erwünschte Gewichtung der Inhalte, die Bedeutung, die den einzelnen Teilen der Ausstellung beigemessen wird, und die zu vermittelnde Botschaft deutlich erkennbar sind. 528
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Der Parcours der beiden höheren Schulstufen Collège530 und Lycée531 beginnt mit einer einführenden Passage, die die Grundstruktur der Ausstellung mit den neun thematischen Grundeinheiten erläutert. Zudem wird explizit die Funktion einiger museografischer Präsentationselemente erklärt. So scheinen die konkrete Struktur der Ausstellung und ihre museologische Form noch recht wichtig, obwohl sie in der Folge im Material fast völlig ignoriert werden. Dies ist vor allem deshalb signifikant, weil die CNHI selbst in ihren Jahresberichten mehrfach festhält, dass die Struktur der Ausstellung und die einzelnen Präsentationselemente den Besuchern oft nicht klar seien, insbesondere die der historischen Kontextualisierung gewidmeten Leuchttische würden nicht erkannt bzw. ignoriert. In dem hier einbezogenen Material zeigt sich, dass die CNHI selbst dieses Element marginalisiert. Es scheint also fraglich, welche tatsächliche Relevanz der historische Kontext für die Ausstellung hat. Trotzdem beginnen nicht alle Parcours mit der Dauerausstellung selbst: Für das Gymnasium wird noch vor dem Betreten der eigentlichen Ausstellung die Betrachtung des Zeitstrahls im Treppenhaus vorgesehen: Hier wird vor allem nach dem Anfangs- und Endpunkt der dargestellten Immigrationsgeschichte gefragt, um die Länge dieser Geschichte und ihre Komplexität zu verdeutlichen. Dieser Aspekt wird dann auch in der Eingangssequenz der Dauerausstellung zum Thema Emigration aufgegriffen.532 Dieser Bereich nimmt in allen Parcours-Modellen einen relativ großen Raum ein, so wird auch den Collège-Klassen in diesem Rahmen eine zeitliche Verortung aufgetragen. Insgesamt wird also die zeitliche Dimension, die Dauer, aber auch die Vielfalt der französischen Immigration gleich zu Beginn betont. Damit soll gemäß der Zielsetzung der CNHI eine eindimensionale, vor allem auf die zeitgenössische Aktualität gerichtete Perspektivierung vermieden werden. In logischer Konsequenz wird dann auch explizit die ältere, europäische Einwanderung in den Blick genommen, die von der Länge ihrer Tradition her und ihrer konkreten Ausprägung die SchülerInnen überraschen mag. Abgesehen davon werden vor allem die Gründe der Auswanderung explizit thematisiert. Dieser Schwerpunkt wird auch in dem ‚Parcours élementaire‘533 besonders deutlich, der mit einer Definition der Begriffe ‚Immigré‘ und ‚Emmigré‘ beginnt und betont, dass hier die Perspektive entscheidend sei: Jeder, der sein Land Vgl. MNHI (Hrsg.), Repère. Parcours pégagogique Collège, URL: http://www.histoire-immigration. fr/sites/default/files/musee-numerique/documents/parcours_reperes_college.pdf (Zugriff 28.06.2017). 531 Vgl. MNHI (Hrsg.), Repère. Parcours pégagogique Lycée, URL: http://www.histoire-immigration. fr/sites/default/files/musee-numerique/documents/parcours_reperes_lycee.pdf (Zugriff 28.06.2017). 532 Der ‚Prolog‘, der mittlerweile umgestaltet wurde, wird in allen Parcours ausgelassen. Ursprünglich waren hier große Karten zu sehen, die von der Decke hingen und die Immigration nach Frankreich thematisierten. Heute finden sich diese Karten nur noch auf einem kleinen Bildschirm. Es sind stattdessen Computerarbeitsplätze hinzugekommen. Vgl. Deuser, Grenzverläufe – Migration, Museum und das Politische, S. 91 ff. 533 Vgl. MNHI (Hrsg.), Repère. Parcours pégagogique élémentaire (cycle 3), URL: http://www.histoi re-immigration.fr/sites/default/files/musee-numerique/documents/parcours_reperes_elementaire.pdf (Zugriff 28.06.2017). 530
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dauerhaft verlasse, könne sowohl Immigrant als auch Emigrant sein. Damit werden Emigration und Immigration explizit verknüpft und nicht losgelöst voneinander betrachtet – so wird die Komplexität beider Phänomene deutlich. In der Folge wird die Binnenstruktur und die Art der Aufbereitung dieser ersten Sektion, ‚Émigrer‘, stärker in den Fokus gerückt. Anhand einzelner Migranten-Biografien und den dazugehörigen persönlichen Angaben wie der Herkunft oder dem Alter bei der Ausreise, sollen Einzelschicksale vergleichend betrachtet werden. Auch die persönlichen Objekte und ihr ‚Wert‘ für den Besitzer werden dazu herangezogen. Damit wird der Funktion dieses Abschnitts Rechnung getragen: Hier soll eine persönliche Verbindung zwischen Besucher (SchülerInnen) und dem Immigranten und seinem ganz persönlichen Schicksal hergestellt werden. Außerdem geht es darum, über die Vielzahl an sehr unterschiedlichen Einzelschicksalen die Diversität des Phänomens insgesamt zu verdeutlichen. Für das Collège wird an dieser Stelle dann noch einmal explizit das Thema ‚Départ‘ aufgegriffen und anhand eines spezifischen, als symbolisch für die Abreise verstandenen Objekts, dem Koffer, thematisiert. Dieses Motiv wird auch in dem ‚Parcours elémentaire‘ betont: Die SchülerInnen werden ganz konkret dazu aufgefordert, ihren eigenen Koffer zu packen und zu überlegen, was sie mitnehmen würden. Das Hineinversetzen-Können in die Lage eines Immigranten erscheint als wesentliches didaktisches Element dieser Sektion – man appelliert dabei deutlicher als in anderen Sektionen an die emotionale Identifizierung mit dem Thema. Ein gesondertes Thema, das so explizit nicht in der Ausstellung auftaucht, aber für die SchülerInnen aufgegriffen wird, ist das der ‚Grenze‘. Die beiden höheren Schulstufen sollen in diesem Rahmen anhand von Fotos des Künstlers Ad van Denderen erarbeiten, welche Grenzen es zwischen Menschen/Kulturen/Ländern gibt.534 Dabei sollen sie die Art der jeweiligen Grenze ergründen und ob diese sichtbar ist oder nicht, welche Probleme sich beim Überqueren der jeweiligen Grenze ergeben. Diese dekonstruierende und die Komplexität des Konzepts ‚Grenze‘ verdeutlichende Herangehensweise ist an dieser Stelle einmalig, sie verschwindet zunehmend im Laufe des Parcours. Insgesamt sticht in dieser Sektion die Betonung von Einzelschicksalen, individuellen Migrationsgeschichten und ihre vergleichende Betrachtung, hervor. Es rückt damit die Vielfalt und Komplexität der Immigration in den Vordergrund. Gleichzeitig wird hier stark die affektive Komponente des Sich-mit-den-Einwanderern-identifizierenKönnens angesprochen: Die SchülerInnen sollen sich in die Einzelschicksale hineinversetzen und die Geschichten nachempfinden können. Diese erste Sektion wird über eine einzelne Vitrine, die erneut den Koffer als Motiv aufgreift, sowie über die Arbeit von Karim Kal, ‚Images d’Alger 2002‘535, und die Es handelt sich um sehr unterschiedliche Fotografien, die Emigranten in der Türkei, Portugal und Spanien zeigen. 535 Karim Kal zeigt hier in einer Fotoarbeit die algerische Hauptstadt nach dem Ende des Bürgerkriegs. Die Arbeit besteht aus Fotos, die sowohl an der Wand hängen als auch als Stapel auf dem Boden liegen, 534
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Arbeit von Ghazel, ‚Urgent‘536, in die nächste Sektion übergeleitet: ‚Face à l’Etat‘. Sie ist leicht diagonal im Raum angeordnet. Anhand der visuellen Dokumentation eines bestimmten Phänomens, dem der langen ‚Menschen-Schlangen‘, die vor Gebäuden auf ihre Ausweispapiere warten, sollen die GymnasialschülerInnen hier erläutern, inwiefern die Bilder etwas über die staatliche Immigrationspolitik aussagen. Die GrundschülerInnen und die Collègiens hingegen beschäftigen sich mit der Arbeit von B. Toguo ‚Carte de séjour‘.537 Ihnen wird aufgetragen, das Werk in mehreren Schritten zu analysieren. Gerade das vielschichtige Thema der Immigrationspolitik, der staatlichen Einflussnahme auf Migrationsströme etc. wird sehr knapp behandelt – zwar stellt die Arbeit von Toguo eine deutliche, kritische Stellungnahme zu diesem Thema dar, ob sich dies die SchülerInnen jedoch ohne weiteren Kontext und mit vermutlich geringem Vorwissen erschließen sollen, bleibt zweifelhaft. Insgesamt ist hier eine besonders starke und deutliche didaktische Reduktion spürbar, die zur Folge hat, dass von den SchülerInnen aller Schulformen eine relativ große Transferleitung erbracht werden muss. An die Einheit ‚Face à l’Etat‘ schließt unmittelbar die folgende Sektion ‚Terre d’acceuil France hostile‘ an. In dieser Sektion taucht eine neue Form der museologischen Inszenierung auf, die zugleich auch den Raum diagonal aufteilt: Es finden sich hier zwei große längliche Vitrinen, die jeweils von zwei polymorphen Stützwänden gerahmt werden. In den Vitrinen werden verschiedene Objekte und Dokumente präsentiert, während die Wände vor allem als binnenstrukturierende Elemente dienen, aber gleichzeitig auch Träger für weitere Werke, Materialien, Informationen und Dokumente sind. Der Parcours für die Gymnasiasten widmet sich dann auch den in einer der beiden Vitrinen präsentierten Marionetten, die verschiedene ethnische, kulturelle Stereotype visuell verkörpern:538 Hier rückt also zum ersten Mal der Aspekt der Diskri-
von dem sich Besucher Exemplare mitnehmen können. Vgl. Cité nationale de l’histoire de l’immigration (Hrsg.), Karim Kal, in: CNHI / Gruson, Luc (Hrsg.), La collection d’art contemporain, Paris 2011. S. 70 f. 536 Die Arbeit ‚Urgent‘ von 1997–2007 der Iranerin Ghazel, die zum Studium nach Frankreich gekommen war, thematisiert ihren Umgang mit ihrer eigenen Ausweisung und das künstlerische Projekt, in dem sie eine Zweckheirat arrangieren wollte, um eine Staatsbürgerschaft zu erhalten. Als sie schließlich selbst eine Aufenthaltsgenehmigung erhält, drehte sie das Projekt um und bot einem Sans-papiers eine Zweckheirat an. Die ausgestellte Arbeit zeigt die zu dem Projekt gehörenden Plakate. Vgl. Cité nationale de l’histoire de l’immigration (Hrsg.), Ghazel, in: CNHI / Gruson, Luc (Hrsg.), La collection d’art contemporain, Paris 2011. S. 62 f. 537 Die Arbeit des Kameruners B. Toguo trägt den vollen Titel ‚Carte de séjour, Mamadou, France, Clandestin‘ (2010) und besteht aus übergroßen Holzstempeln, in die die Worte ‚Clandestin, Mamadou, France, Carte de séjour‘ eingraviert sind. Sie liegen auf einem Tisch, über dem an der Wand mit diesen Stempeln bedruckte Papiere hängen, die die jeweiligen Begriffe zeigen. Vgl. URL: http://www.histoire-immigration. fr/collections/carte-de-sejour-mamadou-france-clandestin (Zugriff 02.06.2017) und Cité nationale de l’histoire de l’immigration (Hrsg.), Barthélémy Toguo, in: CNHI / Gruson, Luc (Hrsg.), La collection d’art contemporain, Paris 2011. S. 116 f. 538 Sie sind unterschiedlicher Herkunft und stammen vom Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts und stellen u. a. den ‚Araber‘, einen ‚Neger‘ etc. dar.
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minierung bzw. der diskriminierenden Wahrnehmung in den Vordergrund. Im Kontrast dazu beschäftigen sich die Collègiens und die GrundschülerInnen allerdings mit einem Thema, das in der zweiten großen Vitrine präsentiert wird: die Biografie Marie Curies. Damit wird die erfolgreiche und für Frankreich als Bereicherung empfundene Integration eines ‚Stars der Wissenschaft‘ veranschaulicht. Ein Fokus liegt dabei auf der Erarbeitung der Bedingungen, die es Marie Curie in Frankreich ermöglicht haben, als Wissenschaftlerin zu arbeiten. Zudem wird das erste Mal explizit auf den Leuchttisch als zusätzlicher Quelle verwiesen, mit dessen Hilfe ein Dokument gefunden werden soll, das entweder die ‚Feindlichkeit‘ oder die ‚Freundlichkeit‘ gegenüber Ausländern veranschaulicht. Diese sehr verkürzte ergänzende potenzielle Thematisierung von positiven und negativen Seiten der Immigration scheint allerdings auf den ersten Blick wenig geeignet, um SchülerInnen die ambivalente Position von Immigranten in einer Gesellschaft, gegenüber dem Staat etc. zu vermitteln. Die beiden gewählten Herangehensweisen zeigen eine ambivalente Haltung: Einerseits versucht man über Stereotype und deren Entschlüsselung den Schattenseiten der Immigration näher zu kommen, andererseits wird in derselben Sektion die erfolgreiche Integration einer berühmten Frau der Wissenschaft in den Fokus genommen. Sicherlich ist dies auch der Grundausrichtung der Einheit, die sich sowohl der positiven wie der negativen Seite der Immigration widmet, geschuldet. Gleichzeitig scheinen tendenziell die negativen Seiten eher den älteren, ‚reiferen‘ SchülerInnen vorbehalten, während die positiven Seiten eher den jüngeren SchülerInnen vermittelt werden. Welche tatsächliche Bedeutung hat also die Differenzierung und Dekonstruktion von Wahrnehmung? Der Parcours scheint vorzugeben, dass diese beiden Herangehensweisen einer bestimmten Altersgruppe bzw. einem bestimmten Niveau an Vorwissen und Information vorbehalten sind und nicht als Grundhaltung gegenüber allen Phänomenen die Immigration betreffend vermittelt werden. Hinter den diagonalen Stellwänden der Sektion ‚Terre d’acceuil. France hostile‘ verbirgt sich dann einerseits die Sektion ‚Ici et là-bas‘, andererseits deutet sich hier auch schon die Einheit ‚Lieux de vie‘ an, die dann mehr oder weniger die Scharnierstelle zwischen den beiden größeren räumlichen Ausstellungsabschnitten einnimmt und sich um den großen ‚Bettenturm‘, ein weiteres Werk von B. Toguo, herum gruppiert. Für die Sektion ‚Ici et là-bas‘ wird bei den Lycéens eine Beschäftigung mit der ‚Maison russe‘539 vorgesehen. Sie sollen nachvollziehen, für wen es gebaut wurde und aus welchem Grund bzw. vor welchem zeitgeschichtlichen Hintergrund. Dieses Beispiel Die Maison russe wurde 1927 von der Prinzessin Vera Metchersky gegründet, die aus Russland 1917 geflohen war und einen Zufluchtsort für weiße Russen schuf. Dieser Ort sollte auch darüber hinaus ein Treffpunkt sein, der dazu diente, die russische Sprache zu bewahren, sich an die Heimat zu erinnern, gemeinsam russisches Essen zu genießen, den orthodoxen Glauben zu bewahren. Damit sollte den oft durch das Exil entwurzelten und traumatisierten russischen Exilanten in der neuen Heimat geholfen werden. Vgl. Cité nationale de l’hisoire de l’immigration (Hrsg.), La maison russe, in: Cité nationale de l’histoire de l’immigration (Hrsg.), Guide de l’exposition permanente, Paris 2009. S. 104 f. 539
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soll die Bedeutung und Spezifik der russischen Immigration in/nach Frankreich veranschaulichen und inwiefern es für den Versuch stand, in Frankreich ein Stück des Lebens in Russland, des russischen Alltags, zu rekreieren – unweigerlich werden hier die Themen des Heimwehs, der Nostalgie und Sehnsucht und damit der Zerrissenheit zwischen zwei Kulturen eingeführt. Das gleiche Phänomen wird auch den Collègiens und den GrundschülerInnen näher gebracht, allerdings anhand einer zeitgenössischen, emblematischen, künstlerischen Arbeit von T. Mailaender, den ‚Voitures cathédrales‘.540 Insgesamt wird also den SchülerInnen in dieser Sektion äußerst explizit das Thema der ‚zerrissenen Identität‘ vermittelt, sowohl über einen mikrogeschichtlichen Ansatz mit dem konkreten Beispiel der russischen Immigration als auch über eine allgemeinere künstlerische Dokumentation/Interpretation eines alltäglichen Phänomens der Migration, dem Transport von Waren und Besitz vom einen in das andere Land. In dem daran anknüpfenden Abschnitt ‚Lieux de vie‘ werden beide Gruppen an unterschiedliche, aber ‚typische‘ Wohnformen von Migranten in Frankreich herangeführt. Für die Gymnasiasten stehen vor allem die Wellblechhütte und die Biddonvilles emblematisch im Vordergrund. Zusätzlich wird ein zweiter Fokus auf das ‚arabische Café‘ gelegt: Für wen war es gedacht, wer kam hier hin, warum war es ein wichtiger Treffpunkt? In diesem Abschnitt steht damit das erste Mal die nordafrikanische Einwanderung im Vordergrund. Den Collègiens werden verschiedene Arbeiten empfohlen, mit deren Hilfe sie verschiedene Typen der Behausungen tabellarisch zuordnen können und die Lebenssituation dort stichwortartig beschreiben sollen. Das recht schematische Herangehen an die verschiedenen Wohntypen und ihre direkte Verknüpfung mit der Lebenssituation der Migranten wirkt recht kategorisch und scheint eher die Stereotype zu bestätigen denn sie zu dekonstruieren. Anschließend beschäftigen sie sich mit dem Mittelpunkt der Sektion, dem Bettenturm von B. Toguo: Es handelt sich um eine überlebensgroße Installation aus mehreren übereinander gestapelten Betten, an deren Eckpfosten Plastiktragetaschen hängen.541 Dieses Werk steht auch im Mittelpunkt des Parcours der GrundschülerInnen in dieser Sektion. Ähnlich wie die Zuordnung von Behausungstypen wird die Arbeit von Toguo auch als Möglichkeit
Es handelt sich um eine Fotoarbeit von 2004, die verschiedene Autos und Transporter mit auf dem Dach oder dem Gepäckträger aufgetürmten Sachen zeigt. Der Titel der Arbeit bezieht sich dabei auf den Begriff, der durch die Marseiller Dockarbeiter geprägt wurde und die Autos bezeichnet, die voll beladen mit Waren, Gütern und Besitztümern von Marseille in den Maghreb verschifft werden. Vgl. Cité nationale de l’histoire de l’immigration (Hrsg.), Thomas Mailaeander, in: CNHI / Gruson, Luc (Hrsg.), La collection d’art contemporain, Paris 2011. S. 80 f. 541 Die Arbeit von 2004 trägt den Titel ‚Climbing down‘ und soll die Situation in vielen Aufenthaltslagern für Immigranten veranschaulichen. Gleichzeitig soll mit der Anspielung auf einen Turm, die Leitern, die an ihm hinaufführen, in Kombination mit dem Titel der häufig unmögliche soziale Aufstieg, das Festsitzen in dieser Situation, thematisiert werden. Vgl. Cité nationale de l’histoire de l’immigration, Barthélémy Toguo, S. 116 f. 540
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gesehen, sehr vereinfacht, aber visuell wirksam, die Lebenssituation von Migranten zu skizzieren. Der zuvor noch deutliche Ansatz einer eher kritischen und das herkömmliche Bild der Immigration dekonstruierenden Betrachtungsweise weicht hier einer wieder deutlich stereotyperen Darstellung. Mit der Sektion ‚Travail‘ wird der Übergang in den zweiten Teil der Ausstellung vollzogen. In der ersten Vitrine zur Arbeit werden Geschichten einzelner Einwanderer(-familien), die über ihre Arbeit in Frankreich Erfolg hatten oder bekannt geworden sind, präsentiert. Hierbei wird auf persönliche Objekte und Fotos zurückgegriffen. Zusätzlich finden sich in den weiteren Vitrinen aber auch Themen wie der Arbeitskampf in den Gewerkschaften, der beispielsweise anhand von Plakaten, Pamphleten etc. dokumentiert wird. Auf Leinwände werden Bilder aus der Arbeitswelt von Migranten projiziert. Für die Lycéens liegt der Schwerpunkt auf der Beteiligung der Einwanderer als Arbeitskräfte im sekundären Sektor der Minenarbeit sowie auf der Verbindung von Industrialisierung und Immigration. Die Collègiens beschäftigen sich hingegen mit der großen Leinwand, auf der verschiedene Bilder von Arbeitern auftauchen: Sie sollen diesen Berufe und Milieus zuordnen. Anschließend sollen sie die Geschichte der Familie Bugatti und Baptista de Matos genauer betrachten. Die Familie Bugatti lässt sich dabei schon als Vorläufer der sich nun anbahnenden Erfolgsgeschichten der Immigration einordnen – ähnlich wie Marie Curie lassen sich die Bugattis als ‚Vorzeigeimmigranten‘ präsentieren, die es in Frankreich geschafft haben und mit ihrer beruflichen, intellektuellen etc. Leistung die intellektuelle, kulturelle und wirtschaftliche Strahlkraft Frankreichs vergrößert haben. Mit diesem Abschnitt finden sich nun verstärkt, ähnlich wie es schon in ‚Lieux de vie‘ zu beobachten war, klassische, aus den Medien bekannte Bilder der Immigration: der Immigrant in den Wellblechhütten, der Immigrant als Industriearbeiter, später in der Sektion zum Sport: der Immigrant als großer Fußballer. Der Parcours der GrundschülerInnen verdeutlicht, in welchem Maße es auch in dieser Sektion zur Arbeit schon um die Idee einer Beitragsgeschichte geht. So scheint die Frage aus dem Parcours für die GrundschülerInnen emblematisch: „De quelle manière les immigrés participent-ils à la modernisation et à l’enrichissement de la France?“. Die Sektion zur Arbeit geht diagonal in die der Integration, der Verwurzelung ‚Enracinement‘, über: So wird auch die Arbeit als Integrationsfaktor wieder aufgegriffen. Für die SchülerInnen wird an dieser Stelle vor allem die Beteiligung von Ausländern am Krieg und ihr Kampf für Frankreich betont. Die Lycéens setzen sich mit der Rolle von Immigranten im Krieg und in der Résistance sowie mit der Geschichte Missak Manouchians542 auseinander. Damit rückt stärker die Perspektive des Beitrags, der Leistung und des Opfers der Immigranten für Frankreich, in den Vordergrund. Die Collègiens Ein türkischer Immigrant, der nach Frankreich kam und hier Mitglied der kommunistischen Partei wurde und sich auch in der dazugehörigen Gewerkschaft engagierte. Er wurde schließlich ein bekannter Widerstandskämpfer im Zweiten Weltkrieg und wurde von den deutschen Besatzern für xenophobe Pro542
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beschäftigen sich hingegen mit der Frage, wer die Soldaten waren, die hier präsentiert werden: Bei welchem Krieg haben sie warum für Frankreich gekämpft? Warum kämpften die Tirailleurs sénégalais für Frankreich im Ersten Weltkrieg? Wer sind die Mitglieder der Gruppe Manouchian? Beide SchülerInnen-Gruppen bekommen dann die gleiche Ausgangsquelle und das gleiche Thema: Ausländer als Kämpfer für die Rechte der Arbeiter. Hier wird besonders das Motiv des (gemeinsamen) Kampfes für Frankreich als Integrationsfaktor betont und herausgearbeitet. Neben der Sektion ‚Lieux de vie‘, in der die nordafrikanische Präsenz thematisiert wurde, gerät nun zumindest am Rande die koloniale Immigration über die Tirailleurs sénégalais in den Blick. Hierauf wird aber in dem pädagogischen Material nicht näher eingegangen. Der Kampf und das Opfer für Frankreich überstrahlen gleichsam alle anderen hierin enthaltenen Thematiken – alternativ zum positiv konnotierten ‚Beitrag‘ kann der Immigrant die gleiche Akzeptanz und Wertschätzung über das ‚Opfer‘ erreichen. Hinter diese Botschaft tritt die Zielsetzung der Dekonstruktion und Veränderung von Wahrnehmung deutlich zurück. In der letzten Sektion der Diversität findet sich der sogenannte ‚Kiosk‘, ein räumlich abgeteilter, eckiger Raum, in dem verschiedene Objekte von der Decke hängen, die von Immigranten mitgebracht wurden und heute Teil der französischen Kultur sind. Als Abschluss sollen die SchülerInnen festhalten, welche Verbindung sie zwischen der Immigration und dem kulturellen Erbe Frankreichs ableiten können. Dies geschieht beispielsweise über die Auswahl von Werken eines Künstlers, anhand dessen erklärt werden soll, inwiefern dies die Verbindung von Immigration und dem Kulturerbe Frankreichs zeige. Auch hier wird wieder in dem Parcours der GrundschülerInnen die Botschaft des Abschnitts über eine spezifische Fragestellung am deutlichsten vermittelt: „Comment l’immigration participe-t-elle à la diversité et au rayonnement de la culture française?“ Somit wird bestärkt, was die eigentliche Botschaft und Zielsetzung der Ausstellung ist, mit der man deshalb konsequent schließen möchte: Immigration ist ein positives Phänomen, das die französische Kultur und Gesellschaft bereichert hat. Das kann man an den vielen wissenschaftlichen Errungenschaften, neuen Objekten und Traditionen, kulturellen Beiträgen und wirtschaftlichen Leistungen, die von einzelnen Immigranten mitge- und vollbracht wurden, ablesen. Die These, dass sich hier eine gegenläufig ausgerichtete Entwicklung darstellt – von einem weiten, dekonstruierenden Zugang zur Immigration über eine zunehmende konzeptuelle Verengung, bis hin zu einem rein positiv gedachten Endpunkt der gelungenen Integration – wird also belegt. Sie wird außerdem durch die pädagogische Vermittlung sogar noch zugespitzt und in zwei relativ isolierte Pole überführt: zum einen die ausführliche und differenzierte Darstellung der Sektionen ‚Émigré‘ oder auch ‚Ici et là-bas‘, bei denen teilweise selbst die Begriffe an sich einer kritischen Reflexion unter-
paganda missbraucht. Vgl. Cité nationale de l’hisoire de l’immigration (Hrsg.), Missak Manouchian, in: Cité nationale de l’histoire de l’immigration (Hrsg.), Guide de l’exposition permanente, Paris 2009. S. 184 f.
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zogen werden, und zum anderen die zugespitzte, eindimensionale Beitragsgeschichte, verkörpert durch die Frage: „Comment l’immigration participe-t-elle à la diversité et au rayonnement de la culture française?“ Es scheint sich eine Art ‚Pendelbewegung‘ herauszukristallisieren: Man schwingt zwischen einem meist dekonstruierenden und Diversität bzw. Komplexität erzeugenden Ansatz und einem reduzierenden, homogenisierenden und vereinfachenden Abschluss. Dass gerade letzterer das Fazit der Ausstellung bildet, lässt die Frage aufkommen, ob es wirklich nur über eine Überbetonung des positiven Aspekts der Bereicherung möglich ist, Immigration aufzuwerten und ihre Bedeutung zu vermitteln. Es scheint, als ob die Dauerausstellung hier Opfer einer Überbewertung der Appelle aus dem wissenschaftlichen Milieu der 80er Jahre geworden ist, die angesichts des völligen Fehlens der Immigration als Thema in der Öffentlichkeit und in der Wissenschaft eine Anerkennung des Beitrags und der positiven Aspekte der Immigration forderten. Ein mehrfach vonseiten der Institution hervorgehobener Aspekt ist, nicht nur inhaltlich, sondern auch über die Nutzung einer Vielzahl von materiellen Zugängen das Bild der Immigration zu diversifizieren und zu verändern. Jedoch fällt bei der Analyse der Parcours auf, dass die Funktion der verschiedenen Zugänge zu den einzelnen Themen über verschiedene Arten von Dokumenten, Medien und Objekten nicht klar vermittelt wird. Die Auswahl und Gewichtung der einzelnen Zugänge fallen je nach Schulstufe sehr unterschiedlich aus. Die Collègiens arbeiten deutlich stärker mit Kunstwerken, vor allem auch mit Installationen, während die Lycéens mehr mit klassischen Quellen, aber durchaus auch mit Fotoarbeiten konfrontiert werden. Die Rolle der Kunst ist in diesem Zusammenhang nicht klar ersichtlich. Ebenso wie in dem Parcours des Collège, so ist auch generell in der Ausstellung oft nicht ableitbar, inwieweit ihr eine eigene ästhetische Wirkungsweise überhaupt zugestanden wird. Diese Uneindeutigkeit wird auch in der Präsentation und Integration der Werke in den Ausstellungsraum deutlich. Ihnen wird verhältnismäßig wenig Raum zugestanden bzw. sie fungieren teilweise einerseits als raumstrukturierende Elemente, wie der ‚Bettenturm‘ von Toguo. Andererseits sind viele Arbeiten, insbesondere Fotoarbeiten, an den Außenwänden angebracht und treten hier in Dialog mit den ‚Tables de Repères‘ oder anderen kontextualisierenden Infomaterialien, die ebenfalls im Bereich der Außenwände an- und untergebracht sind. Ihre reine ästhetische Wirkmacht, ihre Aura, wird dadurch merklich eingeschränkt bzw. relativiert – daher werden sie auch weniger explizit als Kunstwerke wahrgenommen, als vielmehr als ‚visuelle Zugabe‘, als ‚Extra‘, das die dargebotenen Informationen, historischen Dokumente und klassischen Quellen auflockern und illustrieren kann. Dies scheint die These, die schon Deuser äußert, dass es hier vermutlich vor allem um eine Illustration der Inhalte der jeweiligen Sektion gehe, zu stützen:543 Die Werke werden auch im Parcours in der Regel als Beispiel
543
Vgl. Deuser, Grenzverläufe – Migration, Museum und das Politische, S. 113 ff.
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für ein Thema aufgegriffen und die SchülerInnen bekommen nur sehr basales methodisches Werkzeug an die Hand, um das jeweilige Werk zu analysieren. Die mehrmals wiederkehrende Frage danach, ob ein Werk eher dokumentarischen oder ästhetischen Wert besitze oder beides, zeigt die Funktion der Werke als illustrierende Ergänzung auf ästhetischer Ebene deutlich. Dem Bild, vor allem der Fotografie, wird hingegen in beiden Gruppen eine besondere Bedeutung beigemessen, es wird besonders oft als Quelle verwendet. Bei diesem spezifischen Medium wird wiederum oft der Unterschied zwischen künstlerischen und dokumentarischen Aufnahmen verwischt. Dass die künstlerische Arbeit, wenn man ihr entsprechend Raum gibt, über ihre schiere Präsenz und eigene Botschaft eine dekonstruktive Kraft haben kann, alternative Perspektiven aus sich heraus anbietet, wird nicht einbezogen. Ein weiteres ambivalentes Element, dessen Rolle unklar scheint, sind die auch in den Parcours als wesentliches Gestaltungselement aufgeführten ‚längeren‘ Erläuterungen, in Form von etwa DIN-A-4-großen weißen Schildern, die sich in unregelmäßigem Rhythmus als Ergänzung zu den Tables de Repères einerseits und den ausgestellten Dokumenten und Quellen andererseits finden. Sie sind sowohl an den Außenwänden als auch an binnenstrukturierenden Wänden und Vitrinen zu finden. Ihre formale Gestaltung scheint dabei ihre nicht klar definierte Funktion zu spiegeln: Sie sind vom Format und der Schriftgröße her recht klein gestaltet: Sie entsprechen einem auf einer DIN A3- bzw. A-4-Seite gedrucktem Text. So sind sie auf eine größere Entfernung überhaupt nicht lesbar, man muss sich unmittelbar davor positionieren, um sie lesen zu können. Der Text, den sie präsentieren, ist mal umfangreicher, mal weniger umfangreich. Die Themen, die hier angesprochen werden, sind recht heterogen: Von dem Thema Frauen und Migration, über ‚Sangatte‘ bis hin zur Einführung der carte d’identité finden sich unterschiedlichste Ergänzungen zu den Hauptinformationen. Teilweise werden auch Themen eingefügt, die eigentlich aus der Ausstellung ausgesondert wurden, wie den ‚Sujets de l’Empire‘, die auf einer solchen Plakette unter der Frage, ob sie als ‚immigré‘ zu zählen seien, wieder auftauchen. Teilweise sind sie dabei an Stellen angebracht, die nicht unmittelbar ins Auge fallen bzw. nicht wahrgenommen werden, wie zum Beispiel das Schild ‚Conclusion‘, das auf der rechten Seite an der Rückwand am Ende der Sektion ‚Diversité‘ angebracht ist und kaum von Besuchern frequentiert wird.544 Es scheint, als ob nach und nach über diese Schilder Fehlstellen der Ausstellung, Aspekte, die aufgrund der Struktur und der Prägnanz der Hauptausstellung nicht integriert werden konnten, wieder ihren Eingang finden, allerdings ohne konsequent
Das Ende der Ausstellung wurde mehrfach umgestaltet: Zu Beginn fand sich hier ein großer polymorpher Tisch, an dem zum einen ein ‚Spiel‘ mit ausländischen Wörtern, die ins Französische integriert worden waren, fand, zum anderen gab es hier Lieder, die aus anderen Kulturen und Sprachen stammten und die man sich anhören konnte. Diese Präsentation ist einer Wand gewichen, an der verschiedene Kulturschaffende abwechselnd vorgestellt werden, zum Beispiel René Goscinny und Jacques Offenbach. Zudem finden sich hier nun die Arbeiten von Mona Hatoum und Chen Zhen. 544
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und explizit eingebunden zu werden. Dies lässt vermuten, dass (un-)bewusst aus der Tatsache heraus, dass die Ausstellung in ihrer Grundstruktur Immigration nur aus schlaglichtartigen und zwischen Diversifizierung und Homogenisierung pendelnden Standpunkten heraus zeigt, die Idee entstanden ist, auch über diese längeren Textschilder mehr Diversität und Multiperspektivität in die Ausstellung tragen zu können. Dies wirkt aber offenbar, ähnlich wie die Einführung unterschiedlicher Zugänge über unterschiedliche Materialien und Objekttypen, in der Umsetzung verwirrend. Insgesamt veranschaulicht die Dauerausstellung vor allem die Unvereinbarkeit einer kritischen, dekonstruierenden und die Wahrnehmung von Immigration diversifizierenden Perspektivierung mit dem Wunsch nach einer klaren Botschaft, die Immigration als einen positiven Beitrag zur französischen Gesellschaft dargestellt wissen möchte. Dabei bleibt das Fremde am Ende fremd und ist nur dann assimilierbar, wenn es einen Beitrag oder ein Opfer leistet, sich in einen gemeinsamen Kampf einschreibt oder die Strahlkraft der französischen Nation und Kultur vergrößern hilft. Das Motiv der Leistung und des Beitrages erscheint dabei an diesem Ort als besonders ambivalent: stellen doch die Fresken aus der Kolonialzeit am und im Palais den wirtschaftlichen Beitrag fremder (kolonialisierter) Völker an Frankreich dar sowie den Beitrag, den Frankreich an die fremden (kolonialisierten) Völkern in kultureller und zivilisatorischer Hinsicht leistete. Letztendlich findet dieses Konzept des ‚Beitrags‘ Fremder zur eigenen Nation hier, in der Ausstellung, sein Echo: Frankreich ermöglicht den Fremden durch seine Werte, seine Kultur und seinen Entwicklungsstand ein neues Leben, das diese nutzen und sich durch ihre Leistung, die daraus entsteht, in die Nation integrieren – ihr Beitrag ist dann der Mehrwert, den die Nation für ihre Großzügigkeit erhält. Dieses Motiv findet sich noch deutlich stärker in einem weiteren wichtigen dauerhaften Sammlungsteil, der Galerie des dons, repräsentiert. Galerie des dons Die Galerie des dons bildet einen weiteren Ausstellungsteil der CNHI, der sich auf derselben Etage wie die Dauerausstellung Repères befindet. Sie ist in der Galerie untergebracht, die um die Auslassung des Atriums im Zentrum des Gebäudes führt und aus Perspektive des Besuchers, wenn er aus der Dauerausstellung kommt, direkt gegenüber liegt.545 Die Galerie wurde bereits 2008 eingerichtet, allerdings wurde sie noch mehrfach überarbeitet, bis sie ihre heutige Form und Aussehen erhielt.546 Hier werden
Vgl. CNHI (Hrsg.), Cité-plan. Auch hier zeichnet sich ähnlich wie im Fall der Dauerausstellung Repères seit 2019 eine grundsätzliche Überarbeitung ab. Die Galerie befindet sich nicht mehr in der hier ursprünglich untersuchten Form, neben neuen Objekten und Geschichten scheint auch die Präsentation an sich überarbeitet zu werden. 545 546
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auf 450 m2 250 Objekte und 40 Biografien ausgestellt.547 Dieser Sammlungsteil wurde bereits während der Planungsphase angedacht und drückte sich in den verschiedenen Sammlungsaufrufen aus: Man versuchte schon während der Planung, Objekt-Spenden von Migranten zu erhalten, um später einen Ausstellungsteil einrichten zu können, der, wie es schließlich auch geschehen ist, die persönliche Geschichte einzelner Migranten anhand von ausgewählten, von den jeweiligen Personen bzw. ihren Familien gespendeten Objekten erzählt. Dieser Museumsteil soll damit vor allem den Migranten selbst eine Stimme innerhalb der Institution verleihen und den partizipativen Charakter des Museums unterstreichen. Zudem soll damit auch die Dauerausstellung ergänzt werden: Sie repräsentiert den ‚roman national‘ der Immigrationsgeschichte, während die Galerie des dons die ‚trajectoires familiales‘ zeigt.548 Luc Gruson formuliert dabei in seiner Einleitung zu dem entsprechenden Katalog, der explizit zu diesem Sammlungsteil herausgegeben wurde: „La Galerie des dons fonctionne comme une métaphore de la diversité, comme un kaléidoscope, où de petits éclats de vie composent un tout vivant“.549 Dementsprechend soll sie gezielt in Abgrenzung und Ergänzung zur Dauerausstellung die Individualität und Spezifik der einzelnen Migrations-Parcours zeigen und damit die intime und durchaus auch emotionale Seite der Immigrationsgeschichte betonen und veranschaulichen. Gleichzeitig soll sie auch zeigen, inwiefern diese Geschichten der Flucht, des Exils, der Migration etc. universell sind und für unterschiedlichste Menschen und ihre Familien prägend waren. Damit knüpft die Galerie des dons an zwei wichtige Ansätze der Dauerausstellung an: einerseits an die Schaffung einer emotionalen Verbindung zwischen Besucher und Migranten-Schicksal und andererseits an die Erfolgs- und Beitragsgeschichte einzelner Immigranten, die den Erfolg des französischen Modells der Diversität zeigen sollen. Gruson verbindet dieses Ziel und diesen Ansatz mit der Zeitdiagnose, dass sich heute immer stärker identitäre Bezüge, wie eben auch die Familie, verlören und es daher wichtig sei, diese wieder zu reaktivieren und die Familiengeschichte als Orientierungs- und Ankerpunkt der eigenen Identität in den Fokus zu rücken.550 Daher steht für ihn hier auch u. a. der intergenerationelle Aspekt im Mittelpunkt: Wie wird die Migrationsgeschichte in der eigenen Familie weitergegeben und vermittelt? Daher steht für diese Sektion symbolisch ‚der Baum‘ (Familienstammbaum), der auch in Form eines realen Baumrestes in der Ausstellung präsent ist. Zudem sieht Gruson in dieser Repräsentationsform die Chance, den nachfolgenden Generationen eine Möglichkeit zu geben, auf die eigene Familie und ihre Geschichte stolz sein zu können. Hier taucht
Vgl. Galerie des dons, URL: http://www.histoire-immigration.fr/missions/la-museographie/la-ga lerie-des-dons (Zugriff 04.07.2017). 548 Vgl. Gruson, Luc, Les trajectoires familiales et le „roman national“, in: MNHI (Hrsg.), Guide de la Galerie des dons, Paris 2014. S. 5–7. 549 Ebd. S. 6. 550 Vgl. ebd. S. 5. 547
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damit die emotionale Komponente des ‚Stolz-Seins‘ explizit wieder auf, die schon während der Planungsphase als eine der Haupt-Affekte auserkoren wurde, um eine Identifikation mit dem Ort zu gewährleisten. Diese Perspektivierung wird durch die Grundannahme ermöglicht, dass Migranten einen grundsätzlichen Willen, eine Motivation haben, ihre Geschichte zu vermitteln, dass sie stolz auf sie sind und mit ihr an der Gesellschaft teilhaben möchten. Inwiefern dies auf die Mehrheit der Immigranten zutrifft, ist anzuzweifeln, was sich ganz konkret in der sehr unausgeglichenen Thematisierung bestimmter, vor allem europäischer Immigranten-Geschichten zeigt. Die Geste des ‚dons‘, der Gabe, Spende, sieht Gruson dabei als wesentliches Element dieses Sammlungsteils an, da sie „[…] une envie de partager, de témoigner, d’être fier, mais surtout de rendre hommage au courage de ceux qui ont migré.“551 ausdrücke. Hélène du Mazaubrun, die maßgeblich für diesen Ausstellungsteil verantwortlich ist, knüpft mit ihrem einleitenden Text an, indem sie das Konzept der Gabe von Marcel Mauss einbringt und erläutert, dass diese Gabe auch für das Museum eine gewisse Bindung an die Besitzer des Objekts bedeute und damit an die Realität der Migration.552 Zudem sieht sie die überantworteten Objekte interessanterweise wie einen ‚Filter‘ und einen ‚Katalysator‘ der Erinnerung, wobei sie Folgendes ausführt: „Donné au musée, cet objet ‚élu‘ sert souvent de „catalysateur“, comme le capteur de rêves qui conserve les belles images et brûle les mauvaises aux premières lueurs du jour“.553 Dieser Vergleich wirkt ambivalent: Man bekommt den Eindruck vermittelt, dass die Objekte, die hier gezeigt werden, nur die guten Erinnerungen zeigen und bewahren sollen und nicht die schlechten. Gruson deutet zwar in seiner Einleitung an, dass diese Objekte auch an ambivalente Aspekte der eigenen Biografie, zerrissene Identitäten etc. erinnern, trotzdem scheint auch bei ihm die positive Wertung der Objekte und Geschichten als Zeugnisse einer ‚erfolgreichen‘ Immigration zu überwiegen. Dies bestätigt sich auch in der Wahl der konkreten Ausstellungsstruktur, die Mazaubrun in ihrem Text erläutert. Es handelt sich um eine Orientierung an vier inhaltlichen, strukturgebenden Einheiten: Hériter, Partager, Contribuer und Accepter. Auf diese Einheiten sind die Objekte und ihre Geschichten bzw. die Biografien in der Ausstellungspräsentation verteilt. Dabei orientieren sich die vier Kategorien an der Beziehung der Leihgeber zu den Objekten und ihren Geschichten: So bezeichnet ‚Hériter‘ Objekte, die das Erbe der Eltern oder Großeltern darstellen. Daher ist diese Sektion stärker an der Vergangenheit ausgerichtet. ‚Partager‘ umfasst Objekte, die gegeben wurden, um einen Teil der eigenen Kultur/Herkunft mit dem Besucherpublikum zu teilen, ‚Contribuer‘ zeigt Objekte, die von der Teilhabe der Immigranten an der französischen Geschichte zeugen und das Bedürfnis nach Anerkennung und Integration Gruson, Les trajectoires familiales et le „roman national“, S. 7. Vgl. Mazaubrun, Hélène du, De la mémoire familiale au patrimoine national, in: MNHI (Hrsg.), Guide de la Galerie des dons, Paris 2014. S. 8–13. 553 Ebd. S. 13. 551 552
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spiegeln, ‚Accepter‘ präsentiert schließlich Objekte, die ihre eigene, oft fragmentarische Identität in ihre Geschichte integriert haben. Alle diese Konzepte münden in die Idee einer positiv gewendeten Weitergabe und Vermittlung des eigenen migrantischen Erbes. Keines der Konzepte drückt Konfliktualität, Ambiguität oder Zurückweisung aus. Bei der Durchsicht des Katalogs und der Betrachtung der Ausstellung stellt sich allerdings teilweise die Frage nach der Trennschärfe der Kategorien: Letztendlich sind fast alle Objekte bis auf wenige Ausnahmen geerbt bzw. weitergegeben worden und fast alle Leihgeber wollen die Objekte eben auch und vor allem mit dem Publikum öffentlichkeitswirksam teilen.554 Bei fast allen Beiträgen klingt der Wille, gesehen zu werden, der Stolz, hier teilzunehmen, durch. Die vier Konzepte erscheinen also bei näherer Betrachtung als künstliche, nachträglich auf die Objekte und ihre Geschichten gelegte Kategorien, die die eigentlich recht eindeutige, eindimensionale Botschaft des Stolzes zusätzlich diversifizieren sollen. Trotzdem kann man insofern eine Differenzierung der Bereiche erkennen, als dass in der Rubrik ‚Partager‘ beispielsweise im Vergleich zu der vorherigen Rubrik ‚Hériter‘ der Aspekt der Vermittlung von kulturellen Traditionen in den Begleittexten stärker hervorgehoben wird. Es findet sich beispielsweise ein ‚Baby-Foot‘555, der insbesondere den interkulturellen Austausch im Café veranschaulichen soll. Die Sektion ‚Contribuer‘ hingegen wird besonders durch den Beitrag Lazare Ponticellis von den anderen Teilen unterschieden.556 Mit Ponticelli wurde auch die Galerie des dons 2007 symbolisch eingeweiht: Er war einer der letzten beiden Poilus und spendete seine Militärstiefel aus dem Ersten Weltkrieg. Interessant ist, dass in diesem Fall die Geschichte Ponticellis von Max Gallo erzählt wird und ihm damit eine besondere Bedeutung zugewiesen wird. Hier scheint der Fokus viel deutlicher als in den anderen Bereichen auf einer ‚Beitragsgeschichte‘ zu liegen. In dieser Sektion werden vorrangig Objekte gewählt, die den jeweiligen Immigranten als ‚wertvoll’ für die Nation ausweist. ‚Contribuer‘ wird also ganz direkt als Leistung der Immigranten zugunsten Frankreichs verstanden. Weitere Beispiele dafür sind eine Medaille, die den Besitzer als ‚chevalier des arts et lettres‘557 ausweist, oder auch ein Sportpokal558. In der Kategorie ‚Accepter‘ taucht dann stärker der Gedanke auf, sein Schicksal akzeptieren zu müssen, teilweise nicht mehr in die Heimat zurückzukehren zu können und damit
In einigen Ausnahmefällen sind die Leihgeber und die Besitzer des Objekts ein und dieselbe Person und berichten daher über sich selbst. 555 Vgl. MNHI (Hrsg.), „Dans l’après-guerre, il était courant de se rencontrer dans les cafés autour d’un baby-foot“, in: MNHI (Hrsg.), Guide de la Galerie des dons, Paris 2014. S. 97. 556 Vgl. MNHI (Hrsg.), „L’histoire de Lazare Ponticelli“, in: MNHI (Hrsg.), Guide de la Galerie des dons, Paris 2014. S. 134 ff. 557 Vgl. MNHI (Hrsg.), „L’histoire d’Emmanuel Lowenthal“, in: MNHI (Hrsg.), Guide de la Galerie des dons, Paris 2014. S. 146 ff. 558 Vgl. MNHI (Hrsg.), „L’histoire de Said Abtout“, in: MNHI (Hrsg.), Guide de la Galerie des dons, Paris 2014. S. 164. 554
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auch Objekte, die für die Heimat stehen, abzugeben. Symptomatisch taucht hier dann auch vermehrt der Koffer als Objekt auf.559 Die Objekte werden innerhalb der Ausstellung wie auch im Katalog den vier Konzepten zugeordnet:560 Jedes Objekt wird mit einem kurzen ‚Steckbrief ‘, der eine Abbildung des Objekts enthält und aufführt, wessen Geschichte anhand des Objekts erzählt wird, wer der Leihgeber ist und um was für ein Objekt es sich handelt, versehen. Dies ist insofern wichtig, da häufig ein jüngeres Familienmitglied die Geschichte eines Großeltern-/oder Elternteils wiedergibt. Anschließend wird ausführlicher auf das Objekt selbst eingegangen und welche Rolle es in der Familie spielte, welche familiäre Geschichte es hat. Anschließend gibt es einen ausführlichen Abschnitt, der unter dem Titel ‚Récit‘ dem Leihgeber das Wort erteilt und die Geschichte der jeweiligen Person, der das Objekt gehörte, thematisiert: Dabei wird der Erzählende teilweise direkt zitiert, teilweise wird das Erzählte indirekt wiedergegeben. Abschließend wird mit dem Abschnitt ‚Repères‘ eine Beziehung zur allgemeinen Immigrationsgeschichte im Sinne der Dauerausstellung hergestellt. Dieser Bezug kann sich auf verschiedene Aspekte beziehen: auf die allgemeine Charakterisierung der Einwanderung einer bestimmten Nationalität, auf politische Aspekte wie das Exil, den Passport Nansen oder aber auch ein Thema wie die ‚gemischte Ehe‘ in der Zwischenkriegszeit. Hier wird also die spezifische, sehr individuelle Geschichte zu einem exemplarischen Aspekt der Immigrationsgeschichte. Diese Strukturierung der Texte um das Objekt und die Präsentation des Objekts selbst werden größtenteils auch so in der Ausstellung übernommen: Das Originalobjekt mit den jeweiligen textuellen Ergänzungen wird in großen Vitrinen, die an den Wänden entlang bzw. teilweise im Gang aufgestellt sind, präsentiert. Damit etabliert man einen museologischen ‚Drei-Schritt‘: Mit dem Objekt wird die Neugier des Betrachters geweckt, er wird angelockt, über die persönliche Geschichte wird die emotionale Identifizierung gewährleistet, und in einem abschließenden Schritt werden Zusatzinformationen vermittelt, die das Wissen des Betrachters erweitern sollen. Wenn man auch hier den pädagogischen Parcours,561 den das Museum für diesen Sammlungsteil entwickelt hat, dazunimmt, ergeben sich einige Schwerpunkte und begünstigte Interpretationsmuster, die die Funktion und Botschaft der Galerie verdeutlichen. In allen Abschnitten werden einzelne Geschichten bzw. Biografien ausgewählt, wobei jeweils Wert darauf gelegt wird, die Herkunft bzw. die Migrationsroute der jeweiligen vorgestellten Person herauszustellen. Dies kann als Ansatz gelesen werden, der zumindest auf einer basalen Ebene versucht, die Diversität und Komplexität von
Vgl. MNHI (Hrsg.), Guide de la Galerie des dons, Paris 2014. S. 202, 208 und 226. Vgl. ebd. Inhaltsverzeichnis. In diesem Fall gibt es für alle Schulgruppen nur einen einzigen Parcours, der nicht weiter nach Altersstufen oder Schulformen differenziert wird: MNHI (Hrsg.), Parcours pédagogique de la Galerie des dons, URL: http://www.histoire-immigration.fr/sites/default/files/musee-numerique/documents/par coursgdd_bd.pdf (Zugriff 25.07.2017). 559 560 561
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Immigration zu verdeutlichen. Zudem wird zumindest in der Sektion ‚Hériter‘ auf den Unterschied zwischen der Person, die im Fokus der Geschichte steht, und der Person, die der Leihgeber ist bzw. die Geschichte erzählt, hingewiesen. In allen vier Teilgebieten stellt den Leitfaden der Vermittlung die Frage danach, warum die Person ausgewandert ist und warum das jeweilige Objekt dabei für sie eine bestimmte Rolle gespielt hat, dar. Dies spiegelt den diversifizierenden Ansatz der Sektion ‚Émigrer‘ in der Dauerausstellung, in der die Herkunft der Migranten und die Gründe ihrer Ausreise auch eine große Rolle spielen. Aber auch die Gründe, warum der Leihgeber hier Zeugenschaft ablegen wollte, werden betont, was die Wahl der strukturierenden Einheiten legitimiert und verdeutlicht. Das Bedürfnis, überhaupt Zeugenschaft über die eigene familiäre Migrationsgeschichte abzulegen, scheint gleichsam die Existenz der Galerie insgesamt zu rechtfertigen. In allen vier thematisierten Sektionen wird eine Verbindung zwischen der individuellen Immigrationsgeschichte und der allgemeineren Geschichte/Charakteristik der dazugehörigen ethnischen Immigrationsgruppe hergestellt. So steht die Geschichte Guiseppa Pezzonis für die Geschichte der italienischen Einwanderung, die Geschichte Ramona Fernandez’ steht emblematisch für die spanische Einwanderung nach Frankreich. Der Lebenslauf des einzelnen Immigranten steht hier exemplarisch für die große Meistererzählung der französischen Immigrationsgeschichte. Zusätzlich wird an verschiedenen Punkten innerhalb der Einheiten auf Sektionen der Dauerausstellung verwiesen: So führt die Geschichte der Familie Vorontzhoff zum Abschnitt der ‚Maison russe‘ in der Dauerausstellung, die Geschichte des zeitweiligen Sans-papiers ‚Mody‘ führt zu der Arbeit von B. Toguo ‚Carte de séjour‘. Damit wird die in den Einleitungstexten angedeutete Verbindung zwischen ‚roman national‘ und ‚trajectoires familiales‘ operationalisiert und beide Ausstellungsteile, Galerie und Dauerausstellung, werden museologisch verbunden. An dieser Stelle lassen sich vier Beispiele, die in dem pädagogischen Parcours aufgegriffen werden, herausgreifen, die die Botschaft dieses Ausstellungsabschnitts verdeutlichen: Zum einen wird in der Sektion ‚Partager‘ die Geschichte Ramona Fernandez’ thematisiert.562 Sie ist als spanische Einwanderin nach Frankreich gekommen und das Objekt, das vorgestellt wird, ist ein traditioneller, iberischer Hochzeitsschal. Das Objekt und die Geschichte kamen in diesem Fall erst in das Museum, als die Enkelin von Ramona dieses besuchte und durch Zufall das Bild ihrer Großmutter in der Galerie entdeckte. Sie war dadurch so gerührt, dass sie den Schal ihrer Großmutter spendete. Dieses Detail spielt der CNHI und ihrer Botschaft in die Hände: Man kann hiermit die eigene Wirkmacht und Bedeutung belegen. Zudem beweist es, dass man eine ‚echte‘ reale Verbindung zu Migranten und ihren Nachkommen hat: Man repräsentiert sie. Vgl. Galerie des dons, URL: http://www.histoire-immigration.fr/missions/la-museographie/lagalerie-des-dons (Zugriff 04.07.2017). S. 7 und MNHI (Hrsg.), Guide de la Galerie des dons, Paris 2014. S. 90 ff. 562
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Die Enkelin erzählt dann auch selbst die Geschichte der Großmutter. Nach dem ‚Récit‘ schließt der Text mit der Aussage: Avenir. Il est évident que le courage de nos grands-parents fut un déclenchement primordial pour la réussite de notre famille. On peut parler d’immigration positive, car l’ensemble de la famille Aguado a su surmonter les difficultés de la vie et s’intégrer économiquement et socialement dans leurs nouveaux pays d’accueil.563
Es ist nicht ganz klar, wer den letzten der beiden Sätze formuliert, ob noch die Enkelin selbst oder die Verfasser des Katalogs sprechen. Jedoch ist die hier präsentierte Bewertung dieser Geschichte als Beispiel für eine ‚positive Immigration‘, die sich vor allem dadurch auszeichnet, dass man sich wirtschaftlich und sozial integriert habe, ambivalent zu sehen. Sie scheint genau für die Art von Beitragsgeschichte zu stehen, die besonders die Sektionen ‚Enracinements‘ und ‚Diversité‘ in der Dauerausstellung zeigen möchten – man kann sogar noch weiter gehen und hierin eine implizite Legitimierung der eigenen musealen Sicht auf Immigration, die diese als positive Bereicherung sehen möchte, deuten. Dies bestätigt auch der pädagogische Parcours, der die SchülerInnen dazu auffordert: „Observez les vitrines de cette section présentant d’autres dons et objets. Pouvez-vous mentionner un ou plusieurs domaines culturels (exemples: artisanat, cuisine, danse, musique, littérature …) ayant bénéficié des apports de l’immigration.“564 Zudem wird hier explizit am Ende der Aufgabeneinheit der Verweis auf die Sektion Diversité untergebracht und dazu aufgefordert: „Relevez des exemples montrant que la culture française s’est enrichie des apports venus d’ailleurs“.565 In der Sektion ‚Contribuer‘ taucht das Motiv des Beitrags bzw. der Leistung noch einmal anders gewendet auf: Wie bereits erwähnt, wird Lazare Ponticelli, einer der letzten Poilus, als besonderes Beispiel herausgegriffen.566 Die Geschichte Ponticellis eignet sich hier für eine ‚positive Geschichte der Immigration‘, wie sie auch bei Fernandez angedeutet wird, da er selbst dem einführenden Text zufolge äußerte: „J’ai voulu défendre la France. C’était une manière de dire merci“.567 Nicht nur der Beitrag, sondern das ‚bereitwillige Opfer‘, um sich dankbar gegenüber dem neuen Heimatland zu zeigen, werden betont. Dementsprechend rückt Max Gallo die Person Ponticellis in ein verklärendes Licht: La vie de Lazare Ponticelli […] est l’un des miroirs du XIXe siècle. Il a survécu, dernier des combattants de la Grande Guerre. Il est ainsi devenu le témoin, le héros, la figure de
MNHI (Hrsg.), „L’histoire de Ramona Fernandez par sa petite-fille Thérèse Baiguet-Aguado“, in: MNHI (Hrsg.), Guide de la Galerie des dons, Paris 2014. S. 92–93. S. 93. 564 Galerie des dons, URL: http://www.histoire-immigration.fr/missions/la-museographie/la-galeriedes-dons (Zugriff 04.07.2017). S. 7. 565 Ebd. 566 Vgl. ebd. S. 10 und „L’histoire de Lazare Ponticelli“, S. 134 ff. 567 Ponticelli zit. nach „L’histoire de Lazare Ponticelli“, S. 135. 563
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proue d’une foule d’anonymes […] dont les traces s’effacent. On les célèbre chaque 11 Novembre. […] Mais on oublie qu’ils furent hommes de chair donc de souffrance, d’amour, d’espoir.568
Ponticelli wird zum Spiegel des 19. Jahrhunderts, der nicht nur Zeuge, sondern auch Held der Geschichte des Ersten Weltkriegs ist und symbolisch für die vielen anonymen gefallenen Soldaten des Krieges steht. Dass er als Italiener an diesem Krieg für Frankreich teilnahm und es wie sein Vaterland verteidigte, gereicht ihm zu Ehre und Auszeichnung. Es verwundert daher nicht, dass der pädagogische Parcours bei seiner Biografie explizit danach fragt, inwiefern man ihn legitimerweise als ‚Helden Frankreichs‘ bezeichnen könne.569 Die Geschichte von Abdelmadjid Ziouani und Lila Karkar in der Sektion ‚Accepter‘ versucht dann das Thema der (kulturellen) Bereicherung noch einmal auf eine andere Art aufzugreifen und herauszustreichen: „La création artistique se nourrit souvent de la rencontre avec l’ailleurs“.570 In diesem Fall ist es die Tochter der beiden Personen, die hier die Objekte spendet und die Geschichte ihrer Eltern erzählt. Dabei steht vor allem auch die doppelte Staatsbürgerschaft der Tochter, die Französische und die Algerische, im Fokus und inwiefern diese doppelte kulturelle Zugehörigkeit, wie sie auch im pädagogischen Parcours bezeichnet wird, ihre eigene Karriere als Musikerin bereichert hat. Die ‚zweite‘ kulturelle Zugehörigkeit wird zu einer persönlichen Bereicherung, mit der man u. a. eine erfolgreiche Karriere in der Kultur erreichen kann. Die Tochter Zahia wird zwar als seltenes, aber äußerst erfolgreiches Beispiel für eine Karriere in der klassischen Musik angeführt: „Son parcours est celui d’une ascension professionelle fulgurante“.571 Schließlich endet das ‚Récit‘ mit der Auszeichnung Zahias im Jahr 2008 als einziger Frau, die ein Orchester leitet und algerischer Abstammung ist, als ‚chevalier de l’ordre national du Mérite‘. Diese Dominanz eines Narrativs der ‚positiven Immigration‘, einer Immigration, die Frankreich und seine Kultur bereichert, die zeigt, dass Immigranten Frankreich schätzen und bereit sind, für es Opfer zu bringen, sowie eine Immigration, bei der die Integration gelingt und die im besten Fall aus ihrer ‚doppelten‘ kulturellen Zugehörigkeit einen persönlichen und gesellschaftlichen Mehrwert ziehen kann, ist offensichtlich und scheint die Tendenz der Dauerausstellung, vor allem ab der Sektion ‚Au travail‘, zu bestätigen. Dass speziell Beispiele für den pädagogischen Parcours ausgeMNHI (Hrsg.), „L’histoire de Lazare Ponticelli par Max Gallo, de l’Académie française“, MNHI (Hrsg.), Guide de la Galerie des dons, Paris 2014. S. 136 f. S. 136. 569 Vgl. Galerie des dons, URL: http://www.histoire-immigration.fr/missions/la-museographie/la-ga lerie-des-dons (Zugriff 04.07.2017). S. 10. 570 MNHI (Hrsg.), „La création artistique se nourrit souvent de la rencontre avec l’ailleurs“, in: MNHI (Hrsg.), Guide de la Galerie des dons, Paris 2014. S. 221. 571 MNHI (Hrsg.), „L’histoire de Abdelmadjid Ziouani et Lila Karkar par leur fille Zahia Ziouani“, in: MNHI (Hrsg.), Guide de la Galerie des dons, Paris 2014. S. 222–223. S. 223. 568
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wählt wurden, die dies besonders deutlich aufzeigen, unterstreicht diese These: Die Idee ist an sich, das Bild der Immigration verändern zu wollen, aber eben auf eine ganz spezifische Weise – das ‚Heilmittel‘ wird hier offenbar in einer (Über-)Betonung der positiven Aspekte, des Mehrwerts von Immigration und der gelungenen Integration, gesehen. Trotzdem findet sich in der Sektion ‚Contribuer‘ ein Beispiel, das auch im pädagogischen Parcours aufgegriffen wird und das ein anderes Bild vermittelt: Es handelt sich um die Geschichte von Mody, einem Einwanderer aus Mali, der 2010 mit anderen Sans-papiers die CNHI bestreikt hatte.572 Er stellt seine Geschichte selbst vor und illustriert sie anhand seiner Karte, die ihn als Streikenden ausweist. Als Erläuterung zum Objekt wird hier u. a. unter dem Titel „Un palais qui ouvre ses portes pour les immigrés sans papiers“ die Beteiligung der Institution an dem Streik erläutert.573 In dem persönlichen ‚Récit‘ Modys führt dieser die bewusste Wahl der CNHI als Ort des Protests aus: Ce mouvement [des sans-papiers], c’est une vraie rencontre, une vraie lutte de travailleurs. Ma lutte, ce n’est pas seulement pour avoir une carte de séjour, mais aussi pour changer ce que pense l’opinion publique des sans-papiers. Le 7 octobre 2010, nous avons décidé d’investir pacifiquement la Cité nationale de l’histoire de l’immigration, installée dans le Palais de la Porte Dorée, en raison de ses missions : faire connaître l’histoire de l’immigration dans l’histoire de France, et faire évoluer les regards et les mentalités sur ce sujet.574
Hier wird mit der Wahrnehmung der sonst typischen Anonymität der ‚Masse‘ von Sans-papiers gebrochen: In den Medien oder auch von Politikern werden diese oft als zu bekämpfendes Übel, als nicht näher beschreibbare Gruppe von Illegalen gekennzeichnet, die ein soziales Problem darstellen und beseitigt werden müssen. Besonders Sarkozy hatte sich dafür eingesetzt. Doch hier bricht dieses Bild auf: Es findet ein konkretes, individuelles Gesicht in Mody, der selbst das Wort ergreift und darüber hinaus erklärt, wie er, ohne dies beabsichtigt zu haben, zum Sans-papiers wurde. Er beschreibt die Agonie dieser Situation, das Unbehagen und den Zustand ständiger Angst. Zudem verdeutlicht er die Ziele der protestierenden Sans-papiers und argumentiert überzeugend nicht nur seine Ziele, die er dabei verfolgt, sondern auch, warum sie damals die CNHI als Ort für den Protest auswählten – er verändert tatsächlich über seine Zeugenschaft, wie er es ursprünglich vorgehabt hatte, das Bild des anonymen Sans-papiers. Was über die recht künstlich wirkende Betonung des Mehrwerts der Immigration, des Beitrags der Immigranten und ihrer geleisteten Opfer anhand
Vgl. MNHI (Hsrg.), „L’histoire de Mody“, S. 182 ff. Und: Galerie des dons, URL: http://www.histoi re-immigration.fr/missions/la-museographie/la-galerie-des-dons (Zugriff 04.07.2017). S. 8. 573 Vgl. MNHI (Hrsg.), „Un palais qui ouvre ses portes pour les immigrés sans papiers“, in: MNHI (Hrsg.), Guide de la Galerie des dons, Paris 2014. S. 183. 574 MNHI (Hrsg.), „L’histoire de Mody par lui-même“, S. 185. 572
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der Biografien von Fernandez, Ponticelli oder Ziouani weniger gelingen will – nämlich ein Aufbrechen, Dekonstruieren von Stereotypen in Bezug auf Immigranten –, gelingt anhand der authentischen, ambivalenten und komplexen Zeugenschaft Modys deutlich klarer. Doch gerade dieser Beitrag verweist auch auf die Schwachstelle dieses Ausstellungsteils, die auch Gruson und Mazaubrun andeuten: das Übergewicht der Zeugnisse der europäischen Migration. Es finden sich hingegen auffällig wenige Beispiele für eine (post-)koloniale Einwanderung, sei es aus Afrika, den Übersee-Départements oder aus Asien. Dies scheint vor allem vor dem Hintergrund des in der Galerie dominierenden Narrativs der erfolgreichen Integration, des Beitrages, der Teilhabe und des Stolzes auf die eigene Geschichte verständlich. Die deutlich ältere europäische Immigration ist heute kein Thema der öffentlichen und politischen Debatten mehr – ganz im Gegenteil, sie wird auch öffentlich meist als gelungenes Beispiel der Immigration und Integration konstruiert und den aktuellen Schwierigkeiten mit Einwanderern vor allem aus Nordafrika entgegengestellt. Für Letztere ist ihre eigene Geschichte oft kein Grund für ‚Stolz‘, da sie teilweise, wie Mody, in die Illegalität gedrängt werden, ihren Lebensunterhalt kaum bestreiten können, keinen Zugang zu Bildung oder Berufen bekommen oder von der Gesellschaft ausgeschlossen werden. Das Zeugnis Modys zeigt dies: Er beschließt, ohne es wirklich zu wollen, aber durch seine Lebensumstände gezwungen, nach Frankreich auszuwandern, über ein Urlaubsvisum, weil ihm ein Studienvisum mehrmals ohne Angabe von Gründen verweigert wurde. In Frankreich gleitet er so in eine illegale Situation ab und wird zum Sans-papiers. Es ist sicherlich schwierig, als persönlich von so einem Schicksal Betroffener, in diesem Schicksal einen Mehrwert für eine Galerie in einem Museum zu sehen, in der sich Immigranten präsentieren, die ihre erfolgreiche Integration mit nationalen Auszeichnungen krönen können. Es werden hier eine Art von Haltung und ein Beitrag von Migranten eingefordert, mit denen viele sich nicht identifizieren können. 2.3c
Die Ausstellung zur Vergangenheit des Palais de la Porte Dorée
Neben den beiden dauerhaften Sammlungsteilen im zweiten Geschoss, die sich maßgeblich der Zielsetzung der CNHI, die Geschichte der Immigration zu vermitteln, widmen, existiert seit Ende des Jahres 2013 eine Ausstellung zur Geschichte bzw. Vergangenheit des Gebäudes.575 Sie ist ein dauerhafter Bestandteil des Hauses, der den Besuchern durchgängig zugänglich ist. Sie war nun nach sechs Jahren endlich umgesetzt worden und geht auf die Forderungen einiger Akteure, insbesondere Bancels und Blanchards, zurück, die koloniale Vergangenheit des Gebäudes einbeziehen zu
Vgl. EP Porte Dorée (Hrsg.), Rapport d’activités de l’Etablissement Public de la PorteDorée (2012), S. 11 ff. 575
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müssen. Die Schaffung dieses Ausstellungsteils geht dabei auch auf die Neu-Positionierung der EP zurück: 2012 wurden CNHI und Aquarium in einen gemeinsamen Établissement public eingeschmolzen, der nun den Namen Palais de la Porte Dorée trug. Dies hatte programmatisch zur Folge, dass der Palais als Monument mit seinem historischen und kulturellen Erbe aufgewertet und verstärkt an das Publikum vermittelt werden sollte.576 Die konkrete Umsetzung und Gestaltung dieses Ausstellungsteils spricht jedoch weniger für eine Integration des Themas koloniale Vergangenheit in den Ansatz der Institution als vielmehr für einen Versuch, das Thema weiterhin auf Distanz zu halten. Allein die räumliche Positionierung erweist sich als problematisch: Die Ausstellung wurde im Zwischengeschoss des Gebäudes auf halber Strecke zwischen Erdgeschoss und dem Obergeschoss, in dem sich die Dauerausstellung befindet, untergebracht. Sie befindet sich auf den beiden Galerieabschnitten, die sich auf dieser Etage um die Auslassung im Deckenbereich des Atriums befinden, auch als ‚Mezzanine‘ bezeichnet. Im Erdgeschoss und auch im Treppenhaus gibt es keine expliziten Hinweise auf die Ausstellung (Stand 2016); erst wenn der Besucher unmittelbar vor den Galerien steht, wird ihm über eine Beschilderung angekündigt, dass es hier eine Ausstellung zur Geschichte des Gebäudes gäbe. Auch in der darüber liegenden Dauerausstellung gibt es keine Hinweise auf die Ausstellung (Stand 2016). Der Besucher muss also entweder gezielt selbst danach suchen oder gerät durch Zufall in diesen Ausstellungsteil. Die Gestaltung der Ausstellung selbst lässt sie eher als Illustration denn als umfassende und differenzierte Ausstellung zur Geschichte des Gebäudes erscheinen: Sie besteht aus 23 Texttafeln und einigen zusätzlichen Tafeln, die Bild- und Archivmaterial zeigen. Diese befinden sich als große, bedruckte Holztafeln in einer Art Rahmen, sodass sie schräg an die Wand gelehnt Halt finden. Ergänzt wird diese Präsentation durch einige Vitrinen mit Originalobjekten oder Werken aus der jeweiligen Zeitspanne. Die konkrete Präsentationsform macht einen temporären Eindruck: Die Tafeln sind nicht an den Wänden fixiert und wirken so, als ob sie jeder Zeit wieder entfernt werden könnten. Dies mag einerseits mit den hier an der Wand befindlichen, zu schützenden Fresken zu tun haben. Andererseits lässt es diesen Ausstellungsteil unvollständig und weniger bedeutend wirken. Weiterhin irritiert, dass das Ausstellungsdesign sich ganz offensichtlich besonders geschmeidig in die Farb- und Materialgestaltung des Gebäudes einfügen möchte: Die Wahl des Holzes für den Rahmen, besonders seine Farbe, fügen sich in die exotischen Wandmalereien aus der Zeit der Exposition coloniale ästhetisch ein und erinnern bisweilen an die ursprüngliche Gestaltung des Museums, beispielsweise zu Zeiten des MFOM – seine Holzvitrinen, die die Produkte aus den Kolonien zeigten.577 Vgl. ebd. S. 7 ff. In dem Jahresbericht von 2012 wird hierzu erwähnt, dass als zentrales Auswahlkriterium für den Szenografen dieser Abteilung galt, dass er möglichst die ursprüngliche Architektur und Raumgestaltung 576 577
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Die 23 Tafeln entsprechen inhaltlich 23 thematischen Abschnitten, die die Geschichte des Gebäudes von 1931 bis 2011/12 in vier großen Phasen nachzeichnen. Allen Entwicklungsstufen der Institution, von der Exposition coloniale bis zur heute hier untergebrachten CNHI, wird damit Rechnung getragen. Dabei fällt auf, dass der Exposition coloniale mit sieben Thementafeln deutlich mehr Platz zugestanden wird als den anderen Abschnitten, wie der Phase des MFOM und des MAAO, die jeweils nur ca. fünf Thementafeln beanspruchen. Auch die CNHI wird hier mit fünf Thementafeln bedacht. Auf den ersten Blick überraschend, wird bei den thematischen Abschnitten, die die CNHI betreffen, die Problematik des Ortes und die dazugehörige Diskussion aufgegriffen. Kurz nach der inhaltlichen Erläuterung der Ursprünge der Idee eines Immigrationsmuseums in den 80er Jahren wird die bewusste Wahl dieses Ortes erläutert: Un point majeur restait à éclaircir : quel lieu pour accueillir la nouvelle institution ? Dès les premières discussions, il est question de choisir « un lieu central, emblématique, si possible un monument de la capitale ». Le palais de la porte Dorée est rapidement privilégié. Cette hypothèse apparaît comme la plus réaliste d’un point de vue technique et financier mais surtout comme la plus symbolique. En choisissant le Palais, il s’agissait de dépasser le point de vue du colon sur l’Ailleurs pour décrire le mouvement strictement contraire de celui qui, venant de l’extérieur, participe à l’élaboration de la France d’aujourd’hui et de demain.578
Hier taucht das bereits erwähnte Narrativ der ‚Umdeutung‘ des Gebäudes auf, das noch ausgebaut wird zu einer ‚Umkehrung‘ der Perspektive: Der koloniale Blick auf das Andere werde in einen Blick verkehrt, der sich nun auf den richte, der von außen komme und zum Frankreich von heute beitrage. Dies unterscheidet sich allerdings nicht so fundamental, wie suggeriert wird, von der ursprünglichen Perspektive auf die Kolonien: Auch die hier lebenden Kolonisierten wurden durch ‚ihren (vor allem wirtschaftlichen) Beitrag‘ als wertvoll und eine Bereicherung für die ‚Plus grande France‘ gesehen. Zumindest zeigt genau das die Darstellung an der Frontfassade des Gebäudes (Relief von Janniot). Trotzdem wird dieser angebliche Perspektivwechsel als fundamental angesehen, um die Unterbringung des Immigrationsmuseums im Kolonialpalast zu rechtfertigen. Anschließend wird auf die Umbauarbeiten durch Bouchain eingegangen und auf sein Credo, das Erbe Laprades durchaus auch erhalten zu wollen. Dieser wird zitiert und äußert, dass dieser Palast mit der Republik an sich vergleichbar sei, die eben mal mehr, mal weniger gute Dinge tue und immer bereit sei, die Perspektive und ihre Ausrichtung zu wechseln. So sei dies auch bei dem Palais – an dieser Stelle klingt erneut respektieren müsse. Vgl. EP Porte Dorée (Hrsg.), Rapport d’activités de l’Etablissement Public de la PorteDorée (2012), S. 11 ff. 578 Eigenständig transkribierter Auszug der Texttafel „Faire connaître et reconnaître l’apport de l’immigration en France“ der Ausstellung.
Entwicklung seit der Eröffnung 2007 bis heute
der relativ naive Umgang mit dem Erbe des Palais durch. Die Schwierigkeiten, die die CNHI dabei gerade im Kontext der Eröffnung, aber auch während der Besetzung durch die Sans-papiers bewältigen musste, werden erwähnt und erläutert. Jedoch dienen sie am Ende der entsprechenden Tafel als identitätsstiftendes Moment: „Même si cette époque (de l’occupation par des sans-papiers) a été difficile pour les travailleurs en grève comme pour l’institution patrimoniale, le Palais apparaît comme un „lieu symbolique“, comme un lieu de débat sur les enjeux contemporains.“ Diese Überführung eines eigentlich konfliktuellen Aspekts der CNHI und ihrer Geschichte sowie des Ortes in einen abgerundeten, einheitsstiftenden Diskurs, der die eigene Identität als gefestigt erscheinen lässt, wird auch auf der letzten Tafel fortgesetzt. Inhaltlich wird zuerst der Widerstand gegen den Ort und der Protest sowie die Forderung Bancel und Blanchards nach einem Kolonialmuseum als Thema aufgenommen: À l’annonce du choix du Palais de la porte Dorée, des voix s’élevèrent. Certains craignaient une superposition et une confusion entre l’histoire coloniale et l’histoire de l’immigration et réclamaient plutôt un « musée de la colonisation ». Si Colonisation et immigration entretiennent des liens évidents, ces histoires se recoupent mais ne se confondent pas. Depuis l’Asie, l’Amérique du Sud ou depuis d’autres États européens, les migrations du XXème et du XXIème siècles ne cessent de vérifier cette distinction. Pourtant, la stigmatisation des étrangers, en partie héritée de la période coloniale, est loin d’avoir disparue de l’inconscient collectif. Une des missions de la Cité est précisément de battre en brèche ces stéréotypes, de déconstruire l’imagerie coloniale, de regarder vers le futur en bonne connaissance du passé et du présent. Le Palais de la porte Dorée est désormais reconnu et identifié comme un lieu à multiples strates historiques : un ancien palais des colonies fleuron de l’art colonial et du style Art déco, un aquarium tropical, mais aussi un lieu dédié à l’immigration. Un lieu où il est possible de parler de toutes les migrations. L’histoire complexe des liens unissant la France avec l’Ailleurs – avec l’indigène, l’étranger puis le migrant selon les époques – est convoquée en « arrière plan ». Des artistes s’intéressent à ce lieu et à son histoire « renversante ». Des migrants viennent y déposer des objets emblématiques et personnels. Le bâtiment entame une nouvelle vie tout en explicitant son histoire. Depuis 2012, la Cité et l’Aquarium sont désormais rassemblés en un unique établissement : l’Établissement public du Palais de la porte Dorée. Tout en préservant les spécificités et les missions de chacun, cela permet de retrouver l’unité originelle du Palais et de mettre à disposition de tous les visiteurs l’ensemble de ses espaces.579
Erneut wird hier auf die Beziehung der Geschichte des Kolonialismus und der Immigrationsgeschichte verwiesen, um aber gleich darauf ihre notwendige Separierung zu
Eigenständige Transkription der Texttafel „Ce lieu a un côté symbolique indéniable. Il faut que nous puissions dire sans crainte: l’immigration n’est pas un tabou mais un atout pour la France.“ der Ausstellung. 579
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affirmieren: Natürlich gebe es Kontaktpunkte, aber sie würden sich eben nicht bedingen und seien daher nicht zu vermischen. Trotzdem wird immerhin der Fortbestand bestimmter Rassismen und Diskriminierungen, die aus der Kolonialzeit geerbt sind, eingestanden – aber nur, weil man im folgenden Satz verdeutlichen kann, dass es ja genau eine wichtige Aufgabe der CNHI sei, solche Stereotype aufzubrechen. Zudem sei der Palais mittlerweile mit all seinen historischen Geschichten anerkannt und würde diesen Rechnung tragen – er habe ein neues Leben begonnen und gleichzeitig seine Geschichte explizit gemacht. Inwiefern und durch welche Mittel das geschieht, bleibt offen. Abschließend wird alles in einen versöhnenden Diskurs der Wiedervereinigung aller Teile des Museums, also auch der CNHI und des Aquariums, dem Teil des Hauses, der explizit ein Erbstück der Kolonialzeit ist, zusammengeschmolzen. Insgesamt macht dieser Ausstellungsteil einen stark ‚geschlossenen‘ Eindruck: Alle geschilderten Phasen und Entwicklungen des Museums scheinen vergangen, abgeschlossen und führen zu einem zufriedenstellenden Resultat. Man hat zwar verschiedene Schwierigkeiten und Probleme erlebt, diese aber erfolgreich bewältigt, sodass sie am Ende zur gelungenen Identitätsstiftung des Ortes beitragen konnten. Die Verbindung zwischen kolonialer Vergangenheit des Ortes und Vermittlung der Immigrationsgeschichte heute wird auch hier wieder nicht hergestellt. Die ‚koloniale Ära‘ erscheint als ‚Thema für den Geschichtsunterricht‘: Die Texttafeln und die dazugehörigen Ausstellungsstücke weisen sie als vergangene und abgeschlossene Periode der französischen Geschichte aus. Und auch wenn die Kritik an der Wahl des Ortes aufgenommen wird und immerhin mit einem Satz auf die mögliche Kontinuität von kolonialem Denken damals und Rassismus heute hingewiesen wird, scheinen die beiden Erinnerungsschichten dieses Ortes wieder als getrennt. Die zuvor analysierte Erscheinungsform der Ausstellung verstärkt diesen Eindruck: Der Besucher muss hier zu der Überzeugung gelangen, dass es sich wohl um eine Art Illustration der Geschichte des Gebäudes handelt, die aber nichts mit dem ‚eigentlichen‘ Museum, der Dauerausstellung etc. zu tun hat und damit auch kein notwendiger Bestandteil des Besuchs ist. Museumspädagogische Vermittlung des kolonialen Erbes Allerdings ist diese Ausstellung nicht der erste Versuch der CNHI, mit der Vergangenheit des Gebäudes museologisch und museumspädagogisch umzugehen: Relativ direkt nach der Eröffnung der CNHI wurde ein ‚Mini-guide‘ zur ‚Histoire du palais de la Porte Dorée‘ gedruckt und dem Publikum zur Verfügung gestellt.580 Er verfolgt ganz offensichtlich ein ähnliches Konzept wie die jetzige Ausstellung: Es wird offen auf die Geschichte des Ortes hingewiesen, aber das Projekt des Immigrationsmuseums
580
Vgl. CNHI (Hrsg.), Mini Guide – Histoire du Palais de la Porte Dorée.
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scheint wie getrennt von diesem Aspekt, gleichsam als ob sich Immigrationsmuseum und Kolonialpalast in zwei unterschiedlichen Universen befänden, die nur durch die aktuelle zeitliche Parallelität einen Berührungspunkt fänden. Den Parcours bzw. die Informationen, die der ‚Mini-Guide‘ bereithält, verweisen einerseits auf die Geschichte des Gebäudes, vor allem auf die Exposition coloniale. Andererseits soll er dem Besucher helfen, die einzelnen architektonischen Stilelemente und die Gestaltung der Räumlichkeiten zu verstehen: So werden die beiden ovalen Büros an den Ecken des Gebäudes, der Salle des fêtes und das Relief der Frontfassade entschlüsselt. Zudem wird auf den Kontext des Gebäudes in historischer, architektonischer und stilistischer Hinsicht eingegangen. Daher wird der Kontext des Empire Frankreichs in den 30er Jahren neben Erläuterungen zur klassischen Architektur, der Art décoratif der 30er Jahre sowie den exotischen Anleihen der Architektur bei nordafrikanischen und fernöstlichen Stilelementen aufgeführt. Der Palais erscheint als historisches Monument einer längst vergangenen Ära dargestellt. Die Pracht und der Stil des Gebäudes können hier dazu genutzt werden, von der Ambivalenz des Ortes abzulenken, um ihn als einzigartiges architektonisches Meisterwerk seiner Zeit, als emblematisches Beispiel des Art déco, zu analysieren. Eine ähnliche, wenn auch auffällig ambivalentere Haltung zum Ort offenbart der ‚pädagogische Parcours‘, der für die Geschichte des Gebäudes entwickelt wurde.581 Er sieht eine Perspektivierung vor, die sich ausschließlich mit dem Gebäude selbst und seiner Umgebung befasst. Zudem richtet er sich an alle Altersstufen und Schulformen, es wird hier nicht weiter differenziert. Der erste Teil des Parcours widmet sich dem urbanen Umfeld des Palais des Colonies. Dies geschieht über eine recht neutrale, beschreibende Ebene: Zwar wird auf das Denkmal zu Ehren General Marchands gegenüber dem Palais hingewiesen und es findet sich in dem Beiheft des Parcours ein kleiner Text zum Kontext der Mission Marchand und der Faschoda-Krise, jedoch wird jegliche kritische Betrachtungsweise ausgeblendet – besonders die Tatsache, dass sich ein solches Denkmal auch heute noch an einem öffentlichen Ort, in einem Park, finden lässt, wird nicht aufgegriffen. Diesem relativ kurzen Abschnitt folgt ein weiterer Abschnitt, der sich mit dem äußeren Erscheinungsbild des Palais beschäftigt: Dabei steht der architektonische Stil des Gebäudes klar im Fokus. Es werden zwar die Begriffe ‚art colonial‘ und ‚Exotismus‘ in diesem Zusammenhang eingebracht, sie werden aber vorerst nicht weiter erklärt. Hier wie auch in den übrigen Abschnitten des Parcours wird Wert auf die Kenntnis der Namen der Architekten und beteiligten Künstler und Designer gelegt. Dies scheint eine eher unkritische Lesart des Gebäudes als ‚Meisterstück‘ damaliger Bau- und Ausstattungskunst nahezulegen. Doch gleichsam als Gegengewicht zu dieser Perspektive wird anhand der ausführlichen Analyse des Außenreliefs Vgl. Palais de la Porte Dorée (Hrsg.), 1931. Le Palais de la Porte Dorée – Parcours (octobre 2008), URL: http://www.histoire-immigration.fr/sites/default/files/atoms/files/parcours_pedago_palais.pdf (Zugriff 25.07.2017). 581
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von Janniot versucht, eine kritischere Note einzubringen: Nach einer ausführlichen Aufschlüsselung der einzelnen Elemente der Darstellung werden die SchülerInnen danach gefragt, ob die vorgefundene Darstellung der ‚tatsächlichen Realität‘ in den Kolonien entspreche. Zwar ist unklar, ob das alle SchülerInnen aller Altersklassen so ‚aus dem Stegreif ‘ beantworten könnten, ohne entsprechende Kontextinformationen – aber es wird an dieser Stelle zum ersten Mal versucht, den Kolonialismus der damaligen Zeit und seine hiesige Präsentation kritisch zu beleuchten. Ähnliches kann für die Thematisierung der Namensliste der Kolonialhelden an der Seite des Gebäudes festgestellt werden. Nach einer relativ wertneutralen Analyse einzelner Teile wird die Frage nach dem noch freien Platz am Ende der Liste gestellt: An dieser Stelle ließe sich eine kritische Diskussion über die Wirkmacht und Bedeutung des Empire zur damaligen Zeit anschließen. Das doppelte Vorgehen, das sich einerseits an Formelementen, andererseits an inhaltlichen Interpretationen und historischen Kontexten orientiert, wird auch für das Innere des Palais und damit den dritten Abschnitt des Parcours verwendet: Vor allem die exotischen Motive und die Inspiration durch die Ästhetik anderer Kulturen stehen formal, stilistisch im Vordergrund. Einen weiteren großen Fokus bildet das Mobiliar der beiden ovalen Büros, das für den ‚Art Déco‘-Stil steht und von zwei sehr bekannten Designern ihrer Zeit gestaltet wurde. Allerdings taucht bei der Besprechung des Büros von Kolonialminister Reynaud, das die afrikanische Kultur thematisiert, völlig unvermittelt ein Querverweis auf: Neben dem Bild der Fresken aus dem Büro wird ein Foto von Josephine Baker im ‚Bananenrock‘ präsentiert. Diese beiden Aufnahmen sollen verglichen werden, um dann abzuleiten, welche Stereotype hier in Bezug auf Afrikaner hergestellt werden. Dieses Vorgehen bleibt einmalig, leider wird kein Verweis auf die Dauerausstellung eingebaut – obwohl Baker auch ein Thema ist. Ähnlich wie im Fall der Außenfassade wird in diesem Fall das Fresko von Ducos de Haille im Salle des fêtes recht ausführlich entschlüsselt. Besonders die verschiedenen Allegorien werden fokussiert – sie geben Anlass, zwei kritische Punkte anzusprechen, die Anknüpfungspunkte für eine Diskussion bieten können: Zum einen wird darauf hingewiesen, dass es zeitgenössisch Kritik an der Darstellung der Allegorie der Gerechtigkeit vor dem Hintergrund des französischen Kolonialismus gab. Zum anderen wird danach gefragt, warum es eventuell problematisch sei, auch Amerika darzustellen und den anderen ‚kolonialen‘ Kontinenten zuzuordnen. Insgesamt bleiben im Falle des Parcours trotz der ausführlichen Thematisierung des Entstehungskontexts und des Bildprogrammes des Palais die kritischen Anmerkungen und Anregungen zur kontroversen Diskussion eher dünn gesät. Bezüge zwischen der damaligen Wahrnehmung und Repräsentation des ‚Anderen/Fremden‘ und der heutigen Wahrnehmung und Repräsentation werden so gut wie gar nicht hergestellt, außer im Falle des Vergleichs der Darstellungen im Palais mit dem Bild Bakers und der Frage nach den Stereotypen, die solche Darstellungen provozierten. Der Palais wird hier, ähnlich wie es einige Akteure, die bereits in der Planung den Ort befürworteten, sahen, als prunkvoller Palast einer vergangenen
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Zeit, ein stilistisches Meisterwerk interpretiert. Diese Sichtweise verharmlost seine ursprüngliche Funktion als gebaute Propaganda und verhilft den SchülerInnen nur sehr sporadisch zu einem differenzierten Verständnis und einer fundierten Einordnung dieses ‚Lieu de mémoire‘. Allerdings gibt es mittlerweile ein bebildertes Themenheft, das nach 2012 erschienen ist, das ein sehr viel differenzierteres Bild des Palais zeichnet: Unter dem Titel „Images des colonies au Palais de la Porte Dorée“ analysiert David Francis Lambert äußerst differenziert und kritisch das Bildprogramm des Palais. Er geht dabei vom ursprünglichen Entstehungskontext aus und analysiert die Funktion des Palais als „une encyclopédie de la puissance impériale dont la fonction est de convaincre une opinion publique majoritairement indifférente.“.582 Er thematisiert sowohl das Außenrelief als auch die Innenfresken im Salle des fêtes und die beiden ovalen Büros. Dabei entschlüsselt er die Darstellungen klar als koloniale Propaganda und verbindet sie mit der sozialdarwinistischen Hierarchie der Kulturen als Konzept der damaligen Zeit sowie dem Verständnis des Empire, das sich hier zeigt, als „une machine en action dont les rouages confortent la puissance économique de la France“.583 Er schließt mit der Feststellung: Le Palais de la Porte Dorée avait l’ambition de proposer à ses visiteurs un programme iconographique insistant sur le caractère indispensable de l’Empire : sans lui, la France ne pouvait se maintenir au niveau d’une puissance mondiale à vocation universelle. Comme l’Exposition coloniale dont il était le seuil, il voulait incarner la « mission civilisatrice » de la France dans ses colonies et la populariser auprès de tous les Français par les arts et la culture.584
Leider findet sich ein derart klarer und kritischer Umgang mit dem Ort nur in diesem Beiheft, das zwar im Museum ausliegt, den Besuchern aber nicht explizit gegeben oder darauf hingewiesen wird (Stand 2016). 2.3d
Wechselausstellungen
Die CNHI leitete 2007 ihren durchgängig zwei bis drei Mal pro Jahr geplanten Zyklus von Wechselausstellungen mit einer Fotoausstellung zum Werk von Frederic August Sherman ein. Sherman hatte als Beamter auf der Insel Ellis Island in New York fotogra-
Lambert, David Francis, Images des Colonies au Palais de Porte Dorée, in: Palais de la Porte Dorée / Musée de l’histoire de l’immigration (Hrsg.), Images des colonies au Palais de la Porte Dorée. S. 3. 583 Lambert, David Francis, Les Bas-Reliefs, in: Palais de la Porte Dorée / Musée de l’histoire de l’immigration (Hrsg.), Images des colonies au Palais de la Porte Dorée. S. 6. 584 Lambert, David Francis, Conclusion, in: Palais de la Porte Dorée / Musée de l’histoire de l’immigration (Hrsg.), Images des colonies au Palais de la Porte Dorée. S. 14. 582
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fisch die verschiedenen Einwanderer, die nach New York kamen, um in die USA einzuwandern, dokumentiert. Seine Arbeit liefert damit ein umfassendes Panorama der Migranten seiner Zeit. Offensichtlich wollte man vonseiten der CNHI im Bewusstsein aller Unterschiede zu dem durchaus als Modell verhandelten Museum auf Ellis Island eine Verbindung herstellen. Zwar war schon im ersten Bericht der AMHI in den 90er Jahren das Museum auf Ellis Island als ungeeignetes Vorbild befunden worden, da es eine spezifische, an den Ort gebundene und als ‚abgeschlossen‘ betrachtete Form der Geschichte der Immigration erzähle, trotzdem, so scheint es, wollte man sich hier gerne als französisches Ellis Island darstellen. Schließlich ist das Museum in den USA ein prestigeträchtiger Ort, der Unmengen von Besuchern anzieht und sich großen Erfolgs erfreut. Mit dieser Ausstellung wurde der Reigen an sehr unterschiedlichen Ausstellungen eröffnet, die von 2007 bis heute in der CNHI/MNHI stattgefunden haben: Neben umfangreichen thematischen Ausstellungen, die Aspekte der Dauerausstellung inhaltlich ergänzen sollten, gab es auch kleinere Ausstellungen, die einerseits den Partnern des Netzwerks, wie Génériques, Gelegenheit gaben, ausgewählte Themen zu präsentieren. Andererseits gab es auch kleinere Ausstellungen zu einzelnen Beispielen aus der Bildenden Kunst: Hier lag ein besonderer Fokus auf der Fotografie. Über dieses Medium konnte einerseits die Repräsentation eines bestimmten Aspekts der Immigration im Bild thematisiert werden und andererseits das Werk berühmter Fotografen, die auch teilweise selbst Erfahrungen mit Migration hatten, in den Blick genommen werden. Beispiele hierfür sind die Fotografen Alessandro Grassani, Roberto Battistini oder Gérald Bloncourt. Die großen thematischen Ausstellungen dauerten dabei in der Regel deutlich länger, zwischen fünf und neun Wochen, im Gegensatz zu den kleineren Ausstellungen, die teilweise nur ein bis zwei Wochen dauerten. Die thematischen Schauen wurden häufig von wissenschaftlichem Personal, das bereits in der Planungsphase der CNHI dabei gewesen war bzw. aktuell im wissenschaftlichen Beirat saß, begleitet. So wurden thematische Ausstellungen von Benjamin Stora, Janine Ponty, Yvan Gastaut, Driss El Yazami und Catherine Wihtol de Wenden betreut bzw. teilweise auch kuratiert. Bei der Betrachtung der dazugehörigen Ausstellungskataloge ist zu ergänzen, dass die Katalogtexte umfangreich von verschiedensten Wissenschaftlern aus dem Bereich der Forschung zur Immigration verfasst wurden. Oct. 2016 – Janvier 2017
Vivre (La collection agnes b. au MNHI)585
Mars – Juin 2016
Affiches contre le racisme
Mars – Avril 2016
Addenda (par Combo Culture Kidnapper)586
Vgl. URL: https://www.histoire-immigration.fr/musee-numerique/expositions-temporaires/vivre (Zugriff 10.02.2020). 586 Vgl. URL: http://www.histoire-immigration.fr/agenda/2016–02/addenda (Zugriff 15.07.2017). 585
Entwicklung seit der Eröffnung 2007 bis heute
Novembre 2015 – Juillet 2016
Frontières587
Nov. 2015 – Janv. 2016
Destins croisés – Migrations, Environnement et climat (Photographies d’Alessandro Grassani)588
Novembre 2015
L’Autre comme Horizon (Photographies) (Exposition organisée à l’initiative de l’association France Horizon).589
Sep. – Octobre 2015
Les Juifs étrangers ont défendu la France
Juin – Septembre 2015
Installation Perruques (Meschac Gaba)590
Déc. 2014 – Juin 2015
Fashion Mix591
Novembre 2014
Memoria Corse 1943. Les combattants de la liberté (Photographies de Roberto Battistini)592
Sep. – Octobre 2014
Mémoires Tribulantes, carnets d’objets sans frontières (Résidence des Carnettistes tribulants)593
Janv. – Fév. 2014
Dessiner Cioran (Dessins de Dan Perjovschi)594
Oct. 2013 – Avril 2014
Albums – Bande dessinée et immigration. 1913–2013595
Mai – Juillet 2013
Pour une vie meilleure (Photographies de Gérald Bloncourt)596
Oct. 2012 – Mai 2013
Vies d’exil – 1954–1962. Des Algériens en France pendant la guerre d’Algérie597
Février – Mai 2012
Migrants en Guyane (Photographies de Frédéric Piantoni)598
Vgl. MNHI (Hrsg.), Frontières, Paris 2016 und URL: http://www.histoire-immigration.fr/agenda/ 2015–06/exposition-frontieres (Zugriff 15.07.2017). 588 Vgl. URL: http://www.histoire-immigration.fr/agenda/2015–11/destins-croises-migrations-environ nement-et-climat (Zugriff 15.07.2017). 589 Vgl. „L’autre comme Horizon“ – dossier de presse, URL: http://www.france-horizon.fr/app/we broot/kcfinder/files/DP%20EXPOSITIONS%20L_AUTRE%20COMME%20HORIZON.pdf (Zugriff 15.07.2017). 590 Vgl. Asimi, Roxana, Les perruques mythiques et mystérieuses de l’artiste béninois Meschac Gaba, in: Le Monde (27.07.2015) und URL: http://www.histoire-immigration.fr/agenda/2015–04/installationde-meschac-gaba-perruques 591 Vgl. Saillard, Olivier (Hrsg.), Fashion Mix. Mode d’ici. Créateurs d’ailleurs, Paris 2014. 592 Vgl. URL: http://www.histoire-immigration.fr/agenda/2014–10/memoria-corse-1943-les-combatta nts-de-la-liberte (Zugriff 15.07.2017). 593 Vgl. URL: http://www.histoire-immigration.fr/agenda/2014–07/exposition-memoires-tribulantescarnets-d-objets-sans-frontiere (Zugriff 15.07.2017). 594 Vgl. URL: http://www.histoire-immigration.fr/agenda/2013–12/dessiner-cioran (Zugriff 15.07.2017). 595 Vgl. MNHI (Hrsg.), Albums, des histoires dessinées entre ici et ailleurs: bande dessinée et immigration (1913–2013), Paris 2013 und URL: http://www.histoire-immigration.fr/musee-numerique/expositi ons-temporaires/albums-bande-dessinee-et-immigration-1913–2013 (Zugriff 15.07.2017). 596 Vgl. URL: http://www.histoire-immigration.fr/agenda/2013–02/pour-une-vie-meilleure-photograp hies-de-gerald-bloncourt (Zugriff 15.07.2017). 597 Vgl. Stora, Benjamin / Amiri, Linda (Hrsg.), Algériens en France. 1954–1962: la guerre, l’exil, la vie, Paris 2012. 598 Vgl. URL: http://www.france-terre-asile.org/actualites/actualites/evenements-a-venir/migrants-enguyane-photographies-de-frederic-piantoni und URL: http://www.histoire-immigration.fr/agenda/2011–10/ migrants-en-guyane-photographies-de-frederic-piantoni (Zugriff 15.07.2017). 587
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Nov. 2011 – Juin 2012
J’ai deux amours (Présentation des collections d’art contemporain de la CNHI)599
Mars – Août 2011
Polonia, des Polonais en France depuis 1830600
Février – Juillet 2011
Roman Cieslewicz. Zoom (écho à l’exposition Polonia)
Mai – Octobre 2010
Allez la France! Football et immigration, histoires croisées601
Nov. 2009 – Avril 2010
Générations, un siècle d’histoire culturelle des Maghrébins en France602
Sep. 2009 – Janv. 2010
Mohamed Bourouissa / Mathieu Pernot (Photographies)603
Oct. 2009 – Nov. 2009
Carte Blanche à Elele: Art contemporain604 (Nil Yalter, Ahmet Sel, Handan Börüteçene)
Juillet – Sep. 2009
1 et millions – Exposition photographique de Karine Saporta605
Mai – Oct. 2009
Ma proche banlieue – Patrick Zachmann – Photographies 1980–2007606
Avril – Mai 2009
Au Travail, images du chantier 2 (Exposition multimédia réalisée en co-production avec l’association Aidda)607
Déc. 2008 – Avril 2009
À chacun ses étrangers? France – Allemagne – de 1871 à aujourd’hui608
Oct. – Novembre 2008
Mois de la photo à Paris 2008: Gurbet/El Maghreb, exil/occident lointain (Photographies de Bruno Boudjelal et Malik Nejmi)
Mai – Octobre 2008
1931, les étrangers au temps de l’exposition coloniale609
Nov. 2007 – Janvier 2008
Ellis Island – portraits d’Augustus Sherman (Photographies)610
Vgl. CNHI/Gruson, Luc (Hrsg.), La collection d’art contemporain, Paris 2011. Vgl. Ponty, Janine (Hrsg.), Polonia. Des Polonais en France de 1830 à nos jours, Paris 2011. Vgl. Boli, Claude / Gastaut, Yvan / Grognet, Fabrice (Hrsg.), Allez la France! Football et immigration, Paris 2010. 602 Vgl. El Yazami, Driss / Gastaut, Yvan / Yahi, Naima (Hrsg.), Générations. Un siècle d’histoire culturelle des Maghrébins en France, Paris 2009. 603 Vgl. URL: http://www.histoire-immigration.fr/agenda/2010–07/mohamed-bourouissa-mathieu-pe rnot-photographies (Zugriff 15.07.2017). 604 Vgl. URL: http://www.histoire-immigration.fr/musee-numerique/expositions-temporaires/carteblanche-elele (Zugriff 15.07.2017). 605 Vgl. URL: http://www.histoire-immigration.fr/agenda/2010–07/1-et-millions-exposition-photogra phique-de-karine-saporta (Zugriff 15.07.2017). 606 Vgl. URL: http://www.histoire-immigration.fr/musee-numerique/expositions-temporaires/ma-pro che-banlieue-patrick-zachmann-photographies-1980–2007 (Zugriff 15.07.2017) 607 Vgl. URL: http://www.histoire-immigration.fr/agenda/2010–07/exposition-au-travail-images-duchantier-2 (Zugriff 15.07.2017). 608 Vgl. Amar, Marianne / Poinsot, Marie / Wihtol de Wenden (Hrsg.), A chacun ses étrangers? FranceAllemagne de 1871 à aujourd’hui, Arles 2009. 609 Vgl. Blévis/Lafont-Couturier/Snoep/Zalc (Hrsg.), 1931. Les étrangers au temps de l’Exposition coloniale. 610 Vgl. URL: http://www.histoire-immigration.fr/agenda/2010–07/ellis-island-portraits-d-augustussherman (Zugriff 15.07.2017). 599 600 601
Entwicklung seit der Eröffnung 2007 bis heute
Im Folgenden werden die großen thematischen Wechselausstellungen im Fokus stehen, da diese deutlich den Ansatz zeigen, Fehlstellen der Dauerausstellung ausgleichen zu wollen bzw. ein Gleichgewicht zugunsten bestimmter Immigranten-Gruppen (beispielsweise Algerier, Maghrebiner, Polen, Italiener) herstellen zu wollen. Sie können daher als wichtiges temporäres Element der museologischen Gestaltung gesehen werden, das Aufschluss darüber gibt, wo das Museum Ergänzungsbedarf gesehen hat und wie es diesen ausgleichen wollte. Andererseits versuchen diese Ausstellungen explizit die Zielsetzung der CNHI, nämlich die Wahrnehmung in Bezug auf Immigration verändern zu wollen und Stereotype aufzubrechen, zu erfüllen. Die Ausstellungsmacher beziehen sich teilweise direkt in ihren Stellungnahmen auf diese Ziele und legitimieren damit ihren Ausstellungsansatz. Daher können die Wechselausstellungen als ein wichtiger Faktor für die Beurteilung der tatsächlichen Wirkmacht der CNHI gesehen werden. Innerhalb dieses Fokus auf die umfangreichen inhaltlichen Wechselausstellungen werden drei Ausstellungen ausführlicher besprochen. Diese Auswahl rechtfertigt sich darüber, dass diese Beispiele in besonderem Maße die Fehlstelle der Kolonisation und Dekolonisation und ihre Verbindungen zur Immigrationsgeschichte aufgreifen und eine Interpretation diesbezüglich anbieten: ‚1931, les étrangers au temps de l’exposition coloniale‘, ‚Générations, un siècle d’histoire culturelle des Maghrébins en France‘, ‚Vies d’exil – 1954–1962. Des Algériens en France pendant la guerre d’Algérie‘. Die übrigen thematischen Ausstellungen werden durchaus auch in diese Analyse einbezogen – vor allem um verschiedene Typen von Ausstellungen mit ihrer Funktion ausmachen zu können und generelle Tendenzen innerhalb der Wechselausstellungen ableiten zu können. ‚1931, les étrangers au temps de l’exposition coloniale‘ Die Ausstellung ‚1931, les étrangers au temps de l’exposition coloniale‘ war dem Ursprung des Ortes, des Gebäudes, an dem sich die CNHI seit 2007 befand, gewidmet. Sie kann daher als Zugeständnis an die Debatten und die Kritik verstanden werden, die bereits während der Planungsphase bezüglich der Ortswahl aufkamen. Man wollte hier vonseiten der Institution gleich mit der ersten großen thematischen Wechselausstellung ein Zeichen setzen und sich damit auch ein stückweit der immer noch schwelenden Kritik an dem Ort der Institution entziehen. Umso interessanter erscheint vor diesem Hintergrund die Wahl Jacques Hainards, dem damaligen Leiter des Musée d’ethnographie de Genève, als Kurator der Ausstellung. Er taucht bereits in den mit den verschiedenen Akteuren geführten Interviews als wichtiger Gesprächspartner u. a. auch für Jacques Toubon in der Planungsphase auf: Er wird besonders für seine kritisch-dekonstruierende kuratorische Praxis geschätzt. Dies macht sich durchaus auch im Rahmen dieser ersten thematischen Ausstellung der CNHI bemerkbar: In der Konferenz, die anlässlich der Ausstellung im Rahmen der ‚Univercité‘ stattfand und die
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vollständig aufgezeichnet wurde, äußert er sich persönlich zu seinen Erfahrungen mit der CNHI und der Ausstellung ‚1931‘.611 Er hebt einerseits hervor, dass ihm, als Schweizer, besonders klar sei, dass Franzosen ein Problem damit hätten, über (ihren) Kolonialismus zu sprechen. Andererseits betont er, dass ihm gerade bei der Arbeit an dieser Ausstellung vor diesem Hintergrund aufgefallen sei, dass es vonseiten der Institution die Angst gäbe, den Ort in Kontroversen zu verwickeln. Dies sei in seinen Augen falsch und er appelliert gleichsam an die Direktorin des Museums, dass man dies überdenken und man eben gerade ein solcher Ort der Kontroverse sein müsse. Dies sei die einzige Möglichkeit, als Institution in diesem Feld und an diesem Ort erfolgreich zu sein. Hainard spricht also gleich zwei Probleme der neuen Institution offen an: die Unfähigkeit, sich umfassend mit dem Kolonialismus und mit der Vergangenheit des Ortes auseinanderzusetzen, und die große Angst, ein Ort der Polemik zu werden, der nicht mehr aus den aktuellen Debatten herauskommt. Dabei hatte Hainard gehofft, dass gerade ‚seine‘ Ausstellung, die genau das machte, wovor man vonseiten der Institution bis heute meist zurückschreckt, nämlich eine Verbindung zwischen Kolonialgeschichte und Immigrationsgeschichte herzustellen, für Polemik sorgen würde: Surtout, le parti pris de se centrer sur cette date (1931) correspond au désir d’aborder les relations entre immigration et colonisation dans leur quotidienneté. Nous souhaitons immiscer le visiteur, et le lecteur, dans l’air du temps, afin de rendre palpables les ambiguïtés et les complexités de la période, et cet en évitant tout anachronisme. […]612
Insgesamt wird hier 1931 als Ausgangs- und Kristallisationspunkt begriffen, an dem sich das Verhältnis von Immigration und Kolonisation auf besondere Weise zeigen lässt: Einerseits wird das Empire innerhalb der Exposition coloniale in der Metropole repräsentiert, andererseits handelt es sich um eine Zeit, in der neben der dominanten europäischen Immigration auch das erste Mal größere Gruppen von Einwanderern aus den Kolonien, vor allem aus Nordafrika, nach Frankreich kommen. Hinzu kommt die Scharnierfunktion dieses Jahres als Teil der Zwischenkriegszeit, in der die Folgen des Ersten Weltkriegs, bei dem auch das erste Mal massiv auf koloniale Truppen und Arbeitskräfte zurückgegriffen wurde, noch immer deutlich zu spüren waren. Gleichzeitig kündigen sich hier bereits Probleme ganz neuer Dimensionen an: so beispielsweise die Weltwirtschaftskrise. Diese Phase wird aber auch begleitet von Xenophobie, Ausgrenzung, Rassismus und Antisemitismus, die sich gegen die ‚Ausländer‘ als Fremde richteten. Ziel ist es also nicht, die Exposition coloniale selbst als Mittel der kolonialen
Vgl. Conférence: 1931, Les étrangers au temps de l’Exposition coloniale: rencontre-débat avec les commissaires de l’exposition (17 juin 2008, 19h-20h30). 612 Blévis, Laure / Lafont-Couturier, Hélène / Jacomijn Snoep, Nanette / Zalc, Claire, Introduction, in: dies. (Hrsg.), 1931. Les étrangers au temps de l’Exposition coloniale, Paris 2008 S. 12–17. S. 15. 611
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Propaganda etc. zu thematisieren.613 Es ging vielmehr darum, innerhalb der zeitlichen Grenzen des Jahres 1931 die Situation der verschiedenen Fremden, Ausländer, Einwanderer aus Europa, aber eben auch den Kolonien, nachzuzeichnen: Wie lebten sie zu diesem Zeitpunkt in Frankreich, wie war ihr Alltag, was waren ihre Berufe und schließlich welche Verbindung gab es zur großen Kolonialausstellung? Denn gerade auf dem Gelände der Exposition coloniale gingen die Themen Kolonialismus und Immigration Hand in Hand, schließlich bauten Arbeiter aus verschiedensten Ländern der ganzen Welt diese riesige Ausstellung auf und gewährleisteten ihr Funktionieren. Es geht also, um Hainard zu zitieren, darum, die ‚coulisses‘ der Kolonialausstellung auszuleuchten. Die Grundthese der Ausstellung ist dabei, dass im Angesicht der enormen Kolonialausstellung die eigentlich dauerhaft in Paris präsenten Immigranten sowohl aus Europa als auch aus den Kolonien unsichtbar blieben. Jedoch war der zentrale Punkt der Ausstellung – die Verbindung zwischen Kolonisation und Immigration im Jahr 1931 – auch eine große Problemquelle bei der Erstellung der Ausstellung: Denn es gab, wie es Claire Zalc formuliert, auf den ersten Blick aufgrund der Quellen- und Materiallage gar keine Verbindung zwischen beiden Themen. Man hatte es mit einer förmlich überquellenden Quellen-, Material- und Informationslage auf Seiten der Exposition coloniale zu tun, während auf der Seite der Immigration fast nichts zu finden war: kaum Dokumente, Quellen, geschweige denn Objekte. Erst ein Dokument der Pariser Polizeipräfektur stellte den verbindenden narrativen Punkt her: ein Bericht, der sich speziell mit den (illegalen) Vorkommnissen auf der Exposition coloniale beschäftigte, Unregelmäßigkeiten, Delikte etc. aufführte. Hier tauchte die gesuchte Spur der Immigranten des Jahres 1931 schließlich auf. Laut Zalc war dies der entscheidende Link, um die Ausstellung überhaupt herstellen zu können. Der Spagat zwischen den beiden Themen drückt sich auch in einem Missverhältnis auf materieller und repräsentativer Ebene aus: Einer Omnipräsenz des Themas der Kolonialausstellung und der dazu verfügbaren Materialien stand eine Leere auf Seiten der Immigrationsgeschichte dieses Jahres gegenüber – dies spiegelt sich durchaus trotz gelungener szenografischer Ansätze, dieses Ungleichgewicht auszugleichen, in der Präsentation der Ausstellung. So finden sich viele Originalobjekte, Décors, Stilelement der Exposition coloniale, die auch ihrer ursprünglichen Funktion entsprechend sehr interessant, ja verführerisch erscheinen. Auf Seiten der Immigrationsgeschichte hingegen findet sich der ‚Papiertiger‘: Dokumente, Ausweispapiere, Berichte, Fotografien, Zeitungsartikel etc. Damit wird letztendlich indirekt auch auf ein grundsätzliches Problem der CNHI, was diese auch teilweise, beispielsweise über den Einsatz von Kunstwerken, zu kompensieren versucht, verwiesen: die schwierige museale Repräsentation von Immigration, die Prekarität vieler Quellen und die Schwierigkeit, diese überhaupt Vgl. Hainard, Jacques / Schinz, Olivier, Avant-propos, in: Blévis, Laure / Lafont-Couturier, Hélène / Jacomijn Snoep, Nanette / Zalc, Claire (Hrsg.), 1931. Les étrangers au temps de l’Exposition coloniale, Paris 2008 S. 6–7. 613
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zu akquirieren. Diese schwierige Materiallage steht im Kontrast zur ästhetisch-verführerischen Präsenz der Kolonialausstellung und ihrer Botschaft in Form der Architektur des Palais und seines Bildprogramms. Einen zweiten wichtigen Aspekt bringt Laure Blévis ein. Sie äußert, dass für sie recht früh diese Ausstellung mit ihrer beschriebenen Ausrichtung einen Beitrag zur Beantwortung der Frage nach dem Verhältnis von Kolonisation und Immigration, die ganz grundsätzlich die CNHI betreffe, leisten konnte. Denn hier konnte man zum einen ein differenzierteres Bild der kolonialen Immigration nach Frankreich zeichnen. Zum anderen veranschauliche die Ausstellung damit auch die Ambiguitäten, die aus den Kolonien in die Metropole getragen worden seien. So steigt die Ausstellung, die in insgesamt sieben thematische Kapitel eingeteilt ist, in der ersten Sektion, ‚L’envers du décor‘, mit der Frage nach der kolonialen Einwanderung ein, schließlich hatte man es hier nicht nur mit einer speziellen kulturellen Zugehörigkeit, sondern auch mit einem schwierigen sozialen und juristischen Status zu tun. Die ‚indigènes‘ waren ein ‚Sonderfall‘. Damit wird, wenn auch sicherlich nicht unbedingt bewusst, erneut die Frage aufgegriffen, die schon während der Planungsphase einen essenziellen Diskussionspunkt bildete: Inwiefern sind die Einwanderer aus den Kolonien als ‚immigré‘ zu betrachten? Sind sie eine Einwanderungsgruppe, die man thematisieren sollte? Die Ausstellung beantwortet dies im Gegensatz zur Dauerausstellung ganz klar mit einem Ja. Hainard legt mit dieser Ausstellung im Grunde einen wichtigen kuratorischen Grundstein, der der Institution eine klare inhaltliche Ausrichtung gibt, die sich eben an beiden Themen, dem Kolonialismus und der Immigration, orientiert. Darüber hinaus eröffnet er mit der Ausstellung einen Pool an Fragen und Anforderungen, denen sich die CNHI stellen muss: Wie mit dem Ort umgehen, ein Ort der Debatte und Diskussion werden und bleiben, Ambiguitäten und Problemlagen offen legen, Diskurse dekonstruieren, Verbindungen herstellen, die bislang nicht öffentlich gedacht und formuliert werden, sich Tabuthemen annehmen? In diesem Zusammenhang ist auch von Interesse, dass im Rahmen der zitierten Diskussion die Frage nach der Rezeption der Ausstellung aus dem Publikum aufkommt. Die anwesenden Kuratoren können zwar keine Zahlen bieten, äußern aber, dass sie trotz des fehlenden Echos in der Presse den Eindruck haben, dass die Ausstellung sehr positiv rezipiert werde und es einen immer wiederkehrenden Wunsch vonseiten der Besucher gäbe, die Ausstellung möge dauerhaft im Museum bleiben. Dieser Wunsch lässt sich umso mehr nachvollziehen, als dass es zu diesem Zeitpunkt, 2008, noch keine Dauerausstellung zur Vergangenheit des Ortes gab. Das mittlerweile umgesetzte Modell einer solchen Ausstellung muss dabei im Vergleich mit der Ausstellung Hainards enttäuschen: Die illustrierende Überblicksschau der wichtigsten Phasen des Palais auf 23 Texttafeln im Zwischengeschoss kann mit Hainards umfangreicher Inszenierung der ambivalenten Beziehung der beiden Themen Immigration und Kolonialismus, die von 1931 bis heute als Kontinuität gedacht werden können und im Schatten der CNHI immer aufscheinen, nicht mithalten.
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‚Générations, un siècle d’histoire culturelle des Maghrébins en France‘ Im November 2009, ca. ein Jahr nach dem Ende der Ausstellung ‚1931‘, wird eine weitere große thematische Ausstellung eröffnet, die zentral das Verhältnis von Kolonisation bzw. kolonialem Blick und Immigration verhandelt: ‚Générations, un siècle d’histoire culturelle des Maghrébins en France‘. Diese Ausstellung machte es sich, unter kuratorischer Leitung von Driss El Yazami, einem Akteur der ersten Stunde in Bezug auf die CNHI, zur Aufgabe, über einen kulturhistorischen Ansatz schlaglichtartig die großen Momente der Einwanderung aus dem Maghreb nach Frankreich vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart zu zeigen. Dabei wird konsequent aus zwei Blickwinkeln auf das Thema geschaut: Einerseits wird herausgearbeitet, wie der europäische und damit meist koloniale Blick auf die Bevölkerung aus dem Maghreb entstanden ist und was dieser impliziert, auch in Bezug auf die gegenwärtigen Wahrnehmungen. Andererseits werden die kulturellen Einflüsse der Bevölkerungsgruppen, die aus dem Maghreb nach Frankreich gekommen sind, thematisiert. So wird verdeutlicht, wie die frühere Metropole mit diesen (kolonialen) Immigranten kulturell umgegangen ist und wie diese Gruppen, einmal in der Metropole angekommen, die französische Kultur verändert haben. Es geht also ganz klar darum, eine bisher verkannte Teilgeschichte der Immigration neu aufzuarbeiten und differenziert darzustellen, um so eine alternative Sichtweise zu etablieren, die dieser Bevölkerungsgruppe gerecht wird. Damit schreibt man sich eindeutig in die Zielsetzung der CNHI ein, Wahrnehmung verändern und Stereotype aufzubrechen zu wollen. Gleichzeitig geht es hier aber auch um Anerkennung: Die Geschichte der Einwanderer aus dem Maghreb soll auch deshalb re-kontextualisiert werden, damit ihre lange Tradition, ihre historische Verwurzelung und damit auch ihre Bedeutung für die Geschichte Frankreichs, anerkannt werden kann. Zudem ist der kulturhistorische Ansatz eine fundamentale Entscheidung der Kuratoren: Es soll explizit weniger um die politische, demografische etc. Geschichte der maghrebinischen Einwanderung gehen, sondern vielmehr um die weit weniger bekannte kulturelle Geschichte. So kann die Bedeutung der maghrebinischen Einwanderung stärker hervorgehoben werden – der maghrebinische Einfluss auf die französische Kultur verdeutlicht ihren Beitrag zur Geschichte und Kultur Frankreichs. So formuliert El Yazami in seiner Einleitung zum Katalog: Les contributions de cet ouvrage [le catalogue], qu’elles s’attachent aux représentations des étrangers dans la presse, la littérature, le cinéma, l’affiche, qu’elles portent sur la production artistique, littéraire, le cinéma ou les arts plastiques, ou qu’elles analysent le militantisme [nationaliste ou social] des immigrés maghrébins et de leurs descendants, dressent au final un portrait inédit de cette population. Une histoire méconnue et prometteuse s’esquisse, celle d’une immigration présente sur le territoire bien avant les vagues des Trente Glorieuses, ayant assimilé la culture française jusqu’à s’en servir en faveur de l’indé-
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pendance, immergée dans le milieu ouvrier et ses traditions, mais présente aussi dans les autres espaces sociaux, allant de l’institution militaire à la scène culturelle parisienne. […] cette histoire culturelle englobant l’analyse des changements des mentalités et des récits d’itinéraires singuliers donne à entendre une parole endogène et une mémoire collective jusque-là peu audibles.614
Die Bewertung der Beiträge des Katalogs als alternatives, bisher nicht gekanntes ‚Porträt‘ dieser Einwanderungsgruppe lässt sich auch auf die Ausstellung an sich übertragen. Die Länge und Komplexität der Geschichte dieser spezifischen Einwanderung aus Nordafrika nach Frankreich sowie die Tatsache, dass sich entgegen vieler Vorurteile große Gruppen von ihnen schon früh in Frankreich ‚assimiliert‘ haben, wie es Yazami ausdrückt, legitimieren ihre Präsenz in der Ausstellung der CNHI. El Yazami fordert damit hier Aufmerksamkeit ein, die dieser Gruppe lange nicht zuteilwurde. Dabei spielt eine große Rolle, dass nicht nur El Yazami selbst, sondern auch seine maßgeblich für die Ausstellung verantwortliche Vereinigung ‚Génériques‘ für einen bereits jahrzehntelangen Kampf um die Erinnerung der Einwanderer aus dem Maghreb und ihre Anerkennung standen. Daher war auch ein weiterer wichtiger Anspruch der Ausstellung, diese Geschichte zumindest teilweise aus der Perspektive der Migranten selbst zu erzählen und ihnen hier eine eigene Stimme zu verleihen. Dementsprechend orientieren sich die Ausstellungsmacher an vier wesentlichen Leitlinien: Betrachtung der Geschichte der maghrebinischen Einwanderer in der ‚longue durée‘, Darstellung aus der Perspektive der betroffenen Bevölkerungs-/Migrationsgruppen selbst, Thematisierung einzelner, individueller, biografischer Parcours, Verbindung von Erinnerung und Geschichte. Diese roten Fäden ziehen sich dann gleichsam durch die sieben chronologisch/inhaltlichen Sequenzen: ‚Fin XIXe-1914: La passion d’Abdelkader, 1914–1918: La casquette et la chéchia, 1918–1945: Les cheminements de la conscience, 1945–1962: Idher-ed Waggur (Quand la lune paraît … Slimane Azem, 1955), 1962–1983: L’exil blesse mon cœur, 1983…: Cher pays de mon enfance.‘ Besonders die ersten beiden Sektionen greifen dabei die Prägung der Geschichte dieser Einwanderungsgruppe durch den Kolonialismus auf: Der Verweis auf Abdelkader als mythischer Figur des kolonialen Widerstands verweist auch auf die Vergangenheit des Ortes des Palais, schließlich war in der ursprünglich im MFOM untergebrachten Section historique der ‚Schmuck des Abdelkader‘ ein wichtiges Ausstellungsstück. Eine solche vom Westen konstruierte koloniale, von Faszination und Distanz geprägte Wahrnehmung wird zum Ausgangspunkt der Ausstellung. Der Katalog der Ausstellung, der mit dem Kapitel ‚Violence et fascination‘ beginnt, verdeutlicht diesen Ansatz: So wird mit der französischen Wahrnehmung des Maghrebs zu Beginn des 20. Jahrhun-
El Yazami, Driss, Introduction, in: El Yazami, Driss / Gastaut, Yvan / Yahi, Naima (Hrsg.), Générations. Un siècle d’histoire culturelle des Maghrébins en France, Paris 2009. S. 6–9. S. 6. 614
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derts begonnen. Sie ist einerseits durch das Kolonialreich geprägt, hier ist Nordafrika das besiegte und unterworfene Territorium. Andererseits findet sich auch die Vorstellung eines faszinierenden, fernen, exotischen Paradieses. Beide Aspekte dieser westlichen, kolonialen Wahrnehmung des Maghreb kommen in den Kolonialausstellungen der Zeit besonders stark zum Ausdruck. Damit kann letztendlich, wenn auch indirekt, ein Bogen zur Exposition coloniale von 1931 und der ursprünglichen Verwendung des Palais und seiner Propaganda-Funktion gespannt werden – wobei der Katalog stark macht, dass bereits im 19. Jahrhundert Schriftsteller und Künstler in den Maghreb reisten und in der Folge den westlichen ‚Orientalismus‘ propagierten. Der Orient wird daher konsequent als eine westliche, meist visuelle Konstruktion analysiert und präsentiert, die eben sowohl Faszination als auch Abscheu hervorrief. Wesentlich erscheint für die CNHI, dass diese Ausstellung Immigration und Kolonialismus erneut in einen wichtigen Deutungszusammenhang bringt: Bestimmte stereotype Wahrnehmungsmuster und Vorstellungen gerade in Bezug auf den Maghreb entstehen im kolonialen Herrschaftszusammenhang und prägen den französischen Blick auf diese Gebiete und ihre Bewohner maßgeblich und dauerhaft. So wird im Katalog weiter ausgeführt, dass beispielsweise trotz der Beteiligung von Nordafrikanern am Ersten und Zweiten Weltkrieg und der vorerst ‚dankbaren‘ Haltung der Metropole sich nicht viel an der kolonialen Hierarchie änderte. Parallel begann mit dem Ersten Weltkrieg die Einwanderung aus Nordafrika nach Frankreich – viele, die beispielsweise während des Kriegs in der Industrie ausgeholfen hatten, blieben in Frankreich und sorgten dafür, dass viele Franzosen das erste Mal in Kontakt mit dem ‚Kolonialreich‘ kamen. Hier mischten sich positive paternalistische Strömungen und Angst oder Panik vor den Fremden. So wurde die Aufrechterhaltung der kolonialen Hierarchie peinlich genau eingehalten, eine Vermeidung des Kontakts mit den Franzosen und vor allem Französinnen hatte oberste Priorität. Dies führte teilweise zu einer radikalen Ausgrenzung. Beispielsweise wurden in der Zwischenkriegszeit Algerier mit allen erdenklichen negativen Eigenschaften und Verhaltensweisen wie Faulheit, Alkoholismus, Kriminalität assoziiert, obwohl diese meist als Arbeitskräfte dringend gebraucht wurden und oft auch keine Wahl hatten, da sie in ihrem Heimatland keine Arbeit fanden. Diese Darstellung wird dann durch bestimmte erotische, geschlechtliche Fantasien, die auch ihren Weg in die Kinos und die Fotografie fanden, ergänzt, was zu einer weiteren Ebene der Stigmatisierung führte: die arabische Frau als ‚Liebessklavin‘ und der arabische Mann ‚als verdächtiger Homosexueller‘. Der rote Faden der Vorverurteilung, des Rassismus und der Diskriminierung, der auch und vor allem auf diese frühe koloniale Prägungsphase der Wahrnehmung des Maghreb zurückzuführen ist, wird sowohl in der Ausstellung als auch im Katalog bis hin zur Niederschlagung des Protests am 17. Oktober 1961 sowie dem Protest der Zweiten Generation, den ‚Beurs‘ mit dem Marche pour l’égalité von 1983, durchgehalten. Gleichzeitig werden die hergeleiteten Stereotype und Stigmatisierungen immer wieder durch Einheiten aufgebrochen, die ein anderes Bild dieser Migration zeigen:
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Besonders der Fokus auf die Kultur hilft, über bestimmte Musikrichtungen, Beiträge zur Bildenden Kunst, aber auch zur Populärkultur ein neues differenziertes Bild des ‚Maghreb in Frankreich‘ zu zeichnen. Das abschließende Kapitel des Katalogs ‚Maghrébins en France‘ stellt dann die entscheidende Frage nach dem Platz der maghrebinischen Kultur innerhalb der französischen und gibt eine ambivalente Antwort: Einerseits schreitet die Integration und Anerkennung voran, andererseits entstehen immer wieder Spannungen. Die fundamentale Botschaft bleibt jedoch, dass Frankreich und der Maghreb trotz aller Verwerfungen auf eine lange gemeinsame Geschichte zurückblicken – die Immigranten von damals sind die Franzosen von heute, wobei Immigration als Prozess ‚au passé continu‘ bezeichnet wird, der sich durch die Kontinuität des Hin und Her zwischen den drei Ländern des Maghreb und Frankreich auszeichnet und eben kein abgeschlossener Prozess sei. Neben der offenen Thematisierung der Verbindung von Kolonial- und Immigrationsgeschichte sowie dem expliziten Fokus auf kulturgeschichtlichen Entwicklungen und kulturellen Verflechtungsgeschichten wird die Unabgeschlossenheit des Prozesses der Immigration, die Dauerhaftigkeit einer Pendelbewegung zwischen den Kulturen, präsentiert. Damit setzt sich diese Ausstellung deutlich von der Dauerausstellung der CNHI ab. Zwar mag die durchaus erkennbare kulturelle Beitrags- und Anerkennungsgeschichte ihr Äquivalent in der Dauerausstellung, vor allem im Bereich zur ‚Diversité‘, finden, die anderen genannten Aspekte jedoch fehlen weitestgehend: Vor allem die Ideen einer Verflechtung, einer gegenseitigen Beeinflussung und der Unabgeschlossenheit des Prozesses erscheinen als wichtige Aspekte einer ‚alternativen‘ Geschichte der Immigration. ‚Vies d’exil – 1954–1962. Des Algériens en France pendant la guerre d’Algérie‘ Die Ausstellung ‚Vies d’exil – 1954–1962. Des Algériens en France pendant la guerre d’Algérie‘ aus dem Jahr 2012 knüpft hier an und nimmt den Faden der Ausstellungen, die eine explizite Verbindung zur Kolonialgeschichte aufbauen, wieder auf, allerdings diesmal mit einem anderen Fokus: Nun wird die algerische Bevölkerung, die während des Algerienkriegs nach Frankreich kam bzw. dort lebte, in den Blick genommen. In diesem Fall wurde ‚dem‘ Historiker des Algerienkriegs in Frankreich und heutigen Nachfolger Toubons an der Spitze der CNHI, Benjamin Stora, die kuratorische Leitung übergeben. Er formuliert die Zielsetzung dieser Ausstellung folgendermaßen: Avec l’exposition « Vies d’exil, 1954–1962. Des Algériens en France pendant la guerre d’Algérie » […] un musée national propose, pour la première fois, de mettre en lumière l’histoire méconnue de l’immigration algérienne, dont les effectifs doublent de 1954 à 1962. Dévoiler son histoire, c’est aborder le paradoxe le plus saillant de cette immigration et sa relation avec la métropole coloniale. L’ambition est de faire découvrir à travers la vie quo-
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tidienne des immigrés algériens le regard qu’ils portent sur la société française à l’époque, leurs expériences de l’exil et aussi leur combat indépendantiste, comme leurs interprétations des évènements qui secouent l’Hexagone.615
Auch in diesem Fall wird also, wie bei ‚Générations‘, in den Vordergrund gestellt, dass ein Teilbereich der Immigrationsgeschichte völlig neu beleuchtet, ja sogar das erste Mal in einem nationalen Museum auf diese Art dargestellt werde. Man schreibt sich also vonseiten der Ausstellungsmacher erneut in die Zielsetzung der CNHI ein, die Wahrnehmung in Bezug auf Immigration verändern zu wollen. Das Zitat stellt zudem unmittelbar den Bezug zum Kolonialismus her: Schließlich handelt es sich bei dem Algerienkrieg, der zeitlich und inhaltlich als Rahmen dient, um den blutigsten Kolonialkrieg, den Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg führte und der auch noch lange über seine offizielle Beendigung 1962 hinaus sowohl Algerien als auch Frankreich beeinflusste. Die Perspektive, die dabei gewählt wird, soll einen alternativen Blick anbieten. Es soll aus der Perspektive der Algerier, die nach Frankreich kamen und die hier lebten, diese Zeit, ihre Wahrnehmung der französischen Gesellschaft, ihre Erfahrungen, ihr Alltag erzählt werden. Erneut wird also der Fokus auf eine Präsentation aus Sicht der betroffenen Bevölkerungsgruppe gelegt, um deren Blick aufzuwerten und ihm eine Legitimität zu geben. Zudem stehen hier alltagskulturelle Phänomene im Vordergrund. Das entspricht nicht ganz dem kulturgeschichtlichen Ansatz El Yazamis in ‚Générations‘, geht aber in eine ähnliche Richtung und zielt ebenfalls darauf, eine neue, vielen Franzosen bisher unbekannte Seite dieser Migration zu zeigen. Damit soll explizit bestimmten aktuellen Debatten, wie der um den Islam, eine andere Wahrnehmung arabischer, nordafrikanischer Einwanderer und ihrer Nachkommen an die Seite gestellt werden: En regardant les photos de l’époque, en écoutant les témoignages de ces vieux travailleurs, voilà que la « question des enfants de l’immigration » en provenance des anciennes colonies [maghrébine ou africaine] prend un nouveau visage. Autour des réponses possibles à cette situation d’aujourd’hui, tout est vu, souvent, par le seul prisme du religieux, celui de l’Islam. Référence bien sûr décisive, mais pas la seule si l’on veut se donner la peine de comprendre les enchaînements historiques d’une telle situation. Sur l’immigration algérienne, une de plus anciennes en France, très enracinée socialement et culturellement, il y a bien d’autres histoires à raconter. En particulier celles de l’ancrage social, de l’apport à la France par le travail, et celle de l’engagement politique, que vous découvrirez ici.616
Hier wird also, wie es sonst im Rahmen der Dauerausstellung der CNHI eher für die europäische Immigration üblich war, auf die Länge der Tradition der algerischen EinwanStora, Benjamin / Amiri, Linda, Introduction, in: dies. (Hrsg.), Algériens en France. 1954–1962: la guerre, l’exil, la vie, Paris 2012. S. 8–9, S. 8. 616 Ebd. S. 9. 615
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derung verwiesen. Dies war auch schon ein wesentliches Element in den Ausstellungen ‚1931‘ und ‚Générations‘, die beide auf die Länge dieser Tradition algerischer Einwanderung verweisen, gewesen. Da Stora und El Yazami, als Experten auf diesem Gebiet, dieses Charakteristikum der langen Tradition besonders betonen, wird dieses aus ihrer Sicht offenbar keinesfalls klar in der Öffentlichkeit reflektiert. Dies ist vor allem vor dem Hintergrund der Diskussionen in der Planungsphase der CNHI seit 2003 interessant: Hier wurde noch argumentiert, dass, um die aktuelle Wahrnehmung zu verändern, man auch und vor allem die viel ältere europäische Immigration betonen müsse, um gleichsam von der Reduzierung des Bildes der Immigration auf die arabische und nordafrikanische Einwanderung wegzukommen. Damit wird nun klar, dass diese aber an sich ebenso verzerrt als relativ ‚junge‘, ‚neue‘ Immigration dargestellt wird. Damit wird eine deutliche Fehlstelle in der Dauerausstellung hervorgehoben, die durch die Wechselausstellungen zumindest temporär ausgeglichen wird. Zudem fällt auf, dass die bisher thematisierten Wechselausstellungen eines der wesentlichen Diskussionsthemen der Planungsphase, nämlich ob Einwanderer aus den Kolonien überhaupt als Teil der Immigrationsgeschichte gesehen werden sollten, da es sich hier streng genommen in der Regel nicht um Immigranten handele, ohne Probleme in das Narrativ der französischen nationalen Immigrationsgeschichte eingeschrieben wird. Für die Kuratoren dieser Ausstellungen scheint es gar keine Frage zu sein, dass es sich bei den Migrationsbewegungen vom Maghreb nach Frankreich um einen Teil der Immigrationsgeschichte handelt, auch wenn die meisten Algerier eigentlich Franzosen waren und sind. Die Ausstellung ‚Vies d’Exil‘ selbst ist in fünf thematische Einheiten eingeteilt: ‚La vie sociale‘, ‚Le rapport à la société française‘, ‚Passion politique‘, ‚Les évènements tragiques du 17 octobre 1961‘ und ‚L’indépendance‘. Die Hervorhebung des 17. Oktober 1961 verdeutlicht die Bezugnahme auf die Aktualität und Kontinuität der kolonialen Dimension der Beziehung der Algerier zu Frankreich. Im Katalog wird er explizit als ‚massacre colonial à Paris‘ verhandelt. Trotz der heutigen Anerkennung des Massakers von staatlicher Seite und seiner Integration in die nationale, kollektive Erinnerungslandschaft, stellt es ein tabuisiertes Symbol für die Kontinuität kolonialer Herrschaftspraxis in der Metropole dar: Algerier, die friedlich und unbewaffnet von ihrem Demonstrationsrecht in den Straßen von Paris Gebrauch machen und damit ihre Rechte als Bürger der französischen Nation einfordern, werden brutal von der Polizei attackiert, ermordet und ihre Leichen in der Seine beseitigt – so zeigt sich das Gesicht der französischen Kolonialmacht 1961 in der eigenen Hauptstadt! Danach wurde dieses Vorkommnis lange gedeckelt und vertuscht, bis es in den 2000er Jahren offiziell anerkannt wurde. Die Verschleppung und Tabuisierung des Gedenkens weisen auf das Problem des Umgangs mit und der Verarbeitung von kolonialer Erfahrung auf französischer Seite hin. Aber auch darüber hinaus geht der Katalog, ähnlich wie beim Beispiel ‚Générations‘, gleich in seinem ersten Kapitel, ‚La vie quotidienne: Des Français musulmans aux Algériens‘, auf die kolonialen Ursprünge dieser Migration ein. Insbesondere der
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ambivalente Status des Algeriers, der einerseits als Franzose galt, dem aber parallel oft, wenn es sich um arabische bzw. muslimische Einwanderer handelte, auch der Status des ‚sujet colonial‘ noch anhaftete, ist hier ein wichtiges Thema. Letztendlich kann dieses Kapitel als Vorgeschichte des 17. Oktober gelesen werden und das Verhalten des französischen Staates gegenüber den algerischen Immigranten in der Metropole während des Algerienkriegs zumindest in Teilen erklären helfen. Damit wird ein Stück weit Frankreichs Bild als ‚vorbildliche‘ Kolonialmacht, als ‚Leuchtturm der Zivilisation‘ aufgebrochen. Parallel wird der Versuch unternommen, stereotype Wahrnehmungen der algerischen Immigration zu dekonstruieren, beispielsweise über die Darstellung des ‚Exils‘ als wesentlichem Erfahrungselement zur Formierung einer eigenen Unabhängigkeitsbewegung. Es ist der Kontakt mit Frankreich, seiner Kultur, seinen Werten, der Austausch mit und in der Metropole, der viele algerische Intellektuelle, die die spätere politische Elite in ihrem Land bildeten, formte und motivierte. Frankreich selbst inspirierte trotz oder gerade aufgrund seiner Rolle als kolonialer Metropole die Unabhängigkeitsbestrebungen der Algerier. Der Fokus der Ausstellung liegt bezüglich der verwendeten Materialien und Quellen eindeutig auf der visuellen Ebene. Private Fotografien, Fotos in Zeitschriften und Zeitungen, im Kontext von Reportagen und unterschiedlichsten journalistischen Textformen, Postkarten, Plakate, Filmaufnahmen stehen im Mittelpunkt: Nous avons souhaité travailler sur l’ensemble iconographique varié et rarement mis en valeur : archives privées et publiques, photographies, son, témoignages inédits et œuvres d’art se répondent et donnent à voir une réalité douce-amère où la beauté se mêle à la précarité et à la violence, la joie à la nostalgie.617
Aber auch den Fresken und dem Relief des Palais de la Porte Dorée selbst wird in diesem Kontext Aufmerksamkeit geschenkt und somit erneut der Ort explizit in die Verknüpfung von Kolonialismus und Immigration innerhalb der Ausstellung einbezogen. Letztendlich finden sich hier viele der visuellen Stereotype, die bis heute wirksam sind. Bezüge zu weiteren Wechselausstellungen Das Thema Kolonialismus und die Bezüge zwischen Immigration und kolonialer Vergangenheit sind dabei allgemein in den Wechselausstellungen erstaunlich präsent: So greift auch die vergleichende Ausstellung, die in Zusammenarbeit mit dem Deutschen historischen Museum in Berlin entstanden ist – ‚À chacun ses étrangers? France-Allemagne de 1871 à aujourd’hui‘ (2008/09) – das Thema des Einflusses der kolonialen
Stora, Benjamin / Amiri, Linda, Introduction, in: dies. (Hrsg.), Algériens en France. 1954–1962: la guerre, l’exil, la vie, Paris 2012. S. 8–9, S. 8 617
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Vergangenheit auf die Wahrnehmung des ‚Anderen‘ auf. Generell wollte man den eigenen Fokus auf den nationalen Kontext aufbrechen und das Bild des Fremden in einem transnationalen, vergleichenden Rahmen präsentieren. Dabei sollte parallel gleichsam in einer transversalen Struktur die Entwicklung des Konzepts der Nation in beiden Ländern dargestellt werden. Dies wird als Ausgangspunkt für die Konstruktion des Selbst und des Blicks auf sich, aber eben auch auf den Anderen, Fremden gewählt und vergleichend betrachtet. Es soll darum gehen, zu erfassen, wie der ‚Fremde‘ hier jeweils vom Aufnahmeland betrachtet, wie er behandelt wurde und wie man sich zu ihm positionierte. Dabei wird vorausgesetzt, dass bestimmte Variablen der Sicht und Darstellung des Fremden konstant über verschiedene Epochen hinweg erhalten bleiben, während es parallel immer wieder Momente gibt, die stark von dem jeweiligen Kontext abhängen und eher spontane Reaktionen zeigen. Vor diesem Hintergrund werden Repräsentationen, auch wenn sie teilweise verzerrt wirken und kein spiegelbildliches Abbild der Realität darstellen, als untrennbar mit der wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Realität der Immigration verwoben verstanden. Diese Ausstellung macht dabei für die französische Seite erneut den Bezug zu den Kolonien auf: Sie werden hier als Quelle für Soldaten und Arbeitskräfte während des Ersten Weltkriegs thematisiert. Gleichzeitig wird aber auch die Diskriminierung und Stigmatisierung der Einwanderer aus den Kolonien in der Zwischenkriegszeit thematisiert. Offensichtlich wird auch nach der ersten Wechselausstellung, die dieses Thema explizit in Angriff genommen hatte, auch in der Folge, außerhalb der diesem Thema explizit gewidmeten Schauen, das Thema Kolonialismus in Zusammenhang mit Immigrationsgeschichte in die Wechselausstellungen integriert. Dies trifft auch auf die Ausstellung ‚Allez la France! Football et immigration‘ von 2010, die in Zusammenarbeit mit dem Musée national du Sport entstanden ist, zu. Sie wendet sich erneut über den Weg der Sportgeschichte der Verbindung von Kolonialismus und Immigration zu. Unter dem Leitmotiv der Ausstellung, die Rolle von Immigration für den französischen Fußball darzustellen, wird auch die Frage danach verhandelt, inwiefern der französische Nationalsport von Immigranten, vor allem aus (Nord-)Afrika, profitiert hat und welche Rolle diese Spieler innerhalb des Sports spielen. Dabei wird betont, dass man mit dieser Ausstellung explizit aus dem Feld der traditionellen Ausstellungsthemen ausbrechen wolle und dabei Fußball als ein Themenfeld vermitteln möchte, das weit über den reinen Sport hinausgehe und erlaube, Rückschlüsse in Bezug auf soziale Phänomene, die Gesellschaft und Kultur an sich zu ziehen – Fußball wird mit Marcel Mauss als ‚fait social total‘ betrachtet: „Envisager le football comme un révélateur, ou un „miroir“ – parfois déformant – de la société française, telle est finalement l’invitation que vous lance cet ouvrage.“.618 Der Fußball
Toubon, Jacques, Préfaces, in: Boli, Claude / Gastaut, Yvan / Grognet, Fabrice (Hrsg.), Allez la France! Football et immigration, Paris 2010. 618
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prägt den Alltag der Menschen im lokalen und nationalen Rahmen und ist gleichzeitig von internationaler geopolitischer Bedeutung. Dabei ist Fußball schon lange nicht mehr einfach nur ein Sport, sondern birgt wirtschaftliche, politische und kulturelle Dimensionen, die das reine Spiel weit übertreffen. Daher wird auf eine interdisziplinäre Betrachtungsweise des Sports Wert gelegt. Gleichzeitig wird aber ganz eindeutig das Konzept der Sektion der Dauerausstellung zu den ‚Sportifs‘ fortgeschrieben – einzelne Fußballstars, deren Wurzeln in der Migration liegen, werden als ‚Nationalhelden‘ gefeiert – sie haben als Immigranten ihren Beitrag zur Größe der Nation geleistet und schreiben sich in ihre Erfolgsgeschichte ein. Der Fußball wird hier zum ‚ascenseur social‘, zu einer wichtigen Möglichkeit für Migranten, an der französischen Gesellschaft teilzuhaben und sich erfolgreich zu integrieren. Dies zeigt sich auch in der Aufteilung der Ausstellung auf die beiden Orte der CNHI und des Musée du Sport. Die Cité nimmt zentral die französische Diversität des Fußballs anhand der Darstellung der Karrieren einzelner Fußballhelden wie Kopa, Platini oder Zidane in den Blick, während das Musée du Sport die Geschichte der afrikanischen Fußballspieler im Frankreich der 1950er Jahre thematisiert. Gerade dieser zweite Teil der Ausstellung verdeutlicht, dass Fußball in besonderem Maße auch eine Fremdheitserfahrung birgt. Die Identität und damit auch die Nationalität der Spieler stehen deutlich im Vordergrund – oft entscheiden diese auch darüber, ob man sich als Zuschauer mit einem Spieler identifiziert oder nicht. Je nach Wahrnehmung und Identifikationsgrad wird ein Spieler mehr oder weniger als Franzose oder als Ausländer wahrgenommen. Gerade im Fall der Spieler aus den ehemaligen Kolonien ist dies rein visuell ein Thema. Gleichzeitig kann man bei Spielern aus den Übersee-Départements oder dem Maghreb beispielsweise im juristischen Sinn gar nicht von Ausländern sprechen. Jedoch wird die optische ‚Fremdheit‘ zum Anlass, koloniale Stereotype und Vorurteile aufkommen zu lassen und teilweise auch gegen die Spieler zu verwenden. Daher ist hier für die Kuratoren klar: „Le prisme colonial est particulièrement visible dans le football“.619 Dementsprechend widmen sie im Katalog diesem Aspekt ein ganzes Kapitel – „L’empreinte coloniale“ – das die Einflüsse der Kolonisation und Dekolonisation auf den Fußball reflektiert und zeigt, dass der Sport häufig die Rolle eines sozialen Regulators zwischen Metropole und ehemaligen Kolonien einnimmt. Mit dieser Ausstellung ist gleichzeitig eine neue Ausstellungsform eingeführt worden. Sie widmet sich nicht einer speziellen Einwanderungsgruppe, einer Ethnie oder einem bestimmten Land, sie versucht vielmehr über das allgemein beliebte Thema des Fußballs eine erhöhte Aufmerksamkeit vonseiten des Publikums für die Immigrationsgeschichte zu erzeugen. In der Folge wird die CNHI noch weitere solcher ‚EyeCatcher-Ausstellungen‘ initiieren, die gemeinsam haben, dass sie ein für die breite Öf-
Boli, Claude / Gastaut, Yvan / Grognet, Fabrice, Coup d’envoie, in: Boli, Claude / Gastaut, Yvan / Grognet, Fabrice (Hrsg.), Allez la France! Football et immigration, Paris 2010. S. 6–11. 619
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fentlichkeit überraschendes, aber beliebtes, meist populärkulturelles Thema innerhalb einer Ausstellung mit dem Phänomen Immigration verknüpfen. Dies gilt auch für die Ausstellung ‚Albums – Bande dessinée et immigration. 1913– 2013‘. Hier wird als ‚Eye-Catcher‘ die BD gewählt – die kuratorische Idee ist in diesem Fall, dass Migration schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts ein wesentliches Thema, eine wesentliche Inspirationsquelle für BDs gewesen ist und darüber hinaus viele Zeichner selbst Erfahrungen mit Migration haben: „Si la bande dessinée apparaît comme un témoin de l’histoire de l’immigration, cette dernière contribue à l’histoire de la bande dessinée, notamment par la circulation des artistes.“. So stehen einerseits die Autoren selbst mit ihren Biografien im Vordergrund, andererseits ihre Werke und die Art und Weise, wie sie darin die Erfahrung der Migration verarbeiten, wie sie die Figur der Migranten verwenden und darstellen. Die Orientierung an einer relativ langen Zeitspanne, vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart, erlaubt dabei die Präsentation verschiedener Generationen von Autoren und ihrer Werke, die aus allen Regionen der Welt stammen, u. a. Nord- und Süd-Amerika, Europa, Afrika. Insbesondere Afrika steht als Ursprungskontinent einer Reihe von Autoren ab den 2000er Jahren im Fokus. Dabei wird die BD nicht nur als Medium, das sich der zunehmenden afrikanischen Migration nach Europa als aktuellem Thema bedient, betrachtet, sondern auch als Möglichkeit, die Flüchtlinge selbst zu erreichen und sie von der gefährlichen Flucht nach Europa abzuhalten. Trotz aller Spezifik und Individualität scheint sich in Bezug auf die Darstellung und Erzählweise doch eine Art universeller Rhythmus der Migration als Narrativ herauszukristallisieren. Hierbei ist auch die Beziehung zwischen Immigration und Kolonisation ein Teilaspekt. Laut den Kuratoren taucht diese zwar selten explizit in den BDs auf, aber sie spielt, vor allem auch für die algerische Einwanderung eine Rolle. Emblematisch dafür steht die BD-Reihe ‚Petites histoires des colonies françaises‘: Der fünfte Band enthält ein Kapitel mit dem Titel ‚Immigré‘ und verweist auf den entsprechenden Zusammenhang. Allerdings fällt bei dieser Ausstellung ein Aspekt auf, der bereits bei den Modellausstellungen aus den 80er Jahren eine Rolle gespielt hat bzw. eine wiederkehrende Problematik bei der Präsentation von Immigration als Ausstellungsthema darstellt. Die Autoren der BDs stehen in diesem Fall nicht nur mit ihren Werken zur Disposition, sondern auch mit ihren Biografien als Migranten. Diese Tatsache wurde bereits bei der Ausstellung ‚Les enfants de l’immigration‘ im Centre Pompidou thematisiert: Der Künstler/Autor kann nicht mehr hinter sein Werk zurücktreten, stattdessen steht er selbst als Person mit im Vordergrund. Im Fall der BDs mag dies insofern plausibel erscheinen, als dass viele Autoren ihre eigene Migrationserfahrung verarbeiten. Trotzdem bleibt auch hier der bittere Beigeschmack, dass sie gerade auch und vor allem wegen dieser Biografie ausgewählt wurden und nicht nur wegen ihres Werkes und seinem künstlerischen Eigenwert. Dieser Interessenskonflikt findet sich auch in einer der letzten großen und besonders erfolgreichen ‚Eye-Catcher-Ausstellungen‘: ‚Fashion Mix‘ von 2014/15. Hier soll, wie der Titel es andeutet, über das große Thema ‚Mode‘ Immigrationsgeschichte vermittelt werden. Gruson äußert dazu:
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Enfin, pourquoi le nier, cette exposition vise à faire venir le grand public, et notamment les jeunes, dans un musée qui raconte l’histoire de l’immigration en France depuis deux siècles. Nous voudrions que chacun puisse se confronter à cette évidence : ce que la marque « France » propose au monde, c’est un certain « savoir-faire », où s’ajoute à son talent propre ce que le monde lui a apporté, et dont elle s’est enrichie. Loin des visions victimaires ou xénophobes, ces créateurs que nous présentons sont des formidables « modèles ». La mode d’aujourd’hui ne célèbre-t-elle pas l’éloge de la diversité, dans une vision généreuse où les codes n’interdisent nullement la singularité ?620
Gruson affirmiert nicht nur ganz offen die Funktion der Ausstellung als Publikumsmagnet, sondern er formuliert auch sein Narrativ der Ausstellung: Frankreich hat sich durch das Können und die Kompetenz der ‚étrangers de talent‘ bereichern können, hat das, was die ‚marque France‘ ausmacht, verfeinern und damit in ihrer Strahlkraft stärken können. Zudem preist er die berühmten Modeschöpfer als vorbildliche ‚Modelle‘. Sie stehen mit ihrer Biografie, ihrem Parcours als Immigrant, der nach Frankreich kam, um sich mit seinem schöpferischen Talent zu verwirklichen und damit einen Beitrag zur französischen Kultur zu leisten, im Vordergrund. Es ist im Grunde weniger die Mode, die hier interessiert, als vielmehr die ‚Modelle‘ vorbildlicher Immigranten, die in der Regel eine erfolgreiche Karriere in Frankreich absolvierten und sich daher auch erfolgreich integrierten – sie gelten gleichsam als die (künstlerische) Elite unter den Immigranten. Insgesamt lassen sich also über die verschiedenen Wechselausstellungen einige wichtige große Tendenzen ableiten, die dieses Museum einleitet und meist auch fortführt, sowie verschiedene Ausstellungstypen, denen es sich dabei bedient. Durch alle Ausstellungen hindurch ist die Aufgabe und Zielsetzung, die Wahrnehmung der Immigration verändern und gezielt alternative Perspektiven auf Immigration anbieten zu wollen, erkennbar. Dies geschieht allerdings auf sehr unterschiedlichen Wegen mit unterschiedlichen thematischen Schwerpunkten. So findet sich bei einigen Ausstellungen, insbesondere ‚Générations‘, ‚Vies d’Exil‘, aber auch ‚Polonia‘, die hier nicht explizit thematisiert wurde, das konkrete Vorhaben, einerseits mehr Aufmerksamkeit für bestimmte einzelne Einwanderungsgruppen zu erhalten und andererseits im gleichen Atemzug auch ihre Anerkennung und gesellschaftliche Aufwertung implizit einzufordern. Teilweise ist dies unmittelbar auf die Beteiligung entsprechender Akteure aus dem Bereich der migrantischen Vereine wie im Falle El Yazamis zurückzuführen; teilweise geht dies durchaus auch auf die Mitarbeit bzw. kuratorische Betreuung durch entsprechende akademische Experten wie Benjamin Stora oder Janine Ponty zurück. Dieses Vorhaben ist in der Regel konsequent mit dem Anspruch verbunden, die je-
Gruson, Luc, Avant-propos, in: Saillard, Olivier (Hrsg.), Fashion Mix. Mode d’ici. Créateurs d’ailleurs, Paris 2014. S. 9–10. S. 9 f. 620
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weilige Geschichte auch aus der Perspektive der betroffenen Bevölkerungsgruppe zu schildern. Damit soll die alternative Sicht auf die Gruppe ermöglicht und stereotype Wahrnehmungen aufgebrochen werden. Dies wird zusätzlich über die Fokussierung auf kulturgeschichtliche Ansätze, populärkulturelle Phänomene, die Darstellung des Alltags dieser Gruppen gewährleistet. Insbesondere der Darstellung des Alltags der Menschen, ihrer täglichen Erfahrungen mit der französischen Gesellschaft, die auch aus ihrer Perspektive geschildert werden, wird zugetraut, althergebrachte Klischees zu durchbrechen. Ähnliches gilt für die Thematisierung des kulturellen Beitrags dieser ‚fremden‘ Kulturen zur französischen, wie auch in umgekehrter Hinsicht. Hier wird nicht nur versucht, Aufmerksamkeit einzufordern und Anerkennung zu erhalten, sondern eben auch den Beitrag und die Leistung, die Teilhabe an der französischen Kultur und Gesellschaft zu verdeutlichen, um klar zu machen, dass diese Gruppen kein fremder, abzugrenzender Teil der Nation sind, sondern ihr integraler Bestandteil, da sie sich meist von Beginn an kulturell eingeschrieben und konstruktiv beteiligt haben. Zudem ist dies dann auch der Punkt, an dem man in der Regel verdeutlichen möchte, dass umgekehrt auch die französische Kultur ihre Auswirkung auf die Migranten hatte und diese durch sie teilweise stark verinnerlicht und angenommen wurde. Gerade die Ausstellungen mit einem Fokus auf einzelnen spezifischen Migrationsgruppen schrecken aber auch nicht davor zurück, ein Element in den Blick zu rücken das sonst in der CNHI wenig auftaucht: das der gescheiterten oder dysfunktionalen Integration sowie der nicht abgeschlossenen, sich ständig im Prozess befindlichen Immigration. Der bereits genannte Fokus auf der Kultur bietet dabei zusätzlich die Möglichkeit, neben der Darstellung bestimmter einzelner Migrationsgruppen, größere, alternative und für viele Besucher vermutlich überraschende Themen, ‚Eye-Catcher-Themen‘, in den Blick zu nehmen: so wie den Fußball, die Mode oder die BD. Hier lässt sich in besonderer Weise die kreative und künstlerische Leistung von Immigranten hervorheben. Das Charismatische, aber auch nicht Unproblematische an diesen Ausstellungen ist dabei, dass man sowohl das Werk als auch die Biografie des Künstlers/Autors ausstellen kann. Das gleiche gilt für den Bereich des Sports, der über die berühmten Fußballer den gleichen Mechanismus benutzt. Zudem taucht besonders klar erkennbar das Narrativ der ‚Bereicherung Frankreichs‘, das damit seine Strahl- und Anziehungskraft vergrößern kann, auf. Ob der Spieler der Nationalmannschaft, der berühmte Modeschöpfer oder der große Zeichner von BDs, sie alle kamen nach Frankreich, um mit ihrem Talent ein Stück weit die französische Kultur zu bereichern. Frankreich ist hier charismatischer Anziehungspunkt und Profiteur zugleich. Überraschen mag dabei, dass das Thema Kolonialismus von Beginn in die Wechselausstellungen als wichtiges Thema und als Element, das in Verbindung zur Immigration gedacht wird, auftaucht. Es nimmt häufig sogar eine prominente Stelle als Bezugspunkt ein und wird durchaus in Kontinuität zu heutigen Diskriminierungen und Benachteiligungen sowie stereotypen Wahrnehmungsmustern gesehen. Interessant ist, dass dies so nur in den Wechselausstellungen geschieht, die sich durch ihren
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temporären Charakter auszeichnen und nicht dauerhaft für das Publikum zugänglich sind. Sie bieten sich hier also für das Museum vermutlich speziell als Orte der Thematisierung dieses eigentlich als äußerst schwierig eingestuften Beziehungspaares Immigration – Kolonisation an. Sie stellen eine temporäre Ambiguitätstoleranz gegenüber dem konfliktbeladenen Thema her, die aber gleichsam im logischen Umkehrschluss nicht dauerhaft von der Institution ausgehalten werden muss.
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Im Zentrum der vorliegenden Arbeit standen die verschiedenen institutionellen Schichten des Palais de la Porte Dorée. In der Zeitspanne von 1931 bis in die 2000er Jahre hat der Palais vom ersten nationalen Kolonialmuseum über das Museum für afrikanische und ozeanische Kunst bis hin zum zeitgenössischen Immigrationsmuseum äußerst unterschiedliche Museumsformen beherbergt. Es handelte sich dabei in der Regel um staatliche, nationale Museen, die an verschiedene Ministerien angebunden waren. So repräsentierte und repräsentiert dieser Ort sukzessive den offiziell konsensfähigen und politisch erwünschten Blick auf Themen wie die koloniale Vergangenheit, außereuropäische Kulturen, Immigration. Im Rahmen der hier vorgelegten Untersuchung war es wesentlich, dass diese verschiedenen musealen Schichten des Palais in einer Kontinuität gedacht werden, die Rückschlüsse zulassen auf den gesellschaftlichen und politischen Umgang mit der eigenen französischen kolonialen Vergangenheit, der daraus resultierenden Definition von ‚eigen‘ und ‚fremd‘ im musealen Kontext, dem Umgang mit der Verbindung zwischen kolonialer Vergangenheit und Immigration sowie der expositorischen und musealen Umgangsweise mit dem Thema ‚Immigration‘ an sich. Im Folgenden sollen diese Elemente im Hinblick auf die in der Einleitung formulierten drei Grundthesen zusammenfassend erläutert werden. Der museale Umgang mit den Kategorien von ‚eigen‘ und ‚fremd‘ sowie die Neubestimmung dieses Verhältnisses im Kontext der museumspolitischen Umwälzungen ab den 2000er Jahren bilden dabei den Ausgangspunkt. Im Anschluss daran wird der im Palais ablesbare, sich wandelnde Umgang mit der eigenen kolonialen Vergangenheit und den dazugehörigen Lieux de mémoire/Erinnerungsorten zu dem ersten Punkt in Beziehung gesetzt. Abschließend wird auf den Umgang mit dem Thema ‚Immigration‘ und seiner Verbindung mit dem Thema ‚Kolonialismus‘ vor dem Hintergrund der jeweiligen tagespolitischen Aktualität eingegangen. Alle benannten musealen Institutionen zeichneten und zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich explizit mit als ‚fremd‘ bzw. ‚anders‘ begriffenen Kulturen und Ethnien befasst haben und befassen. Sie geben daher einen Einblick in die Art und Weise, wie sich Frankreich als Nation öffentlichkeitswirksam zu verschiedenen Zeiten im Verhältnis zu ‚anderen/fremden‘ Kulturen und Ethnien gedacht und repräsentiert hat.
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Dieses Verhältnis zeichnet sich im Falle des Palais durch die relative Kontinuität der Definition des ‚Wir‘ als Nation, als Metropole aus, wohingegen das als ‚anders/fremd‘ definierte Gegenüber über die verschiedenen institutionellen Schichten des Palais hinweg sehr unterschiedlich gefasst und repräsentiert wurde. Mit dem Bau des Palais 1931 und seiner von vornherein festgelegten Funktion als dem ersten nationalen Kolonialmuseum wurde ihm eine klar definierte Perspektive auf Frankreich als Metropole und Zentrum eines großen Kolonialreichs eingeschrieben. Diese wird durch das Relief Janniots an der Frontfassade des Palais und das Fresko Ducos de la Hailles im Festsaal des Gebäudes bis heute visualisiert: Frankreich erhält von den Kolonien Produkte, Waren, Erzeugnisse, von denen es wirtschaftlich profitiert. Im Austausch bringt Frankreich den Kolonien humanistische Werte, Zivilisation, Technologie etc. Gleichzeitig propagierte man von Anfang an die humanistische Vision eines Kolonialismus ‚à la Lyautey‘. Hier stand die Verbreitung von Zivilisation bei gleichzeitigem Respekt von und Toleranz gegenüber den Traditionen der kolonisierten Völker im Vordergrund. So konnte das Empire vor den Augen der französischen Besucher des Palais gerechtfertigt und gleichzeitig die Notwendigkeit des Empire für die Zukunft Frankreichs vermittelt werden. Der Palais zeigte Frankreich als Nation, die ihre zivilisatorische Mission in den Kolonien erfolgreich umsetzen konnte und die ‚primitiven, unterlegenen‘ vor von ihr kolonialisierten Völker damit förderte und modernisierte. Im Gegenzug konnten die Kolonien nutzbar gemacht werden, sie leisteten einen Beitrag zum Fortkommen der französischen Nation, indem sie Waren und Güter produzierten und an Frankreich abgaben. Das ‚koloniale Andere/Fremde‘ war also ein gesellschaftlich, kulturell und zivilisatorisch unterlegenes Gegenüber, das es einerseits zu zivilisieren galt und das andererseits wirtschaftlich nutzbar gemacht werden konnte. Das Narrativ des Beitrags und des Austauschs, das hier aufscheint, wird in der Folge über die verschiedenen institutionellen Schichten des Palais hinweg zum Schlüssel der Wahrnehmung ‚fremder/ anderer‘ Kulturen. Während das Musée des Colonies noch relativ stark den wirtschaftlichen Beitrag der Kolonien betonte, änderte sich dies mit der Umwandlung des Palais in das Musée de la France d’outre-mer. Der neue Leiter, Ary Leblond, war bemüht, eine neue Variante dieses Beitrages in das Narrativ einzupflegen: Für ihn waren die Kolonien ästhetische Inspirationsquelle für das ‚französische Genie‘. Im Sinne Saids konnte sich Frankreich über die Inspiration durch die fremden/anderen Kulturen ästhetisch und kulturell erneuern. An dieser Vision des Empire und der Beziehung zwischen Metropole und Kolonien hielt man bis in die 1950er Jahre fest. In dieser Phase wurde der humanistische Kolonialismus eines Lyautey reaktiviert, um nun eine paternalistisch-brüderliche Perspektive auf das Empire bzw. seinen möglichen Nachfolger, die Union française, zu richten. Frankreich wurde als ‚gutmütige, beschützende‘ Metropole gegenüber seinen ‚Brüder-Völkern‘ gesehen. Auch wenn diese ‚Brüder‘ in dieser Denkweise immer noch deutlich hinter dem Entwicklungsstand der französischen Metropole zurückblieben, schließlich hatte der als spezifisch ‚französisch‘ verstandene
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Abenteurer-Geist und die Neugier in der Vergangenheit geholfen, die Welt zu entdecken und Zivilisation zu verbreiten. Erst in den 1960er Jahren verlor der Palais in dieser ursprünglichen, stark am Empire ausgerichteten Prägung seine Relevanz: Mit dem Verlust des Empire konnte die Perspektive auf das ‚koloniale Andere/Fremde‘ in der vormaligen Form nicht aufrechterhalten werden. Die Umwandlung des Palais in ein Museum für ozeanische und afrikanische Kunst bot jedoch ein neue, alternative Perspektivierung des ‚postkolonialen, außereuropäischen Anderen/Fremden‘ an: Nun waren es die ‚primitiven Künste‘, die man hier bewahren und ausstellen wollte. Damit wurde das Narrativ des Beitrags neu gewendet. Es galt nun, die künstlerischen ästhetischen Erzeugnisse als Beitrag zur ‚Weltkunst‘ zu retten, zu bewahren und den Franzosen zu vermitteln. Gleichzeitig sollte über das Zugeständnis des Kunststatus einer Hierarchie zwischen ‚eigen‘ und ‚fremd‘ entgegengewirkt und die Kunst des Fremden gegenüber der eigenen Kunst aufgewertet und emanzipiert werden. Diese veränderte Perspektivierung des ‚Fremden/Anderen‘, seiner ästhetischen Erzeugnisse durch die Brennlinse der Weltkunst, wurde später durch das von Chirac geschaffene Musée du Quai Branly fortgesetzt. Chiracs Verwendung des Konzepts der ‚Arts premiers‘ und ihre Einbeziehung in den Louvre sollten die Enthierarchisierung und Emanzipation fortführen. Jedoch betonte besonders das MQB mit seinem expliziten Fokus auf den außereuropäischen Kulturen, dass es sich nach wie vor um ‚Andere/Fremde‘, aus französischer Perspektive, handelte – schließlich waren auch in diesem Museum die außereuropäischen Kulturen unter sich. Zusätzlich wurde durch die Zuordnung ‚premier‘, wie Chirac sie vornahm, die Differenz zu und Abgrenzung von den westlichen bzw. französischen Kulturen verstärkt. Bei der Schaffung des MQB handelte es sich also weniger um eine grundsätzliche Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Frankreich und dem ‚Fremden/ Anderen‘ als vielmehr um die Fortführung des bereits im MAAO angelegten Verhältnisses zwischen dem Eigenen und dem Fremden. Frankreich als Hort der Kultur und Zivilisation bewahrt die zu Meisterwerken erkorenen Schätze ‚anderer/fremder‘ Kulturen, die vom Verschwinden, der Auslöschung bedroht sind. Eine tatsächliche Neubestimmung eben dieses Verhältnisses auf musealer Ebene stellte vielmehr die Integration des Phänomens der Immigration in den nationalen Geschichtskanon dar. Immigration war bis in die 1980er Jahre fachwissenschaftlich, aber auch museal ein missachtetes Phänomen. Diese Tatsache zeigte sich bis in die Planung der heutigen CNHI in Form der eindeutigen Ablehnung des Themas als ‚nicht musealisierbar‘ durch die Direction des Musées de France und das Kulturministerium. Die ersten Forderungen nach einem Immigrationsmuseum kamen aus dem zivilgesellschaftlichen Kreis. Verschiedene Akademiker und migrantische Vereine wollten das Phänomen sichtbar machen und damit aufwerten. Dies sollte maßgeblich über die Thematisierung in einem eigenen nationalen Museum passieren. Besonders die Unterbringung in einem ‚Tempel der Republik‘, dem Palais de la Porte Dorée, sollte diese Aufwertung unterstreichen. Der Palais wurde nun also erneut mit einem Museum ge-
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füllt, das sich mit der Beziehung der Nation zum ‚Fremden/Anderen‘ befasste – allerdings wurde dies nicht mehr als ‚unterlegen, entwicklungsbedürftig, exotisch‘ und vor allem auch weit entfernt gefasst. Es ging nun vielmehr darum, ein in der Metropole, innerhalb des als ‚eigen‘ definierten Raums der Nation präsentes ‚Anderes/Fremdes‘ in das ‚Eigene‘, die Nation, zu integrieren. Immigration wurde, wie Noiriel es in seinen Arbeiten zeigt, als potenziell spaltendes Element erlebt. Um dies zu überwinden, wurde in dem neuen Immigrationsmuseum das Narrativ des Beitrages bzw. des Austauschs erneut aktiviert: Immigranten leisteten seit Jahrhunderten einen wichtigen wirtschaftlichen, demografischen, gesellschaftlichen und kulturellen Beitrag zur Nation. Über diesen konnten sie als Teil der Nation, als Mehrwert für sie, begriffen werden: Frankreich konnte durch den ‚fremden Beitrag‘ eine Bereicherung, eine Erneuerung erfahren. Im Austausch bot Frankreich nach wie vor seine humanistischen Werte, seine Zivilisation und Kultur feil: „[…] c’est peut-être le seul point commun avec les fresques sur la colonisation qu’il y a, sur la colonisation, ce musée, il ne glorifie pas les grands conquérants, il glorifie les bras ouverts de la Grande France généreuse […]“1 – das ‚großzügige‘ Frankreich nahm die ‚Fremden‘ mit offenen Armen auf und ließ sie damit an der eigenen Gesellschaft, Kultur etc. partizipieren. Im Gegenzug bereicherten die ‚Fremden‘ die Nation. Damit bildet sich hier eine klare Kontinuitätslinie zwischen der Wahrnehmung des ‚Fremden/Anderen‘ zu Zeiten des Palais im kolonialen Kontext und der Wahrnehmung heute im Kontext der Darstellung von Immigrationsgeschichte heraus. Das Fremde/Andere wird durchgängig als potenziell das nationale Eigene schwächend oder gar spaltend angesehen, daher muss ihm eine aus Perspektive der Nation ‚nützliche Funktion‘ zugewiesen werden, die es erlaubt, seine Präsenz im Empire, im Umkreis der Nation oder gar innerhalb der Nation selbst, im Raum des Eigenen tolerieren und legitimieren zu können: Wenn das ‚Fremde‘ einen Beitrag zur Entwicklung, Bereicherung der Nation leisten konnte, würde es akzeptiert und in einer fruchtbaren Austauschverbindung zur Metropole gedacht. Dies konnte dann sogar die eigene ‚Wir-Identität‘ stärken, indem diese wiederum im Austausch für die Bereicherung Werte und Zivilisation stiftete. Die hier deutlich hervortretende Verbindung zwischen kolonialen Ausstellungspraktiken und der expositorischen Thematisierung von durch Migration geprägter Diversität im eigenen Land wird durch Hage hervorgehoben: For Hage, the multicultural museum is too often „a collection of otherness“ in which diversity is displayed as a national possession. Its roots, he argues, lie within the earlier history of the colonial ethnographic showcase in view of possession and control […] The main change, as he sees it, is one of context: For if the exhibition of the „exotic natives“ was the product of the power relation between the coloniser and the colonised in the colonies as it came to exist in the colonial era, the multicultural exhibition is the product of the power 1
Interview mit HP.
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relation between the post-colonial powers and the post-colonised as it developed in the metropolis following the migratory processes that characterised the postcolonial era.2
Das Zitat von Hage betont, dass sich für ihn zwischen der ethnologischen Zurschaustellung und der Ausstellung von Diversität nur der Kontext geändert habe, während das den beiden Ausstellungsformen zugrundliegende Kräfteverhältnis das gleiche blieb. Stellte zuvor die Kolonialmacht die kolonialisierten Kulturen aus, so stellte jetzt die ehemalige Kolonialmetropole die Diversität, die sich auch aus der (post-)kolonialen Migration in die Metropole speiste und speist, aus. Sie bleibt ein von der Nation, der Metropole aus gedachtes Phänomen, was erneut dazu dient, diese in ihrer Identität, in ihrem eigenen ‚So-Sein‘ zu bestätigen. Die deutlich hervortretende Kontinuität der Perspektivierung des nationalen Eigenen und des (post-)kolonialen Fremden und der dahinterstehenden Kräfteverhältnisse hängen, wie das Zitat von Hage andeutet, mit dem offiziellen Umgang mit und der Positionierung zur eigenen kolonialen Vergangenheit zusammen. Im Falle des Palais war diese bis in die 1950er Jahre durchaus Quelle des Stolzes und des nationalen Selbstbewusstseins. Erst in den 1960er Jahren wurde sie im Zuge des Verlusts des Kolonialreichs zu einem Tabuthema. So versuchte das MAAO sich in dieser Zeit stark von der Vergangenheit des Palais zu distanzieren. Emblematisch scheinen die mehrfachen Stellungnahmen des damaligen Leiters Marchal, der betonte, dass das Haus fälschlicherweise immer noch mit der Kolonialausstellung in Verbindung gebracht werde, aber nichts mehr mit dem Empire zu tun habe. Konkret bedeutete dies, dass man die Fresken im Gebäude verdeckte und es in ein genuines Kunstmuseum, einen Whitecube, verwandeln wollte, in dem neutral ästhetisch besonders herausragende ‚Starobjekte‘ bewunderte werden konnten. Die Ästhetisierung diente, wie bereits angerissen, der historischen Neutralisierung. Wenn man die künstlerische Schöpfung im Sinne Malrauxs und seines Weltkunst-Begriffs sowie seiner Vorstellung des Musée imaginaire als allgemeine menschliche Konstante begriff, damit alle Kunstwerke auf eine Stufe stellte, Vergleiche zwischen den unterschiedlichsten kulturellen Erzeugnissen herstellte, rückte der Erwerbungskontext der Objekte automatisch in den Hintergrund. Die Umwandlung ethnologischer Artefakte in Kunstwerke erlaubte eine Ausblendung der ambivalenten kolonialen Vergangenheit. Höhepunkte bildeten dabei im MAAO die Ausstellungen von Jean-Hubert Martin, der zuvor mit Les Magiciens de la terre im Centre Pompidou und dann mit der daran angelehnten Galerie der fünf Kontinente im MAAO diesen Ansatz auf die Spitze trieb. Das emanzipatorische Ansinnen, aber auch die damit einhergehende Willkür und Ambivalenz dieses Vorgehens traten offen zutage. Einerseits akzeptierte Martin alle von ihm ausgewählten Künstler als gleichrangig und stellte sie gleichwertig aus.
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Bennett, Exhibition, Difference, and the logic of culture, S. 61 f.
Schluss
Doch gleichzeitig verstanden sich die ausgewählten ‚Künstler‘ teilweise gar nicht als solche, noch waren alle präsentierten Werke im engeren Sinn Kunstwerke. Es handelte sich um eine Setzung des ‚Kurator-Künstlers‘, der die künstlerischen Schöpfungen, gedacht als menschliche Konstante, unter einem Dach versammeln und in seiner eigenen Vorstellung präsentieren wollte. Der Entstehungskontext, die ursprüngliche Funktion der Werke oder ihr Erwerbszusammenhang spielten hier keine Rolle mehr. Es zeigte sich in der Folge anhand des Nachfolgers des MAAO, dem Musée du Quai Branly, dass entgegen dem propagierten Willen zur Emanzipation und Gleichberechtigung die ursprüngliche, aus der Kolonialzeit geerbte Besitz- und Deutungshoheit auf französischer Seite erhalten blieb. So wurde mit der Aufnahme der ‚Arts premiers‘ in den Louvre und den daran anschließenden museumspolitischen Umwälzungen der chiracschen Ära zwar vordergründig die Aufnahme der außereuropäischen Kulturen, der ehemals ‚kolonialen Anderen/Fremden‘, in den westeuropäischen Kunstkanon vollzogen, ohne jedoch die koloniale Hierarchie der Kulturen, symbolisiert in der eigenen Deutungshoheit, aufgeben zu müssen: „Die Welt gehört (immer noch) uns (dem Westen)!“3 Im Falle des MAAO gelang jedoch die Verdrängung des kolonialen Erbes nie völlig. Bis zu seiner Schließung 2003 blieb es präsent und wurde vom Publikum als wesentlicher Bezugspunkt begriffen. Es ist daher nicht erstaunlich, dass anlässlich der Schließung des MAAO seine Funktion als Lieu de mémoire des Empire reaktiviert und betont wurde. Vor dem Hintergrund des schwierigen, von Tabuisierung und Verdrängung geprägten Umgangs mit der Vergangenheit des Palais seit den 1960er Jahren erscheint es allerdings umso erstaunlicher, dass man sich im Falle des zukünftigen Immigrationsmuseums für diesen Ort entschied. Trotz einiger kritischer Stimmen, die bereits während der Planungsphase ab 2003/04 laut wurden,4 schien dieser Ort überzeugend: Er wurde von den Akteuren vorrangig als prestigeträchtiger Ort perspektiviert, der helfen konnte, die Immigration aufzuwerten. Nicht nur, dass er verfügbar war und kein neuer kostspieliger Ort konstruiert werden musste, es war auch und vor allem ein ‚schöner, attraktiver‘ Ort, ein ‚Tempel der Republik‘, der das Phänomen Immigration dementsprechend positiv und ‚edel‘ darstellen helfen konnte – ‚anoblir l’histoire de l’immigration‘ war das entscheidende Schlagwort. Bezüglich der Vergangenheit des Ortes gab es zwar Diskussionen, wenn auch nicht von Anfang an klar war, wie man mit diesem Aspekt umgehen sollte. Jedoch bildete sich recht schnell die Überzeugung heraus, dass sich der Ort von selbst umdeuten lassen würde, durch seine offensive Umnutzung: „(C’est le) plus beau retournement de l’histoire“.5
Vgl. Price, Primitive Kunst in zivilisierter Gesellschaft, S. 121. Vgl. u. a. Blanchard, Un musée pour la France coloniale, Blanchard, Musée des immigrations ou Musée des colonies?, Bancel/Blanchard, Incompatibilité: la CNHI dans le sanctuaire du colonialisme français, S. 112–127. 5 Interview MC. 3 4
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Doch nicht nur in Bezug auf das Gebäude, sondern auch beim Inhalt der neuen musealen Präsentation des Phänomens Immigration spielte Kolonialismus eine Rolle. Einerseits wurde darüber diskutiert, ob die (post-)koloniale Einwanderung ihren Platz in der Dauerausstellung finden sollte. Diese Diskussion fand im Rahmen der definitorischen Aushandlung von Immigration und Immigranten innerhalb der neuen Institution im wissenschaftlichen Komitee statt und offenbarte sehr unterschiedliche Positionen. Einige Akteure wollten diese Form der Migration völlig herausnehmen, da sie das Thema der Immigration mit anderen Themen wie Kolonialismus und Sklaverei zu überfrachten schien. Andererseits visierte man in den ursprünglichen Planungen, die teilweise im Planungsbericht Toubons von 2004 enthalten sind, eine eigenständige inhaltliche Sektion zur Kolonisation und Dekolonisation an. Im Zuge der konkreten Umsetzung der CNHI verschwand das Thema allerdings aus der Dauerausstellung, und auch die geplante Umsetzung einer Ausstellung zur Vergangenheit des Gebäudes war 2007 bei der Eröffnung nicht vorhanden. Eine wichtige Rolle scheint die Debatte um das ‚Kolonialismusgesetz‘, den Artikel 4 von 2005, gespielt zu haben. Der in diesem Kontext hervorgerufene Eindruck der Omnipräsenz des Themas ‚koloniale Vergangenheit‘ im öffentlichen Raum leistete der Angst Vorschub, dass im Rahmen des Projekts das Thema ‚Immigration‘ auf das der Kolonisation reduziert werden könnte. Diese Befürchtung ist teilweise bis heute in der Institution spürbar: Jede Verbindung der Themen Immigration und Kolonisation wird unmittelbar als Reduzierung des einen auf das andere gedeutet. Selbst Patrick Boucheron, der mit einer neuen Vision für das Museum beauftragt wurde, lässt dies wieder durchblicken, wenn er betont: „Il ne s’agit pas, bien entendu, d’imposer à l’histoire des immigrations une surdétermination coloniale: cette histoire ne peut être que mondiale par vocation et comparatiste par méthode.“6 Diese Tatsache erscheint umso auffälliger, als dass es tatsächlich in den Diskussionen rund um die Planung nicht um eine solche Reduzierung ging, sondern um die Frage, ob nicht Kolonisation und Dekolonisation auch, neben anderen Themen, einen legitimen und expliziten Platz in der neuen Institution bekommen sollten bzw. ob nicht angesichts des Ortes, an dem das Immigrationsmuseum untergebracht werden sollte, eine Ausstellung zur kolonialen Vergangenheit des Gebäudes sinnvoll wäre. Die vehemente Ablehnung jedweder Verbindung der beiden Themen deutet auf die große Unsicherheit angesichts des Themas ‚Kolonialismus‘ und seiner Verbindung zur Immigration vonseiten vieler Akteure hin. In der Folge bemühte sich daher die Institution, das Thema ‚Kolonialismus‘ als ‚irrelevant‘ für die heutige Institution des Immigrationsmuseums darzustellen. Zu diesem Zweck wurde die Tatsache herangezogen, dass das Immigrationsmuseum ursprünglich unabhängig von der Unterbringung im Boucheron, Patrick, zit. Nach URL: https://www.histoire-immigration.fr/agenda/2020–01/mu see-national-de-l-histoire-de-l-immigration-faire-musee-d-une-histoire-commune?utm_source=sendi nblue&utm_campaign=Fvrier_2020&utm_medium=email (Zugriff 10.02.2020). 6
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Palais geplant wurde und daher nichts mit seiner Vergangenheit zu tun hatte. So wurde bei der konkreten räumlichen Erschließung des Gebäudes daher die Distanz zwischen dem Ort, seiner Vergangenheit und dem neuen Projekt vergrößert. Als Architekt für die Restaurierung und Umwandlung des Gebäudes wurde explizit P. Bouchain gewählt, der bewusst das Erbe des Palais sichtbar machen und die ‚große architektonische Leistung‘ des Schöpfers des Palais, Laprade, herausstreichen wollte. Der Palais wurde in weiten Teilen in seinen Ursprungszustand zurückversetzt und die koloniale Vorprägung trat deutlicher als zuvor wieder zutage. Es wurde als Denkmal des Empire hergerichtet. Getrennt davon wurde die neue CNHI in das Gebäude implantiert, wobei ihr Herzstück, die als erstes eröffnete Dauerausstellung, in einem Seitenflügel des ersten Stocks untergebracht wurde. Damit wurde intellektuell wie räumlich dem Bedürfnis der klaren Trennung beider Elemente, Ort/Gebäude und CNHI Rechnung getragen. Die Aneignung des Ortes, seine Integration in das Projekt der CNHI, vollzog sich daher verspätet. Für viele war zu Beginn vorerst die Umsetzung der ersten größeren Wechselausstellung der CNHI zum Thema ‚1931‘ eine völlig ausreichende Konzession an das Thema ‚Kolonialismus‘. Erst als sich, wie ein Interviewpartner, der maßgeblich an Planung und Umsetzung der CNHI beteiligt war, bestätigt, das arglose Umgehen mit dem Gebäude und seiner Vergangenheit für alle als ‚naiv‘ erwies, änderte sich die Strategie.7 Einerseits wurde nun zunehmend, vor allem mit der institutionellen Zusammenlegung des Aquariums mit der CNHI, der Palais als Gesamtkonzept gedacht und inszeniert. Sukzessive wurden dementsprechend zuerst ein Parcours zur Geschichte des Gebäudes und seinen einzelnen architektonischen Elementen und dann eine eigene feste Ausstellung zur Geschichte des Gebäudes im Zwischengeschoss eingerichtet. Andererseits fand das Thema ‚Kolonialismus‘ teilweise verstärkt in den Wechselausstellungen seinen Platz. Die Institution entwickelte damit eine Strategie der ‚mittleren Distanz‘ und der ‚temporären Toleranz‘ gegenüber dem Thema ‚Kolonialismus‘.8 In Bezug auf die koloniale Vergangenheit des Gebäudes entschied man sich, sie ob ihrer klaren Sichtbarkeit durch das Gebäude offen zu anzusprechen. Allerdings geschah dies in Form eines abgeschlossenen Narrativs: dem der Geschichte des Palais de Porte Dorée als Lieu de mémoire des Empire und Denkmal des Art déco-
Vgl. Interview mit CC. Diese Strategie der temporären Toleranz und der mittleren Distanz wird auch im aktuellen Programmformat ‚L’Envers du décor. Quand les artistes revisitent le Palais‘ des Museums deutlich: So bespielte der Schweizer Kommunikationsdesigner Ruedi Baur in diesem Rahmen vom 31.01. bis 02.02.2020 die Fresken des Gebäudes temporär mit einer Licht-/Textinstallation, die die koloniale Vergangenheit des Ortes thematisierte. Sie war deutlich zeitlich begrenzt (ein Wochenende) und lenkte die Aufmerksamkeit der BesucherInnen konzentriert auf die Fresken und ihren historischen Hintergrund. Vgl. MNHI, L’Envers du décor #3, URL: https://www.palais-portedoree.fr/fr/l-envers-du-decor-3–0?fbclid=IwAR0gdHPcejsDRfkKmQfsAg3glZfyhoKneG6pkyJYnJsBg9ae8q4jemQTP0 (Zugriff 10.02.2020) und URL: http://www.civic-city.org/ inscriptions/retour-en-images (Zugriff 10.02.2020). 7 8
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Stils. So wird die koloniale Vergangenheit als Erbe anerkannt und sichtbar gemacht, jedoch gleichzeitig in ausreichend historischem Abstand zur heutigen CNHI gehalten. Die Wechselausstellungen erlauben hingegen für einen begrenzten Zeitraum das ambivalente Thema ‚Kolonialismus‘ auch und vor allem in Verbindung mit Immigration, beispielsweise in Form der Thematisierung des Algerienkriegs, im eigenen Haus zuzulassen, ohne ihm allzu viel Raum geben zu müssen. Somit hatte die Institution einen Weg gefunden, dem Vorwurf zu entkommen, dass sie sich nicht mit dem Kolonialismus und der kolonialen Vergangenheit des Ortes befasse. Gleichzeitig wird keine dauerhafte räumlich wie inhaltliche Verbindung zwischen den beiden Themen geschaffen, obwohl gerade die Tatsache, dass sich an diesem Ort durchgängig Museen befunden haben, die sich explizit mit dem ‚Eigenen‘ und dem ‚Fremden‘ befasst haben, einen Ansatz für eine solche Verbindung böte. Die Fehlstelle, die hier innerhalb der Institution sichtbar wird, und die Weigerung, die Verbindung zwischen kolonialer Vergangenheit und Immigration gerade in Bezug auf die gesamtgesellschaftliche Wahrnehmung bestimmter Immigrationsgruppen im heutigen Frankreich anzuerkennen, spiegeln die noch nicht vollzogene gesamtgesellschaftliche Aufarbeitung des Themas ‚Kolonialismus‘. Das Zustandekommen des Artikels 4 von 2005, die verspätete Debatte um ihn, seine verzögerte Rücknahme sowie die Phase der offiziell nostalgischen Interpretation dieses Teils der französischen Vergangenheit unter dem sarkozyschen Paradigma des ‚non à la repentance / Nein zur Reue‘ unterstützen diese These. Es scheint offiziell, sowohl politisch als auch gesellschaftlich, noch kein konsensfähiger Interpretationsrahmen gefunden worden zu sein, der es erlaubt, einen differenzierten, wissenschaftlich fundierten und kritischen Blick auf die koloniale Vergangenheit Frankreichs und ihre Auswirkungen und Folgen in der Gegenwart zu werfen. In Bezug auf den Bereich der Immigrationsgeschichte scheint mit der neuen Institution hingegen ein großer Schritt in Richtung einer veränderten gesamtgesellschaftlichen Wahrnehmung des Phänomens gemacht worden zu sein. Die relativ lange Vorgeschichte verschiedener zivilgesellschaftlicher Initiativen in diesem Bereich zeugt von den Hürden, die hier genommen werden mussten. Vor allem politisch wurde ein solches Projekt lange Zeit als unbedeutend eingestuft. Ein relativ klar definierbarer Kreis von akademischen Akteuren, Aktivisten aus dem migrantischen Milieu und Akteuren aus dem kulturellen Bereich arbeitete seit den 1980er Jahren, parallel zur Etablierung der Immigrationsgeschichte als Forschungsfeld, kontinuierlich einerseits an der kulturellen wie historischen Rekontextualisierung des Phänomens in unterschiedlichen Ausstellungsformaten. Andererseits setzten sie sich für die Einrichtung eines nationalen Immigrationsmuseums ein. Die akademischen Akteure dieser Gruppen stammten überwiegend aus einer neuen Generation von HistorikerInnen, die in den 1980er zum Thema ‚Immigration‘ promoviert wurden und dazu beitrugen, Immigrationsgeschichte als Forschungsfeld zu etablieren. Die Akteure aus dem migrantischen Vereinsmilieu wurden teilweise im Kontext der Anfang der 1980er Jahre stattfindenden Marches des Beurs aktiv und setzten sich in diesem Kontext für eine Bewahrung des Gedächtnisses
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der ersten Generation von Immigranten ein. Der Bericht der AMHI aus den 1990er Jahren und der Bericht von El Yazami und Schwartz von 2001 zeugen von dem dauerhaft von dieser Gruppe affirmierten Willen, Immigration innerhalb einer nationalen musealen Institution sichtbar machen zu wollen und ihre historische, gesellschaftliche, wirtschaftliche und kulturelle Bedeutung für die Konstruktion der französischen Nation damit hervorzuheben. So sollte Immigration aus der zeitgenössischen, vor allem auch durch den Diskurs der Front national geprägten Wahrnehmung als ahistorisches soziales Problem herausgehoben und aufgewertet werden. Dieses Ansinnen von Akteuren der ersten Stunde, wie Gérard Noiriel oder Driss El Yazami, schrieb sich in der Folge tief in die Struktur und das Narrativ der CNHI ein. Insbesondere die Dauerausstellungen ‚Repères‘, aber vor allem die nachträglich eingerichtete Galerie des dons veranschaulichen dies. ‚Repères‘ stellt umfassend die Geschichte der Immigration in Frankreich der letzten 200 Jahre dar. Neben diesem Schwerpunkt auf einer historischen Einordnung des Phänomens wird auch der Bereich der Kultur und der Kunst herangezogen, um Immigration hier in einer alternativen Sichtweise darzustellen. Die Betonung kultureller Leistungen der Immigranten einerseits und die Einbeziehung von Kunstwerken, die sich mit dem Thema ‚Migration‘ auseinandersetzen andererseits, soll die Wahrnehmung von Immigration verändern. Die Ästhetisierung des Phänomens dient seiner Aufwertung und Emanzipation aus dem Bereich der Wahrnehmung als ‚sozialem Problem‘ und ‚politischem Konfliktthema‘: Über die Verschiebung des Themas in den Bereich der Kunst und Kultur wird es als bereicherndes Phänomen konsensfähig. Die Galerie des dons hingegen repräsentiert die ‚Stimme der Immigranten‘, indem hier von Migranten bzw. ihren Nachfahren gespendete Objekte ausgestellt und von dem entsprechenden individuellen biografischen Kontext begleitend erläutert werden. Das Motiv des Beitrages, der Bereicherung der französischen Gesellschaft und Kultur durch die Immigranten, scheint deutlich durch. Biografische Einzelfallbeispiele der Galerie des dons wie die Präsentation eines der letzten Poilus, Césare Ponticelli, zeigen dies: Ponticelli kämpfte im Ersten Weltkrieg als Italiener für Frankreich, um, wie er selbst es ausdrückt, sich bei Frankreich zu bedanken, das ihn aufgenommen habe. Die CNHI greift dabei durchaus auf ältere Vorläufer-Modelle im Ausstellungsbereich zurück: Einen ähnlichen Ansatz wiesen auch Formate wie ‚France des étrangers. France des libertés‘ auf, die hier Frankreich als die bewusste Wahl vieler Immigranten darstellte, die von der (Meinungs-, Presse-)Freiheit angezogen, ihre eigenen Zeitungen und Zeitschriften publizierten – Frankreich gab ihnen den Wert der Freiheit, die Immigranten dankten es ihm mit intellektueller und kultureller Bereicherung. Dieser Fokus bedeutete trotz seiner zentralen Funktion bei der Anerkennung und Aufwertung von Immigration auch eine Einengung der Perspektive. Im Anschluss an Ausstellungen wie ‚Toute la France‘ wurde eine miserabilistische Vision von Immigration abgelehnt, sodass in der Folge in den unterschiedlichen Sektionen der Dauerausstellung negative Aspekte, wie eine gescheiterte Integration, das Phänomen der Sans-papiers etc., einen weitaus weniger prominenten Platz fanden. Aspekte wie die konkrete Ver-
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flechtung von Immigration und französischer Gesellschaft, Kultur etc. bleiben außen vor. So wird zwar zu Anfang der Dauerausstellung ‚Repères‘ ein eher kritischer Ansatz gewählt, der Aspekte wie eine nicht dauerhafte Immigration, identitäre Zerrissenheit oder auch Rassismus offen thematisiert. Doch im Verlauf gleitet die Dauerausstellung immer deutlicher in einen eher positiv konnotierten Beitragsdiskurs und die Darstellung gelungener Integration ab. Diese letzte Tendenz wird dann in der Galerie des dons verstärkt. Zwar wird den Immigranten eine Stimme verliehen, sie sollen selbst ihr Schicksal erzählen und können sich mit den dazugehörigen Objekten selbst Sichtbarkeit verleihen. Doch gleichzeitig wird über die Auswahl der Biografien und Geschichten bzw. die Tatsache, dass sich meist Immigranten bzw. ihre Nachkommen beteiligen, die stolz auf ihre Geschichte sind, erneut die Perspektive auf positive Beiträge und gelungene Integration verengt. Wie bereits im Fall des Kolonialismus festgestellt, so sind auch hier die Wechselausstellungen eine Ausnahme: Insbesondere die Ausstellungen zum Algerienkrieg und zur maghrebinischen Immigration durchbrechen dieses Bild. Dabei ist ein wesentlicher Faktor der vermehrt dargestellte Alltag der jeweiligen Immigranten in Frankreich, die explizite Darstellung ihrer Perspektive auf Frankreich sowie umgekehrt die Perspektive Frankreichs auf diese Immigrantengruppen. Trotz der manifesten Defizite kommt der CNHI eine immense gesellschaftliche und politische Bedeutung zu – ihre reine Existenz scheint vor dem Hintergrund der äußerst ambivalenten Haltung Frankreichs zum Phänomen Immigration erstaunlich. Der tagespolitische Kontext spielte eine immense Rolle bei ihrer Entstehung und verdeutlicht den äußerst kleinen Zeitraum, in dem das Projekt überhaupt möglich war, wie auch die zentrale Rolle von politischen Akteuren wie Jacques Toubon. Innerhalb verschiedener Interviews wurde betont, dass dieses Projekt nur nach 2002 und vor 2005/06 denkbar war: Der Ausgang des ersten Wahlgangs der Präsidentschaftswahlen und die unabdingbare Abgrenzung Chiracs vom Front national machten die Bewilligung des Projekts auf oberster politischer Ebene möglich und brachten ihm den Grad an ‚official backing‘ ein, den es brauchte, um auch tatsächlich realisiert zu werden. Alle Interviewpartner bestätigen dabei die herausragende und ungewöhnliche Rolle Toubons, der sich persönlich für das Projekt einsetzte. Ein nationales Immigrationsmuseum war nur auf staatlicher Ebene mit einem persönlichen politischen Fürsprecher möglich. Bereits die Eröffnung 2007 zeigte, wie schnell sich das zeitliche Fenster politisch wieder schließen konnte. Nicolas Sarkozy, der Nachfolger Chiracs, war ein Gegner des Projekts und machte dies auch realpolitisch mit der Schaffung eines Ministeriums für Immigration und nationale Identität parallel zur Eröffnung der CNHI deutlich. War das Museum auch schon zuvor nicht unbedingt konsensfähig gewesen, so wurde es nun zunehmend in die tagespolitischen Debatten um Immigration verwickelt. Besonders das regelmäßige Engagement der verschiedenen akademischen Akteure aus dem wissenschaftlichen Beirat der CNHI in der Presse verdeutlicht dies: Anlässlich der Ankündigung der Schaffung des neuen Ministeriums trat ein Großteil der Wissenschaftler aus selbigem aus. Dies war der Anstoß für eine in der Presse um-
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fangreich thematisierte Reihe an Debatten um das Museum und die aktuelle Immigrationspolitik. Damit schwand zunehmend die politische Unterstützung, während die Verstrickung in Kontroversen rund um das Thema ‚Immigration‘ zunahm. Dies gipfelte in der mehrmonatigen Besetzung des Museums durch Sans-papiers 2010. Sarkozys Auffassung von Immigration, der er vor allem mit Härte, Selektion und Repression begegnen wollte, war nicht mehr mit der Vision des ersten nationalen, staatlichen Immigrationsmuseums vereinbar. Der Wegfall des ‚official backing‘ und die schwindende politische Unterstützung, die sich auch in der Weigerung, im Falle der Besetzung durch die Sans-papiers von Regierungsseite einzugreifen, zeigte, veränderten die Institution. Sie ließen einen Widerstand gegen jede Art der Polemisierung und der Einbindung in tagesaktuelle Debatten wachsen: Die CNHI wollte kein Ort der Kontroverse mehr sein. Die deutliche ‚Verletzung‘, wie es ein Interviewteilnehmer bezeichnet, die die Institution durch die Verweigerung einer politischen Legitimierung erfuhr, beeinträchtigte die Offenheit und Kritikfähigkeit der CNHI. Dies wird besonders in den Tätigkeitsberichten ab 2011 deutlich, in denen die Besetzung durch die Sans-papiers als schwerer Einschnitt in der eigenen Entstehungsphase und als verantwortlich für ein großes Imageproblem gesehen wird. Dementsprechend groß ist hier die Erleichterung, als Hollande endlich die CNHI nachträglich einweiht und die politische Unterstützung, die offizielle Legitimität und Anerkennung der CNHI gegeben sind. Damit zeigt sich, wie abhängig die CNHI in ihrem Selbstbild, ihrer Funktion und ihrer Legitimität vom tagespolitischen Kurs in Sachen Immigration war und ist. Diese Abhängigkeit schränkte ihren Handlungsspielraum besonders in der Anfangsphase bis 2011/12 maßgeblich ein. Geprägt durch die Debatten und Polemiken, die bereits zur Eröffnung rund um das Haus stattgefunden hatten, wich man in der Folge aufgrund der Verweigerung politischer Unterstützung und der stetigen Infragestellung des Hauses Kontroversen aus. Wie J. Hainard anlässlich eines ‚table ronde‘ zur Ausstellung ‚1931‘ feststellte, spürt man in der CNHI eine Abwehrhaltung gegenüber der potenziellen Funktion des Museums als Ort der Kontroverse. Dies war in seinen Augen fatal, denn gerade das von sich aus kontroverse, nicht konsensfähige Thema der Immigration fordere eine solche Funktion von der CNHI ein. Insbesondere mit Blick auf die zentrale Aufgabe des Hauses, die gesamtgesellschaftliche Wahrnehmung von Immigration verändern zu wollen, scheint die offene Diskussion, Kritikfähigkeit und die Bereitschaft, ein Ort der Kontroverse zu sein, fundamental. Denn wie der französische Soziologe D. Wolton schreibt: „[…] seule l’action politique et la controverse – par exemple portées par des associations, des collectifs, des intellectuelles – peuvent déconstruire les stéréotypes issus du passé […]“.9 Die Verweigerung gegenüber der Kontroverse und die Zielsetzung, WahrnehWolton, Dominique, Des stéréotypes coloniaux aux regards post-coloniaux: L’indispensable évolution des imaginaires, in: Blanchard, Pascal / Bancel, Nicolas (Hrsg.), Culture post-coloniale 1961–2006, Paris 2005. S. 255–268. S. 257. 9
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mung und Stereotype verändern zu wollen, gerieten in Konflikt und stellen bis heute eine konstante innere Spannung der Institution dar. Ein wichtiger Punkt, der dabei auch eine Rolle spielt, ist die Identität der CNHI an sich, ihr Charakter als Institution. Der Grad ihrer musealen Prägung wurde dabei seit den ersten Planungen kontrovers diskutiert. So wurde das Museum einerseits ganz grundsätzlich als kulturelle und gesellschaftliche Institution im Rahmen der Planung der CNHI scharf kritisiert und abgelehnt. Das Museum wurde als ‚staubiger‘, ‚konservativer‘ Ort gesehen, bei dem die Gefahr bestehe, dass er das Thema ‚Immigration‘ entweder zu sehr glorifiziere oder ‚leblos‘ erscheinen lasse. Parallel wurden andererseits von Anfang an klassisch museale Aufgaben wie das Sammeln, Bewahren und Ausstellen von Objekten in das Projekt aufgenommen. So erschien beispielsweise die Erstellung einer Dauerausstellung zur Vermittlung und Rekontextualisierung des Phänomens Immigration als wesentlich. Dabei spielte auch eine Rolle, dass trotz des ‚staubigen Bildes‘, das viele Akteure von der Institution Museum hatten, den meisten gleichsam bewusst war, dass traditionell das nationale, staatliche Museum der Ort war, um ein Phänomen öffentlichkeitswirksam anzuerkennen und in den Kanon der Nation und der Republik aufzunehmen. Die Planungen deuteten es an, die Interviews und die spätere Umbenennung in Musée de l’histoire de l’immigration bestätigen die Vermutung: Eigentlich wollte man hier von Anfang an, trotz aller Experimente im Bereich der Titulierung der zukünftigen Institution, ein Museum umsetzen. Dass dies vorläufig nicht offiziell geschehen konnte, lag auch und vor allem am Widerstand der Direction des musées de France, die ihr klassisches Bild vom Museum als einem Ort mit einer festen Sammlung, bestehend aus ästhetisch ansprechenden Objekten, die einem Publikum dargeboten werden konnten, aufrechterhalten wollte. Immigration wurde vonseiten des Kulturministeriums marginalisiert und als nicht-musealisierbar bewertet, was im Umkehrschluss die Notwendigkeit der Veränderung der Wahrnehmung von Immigration bestätigte. Gerade die Unterbringung eines Themas wie ‚Immigration‘ in einem nationalen Museum konnte eingefahrene Betrachtungsweisen aufbrechen und unterstrich das gesellschaftliche und politische Potenzial, das in der Institution Museum steckt. Mit Wolton gesprochen, eignen sich auch und besonders Museen als Orte der Kontroverse, obgleich die CNHI sich dieser Funktion teilweise verweigerte. Die vorliegende Arbeit hat damit zu zeigen versucht, dass das Museum an sich, in seiner institutionellen Ganzheit, eine wichtige historische Quelle darstellt, die Aufschluss geben kann über die Selbstwahrnehmung und Identität von Nationen, die damit in Verbindung stehenden Deutungsansätze von ambivalenten Themen der Vergangenheit und Zukunft, ihre Abgrenzung und In-Beziehung-Setzung zu anderen, fremden Kulturen und Ethnien sowie die Eingebundenheit des Museums in aktuelle, zeitgenössische, gesellschaftliche, politische und kulturelle Debatten. Die Untersuchung des Einzelfalls des Palais de la Porte Dorée zeigt konkret die Entwicklung der genannten Elemente für Frankreich im Zeitraum von 1931 bis heute auf. Diese sehr spezifische Entwicklung kann in Beziehung gesetzt werden zu anderen ehemaligen
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westlichen Kolonialmuseen, wie es R. Aldrich vorschlägt. Sie waren alle, wie der Palais, gezwungen, über die Zeit der Dekolonisation hinweg eine neue Identität finden zu müssen, die in Anbindung an die jeweilige Verfasstheit der eigenen Nation und ihrer Perspektive auf die koloniale Vergangenheit und damit auf außereuropäische Kulturen in Beziehung gesetzt werden musste und muss.
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Abkürzungsverzeichnis
ADEIAO ADRI AMANA Bdic CCI CNHI DMF EP FAS FASILD GIP MAAO MFOM MH MNATP MNHI MQB Mucem
Association pour le développement des échanges interculturels au musée des arts d’Afrique et d’Océanie / Association pour la défense et l’illustration des arts d’Afrique et d’Océanie Association pour le développement des relations interculturelles Assistance morale et aide aux Nord-africains Bibliothèque de documentation internationale contemporaine Centre de création industrielle Cité nationale de l’histoire de l’immigration Direction des Musées de France Établissement publique Fonds d’Action Sociale Fonds d’Action et de Soutien pour l’Intégration et la Lutte contre les Discriminations Groupement d’intérêt public Musée des arts africains et océaniens / Musée des Arts d’Afrique et d’Océanie Musée de la France d’outremer Musée de l’homme Musée national des arts et traditions populaires Musée national de l’histoire de l’immigration Musée du Quai Branly Musée des civilisations de l’Europe et de la Méditerranée
Verzeichnis der geführten Interviews
Die nachfolgend aufgeführten Interviews wurden alle im Laufe des Jahres 2015 durchgeführt. Es handelt sich um halbgesteuerte, Leitfaden gestützte Interviews. Sie wurden jeweils mit unterschiedlichen Akteuren, die an verschiedenen Phasen der Planung und Umsetzung teilhatten, geführt. Die Akteure stammen aus verschiedenen Berufsgruppen und haben teilweise selbst einen Migrationshintergrund. PC HE BC KI MC DI HP CC
Politologin (an versch. Planungsgruppen bez. der CNHI vor 2007 beteiligt) Historikerin (an versch. Planungsgruppen bez. der CNHI vor 2007 beteiligt) Angestellte im öffentlichen Dienst (Bildungsministerium) (an versch. Planungsgruppen bez. der CNHI vor 2007 beteiligt) Kurator (nur anfänglich an Planungsgruppen bez. Der CNHI vor 2007 beteiligt) Museumspädagogin CNHI/MNHI (an keiner der Planungsgruppen vor 2007 beteiligt) Demograf (an versch. Planungsgruppen bez. der CNHI vor 2007 beteiligt) Historikerin (an versch. Planungsgruppen bez. der CNHI vor 2007 beteiligt) Leitungsfunktion innerhalb der CNHI (an versch. Planungsgruppen bez. der CNHI vor 2007 beteiligt)
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Namens-/Personenregister
Namens-/Personenregister
Abbé Grégoire 77, 84 Agnès b. 390 Albanel, Christine 317, 347 Angoulvant, Gabriel Louis 50 Antonetti, Raphaël 79, 83 f. Arman 167 Baker, Josephine 43, 388 Bancel, Nicolas 12, 15 f., 22 f., 38, 41 f., 49, 52, 209, 242 ff., 250 ff., 284 f., 325 f., 330, 340, 382 ff., 415, 421 Bartolone, Claude 219, 253, 303 Battistini, Roberto 390 f. Beauregard, Victor 45, 55 Belkahia, Farid 167 Ben, Joe ( Jr.) 163 f. Bernard, Philippe 176, 187 ff., 210 ff., 220, 226, 236, 254, 258 Bernardin de St. Pierre, Jacques-Henri 58 Besancenot, Jean 82 ff. Besson, Eric 315, 346 f. Besson, Maurice 86 Beyer, Victor 138 f. Biasini, Émile 129 f. Biazin, Clément-Marie 144 Blanc-Chaléard, Marie-Claude 20, 26, 181, 184, 187 f., 220, 236, 254, 307, 311 f., 318 Blanchard, Pascal 12 ff.,22 f., 38, 41 ff., 52, 154, 209, 242, 250 ff., 284 f., 296, 304 ff., 325 f., 330, 340, 382 ff., 415, 421 Blévis, Laure 37, 43, 54, 344, 392, 394 ff. Bloncourt, Gérald 390 f. Blum, Léon 60 Boas, Franz 115 f. Börüteçene, Handan 392
Boudjelal, Bruno 392 Bouchain, Patrick 286 ff., 301, 308 ff., 384, 417 Boucheron, Patrick 13, 359, 416 Bourouissa, Mohamed 392 Bouviolle, Maurice 84 Bouziri, Saïd 204 f., 242, 254 Bruly Bouabré, Frédéric 163 f. Brunet, Louis 48 Bugatti 369 Bugeaud, Thomas Robert 89 Cabana, Camille 154, 157 Cachin, Françoise 247 ff., 251 Canal, Laurence 220 Carrère d’Encausse, Hélène 315 Casse, Germaine 103 Cayla, Léon 52, 54, 85 Césaire, Aimé 285, 333 Chassériau, Théodore 77, 87, 95 Chatelain, Jean 120, 130 Cherkaoui, Sidi Larbi 311 Chirac, Jacques 11, 17 ff., 21, 118, 158 f., 166, 176, 206 ff., 225 ff., 230 ff., 260, 267 ff., 298 ff., 324 ff., 338, 341, 346, 412, 415, 420 Cieslewicz, Roman 392 Collcut, Thomas 44 Coran, Georges 102 f. Costa-Lacoux, Jacqueline 209 Couturier, Marc 167 f. Curie, Marie 345, 367, 369 Darcos, Xavier 317, 346 f. Decamps, Alexandre-Gabriel 57, 95 De Gaulle, Charles 94, 107, 110 Dehodencq, Alfred 95
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Namens-/Personenregister
Delacroix, Eugène 57, 95 Delanoë, Bertrand 318 Delmas, Gilles 311 Delmas, Juliette 83, 85 Denderen, Ad van 365 Devisse, Jean 153, 155 Dewitte, Philippe 177, 203, 205, 209, 220, 236, 266 Dierx, Léon 75, 84 f. Dijoud, Paul 182 Donnedieu de Vabres, Renaud 304 Doumer, Paul 71 Douste-Blazy, Philippe 165 Dreyfus-Armand, Geneviève 20, 177, 209, 220, 236, 254, 311 f., 318 Drivier, Léon-Ernest 50 Duchêne, Albert 55 Ducos de la Haille, Pierre-Henri 51, 288, 388, 411 Dufoix, Georgina 194, 196, 201 Dumoulin, Louis 48 Dupleix, Joseph-François 106 Dupré, Marie-Claude 166
Gaba, Meschac 391 Gaillot, René 84 Gallieni, Joseph 71 Gaso-Cuenca, Gabriel 220 Gauguin, Paul 57, 77, 87, 95 Georges, Nicolas 220 Géricault, Théodore 95 Gervereau, Laurent 38, 41 f., 49, 52, 176 f., 209 ff., 252, 254 Ghazel 366 Girault, Charles 44 Giscard D‘Estaing, Valérie 181 Gollnisch, Bruno 327 Gottesdiener, Hana 171 Grassani, Alessandro 390 f. Green, Nancy 12, 20, 183, 209, 220, 225, 236, 254, 297, 307, 311 f. Grognet, Fabrice 230, 290 f., 392, 404 f. Gruson, Luc 255, 260 ff., 343, 358, 366, 368, 374 f., 382, 392, 406 f. Guiart, Jean 109, 119 ff., 134, 139 Guillaume, Paul 67 Guitart, Cécil 153 ff.
Eidelman, Jacqueline 24, 115, 120 f., 142, 150, 153, 171 Elhadad, Lydia 292 f. El Karoui, Hakim 219 El Yazami, Driss 19, 38, 176, 178, 183, 188 f., 197, 202 ff., 218 ff., 233 ff., 240, 245, 253 f., 259, 270 ff., 284, 299, 304, 390, 392, 397 f., 401 ff., 419 Erra, Mercedes 358
Hainard, Jacques 344, 349, 393 ff., 421 Hambourg, André 84 f. Hamy, Ernest-Théodore 46 Hazoumè, Romuald 167 Heidmann, Pierre 82 ff. Hérain, François de 102 Hollande, François 317, 342, 348, 356 f., 421 Hortefeux, Brice 312 ff., 321 f., 337, 341
Faidherbe, Louis 71, 89 Falaize, Benoît 321 Féau, Etienne 154, 164 ff. Fernandez, Ramona 378 f., 382 Ferry, Jules 58, 71 Filippetti, Aurélie 354 Fillon, François 317 Florisoone, Michel 111, 114 ff., 120 f., 128 ff., 153, 289 Foucauld, Charles (Père) de 84, 86 Friedmann, Jacques 17, 130, 158 f., 173, 302 Fritz, Alphonse 92 f. Fromentin, Eugène 57, 95
Janniot, Alfred 50 f., 384, 388, 411 Jaussely, Léon 50 Jospin, Lionel 188, 191, 207, 219, 224, 229 ff., 303, 305 Jouve, Paul 102 f. Jouveau-Dubreuil 70, 77 Julienne, Loïc 286 Kal, Karim 365 f. Karembeu, Christian 230 Karkar, Lila 380 Kedadouche, Zaïr 184, 236, 254 Kerchache, Jacques 118, 124, 158 Kert, Christian 324
Namens-/Personenregister
Kleiber-Schwartz, Liliane Konaté, Dialiba 167 f.
146, 156 f.
Lafont-Couturier, Hélène 290 ff., 301, 344, 392, 394 f. Lallaoui, Mehdi 242, 254 Lang, Jack 141, 147, 152, 154 f., 194, 196, 201 La Pérouse, Jean-François de 106 Laprade, Albert 50 ff., 286 f., 384, 417 Lavier, Bertrand 163 f. Le Cour Grandmaison, Olivier 337 f. Leblond, Ary 58, 63 ff., 73 ff., 78 ff., 82 ff., 89 ff., 94 f., 101 ff., 411 Leblond, Marius 75, 77 Leiris, Michel 120 Le Pen, Jean-Marie 19, 231, 326 f., 334 Lepesqueux, Henriette 102 f. Lethière, Guillaume 87 Lequin, Yves 180, 184 Lévi-Strauss, Claude 116, 120 f., 303 Lhote, André 83 Liauzu, Claude 184, 323, 325 Loeb, Pierre 67 Loubet, Émile 111, 113 Luca, Lionel 326 f. Lucain, Marcel 89, 91 ff., 101 ff. Lucchesi, Xavier 167 Lyautey, Hubert 15, 40, 48 ff., 53 ff., 62 ff., 86 ff., 101 ff., 287, 411 Magnard, Stéphane 102 f. Mahfoufi, Mehena 157 Mailaender, Thomas 368 Maire, André 82 ff., 103 Malangi, David 163 f. Mahlangu, Esther 167 Malraux, André 107, 109, 114 ff., 126 ff., 137 ff., 162, 168 f., 289, 414 Manouchian, Missak 370 Marchal, Henri 14, 109 ff., 133 ff., 145 ff., 160 ff., 174, 414 Marchand, Jean-Baptiste 13, 77, 82, 387 Marilhat, Prosper 95 Marker, Chris 118 Martin, Jean-Hubert 110, 159 ff., 414 Mascart, Paul 83 ff. Mascart, Roland 83 ff.
Matos, Batista de 369 Mauss, Marcel 181, 375, 404 Mazaubrun, Hélène du 375, 382 Meauzé, Pierre 23, 109, 114, 119 ff. Mekachera, Hamlaoui 326 f. Merwart, Émile 70, 87 Mesquida, Kléber 327 Messager, Annette 165, 167 Milza, Pierre 176, 183 f., 209 ff. Mitterrand, François 138, 152, 196, 205 f., 226, 229, 269 Mody 350, 378, 381 f. Môquet, Guy 339 Morelli, Anne 184 Morillot, Octave 83, 85 Morlet, Jean 86, 94 ff., 110 ff. Nejmi, Malik 392 Noiriel, Gérard 12, 18 ff., 176 ff., 184 ff., 209, 216, 220, 236, 240, 254, 270, 276, 297, 304, 306 f., 311 ff., 413, 419 Olagnier-Riottot, Marguerite 109, 119 ff., 134, 136, 149 Olivier, Marcel 39 f., 45, 47 f., 50, 53 ff., 61, 65 Orain, Françoise 343 Palewski, Gaston 62 ff., 71 ff., 81 Papillault, Georges 56, 66 Paulme, Denise 124 f. Pavie, Auguste-Jean Marie 58, 71 Payeur, Pascal 292 ff., 319, 361 Pécresse, Valérie 312, 317, 347 Père Ghys 265 f. Perjovschi, Dan 391 Pernot, Mathieu 392 Perroti, Antonio 192 ff., 216 Pezzoni, Antonia Guiseppa 378 Piantoni, Frédéric 391 Pinart, Alphonse 168 Pissarro, Camille 87 Plossu, Bernard 24, 171 Pompidou, Georges 226 Ponticelli, Lazare 322, 376, 379 ff., 419 Ponty, Janine 12, 177, 181 ff., 196 f., 209, 230, 242, 254, 296 ff., 307, 390 ff., 407 Pottier, René 83, 85
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Namens-/Personenregister
Rabardelle, Antoine 87 Raffarin, Jean-Pierre 176, 232 ff., 247, 249, 261, 267, 271, 280, 299, 304 f. Ratton, Charles 67 Rebérioux, Madeleine 184, 226 Reynaud, Paul 51, 57, 60, 65, 287, 388 Rivet, Paul 46 f., 85 Rivière, Georges-Henri 46 f., 58, 68, 120 Rohner, Georges 83 Rollin, Louis 65, 73, 81 f. Rosa, Hervé di 167 Rouch, Jean 303 Rousselle, Olivier 220 Salles, Georges 120, 125 Salmet, Ariane 259 Saporta, Karine 392 Sarasin, Fritz 167 Sarraut, Albert 49, 84 Sarkozy, Nicolas 16, 20, 254, 282, 308, 310 ff., 322, 328, 333 ff., 346 ff., 381, 418, 420 f. Savorgnan de Brazza, Pierre 89, 101, 103, 106, 134, 144 Sayad, Abdelmalek 346 f. Schnapper, Dominique 184 Schor, Ralph 183, 196, 206, 220 Schor, Paul 315 Schwartz, Rémy 19, 176, 188 f., 218 ff., 233 ff., 254, 272, 284, 304, 419 Sherman, Augustus Frederick 322, 389, 392 Sel, Ahmet 392 Samba, Chéri 167 Simon, Patrick 20, 311 ff. Sitruk, Patricia 344, 349 Spreckelsen, Johann Otto von 206 Stoléru, Lionel 182 Stora, Benjamin 177, 209, 220, 242, 320 f., 343, 358, 390 f., 400 ff.
Telhine, Mohammed 219, 242, 253 f., 303 Témime, Émile 184, 209 ff., 236, 254, 307 Thil, Jeanne 103 Thuram, Lilian 230 Tjibaou, Jean-Marie 139 f. Toguo, Barthélémy 366 ff., 371, 378 Toubon, Jacques 184, 189, 218, 232 ff.,242 ff., 253 ff., 266 ff., 282 ff., 299 ff., 341 ff., 358, 361, 393, 400, 404, 416, 420 Trouille, Clovis 167 Vanneste, Christian 324, 327 Verger, Pierre 144 Verne, Jules 102, 104 ff. Viatte, Germain 159, 166 Viet, Vincent 20, 307, 311 f., 318 Volovitch-Tavarès, Marie-Christine 12, 20, 209, 220, 236, 254, 258, 297, 307, 311 f., 318 Vorontzhoff 378 Weil, Patrick 18, 20, 38, 176, 183 ff., 218, 220, 229, 236, 254, 304, 311 f. Weill, Pierre David 120 Wieviorka, Michel 220, 315 Wihtol de Wenden, Catherine 181 ff., 197, 236, 254, 390, 392 Yalter, Nil 392 Yong Ping, Huang 163 f. Zachmann, Patrick 392 Zeggar, Hayet 220 Zidane, Zinédine 230, 405 Ziouani, Abdelmadjid 380, 382
Der Palais de la Porte Dorée wurde 1931 ursprünglich als Kolonialpalast für die Exposition coloniale internationale erbaut. Er hat seitdem verschiedene Museumstypen beherbergt und dient heute dem Musée nationale de l’histoire de l’immigration als Bleibe. Damit han delt es sich um einen doppelten Erin nerungsort: des Kolonialismus und der Immigration. Die kontinuierliche Ent wicklung der ‚musealen Schichten‘ des Palais erlaubt es Gwendolin Lübbecke, an diesem Ort die Veränderungen des Umgangs mit der kolonialen Vergan genheit von 1931 bis 2016/17 zu unter suchen. Entscheidend ist dabei die
ISBN 978-3-515-12779-0
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Frage nach den Bezügen zwischen Kolonialismus und Immigration, die von der heutigen Institution aufge macht wird. Es zeigt sich eine bemer kenswerte Konstanz in der Inszenierung des Anderen /Fremden als nützlichem Beitrag zur nationalen (französischen) Gesellschaft, Kultur und Wirtschaft – sowohl zu Zeiten des Kolonialmuse ums als auch nach der Umgestaltung in ein Immigrationsmuseum. Obwohl die Definition des Anderen / Fremden selbst extremen Wandlungsprozessen unterworfen war, ist seine museale Inszenierung doch diesem konstanten Leitmotiv unterworfen.
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