Die Botschaft des Neuen Testaments: Eine kurz gefasste neutestamentliche Theologie [1 ed.] 9783788735050, 9783788735036


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Die Botschaft des Neuen Testaments: Eine kurz gefasste neutestamentliche Theologie [1 ed.]
 9783788735050, 9783788735036

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DIE BOTSCHAFT DES NEUEN TESTAMENTS Walter Klaiber

Die Botschaft des Neuen Testaments Eine kurz gefasste neutestamentliche Theologie

Die Botschaft des Neuen Testaments Herausgegeben von Walter Klaiber

Walter Klaiber Die Botschaft des Neuen Testaments

Vandenhoeck & Ruprecht

Walter Klaiber

Die Botschaft des Neuen Testaments Eine kurz gefasste neutestamentliche Theologie

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Da ten si nd im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2021 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D – 37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlaggestaltung: Grafikbüro Sonnhüter, www.sonnhueter.com Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2567-9163 ISBN 978-3-7887-3505-0

Vorwort

»Wort des lebendigen Gottes«, mit dieser Formel enden im katholischen Gottesdienst die biblischen Lesungen. Es gibt allerdings eine lebhafte Diskussion, ob diese Aussage bei allen Lesungen passend ist. Ist wirklich alles, was vorgelesen wird, »Wort des lebendigen Gottes«? Manche stellen diese Frage viel grundsätzlicher: Hat uns die Bibel überhaupt noch etwas zu sagen? Können wir in ihren Worten heute noch die Stimme Gottes hören? Verstehen wir ihre Botschaft und trifft sie unsere Situation? Das aber führt zur nächsten Frage: Was ist die Botschaft der Bibel? Lässt sich das, was die verschiedenen Bücher sagen, auf einen Nenner bringen? Gibt es so etwas wie die Botschaft des Alten oder des Neuen Testaments? Und ist das dann wirklich Gottes Anruf an uns oder sind es nur die religiösen Überzeugungen oder frommen Wünsche ihrer Autoren? Diese Fragen sind nicht leicht zu beantworten. Denn sie stellen uns wie jede Auslegung biblischer Texte vor eine doppelte Herausforderung: Es geht darum, diese Botschaft sowohl in ihrer menschlichen Gestalt ernst zu nehmen als auch in ihrem Anspruch, dass Gott durch ihre Worte zu uns spricht – damals wie heute! Wir werden uns in diesem Buch auf die Aufgabe beschränken, die Botschaft des Neuen Testaments zu erkunden. Aber das Alte Testament wird nie ganz aus dem Blick geraten. Seine Botschaft durchdringt die des Neuen Testaments auf vielfältige Weise. Aber im Detail werden wir nur die Schriften des Neuen Testaments behandeln. »Die Botschaft des Neuen Testaments«  – so lautet der Name dieser Kommentarreihe, in der versucht wird, die Schriften des Neuen Testaments mit den Hilfsmitteln wissenschaftlicher Auslegung allgemeinverständlich zu erklären. Der Name provoziert aber auch die Frage: Ergibt sich aus der Botschaft der einzelnen Bücher so etwas wie die Botschaft des Neuen Testaments? Oder gleichen ihre verschiedenen Aussagen eher einem vielstimmigen, polyphonen Chorsatz, der nicht immer harmonisch klingt und bei dem die Aussage des Textes im Durcheinander der Stimmen nicht leicht zu verstehen ist? Ich will versuchen, mit dem vorliegenden Buch diese Fragen zu beantworten. Das ist mir schwerer gefallen, als ich ursprünglich dachte.

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Vorwort

Denn einerseits sollte es so etwas wie eine Summe der Ergebnisse der Reihe bieten. Aber anderseits genügte es dafür nicht, die Zusammenfassungen zu den einzelnen Schriften zusammenzustellen und dann das Fazit zu ziehen. Die neue Fragestellung erforderte auch einen neuen methodischen Zugang zur Botschaft der einzelnen Schriften. So musste vieles neu erarbeitet werden, und es wird relativ wenig aus den Kommentaren zitiert werden. Aber es wird hoffentlich deutlich werden, dass das Anliegen der Reihe aufgenommen und weitergeführt worden ist. Infolge der fortschreitenden Erkrankung meiner Frau habe ich dieses Buch unter sehr schwierigen äußeren Bedingungen geschrieben. Ich hoffe, seine Argumentation hat dadurch nicht zu viel an Stringenz und Kohärenz eingebüßt. Vielleicht ist es im Ton ein wenig persönlicher geworden, weil ich mich auch vor die Herausforderung gestellt sah, am Ende meines Lebens noch einmal zu formulieren, was mir das Neue Testament bedeutet und was es meiner Meinung nach auch den Menschen unserer Zeit zu sagen hat. Ich habe in dieser Situation viel zu danken. Ich danke allen, die mich in dieser Zeit mit Rat und Tat unterstützt haben. Ich danke insbesondere Christina Cekov, die wieder sorgfältig Korrektur gelesen hat. Herzlichen Dank auch allen, die kürzere, aber wichtige Passagen gegengelesen und hilfreiche Vorschläge gemacht haben. Dankbar bin auch für die gute Zusammenarbeit mit hilfsbereiten Menschen im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht: Herrn Privatdozent Dr. Izaak de Hulster für Ermutigung und kritische Durchsicht des Manuskripts in zwei Stadien, Frau Miriam Espenhain für die gründliche Lektorierung und den Mitarbeitenden in der Herstellung für die Anfertigung der Druckvorlage. Vor allem aber danke ich Gott, dass er mir die Kraft und die Zeit zu diesem Versuch gegeben hat, meine Sicht der Botschaft des Neuen Testaments zusammenfassend darzustellen. Das Segenswort, mit dem Paulus den zweiten Korintherbrief abschließt, enthält für mich diese Botschaft »in einer Nussschale« und soll hier als Gruß an alle Leserinnen und Leser stehen: Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen! Tübingen, im Oktober 2020

Walter Klaiber

Inhalt

Vorwort  . . ............................................................................... 5 Einleitung: Das Neue Testament – ein Buch mit vielen Seiten  ......................................................................... 11 Wie sind die neutestamentlichen Schriften entstanden?  ........... 14 Was wollten die neutestamentlichen Autoren?  ........................... 19 Wie und warum entstand das Neue Testament?  ......................... 22 A. Die Grundlage  ................................................................. 35 I. Das Erbe Israels – der bleibende Grund christlicher Verkündigung  ........................................................................... 36 II. Jesus von Nazareth: Messias Israels – Retter der Völker  ..... 42 B. Die Entfaltung  . . ............................................................... 65 I. Die Erzählung von Jesus von Nazareth: Jude aus Galiläa – Retter der Welt  ......................................................................... 67 1.  Markus – der Evangelist............................................................. 68 2.  Matthäus – der Lehrer............................................................... 78 3.  Lukas – der Erzähler.................................................................. 93 4.  Johannes – der Theologe............................................................. 105 5.  Das eine Evangelium in vierfacher Gestalt.............................. 115 6.  Fortsetzung folgt: Die Apostelgeschichte.................................. 120 7.  Theologie in Form von Erzählung – eine kurze Besinnung.... 128 II. Die Botschaft von Gottes Handeln in Jesus Christus – die Paulusbriefe  ........................................................................ 130

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Inhalt

1.  Der erste Thessalonicherbrief – Ermutigung für eine junge  Gemeinde...................................................................................... 133 2.  Der erste Korintherbrief – Leben zwischen Kreuz und  Auferstehung................................................................................ 135 3.  Der zweite Korintherbrief – ein angefochtener Apostel.......... 139 4.  Der Galaterbrief – um die Wahrheit des Evangeliums........... 144 5.  Der Römerbrief – worum es Paulus eigentlich geht................ 150 6.  Der Philipperbrief – Freude auch im Leiden........................... 155 7.  Der Philemonbrief – Um Freiheit und Dienst.......................... 159 8.  Die Botschaft des Paulus – Alles ist Gnade.............................. 161 III. Entfaltung und Sicherung des paulinischen Erbes – Dokumente der Paulusschule  ................................................. 192 1.  Der Kolosserbrief – der kosmische Christus............................. 193 2.  Der Epheserbrief – das Ringen um die Einheit der Kirche..... 198 3.  Der zweite Thessalonicherbrief – Halt in schwieriger Zeit..... 203 4.  Die Pastoralbriefe – vom Segen der Ordnung.......................... 206 Exkurs: Ein Wort zur Pseudepigraphie ................................... 214 5.  Das Corpus Paulinum – Stimme des Paulus durch die  Jahrhunderte................................................................................ 216 6.  Der Hebräerbrief – Ermutigung in Zeiten der Ermüdung..... 218 7.  Theologie in Briefform – reflektierte Kommunikation des  Evangeliums................................................................................. 223 IV. D  as apostolische Erbe – Weiterführung und Abgrenzung. Die katholischen Briefe oder Kirchenbriefe  .......................... 224 1.  Das Apostolische und Katholische – ein Gegenüber zu  Paulus........................................................................................... 224 2.  Der Jakobusbrief – ein Plädoyer für ein Christentum der Tat. 225 3.  Der erste Petrusbrief – Freude im Leiden................................ 229 4.  Der zweite Petrusbrief – der Kampf um die rechte Lehre....... 234 5.  Der Judasbrief – fester Halt in stürmischen Zeiten................ 236 6.  Die Johannesbriefe – ein Manifest der Liebe........................... 238 7.  Katholische Briefe – Zeugnisse einer bedrohten  Christenheit................................................................................ 243 V. Das prophetische Buch – Die Offenbarung des Johannes  ..... 244

Inhalt

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C. Die neutestamentliche Botschaft und ihre Themen  . . ... 249 I. Jesus Christus – Zeuge des einen Gottes  ............................... 254 II. Jesus Christus – Sohn des lebendigen Gottes  ....................... 261 III. Jesus Christus – Träger und Spender des Geistes Gottes  .... 266 Exkurs: Spuren der Trinitätslehre im Neuen Testament  ........... 270 IV. Jesus Christus – Gericht und Heil für die Menschen  .......... 272 V. Jesus Christus – Grund und Hirte seiner Gemeinde  ........... 297 VI. Jesus Christus – Kraft und Leitbild für neues Leben  ........... 306 Exkurs: Die drei aktuellen Schibboleth für wahre Bibeltreue..... 311 VII. Jesus Christus – Quelle und Inhalt der Hoffnung  .............. 317 Zum Schluss: Die Botschaft des Neuen Testaments und wir  ............................................................................ 

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Weiterführende und zitierte Literatur  ............................... 333 Abkürzungen  . . ...................................................................... 339 Register der Bibelstellen (in Auswahl)  . . ............................. 343 Register wichtiger Begriffe  ................................................. 355

Einleitung: Das Neue Testament – ein Buch mit vielen Seiten

Auf den ersten Blick ist es ein schmales Bändchen, dieser zweite Teil der Bibel, den wir Neues Testament nennen. Es gibt Ausgaben, die man in die Westentasche stecken kann, und manche Bibelmuseen zeigen solche Büchlein, die ihrem Besitzer das Leben gerettet haben, weil in ihnen die Kugel stecken blieb, die für das Herz bestimmt war. Aber der Augenschein täuscht. Druckt man das Neue Testament wie ein normales Buch und nicht zweispaltig mit kleinen Lettern auf Dünndruckpapier, kommt man auf einen stattlichen Band mit gut 800 Seiten. Genau genommen ist dieses Buch auch mehr als ein Buch. Es ist eine Sammlung von 27 »Büchern«, die freilich von sehr unterschiedlicher Länge sind. Kann man deshalb überhaupt von der Botschaft des Neuen Testaments sprechen? Muss man nicht eher nach den unterschiedlichen Botschaften und Theologien der verschiedenen Schriften fragen? Die Frage ist berechtigt. Das wird noch deutlicher, wenn wir uns einige Fakten zur Entstehung dieser Sammlung vergegenwärtigen. Teilweise verstehen sie sich von selbst, aber es mag dennoch aufschlussreich sein, an sie zu erinnern. Klar ist: Das Neue Testament ist kein Buch, das von einem einzelnen Autor geschrieben worden ist. Es ist auch nicht von einer dazu beauftragten Kommission verfasst worden, ist also keine Gemeinschaftsarbeit der Apostel, die nach einem gemeinsam aufgestellten Plan die verschiedenen Teile geschrieben und inhaltlich koordiniert hätten. Die Schriften des Neuen Testaments sind aber auch nicht von einer Bischofssynode oder einem Konzil nach Vorarbeit und sorgfältiger Prüfung durch einen Ausschuss zusammengestellt worden. Darum ist es so schwierig herauszufinden, welche Kriterien für die Aufnahme in den Kanon entscheidend waren. Etwas vereinfacht gesagt: Im Neuen Testament sind die urchristlichen Dokumente gesammelt, die sich in den ersten Jahrhunderten in einem langwierigen Prozess im Leben der Kirche als grundlegend herausgestellt haben. Wir werden das noch genauer betrachten müssen. Hier sollte an diese Tatsachen erinnert werden, weil sich aus ihnen für die Aufgabe, die Botschaft und Theologie des Neuen Testaments darzustellen, eine ganze Reihe von grundsätzlichen Fragen ergeben:

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Einleitung

1. Was ist unser Ziel? (1) Eine Zusammenschau der Glaubensaussagen der neutestamentlichen Schriften oder (2) die profilierte Wiedergabe der je eigenen Botschaft dieser Schriften? Die meisten heutigen Darstellungen einer neutestamentlichen Theologie wählen den zweiten Weg, nur wenige den ersten. Ferdinand Hahn kombiniert in seiner Theologie des Neuen Testaments beide Zugänge. Da wir nach der Botschaft des Neuen Testaments fragen, scheint nur der erste Weg in Frage zu kommen. Aber damit bestünde die Gefahr, dass wir die lebendigen Stimmen der verschiedenen Schriften in unser eigenes, dogmatisches System pressen. Wir werden deshalb zunächst versuchen, auf die einzelnen Stimmen zu hören, also gewissermaßen in der Partitur dieser Symphonie den einzelnen Stimmen folgen, dann aber auch auf den Gesamtklang achten, der sich durch ihr Miteinander ergibt. Dabei bleibt bewusst, dass es sich nicht um ein durchkomponiertes Werk handelt, sondern dass die einzelnen Stimmen zusammengefügt wurden, weil die Kirche überzeugt war, dass sie trotz Divergenzen und gewisser Dissonanzen zusammengehören und miteinander harmonieren. 2. Worum geht es in der Sache? Um eine möglichst genaue Rekonstruktion der ursprünglichen Botschaft der Schriften oder um den Versuch herauszuarbeiten, was uns diese Botschaft heute zu sagen hat? Dazu tritt als weitere Frage: Welche Bedeutung hat es für die Auslegung, dass diese Schriften Teil des christlichen Kanons geworden sind? Verändert sich die ursprüngliche Botschaft dadurch, dass sie Teil eines größeren Ganzen wird? Und das hat wiederum Auswirkungen auf die Art der Darstellung: Halten wir uns an die kanonische Anordnung oder folgen wir der vermutlichen zeitlichen Reihenfolge der Entstehung dieser Texte? Was die letzte Frage betrifft, wählen fast alle heutigen Entwürfe einer Theologie des Neuen Testaments den zweiten Weg. Allerdings werden dabei oft die Evangelien an den Anfang gestellt, obwohl sie später entstanden sind als die Paulusbriefe. Damit wird der Tatsache Rechnung getragen, dass das Wirken Jesu die Grundlage jeder christlichen Theologie ist. Auch wir werden nicht einfach der kanonischen Anordnung folgen. Wir werden einerseits das geschichtliche Werden der Schriften berücksichtigen, aber andererseits auch danach fragen, was durch die Stellung einer Schrift im Kanon ausgesagt wird. Im Hören auf die ursprüngliche Botschaft werden wir versuchen, darauf zu achten, wie sich der von uns herausgearbeitete »Originalklang« der Texte im Zusammenspiel mit den übrigen Stimmen verändert. Und nicht zuletzt werden wir auch fragen, wie das so Gehörte heute auf uns wirkt und zu uns spricht.

Einleitung

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3. Dazu kommt eine Frage, die manche überraschen wird: Haben die ursprünglichen Texte überhaupt eine Botschaft oder entsteht diese erst, wenn sie heute gelesen werden? Es ist offensichtlich, dass die neutestamentlichen Aussagen durch die Jahrhunderte hindurch oft eine sehr unterschiedliche Deutung erfahren haben. Bestätigt das die These mancher Sprachwissenschaftler, dass Texte grundsätzlich erst eine Bedeutung gewinnen, wenn sie gelesen und rezipiert werden? Wir gehen davon aus, dass die Verfasser der neutestamentlichen Schriften eine klare Botschaft weitergeben wollten und dass sich diese auch rekon­ struieren lässt. Das erneute Hören auf die ursprüngliche Botschaft, also auf das, was die Autoren sagen wollten, hat in der Geschichte der Auslegung immer wieder auch zu Korrekturen vorgefasster Meinungen geführt. 4. Und als letzte Frage: Geht es um Botschaft oder Theologie? Bisher haben wir die beiden Begriffe wechselweise gebraucht, als hätten sie dieselbe Bedeutung. Doch so einfach ist das nicht. Rudolf Bultmann hat in seiner berühmten Theologie des Neuen Testaments sogar die Meinung vertreten, nur Paulus und Johannes hätten eine wirkliche Theologie im Sinne einer reflektierten Darstellung des Glaubens entwickelt. Davon sei die Botschaft (griechisch: das Kerygma) der Urgemeinde und der hellenistischen Gemeinden zu unterscheiden, ebenso wie die Weiterführung der Botschaft in nachapostolischer Zeit. Doch diese strikte Trennung hat sich nicht durchgesetzt. Auch in den anderen Schriften des Neuen Testaments wird die Botschaft nicht einfach unreflektiert weitergegeben. Selbst die Berichte der Evangelien und der Apostelgeschichte lassen durch die Art, wie sie erzählt werden, theologische Überlegungen erkennen. Umgekehrt stellt auch die reflektierte Theologie eines Paulus keine »uninteressierte« akademische Erörterung dar, sondern steht im Dienst der Botschaft, die er weitergeben und begründen will. Von einer Theologie Jesu wird dagegen selten gesprochen. Seine Verkündigung und sein Geschick sind Gegenstand des Glaubens und der theologischen Reflektion. Und doch ist es möglich und nötig, die innere Logik seiner Botschaft zu erkennen und so eine implizite Theologie Jesu herauszuarbeiten. Wie weit freilich die historische Rekonstruktion der Verkündigung Jesu ein wichtiger Bestandteil einer neutestamentlichen Theologie ist, das ist eine sehr umstrittene Frage, die wir weiter unten besprechen werden (s. u. S. 43 f.). Wir gehen davon aus, dass die Botschaft der neutestamentlichen Schriften immer auch theologisch begründet und durchdacht ist. Aber unser erstes Ziel ist nicht, ihr theologisches Denken in allen Details zu entfalten. Wir wollen vor allem ihre Botschaft erfassen und verstehen, also

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Einleitung

das, was sie im Kern sagen und weitergeben wollen, das, was – in legerem Deutsch gesprochen – »rüberkommen« soll. Ein Buch mit vielen Seiten ist das Neue Testament nicht nur drucktechnisch, sondern auch im übertragenen Sinn: Wir finden in ihm sehr unterschiedliche Darstellungen dessen, was Gottes Handeln in Jesus Christus bedeutet. Und doch werden wir den Versuch unternehmen, nach der Botschaft des Neuen Testaments zu fragen. Wir tun das in zwei Schritten. Wir fragen zunächst: Was wollen die einzelnen Schriften dieses Buchs über die Person und das Wirken Jesu Christi und ihre Bedeutung für uns sagen? Welche Botschaft wollen sie damit weitergeben? Aber dann versuchen wir auch herauszufinden: Welches Gesamtbild ergibt sich aus diesen Aussagen für das Ganze des Neuen Testaments und wie verhält sich das zu der Botschaft des Alten Testaments und seiner Schriften? Viele Fragen – und manche mögen denken: viel zu viele Fragen. Aber es sind keine willkürlichen Fragen, sondern Fragen, die sich aus der menschlichen Gestalt der biblischen Bücher ergeben. Das Neue Testament ist nicht vom Himmel gefallen, es wurde nicht auf goldene Platten eingraviert gefunden wie angeblich das Buch Mormon oder in einer Nacht diktiert, wie das vom Koran behauptet wird. Seine Schriften sind von Menschen geschrieben und in einem langwierigen Prozess nach und nach zum jetzigen Neuen Testament zusammengestellt worden. Wenn wir in ihm Gottes Wort hören und verstehen wollen, müssen wir diese menschliche Seite seines Redens ganz ernst nehmen. Wie sind die neutestamentlichen Schriften entstanden? Das aber führt zu einer Reihe weiterer wichtiger Fragen: Wie sind die im Neuen Testament gesammelten Schriften entstanden? In welcher Absicht und mit welchem Anspruch auf Autorität wurden sie verfasst? Warum wurden sie gesammelt und welche Kriterien waren für die Entscheidung, sie in diese Sammlung aufzunehmen, maßgebend? Was bedeutet es für die Botschaft einer Schrift, dass sie in diese Sammlung aufgenommen wurde? Es begann mit Briefen – Gemeindeleitung per Post Am Anfang stand keines der vier Evangelien. Das vermutlich älteste schriftliche Dokument im Neuen Testament ist der erste Brief des Paulus an die Gemeinde in Thessalonich. Er entstand um das Jahr 50 n. Chr., etwa ein Jahr nach Gründung der Gemeinde. Ob Paulus schon früher

Wie sind die neutestamentlichen Schriften entstanden?

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ähnliche Briefe an Gemeinden geschrieben hat, wissen wir nicht. Jedenfalls war dieser Brief der Auftakt für eine Reihe weiterer Briefe, von denen wohl die meisten in die Sammlung der Paulusbriefe aufgenommen wurden. Allerdings fehlen aus der Korrespondenz mit der Gemeinde in Korinth zwei Briefe, ein erster Brief, der in 1Kor 5,9 erwähnt wird, und ein Zwischenbrief, der sog. Tränenbrief, von dem 2Kor 2,9 spricht. Die beiden erhaltenen Briefe aus dieser Korrespondenz, der erste und zweite Brief an die Korinther, entstanden einige Jahre später (vermutlich im Jahr 55 n. Chr.), etwa gleichzeitig dürfte der Galaterbrief geschrieben worden sein und kurz darauf der Römerbrief (Frühjahr 56 n. Chr.). Nicht ganz klar ist die zeitliche Einordnung der Briefe nach Philippi und an Philemon, aber vermutlich stammen sie aus der Gefangenschaft des Paulus in Rom, sind also um das Jahr 60 entstanden. Mit Ausnahme des Briefs an Philemon sind alle Briefe wesentlich länger als andere Briefe in der Antike. Und doch sind es alle »echte« Briefe, also keine »literarischen« Briefe, die von vorneherein für die Herausgabe in einer späteren Briefsammlung geschrieben wurden. Und schon gar nicht waren sie als Bestandteil eines zweiten Teils der christlichen Bibel gedacht. Wo in ihnen von der Schrift oder den Schriften die Rede ist, sind immer die Heiligen Schriften Israels gemeint: das Gesetz, die Propheten und die Schriften, also die Bücher, die von den Christen später das Alte Testament genannt werden. Obwohl manche paulinischen Briefe fast wie eine »Epistel« wirken, also wie ein Brief, der vorrangig ein Thema behandelt, sind sie doch Zeugnis für eine lebendige Kommunikation mit einer Gemeinde in einer ganz bestimmten Situation, durch die der abwesende Apostel die Gemeinde zu leiten und anzuleiten versucht. Das gilt auch für den Römerbrief, der manchmal wie eine dogmatische Abhandlung behandelt wird. Die Briefe des Paulus machten Schule. Zunächst in seinem eigenen Einflussbereich, in der »Schule« des Paulus, wie manche das nennen. Der Kolosserbrief, möglicherweise noch im Auftrag des Apostels von einem Schüler verfasst, bildet den Übergang zu den späteren Briefen in der paulinischen Briefsammlung, dem Corpus Paulinum. Dagegen ist der Epheserbrief mit ziemlicher Sicherheit erst nach dem Tod des Paulus verfasst worden und war eine Art Rundbrief, ein theologischer Traktat in Form eines Paulusbriefs. Wahrscheinlich ist auch der zweite Thessalonicherbrief erst später geschrieben worden, um bestimmte Auslegungen der eschatologischen Aussagen des ersten Briefs zu korrigieren. Auf eine neue Situation reagieren die sog. Pastoralbriefe, die beiden Briefe an Timotheus und der Brief an Titus. Sie sind als persönliche Briefe an die engsten Mitarbeiter des Paulus stilisiert und wollen das Vermächtnis des Apostels für die Zukunft der von ihm gegründeten Gemeinden sichern.

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In ihnen geht es nicht mehr um die Weiterentwicklung der paulinischen Theologie, sondern um ihre Bewahrung angesichts neuer Bewegungen wie die der Gnosis durch eine Festigung der gemeindlichen Ordnung. Unter dem Einfluss der paulinischen Schreibwerkstatt wird der Brief zum theologischen Kommunikationsmittel der Urchristenheit. Zwei Briefe des Apostels Petrus, drei Briefe eines »Ältesten« Johannes und je ein Brief der Herrenbrüder Jakobus und Judas werden überliefert. Eine lange, anonyme theologische Abhandlung, die später die Überschrift »An die Hebräer« bekam, wurde mit einem brieflichen Schluss, analog dem der Paulusbriefe, versehen und oft zu den Paulusbriefen gezählt. Mit Ausnahme des zweiten und dritten Johannesbriefs ist keiner dieser Briefe ein »echter« Brief, d. h. ein aktuelles Schreiben an bestimmte Adressaten. Es sind theologische Traktate, die mehr oder weniger stark in Briefform gekleidet sind. Das gilt vor allem für den 1. Johannesbrief, den Jakobusbrief und den Hebräerbrief, der eher eine (mündlich vorgetragenen) Mahnrede mit brieflichem Schluss ist. Aber durch die briefliche Einkleidung wird auch bei ihnen der Wille zur theologischen Kommunikation besonders unterstrichen. Selbst die Offenbarung des Johannes ist als Brief an die sieben Gemeinden in der Provinz Asia verfasst und möglicherweise tatsächlich als Rundbrief an die genannten Gemeinden verschickt worden, obwohl sie inhaltlich ein Musterbeispiel für die Gattung »Apokalypse« darstellt. Am Anfang steht die Kommunikation: Was die Botschaft von Jesus Christus bedeutet, wird im frühen Christentum in Form von Briefen entfaltet. Wie das aussieht, zeigen am besten die Briefe des Paulus: Was er schreibt, ist ganz auf die jeweilige Situation bezogen und macht doch grundsätzlich gültige Aussagen. Bei manchen anderen Schriften ist die Briefform nur Einkleidung für eine Art Lehrschreiben. Aber auch hier hat das theologische Nachdenken über die Botschaft und ihre Konsequenzen die Form der Anrede an ein Gegenüber. Die frühesten theologischen Dokumente der Christenheit sind weder Aufzeichnungen persönlicher Meditationen über den Glauben noch akademische Diskurse. Sie sind Theologie für die Gemeinde, auch dort, wo keine konkreten Gemeinden angesprochen werden. Die Jesusgeschichte – Was man von Jesus erzählte Was aber war mit der Geschichte Jesu? Wie wurde die Erinnerung an ihn und sein Wirken weitergegeben? Für heutige Leser und Leserinnen des Neuen Testaments steht dieser Strang der Überlieferung ganz im Vordergrund! Tatsächlich ist das, was man von Jesus wusste, nicht der Vergessenheit über­lassen worden. Aber keines unserer Evangelien beruht auf persön-

Wie sind die neutestamentlichen Schriften entstanden?

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lichen Aufzeichnungen, die schon zur Zeit Jesu gemacht und dann in den Evangelien zusammengefasst worden wären. Und obwohl zwei der Evangelien unter den Namen von Wegbegleitern Jesu überliefert sind, ist keines von ihnen im Stil eines Augenzeugenberichts geschrieben. Zwar beruft sich das Johannesevangelium in 19,35 und 21,24 auf einen Augenzeugen, und in 1,14 bekennt die Gruppe, die hinter ihm steht: »Wir sahen seine Herrlichkeit«. Aber gerade dieses Evangelium erweckt insgesamt nicht den Eindruck, Aufzeichnung persönlicher Erinnerungen zu sein. Dennoch blieb das Wissen um Jesu Wirken lebendig. Seine Worte wurden memoriert, seine Taten wurden weitererzählt, aber zunächst ohne dass das schriftlich fixiert worden wäre. Leider wissen wir wenig darüber, bei welcher Gelegenheit und in welcher Form die Erinnerungen an Jesus weitergegeben wurden. Doch gibt es Indizien dafür, dass die Evangelien auf kleinere schriftliche Zusammenstellungen solcher Überlieferungen zurückgreifen konnten (z. B. Mk 2,1–3,6; 4,1–34; 4,35–5,43). Markus war wohl der erste, der diese mündlichen und schriftlichen Vorlagen zu einer Gesamtdarstellung des Wirkens Jesu zusammengefasst hat. Vor allem hat er die Überlieferungen von Jesu Reden und Taten in Galiläa mit der Geschichte seines Leidens und Sterbens verbunden. Er überschreibt diese Darstellung mit den Worten: Anfang des Evangeliums von Jesus Christus und gibt so der neu entstandenen Gattung einer Art Biografie Jesu den Namen Evangelium. Matthäus und Lukas greifen dieses Vorbild auf und erweitern seine Darstellung auf charakteristische Weise: Sie halten sich grundsätzlich an den Aufbau des Markusevangeliums und übernehmen fast den ganzen von ihm behandelten Stoff. Aber sie stellen vor den Bericht vom Auftreten des Täufers und dem Beginn der Wirksamkeit Jesu Erzählungen über die Herkunft, die Geburt und die Kindheit Jesu, setzen dabei aber jeweils eigene Akzente. Sie ergänzen auch am Ende den knappen Osterbericht des Markus um weitere Erzählungen, wobei sie auch hier ganz eigene Wege gehen. Und vor allem nehmen sie noch eine ganze Reihe weiterer Überlieferungen an Worten und Taten Jesu auf. Dabei benutzen sie wohl eine gemeinsame Quelle, eine Sammlung von Worten Jesu, die Reden- oder Logienquelle Q, die ihnen vermutlich schon schriftlich vorlag. Aber sie kennen auch noch andere Stoffe, ihr sog. Sondergut. Für Matthäus ist charakteristisch, dass er die Fülle der überlieferten Worte Jesu in fünf großen Reden zusammenfasst. Auch Johannes greift auf das Vorbild des Markus zurück, indem er den Bericht über das Wirken Jesu zwischen das Auftreten des Täufers und die Erzählungen von den Erscheinungen des Auferstandenen stellt. Doch in der Art der Erzählung, der Aufteilung des Wirkens Jesu zwischen Galiläa und Jerusalem und der Auswahl der Worte und Taten Jesu setzt

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er ganz eigene Akzente. Wir werden die unterschiedliche Arbeitsweise der Evangelisten noch näher charakterisieren (s. u. S. 68–120). Lukas erweitert seine Erzählung vom Wirken Jesu durch eine Darstellung der frühen Mission der Kirche. Sie ist uns unter dem Titel Taten der Apostel (so die wörtliche Übersetzung) bzw. Apostelgeschichte überliefert, konzentriert sich aber im Wesentlichen auf die Wirksamkeit des Petrus und vor allem des Paulus. Evangelium und Apostelgeschichte waren ursprünglich als ein zweibändiges Werk konzipiert, sind aber aufgrund der Sonderstellung des Evangeliums in der Überlieferung bald getrennt worden. Es gibt interessanterweise keine einzige Handschrift, in der die beiden Schriften zu einem Band zusammengefasst sind! Auch dazu wird unten noch mehr zu sagen sein. Vom Leben und Sterben Jesu zu erzählen ist Evangelium, frohe Botschaft! Dass ein Buch Evangelium genannt wird, ist auf dem Hintergrund des griechischen Sprachgebrauchs sehr ungewöhnlich. Evangelium bedeutet gute Nachricht oder frohe Botschaft. In der griechisch sprechenden Kultur bezeichnet das Wort eine Siegesbotschaft oder sonstige gute Nachricht. So wird es in der politischen Propaganda der Herrscherverehrung verwendet. Aber der Begriff hat auch eine alttestamentliche Wurzel. Vor allem das entsprechende Verb wird an wichtigen Stellen verwendet, so z. B. in Jes 61,1: »Er hat mich gesandt, den Elenden gute Botschaft zu bringen.« Jesus hat an diese Verheißung angeknüpft. Er sah seinen Auftrag darin, »den Armen gute Botschaft zu bringen« (Mt 11,5//Lk 7,22; vgl. Lk 4,18). Darum wurde er für die Urchristenheit zum Träger der frohen Botschaft schlechthin. Er brachte und lebte die gute Nachricht, dass Gott sich in seinem Wirken einer verlorenen Menschheit angenommen hat. So begegnet der Begriff Evangelium vor allem bei Paulus. Die rettende Botschaft von Gottes Heilshandeln in Jesus Christus ist Inhalt seiner missionarischen Verkündigung (vgl. Röm 15,16; 2Kor 11,7; 1Thess 2,2.8f). In 1Kor 15,3–5 ist der Begriff durch die Stichworte: gestorben, begraben, auferweckt, erschienen mit einer knappen Darstellung des Geschicks Jesu verbunden. Vermutlich hat Markus hier angeknüpft, wenn er seinen Bericht über Wirken, Sterben und Auferstehen Jesu mit Anfang des Evangeliums von Jesus Christus überschreibt. Gleich, ob dies die Überschrift für den ersten Abschnitt seines Büchleins ist oder ob die ganze Erzählung als Anfang bzw. Ursprung des Evangeliums bezeichnet wird, die Erzählung vom Wirken Jesu wird damit zum Inbegriff für die frohe Botschaft von Gottes Gegenwart in seinem Leben und Sterben. Dass die Überschrift aller vier Evangelien jeweils lautet: Evangelium nach … zeigt aber, dass bewusst blieb: Es gibt nur ein Evangelium, das mit unterschiedlicher Akzentsetzung von allen Evangelisten erzählt wird.

Was wollten die neutestamentlichen Autoren?

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Was wollten die neutestamentlichen Autoren? Keine der Schriften des Neuen Testaments wurde mit dem Anspruch verfasst, Teil eines zweiten Teils der christlichen Bibel zu werden. Die Bibel bzw. die »Schrift« ihrer Verfasser waren die Bücher des sog. Alten Testaments, allen voran das Gesetz und die Propheten. Das Gesetz war die Tora, die fünf Bücher Mose. Zu den Propheten gehörten nach jüdischem Verständnis auch die sog. Geschichtsbücher Josua bis 2. Könige (vgl. Joh 1,45; Apg 13,15; Röm 3,21 u. ö.). Was von den übrigen Schriften zur Heiligen Schrift zählte, war im ersten Jahrhundert nach Christus noch nicht entschieden. Klar war dies für die Psalmen (Lk 24,44), das Buch der Sprüche und wohl auch für das Buch Hiob. Aber auch Schriften, die man heute zu den Apokryphen oder den Pseudepigraphen rechnet, wurden gelegentlich als »Schrift« zitiert, so wohl in 1Kor 2,9 nicht Jes 64,3 (LÜ), sondern die »Himmelfahrt des Jesaja« (AscJes 11,34), eine jüdische Schrift aus dem 1. Jh. n. Chr., oder in Jud 14f aus 1Hen 1,9. Eine Tendenz, dass man die Bibel Israels für ergänzungsbedürftig hielt, ist nirgends zu beobachten. Doch was wollten die neutestamentlichen Autoren dann? Mit welcher Absicht haben sie ihre Texte geschrieben? Zweifellos beanspruchten auch die Schriften, die später ins Neue Testament aufgenommen wurden, für sich Autorität. Paulus z. B. schreibt als Apostel bzw. als Sklave Jesu Christi an die Gemeinden. Das heißt, er beruft sich auf die Autorität seiner besonderen Beauftragung durch Jesus Christus. Das war freilich gerade in seinem Fall nicht unumstritten (1Kor 7,40; 14,37f; 15,9f; 2Kor  11,5f). Zwar anerkannten auch seine Gegner die Stärke der Argumentation in seinen Briefen, kritisierten aber Schwächen in seinem persönlichen Auftreten (2Kor 10,10). Paulus selbst weiß um seine angefochtene Autorität. Wenn er sagt, dass »wir den Schatz [des Evangeliums] in irdenen Gefäßen haben« (2Kor 4,7), meint er damit gerade seine bedrängte und verwundbare apostolische Existenz. Dennoch beansprucht er für sich Gehör und Gehorsam, wenn er schreibt: »Ich meine aber: Ich habe auch den Geist Gottes« (1Kor 7,40), oder im selben Brief: »Wenn einer meint, er sei ein Prophet oder vom Geist erfüllt, der erkenne, dass es des Herrn Gebot ist, was ich euch schreibe« (1Kor 14,37). Aber hier steht nicht »Schrift« gegen menschliche Meinung, sondern Geist gegen Geist! Auch dass die Briefe in den Gemeinden verlesen werden sollen (Kol 4,16; vgl. Offb 1,3), zeigt den Anspruch, dass in ihnen wichtige und wegweisende Impulse gegeben werden. Hier liegt auch der Ansatz zu dem späteren Kriterium für das, was zum Kanon der Heiligen Schriften gehören soll: Kanonisch ist, was im Gottesdienst verlesen wird. Oder um-

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gekehrt: Nur kanonisch anerkannte Schriften sollen dort gelesen werden! Die spätpaulinischen Briefe und die sog. katholischen Briefe hängen sich an die von Paulus erworbene apostolische Autorität an. Apostolisches Zeugnis gilt als ursprüngliches Zeugnis von Gottes Handeln in Jesus Christus (1Joh 1,1–4). Vor allem für die Pastoralbriefe ist Paulus die Person im Urchristentum, die durch ihr Lebenszeugnis die Botschaft von Jesus Christus verkörpert. In der Treue zu seiner Botschaft bewährt sich die Treue zum Evangelium. Wie aber steht es bei den Evangelien? Markus und Matthäus liefern keine formale Begründung für ihre Autorität. Allerdings beginnt Matthäus seine Schrift mit dem Titel: Das Buch der Geschichte bzw. des Ursprungs Jesu Christi. Damit nimmt er entsprechende Formulierungen in der griechischen Übersetzung des Buches Genesis auf (Gen 2,4: »das Buch der Entstehung des Himmels und der Erde«; 5,1: »das Buch der Entstehung der Menschen«). Indirekt liegt darin der Anspruch, eine Entsprechung oder Weiterführung der alttestamentlichen Geschichte zu liefern. Ähnliches gilt für Markus: Er beginnt mit der Formulierung: »Anfang des Evangeliums von Jesus Christus, des Sohnes Gottes« (Mk 1,1). Damit ist offensichtlich der Anspruch verbunden: Hier begegnet man authentischer Evangeliumsverkündigung. Dem Anfang des Berichts von der Erschaffung der Welt (vgl. Gen 1,1) steht der Anfang der Heilsbotschaft gegenüber. Lukas dagegen geht anders vor. Er sagt im Vorwort seines Werks, er sei »allem von Beginn an sorgfältig nachgegangen« und habe es dann »der Reihe nach« aufgeschrieben, damit sein Widmungsträger, der hochverehrte Theophilus, sich »von der Zuverlässigkeit der Lehre«, in der er unterrichtet wurde, überzeugen könne (Lk 1,1–4). Damit beansprucht er eher die Autorität des Geschichtsforschers und Biographen. Bei ihm sollen die Tatsachen und die Worte Jesu für sich selbst sprechen. Johannes wiederum beginnt – ähnlich wie Matthäus und Markus – mit den bedeutungsvollen Worten »Im Anfang war das Wort« und spielt damit deutlich auf Gen 1,1 an: »Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde«. Was mit der Schöpfung begann, kommt nun in der Geschichte Jesu zum Ziel. Dieses Werk ist das einzige Evangelium, das sich auf einen »Augenzeugen« beruft (19,35). Er wird in 21,24 mit der Gestalt des Lieblingsjüngers identifiziert, der als Verfasser oder Gewährsmann des Buches gilt. Eine Art kanonischer Geltung ist am ehesten in der Offenbarung des Johannes ins Auge gefasst. Sie bezeichnet sich selbst als Offenbarung Jesu Christi und beansprucht damit von allen neutestamentlichen Schrif-

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ten am eindeutigsten, unmittelbar Wort des erhöhten Christus zu sein. Die »Kanonisierungsformel« in 22,18f verbietet in enger Anlehnung an Dtn 4,2; 13,1, etwas von diesen Worten wegzunehmen oder ihnen hinzuzufügen, und unterstreicht so den Anspruch, wie das Deuteronomium das letzte, entscheidende Wort Gottes zu sein. Aber auch diese Schrift bekennt sich zu ihrem menschlichen Verfasser (1,4.9; 22,8). Eines aber ist klar: Alle diese Schriften wollen eine Botschaft weitergeben. Sie wollen nicht nur erzählen oder unterhalten, sondern das Evangelium von Jesus Christus entfalten und seine Konsequenzen für das Leben der Gemeinden und ihrer Glieder aufzeigen. Auffällig ist, dass sich alle Schriften an Christen, bzw. christliche Gemeinden richten. Sie dienen der Vergewisserung und Befestigung des Glaubens und einer dem Evangelium entsprechenden Ausrichtung des Lebens der Christen und sind in diesem Sinne »Theologie«, Reflektion über den christlichen Glauben. Es scheint noch kein Forum gegeben zu haben, durch das sich christliche Autoren schriftlich an Nichtchristen gewandt haben. Am ehesten könnte das lukanische Doppelwerk für den Buchmarkt geschrieben sein – zumindest scheint die Art des Vorworts zum Evangelium das anzudeuten. Aber auch hier ist der Widmungsträger ein Christ, der schon in den Grundzügen der christlichen Lehre unterrichtet worden ist. Auch die Zielangabe in Joh 20,31, dass dieses Buch geschrieben ist, »damit ihr glaubt, dass Jesus der Messias ist, der Sohn Gottes«, richtet sich wohl eher an Christen als an dem Glauben Fernstehende. Dass sich christliche Schriftsteller an Juden oder Heiden wenden, um sie von der Wahrheit der christlichen Lehre zu überzeugen, finden wir erst im nächsten Jahrhundert in den Schriften der sog. Apologeten, der »Verteidiger« des Glaubens, etwa bei Justin dem Märtyrer (100–165) oder dem nordafrikanischen Theologen Tertullian (150–nach 220). Die Botschaft von Gottes Handeln in Jesus Christus zu entfalten und zu bewahren war das Ziel einer regen literarischen Tätigkeit in den christlichen Gemeinden in der Zeit zwischen den Jahren 50 und 100 nach Christus. Das geschah auf doppelte Art und Weise: (1) Durch die Auslegung der Bedeutung des Christusereignisses für die Situation der christlichen Gemeinden in Briefen und Lehrschreiben und (2) durch die Sammlung und deutende Weitergabe der Erinnerungen an Jesus. Eine Brücke zwischen beiden bildet die Apostelgeschichte: Sie stellt einerseits die Fortsetzung der Jesusgeschichte im Wirken der apostolischen Zeugen dar, zeigt aber andererseits auch – und zwar vor allem am Beispiel des Petrus und Paulus  –, wie durch die Verkündigung der Apostel Gemeinde entsteht und wächst.

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Die Offenbarung des Johannes führt das auf ihre Weise fort: Als Brief an die sieben Gemeinden der Asia und insbesondere durch die sieben Sendschreiben konfrontiert sie die Gemeinden mit dem Wort des lebendigen Christus für ihre Situation und erzählt in den folgenden Visionsberichten von der Zukunft des gekreuzigten Christus bis zur Vollendung des Handelns Gottes in dieser Welt. Keine dieser Schriften erhebt den Anspruch, »Schrift« zu sein oder gar an die Stelle der Schriften Israels zu treten. Aber alle beanspruchen, authentische Weitergabe und Entfaltung des Christusgeschehens und damit auch vollmächtige Auslegung der Schriften Israels zu sein. Wie und warum entstand das Neue Testament? Wie aber kam es dazu, dass diese Schriften gesammelt und in den Rang »kanonischer«, d. h. Maßstab setzender Bücher erhoben wurden? Auch hier waren es die Paulusbriefe, deren Sammlung den Anfang dieser Entwicklung bildeten. Die Aufforderung, solche Briefe auch in anderen Gemeinden zu lesen (vgl. Kol 4,16), war ein erster Schritt in diese Richtung. Dass Paulus in 1Kor 1,2 die Gemeinde in Korinth grüßt, »samt allen, die an jedem Ort den Namen unseres Herrn Jesus Christus anrufen«, zeigt ebenfalls, dass er an eine weitere Verbreitung seiner Briefe gedacht hat. Die Erwähnung der Briefe »unseres geliebten Bruder Paulus« in 2Petr 3,15f setzt die Existenz und intensive Benutzung einer Sammlung seiner Briefe gegen Ende des 1. Jahrhunderts voraus. Das erklärt auch, warum es keine Manuskripte einzelner Paulusbriefe gibt. Alle Abschriften der Briefe, die wir kennen, gehen auf eine solche Sammlung zurück, in der aber vermutlich die Pastoralbriefe zunächst noch nicht enthalten waren. Offensichtlich hat man die Briefe des Paulus deshalb gesammelt und weitergegeben, weil man überzeugt war: Diese Schriften sprechen über ihre historische Situation hinaus auch in späterer Zeit zur ganzen Kirche und zu allen Gemeinden und helfen ihnen, die Herausforderungen ihrer Zeit zu bewältigen. Dass sie einer bestimmten historischen Situation entstammen, ist damit nicht vergessen. Die Briefe wurden nie zu zeitlosen Episteln redigiert, sondern blieben in ihrer situationsbezogenen Gestalt erhalten. Was die Evangelien betrifft, wird oft vermutet, dass es in jeder Gemeinde zunächst nur ein Evangelium gab. Aber schon die ersten Manuskripte, in denen uns ein ganzes Evangelium überliefert ist, umfassen mindestens zwei, möglicherweise auch schon alle vier Evangelien. Man hat also die Vielfalt der Evangelienüberlieferung nicht als Problem, sondern eher als Reichtum betrachtet, auch wenn es  – z. B. durch den syrischen Theo-

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logen Tatian (gest. ca. 170 n. Chr.) – populäre Versuche gab, sie zu einem Evangelium zu harmonisieren. Man ging davon aus, dass die unterschiedlichen Berichte einander ergänzten. Doch wer galt in dieser Zeit, der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts, in der Kirche als Autorität? Auf wen hat man sich berufen? Als Antwort auf diese Frage müssen drei Instanzen genannt werden: (1) die Schrift; (2) der Herr und (3) die Apostel. Was war damit gemeint? (1) Als Schrift werden in dieser Zeit nur die »Schriften des Alten Bundes« bezeichnet, eine Formulierung, die als erster der Bischof Melito von Sardes (gest. um 180 v. Chr.) verwendet hat. Damit ist die spätere Bezeichnung »Altes Testament« vorgeprägt, aber es ist damit noch nicht angedeutet, dass es auch Schriften des neuen Bundes gibt. Innerhalb des Judentums hatte sich inzwischen ein Konsens im Blick auf den Umfang der hebräischen Bibel herausgebildet, der von der christlichen Kirche übernommen wurde. Aber auch die Schriften, die nur in der Septuaginta, der griechischen Übersetzung der alttestamentlichen Schriften, zu finden waren (das sind die Apokryphen der evangelischen Bibel bzw. deuterokanonischen Schriften der katholischen), blieben weiter im Gebrauch. Vor allem das Buch Sirach und die Weisheit Salomos standen bei den Christen in hohem Ansehen. (2) Wer sich auf den Herrn berief, zitierte in der Regel ein Wort Jesu. Aber das war meist kein wörtliches Zitat aus einem der vier Evangelien. Typisch dafür ist schon Paulus, der in 1Kor 7,10 ein Gebot des Herrn zitiert, das sich sinngemäß in Mt 5,32//Lk 16,18 und Mk 10,9–12//Mt 19,9 findet, während die Worte des Herrn, die er in 1Kor 9,14 oder 1Thess 4,15 erwähnt, in unseren Evangelien nicht zu identifizieren sind. An manchen Stellen (z. B. 1Thess 4,15) könnte sich ein solches »Wort des Herrn« auch auf ein Wort des erhöhten Herrn beziehen, das durch einen urchristlichen Propheten ausgesprochen wurde. Auch in der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts zitieren christliche Autoren häufig ein »Wort des Herrn« oder »das Evangelium«, ohne auf eine bestimmte Evangelienschrift zu verweisen, selbst wenn wir den Wortlaut als freies Zitat aus einem der synoptischen Evangelien (meist Matthäus) nachweisen können. Dass diese Schriften bekannt waren und gelesen wurden, verrät Justin, der Märtyrer (100–165  n. Chr.), der erstmals von den »Evangelien« spricht und sie an anderer Stelle – wohl aus Rücksicht auf seine nichtchristlichen Leser – »Erinnerungen der Apostel« nennt. Er spricht davon, dass sie neben den alttestamentlichen Schriften im Gottesdienst gelesen werden, und vergleicht ihre Autorität mit der der alttestamentlichen Propheten. Aber auch bei ihm gibt es noch keine feste Sammlung von Schriften, die neben die Schriften des Alten Testaments treten würden.

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(3) Als unmittelbare Nachfolger Jesu gelten die Apostel grundsätzlich als seine bevollmächtigten Interpreten. Das heißt aber auch, dass ihre Autorität immer eine von der Autorität Jesu abhängige Vollmacht blieb. Dabei ergab sich ein gewisses Dilemma: Diese Autorität kam zuallererst dem Kreis der zwölf Apostel zu (so vor allem Lukas; vgl. Apg 1,13–26). Literarische Hinterlassenschaften gab es aber vor allem in der Sammlung der Paulusbriefe. Sie werden häufig zitiert, aber teilweise – so etwa bei Justin  – noch sehr zurückhaltend beurteilt. An weiteren Apostelbriefen kannte und schätzte man den 1. Petrus- und 1. Johannesbrief, zum Teil auch den Hebräerbrief, dessen paulinische Verfasserschaft aber umstritten war. Auch Jakobus gehörte nicht zum Kreis der Zwölf, war aber in Jerusalem und im Judenchristentum eine anerkannte Autorität. Und nicht zuletzt wurden auch zwei der Evangelien, nämlich Markus und Lukas, nicht Aposteln aus dem Zwölferkreis, sondern Apostelschülern oder -begleitern zugeschrieben. Dennoch wurden ihre Schriften als apostolisches Zeugnis benutzt. Dieses Bild einer noch relativ offenen Situation ändert sich plötzlich gegen Ende des 2.  Jahrhunderts. Die christlichen Autoren dieser Zeit, allen voran Irenäus von Lyon (135–200), bezeugen einheitlich einen Grundstock von Schriften, die sie als den »Heiligen Schriften« des Alten Testaments gleichrangig betrachten und als »Wort des Evangeliums des neuen Bundes«, also als Neues Testament bezeichnen. Was hat diese Entwicklung so schnell und intensiv vorangetrieben? Zwei Bewegungen in der jungen Kirche dürften dafür mitverantwortlich sein. Die erste ging auf Marcion (ca. 85–160) zurück, einen reichen Reeder aus Sinope, der gegen 135 nach Rom kam, aber im Jahr 144 wegen Irrlehren aus der Gemeinde ausgeschlossen wurde. Für ihn war der Gott der Liebe, den Jesus verkündigte, nicht identisch mit dem Schöpfer- und Richtergott des Alten Testaments, der für das Leid der Menschen und die Gefangenschaft ihres Geistes in einem vergänglichen Leib verantwortlich war. Folglich lehnte Marcion die Bücher des Alten Testaments als Heilige Schrift ab und ersetzte sie durch eine neue Zusammenstellung grundlegender Schriften. Sie bestand aus dem Lukasevangelium und einer Sammlung von zehn Paulusbriefen, aus denen er alle Anspielungen auf das Alte Testament entfernt hatte. Damit war erstmals so etwas wie ein neutestamentlicher Kanon geschaffen. Die zweite Bewegung ging auf einen Christen namens Montanus zurück, der um 160 n. Chr. in Phrygien in Kleinasien mit dem Anspruch auftrat, das Sprachrohr des in Joh 14,16 verheißenen Parakleten zu sein. Er verband eine enthusiastische Naherwartung mit der Forderung nach strenger Askese. Die Bewegung, die er anstieß, gewann großen Einfluss, da ihre Hingabe und Strenge angesichts zunehmender Laxheit und Ver-

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weltlichung der Kirche viele beeindruckte. Sie erhob den Anspruch, dass der Heilige Geist durch ihre Propheten ganz neu zur Kirche sprechen würde. Dem stellte die offizielle Kirche die Notwendigkeit entgegen, sich in der Verkündigung an das ursprüngliche Evangelium in Gestalt des apostolischen Zeugnisses der frühen urchristlichen Schriften zu halten. Gegen Marcion hielt sie daran fest, dass die Schriften des Alten Testaments auch für die Kirche das grundlegende Zeugnis vom Wirken Gottes in der Welt und an seinem Volk darstellt. Aber die Schaffung eines neutestamentlichen Kanons durch Marcion beschleunigte zweifellos auch die Tendenz, aus den überlieferten Schriften des Urchristentums einen zweiten Teil der christlichen Bibel zu bilden. Grundstock dieser Sammlung bildeten die vier Evangelien, die ab dieser Zeit immer als fester Vier-Evangelien-Kanon auftreten. Zwar gab es wegen der Berufung der Montanisten auf die Parakletverheißung gelegentlich Kritik am Johannesevangelium, die sich aber nicht durchsetzte. Umge­ kehrt gewann keines der vielen anderen, unter verschiedenen Namen verbreiteten Evangelien so viel Anerkennung, dass es ernsthaft für eine Aufnahme in den werdenden Kanon in Frage gekommen wäre. Dazu trat eine Sammlung von dreizehn Paulusbriefen. Nun wurden auch die Pastoralbriefe berücksichtigt, da sie als wichtige Stimme zur Sicherung des paulinischen Erbes gegen Irrlehrer geschätzt wurden. Dagegen blieb der Hebräerbrief aus unterschiedlichen Gründen umstritten. Auch die Apostelgeschichte ist allgemein anerkannt und wird oft mit dem Jakobusbrief, dem 1. Petrusbrief und dem 1. Johannesbrief zu einem allgemeinen Apostelteil zusammengestellt. Umstritten sind aber weiterhin der 2. Petrusbrief, der Judasbrief und die beiden kleinen Johannesbriefe. Die Offenbarung des Johannes hat ebenfalls noch keinen festen Platz und hat zu dieser Zeit in einer Petrusapokalypse eine ernsthafte Konkurrentin. In den folgenden anderthalb Jahrhunderten wird viel darüber diskutiert, welche Schriften in den sich formierenden Kanon gehören und welche nicht. Es kommt zur sukzessiven Ergänzung, aber auch zum allmählichen Ausscheiden umstrittener Schriften. Dabei unterschied man in der theologischen Diskussion zwischen allgemein anerkannten, umstrittenen und verworfenen Schriften. Zu Letzteren gehörten vor allem die vielen gnostischen Evangelien und Apostelgeschichten, die im Umlauf waren. Unsicher war lange Zeit der Status der kleineren »katholischen« Briefe. Doch bis zuletzt waren vier Schriften besonders umstritten. Zwei von ihnen wurde am Ende ausgeschieden und zwei aufgenommen.

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Zu den ersteren gehörte der Barnabasbrief, eine Schrift aus der Zeit um die Wende zwischen 1. und 2. Jahrhundert, die dem Paulusbegleiter Barnabas (Apg 4,36; 11,22; 15,2; Gal 2,1.13) zugeschrieben wurde. Sie ist kein Brief, sondern eine Abhandlung, die eine rein allegorische Auslegung des Alten Testaments vertritt und die jüdische Lehre als durch das Christentum überholt und abgelöst ansieht. Das entsprach zwar einer weit verbreiteten Meinung in der frühen Kirche, war aber vielen doch zu einseitig. Die zweite, an und für sich hochgeschätzte Schrift, die aber doch nicht aufgenommen wurde, war der sog. Hirte des Hermas. Dieses umfangreiche Buch, das um 150 n. Chr. in Rom von einem namentlich bekannten Gemeindeglied verfasst wurde, schildert eine Reihe von Offenbarungen, die durch einen Engel in Gestalt eines Hirten überbracht wurden und durch die die Kirche zu Umkehr und Buße aufgefordert wurde. Dass diese Schrift trotz ihrer großen Beliebtheit nicht in die Reihe der ursprünglichen Zeugnisse der Christenheit aufgenommen wurde, lag an der späten Entstehung und der eindeutig nachapostolischen Autorschaft. Wie anerkannt aber beide Schriften waren, zeigt sich u. a. daran, dass beide im Codex Sinaiticus, der in der Mitte des 4.  Jahrhunderts geschrieben wurde, noch ganz selbstverständlich unter den Schriften des Neuen Testaments stehen. Anders verlief die Entwicklung beim Hebräerbrief. Er war lange umstritten, vor allem im Westen des Reiches wegen der Ablehnung der zweiten Buße. Dagegen wurde er im Osten mehr und mehr akzeptiert und galt den meisten trotz mancher Bedenken als Paulusbrief. Umgekehrt war es bei der Offenbarung des Johannes. Sie war im Westen sehr beliebt und wurde auch früh kommentiert. Im Osten dagegen überwog lange die Ablehnung, teilweise, weil man traumatische Erfahrungen mit prophetischen Bewegungen gemacht hatte, die das nahe Ende proklamierten, teilweise, weil der gelehrte Bischof Dionys von Alexandrien (ca. 190–265 n. Chr.) durch den Vergleich des Griechischen im Johannesevangelium und in der Offenbarung nachgewiesen hatte, dass sie nicht denselben Verfasser haben konnten – obwohl er selbst daraus nicht den Schluss zog, die Offenbarung zu verwerfen. Für uns heute ist es sehr merkwürdig, dass angesichts dieser offenen Fragen sich keines der großen ökumenischen Konzile der Zeit mit diesem Problem beschäftigt und eine endgültige Entscheidung getroffen hat. Es ging ja auch nicht, wie das in manchen fundamentalistischen Positionen klingt, um eine Entscheidung zwischen dem reinen, irrtumslosen Gotteswort und bloßem, fehlbarem Menschenwort. Entschieden werden musste die Frage, welche Schriften im Gottesdienst verlesen werden sollten. Dahinter stand freilich die grundsätzlichere Frage: Welches sind die

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kirchengründenden Schriften, die das ursprüngliche Evangelium und das apostolische Erbe für alle Zeiten bewahren? Sie sollten gemeinsam den »Kanon«, d. h. die Richtschnur und den Maßstab der für die Kirche maßgeblichen Schriften bilden. Doch die Zeit war reif für eine Entscheidung. Das zeigte sich daran, dass die Diskussion durch recht unspektakuläre Ereignisse beendet wurde. Der hoch angesehene Patriarch Athanasius von Alexandrien (300–373 n. Chr.) pflegte den Presbytern und Diakonen seiner Diözese jedes Jahr den genauen Ostertermin in einem Brief mitzuteilen. In ihm sprach er auch noch andere wichtige Themen an. In seinem 39. Osterfestbrief für das Jahr 367 n. Chr. nannte er, um dem Treiben bestimmter Irrlehrer und Häretiker zu wehren, »der Reihe nach die kanonisierten, überlieferten und als göttlich geglaubten Schriften«. Als ein Mann, der durch mehrfache Verbannungen in den Westen in beiden Teilen der Reichskirche zuhause war, schließt er von den umstrittenen Schriften sowohl den Hebräerbrief als auch die Offenbarung ein. Abschließend stellt er fest: »Dies sind die Quellen des Heils, auf dass der Dürstende sich an den in ihnen enthaltenen Worte übergenug labe. In ihnen allein wird die Lehre der Frömmigkeit verkündigt. Niemand soll ihnen etwas hinzufügen oder etwas von ihnen fortnehmen«. Das hindert ihn aber nicht, hinzuzufügen, »dass es auch noch andere Bücher neben diesen gibt, die zwar nicht kanonisiert sind, aber von den Vätern als Lektüre für diejenigen bestimmt worden sind, die neu hinzutreten und in der Lehre der Frömmigkeit unterwiesen werden wollen«. Neben einigen der sog. Apokryphen des Alten Testament nennt er die Lehre der Apostel (die Didache) und den Hirten des Hermas. Obwohl dieser Brief zunächst nur für das Kirchengebiet von Alexan­ drien bestimmt war, stellt er für den Osten des Reiches den Endpunkt der Diskussion dar. Im Westen haben zwei relativ unbedeutende Synoden, eine in Rom im Jahr 382 und eine in Hippo Regius für Nordafrika im Jahr 393, diese Entscheidung bestätigt. Damit war der neutestamentliche Kanon festgestellt. Nur ganz im Os­ten folgte man dieser Entscheidung nicht. In der Peshitta, einer aramäisch-­ syrischen Übersetzung der Bibel, die von den syrischen Kirchen der Nestorianer und Jakobiten bis heute benutzt wird, fehlen die kleinen katholischen Briefe und die Offenbarung. Dass Martin Luther in seiner Übersetzung des Neuen Testaments Hebräer- und Jakobusbrief zusammen mit Judas ans Ende der Briefe vor die Offenbarung gestellt hat (und diese vier Schriften in der Erstausgabe, dem sog. Septembertestament, unnummeriert ließ), verrät freilich auch etwas von seiner indirekten Kritik an der Aufnahme dieser Schriften in den Kanon.

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Was waren die Kriterien? Die Aufnahme der verschiedenen Schriften in den neutestamentlichen Kanon erfolgte also in einem Prozess, bei dem kirchliche Praxis und theologische Diskussion sich in eigentümlicher Weise durchdrangen. Es gab keinen offiziellen Entscheidungsprozess und keine Beschlussfassung mit vorbereiteter oder nachgelieferter Begründung. Darum ist schwer zu sagen, welche Kriterien letztlich entscheidend waren. Auf den verschiedenen Ebenen spielte eine Fülle unterschiedlicher Gesichtspunkte eine Rolle. Aber im Wesentlichen waren es drei Kriterien, die den Ausschlag gaben. In den Kanon gehörten: 1. Schriften, die als apostolisch galten. Dabei wurde »apostolisch« nicht in rein biographischem Sinn verstanden. So gab es keine ernsthaften Einwände gegen die Schriften des Markus und Lukas, obwohl sie nur von »Apostelschülern« stammten. Als apostolisch galten die Repräsentanten einer »ursprünglichen« Christusverkündigung. 2. Schriften, die mit der Lehre der Kirche übereinstimmten. Das »Maß des Glaubens«, bzw. die »Übereinstimmung mit dem Glauben«, die Paulus nach Röm 12,3.8 von der Ausübung der Charismen, insbesondere der prophetischen Rede, fordert, musste auch für die kanonischen Schriften gelten. Das war in gewissem Sinn ein Zirkelschluss, denn was Lehre der Kirche war, orientierte sich an den maßgebenden Schriften der Urchristenheit, und welche Schriften maßstabsetzend, d. h. »kanonisch«, sein sollten, entschied sich an der Übereinstimmung mit der Lehre der Kirche. Aber ein solcher Zirkel konnte durchaus hilfreich sein. Gerade in der Zeit der Kanonsentstehung bildeten sich auf der Grundlage der schon anerkannten Schriften die formulierten Glaubensbekenntnisse der Kirche aus, und an der Übereinstimmung mit diesen wurden die in Zweifel stehenden Entscheidungen gefällt. 3. Schriften, die in der ganzen Kirche (oder doch weiten Teilen davon) anerkannt waren. Das war zunächst das Kriterium, durch das sich der Grundstock des Kanons herausgebildet hat. Zwar waren auch die Schriften, die dazu gehörten, am Anfang in ihrer Wirkung lokal begrenzt, haben sich aber relativ schnell in der ganzen damaligen Christenheit durchgesetzt. In der Endphase der Festlegung kam es dann zu einem gewissen Ausgleich: Für den Osten wurde der dort geschätzte Hebräerbrief aufgenommen und für den Westen die Offenbarung. Dabei muss betont werden, dass dies kein Kompromiss war, der irgendwann zwischen zwei kirchlichen Fraktionen ausgehandelt worden wäre. Solche Verhandlungen gab es nicht. Aber es war eine Lösung, die sich anbot, als es darum ging, endgültig festzulegen, welche Schriften in den Kanon gehörten und welche nicht.

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Wer hat den Kanon geschaffen? Was aber bedeutet dieser Prozess für die Autorität der Bibel im Gegenüber zur Kirche? Ist die Kirche Geschöpf des Wortes Gottes, creatura verbi divini, wie das vor allem die lutherische Theologie betont? Oder hat die Kirche den Kanon geschaffen, wie früher nicht selten von katholischer Seite im Streit um das evangelische sola scriptura (allein durch die Schrift) argumentiert wurde? Allerdings hat schon 1958, also noch vor dem zweiten Vatikanischen Konzil, ein katholischer Theologe in einer ausführlichen Untersuchung zur Kanonsbildung festgestellt: »Die Zugehörigkeit einer Schrift zum Kanon war … für die alte Kirche sachlich gegründet auf diese ›Schrift‹ selbst und ihre Eigenschaften, nicht auf die Rezeption und damit die Entscheidung der Kirche« (Ohlig, Kanon 311). »Die Kanonfestlegung entspringt nicht dogmatischer Setzung der alten Kirche, sondern ist das gehorsame Bekenntnis zum geschichtlich einmaligen Herrn Jesus«. Denn es ist Jesus Christus selbst, der in den Schriften, die in den durch sein Wort geschaffenen Gemeinden entstanden sind, »immer neu von seiner Kirche Besitz ergreift« (Ohlig, Kanon 313). Das Wort Christi, durch das die Kirche geschaffen wurde, ist also nicht einfach identisch mit dem Kanon der Bibel, sondern ist das lebendige Wort der Verkündigung des Evangeliums von Jesus Christus. Aber die Schriften des Kanons sind die ursprünglichsten Zeugen dieses Wortes, und durch die Festlegung, dass sie im Gottesdienst verlesen werden sollen, hat sich die Kirche verpflichtet, immer wieder neu auf die Stimme ihres Herrn in ihnen zu hören. Indem die Kirche den Kanon übernimmt, akzeptiert sie, dass sie einen Maßstab als Gegenüber braucht, an dem sie sich und ihr Tun immer wieder neu messen lassen muss. Sie hat diesen Maßstab nicht selbst geschaffen, auch wenn die Schriften, die ihn bilden, in ihr entstanden sind und ihre Auswahl durch sie getroffen wurde. Dieser Kanon hat eine Mitte und einen Rand. Das zeigt schon die Geschichte seiner Entstehung, aber auch das inhaltliche Gewicht der einzelnen Schriften. Man wird dem Judasbrief schwerlich die gleiche Bedeutung zumessen wie dem Römerbrief. Aber diese Mitte ist immer wieder neu zu entdecken in der Begegnung mit der ganzen Schrift. Einen Kanon im Kanon zu entwickeln, den man aus dem Ganzen herauslösen könnte, widerspricht der Idee des Kanons. Schrift ja, aber nicht »Buchstabe« Aber kann und darf es überhaupt eine »Schrift des Neuen Bundes«, also ein Neues Testament geben? Widerspricht das nicht Aussagen des Paulus

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in 2 Kor 3? Er schreibt dort an die Christen in Korinth: An euch wird offenbar, »dass ihr ein Brief Christi seid, ausgefertigt durch unseren Dienst, aufgeschrieben nicht mit Tinte, sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes, nicht auf steinerne Tafeln, sondern auf Tafeln aus fleischernen Herzen« (V. 3). Und er fügt hinzu, Gott habe ihn dazu »fähig gemacht, Diener des neuen Bundes zu sein, nicht des Buchstabens, sondern des Geistes«. Er begründet das mit der Feststellung: »Denn der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig« (V. 6). Das aber lässt ernstlich fragen: Kann dieser »neue Bund« durch ein geschriebenes Buch mit dem Namen »Neues Testament« repräsentiert werden? Ist nicht die Gemeinde die Offenbarungsurkunde des Neuen Bundes? Zwar spricht Paulus von Buchstaben, die »in Stein gemeißelt« sind, also von den alttestamentlichen Geboten. Aber spricht seine Argumentation nicht auch gegen eine autoritative, schriftliche Fixierung von Dokumenten des »neuen Bundes«? Jedenfalls ist damit klargestellt: Ein schriftliches »Neues Testament« darf nicht im Sinne des Buchstabens, des ein für alle Mal Geschriebenen, als neues Gesetz verstanden werden. Für Paulus ist auch die Schrift (graphe), also das, was wir Altes Testament nennen, nicht einfach Buchstabe (gramma), sondern als geistgewirktes Reden bezeugt sie Gottes früheres und zukünftiges Heilshandeln. In gleicher Weise hat eine Schrift des »Neuen Bundes« die Aufgabe, als Zeuge des Evangeliums immer wieder Raum für das Wirken des Geistes zu schaffen. Aber damit ist die Frage gestellt, wie es überhaupt dazu kam, dass eine Sammlung frühchristlicher Schriften als Neues Testament bezeichnet wird. Man hätte ja auch vom ersten und zweiten Teil der Schrift bzw. der Bibel sprechen können! Wie kam es zu der Bezeichnung »Neues Testament«? Hier ist zunächst eine sprachliche Erläuterung nötig. Der Begriff Neues Testament ist die Verdeutschung des lateinischen Novum Testamentum, wobei Testament die Übersetzung des griechischen bzw. hebräischen Begriffs darstellt, der in traditionellen Bibelübersetzungen mit Bund wiedergegeben wird. Allerdings haben neuere sprachliche Untersuchungen ergeben, dass diese Übersetzung nur bedingt den ursprünglichen Sinn dieser Begriffe trifft. Das zugrundeliegende hebräische Wort (berı-t) beschreibt weniger die gegenseitige Verpflichtung bei einem Bundesschluss, sondern die (einseitige) Verfügung Gottes zugunsten eines andern. Er verpflichtet sich damit selbst, nimmt aber auch den Partner in die Pflicht. Das erklärt, warum in der griechischen Übersetzung ein Begriff gewählt wurde, der ursprünglich ebenfalls nicht Bund, sondern letztwillige Ver-

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fügung, also Testament, bedeutet (diathe-ke-). Diese Bedeutung spielt aber nur in Gal 3,15–18 und Hebr 9,16f eine Rolle, während der Begriff sonst das alttestamentliche Verständnis einer gültigen Willenserklärung Gottes bzw. einer von Gott gestifteten Heilsordnung aufnimmt. Wie aber kommt es dazu, dass dieser Begriff zur Überschrift für die beiden Teile der christlichen Bibel wird? Ein erster Ansatz dafür findet sich in 2Kor 3,14. Paulus verweist darauf, dass Mose nach Ex 34,34f sein Gesicht unter einer Decke verbarg, wenn es nach der Begegnung mit Gott in hellem Glanz erstrahlte. Das erklärt für ihn, warum Israel in seiner Mehrheit nicht erkennt, dass Gesetz und Propheten auf Christus hinweisen: »Denn bis auf den heutigen Tag bleibt diese Decke über dem alten Bund, wenn daraus gelesen wird.« Gelesen wird aus dem Gesetz, der Tora; sie wird mit dem alten Bund, der alten Heilsordnung bzw. dem alten Testament (REB) gleichgesetzt! Das ist möglich, weil nicht die Bedeutung Bund im Vordergrund steht, sondern die Bedeutung Verfügung oder Verpflichtung, die viel eher an eine schriftliche Fixierung denken lässt. Im Übrigen zeigt diese Stelle durch ihre merkwürdige Argumentation mit der Decke, die seit Mose auf Israel liegt, dass der »alte« Bund, die »alte« Heilsordnung, für Paulus nicht veraltet ist. Sie wird aber erst richtig verstanden, wenn durch Christus die Decke beseitigt wird, die daran hindert, ihn im Zeugnis Moses zu erkennen. Aber erst mehr als hundert Jahre später finden wir eine ähnliche Formulierung. Der Bischof Melito von Sardes spricht in einem Brief, der um das Jahr 170 n. Chr. geschrieben wurde, von den »Büchern des Alten Bundes/Testaments«. Dabei bleibt offen, ob zu dieser Zeit die Heiligen Schriften Israels schon »Altes Testament« genannt wurden oder ob Melito von den Büchern spricht, die Gottes Handeln im Alten Bund mit Israel bezeugen. Eine Sammlung von Schriften, die man Neues Testament nannte, hat es jedenfalls zu dieser Zeit noch nicht gegeben. Etwa zwei Jahrzehnte später taucht dann in einer gegen die montanistische Irrlehre gerichteten Schrift die Formulierung vom »Wort des Evangeliums des neuen Testaments« auf. Aber auch hier dürfte damit noch nicht der Titel einer neuen Sammlung heiliger Schriften gemeint sein, sondern ganz allgemein die Botschaft des Evangeliums, die eine neue Heilsordnung, einen neuen Bund Gottes, verkündet. Dann aber, seit Beginn des 3. Jahrhunderts, benutzen immer mehr Theologen für die Sammlung der heiligen Schriften Israels und die von der Kirche als grundlegend anerkannten Schriften des Urchristentums die Begriffe Altes bzw. Neues Testament und signalisieren damit, dass man ab jetzt von einem zweiteiligen Kanon der Heiligen Schrift ausgeht. Allerdings geschieht das nicht selten mit einer gewissen Zurückhaltung, indem vom sogenannten Alten und Neuen Testament gesprochen wird.

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Was dazu geführt hat, dass sich dieser Sprachgebrauch plötzlich so allgemein durchgesetzt hat, wissen wir nicht. Manche Forscher meinen, dies sei auf den Einfluss Marcions zurückzuführen (s. o. S. 24 f.). Aber es gibt keine direkten Belege für diese Vermutung, und der kirchliche Gebrauch der Begriffe Altes und Neues Testament beinhaltet gerade keine Herabsetzung des Alten Testaments gegenüber dem Neuen. Die Bezeichnung »alt« hatte in der Antike keinen negativen Klang, etwa im Sinn von »veraltet«. Im Gegenteil: »alt« galt als Gütesiegel für das, was ursprünglich ist. Deshalb bemühten sich z. B. jüdische Theologen um den Nachweis, dass die Gesetzgebung Moses älter ist als die Werke der griechischen Philosophen. Mit dem Begriff »Testament« ist selbstverständlich auch nicht gemeint, dass es um eine letztwillige Verfügung Gottes geht. Vielmehr wird dadurch signalisiert, dass diese Schriften die gültige Willenserklärung Gottes darstellen, dass er es gut mit der Menschheit meint – im Alten Testament grundlegend in der Urgeschichte und exemplarisch am Beispiel des Handelns Gottes an Israel dargelegt, im Neuen Testament letztgültig durch Gottes Handeln in Jesus Christus für alle Menschen offenbart. Das Neue Testament ist das zur Schrift gewordene Zeugnis, dass Gott durch sein Handeln in Jesus Christus eine neue »Heilsordnung«, einen neuen »Bund«, geschaffen hat. Damit wird erfüllt, was schon durch die Propheten des »alten« Bundes angekündigt worden ist (Jer 31,31–34). Darum sind die Schriften, die jetzt das Neue Testament bilden, nicht als Ersatz für die Heiligen Schriften Israels gesammelt worden, sondern als ihre Ergänzung und Vollendung. Sie sollen bezeugen, wie sich die Hoffnung Israels auf Gottes Handeln in Jesus Christus erfüllt hat und die Kunde davon zur rettenden Botschaft für alle Menschen geworden ist. Darum wurden im Neuen Testament die Schriften gesammelt und als Maßstab setzend herausgehoben, die das ursprüngliche Zeugnis vom Handeln Gottes in Jesus Christus in seiner Verwurzelung in Gottes Weg mit Israel und seiner Bedeutung für alle Menschen festhalten und auslegen. Gestalt und Bedeutung des Kanons neutestamentlicher Schriften Wie ist es zur jetzigen Anordnung der Bücher des Neuen Testaments gekommen und was bedeutet sie für deren Auslegung? Die Sammlung und Weitergabe dieser Schriften vollzog sich in Blöcken, in denen verwandte Schriften zusammengestellt wurden. Die Anordnung innerhalb dieser Blöcke war zunächst recht variabel, die endgültige Fassung, die wir in den heutigen Textausgaben vorfinden, hat aber durchaus eine tiefere Bedeutung.

Wie und warum entstand das Neue Testament?

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Am Anfang stehen die Evangelien. Das ist das Signal, dass alles mit dem Wirken Jesu von Nazareth begann. Den Rahmen bilden Matthäus und Johannes, die Evangelien, die traditionell einem der Zwölf Apostel zugeschrieben werden. Beide beginnen mit einem Anklang an den Beginn der Genesis und sind stark von der Auseinandersetzung mit den jüdischen Ursprüngen des Evangeliums geprägt, gehen aber in der Bewältigung dieser Frage ganz eigene Wege. Matthäus ist Zeuge für die bleibende Verankerung der Botschaft im alttestamentlichen Erbe, aber auch für ihre Neuorientierung als Wort für alle Völker. Johannes weist durch die kühne Neuformulierung der Christusbotschaft theologisch den Weg für diese Aufgabe. Sein Evangelium entspricht im Evangelienkanon der Rolle, die das Deuteronomium im Pentateuch, der jüdischen Tora, wahrnimmt. War es dort die kühne Neufassung von Gottes Reden am Gottesberg, so hier die Neuformulierung der Verkündigung Jesu, die das Geheimnis seiner Person aufnahm und entfaltete. Dazwischen stehen die Werke derer, die man für Apostelschüler hielt. Sie sind in der Auseinandersetzung mit den jüdischen Kontrahenten Jesu sehr viel weniger polemisch. Das Markusevangelium ist geprägt durch das steile Profil der Erzählung vom vollmächtigen Gottessohn, der dennoch die Not der Gottverlassenheit des Todes am Kreuz auf sich nimmt. Lukas dagegen zeichnet den Weg Jesu als Heiland der Sünder bis zu seiner Bewährung als vergebender Dulder am Kreuz nach. Die Apostelgeschichte nimmt eine Brückenfunktion wahr. In der handschriftlichen Überlieferung ist sie oft mit den sog. katholischen Briefen verbunden, gelegentlich auch mit den Paulusbriefen. Sie erzählt, wie die Geschichte Jesu im Wirken des Geistes und der Mission der Apostel weitergeht. Durch die in ihr enthaltenen Reden zeigt sie, wie sich die apostolische Verkündigung auf ihrem Weg von den Juden zu den Heiden entwickelt hat. Die Briefe des Paulus sind schon in der frühen Kirche das apostolische Zeugnis schlechthin. Ihre heutige Anordnung orientiert sich vordergründig an der Länge der Briefe, wobei die Briefe an Einzelpersonen (Timotheus, Titus, Philemon) ans Ende rücken. Dadurch tritt auch inhaltlich das Schwergewicht des Römerbriefs an den Anfang, gefolgt von den weiteren »Hauptbriefen«, der Korrespondenz mit Korinth und dem Galaterbrief. Die Endstellung des umfangreichen Hebräerbriefs dokumentiert seine Sonderstellung im Corpus Paulinum, bildet aber auch ein eigenartiges Pendant zum Römerbrief. Der jetzige Umfang der Katholischen Briefe ist sicher vor allem dem Willen geschuldet, eine Gruppe von sieben Briefe zu schaffen. In der Reihenfolge Jakobus, Petrus und Johannes (anders bei Luther) spiegelt sich wider, dass man hier die »Säulen« der Jerusalemer Gemeinde nach

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Einleitung

Gal 2,9 vertreten sah, wobei Judas als Brief eines Herrenbruders mit aufgenommen wurde. Diese Briefe sind also als Gegenüber und Ergänzung zum Vermächtnis des Paulus gedacht. Eine Sonderstellung nimmt die Offenbarung ein. Ihre Endstellung signalisiert weniger, dass sie lange umstritten war, sondern kennzeichnet sie als Zeugnis für den Weg Gottes mit der Welt und der Gemeinde Jesu zum endgültigen Ziel. Das ergibt auch eine Entsprechung zum Aufbau des griechischen Alten Testaments, an dessen Ende die prophetischen Bücher stehen. Die Schaffung des neutestamentlichen Kanons hat eine tiefe theologische Bedeutung: Mit der Bindung an die Schriften der Urchristenheit bindet sich die christliche Kirche an ihren Ursprung in der geschichtlichen Offenbarung Gottes in Jesus Christus. Mit der Kanonisierung dieser Schriften vollzieht sich zugleich ein Bekenntnis zur Inkarnation, zur einzigartigen Gegenwart Gottes in einem Menschen, der zu einer ganz bestimmten Zeit und einem bestimmten Ort gelebt hat. Auch wo diese Schriften nicht im Einzelnen vom Leben und Wirken Jesu berichten, halten sie fest: Es geht nicht um ein zeitloses Jesus-Prinzip und nicht um das göttliche Kind in uns, sondern um Gottes Handeln in einem konkreten Menschen. Luthers Worte in seiner Vorrede zum Alten Testament: »Hier wirst du die Windeln und die Krippe finden, darin Christus liegt«, gelten nicht nur für dessen Schriften, sondern auch für die menschliche Gestalt der Schriften des Neuen Testaments. Sie stehen zu ihrer menschlichen Herkunft und behaupten nicht vom Himmel gefallen zu sein. Und doch begegnet in ihnen Gott und sein Wort auf einzigartige Weise. Eines muss freilich festgehalten werden: Die entscheidende Aussage zur Inkarnation im Neuen Testament lautet: Das Wort wurde Fleisch (Joh 1,14) – und nicht: Das Wort wurde Buch. Das Christentum ist im strengen Sinn keine Buchreligion. Die Schriften des Neuen Testaments gewinnen ihre Würde und Autorität allein dadurch, dass sie Jesus und sein Wirken als Gottes Offenbarung unter uns dokumentieren und verkünden.

A. Die Grundlage

Die Schriften des Neuen Testaments geben die Botschaft von Jesus Christus sehr unterschiedlich weiter. Das wird unsere Einzelanalyse zeigen. Dennoch kann man sagen, dass sie alle von zwei Voraussetzungen ausgehen: 1) Die Offenbarung Gottes an Israel, die in den Schriften des sog. Alten Testaments bezeugt wird, ist der bleibende Grund zum Verständnis dessen, was Gott in Jesus Christus getan hat. Es gibt  – mit Ausnahme des dritten Johannesbriefs  – keine neutestamentliche Schrift, in der nicht die Heiligen Schriften Israels als Autorität zitiert oder zumindest auf Worte, Ereignisse oder Personen in ihnen angespielt wird. Dabei greifen die urchristlichen Autoren teilweise auf die hebräische Fassung dieser Schriften zurück, meist wird aber die Septuaginta, ihre griechische Übersetzung, verwendet. Die sog. Apokryphen bzw. deuterokanonischen Schriften unserer Bibelausgaben sind bekannt, werden aber nicht als Schrift zitiert. 2) Das Neue an der Botschaft der neutestamentlichen Schriften ist die Überzeugung: Jesus von Nazareth, der von den Römern gekreuzigt, von Gott aber auferweckt wurde, ist der Messias Israels, der von Gott gesandte Retter seines Volkes und aller Völker der Erde. Es gibt keine Schrift im Neuen Testament, in der Jesus nicht genannt würde. Zwar geschieht das im 3. Johannesbrief nur en passant und in den anderen Schriften mit sehr unterschiedlichen Schwerpunkten. Aber es ist in all diesen Dokumenten klar: Hier reden Menschen, die Jesus verkündigen wollen. Jesus und seine Sendung sollen zu Wort kommen. Das mag uns für den christlichen Teil des biblischen Kanons als selbstverständlich erscheinen, ist es aber keineswegs. Kurz gesagt: Das von Christus her gelesene Alte Testament und die Person und Botschaft Jesu sind Grundlage und Verständnishorizont für das Evangelium von Jesus Christus (vgl. Dalferth, Wirkendes Wort 120f). Was diese beiden grundsätzlichen Voraussetzungen für die Botschaft des Neuen Testaments als Ganzes bedeuten, sei am Anfang kurz skizziert:

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Die Grundlage

I. Das Erbe Israels – der bleibende Grund christlicher Verkündigung Die meisten der neutestamentlichen Autoren stammen  – soweit wir etwas über ihre Herkunft wissen – aus dem Judentum. Auch viele der ersten nichtjüdischen Mitglieder der christlichen Gemeinden waren mit den Heiligen Schriften des Judentums oder zumindest mit deren wichtigsten Inhalten vertraut. Sie gehörten zu dem Kreis der Gottesfürchtigen, einer Gruppe von Menschen, die sich zur jüdischen Synagoge hielten, ohne formell zum Judentum überzutreten (Apg 13,16; 16,14 u. ö.). Wörtliche Zitate aus dem Alten Testament finden sich in den neutestamentlichen Schriften in unterschiedlicher Dichte. In manchen fehlen sie ganz, auch in manchen Paulusbriefen (z. B. im 1. Thessalonicher). Aber das ist kein Indiz für eine geringere Bedeutung der Bibel Israels. So steht in der Offenbarung des Johannes kein einziges als solches gekennzeichnete Zitat aus dem Alten Testament, aber das ganze Buch ist durchzogen von teilweise fast wörtlichen Anspielungen auf alttestamentliche Aussagen. Man muss also unterscheiden zwischen einer expliziten Bezugnahme auf die Schriften des Alten Testaments, bei der alttestamentliche Worte zitiert oder ausdrücklich auf sie hingewiesen wird, und einer impliziten, bei der stillschweigend alttestamentliche Aussagen vorausgesetzt und als Grundlage der eigenen Ausführungen verwendet werden. Dabei ist die implizite Bezugnahme im Grund die wichtigere Form: Die alttestamentliche Vorstellungswelt ist der selbstverständliche Bezugsrahmen für alle religiösen Aussagen des Neuen Testaments. Vorstellungen der hellenistisch-römischen Antike werden allenfalls am Rande wahrgenommen. So wird die Gottesfrage im Neuen Testament nur selten thematisiert! Der Glaube an den einen Gott wird als selbstverständlich vorausgesetzt: »Du glaubst: Es gibt nur einen Gott. Damit hast du Recht; das glauben auch die Dämonen und sie zittern«, heißt es in Jak 2,19. Von Gott wird ohne weitere Erklärung gesprochen, und zwar nicht allgemein von einem »höheren Wesen, das wir verehren«, sondern von dem Gott Israels, nicht von dem Gott der Philosophen, sondern von dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, nicht von einem kreativen Prinzip, das alles durchwaltet, sondern von Gott, dem Schöpfer Himmels und der Erde, also von dem Gott, den das Alte Testament bezeugt. Motive aus dem Gottesverständnis der griechischen Philosophie (vor allem der Stoa) werden nur dort aufgenommen, wo davon gesprochen wird, dass alles durch Gott und zu ihm geschaffen ist (Röm 11,36; 1Kor 8,6) und dass er (bzw. Christus) »alles in allem« ist (1Kor 15,28; Kol 1,17; 3,11).

Das Erbe Israels – der bleibende Grund christlicher Verkündigung

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Gehäuft finden sie sich in der Areopagrede (Apg 17,27f). Fragt man also nach dem Gottesverständnis der neutestamentlichen Schriften wird man auf das Alte Testament zurückverwiesen. Denn Grundlage der neutestamentlichen Botschaft ist die Gottesverkündigung in Gesetz, Propheten und Psalmen. Ihre Aussagen sind der Referenzrahmen für das, was im Neuen Testament verkündet und diskutiert wird. Dass der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs auch der Vater Jesu Christi ist, ist selbstverständliche Voraussetzung für diesen Ansatz. Für die neutestamentlichen Autoren ist die Geltung der Schöpfungsaussagen des Alten Testaments ebenso fundamental wie das Wissen um die Verfehltheit und Verlorenheit menschlichen Lebens vor Gott. Die Erfah­ rungen des Volkes Israel bei der Befreiung aus Ägypten und seine Gefährdung und Bewahrung bei seinem Weg durch die Wüste sind für die urchristliche Gemeinde Quelle der Ermutigung und der Warnung. Neben dieser grundlegenden, aber oft unausgesprochenen Bezugnahme auf das Alte Testament steht die explizite Verwendung seiner Schriften in Form von wörtlichen Zitaten oder der Erinnerung an alttestamentliche Begebenheiten oder Sachverhalte. Solche ausdrücklichen Hinweise können die Aussagen neutestamentlicher Autoren illustrieren, ihre Argumentation unterstützen oder auch als formeller Schriftbeweis dienen, durch den aufgezeigt werden soll, wie sich im Handeln, Lehren und Leiden Christi oder auch im Geschick der Gemeinde Voraussagen oder Verheißungen der Schrift erfüllen. Wir können hier nur die wichtigsten Beispiele für diese Verwendung des Alten Testaments in den Schriften des Neuen nennen. Sie konzentrieren sich auf einige zentrale Themen urchristlicher Verkündigung. Vor allem zur Deutung des Sterbens und der Auferstehung Jesu werden die Heilige Schriften Israels herangezogen. So zunächst mit der sehr summarischen Aussage, dass »Christus gestorben ist für unsere Sünde« und »auferweckt wurde am dritten Tage nach den Schriften« (1Kor 15,3f). Oder in der erzählerischen Darstellung, wie der Auferstandene den Jüngern zeigt, dass »im Gesetz des Mose und in den Propheten und Psalmen« geschrieben steht, »dass der Christus leiden wird und auferstehen von den Toten am dritten Tage«, ohne dass einzelne Stellen genannt werden (Luk 24,44–46; vgl. 24,25–27). Dann aber wird Jes 53 zur Fundgrube für das Verständnis von Sinn und Bedeutung des Leidens Jesu (Luk 22,37; Apg 8,32–35; 1Petr 2,22–25; vgl. Mk 10,45//Mt 20,28; Röm 4,25). Auch die Leidenspsalmen liefern viele Details zum Leidensweg Jesu (vor allem Ps 22 und 69). Im Hebräerbrief werden dann auch der alttestamentliche Opferkult und insbesondere die Riten am Versöhnungstag zu Deutehilfen für das Verständnis des Todes Jesu (vgl. die Verweise auf Lev 16 in Hebr 9,7; 13,11).

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Die Grundlage

Einen zweiten Schwerpunkt bilden Aussagen des Alten Testaments, die als messianische Verheißungen gelesen und auf Jesus bezogen werden. Hier fand man bestätigt, dass Jesus der verheißene Messias ist. Die Inthronisationszusage in Ps 110,1 wird so zur meist zitierten alttestamentlichen Stelle im Neuen Testament (Mt 22,44//Mk 12,36//Lk 20,42f; Apg 2,34f; 1Kor 15,25; Hebr 1,13). Auch die Zusage aus Ps 2,7 wird gerne zitiert (Apg 13,33; Hebr 1,5; 5,5; vgl. Mk 1,11//Mt 3,17//Lk 3,22, zu Ps 2,9 s. Offb 2,27; 12,5; 19,15) und gelegentlich auch die von 2Sam 7,14 (vgl. Hebr 1,5). Diese Verheißung wird freilich auch »demokratisiert« und auf alle Söhne und Töchter Gottes bezogen (2Kor 6,18; Offb 21,7). Dabei gibt es auch sehr originelle Neudeutungen von Texten, die ursprünglich wohl nicht messianisch gemeint waren, z. B. die Zitatenkombination aus Jes 8,14; 28,16 und Ps 118,22 f. In ihr wird Christus als der Stein des Anstoßes gedeutet, der zunächst verworfen, dann aber zum Fundament bzw. Eckstein wird (Mk 12,10f//Mt 21,42; Röm 9,33; 1Petr 2,4–8). Ihren Höhepunkt erreicht diese Zusammenschau von Altem Testament und Leben und Wirken Jesu im Matthäusevangelium. Mit seinen sog. Erfüllungs- oder Reflexionszitaten verbindet der Evangelist Ereignisse im Leben Jesu mit Aussagen aus dem Alten Testament und weist damit darauf hin, dass dies geschieht, damit erfüllt wird, was durch die Propheten angekündigt ist (vgl. Mt 1,22f; 2,15 u. ö.: s. u. S. 79). Vom Verhältnis von Verheißung und Erfüllung wird aber vor allem im Blick auf die Heilszusagen für Israel und die Ankündigung des Gerichts an Gottes Volk und der Welt gesprochen. So spielt die Verheißung des Neuen Bundes, den Gott mit Israel schließen wird (Jer 31,31–34), in der Abendmahlsüberlieferung (Mt 26,28//Mk 14,24//Lk 22,20; 1Kor 11,25) und im Hebräerbrief (Hebr 8,8–12; 9,15) eine entscheidende Rolle. Das Gleiche gilt für die Verheißung eines neuen Herzens und eines neuen Geistes nach Ez 11,19f; 36,26f (vgl. Joh 3,5; 2Kor 3,3) und der endzeitlichen Ausgießung des Geistes nach Joel 3,1–5 (Apg 2,17–21; Röm 10,13). Die Geschichte Israels, vor allem die Ereignisse beim Auszug aus Ägypten und die Probleme bei der Wüstenwanderung, wird zum Vor-Bild, und zwar sowohl unter dem Aspekt einer Heils- als auch einer Unheilsgeschichte (Joh 3,14; 6,28–51; 1Kor 10,1–11; Hebr 3,7–19). Die prophetische Kritik am Ungehorsam Israels wird aktualisiert und als Erklärung für die Ablehnung der Botschaft Jesu durch viele im Volk gesehen. Jes 6,9f gewinnt hier eine Schlüsselrolle (vgl. Mk 4,12//Mt 13,14//Lk 8,10; Apg 28,26; Röm 11,8); ähnlich Jes 53,1 (vgl. Joh 12,38; Röm 10,16). In Röm 3,9–20 wird eine Sammlung ausgewählter Psalmverse, die das Verhalten der Frevler geißeln, zum Schriftbeweis für die Gerichtsverfallenheit aller Menschen. Eine Sonderstellung nimmt Röm 9–11 ein. Auch hier wird die prophetische Kritik am Ungehorsam des Volkes auf den gegenwärtigen Un-

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glauben Israels bezogen. Doch zugleich wird die Verheißung eines Neuanfangs einerseits auf Gottes Weg zu den Völkern gedeutet (9,25–29; 10,19f), aber andererseits daran festgehalten, dass Gott der Bundesverpflichtung seinem Volk gegenüber treu bleiben wird (11,25–32). Für Paulus wird das Zeugnis von Gesetz und Propheten eigentümlicher­ weise gerade in der Frage nach der Heilsnotwendigkeit der Beschneidung und der Erfüllung der Vorschriften des Gesetzes entscheidend. In Gen 15,6 findet er die klare Aussage, dass Abraham glaubte und ihm das zur Gerechtigkeit angerechnet wird. Hab 2,4 (»der Gerechte wird durch seinen Glauben leben«) bestätigt das. So bezeugen für ihn Gesetz und Propheten, dass sich in Christus Gottes Gerechtigkeit und Heilstreue offenbart, die allen gilt, die sich ihr im Glauben öffnen. Hier scheint zwar Schrift gegen Schrift zu stehen, denn in Lev 18,5 wird verheißen, dass wer die Satzungen Gottes tut, »durch sie leben wird«. Aber für Paulus ist durch Hab 2,4 klargestellt, dass nicht das Gesetz Leben schenkt, sondern allein Gott durch den Glauben (Gal 3,10f; Röm 10,5). Auch die Grundlagen christlicher Ethik werden aus Vorgaben des alttestamentlichen Gesetzes entwickelt, allerdings in einer sehr eigenständigen Auswahl. In der Jesusüberlieferung wird das Doppelgebot der Liebe als Summe des Willens Gottes genannt und damit zweifellos ein Grundanliegen der Tora getroffen, das freilich dort nie so konzis formuliert wird (Mk 12,28–31//Mt 22,35–40; Lk 10,25–28). Sowohl von Jesus als auch von Paulus wird vor allem die sog. zweite Tafel des Dekalogs als Maßstab genannt (Mk 10,19//Mt 19,18f//Lk 18,20; Röm 13,9). Dabei betont Paulus, dass diese Gebote letztlich nur Ausführungsbestimmungen für das grundsätzliche Gebot der Nächstenliebe darstellen (Gal 5,14). Und dieses Gebot bleibt Grundlage in allen Teilen des Neuen Testaments. In der Bergpredigt wird es durch das Gebot der Feindesliebe radikal interpretiert und umgekehrt in der johanneischen Theologie im Gebot der innergemeindlichen Geschwisterliebe konkretisiert (vgl. Mt 5,43f// Lk 6,27f; Jak 2,8; Joh 13,34f; 15,12 f.17; 1Joh 4,11f). Auffällig ist, wie wenig im Neuen Testament auf Einzelvorschriften der Tora verwiesen wird. Natürlich stehen hinter den Anweisungen im sog. Aposteldekret in Apg 15,20 f.28f Verbote aus dem mosaischen Gesetz (Gen 9,4; Lev 17,10–14; 18,6–18; 19,4.26). Aber wenn sich Paulus in 1Kor 14,34 für das Schweigegebot für Frauen auf das Gesetz beruft, nennt er keinen Beleg dafür, und das Zitat von Dtn 25,4 in 1Kor 9,9 ist eher ein Hilfsargument, wirft aber ein bezeichnendes Licht auf die Auslegungsgrundsätze des Paulus und seiner Zeit. Dass sich Gott in den Tierschutzbestimmungen des Gesetzes um Ochsen kümmert, scheint undenkbar; solche Vorschriften müssen einen tieferen Sinn für die Mitarbeiter am Evangelium haben!

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Die Grundlage

Allerdings gibt es zwei Konfliktfelder mit alttestamentlichen Vorschriften bzw. deren Auslegung im zeitgenössischen Judentum. Das eine sind die Auseinandersetzungen um das Sabbatgebot, in die Jesus verwickelt war (Mk 2,23–3,6//Mt 12,1–14//Lk 6,1–11; Joh 5,9–18). Dabei geht es Jesus, wenn er am Sabbat heilt oder das Ährenausraufen seiner Jünger verteidigt, nicht um eine grundsätzliche Ablehnung dieses Gebots. Er möchte seinen ursprünglichen Sinn als Wohltat für alle wiedergewinnen (Dtn 5,14; Mk 2,27). Das andere Konfliktfeld war die Frage, ob das Gebot der Beschneidung auch für nichtjüdische Mitglieder der Gemeinden gelten solle. Für jüdische Menschen scheint Paulus diese Vorschrift nicht in Frage gestellt zu haben (vgl. Apg 16,3). Aber er hat es abgelehnt, die Beschneidung als Bedingung für die Aufnahme in den Bund mit Gott und das Volk Gottes und damit als Bedingung für das Heil zu betrachten (1Kor 7,18f; Gal 5,6.11f; 6,15). Offen ist auch die Frage, ob das »Ich aber sage euch« Jesu in Mt 5,21–48 als Aufhebung von Vorschriften der Tora zu werten ist, wie das bei der Ablehnung des Eides und der Ehescheidung der Fall zu sein scheint, oder eher als Radikalisierung der alttestamentlichen Gebote und Neugewinnung ihres wirklichen Sinnes gemeint ist, wie beim Verbot des Tötens und des Ehebruchs und dem Gebot der Nächstenliebe (s. u. S. 55; 85). Aber das Gesamtbild ist klar und eindeutig: Es gibt im Neuen Testament keine grundsätzliche Infragestellung des Alten Testaments. Wo das Gesetz »kritisiert« wird, werden kritische Stimmen aus dem Alten Testament aufgenommen und weitergeführt. Es gibt auch keine Andeutungen, dass man diese Schriften für ergänzungsbedürftig hielt. Wo im Neuen Testament davon gesprochen wird, dass Gott Neues tut, wird das als Erfüllung entsprechender alttestamentlicher Verheißungen gesehen. Wenn 2Tim 3,16 betont, dass »alle Schrift« von Gott inspiriert, wörtlich: »von Gott eingehaucht« ist, dann ist damit das Alte Testament gemeint, das die christliche Gemeinde als Zeugnis für Christus liest. Allerdings entsteht hier für uns heute ein Problem: Das christologische Verständnis der alttestamentlichen Texte, das die Auslegung im Neuen Testament leitet, deckt sich sehr oft nicht mit dem, was wir mit Hilfe der historisch-kritischen Methode als ursprüngliche Aussage dieser Texte erarbeiten. Dabei haben die urchristlichen Exegeten sehr wohl mit den Methoden ihrer Zeit gearbeitet. Das zeigt der Vergleich mit der zeitgenössischen jüdischen Exegese, auch wenn die rabbinische Auslegung von anderen Prämissen aus zu anderen Ergebnissen gekommen ist. Man hat deshalb von einem »doppelten Ausgang des Alten Testaments« gesprochen: Der eine führt über den Weg rabbinischen Schriftgebrauchs zur Stellung des Tanach, der hebräischen Bibel, im nachbiblischen ortho-

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doxen Judentum und der andere über die christologische Auslegung des Neuen Testaments zur Heiligen Schrift des Alten Testaments in der christlichen Theologie. Keine dieser beiden Auslegungsweisen, auch nicht die der jüdischen Tradition, deckt sich mit dem, was heutige wissenschaftliche Exegese, sei sie christlich oder jüdisch, als ursprünglichen Sinn der Texte sieht. Das heutige Judentum ist nicht einfach mit dem Israel der biblischen Schriften identisch, so wenig dies für das Christentum gilt. Es war zweifellos ein verhängnisvoller Fehler der christlichen Theologie, dem Judentum das Recht der Berufung auf das Alte Testament abzusprechen und es damit quasi zu enterben, wie das seit dem Barnabasbrief immer wieder mit verhängnisvollen Folgen geschehen ist. Aber es besteht auch kein Anlass, das Alte Testament dem Judentum als einzig legitimen Erben »zurückzugeben« und auf die christliche Berufung auf seine Schriften zu verzichten, wie das neuerdings gefordert wird. Wir hätten nie versuchen dürfen, es dem Judentum wegzunehmen, sondern haben viel Grund, uns dankbar bewusst zu machen, dass wir diese Schriften, in denen der christliche Glaube verwurzelt ist, als gemeinsames Erbe mit dem Judentum teilen. Dabei wird es nicht darum gehen, die christologische Auslegung der einzelnen Stellen gegen die Ergebnisse heutiger wissenschaftlicher Exegese zu verteidigen. Die Frage ist vielmehr, ob gezeigt werden kann, dass im Christusgeschehen und seiner neutestamentlichen Entfaltung wichtige Grundanliegen alttestamentlicher Schriften aufgenommen und sachgemäß weitergeführt sind. Umgekehrt wird christliche Theologie lernen müssen, dass in der jüdischen Tradition andere Grundaussagen des Alten Testaments bewahrt und entfaltet sind, die der christlichen Perspektive verborgen geblieben sind. Die Schriften Israels sind der fruchtbare Boden, in dem die Botschaft des Neuen Testaments wurzelt. Sie bilden die Grundlage des Glaubens und der Verkündigung der ersten Christen. Das Zeugnis von Gesetz und Propheten hat für Jesus und die frühe Christenheit bleibende Autorität. Das gilt auch für Paulus, obwohl er die Rolle des Gesetzes als Weg zum Heil anders sieht als seine jüdischen Zeitgenossen. Für die Verfasser der neutestamentlichen Schriften sind die Heiligen Schriften kein »altes« Testament, sondern lebendiges Zeugnis von Gottes Handeln an Israel. Sie sind voller Hinweise auf das, was Gott durch seinen Gesalbten, den Messias, zum Heil seines Volkes und der ganzen Welt tun wird. Wenn Paulus sagt, dass das Alte vergangen und in Christus Neues geworden ist (2Kor 5,17), dann wird damit das Zeugnis der Schriften Israels nicht auf die Seite geschoben. Gerade umgekehrt: Er nimmt damit die Dynamik der prophetischen Verkündigung auf und proklamiert ihre Erfüllung: Gott schafft Neues, sodass man sich nicht mehr an das Frühere klammern muss (Jes 43,18f).

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Die Grundlage

Auch später, als sich aus den maßgeblichen Schriften der Urchristenheit ein neues Testament herauszubilden begann und man von den Schriften des »alten Bundes« als dem Alten Testament sprach, war das nicht abqualifizierend im Sinne von veraltet oder überholt gemeint. »Alt« war in der Antike ein Qualitätsmerkmal. Das Erste Testament blieb die grundlegende Verfügung Gottes für diese Welt und für sein Volk Israel, freilich nun entscheidend neu verstanden im Licht des Handelns Gottes in Christus. Das Neue Testament enthüllt keine grundsätzlich neue Offenbarung, sondern verkündet das, was die Schriften des Alten Testaments als neues Handeln Gottes ankündigen. Wenn dennoch davon gesprochen wird, dass Gott sich durch sein Handeln in Jesus Christus auf ganz neue Weise zeigt, so ist das keine Herabsetzung dessen, was das Alte Testament bezeugt, und begründet nicht den Antijudaismus späterer Zeiten. Es eröffnet eine ganz neue Perspektive auf das, was Gottes Handeln in Israel schon immer bedeutet hat. Es sind jüdische Nachfolger Jesu, die im Neuen Testament mit ihren jüdischen Zeitgenossen um die Gültigkeit dieser Perspektive ringen. Die Schriften des Neuen Testaments waren also zunächst eher als eine Art christologischer Kommentar zu den Heiligen Schriften Israels gedacht. Aber dieser »Kommentar« hat teil an der Autorität der neuen Weise von Gottes Offenbarung in Jesus Christus. Und darum wird er im Laufe der ersten Jahrhunderte zu einem gleichberechtigten Zeugen der Offenbarung Gottes für die Menschen. Das führt uns zur zweiten grundsätzlichen Voraussetzung der Botschaft des Neuen Testaments: Gottes Handeln in Jesus von Nazareth. II. Jesus von Nazareth: Messias Israels – Retter der Völker Sind die Schriften Israels der Mutterboden, in dem die Botschaft Jesu und des Neuen Testaments wurzelt, so ist Jesus und sein Wirken der Wurzelstock, aus dem heraus die Botschaft der neutestamentlichen Autoren wächst und sich entfaltet. Oder – mit einem anderen Bild: Ist das Zeugnis des Alten Testaments der Felsengrund, auf den sich Jesu Sendung gründet, dann ist er und sein Wirken das Fundament, auf das die Kirche und ihre Verkündigung baut (vgl. 1Kor 3,9f). Was wir von der Botschaft Jesu wissen können, erfahren wir durch die Berichte der vier Evangelien. Für die Verkündigung der werdenden Kirche, aber dann auch für alle spätere christliche Predigt und Theologie, halten ihre Erzählungen fest, wie wichtig der irdische Jesus, d. h. Jesus von Nazareth als wirklicher Mensch, für Glauben und Lehre der Christen ist und bleibt. Der naheliegenden Versuchung, ihn nach seiner Auferstehung und Himmelfahrt nur noch als göttliche Gestalt in der himm-

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lischen Welt zu sehen, war damit ein Riegel vorgeschoben. Was Jesus in seinen Erdentagen getan, gesagt und erlitten hat, bleibt grundlegend für Verkündigung und Lehre der Kirche. Aber die vier Evangelien berichten davon auf unterschiedliche Weise, und das führt zur Frage: Welche Person steht hinter diesen unterschiedlichen Bildern von ihm und seinem Wirken und was ist spätere Übermalung? Welche Worte hat er selbst gesprochen und was ist Fortschreibung der Überlieferung? Spätestens mit dem Aufkommen eines historisch-kritischen Bewusstseins in der Aufklärung verband sich damit die Skepsis gegenüber den Wunderberichten, insbesondere den sog. Naturwundern. Man versuchte, das Bild Jesu von der dogmatischen Übermalung durch die Evangelienüberlieferung zu reinigen und das Bild des wirklichen, des historischen Jesus freizulegen. Der historische Jesus und der wirkliche Jesus Die Geschichte der Frage nach dem historischen Jesus kann hier nicht nachgezeichnet werden. Die Ergebnisse dieser Bemühungen schwanken zwischen einer radikalen Skepsis gegenüber den Berichten der Evangelien und Versuchen, die Angaben der vier Evangelien zu harmonisieren und auch die Wundererzählungen historisch plausibel zu machen. Deshalb wird von vielen bezweifelt, dass diese Fragestellung theologisch sinnvoll ist. Aber sie bleibt in der theologischen Diskussion virulent und bestimmt auch das Fragen vieler theologischer Laien: Wer war Jesus wirklich? Dabei ist die entscheidende Frage: Ist der historische Jesus tatsächlich der wirkliche Jesus? Ist nur das, was eine gedachte Videokamera aufgenommen hätte, wirklich? Gehört das, was sich den Jüngern durch die Erfahrung der Auferstehung Jesu als Wahrheit über sein Wesen und Wirken erschloss, nicht auch zur Wirklichkeit Jesu? Wie zuverlässig können unsere methodischen Instrumente ein Urteil darüber abgeben, was in ganz anderen geschichtlichen Zusammenhängen geschehen sein kann? Die Erforschung mancher ursprünglichen Kulturen zeigt, dass es mehr Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, als unsere Schulweisheit sich träumen lässt und unsere Messapparate erfassen können. Dazu kommt eine weitere Beobachtung: Wie die Geschichte der Suche nach dem historischen Jesus zeigt, ist unser historisches Urteil von unseren jeweiligen Fragestellungen beeinflusst. Die Forschung hat in den vergangenen zweihundert Jahren sehr unterschiedliche Bilder vom »historischen« Jesus gezeichnet. Wir sehen die Vergangenheit mit unseren Augen. Die »Kamera« unserer historischen Wahrnehmung ist immer auch von den Vorstellungen unserer Zeit programmiert und produziert Bilder, die von unseren Fragen geprägt sind.

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Und ein Letztes muss bedacht werden: Historische Urteile sind immer nur Wahrscheinlichkeitsurteile und können keine Gewissheit begründen. Neue Erkenntnisse über den historischen Kontext führen zu einer neuen Beurteilung von Worten und Verhalten Jesu, und die Meinung darüber, welche Zuverlässigkeit man antiken Berichten grundsätzlich zubilligen kann, schwankt auch in der profanen Geschichtswissenschaft beträchtlich. Dennoch, trotz all dieser Einwände: Die Herausforderung, die in dieser Fragestellung liegt, ist unausweichlich. Theologisches Denken muss sich der Frage stellen: Gibt es in den Berichten über Jesu Wirken einen Kern, der auch heutiger historischer Rückfrage standhält? Oder positiv ausgedrückt: Die historische Frage nach dem irdischen Jesus ist wichtig und nötig, denn sie hält fest, dass sich unser Glaube auf das Wirken einer historisch fassbaren Person beruft, auch wenn deren Bedeutung weit über das historisch Erkennbare und Beweisbare hinausgeht. Deshalb wollen wir versuchen, in knappen Strichen zu skizzieren, was wir aufgrund historischer Forschung vom Leben und Lehren Jesu von Nazareth wissen können. Es soll als Merkposten dafür dienen, dass alle Erzählung und Verkündigung von Jesus vom Wirken einer realen Person ausgeht, die zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort gelebt und gewirkt hat. Alles ist Botschaft Wenn wir nach der Botschaft Jesu fragen, dürfen wir nicht nur nach den Worten seiner Verkündigung fragen. Jesu ganzes Wirken war Botschaft und ist von seinen Zeitgenossen auch so verstanden worden. Dabei war die Zeit seiner Wirksamkeit äußerst kurz. Nach dem zeitlichen Aufriss des Markusevangeliums hätte sie nicht einmal ein Jahr gedauert, nach der Chronologie des Johannesevangeliums waren es nicht ganz drei Jahre – immer noch eine extrem kurze Zeit angesichts der Wirkung, die sein Leben auslöste. Matthäus und Lukas berichten zwar auch von seiner Geburt und Kindheit, aber für Jesu Botschaft selbst spielt nur die Zeit seines öffentlichen Wirkens eine Rolle. Äußerlich ist sie geprägt durch seinen Lebensstil als Wanderprediger, der im jüdischen Kontext ganz ungewöhnlich war. Auch sein Wirkungsfeld rund um den See Genezareth und in den angrenzenden Gebieten war sehr begrenzt. Ob er mehrmals in Jerusalem war und dort öffentlich auftrat (so nach Johannes), ist eine offene Frage. Grundsätzlich ist seine Wirksamkeit auf die jüdische Bevölkerung begrenzt; die wenigen Ausnahmen, die erzählt werden, sind wichtig, aber bestätigen die Regel.

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Denn Jesus war Jude. Sein ganzes Leben und Wirken vollziehen sich im jüdischen Kontext. Gesetz und Propheten sind die unangefochtenen Autoritäten, auf die er sich beruft. Obwohl kein ausgebildeter Rabbi lehrt er in den Synagogen, einem Ort jüdischen Lebens und Gottesdienstes, der erst in den Tagen Jesu in Judäa und Galiläa üblich wurde. Dagegen scheint er in einer merkwürdigen Distanz zum Tempelkult gestanden zu haben, auch wenn er sich in der Zeichenhandlung der »Tempelreinigung« für eine Reform des herrschenden Betriebs eingesetzt hat (Mk 11,15–19// Mt 21,12–17//Lk 19,45–48//Joh 2,13–16). Jesu eigentümlicher Lebensstil aber signalisiert: Er will ganz nahe bei den Menschen sein. Er sucht sie auf, wo sie leben, teilt ihren Alltag und feiert mit ihnen Feste. Und doch erscheint er immer als ihr Gegenüber, er ist einer von ihnen und doch ganz anders. Das hat mit seinem Auftrag und seiner Sendung zu tun. Am Anfang steht die Taufe Am Anfang des Wirkens Jesu steht seine Taufe durch Johannes den Täufer. Sie gilt als eines der sichersten Ereignisse in seiner Biografie. Da die spätere Gemeinde Probleme damit hatte, dass sich der sündlose Jesus der Taufe zur Vergebung der Sünden unterzog (vgl. Mt 3,15), hätte man davon nichts berichtet, wenn das Ereignis nicht zum festen Bestand frühester Überlieferung gehört hätte. Es ist einhellige Überzeugung der urchristlichen Überlieferung, dass Jesu öffentliche Wirksamkeit in Zusammenhang mit dem Auftreten des Täufers und seiner Taufe durch ihn begann (Mk 1,9–11.14f//Mt 3,13–17; 4,12–17//Lk 3,21f; Joh 1,19–24; Apg 1,22; 10,37; 13,24f). Ob Jesus sogar eine Zeitlang zu seinen Jüngern gehörte (so die Vermutung mancher Forscher) oder nach seinem Vorbild selbst taufte (so die widersprüchliche Angabe in Joh 4,1f), lässt sich nicht sicher sagen. Auch weshalb Jesus sich vom Täufer taufen ließ, kann nur vermutet werden. Er hat sich offensichtlich dem Urteil, dass das Volk als Ganzes Gottes Gericht verfallen war, gestellt und ist dem prophetischen Ruf des Täufers zur Umkehr gefolgt. Möglicherweise hat er bei seiner Taufe seine endgültige Berufung erfahren und die Gewissheit erhalten, die Verkündigung des Täufers auf neue Weise und in eigener Vollmacht weiterzuführen (vgl. Mk 1,9–11//Mt 3,13–17//Lk 3,21f). Gottes Herrschaft bricht an Zentral für die Verkündigung Jesu ist die Gewissheit: Gottes Herrschaft und Reich sind ganz nahe (Mk 1,14f//Mt 4,17; 10,7; Lk 10,11). Diese

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Überzeugung teilt er mit dem Täufer (Mt 3,1f). Allerdings setzen beide unterschiedliche Akzente. Der Täufer betont, dass dies unausweichlich das Gericht für das Volk Gottes bedeutet. Nur wer umkehrt und sich in der Taufe dem Gericht stellt, wird ihm entrinnen können. Jesus klammert den Gerichtsaspekt nicht aus. Aber bei ihm steht im Vordergrund, dass Gottes Kommen vor allem Heil, Rettung und Befreiung für die Menschen bedeutet, die unter der Herrschaft böser Mächte, der Last ihrer Sünde und dem Leid von Krankheit und Armut leiden. Zwei Fragen sind im Blick auf Jesu Reich-Gottes-Verkündigung zu klären: (1) Sprach Jesus von Gottes Herrschaft oder von Gottes Reich? Das griechische Wort kann beides bedeuten und wahrscheinlich stehen in unterschiedlichen Aussagen Jesu auch jeweils der eine oder der andere Aspekt im Vordergrund. Die alttestamentlichen Wurzeln und zeitgenössischen jüdischen Parallelen des Begriffs weisen auf den dynamischen Aspekt hin: Gott wird seine Herrschaft vor aller Welt durchsetzen. In diesem Sinn bittet die zweite Bitte des Vaterunsers »Dein Reich komme« um das Anbrechen der Herrschaft Gottes. Aber in anderen Zusammenhängen liegt der räumliche Aspekt nahe: Das Reich Gottes erscheint als Raum des Heils, in den man hineingeht, oder als Heilsgut, das man – wie das ewige Leben – »erben« kann, d. h. als bleibende Lebensgrundlage erhält (vgl. Mk 10,15.17; Mt 7,21; 25,34). Damit hängt die zweite Frage zusammen: (2) Wie nahe ist Gottes Herrschaft? Die griechische Wendung, die im Deutschen oft mit »ist nahegekommen« übersetzt wird, ist im Griechischen Perfekt. Sie kann deshalb auch mit »ist da« oder: »ist schon ganz nahe« übersetzt werden. Klarheit gibt hier die eigene Auslegung Jesu in Lk 11,20//Mt 12,28. Er sagt dort: »Wenn ich aber durch den Finger Gottes die Dämonen austreibe, so ist ja das Reich Gottes zu euch gekommen.« Besonders wenn man diese Aussage ins Aramäische zurückübersetzt, wird ihre konkrete Bedeutung sehr schön sichtbar: Im Handeln Jesu berührt Gottes Herrschaft schon diese Welt und ihre Not. Hier und jetzt, in Jesu befreiendem und heilendem Handeln, wird schon erfahrbar, was Gottes Herrschaft für diese Welt und die Menschen bedeutet. Wunder – Zeichen der Gegenwart Gottes In diesem Zusammenhang sind die Wunder Jesu, und zwar vor allem seine Dämonenaustreibungen, wichtig. Das mag uns heute problematisch scheinen, da wir Schwierigkeiten haben, entsprechende Krankheitsbilder mit dem Wirken von Dämonen in Verbindung zu bringen. Wir sprechen von »Besessenheit« höchstens im übertragenen Sinn. Aber

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diese Form des Heilens gehörte unzweifelhaft zum historischen Kern des Wirkens Jesu. Er wirkte unter den Menschen seiner Zeit auch mit den Vorstellungen dieser Zeit. Jesus hatte die Gabe, Menschen zu heilen, und oft waren es Menschen, die nach damaligem Verständnis als von Dämonen besessen galten, die er wieder in ein selbstbestimmtes und in die Gesellschaft eingebundenes Leben führte. Jesus sah das als Zeichen dafür, dass die Macht des Bösen grundsätzlich gebrochen ist. Lk 10,18 zitiert ein Wort, in dem er sagt: »Ich sah den Satan vom Himmel fallen« (ähnlich Joh 12,31). Im Himmel ist kein Platz mehr für den Verkläger, seine Macht über die Menschen ist grundsätzlich gebrochen, auch wenn das noch nicht überall spürbar ist (vgl. auch Mk 3,27//Mt 12,29//Lk 12,21f). Im Bild Gottes gibt es keine Zweideutigkeit mehr. Für Jesus ist das schon Vorwegnahme des kommenden Heils, wenn Gottes Herrschaft und Reich die Herrschaft des Bösen völlig überwinden wird. Und weil er dieses Zeichen für möglichst viele Menschen aufrichten und die Botschaft von der Nähe der Herrschaft Gottes möglichst allen sagen will, macht er sich nicht als Heiler sesshaft, sondern wandert durch das Land, um ganz nahe bei den Menschen zu sein (Mk 1,35–39). Doch Jesu Heilungstätigkeit beschränkt sich nicht auf Dämonenaustreibungen. Er heilt ganz unterschiedliche Krankheiten und scheut dabei auch nicht vor dem persönlichen Kontakt mit den Betroffenen zurück, selbst mit denen, die als aussätzig und unrein galten (vgl. Mk 1,31.41; 5,41; 7,33; 8,23–25). Umgekehrt wird auch berichtet, dass er aus der Ferne allein durch sein Wort heilt (Mk 7,29; Mt 8,13). Dabei sollten wir uns klar machen, dass die Menschen damals nicht unterschieden zwischen »Wundern«, die man als Heilung psychosomatischer Erkrankungen erklären kann, und solchen, die naturgesetzlichen Gegebenheiten zu widersprechen scheinen. Entscheidend ist, dass Menschen ins Staunen kommen und fragen, woher Jesus diese heilenden Kräfte hat. Manche Heilungsberichte besitzen auch eine symbolische Dimension. So wenn Jesus sich nicht scheut, Aussätzige zu berühren, und damit nicht nur ihren Hautausschlag heilt, sondern sie wieder in die Gemeinschaft zurückholt (Mk 1,40–44). Oder wenn er Tauben und Stummen die Sprache wieder schenkt und die daraufhin Gott loben (Mk 7,31–37). Oder wenn er einen Blinden wieder sehen lässt und dieser ihm sehenden Auges auf seinem Weg zum Kreuz folgt (Mk 10,46–52). Gute Nachricht für Verachtete und Vergessene Ganz eng verbunden mit Jesu Sorge für Kranke und Leidende ist seine Hinwendung zu Menschen am Rand der damaligen Gesellschaft, ins-

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besondere zu Armen, Zöllnern und Sündern. Dass den Armen die frohe Botschaft verkündet wird, gehört zu den Grundaussagen der Berichte über das Wirken Jesu (Lk 4,18; 7,22//Mt 11,5 unter Bezug auf Jes 61,1f). Die erste Seligpreisung (Lk 6,20) sagt gerade den Armen, dass das Reich Gottes ihnen gehört und Gottes Herrschaft für sie da sein wird. Gott wendet sich denen zu, die ihn am nötigsten brauchen. Das gilt ohne Vorleistung und ohne Vorbedingungen. Darum gibt Jesus dieselbe Zusage auch den Kindern (Mk 10,14). Ja, sie gilt allen, die »das Reich Gottes annehmen wie ein Kind« (V. 15), d. h. sich einfach von Gottes Liebe beschenken lassen. Das ist der Weg, Gott und seinem Kommen zu begegnen. Diese Überzeugung ist auch der Grund für Jesu skandalöse Hinwendung zu Zöllnern, einer damals aus unterschiedlichen Gründen (und wohl nicht immer ohne Grund) verachteten Berufsgruppe (Lk 15,1f; 19,1–10), und zu Frauen, die man Sünderin nannte und die aufgrund eines anrüchigen Lebenswandels oder wegen ungeordneter persönlicher Verhältnisse im Abseits standen (Lk 7,36–50). In der Geschichte von der Berufung des Zöllners Levi verteidigt Jesus diese Haltung mit den Worten: »Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken. Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder« (Mk 2,17//Mt 9,13//Lk 5,32). Jesus stellt die Frömmigkeit der Gerechten nicht in Frage. Im Anschluss an das Gleichnis vom verlorenen Schaf sagt er: »Im Himmel« – also bei Gott – wird man sich »mehr freuen über einen Sünder, der umkehrt, als über neunundneunzig Gerechte, die keiner Umkehr bedürfen« (Lk 15,7 ZB). Es besteht zunächst kein Anlass, die Aussagen über die Gerechten ironisch zu verstehen. Jesus ist überzeugt: Gottes Güte gilt allen, und er möchte dies vor allem denen nahebringen, die damit nicht mehr zu rechnen wagen. Und er verteidigt diese Haltung durch eindrucksvolle Beispielgeschichten, die Lukas in Lk 15 gesammelt hat. In der Geschichte von dem Vater und seinen beiden Söhnen wird dann auch die Problematik der Gerechten thematisiert, freilich auch ihnen gegenüber ohne jede Vorverurteilung (s. u. S. 282 f.). Einladung zum Vertrauen Durch sein Handeln und Verhalten lädt Jesus dazu ein, sich ganz Gottes Güte anzuvertrauen. Darum ist die Ermutigung zum vertrauensvollen Gebet ein wichtiges Thema seiner Verkündigung. Die schlichte Anrede Gottes mit Vater, wie sie sich in der älteren Fassung des Vaterunsers in Lk 11,2 findet, war typisch für sein Beten und für die Anleitung zum Beten, die er seinen Jüngern gab. Abba, das aramäische Wort für diese

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kindlich vertrauensvolle Anrede, die Jesus verwendet hat, wurde auch in die Gebetssprache der griechisch sprechenden Gemeinden übernommen (vgl. Mk 14,36; Röm 8,15; Gal 4,6). Mit Bildern aus der Natur, die Gottes Fürsorge für alle Geschöpfe beschreiben, macht Jesus Mut, sich ganz auf Gottes Güte zu verlassen und sich nicht um die Dinge des täglichen Lebens zu sorgen (Mt 6,25–34// Lk 12,22–31). Damit ist die Mahnung verbunden, sich nicht auf vermeintliche irdische Sicherheiten zu verlassen, sondern darauf, dass unser Leben bei Gott geborgen ist. Die »Schätze im Himmel«, von denen Jesus spricht (Mt 6,19–21//Lk 12,33f), sind kein geistliches Kapitaldepot aus den Erträgnissen und Verdiensten unserer guten Werke, sondern Symbol für eine Haltung, die sich nicht auf materielle Sicherheiten, sondern auf die Verbindung mit Gott verlässt. Jesus ermutigt immer wieder dazu, das, was Menschen fehlt und was sie brauchen, Gott im Gebet anzuvertrauen und nicht daran zu zweifeln, dass er gibt, was sie brauchen (Mk 9,23: »Alles ist möglich dem, der glaubt«; vgl. Mk 11,22–24//Mt 21,21f; Mt 7,7–11//Lk 11,9–13). Die Radikalität und Pauschalität im überlieferten Wortlaut dieser Zusagen macht uns heute manchmal Not, weil sie nahezulegen scheinen, »unerhörte« Gebete seien auf den Mangel an Glauben zurückzuführen. Dass dies nicht die Intention Jesu war, zeigt das Gebet, das er seine Jünger gelehrt hat, das »Unser Vater« (Mt 6,9–13//Lk 11,2–4). Sein Wortlaut bleibt im Rahmen zeitgenössischer jüdischer Gebete, ist aber in seinem Profil typisch für die Botschaft Jesu. In den ersten drei Bitten geht es um Gottes Sache: um seinen Namen, seine Herrschaft, seinen Willen – das ist das Vorzeichen allen Betens. In der Mitte steht die knappe Bitte um das tägliche Brot. Sie fasst alles zusammen, was wir zum Leben brauchen, und macht deutlich, dass auch dies in unser Leben mit Gott hineingehört. Die drei letzten Bitten umreißen all das, was uns von Gott – aber auch von unseren Mitmenschen – trennen könnte: Schuld, Versuchung und die Macht des Bösen. Es geht um Gott und darum auch um die Menschen, um das, was sie brauchen, und um das, wovor sich bewahrt und wovon sie befreit werden müssen. Geschichten, die überzeugen Jesus sprach zu den Menschen oft in Gleichnissen. Für einen jüdischen Lehrer war das nicht ungewöhnlich. In der Verkündigung Jesu aber nimmt diese Form des Redens eine außergewöhnliche Stellung ein. Die Art, wie er Geschichten erzählt, ist so prägnant und typisch für ihn, dass klar ist: Es geht ihm dabei um mehr, als um eine interessante Form, seine Botschaft zu illustrieren. Sie stellt vielmehr ein Merkmal seiner

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Verkündigung dar, das zum Wesen seiner Botschaft gehört. Manches in dieser Botschaft lässt sich nur als Gleichnis weitergeben. Wer von Gott reden will, wird immer zu Gleichnissen und Bildern greifen müssen. Die Rede in Gleichnissen entspricht der Fleischwerdung des Wortes im Bereich der Verkündigung! Es ist die Art, menschlich vom Göttlichen zu reden. Zentral für Jesu Botschaft sind die Gleichnisse vom Reich Gottes. Dazu gehören die Gleichnisse von der selbstwachsenden Saat (Mk 4,26–29), vom Senfkorn (Mk 4,30–32//Mt13,31f//Lk 13,18f) und vom Sauerteig (Mt 13,33//Lk 13,20). Auch das Gleichnis vom Sämann (Mk 4,3–9// Mt 13,3–9//Lk 8,5–8) zählt wohl dazu, obwohl es nicht mit der Einleitung beginnt: »Mit dem Reich Gottes ist es so wie …«. Früher nannte man diese Gleichnisse »Wachstums-Gleichnisse«, weil es in ihnen auch um das Wachsen der Saat geht. Aber die Pointe ist weniger das Wachstum, sondern der Kontrast zwischen einem ganz kleinen und entmutigenden Anfang und der überwältigenden Ernte am Ende. So ist es mit Gottes Reich, sagt Jesus: Es beginnt jetzt in meinem Wirken klein und bescheiden und ist mit viel Misserfolg verbunden. Aber dennoch wird Gottes Herrschaft einst alles durchdringen, und es wird reiche Ernte geben. Damit wird dieselbe Erfahrung beschrieben, die Jesus in seinen Dämonenaustreibungen sieht: Was Gott einst vollenden wird, beginnt schon jetzt. Hier zeigt sich der dynamische Charakter des Begriffs Reich Gottes: Gottes Herrschaft bricht an. Warum erzählt Jesus Gleichnisse? Die beste Antwort darauf geben die Gleichnisse, die mit der Formel »Wer unter euch?« beginnen. Sie zeigen: Mit seinen Gleichnissen möchte Jesus das Einverständnis der Menschen erreichen. »Wer unter euch würde seinem Sohn einen Stein geben, wenn er ihn um ein Brot bittet?« fragt er im Gleichnis vom bittenden Kind (Mt 7,9//Lk 11,11). »Niemand« ist die selbstverständliche Antwort. Auch das Gleichnis vom verlorenen Schaf beginnt mit der Frage: »Wer von euch, der hundert Schafe hat und eines von ihnen verliert, lässt nicht die neunundneunzig in der Wüste zurück und geht dem verlorenen nach, bis er es findet?« (Lk 15,4). Hier mag uns die Antwort nicht so selbstverständlich erscheinen, aber Jesus rechnet offensichtlich mit der Antwort: Das ist doch selbstverständlich! Jesus zielt auf das innere Kopfnicken der Leute. Wer würde nicht so handeln, selbst wenn es um eine ungewöhnliche Situation geht (so etwa beim Gleichnis vom bittenden Freund, Lk 11,5; vgl. weiter Lk 14,28; 15,8–10; 17,7; Mt 6,27//Lk 12,25; Mt 12,11//Lk 14,5). Wenn aber schon fehlbare und manchmal auch böse Menschen selbstverständlich das Richtige und Gute tun, wie viel mehr der gütige und barmherzige Gott! Also: Vertraut ihm doch! (vgl. Mt 7,11//Lk 11,13). Und freut euch doch mit, wenn

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ein Mensch, der weit weg von Gott war, zu ihm zurückgefunden hat, so wie ihr euch über ein wiedergefundenes Schaf freut! Ganz ähnlich sollen Gleichnisse wirken, die an alltägliche Begebenheiten anknüpfen wie die Gleichnisse vom Senfkorn und vom Sauerteig (Mt 13,31–33), von der selbstwachsenden Saat (Mk 4,26–29) und wohl auch das Gleichnis vom Sämann (Mk 4,3–9//Mt 13,3–9//Lk 8,5–8). Sie greifen Erfahrungen aus dem Alltag eines Bauern oder einer Hausfrau auf, Vorgänge, die man kennt und auf die man sich verlässt. Als Gleichnis werden sie transparent für das Handeln Gottes: So wie sich die Zuhörenden darauf verlassen, dass ein wenig Sauerteig den ganzen Teig durchsäuert oder aus einem winzigen Senfkorn eine große Staude wird und dass auf die Saat trotz mancher Verluste eine gute Ernte folgt, so dürfen sie auch darauf vertrauen, dass Gott seine Herrschaft, die in Jesu Handeln schon klein und unter Widerständen anbricht, zu ihrem Ziel führen wird. Jesus erzählt auch Gleichnisse, deren Pointe darin besteht, dass die Geschichte eine überraschende Wendung nimmt. Beispiel dafür sind u. a. das Gleichnis vom großen Festmahl (Lk 14,16–24; vgl. Mt 22,1–10), von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20,1–15), vielleicht auch das vom Sämann (Mk 4,3–9) und auf jeden Fall das vom gütigen Vater und seinen beiden Söhnen (Lk 15,11–32). Diese Gleichnisse wollen durch ihr Überraschungsmoment die Zuhörenden zum Nachdenken anregen: Könnte sich nicht auch Gott ganz anders verhalten, als wir es erwarten? Sehr viel barmherziger und weitherziger, aber auch sehr viel konsequenter und offener? Inhaltlich veranschaulichen die Gleichnisse unterschiedliche Aspekte der Botschaft Jesu. Die sog. Kontrast-Gleichnisse mit ihrer Gegenüberstellung von kleinem Anfang und großer Wirkung wollen Mut machen, sich Jesu Wort anzuvertrauen. Andere Gleichnisse wie das vom Schatz im Acker oder vom Kaufmann und der Perle (Mt 13,44–46) wollen zum entschlossenen Handeln angesichts der kommenden Gottesherrschaft motivieren: Es lohnt sich, alles auf eine Karte zu setzen, um das Entscheidende zu gewinnen! Viele Gleichnisse aber wollen vor allem die Güte Gottes veranschaulichen und verteidigen. Das sind die Gleichnisse vom verlorenen Schaf und der verlorenen Drachme (Lk 15,3–10), aber auch das vom großen Festmahl (Lk 14,16–24) oder von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20,1–15). Manche von ihnen setzen einen doppelten Akzent: Einerseits nehmen sie mit ihrer Erzählung die Menschen hinein in das Ereignis der Güte Gottes und laden sie ein, sich dieser Güte anzuvertrauen. Andererseits verteidigen sie Gottes Güte gegen die Kritiker und warnen davor, sich diesem Handeln Gottes zu verschließen. Zugleich laden sie ein, Gottes Barmherzigkeit für andere und für sich selbst anzunehmen. Meisterhaft

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geschieht dies im Gleichnis vom gütigen Vater und seinen beiden Söhnen, in dem der Vater den »verlorenen« Sohn mit offenen Armen aufnimmt, aber auch zu dem hinausgeht, der daheim geblieben ist und nun grollt, und ihn einlädt, hereinzukommen. Hier wird die Gerechtigkeit der Gerechten anerkannt und zugleich auf die Gefahr hingewiesen, dass sie sich doch als hohl und leer erweist. Von außen betrachtet, haben sie es nicht nötig, Buße zu tun und von einem falschen Weg umzukehren; aber auch sie müssen sich immer neu auf den Weg machen, um bei Gott und im Haus seiner Güte einzukehren. So fehlt es auch nicht an Gleichnissen, die dazu aufrufen, wach zu sein für den Ruf Gottes, und die davor warnen, den Ernst der Anfrage Gottes zu missachten. Davon sprechen die Gleichnisse von den anvertrauten Talenten (Mt 25,14–30//Lk 19,12–27), von den zehn Jungfrauen (Mt 25,1– 13) oder vom sog. Schalksknecht (Mt 18,21–35). Wie richtiges Handeln nach Gottes Willen aussieht, das veranschaulichen die Beispielerzählungen Jesu. Das sind keine Gleichnisse, sondern zeigen an eindrucksvollen Beispielen, wie sich Menschen richtig verhalten: so am Handeln des barmherzigen Samariters (Lk 10,30–37), an der gegensätzlichen Haltung von Pharisäer und Zöllner (Lk 18,9–14) und am Urteil des Völkerrichters (Mt 25,31–46). Für die frühe christliche Gemeinde, die Jesu Gleichnisse weitererzählte, blieb es ein Rätsel, dass so viele von denen, die Jesu Gleichnisse gehört hatten, sich Jesu Ruf verschlossen. Unter dem Einfluss von Jes 6,9f kam man zu dem Schluss, dass Jesus seine Botschaft in Gleichnisse fasste, um ihre wirkliche Bedeutung zu verbergen, und sie nur denen erklärte, die ihm nachfolgten (Mk 4,10–12//Mt 13,10–17//Lk 8,9f). Aber es kann kein Zweifel daran sein, dass Jesus selbst deshalb in Gleichnissen gesprochen hat, um seine Botschaft verständlich zu machen. Richtig aber ist an der späteren Gleichnistheorie die Beobachtung, dass diese Gleichnisse nur von denen recht verstanden werden, die sich seinem Anspruch stellen, der in ihnen verborgen ist. Bedingungslos, aber nicht ohne Konsequenzen Zwei Brennpunkte bestimmen die Botschaft Jesu, wie er sie in seinen Gleichnissen entfaltet: 1) Gottes überwältigende Güte, die menschliche Not und Gottferne überwindet, wird in Jesu Handeln und Reden greifbare Realität und gilt allen, besonders aber den Armen und Verlorenen, ohne Vorbedingung. 2) Gottes hingebungsvolle Liebe fragt nach der Antwort des Menschen und einem Leben, das von dieser Liebe bestimmt ist. Um Dietrich Bonhoeffers bekanntes Schlagwort aufzugreifen: Jesus verkündet

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keine billige Gnade, sondern die teure und kostbare Gnade dessen, der die Menschen ganz für sich und seine Liebe gewinnen will (Bonhoeffer, Nachfolge 11f). Ein Schlüsselvers für den engen Zusammenhang beider Anliegen ist das Wort Jesu: »Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist« (Lk 6,36; vgl. Mt 5,48). Was Menschen von Gott empfangen und an ihm erleben, das sollen sie auch anderen weitergeben. Jesus stellt keine Vor-Bedingungen für das Heil, seine Zusage gilt bedingungslos. Aber es gibt für ihn Konsequenzen der heilvollen Begegnung mit Gott und seiner Liebe, die in der Sache selbst liegen. Die Gleichnisse vom Schatz im Acker oder vom Kaufmann und der Perle wollen die Hörer und Hörerinnen Jesu in diese (eigentlich) selbstverständliche Reaktion hineinnehmen (Mt 13,44–46). Wer findet, was das Leben unendlich reich und schön macht, wird nicht zögern, alles dranzusetzen, um diesen Reichtum zu behalten. Beispielhaft wird das in der Geschichte von der Begegnung Jesu mit dem Oberzöllner Zachäus dargestellt (Lk 19,1–10). Jesus ruft diese zwielichtige Gestalt aus ihrem Versteck, um in seinem Haus einzukehren und ihm so Gottes heilende Gegenwart zu zeigen – trotz des Protests der Frommen, die feststellen: »Bei einem Sünder ist er eingekehrt!« Jesus stellt keine Bedingung, aber Zachäus spürt, welche Konsequenz das für ihn hat und sagt: »Herr, die Hälfte von meinem Besitz gebe ich den Armen, und wenn ich jemand betrogen habe, gebe ich es vierfach zurück«. Wer in Jesus der Liebe Gottes begegnet, kann nicht mehr so bleiben, wie er oder sie ist. Den gleichen Zusammenhang zeigt das Gleichnis vom Schalksknecht an einem negativen Beispiel auf (Mt 18,21–35): Wem Gottes vergebende Güte das Leben neu schenkt, der kann seinem Mitmenschen nicht die Vergebung verweigern. Oder noch einmal positiv beschrieben in der Geschichte der »großen Sünderin«, die Jesus aus überschwänglicher Dankbarkeit heraus gesalbt hat: »Ihre vielen Sünden sind ihr vergeben worden, darum hat sie mir viel Liebe erwiesen.« (Lk 7,47 NGÜ). Weil Jesus von der selbstverständlichen Dankbarkeit empfangener Liebe ausgeht, kann er nicht nur von der bedingungslosen Güte Gottes, sondern auch in allem Ernst von Gottes Willen reden. Gottes Wille und das Gesetz Wenn es um die Frage des richtigen Verhaltens geht, folgt Jesus einem bemerkenswerten Grundsatz: Es gibt keinen Widerspruch zwischen dem Gebot, Gottes Willen zu gehorchen, und den Geboten der Menschlichkeit. Die Geschichte vom barmherzigen Samariter ist primär eine

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eindrucksvolle Auslegung des Gebots der Nächstenliebe. Dass aber ausgerechnet ein Priester und ein Levit an dem Verletzten vorbeigehen, signalisiert die Gefahr, aus Gründen religiöser Observanz dem Nächsten die nötige Hilfe zu verweigern. Auch in der Auseinandersetzung um die Einhaltung der Reinheitsgebote in Mk 7,1–23//Mt 15,1–20 wird der Vorrang einer (fiktiven) Weihung an den Tempel vor der Pflicht, die alten Eltern zu versorgen, wie ihn die rabbinische Gesetzesauslegung annahm, als problematisch entlarvt. Auch bei den Sabbatkonflikten, in die Jesus immer wieder verwickelt war, ging es um den Vorrang von Heilung und Hilfe vor den immer rigider werdenden Vorschriften, den Sabbat zu heiligen (vgl. Mk 2,23–3,6// Mt 12,1–14//Lk 6,1–11). Mit seinem revolutionären Wort »Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen« (Mk 2,27) will Jesus keineswegs den Ruhetag der Willkür des Menschen ausliefern. Er will vielmehr den ursprünglichen Sinn dieses Gebots wiederherstellen: Es soll einen Tag der Ruhe für alle gewähren (vgl. Dtn 5,12–15) und nicht zum Testfall für den Gehorsam gegen Gottes Gebot werden. Besonders eindrucksvoll zeigt sich Jesu Grundsatz in der Rede vom Weltgericht (Mt 25,31–46). Das Wort des Weltenrichters: »Was ihr für einen meiner geringsten Brüder oder für eine meiner geringsten Schwestern getan habt, das habt ihr für mich getan« (V. 40 GNB), fasst in präziser Weise zusammen, worum es Jesus geht: Gott dient, wer anderen hilft. Auf den Begriff gebracht wird dieser Grundsatz durch die Zusammenfassung des Gesetzes im Doppelgebot der Liebe. Die Frage nach dem »höchsten« Gebot beantwortet Jesu, indem er das Grundbekenntnis Israels zu dem einen Gott und das Gebot, Gott von ganzem Herzen zu lieben (Dtn 6,4f), mit dem Gebot der Nächstenliebe (Lev 19,18) verklammert. Es gab im zeitgenössischen Judentum Tendenzen zu ähnlichen Zusammenfassungen des Gesetzes. Nicht von ungefähr stimmt in der ältesten Fassung dieser Geschichte (Mk 12,28–34) der fragende Schriftgelehrte Jesus aus vollem Herzen zu (anders Mt 22,35–40). Jesus bleibt bei seiner Formulierung des Willens Gottes im Rahmen dessen, was die Tora sagt. Und doch liegt in der Zuspitzung des Gesetzes auf das als Einheit verstandene Doppelgebot etwas radikal Neues. Damit stehen wir freilich an einer der kontroversesten Fragen der Jesusforschung. Bleibt diese Neuinterpretation der Tora im Rahmen jüdischer Theologie oder sprengt sie diesen Rahmen? Wir haben diese Ambivalenz schon bei den Sabbatkonflikten beobachtet: Jesu Deutung des Sabbatgebots stimmt mit dessen Formulierung im Alten Testament überein und steht doch quer zu der geltenden Auslegung im zeitgenössischen Judentum.

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Besonders dringlich stellt sich diese Frage bei der Neuinterpretation von Bestimmungen der Tora, die Matthäus in der Bergpredigt unter dem Leitwort »Ihr habt gehört, dass gesagt ist … Ich aber sage euch: …« zu sechs »Antithesen« zusammengefasst hat (Mt 5,21–48). Einerseits geht es in dieser Neuauslegung der »alten« Gebote um eine Radikalisierung, die nicht nur auf die äußere Befolgung, sondern auf eine Erfüllung von innen her zielt. So bei den Geboten »Du sollst nicht töten« (5,21f), »Du sollst nicht ehebrechen« (5,27f) oder der Erweiterung des Gebots der Nächstenliebe zum Gebot der Feindesliebe (5,43–48). Andererseits setzt Jesus einige Vorschriften des Gesetzes förmlich außer Kraft, so die Möglichkeit der Ehescheidung mittels eines Scheidebriefs (5,31f), die Vorschriften über die Eidesleistung (5,33f) und die Bestimmungen über eine adäquate Vergeltung. Beides aber geschieht mit dem Ziel, die radikale und umfassende Liebe, mit der Gott die Menschen liebt, auch im Leben mit anderen zu verwirklichen (V. 45.48). Bleibt all das – wie manche meinen – im Rahmen schriftgelehrten Ringens um die rechte Auslegung der Tora, oder zeigt sich hier eine Vollmacht Jesu, die den Rahmen dessen, was das Gesetz vorgab, sprengte und auf eine ganze neue Auslegung des Willens Gottes drängte? Das führt zur Frage nach dem Vollmachtsbewusstsein Jesu. Für wen hielt sich Jesus? Kaum eine Frage wird in der Jesusforschung so kontrovers behandelt wie die Frage, wie Jesus selbst über seine Sendung gedacht hat und ob er sich mit einer der im Judentum erwarteten Heilsgestalten der Endzeit identifiziert hat. Offensichtlich sind die Evangelien von der Gewissheit geprägt, dass Jesus der erwartete Messias und Sohn Gottes ist. Das beeinflusst auch ihre Darstellung des irdischen Wirkens Jesu und lässt fragen, was in ihr Erinnerung an Aussagen des irdischen Jesus ist und was erst aufgrund einer später durch die Begegnung mit dem Auferstanden gewonnenen Erkenntnis formuliert wurde. Die älteste Fassung entsprechender Aussagen im Markusevangelium zeigt, dass Jesus selbst sehr zurückhaltend war, für sich irgendwelche messianische Titel zu beanspruchen oder ihre Verwendung für sich zu akzeptieren (vgl. Mk 1,24f; 8,27–30; anders 14,61f). Oft wird deshalb in der historischen Forschung angenommen, Jesus habe sich als endzeitlicher Prophet verstanden. Aber auch das dürfte nicht das Richtige treffen. Jesus leitet seine Worte nie mit der Formel ein: »So spricht der Herr«, wie das für die prophetische Rede im Alten Testament typisch ist. Sein Wirken ist auch nicht wie das der klassischen Propheten auf die Weitergabe der prophetischen Botschaft beschränkt, sondern umfasst auch sein

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vollmächtiges Handeln für Menschen in Not (am ehesten käme für ihn deshalb das Vorbild des Elia oder Elisa in Frage). Gerade darin aber liegt der Schlüssel für das, was man das Selbstbewusstsein Jesu nennen könnte. Wir erinnern noch einmal an sein Wort in Lk  11,20//Mt 12,28: »Wenn ich aber durch den Finger Gottes die Dämonen austreibe, so ist ja das Reich Gottes zu euch gekommen.« In Jesu Dämonenaustreibungen handelt Gott selbst; seine befreiende Herrschaft wird in seinem Wirken schon jetzt Wirklichkeit. Ein ähnlicher Anspruch steckt implizit in Jesu Antwort auf die Anfrage des Täufers: »Bist du der da kommen soll?« Jesus lässt ihm sagen: »Geht und verkündet Johannes, was ihr gesehen und gehört habt: Blinde sehen, Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote stehen auf, Armen wird das Evangelium gepredigt« (Mt 11,5//Lk 7,22). Er spielt dabei auf eine Fülle alttestamentlicher Stellen an, die Gottes Handeln in der kommenden Heilszeit beschreiben (Jes 26,19; 29,18f; 35,5f; 61,1). Jesus beansprucht also, an Gottes Stelle zu handeln. »Was Israel von Gott erwartet, wird durch Jesus erfüllt« (M. Wolter, in: Jesus Handbuch 426). Dass Jesus Sünder annimmt (Lk 15,2) und ihnen Gottes Vergebung zuspricht (Mk 2,5; Lk 7,48), verrät dasselbe Vollmachtsbewusstsein und führt zu heftigen Protesten seiner theologisch versierten Zeitgenossen. Dieses Selbstverständnis liegt auch vielen seiner Gleichnisse zugrunde, selbst wenn seine Person in ihnen nicht abgebildet wird. Der unscheinbare, aber verheißungsvolle Anfang des Heilshandelns Gottes, den die Kontrastgleichnisse beschreiben, geschieht jetzt im Wirken Jesu. Und dass Menschen, die sich verirrt haben, von Gottes Liebe gefunden werden, vollzieht sich jetzt in ihrer Begegnung mit Jesus. Den einzigen »Titel«, den Jesus selbst für sich verwendet hat, ist der Titel Menschensohn. Nur Jesus spricht so von sich. In seinem Mund wird der Begriff zu einer Art »Signalwort« für seine besondere Sendung. Über seine genaue Bedeutung gibt es eine nicht endende Diskussion. Denn seine Verwendung hat eine doppelte Wurzel. Einerseits bezeichnet das Wort im Hebräischen und Aramäischen den einzelnen Menschen im Unterschied zu Mensch als Gattungsbezeichnung (vgl. Ps 8,5; Ez 2f). Andererseits erscheint nach Dan 7,13 am Ende der Zeit »einer wie eines Menschen Sohn«. Ihm wird von Gott alle Macht gegeben; seine Gestalt steht für die humane Natur der künftigen Herrschaft Gottes im Gegensatz zum bestialischen Charakter der durch Raubtiere repräsentierten Weltreiche. Die Art, wie Jesus den Begriff benutzt, nimmt beide Merkmale auf. Er sagt nicht einfach »Ich«, wenn er etwas über sich selbst sagt, sondern spricht vom Menschensohn, um auf die Besonderheit seiner Person hinzuweisen: Er ist Mensch wie alle und doch Repräsentant der herein-

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brechenden Herrschaft Gottes. »Alles, was sich durch ihn und an ihm ereignete, war deshalb von einzigartiger Bedeutung, weil er als Repräsentant Gottes dessen Reich aufrichtete und die Menschen mit der Entscheidung über Heil und Unheil konfrontierte« (Schröter, Jesus 283). Dieses Bewusstsein einer einzigartigen Sendung und Vollmacht musste Jesus notgedrungen einsam machen. Wie verhielt er sich zu den Menschen um ihn her? Menschen um Jesus Jesus war kein »Teamplayer«, der sich mit seinen Jüngern beriet, welche Aktionen man als nächstes gemeinsam durchführen würde. Er hatte das Sagen im Kreis derer, die ihm folgten. Aber er war auch kein »Lonely Rider«, kein Einzelkämpfer, der die Dinge allein durchzog. Nach dem Matthäus- und Markusevangelium und in anderer Weise auch bei Johannes war die erste Aktion Jesu, dass er Menschen dazu aufrief, sich ihm anzuschließen (Mk 1,16–20//Mt 4,18–22; Joh 1,35–51; etwas später in Lk 5,1–11). Wie das geschah, wird unterschiedlich dargestellt. Die Art der Berufung der ersten vier Jünger nach Markus und Matthäus erinnert an die Berufung des Elisa zum Prophetenschüler und Nachfolger des Elia (1Kön 19,19–21), die Erzählung bei Johannes dagegen eher an die Art, wie sich Rabbinenschüler ihren Lehrer suchen und sich ihm anschließen. Das griechische Wort, das im Deutschen meist mit Jünger übersetzt wird, signalisiert in jedem Fall, dass mit diesen Aktionen ein LehrerSchüler-Verhältnis begründet wird. Obwohl Jesus damit rechnete, dass das Kommen des Reiches Gottes unmittelbar bevorstand, begründete er einen solchen Schülerkreis, der seine Verkündigung und sein Handeln aufnehmen und weitertragen sollte. Von Anfang gehörte eine Gemeinschaft von Menschen, die von ihm geleitet und durch sein Vorbild geprägt wurde, zur gelebten Botschaft Jesu. Jesu Schüler zu werden stellte nicht nur in eine Lerngemeinschaft, sondern in eine intensive Lebensgemeinschaft. Jesus erteilte seinen Jüngern keine Lektionen, sie lernten im »Mit-ihm-Sein« (Mk 3,14). Er erwartete von ihnen, dass sie ihren Beruf und ihre Familie verließen, ihm auf seinen Wegen folgten und ihn bei der Begegnung mit Menschen in Not begleiteten. Ihre Lebensweise wurde so zum Beispiel dafür, was es heißt, sich konsequent der Führung Jesu anzuvertrauen und für das Kommen des Reiches Gottes zu öffnen. Jesus erwartet nicht von allen, die seiner Botschaft glauben, dass sie ihm auf seinen Wanderungen folgen. Das ist nicht Bedingung dafür, an Gottes Herrschaft teilzuhaben. Es gibt sogar Beispiele dafür, dass er jemand, den er geheilt hat und der sich ihm anschließen will, wegschickt mit

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dem Auftrag, in seiner Heimat zu verkünden, was Gott an ihm getan hat (Mk 5,18–20). Auch das ist »Nachfolge«. Aber es gibt auch Fälle, wo im Ruf in die Nachfolge Jesu die ganze Radikalität des Anspruchs Gottes auf den Menschen zum Ausdruck kommt, was meist dazu führt, dass sich die Angesprochenen nicht in der Lage sehen, diesem Ruf zu folgen (vgl. Mk 10,17–27//Mt 19,16–26// Lk 18,18–27, die Geschichte vom »reichen Jüngling«; weiter Mt 8,19– 22//Lk 9,57–62). In späteren Schichten der Überlieferung wird das Thema »Nachfolge«  – vor allem im Zusammenhang mit den Leidensankündigungen Jesu – zum Ausdruck für ein konsequentes Christsein, das Jesu Beispiel folgt, so wie wir heute diesen Begriff verstehen. Jesu Jünger bleiben ihm gegenüber immer Schüler und Lehrlinge. Darum tragen sie bleibend den Titel Jünger. Und doch ist bei ihrer Berufung von Anfang im Blick, dass sie das Wirken Jesu weitertragen. Jesus ruft Petrus mit einem anstößigen, aber für ihn typischen Wort von den übervollen Netzen weg und beauftragt ihn, von jetzt an »Menschen zu fangen« (Lk 5,10; vgl. Mk 1,17//Mt 4,19). Das aber heißt: Die Jünger sollen im Auftrag und in der Vollmacht Jesu Menschen in Gottes rettende Herrschaft holen. Das wird durch die Berichte von der Aussendung der Jünger anschaulich gemacht. Nach Mk 6,7–13//Mt 10,1–15//Lk 9,1–6 sendet Jesus die Zwölf aus mit dem Auftrag, Kranke zu heilen, Dämonen auszutreiben, das Kommen der Herrschaft Gottes zu verkünden und die Menschen zur Umkehr zu rufen. Lk 10,1–12 kennt (vermutlich durch die Logienquelle) auch die Aussendung von siebzig (oder zweiundsiebzig) weiteren Jüngern. Es sind also nicht nur die Zwölf gesandt. Leider erzählen die Evangelien so gut wie nichts von der Durchführung dieser Aktion; nur Lukas berichtet kurz von der Rückkehr der Ausgesandten (9,10; 10,17). Es ist daher sehr schwer, etwas über die Bedeutung dieser Sendung während des irdischen Wirkens Jesu zu sagen. Die Berichte darüber sind aber ein deutliches Signal dafür, dass Jesu Jünger nicht erst nach Ostern die Botschaft von Jesus verkünden, sondern an seiner Sendung und Vollmacht von Anfang an teilhatten. Eine besondere Bedeutung hat in diesem Zusammenhang die Berufung eines inneren Kreises von zwölf Personen (Mk 3,13–19//Mt 10,1–4// Lk  6,12–16). Ihre Namen sind überliefert, wenn auch nicht ganz einheitlich. Nach einhelliger Aussage der Texte gehörte auch Judas, der Jesus den Behörden zur Verhaftung auslieferte, zu ihnen. Darum ist es so gut wie sicher, dass dieser Kreis schon vor Ostern bestand. Der Kreis der Zwölf (natürlich ohne Judas) gehörte auch zu den wichtigen Auferstehungszeugen (1Kor 15,5). Aber er scheint bald danach an Bedeutung verloren zu haben. Die Zahl Zwölf zeigt ihre symbolische Be-

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deutung: Sie repräsentieren die zwölf Stämme Israels, also auch die, die als verloren galten. Durch Jesu Sendung sollte ganz Israel wiederhergestellt werden (vgl. Mt 19,28, wo den Jüngern verheißen wird, die zwölf Stämme Israels zu richten). Zum Kreis der Zwölf gehörten nur Männer, und die Überlieferung erweckt zunächst den Eindruck, als hätte auch der weitere Kreis der Jünger nur aus männlichen Mitgliedern bestanden. Aber das täuscht. Es ist bemerkenswert, wie oft Jesus Frauen hilft, so der Schwiegermutter des Petrus (Mk 1,30f), einer Frau, die an Blutungen litt und der Tochter des Jairus (Mk 5,21–43), einer Frau aus Syrophönizien und ihrer Tochter (Mk 7,24–30) oder der Frau mit einem verkrümmten Rückgrat (Lk 13,10– 17). Jesus hatte auch keine Berührungsängste gegenüber Frauen. Das zeigen die beiden Salbungsgeschichten, von denen eine sogar von einer Frau mit zweifelhaftem Ruf handelt (Lk 7,36–50; Mk 14,3–9). An zwei Stellen wird ausdrücklich erwähnt, dass neben den Zwölf auch eine Gruppe von Frauen mit Jesus zog und die Jüngergemeinschaft u. a. finanziell unterstützte. In Lk 8,1–3 werden drei von ihnen mit Namen genannt, unter ihnen Maria Magdalena. Sie wird auch in der Passionsund Ostergeschichte zusammen mit einer Gruppe von Frauen erwähnt, von denen es ausdrücklich heißt, dass sie Jesus gefolgt waren und ihm »gedient hatten«, als er in Galiläa war (Mk 15,40f). Der Eindruck, dass es sich bei dem Team um Jesus um eine reine Männergesellschaft gehandelt hat, ist also falsch. Sehr spannungsvoll ist dagegen das Verhältnis Jesu zu seiner Familie. Nach Mk 3,21.31-35 versuchten seine Mutter und seine Brüder sogar, ihn aus dem Verkehr zu ziehen, weil sie befürchteten, er sei verrückt geworden. Dass dies berichtet wird, obwohl sein Bruder Jakobus später eine führende Stellung in der Gemeinde in Jerusalem einnahm, spricht für die Zuverlässigkeit des Berichts. Auch viele seiner Jünger und Jüngerinnen haben ihre Familie verlassen, um Jesus nachzufolgen. Die Gemeinschaft der Jünger und Jüngerinnen wird zu einer neuen Familie (Mk 10,28–31). Dass aber Jesu Bruder Jakobus nach Ostern zur Gemeinde findet (1Kor 15,7) und später manche Apostel mit ihren Frauen auf Missionsreise gehen (1Kor 9,5) zeigt, dass die neue Gemeinschaft keineswegs familienfeindlich ist! Das Verhältnis zur Bevölkerung insgesamt wird in den Evangelien eher holzschnitthaft geschildert. Das »Volk« bzw. die »Menge« läuft ihm nach, wundert sich über seine Taten und bedrängt ihn mit dem Wunsch nach Heilung und Hilfe, eine Stimmung, die dann in Jerusalem im Lauf der Passionsgeschichte merkwürdig rasch umschlägt. Auch die Gegner Jesu, vor allem die Gruppe der Pharisäer und Schriftgelehrten, werden relativ stereotyp dargestellt. Dass Jesus durchaus differenzieren konnte,

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zeigen einige Bemerkungen. Angesichts der Ernsthaftigkeit des reichen Mannes, der nach dem ewigen Leben fragt, heißt es in Mk 10,21: »und Jesus sah ihn an und gewann ihn lieb«. Und zu dem Schriftgelehrten, der ihm in der Frage nach dem höchsten Gebot zustimmt, sagt Jesus: »Du bist nicht fern vom Reich Gottes« (Mk 12,34). Die schwer einzuordnende Gestalt des Josef von Arimathia (Mk 15,42–47, und vielleicht auch die des Nikodemus in Joh 3,1f; 7,50; 19,39) deutet an, dass es auch in den führenden Kreisen heimliche Anhänger Jesu gab. Aber insgesamt scheint sich im politischen und religiösen Establishment schon relativ bald heftiger Widerstand gegen sein Wirken geregt zu haben (vgl. Mk 3,6). Und zumindest ein Teil der Gerichtsverkündigung Jesu dürfte durch die Enttäuschung über die Ablehnung seiner Botschaft veranlasst worden sein. Der unbequeme Jesus – Jesu Verkündigung des Gerichts Kann einer, der den Menschen so konsequent und bedingungslos das Heil zuspricht, auch Gericht predigen? Kann der, der den Menschen so lebhaft das Erbarmen und die Liebe Gottes vor Augen stellt, auch von Gott als Richter sprechen? Diese Fragen sind in der theologischen Forschung lange verneint worden. In letzter Zeit aber hat auch die kritische Forschung versucht, das Zeugnis der Evangelien von Jesu Rede vom Gericht zu verstehen und in das Ganze seiner Verkündigung einzuordnen. Dabei ist wichtig zu beachten, welche Rolle das Thema Gericht bei ihm spielt. »Für die Gerichtspredigt Jesu gilt grundsätzlich: sie ist Umkehrpredigt, d. h. sie will durch die Ansage des Unheils dieses gerade verhindern, will die retten, denen sie das Gericht ansagt« (Theißen – Merz, Jesus 243; vgl. Mt 12,41f//Lk 11,29–31, wo sich Jesus mit Jona vergleicht). In der Drohung mit dem Gericht steckt die dringende Einladung, doch noch Jesu Ruf zum Heil zu folgen. So sind Jesu Weherufe über die Orte seiner intensivsten Wirksamkeit Ausdruck des Schmerzes über verschmähte Liebe und zugleich eine letzte Einladung, doch zu bedenken, in welcher Intensität ihnen Gottes Ruf im Wirken Jesu begegnet ist (Mt 11,20–24//Lk 10,13–15). Auch die Gerichtsgleichnisse, die Matthäus in Kap. 25 gesammelt hat, sind Mahnungen zur Wachsamkeit und Warnungen vor Leichtfertigkeit. Dass Jesus den überraschenden Maßstab im letzten Gericht schon jetzt verrät, ist Hinweis auf das, was richtig ist und gut: Nichts anderes als das zu tun, was menschlich eigentlich selbstverständlich ist! Im Mittelpunkt der Zukunftserwartung Jesu steht aber nicht der Blick auf das letzte Gericht, sondern die Hoffnung auf die vollendete Gemeinschaft mit Gott, die durch Bilder vom himmlischen Festmahl und dem

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großen Hochzeitsfest veranschaulicht wird (Mt 8,11f; 25,1–13; Lk 14,16– 24). Von ihr ausgeschlossen zu sein ist die drohende Konsequenz für die, die Jesu Ruf nicht folgen. In seinen Mahlfeiern mit Armen und Sündern nahm er zeichenhaft schon etwas von der Vollendung bei Gott vorweg. Dass damit Gottes Heil schon jetzt erfahrbar wurde, mag auch der Grund dafür sein, dass das Ausbleiben der nahen Erfüllung dieser Erwartung keine große Krise in der frühen Kirche ausgelöst hat. Ob und in welcher Form Jesus die Wiederherstellung des Volkes Israel erwartet hat, lässt sich aufgrund des Zeugnisses der Evangelien schwer sagen. Die Schaffung des Zwölferkreises scheint das anzudeuten (vgl. Mt 19,28). Dass er – wie manche meinen – in diesem Zusammenhang auch den Bau eines neuen, von Gott gemachten Tempels und die Erneuerung des Tempelkults erwartet hat, ist eher unwahrscheinlich, trotz des rätselhaften Wortes über einen neuen Tempel, das im Prozess Jesu eine Rolle gespielt hat (Mk 14,58//Mt 26,61; vgl. Joh 2,19). Möglicherweise hat Jesus gegen Ende seines Wirkens auch eine Zeit der Verfolgung und der Krise für seine Bewegung erwartet, was dann in der Endzeitrede der Evangelien entfaltet wird (Mk 13,9–13//Mt 24,9–14// Lk 21,12–18). Jesu Weg in den Tod Wie aber hat Jesus seinen Tod verstanden und bestanden? Nach dem tiefen Schock des Erlebens seiner Kreuzigung verdichtete sich in der jungen christlichen Gemeinde durch die Begegnungen mit dem Auferstandenen immer mehr die Gewissheit, dass sein Tod nicht einfach ein fataler Justizirrtum war, sondern dass Gott selbst in Jesu Leiden und Tod die Schuld seines Volkes und die Sünde der Menschheit auf sich genommen und verarbeitet hat. Leidenspsalmen wie Ps 22 und 69, vor allem aber die Aussagen über den leidenden Gottesknecht in Jes 53 und der Ritus des Versöhnungstages in Lev 16 stellten nach und nach Begriffe und symbolische Vorstellungen zur Verfügung, um diese Wahrheit zu formulieren. Aus dieser Gewissheit heraus erzählte man dann auch Jesu Weg in seine Passion und seinen Tod: Jesus musste sein Leben lassen, damit die Menschheit gerettet werden würde. Aber deshalb ist es für den Historiker sehr schwer festzustellen, ob auch Jesus selbst schon so gedacht und gesprochen hat. Doch auch für die historische Forschung gibt es Anzeichen dafür, dass Jesus im Lauf seiner Wirksamkeit damit gerechnet hat, dass ihn seine Gegner töten würden. Die rätselhafte Ankündigung in Lk 13,32f, die mit den Worten endet: »es geht nicht an, dass ein Prophet umkomme außerhalb von Jerusalem«, deutet an, dass er dies drohende Geschick zunächst analog zu dem Tod

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mancher Propheten verstanden hat: Er wollte seinem Auftrag treu bleiben, auch wenn er ihn in den Tod führen würde. Aber es gibt auch Jesusworte, die zeigen, dass er selbst seinen Weg in den Tod als Einsatz für andere gedeutet hat. Das eine ist die ungewöhnliche Aussage in Mk 10,45//Mt 20,28: »Der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viele.« Jesus versteht seinen drohenden Tod als Konsequenz und Fortsetzung seines ganzen Wirkens und fasst beides unter dem Stichwort »Dienst für andere« zusammen. Was das für sein Sterben bedeutet, zeigen die Begriffe »Lösegeld« (aus Jes 43,3f) und »für viele« (Jes 53,11f). Jesus tritt in Gottes Auftrag stellvertretend für das verwirkte Leben der Menschen ein, sühnt mit seinem Tod für ihre Schuld und befreit sie so zu neuem Leben. Das Motiv »für viele« taucht auch in dem Wort zum Kelch auf, das Jesus bei seinem letzten Mahl spricht (Mk 14,23f//Mt 26,27f). Zusammen mit der knappen Aussage beim Brechen des Brotes »Das ist mein Leib« wird damit signalisiert, dass Jesu Weg in den Tod ein Sterben für andere ist. Aber gerade bei den Abendmahlsworten ist es schwer, sicher festzustellen, welche Kernaussagen auf Jesu eigene Worte bei seinem letzten Mahl zurückgehen, da sie schon früh liturgisch gebraucht und dadurch geprägt wurden. Es mag problematisch erscheinen, dass es sich historisch nicht sichern lässt, ob Jesus bewusst im Wissen um die Heilsbedeutung seines Sterbens in den Tod ging. Aber das nimmt diesem Weg auch das Inszenierte, das manchen der traditionellen Aussagen anhaftet, die klingen, als habe Jesus seinen Tod selbst herbeigeführt. Dass er in seinem Sterben unseren Tod miterlitten hat, erweist sich auch darin, dass er ihn nicht als ein Drama erlebt hat, dessen Sinn und triumphaler Ausgang für ihn von vorneherein feststand. Das zeigt auch die Erzählung von seinem Gebetskampf in Gethsemane (Mk 14,32–42//Mt 26,36–46//Lk 22,39–46). Erst seine Auferstehung brachte die Gewissheit über Sinn und Ziel seines Weges in den Tod. In diesem Menschen ist uns Gott begegnet – das war der Eindruck der Jünger und Jüngerinnen Jesu und vieler anderer, denen er geholfen hat. Grundlegend für die Botschaft des Neuen Testaments ist deshalb die Person Jesu und der Glaube, dass Gott durch ihn entscheidend zum Heil der Welt gehandelt hat. Die ersten Christen haben nicht versucht, ihre Erinnerungen an ihn von allen späteren Einflüssen hermetisch abzuschließen. Es waren lebendige Erinnerungen. Auch die Erfahrungen, die sie mit dem auferstandenen Christus gemacht haben, flossen in sie ein, und Jesus sprach durch geistgewirkte Prophetie weiter zu ihnen. Und dennoch haben diese Erinnerungen viel von der

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unverwechselbaren Gestalt des Mannes aus Nazareth festgehalten, sodass wir bis heute nachvollziehen können, wie sein Wirken und Leben für andere die christliche Botschaft entscheidend geprägt haben. Wir fassen noch einmal die wichtigsten Elemente zusammen: Jesus verkündigte die andrängende Nähe der Herrschaft Gottes und rief die Menschen auf, sich ganz Gottes Kommen zuzuwenden. In der Begegnung mit ihm, seinem Reden und Handeln, erlebten Menschen: In ihm kommt Gott zu uns. Jesus heilte Menschen und befreite sie aus der Herrschaft lebenzerstörender Mächte. Damit machte er zeichenhaft deutlich, was es bedeutet, wenn Gottes Herrschaft kommt: Leiden wird überwunden und die Macht des Bösen gebrochen. Jesus wandte sich ganz besonders den Armen und denen zu, die an den Rand der Gesellschaft gedrängt worden waren. So lebte er die umfassende Weite der Liebe Gottes. Er wollte damit die Frömmigkeit der Frommen und die Gerechtigkeit der Gerechten nicht in Frage stellen. Aber weil viele von ihnen Jesu Botschaft von der Güte Gottes ablehnten, wurde die Echtheit ihrer Nähe zu Gott fraglich. Immer wieder erklärt Jesus das Wesen seiner Botschaft und seiner Sendung durch Gleichnisse und Beispielgeschichten. Bilder aus dem Alltag und Erzählungen, die Impulse zum Nachdenken geben, veranschaulichen die Wahrheit seiner Botschaft. Indem Jesus die Menschen in die Logik seiner Bilder und Geschichten hereinholt, nimmt er sie in die Wirklichkeit des Handelns Gottes hinein. Jesus lebt die Radikalität der Liebe Gottes: Sie gilt allen ohne Vorbedingung. Aber er vertritt auch den Ernst der Liebe Gottes, die nach einem ganzen Ja fragt. Radikale Gnade ist keine billige Gnade. Leben wird ganz und echt, wo es der empfangenen Liebe Raum gibt – in der gleichen Weite und Radikalität, in der Gott liebt. Für Jesus können Gottes Wille und das Gebot der Menschlichkeit nicht in Widerspruch zueinander treten. Den einzig wahren Gott zu ehren und die Nächsten zu lieben sind die untrennbaren beiden Seiten eines Lebens, das zu seiner göttlichen und menschlichen Bestimmung findet. Jesus bleibt nicht allein. Er ruft Menschen dazu auf, ihm zu folgen und an seinem Leben und Wirken teilzunehmen. Damit begründet er eine neue Gemeinschaft, in der Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft zu Schwestern und Brüdern werden, die füreinander da sind und die Botschaft von Gottes rettender Herrschaft in die Welt tragen. Jesus lebt und wirkt im Horizont der Erwartung, dass das Kommen des Reiches Gottes nahe bevorsteht. Er teilt damit die zeitliche Vorstellung mancher seiner Zeitgenossen. Aber die Intensität, mit der er das Hereinbrechen dieser Zukunft schon in der Gegenwart gelebt und verkündigt hat, macht die Hoffnung auf die Nähe des Kommens Gottes unabhängig von solchen chronologischen Vorstellungen.

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Jesus bleibt seiner Sendung treu, auch als er damit rechnen muss, dass sie ihn in den Tod führt. Er ist diesen Weg im Vertrauen darauf zu Ende gegangen, dass auch dies sein Weg mit Gott für die Menschen sein würde. Indem er die Gottverlassenheit des menschlichen Sterbens auf sich nahm, hat er die Gegenwart der Liebe Gottes auch in die Gottferne von Schuld und Tod hineingetragen. Die ersten Christen haben die Wahrheit dieser Aussage in der Begegnung mit dem auferstandenen Christus erfahren und mit Hilfe des Zeugnisses der Schrift, also des Alten Testaments, theologisch zu formulieren gelernt. Jesu Wirken war getragen von dem Bewusstsein, dass Gott durch ihn in entscheidender Weise an seinem Volk handelt. Er war zurückhaltend, die gängigen Titel von Heilsbringern für sich zu verwenden. Seine Jünger und Jüngerinnen sahen in seiner Auferweckung die Beglaubigung seiner Vollmacht durch Gott und bezogen die messianischen Verheißungen des Alten Testaments auf Person und Wirken Jesu. Sie bekannten sich zu ihm als Messias, Gottes Sohn und Herr. Die Rückfrage nach dem »historischen« Jesus ergibt also ein beeindruckendes Bild vom Wirken des irdischen Jesus. Dennoch sind nicht die Rekonstruktionen der Historiker Grundlage der Verkündigung und des Glaubens der christlichen Gemeinde, sondern das Zeugnis der Evangelien vom Leben, Wirken, Leiden und Auferstehen Jesus Christi. Die entscheidende Frage ist also: Wie geben sie die Botschaft von Gott, der in Jesus Christus zu dem Menschen kommt, weiter?

B. Die Entfaltung

Wie wir sahen, ist die Botschaft von Jesus Christus im Urchristentum auf zwei Weisen entfaltet worden. Da war einerseits die Erinnerung an Jesus. Seine Taten wurden weitererzählt, seine Worte weitergegeben, die Stationen seines Leidens immer ausführlicher dargestellt und die unterschiedlichen Berichte der Auferstehungszeugen gesammelt. Andererseits wurde intensiv über die Bedeutung von Tod und Auferstehung Jesu nachgedacht und mit Hilfe alttestamentlicher Aussagen erschlossen. Die Erinnerung an das Wirken und die Verkündigung Jesu und die Botschaft von Gottes Handeln in Kreuz und Auferstehung Jesu sind die beiden grundlegenden Inhalte, an denen sich der Glaube der Urchristenheit orientierte. Das Leben in den jungen Gemeinden war bestimmt von der Überzeugung, dass der auferstandene und erhöhte Christus lebt und durch den Heiligen Geist bei den Seinen gegenwärtig ist. Verkündigung und Lehre legten aus, was das für Glaube und Handeln der Gemeinden und der Einzelnen bedeutete. Auslöser dafür, dass diese Botschaft verschriftlicht wurde, waren die Briefe des Paulus. In ihnen erklärte und entfaltete er die Bedeutung der Christusbotschaft für ganz konkrete Fragen in den Gemeinden. Das aber gewann bald über die jeweilige Situation hinaus grundsätzliche Bedeutung, weil Paulus seine konkreten Ausführungen eingehend begründete. Ausgangspunkt für seine Argumentation war oft die bleibende Bedeutung von Kreuz und Auferstehung Jesu. In ihnen sah Paulus nicht nur Grund und Ursache für das Heil der Glaubenden, sondern auch Begründung und Beispiel für ihr Miteinander als Gemeinde. Die Form der brieflichen Kommunikation hat Schule gemacht. Im Kreis um Paulus und seine Nachfolger sind weitere Briefe entstanden, die sich auf ihn und seine Autorität berufen. Aber auch im Namen anderer Apostel wurden Briefe verfasst, die die Botschaft und ihre Bedeutung für die christlichen Gemeinden verdeutlichten. Doch daneben wurde auch die Erinnerung an das irdische Wirken Jesu gepflegt, wurden seine Worte erinnert und gesammelt, seine Taten erzählt und sein Verhalten durch beispielhafte Episoden im Gedächtnis bewahrt. Leider wissen wir nicht, auf welche Weise und bei welchen Gelegenheiten das geschah. Wann hat man was über Jesu Leben und Taten erzählt und

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wann wurden seine Worte zitiert und gelehrt? Hat man kurze Geschichten von Jesu Handeln als Beispiele in Predigten verwendet? Gab es eine Art Katechismusunterricht, in dem man Worte Jesu als Orientierung und Handlungsanweisungen zitiert und memoriert hat? Wir wissen es nicht. Aber wahrscheinlich gab es schon früh eine Grundform der Passionsgeschichte, die man weitererzählt und bald auch schriftlich festgehalten hat. Das lässt sich aus der Tatsache erschließen, dass es trotz vieler Unterschiede im Einzelnen eine gemeinsame Grundstruktur der Passions­ erzählungen aller Evangelien gibt, einschließlich des Johannesevangeliums. Vermutlich wurden Worte Jesu auch schon bei der mündlichen Weitergabe zu kurzen »Reden« zusammengefasst, wie zum Beispiel die sog. »Feldpredigt« in Lk 6,20–49 oder der Grundstock der Gleichnisrede in Mk 4. Und vielleicht schuf man auch bald Sammlungen exemplarischer Wundergeschichten, wie wir sie in Mk 2,1–3,6 und 4,35–5,43 finden. In welcher Form es auch schon umfangreichere Sammlungen von Worten Jesu gab, wie etwa die sog. Logienquelle, die Matthäus und Lukas benutzt haben, ist umstritten. Doch der erste, der die verschiedenen Erzählungen und Erzählkränze gesammelt und zu einem »Evangelium«, einem Gesamtbericht über Jesu Wirken, zusammengestellt hat, war – soweit wir wissen – Markus. Neu war dabei und wurde für die weiteren Darstellungen des Lebens Jesu grundlegend, dass er die Berichte von Jesu Reden und Taten mit der Erzählung von seiner Passion verbunden und so ein spannungsvolles Gesamtbild seines Wirkens geschaffen und unter das Stichwort »Evangelium« gestellt hat. Jesu ganzes Wirken, einschließlich seines Weges zum Kreuz, ist Evangelium oder – je nach Deutung von Mk 1,1 – der Anfang und Ursprung des Evangeliums. Matthäus und Lukas sind ihm grundsätzlich in diesem Ansatz gefolgt, haben aber seinen Bericht sowohl am Anfang um Geburts- und Kindheitsgeschichten als auch am Ende mit ausführlicheren Osterberichten ergänzt und vor allem sehr viel mehr aus der Wortüberlieferung eingefügt (s. o. S. 17 und u. S. 78–104). Für Lukas ist darüber hinaus charakteristisch, dass er die Erzählung der Geschichte Jesu durch einen zweiten Teil ergänzt hat, nämlich den Bericht über die Ausbreitung des Christentums durch die Apostel, die sog. Apostelgeschichte. Ganz eigene Wege geht dagegen der Evangelist Johannes. Auch er stellt seinen Bericht zwischen das Auftreten des Täufers und Jesu Passion und Auferstehung. Aber in seiner Darstellung des Wirkens und Redens Jesu greift er auf völlig anders geprägte Überlieferungen zurück und stellt Gottes Handeln in Jesus Christus noch einmal in ein ganz neues Licht. Der Prolog, den er seinem Evangelium voranstellt, markiert den Horizont, in dem das geschieht.

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Aber allen Evangelien ist eines gemeinsam: Die frohe Botschaft von Gottes heilsamem Handeln durch und in Jesus Christus soll dadurch weitergetragen werden, dass man von Jesus erzählt und seine Worte weitergibt. I. D  ie Erzählung von Jesus von Nazareth: Jude aus Galiläa – Retter der Welt Wer war Jesus von Nazareth – dieser Mann aus Galiläa, der in der kurzen Zeit seines öffentlichen Wirkens so viel Aufsehen erregte und den die Römer als angeblichen Aufrührer am Kreuz liquidierten? Und wer ist Jesus Christus, von dem seine Anhänger behaupten, er sei trotz seines Todes am Kreuz immer noch lebendig und am Wirken und sei der, durch den Gott die Geschichte seines Volkes und dieser Welt zum Ziel führt? Auf diese Fragen wollen die Evangelien Antwort geben. Sie wenden sich dabei – soweit wir dies beurteilen können – weniger an Außenstehende, sondern wollen Menschen, die an Jesus glauben, zeigen, welche grundlegende Bedeutung das irdische Wirken Jesu und sein Tod am Kreuz hat. Sie sollen sich – wie Lukas das formuliert – »von der Zuverlässigkeit der Lehre überzeugen«, in der sie unterwiesen wurden (1,4). Die Evangelisten tun dies aber nicht durch historische Forschung im modernen Sinn, sondern dadurch, dass sie die Erinnerungen an Jesus, wie sie in den verschiedenen Gemeinden lebendig waren, sammeln und sie durch die Art ihres Erzählens auch deuten. Die ersten drei Evangelien weisen dabei viele Gemeinsamkeiten auf. Sie heißen synoptische Evangelien, weil man sie in parallelen Kolumnen in einer synoptischen Zusammenschau darstellen kann. Das liegt daran, dass Matthäus und Lukas für den Aufbau und den inhaltlichen Grundstock ihrer Evangelien das Markusevangeliums als Vorlage benutzten und darüber hinaus vermutlich eine weitere gemeinsame Quelle, die Reden- oder Logienquelle Q, verwendet haben. Aber dennoch zeichnet sich jedes dieser Evangelien durch ein eigenes Profil aus und setzt einen ganz eigenen Akzent in der Weitergabe der Botschaft Jesu. Das trifft noch in wesentlich stärkerem Maße für das Johannesevangelium zu, obwohl sich auch seine Fassung der Jesusgeschichte an die Grundstruktur eines Evangelienberichts hält. Entscheidend aber und prägend für alle vier Evangelien und damit auch für das Neue Testament als Ganzes ist: In ihnen werden die grundlegende Botschaft und die Impulse zur theologischen Reflexion dadurch weitergegeben, dass die Jesusgeschichte erzählt wird. Am stärksten vom theologischen Aussagewillen geprägt sind zweifellos das Matthäus- und

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das Johannesevangelium, die deshalb auch zurecht im Evangelienkanon die Eckpositionen einnehmen. Um aber das ganz besondere Profil zu verstehen, das die Gattung »Evangelium« ausmacht, ist es notwendig mit dem ältesten der vier, dem Markusevangelium, zu beginnen. 1. Markus – der Evangelist »Anfang des Evangeliums Jesu Christi, des Sohnes Gottes«, so beginnt das Buch, das unter der Überschrift »Evangelium nach Markus« überliefert ist. Dieser Anfang ist Programm. Es geht Markus um das Evangelium. In der griechischen Genitivkonstruktion Evangelium Jesu Christi steckt eine doppelte Bedeutung: Es geht um das Evangelium Jesu Christi (so REB), also die frohe Botschaft, die Jesus verkündigt und verkörpert hat. Und es geht um das Evangelium von Jesus Christus (LÜ; ZB; EÜ), d. h. die frohe Botschaft der christlichen Gemeinde, die Gottes Handeln in Jesus Christus als Rettung und Heil für die Welt proklamiert. Beide Aspekte der frohen Botschaft sind miteinander verbunden. Für Markus ist der Begriff Evangelium zentral. Jesus verkündigt »das Evangelium Gottes« und ruft dazu auf, »dem Evangelium zu glauben«. So heißt es am Anfang in der Zusammenfassung seiner Botschaft in 1,14 f. Und am Ende seines Wirkens kündigt Jesu an, dass das Evangelium in der ganzen Welt verkündigt wird (13,10; 14,9). Jesus und das Evangelium sind fast Wechselbegriffe. So werden die Jünger aufgefordert, »um meinetwillen und um des Evangeliums willen« ihr Leben zu riskieren und Familie und Besitz zu verlassen (8,35; 10,29). Markus identifiziert seine Schrift nicht mit dem Evangelium, aber sieht sie als grundlegendes Zeugnis dafür. Wichtig ist für ihn, dass sich der »Anfang des Evangeliums« vollzieht, »wie geschrieben steht im Propheten Jesaja« (1,2 mit folgendem Zitat aus Mal 3,1; Jes 40,3). Obwohl Markus nicht allzu häufig Zitate aus dem Alten Testament bringt, ist auch für ihn zentral, dass sich das Christusgeschehen im Verständnishorizont der Schriften Israels ereignet. Mit dem Wirken Johannes des Täufers und der Taufe Jesu beginnt das, was zum Inhalt des Evangeliums, der frohen Botschaft von Gottes Handeln zum Heil der Welt, werden wird, und zwar in Übereinstimmung mit und Fortführung von Gottes Handeln und Reden in Israel. Ein neues Format für die Jesusgeschichte Mit seinem Werk gibt Markus der Weitergabe von Jesusgeschichte und Evangelium ein ganz neues Format. Seine besondere Leistung besteht darin, dass er die verschiedenen Überlieferungen von Jesu vollmächtigem Handeln und Lehren in Galiläa einerseits und von seiner

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Passion in Jerusalem andererseits zu einer großen Gesamterzählung zusammenfasst. Das ergibt ein spannungsvolles Profil der Botschaft: Jesus, der die unmittelbare Nähe der Herrschaft Gottes in unvergleichlicher Vollmacht gelebt und verkündigt hat, geht den Weg zu einem schmachvollen Tod am Kreuz. Sein Leiden und Tod sind die entscheidende Verleiblichung der Wahrheit, dass in Jesus Christus Gott den Menschen bis in die tiefste Tiefe ihres Elends nahegekommen ist. Die ganze Geschichte Jesu ist das Evangelium. Die drei Hauptteile des Buchs zeigen diesen Spannungsbogen sehr eindrucksvoll. Es beginnt mit dem großen ersten Abschnitt: Vollmächtiges Wirken in Galiläa (1,14–8,30). An seinem Ende setzt das Bekenntnis des Petrus zu Jesus als dem Messias einen kräftigen Impuls, dessen wahre Bedeutung bei Markus aber offenbleibt (8,27–30). In diesem ersten Teil dominieren Staunen erregende Wundergeschichten; aber mit der Gleichnisrede Jesu (4,1–34), der Aussendung der Jünger (6,7–13) und der Auseinandersetzung über Reinheitsfragen (7,1–23) finden sich auch Elemente der Verkündigung und der theologischen Reflexion. Im zweiten Hauptteil: Lehren vom Leiden auf dem Weg (8,31–10,52) stehen die drei Leidensansagen Jesu im Mittelpunkt, in denen er von der Notwendigkeit seines Leidens und Sterbens spricht (8,31; 9,31; 10,33f). Sie sind verbunden mit Hinweisen auf das Wesen einer durch Jesu Vorbild geprägten Nachfolge und Jüngerschaft (8,34–38; 9,33–37 und vor allem 10,35–45). Wunderberichte treten zurück. Aber die beiden, die erzählt werden, die Heilung eines besessenen Knaben angesichts der Unfähigkeit der Jünger (9,14–29) und die eines Blinden (10,46–52), der sehend geworden Jesus nach Jerusalem folgt, setzen durch ihre symbolischen Akzente jeweils ein deutliches Signal. Der letzte Teil spricht von der Vollendung in Jerusalem (11,1–16,8). Am Anfang steht die Erzählung von Jesu triumphalem Empfang in Jerusalem, darauf folgt eine Fülle von Auseinandersetzungen mit Repräsentanten unterschiedlicher jüdischer Gruppierungen. Durch sie werden wichtige Fragen geklärt, z. B. die Frage nach der Auferstehung oder nach dem höchsten Gebot (12,18–34). Es folgt die Endzeitrede (Kap. 13) mit der Mahnung an die Jünger zur Wachsamkeit in der Zukunft und darauf in Kap. 14 und 15 die Erzählung von Jesu Passion mit den eindrucksvollen Szenen seiner Salbung durch eine Frau, dem letzten Mahl mit den Jüngern, dem Gebetskampf in Gethsemane, dem Verrat durch Judas, der Verhaftung, den Verhören vor dem Hohen Rat und Pilatus, der Verleugnung durch Petrus und am Ende der Kreuzigung mit Jesu letztem Wort, dem Schrei eines von Gott Verlassenen nach Ps 22,2 (15,34). Damit ist noch einmal der »Verständnishorizont« des Alten Testaments für alles Berichtete eindrücklich dargestellt.

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Ein Rätsel stellt der Schluss des Evangeliums dar. Mit großer Sicherheit sind die Verse 16,9–20 nicht der ursprüngliche Schluss des Evangeliums, sondern ein späterer Nachtrag. Aber kann das Evangelium mit 16,8 geendet haben? Diese Frage wird uns noch beschäftigen. Erzählte Christologie Markus setzt mit seiner Erzählung ein, kurz bevor Jesus seine öffentliche Wirksamkeit beginnt. Verkündigung und Wirken Johannes des Täufers stehen am Anfang seiner Sendung und bilden die Brücke zur prophetischen Botschaft des Alten Testaments. Johannes wird vor allem als Vorläufer und Wegbereiter Jesu gezeichnet, auch wenn die Eigenständigkeit seiner Sendung sichtbar bleibt. Jesus lässt die »Taufe zur Vergebung der Sünden«, die der Täufer verkündet, an sich vollziehen. Doch für ihn wird sie zum Anlass der ersten von drei Proklamationen als Sohn Gottes (1,9–11; vgl. 9,2–13; 15,39). Und damit beginnt ein spannender Erzählfaden, in dessen Verlauf sich nach und nach zeigt, wer Jesus ist. Zwar ist das für die Leser und Leserinnen durch die Stimme vom Himmel in 1,11 von Anfang an klar. Aber wie das im Laufe des Wirkens Jesu offenkundig wird, bleibt bis zuletzt spannend. Jesu Taten provozieren zwar immer wieder die Frage: Wer ist dieser? Aber eine Antwort bleibt aus (4,41). Die Dämonen kennen Jesus, aber er verbietet ihnen, von ihm zu reden (1,24.34). Bei den Menschen aber trifft sein Wirken mehr und mehr auf Unverständnis, zunächst bei seinen Gegnern (3,6), dann auch beim Volk (6,1–6) und zuletzt auch bei seinen Jüngern (8,14–21). Eine Wende scheint sich durch das Bekenntnis des Petrus anzubahnen. Aber auch hier gilt zunächst das Verbot, davon etwas weiterzusagen. Denn was es wirklich bedeutet, dass Jesus der Christus, der verheißene Messias ist, das versteht Petrus noch nicht (8,27–30). Der zweite Teil des Evangeliums bringt dann als eine Art Kontrastprogramm die Worte vom leidenden Menschensohn. Ihr Höhepunkt ist das Wort in 10,45: »Der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben als Lösegeld für die vielen zu geben«. Das ist das Ziel und der Zweck der Sendung Jesu! Doch mitten in dieser Hinführung auf Jesu Passion erfolgt ein weiterer Durchblick auf sein wahres Wesen. In der Geschichte von der Verklärung proklamiert die Stimme vom Himmel ihn zum zweiten Mal als Sohn Gottes (9,2–8). Jesus selbst bejaht zum ersten Mal im Verhör durch den Hohenpriester die Frage nach seiner Gottessohnschaft – im Wissen um seinen bevorstehenden Tod (14,61f). Aber erst unter dem Kreuz, angesichts des Sterbens Jesu, spricht mit dem römischen Zenturio ein Mensch das entscheidende Bekenntnis aus: »Dieser Mensch war

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Gottes Sohn« (15,39). Die einzigartige Gegenwart Gottes in Jesus wird am Kreuz erkannt. Die Frage nach dem Glauben Das offene Geheimnis der Gottessohnschaft Jesu ist die christologische Botschaft des Evangeliums. Sie umrahmt und begründet alles, was sonst über Jesu Wirken berichtet wird. Doch Jesus verkündigt sich nicht selbst; er lebt seine Vollmacht in seinem heilenden Handeln und vollendet seine Sendung im Leiden. Das Thema der Verkündigung Jesu formuliert Markus programmatisch in 1,14f: Jesus »verkündete das Evangelium Gottes und sprach: ›Erfüllt ist die Zeit und nahegekommen ist das Reich Gottes. Kehrt um und glaubt dem Evangelium!‹« Das ist die Botschaft Jesu und damit auch die Botschaft des Markus. Zentrales Stichwort dafür ist der Begriff Evangelium. Damit ist nicht das Buch gemeint, das Markus schreibt, sondern »das Evangelium Gottes«, also Gottes frohe Botschaft vom Heil für die Menschen. In dieser Botschaft geht es zuallererst um Gott und seine Herrschaft. Die gute Nachricht besteht darin, dass Gottes Herrschaft und sein Reich ganz nahe sind, ja in Jesu Wirken schon spürbar in die Not und das Elend der Menschen hineingreifen. Deshalb geht es in der Sendung Jesu um die Menschen und ihr Heil. Und daher lautet der zweite Teil der markinischen Zusammenfassung der Verkündigung Jesu: »Kehrt um und glaubt dem Evangelium!« Die Menschen sind gefragt. Sie sollen umkehren von ihren falschen Wegen, sich hinwenden zu Gott und der guten Botschaft vom Kommen des Reiches Gottes vertrauen. Möglicherweise verwendet Markus hier eine traditionelle Zusammenfassung der Botschaft Jesu. Denn die Themenstichworte Umkehren bzw. Buße tun und an das Evangelium glauben tauchen bei ihm sonst nicht mehr auf. Jesus ist bei Markus nicht der typische Bußprediger, der den Menschen die Hölle heiß macht. Und doch zielt sein Wirken darauf, dass sich die Menschen Gott und seinem Kommen zuwenden. Das ist so nicht auf den ersten Blick erkennbar. Denn wenn Jesus Kranke heilt oder Besessene befreit, so tut er dies, um ihnen in ihrer Not zu helfen. Irgendwelche zusätzlichen »missionarischen« Absichten scheint er nicht zu haben. Und doch taucht das Thema »Glaube« immer wieder auf. Die Penetranz der Freunde des Gelähmten, die auch nicht vor einer Sachbeschädigung zurückschrecken, um zu Jesus zu kommen, nennt er Glaube (2,5). Dem Jairus, der gerade die Nachricht vom Tod seiner Tochter erhalten hat, macht Jesus Mut mit den Worten: »Fürchte dich nicht, glaube nur« (5,36). Zu der vom Blutfluss geheilten Frau und zu dem blinden Bartimäus, die beide ihre ganze Hoffnung auf eine Heilung

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durch Jesus gesetzt haben, sagt er: »Dein Glaube hat dir geholfen« (5,34; 10,52). Und Jesus ermutigt seine Jünger, mit zuversichtlichem Glauben zu beten (11,22–24). Aber wo der Glaube fehlt, bleiben die Jünger in Angst gefangen (4,40), und die Menschen in Nazareth können Jesu Vollmacht nicht verstehen und erfahren (6,6; vgl. 9,19). Beides, die Sehnsucht nach Glauben und die Unfähigkeit, wirklich ganz zu vertrauen, ist in dem Ruf des Vaters eines besessenen Knaben zusammengefasst: »Ich glaube, hilf meinem Unglauben!« (9,24). Glaube ist für Markus keine von Menschen zu erbringende Vorleistung. Es ist die von ihnen erwartete Reaktion auf die Begegnung mit Jesus und der nahen Gottesherrschaft. Sie befähigt sie, sich ganz Gott anzuvertrauen. Der Glaube an das Evangelium, zu dem Jesus nach 1,15 ruft, konkretisiert sich im Wagnis des vertrauensvollen Gebets und der Offenheit dafür, dass Gottes Möglichkeiten keine Grenzen gesetzt sind. Die Sprache der Wunder Die Berichte von Jesu vollmächtigem Handeln nehmen im Markusevangelium breiten Raum ein, vor allem in der ersten Hälfte des Buchs. Diese Erzählungen zeichnen sich durch große Anschaulichkeit und die eindrucksvolle Schilderung menschlicher Schicksale aus. Da sind schlichte Geschichten wie die Heilung der Schwiegermutter des Petrus oder die Wiedereingliederung eines Aussätzigen in die menschliche Gesellschaft, aber auch spannende Erzählungen wie die von dem Besessenen bei Gerasa oder der Frau mit dem Blutfluss und berührende Schilderungen engagierter Väter und Mütter wie der Synagogenvorsteher Jairus, die Frau aus Syrophönizien oder der Vater eines besessenen Knaben. Da gibt es therapeutische Miniaturen wie die Heilung eines Taubstummen und eines Blinden und symbolträchtige Begebenheiten wie die Heilung des blinden Bartimäus. Jesu Empathie mit der Not der Menschen zeigen die Speisungsgeschichten, seine Souveränität angesichts der Bedrohung durch Naturgewalten die Geschichten von der Stillung des Sturms und vom Seewandel Jesu. Was hier geschieht ist nie nur Demonstration seiner Wunderkraft, sondern immer Zeichen für Gottes Helfen in der Not. Das ist die Sprache, die Jesu Wunder sprechen. Markus unterstreicht das auf eine ganz besondere Art und Weise: In 1,21f berichtet er gleich nach der Berufung der ersten Jünger davon, dass Jesus in der Synagoge lehrte. Er sagt aber nichts über den Inhalt der Verkündigung Jesu aus, sondern schildert nur ihre Wirkung: »Sie entsetzten sich über seine Lehre; denn er lehrte sie mit Vollmacht und nicht wie die Schriftgelehrten«. Gleich danach wird von der ersten Heilung eines Besessenen berichtet und wieder ist das Echo: »Sie entsetzten sich und

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sprachen: Was ist das? Eine neue Lehre in Vollmacht! Er gebietet auch den unreinen Geistern, und sie gehorchen ihm!« (1,27). Was Jesus tut, ist »Lehre in Vollmacht«, sein Wirken ist Zeichensprache des Evangeliums, die auf ganz neue Weise die Souveränität Gottes und seiner Herrschaft bezeugt. Ähnliche Reaktionen werden immer wieder berichtet. In 2,12 heißt es, dass »sich alle entsetzten und Gott priesen und sprachen: Wir haben so etwas noch nie gesehen«, und in 7,37: »Sie wunderten sich über die Maßen und sprachen: Er hat alles wohl gemacht; die Tauben macht er hören und die Sprachlosen reden« (vgl. 1,45; 5,19f). Manchmal bleibt es freilich bei der verwunderten Frage: »Wer ist der?« (4,41) und oft muss gerade bei den Jüngern noch völliges Unverständnis konstatiert werden (6,52; 8,21) oder die Reaktion ist sogar tödliche Feindschaft (3,6). Die Sprache der Wunder Jesu ist eigentlich eindeutig: Sie zeigt, wie in Jesu Wirken Gottes Herrschaft anbricht. Aber wo es um diese entscheidende Frage geht, wird sie oft nicht verstanden, weil sich Menschen nicht auf den Anspruch der Vollmacht Jesu einlassen. Aber es gibt Ausnahmen: Der Ruf in die Nachfolge Dass es Menschen gibt, die Jesus folgen, ist eines der wichtigsten Themen für Markus. Die erste Aktion Jesu, von der er berichtet, ist die Aufforderung an zwei Brüderpaare ihren Beruf als Fischer zu verlassen und ihm zu folgen, was sie auch sofort und ohne weitere Rückfragen tun (1,16–20). Der einzige Hinweis darauf, welche Absicht Jesus damit verfolgt, ist das etwas anstößige Bildwort: »Ich will euch zu Menschenfischern machen«. In einer für Jesus typischen Anknüpfung an ihren Beruf macht er deutlich, dass ihre künftige Aufgabe darin bestehen wird, Menschen für das Reich Gottes zu gewinnen. Kurze Zeit später berichtet Markus von einem ähnlichen Ereignis: Jesus holt einen der verachteten Zöllner weg von seiner Zollstelle, und auch dieser folgt ihm ohne Zögern (2,13f). Markus ist es offensichtlich besonders wichtig, dass Jesus einfache Leute ruft – und zwar ohne »Assessment« oder Vorbedingungen, direkt weg von ihrem Beruf – und sie ihm ohne Besinnen und Fragen einfach folgen. Dabei spielen zwei Aspekte eine Rolle: Einerseits das Moment der Beauftragung, das in der Berufung der Söhne des Zebedäus durch das Menschenfischerwort angesprochen wird. Andererseits der Hinweis, dass Jesus auch Außenseiter und schlecht beleumundete Leute annimmt. Das zeigt die Geschichte von der Berufung des Zöllners Levi durch die anschließende Szene des Festmahls in dessen Haus und die Auseinandersetzung mit den Schriftgelehrten und Pharisäern, die in Jesu Wort gipfelt: »Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder« (2,17).

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Beide Aspekte werden im Folgenden vertieft. Der erste durch die Erzählung von der Einsetzung der Zwölf (3,13–19), die bei Markus in scharfem Kontrast zur Ablehnung Jesu durch seine Familie steht, und weiter durch den Bericht von ihrer Beauftragung und Sendung (6,7–13), hier im Gegensatz zum Unglauben der Leute in seinem Heimatort Nazareth (6,1–6). Auch im Wirken der Jünger werden Erfolg und Ablehnung nebeneinanderstehen. Im Verlauf der weiteren Erzählung bleibt die Aussendung freilich merkwürdig folgenlos und verweist offensichtlich auf die Vollmacht der späteren Gemeinde voraus. Aber das Thema Nachfolge beschränkt sich nicht auf die Zwölf und wird unter unterschiedlichen Gesichtspunkten behandelt. Auch der Besessene aus der Gegend von Gerasa, den Jesus geheilt hat, will Jesus folgen. Der aber lässt das nicht zu, sondern sagt zu ihm: »Geh hin in dein Haus zu den Deinen und verkünde ihnen, welch große Dinge der Herr an dir getan und wie er sich deiner erbarmt hat« (5,19f). Auch das ist Nachfolge! Und hier kommt der zweite Aspekt zum Tragen: Nachfolge wird zum Paradigma der Zugehörigkeit zu Jesus. Für Markus ist hier die Geschichte des Reichen, der nach dem Weg zum ewigen Leben fragt, bedeutsam. Ihn, der das Gesetz von Jugend auf befolgt hat und doch zutiefst unsicher ist, ob sein Weg zu Gott führt, fordert Jesus auf, sich von seinem Reichtum zu lösen und ihm nachzufolgen. Hier wird Nachfolge zum Beispiel für ein entschiedenes Leben mit Gott. Und nicht von ungefähr schließt Markus hier eine ganze Reihe von Worten über Wesen und »Lohn« der Nachfolge an (10,17–31). Diese Überlegungen sind eingebettet in die Leidensansagen Jesu, an die sich jeweils Worte anschließen, die zeigen, was es bedeutet, Jesus auch im Leiden nachzufolgen (8,31–38; 9,31–37; 10,33–45). Hier bekommt der Begriff »Nachfolge« schon in der Geschichte Jesu den übertragenen Klang, den er bis heute hat: Er wird zum bildhaften Ausdruck für ein Leben in den Spuren und nach dem Vorbild Jesu. Damit wird einerseits die Bereitschaft angesprochen, für Jesus und für das Evangelium zu leiden (8,35–38). Aber zugleich wird so das Wesen der Jüngergemeinschaft charakterisiert. Denn nach der zweiten und dritten Leidensankündigung wird zwei Mal von einem Rangstreit der Jünger erzählt (9,33–37; 10,35–45). Jesus fordert sie auf, nicht Erste, sondern Letzte sein zu wollen, nicht herrschen zu wollen, sondern zu dienen und so seinem Vorbild zu folgen. In diesem Zusammenhang steht auch die Kennzeichnung der Gemeinschaft der Jüngerinnen und Jünger Jesu als neue Familie, in der Menschen füreinander zu Müttern, Brüdern oder Schwestern werden (10,28–31). Dass damit nicht nur der kleine Zirkel derer gemeint ist, die Jesus auf seinem irdischen Weg begleiten, hat Markus schon in der Auseinandersetzung Jesu mit seiner Herkunftsfamilie

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in 3,20 f.31-35 gezeigt: Alle, die auf ihn hören und Gottes Willen tun, sind Jesu Mütter, Brüder und Schwestern. Die verschiedenen Aspekte von Nachfolge zeigt dann insbesondere die Passionsgeschichte. Sie wird eingeleitet durch die Erzählung von dem blinden Bartimäus, dem das Augenlicht geschenkt wird und der daraufhin Jesus sehenden Auges auf seinem Weg nach Jerusalem und ins Leiden folgt (10,46–52). Sie erzählt die tragische Geschichte des Petrus, der Jesus nach seiner Verhaftung von ferne folgt und trotz aller Treueschwüre schmählich versagt (14,66–72). Sie erwähnt die Frauen, die Jesus von Galiläa aus nachgefolgt waren und nun von ferne sein Sterben mit ansehen müssen (15,40f), aber auch die Gestalt des Josefs von Arimathia, der auch auf das Reich Gottes wartete (15,43). Vor allem aber berichtet sie von der österlichen Botschaft an die Jünger und besonders an den Versager Petrus, dass der Auferstandene ihnen nach Galiläa vorangeht (16,7). Sie sind neu gerufen, ihm zu folgen. Möglicherweise ist das der Grund, warum Markus auf Erzählungen von den Erscheinungen des Auferstandenen verzichtet und sein Evangelium mit 16,1–8 enden lässt (s. u. S. 76). Für ihn besteht das Wesen der Osterbotschaft in dem erneuten Ruf in die Nachfolge unter neuen Bedingungen. Die Feindschaft der Menschen und die Kraft des Leidens Man hat die Evangelien Passionsgeschichten mit einer ausführlichen Einleitung genannt. Das mag eine Übertreibung sein, trifft aber etwas Wesentliches der Darstellung des Markus. So sehr gerade er im ersten Teil immer wieder betont, wie beeindruckt die Menschen vom vollmächtigen Handeln Jesu waren, so klar arbeitet er auch heraus, dass sein Wirken von Anfang an unter dem Schatten des Kreuzes stand. Schon der erste größere Erzählkranz ist von schwierigen Auseinandersetzungen bestimmt und endet mit dem Beschluss der Gegner Jesu, ihn zu beseitigen (2,1–3,6). Die Gleichnisse Jesu, ursprünglich als Veranschaulichung seiner Botschaft gedacht, werden bei Markus für die, die ihn ablehnen, zu Rätseln (4,10–12). Und nicht nur die Gegner, sondern auch Jesu Jünger verstehen oft nicht, worum es eigentlich geht. Das Geschick des Täufers, der von Herodes hingerichtet wird, ist ein drohendes Vorzeichen für das, was mit Jesus geschehen wird (6,14–29). Das Bekenntnis des Petrus zu Jesus als dem Messias wird nicht zur Wende des Geschehens, sondern führt zu den Worten Jesu vom Leiden des Menschensohns, die das Unverständnis der Jünger nur vertiefen (8,27–33). Auch der Einblick in Jesu Person­ geheimnis, der den Leser und Leserinnen mit der Verklärung gewährt wird, vertieft nur das Rätsel der wahren Bedeutung seiner Messianität, das sich erst nach Jesu Tod und Auferstehung lösen wird (9,2–13).

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In seiner Endzeitrede verbindet Jesus sein eigenes Geschick und das Geschick seiner Jünger miteinander. Nicht nur Jesus muss vor der Vollendung seines Auftrags durch das Dunkel des Todes gehen, auch die Gemeinde der Jünger und Jüngerinnen wird sich unter Verfolgung und Leiden zu bewähren haben und wird deshalb zur Wachsamkeit ermahnt (13,9–23). In der Passionsgeschichte selbst aber mischen sich Momente äußersten Leidens mit deutlichen Signalen der Hoffnung. Einer aus dem innersten Kreis der Zwölf wird Jesus verraten, die anderen werden ihn verlassen, und Petrus, der das empört von sich weist, wird ihn verleugnen. Die Soldaten werden mit ihm als König der Juden ihren Spott treiben und unterm Kreuz werden führende Leute ihm vorwerfen, er habe zwar anderen geholfen, aber nur wenn er sich selbst helfen könne, würden sie ihn als den Christus, den König von Israel, anerkennen. Jesus selbst stirbt mit dem Schrei der Gottverlassenheit auf den Lippen. Doch mit Worten aus Ps 22 wendet er sich auch noch in dieser Situation an Gott. Aber da ist auch die andere Seite: Da ist das Zeichen der Liebe in der Salbung durch eine Frau, an die man sich immer erinnern wird, wenn das Evangelium verkündigt wird. Da ist die Perspektive von Erlösung und Hoffnung in den Deuteworten des Mahls und der Hinweis auf eine Zukunft jenseits von Verrat und Tod in der Ansage der Verleugnung. Da ist Jesu Ergebung in den Willen des Vaters im Gebetsringen in Gethsemane und sein klares Bekenntnis vor dem Hohenpriester. Da ist die Treue der Frauen, die seinen Weg weiter begleiten, vor allem aber das Bekenntnis des heidnischen Hauptmanns, der angesichts der erschütternden Wirkung dieses Sterbens bekennt: »Wahrlich dieser Mensch war Gottes Sohn« (15,39). In Jesu Person und gerade in seinem Leiden ist Gott den Menschen ganz nahegekommen! Als freilich die Frauen am Ostermorgen den Leichnam Jesu suchen, finden sie ihn nicht, sondern hören die Botschaft: »Er ist nicht hier! Gott hat ihn auferweckt!« (16,3) Nicht bei den Toten gilt es Jesus zu suchen, sondern bei den Lebenden. Und das bedeutet, ihm zu folgen nach Galiläa zu einem Neubeginn mit ihm im täglichen Leben (16,7). Und sollte die ursprüngliche Fassung des Evangeliums tatsächlich darauf verzichtet haben, von Erscheinungen des Auferstandenen in Galiläa zu berichten, und mit der Bemerkung geendet haben: »Und sie sagten niemand etwas; denn sie fürchteten sich« (16,8), dann würde in dieser »Leerstelle« die Aufforderung an Leser und Leserinnen liegen, die Furcht abzulegen und selbst dem Auferstandenen zu folgen. Die Botschaft des Markus für heute Das Markusevangelium hat wirkungsgeschichtlich immer im Schatten der Großevangelien, vor allem von Matthäus, gestanden. Trotzdem ist

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es bewahrt und beachtet worden. Es setzt auch im gemeinsamen Stoff der Synoptiker seine eigenen Akzente. Keiner erzählt die Wundergeschichten so lebendig und tiefgründig wie Markus. Deshalb findet das Evangelium heute vermehrt Interesse. Gerade dort, wo man sich nicht auf die Faktenfrage kapriziert und unbedingt wissen will: Was ist denn eigentlich geschehen? sondern die erzählten Geschichten mit ihren menschlichen Zügen ernst nimmt, kommt es zu einer neuen Aufmerksamkeit für die Botschaft des Markus. Allerdings berufen sich ganz unterschiedliche Richtungen auf Markus. Seine Erzählungen von Jesu vollmächtigem Handeln und der Bevollmäch­ tigung der Jünger, in seiner Kraft weiter zu wirken, macht ihn zu Kronzeugen eines »power evangelism« charismatischer Prägung. Seine Vertre­ ter meinen, dass das Evangelium nur Glauben findet, wenn es wie bei Jesus und seinen Jüngern durch außerordentliche Heilungen und Exorzismen begleitet wird. Sie übersehen freilich meist, wie sehr dieser Aspekt der Botschaft in die Kreuzestheologie des Markus eingebettet wird. So hat man auf der anderen Seite in Markus einen eigenständigen Zeugen für die Kreuzestheologie erkannt, einer theologia crucis, die sich so streng einer theologia gloriae verweigert, dass sie sogar auf Erzählungen von den Erscheinungen des Auferstandenen verzichtet. Manche meinen gar, die Wunderberichte des ersten Teils würden durch die Leidenstheologie des zweiten und dritten Teils theologisch verneint werden. Jesu Vollmacht beschränke sich auf seine Bereitschaft zum Leiden. Aber beide Perspektiven der Botschaft müssen zusammengesehen werden: Gerade der, der über lebensfeindliche Mächte siegt, wird zum Tod am Kreuz verurteilt. Er nimmt den Tod auf sich, um Gottes Herrschaft auch in die letzte Tiefe der Gottferne und Lebensverneinung zu tragen. Jesu Tod ist nicht Kapitulation vor der Macht des Bösen, sondern Vollendung des Sieges Gottes über sie. Und gerade diejenigen, die Jesus bevollmächtigt, in der Kraft der kommenden Gottesherrschaft Menschen von zerstörerischen Mächten zu befreien, gehen den Weg des Kreuzes, riskieren ihr Leben um dieser Aufgabe willen und finden so zu wirklichem und bleibendem Leben und zu einer Gemeinschaft, in der man einander dient. Dass sie immer wieder versagen, macht den Auftrag nicht ungültig. Der Gekreuzigte und Auferstandene ruft sie aus ihrem Versagen heraus und geht ihnen zu neuem Anfang voran. Das könnte auch uns zu einem Ineinander von Vertrauen auf Gottes kommende Herrschaft und Bereitschaft zum Leiden verhelfen. Markus leitet an zu einer Theologie der Solidarität mit den Leidenden, die sich nicht mit der Herrschaft dessen abfindet, was Leben versklavt und zerstört, die auf die Kraft der befreienden Botschaft des Evangeliums vertraut und bereit ist, für dieses Ziel auch den Weg des Leidens zu gehen.

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Die Botschaft des Markusevangeliums Markus verkündigt das Evangelium von Jesus Christus. Es ist die frohe Botschaft von Gottes Handeln zum Heil der Welt. Gott kommt zu den Menschen in Jesu befreiendem Handeln ebenso wie in seiner Lebenshingabe. Als der vollmächtige und leidende Sohn Gottes ist er der Repräsentant von Gottes Herrschaft in dieser Welt. Die Gabe, die Jesus bringt, ist das Evangelium, die vollmächtig verkündigte und gelebte frohe Botschaft von Gottes befreiendem Eingreifen und der unmittelbaren Nähe seiner Herrschaft und seines Reichs. Jesus verkündigt diese Botschaft nicht nur, er verkörpert sie auch in seinem Handeln und in seinem Leiden. Die Welt ist für Markus der Schauplatz des Kampfes zwischen Gott und den Kräften des Bösen um die Herrschaft über die Menschen. Jesus als der Sohn Gottes siegt, indem er durch sein Leben und Sterben die Gegenwart Gottes in die tiefsten Abgründe des Menschseins hineinträgt. Im Kreis der Jüngerinnen und Jünger, vor allem aber in der Beauftragung der Zwölf, ist die Gemeinde Jesu schon im Voraus abgebildet. Sie ist eine Gemeinschaft, die als neue Familie in gegenseitiger Solidarität und wechselseitigem Dienst lebt. So trägt sie die Sendung Jesu weiter: in der Vollmacht zum Kampf gegen Krankheit und böse Mächte, die das Leben von Menschen versklaven und zerstören, ebenso wie in dem Auftrag, dem Vorbild Jesu folgend einander zu dienen und den Weg ins Leiden nicht zu scheuen. Das Bekenntnis zu Jesus als dem Menschensohn ist mehr als ein formales Ja zu seiner Würde; es umfasst auch die Bereitschaft ihm auf seinem Weg ins Leiden zu folgen. Für diesen Weg macht Jesus den Seinen Mut. Das Wirken von Gottes Geist wird sich gerade im Beistand in bedrohlichen und schwierigen Auseinandersetzungen zeigen. Doch wie das Beispiel des Petrus zeigt, bleibt der Auftrag auch im Versagen bestehen. Der Ruf, trotz Furcht und Schrecken Jesus auf seinem Weg zu folgen, ergeht immer wieder neu und ist für Markus der Kern der Osterbotschaft (16,7). 2. Matthäus – der Lehrer Völlig überarbeitete und umfassend erweiterte Auflage des Evangeliums nach Markus, so hätte sich das Matthäusevangelium in einem Verlagsprospekt vorstellen können. Denn in seiner Grundstruktur hält sich Matthäus weitgehend an Markus und übernimmt auch mit ganz geringen Ausnahmen dessen gesamten Stoff. Aber er bietet darüber hinaus deutlich mehr, kürzt dafür kräftig im übernommenen Text und ordnet auch manches neu. Matthäus ist neben dem Johannesevangelium das Evangelium, das seinen Stoff am klarsten nach theologischen Gesichtspunkten gestaltet. Er

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gibt leider keine Auskunft darüber, warum er eine deutlich vergrößerte und veränderte Fassung des Evangeliums geschrieben hat. Aber angesichts der Ergänzungen und Veränderungen, die er vornimmt, lassen sich seine Absichten teilweise erschließen. Matthäus hat zunächst einmal sehr viel mehr Material zur Verfügung. Er ergänzt am Anfang durch Informationen über die Herkunft Jesu, seine Geburt und frühe Kindheit und am Ende durch detaillierte Berichte von Erscheinungen des Auferstandenen, insbesondere von der Aussendung der Jünger im sog. Missionsbefehl. Vor allem aber kennt er sehr viel umfangreichere Überlieferungen vom Inhalt der Verkündigung und Lehre Jesu. Ein Teil davon stammt aus einer mündlichen oder schriftlichen Quelle, der sog. Reden- oder Logienquelle (Q), die auch Lukas benutzt. Aber darüber hinaus bietet Matthäus auch noch reiches Sondergut. Vieles von diesem Material stellt er mit entsprechenden Worten aus dem Markusevangelium zu fünf großen Reden zusammen, in denen Jesus die Grundregeln für die Gemeinschaft seiner Jünger zusammenfasst. Ob er die markinischen Wundergeschichten kürzt, weil er sie für nicht so wichtig hält oder um Platz zu sparen, ist unklar. Wichtig aber ist, dass Matthäus immer wieder durch ausführliche Zitate aus dem Alten Testament klarstellt, dass das, was durch Jesus geschieht, Gottes Verheißung für sein Volk entspricht. Dass er mit dieser grundlegenden Neubearbeitung das Markusevangelium ersetzen wollte, wie manche meinen, ist nicht sicher. Aber zweifellos schreibt er sein Werk mit dem Anspruch, den Gemeinden eine wesentlich verbesserte Ausgabe der Jesusgeschichte zur Verfügung zu stellen. Diesen Anspruch zeigt sich schon in der ersten Überschrift (1,1), deren Übersetzung freilich strittig ist. Bedeutet sie Stammbaum Jesu Christi (so EÜ; ZB) und bezieht sich nur auf die V. 2–17? Oder Buch der Geschichte Jesu Christi (LÜ) und bezieht sich auf das ganze Werk? Das ist schwer zu entscheiden. Aber klar ist in beiden Fällen der Anspruch, umfassend von Jesus und seiner Sendung zu berichten. Dazu gehört die bewusste Verwurzelung im Erbe Israels durch den Stammbaum, der ihn zunächst als Sohn Davids und damit als den Messias ausweist, ihn aber als Sohn Abrahams auch allgemein als Israeliten identifiziert. Freilich wird durch die auffällige Nennung von vier Frauen in diesem Stammbaum auch etwas über das Exzeptionelle seiner Herkunft ausgesagt, zu der auch Frauen heidnischer Abstammung gehören. Die Bestimmung Jesu In der Bibel hat der Name eines Menschen große Bedeutung. Matthäus berichtet in seiner Erzählung von Jesu Geburt von einer doppelten Namensgebung. Josef wird durch den Engel des Herrn angewiesen, dem

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erwarteten Kind den Namen Jesus zu geben, »denn er wird sein Volk retten von ihren Sünden« (1,21). Das ist eine Anspielung auf die Bedeutung des hebräischen Namens Jeschua: Jahwe ist Heil und Rettung. Doch zur Begründung wird Jes 7,14 angeführt, die Verheißung eines Kindes, das man Immanuel nennen wird. Das aber bedeutet Gott mit uns, wie Matthäus ausdrücklich erklärt (1,22f). Dieser Doppelname ist Programm: Jesus heißt der Kommende, weil Gott durch ihn sein Volk aus der Not seiner Gottestrennung rettet. Und diejenigen, die seine Hilfe erfahren, werden ihn Immanuel nennen, Gott mit uns, weil er Gottes rettende Gegenwart für sie und unter ihnen lebt. Dass seine Mutter »schwanger war von dem Heiligen Geist« (1,18), bezeugt, dass er ganz von Gott kommt und sein Wesen von Anfang durch Gottes Wirken bestimmt ist. Das ist das Vorzeichen, das vor dem ganzen Evangelium steht, eine Zusage, die am Schluss noch einmal aufgenommen wird, wenn der Auferstanden denen, die er zu allen Völkern sendet, zuspricht: »Siehe, ich bin mit euch alle Tage« (28,20). All das spricht gegen den Versuch, die Bedeutung des Wirkens Jesus im Matthäusevangelium auf die eines Gesetzeslehrers zu begrenzen, der die Tora Israels neu auslegt. Dieser Aspekt ist wichtig. Matthäus kennt aber nicht nur den Imperativ des neu gedeuteten Gesetzes, sondern ebenso den Indikativ der rettenden Gegenwart Gottes in Jesus Christus. Das bestimmt auch den Inhalt der Verkündigung Jesu, den Matthäus in 4,17 ganz knapp zusammenfasst: »Kehrt um! Denn das Himmelreich ist nahe.« So lautete nach Matthäus auch die Botschaft Johannes des Täufers (3,2), und es ist wichtig, beiden Teilen dieses Rufs das gleiche Gewicht zu geben: Kehrt um (so EÜ; ZB) bzw. Tut Buße (so LÜ; REB) ist zweifellos eine Aufforderung zum Handeln: Ändert die Richtung eures Lebens und wendet euch Gott zu, heißt der Appell Jesu. Aber darauf folgt der Hinweis auf die Nähe des Himmelreichs, wie Matthäus die Rede Jesu von der Herrschaft Gottes wiedergibt. Das ist keine Drohung, sondern begründet, warum Umkehr nicht nur nötig, sondern auch möglich ist: Öffnet euer Leben für Gott, kehrt zu ihm zurück, denn Gott kommt auf euch zu. Seine Herrschaft, die alles zurechtbringen wird, ist ganz nahe! Dieses Ineinander des Indikativs der Gnade und des Imperativs der Verantwortung ist typisch für das Verständnis des Evangeliums bei Matthäus. Gott begegnen Ihr Leben ganz auf Gott auszurichten, dazu ermutigt Jesus seine Jünger und Jüngerinnen immer wieder. »Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit«, sagt er in 6,33 und fügt hinzu: dann

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wird euch alles, worum ihr euch sorgt, dazu gegeben werden! »Reich Gottes« und »Gerechtigkeit Gottes«, das sind zwei biblische Grundbegriffe für Gottes Gegenwart in dieser Welt: Gottes gnädige Herrschaft und seine heilschaffende Gerechtigkeit sollen zum Zielpunkt des Lebens werden. Nach ihnen zu trachten und zu suchen heißt nichts anderes, als von Gott alles zu erwarten und seine Herrschaft und Gerechtigkeit zur bestimmenden Kraft für das eigene Leben werden zu lassen. Während die Ausrichtung auf Gottes Reich und Herrschaft auch für die Botschaft Jesu bei Markus und Lukas zentral ist, ist die Betonung der Gerechtigkeit Sondergut des Matthäus. Dabei ist charakteristisch für ihn, dass es keine scharfe Trennung zwischen der Rede von Gottes Gerechtigkeit und von menschlicher Gerechtigkeit gibt. Von Gottes Gerechtigkeit spricht die Seligpreisung derer, die »hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit«. Das sind Menschen, die sich in ihrem Hunger und Durst nach Leben an Gott wenden und von ihm und seiner Gerechtigkeit die Erfüllung ihres Lebens und die Heilung der Gemeinschaft erwarten. »Sie werden gesättigt werden«, heißt Jesu Verheißung für sie, und das bedeutet: Gott wird sie sättigen: Er wird ihr Leben mit seiner Gegenwart, seiner Liebe und seiner Gerechtigkeit erfüllen. Einen anderen Akzent setzt 3,15: Jesus lässt sich trotz des Einspruchs des Täufers taufen, damit »alle Gerechtigkeit erfüllt wird«. Er nimmt alles auf sich, was menschliche Existenz vor Gott kennzeichnet. Seine Taufe wird somit zum Signal dafür, dass Gott im Wirken Jesu seinen Plan, Gerechtigkeit und Heil für sein Volk zu schaffen, zur Vollendung bringt. Er schafft damit auch die Grundlage für die Verwirklichung einer umfassenderen Gerechtigkeit durch die Menschen. Davon spricht 5,20: Die Gerechtigkeit derer, die Jesus folgen, soll besser (LÜ) oder größer (EÜ) sein als die der Pharisäer bzw. diese weit übertreffen. Damit ist aber kein quantitatives mehr an Erfüllung des Gesetzes gemeint. Wie die folgenden »Antithesen« Jesu zeigen, liegt ihr »Mehrwert« in einer Auslegung und Befolgung des Gesetzes, die von der umfassenden und unbegrenzten Gerechtigkeit Gottes bestimmt ist. »Ihr sollt vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist« (5,48). Es ist die alle umfassende Gerechtigkeit Gottes, die zur Gerechtigkeit der Jünger werden soll. So spricht Matthäus auch von »eurer Gerechtigkeit«, wenn es um die persönliche Frömmigkeit geht, um eine Beziehung zu Gott und zum Nächsten, die nicht vom Schielen auf Ruhm und Anerkennung verfälscht wird, sondern ganz Gott zugewandt ist (6,1). All diese Aussagen, ob ermutigend und Vertrauen schaffend, ob mahnend oder warnend, sind getragen von dem grundlegenden Hinweis auf »euern Vater im Himmel«.

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Er sieht auch »das Verborgene« (6,4.6.18 EÜ), »weiß, dass ihr das alles braucht«, und lässt »seine Sonne über Böse und Gute aufgehen«. Als seine Kinder sollen die Hörer und Hörerinnen Jesu leben (5,45). Es ist das Vertrauen auf Gottes Fürsorge und seine umfassende Barmherzigkeit, das zu selbstlosem Handeln befähigt. Seine umfassende Gerechtigkeit ist Quelle und Maßstab für die umfassende Gerechtigkeit seiner Kinder. Nicht von ungefähr steht deshalb das Unser Vater, das Gebet, das Jesus seine Jünger lehrte, in der Mitte der Bergpredigt (6,9–13). In seinen Bitten drückt sich zugleich das Vertrauen auf Gottes Treue und die Abhängigkeit von ihr aus. Auf die Wirklichkeit des für alle sorgenden Gottes richten sich die Betenden aus, von dieser Wirklichkeit wollen sie leben und an ihr wollen sie sich orientieren. Der Indikativ des Zuspruchs umfassenden Heils und der Imperativ des Anspruchs Gottes auf ein Leben, das seine umfassende Liebe lebt, liegen nach dem Zeugnis des Matthäus in der Verkündigung Jesu untrennbar ineinander. Evangelium und Gesetz sind die zwei nicht voneinander zu trennenden Seiten derselben Medaille: Gottes Liebe schenkt ohne Grenzen und erwartet grenzenlose Hingabe. So finden sich gerade im Sondergut des Matthäus Gleichnisse, die Gottes Bild sehr unterschiedlich zeichnen: Da ist der über die Maßen großzügige Weinbergbesitzer in dem Gleichnis in 20,1–16, der allen einen Tageslohn zahlt, gleich wie viel sie geleistet haben. Und da ist die ins Gleichnis vom königlichen Festmahl eingefügte Szene, in der der König einen Gast, der die Würde des Festes missachtet, aus dem Festsaal hinauswerfen lässt (22,11–13). Dass die Einladung bedingungslos gilt, bedeutet nicht, dass sie folgenlos bleiben darf. Der Vater im Himmel ist ein Gott, der allen gibt, was sie brauchen, und der doch seine Liebe nicht verspotten lässt. Gott mit uns Jesus ist der Repräsentant dieses Gottes. Dem »euer Vater« bzw. »dein Vater« steht sein »mein Vater« gegenüber (vgl. 7,21; 10,32f mit 6,6.8.14 f.32; 10,20.29). So sehr Jesus denen, die ihm folgen, zuspricht, dass sie Gottes Kinder sind, so sehr bleibt klar, dass er in einzigartiger Weise »der Sohn« ist (11,27). Matthäus zitiert eine entsprechende Aussage Jesu, die aus der Redenquelle (Q) stammt (vgl. Lk 10,21f). Sie beginnt mit einem Satz, der sowohl die Adressaten der Botschaft als auch ihren Ursprung in einzigartiger Weise charakterisiert: »Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, dass du dies Weisen und Klugen verborgen hast und hast es Unmündigen offenbart« (11,25). Es ist zugleich der Vater Jesu und der Herr alles Geschaffenen, der sich in Jesu Wort und Wirken offenbart, und zwar nicht den Weisen und Klugen, sondern den »Unmündigen«, den einfachen Leuten, denen, die Kinder sind vor Gott, den Armen im Geist.

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Und darauf folgt das Wort über die ganz enge Beziehung zwischen Sohn und Vater, zwischen Gott und dem, durch den er den Menschen begegnet: »Alles ist mir übergeben von meinem Vater, und niemand kennt den Sohn als nur der Vater; und niemand kennt den Vater als nur der Sohn und wem es der Sohn offenbaren will« (11,27). Dem Sohn ist alles übergeben worden, damit er den Menschen die Augen und die Herzen für das öffnet, was Gott durch ihn an Heil und Gottesgemeinschaft schenkt. Wie aber offenbart der Sohn den Vater? Offensichtlich, indem er das Reich Gottes verkündigt, den Willen Gottes lehrt und durch seine Taten Gottes heilende und rettende Liebe in einer Welt voll Irrtum und Not demonstriert. In der Darstellung des Wirkens Jesu steht bei Matthäus das Lehren Jesu ganz im Vordergrund. Das wird insbesondere im ersten Teil des Evangeliums eindrücklich sichtbar, wo er am stärksten vom Aufriss des Markus abweicht. Nach der Berufung der ersten Jünger (4,18–22) folgt nur ein ganz kurzer Sammelbericht über Jesu Wirken in Galiläa (4,23–25) und dann mit der Bergpredigt (5–7) sofort die erste der fünf großen Reden Jesu. Erst danach (Kap. 8 und 9) bringt Matthäus eine Reihe von Wundergeschichten, die bei Markus an unterschiedlicher Stelle stehen. Der Messias des Wortes steht vor dem Messias der Tat! Die knappen Anweisungen bei der Aussendung der Zwölf in Mk 6,7–13 erweitert Matthäus zu einer umfassenden Aussendungsrede (10). Auch die Gleichnisrede (vgl. Mk 4,1–34) ist bei Matthäus deutlich umfangreicher (13,1–52). Die Gemeinderede (18) hat keine Parallele bei Markus und die Endzeitrede (vgl. Mk 13) erhält durch eine Reihe von Gleichnissen, die zur Wachsamkeit aufrufen, einen ganz neuen Akzent (24.25). Wenn also der auferstandene Christus bei seiner letzten Erscheinung vor ihnen seine Jünger und Jüngerinnen anweist: »und lehrt sie alles halten, was ich euch geboten habe« (28,20), dann kann für die Leser und Leserinnen kein Zweifel darüber bestehen, was damit gemeint ist. In diesen fünf Reden (aber nicht nur in ihnen) legt Jesus die Weisung Gottes, die Tora, vollmächtig und gültig aus. Aber dies ist nur die eine Seite seines Auftrags; er ist auch der Messias der Tat. In 11,2–6 (//Lk 7,18–23) erzählt Matthäus von einer Anfrage Johannes des Täufers, der von den »Taten des Messias« (LÜ: den »Werken Christi«) gehört hat. Das ist ein ungewöhnlicher Ausdruck, denn im Judentum wird nicht erwartet, dass der Messias bei seinem Kommen Wunder tut. In seiner Antwort zählt Jesus auf, was nach Jes 26,19; 35,5f Gottes endzeitliches heilendes und Leben erweckendes Werk sein wird, und fasst das mit den Worten aus Jes 61,1f zusammen: »und den Armen wird das Evangelium gepredigt«. Als der Messias Gottes tut Jesus Gottes

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Werk! Darum wird der messianische Titel »Davids Sohn«, der Matthäus sehr wichtig ist (vgl. schon die Überschrift 1,1; weiter 21,9.15), vor allem im Zusammenhang mit Heilungsgeschichten verwendet (9,27; 12,23; 15,22; 20,30f). Der Titel Menschensohn erscheint dagegen wie in allen Evangelien nur im Mund Jesu. Er bildet so etwas wie eine Chiffre für Jesu Person­ geheimnis und kennzeichnet sein irdisches Wirken (8,20; 9,6; 11,19; 12,8; 13,37), sein Leiden, Sterben und Auferstehen (12,40; 17,9.12.22; 20,18.28 u. ö.) und – bei Matthäus besonders betont – sein Wiederkommen zum Gericht (10,23; 16,27f; 19,28 u. ö.). Leitender christologischer Titel aber ist – wie in allen Evangelien – der Begriff Gottes Sohn. Aber anders als bei Markus wird er schon während der irdischen Wirksamkeit Jesu auch von Menschen bekannt, so in 14,33 von den Jüngern (im Gegensatz zur Markusparallele Mk 6,52) und vor allem in 16,16, dem Bekenntnis des Petrus: »Du bist der Christus, des lebendigen Gottes Sohn«, das bei Matthäus von Jesus ausdrücklich bestätigt wird! Dass Jesus Gottes Sohn ist, zeigt sich für Matthäus vor allem an seinem Gehorsam gegenüber dem Willen des Vaters. Er beweist ihn in der Versuchung durch Satan, der ihn mit den Worten »Bist du Gottes Sohn …« auf die Probe stellt. Und er zeigt diesen Gehorsam bis hinein in seine Passion, in der die Spötter unter dem Kreuz ihn mit den gleichen Worten auffordern, sich selbst zu helfen und vom Kreuz herabzusteigen (27,39–43). So ist Jesus gerade auch in seinem Leiden und seinem Schrei der Gottverlassenheit der Immanuel, der »Gott mit uns«. Legitimiert durch seinen Gehorsam tritt er die Weltherrschaft an und verspricht den Seinen: »Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende« (28,20). Die Christusverkündigung des Matthäus ist »von der Einheit des Lehrenden und Heilenden, Gehorsamen und Vorbildhaften mit dem Erhöhten und Herrschenden geprägt, mit dem Gott ist und durch den Gott seinen gnädigen endzeitlichen Willen allen Völkern kundtut« (Schnelle, Theologie 411) Gottes Wille und das Tun des Gerechten Wie sehr Matthäus in der Verkündigung Jesu Zuspruch und Anspruch, Indikativ der Zusage und Imperativ der Aufforderung ineinander sieht, zeigt sehr schön seine Fassung der Seligpreisungen (5,3–12). Während sie bei Lukas, der wohl den ursprünglichen Wortlaut von Q wiedergibt, reine Zusagen an Arme, Hungernde und Trauernde sind, mischen sich bei Matthäus bedingungslose Zusage und Anleitung zu einem gelingenden Leben. Jesu Seligpreisung gilt den Armen im Geiste, also

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denen, die vor Gott mit leeren Händen stehen. Sie gilt denen, die hungern und dürsten nach Gerechtigkeit und von Gott erwarten, dass er den Mangel ihres Lebens ausfüllt und alle Ungerechtigkeit und Lieblosigkeit der Menschen zu Recht bringt. Sie gilt also denen, die ihre Hände und ihre Herzen für Gott und sein Handeln öffnen und sich nicht mit dem heillosen Zustand der Welt zufriedengeben. Sie gilt aber auch denen, deren Leben und Handeln durchlässig für Gottes Wesen und Wirken wird: für seine Barmherzigkeit, für seine Gerechtigkeit und für den Frieden, den er schenkt. Für Matthäus ist das kein Widerspruch. Leben, dem Jesu Glückwunsch gilt, ist Leben, das vom Geschenk der Gnade Gottes lebt und zugleich in seinem Tun und Lassen von diesem Geschenk bestimmt ist. Für ihn ist wahres Glück, dass Gott leere Hände füllt und dadurch befähigt, weiterzugeben und mit anderen zu teilen, was Gott schenkt. Darum sagt Jesus zu denen, die er seligpreist: »Ihr seid das Salz der Erde … Ihr seid das Licht der Welt«, freilich nicht ohne anzudeuten, dass dieses Salz – ganz wider die Natur – auch salzlos werden und dieses Licht – entgegen aller Erfahrung – auch verborgen bleiben könnte (5,13–16). Die »bessere« Gerechtigkeit, die Jesus nach Mt 5,20 von denen fordert, die ihm folgen, ist also nicht das Ergebnis größter eigener Anstrengung, sondern Folge eines Lebens, das sich an der umfassenden Liebe und unbegrenzten Fürsorge Gottes ausrichtet. Darum schließen die Mahnungen der sog. Antithesen, die ein Leben in konsequenter Ehrlichkeit und Liebe fordern, mit dem Satz: »Seid vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist« (5,48). Damit wird nicht die Latte für richtiges und gelingendes Leben auf astronomische Höhe gelegt, sondern gezeigt, was ein solches, menschliche Möglichkeiten letztlich übersteigendes Verhalten möglich macht: Gottes vollkommene Liebe. Angesichts von Gottes bedingungslosem Ja zu uns kann »das Nein zum Mitmenschen nicht mehr das letzte Wort sein« (Feldmeier, Salz 54). Dass Jesus sagt, »kein Jota und kein Häkchen des Gesetzes« werde vergehen, bis alles geschieht, was geschehen muss (5,18f), um es dann mit den Worten »Ich aber sage euch« (5,21–48) ganz neu auszulegen, bedeutet für Matthäus keinen Widerspruch. Es so auszulegen ist die Art, wie Jesus es erfüllt (5,17). Was den »Alten« gesagt ist, kennzeichnet das Gesetz als vollstreckbares Recht. Darin liegt die Gefahr, nur gerichtlich feststellbare Vergehen als Übertretungen anzusehen. Jesus aber dringt darauf, nach dem ursprünglichen radikalen Willen Gottes für alle Lebensbereiche zu fragen. Wo das Gesetz zur Absicherung egoistischer Ziele missbraucht wird, widerspricht er dieser Deutung; wo es auf die Liebe als Ziel aller Gebote hinweist, zeigt er das in ganzer Konsequenz auf.

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Wer diese Worte Jesu nicht nur hört, sondern sie tut, der stellt sein Lebenshaus auf sicheren Grund (7,24–27). Dass Jesus auf das Tun seiner Weisung so großen Wert legt, bedeutet nicht, sich an einem langen Katalog von Forderungen abarbeiten zu müssen. Die Erzählung vom Weltgericht macht deutlich: Worauf es letztlich allein ankommt, ist die menschlich selbstverständliche Tat, die ohne jeden Hintergedanken für die getan wird, die in Not sind (25,31–46). Auch wenn Jesus seinen Jüngern und Jüngerinnen den Auftrag gibt: »und lehrt sie alles halten, was ich euch geboten habe« (28,20), dann ist damit kein dickes Bündel an Vorschriften gemeint, sondern seine Auslegung des Liebesgebots. Sein »Heilandswerk« besteht nicht zuletzt darin, dass er die Menschen anleitet und mitnimmt auf dem Weg zu wirklichem Leben. Gerade im Zusammenhang mit einem Sammelbericht über die Heilungstätigkeit Jesu heißt es: »Und als er das Volk sah, jammerte es ihn; denn sie waren geängstet und zerstreut wie die Schafe, die keinen Hirten haben« (9,36). Deshalb sagt er zu seinen Jüngern: »Die Ernte ist groß, aber wenige sind der Arbeiter. Darum bittet den Herrn der Ernte, dass er Arbeiter in seine Ernte sende« (9,37f). Und dann sendet er sie aus, um den Menschen die gute Botschaft vom Kommen des Reiches Gottes zu bringen. Das Ineinander von entlastender Lebenszusage und befreiender Wegweisung im Evangelium Jesu bei Matthäus, wird am schönsten in dem sog. »Heilandsruf« deutlich (11,28–30): »Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken. Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir; denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen. Denn mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht«. Die Einladung, zu Jesus zu kommen, ist Einladung zu einem Leben mit Gott. Hier kommen Menschen angesichts von Überforderung und Versagen zur Ruhe und erfahren zugleich, welche Erleichterung es ist, sich die Last der Liebe aufladen zu lassen. Die Kirche und ihre Sendung Neben dem Johannesevangelium ist das Matthäusevangelium das Evangelium, das durch die Art seiner Jesuserzählung am stärksten schon die Situation der späteren Gemeinde ins Auge fasst. Wo der Kreis der Jünger und Jüngerinnen angesprochen ist, ist nicht nur die Gruppe im Blick, die Jesus auf seinen Wegen begleitet hat, sondern auch die spätere Gemeinde. Das zeigt sich schon darin, dass das griechische Wort für Kirche bzw. Gemeinde (ekklesia) außer in Mt 16,18; 18,17 in keinem anderen Evangelium erscheint. Allerdings sind die Akzente, die Matthäus und die Überlieferungen, die er verarbeitet, setzen, recht unterschiedlich. Da sind einerseits die besonders Beauftragten. Wie bei Markus beginnt Jesu Wirken mit der Be-

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rufung der ersten vier Jünger, die dann auch den Kern der Gruppe der Zwölf bilden werden. Die Schaffung dieses Kreises und die Aussendung der Zwölf werden von Matthäus zu einer Szene zusammengefasst (Kap. 10). Dabei wird fast provozierend festgestellt, dass sich ihr Auftrag nur an Israel richtet (10,5f). In diese Rede werden auch Worte aus der Aussendungsrede von Q einbezogen. In ihnen wird sehr allgemein von Erfolg und Misserfolg, Verfolgung und Widerstand gesprochen, die die Ausgesandten erleben werden. Das gilt nicht nur für die Zwölf, sondern betrifft alle urchristlichen Missionare. Nicht von ungefähr wird die Aussendungsrede von der Aufforderung Jesu eingeleitet, Gott um viele Arbeiter für die Ernte zu bitten. Nach Ostern ist es auch nicht mehr der geschlossene Kreis der Zwölf, sondern es sind die übrigen elf Jünger, die von dem auferstandenen Christus zu allen Völkern gesandt werden, stellvertretend für alle, die sich von ihm senden lassen (28,16–20). Insgesamt ist das Bild der Jünger bei Matthäus positiver gezeichnet als bei Markus. Während es in Mk 6,51f nach der Begegnung mit Jesus auf dem See heißt, dass die Jünger auch nach dem Wunder der Speisung noch nicht verstanden, wer Jesus ist, bekennen diese nach Mt 14,33: »Du bist Gottes Sohn«. Petrus nennt in 16,16 Jesus nicht nur »Christus« (Mk 8,27) sondern »Sohn des lebendigen Gottes« und erfährt dafür höchste Anerkennung: den Namen Petrus = Stein, Fels und die Zusicherung, dass Jesus auf dieses Fundament seine Kirche bauen und ihm die Schlüsselgewalt in ihr übertragen wird. Es bleibt allerdings ein Rätsel, welche kirchliche Wirklichkeit dem zur Zeit des Matthäus entsprach. Petrus selbst lebte nicht mehr und von der Institution eines Petrusamtes in dieser Zeit gibt es keinerlei Zeugnisse. Für Matthäus ist es das Bekenntnis des Petrus, das zum Fundament der Kirche werden wird. Bezeichnenderweise findet sich in der Gemeinderede eine Parallele zur Bevollmächtigung des Petrus. Auch die Ortsgemeinde hat die Autorität, zu binden und zu lösen. Hier nimmt die gesamte Gemeinde Verantwortung wahr, und zwar nicht nur in Konfliktfällen, sondern gerade auch für die »Kleinen« und Schwachen (18,15–20). Obwohl in Mt 10,40–42 angedeutet zu sein scheint, dass es in der Gemeinde eine Gliederung in Propheten, Gerechte und »Kleine« gibt, ist bei Matthäus ein starker antihierarchischer Trend festzustellen: Er übernimmt Mk 10,42–45 mit seiner Absage an alle Art von Herrschaft in der Gemeinde, formuliert allerdings vorsichtiger statt »so ist es nicht bei euch« bei Markus »so soll es unter euch nicht sein« (20,26). Dazu tritt die Ablehnung hierarchischer Titel und autoritärer Anmaßung in 23,8–12. Dass in 19,27–30 den Zwölf ein endzeitliches Richteramt über die Stämme Israels verheißen wird, dürfte eher symbolische Bedeutung

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haben. Leitbild für die Gemeinde ist dort die Wirklichkeit einer Familie, der jede patriarchalische Ausrichtung fehlt. Für Matthäus ist klar, dass es nicht möglich ist, so etwas wie eine reine Gemeinde herzustellen. Der Einladung des Königs im Gleichnis vom großem Hochzeitsmahl folgen »Böse und Gute« (22,10). Indirekt wird das auch im Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen deutlich, wenn der Acker auch – anders als in vielen populären Auslegungen – nicht die Kirche, sondern die Welt ist (13,38). Das aber bedeutet nicht, dass alle gerettet werden. Gott lässt zwar seine Sonne über Böse und Gute aufgehen (5,45) und wendet seine Barmherzigkeit allen zu, aber zur Zeit der Ernte wird dann doch das Unkraut vom Weizen geschieden, und im Gleichnis von der königlichen Hochzeit lässt der König den Gast ohne das hochzeitliche Gewand hinauswerfen (22,11–13). Die Offenheit für alle begründet keine Indifferenz gegen fehlende Konsequenz. Eindrücklich sind auch zwei sehr unterschiedliche Konzepte für das missionarische Wirken der Jünger und Jüngerinnen Jesu. Das erste findet sich in der Bergpredigt. Denen, die Jesus glücklich preist, wird gesagt: Ihr seid das Salz der Erde, ihr seid das Licht der Welt (5,13–16). Keine Aktionen sind gefordert, sondern die selbstverständliche Wirkung eines Lebens aus der Liebe Gottes benannt. Das wirkt – wenn man die Gabe nicht verkommen lässt oder versteckt! Ganz anders der sog. Missionsbefehl. Hier ist Aktion gefordert: »Geht hin und ruft alle Völker in meine Schule und Nachfolge« heißt es in 28,19f (so besser für »machet zu Jüngern«). Zu übersetzen »und lehret sie« (Lu2017) geht jedoch im Zusammenhang überhaupt nicht, denn es wird gleich gesagt, wie das geschehen soll: »Taufet sie im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehret sie alles halten, was ich euch aufgetragen habe«. Der Auftrag besteht also darin, Menschen in die heilvolle Gemeinschaft mit dem dreieinigen Gott zu holen und in die Lerngemeinschaft derer zu stellen, die auf dem Weg mit Jesus sind. Das dürfte die sachliche Entsprechung der Berufung zu »Menschenfischern« sein (vgl. 4,19)! Und auch hier ist der Imperativ eingerahmt vom Indikativ einer Zusage: »Mir ist alle Vollmacht gegeben« (V. 18) und »Siehe, ich bin bei euch alle Tage« (V. 20). So wird der Auftrag an die Elf zur Sendung der Kirche. Das Verhältnis zum Judentum Für Matthäus ist Jesu Wirken tief im Erbe Israels verwurzelt. Der Vater Jesu Christi ist der Gott, der in der Geschichte Israels gehandelt hat und weiter handelt. Jesu Sendung und die seiner Jünger vor Ostern gilt ausschließlich Israel (10,6). Zugleich aber wird von den ersten Seiten des Evangeliums an deutlich, dass die Öffnung für die Völker durch

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die Schrift vorbereitet ist. Man hat Matthäus oft als Kronzeugen für die Theorie einer heilsgeschichtlichen Ablösung Israels durch die Kirche gesehen. Aber nach 21,41 wird nicht Israel das Reich genommen, sondern seinen geistlichen Führern. Ihnen gelten auch die Weherufe in Kap. 23. Für Matthäus hat Jesus Israel nicht aufgegeben. Die Sendung zu den »verlorenen Schafen« Israels ist nicht zu Ende, sie ist in der Aufforderung, zu »allen Völkern« zu gehen, mit einbeschlossen. Gerade die Art, wie Matthäus die Streitgespräche Jesu mit jüdischen Gegnern gestaltet, zeigt, dass sich seine Gemeinde noch als Teil des Judentums sieht, aber mit dessen Führung gebrochen hat. Es kann allerdings nicht übersehen werden, dass die angebliche Selbstverfluchung des Volkes in 27,25 (»Sein Blut komme über uns und unsere Kinder«) eine verheerende Wirkungsgeschichte nach sich gezogen hat. Matthäus selbst hat darin eine Schuldübernahme der Menge für sich und die folgende Generation gesehen, die mit der Zerstörung Jerusalems eingelöst worden ist. Dass daraus die Theorie von einer Selbstverfluchung für alle Generationen gemacht worden ist, hätte schon angesichts dessen, was sonst im Neuen Testament über die Wirkung des Blutes Christi gesagt wird, nicht geschehen dürfen. So gehört diese Stelle wie 21,41 (»seinen Weinberg anderen Weingärtnern verpachten«) und einige Passagen in Joh 8 zu den Stellen im Neuen Testament, deren zeitbedingt überschärfte Polemik zu Folgerungen geführt hat, die dem Geist Jesu und auch der Intention des Matthäus widersprechen. Gericht und Vollendung Das Thema »Gericht« ist Matthäus sehr wichtig. Fast alle Worte Jesu, mit denen er die Endzeitrede fortgeführt hat (24,45–25,46), handeln vom Gericht. Wie wichtig ihm dieser Aspekt war, zeigt auch die Ergänzung des Gleichnisses von der königlichen Hochzeit durch das Gleichnis vom hochzeitlichen Kleid (22,11–13). Aber nur er überliefert das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg, das eindrucksvoll zeigt, dass Gott nicht einfach nach menschlichen Leistungsmaßstäben urteilt. Darin liegt für Matthäus kein Widerspruch. Ihm geht es nicht um adäquate Vergeltung, sondern um die Orientierung des Lebens. Auch wenn die Arbeiter der letzten Stunde spät mit der Arbeit angefangen haben, sie haben sich rufen lassen. Dagegen hat der dritte Knecht im Gleichnis von den anvertrauten Talenten sein Talent zwar bewahrt, aber nichts daraus gemacht (25,14–30). Beim Weltgericht (25,31–46) wird nicht abgerechnet, wie oft jemand anderen geholfen hat; entscheidend ist, dass es geschehen ist. Die Gerichtsbotschaft bei Matthäus hält fest, dass Gottes Gabe immer auch Aufgabe ist. Es wird keine Leistungsbilanz erstellt, aber es kommt alles darauf an, dass man das anvertraute Gut eingesetzt und Menschen

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in Not geholfen hat. Matthäus wird nicht müde, vor den negativen Konsequenzen zu warnen und droht immer wieder mit dem Ort, an dem Heulen und Zähneklappern sein wird (8,12; 13,42.50; 24,51 u. ö.). Aber dahinter steht der Ruf: Nimm die Gnade ernst! Ziel des Weges mit Jesus aber bleibt die endgültige Gemeinschaft mit ihm, dargestellt im Bild des festlichen Hochzeitsmahls (22,2; 25,10). Die Matthäuspassion In der machtvollen Interpretation der Passion nach dem Evangelisten Matthäus durch die Musik von Johann Sebastian Bach wird sein Bericht vom Leiden und Sterben Jesu Jahr für Jahr vielen Menschen nahe gebracht, die sonst seiner Botschaft fern stehen. Die Exegeten tun sich dagegen eher schwer damit, das besondere Profil seiner Darstellung herauszuarbeiten. Denn Matthäus folgt im Wesentlichen der Darstellung des Markus und setzt in der Erzählung wenig eigene Akzente. Diese ergeben sich vor allem aus der Einbettung der Passion in das Ganze des Evangeliums. Einige Elemente sollen genannt werden: Jesu Wirken und sein Todesgeschick werden von Matthäus sehr betont als Erfüllung prophetischer Vorhersage dargestellt (2,17 f.23; 4,14–16; 8,17; 13,35; 21,4f; 26,56; 27,9). Hervorgehoben wird vor allem der Zusammenhang des Todes Jesu mit dem Mord an den Propheten in der Geschichte Israels (5,12; 21,33–46; 23,29–31.34f). Jesus nimmt mit seinem Tod das Leiden der Gerechten und Propheten auf sich. So geht er im Wissen, dass das Leiden Gottes Wille für ihn ist, seinen Weg bis zum Schrei der Gottverlassenheit im Sterben (27,46). Er, dessen Leben und Wirken unter dem Namen Immanuel, Gott mit uns, steht (1,23), erleidet die Gottverlassenheit des Todes und trägt gerade so Gottes Gegenwart in die tiefste Tiefe menschlichen Elends. Und darum kann er als der Auferstandene, der den Tod überwunden hat, den Seinen zusagen: »Ich bin mit euch alle Tage bis zum Ende der Welt« (28,20). Dass für Matthäus schon der Tod Jesu die Macht des Todes überwunden hat, zeigt die von ihm eingeschobene und ansonsten theologisch schwer einzuordnende Episode in 27,52f, dass im Augenblick des Todes Jesu nicht nur der Vorhang des Tempels zerriss, sondern sich auch die »Gräber der Heiligen« auftaten und die Begrabenen nach Jesus Auferstehung herauskamen und sich in Jerusalem zeigten. Vor allem aber wird das Stichwort vom unschuldig vergossenen Blut zu einem Leitmotiv der Matthäuspassion. Den führenden Leuten im Volk wird angedroht: »So wird all das unschuldige Blut über euch kommen, das auf Erden vergossen worden ist, vom Blut Abels, des Gerechten, bis zum Blut des Zacharias, Barachias’ Sohn, den ihr zwischen dem Tempelgebäude und dem Altar ermordet habt« (23,35 EÜ; vgl. Gen 4,8;

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2Chr 24,20–22). Judas klagt sich nach Jesu Verhaftung an: »Ich habe gesündigt, unschuldiges Blut habe ich verraten« (27,4), während Pilatus sich mit der Äußerung »Ich bin unschuldig am Blut dieses Menschen« aus der Verantwortung schleichen will (27,24). Die Menge aber will die Schuld mit dem Ruf auf sich nehmen: »Sein Blut komme über uns und unsere Kinder« (27,25; vgl. Jer 26,15). Das Motiv ist Kennzeichen für die Schuld, die Menschen im Streit mit Gott und denen, die sich zu ihm halten, auf sich laden. Zugleich aber verstärkt Matthäus in den Deuteworten beim Abendmahl die andere Bedeutung dieses Motivs. Er ergänzt die Formulierung »Das ist mein Blut des Bundes, das für viele vergossen wird« bei Markus durch die Worte »zur Vergebung der Sünden« (vgl. 26,28 mit Mk 14,24). Das unschuldig vergossene Blut soll also nicht mehr als Anklage und Todesurteil über das Haupt der Schuldigen kommen, sondern sie »ent-schuldigen« und ihre Schuld wegnehmen. So ist auch die Matthäuspassion durch ein Ineinander von Schuldaufweis und Vollzug des rettenden Handeln Gottes gekennzeichnet. Jesu Tod überwindet die Macht der Sünde und des Todes. Die Wirkung des Evangeliums und seine Botschaft für heute Das Matthäusevangelium hat in der Geschichte der Kirche eine sehr intensive Wirkung entfaltet. Allerdings ist das in sehr unterschiedliche Richtungen geschehen. Das Petruswort in 16,16–19 hat nicht nur sein Bekenntnis als Fundament der Kirche ausgewiesen, sondern auch den ungeheuren Anspruch an geistlicher und teilweise auch weltlicher Macht des Papsttums und der damit verbundenen Institutionen begründet. Umgekehrt haben sich gerade die Armutsbewegungen innerhalb und außerhalb der katholischen Kirche und der sog. linke Flügel der Reformation (Täufer und verwandte Gruppen) auf das Matthäusevangelium und seine antihierarchischen Akzente berufen. Für die Reformatoren war Matthäus eher schwierig, und sie haben seine Aussagen teilweise kräftig im Licht der paulinischen Rechtfertigungslehre uminterpretiert. In neuerer Zeit hat insbesondere die Bergpredigt auch auf Menschen, die dem traditionellen Christentum fernstanden, eine faszinierende Wirkung ausgeübt und durch sie auch auf andere inspirierend gewirkt (so z. B. auf Leo Tolstoi, Mahatma Gandhi, Franz Alt u. a.). Alle diese Interpretationen standen freilich mehr oder weniger in Gefahr, sich auf einzelne Aspekte der Botschaft des Matthäus zu beschränken. Die Zusage an Petrus in 16,18f wurde zur Basis für den Aufbau einer ungeheuren Fülle an kirchlicher Macht, während der basisdemokratische Ansatz von 18,15–20 oder die Warnung vor hierarchischen Titeln und Strukturen in 23,8–12 verdrängt wurde. Die steilen Forderungen der sog.

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Antithesen der Bergpredigt faszinieren immer wieder, aber das Verbot der Wiedervergeltung oder der Wiederheirat nach der Scheidung wird als völlig unpraktikabel auf die Seite gelegt. Die Zusage, »Salz der Erde« und »Licht der Welt« zu sein, wird gerne in Anspruch genommen, missionarisches Handeln nach dem »Missionsbefehl« in Mt 28,18–20 aber als unzeitgemäß abgelehnt oder durch Uminterpretation heutigem Empfinden angepasst. Gerade bei Matthäus aber wäre es entscheidend, auf das Ganze seiner Botschaft zu hören! Nun ist es durchaus legitim, sich von den Impulsen anregen zu lassen, die uns heute ansprechen, und manche Aussagen kritisch zu hinterfragen, die dem Liebesgebot zu widersprechen scheinen. Was sich die heutige Christenheit aber unbedingt von Matthäus sagen und schenken lassen sollte, ist das unaufgebbare Ineinander von Hören und Tun, von Beten und Tun des Gerechten, von Vertrauen auf Gottes Güte und Wissen um die Verantwortung vor ihm und für andere, von Hoffen auf die selbstverständliche Ausstrahlung dessen, was christliches Leben ausmacht, und der Notwendigkeit, uns zu anderen auf den Weg zu machen, für die die Begegnung mit Jesus und seinem Wort hilfreich sein könnte. Die Botschaft des Matthäusevangeliums Matthäus zeichnet Jesus als Lehrer des Willens Gottes und Führer zu einem erfüllten Leben. In seiner Verkündigung und seinem Handeln bringt Jesus den Menschen Gottes Reich und seine Gerechtigkeit nahe. Gott kommt zu den Menschen, indem Jesus unter ihnen seine alle umfassende Güte lebt und lehrt. Dass sie in seinem Wirken den Menschen begegnet, macht ein Leben im Vertrauen auf Gott und in umfassender Liebe möglich. Was Jesus bringt, ist die Vision und die Wirklichkeit einer »besseren« Gerechtigkeit, die Gottes Treue zu Israel bekräftigt, ein liebevolles Miteinander unter den Menschen ermöglicht und den Weg dieser Botschaft zu den »Völkern« eröffnet. In eine Welt, in der Menschen unter Ungerechtigkeit, Lieblosigkeit, Orientierungslosigkeit und Überforderung leiden, ergeht die Einladung Jesu, sich seiner Leitung anzuvertrauen, und der Auftrag an seine Jüngerinnen und Jünger, diese Einladung zu allen Menschen weiterzutragen. Die Jünger und Jüngerinnen Jesu bilden eine neue Gemeinschaft, die Jesu Werk und Willen lebt und mit anderen teilt. Das Leben in dieser Gemeinschaft ist durch Rücksicht und Wertschätzung auch der Kleinen geprägt. Es ist eine Gemeinschaft, die aus der Kraft der Vergebung lebt und doch um den Ernst der Frage nach dem Willen Gottes weiß. Es ist eine Gemeinschaft, die auf der Autorität des Bekenntnisses zu Jesus aufbaut, aber ihr Leben in demokratischem Miteinander und ohne hierarchische Strukturen gestaltet. Die zu ihr gehören leben im Hören und Tun der Anleitung Jesu zu einem Leben unter

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dem Zuspruch und Anspruch der vollkommenen Liebe, und deshalb wird all das, was ihnen damit zugemutet wird, für sie zur leichten Last. Aber nicht von ungefähr richten sich die Gerichtsgleichnisse Jesu nicht nach außen, sondern an die, die dazugehören. Sie haben eine besondere Verantwortung. Doch gerade das Gleichnis vom Weltgericht, das den Maßstab des Urteils für alle nennt, zeigt: Gott fordert nichts anderes als das Tun des menschlich Selbstverständlichen! Matthäus leitet an zu Praxis und Theologie eines missionarischen Lebens: Wo Menschen sich Jesu Wort anvertrauen, strahlt etwas von Gottes Gerechtigkeit und Liebe in diese Welt hinein und durchdringt sie mit der Kraft zum Leben wie Salz und Licht. Und wo Menschen Jesus folgen, laden sie andere ein, sich in diese Gemeinschaft hineinnehmen zu lassen und von Jesus zu lernen, sodass immer wieder neu solche Quellen des Lebens für die Welt entstehen. 3. Lukas – der Erzähler Lukas ist der einzige Evangelist, der Auskunft über sein Vorhaben gibt. Er beginnt sein Werk mit einem kurzen Vorwort, das zugleich eine Widmung für einen vornehmen Gönner darstellt. Dabei blickt er auf die Arbeit seiner Vorgänger zurück und schreibt: »Schon viele haben es unternommen, über das, was unter uns geschehen und in Erfüllung gegangen ist, einen Bericht abzufassen nach der Überlieferung derer, die von Anfang an Augenzeugen und Diener des Wortes waren« (1,1f ZB). Wir kennen immerhin zwei dieser »Vorarbeiten«, nämlich das Markus­ evangelium und die aus der gemeinsamen Überlieferung von Matthäus und Lukas zu erschließende Reden- oder Logienquelle (Q). Das Urteil des Lukas über sie scheint positiv zu sein. Was sie berichten, geht auf die Überlieferung von »Augenzeugen und Diener des Wortes« zurück, womit vor allem die Apostel gemeint sein dürften, die »von Anfang an«, d. h. von Jesu Auftreten in Galiläa an, sein Wirken begleitet haben (vgl. Apg 1,21f; 10,37). An der Zuverlässigkeit ihrer Berichte hat Lukas also nichts auszusetzen. Dennoch will er ihre Arbeit durch ein neues Werk weiterführen und nennt auch gleich die Vorzüge seiner Arbeit: »So beschloss auch ich, nachdem ich allem von Anfang an sorgfältig nachgegangen war, es der Reihe nach für dich aufzuschreiben, verehrter Theophilus, damit du die Zuverlässigkeit der Lehren erkennst, in denen du unterrichtet wurdest« (1,3f ZB). Zwei Alleinstellungsmerkmale zählt er auf: (1) Während die genannten Augenzeugen Jesu Wirken nur ab seinem öffentlichen Auftreten kannten, hat es sich Lukas zur Aufgabe gemacht, Gottes Handeln in Jesus Christus von seinen allerersten Anfängen her zu erkunden.

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Damit ist sicher die Einbeziehung der Erzählungen von der Geburt Jesu und des Täufers gemeint. (2) Die Ergebnisse seiner Nachforschungen hat er »der Reihe nach« aufgeschrieben. Lukas verzichtet also auf eine thematische Zusammenfassung zu bestimmten Erzähl- und Redekomplexen, wie wir sie bei Matthäus finden, sondern folgt sehr genau der Reihenfolge der einzelnen Abschnitte bei Markus und wohl auch der Redenquelle und ordnet auch das Material in seinem Sondergut in der von ihm für wahrscheinlich gehaltenen chronologischen Reihenfolge an. Das macht es freilich schwierig, sein Evangelium nach inhaltlichen Schwerpunkten zu gliedern. Dann aber nennt Lukas ausdrücklich das Ziel seines Unternehmens: Der verehrte Theophilus soll »die Zuverlässigkeit der Lehren erkennen«, in denen er unterrichtet worden ist. Das muss nicht unbedingt heißen, dass er in einem formellen (Tauf-)Unterricht in die christliche Lehre eingeführt worden ist. Man könnte auch übersetzen: »die Zuverlässigkeit der Dinge, die man dir gesagt hat«. Theophilus mag also stellvertretend für eine Leserschaft stehen, die dem Christentum wohlwollend gegenübersteht, aber noch nichts wirklich Genaues über das Wirken Jesu und das Wesen seines Auftrags erfahren hat. Dem will das Werk des Lukas abhelfen. Wie erfüllt Lukas dieses Programm? Offensichtlich mit einer genauen Darstellung des Lebens Jesu, beginnend mit den Ereignissen, die seine Geburt umgeben haben, bis zu seinem Tod am Kreuz und den Erscheinungen des Auferstandenen vor seinen Jüngern. Sein Anliegen ist also mit dem der historischen Forschung alter Schule verwandt: Er möchte zeigen, »wie es wirklich gewesen ist«. Er tut das aber nicht, indem er die Quellen, die er gesammelt hat, kritisch befragt und auswertet, sondern indem er der Reihe nach erzählt, was er aus seinen Vorlagen und der mündlichen Überlieferung erfahren hat. Und in der Tat verdanken wir der Sammlertätigkeit des Lukas eine ganze Reihe von Erzählungen und Gleichnisse, die zum Kernbestand der Jesusüberlieferung gehören. Der wichtigste Unterschied zu den anderen Evangelien ist freilich die Tatsache, dass Lukas nicht nur eine neue Darstellung des Lebens Jesu schreibt, sondern seine Arbeit als zweibändiges Werk konzipiert, in dessen zweiten Teil er von der Ausbreitung der Botschaft bis hin nach Rom berichtet. Auch dieser Bericht soll dazu beitragen, dass sich die Leser und Leserinnen von der Zuverlässigkeit und Stichhaltigkeit dessen überzeugen, was sie über den christlichen Glauben erfahren haben. Darstellungen der Theologie des Lukas gehen deshalb in der Regel von seinem Gesamtwerk aus. So fließt sehr viel von den Erkenntnissen, die anhand der Apostelgeschichte gewonnen worden sind, auch in die Erklärung des Evangeliums ein. Aber – wie wir sahen – trennt die Über-

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lieferungsgeschichte sehr bald die beiden Schriften. Sie stellt den ersten Band zu den anderen Evangelien und schafft so einen neuen Zusammenhang. Wir werden uns deshalb zunächst auf die Botschaft des Evangeliums konzentrieren. Lukas ist vor allem Erzähler, aber er erzählt nicht um des Erzählens willen und aus Freude an einer guten Story. Er erzählt die Jesusgeschichte als Grundlage der Existenz und Verkündigung der Kirche und zur Vergewisserung des persönlichen Glaubens. Dabei zeigt er Jesus als den Erfüller der Heilshoffnung Israels und den Heiland der Sünder. Von Anfang an zum Retter bestimmt Schon die Erzählungen von der Geburt Jesu und seiner frühen Kindheit weisen auf grundlegende theologische Thesen hin. Die liebevolle Beschreibung der Umstände der Geburt Johannes des Täufers und die Charakterisierung seiner Eltern zeigt die Verwurzelung der Geschichte Jesu in der Frömmigkeit Israels und seinen Schriften. Die Erzählung vom Geschenk eines Sohnes an hochbetagte Eltern nimmt ein wichtiges Motiv aus dem Alten Testament auf, das schon dort zum Symbol für das Wirken der freien Gnade Gottes wird (Gen 15–18; vgl. das Motiv der unfruchtbaren Frau Gen 30,22f; Ri 13,2f; 1Sam 1; Jes 49,21). Dieses Motiv ist auch eine der Wurzeln für den Bericht von der wunderbaren Zeugung Jesu durch den Geist. Der jüdische Philosoph Philo sieht in der wunderbaren Geburt der Erzväter das Wirken des Geistes. Dass Lukas diesen Zusammenhang kennt, zeigt der Lobgesang der Maria (1,46–55), der viele Gemeinsamkeiten mit dem Lied der Hanna in 1Sam 2,1–10 aufweist. Doch spielt für die Erzählung wohl auch der Gegensatz zur Verehrung antiker Herrscher, insbesondere der römischen Kaiser, als Söhne Gottes eine Rolle. Entscheidend ist freilich die Aussage: Jesus ist ganz von Gottes Geist bestimmt. Dem Bericht über Jesu Zeugung durch den Geist liegt kein biologisches Verständnis seiner Gottessohnschaft zugrunde. Lukas schreibt zwei Mal ganz unbefangen: Er wird Gottes Sohn bzw. Sohn des Höchsten genannt werden (Lk 1,32.35). Für biblisches Verständnis bedeutet das gleichwohl: Er ist Gottes Sohn! Was bei der Ankündigung der Geburt Jesu über seine Aufgabe und Bedeutung gesagt wird, folgt Motiven der jüdischen Messiaserwartung: Er wird den »Thron seines Vaters David« erhalten, König sein über das Haus Jakob und in alle Ewigkeit herrschen (1,26–38). Die Schilderung Marias aber setzt einen neuen Akzent: Sie ist der Urtyp des empfangenden, gehorsamen, für das Wirken der Gnade und des Geistes offenen Menschen. In den eingestreuten Hymnen wird schon die ganze Bedeutung des Handelns Gottes, das mit der Geburt dieses Kindes beginnt, umrissen. Das

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Magnificat, der Lobgesang der Maria (1,46–55), spricht in Anlehnung an das Lied der Hanna und Aussagen der Psalmen (1Sam 2,1–10; Ps 34,11; 107,9; 147,6) von dem revolutionären Handeln Gottes, das die bisherigen Verhältnisse zugunsten der Armen und Notleidenden umgekehrt. Das Benedictus, der Lobgesang des Zacharias (1,67–79), handelt von der Erfüllung der Verheißung für Israel und ist eine prophetische Ansage der Bedeutung der beiden Kinder. Der Lobgesang des Simeon, das Nunc Dimittis, weitet den Blick, jedoch ohne den Bezug zu Israel aufzugeben (2,29–32). Das Heil, das der alte Simeon noch sehen darf, hat Gott »vor dem Angesicht aller Völker« bereitet: als »Licht zur Offenbarung für die Heiden und Herrlichkeit für dein Volk Israel«. In seinem Wort an Maria (2,34f) findet sich auch die erste Andeutung einer lukanischen Kreuzestheologie: Das Kind ist bestimmt zu einem »Zeichen, dem widersprochen wird«, und seiner Mutter wird »ein Schwert durch die Seele« dringen, und beides geschieht, »damit die Gedanken aus vielen Herzen offenbar werden«. An der Stellung zum Kreuz entscheidet sich die Offenheit für Gottes gnädigem Handeln. Auf einzigartige Weise zeigt dann die Erzählung von der Geburt Jesu, welche Bedeutung sein Leben und Wirken haben wird (2,1–20): Eingebettet in das Weltgeschehen und hineingestellt in das Geschick von Menschen, über die eine autoritäre Bürokratie bestimmt, geboren in einer Notunterkunft und in eine Futterkrippe gelegt, so beginnt das Leben Jesu. Was hier geschieht, erfahren einfache Leute, Hirten auf dem Feld bei ihren Schafen. »Große Freude« wird angekündigt, und zwar für das ganze Volk. Denn der, der heute geboren wurde, ist der Retter (2,11). Diese Bezeichnung wurde oft von hellenistischen Herrschern gebraucht und umfasst das ganze Spektrum von Hilfe und Rettung aus menschlicher Not. Aber er ist eben auch der Gesalbte, der Messias, der, von dem Israel Befreiung und Erlösung erwartet. Und nicht zuletzt ist er der Herr, der Gottes Herrschaft hier auf Erden verwirklicht. Die Zeichen aber, an denen dieses Kind zu erkennen ist, das sind die Windeln, wie sie jedes Baby trägt, und die Futterkrippe, die seine Ausnahmeexistenz unter den Armen und Unbehausten zeigt. Damit wird auch die Hoffnung Israels erfüllt. Jesus ist der Gesalbte, der Messias bzw. der Christus Gottes (2,11.26; 4,41; 9,20). Freilich, am Leiden Jesu scheiden sich die Geister. Noch unter dem Kreuz fordern ihn seine Gegner auf, sich selbst zu retten, wenn er der Messias sei (23,35.39). Der Auferstandene aber macht seinen Jüngern klar, dass der Messias leiden musste (24,26.46), um seinen Auftrag zu erfüllen. Auffallend ist, dass bei Lukas der Titel kyrios, Herr, schon als Bezeichnung für den irdischen Jesus benutzt wird. (2,11; 7,13.19; 10,1.39.41; 11,39 u. ö.).

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Er, der den Menschen seiner Zeit souverän begegnet, ist kein anderer als der, zu dem sich die spätere Gemeinde als ihrem Herrn bekennt. Dagegen bleibt die Verwendung des Begriffs Menschensohn im Rahmen des sonstigen synoptischen Vorkommens. Ungewöhnlich ist die Bezeichnung Jesu als Retter bzw. Heiland in 2,11.26. Sie bildet eine Brücke zwischen jüdischer und hellenistischer Heilserwartung, in der dieser Titel sehr populär war. Ein programmatischer Beginn Ein wichtiger Teil der Hinführung auf das öffentliche Wirken Jesu ist – ähnlich wie bei Matthäus – die Qualifikation Jesu als Sohn Gottes durch Taufe und Versuchung (3,21–4,13): Es beginnt mit seiner Präsentation bei der Taufe durch die Stimme vom Himmel: »Du bist mein lieber Sohn«. Danach aber folgt – anders als bei Matthäus – der nachgestellte Stammbaum (3,23–38), der über Josef, den juristischen Vater Jesu, bis zu Adam und so zu Gott führt. Der Gottessohn Jesus wird damit auch in die Gottessohnschaft aller Menschen eingefügt! Darauf aber folgt die Erprobung Jesu als Gottes Sohn durch den Teufel, der ihn mit dem Argument: Bist du Gottes Sohn zu eigenmächtigem Handeln verführen will (4,3). Weil Jesus dem widersteht und sich so als der wahre Sohn Gottes erweist, weicht der Teufel von ihm, der Weg ist frei für Jesu heilvolles Wirken. Der Abschnitt 4,14–44 markiert dann programmatisch das Wesen des Wirkens Jesu. Anders als Matthäus und Markus stellt Lukas neben den Beginn seines Wirkens in Kapernaum ein erstes Auftreten Jesu in der Synagoge in Nazareth. Jesus wirkt in der Kraft des Geistes (4,14; vgl. 3,22; 4,1; 10,21). Das wird durch den Text seiner »Antrittspredigt« in Nazareth aus Jes 61,1f bestätigt (4,18): »Der Geist des Herrn ruht auf mir; denn er hat mich gesalbt«. Auch der Inhalt seiner Sendung wird in diesem Wort beschrieben: »Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine frohe Botschaft bringe; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe«(EÜ). Hier finden sich fast alle wichtigen Motive des Wirkens Jesu: Seine Aufgabe ist es, die frohe Botschaft, das Evangelium vom Reich Gottes, zu verkünden (4,43; 8,1; 16,16; vgl. 9,2.6.11.60 u. ö.). Dazu gehört vor allem, den Armen die frohe Botschaft zu bringen, dass ihnen Gottes Reich offensteht. Die lukanische Fassung der ersten Seligpreisung spricht ihnen das ohne Wenn und Aber zu (6,20). Und die wohl ebenso aus der Redenquelle Q stammende Antwort auf die Anfrage des Täufers fasst die Aufzählung der heilenden und Leben spendenden Taten

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Jesu mit den Worten zusammen: »und Armen wird das Evangelium, die frohe Botschaft, verkündet« (7,22). Die Geschichte von einem reichen Mann und dem armen Lazarus, die nur Lukas kennt, unterstreicht die bedingungslose Zusage an die Armen (16,19–31; vgl. 1,52f). Doch die Leute in der Synagoge in Nazareth nehmen Anstoß an Jesu Anspruch und versuchen nach einer heftigen Diskussion, ihn zu töten (4,29). Aber er lässt sich nicht festhalten und geht hinab nach Kapernaum. Auch dort entsetzen sich die Leute über seine Lehre, »denn seine Rede war gewaltig« (4,32). Doch Kapernaum wird zum Gegenbild von Nazareth; hier kann Jesus sein heilendes und rettendes Handeln entfalten. Und von dort zieht Jesus aus und verkündigt in den »Synagogen des jüdischen Landes« das Evangelium vom Reich Gottes (4,43f). Die Ablehnung in Nazareth steht am Anfang, Kapernaum zeigt den Kontrast dazu. Die Prophetie des Simeon beginnt, sich zu erfüllen: »Dieser ist dazu bestimmt, dass viele in Israel fallen und viele aufstehen« (2,34). Das ist ein Stück erzählter Kreuzestheologie bei Lukas! Entscheidende Akzente im Wirken Jesu Der weitere Aufbau des Evangeliums setzt wichtige Akzente. Am Anfang des Wirkens Jesu steht die Berufung des Petrus. Auf die Erfahrung eines wunderbaren Fischzugs reagiert er mit dem Bekenntnis: »Herr, geh weg von mir! Ich bin ein sündiger Mensch« (5,8). Jesus aber antwortet ihm: »Fürchte dich nicht! Von nun an wirst du Menschen fangen« (5,10). Mit der Berufung eines Menschen, der sich als Sünder sieht, wird ein Leitmotiv des Evangeliums aufgegriffen: »Dieser nimmt die Sünder an und isst mit ihnen«, lautet ein Vorwurf seiner Gegner, der für Lukas so etwas wie Markenzeichen und Gütesiegel des Wirkens Jesu ist (15,2; vgl. 7,34). Jesus spricht Menschen Vergebung zu und lädt sie ein, in seine Gemeinschaft zu kommen. So heißt es im Anschluss an die Berufung des Levi ausdrücklich: »Ich bin nicht gekommen, um Gerechte, sondern Sünder zur Umkehr zu rufen« (5,32; in der Vorlage Mk 2,17 fehlt zur Umkehr). Das Thema Umkehr ist Lukas wichtig (vgl. 13,1–5) – aber nicht als Vorleistung, die Menschen zu erbringen haben, um von Gott angenommen zu werden, sondern als Konsequenz der Begegnung mit Gottes Ruf und seiner Nähe im Wirken Jesu. So veranschaulichen die Gleichnisse vom verlorenen Schaf und von der verlorenen Drachme die Freude Gottes »über einen Sünder, der umkehrt«, obwohl auf der Bildebene Schaf und Drachme einfach gefunden werden (15,3–10). Umgekehrt kommt im Gleichnis von dem gütigen Vater und seinen beiden Söhnen der Begriff selbst nicht vor, die Erzählung aber ist für Lukas eine einzigartige Veranschaulichung dessen, was Umkehr bedeutet (15,11–32; ähnlich in der Erzählung vom Pharisäer und Zöllner, 18,9–14; vgl. u. S. 282 f.).

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Dass die Begegnung mit Gottes Güte im Wirken Jesu für die Betroffenen einschneidende und heilvolle Konsequenzen hat, zeigen die Geschichten von der großen Sünderin (7,36–50) und von Jesu Einkehr bei dem Zöllner Zachäus (19,1–10). Letztere schließt mit einem ausgesprochenen Programmwort für das Wirken Jesu: »Der Menschensohn ist gekommen, um zu suchen und zu retten, was verloren ist«. Und eine letzte Ausprägung findet diese Linie in Jesu Zusage des Paradieses an einen der Männer, die mit ihm gekreuzigt wurden (23,43). Einen anderen Akzent setzt die Feldrede (6,20–49). Die Zusammenstellung stammt aus der Logienquelle Q und bildet den Kern der Bergpredigt bei Matthäus. Auch hier stehen Seligpreisungen am Anfang, allerdings nur vier, und zwar als bedingungslose Zusage der Hilfe Gottes für die Armen, Trauernden und Hungernden (6,20–23). Ihnen gegenüber steht die gleiche Zahl an Wehrufen mit einer grundsätzlichen Kritik an den Reichen und Satten (6,24–26). Wir sind diesem Grundzug der Verkündigung Jesu bei Lukas schon in seiner Antrittspredigt in Nazareth begegnet und haben gesehen, wie er sich bei ihm durch das ganze Wirken Jesu hindurchzieht (vgl. 4,18; 7,22; 16,19–31). Der zweite Schwerpunkt der Rede ist – wie in der Bergpredigt – die Vertiefung des Gebots der Nächstenliebe in der Aufforderung zur Feindesliebe (6,27–42). Dabei ist bezeichnend, dass das Wort Jesu, das diese Haltung aus Gottes Wesen und Handeln begründet und bei Matthäus heißt: »Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist« (Mt 5,48), von Lukas in der Fassung zitiert wird: »Seid barmherzig, wie auch euer Vater im Himmel barmherzig ist« (Lk 6,36). Wie der Zusammenhang bei Matthäus zeigt (vgl. Mt 5,45), ist in der Sache dasselbe gemeint, aber es ist typisch, dass Lukas den Begriff barmherzig wählt. Die Erfahrung der umfassenden Barmherzigkeit Gottes befähigt zu umfassender Liebe. Die Beispielerzählung vom barmherzigen Samariter veranschaulicht dann noch einmal auf unvergleichliche Weise, wem das Gebot der Nächstenliebe gilt und wie auch der Fernste zum Nächsten werden kann (10,25–37). Charakteristisch für den Aufbau des Evangeliums ist dann der sog. große Reisebericht (9,51–18,43), in dem Lukas vor allem Material aus der Redenquelle und seinem Sondergut aufnimmt. Den Markusfaden greift er erst ab 18,15 wieder auf. Dabei reiht er die verschiedenen Erzählungen und Jesusworte locker aneinander; ein ordnendes System ist kaum zu erkennen. Aber gerade so entsteht der Eindruck, dass Jesus auf seinem Weg nach Jerusalem auch unterwegs zu den Menschen ist. Lukas zeichnet Jesu Begegnungen mit Menschen in Not sehr liebevoll. Er übernimmt die entsprechenden Erzählungen des Markus und fügt vieles aus der Redenquelle und seinem Sondergut hinzu: eine eigene Version der

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Geschichte des Hauptmanns von Kapernaum (7,1–10; vgl. Mt 8,5–10), die Geschichte von der Witwe in Nain (7,11–17), den ganz speziellen Bericht über Frauen, die Jesus begleiten und unterstützen (8,1–3), die symbolträchtige Erzählung von Maria und Marta (10,38–42) oder die von der Heilung von zehn Aussätzigen (17,11–19). Vor allem aber kann Lukas eine Reihe besonders wirkungsvoller Gleichnisse und Beispielerzählungen bieten, die je auf ihre Art zentrale Themen der Verkündigung Jesu veranschaulichen: die Erzählung vom barmherzigen Samariter (10,30–37), das Gleichnis vom bittenden Freund (11,5–8), seine Version des Gleichnisses vom großen Abendmahl (14,16– 24), das Gleichnis vom verlorenen Sohn (15,11–32) oder die Geschichte vom Pharisäer und Zöllner (18,9–14), aber auch schwierige Texte, sog. »Kontrastgleichnisse«, wie das vom betrügerischen Verwalter (16,1–9) oder vom ungerechten Richter (18,1–8). Anders als Matthäus fasst Lukas das Redenmaterial aus Markus und Q nicht thematisch zu größeren Reden zusammen, sondern bietet es je für sich. Das gibt ihm die Möglichkeit eigene Akzente zu setzen. So finden sich bei ihm zwei Erzählungen von der Aussendung der Jünger: Eine von der Beauftragung der Zwölf nach dem Vorbild von Markus (9,1–6) und eine zweite, bei der 72 Jünger ausgesandt werden (10,1–12). Damit wird sowohl die »amtliche« Seite des Missionsauftrags der Kirche betont als auch die Perspektive dafür geöffnet, dass dies eine Aufgabe vieler Christen ist. Auch die Thematik der Endzeitrede findet sich zwei Mal: Einmal mit dem Material aus Q in 17,20–37 mit dem Schwerpunkt auf der Aussage: »Das Reich Gottes ist mitten unter euch« (17,21) – seid immer für sein endgültiges Hereinbrechen bereit! Und dann in 21,7–36 nach der Vorlage von Mk 13 mit dem Hinweis auf Vorzeichen und Verfolgung, die dem Kommen des Menschensohns vorausgehen werden. Bemerkenswert ist, dass – anders als bei Markus und Matthäus – die Belagerung und Zerstörung Jerusalems ausdrücklich zu diesen Vorzeichen gerechnet wird (21,20). Rettung durch Leben und Sterben Jesu Bei Lukas wird Jesus ausdrücklich als Retter oder Heiland (griech.: s­ o-te-r) bezeichnet (2,11.30). Worin besteht sein rettendes Wirken, welche soteriologischen Aussagen macht Lukas? Man kann diese Frage auf doppelter Ebene beantworten. Einerseits verkörpert das ganze Wirken Jesu die Wahrheit seiner Verkündigung von der Güte und Barmherzigkeit Gottes. In seiner Zuwendung zu Sündern und Zöllnern verwirklicht sich das Entgegenkommen Gottes, das Jesu Gleichnis vom verlorenen Sohn so eindrücklich schildert.

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Andererseits kommt seinem Tod am Kreuz eine besondere Bedeutung zu. Die Treue, mit der Jesus seinen Tod auf sich nimmt, stellt die äußerste Konsequenz dieses Entgegenkommens Gottes dar. Man hat lange gemeint, Lukas messe dem Tod Jesu keine Heilsbedeutung zu, da er nur in der Abendmahlsüberlieferung von der sühnenden Wirkung dieses Todes spricht und dieses Motiv auch in der Apostelgeschichte sehr selten vorkommt (vgl. Apg 20,28). Aber neuere Untersuchungen haben ergeben, dass die Frage des Auferstandenen bei seinem Gespräch mit den Emmausjüngern: »Musste nicht der Christus dies erleiden und in seine Herrlichkeit eingehen?« (24,26) nicht nur auf einen formalen Weissagungsbeweis zielt. Der Hinweis auf die Propheten bezieht sich vielmehr ganz konkret auf die Aussagen vom Not wendenden Leiden des Knechts Gottes in Deuterojesaja. Das ist durch eine Fülle von Anspielungen, besonders in der Passionsgeschichte, vorbereitet. Nicht von ungefähr nennt gerade die lukanische Überlieferung der Abendmahlsworte das für euch sowohl im Brot- als auch im Kelchwort (22,19f), und folgerichtig erkennen die Jünger den auferstandenen Jesus am Brotbrechen während des Mahls (24,30f). Für Lukas ist »der Tod des Knechts ›für euch‹ … das Heilsereignis, welches den Menschen entsühnt und befreit von der ihn bindenden Macht der Sünde und des Todes. Der Kreuzestod Jesu öffnet dem Menschen die Tür zum Reich Gottes und zum Leben mit dem Auferstandenen« (Mittmann-Richert, Sühnetod 312). Das führt zu einer sehr eigenständigen Darstellung des Ostergeschehens, in dessen Mitte der Bericht von Jesu Begegnung mit den Jüngern auf dem Weg nach Emmaus steht, eine der kostbarsten Erzählungen im ganzen Neuen Testament. Denn in dieser Geschichte wird die Entstehung des Osterglaubens als Begegnung mit dem auferstandenen Gekreuzigten geschildert: Die Jünger begegnen ihm im Wort, das die prophetische Botschaft auslegt, und im Mahl, in dem seine Lebenshingabe für andere sichtbar wird. Solche Begegnung wird damit auch für spätere Generationen möglich, denen keine körperlich-realistischen Erscheinungen geschenkt werden, von denen Lukas freilich auch zu berichten weiß (24,39f). Das Ziel von Leben, Leiden und Auferstehen Jesu wird dann noch einmal in 24,46–49 in einem Wort des Auferstandenen mit großer Prägnanz zusammengefasst: »So steht es geschrieben: Der Christus wird leiden und am dritten Tag von den Toten auferstehen und in seinem Namen wird man allen Völkern Umkehr verkünden, damit ihre Sünden vergeben werden. Angefangen in Jerusalem, seid ihr Zeugen dafür« (EÜ). Die Verkündigung der Jüngergemeinde setzt das Heilswerk Gottes im Sterben und Auferstehen Jesu fort. Jesu Einladung zur Heimkehr zu Gott und

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zur Einkehr bei ihm wird durch das Wirken der Gemeinde fortgesetzt, beginnend in Israel, aber dann in der Sendung zu allen Völkern. Davon wird der zweite Teil des Werkes des Lukas, die Apostelgeschichte, berichten. Die Botschaft des Lukasevangeliums Lukas erzählt die Geschichte von Gottes rettendem Handeln im Leben, Sterben und Auferstehen Jesu. In der liebenden Zuwendung und dem Angebot der bedingungslosen Annahme und Gemeinschaft, die Jesus lebt, kommt Gott zu den Menschen. Was Jesus den Menschen bringt, ist die Gewissheit, dass Gott barmherzig ist und sich über jeden und jede freut, die umkehren und sich mit der Schuld und der Last ihres Lebens in seinen Armen bergen. Jesus lebt diese Gewissheit in einer Welt der Verlorenen und Verirrten, aber auch der Wartenden und Hoffenden. Er wird hineingeboren in das Volk Gottes, in dem Menschen auf Gottes Heil warten. Manche nehmen es in Jesu Wirken dankbar an, aber es regt sich auch von Anfang an Widerstand gegen seinen Anspruch, Gottes Verheißung zu erfüllen. Er wird in einer datierbaren geschichtlichen Stunde geboren, hinein in ein Herrschaftssystem, das über die Menschen verfügt und ihnen zugleich Heil und Wohl verspricht. Das ist der Rahmen, in dem Lukas die Erzählung vom Heilshandeln Gottes in Jesus entfaltet. Jesu Wirken selbst wird von Lukas als »Proexistenz im Leben und im Sterben« dargestellt (Ch. Böttrich, Proexistenz 430). Das aber bedeutet mehr, als dass Jesus Geschichten vom lieben Gott erzählt. Seine Verkündigung und sein Handeln ist immer auch Ruf zur Umkehr und zur Annahme von Gottes Einladung zur Heimkehr zu ihm. Für die Wahrheit, dass diese Einladung allen gilt, den Ausgeschlossenen und an den Rand Gedrängten, denen, die sich verirrt haben, und denen, die allzu selbstsicher auf ihrer Position beharren, hat Jesus sein Leben gelassen. Durch sein Wirken entsteht eine neue Gemeinschaft, in der die Armen und an den Rand Gedrängten etwas gelten. Es ist eine Gemeinschaft mit Gott und miteinander. Sie baut nicht auf Ansehen und Status, sondern lebt vom rechtfertigenden Wort Jesu. Darum liegt für Lukas die Zuverlässigkeit der Botschaft, die er aufweisen möchte, nicht allein in der Belastbarkeit der mitgeteilten Fakten, sondern in der Verlässlichkeit dessen, was Jesus über Gottes Zuwendung zu den Menschen verkündet und mit seinem Leben und Sterben gewiss macht. Mit seinem Evangelium leitet Lukas an zu einer Theologie und Praxis eines solidarischen Erbarmens auf der Grundlage und nach dem Vorbild von Gottes Handeln in Jesus Christus. Er hat mit seiner Art des Erzählens Menschen aller Zeiten angesprochen und tut das auch heute noch. Die Botschaft von der alle umfassenden Güte Gottes, die in den Gleichnissen Jesu und seiner Gemeinschaft mit Verachteten und Ausgestoßenen so anschaulich wird, hat ihre Wir-

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kung nie verloren. Übergangen wird freilich oft der Sprengstoff, der in seiner Kritik am Reichtum als Zeichen von Unterdrückung und Ausbeutung liegt. Theologisch verdächtig erscheint manchen auch die Betonung des Rufs Jesu zur Umkehr: Wird hier nicht doch eine Bedingung gestellt, die der Mensch erfüllen muss? Aber für Lukas ist Umkehr nichts anderes als Zeichen dafür, dass Gottes Liebe im Leben eines Menschen angekommen ist und es spürbar und nachhaltig verändert. Die Einladung, das geschehen zu lassen, bleibt wichtig! Die Botschaft der drei ersten Evangelien Im Kanon des Neuen Testaments sind die drei ersten Evangelien nicht besonders hervorgehoben. Aber durch ihre literarische Abhängigkeit voneinander bilden sie doch eine eng zusammengehörende Gruppe. Die Bezeichnung »synoptische Evangelien« benennt ihre strukturelle und inhaltliche Nähe zueinander. Für die Historiker sind sie die wichtigste Quelle für die Frage nach dem Leben und Wirken Jesu. Ihr eigentliches Anliegen aber ist es, die Botschaft von Jesus Christus weiterzugeben, indem sie von seinem Leben und Sterben berichten. Wie wir gesehen haben, tun sie das mit einem je eigenen Profil. Wir werden versuchen, das am Ende des nächsten Abschnitts für alle vier Evangelien noch einmal kurz zu charakterisieren. Hier wollen wir knapp skizzieren, worin die gemeinsame Botschaft dieser drei Evangelien besteht. (1) Zentrum der Verkündigung und des Handelns Jesu ist nach dem Zeugnis der drei ersten Evangelien die unmittelbare Nähe des Reiches Gottes in seiner Person und seinem Wirken. Diese »Nähe« wird zeitlich mit unterschiedlichen Kategorien wiedergegeben. An manchen Stellen wird sie chronologisch verstanden, aber das ist nicht dominant. Worte wie Mk 9,1//Mt 16,28//Lk 9,27; Mt 10,23 werden überliefert, obwohl schon abzusehen war, dass sie wörtlich nicht in Erfüllung gehen würden. Daneben aber steht der Missionsauftrag in Mt 28,18–20, der offensichtlich von einer sich noch länger erstreckenden Zeit der Wirksamkeit der Jünger und Jüngerinnen Jesus ausgeht (»ich bin mit euch alle Tage bis zum Ende der Welt« V. 20 EÜ; vgl. auch Mk 13,10//Mt 24,14). Lukas systematisiert diesen Ansatz dann, indem er bewusst die Vorstellung von einer kommenden Zeit der Kirche aufnimmt und in seiner Apostelgeschichte erzählerisch gestaltet (vgl. Lk 24,47–49; Apg 1,8). Die Vorstellung von der Nähe der Gottesherrschaft wird zu einer grundsätzlichen Aussage zur Gegenwart Gottes in Jesus von Nazareth. (2) Jesu Verkündigung und sein heilendes, befreiendes und menschenfreundliches Handeln bilden eine Einheit. Durch ihn kommen Menschen in Berührung mit dem rettenden Gott. Viele werden geheilt – Zeichen für die kommende Welt Gottes, in der es kein Leid mehr geben

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wird. Das aber sollte Konsequenzen für das Leben der Menschen als Ganzes haben. Die Evangelien setzen hier unterschiedliche Akzente: Das Markusevangelium stellt den Ruf zur Nachfolge in den Mittelpunkt, Matthäus ruft zum grenzenlosen Vertrauen und dem Tun des Willens Gottes auf und für Lukas ist der Ruf zur Umkehr zentral. (3) Jesus spricht zu den Menschen in Gleichnissen. Das Geheimnis der kommenden Herrschaft Gottes soll durch Bilder und Geschichten aus dem Alltag der Menschen anschaulich gemacht werden. In Jesu Gleichnissen wird die göttliche Botschaft ganz menschlich, das WORT auf ganz besondere Weise Fleisch! Und doch verstehen viele die Gleichnisse nicht, weil sie sich nicht dem Anspruch Jesu öffnen. Die »Gleichnistheorie« der Evangelien versucht zu erklären, warum das so ist. (4) Jesus verkündigt sich nicht selbst. In keinem der drei Evangelien spricht Jesus öffentlich über Rang und Würde seiner Person. Und doch bildet er mit seiner Person und seinem Wirken in allen dreien die Mitte der frohen Botschaft, seines Evangeliums. Die geheimnisvolle Selbstbezeichnung Menschensohn, die in allen Evangelien im Zentrum der Verkündigung Jesu steht, wird zum Schlüsselwort für sein Person­ geheimnis. Die anderen christologischen Titel, die in den drei Evangelien in unterschiedlicher Weise eingeführt werden, bringen das auf den Begriff. (5) Jesu Weg ist ein Weg zum Kreuz. In allen Evangelien wird klargestellt, dass sich von Anfang an Widerstand gegen ihn erhob, trotz der hohen Anerkennung und des großen Zulaufs, die die Schilderung der Anfangszeit bestimmen. Die Souveränität, mit der er Gottes Willen auslegte und für eine menschenfreundliche Gesetzesauslegung eintrat, erregte Anstoß. Die Heilsbedeutung seines Sterbens wird aber – abgesehen von der Abendmahlsüberlieferung und Mk 10,45//Mt 20,28 – weniger begrifflich dargelegt, sondern erzählend entfaltet. Auch ohne kommentierende Erläuterung spüren die Leser und Leserinnen: Was hier geschieht, betrifft auch mich. (6) Jesus bleibt nicht allein; vom Anfang seines Wirkens an begleitet ihn eine Gruppe von Schülern und wohl auch Schülerinnen, die Zeugen seiner Verkündigung und seiner Taten werden. Die Berichte über sie beschränken sich aber nicht nur auf die kurze Zeit, in der sie Jesus begleitet haben. In ihrem Verhalten und in Jesu Worten an sie spiegelt sich ansatzweise auch schon Weg und Wesen der künftigen Gemeinde wider. Bei Markus und Lukas ist das vor allem in den Worten über die Kreuzesnachfolge, den Berichten von Rangstreitigkeiten der Jünger und in Teilen der Endzeitrede der Fall (Mk 8,34–38//Mt 16,24–28//Lk 9,23–27; Mk 9,33–37//Mt 18,1–5//Lk 9,46–48; Mk 10,28–31//Mt 19,27–30//Lk 18,28– 30; Mk 10,35–45//Mt 20,20–28; Mk 13,9–13//Mt 24,9–14//Lk 21,12–18).

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Bei Matthäus betrifft das im Grunde alle fünf großen Reden, aber insbesondere die Aussendungs- und Gemeinderede (Kap. 10 und 18) und das rätselhafte Wort an Petrus in 16,18f. (7) In allen drei Evangelien steht am Schluss des Wirkens Jesu und vor seiner Passion ein Ausblick auf das Kommen des Menschensohns zum Gericht und das Ende dieses Weltsystems. In der Mahnung, auf bestimmte Vorzeichen zu achten, liegt freilich eine gewisse Ambivalenz: Sie sind Signale, die aufrufen, wachsam und für Jesu Kommen bereit zu sein. Aber sie bieten keine Anleitung, den Zeitpunkt seiner Ankunft zu berechnen. Die künftige Gemeinde muss wissen: Die endgültige Offenbarung des Menschensohns geschieht durch Verfolgung und Gericht hindurch. Der Ausblick auf die völlige Durchsetzung der Macht und des Willens Gottes begründet keinen billigen Triumphalismus, wohl aber die Hoffnung, dass Gott das letzte Wort haben und allem Leid ein Ende setzen wird. 4. Johannes – der Theologe Jedem aufmerksamen Bibelleser wird sofort klar: Das Johannesevange­ lium setzt ganz eigene Akzente in der Weitergabe der Botschaft Jesu. Das zeigt der Aufbau des Buches ebenso deutlich wie die Art der Erzählung. Vor allem aber bietet Johannes zwei klare Signale, die erklären, mit welchem Ziel dieses Buch geschrieben wurde. Das erste dieser Signale findet sich gleich am Anfang des Evangeliums. In einer Art Prolog nennt der Evangelist Grund und Horizont des Jesusgeschehens (1,1–18). Der Name Jesus fällt zwar erst in V. 17. Aber es ist von vorneherein klar: Er ist gemeint, wenn feierlich vom Wesen und Wirken des Logos gesprochen wird, des Wortes, das schon »im Anfang« bei Gott war und in allem wirkte, was geschaffen wurde. Dieses WORT ist die Verkörperung von Gottes Willen, mit seiner Schöpfung zu kommunizieren. Das trifft freilich meist auf Ablehnung. Doch diejenigen, die ihm in der Person Jesu begegnet sind, bekennen: Und das WORT ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt, und wir haben seine Herrlichkeit geschaut, die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater, voll Gnade und Wahrheit (1,14 EÜ). In der Gestalt Jesu von Nazareth nimmt Gottes Ja zu seiner Schöpfung Fleisch und Blut an, wird Mensch und lebt Gottes Gegenwart in einer gottfeindlichen Welt. In ihm begegnet Gott – als der Gott Israels und zugleich als Schöpfer und Urgrund der ganzen Welt, der immer schon seine Schöpfung als bewusstes und antwortendes Gegenüber suchte. Diejenigen, die sich seinem Wort und Wesen geöffnet haben, bekennen, dass sie in ihm der Herrlichkeit Gottes, d. h. Gottes wahrem Wesen be-

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gegnet sind. Gott zeigt sich in ihm als ein Gegenüber »voll Gnade und Wahrheit«, d. h. ganz zugewandt und völlig verlässlich. Davon will das Evangelium erzählen. Von dieser Zielsetzung spricht das zweite Signal, das am Schluss des vorletzten Kapitels steht, bevor ein Nachtrag noch einmal weitere Informationen bietet. Die Zeichen, von denen das Evangelium berichtet hat, sind aufgeschrieben worden, »damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus [d. h. der Messias] ist, der Sohn Gottes, und dadurch, dass ihr glaubt, Leben habt in seinem Namen« (20,30f ZB). Was der Evangelist vom Wirken Jesu berichtet, soll zum Vertrauen darauf führen, dass Gott in entscheidender Weise durch ihn gehandelt hat. Im glaubenden Vertrauen auf ihn finden Menschen in die Gemeinschaft mit Gott und damit zur Quelle wahren Lebens. Darum spielen die »Zeichen« eine so große Rolle in diesem Evangelium. Sie werden nicht Wunder genannt, sondern Zeichen, weil sie auf die Gegenwart Gottes in Jesus hinweisen (2,11). Dabei bestimmt nicht die Forderung, an Wunder zu glauben, die Erzählung, sondern der Impuls und die Zu-Mutung, sich durch das Berichtete zum Glauben ermutigen zu lassen. Die »Zeichen« sind gedeutete Zeichen. Das zeigt sich bei den ersten beiden Berichten nur ansatzweise (vgl. 2,11; 4,46–54). Aber ab der Heilung des Kranken am Teich Bethesda (Kap. 5) wird erst in den Streitgesprächen, die sich jeweils an die Aktion Jesu anschließen, der wahre Gehalt dessen entfaltet, worauf das Zeichen verweist. Wer sich Jesus und seiner Botschaft öffnet, wer glaubt, wird hineingenommen in die Leben spendende Gemeinschaft mit dem Vater. Das ist die Botschaft der Zeichen Jesu. Die Sendung des Sohnes Was sie bedeutet, wird durch die Ich-Bin-Worte Jesu auf den Punkt gebracht. Mit ihren Bildern und Begriffen, wie Brot, Licht, Hirte, Tür, Weg, Wahrheit, Auferstehung und Leben machen sie deutlich: In Jesus begegnen den Menschen Gott und die Fülle des Lebens, das er schenkt. Schon in 4,13f wird dies mit dem Bild vom lebendigen Wasser eindrücklich dargestellt, ohne dass daraus ein Ich-Bin-Wort wird. Dann aber folgt in immer neuen Bildern und bedeutungsschweren Begriffen die Identifikation Jesu mit dem, was Heil und Leben schenkt, gipfelnd in der Aussage in 14,6: »Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben«. Dabei ist im Johannesevangelium von Anfang an klar, wer Jesus ist. Spätestens in 1,14 dürften alle, die das Evangelium lesen, verstehen, dass mit dem WORT, das Fleisch wurde, Jesus gemeint ist. In 1,17 wird dann der Name Jesus Christus ausdrücklich genannt, und zwar bezeichnender-

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weise im Gegenüber zu Mose. Er, der Heilsmittler des Alten Bundes, brachte das Gesetz als Verbindung zu Gott. In Jesus werden »Gnade und Wahrheit von Gott« irdisch erfahrbar, in ihm begegnet den Menschen die unverstellte Wirklichkeit Gottes. Das Bekenntnis des Täufers zu Jesus als »Lamm Gottes, das die Sünde der Welt wegträgt« (1,29), bringt noch einmal einen neuen Akzent: Durch Jesus bewältigt Gott die Schuldgeschichte der Menschheit. Die folgenden Bekenntnisaussagen der ersten Jünger umfassen die ganze Spannweite dessen, was auf dem Hintergrund alttestamentlicher Verheißungen von Jesus gesagt werden kann: Er ist der Messias, der Gesalbte, der verheißene Friedenskönig (1,41), er ist der, »von dem Mose im Gesetz und die Propheten geschrieben haben« (1,45), der, durch den Gott seinem Volk Heil und Gerechtigkeit bringt, ja, er ist Gottes Sohn, »der König Israels« (1,49), der messianische Erlöser, wie er in Psalm 2 oder 110 beschrieben ist. Und doch ist er niemand anderes als der Mensch »Jesus, Josefs Sohn, aus Nazareth« (1,45). Aber diese Aussagen sind nicht Selbstzweck. Die Christologie steht im Dienst der Soteriologie, der Botschaft von Gottes rettendem Handeln durch Jesus Christus. In ihm begegnen die Menschen dem rettenden Gott: »Wer mich sieht, sieht den Vater«, sagt Jesus (14,9; vgl. 12,45), ja noch mehr: »Ich und der Vater sind eins« (10,30). Doch der Vorwurf, er habe sich zu Gott gemacht (10,33), trifft nicht: In ihm begegnet Gott. Darum ist er wahrhaft der Retter, der Heiland der Welt (4,42), eine Bezeichnung, die vor allem nichtjüdische Heilshoffnungen aufnimmt und im Gegensatz zu den Versprechungen der Herrscherkulte der Zeit steht. Jesus selbst spricht im Johannesevangelium in doppelter Weise von sich. Einerseits nennt er sich wie in den anderen Evangelien häufig Menschensohn. Aber der Begriff ist bei Johannes anders geprägt. Er bezeichnet Jesus als den Menschen, der von Gott kommt und ganz zu Gott gehört. Und in Abwandlung der Worte vom leidenden Menschensohn bei den Synoptikern wird betont, dass der Menschensohn am Kreuz erhöht und verherrlicht werden wird (3,14f). Durch seinen Tod vollendet Jesus Gottes erlösendes Handeln. Die Inkarnation, die Menschwerdung des Wortes, kommt zu ihrem Ziel: die Herrlichkeit der göttlichen »Gnade und Wahrheit« offenbart sich paradoxerweise gerade am Kreuz. Andererseits spricht er sehr häufig von sich als dem Sohn, eine Ausdrucksweise, die in den anderen Evangelien sehr selten ist (Mk 13,32// Mt 24,36; Mt 11,27//Lk 10,22). Sie ist eng mit der Bezeichnung Jesu als Gottes Sohn verbunden, betont aber noch stärker die intensive Handlungseinheit zwischen Gott und Jesus. Dabei ist im Johannesevangelium nicht die biologische Abstammung des Sohnes vom Vater konstitutiv, sondern seine Sendung durch ihn (3,17.34; 5,23.36 u. ö.). Umgekehrt

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wird die Wendung »der Vater, der mich gesandt hat« geradezu zu einer Gottesbezeichnung (4,34; 5,24.30.37f u. ö.). Jesus repräsentiert Gott in dieser Welt: »Wer mich sieht, sieht den, der mich gesandt hat« (12,45) oder knapper: »Wer mich sieht, der sieht den Vater« (14,9). Die »hohe« Christologie des Evangeliums steht ganz im Dienst dessen, was von Gott gesagt werden soll. Die Offenbarung des Vaters und die Realität der Welt Die Schlüsselaussage für die Botschaft des Johannesevangeliums steht in 3,16: »Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben«. Was durch Jesus Christus für die Menschen geschieht, hat seinen Grund in Gottes Liebe zu dieser Welt, die seine Schöpfung ist und bleibt. Der erste Johannesbrief wird dies zu der grundsätzlichen Aussage zusammenfassen: »Gott ist Liebe« (1Joh 4,8.16). Im Evangelium wird das zunächst an der Gestalt und der Geschichte des WORTES, des Logos, gezeigt (1,1–14). In ihm tritt der ewige Gott aus sich selbst heraus, (ent-)äußert sich in der Erschaffung des Alls als seinem Gegenüber und in der Bewegung des WORTES hin zur Schöpfung, um ein bleibendes Miteinander von Gott und Welt zu begründen. Im Grunde beschreibt die Aussage, »dass er seinen einzigen Sohn gab«, denselben Vorgang wie »das WORT wurde Fleisch« (1,14): Im Sohn bzw. im Wort gibt Gott sich hinein in die Begrenzung einer menschlichen Existenz. Eine dritte Variante dieser Aussage stellt das Bekenntnis Johannes des Täufers dar: »Siehe, das ist Gottes Lamm, das die Sünde der Welt wegträgt« (1,29.36). Obwohl wir nicht sicher wissen, auf welches Opferlamm hier angespielt wird, das Passahlamm oder eines der Lämmer, das täglich zur Sühne für Israel geopfert wurde, ist doch klar, was gemeint ist: Der Weg Jesu in den Tod ist Gottes Weg, durch den er die Schuld der Menschen bewältigt und überwindet. Wenn es in 3,16 heißt, dass Gott seinen Sohn »gab«, dann ist damit ganz umfassend gemeint, dass Gott in Jesus gewissermaßen ein Stück von sich in die ihm entfremdete Welt hineingab, um in ihr seine Nähe und seine Liebe zu leben. Aber das heißt auch, dass er ihn in den Tod gab, um in ihm die tiefste Tiefe menschlicher Not mit seiner Gegenwart zu erfüllen. Nicht von ungefähr heißt es parallel zu 3,16 in 3,14f in der für das Johannesevangelium typischen paradoxen Weise: »so muss der Menschensohn [am Kreuz] erhöht werden, auf dass alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben«. Die Herrlichkeit Gottes, sein Gottsein als eine Herrlichkeit »voll Gnade und Wahrheit«, wird nicht nur in den Wundern sichtbar, sondern vor

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allem am Kreuz, wo der Sohn den Vater verherrlicht, indem er ihn durch seinen Gehorsam als den Gott der Liebe erweist. Darum ist Jesus der Retter der Welt (4,42), das Licht der Welt (8,12; 9,5; 12,46), das Brot, das der Welt Leben gibt (6,33.51). Adressat des Handelns Gottes in Jesus ist die Welt. Das ist aus doppeltem Grund bemerkenswert: 1) Damit wird ein Kollektiv, das Ganze der Menschheit, als Adressat des Handelns Gottes genannt, obwohl das Johannesevangelium mit seiner Betonung des Glaubens sehr vom Einzelnen her, also individualistisch, zu denken scheint: »jeder, der glaubt, wird gerettet werden«. Aber Gottes Liebe gilt nicht nur den Einzelnen; sie gilt dem Ganzen seiner Schöpfung. 2) Aber zugleich ist die Welt, der Kosmos, bei Johannes eine gegengöttliche Wirklichkeit. Die Welt, obwohl Schöpfung Gottes, erkannte das WORT nicht (1,10; vgl. 1,5: »die Finsternis hat’s nicht ergriffen«). Darum ergeht das Gericht über die Welt (12,31); sie kann den Geist der Wahrheit nicht empfangen (14,17), obwohl er der Welt die Augen auftun wird (16,8) und auch die Welt erkennen soll, »dass ich den Vater liebe« (14,31; vgl. 17,23). Der Satan ist der Fürst dieser Welt (12,31; 14,30; 16,11). Auch die Jünger leben zwar in der Welt. aber nicht aus oder von der Welt (17,6–16). Das heißt: Die Maßstäbe und Ziele einer Welt, in der Gott nicht an erster Stelle steht, bestimmen nicht ihr Leben und Handeln. Für sie gilt: »In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden« (16,33). Dieser Welt gilt die Liebe Gottes und sein rettendes Handeln und doch muss sie als widergöttliches und Menschen verführendes System überwunden werden! Wir begegnen hier der Spannung zwischen der Betonung des universalen Willen Gottes zu Rettung und Heil für die ganze Menschheit und dem Wesen solchen Heils als Beziehung zu und Gemeinschaft mit Gott, für die nach dem Ja des Menschen, also dem Glauben, gefragt wird. Das Bild der Menschen Wie aber sieht Johannes die Situation der Menschen? Auffällig ist, dass unter den Jüngern und Jüngerinnen mehr Personen auftauchen, deren Verhalten detailliert geschildert wird, als in den anderen Evangelien. Nicht nur Petrus erhält ein eigenes Profil, sondern auch Andreas, Philippus oder Thomas oder auch solche, die nicht zu den Zwölf gehören wie Nathanael und insbesondere Maria Magdalena. Die knappe Charakterisierung der Mutter Jesu in Kap 2 wäre zu nennen, das Charakterbild der Schwestern Maria und Martha in Kap. 11, aber auch die merkwürdige Gestalt des Nikodemus (3,1f; 7,50; 19,39). Nicht, dass wir viel über ihr Leben erfahren würden, aber sie haben ihre eigene Stimme. Auch andere

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Menschen, die Jesus begegnen, werden differenziert gezeichnet: Die Frau am Jakobsbrunnen, der Kranke am Teich Bethesda und vor allem der Blindgeborene haben je ihr eigenes, individuelles Profil. Dagegen ist die Gestalt des »Lieblingsjüngers«, die ab 13,23 (weiter 19,26; 20,2; 21,20) so prominent erscheint und hinter der wohl eine reale historische Person steht, zum Idealbild des rechten Jüngers geworden. Auch die Gegner Jesu werden sehr schablonenhaft als »die Juden« bezeichnet, und es ist völlig klar, dass damit nicht alle jüdischen Menschen gemeint sind, sondern die sehr klischeehaft gezeichnete jüdische Führungsschicht. Das zeigt sich schon daran, dass jüdische Menschen Angst vor »den Juden« haben (7,13; 9,22). Angesichts der schrecklichen Wirkungsgeschichte dieser Typisierung wird man diese Art der Charakterisierung kritisch sehen müssen. Doch worin besteht die Not der Menschen, aus der heraus sie gerettet werden müssen? Warum würden sie verloren gehen, wenn Gott seinen Sohn nicht geschickt hätte? Jesu wunderbare Taten, seine »Zeichen«, sind ein Hinweis darauf, um welche Hilfe es geht. Sie senden eine doppelte Botschaft aus. Einerseits sind sie Hilfe in konkreter Not, zugleich aber Hinweis auf das, was Menschen wirklich brauchen: Heilung von der Krankheit der Sünde, Stillung des Hungers und Dursts nach Leben, bleibendes Leben trotz des Todes. Die Notsituationen der Menschen, die Hilfe erfahren, hängen nicht mit persönlich begangener Sünde zusammen (vgl. 9,2f mit 5,14). Und doch wird der Begriff der Sünde bei Johannes zur zentralen Bezeichnung menschlicher Not. Dabei geht es weniger um einzelnes Fehlverhalten, sondern um die grundsätzliche Entfremdung von Gott, die teilweise offen zutage tritt, aber auch religiös kaschiert sein kann. Sünde ist ein Leben ohne Gott. Sie ist zugleich Macht, die den Menschen festhält, und Tat, die diese Macht immer neu stärkt (Wer »tut, was die Sünde will, ist ein Sklave der Sünde« 8,34 ZB). Für Johannes wird das Verhältnis zu Jesus und zur Gegenwart Gottes in ihm zum Lackmustest dafür, ob Menschen in der Gottferne und -feindschaft verharren wollen oder sich für Gottes Nähe öffnen. Nicht an Jesus zu glauben wird zum Leitsymptom der Sünde (16,8f; vgl. 9,41). »Verloren« sind die Menschen nicht wegen der drohenden Verurteilung in einem zukünftigen Gericht, sondern weil sie schon jetzt von Gott, der Quelle des Lebens, getrennt sind. Denn die Gemeinschaft mit ihm bedeutet Leben, die Trennung von ihm Tod. Wer sich der Gegenwart Gottes in Jesus Christus öffnet, hat jetzt schon wahres, ewiges Leben (3,18–21; 5,24). Möglich wird das durch Gottes Handeln in Jesus, der die Gottestrennung der Menschen durch sein Kommen überwindet. Am Beginn der Wirk-

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samkeit Jesu nennt ihn der Täufer »Gottes Lamm, das die Sünde der Welt wegträgt« (1,29). Was das bedeutet entfaltet Johannes weniger durch eine traditionelle Sühnetheologie. Vergleichbar mit der ehernen Schlange in Num 21,4–9 wird das Kreuz Jesu zum Heils- und Sühnezeichen (3,14f). An Jesu Lebenshingabe wird sichtbar, dass das Licht des Lebens auch in die tiefste Dunkelheit der Sünde und des Todes leuchtet. Entscheidung und Bestimmung Wir haben auf die Spannung, die hier entsteht, schon hingewiesen. Jesus trägt die Sünde der Welt, er ist der Retter der Welt und das Brot Gottes, das der Welt Leben gibt (1,29; 4,42; 6,33). Und doch geht das Heil nicht einfach über der Welt auf, wie Gott seine Sonne über Gerechte und Ungerechte scheinen lässt (Mt 5,45). Gott hat die Welt geliebt, damit jeder, der glaubt, und jede, die glaubt, nicht verloren geht (3,16). Der, der als Brot des Lebens der Welt das Leben gibt, sagt: »Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern, und wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten« (6,35). Das ganze Evangelium ist geschrieben, »damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und dadurch, dass ihr glaubt, Leben habt in seinem Namen« (20,31 ZB). Heil liegt in der existentiellen Gemeinschaft mit Gott. Darum kann es keine Zwangsbeglückung geben! Ziel des Kommens Jesu und Ziel der Erzählung von ihm ist der Glaube, ein Ja zu Gottes Ja in Jesus Christus. »Wer an den Sohn glaubt« (3,36, 6,40.47), bedeutet also nichts anderes als: Wer sich für Gottes liebende Gegenwart in dieser Welt im Kommen und Wirken Jesu öffnet. Darum lädt Jesus die Menschen ein, an ihn zu glauben (3,15–18.36; 5,24; 6,40). Aber gleichzeitig gilt: »Niemand kann zu mir kommen, wenn der Vater, der mich gesandt hat, ihn nicht zieht« (6,44 EÜ; vgl. 6,65; 10,29; 15,16; 17,6–10). Der Glaube ist also Tat des Menschen und bleibt doch Gottes Werk (vgl. 6,29)! Menschen werden zum Glauben gerufen und für ihren Unglauben verantwortlich gemacht (3,36; 16,9), und doch ist, dass sie glauben können, reine Gnade! Die Jünger Jesu und die kommende Kirche Neben dem Matthäusevangelium ist das Johannesevangelium dasjenige der Evangelien, das schon am stärksten auf die Existenz der nachösterlichen Gemeinde vorausblickt. An die Stelle der Endzeitrede, die in den anderen Evangelien vor der Passion Jesu steht, treten die Abschiedsreden (14–16) und das letzte Gebet Jesu für seine Jünger (das »hohepriesterliche Gebet«, 17). Hier bereitet Jesus seine Jünger und Jüngerinnen auf ihre Situation als Gemeinschaft nach Ostern vor, wenn er nicht mehr unter ihnen sein wird.

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Im Zentrum dieser Aussagen steht die Verheißung des Kommens des Geistes, des Parakleten oder Fürsprechers (LÜ: Tröster). Der Geist wird Jesu Wirken und seine Botschaft neu in der Jüngergemeinde vergegenwärtigen und sie befähigen, diese Botschaft weiterzugeben (14,16f). Er wird die Verkündigung für die Gemeinde aktualisieren und ihr helfen, jeweils in ihre Zeit zu sprechen (15,26). Er wird dafür sorgen, dass die Botschaft von Jesus bewahrt wird und die Bedeutung seiner Person im Zentrum bleibt (16,14). Und er wird der Gemeinde beistehen, wenn es darum geht, »die Welt zu überführen« (16,8–11), d. h. den Menschen deutlich zu machen, wie es um sie steht und dass sie ihr Leben verfehlen, wenn sie sich nicht für Gottes Handeln in Jesus Christus öffnen. Es ist eine Gemeinde, die von der Liebe Christi lebt und so zu gegenseitiger Liebe befähigt wird. Darum wird bei Johannes Nächstenliebe als geschwisterliche Liebe konkretisiert (13,34f; 15,12f). Hierarchische Strukturen sind nicht erkennbar. Darum ist unklar, was der Auftrag an Petrus, Jesu »Schafe« zu weiden, für die johanneische Gemeinde konkret bedeutet hat (21,15–17). Im Evangelium erscheint sie als eine Gemeinschaft der Freunde Jesu, die untereinander in freundschaftlicher Liebe verbunden sind. Leben in der Liebe ist nicht Selbstzweck. Ihre Liebe strahlt etwas von der Liebe Gottes und Jesu in eine lieblose Welt hinaus. Diese Gemeinde ist in die Welt gesandt. Im Evangelium wird das mehrfach angekündigt (4,38; 15,16; 17,18) und dann vom Auferstandenen vollzogen: »Wie mich mein Vater gesandt hat, so sende ich euch« (20,21). Bedenkt man die fundamentale Bedeutung der Sendung Jesu im Evangelium, so heißt das nicht mehr und nicht weniger, als dass durch die Gemeinschaft der Jünger und Jüngerinnen Jesu sein Auftrag weitergeführt wird. Ihr Wort kann Menschen zusprechen, dass sie von der Last und aus der Macht der Sünde befreit sind, und an Annahme oder Ablehnung ihrer Botschaft entscheidet sich das Geschick derer, denen sie begegnen. Jesu letztes Gebet fasst noch einmal alles zusammen, was über Wesen und Auftrag der Kirche zu sagen ist. Die Liebe Gottes und Jesu ist der Raum, in dem die Menschen unterschiedlicher Herkunft, aber auch der aufeinander folgenden Generationen zur Einheit zusammenfinden (17,20–23.26). Diese Einheit in Liebe ist das Zeichen für die Gegenwart Gottes und für sein rettendes Handeln in Jesus. Sie wird darum zum Zeugnis für die Welt, durch das sie zum Glauben an Jesus geführt werden wird. Auch wenn im Johannesevangelium gelegentlich vom Jüngsten Tag gesprochen wird (5,25–29; 11,24), ist die eigentlich »endzeitliche« Erwartung, dass durch das Leben und das Zeugnis der Gemeinde, durch ihre Liebe und ihre innere Einheit die gottfeindliche Welt überwunden wird und zum Glauben an Jesus kommt.

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Die Botschaft des Johannesevangeliums Johannes erzählt von der Wirklichkeit der Gegenwart Gottes in dem Menschen Jesus von Nazareth. In ihm kommt Gott in diese Welt. Sein schöpferisches Wort, der ewige Logos, oder – anders gesagt – seine bleibende Zuwendung zu dieser Welt wird in Jesus »Fleisch«, lebt in den Bedingungen einer menschlichen Existenz. Er lebt Gottes Wesen, seine Herrlichkeit, die Größe seiner Liebe unter den Menschen. An ihm wird sichtbar, wie sehr Gott diese Welt liebt. Die Gabe, die Jesus bringt, ist wahres Leben aus der Gegenwart Gottes, ewiges Leben, das schon jetzt im Glauben empfangen wird, die Fülle der Gnade, mit der Gott den Menschen begegnet. Das geschieht für eine Welt, die sich in der Ablehnung Gottes als widergöttliches System gebärdet und doch Adressat der Liebe Gottes bleibt. Es ist eine Welt, die für die Glaubenden zum feindseligen Gegenüber wird und doch Ort ihrer Bewährung ist. Das Johannesevangelium erinnert unübersehbar daran, dass es Jesus darum ging, Gott den Menschen nahezubringen. Was in den anderen Evangelien durch die Verkündigung der hereinbrechenden Gottesherrschaft ausgesagt wird, wird bei Johannes mit der Botschaft vom Kommen Gottes in der Menschwerdung des Sohnes neu formuliert. Wir finden bei ihm eine Vielzahl unterschiedlicher Bekenntnisse zu Jesus. Aber sie weisen alle auf eine grundsätzliche Aussage hin: Jesus ist der Stellvertreter oder besser: der Platzhalter Gottes. Wer ihm begegnet, begegnet dem menschlichen Antlitz Gottes. Sich Gottes Gegenwart in Jesus zu öffnen heißt bei Johannes, an Jesus zu glauben. Es gibt dafür eine Vielfalt paralleler Formulierungen: zu Jesus kommen, ihm nachfolgen, sein Wort bewahren, ihn erkennen und sehen. Sie alle bedeuten, sich mit der ganzen Existenz Gottes Gegenwart in Jesus Christus zuzuwenden, sich ihr anzuvertrauen und zur Grundlage des eigenen Lebens zu machen. Das freilich kann man nicht »machen«. Dass wir unser Ja zu Gottes Ja in Christus sagen können, ist Gottes Geschenk. Es ist seine Liebe, die auch in uns Liebe entzündet. Dieses Ja des Glaubens stellt hinein in die Gemeinschaft Jesu mit dem Vater. Sie schenkt Anteil an wirklichem Leben aus Gott. Heil ist nicht eine jenseitige Existenz nach dem Tod, es ist Leben vor dem Tod, in dem wir schon jetzt unsere göttliche Bestimmung leben. Ewiges Leben ist für Johannes nicht die unbegrenzte Fortsetzung des jetzigen Lebens unter optimalen Bedingungen, sondern ein Leben, das gegründet ist in der Ewigkeit der unbegrenzten Liebe Gottes. Darum ist der Glaube die Tür zum wahren Leben. Am Bild der Gemeinschaft der Jünger und Jüngerinnen Jesu lässt sich ablesen, wie Jesus nach Meinung des Johannes Kirche und Gemeinde gewollt hat. Kirche ist eine Gemeinschaft von Freunden und Freundinnen, die (1) vom Wort Jesu erfüllt und geleitet ist. Dass sie Jesu Wort bewahrt, ist eine der wichtigsten Kennzeichen (8,51; 14,23f). Das bedeutet kein sklavisches Repetieren der überkommenen Worte, sondern die Ausrichtung an ihnen, die immer

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wieder neu nach ihrer Bedeutung für heute fragt und daran ihr Handeln ausrichtet. (2) vom Geist geleitet ist. Geistesgegenwart ist ihr verheißen. Das fordert sie aber zugleich heraus, sich vom Geist leiten und bestimmen zu lassen. (3) im Gespräch mit Gott bleibt. Die Ermutigung zum Gebet und zum Vertrauen auf Erhörung ist ein wichtiges Motiv der Abschiedsreden (14,13f; 15,7; 16,23f). Kirche Jesu Christi ist betende Gemeinde. (4) durch die Liebe geeint ist. Jesu Gebot, einander zu lieben, gründet in der Liebe, mit der er selbst die Seinen geliebt hat (13,34; 17,26). Solche Liebe ist nicht Selbstzweck, sondern Zeugnis für die Welt, »damit die Welt glaubt« (17,21–23). (5) in die Welt gesandt ist. Dabei ist nicht zuerst die missionarische Aktion im Blick, sondern eine missionarische Existenz, in der die in der Gemeinde gelebte Liebe andere zum Vertrauen auf die Liebe Gottes ermutigt. Kirche nach Johannes ist gemeinsam gelebte Liebe. Allerdings fällt ein Schatten auf dieses lichte Bild einer liebenden Gemeinschaft: Die pauschale Identifizierung der Gegner Jesu als »die Juden« und ihre Denunzierung als Kinder des Teufels in 8,44 entspricht nicht dem Gebot der Liebe und hat eine verheerende Nachwirkung gehabt. Hier ist Sachkritik im Namen Jesu nötig. Das Johannesevangelium will hinführen zu einer Theologie der Gegenwart Gottes in Schöpfung, Erlösung und Bewährung. Darum war es lange Zeit in Theologie und Verkündigung das angesehenste Evangelium. Selbst Philosophen schätzten es als das »geistige Evangelium«. Das hat sich geändert. Vielen Christen ist es fremd geworden. Die konfrontative Art der Gespräche Jesu, die steilen Aussagen seiner Selbstvorstellung und die Absolutheit seines Anspruchs auf Wahrheit schreckt viele ab. Aber es bleibt wichtig, sich dieser Herausforderung zu stellen. Für Johannes ist Jesus die einzigartige Verkörperung des Ja Gottes, das seine Liebe zu uns spricht. Darin liegt die Eindeutigkeit Gottes, die Wahrheit, für die Jesus Zeugnis ablegt. Dieser Anspruch sollte nicht eilfertig aufgegeben, sondern so begriffen werden, dass seine anscheinende Exklusivität nicht ausschließend, sondern einladend und überzeugend wirkt. Die Symbolik der Zeichen Jesu zu bedenken, die Sprache seiner Bilder zu entziffern und die tieferen Schichten seiner Gespräche mit Menschen zu ergründen kann uns auch heute die Tür zu einer vertieften und intensiveren Begegnung mit Gott öffnen. Das Johannesevangelium und die drei Briefe des Johannes gehören eng zusammen. Vor allem der erste Johannesbrief nimmt viele Themen des Evangeliums auf und führt sie weiter. Deshalb werden sie auch oft unter der Überschrift »Johanneische Theologie« behandelt. Aber diese vier Schriften haben in der handschriftlichen Überlieferung nie ein Corpus

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Johanneum gebildet. Das Evangelium wurde früh Teil des Evangelienkanons, die Briefe aber wurden erst nach und nach in die Reihe der »Katholischen Briefe« aufgenommen. Wir werden sie daher in diesem Zusammenhang behandeln. Die Offenbarung des Johannes entstammt dagegen  – trotz mancher Berührungen im Wortschatz  – theologisch einem ganz anderen Milieu und stand deshalb immer für sich allein. 5. Das eine Evangelium in vierfacher Gestalt Dass es im Neuen Testament vier Berichte über das Leben und Wirken Jesu gibt, war schon für die alte Kirche nicht selten eine Verlegenheit und wurde zum Angriffspunkt mancher Kritik. Es gab deshalb immer wieder Versuche, mit Hilfe einer Evangelienharmonie dieses Problem zu lösen. Sie fanden teilweise auch viel Anklang. Aber letztlich setzte sich doch die Überzeugung durch, dass die vier Evangelien das Wirken Jesu in vier unterschiedlichen Perspektiven zeigen und daher weniger eine Verlegenheit, sondern vielmehr einen Reichtum darstellen, durch den sich die ganze Fülle der Botschaft entfaltet. Bald wurde der Vergleich mit den vier Himmelsrichtungen aufgegriffen, und die Kennzeichnung der Evangelisten durch die vier Gestalten am Thron Gottes (Offb 4,7) wurde zum Symbol für Ganzheit und umfassenden Horizont dieser vierfachen Darstellung. Auch die Anordnung der Evangelien spiegelt etwas von diesen Überlegungen wider. Alle überlieferten Fassungen des Evangelienkanons beginnen mit Matthäus. Die ersten Worte seines Werkes »Buch des Werdens« wurden als Anspielung auf das erste Buch des Alten Testaments gelesen (vgl. Gen 2,4; 5,1) und daher als passender Anfang für die Sammlung der Schriften des Neuen Bundes gesehen. Es gibt Handschriften bzw. Kanonverzeichnisse, in denen auf Matthäus Johannes folgt. Beide galten als Apostel, an die sich dann Markus und Lukas als »Apostelschüler« anschlossen. Allerdings folgt auch bei dieser Anordnung die Apostelgeschichte nie direkt auf Lukas, sondern zunächst die Paulusbriefe und dann die Apostelgeschichte und die Katholischen Briefe. Durchgesetzt aber hat sich eine andere Reihenfolge, in der die theologischen »Schwergewichte« Matthäus und Johannes den Rahmen bilden, in den Markus und Lukas eingefügt werden. Auch hier entspricht Matthäus der Genesis, vielleicht sogar der ganzen Tora im Sinne eines Gesetzes Christi, während das Johannesevangelium das Pendant zum Deuteronomium bildet. Der Neuformulierung der Offenbarung am Gottesberg entspricht die alternative Darstellung der Jesusgeschichte im Vierten Evangelium. Alle vier Evangelien teilen ein gemeinsames Anliegen. Sie wollen zeigen: Im Leben, Wirken und Geschick Jesu von Nazareth hat Gott in einzig-

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artiger Weise unter den Menschen gehandelt. Die Art seines Wirkens übersteigt menschliche Möglichkeiten und Fähigkeiten und bleibt doch menschliches Handeln unter Menschen. Durch das, was die Evangelisten berichten, sollen Menschen erkennen: In Jesu Leben und Sterben ist Gott am Werk. Auch wenn Matthäus und Lukas Informationen über Jesu Geburt und Kindheit bringen, sind sich alle Evangelien darin einig, dass sie ihren Bericht über die öffentliche Wirksamkeit Jesu mit dem Auftreten des Täufers und der Begegnung Jesu mit ihm beginnen und mit Jesu Weg ans Kreuz und der Erfahrung von Ostern enden lassen. Grundlegend für ihr Berichten ist auch, dass in Jesu Wirken Wort und Tat untrennbar zusammengehören. Dabei sind Jesu Wunder sowohl Hilfe in persönlicher Not als auch Zeichen für eine tieferliegende Wirklichkeit, die hinter Jesu Handeln steht. In den synoptischen Evangelien ist es der Beginn der Herrschaft Gottes, der in Jesu heilendem und befreiendem Handeln erfahrbar wird, bei Johannes die Gegenwart Gottes, das Aufscheinen seiner »Herrlichkeit«, der Manifestation seines Gottseins. Im Blick auf die Inhalte der Verkündigung Jesu scheinen die Differenzen gravierender zu sein. Das gilt vor allem für die Unterschiede zwischen den Synoptikern und dem Johannesevangelium. Aber auch die drei ersten Evangelien setzen unterschiedliche Akzente. Für Markus ist Jesus vor allem der Herold der hereinbrechenden Gottesherrschaft, für Matthäus der Lehrer einer umfassenderen Gerechtigkeit und für Lukas der Heiland der Armen und Retter der Sünder. Das sind freilich keine einander ausschließende Alternativen, sondern Perspektiven des Wirkens Jesu, die sich ergänzen. Theologisch gilt das auch für die Verkündigung Jesu nach dem Johannesevangelium. Als historischer Bericht lässt sich seine Darstellung des Wirkens Jesu an manchen Stellen schwer mit der der Synoptiker harmonisieren. Aber theologisch lässt sich das Reden Jesu über die Bedeutung seiner Person im Vierten Evangelium sehr wohl als Entfaltung und Explikation seines indirekten Selbstzeugnisses in den Synoptikern verstehen. Die Proklamation der rettenden Gegenwart Gottes in seiner Person und seinem Wort spricht aus, was auch die drei ersten Evangelien bezeugen: In und durch Jesus handelt Gott selbst (vgl. besonders Mt 12,28//Lk 11,20). Jesu Wirken stellt Menschen vor eine Entscheidung. Zwar machen alle Evangelien klar, dass Gottes Handeln zum Heil der Menschen Priorität vor aller menschlichen Reaktion hat und dass sein rettendes Wirken bedingungslos gilt. Jesus hilft denen, die Hilfe brauchen, meist ohne nach ihrem Glauben zu fragen. Und doch stellt sich die Frage, wie Menschen darauf reagieren und was Jesu Wirken für ihr Verhältnis zu Gott bedeutet. Für Markus mündet diese Frage in eine Einladung zum Glauben

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und in die Nachfolge Jesu, bei Matthäus in die Mahnung, Jesu Worte nicht nur zu hören, sondern auch zu tun, bei Lukas in den Ruf zur Umkehr und bei Johannes in den dringenden Appell, an Jesus zu glauben und sein Leben ganz Gott anzuvertrauen. In allen Evangelien wird das Liebesgebot als Zusammenfassung des Gesetzes und Maßstab für das Handeln der Christen genannt. Grundlage dafür ist der Bericht des Markus über die Frage nach dem größten Gebot und Jesu Antwort mit dem doppelten Liebesgebot (Mk 12,28–34). Matthäus und Lukas verstärken diese Aussage dadurch, dass sie berichten, wie Jesus das Gebot der Nächstenliebe als Gebot zur Feindesliebe auslegt (Mt 5,44f//Lk 6,27f), bzw. am Beispiel des barmherzigen Samariters zeigen, was es bedeutet, für jemand in Not Nächster zu sein (Lk 10,25– 37). Umgekehrt konkretisiert Johannes das Liebesgebot durch die Notwendigkeit der geschwisterlichen Liebe in der Gemeinde (Joh 13,34). Das sind unterschiedliche Akzentsetzungen, ist aber auch Beispiel dafür, dass diese Unterschiede nicht als sich ausschließende Alternative zu sehen sind. In der Zusammenschau des Zeugnisses der Evangelien ergänzen sie einander; denn zweifellos ist beides nötig, die Liebe zum Fremden, ja zum Feind, und die Sorge für die, die zur Gemeinde gehören (vgl. Gal 6,6). Die Schilderung des Leidens und Sterbens Jesu nimmt bei allen Evangelien eine wichtige Stellung ein. Trotz vieler Unterschiede im Detail weisen die Berichte eine gemeinsame Grundstruktur im Ablauf der Ereignisse auf. Auch bei den Evangelien, die mit ausführlichen Osterberichten enden, ist die Passion Jesu der dramatische Höhepunkt der ganzen Erzählung. Hier häufen sich auch die Anspielungen auf die Vorhersagen der Schrift, und der Kontrast zwischen der Treue Jesu zu seinem Auftrag und dem Verrat des Judas bzw. der Verleugnung des Petrus gibt allen Passionserzählungen ihre menschliche Tiefe. Schon diese Beobachtungen sollten vorsichtig gegenüber der Behauptung machen, der Tod Jesu habe bei dem einen oder anderer Evangelisten keine Heilsbedeutung. Richtig ist, dass es innerhalb der Passionserzählungen kaum offene Hinweise auf die Bedeutung des Geschehens gibt. Das war nach den Leidensansagen Jesu, die von dem »Muss«, d. h. der Heilsnotwendigkeit seines Todes sprechen, auch gar nicht nötig. Auch die Erzählungen vom letzten Mahl Jesu mit seinen Jüngern sind voll solcher Hinweise – in den Deuteworten zu Brot und Kelch bei den Synoptikern (Mk 14,22–24//Mt 26,26–28//Lk 22,19f), in der Fußwaschung bei Johannes (Joh 13). Trotz dieser Gemeinsamkeiten setzt auch hier jeder Evangelist seinen besonderen Akzent: Markus schildert das Drama des Gottessohnes, der die Gottverlassenheit des menschlichen Todes auf sich nimmt. Matthäus

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greift das auf, sieht das Geschehen aber auch im Zusammenhang mit allem unschuldig vergossenen Blut und hält doch fest, dass das Blut Jesu als »Blut des Bundes« »vergossen ist zur Vergebung der Sünden« (26,28). Lukas zeichnet das Bild des Leidens Christi mit den Farben der Überlieferung vom leidenden Gerechten und dem Gottesknecht Deuterojesajas, und Johannes sieht in der Kreuzigung Jesu den Sieg und die Verherrlichung der Liebe Gottes. Zum Kummer aller Historiker weichen die Osterberichte der Evangelien im Blick auf Ort und Ablauf der Ereignisse stark voneinander ab. Aber in ihrer Intention stimmen die Erzählungen doch in einem wesentlichen Punkt überein. Sie wollen einerseits die erfahrbare, ja greifbare Realität der Auferstehungswirklichkeit Jesu zeigen (Mt 28,9f; Lk 24,36–43; Joh 20,24–29) und mit den Berichten von der Auffindung des leeren Grabes festmachen, dass er nicht mehr im Bereich des Todes ist (»Was sucht ihr den Lebenden bei den Toten; er ist nicht hier« Lk 24,5f; Mk 16,6; Mt 28,6; Joh 20,6f). Andererseits wird aber genauso deutlich gesagt, dass er in eine neue Form der Existenz getreten ist bzw. treten wird und nun in der Dimension Gottes lebt (Mt 28,18.20; Lk 24,16.31; Joh 20,17.19; 21,4). Vor allem aber eint eines die unterschiedlichen Osterberichte der Evangelien: Die Begegnung der Jünger und Jüngerinnen mit dem Auferstandenen ist immer damit verbunden, dass sie beauftragt und gesandt werden, in seinem Namen weiter zu wirken. Am bekanntesten ist der sog. Missionsbefehl in Mt 28,19f. Jesus fordert die Jünger auf, sich zu allen Menschen aufzumachen und sie in seine Nachfolge zu rufen (»zu Jüngern zu machen«). Aber auch bei Lukas gipfelt die Begegnung mit dem auferstandenen Herrn in dem Auftrag, in Jesu Namen »unter allen Völkern Umkehr zur Vergebung der Sünden zu verkündigen« (Lk 24,47f; vgl. Apg 1,8). Am grundsätzlichsten aber lautet der Auftrag in Joh 20,21: »Wie mich mein Vater gesandt hat, so sende ich euch«. Die Jüngergemeinde setzt die Sendung Jesu fort! Und auch im Markusevangelium wird im Nachtrag der Auftrag des Auferstandenen, das Evangelium »aller Kreatur« zur verkünden, eindrucksvoll formuliert (16,15–18). Interessanterweise stimmt das auch mit dem überein, was Paulus von seiner Begegnung mit dem auferstandenen Christus berichtet. Auch für sie war der Auftrag, »Gottes Sohn unter den Völkern zu verkünden«, zentral (Gal 1,15f). Dass Jesu Sache und Werk nach seinem Tod weitergeht, gehört zu der gemeinsamen Botschaft der Evangelien, ja des ganzen Neuen Testaments. Dagegen gibt es recht gravierende Unterschiede in der Darstellung der Eschatologie, also dessen, was das Ziel des Handelns Gottes mit dieser Welt ist. Bei Markus finden sich klare Zeugnisse für eine lebendige Naherwartung (Mk 9,1), freilich auch die Warnung vor Endzeitenthusiasmus

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und der Verweis auf eine Zeit menschheitlicher Nöte und schwerer Verfolgung der Christen, bevor das Drama des Endes beginnt (Mk 13). Matthäus übernimmt viele dieser Aussagen, ergänzt sie aber durch eine Reihe eindrücklicher Gleichnisse, die die Notwendigkeit wacher Verantwortung in der Zeit des Wartens betonen (Mt 25). Vor allem aber zeigt der Auftrag, alle Völker in die Nachfolge Jesu zu rufen, und die Zusage des Auferstandenen, »bis zum Ende der Welt« bei den Seinen zu bleiben, dass es noch Zeit geben wird, diesen Auftrag zu erfüllen (Mt 28,18–20). Lukas weitet diesen Ansatz dann programmatisch aus, indem er seinem Evangelium mit der Apostelgeschichte einen Bericht von den Anfängen einer »Zeit der Kirche« hinzufügt. Damit erteilt er jeder zeitlich gefassten Naherwartung eine Absage (Lk 24,47–49; Apg 1,7f). Johannes kennt zwar noch die Vorstellung einer endzeitlichen Totenauferstehung und eines letzten Gerichts (Joh 5,25–29). Grundsätzlich aber vertritt er die Auffassung, dass sich das Gericht schon jetzt in der Scheidung zwischen Glauben und Unglauben ereignet (3,19) und das ewige Leben jetzt, mit dem Glauben an Jesus Christus, beginnt (3,36; 5,24f). Auch bei ihm kann Jesus davon sprechen, dass er wiederkommen werde (14,3.18.28). Aber es bleibt offen, ob dies eine endzeitliche Wiederkunft meint oder das Geschenk des Geistes, der die Jüngergemeinde für eine Existenz in dieser Welt ausrüstet, die zeitlich nicht begrenzt scheint. Mit all dem wird deutlich: Eine »Evangelienharmonie« herzustellen, durch die nicht nur die Berichte von Jesu Wirken harmonisiert, sondern auch die Botschaft der vier Evangelien vereinheitlicht würde, ist weder möglich noch wünschenswert. Es ist wichtig, diese vierfache Perspektive auf die Wirklichkeit der Gegenwart Gottes in Jesus Christus zu haben. Die Botschaft der vier Evangelien – kurzgefasst Matthäus zeigt uns Jesus als Repräsentanten der schenkenden und herausfordernden Gerechtigkeit Gottes. In Jesu An-Leitung zur Erfüllung von Gottes Willen erleben Menschen Lebensleitung durch Gott, sein Erbarmen mit den Verirrten und Verlorenen. Markus nimmt uns hinein in Jesu befreiendes Handeln in der Kraft der anbrechenden Herrschaft Gottes. Dass der, der so handelt, bereit ist, das Dunkel menschlicher Gottverlassenheit auf sich zu nehmen, zeigt, wer er ist: Gottes Sohn, in dem Gott uns rettend nahekommt. Lukas erzählt, wie Jesus als der Heiland der Armen und Freund der Sünder Gottes Güte lebt. Sein Ruf zur Umkehr ist Einladung zur Heimkehr zu Gott, Ermutigung sich in den offenen Armen des Vaters zu bergen. Johannes lässt uns im Menschen Jesus von Nazareth die Gegenwart der Herrlichkeit Gottes sehen. In Jesu Reden und Handeln, seinem Sterben und seiner Auferstehung zeigt sich, wer Gott wirklich ist: ein Gott, der bedingungslos

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liebt. Darum ist Jesus Brot und Hirte, der Leben schenkt und bewahrt, und er ist Weg, Wahrheit und Leben für alle, die sich ihm und seiner Botschaft anvertrauen. So zeigen die vier Evangelien Gottes Handeln in Jesus Christus in vierfacher Perspektive! 6. Fortsetzung folgt: Die Apostelgeschichte Die Apostelgeschichte hat eine Schlüsselposition im Kanon des Neuen Testaments. Ursprünglich war sie von Lukas als zweiter Teil seines Theophilus gewidmeten Gesamtwerks gedacht. Was mit Jesu Wirken begann, wird von den Aposteln weitergeführt. Seine Botschaft und die Nachricht von der heilvollen Bedeutung seines Lebens und Sterbens werden durch die Verkündigung und das Handeln der Apostel in der Kraft des Geistes weitergetragen (Lk 24,47f; Apg 1,8). In ihrer jetzigen Stellung verbindet die Apostelgeschichte die Erzählung von Jesus, die in allen vier Evangelien mit einer Beauftragung und Sendung der Jünger endet, mit der missionarischen Wirksamkeit und Verkündigung der Apostel, die dann in den Briefen entfaltet wird. Dabei wird in den Reden des Petrus und des Paulus auch noch einmal knapp an die Wirksamkeit Jesu erinnert (2,22f; 10,38f; 13,24f). Doch vor allem wird exemplarisch gezeigt, wie die apostolische Verkündigung unter Juden und Heiden ausgesehen haben mag. In vielen alten Handschriften ist die Apostelgeschichte mit den sog. »Katholischen« Briefen verbunden, die die Verkündigung der Jerusalemer Urapostel repräsentieren (s. o. S. 33 f.). Da aber die zweite Hälfte des Buches ganz der Wirksamkeit des Paulus gewidmet ist, hat sich die heutige Anordnung durchgesetzt, bei der die Paulusbriefe darauf folgen. Das ist auch sinnvoll, da damit der äußere Rahmen der Wirksamkeit des Paulus vorgegeben ist. Es birgt freilich auch die Gefahr in sich, die Lektüre der Paulusbriefe zu sehr vom Paulusbild der Apostelgeschichte bestimmen zu lassen. Und zwischen beiden gibt es – wie wir sehen werden – bedeutsame Unterschiede. Die knappe Wiederaufnahme der Widmung an Theophilus in Apg 1,1f knüpft kurz an das Evangelium und insbesondere an die Schilderung der Zeit Jesu mit seinen Jüngern nach der Auferstehung in Lk 24 an. Sie bietet aber keine programmatische Vorschau auf die folgende Erzählung. Die eigentliche Themenangabe folgt in 1,7 f. Auf die Frage der Jünger: »Stellst du in dieser Zeit das Reich für Israel wieder her?« antwortet Jesus mit einer doppelten Korrektur. Fast tadelnd heißt es zunächst: »Euch steht es nicht zu, Zeiten und Fristen zu erfahren, die der Vater in seiner Macht festgesetzt hat.« Dann aber folgt die positive Aussage: »Aber ihr

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werdet Kraft empfangen, wenn der Heilige Geist auf euch herabkommen wird; und ihr werdet meine Zeugen sein in Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien und bis an die Grenzen der Erde« (EÜ). Das ist das Programm der Apostelgeschichte, dargestellt vor allem am Wirken der beiden Protagonisten Petrus und Paulus. Zwar wird die Verbreitung der christlichen Botschaft nicht bis an »die Grenzen der Erde« verfolgt – was am Ende des ersten Jahrhunderts auch kaum möglich gewesen wäre. Aber mit der Ankunft des Paulus in Rom, das nach damaliger Sicht das Zentrum des ganzen Erdkreises darstellte, wird dokumentiert, dass damit eine entscheidende Etappe auf dem Weg zu diesem Ziel erreicht wurde. Die Mission der Apostel Welche Botschaft wollte Lukas mit dem zweiten Teil seines Werkes weitergeben? Sehr vereinfacht gesagt lautet sie: Jesus lebt – Gottes Handeln durch ihn geht weiter. Die frohe Botschaft, die er verkündigt und gelebt hat, wird durch das Wirken der Apostel weitergetragen, und zwar wie bei Jesus mit Worten und Taten. Die Heilungswunder der Apostel spielen deshalb im Bericht des Lukas eine große Rolle. Sie werden von Petrus berichtet (3,1–16; 9,36–42), aber auch von Paulus. Der beansprucht zwar selbst in seinen Briefen, »in der Kraft von Zeichen und Wundern« gewirkt zu haben (Röm 15,19; vgl. 2Kor 12,12), aber berichtet nie davon im Einzelnen. Diese Lücke füllt Lukas mit einer ganzen Reihe von Erzählungen aus (13,11; 14,8–18; 16,16–22; 20,9–12). Aber der Schwerpunkt bei der Schilderung der Mission der Apostel liegt auf ihrer Verkündigung. Im Stil eines antiken Historikers kennzeichnet Lukas ihr Wirken durch das Referat einer ganzen Reihe ihrer Reden. Die meisten von ihnen sind Beispiele ihrer missionarischen Verkündigung. Es gibt auch andere Themen: Die Rede des Stephanus in Kap. 7 stellt im Stil alttestamentlicher Gerichtspredigt die Unheilsgeschichte Israels dar, die Reden des Petrus und Jakobus in Kap. 15 nennen Lösungsvorschläge im innerkirchlichen Konflikt um die Aufnahmebedingungen für Nichtjuden in die Gemeinde, die Abschiedsrede des Paulus in Milet (20,17–35) gibt Anweisungen für den zukünftigen Gemeindeaufbau und in 22,1–22; 24,10–21; 26,2–29 finden sich die Reden zu seiner Verteidigung. Aber das eigentliche Anliegen des Buches zeigen zweifellos die missionarischen Reden. Es zeichnet die hohe Kunst des Lukas aus, wie in ihnen die Anpassung der Verkündigung an unterschiedliche Situationen demonstriert wird, aber zugleich deutlich bleibt, dass es dieselbe Botschaft ist, die an unterschiedliche Adressaten weitergegeben wird. Es sind drei Hauptthemen, die in diesen Reden und auch an anderen Stellen vorkommen, an denen die Botschaft charakterisiert wird:

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1. Die Verkündigung der Auferstehung Jesu. Dass Gott den gekreuzigten Jesus von Nazareth von den Toten auferweckt hat, gehört zu den Kernaussagen, die in so gut wie allen Reden und Schilderungen der Predigt der Apostel genannt werden (2,24.32; 3,15; 4,1 f.10 f.33; 5,31; 10,40; 13,30; 17,3.18.31). In 24,21 behauptet Paulus sogar, dass er im Grunde nur wegen der Verkündigung der Auferstehung der Toten angeklagt sei! Zeugen der Auferweckung Jesu sind die Zwölf; auf ihr Zeugnis stützt sich auch Paulus (vgl. 1,22; 2,32; 3,15; 10,41 mit 13,31). In Reden vor Juden werden auch die Kreuzigung und das schuldhafte Verhalten des Volks erwähnt. Dabei kennt Lukas keine kollektive Anklage gegen »die Juden«. In den Reden vor Jerusalemern heißt es: »den habt ihr getötet« (2,23; 3,15), aber in der Synagoge in Antiochien in Pisidien sagt Paulus, dass es die Einwohner Jerusalems waren, die Pilatus baten, Jesus zu töten (13,28). Von einer Heilsbedeutung seines Todes ist nicht die Rede (doch vgl. 20,28), die Wende zum Heil ereignet sich in der Auferweckung Jesu, durch die Leben und Sterben Jesu als Ganzes zum Heilsgeschehen werden. Das ist das »Evangelium von Jesus«, das auch Philippus dem Kämmerer aus Äthiopien verkündet und für das die Deutung von Jes 53,7f auf Leben und Leiden Jesu eine zentrale Rolle gewinnt (8,32–35). 2. Die Aufforderung, auf die Verkündigung durch Umkehr und den Glauben an Jesus zu antworten. Die Aufforderung, von verkehrten Lebenswegen umzukehren, gehört zum Kernbestand der apostolischen Verkündigung vor Juden und Heiden (2,38; 3,19; 17,30). Zwei Mal nennt Paulus es als Lebensaufgabe, die er erfüllt hat, Juden und Heiden zur Umkehr zu rufen (20,21; 26,20). Konkret bedeutet das für die Juden, sich von ihren »bösen Taten« abzuwenden, und für die Heiden, sich von den nichtigen Göttern loszusagen und sich dem lebendigen Gott zuzuwenden (14,15), oder – allgemeiner – »sich von der Finsternis zum Licht und von der Macht des Satans zu Gott zu bekehren« (26,18) und »sich Gott zuzuwenden und zu tun, was der Umkehr entspricht« (26,20 ZB). Dass zur Umkehr gerufen werden kann und Umkehr möglich wird, beruht auf Gottes Handeln in Jesus Christus. Deshalb bedeutet, sich Gott zuzuwenden, auch »an den Herrn Jesus zu glauben«. (8,12; 10,43; 13,39; 16,30f; 20,21; 26,18). Dem entspricht die Aufforderung, sich »im Namen Jesu taufen« zu lassen (2,38), was freilich meist als fast selbstverständliche Folge des zum Glauben Kommens beschrieben wird (8,12.36; 10,48; 16,15.33). So sehr in all dem zur aktiven Antwort auf die Botschaft aufgerufen wird, bleibt doch klar, dass dies nur Re-Aktion auf Gottes Handeln in Jesus Christus sein kann. So wird nach der unerwarteten Ausgießung des Geistes im Haus des Cornelius dankbar festgestellt: »So hat Gott

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auch den Heiden die Umkehr gegeben, die zum Leben führt« (11,18; vgl. 5,31; 14,27) und von der »Bekehrung« der Lydia heißt es schlicht: »der tat der Herr das Herz auf, sodass sie darauf achthatte, was von Paulus geredet wurde« (16,14). 3. Die Zusage der Vergebung der Sünden, von Rettung und Heil und der Gabe des Geistes für die, die sich der Botschaft öffnen. Am konkretesten wird die Heilszusage in der Verheißung der Vergebung der Sünden für alle, die dem Ruf zur Umkehr folgen (2,38; 5,31; 10,43; 13,38; 26,18). Hier wird die Darstellung Jesu im Evangelium, der gekommen ist, »die Sünder zur Umkehr zu rufen« (Lk 5,32), aufgenommen und weitergeführt. Sehr viel allgemeiner gehalten ist die Zusage, dass die, die an Jesus glauben, gerettet werden (2,21.40; 4,12; 11,14; 15,11; 16,31). Dahinter steht zweifellos der Gedanke an die Rettung vor einer drohenden Verurteilung im letzten Gericht Gottes. Aber der Begriff steht auch ganz allgemein für die Überwindung der tödlichen Gottferne der Menschen (vgl. 2,40: »erretten aus diesem verkehrten Geschlecht«) und für die Geborgenheit des Lebens in der Gemeinschaft mit Gott, also für das Heil des Menschen in umfassenden Sinn (4,12; 13,26.47; 16,17.31). Sehr viel spezieller ist die Verheißung der Gabe des Geistes. Sie steht in der Mitte der Pfingstbotschaft (2,38) und ihre Erfüllung ist dort durch die Ausgießung des Geistes über der Gruppe der Jünger und Jüngerinnen vorweggenommen. Auch in 10,44–48 fällt der Geist auf die Zuhörenden, bevor von deren Reaktion auf die Verkündigung des Petrus berichtet wird – Zeichen für die Annahme der Heiden ohne jede Vorbedingung (11,17; 15,8). Grundsätzlich wird vorausgesetzt, dass Christen bei der Taufe den Geist empfangen (19,2), aber es gibt auch Ausnahmen, bei denen der Geist durch die Handauflegung der Apostel vermittelt wird (8,15–17; 19,6). Insgesamt wird der Geist weniger als statischer Besitz der einzelnen Gläubigen gesehen, sondern als dynamische Kraft in der Gemeinde und in denen, die in ihr Aufgaben haben (s. u.). Dabei kennt Lukas keine Stereotypen in der Form der Zuwendung zum Heil. Da stehen Bericht über Massenbekehrungen neben liebevollen Miniaturen über die Lebenswende Einzelner. Neben spektakulären Ereignissen wie die Geistausgießung im Haus des Cornelius oder die Ereignisse bei der Bekehrung des Gefängnisaufsehers in Philippi stehen Erzählungen von äußerlich ganz unauffälliger innerer Zustimmung zur Botschaft, etwa bei dem Kämmerer aus Äthiopien oder der Purpurhändlerin Lydia. Betont wird immer wieder die Freude, die diese Erfahrung bewirkt (vgl. 8,39: der Kämmerer »zog seine Straße fröhlich«; 16,34: der Gefängnisaufseher »freute sich mit seinem ganzen Haus«) oder die Schaffung einer neuen Gemeinschaft (vgl. 16,15 die Bitte der Lydia). Es fällt jedoch auf, dass die Wende immer sofort erfolgt.

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Eindrücklich ist auch, wie Lukas das Prinzip von Anknüpfung und Widerspruch in den missionarischen Reden darstellt. In den Reden vor Juden knüpfen die Apostel an das Zeugnis der Schriften Israels an. In dem, was mit Jesus Christus geschehen ist, handelt der Gott Israels und erfüllt seine Verheißung, dem Volk einen Retter zu senden. Zugleich aber nehmen sie die Motive der prophetischen Gerichtsrede auf, die zeigt, dass das Volk dem Gericht verfallen und auf Gottes rettendes Handeln angewiesen ist (vgl. 2,17–21.29-36; 3,13.18-26; 13,16–41; vgl. auch 10,43). In den Reden vor Heiden knüpft Paulus daran an, dass sich der wahre Gott in der Schöpfung erkennbar gemacht hat, um dann aufzuzeigen, dass ihn gerade deshalb die Verehrung durch Bilder von Geschöpfen sträflich verfehlt (14,15–17; 17,24–29). Hier wird die Verantwortung vor Gott im Gericht besonders herausgehoben und Jesus als der Richter benannt, auf dessen Urteil alles ankommt (10,42; 17,31). Gemeinsam aber ist all diesen Reden der drängende Ruf zur Umkehr und die Zusage, dass für die, die diesem Ruf folgen, die schuldbelastete Vergangenheit bereinigt werden wird und die Tür für eine heilvolle Gemeinschaft mit Gott offen ist. Eine geistgeleitete Kirche Aber die Apostelgeschichte besteht nicht nur aus den Missionsreden. Sie ist auch keine Missionsschrift im engeren Sinn, sondern hat eine umfassendere Botschaft für die Kirche ihrer Zeit. Sie will zeigen, dass die Ausbreitung des Evangeliums und das Werden der christlichen Kirche und ihrer Gemeinden das Werk Gottes ist und von ihm durch seinen Geist geleitet und gefördert wird. Nicht mehr die Erwartung der baldigen Wiederkunft Jesu steht im Zentrum der Hoffnung, sondern die Perspektive auf eine Zeit der Kirche und den Weg des Evangeliums durch die ganze Welt (1,8). Konstitutiv für diese Entwicklung ist die Gabe des Geistes. Die Verhei­ ßung des Auferstandenen von 1,8 wird an Pfingsten auf eindrucksvolle Weise erfüllt. Und das bedeutet nicht nur, dass die einzelnen Glaubenden vom Geist erfüllt und gestärkt werden, sondern dass die Kirche und ihre Verantwortlichen in ihrem Reden und Tun vom Geist geleitet sind. Immer wieder wird berichtet, wie sie in ihrem Reden und Tun durch den Geist inspiriert und geführt werden (so Petrus 4,8; die ganze Gemeinde 4,31; die Diakone 6,3.5; Stephanus 6,10; 7,55; Philippus 8,39; Paulus 9,17; Cornelius und seine Leute 10,44f; 11,17; der Prophet Agabus 11,28; die Gemeinde in Antiochien 13,2.4; die Apostel in Jerusalem 15,28; Paulus 16,7; 20,22f; 21,4; Apollos 18,25; die Ältesten aus Ephesus 20,28). Angesichts dieser Betonung des Wirkens des Geistes ist erstaunlich, dass die Apostelgeschichte eine sehr hohe Meinung von der Bedeutung des

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Amtes und der Leitung der Kirche durch dazu berufene Leute hat! Der Zwölferkreis muss ergänzt werden, da die Verkündigung der Zwölf die Grundlage für die künftige Arbeit der Kirche ist (1,13–26). Das Bleiben in der »Lehre der Apostel« gehört deshalb zu den vier Wesensmerkmalen der jungen Kirche (2,42). In Samaria wird der Geist den Neubekehrten erst durch die Handauflegung der aus Jerusalem entsandten Apostel geschenkt (8,17), und neue Entwicklungen bedürfen der Zustimmung der Apostel und der Ältesten (11,1–17; 15,1–28). Dass die letzteren eine wichtige Leitungsaufgabe in der örtlichen Gemeinde haben, setzt Lukas voraus. Er geht deshalb auch davon aus, dass Paulus und Barnabas von Anfang an in den Gemeinden Älteste zur Gemeindeleitung eingesetzt haben (14,23; vgl. 20,17.28, wo plötzlich auch die Bezeichnung Bischöfe für die Ältesten auftaucht). Dabei ist Paulus ein gewisser Fremdkörper in diesem System; Lukas nennt ihn nur einmal zusammen mit Barnabas ganz beiläufig Apostel (14,4.14). Aber seine besondere Bedeutung als »dreizehnter Zeuge« (Ch. Burchard) und Pionier der Mission unter den Heiden wird deutlich herausgearbeitet. Lukas dokumentiert auch die Verschiebung der Leitungsvollmacht von den Zwölf, repräsentiert durch Petrus und Johannes (3,1; 4,13; 8,14), zu einer Art Doppelspitze Petrus und Jakobus, dem Bruder Jesu (15,7.13), und dann zur alleinigen Leitung durch Jakobus (21,18). Er kommentiert oder begründet sie aber nicht. Einen Konflikt zwischen Geist und Amt kennt Lukas nicht. Beide wirken harmonisch zusammen. Der Satz im Brief der Apostel an die Gemeinden in Antiochien, Syrien und Kilikien: »Denn der Heilige Geist und wir haben beschlossen« (15,28), den wir nur mit einer gewissen Ironie lesen können, ist ganz ernst gemeint: Die Entscheidungsträger treffen ihre Beschlüsse unter der Leitung des Geistes (vgl. 13,1–3; weiter 14,23; 20,28). Sie lassen sich durch das Wirken des Geistes korrigieren (vgl. die »Bekehrung« des Petrus zur Heidenmission in Kap. 10, die Umstimmung der Jerusalemer Autoritäten in 11,1–17 und die geänderten Reisepläne des Paulus in 16,6). Lukas möchte offensichtlich bei seinen Leserinnen und Leser Vertrauen dafür wecken, dass die Existenz von geordneten Leitungsämtern nicht im Widerspruch zur Leitung durch den Heiligen Geist steht, sondern beide wechselseitig korrigierend und stabilisierend zum Besten der Kirche und ihrer Mission wirken. Dabei werden Konflikte nicht verschwiegen, aber doch immer schnell und im Einvernehmen gelöst (6,1; 11,2f; 15,1f). Allerdings führt dies zu einer gewissen harmonisierenden Tendenz. Während der Bericht des Paulus in Gal 2,11–14 über eine schwierige Auseinandersetzung in Antiochien nahelegt, dass sich Barnabas und Paulus wegen grundsätzlicher Meinungsverschiedenheiten über die Gemeinschaft von Juden- und

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Heidenchristen in gemischten Gemeinden getrennt haben, macht Lukas in 15,37–40 Differenzen wegen einer Personalentscheidung dafür verantwortlich. Auch die Darstellung der Rückkehr des Paulus nach Jerusalem in 21,18–26 erweckt den Eindruck, als würden hier ernsthaftere Probleme bei der Übergabe der Kollekte aus den paulinischen Gemeinden überdeckt. So wirkt auf uns auch die Beschreibung des Lebens der Urgemeinde in Jerusalem in 2,42–47; 4,32–37 idealisierend. Eine Gütergemeinschaft, wie sie hier geschildert wird, war von vorneherein zum Scheitern verurteilt, da nicht die Produktionsmittel vergemeinschaftet wurden, sondern man vom erlösten Kapital lebte. Aber die Idee eines solchen Liebeskommunismus hat in der Geschichte der Kirche immer wieder wichtige Impulse gegeben und geholfen, dass das Nebeneinander von arm und reich in der Gemeinde nie ganz selbstverständlich wurde. Auch die vier Grundelemente des Lebens einer Gemeinde: Lehre der Apostel, gelebte Gemeinschaft, gemeinsame Mahlfeier (»Brotbrechen«) und Gebet (2,42) bieten bis heute Anlass für grundsätzliche Überlegungen über Wesen und Leben einer christlichen Gemeinde. Über das Leben anderer Gemeinden wird wenig berichtet (doch vgl. Antiochien 11,19–30; 13,1–3; Korinth 18,7–11). Im Zentrum steht dabei immer die Ausrichtung auf die Lehre der Apostel, das geistliche Leben und die missionarische Wirkung der Gemeinden. Dass es auch sozialdiakonische Aktivitäten gab, erfahren wir nur nebenbei in 6,1, weil es Schwierigkeiten bei der täglichen Versorgung der Witwen gab, und in 9,39 in der Erzählung über die Arbeit der Tabita. Eine wichtige Rolle in den Berichten des Lukas spielt das Verhältnis zwischen der Mission unter den Juden und den Heiden. Im Blick auf das Judentum zeigt sich durchgehend eine ambivalente Haltung. Die Verwurzelung der Botschaft im Zeugnis des Alten Testaments gehört wie im Evangelium zu den Grundüberzeugungen, die Lukas in der Apostelgeschichte weitergibt. Auch Paulus knüpft mit seiner Verkündigung immer wieder in der Synagoge an. Zu den Stereotypen der Erzählung gehört aber auch die Ablehnung der Botschaft durch die Mehrzahl der jüdischen Zuhörer. Doch Lukas ist wichtig, dass auch viele Juden zum Glauben kommen (vgl. 2,41; 4,4; 6,7; 13,43; 17,11f; 18,8 und selbst noch am Ende in Rom 28,24). Historisch spiegelt sich in diesen Konflikten die Konkurrenz um die Mission unter den sog. Gottesfürchtigen wider, Leuten, die offen für die monotheistische Botschaft des Judentums waren, aber nicht den letzten Schritt zum Übertritt wagten (vgl. 13,43.50; 16,14; 17,4.17). Eines der Hauptanliegen der Apostelgeschichte ist die Verteidigung des Wegs der Mission zu den Heiden. Es beginnt mit der Mission in Samaria

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und der Begegnung mit dem Kämmerer aus Äthiopien, hat einen ersten Schwerpunkt in der »Bekehrung« des Petrus zum Heidenmissionar (Kap. 10) und in den Entscheidungen der Apostel im Blick auf den Verzicht auf die Forderung der Beschneidung für bekehrte Heiden (Kap. 11 und 15). Aber vor allem die dreifache Erzählung von der Berufung des Paulus zum Missionar unter Juden, aber mehr noch für die Heiden (9,15; 22,14 f.21; 26,17 f.23) setzt wichtige Akzente. So wird er als »dreizehnter Zeuge« zur Verkörperung eines spannungsvollen Missionsauftrag. Sein Weg, der ihn immer wieder aus der Synagoge zu den Nichtjuden führt, wird zum Paradigma für den Weg der urchristlichen Mission, der in 28,25–28 eine endgültige Richtungsanweisung bekommt. Möglicherweise zeigt sich hier die judenchristliche Herkunft des Verfassers, der in seinem Herkunftsmilieu um Verständnis für diesen Weg wirbt! Aber auch die Aussage in 28,25–28 »bedeutet nicht, dass Israel künftig von der Verkündigung ausgeschlossen sein wird – die uneingeschränkte Sendung des Evangeliums muss nicht zwangsläufig die Abwendung von Israel mit sich bringen. Aber es bedeutet, dass die Kirche zukünftig mehrheitlich Heidenkirche sein wird – und als solche das endzeitliche Gottesvolk darstellt. Es ist zwar aus dem ursprünglichen Gottesvolk Israel hervorgegangen und wird nach wie vor Juden umfassen, aber sein Charakter hat sich unwiderruflich geändert: Die Kirche ist nicht mehr das um die gläubigen Heiden erweiterte Israel, sondern das von Israel herkommende und gläubige Juden einschließende Gottesvolk der hörenden Heiden« (Gebauer, Apostelgeschichte II, 236). Darauf zielen die Berufung und das ganze Wirken des Paulus. Sein Lebensweg ist aber noch in umfassenderem Sinn beispielhaft für den Weg der christlichen Gemeinde. Wie schon das Martyrium des Stephanus zeigt, müssen die Verkündiger des Evangeliums auch mit heftigem Widerstand rechnen. Aber selbst den drohenden Tod vor Augen bleibt das Ziel und der Sieg gewiss (7,56). So schwankt das Geschick der jungen Gemeinden zwischen großen missionarischen Erfolgen und wachsendem Widerstand. Und so erweist sich auch die letzte Etappe des Wirkens des Paulus als ein spannungsvolles Ineinander von Gefährdung und Bewahrung. Vielleicht verzichtet Lukas deshalb auf einen Bericht über den Märtyrertod des Paulus, um deutlich zu machen: Der Weg des Evangeliums geht auf jeden Fall weiter. Die Botschaft der Apostelgeschichte Lukas erzählt in seinem zweiten Werk, wie Gott sein Handeln in Jesus Christus weiterführt. Er macht klar: Gottes Weg geht weiter. Dieser Weg hat eine trinitarische Struktur. Mit seinem Handeln in der Schöpfung und an Israel hat Gott den Grund gelegt für seine Beziehung zu den Menschen. Die Schriften des Bun-

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des Gottes mit Israel zeigen Gottes Willen, Menschen zu retten, aber auch den Grund für die Gottferne und Schuld der Menschen und die Verheißung seines entscheidenden Handelns durch seinen Sohn und Gesalbten. Sein Leben, Sterben und Auferstehen eröffnet in der »Mitte der Zeit« den Weg der Menschen in seine Gemeinschaft. Alles was dann in der Zeit der Kirche geschieht, das geschieht »im Namen Jesu«, also auf der Grundlage dessen, was Gott durch ihn gezeigt und getan hat. Jetzt aber ist es Gottes Geist, durch den Gott in der Welt und dem Leben der Kirche gegenwärtig ist und aktiv eingreift. Durch die Initiative und Kraft des Geistes und unter seiner Leitung wird das missionarische Wirken der Kirche zum Weg Gottes in diese Welt. Trotz allen Widerstands und vieler Hindernisse darf die Kirche wissen: Gottes Wort ist nicht gebunden (2Tim 2,9). Gott ist und bleibt im Regiment und sein Heiliger Geist führt weiter. Durch sein Wirken erreicht die Botschaft die Herzen der Menschen, sodass viele gerettet werden. Diese Botschaft wird alle Menschen erreichen, auch die Nichtjuden, und zwar gerade, weil so viele Juden sich ihr verweigern und so der Weg frei wird zu den Heiden (28,25–28, vgl. die ähnliche Überlegung in Röm 11,25). Wichtig für die Kirche ist eine klare Struktur mit bevollmächtigten Leitungspersonen, die aber ihrerseits offen bleiben auch für unerwartete Führungen durch Gottes Geist. Lukas macht Mut und schärft den Blick für Gottes Handeln durch kleine und große Wunder. Er erliegt dabei freilich gelegentlich der Gefahr der Harmonisierung. Die Theologie des Paulus ist bei ihm nur in Ansätzen erkennbar, die Rechtfertigung aus Glauben wird z. B. nur einmal in 13,38f erwähnt. Mit seiner Botschaft begründet Lukas eine Theologie der Heilsgeschichte und Mission und motiviert zum Nachdenken über Gottes Wirken in Geschichte und Sendung der Kirche. Seine klare, einfache, aber außerordentlich lebendige Darstellung der Anfänge der Kirche hat immer wieder engagierte Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in Kirche und Gemeinde ermutigt und gestärkt. Ihre Gefahr besteht freilich darin, dass sie zu naiv als Gebrauchsanleitung für erfolgreiche Arbeit in Mission und Gemeinde benutzt wird und dass versucht wird, ihre Schilderungen eins zu eins auf heutiges Gemeindeleben zu übertragen. Das wird scheitern. Aber wo der idealisierende Charakter der Erzählung erkannt und berücksichtigt wird, kann sie wichtige Impulse auch für missionarische und gemeindliche Arbeit heute geben. 7. Theologie in Form von Erzählung – eine kurze Besinnung Mit der Apostelgeschichte verlassen wir den Teil des Neuen Testaments, in dem die Botschaft von Jesus Christus in Form von Erzählungen weitergegeben wird oder – um einen Fachbegriff zu wählen – den Bereich der narrativen Theologie. Es ist wichtig, noch einmal kurz über die grundsätzliche Bedeutung dieser Form theologischer Kommunikation

Theologie in Form von Erzählung

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nachzudenken. Worin liegt die Besonderheit dieser Art der Weitergabe des Evangeliums? Wer erzählt, erzählt Geschichten und erinnert Geschichte, d. h. Erfahrungen und Erlebnisse der Vergangenheit, die die Gegenwart prägen und in die Zukunft weisen. Es geht um Gott in der Geschichte und Gott in Geschichten. Im Erzählen solcher Geschichten liegt der Anspruch, dass Gott in der Wirklichkeit dieser Welt und menschlichen Lebens handelt. Dieser Anspruch wird auf doppelte Weise eingelöst: Es wird erzählt, dass Jesus an einem bestimmten Ort und zu einer datierbaren Zeit gelebt und gewirkt hat. Insofern erzählt das Neue Testament keine Mythen, die nach der scharfsinnigen Definition des Neuplatonikers Sal(l)ust (um 350 n. Chr.) berichten, »was niemals geschah und immer ist« (Über die Götter und den Kosmos, IV, 9). Die Evangelien und die Apostelgeschichte erzählen von dem, was ein für alle Mal von Gott für die Menschen getan wird und deshalb bleibend gilt. Aber das Erzählen des Neuen Testaments ist nicht nur an historisch feststellbaren Fakten ausgerichtet. Gleichnisse erzählen fiktive Geschichten, die dennoch die Wirklichkeit des Handelns Gottes in der realen Welt abbilden. Bei manchen Berichten ist zwar der historische Kern noch erkennbar, aber sie wurden im Erzählen reicher und tiefer ausgestaltet, um deutlich zu machen, was von Gott her gesehen geschehen ist. Es gibt ein erklärendes Erzählen, das über das rein Faktische hinausgeht und doch gerade darin »wahr« ist. Dazu gehört eine weitere Beobachtung: Die Kommunikation des Evangeliums in Form einer Erzählung wird nicht von Begriffen dominiert. Was gesagt werden soll und verstanden werden will, wird durch die Art des Erzählens, die Charakteristik der handelnden Personen, die Schilderung der Handlung und die Schwerpunkte des Berichtens weitergegeben. Erzählungen handeln von Menschen oder  – im Falle mancher Gleichnisse – von Vorgängen im Alltag oder der Natur, die Gottes Handeln unter den Menschen abbilden. Darin liegt eine Chance und ein Problem für die heutige Verkündigung. Die Chance besteht darin, dass uns diese Erzählungen anregen, ihre Botschaft dadurch weiterzugeben, dass wir sie nacherzählen, und nicht, indem wir versuchen, sie auf den Begriff bringen. »Nacherzählen« heißt aber nicht nur, mit eigenen Worten wiederzugeben, wie es damals war, sondern auch zu erzählen, wie das, was von damals berichtet wird, heute geschieht. Das Problem ist freilich, dass unsere heutige Kommunikation, und vor allem die in der Theologie, ganz auf eine handhabbare Begrifflichkeit ausgerichtet ist. Aber  – wie Ulrich Luz feststellt: »Erzählungen sind

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der Feind von Begriffen. Sie sind darum für Dogmatiker subversive Texte.« Darin liegt »eine unglaublich aktuelle theologische, hermeneutische und praktische Herausforderung.« (S. 50f in »Exegese – Ökumenisch engagiert«). Aber es lohnt sich, sich dieser Herausforderung zu stellen. Wer sich dieser Mühe unterzieht, wird feststellen, dass in den Erzählungen des Neuen Testaments eine Fülle von tiefer Reflexion des Glaubens, praktischer Hilfen zur Übersetzung ins Heute und konkreter Anregungen für gegenwärtiges Handeln steckt. Es sind in den letzten Jahren eine Reihe neuer Möglichkeiten, wie etwa Bibliodrama und ähnliche Methoden, gefunden worden, die hier Hilfe bieten. Aber das schließt nicht aus, dass auch dort, wo in Exegese und weiterführender systematischer Arbeit in Dogmatik und Ethik sorgfältig mit Begriffen formuliert wird, die Botschaft neutestamentlichen Erzählens adäquat erfasst wird. Die Notwendigkeit, diesen Spagat zu wagen, ergibt sich nicht zuletzt dadurch, dass der zweite Teil des Neuen Testaments von der theologischen Kommunikation durch Briefe bestimmt ist, für die noch einmal andere Gesetze gelten. II. Die Botschaft von Gottes Handeln in Jesus Christus – Die Paulusbriefe Die Bedeutung des Wirkens des Paulus für die werdende Kirche kann schwerlich überschätzt werden. Allerdings gehen die Bewertungen seiner Rolle weit auseinander. War er Vollender oder Verfälscher der Botschaft Jesu? Hat erst er durch seine Verkündigung gezeigt, worum es in Gottes rettendem Handeln in Jesus Christus wirklich geht und durch die Deutung des Todes Jesu als Sühnopfer dessen tiefste Bedeutung für das Heil aller Menschen ans Licht gebracht? Oder hat er die radikale Utopie Jesu von wahrer Menschlichkeit, Liebe und Gerechtigkeit verfälscht und in ein repressives Heilsdrama verwandelt, in dem ein zürnender Gott nur durch das Opfer seines Sohnes besänftigt werden konnte? Oder sind diese widersprüchlichen Bewertungen seines Wirkens falsche Alternativen? Wir werden das prüfen müssen. Auf jeden Fall wurde Paulus aufgrund seiner brieflichen Hinterlassenschaft zum bedeutendsten Theologen der Urchristenheit. Er stammte aus Tarsus und ist dort im Milieu der jüdischen Diaspora aufgewachsen. Da sein Vater das römische Bürgerrecht hatte, hat er wohl eine solide griechischsprachige Schulbildung erhalten (Apg 22,28). Er scheint jedoch schon als Jugendlicher nach Jerusalem gegangen zu sein. Dort hat er eine rabbinische Schulung genossen und sich der Gruppe der Pharisäer angeschlossen.

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Hier lernte er auch die Jesusleute kennen, deren Lehre er heftig bekämpfte. Dabei scheint er besonders den Kreis griechisch sprechender Jesusjünger um Stephanus ins Visier genommen zu haben, vermutlich weil diese sich kritisch zu Gesetz und Tempelkult äußerten. Mehrmals betont er im Rückblick, dass er »die Gemeinde Gottes« verfolgt habe (1Kor 15,9: Gal 1,13; Phil 3,6), wobei nicht ganz klar ist, welche Maßnahmen er dabei ergriffen hat (Apg 8,1; 9,1f). Doch dieser Weg nahm eine dramatische Wende. Der auferstandene Jesus begegnete ihm in einer Weise, die für ihn völlig klar machte: Der gekreuzigte Jesus von Nazareth war in Wahrheit der Messias Israels und Gottes Sohn. In der Apostelgeschichte finden sich nicht weniger als drei Berichte von dieser Christusvision, von der Paulus auf dem Weg nach Damaskus überrascht wurde (Apg 9,3–9; 22,6–16; 26,12–18). Allerdings weisen diese Berichte im Detail Unterschiede auf, sodass man mit späteren Ausmalungen rechnen muss. In seinen Briefen berichtet Paulus drei Mal ganz kurz von diesem Geschehen, und zwar in drei unterschiedlichen Perspektiven. In 1Kor 15,8– 10 stellt er seine Erfahrung neben die Erscheinungen des Auferstandenen vor den anderen Aposteln und beansprucht, ein – wenn auch in jeder Hinsicht außerordentlicher – Osterzeuge zu sein. In Gal 1,15f steht der Aspekt seiner Berufung zum Verkündiger des Evangeliums von Jesus Christus unter den Heiden im Vordergrund, während er in Phil 3,7–10 die Umwertung aller Werte thematisiert, auf die er bisher sein Leben gebaut hatte. In jedem Fall war die Begegnung mit dem auferstandenen Gekreuzigten für Paulus die entscheidende Lebenswende. Dabei war für ihn von Anfang an klar, dass er von Gott dazu berufen war, Jesus als den Messias Israels und Retter der Welt unter den Nichtjuden, den »Heiden«, zu verkünden. Er berichtet darüber knapp in Gal 1,15–21. Allerdings bleibt für uns manches im Dunkel. War er in den drei Jahren, in denen er sich in »Arabien«, d. h. dem Reich der Nabatäer, aufhielt, schon missionarisch tätig? Sind die vierzehn Jahre in Syrien und Zilizien identisch mit dem, was Apg 13–14 über die sog. erste Missionsreise berichtet? Erst ab Kap. 15 lässt sich die Erzählung der Apostelgeschichte relativ zuverlässig mit den Angaben in den Briefen des Paulus synchronisieren. Den Einschnitt bildet das sog. Apostelkonzil, ein Treffen zwischen den Jerusalemer Autoritäten unter Führung von Petrus, Johannes und Jakobus und den Vertretern der Mission unter Nichtjuden aus Antiochien unter Führung von Barnabas und Paulus im Jahr 48  n. Chr. Paulus berichtet davon in Gal 2,1–10 und Lukas in Apg 15. Die Gemeinde in Antiochien war offensichtlich das Zentrum dieser Bewegung, und nun suchte man eine Übereinkunft, unter welchen Bedingungen man die

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Gläubigen aus den Heiden in die bisher jüdisch geprägten christlichen Gemeinden aufnehmen konnte. Mussten sie Juden werden, was für die Männer bedeutet hätte, sich beschneiden zu lassen, oder genügte der Glaube an Jesus Christus? Dabei ging es wohl nicht nur um die Frage, wie Menschen gerettet werden und zum Heil gelangen können, sondern auch darum, wie Christen jüdischer und nichtjüdischer Herkunft miteinander in einer Gemeinde leben können. Das war aufgrund der Bedeutung jüdischer Speisevorschriften eine schwierig zu lösende Frage, und man hat sich in Jerusalem zunächst wohl nur grundsätzlich darauf verständigt, dass die Heiden, die zum Glauben an Christus gekommen sind, nicht Juden werden müssen. Die Frage, wie sie mit Judenchristen zusammenleben konnten, blieb offen. Das zeigt der Vorfall in Antiochien, von dem Paulus in Gal 2,11–14 berichtet. Auf Intervention von Leuten aus dem Umkreis des Jakobus beschlossen Petrus und die Judenchristen der dortigen Gemeinde, einschließlich des Barnabas, nicht mehr an den gemeinsamen Mahlzeiten mit Heidenchristen teilzunehmen. Das sog. Aposteldekret in Apg 15,26–32 ist wohl erst nachträglich beschlossen worden, um diese Probleme zu lösen. Der Vorfall hatte zur Folge, dass sich Paulus von Barnabas trennte und seine missionarische Arbeit mit anderen Mitarbeitern fortsetzte (s. o. S. 126 zu Apg 15,37–40). Erst aus dieser Periode des Wirkens des Paulus haben wir Aussagen aus erster Hand über seine Theologie. Der früheste Brief des Paulus, den wir kennen, ist der erste Brief an die Gemeinde in Thessalonich. Er stammt aus dieser Zeit, der sog. 2. Missionsreise, und ist vermutlich in das Jahr 50/51 n. Chr. zu datieren. Doch der größte Teil der erhaltenen Korrespondenz des Apostels, die beiden Briefe nach Korinth und die Briefe an die Gemeinden in Galatien, in Philippi und die Christen in Rom, stammt aus einer noch etwas späteren Phase, nämlich aus den Jahren 55 und 56 n. Chr. oder noch etwas später. Die Reihenfolge der paulinischen Briefe in den neutestamentlichen Handschriften und Kanonsverzeichnissen schwankte zunächst. In unseren heutigen Bibelausgaben sind sie ungefähr ihrer Länge nach geordnet. Eine theologische Abfolge ist nicht zu erkennen, obwohl es bedeutsam ist, dass der Römerbrief als gewichtigster Brief am Anfang steht. Wir werden die Briefe zunächst einzeln in der Reihenfolge ihrer vermutlichen Entstehungszeit nach ihrer Botschaft befragen, um nicht vorschnell aus diesen Bauteilen eine Rekonstruktion der Theologie des Paulus zu errichten. Denn diese Briefe sind in sehr unterschiedlichen Situationen geschrieben und zeigen so die Orientierung der Botschaft des Paulus an ihren Adressaten. Charakteristisch für alle Briefe ist, dass es für sie einen klar zu benennenden Anlass gibt. Sie sind also in jedem Fall »echte« Briefe und keine von der Situation unabhängige Lehrschreiben.

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1. Der erste Thessalonicherbrief – Ermutigung für eine junge Gemeinde Paulus hat die Gemeinde in Thessalonich nach seinem Aufenthalt in Philippi im Jahr 49 gegründet (vgl. Apg 17,1–9). Der Brief wurde nicht lange danach geschrieben. Paulus ist inzwischen in Korinth tätig (Apg 18,1–18) und nimmt mit diesem Brief wieder Verbindung mit der Gemeinde auf. Allerdings hatte er schon zuvor, während seines Aufenthalts in Athen (Apg 17,14f), seinen Mitarbeiter Timotheus nach Thessalonich gesandt, um die Gemeinde weiter zu betreuen. Dieser kam mit einem positiven Bericht über die Situation der Gemeinde nach Korinth, hatte aber von dort auch Fragen mitgebracht. Anlass für das Schreiben des Briefs war die Frage: Was geschieht mit den verstorbenen Christen? Vielleicht hatte es in der jungen Gemeinde erste Todesfälle gegeben oder die Frage war beim Nachdenken über den weiteren Weg aufgetaucht. Angesichts der herrschenden Naherwartung der Wiederkunft Jesu war das kein Thema der Anfangsverkündigung gewesen. Paulus aber belässt es nicht bei der Antwort auf diese Frage. Sie ist für ihn Anlass, die Verbindung mit der Gemeinde aufrecht zu halten. Die Erinnerung an die Anfänge des gemeinsamen Weges ist dabei ebenso wichtig wie die Besprechung weiterer Fragen, die in einer jungen Gemeinde auftauchen mögen. Der Brief beginnt mit einer ausführlichen Danksagung für das, was in der Gemeinde geschehen ist. Was Glaube, Liebe und Hoffnung als »Kernelemente« des Christseins dabei bewirkt haben, wird besonders hervorgehoben (1,2–10). Kap. 2 erinnert an den Anfang des Wirkens des Paulus in Thessalonich. Bemerkenswert ist, wie Paulus hier seine missionarische Arbeit beschreibt. »Wie eine Mutter für ihre Kinder sorgt, so waren wir euch zugetan und wollten euch nicht nur am Evangelium Gottes teilhaben lassen, sondern auch an unserem Leben; denn ihr wart uns sehr lieb geworden« (2,7 EÜ). Paulus sieht sich nicht als Vertreter eines frontalen und autoritären Predigtstils, sondern vertritt das, was wir heute »Konvivenz« nennen, eine Weitergabe des Evangeliums durch gemeinsames Leben im Teilen von Freud und Leid, von Fragen des Lebens und Antworten des Glaubens. Paulus ist in Thessalonich noch mit den Spuren der Misshandlungen angekommen, die er in Philippi erlitten hatte (Apg 16,22). Umso größer ist für ihn das Wunder, dass Menschen dort in seinen Worten Gott reden hörten. Er schreibt: »Darum danken wir Gott unablässig dafür, dass ihr das Wort Gottes, das ihr durch unsere Verkündigung empfangen habt, nicht als Menschenwort, sondern – was es in Wahrheit ist – als Gottes Wort angenommen habt« (2,13 EÜ). Die folgende Auseinandersetzung mit dem Widerstand gegen seine Verkündigung von Seiten jüdischer

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Kreise (2,14–16; vgl. Apg 17,1–9) ist für uns heute problematisch und von Paulus selbst in Röm 9–11 deutlich korrigiert worden. Im Grunde sind Kap. 1–3 eine einzige, ausführliche Danksagung dafür, dass die Gemeinde treu zur Sache Jesu steht. Erst mit Kap. 4 legt Paulus dann dar, was Glaube, Liebe und Hoffnung für Leute, die zu Jesus Christus gehören, ganz praktisch bedeuten. Aber er beginnt nicht mit der Antwort auf die Anfrage aus Thessalonich, sondern mit Hinweisen zum Umgang mit den Nächsten. Er stellt das unter das Stichwort »Heiligung«, d. h. einem Leben im Einklang mit dem Willen und Wesen Gottes (4,1–12). Erst in 4,13–17 folgt dann die Antwort auf die Frage nach dem Geschick der Christen, die vor der Wiederkunft Christ sterben. Paulus antwortet zunächst mit einem knappen eschatologischen »Fahrplan« zur Reihenfolge der Endereignisse. Fazit: Die schon bei Jesu Kommen verstorben sind, werden auferweckt werden, und die noch leben, werden mit ihnen entrückt werden und so dem kommenden Christus begegnen Dann aber verlässt Paulus die Vorstellungsebene der endzeitlichen Ereignisse und macht klar, was die Erwartung des kommenden Herrn jetzt bedeutet. Auf den Tag des Herrn zu warten bedeutet, wachsam im Heute zu leben: »Wir aber, die dem Tag gehören, wollen nüchtern sein und uns rüsten mit dem Panzer des Glaubens und der Liebe und mit dem Helm der Hoffnung auf Rettung. Denn Gott hat uns nicht für das Gericht seines Zorns bestimmt, sondern dafür, dass wir durch Jesus Christus, unseren Herrn, die Rettung erlangen. Er ist für uns gestorben, damit wir vereint mit ihm leben, ob wir nun wachen oder schlafen« (5,8–10 EÜ). Die Hoffnung auf die endgültige Rettung und Gemeinschaft mit Jesus Christus ist Grund und Kraftquelle für ein Leben in Verantwortung vor Gott; futurische und präsentische Eschatologie gehören untrennbar zusammen. Die Botschaft des 1. Thessalonicherbriefs Paulus sendet mit diesem Brief eine doppelte Botschaft an die Gemeinde. Die erste ist sehr persönlich und lautet: Wir, Gemeinde und Apostel, bleiben verbunden. Die zweite ist grundsätzlich: Wir sind bleibend mit Christus verbunden. Das wird sich bei seiner Wiederkunft erweisen, gleich ob wir noch am Leben oder schon gestorben sind. Diese Verbindung bestimmt uns schon jetzt: durch ein Leben in der Heiligung, das die Zugehörigkeit zu Gott, der uns zu sich gerufen und geheiligt hat, auch in ganz praktischen Dingen bewährt, und durch ein Leben, das im Licht des kommenden Herrn die gegenwärtige Wirklichkeit klar und nüchtern beurteilt. Glaube, Liebe und Hoffnung sind die Dimensionen, in denen die Verbindung mit Gott und Christus gelebt wird. Die Christen in Thessalonich haben er-

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fahren, was der Glaube bewirkt, was die Liebe schafft und was die Hoffnung erträgt (1,3). Dafür gilt es zu danken. Ziel des Briefes ist es, den Glauben, die Liebe und vor allem die Hoffnung der Gemeinde zu stärken: den Glauben im Vertrauen auf Gottes Wort im menschlichen Wort der Botschaft des Apostels, die Liebe im verantwortlichen Miteinander in Gemeinde und persönlichem Leben, die Hoffnung durch die Ausrichtung auf die zukünftige und gegenwärtige Gemeinschaft mit Gott in Christus durch ein Leben, das wach ist für die Herausforderungen des Tages. Ob der Brief, der in unseren Bibelausgaben als der zweite Brief des Paulus an die Gemeinde in Thessalonich aufgenommen ist, wirklich von Paulus stammt, ist sehr unsicher. Aufgrund des angeblich eigenhändigen Grußes in 2Thess 3,17 möchte man gerne an der Echtheit festhalten. Aber die Unterschiede zum ersten Brief, gerade im Blick auf die Zukunftsaussagen, sind doch sehr tiefgreifend, sodass viele Ausleger diesen Brief für ein nachpaulinisches Schreiben halten, das aus Sicht der späteren Zeit wichtige Korrekturen an den Ausführungen des ersten Briefs vornimmt (s. u. S. 203–205). 2. Der erste Korintherbrief – Leben zwischen Kreuz und Auferstehung Wer wissen will, wie eine urchristliche Gemeinde lebte, wird in diesem Brief fündig. Er gibt uns einen äußerst lebendigen Einblick in das Leben der Gemeinde in Korinth und ihre Beziehung zum Apostel. Paulus schrieb ihn während eines längeren Aufenthalts in Ephesus (Apg 19), vermutlich im Frühjahr 55 n. Chr., also etwa vier Jahre nach der Gründung der Gemeinde (Apg 18,1–18). Anlass für den Brief sind eine Reihe problematischer Entwicklungen. Paulus hat von ihnen durch Gemeindeglieder erfahren, die nach Ephesus gekommen waren (1,11). Es scheint aber auch eine schriftliche Anfrage aus der Gemeinde gegeben zu haben, die von einer kleinen Delegation überbracht wurde (vgl. 7,1; 16,17). Es ging um Cliquenbildungen in der Gemeinde, aber auch um eine enthusiastische Theologie, die teilweise asketische Tendenzen hatte, teilweise aber alles, was den menschlichen Körper anlangte, für unerheblich ansah. Manche hatten Zweifel an der leiblichen Auferstehung. Dagegen schätzten viele die sog. Geistesgaben sehr hoch, ja sahen sie als entscheidenden Beweis für den Besitz des Geistes. Allerdings wissen wir nicht immer genau, was hinter den verschiedenen Problemanzeigen steht. So bleibt unklar, welcher Zusammenhang zwischen der Cliquenbildung und dem gefährlichen Streben nach der »Weisheit des Wortes« (1,17) besteht oder welche genaue Position die

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Leugner einer leiblichen Auferstehung vertraten. Paulus lässt sich nämlich meist nicht auf Details der gegnerischen Position ein, sondern stößt gleich zu den Fragen vor, die er für die tieferen Ursachen der Problematik hält. Dabei zeigt sich im 1. Korintherbrief zum ersten Mal ein wichtiger Zug seiner kirchen- und gemeindeleitenden Tätigkeit: Obwohl er durchaus mit Autorität sprechen kann, begnügt er sich nicht damit, seine Meinung zu dekretieren, sondern begründet sie ausführlich und zwar möglichst von grundsätzlichen Aussagen des Evangeliums aus. Er appelliert auch nicht an örtliche Amtsträger, für Ordnung zu sorgen, sondern stellt die ganze Gemeinde in die Verantwortung. Dadurch werden seine Briefe so umfangreich, aber auch zu den ersten Zeugnissen theologischer Reflexion in der frühen Christenheit. Das verleiht ihnen ihre Bedeutung über die Augenblicksfragen hinaus. So steht mitten in den sehr differenzierten Ausführungen zu der Frage des Götzenopfers (8–10) ein Exkurs über christliche Freiheit und Verantwortung, und in die ausführliche Behandlung der Frage nach den Geistesgaben flicht Paulus eine Meditation über das Wesen der Liebe ein (12–14). So vielfältig die Stellungnahmen des Paulus zu den einzelnen Problemfeldern sind, eines haben sie gemeinsam: Sie werden von der Mitte der paulinischen Botschaft aus getroffen, dem Evangelium von Gottes Handeln im Geschick des gekreuzigten und auferstandenen Christus. Was Christen glauben und hoffen, hat auch Auswirkungen auf ihr persönliches Leben und das Miteinander in der Gemeinde. Umgekehrt heißt das: Wie Christen ihr Zusammenleben in der Gemeinde gestalten und welche Entscheidungen sie für ihr persönliches Verhalten treffen, muss sich an der Botschaft des Evangeliums messen lassen. Die Einheit der Gemeinde ist Ausdruck der Zugehörigkeit zu Christus (1,10–16). Deshalb ist sie unbedingt zu bewahren und nicht durch die Berufung auf geistliche Führungsgestalten aufs Spiel zu setzen. Unterschiedliche Gaben leitender Mitarbeiter dienen unterschiedlichen Aufgaben, die für die Gemeinde wichtig sind und nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen (3,5–23). Fundament der Gemeinde aber ist Christus und zu ihm zu gehören – und durch ihn zu Gott – bleibt entscheidend (3,11.23). Alle theologische Erkenntnis ist auf die Botschaft vom Kreuz gewiesen (1,17–25). Dabei fällt auf, wie stark Paulus den paradoxen Charakter dieses Geschehens betont, das für die Juden zum Fallstrick (»Ärgernis«) wird und für die Nichtjuden (»Griechen«) schlicht Unsinn (»Torheit«) ist. Er verzichtet auf jede rationale Erklärung, etwa durch den Sühnegedanken, sondern setzt auf die Kraft der Botschaft selbst, durch die Gott sich in seinem wahren Wesen offenbart: Es ist die Schwachheit und

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die Torheit der Liebe, die sich am Kreuz zeigen, und deshalb ist Gottes Schwachheit stärker und seine Torheit weiser als menschliche Stärke und Weisheit sind. Darum ist diese Botschaft gerade für Arme, Verachtete und Menschen, die sich als wertlos betrachten, so wichtig. Das zeigt sich an der Zusammensetzung der korinthischen Gemeinde; und auch, dass die Verkündigung des Apostels Glauben fand, obwohl sie ganz unspektakulär war, ist Zeichen für die innere Kraft dieser Botschaft (1,26–2,5). Leben mit Christus ist Leben in Verantwortung, das macht Paulus an verschiedenen Problemen der Gemeinde klar (5–7). Die Frage nach dem Genuss von Götzenopferfleisch zeigt besonders deutlich seine theologischen und seelsorgerlichen Qualitäten (8–10). Ob Christen an heidnischen Opfermahlzeiten teilnehmen oder Fleisch essen dürfen, das von Opfertieren stammt, wurde in der frühen Christenheit viel diskutiert und meistens negativ beantwortet (vgl. Apg 15,29; Offb 2,20). Paulus aber gibt eine differenzierte Antwort: Einerseits stimmt er zu, dass die sog. Götter durch Christus ihre Macht verloren haben, berücksichtigt aber andererseits auch Situationen, in denen Menschen durch ein zu freizügiges Verhalten gefährdet werden können. Das entscheidende Argument ist, dass alles aus der Verbindung mit Christus und in Rücksicht auf den Bruder oder die Schwester, für die Christus gestorben ist, geschehen muss (8,11f; 10,21 f.32). In einem Exkurs behandelt Paulus das Verhältnis von christlicher Freiheit und Verantwortung für andere über die aktuelle Frage hinaus am Beispiel seines eigenen Verhaltens und seines missionarischen Lebensstils (9). Auch die Reaktion des Paulus auf Missstände bei der Feier des Herrenmahls ist ganz von dem Ziel geleitet, dass bei dieser Feier die Vergegenwärtigung der Lebenshingabe Jesu im Mittelpunkt steht und sich die Gestaltung der Mahlfeier daran orientiert (11,17–34). Ein weiterer Höhepunkt der Argumentationskunst des Paulus sind seine Ausführungen zu den Geistesgaben bzw. Charismen (12–14). In Korinth wurden gewisse spektakuläre Gaben, vor allem die sog. Zungenrede, besonders geschätzt. Manche scheinen sogar die Meinung vertreten zu haben, dass nur mit solchen Phänomenen Begabte den Geist besitzen. Paulus teilt die Dankbarkeit für solche besondere Gaben, stellt sie aber hinein in ein organisches Miteinander von ganz unterschiedlichen Aufgaben und Diensten, die alle für eine Gemeinde nötig sind. Das Bild von der Gemeinde als Leib Christi, veranschaulicht das organische Zusammenwirken ganz unterschiedlicher Gaben und Dienste in der Gemeinde. Aber über den reinen Vergleich hinaus beschreibt es die Wirklichkeit der Gegenwart Christi in der Gemeinde: Gerade in ihrer Vielfalt repräsentiert die Gemeinde Christus in dieser Welt (12,12f).

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Mitten in diese Überlegungen hinein stellt Paulus das Hohelied der Liebe (13). Es kommt nicht auf die spektakuläre Perfomance der Verkündigung, nicht auf die Größe des persönlichen Opfers und nicht einmal auf die Stärke des Glaubens an, sondern auf die Liebe, also darauf, dass es nicht um Selbstdarstellung geht, sondern um Leben für andere. Von daher wird dann doch die prophetische Rede höher bewertet als die Zungenrede. Kriterium für das, was in der Gemeinde hilfreich ist, ist nicht, dass es einen selbst erbaut, sondern dass es auch für Außenstehende verständlich ist (14). Die Auseinandersetzung mit der Ablehnung einer leiblichen Auferstehung der Toten hat sich Paulus für den Schluss aufgehoben (15). Darauf kommt für ihn alles an. Dabei argumentiert er zunächst mit dem unauflöslichen Zusammenhang von Auferstehung der Toten mit der Wirklichkeit der Auferstehung Jesu. Sie ist grundlegend für Glaube und Hoffnung und für sie gibt es verlässliche Zeugen. Aber seine Argumentation dient nicht einfach der Durchsetzung der im pharisäischen Judentum beheimateten Auffassung von einer leiblichen Auferstehung (vgl. Mk 12,18–27; Apg 24,10–21). Paulus relativiert die gängige Vorstellung von einer Wiederherstellung des irdischen Leibes (1Kor 15,50: »Fleisch und Blut können das Reich Gottes nicht erben«). Es geht um die alles umgreifende Wirklichkeit des Handelns Gottes. Durch die Auferstehung Jesu ist die Macht des Todes durchbrochen und wird am Ende ganz besiegt sein, wenn Gott »alles in allem« sein wird (1Kor 15,20–28). Darum werden die, die zu Christus gehören, mit allem, was ihr Leben ausmacht, vor Gott treten und zu einer neuen Existenz verwandelt werden. Es gibt im 1. Korintherbrief auch Argumentationen, die für uns problematisch sind. Die Art der Bestrafung eines Mannes, der mit der Frau seines Vaters zusammenlebt, in 5,1–5 befremdet uns, und die Begründung der Vorschrift, dass Frauen im Gottesdienst eine Kopfbedeckung oder einen Schleier tragen müssen, in 11,1–16 widerspricht vielem, was Paulus an anderer Stelle sagt (vgl. Gal 3,28). Auch das angebliche Schweigegebot für Frauen in 14,33f steht im Widerspruch zu 11,5 und dem, was Paulus an anderer Stelle über die Rolle von Frauen in der Gemeinde sagt (vgl. Röm 16), und ist vielleicht ein späterer Einschub. Auch ein Apostel muss sich an seiner eigenen Botschaft messen lassen. Die Botschaft des 1. Korintherbriefs Die Botschaft des Paulus ist klar: Christen leben im Zeichen des Kreuzes und in der Gewissheit der Auferstehung. Das aber prägt auch ihr Verhalten in Gemeinde und Welt. Ziel des Briefs ist es, die Christen in Korinth anzuleiten, ihr Christsein in Verantwortung vor Christus und ihren Nächsten zu leben. Das gilt für das Gespräch

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über theologische Erkenntnis wie für das Miteinander in der Gemeinde, für das Verhalten in Rechtsstreitigkeiten wie im Verhältnis zu heidnischen Kulten und für die Gestaltung der Zusammenkünfte der Gemeinde. Eindrücklich ist, dass Paulus dabei jede(n) Einzelne(n) anspricht, aber immer als Glied der Gemeinschaft. Gemeinde und Kirche sind für ihn keine Institutionen, die dem Einzelnen gegenüberstehen. Christen existieren immer als Gemeinschaft. Vorzeichen für alle Aussagen des Paulus ist die Zu-Mutung, Gott und sein Handeln im Zeichen des Kreuzes zu erkennen. Der Gott, der im Todesgeschick Jesu scheinbar ohnmächtig und unsinnig handelt, zeigt gerade so die Macht und die Weisheit seiner Liebe. Deshalb dürfen vor allem die Menschen, die in der Gesellschaft nichts gelten, wissen, dass Gottes Ruf ihnen gilt. Für alle aber, die Begabten und weniger Begabten, für die Verachteten und für die, die vor den Menschen etwas gelten, ist entscheidend, was Gott in Christus für sie getan hat: Darum soll sich niemand auf die eigene Weisheit, Gerechtigkeit oder Heiligkeit berufen, sondern auf Gottes Handeln in Jesus Christus, den Grund für wahre Weisheit, Gerechtigkeit, Heiligkeit und Erlösung (1,30). Hier zeigt sich, wie für Paulus die Botschaft von Gottes Handeln am Kreuz Christi und die Rechtfertigungsbotschaft ineinandergreifen. Das ist auch die Grundlage für alle weiteren Aussagen. Auch die richtigste theologische Erkenntnis darf nicht gegen andere ausgespielt werden. Die Rücksicht auf die Schwester oder den Bruder, für die Christus gestorben ist, ist wichtiger als das Ausleben der eigenen Freiheit. Unterschiedliche geistliche Begabungen werden nicht um der eigenen Selbstverwirklichung willen ohne Rücksicht auf andere genutzt, sondern stehen im Dienst des Ganzen, der Vergegenwärtigung der Liebe Christi. So lebt Gemeinde als Leib Christi. Nicht wie spektakulär eine Gabe erscheint, ist entscheidend, sondern dass ein Mensch zum Werkzeug der Liebe Gottes wird. Das »Hohelied der Liebe« (13) macht das in aller Deutlichkeit klar: Vor Gott zählt nicht, wie eindrucksvoll die religiösen oder auch humanitären Leistungen der Einzelnen sind, sondern ob sie vom Geist der Liebe inspiriert und getragen sind. 3. Der zweite Korintherbrief – ein angefochtener Apostel Wer Paulus ganz persönlich kennenlernen möchte, muss den zweiten Korintherbrief lesen. Das ist sicher der persönlichste Brief des Apostels. Er ist etwa ein Jahr nach dem ersten geschrieben worden. Paulus hatte die Reise nach Korinth, die er in 1Kor 16,5f angekündigt hatte, verschieben bzw. umplanen müssen. Aber aufgrund von schwierigen Nachrichten aus der Gemeinde scheint er kurzfristig von Ephesus nach Korinth gereist zu sein, um nach dem Rechten zu sehen. Bei diesem Besuch kam es zu einem persönlichen Angriff auf ihn, der ihn zur sofortigen Abreise veranlasste (2,1.5). Wieder zurück schrieb er einen scharfen Brief

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an die Gemeinde mit der Aufforderung, die Person, die ihn angegriffen hatte, zurechtzuweisen (2,6f; vgl. 7,12). Mit diesem Brief schickt er seinen engen Mitarbeiter Titus nach Korinth und beauftragt ihn, die Sache zu bereinigen. Er wartet aber nicht auf ihn, sondern reist ihm entgegen, zunächst bis Troas und von dort weiter nach Mazedonien (2,12f). Dort trifft Titus ein und berichtet von der Bereitschaft der Korinther, sich mit Paulus zu versöhnen (7,6f). In dieser Situation schreibt Paulus den zweiten Korintherbrief. Anlass für den Brief war also ein schwerer Konflikt zwischen dem Apostel und seiner Gemeinde. Auslöser waren Angriffe auf die Legitimität seines apostolischen Auftrags und die Art seiner Verkündigung, vielleicht auch auf deren Inhalt. Inzwischen hatten sich andere urchristliche »Apostel« in Korinth eingefunden, die sich mit kritischen Stimmen in der Gemeinde verbündeten und Paulus vorwarfen, seinem Dienst und seiner Verkündigung mangele es an Vollmacht und aufweisbarem Erfolg, aber auch an der Legitimierung durch die wahren Apostel (vgl. 3,1–6; 10,1–10; 11,6f). Diese Leute beeindruckten die Gemeinde durch eine besonders geistgewirkte Auslegung der Tora, während sie Paulus vorwarfen, seine Verkündigung sei »verhüllt« und habe nicht die nötige Offenbarungsqualität (3,4–18; 4,3). Paulus verteidigt sich auf unterschiedlichen Ebenen. Er korrigiert Missverständnisse und weist persönliche Vorwürfe zurück. Vor allem aber will er grundsätzliche Fragen klären: Worauf kommt es in der Gemeinde wirklich an, wie sind »Erfolg« oder »Misserfolg« der Verkündigung zu werten und was begründet echte Autorität in der Kirche? Und das führt zu der Frage: Was bedeutet die Botschaft vom Kreuz ganz persönlich für den Verkündiger? Das ist das eigentliche Thema, das sich wie ein roter Faden durch den Brief hindurchzieht. Der Apostel gibt der Gemeinde einen tiefen Einblick in die Art und Weise, wie er seine Theologie des Kreuzes, die theologia crucis, existentiell erfahren und durchlitten hat. Allerdings steht gerade in diesem Brief der Satz: »Denn wir verkündigen nicht uns selbst, sondern Jesus Christus als den Herrn« (4,5). Wenn der Apostel und seine Mitarbeiter in der Verkündigung vorkommen, dann nur »als eure Sklaven um Jesu willen«. Was er von sich sagt, kann also nur dienende Funktion haben. Aber er muss doch davon sprechen, muss er sich doch mit dem Vorwurf auseinandersetzen, seine Verkündigung habe nicht genügend Leuchtkraft und Durchsetzungsvermögen (3,1–4, 6). Paulus aber ist überzeugt, dass in seiner Verkündigung Gottes Schöpfungslicht aufleuchtet: »Denn Gott, der sprach: Aus Finsternis soll Licht aufleuchten, der ist in unseren Herzen aufgeleuchtet, um die Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes im Angesicht Jesu Christi ans Licht zu bringen« (4,6). Doch die Erleuchtung, die die apostolische Verkündigung schenkt,

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stammt allein von Gott. Darum modifiziert er diese Aussage sogleich: »Wir haben aber diesen Schatz in tönernen (LÜ: irdenen) Gefäßen, damit das Übermaß an Kraft Gott gehört und nicht von uns kommt« (4,7). Und um das zu illustrieren, spricht der Apostel in dem Brief doch sehr viel von sich selbst. Er möchte dem Missverständnis wehren, das, was seine Botschaft in den Menschen bewirkt, sei seiner eigenen Kraft zu verdanken. Dass der Apostel also immer wieder schwierige Situation durchleiden und durchstehen muss, ist kein Argument gegen die Qualität seiner Verkündigung, sondern zeigt gerade umgekehrt, wie sehr sein Leben und Wirken im Zeichen des gekreuzigten und auferstandenen Jesus steht: »Wir sind in allem bedrängt, aber nicht erdrückt, ratlos, aber nicht verzweifelt, verfolgt, aber nicht im Stich gelassen, zu Boden geworfen, aber nicht am Boden zerstört, stets tragen wir das Sterben Jesu an unserem Leib umher, damit auch das Leben Jesu an unserem Leib offenbar werde« (4,8–10). Diese Thematik bestimmt den ganzen Brief. Schon am Anfang klingt sie an. Paulus erzählt von einer lebensbedrohlichen Situation, in der er sich in Ephesus befand: »Denn im Übermaß, über unsere Kraft hinaus, mussten wir Schweres ertragen, sodass wir sogar am Leben verzweifelten« (1,8f). Aber dann ist ihm klar geworden, welche Bedeutung diese Erfahrung für ihn hatte: Das geschah, »damit wir nicht mehr auf uns selbst unser Vertrauen setzen, sondern auf Gott, der die Toten auferweckt«. Am schärfsten erscheint diese Paradoxie gegen Ende des Briefs. Paulus lässt sich zunächst auf einen Vergleich mit seinen Konkurrenten ein, obwohl das eigentlich unsinnig ist (11,16–22). Auch er beansprucht, »die Zeichen eines Apostels« in Korinth gewirkt zu haben, »und zwar mit Zeichen und Wundern und Machttaten« (12,12). Aber er nennt keine konkreten Beispiele dafür. Im Gegenteil: Er schildert, wie er seine missionarische Arbeit unter großen Entbehrungen tut (11,23–33). Er deutet an, dass er sich auch auf ekstatische Erlebnisse und besondere Offenbarungen berufen könnte (12,1–6), und spricht dann doch von seinem »Pfahl im Fleisch«, einer schmerzhaften Krankheit, um deren Heilung er Christus gebeten hat (12,7). Aber von ihm bekommt er die Antwort: »Meine Gnade genügt dir, denn die Kraft wird in Schwachheit vollendet.« Und so folgt für ihn daraus: »Am liebsten will ich mich also noch mehr meiner Schwachheiten rühmen, damit die Kraft Christi in mir wohne. Deshalb sage ich Ja zu Schwachheiten, zu Misshandlungen, zu Notlagen, zu Verfolgungen und Ängsten um Christi willen, denn wenn ich schwach bin, dann bin ich stark« (12,9f). Paulus ist davon überzeugt, dass die wirkliche Vollmacht eines Zeugen Jesu aus der Kraft der Botschaft vom Kreuz stammt. Das werden auch die Korinther in der Begegnung mit ihm spüren: Denn Jesus »wurde

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zwar aus Schwachheit gekreuzigt, aber lebt aus Gottes Kraft. Denn auch wir sind schwach in ihm, aber werden mit ihm leben aus Gottes Kraft auch euch gegenüber« (13,4). Aber Paulus spricht nicht nur von Schwachheit. Er sagt auch, woher die überzeugende Kraft seine Verkündigung stammt. Dabei grenzt er sich gegen die Meinung ab, durch die Zurschaustellung ekstatischer Zustände gewinne diese die nötige performance (5,11–13). Das ist falsch, denn: »Sind wir außer uns geraten«  – und solche ekstatischen Erfahrungen kennt Paulus durchaus –, »so für Gott«. Diese Art geistlicher Erfahrung gehört in das persönliche Verhältnis zu Gott. Für die Verkündigung aber gilt: »sind wir bei Verstand, so für euch«. Eine allgemein verständliche Verkündigung ist für Paulus ein Gebot der Liebe: »Denn die Liebe Christi beherrscht uns, weil wir zu dem Urteil gelangt sind, dass einer für alle gestorben ist, folglich sind alle gestorben, und er ist für alle gestorben, damit die Lebenden nicht mehr für sich selbst leben, sondern für den, der für sie gestorben und auferstanden ist« (5,14f). Paulus nennt hier Wurzel und Grund seiner Botschaft: In Tod und Auferstehung Jesu schlägt Gottes Liebe die Brücke zwischen sich als der Quelle des Lebens und einer dem Tod verfallenen Menschheit. »Das alles aber« – die Botschaft des Apostels und ihr Grund im Geschick Jesu – »(kommt) von Gott, der sich mit uns durch Christus versöhnt und uns den Dienst der Versöhnung gegeben hat«. Und Paulus wiederholt diese Aussage ausdrücklich noch einmal: »Das heißt doch (mit anderen Worten): Gott versöhnte in Christus die Welt mit sich selbst, indem er ihnen ihre Übertretungen nicht anrechnete, und er hat unter uns das Wort von der Versöhnung eingesetzt« (5,18f). Nicht Gott muss durch ein Opfer versöhnt werden; Gott versöhnt die Welt, indem er im Tod Jesu die Folgen menschlicher Feindschaft auf sich nimmt! Der Auftrag des Apostels und seine Vollmacht gründen in diesem Geschehen: »An Christi statt wirken wir also als (seine) Gesandte, in der Überzeugung, dass Gott durch uns dringend ruft; wir bitten an Christi statt: Lasst euch mit Gott versöhnen!« (5,20) Der Apostel ist Gesandter Gottes, der in seinem Auftrag Gottes Friedensschluss verkündet. Durch ihn bittet Gott selbst die Menschheit, in seine ausgestreckte Friedenshand einzuschlagen. Und dieser Auftrag wurzelt in dem, was Gott ein für alle Mal in Christus getan hat: »Den, der die Sünde nicht kannte, hat er für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm zur Gerechtigkeit Gottes würden« (5,21). Paulus spricht immer wieder gerade dort, wo er seine Vollmacht als Apostel betont, in eindrucksvollen Worten von der Paradoxie eines leidenden Apostels, dessen Botschaft für viele zum Segen wird. Als »Diener Gottes« empfiehlt er sich »in bedrängenden Situationen, in Nöten, in Ängs-

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ten, unter Schlägen, in Gefangenschaften …«. Er und seine Mitarbeiter zeigen sich »als Sterbende und doch: siehe wir leben, als Gezüchtigte und doch nicht getötet, als Gekränkte, aber immer voll Freude, als Arme, die aber viele reich machen« (6,4–10). Das Geheimnis der Hingabe Jesu wird am Geschick des Apostels neu erfahrbar. Aber auch die Gemeinde befindet sich nicht in einer Zuschauerrolle gegenüber der Botschaft, sondern ist Teil ihrer Weitergabe. Auf die Forderung der Korinther, doch wie seine Konkurrenten Empfehlungsbriefe vorzulegen, antwortet Paulus mit einer bemerkenswerten Umformulierung dieses Anliegens: »Unser Brief seid (doch) ihr; eingeschrieben in unsere Herzen und von allen Menschen erkannt und gelesen. Unverkennbar seid ihr ein Brief Christi, ausgefertigt durch unseren Dienst, geschrieben nicht mit Tinte, sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes, nicht auf Tafeln aus Stein, sondern – wie auf Tafeln – in Herzen von Fleisch« (3,3). Die Gemeinde in Korinth ist nichts weniger als eine Art lebendige Offenbarungsurkunde, an der das Wirken des Geistes Gottes für alle Menschen sichtbar wird. Das hat Gott durch die Verkündigung des Paulus gewirkt. Aber auch dafür gilt: »Doch sind wir dazu nicht von uns aus fähig, als ob wir uns selbst etwas zuschreiben könnten; unsere Befähigung stammt vielmehr von Gott. Er hat uns fähig gemacht, Diener des Neuen Bundes zu sein, nicht des Buchstabens, sondern des Geistes. Denn der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig« (3,5f). Es ist die lebendige Gegenwart Gottes, die in der Verkündigung des Apostels durch den Geist neues Leben schafft, im Gegensatz zur Wirkung des Gesetzes, dessen Buchstaben nur das Todesurteil, das über der Menschheit verhängt ist, bestätigen. All diese Ausführungen sind eingebettet in das Ringen des Paulus um diese Gemeinde, das in berührender Intensität den Brief bestimmt (vgl. bes. Kap. 2; 7; 10–13). Zugleich aber steht es auch in einem »ökumenischem« Horizont. Zwei Kapitel lang wirbt Paulus für die Sammlung, die er für die Gemeinde in Jerusalem durchführt (8 und 9). Es ist beeindruckend, wie sich hier praktische Hinweise mit geistlichen Begründungen verweben. Für Paulus ist diese Aktion Zeugnis für gelebte Kirchengemeinschaft (koinonia). Sie gründet im gemeinsamen Bekenntnis zum Evangelium und der gemeinsamen Teilhabe an Gottes Gnade und sie wird gelebt im Teilen und im Austausch geistlicher und materieller Ressourcen. Und auch das hat seinen letzten Grund im Weg Jesu Christi. Seine Bereitschaft, sich in die Armut menschlicher Existenz hineinzugeben, um uns Anteil am Reichtum der Gemeinschaft mit Gott zu geben (8,9), befähigt auch uns, unseren bescheidenen Reichtum mit anderen zu teilen.

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Die Botschaft des 2. Korintherbriefs Das Ziel des Briefes ist vordergründig die Wiederherstellung der Autorität des Apostels. Im Kern aber geht es um die Frage: Was zählt und was soll in der Gemeinde gelten? Das ist die eigentliche Botschaft des Briefs, die Botschaft von der Versöhnung der Menschen mit Gott. In Jesu Tod hat Gott selbst die Last der menschlichen Schuld auf sich genommen und so Frieden geschaffen. Der Apostel ist mit seiner Verkündigung, aber auch durch sein persönliches Ergehen Zeuge für diese Botschaft. Beeindruckend ist dabei das menschliche Ringen um Verständigung und Aussöhnung zwischen Apostel und Gemeinde. Das ist das bleibende Vermächtnis dieses Briefes: Die Botschaft von der Versöhnung hat auch ihre Auswirkung auf die Art, wie man in Kirche und Gemeinde miteinander umgeht. Dass man hier vergeben und sich versöhnen kann, ist lebendiges Zeugnis für die Botschaft des Evangeliums. Was dazu nötig ist, sagt der Segen am Schluss: »Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen« (13,13). 4. Der Galaterbrief – um die Wahrheit des Evangeliums Der Galaterbrief gehört seit der Reformation zu den umstrittensten Briefen des Paulus. Von Luther wurde er so hoch geschätzt, dass er ihn »seine Käthe von Bora« nannte, ihn also mit seiner Frau verglich. Der Brief wurde vermutlich kurz nach dem 2. Korintherbrief und vor dem Römerbrief geschrieben. Das setzt voraus, dass die Gemeinden in Galatien, an die der Brief geschrieben wurde, sich in der Landschaft Galatien im Norden der römischen Provinz Galatien befanden (vgl. Apg 16,6; 18,23). Nicht wenige Ausleger nehmen allerdings an, dass es sich dabei um Gemeinden im Süden der Provinz Galatien handelt, zu der auch Pisidien und Lykaonien gehörten (vgl. Apg 13,13–52; 16,1–3). Dann könnte der Brief auch früher geschrieben sein. Das ist aber aus verschiedenen Gründen unwahrscheinlich. Anlass für den Brief ist das Auftreten judenchristlicher Lehrer in den Gemeinden, die in einer Art Nachmission die Autorität des Paulus in Frage stellen und auch von den Heidenchristen die Einhaltung jüdischer Lebensweise fordern, für die Männer insbesondere die Übernahme der Beschneidung. Für Paulus steht damit seine Integrität als Apostel und die Wahrheit des Evangeliums auf dem Spiel. Es geht um die Frage: Gilt das Evangelium, die frohe Botschaft von Gottes rettendem Handeln in Jesus Christus, allen Menschen ohne Vorbedingung oder müssen sie doch bestimmte Bedingungen erfüllen, um in die Gemeinschaft mit Gott aufgenommen zu werden? Paulus argumentiert zunächst aus der Perspektive seiner eigenen Biografie: Er schildert, wie gerade er als Verfolger der Gemeinde von Gott

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berufen wurde, Jesus als Messias und Sohn Gottes für die Nichtjuden zu verkünden (1,13–17). Er erzählt von den Auseinandersetzungen mit den Verantwortlichen der Jerusalemer Gemeinde über die Frage, unter welchen Bedingungen Nichtjuden in die christlichen Gemeinden aufgenommen werden können, und von der Bestätigung seiner Beauftragung, sein Evangelium unter den Heiden zu verkünden (2,1–10). Aber er berichtet auch von seinem Zusammenstoß mit Petrus in Antiochien, nachdem dieser und die anderen Judenchristen die Tischgemeinschaft mit den Heidenchristen verlassen hatten (2,11–14). Hier zeigte sich für ihn, was auf dem Spiel steht. Für Paulus geht es um nicht mehr und nicht weniger als um die Wahrheit des Evangeliums und die Freiheit, die es schenkt (2,4f). Um das zu begründen, blendet sich Paulus ab 2,15 Schritt für Schritt aus dem Bericht über die Auseinandersetzung mit Petrus aus und leitet zu grundsätzlichen Erwägungen über. Was er Petrus in 2,15–21 vorhält, wird zur Grundsatzerklärung auch für den Kampf in Galatien. Obwohl Petrus und Paulus Juden sind und nicht von vorneherein »Sünder« wie die Heiden, haben sie doch erkannt, dass kein Mensch durch »Werke des Gesetzes gerechtfertigt wird«, sondern allein »durch den Glauben an Jesus Christus«. Für Paulus ist das der Inhalt des Glaubens aller Christen und die Grundlage der gemeinsamen Verkündigung des Evangeliums. Damit wird zum ersten Mal in einem Brief des Paulus das Thema Rechtfertigung ausführlich thematisiert. Es fehlt in den früheren Briefen nicht (vgl. 1Kor 1,30; 6,11; 2Kor 5,21). Aber es wird dort nicht weiter diskutiert. Ab dem Galaterbrief aber ist es eines der Hauptthemen in den Briefen des Paulus. Gerechtfertigt werden hat auf dem Hintergrund des alttestamentlichen Sprachgebrauchs eine doppelte Bedeutung: Es beschreibt den Freispruch im Gericht. Aber wo es um das Urteil in Gottes Gericht geht, ist das kein Freispruch wegen erwiesener Unschuld. Rechtfertigung ist vielmehr die Feststellung, dass wir Gott recht sind – trotz unserer Schuld, so wie wir sind! Gerechtfertigt werden bedeutet aber auch die Aufnahme in die Rechtsgemeinschaft, und das meint neutestamentlich: in die Gemeinschaft mit Gott und mit denen, die zu ihm gehören. Rechtfertigung bedeutet nicht Entlassung in eine ungewisse Zukunft, sondern Freispruch zu einem Leben mit Gott und seiner Gemeinde. Das aber wird möglich, weil Gott uns in Jesus Christus ganz nahegekommen ist. Die einzige »Bedingung« auf Seiten des Menschen ist, sich diesem Handeln Gottes anzuvertrauen oder kurz gesagt: der Glaube an Jesus Christus. Andere Bedingungen haben hier keinen Platz, auch nicht das, was Paulus »Werke des Gesetzes« nennt. Über die Frage, was darunter zu verstehen ist, hat es in neuerer Zeit heftige Diskussionen gegeben.

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Gemeint sind nicht einfach »gute Werke«, wie man das in der Reformationszeit interpretierte. Es geht um die »Vorschriften des Gesetzes«, die als Identitätsmerkmale für das Judentum galten und an denen man erkennen konnte, wer Jude war, also (bei den Männern) vor allem die Beschneidung, weiter das Einhalten der Sabbatruhe und Beachten grundlegender Speisevorschriften. Den Gegnern des Paulus, die das für alle Christen forderten, ging es also vielleicht gar nicht um das ewige Heil, sondern nur um die Frage, wer zu welchen Bedingungen zur Gemeinde gehören kann. Für Paulus aber macht das keinen Unterschied. Wo solche restriktiven Bedingungen für die Aufnahme in die Gemeinde gestellt werden, da wird auch in Frage gestellt, ob diejenigen, die ihnen nicht genügen, von Gott angenommen werden. Deshalb sucht er die Übereinstimmung mit Petrus darüber, wodurch ein Mensch vor Gott und von Gott gerechtfertigt, das heißt, von Gott angenommen und in die Gemeinschaft mit ihm aufgenommen wird (2,15f). Und er ist überzeugt, dass dies allein durch den Glauben an Christus und nicht durch einzelne »Werke« oder Leistungen geschieht, die durch das Gesetz vorgeschrieben werden. Bei der Rechtfertigung geht es also nicht nur um den Freispruch von der Anklage eines verfehlten Lebens, sondern auch um das Geschenk eines neuen Lebens. Im Glauben an Jesus Christus ist Paulus eine neue Identität geschenkt worden. Er schreibt (2,19): »Ich bin durch das Gesetz für das Gesetz gestorben, damit ich für Gott lebe.« Das Todesurteil des Gesetzes ist wirksam, es beendet aber auch die Herrschaft des Gesetzes zugunsten eines neuen Lebens mit Gott. Denn: »Mit Christus zusammen bin ich gekreuzigt«. Wer sich in Jesu Tod hineinnehmen lässt, erhält ein neues Leben geschenkt: »Ich aber lebe nicht mehr, sondern Christus lebt in mir«. Das bedeutet nicht die Auslöschung der bisherigen Existenz; die Verbindung mit Christus wird im Glauben gelebt: »Was ich aber jetzt noch im Fleisch lebe [d. h. unter den Bedingungen meiner irdischen Existenz], das lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich für mich dahingegeben hat« (2,20). Ein Leben im Glauben, das ist der Weg, durch den die Verbindung mit Gott zustande kommt und auf dem sie gelebt wird. Warum das so ist, begründet Paulus in den folgenden Kapiteln. Zuerst verweist er auf Gen 15,6: »Abram glaubte dem HERRN, und das rechnete er ihm zur Gerechtigkeit« (3,6). Möglicherweise hatten auch seine Gegner in Galatien auf das Beispiel Abrahams verwiesen. Gottes Bund mit ihm war durch die Beschneidung besiegelt worden (Gen 17). Das sollte auch für die Christen in Galatien gelten. Dagegen setzt Paulus: Grundlegend für das Gottesverhältnis Abrahams war der Glaube. Das haben auch die Galater erfahren, als sie zum Glauben an Christus kamen und von Gottes

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Geist erfüllt wurden (3,1–5): Wollten sie, was so durch Gottes Geist angefangen hat, »im Fleisch«, das heißt durch eigenes Tun vollenden? Gerechtigkeit und Leben kommen durch den Glauben und nicht durch die Erfüllung irgendwelcher Gesetzesbestimmungen. Aber Glaube wird von Paulus nicht einfach als alternative menschliche Möglichkeit gesehen, den Weg zu Gott zu finden. Damit wäre auch der Glaube nichts anderes als eine vom Menschen geforderte Leistung. Glaube ist für Paulus Teilhabe an Gottes Weg zu den Menschen, den er in Jesus Christus gegangen ist. So stellt Paulus zwar fest, dass Abrahams Glaube ihm als Gerechtigkeit angerechnet wurde (3,6 nach Gen 15,6) und zitiert aus Hab 2,4: »Der aus Glauben Gerechte wird leben« (3,11). Aber das mündet nicht in einen Aufruf: »Darum lasst uns glauben, wie Abraham geglaubt hat«. Paulus verweist vielmehr auf das, was durch Christus am Kreuz geschehen ist: »Christus hat uns vom Fluch des Gesetzes freigekauft, indem er für uns zum Fluch geworden ist … Jesus Christus hat uns freigekauft, damit den Völkern durch ihn der Segen Abrahams zuteil wird und wir so durch den Glauben den verheißenen Geist empfangen« (3,13f). Dass Glaube gelebt werden kann und Menschen sich für Gottes Gegenwart öffnen können, das wird erst dadurch möglich, dass Christus kam und das Urteil des Gesetzes, das zwischen Gott und Mensch stand, auf sich genommen hat. Ein paar Verse weiter drückt Paulus das auf eine sehr überraschende Weise aus (3,22–26). Dass trotz der Verheißung für Abraham und seinem vorbildlichen Glauben, der Glaube nicht als Heilsweg erkannt wurde, liegt daran, dass »die Schrift«, und insbesondere das Gesetz, »alles unter die Macht der Sünde eingeschlossen« hat. Die Verheißung sollte erst »aufgrund des Glaubens an Jesus Christus« für alle, die glauben, erfüllt werden. Paulus erläutert das noch einmal mit etwas anderen Worten: »Bevor aber der Glaube kam, wurden wir unter dem Gesetz in Gewahrsam gehalten, eingeschlossen und verwahrt für den Glauben, der in Zukunft offenbart werden sollte, sodass das Gesetz unser Aufseher wurde, bis Christus kam, damit wir aufgrund des Glaubens gerechtfertigt würden«. Dass der Glaube kam, ist eine eigenartige Aussage, deren Bedeutung den Auslegern viel Kopfzerbrechen gemacht hat. Sie steht offensichtlich parallel zu der Aussage »bis Christus kam«. Erst mit dem Kommen Christi wird wahrer Glaube möglich. Das Gesetz ist kein Weg zum Heil, hat aber eine wichtige Aufgabe, die dafür vorbereitet. Wie ein Aufpasser für Kinder sorgt es dafür, dass Menschen sich ihrer Verantwortung vor Gott bewusst bleiben. Aber seine Rolle ist begrenzt. Noch einmal wiederholt Paulus seine merkwürdige Formulierung: »Nachdem aber der Glaube gekommen ist, sind wir unter keinem Aufseher mehr. Denn alle seid ihr Söhne und Töchter Gottes durch den Glauben, in Christus Jesus.« Der

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Glaube stellt in eine neues Gottesverhältnis, nämlich in das von Söhnen und Töchtern Gottes. Aber diese Wirklichkeit erschließt sich dem Glauben »in Christus«, also im Bereich der durch Christus geschaffenen neuen Beziehung zu Gott. Nachkommen (wörtlich Same) Abrahams sind die Glaubenden nicht einfach kraft ihres Glaubens, sondern weil sie durch diesen Glauben zu dem einen, wahren Nachkommen gehören (Same ist im Griechischen Singular). Diese strenge Bindung an das Christusgeschehen hält Paulus auch in der Fortsetzung durch. In 4,1–7 zeigt er zuerst auf, wie die Menschen, und insbesondere auch die Juden, obwohl sie dazu bestimmt sind, Gottes Kinder zu sein, unter der Vormundschaft des Gesetzes und anderer sie beherrschenden Kräfte (»Elemente der Welt«) stehen. Das aber sollte nur für eine begrenzte Zeitspanne gelten: »Als aber die Fülle der Zeit gekommen war, sandte Gott seinen Sohn, von einer Frau geboren und dem Gesetz unterstellt, damit er die unter dem Gesetz loskaufte, damit wir die Sohnschaft empfangen«. Es ist der Weg Christi in eine menschliche Existenz und unter die Herrschaft des Gesetzes, der den Weg freimacht zur Annahme als Söhne und Töchter Gottes. Das ist nicht nur ein juristischer Akt, sondern begründet auch das Bewusstsein für die neue und befreiende Beziehung zu Gott: »Denn weil ihr Söhne und Töchter seid, hat Gott den Geist seines Sohnes in unsere Herzen gesandt, der ruft: Abba, lieber Vater!«. Aus Unmündigen, die unter der Vormundschaft des Gesetzes in Unfreiheit lebten, werden mündige Söhne und Töchter, die ihre Gemeinschaft mit dem Vater in Freiheit leben: »Deshalb bist du nicht mehr Sklave oder Sklavin, sondern Sohn oder Tochter, wenn aber Sohn oder Tochter, dann auch Erbe oder Erbin durch Gott« (4,7). Das aber hat nicht nur für das Gottesverhältnis der Einzelnen Konsequenzen. Glaube und Christusgemeinschaft geben auch der Gemeinschaft der Glaubenden eine neue Identität und ihrem Miteinander eine neue Qualität (3,27f): »Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft wurdet, habt Christus angezogen. Da ist weder Jude noch Grieche, weder Sklave noch Freier, weder männlich noch weiblich: Alle seid ihr einer in Christus Jesus.« Das ist ja das Ziel des Briefs zu zeigen: In Christus gelten alle gleich, ob Jude oder Heide, und das gilt auch für andere Unterschiede, die oft Grund zur Diskriminierung bieten. Für diese Freiheit eines bedingungslosen Zugangs zu Gott kämpft Paulus im Galaterbrief: »Zur Freiheit hat uns Christus befreit! Steht also fest und lasst euch nicht wieder unter ein Sklavenjoch spannen« (5,1; vgl. 5,13). Aber er sieht auch die Gefahr, dass diese Freiheit missbraucht wird: »Nur (lasst) die Freiheit nicht zur Aktionsbasis für das Fleisch (werden)« (5,13f). Sie ist nicht der Freiraum, in dem man seine eigenen Wünsche und Begierden auslebt, sondern schafft Raum für die Liebe. Deshalb gilt

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die Mahnung: »Dient einander durch die Liebe«. So wird wahre Freiheit gelebt und der wahre Sinn des Gesetzes erfüllt: »Denn das ganze Gesetz ist in einem Wort erfüllt, (nämlich) in dem: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« (Lev 19,18). Grundlegend ist ein Glaube, der von der Liebe erfüllt ist: »Denn in Chris­ tus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern Glaube, der durch Liebe wirksam ist« (5,6). Dass solcher Glaube praktisch gelebt werden kann, trotz aller Gegenwehr des »Fleisches«, der selbstsüchtigen Natur des Menschen, ist Geschenk des Geistes. Durch ihn erwächst für die Glaubenden die »Frucht des Geistes«, ein Verhalten, das durch die Liebe und deshalb durch alles, was die Gemeinschaft fördert, bestimmt ist (5,17–23). Das befähigt auch, Fehlverhalten anderer zu tolerieren und – wo möglich – zu korrigieren (6,2). Die Botschaft des Galaterbriefs Der Brief an die Gemeinden in Galatien ist sicher der Brief des Paulus, in dem er seine »message« am leidenschaftlichsten vertritt. Hier geht es für ihn wirklich um Sein oder Nichtsein als Christ. Luther hat das gespürt und auf die Auseinandersetzungen seiner Zeit bezogen. Neuerdings ist freilich bezweifelt worden, ob das richtig war. Manche Ausleger vertreten die Ansicht, das Problem, um das es Paulus ging, nämlich das Zusammenleben von Juden- und Heidenchristen, sei spätestens seit Ende des 1. Jahrhunderts gelöst bzw. nicht mehr existent und daher auch das Anliegen des Paulus erledigt. Wie steht es damit? Ziel des Briefs ist zunächst tatsächlich die Abwehr von Versuchen, die Zugehörigkeit zur Gemeinde an die Erfüllung von Vorgaben des Gesetzes zu binden. Aber für Paulus geht es um mehr. Für ihn hieße das, das Heil von menschlichem Tun abhängig zu machen. Das aber wäre ein verhängnisvoller Rückfall in eine zwanghafte Religiosität und Verrat an der Wahrheit des Evangeliums. Das Evangelium befreit zu einer Gemeinschaft mit Gott, die nicht mehr an äußere Bedingungen geknüpft ist, sondern auf der Zugehörigkeit zu Christus beruht. Sich ihm anzuvertrauen, an ihn zu glauben, das ist der Schritt, der ins rechte Verhältnis zu Gott setzt (»rechtfertigt«). Wo sich solcher Glaube ereignet, da schafft Gottes Geist die innere Verbindung mit Gott und befähigt zu einem Leben in der Liebe. Das bewahrt die Freiheit eines Christenmenschen davor, zu egoistischer Selbstliebe missbraucht zu werden. Es begründet aber auch eine Gemeinschaft, in der die alten Statusunterschiede von Geschlecht, religiöser Herkunft oder sozialer Stellung keine Bedeutung mehr haben. Wo immer menschliche Leistung, sei sie religiöser oder gesellschaftlicher Natur, oder andere Identitäts- oder Statusmerkmale zur Bedingung für die Gemeinschaft mit Gott oder zum Maßstab für den Wert eines Menschenlebens gemacht wird, behält der Galaterbrief seine ungebrochene Aktualität.

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5. Der Römerbrief – worum es Paulus eigentlich geht Das »Testament des Paulus« oder die »Summe seiner Theologie«, so wird der Römerbrief nicht selten genannt. Dabei ist auch dieser Brief ein »echter« Brief, der mit einem bestimmten Anliegen an bestimmte Adressaten geschrieben wurde. Direkter Anlass dafür sind Reisepläne des Apostels. Er will nach Rom kommen, dort zusammen mit den römischen Christen das Evangelium verkünden und um Unterstützung für eine Mission in Spanien werben. Die christliche Präsenz in Rom geht nicht auf sein Wirken zurück, auch wenn er viele der dortigen Christen kennt (Kap. 16). Das dürfte ein Grund dafür sein, dass er seine Botschaft so ausführlich darlegt. Er will den Grund für eine missionarische Arbeitsgemeinschaft legen. Aber zweifellos spielen für die Art, in der Paulus schreibt, auch die Erfahrungen der zurückliegenden Auseinandersetzungen eine Rolle. Die Grundgedanken aus dem Galaterbrief werden weiterentwickelt, und in die praktischen Ratschläge, die Paulus im Blick auf manche Probleme in der römischen Gemeinde gibt, fließen Überlegungen aus den Korintherbriefen ein. Bevor er nach Rom kommt, will Paulus die Urgemeinde in Jerusalem besuchen, in der es manche Fragen an ihn geben wird. So wird der Brief zu einer theologischen Rechenschaftsablage, in der auch ganz neue Gedanken auftauchen, vor allem in der ausführlichen Reflektion über die Stellung der nicht an Christus glaubenden Juden in 9–11. Paulus will zeigen, worum es ihm eigentlich geht. Obwohl also auch dieser Brief ein »echter« Brief ist, der in einer ganz bestimmten brieflichen Situation geschrieben wurde, ist er doch sehr viel systematischer aufgebaut als alle anderen Briefe des Apostels. Die Klammer bilden am Anfang und Ende die Informationen über seine Reisepläne und seine Absicht, in Rom und dann in Spanien missionarisch zu arbeiten (1,8–15; 15,17–33). Mit ihnen verbindet er aber grundsätzliche Aussagen über die missionarische Kraft des Evangeliums (1,16f; 15,7– 13). Er begründet sie, indem er ausführlich und systematisch erläutert, welche Bedeutung die Begegnung mit Gott und seiner Wirklichkeit im Evangelium von Jesus Christus hat. Grundlegend ist die These, die Paulus an den Beginn der systematischen Entfaltung seiner Gedanken stellt: Er fühlt sich allen Menschen gegenüber verpflichtet (1,14f) und schämt sich nicht, das Evangelium zu verkünden, »denn es ist Gottes Kraft zum Heil für jeden, der glaubt, zuerst für den Juden und genauso für den Griechen. Denn in ihm wird Gottes Gerechtigkeit offenbart, auf Grund des Glaubens und für den Glauben, wie geschrieben steht: ›Der Gerechte wird auf Grund des Glaubens leben‹ (Hab 2,4)« (1,16f).

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Dass Gott seine Gerechtigkeit offenbart, bedeutet auf dem Hintergrund alttestamentlicher Aussagen nicht, dass er zeigt, wie gerecht er urteilt, sondern dass er dem Volk mit seiner Heil schaffenden, rettenden Treue begegnet (Ps 98,2; Jes 56,1). Ganz knapp, mit heutigen Worten ausgedrückt, heißt das: Im Evangelium, der guten Botschaft von Gottes Handeln in Jesus Christus, hat Gott ein für alle Mal sein Ja zu seiner Schöpfung und damit zu allen Menschen gesprochen. Was dieses Ja Gottes im Evangelium bewirkt, davon handelt der ganze Brief. Der erste Abschnitt legt den Grund: Gottes Ja gilt allen Menschen (1,16–4,25). Voraussetzung für diese Aussage ist die Erkenntnis, dass aufgrund ihres Verhaltens die ganze Menschheit unter Gottes Nein (in paulinischer Sprache: unter Gottes Zorn) steht. Das hat bei Juden und Heiden unterschiedliche Gründe. Der nichtjüdische Teil der Menschheit hat sich Gott völlig entfremdet. Obwohl Gott in seiner Schöpfung klar erkennbar wäre, verfehlen sie ihn durch ihre Art der Gottesverehrung. Denn anstelle ihres Schöpfers verehren sie Bilder von Geschöpfen, was letztlich Symptom für die Selbstvergötzung menschlicher Stärke und Schönheit ist. Die Perversion der Beziehung zu Gott zeigt sich dann auch in einem pervertierten Miteinander der Menschen in ganz unterschiedlichen Bereichen menschlichen Zusammenlebens (1,18–31). Aber auch jüdische Menschen leben nicht in der Gemeinschaft mit Gott, für die sie als Angehörige seines Volkes bestimmt sind. Ihr Anspruch, in Glauben und Handeln Gott zu entsprechen, erweist sich als hohl: Worte und Taten, Lehre und Verhalten stimmen nicht überein. So müsste für alle ausnahmslos das Nein Gottes gelten, das ihrem Leben die Grundlage entzieht (2,1–3,20). Aber in Jesus Christus hat Gott sein Ja zu allen gesprochen (3,21–31). Dieses Ja ist schon im Gesetz und den Propheten angesagt worden. Aber in dem, was Gott in Jesus Christus tut, zeigt sich: Sein Ja ist nicht nur ein Wort; sein Wort wird zur rettenden Tat. Indem er im Tod Jesu die Feindschaft und Entfremdung der Menschen auf sich nimmt, wird sein Ja zur tragfähigen Lebensgrundlage für alle, die sich dieser Wirklichkeit im Vertrauen auf Gottes Handeln in Jesus Christus öffnen. Der alte Ritus des Versöhnungstags, an dem Israels Sünde gesühnt und der Zugang zu Gott neu geöffnet wird (Lev 16), wird zum Vor-Bild für das, was im Tod Jesu Christi ein für alle Mal und für alle Menschen geschieht (3,21–31). Wie Menschen sich diesem Handeln Gottes öffnen, hat Gott schon am Vorbild Abrahams gezeigt. Die Rechtfertigung derer, die glauben, ist nicht die Rechtfertigung der Frommen, sondern die Rechtfertigung der Gottlosen, derer, die nichts zu bringen haben, sondern alles von Gott erhoffen, gerade auch da, wo alle menschlichen Voraussetzungen fehlen (4).

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Ein zweiter großer Abschnitt des Briefs beschreibt das Leben vom Ja Gottes (5–8). Was bedeutet es als Gerechtfertigte zu leben? Paulus schlägt hier die Brücke zwischen dem, was ein für alle Mal in Christus für uns geschehen ist, und dem, was jetzt das Leben der Gerechtfertigten bestimmt. Weil »Gott seine Liebe zu uns dadurch erwiesen hat, dass Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren« (5,8), leben Christen jetzt von einer Hoffnung, die nicht im Stich lässt, »denn die Liebe Gottes ist in unsere Herzen ausgegossen worden durch den Heiligen Geist, der uns geschenkt wurde« (5,5). Gottes Liebe ist Grund für sein bleibendes Ja zu uns. In einer Art Exkurs wird dann noch einmal die Universalität der Gnade an der Gegenüberstellung von Adam und Christus eindrucksvoll dargestellt (5,12–21). Gegenüber wirklichen und denkbaren Vorwürfen, die Botschaft der radikalen Gnade würde dazu verführen, kräftig zu sündigen, um das Wirken der Gnade noch kräftiger erscheinen zu lassen, charakterisiert Paulus in Kap. 6 das neue Leben derer, die zu Christus gehören, als ein Leben für die Gerechtigkeit Gottes. Mit der Taufe sind die Christen in ein neues Verhältnis zu Christus gestellt worden, das sie befähigt und verpflichtet, ihr Leben in den Dienst der Gerechtigkeit zu stellen: Sie leben nun Gottes Ja auch für andere. Als Kontrast dazu analysiert Paulus noch einmal den Zwiespalt des frommen Menschen, der das Gute will und doch das Schlechte tut (7,7–25). Es ist ziemlich sicher, dass Paulus damit im Rückblick sein Leben unter dem Gesetz charakterisiert und nicht das »normale« Christenleben beschreibt. Dennoch haben viele Christen und Ausleger die Schilderung dieses Zwiespalts auch als Charakteristik ihres persönlichen Scheiterns gelesen, Gottes Willen aus eigener Kraft zu tun. Aber Paulus stellt dem in Kap. 8 das neue Leben aus der Kraft des Geistes gegenüber, das Christen kennzeichnet. Entscheidend ist die Verbindung zu Gott, die der Geist schafft und die uns befähigt, Gott als unseren Vater anzurufen. All das mündet in die eindrucksvolle Zusage, dass »Gott für uns ist« und uns nichts, nicht einmal der Tod, von seiner Liebe trennen kann. Gottes Ja gilt unverbrüchlich (8,31–39). Das aber gilt auch für Israel, denn Gottes Ja zu Israel ist unwiderruflich. Paulus entfaltet das im nächsten Abschnitt (9–11) eindrucksvoll. Diese Aussage ist in der Geschichte der Kirche sträflich vernachlässigt worden, sonst hätte es nicht zu den schlimmen Auswüchsen christlichen Antisemitismus kommen können. Allerdings ist der Abschnitt auch von einer Dialektik geprägt, die nicht leicht zu verstehen ist. Paulus redet zunächst von seinem Schmerz über dem Unglauben Israels (9,1–5). Er sieht ihn weniger als Schuld Israels, sondern als Konsequenz der freien Berufung und des freien Erbarmens (und Verwerfens) Gottes

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(9,6–29). Dann aber spricht er auch von der menschlichen Tragik, die in dem falschen Weg Israels liegt. Es sucht Gottes Gerechtigkeit und verfehlt sie doch, weil es sich dem Ruf zum Glauben verweigert (9,30– 10,21). Aber das führt zu der überraschenden Aussage: Gott hat sein Volk nicht verstoßen (11,1–10). Hinter der zeitweisen Zurückstellung Israels liegt eine göttliche Absicht, nämlich Raum zu schaffen für die Nichtjuden (11,11–16). Das sollte die Heidenchristen vor jeder Überheblichkeit gegenüber dem nichtgläubigen Israel warnen (11,17–24), eine Mahnung, deren Beachtung dem jüdischen Volk viel Leid und der Christenheit viel Schuld erspart hätte. Denn am Ziel des Weges Gottes wird es auch Heil für Israel in der Begegnung mit Christus geben (11,25–36). Paulus deutet nur an, wie das geschehen wird – was zu vielen Spekulationen Anlass gegeben hat –, aber seine Hoffnung für Israel ist gewiss. Und so schließt dieser Abschnitt mit dem Lob des Gottes, der sich über alle erbarmt! Doch ein Leben vom Erbarmen Gottes hat ganz praktische Konsequenzen. Es sollte gelingen, nun auch ein Ja zu den anderen zu finden (12,1– 15,13). »Kraft der Barmherzigkeit« ermahnt und ermutigt Paulus die Christen in Rom: »Bringt euren Leib dar als lebendiges, heiliges, Gott wohlgefälliges Opfer  – dies sei euer vernünftiger Gottesdienst! Fügt euch nicht ins Schema dieser Welt, sondern verwandelt euch durch die Erneuerung eures Sinnes, dass ihr zu prüfen vermögt, was der Wille Gottes ist: das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene« (12,1f). Es geht um den Gottesdienst der Christen, aber nicht nur bei der Zusammenkunft der Gemeinde, sondern um den »Gottesdienst im Alltag der Welt« (Ernst Käsemann). Paulus spricht zunächst vom rechten Miteinander in der Gemeinde und nimmt dazu das Bild von der Gemeinde als Leib und den Begriff der Gnadengabe, des Charismas, aus 1Kor 12 auf. Aber er verdichtet das auf wichtige Funktionen in der Gemeinde (12,3–8). Doch schnell weitet sich der Blick: Es geht auch darum, dass das Verhalten gegenüber allen Menschen von der Liebe bestimmt ist (12,9–21). Mit der Mahnung, die zu segnen, die uns fluchen, nimmt Paulus Worte aus der Bergpredigt auf. Es folgen Empfehlungen für den Umgang mit staatlichen Behörden (13,1– 7) und die Zusammenfassung des Gesetzes im Liebesgebot (13,8–14). Der letzte große Abschnitt greift Probleme in der römischen Gemeinde auf, in der unterschiedliche Meinungen im Blick auf Speisevorschriften und die Beachtung von Feiertagen das Zusammenleben schwierig machen (14,1–15,13). Paulus zeigt, wie gelebte Liebe angesichts von Meinungsverschiedenheiten aussieht. Er lässt durchblicken, dass er im Grundsatz denen recht gibt, die eine freiere Haltung einnehmen. Aber er ruft

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Die Paulusbriefe

gleichzeitig zur Akzeptanz auch anderer Gewissensentscheidungen auf und mahnt, nicht auf Kosten anderer Recht behalten zu wollen, eine Mahnung, die in manchen lieblosen Diskussionen um die rechte Lehre hilfreich gewesen wäre. Am Schluss steht noch einmal der Hinweis auf Christus als Grund und Vorbild für ein solches Verhalten (15,1–6). Als »Diener der Juden und Hoffnung der Heiden« hat er zugleich den Horizont für das universale missionarische Programm des Paulus abgesteckt (15,7–13).Der Brief schließt mit einem langen Grußkapitel, in dem verantwortliche Mitarbeit von Frauen in der Gemeinde besonders hervorgehoben wird (16,1.3.6 f.12-15). Die Botschaft des Römerbriefs »Eine Handvoll Dynamit«, so lautete vor Jahren der Titel eines Buches mit vier verschiedenen Übersetzungen des Römerbriefs. Damit wurde auf die revolutionäre Wirkung dieses Schreibens in der Geschichte der Kirche angespielt, etwa durch die Römerbriefvorlesung Luthers im Jahr 1516 oder den epochalen Kommentar von Karl Barth (1919/1921). Dabei hat ihn Paulus keineswegs in revolutionärer Absicht geschrieben. Das Ziel des Briefs war es vielmehr, das Fundament für eine missionarische Arbeitsgemeinschaft zwischen Paulus und der Gemeinde in Rom zu legen. Dafür stellt Paulus seine Botschaft vor. Ihr Inhalt ist klar: Er möchte allen Menschen das Evangelium verkünden, weil in ihm Gottes Ja, seine rettende Gerechtigkeit für alle Menschen sichtbar wird. Dieses Ja Gottes ist der sichere Halt für das persönliche Leben jedes und jeder einzelnen. Aus diesem Ja der Liebe Gottes schöpfen sie Hoffnung und finden Kraft zur Liebe. Dieses Ja ist auch Grundlage und gestaltende Mitte der christlichen Gemeinde und aus diesem Ja gewinnt Paulus die Gewissheit der bleibenden Berufung Israels und des alle umfassenden Erbarmens Gottes. Die Rechtfertigungsbotschaft wird zum Schlüssel für das Verhältnis zu Gott und zu sich selbst, zu den Schwestern und Brüdern in der Gemeinde und zu Freund und Feind in dieser Welt. Mit der Gewissheit, von Gott angenommen zu sein, trotz aller Fehler und Fragen, und der Hoffnung, dass er sich mit seiner Gerechtigkeit gegen alle Widerstände durchsetzen und sich endlich aller erbarmen wird, zeigt diese Botschaft die ganz persönliche und zugleich weltumspannende Dimension des Handelns Gottes in Jesus Christus. Hat diese Botschaft auch heute noch Sprengkraft? Wirkt sie noch revolutionär, oder wird nicht Sonntag für Sonntag von allen Kanzeln verkündigt, dass Gottes Ja allen gilt, ohne dass es viel bewirkt? Ist es nicht ganz selbstverständlich geworden, dass Gott vergibt? Müssten wir vielleicht wagen, auch davon zu sprechen, dass Gottes Nein weiter gilt, sein Nein gegen alle moderne Verehrung falscher Götter und alle Selbstvergötzung, gegen jedes Verhalten, das

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Menschen ausbeutet und erniedrigt, und gegen alle fromme Heuchelei derer, die Moral predigen und beim Tun des Gerechten versagen? – nicht als Drohbotschaft, sondern als nüchterne Analyse all dessen, wo unsere Welt und die Kirche im Argen liegen! Wäre es möglich, Gottes Ja so weiterzusagen, dass in seinem Licht auch das Dunkel sichtbar wird, aus dem uns dieses Ja befreit? Das wäre Sprengkraft genug! 6. Der Philipperbrief – Freude auch im Leiden Briefe aus dem Gefängnis sind etwas Besonderes. Auch von Paulus gibt es solche Briefe. Der Philipperbrief ist sicher der bedeutendste unter ihnen und hat einen Schwerpunkt, den man von einem Schreiben aus dem Gefängnis nicht erwartet, nämlich den Aufruf zur Freude. Der äußere Anlass für den Brief ist der Dank für Unterstützung, die Paulus von der Gemeinde in Philippi erhalten hat. Paulus war sehr zurückhaltend, materielle Hilfe von Gemeinden anzunehmen. Aber im Blick auf Philippi hat er mehrmals eine Ausnahme gemacht (vgl. 4,15; 2Kor  11,9). In seiner jetzigen Situation war dies auch dringend nötig, denn Gefangene in der Antike mussten sich von Angehörigen oder Freunden versorgen lassen. Wann und wo Paulus im Gefängnis war, ist umstritten. Lange Zeit hat man in der Auslegung die These favorisiert, es handele sich um eine Gefangenschaft in Ephesus, von der die Apostelgeschichte nichts berichtet, die man aber aus 2Kor 1,8f und 11,23 erschließen kann. Dafür sprach die Nähe zu Philippi. Dann wäre der Brief wohl noch vor dem 2. Korinther- und dem Galaterbrief geschrieben worden. Neuerdings greifen aber viele Ausleger wieder auf die traditionelle Annahme zurück, es handele sich um die Gefangenschaft in Rom, von der Apg 28 berichtet. Das würde bedeuten, dass der Brief nach dem Römerbrief geschrieben wurde. Paulus nützt die Notwendigkeit, sich zu bedanken, auch dazu, über die eigene Lage und die seiner Mitarbeiter zu berichten und zu aktuellen Auseinandersetzungen Stellung zu nehmen. Der Kampf um die Rechtfertigungsbotschaft und die Freiheit des Evangeliums geht weiter. Insgesamt ist der Brief neben dem zweiten Korintherbrief zweifellos der persönlichste Brief des Paulus. Er ist jedoch von einer ganz anderen Grundstimmung geprägt. Der Aufruf zur Freude kehrt mehrmals wieder und wird zu einer Art Leitmotiv für diesen Brief (2,17f; 3,1; 4,1.4). Das Thema des Briefs aber kann mit dem Stichwort »Leben mit Christus«, umschrieben werden. Es wird im Verlauf des Briefs in vier Richtungen entfaltet:

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Leben mit Christus – auch angesichts des Todes (Kap. 1) Paulus muss offensichtlich mit einem Todesurteil rechnen, obwohl er auch einen Freispruch für denkbar hält. Das bringt ihn dazu, über seinen möglichen nahen Tod nachzudenken. Aber nun steht auf einmal nicht mehr die Erwartung der baldigen Wiederkunft Christi im Mittelpunkt, sondern die Aussicht, durch das Sterben hindurch bald bei Christus zu sein. Paulus gibt keinerlei Auskünfte darüber, wie sich das zu der Erwartung einer leiblichen Auferstehung beim Kommen Christi verhält und wie er sich diesen »Zwischenzustand« vorstellt. Eine gewisse Neukonzipierung seiner persönlichen Hoffnung über den Tod hinaus hatte sich schon in 2Kor 5,1–5 angedeutet. Aber zum Leidwesen aller Ausleger und derer, die Bücher über »die letzten Dinge« schreiben, systematisiert er diese Überlegungen nicht. Kern seiner Hoffnung im Leben und im Tod ist die Gewissheit, dass die Gemeinschaft mit Christus, die sein Leben ausmacht, durch den Tod nicht zerstört, sondern in neuer Intensität – ohne die Begrenzungen einer irdischen Existenz – gelebt werden wird. Weil Christus und die Verbindung zu ihm Leben bedeuten, darum ist für Paulus Sterben Gewinn, Tor zu einer intensiveren Gemeinschaft mit ihm (1,21). Deshalb möchte er eigentlich zu dieser Reise »aufbrechen, um bei Christus zu sein«, aber hält es auch für wichtig, noch einmal Zeit für den Dienst für seine Gemeinden zu bekommen (1,23f). Dieselbe Hoffnung hat er auch für die Gemeinde, die von Verfolgung bedroht ist. Paulus vertraut darauf, dass der, »der bei euch das gute Werk begonnen hat, es auch vollenden wird bis zum Tag Christi Jesu« (1,6 EÜ). Es ist nicht das Durchhaltevermögen der Christen, auf das Paulus baut, sondern die Treue Gottes. Denn ein Leben mit Christus bedeutet nicht Bewahrung vor allem Unheil. Zu der Gnade, mit Christus zu leben, gehört »nicht nur an ihn zu glauben, sondern auch seinetwegen zu leiden« (1,29). Gerade deshalb ist Paulus auch im Blick auf den Weg der Gemeinde gewiss, dass Gott sie trotz aller Anfeindungen und Schwierigkeiten an das Ziel ihrer endgültigen Begegnung und Gemeinschaft mit Christus führen wird. Leben mit Christus – im Miteinander der Gemeinde (Kap. 2) Der zweite Themenbereich, der Paulus wichtig ist, ist die Art, wie in der Gemeinde Gemeinschaft gelebt wird. Mit Nachdruck plädiert er für Einmütigkeit und vor allem für gegenseitige Rücksichtnahme und Wertschätzung (2,1–4). Und er begründet das nicht mit allgemeinen Überlegungen zum Funktionieren einer menschlichen Gemeinschaft, sondern ganz dezidiert mit dem Hinweis auf ein Verhalten, das für die Gemeinschaft mit Christus angemessen ist: »Seid untereinander so gesinnt, wie es dem Leben in Christus Jesus entspricht« (2,5 EÜ).

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Wie das aussieht, veranschaulicht er durch einen Christushymnus, der den Weg des Christus aus seiner göttlichen Herrlichkeit in die Niedrigkeit und Begrenzung einer menschlichen Existenz schildert, einer Erniedrigung, die auch den Tod, ja sogar den schändlichen Tod am Kreuz einschließt. Aber gerade dadurch wird Christus und sein Weg zur alles bestimmenden Wirklichkeit, was am Ende alle anerkennen müssen. Was Christus tat, hat also eine doppelte Funktion: Es ist sowohl Vorbild als auch Ermöglichungsgrund eines Lebens, das sich nicht selbst erhöht und nicht den eigenen Vorteil sucht. So wie in einer Gemeinschaft, die von gegenseitigem Mobbing beherrscht wird, der Zwang zu einem solchen Verhalten durchbrochen wird, wenn sich eine oder einer anders verhält, so schafft das Verhalten Jesu eine neue Wirklichkeit für die, die mit ihm leben. Paulus rechnet damit, dass sich das dann auch sichtbar in der Gemeinde zeigt. Er vertritt kein Arm-Sünder-Christentum, das keine Veränderung im Leben erwartet. Er hofft darauf, dass dieses Verhalten etwas vom Licht der Liebe in eine lieblose Welt ausstrahlt und dass Christus in der letzten entscheidenden Begegnung mit ihm sowohl bei ihm selbst als auch bei der Gemeinde vieles vorfindet, was ihm Ehre macht (2,14–16). Das Ineinander von menschlichem Mitwirken bei Gottes Tun und dem Bewusstsein, dass letztlich doch alles Gottes Werk ist, drückt sich in dem paradoxen Satz aus: »Wirkt mit Furcht und Zittern euer Heil! Denn Gott ist es, der in euch das Wollen und das Vollbringen bewirkt zu seinem Wohlgefallen« (2,12f EÜ). Die Frage, wie sich das zur Rechtfertigungsbotschaft verhält, die Paulus im nächsten Kapitel entfaltet, bleibt zunächst offen. Leben mit Christus – als Ausdruck einer neuen Existenz (Kap. 3) All diese Mahnungen und Ermutigungen werden in Kap. 3 plötzlich unterbrochen durch eine Auseinandersetzung mit Leuten, die ähnlich wie die Gegner in Galatien fordern, dass sich auch nichtjüdische Christen beschneiden lassen müssen, wenn sie in Gemeinschaft mit Gott leben wollen. Paulus beginnt mit außerordentlich heftigen Angriffen gegen diese Leute (3,2). Wo er aber zur sachlichen Argumentation übergeht, findet sich eine sehr persönlich gefasste Darstellung dessen, was seine Begegnung mit Christus und die Verkündigung der Rechtfertigungsbotschaft für ihn selbst bedeuten (3,3–11). Standen in 1Kor 15,8–10 seine Berufung zum Auferstehungszeugen und Apostel und in Gal 1,15f seine Beauftragung mit der Verkündigung unter den Nichtjuden im Vordergrund, so in 3,7–11 die radikale Neubegründung seiner persönlichen Existenz durch die Begegnung mit dem Auferstandenen. Es kam zu einer Umwertung aller Werte, auf die er bisher

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seine Existenz gebaut hatte. »Was mir ein Gewinn war« – sein untadeliger Gesetzgehorsam und sein Eifer für Gott, aufgrund dessen er meinte, die Gemeinde Jesu verfolgen zu müssen – »das habe ich um Christi willen für Verlust gehalten«, schlimmer noch für »Dreck«. Was jetzt galt, war einzig, dass er zu Christus gehörte (»in ihm gefunden wurde«). Was das bedeutet, erläutert Paulus unmittelbar mit Begriffen der Rechtfertigungsbotschaft: »Nicht meine Gerechtigkeit will ich haben, die aus dem Gesetz hervorgeht, sondern jene, die durch den Glauben an Christus kommt, die Gerechtigkeit, die Gott schenkt aufgrund des Glaubens«. Zwei Beobachtungen sind an dieser Stelle wichtig: (1) In der paulinischen Rechtfertigungslehre geht es (zumindest auch) um die Stellung der Einzelnen vor Gott und ihre Rechtfertigung durch die von Gott geschenkte Gerechtigkeit und nicht nur um die Frage, in welcher Form Heidenchristen in das Volk Gottes aufgenommen werden können. Hier hat die klassische reformatorische Auslegung der Rechtfertigungslehre recht, auch wenn sie deren Bedeutung zu eng auf das Heil der Einzelnen begrenzt hat. (2) Die Aussagen über die Bedeutung der Gemeinschaft mit Christus und der Rechtfertigung durch Gott für das Heil sind ganz eng aufeinander bezogen. So fährt Paulus dann auch in V. 10f unmittelbar fort: »Christus will ich erkennen und die Macht seiner Auferstehung und die Gemeinschaft mit seinen Leiden, indem ich seinem Tod gleich gestaltet werde. So hoffe ich, auch zur Auferstehung von den Toten zu gelangen«. Ein Leben aus der Gerechtigkeit Gottes wird als Gemeinschaft mit dem Geschick Christi gelebt. Darum ist Leben mit Christus und Leben aus der rechtfertigenden Gnade ein Leben auf dem Weg. Möglicherweise gegen gewisse perfektionistische Ansprüche seiner Gegner formuliert Paulus: »Nicht, dass ich’s schon ergriffen habe oder schon vollkommen sei; ich jage ihm aber nach, ob ich’s wohl ergreifen könnte, weil ich von Christus Jesus ergriffen bin« (3,12). Paulus wendet sich hier sowohl gegen einen schwärmerischen Perfektionismus als auch gegen eine rein statische Auffassung eines simul iustus et peccator (gerecht und Sünder zugleich): Christsein bedeutet, mit Christus unterwegs zum Ziel zu sein: »Ich vergesse, was dahinten ist, und strecke mich aus nach dem, was da vorne ist, und jage nach dem vorgesteckten Ziel, dem Siegespreis der himmlischen Berufung Gottes in Christus Jesus« (3,13f). Leben mit Christus – auch in den Herausforderungen des Alltags (Kap. 4) Kap. 4 scheint zunächst eine lockere Anreihung von Ermahnungen zu bieten, wie sie typisch für den Schluss eines Briefes ist. Aber auch hier ist der verborgene rote Faden das Anliegen, in den alltäglichen Heraus-

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forderungen so zu leben, wie es einem Leben mit Christus entspricht, sei es bei Auseinandersetzungen in der Gemeinde (4,2f), sei es im Verhalten gegenüber anderen und im Umgang mit eigenen Sorgen (4,4–7), sei es im Blick auf Maßstäbe für das eigene Verhalten (4,8f) oder im Geben und Nehmen, wo Hilfe nötig ist (4,10–20). Die Botschaft des Philipperbriefs Zur Freude auch im Leiden aufzurufen mag uns heute problematisch erscheinen. Wenn es jemand tut, der im Gefängnis sitzt und mit einem Todesurteil rechnen muss, hat das Gewicht. Aber ihre Autorität und Glaubwürdigkeit gewinnt die Botschaft des Briefes nicht nur aus der Art, wie Paulus diese Situation bewältigt. Entscheidend dafür ist vielmehr der Verweis auf das, was die Gemeinschaft mit Christus für das Leben einer Gemeinde und der Christen bedeutet. Denn das eigentliche Ziel des Briefs ist es, die Gemeinde und ihre Glieder in ihrem Leben mit Christus zu stärken und zu leiten. Dazu möchte Paulus die Gemeinde an der Hoffnung teilhaben lassen, die ihn trägt, er möchte sie anleiten zu einem Miteinander, das der Zugehörigkeit zu Christus entspricht, und er möchte an seinem eigenen Beispiel deutlich machen, was die Existenz eines Christen begründet und kennzeichnet: Sich ganz auf das verlassen, was Gott in Christus getan hat, sein rechtfertigendes Urteil zur Grundlage für das Urteil über Wert und Unwert des eigenen Lebens zu machen und sich aktiv hineinnehmen lassen in das, was seine Gnade in unserem Leben und durch uns bewirken will. Für eine Christenheit, die sich damit auseinandersetzen muss, in einer Gesellschaft zu leben, in der sie nicht mehr mit allgemeiner Anerkennung rechnen kann, könnte es immer wichtiger werden, sich mit der Botschaft dieses Briefes auseinanderzusetzen und sich von ihr ermutigen, stärken und korrigieren zu lassen: Christus bringt seine Gemeinde ans Ziel (1,6). 7. Der Philemonbrief – Um Freiheit und Dienst Dieser Brief ist eigentlich ein Fremdkörper in der Sammlung der Paulusbriefe. Es ist der einzige Brief an einen Einzelnen, in dem es anscheinend um eine Privatangelegenheit geht. Der Anlass des Briefs ist klar. Ein geflüchteter Sklave namens Onesimus ist mit Paulus in Kontakt gekommen und Christ geworden. Dabei stellt sich heraus, dass sein Herr ebenfalls Christ ist und Paulus ihn gut kennt, da auch er (direkt oder indirekt) von Paulus zum Glauben geführt wurde. Nun schickt Paulus den Sklaven zurück an seinen Herrn mit der Bitte, ihn gnädig als Bruder in Christus aufzunehmen und ihn dem Apostel als Mitarbeiter zur Verfügung zu stellen. Auch dieser Brief ist im Gefängnis geschrieben, vermutlich ebenfalls in Rom.

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Adressat des Briefes ist also eindeutig Philemon, der Herr des Sklaven. Aber er richtet sich zugleich an eine Gemeinde im Haus des Adressaten (V. 1), und das, obwohl es um eine Angelegenheit geht, die dessen Privatbesitz betrifft. Es gibt in diesen frühen Gemeinden keine reinen Privatangelegenheiten mehr! Aber angesprochen wird letztlich doch Philemon. Paulus hat eine doppelte Bitte an ihn: Erstens soll er den entlaufenen Sklaven Onesimus, der möglicherweise entflohen war, weil er Schaden angerichtet hatte und eine Bestrafung fürchtete, in Gnaden annehmen (V. 17–19). Zweitens soll er ihn an Paulus zurückschicken und ihm als Mitarbeiter zur Verfügung stellen. Vielleicht denkt Paulus dabei an Hilfs- und Kurierdienste, auf die er als Gefangener angewiesen war. Merkwürdig ist für uns heute, dass Paulus die Institution Sklaverei in keiner Weise in Frage stellt. Sie galt in der Antike als gesetzt. Aber er geht davon aus, dass Sklavenhalter und Sklaven im gemeinsamen Glauben an Christus in eine neue Beziehung zueinander gestellt sind, in der die gesellschaftlichen Schranken überwunden sind (V. 16). Nicht mehr Freier oder Sklave sollte gelten, sondern die Gemeinschaft in Jesus Christus (Gal 3,28). Wie das in der Praxis aussehen konnte, war freilich nicht einfach zu sagen. Die späteren Haustafeln (Kol 3,18–4,1; Eph 5,21–6,9; 1Tim 6,1f; 1Petr 2,18–3,7) versuchen das im Rahmen der bestehenden Ordnung zu konkretisieren, legen damit aber teilweise auch die Grundlage für die Zementierung der gesellschaftlichen Verhältnisse über viele Jahrhunderte. Erst in der Bewegung zur Sklavenbefreiung haben Christen erkannt und erstritten, dass der Grundsatz des Paulus nur zu verwirklichen ist, wenn die Institution Sklaverei aufgehoben wurde. Paulus beschränkt sich in diesem Brief im Wesentlichen auf sein eigentliches Anliegen. Aber in seiner knappen brieflichen Einleitung wird einmal mehr deutlich, wie Glaube und Liebe für ihn Grundlage jeder christlichen Existenz sind und alles Handeln und Verhalten der Christen bestimmen sollen. Die Botschaft des Philemonbriefs Eigentlich ist es merkwürdig, dass ein solch privater Brief in den Kanon der Heiligen Schrift aufgenommen wurde. Denn sein wichtigstes Ziel ist, für einen geflohenen Sklaven eine gnädige Rückkehr zu erwirken und dem Apostel einen hilfreichen Mitarbeiter zu verschaffen. Und man kann sich fragen, ob er darüber hinaus überhaupt eine Botschaft hat. Aber die Menschlichkeit, die den Brief in den verschiedenen Beziehungen, die in ihm angesprochen werden, prägt, ist ein wichtiger Teil der Botschaft des Neuen Testament: So gehen Christen miteinander um und so kann Liebe auch in un-

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gerechten Strukturen gelebt werden. Wir fragen heute: Ist Gutes im Schlechten möglich? Hätte nicht schon Paulus vom Standpunkt der Nächstenliebe aus, die Sklaverei in Frage stellen müssen? Aber diese Fragen sind anachronistisch. Erst die Erkenntnis, dass die Versklavung eines Menschen grundsätzlich nicht mit dem Gebot der Liebe vereinbar ist, hat dann dazu geführt, dass gerade Christen sich für die Abschaffung der Sklaverei eingesetzt haben. Die Stellung des Kolosserbriefs Zu den Briefen, die aus dem Gefängnis geschrieben worden sind, gehören auch der Epheser- und der Kolosserbrief. Früher fasste man diese Briefe gerne unter dem Stichwort Gefangenschaftsbriefe zusammen. Allerdings wird heute fast allgemein angenommen, dass der Epheserbrief eine Art Rundbrief darstellt, der nach dem Tod des Paulus von einem seiner Schüler unter Benutzung des Kolosserbriefs geschrieben wurde. Dagegen ist die Einordnung des Kolosserbriefs schwieriger. Einerseits unterscheidet er sich stilistisch und in der theologischen Thematik deutlich von den bisher behandelten Briefen des Apostels. Andererseits steht er ihnen in der grundsätzlichen Ausrichtung noch sehr nahe. So wird heute von vielen Auslegern erwogen, dass der Brief im Auftrag des Paulus von einem seiner Mitarbeiter verfasst wurde. Das würde auch die Nähe zum Brief an Philemon am besten erklären. Da die Thematik des Briefs aber doch einen ganz neuen Akzent für die paulinische Botschaft setzt, die ihn eng mit dem Epheserbrief verbindet, behandeln wir ihn erst im nächsten Kapitel. 8. Die Botschaft des Paulus – Alles ist Gnade War Paulus Vollender oder Verfälscher der Botschaft Jesu? Gab seine Theologie dem christlichen Glauben erst die richtige Tiefe und Weite oder führte sie ihn in eine verhängnisvolle Verengung? Von diesen Fragen sind wir ausgegangen. Haben wir jetzt eine Antwort darauf? Oder stellen sich neue Fragen: Kann man die Botschaft des Paulus überhaupt in wenigen Sätzen zusammenfassen? Lässt sich die Theologie, die dahintersteht, als Einheit begreifen? Kann man das System rekonstruieren, das er im Hinterkopf hat, wenn er in seinen Briefen zu ganz verschiedenen Problemen konkret Stellung nimmt? Hat er eine einheitliche »message«? Diese Fragen sind nicht leicht zu beantworten. Denn seine Briefe bilden ja nur einen Ausschnitt aus seinem Wirken als Missionar und Gemeindeleiter. Zeitlich gehören sie eher einer Spätphase seines Wirkens an. Die Frage, ob es eine Entwicklung der paulinischen Theologie gegeben hat, ist in der Forschung umstritten. Sie ist schwer zu

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entscheiden, weil Paulus in seinen Briefen keinen Überblick über sein gesamtes theologisches Denken bieten will, sondern jeweils die aktuellen Themen behandelt. Diese Situationsbezogenheit ist eine Stärke im theologischen Denken des Paulus, macht aber eine Zusammenfassung schwierig und trägt die Gefahr in sich, aus der lebendigen Kommunikation seiner Briefe ein abstraktes System zu machen. Und doch muss und kann der Versuch gewagt werden. Paulus formuliert in den unterschiedlichen Situationen aus einer deutlich erkennbaren Mitte seines Glaubens und Denkens heraus, die sich in Umrissen aufzeigen lässt. Grundlegend für seine Verkündigung und Theologie ist die Erfahrung der Begegnung mit dem auferstandenen Jesus. Er kommt in seinen Briefen immer wieder auf dieses Erlebnis zu sprechen, beschreibt es aber nie ausführlich, sondern nennt jeweils den Aspekt, der für den Zusammenhang wichtig ist. Man spricht oft von der »Bekehrung« des Paulus. Aber Paulus hat sich nicht »bekehrt«. Er ist auch nicht vom Judentum zum Christentum konvertiert! Durch die Begegnung mit dem Auferstandenen gab Gott seinem Leben, Denken und Wirken eine ganz neue Ausrichtung. Die Begegnung mit Christus wurde für ihn zu einer Neubegegnung mit Gott. Hier begriff er mit seiner ganzen Existenz: Alles ist Gnade. Dass sich ihm der von den Römern gekreuzigte Jesus von Nazareth lebendig und in einer ganz von Gott bestimmten Existenzweise zeigte, das machte ihm klar: Gott steht hinter dessen Wirken und seinem Geschick. Sein Tod war weder gerechte Strafe für einen Gotteslästerer noch bloßer Justizirrtum. In ihm verarbeitet Gott die Schuld seines Volkes, ja der ganzen Menschheit, wie das in der Schrift vorhergesagt ist (1Kor 15,3–7). Hier zeigt sich Gott als der, der Schuld und Tod der Menschen überwindet. Dass Gott den, der seine Gemeinde verfolgt hat, zum Verkündiger des Evangeliums unter den »Völkern« beruft, wird für Paulus zu einem herausragenden Beispiel der Rechtfertigung des Gottlosen (Gal 1,15f). Dass Gott Heil für alle will und dass er zum Träger dieser Botschaft den Verfolger begnadigt und beruft, das zeigt: Die Radikalität der Gnade und die Universalität des Heils gehören untrennbar zusammen wie zwei Seiten einer Medaille. Dass Gott durch Tod und Auferstehung Jesu das Entscheidende zum Heil der Menschen getan hat, das bedeutet für Paulus auch eine grundsätzliche Wende im Verhältnis zu sich selbst und im Blick auf seine Anstrengungen, durch Gesetzesgehorsam das Heil zu bewirken (Phil 3,7–11). Das ist nichts wert, denn alles ist Gnade: Vergebung und Versöhnung, Wollen und Vollbringen. Alles ist Gnade – doch das ist keine allgemeine Wahrheit, diese Wahrheit hat ein Gesicht, das Gesicht des gekreuzigten und auferstandenen Christus.

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Die neue Sicht von Gott Für Paulus folgt daraus auch ein neues Gottesbild. Dabei meint neu keine Ablehnung des bisherigen »alten« Verständnisses von Gott. Die Begegnung mit Gott als Vater Jesu Christi bedeutet für Paulus nicht den Abschied vom Gott der Väter und Mütter Israels. Im Gegenteil! Er ist überzeugt, dass er dadurch dessen Handeln an Israel in Gebot und Verheißung erst richtig versteht. Für Paulus ist das Bekenntnis zu dem einen Gott, der sich Israel offenbart hat, unverrückbarer Grund seines Glaubens. Dass er sich auch zu dem einen Herrn, Jesus Christus, bekennt, ist kein Bekenntnis zu einem zweiten Gott. Damit wird konkretisiert und personalisiert, wie der eine Gott und Herr handelt (1Kor 8,6). Durch ihn ist alles geschaffen. Schon in der Schöpfung hat sich Gott in seinem wahren Wesen offenbart und daran müssten ihn alle Menschen, also auch die Nichtjuden, erkennen (Röm 1,19f). Doch was schon in seinem schöpferischen Tun und in seiner Begegnung mit Israel grundsätzlich sichtbar war, das macht Gott durch sein Handeln in Jesus Christus auf ganz neue Weise deutlich und wirksam. Bemerkenswert ist dabei, wie betont Paulus Gott als handelndes Subjekt nennt: 1) Es ist Gott, der durch die Weitergabe des Evangeliums und in der Lebenshingabe Jesu seine Gerechtigkeit offenbart (Röm 1,16f; 3,21–26) und so seine Heilstreue, sein Ja zu Israel und der ganzen Menschheit, wirksam werden lässt, wie das schon in den Schriften Israels vorausgesagt ist (Ps 98,2; Jes 56,1). 2) Es ist Gott, der die Welt mit sich selbst versöhnt hat (2Kor 5,18–21) und im Tod Jesu die Folgen menschlicher Gottesfeindschaft auf sich genommen hat. Und Gott ermahnt und bittet die Menschen durch die Boten des Evangeliums: »Lasst euch versöhnen mit Gott«. Nicht Gott musste versöhnt werden – wie das immer wieder unausrottbar in christlichen Liedern und polemischen Äußerungen behauptet wird –, sondern er hat die Initiative ergriffen, um die Menschen wieder in seine Gemeinschaft zurückzuholen. Dabei spricht Paulus nicht einfach vom »lieben Gott«. Er weiß auch um die Realität des Zorns Gottes, vor dem die Menschen gerettet werden müssen (1Thess 1,10; Röm 1,18; 5,9). Aber dieser Zorn ist nicht ein Affekt, den Gott besser unterdrücken sollte. Es ist das notwendige Nein Gottes gegen alles lebens- und gottfeindliche Handeln der Menschen. Es geht deshalb nicht darum, diesen Zorn zu besänftigen. Es ist nötig, die Schuld, der dieses Nein gilt, zu verarbeiten. Gott bewältigt seinen Zorn selbst, indem er im Tod Jesu all das auf sich nimmt, dem sein Nein gilt! Darum gilt auch eine dritte Aussage: 3) Es ist Gott, der seine Liebe zu uns dadurch erweist, dass Christus für uns gestorben ist als wir noch Sünder waren (Röm 5,8). Paulus teilt

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hier die Überzeugung der Urchristenheit, dass Jesu Lebenshingabe tiefster Ausdruck der Liebe Gottes ist (vgl. Joh 3,16; 1Joh 4,9f). Bevor wir Menschen irgendetwas zu unserem Heil tun konnten, hat Gott den Weg frei gemacht für eine neue Gemeinschaft mit ihm. Für Paulus war das die alles verändernde Erkenntnis in seiner Begegnung mit dem auferstandenen Christus. Jesus und das Heil der Menschen Wie diese Begegnung sein Verhältnis zu Jesus veränderte, zeigt sehr schön der Bericht von ihr in Gal 1,15f. Paulus schreibt dort, dass es Gott gefiel, »mir seinen Sohn zu offenbaren, dass ich ihn unter den Völkern verkündige«. Der gekreuzigte Jesus von Nazareth ist Gottes Sohn! Das war für Paulus die sein ganzes Lebenskonzept umstürzende Erkenntnis aus dieser Begegnung. Bisher war er überzeugt gewesen, dass Jesus als Gekreuzigter unter Gottes Fluch stand, wie das Dtn 21,22f feststellte. Deshalb hatte er seine Anhänger, die ihn als Messias verkündigten, bekämpft und verfolgt. Durch diese Erkenntnis aber erschien sowohl die Person Jesu als auch die Bedeutung seines Todes in völlig neuem Licht. 1) Die Namen Jesu Paulus hat keine eigenen Begriffe geprägt, um die Bedeutung der Person Jesu zu benennen, sondern sich in die Sprachwelt der frühen Christenheit eingefunden. Zentral wurde für ihn das Bekenntnis zu Jesus als Gottes Sohn. Diese Aussage war für ihn nicht zwangsläufig mit einer Theorie über die biologische Entstehung Jesu verbunden. Für einen Juden galt der kommende Messias als Sohn Gottes (Ps 2,7; 2Sam 7,14), und dieser Titel stand nicht in Konkurrenz zu der Überzeugung, dass der kommende Friedenskönig ein Nachkomme (= Sohn) Davids sein würde (so auch bei Paulus Röm 1,3f). Das Bekenntnis zu Jesus als Gottes Sohn unterstreicht für Paulus vor allem die Überzeugung: Im Wirken Jesu war Gott selbst am Werk. »Als die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn«, heißt es in Gal 4,4 f. In ihm wird Gott Mensch, genauer gesagt Jude, »geboren von einer Frau und unter das Gesetz getan«. Oder ganz ähnlich in Röm 8,2: Was das Gesetz nicht fertigbrachte, das tat Gott: »Er sandte seinen Sohn in der Gestalt des sündigen Fleisches … und verurteilte die Sünde im Fleisch«. Gott überwindet die Gottestrennung der Menschen, indem er im Sohn ihre Feindschaft gegen Gott auf sich nimmt. Am eindrücklichsten zeigt sich das in Röm 8,31f: »Ist Gott für uns, wer ist dann gegen uns? Er hat seinen eigenen Sohn nicht verschont, sondern ihn für uns alle hingegeben – wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken?« Dass Gott für uns ist und uns nichts von seiner Liebe tren-

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nen kann (8,38f), das ist durch Leben und Sterben seines geliebten Sohnes verbürgt. Darum beschreibt Paulus sein neues Leben und die neue Identität, die ihm Gott durch Christus geschenkt hat, mit den Worten: »Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir. Was ich jetzt noch im Fleisch, meiner irdischen Existenz lebe, lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich für mich hingegeben hat« (Gal 2,20). Im Sohn wird Gottes Liebe ganz persönlich und konkret. Die häufigste neue Bezeichnung für Jesus, die Paulus verwendet, ist jedoch Christus, der Gesalbte, der Messias. Sehr oft wird dieser Titel in Verbindung mit dem Namen Jesus gebraucht: Christus Jesus oder Jesus Christus. Dabei zeigt die häufige Voranstellung von Christus, dass das für Paulus nicht einfach ein Doppelname ist, sondern bewusst bleibt: Es geht um den Messias Jesus. Ganz eindeutig Messias bedeutet das Wort aber nur in Röm 9,5. Es ist auch bemerkenswert, dass der Begriff nirgends mit den traditionellen Zügen der Erwartung eines Friedenskönigs und Herrschers in Gerechtigkeit gebraucht wird. Wie schon in manchen übernommenen formelhaften Wendungen wird er vor allem dort verwendet, wo davon gesprochen wird, dass Christus für uns gestorben und auferstanden ist (Röm 14,9; 1Kor 15,3–5). Obwohl das Judentum das Motiv eines leidenden Messias nicht kennt, wird im Urchristentum und vor allem bei Paulus Jesu Bereitschaft, den Tod auf sich zu nehmen, und Gottes Handeln an ihm in der Auferweckung zum entscheidenden Merkmal seiner Messianität. Paulus übernimmt auch das grundlegende frühchristliche Bekenntnis: Jesus ist Herr (Röm 10,9; 1Kor 12,3; Phil 2,11). Das ist nicht nur eine Meinungsäußerung oder einfache Feststellung. Dieses Bekenntnis ist eine sog. Akklamation, die es auch im politischen Raum gibt und mit der sich Menschen der Herrschaft eines Herrschers unterstellen. Es ist Jesus, der von Gott zum Herrn der Welt, vor allem aber seiner Gemeinde, erhöht wurde, dessen Herrschaft sich die anvertrauen, die dieses Bekenntnis sprechen. Dabei treffen sich in dem Begriff Herr (griech. kyrios) eine ganze Reihe von Vorstellungen: Herr ist im hellenistisch-römischen Bereich Würdetitel von Göttern und Herrschern (vgl. 1Kor 8,5f). Einige Jahrzehnte später wird sich Kaiser Domitian als »Unser Herr und Gott« feiern lassen. Die entsprechenden Vorstellungen gab es aber auch schon zur Zeit des Paulus. Das Bekenntnis zu Jesus als dem Herrn relativierte deshalb alle menschlichen Machtansprüche. Sehr wichtig war auch, dass in der griechischen Übersetzung der hebräischen Bibel der Gottesname JHWH mit kyrios wiedergegeben wurde und deshalb bis heute in vielen deutschen Übersetzungen mit Herr übersetzt wird. Das erlaubte, viele alttestamentliche Stellen, in denen sich Herr eigentlich auf Gott bezog, auf Jesus zu deuten. Dennoch wurde

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Jesus dadurch nicht mit Gott gleichgesetzt. Sehr klar zeigt das 1Kor 8,6, wo Paulus sagt: Obwohl es viele Götter und Herren gibt, »so haben wir doch nur einen Gott, den Vater, von dem alle Dinge sind und wir zu ihm, und einen Herrn, Jesus Christus, durch den alle Dinge sind und wir durch ihn«. Jesus als Herr erscheint hier als Gottes Generalbeauftragter, der Gottes Werk in dieser Welt durchführt. Interessanterweise folgt Paulus auch dem Sprachgebrauch, schon den irdischen Jesus als Herrn zu bezeichnen. Er spricht von den Brüdern des Herrn (1Kor 9,5), zitiert ein Jesuswort als Gebot des Herrn (1Kor 7,10) und beginnt den Bericht über Jesu Handeln beim letzten Mahl mit den Worten: »Der Herr Jesus …«. Aber vermutlich bestand für Paulus kein kategorialer Unterschied zwischen dem irdischen Jesus und dem erhöhten Herrn. Deshalb könnte das »Wort des Herrn«, das er in 1Thess 4,15 zitiert, auch ein Wort des erhöhten Christus sein, das durch ein prophetisches Wort übermittelt wurde. In diesem Sinne nimmt er auch den urchristlichen Ruf Maranata: Unser Herr, komm! auf (1Kor 16,22). Der, der erwartet wird, ist die unverwechselbare Gestalt des Jesus von Nazareth, den Gott zum Herrn seiner Gemeinde und dieser Welt eingesetzt hat. Mit dem einfachen Namen Jesus beschreibt Paulus deshalb sehr betont die Identität dessen, der durch das Leiden hindurch ins Leben ging und mit diesem Geschick auch die prägt, die ihm nachfolgen (2Kor 4,10–12). »Einen anderen Jesus« predigen dagegen die, die das Kreuz Christi auf die eine oder andere Weise verleugnen (2Kor 11,4). Etwas vereinfacht gesagt, benennt Paulus mit den Titeln, die er für Jesus verwendet, drei Dimensionen des Christusgeschehens: Jesus ist der Christus, der durch sein Sterben und Auferstehen unsere verfehlte Vergangenheit bewältigt hat, er ist der Herr, der durch seinen Weg die Gegenwart und Zukunft der Seinen bestimmt, und er ist der Sohn Gottes, der durch sein Kommen den Menschen Gott ganz nahegebracht hat. Dass Paulus in diesen Begriffen nicht nur beliebig verwendbare Würdetitel für Jesus sieht, sondern sie als Hinweis auf eine klar umschriebene, heilvolle Wirklichkeit versteht, zeigen die beiden für seine Theologie charakteristischen Wendungen: In Christus und im Herrn. In Christus zu sein und zu leben bedeutet grundsätzlich, sich ganz in den Wirkungsbereich des Sterbens und Auferstehens Jesu zu stellen, auch wenn es dann gelegentlich formelhaft einfach die Bedeutung von christlich annehmen kann. Im Herrn zu leben und zu handeln bedeutet folglich, sein ganzes Sein und Verhalten von Jesus bestimmen zu lassen. 2) Die Sendung des Sohnes Die Titel, die Paulus für Jesus verwendet, geben eine erste Auskunft darüber, was Jesus für ihn bedeutet. Entscheidend dafür aber ist die Art,

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wie Gott durch ihn gehandelt hat. Dabei scheint die Bedeutung des Wirkens Jesu ganz auf seinen Tod und seine Auferstehung konzentriert zu sein. Es gibt bei Paulus so gut wie keine Anspielungen auf seine Tätigkeit als Verkündiger, Wundertäter und Lehrer, und er zitiert auch nur ganz wenige »Worte des Herrn« (s. o. S. 23). Aber dieser Eindruck täuscht. Denn Paulus kann auch von der Bedeutung der Menschwerdung Jesu als Ganzes für das Heil der Menschen sprechen. In Gal 4,4f heißt es: »Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und unter das Gesetz getan, auf dass er die, die unter dem Gesetz waren, loskaufte, damit wir die Kindschaft empfingen«. Dass Jesus als wirklicher Mensch, »geboren von einer Frau«, auf die Welt kam, und als Jude sich der Herrschaft des Gesetzes unterstellte, war Teil des rettenden Geschehens, mit dem Gott die Menschheit erlöst hat. Zwar ist das Motiv des Loskaufs eng mit dem Lebensopfer Jesu verbunden (vgl. Mk 10,45; 1Kor 6,20; 7,23), aber es ist hier eingebettet in die ganze Hingabe Jesu in das Geschick eines Menschen und die leidvollen Bedingungen menschlicher Existenz (vgl. das Verhältnis von Joh 3,16 und 1Joh 4,9f). Ähnlich die Aussage in 2Kor 8,9, wo Paulus »die Gnade unseres Herrn Jesus Christus« so beschreibt: »Obwohl er reich ist, wurde er doch arm um euretwillen, auf dass ihr durch seine Armut reich würdet.« Damit ist bei Paulus sicher nicht nur – aber auch – Jesu Leben in materieller Armut gemeint, sondern sehr viel umfassender sein Leben unter den Begrenzungen und prekären Bedingungen einer menschlichen Existenz, durch das er den Reichtum der göttlichen Gnade in das bedrängte und begrenzte menschliche Sein hineintrug. Wohl am eindrucksvollsten wird die Heilsbedeutung der Menschwerdung Jesu in dem Christushymnus in Phil 2,6–11 beschrieben: Er, der Gott gleich war, »hielt nicht daran wie an einer Beute fest, Gott gleich zu sein, sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen« (ZB/EÜ). Es ist also das ganz »normale« Menschsein dessen, der von Gott kommt, das die Grundlage für sein heilvolles Wirken ist. Aber auch hier ist Jesu Tod entscheidender Zielpunkt dieses Geschehens: »Er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, ja bis zum Tod am Kreuz«. Indem Jesus die Bedingungen einer menschlichen Existenz angenommen hat, hat er auch die Menschen angenommen, die unter diesen Bedingungen leiden und verderben. Damit wird er zum Vorbild für die, die von seinem Verhalten leben: »Darum nehmt einander an, wie auch Christus euch angenommen hat« (Röm 15,7). Das ist die paulinische Entsprechung zu der Aussage in Luk 15,1f: »Dieser nimmt die Sünder an und isst mit ihnen«.

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3) Im Zentrum: Kreuz und Auferstehung Aber es kann dennoch kein Zweifel sein: Das rettende Handeln Gottes im Kommen Jesu Christi findet für Paulus seinen Brennpunkt im Geschehen von Kreuz und Auferstehung. Zur Deutung dieses Geschehens übernimmt er die wichtigsten Erklärungsmodelle des Urchristentums; aber es gibt auch Motive, die seine ureigenen Erfahrungen und Überlegungen widerspiegeln. So lässt sich aus Gal 3,13 erschließen, dass Paulus den gekreuzigten Jesus nach Dtn 21,23 als von Gott verflucht ansah. Dass ihn seine Anhänger als Messias verkündeten, grenzte für ihn an Gotteslästerung. Aber als ihm Gott den Gekreuzigten als seinen auferstandenen Sohn offenbarte (Gal 1,16), war der Schluss unausweichlich, dass Jesu Tod eine andere Bedeutung haben musste. Indem Jesus den Fluch, den das Gesetz aussprach, auf sich nahm, »wurde er zum Fluch für uns« und »hat uns vom Fluch des Gesetzes freigekauft«. Stellvertretend für uns hat Jesus den Fluch getragen, den das Gesetz über die ausspricht, die es übertreten. Damit war für Paulus eine doppelte Folgerung unausweichlich: Erstens war damit die Rolle des Gesetzes als Heilsweg grundsätzlich in Frage gestellt (vgl. Phil 3,7f) – darauf werden wir gleich zurückkommen. Umgekehrt war damit zweitens geklärt, dass die Christen recht hatten, wenn sie in Jesu Tod Gottes Heilshandeln sahen, der »ihn unser aller Schuld treffen« ließ, wie es in Jes 53 vorausgesagt worden war. Was sich im Ritus des Versöhnungstages jedes Jahr vollzog, dass Gott für die Vergehen des Volks Sühne schaffte, das war in Jesus Christus ein für alle Mal geschehen: Ihn hat Gott »hingestellt als Sühne in seinem Blut« bzw. »als Sühnemal aufgestellt« (Röm 3,25 LÜ/EÜ) und so seine heilschaffende Gerechtigkeit erwiesen. Paulus kann dieses Geschehen mit ganz unterschiedlichen Bildern beschreiben. Christi Tod ist Loskauf aus der Schuldverhaftung unserer Sünde (1Kor 6,20; 7,23), durch ihn versöhnt Gott sich mit der Welt (2Kor 5,18f). Er kann den Vorgang aber auch sehr knapp und grundsätzlich kennzeichnen: »Gott hat den, der die Sünde nicht kannte, für uns zu Sünde gemacht, damit wir in ihm Gerechtigkeit Gottes würden« (2Kor 5,21), und »verurteilte die Sünde im Fleisch« (Röm 8,3). Indem sich der, der Gottes Gerechtigkeit lebt, mit unserer Sünde identifiziert, identifiziert er uns mit Gottes Gerechtigkeit: Nicht mehr die Sünde, sondern Gottes Gegenwart in seiner Gerechtigkeit und Treue bestimmt unser Leben. Was hier geschieht, ist mehr als ein mechanischer Austausch von Lebenslast und Identität. Was Gott tut, ist Ausdruck seiner Liebe: »Gott zeigt seine Liebe zu uns gerade dadurch, dass Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren« (Röm 5,8 ZB). Das kann auch ganz emotional formuliert werden: »Er, der seinen eigenen Sohn nicht verschont, sondern für uns alle dahingegeben hat, wie sollte er uns mit ihm nicht

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alles schenken?« (Röm 8,32). Von dieser »Liebe Gottes, die in Jesus Christus ist«, kann uns nichts, nicht einmal der Tod scheiden (Röm 8,37–39). Jesu Tod für uns ist mehr als eine Aktion Gottes zur Schuldbewältigung. Er ist der tiefste Ausdruck für die Gegenwart Gottes und seiner Liebe in den Nöten einer menschlichen Existenz. Allerdings bleibt der Glaube daran eine Herausforderung für die Menschen, weil dieses Handeln Gottes eigentlich dem widerspricht, was Menschen erwarten. Paulus macht dies am Beispiel von Juden und Griechen deutlich (1Kor 1,18–25). Juden »fordern Zeichen«, glaubhafte Manifestationen der Macht Gottes in dieser Welt. Griechen »fordern Weisheit«, Einblick in das, »was die Welt im Innersten zusammenhält«. Für sie ist das »Wort vom Kreuz«, die Botschaft von Gottes Handeln in einem Gekreuzigten, ein Affront oder einfach Unsinn. Und doch ist sie für die Menschen, denen Gott die Augen dafür öffnet, höchster Ausdruck von Gottes Kraft und Gottes Weisheit. Paulus verzichtet an dieser Stelle auf jede rationale Erklärung des Todes Jesu, etwa als Sühnopfer. Er verlässt sich darauf, dass Menschen erkennen: »Das Törichte an Gott ist weiser als die Menschen und das Schwache an Gott ist stärker als die Menschen«, denn es ist die Weisheit und Stärke der Liebe Gottes, die sich hier offenbart. So kommt Gott gerade den Schwachen und Verachteten nahe (1Kor 1,26–31). Für Paulus ist diese Aussage kein reines Paradox. Gott hat ein Zeichen dafür gesetzt, dass das, was schwach und unsinnig an seinem Handeln erscheint, seine wahre Stärke und Weisheit ist: Er hat Jesus auferweckt, ihn aus dem Tod geholt und so ihn und sein Wirken bestätigt. Das hebt das Ärgernis des Kreuzes nicht auf. Aber es macht gewiss: Die Liebe, die sich für andere gibt, behält den Sieg. In Tod und Auferweckung Jesu bewältigt Gott die verfehlte Vergangenheit und die bedrohte Zukunft des Menschen: »Wegen unserer Verfehlungen wurde er hingegeben, wegen unserer Gerechtmachung wurde er auferweckt« (Röm 4,25 EÜ). Das Wirken des Geistes Für Paulus besteht eine enge Beziehung zwischen der Kreuzesbotschaft und der Gabe des Geistes. Wenn es in Röm 5,5 heißt: »Die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist«, dann wird in den folgenden Versen sofort erklärt, dass Gott diese Liebe dadurch erwiesen hat, dass Jesus Christus für uns starb. Die Verkündigung des Apostels in Korinth, für die er beschlossen hatte, »nichts zu wissen als Jesus Christus, den Gekreuzigten«, und die »in Schwachheit und in Furcht und mit großem Zittern« geschah, gewann ihre Wirkung »durch den Erweis des Geistes und der Kraft« (1Kor 2,2–5). Und dieser Erweis des Geistes und der Kraft bestand offensichtlich nicht in spektakulären Wundertaten, sondern

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in dem Wunder, dass die rhetorisch eher bescheidende und inhaltlich anstößige Verkündigung des Paulus Glauben fand (vgl. 1Thess 2,13). Das zeigt, wie der Geist wirkt: Er stellt Menschen in die Wirklichkeit der neuen Beziehung zu Gott, die durch das Kommen und die Lebenshingabe Jesu begründet ist. Gott hat seinen Sohn gesandt, »damit wir als Söhne und Töchter angenommen würden. Weil ihr aber Söhne und Töchter seid, hat Gott den Geist seines Sohnes in unsere Herzen gesandt, den Geist, der da ruft: Abba, Vater!« (Gal 4,4f ZB). Umgekehrt gilt: »die vom Geist Gottes getrieben werden, das sind Söhne und Töchter Gottes« Sie haben den »Geist der Kindschaft empfangen, in dem wir rufen: Abba, Vater! Eben dieser Geist bezeugt unserem Geist, dass wir Kinder Gottes sind« (Röm 8,14–16). Für Paulus gehört daher der Empfang des Geistes zur »Grundausrüstung« des Christseins. Darum kann er die Christen in Galatien ganz selbstverständlich fragen: »Habt ihr den Geist durch die Werke des Gesetzes oder durch das Hören der Glaubensbotschaft empfangen?« (Gal 3,2 EÜ). Er geht davon aus, dass alle Christen den Geist geschenkt bekommen haben. Ob er das auch an besonderen enthusiastischen Erscheinungen festmacht oder ob er an das Geschenk der Gewissheit denkt, Gottes Kind zu sein, bleibt offen. Für Paulus hat das Wirken des Geistes drei Dimensionen: Die erste zielt auf das Innerste der Menschen und macht ihnen gewiss, dass sie als Sohn oder Tochter ganz zu Gott gehören. Von ihr war bisher die Rede. Die zweite stattet die Christen mit ganz unterschiedlichen Gaben und Befähigungen aus, die sie in das Miteinander der Gemeinde und wohl auch in das Zusammenleben mit anderen Menschen einbringen. Und die dritte lässt die »Frucht des Geistes« wachsen, ein Verhalten, das ganz von Liebe geprägt ist. Aber zunächst zur zweiten Dimension: Sie wird vor allem in 1Kor 12 in der Diskussion über die Geistesgaben oder – wie Paulus selbst formuliert – die Gnadengaben (Charismen) entfaltet. Er sagt dort: »Durch einen jeden offenbart sich der Geist zum Nutzen aller« (1Kor 12,7). Auch hier geht Paulus davon aus, dass alle Christen an den Gaben des Geistes teilhaben, dass sich das aber unterschiedlich manifestiert. Wie wichtig es ist, dass es diese Unterschiede gibt, veranschaulicht er am Beispiel eines Organismus und seinen ganz verschiedenen Organen. Erst dass es diese Unterschiede gibt, macht einen Leib lebensfähig. Das Wirken des Geistes ist also in gleicher Weise ganz persönlich und gemeinschaftsbezogen: »Wir sind durch einen Geist alle zu einem Leib getauft, wir seien Juden oder Griechen, Sklaven oder Freie, und sind alle mit einem Geist getränkt« (1Kor 12,13). Die ethnischen und gesellschaftlichen Unterschiede sind im Wirkungsbereich des Geistes aufgehoben, darum be-

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gründen auch die unterschiedlichen Begabungen keine Wertunterschiede mehr, sondern können dankbar gelebt werden, weil sie Wirkung und Gabe des einen Geistes sind. Weil es um das Leben in der Gemeinschaft geht, ist der einzige Maßstab, den es für sie gibt, die Liebe (1Kor 13)! Um ein Leben in der Liebe geht es auch bei der dritten Dimension des Wirkens des Geistes, das »Leben im Geist« angesichts der Herausforderungen des täglichen Lebens (Gal 5,16). Aufgrund des natürlichen Egoismus des Menschen, der möglichst viel Lebensraum und Lebensmittel für sich sichern möchte (»die Begierden des Fleisches«), ist ein Leben in der Liebe nur mit der Kraft des Geistes möglich. Nur mit seiner Hilfe lässt sich das Liebesgebot und damit das Gesetz erfüllen. Wo man den Geist wirken lässt, da »erntet« man »die Frucht des Geistes«: »Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut, Keuschheit« (Gal 5,22f). Das freilich ist kein Automatismus, sondern erfordert ein aktives Mitgehen: »Wenn wir im Geist leben, lasst uns auch im Geist wandeln!« (Gal 5,25). Wie wichtig Paulus diese Überlegungen sind, zeigt sich daran, dass er sie im Römerbrief wieder aufnimmt. Gottes Geist ist das Unterpfand, gewissermaßen die Anzahlung für die künftige Gemeinschaft mit Gott (Röm 8,23: 2Kor 1,22): »Wenn aber der Geist dessen, der Jesus von den Toten auferweckt hat, in euch wohnt, so wird er, der Christus von den Toten auferweckt hat, auch eure sterblichen Leiber lebendig machen durch seinen Geist, der in euch wohnt« (Röm 8,11). Aber dadurch entsteht ein Kampf zwischen dem »Fleisch«, dem Ausleben selbstsüchtiger kreatürlicher Instinkte, und dem »Geist«, der zu einem Leben in der Liebe befähigt. In diesem Kampf wird der Geist die Oberhand behalten; aber die Glaubenden müssen sich für seine Kraft öffnen und sie wirken lassen: »Wenn ihr durch den Geist die Taten des Leibes tötet, dann werdet ihr leben« (Röm 8,13). Ist hier vom Menschen ein aktives Teilnehmen am Wirken des Geistes gefordert, so spricht Paulus etwas später auch vom Eingreifen des Geistes dort, wo wir mit allen unseren Möglichkeiten am Ende sind: Dann »nimmt sich auch der Geist unserer Schwachheit an. Denn wir wissen nicht, was wir in rechter Weise beten sollen; der Geist selber tritt jedoch für uns ein mit unaussprechlichen Seufzern«. Wenn wir selbst mit unserem Beten nicht mehr weiterkönnen, tritt Gottes Geist für uns ein. Er stellt dennoch die Verbindung zu Gott her: »Der die Herzen erforscht, weiß, was die Absicht des Geistes ist. Denn er tritt so, wie Gott es will, für die Heiligen ein« (Röm 8,26f EÜ). Der Mensch und die Welt vor Gott Was aber soll die Sendung des Sohnes und des Geistes Gottes bewirken? Geht es Gott um das Heil des Einzelnen – so in der traditionellen Deu-

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tung vor allem der evangelischen Theologie – oder um die Zugehörigkeit zu Gottes Volk – so die Vertreter einer »neuen Perspektive« der paulinischen Rechtfertigungslehre – oder noch viel umfassender um den Beginn einer neuen Schöpfung – so unter den neueren Auslegern vor allem N.T. Wright? Doch das sind keine wirklichen Alternativen. Zweifellos hat die traditionelle Auslegung, vor allem lutherischer Prägung, das Gewicht zu stark auf die Rechtfertigung und Rettung des Einzelnen gesetzt und die anderen Aspekte mehr oder weniger ausgeklammert. Auch sie gehören für Paulus zum Ziel des Handelns Gottes. Aber es kann auch keinen Zweifel daran geben, dass für Paulus die Frage nach dem Heil der Einzelnen eine zentrale Rolle spielt. 1) Das Elend der Menschen Paulus ist davon überzeugt, dass das Verhältnis aller Menschen zu Gott von Grund auf zerstört ist. Er spricht davon auf zwei Weisen: Erstens ganz grundsätzlich, wenn er von der Sünde, der völligen Entfremdung von Gott spricht. Aber er kann zweitens auch von den Symptomen dieses unheilvollen Zustands reden, von den Sünden oder Übertretungen, die oft durch lange Lasterkataloge exemplarisch vorgeführt werden. Für Paulus ist das Leben in der Sünde einerseits ein Verhängnis, dem alle Menschen unterworfen sind: »Wie durch einen Menschen die Sünde in die Welt gekommen ist und der Tod durch die Sünde, so ist der Tod zu allen Menschen durchgedrungen, weil sie alle gesündigt haben« (Röm  5,12). Durch den Ungehorsam des einen, der aber die ganze Menschheit repräsentiert, sind alle der Macht der Sünde unterworfen. Aber andererseits hat die Sünde ihre Macht behalten, »weil sie alle gesündigt haben«. Die Sünde ist eine Art selbsterhaltendes System: Menschen werden in den Sog des Ungehorsams gegen Gott hineingeboren, aber sie verstärken seine Kraft, indem sie sich durch ihn mitreißen lassen und ihn durch ihr Tun immer wieder neu anstoßen. Die Art, in der dies geschieht, unterscheidet sich aber deutlich, je nachdem, ob es um Juden oder Nichtjuden, die sog. Völker oder Heiden, geht. Paulus beschreibt die beiden verschiedenen Arten sehr eindrücklich in Röm 1 für die Heiden und in Röm 2 und 3 für die Juden. Aber er vermeidet es in beiden Fällen, seine Schilderung mit dem Etikett »Heiden« oder »Juden« zu versehen. Er spricht vom »Menschen« (Röm 2,1) und beschreibt zwei Typen menschlichen Fehlverhaltens gegenüber Gott und den Mitmenschen. Auch die Menschen, denen sich Gott nicht wie für Israel in besonderer Weise offenbart hat, könnten Gott an seiner Schöpfung erkennen. Aber sie verweigern sich dieser Erkenntnis und verehren nicht den Schöpfer, sondern Bilder von Geschöpfen (Röm 1,18f). Sie verehren geschöpfliche

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Kraft und Schönheit und damit letztlich sich selbst. Aber Gott liefert sie ihrer Selbstvergötzung und ihrem Narzissmus aus und das zerstört die menschliche Gemeinschaft auf verschiedene Weise. Paulus illustriert das schwerpunktmäßig an homosexuellen Praktiken. Aber er fügt noch eine Fülle anderer gemeinschaftsschädlicher und lebensfeindlicher Verhaltensweisen dazu. Für ihn ist all das Symptom für das Grundproblem, nämlich die Entfremdung der Menschen vom wahren Gott (Röm 1,24–32). Aber auch die Juden verfehlen Gott und die Gemeinschaft mit ihm. Sie kennen Gottes Willen. Das aber verführt sie zu der Annahme, damit seien sie schon auf Gottes Seite. Doch es gilt, das Gesetz auch zu erfüllen, und zwar so, wie es von Gott her gemeint ist. Dabei zeigt sich am Gesetz eine doppelte Problematik: Das Verbot verführt dazu, es zu übertreten (Röm 7,7f). Aber die Art, wie Gebote und Verbote dem Menschen begegnen, kann auch dazu verleiten zu meinen, man könne sich durch ihre buchstäbliche Erfüllung die Annahme durch Gott verdienen. Das Gesetz verspricht denen Leben, die es tun (Lev 18,5), das ist wahr. Aber erstens scheitern sie daran, das Gesetz als Ganzes zu erfüllen (Röm 3,9–20) und zweitens sucht Gott nicht die Präsentation einer menschlichen Leistungsbilanz, sondern das einfache Vertrauen, den Glauben, der schon Abraham zur Gerechtigkeit gerechnet wurde (Gal 3,10f). Gerade in ihrem Eifer für Gott und sein Gesetz und ihrem Bemühen, ihre eigene Gerechtigkeit vor Gott zu erweisen, verfehlen jüdische Menschen nach Meinung des Paulus Gottes Gerechtigkeit, die im Glauben angenommen werden soll (Röm 10,1–4). Auch das hat nicht nur Auswirkung auf das Gottesverhältnis, sondern zerstört das Miteinander der menschlichen Gemeinschaft. Im Grunde ist für alle, ob Juden oder Heiden oder Christen, die Frage entscheidend: Worauf baue ich mein Leben? Oder in der Sprache der Bibel: Wessen rühme ich mich? Ist es die eigene Leistung, die eigene Frömmigkeit, die eigene Schönheit, Weisheit oder Kraft, mein Reichtum oder meine Gesundheit, sind es äußere Sicherungssysteme oder Rezepte für ganzheitliche Lebenskunst? Oder vertraue ich ganz auf Gott nach dem biblischen Ratschlag: »Wer sich rühme, rühme sich des Herrn« (Jer 9,22f; 1Kor 1,30f; Röm 3,27). An einer Stelle deutet Paulus an, dass die Entfremdung des Menschen von Gott nicht nur die menschliche Gemeinschaft schwer beschädigt, sondern auch unheilvolle Auswirkungen auf die ganze Schöpfung hat, also das Ökosystem Erde, in dem und von dem wir leben. Man hat die Bedeutung dieser Stelle erst in unserer Zeit wiederentdeckt. Paulus schreibt in Röm 8,20: »Die Schöpfung ist der Nichtigkeit unterworfen, nicht aus eigenem Willen, sondern durch den, der sie unterworfen hat,

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auf Hoffnung hin« (EÜ). Es ist nicht sicher, wer nach Meinung des Paulus die Schöpfung der Vergänglichkeit unterworfen hat. Ist es Gott, der die Schöpfung in die Schicksalsgemeinschaft mit dem Menschen stellt, oder ist es der Mensch, der durch seine Maßlosigkeit im Umgang mit sich selbst und seinen Mitgeschöpfen auch seine Umwelt zerstört? Das sehnsüchtige Seufzen der Kreatur nach Erlösung konkretisiert sich für uns heute jedenfalls im spürbaren Leiden von Mitgeschöpfen an einer von Menschen verursachten tiefgreifenden Umweltzerstörung. Und es könnte ein Vorschmack künftiger Erlösung sein, wenn Menschen zu Gott und damit auch zu sich selbst finden würden und damit auch zu einem pfleglichen Umgang mit der Schöpfung. 2) Die neue Gemeinschaft mit Gott Dafür aber hat Gott die entscheidenden Voraussetzungen geschaffen und in Jesus Christus eine neue Begegnung mit sich eröffnet. Wir haben die wichtigsten Aussagen schon genannt: »Als sich aber die Zeit erfüllt hatte, sandte Gott seinen Sohn, zur Welt gebracht von einer Frau und dem Gesetz unterstellt, um die unter dem Gesetz freizukaufen, damit wir als Söhne und Töchter angenommen würden« (Gal 4,4f ZB). »Was dem Gesetz unmöglich war, weil es durch das Fleisch geschwächt war, das tat Gott: Er sandte seinen Sohn in der Gestalt des sündigen Fleisches und um der Sünde willen und verurteilte die Sünde im Fleisch« (Röm 8,3).

Dass Jesus, der Mensch, in dem Gott gegenwärtig ist, die Grenzen und Belastungen menschlicher Existenz auf sich nimmt und bewältigt, bringt die Menschen wieder Gott nahe. Aber was an Bösem durch Menschen geschehen ist, steht weiter zwischen Gott und Mensch. Vergebung bedeutet für die Bibel und auch für Paulus nicht, zu ignorieren, was menschliches Versagen und Verfehlen an Unheil verursacht haben. Schuld muss verarbeitet werden. Die Altlasten menschlicher Sünde müssen entsorgt werden, damit ein neuer Anfang möglich ist. Das tut Gott, und um das zu erklären, greift Paulus das alttestamentliche Geschehen der Sühne auf. Sühnopfer sind eine Gabe Gottes für den Menschen zur Verarbeitung und Vergebung der Sünde (vgl. Lev 4 und 5; Jes 43,22–25). Was in Jesu Tod geschah, ist die ein für alle Mal vollzogene und für alle gültige Sühne, die für Israel Jahr für Jahr am Versöhnungstag für das Volk erwirkt wurde (Lev 16). Gott hat Jesus am Kreuz »für den Glauben hingestellt zur Sühne (oder: als Sühnemal) in seinem Blut zum Erweis seiner Gerechtigkeit, indem er die Sünden

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vergibt, die früher begangen wurden« (Röm 3,25). Damit »erweist er seine Gerechtigkeit« – nicht dadurch, dass er Jesus bestraft, um dann freie Hand zu haben, allen anderen gegenüber barmherzig zu sein. Gott erweist seine heilschaffende Gerechtigkeit, indem er für die Menschen ihre unheilvolle Vergangenheit bewältigt. Damit ist der Boden für eine neue Gemeinschaft der Menschen mit Gott geschaffen. Paulus formuliert dies mit Hilfe zweier Motive, die für seine Botschaft zentrale Bedeutung haben. Das eine hat seine Wurzeln im israelitischen Rechtswesen; es sind die Aussagen zum Thema Rechtfertigung (s. o. S. 145 f.). Wenn sich in Israel bei einer Gerichtsverhandlung ergab, dass der oder die Angeklagte nicht schuldig war, dann hieß das Urteil nicht: Er oder sie ist unschuldig, sondern: er oder sie ist gerecht (Gen 38,26). Die Angeklagten wurden nicht freigesprochen, sondern gerechtfertigt. Denn damit war nicht nur die Frage ihrer Schuld erledigt, sondern sie waren wieder als vollgültige Glieder in die Rechtsgemeinschaft aufgenommen. Was aber im israelitischen Gerichtswesen ausdrücklich verboten war, nämlich, den Frevler zu rechtfertigen (Ex 23,7), das tut Gott: Er rechtfertigt den Gottlosen (Röm 4,5), und er tut dies, weil er im Tod Jesu die Schuld der Menschen getilgt hat (Röm 3,25; 4,25; Gal 3,13). Dieser Freispruch ist nicht nur ein Nein zur Anklage, sondern ein Ja zur betroffenen Person, das ihr Wert und Würde zuspricht. Es ist ein Freispruch zum Leben. Gerechtfertigt zu sein, bedeutet nicht nur, dass die schuldhafte Vergangenheit bereinigt ist, sondern öffnet die Tür für ein neues Leben in der Gemeinschaft mit Gott. Das unterstreicht das zweite Motiv, das aus dem Bereich der Politik und der sozialen Gemeinschaft stammt: Versöhnung. Im Unterschied zur Sühne geht es bei der Versöhnung nicht nur um die Überwindung eines vergangenen Konflikts, sondern auch um die Basis für eine neue Gemeinschaft, ein Miteinander im Frieden. So betont Paulus in 2Kor 5,18–20 zweimal, dass Gott es war, der in Christus uns, und nicht nur uns, sondern die ganze Welt »mit sich versöhnt hat«, indem er ihnen ihre Verfehlungen nicht anrechnete, im Bild gesprochen: die Kriegsschäden und -schulden selbst übernahm. Paulus formuliert das am Schluss dieses Abschnitts noch einmal ganz knapp: »Er hat den, der keine Sünde kannte, für uns zur Sünde gemacht« – in Christus hat Gott die Gottesfeindschaft der Menschen und ihre Folgen auf sich genommen –, »damit wir in ihm Gerechtigkeit Gottes würden« – also Menschen, die Träger und Zeugen der Heilstreue Gottes, seines Ja zu den Menschen, sind. Aber wenn Gott Frieden stiftet, dann ist das keine »Befriedung«, wie sie die Römer oft mit Waffengewalt ihren Gegnern aufzwangen. Da Gott

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eine neue Gemeinschaft begründet, sucht er das Einverständnis der Menschen, fragt nach ihrem Ja zu seinem Ja. Darum stellt Paulus neben den Akt der Versöhnung, der in Christus vollzogen wurde, den »Dienst der Versöhnung« und das »Wort der Versöhnung«, so wie zum Kreuz und dem, was dort ein für alle Mal geschehen ist, auch »das Wort vom Kreuz« gehört (1Kor 1,18). Der Dienst und das Wort der Versöhnung haben zunächst und vor allem die Aufgabe, weiterzusagen, dass Gott rechtsgültig Frieden geschlossen hat. Das gilt!  – unabhängig von der Entscheidung der Menschen. Zugleich aber fragt dieses Wort nach dem Einverständnis der Menschen. Paulus beschreibt seine Aufgabe mit eindrucksvollen Worten: »Wir sind also Gesandte an Christi statt und Gott ist es, der durch uns mahnt. Wir bitten an Christi statt: Lasst euch mit Gott versöhnen!« (2Kor 5,20). Gott dekretiert nicht; Gott bittet! Er bittet und mahnt durch seine Gesandten und Boten. Wie in der Person und dem Wirken Jesu so begegnet den Menschen in ihren Worten der Gott, der auf die Menschen zugeht und sie einlädt, in das Haus seines Friedens einzukehren. 3) Das Ja der Menschen – Glaube und Taufe Für Paulus vollzieht sich das Ja der Menschen zu Gottes Ja auf doppelte Weise: Durch den Glauben und in der Taufe. Merkwürdigerweise spricht Paulus nirgends darüber, wie sich diese beiden Akte genau zueinander verhalten. Entweder spricht er vom Glauben oder von der Taufe; ganz selten (Gal 3,26f) nennt er beide in einem Atemzug. Aber als Faustregel kann man sagen: Paulus spricht vom Glauben, wenn er davon redet, wie Christen ihren Weg mit Christus begonnen haben (Gal 3,2–5.26) und wie sie die Gemeinschaft mit ihm leben und erleben (Gal 2,20). Von der Taufe spricht er, wenn er davon redet, was das Leben der Christen von Anfang an bestimmt (Röm 6,3f; Gal 3,27). Glaube ist für Paulus das dankbare Ja der Menschen auf das große Ja Gottes, das er in Jesus Christus gesprochen hat. Glaube ist also freie Tat der Menschen, und doch keine »Leistung«, die sie von sich aus erbringen müssten, sondern Re-Aktion auf das, was Gott getan hat. Bezeichnenderweise fragt Paulus in Gal 3,2.5 die galatischen Christen nicht: »Habt ihr den Geist empfangen, als ihr zum Glauben kamt?«, sondern: »Habt ihr den Geist durch das Hören der Glaubensbotschaft (LÜ: die Predigt des Glaubens) empfangen?« (EÜ). Auch in Röm10,17 schreibt Paulus: »Der Glaube kommt aus dem Hören (LÜ: aus der Predigt)«, er verdankt sich ganz der Botschaft, auf die er reagiert. Der Glaube wird durch die Verkündigung angestoßen wie das Lachen durch einen Witz, sagt der Züricher Neutestamentler Hans Weder in einem gewagten, aber treffenden Bild (Entdeckung 58).

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Darum kann Paulus in Gal 3,23 auch davon sprechen, dass »der Glaube kam«, parallel dazu, dass »Christus kam«. Obwohl der Glaube Abrahams Vorbild und Vorwegnahme dessen ist, was der Glaube an Christus bedeutet, ist Glaube für Paulus nicht einfach eine menschliche Möglichkeit, die mit etwas gutem Willen erbracht werden kann, sondern eine Möglichkeit in die Gemeinschaft mit Gott zu treten, die sich erst durch dessen Handeln Jesus Christus den Menschen eröffnet (s. o. S. 287 f.). Aber Glaube kann dann doch auch die Tat des Menschen beschreiben: »Wenn du mit deinem Mund bekennst: Herr ist Jesus – und in deinem Herzen glaubst: Gott hat ihn von den Toten auferweckt, so wirst du gerettet werden«, sagt Paulus in Röm 10,9 (EÜ) und zitiert damit wohl einen urchristlichen Merksatz. Sich durch das Bekenntnis zu Jesus als Herrn rechtskräftig seiner Herrschaft zu unterstellen und sich im Innersten der Existenz (dem Herzen) dem Handeln Gottes zu öffnen, das sind die entscheidenden Schritte auf dem Weg zum Heil, der durch Gottes Handeln gebahnt ist. Zu glauben, dass Gott Jesus von den Toten auferweckt hat, bedeutet dabei nicht, mit Hilfe eines sacrificium intellectus (dem Opfer des Verstands), ein unglaubliches Mirakel für wahr zu halten, sondern sich dem rettenden und Leben schaffenden Handeln Gottes im Tod und der Auferstehung Jesus Christus anzuvertrauen. Dass allein der Glaube an Jesus Christus und weder Werke des Gesetzes noch irgendwelche anderen Qualifikationen den Weg zum Heil öffnen, ist für Paulus also eine befreiende und Grenzen überwindende Botschaft und nennt keine schwierige, vom Menschen zu leistende Bedingung. Man spricht im protestantischen Milieu heute zwar immer noch gerne davon, dass Gott das Heil allein aus Gnade schenkt, aber weniger gerne davon, dass dies allein aus Glauben geschieht, weil man das als Einschränkung der Gnade sieht. Für Paulus gibt es hier keine Differenz. Immer wieder betont er, dass alle, die glauben gerettet werden, und sieht darin die entscheidende Entschränkung der Botschaft vom Heil. Der Hinweis auf den Glauben nennt keine einschränkende Bedingung, so wenig wie die Feststellung, dass alle, die das angebotene Brot essen, satt werden (Gal 2,16; Röm 1,16f; 3,21–31). Mit Glauben meint Paulus aber nicht zuletzt die Art und Weise, wie Christen die bleibende Verbindung mit Gott, die Christus geschaffen hat, leben und erleben; sie leben im Glauben und noch nicht im Schauen (2Kor 5,7). Die innige Gemeinschaft mit Christus vollzieht sich im Glauben (Gal 2,20). Glaube ist für Paulus nicht nur das Tor in die Gemeinschaft mit Christus, sondern die Art und Weise an ihr festzuhalten oder – besser – sich in ihr halten zu lassen. Wo Paulus auf die Taufe Bezug nimmt, verweist er auf die Zueignung des Heils und die Aneignung einer neuen Lebenswirklichkeit, die in der

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Taufe ein für alle Mal geschehen ist. Das hat entscheidende Bedeutung für die persönliche Existenz der Getauften, aber auch für ihre Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der anderen Christen. So heißt es in Gal 3,27 zunächst: »Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen«. Das Bild von Christus als neuem Gewand symbolisiert die neue Identität der Getauften, den »neuen Menschen« bzw. die »neue Schöpfung«, die »in Christus« Wirklichkeit ist (2Kor 5,17). Christus repräsentiert aber nicht nur die neue Existenz der Einzelnen, sondern auch die neue Weise, wie sie zu einer Gemeinschaft zusammengeschweißt sind. Darum fährt Paulus fort: »Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus« (Gal 3,28). Christus ist die die Gemeinde umgreifende Realität, die alle Unterschiede zwischen den Menschen relativiert. Entscheidend ist, dass sie zu ihm gehören! Paulus hat diesen Gedanken schon einmal im 1Kor 12,12f ausgesprochen. Im Zusammenhang geht es dort um die unterschiedlichen Charismen der Christen. Der Apostel macht deutlich, dass die Einheit der Gemeinde nicht auf der Uniformität der Gaben beruht, sondern auf der Zugehörigkeit zu Christus, die durch die Taufe begründet ist: »Denn wir sind durch einen Geist alle zu einem Leib getauft, wir seien Juden oder Griechen, Sklaven oder Freie, und sind alle mit einem Geist getränkt«. An anderer Stelle aber geht es dann auch um die neue Wirklichkeit, in die die Christen durch die Taufe gestellt worden sind. So in 1Kor 6,11: »Ihr seid reingewaschen, ihr seid geheiligt, ihr seid gerecht geworden durch den Namen des Herrn Jesus Christus und durch den Geist unseres Gottes«. Das gilt, und auf dieser Grundlage gilt es jetzt zu leben. Noch intensiver wird dies in Römer 6 aufgezeigt, wo Paulus klar macht, dass das Übermaß der Gnade, von dem er spricht, nicht dazu führen kann, beliebig zu sündigen. Die Taufe bewirkt eben nicht nur die Abwaschung begangener Sünden, sondern – wie Paulus mit einem ganz anderen Bild sagt – den Tod für die Sünde und ein neues Leben im Dienst der Gerechtigkeit: »Oder wisst ihr nicht, dass alle, die wir auf Christus Jesus getauft sind, die sind in seinen Tod getauft? So sind wir ja mit ihm begraben durch die Taufe in den Tod, auf dass, wie Christus auferweckt ist von den Toten durch die Herrlichkeit des Vaters, so auch wir in einem neuen Leben wandeln« (Röm 6,3f). 4) Ein neues Verhältnis zu sich selbst Glaube und Taufe stellen den Menschen in ein neues Verhältnis zu Gott, und das bewirkt auch ein neues Verhältnis zu sich selbst und zu den Mitmenschen.

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Das neue Verständnis seiner selbst schildert Paulus am Beispiel seiner eigenen Existenzwende sehr anschaulich und persönlich in Phil 3,4– 11. Er erzählt pointiert, wie er seinen bisherigen Lebensentwurf und die Art, wie er das Gesetz befolgt hatte, als Fehlweg erkannte und als »Dreck« verwarf. In Röm 7 und 8 wird diese Einsicht sehr viel grundsätzlicher entfaltet. Dort hat sein »Ich« nicht nur biographische, sondern auch exemplarische Bedeutung. Er analysiert aus der Perspektive seiner Christuserfahrung, wie es mit seinem Leben im Gesetz in Wirklichkeit bestellt war (Röm 7,7–25), und schildert dann die Wirklichkeit eines neuen Lebens durch Christus und im Geist (Röm 8). Neues Sein und neues Selbstverständnis werden hier sehr einfühlsam und differenziert beschrieben. Wie diese Lebenswende für Nichtjuden, sog. Heiden, aussah, wird sehr viel schematischer geschildert. Es geht im Wesentlichen darum, sich von den toten Götzen ab und dem wahren Gott zuzuwenden (1Thess 1,9f). Oder es wird der Wechsel von einem moralisch anrüchigen Lebenswandel zu einer neuen Existenz ziemlich holzschnitthaft dargestellt, so in 1Kor 6,9–11, wo zunächst eine lange Liste von Schandtaten aufgezählt werden, deren Urheber nicht »das Reich Gottes erben« werden. Und dann heißt es: »Und solche sind einige von euch gewesen. Aber ihr seid reingewaschen, ihr seid geheiligt, ihr seid gerecht geworden durch den Namen des Herrn Jesus Christus und durch den Geist unseres Gottes«. Der Ritus der Taufe im Namen Jesu und das Wirken des Geistes schenken neues Leben Was kennzeichnet diese neue Existenz für Paulus? In dem Bericht über seine eigene Lebenswende beschreibt er sie folgendermaßen: Er hat die bisherigen Werte seines Lebens aufgegeben, »um Christus zu gewinnen und in ihm erfunden zu werden. Nicht meine Gerechtigkeit will ich haben, die aus dem Gesetz hervorgeht, sondern jene, die durch den Glauben an Christus kommt, die Gerechtigkeit, die Gott schenkt aufgrund des Glaubens. Christus will ich erkennen und die Macht seiner Auferstehung und die Gemeinschaft mit seinen Leiden, indem ich seinem Tod gleich gestaltet werde« (Phil 3,8–10 EÜ). An dieser Schilderung ist bemerkenswert, dass Paulus zwei Charakteristika dieser neuen Existenz, die sonst oft getrennt erscheinen, ganz eng miteinander verflicht. Da ist die enge Gemeinschaft mit Christus: »in ihm« soll sein Leben gefunden werden, ihn will er »erkennen« und sein Leben durch seinen Tod und Auferstehung prägen lassen. Man hat das in der Geschichte der Auslegung die Christusfrömmigkeit des Paulus genannt. Aber eng damit verbunden sind Motive der Rechtfertigungsbotschaft des Paulus: Nicht auf die eigene Gerechtigkeit, die er sich durch das Befolgen des Gesetzes zu erwerben hofft, will er sich verlassen, son-

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dern auf die, »die durch den Glauben an Christus kommt, die Gerechtigkeit, die Gott schenkt aufgrund des Glaubens«. Es ist viel darüber gestritten worden, was bei Paulus die Priorität habe: die Rechtfertigungslehre oder die Christusfrömmigkeit. Aber das ist so sinnvoll, wie darüber zu diskutieren, ob die Vorder- oder die Rückseite einer Medaille wichtiger ist. Für Paulus gehören beide Aspekte untrennbar zusammen. Denn – wie wir sahen – ist für ihn das Geschehen der Rechtfertigung nicht nur für die Bewältigung und Bereinigung der Vergangenheit zuständig. Das natürlich auch (vgl. 1Kor 6,11); aber Rechtfertigung ist nicht nur Freispruch von vergangener Schuld, sondern vor allem Freispruch zu einem neuen Leben. »Sind wir nun gerechtfertigt, so haben wir Frieden mit Gott« (Röm 5,1). In der Sprache der »Christusfrömmigkeit« heißt das: »Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur, eine neue Schöpfung; das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden« (2Kor 5,17). Auch hier ist damit ein Hinweis auf die Bewältigung der Vergangenheit verbunden: »Aber das alles ist von Gott, der uns mit sich selber versöhnt hat durch Christus … Denn Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit ihm selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu …« (V. 18f). Wo Schuld gesühnt und Menschen mit Gott versöhnt sind, da kann in der Gemeinschaft mit Christus ganz Neues, neue Schöpfung, beginnen. Und diesen Gedanken kann dann Paulus auch wieder mit der Rechtfertigungsterminologie ausdrücken: Gott »hat den, der keine Sünde kannte, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm Gerechtigkeit Gottes würden« (V. 21). In Christus, ihm ganz zugehörig, Gerechtigkeit Gottes zu sein, ist nichts anderes als in ihm neue Schöpfung zu sein, Gottes rechtfertigendes Handeln und die Gemeinschaft mit ihm in Christus ist Grund und Inhalt der neuen Existenz und befähigt zu rechtem Handeln und zur wahren Gemeinschaft. 5) Das neue Verhältnis zu den anderen Und das ist die Konsequenz: Das neue Verhältnis zu Gott bewirkt auch ein neues Verhältnis zu den Mitmenschen und begründet eine neue menschliche Gemeinschaft. Wir haben auf diesen Zusammenhang schon oben bei der Besprechung von Gal 3,27f hingewiesen (s. o. S. 148). Wie Paulus beides, die neue Gemeinschaft und das neue Verhalten, darstellt, wird uns in den nächsten beiden Abschnitten beschäftigen. Was uns heute allerdings bei Paulus zu fehlen scheint, ist die Überlegung, dass die neue Existenz auch bewirkt, aktiv an der Veränderung der Gesellschaft zu arbeiten. Das kam für ihn wohl aus mehreren Gründen nicht in Frage: Im römischen Reich konnten einfache Bürger oder gar Sklaven nicht an der Gestaltung der Gesellschaft mitwirken, und die starke

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Naherwartung ließ diese Aufgabe nicht dringlich erscheinen. Aber wo versucht wird, das Böse durch das Gute zu überwinden, da wird auch erwartet, dass das neue Verhalten der Christen Auswirkungen auf das Miteinander in der menschlichen Gesellschaft hat (vgl. Röm 12,9–21). Ein neues Verhältnis zur Natur als Schöpfung deutet sich in Röm 8,21f zumindest an – nicht als Aufruf, aktiv für die Bewahrung der Schöpfung einzutreten, aber doch als Sensibilisierung für das durch Menschen verursachte Leiden der Kreatur. Eine Lösung wird freilich erst durch das endzeitliche Handeln Gottes erwartet, wenn die Befreiung der Kinder Gottes zur endgültigen Gemeinschaft mit Gott auch die Schöpfung vom Schicksal der Vergänglichkeit erlöst (s. u. S. 296). Aber betrachten wir zunächst etwas ausführlicher, die beiden Bereiche, für die Paulus ein ganz neues Verhalten der Glaubenden erwartet: Das Miteinander in der Gemeinschaft der Gemeinde und das neue Handeln, das aus dem neuen Sein der Christen erwächst. Gemeinde als Lebensraum der Gnade Für Paulus wird Christsein grundsätzlich in Gemeinschaft mit anderen Menschen, die zu Christus gehören, gelebt. Selbst im Brief an Philemon, seinem einzigen Brief an eine Einzelperson, in dem es eigentlich um eine Privatangelegenheit geht, bezieht er dessen Hausgemeinde in den Meinungsaustausch mit ein. Wo der Apostel eine solche Gemeinschaft von Christen anredet oder von ihr spricht, nennt er sie auf Griechisch meist ekklesia, ein Wort, das sich mit Versammlung, Gemeinde oder Kirche übersetzen lässt. Im Sprachgebrauch der hellenistisch-römischen Gesellschaft bezeichnet das Wort die Vollversammlung einer Stadt (natürlich nur der stimmberechtigten Vollbürger) oder eines Vereins. Tatsächlich steht auch bei Paulus an vielen Stellen das Merkmal der versammelten Gemeinde im Vordergrund (vgl. 1Kor 11,18; 14,19 u. ö.). Aber der Begriff bekommt bei ihm eine breitere Bedeutung und bezeichnet dann auch die Gemeinschaft der Menschen, die sich zur Versammlung halten, also eine Größe, die wir heute Gemeinde nennen. Und an manchen Stellen spricht er sehr betont davon, dass er die Gemeinde Gottes verfolgt habe (Gal 1,13). Und damit ist offensichtlich nicht irgendeine einzelne Gemeinde gemeint, sondern die Gesamtheit derer, die Gott zu sich gerufen hat, also das, was wir heute Kirche nennen (1Kor 1,2; 12,28 u. ö.). An dieser Stelle scheint noch eine andere Bezugsgröße für die Begriffswahl auf: In der griechischen Übersetzung des Alten Testaments wird einer der beiden Hauptbegriffe für das versammelte Gottesvolk (hebr.: qahal) mit ekklesia wiedergegeben. Dort signalisiert Bezeichnung Versammlung/Gemeinde des Herrn die besondere Würde des Gottesvolks

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(Dtn 23,2–9). Vermutlich hört Paulus diese Bedeutung mit, wenn er von der Gemeinde Gottes spricht. Soziologisch gibt es manche Gemeinsamkeiten zwischen der Organisation der frühen christlichen Gemeinden und der jüdischer oder griechischer Vereine. Aber für Paulus ist Gemeinde mehr als Verein, mehr als der Zusammenschluss Gleichgesinnter. In ihr ist Christus leibhaftig gegenwärtig (1Kor 12,12f). Wenn Paulus von der Gemeinde als Leib bzw. als Leib Christi spricht, dann ist das für ihn nicht nur ein Bild für ihre Gemeinschaft als lebendiger Organismus, sondern auch die Beschreibung der Wirklichkeit, dass Christus im Leben der Gemeinde Gestalt gewinnt. Der Vergleich der Gemeinde mit einem Organismus dient Paulus vor allem dazu, die Bedeutung des Ineinander von Einheit und Vielfalt des Lebens in der Gemeinde zu beschreiben und zu begründen (1Kor 12; Röm 12,3–8). Er kann an diesem Beispiel klar machen, wie wichtig, ja notwendig die Verschiedenheit der Gaben ist, die es gibt, aber wie unabdingbar es ist, dass alle mit diesen unterschiedlichen Gaben für den Aufbau der Gemeinde und zur gegenseitigen Unterstützung zusammenarbeiten, gleich ob sie spektakulär erscheinen oder bescheiden im Hintergrund wirken. Denn alle die verschiedenen Geistes- oder Gnadengaben sind Geschenk des einen Geistes und Frucht der einen Gnade, und ihre Unterschiede begründen keine Rang- oder Wertordnung vor Gott. Die Charismenlehre konkretisiert so die Botschaft von der Rechtfertigung des Gottlosen für die Ekklesiologie. Eine Gemeinde, in der Menschen ganz unterschiedlicher Begabung und unterschiedlicher ethnischer, religiöser und sozialer Herkunft konstruktiv miteinander leben können, ist Lebensraum der Gnade, Ort an dem Christus und seine Liebe wohnen und wirken. 1) Autorität und Ordnung in der Gemeinde Es bleibt die Frage, wie sich eine solche Gemeinschaft organisiert und wie sie geleitet wird. Wie kann das freie Miteinander der Kräfte und Gaben bewahrt und so strukturiert werden, dass es nicht in ein Chaos mündet, aber auch nicht durch eine autoritäre und hierarchische Führung zurückgedrängt und abgewürgt wird? Paulus versucht, diese schwierige Balance zu halten, bietet aber kein klares Konzept für eine partnerschaftliche Gemeindeleitung der Zukunft. Das liegt unter anderem daran, dass der Apostel selbst die entscheidende Autorität für seine Gemeinden bleibt. In einer ganzen Reihe seiner Briefe kämpft Paulus darum, seine von verschiedenen Seiten angefochtene Autorität zu verteidigen bzw. sie wiederzugewinnen. Und er tut das auf eine sehr ambivalente Weise. Einerseits betont er immer wieder, dass er

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diese Autorität gerne zugunsten der Eigenverantwortung der Gemeinde zurücknehmen möchte (2Kor 1,24). Andererseits gibt es nicht wenige Stellen, an denen er in ziemlich autoritärem Ton auf seine Leitungsvollmacht pocht (1Kor 4,21; 2Kor 10,4f; 13,10). Besonders verwirrend mag es für die Gemeinden gewesen sein, dass er sich gerade in der härtesten Auseinandersetzung auf eine Autorität beruft, die aus seinem Leiden für Christus und seinem Leben für andere erwächst (2Kor 4,11). In der Gestalt des Apostels, der Leiden und Entbehrungen auf sich nimmt, um Christus den Menschen ganz nahe zu bringen, zeigt sich die Autorität des bittenden Christus (2Kor 5,20; 6,3–10). Das spiegelt sich auch darin wider, wie Paulus in der Gemeinde Autorität begründet. Entgegen der Aussage in Apg 14,23 scheint Paulus keineswegs in allen Gemeinden Leitungsgremien mit Ältesten eingesetzt zu haben. Gerade in Korinth, wo alles danach zu rufen schien, dass jemand energisch die Führung in die Hand nimmt, appelliert er nicht an irgendwelche Amtsträger, sie sollten für Ordnung sorgen und das Mahl des Herrn so leiten, wie es der Sache angemessen ist. Nein, er spricht immer die ganze Gemeinde auf ihre Verantwortung an, ihre Angelegenheiten selbst zu ordnen. Dennoch versucht er die Autorität bestimmter Leute in den Gemeinden zu stützen. Das sind Erstbekehrte wie Stephanas und sein Haus in Korinth, aber nicht aus dem formalen Grund der zeitlichen Priorität ihrer Bekehrung, sondern weil sie sich »mühen« (1Kor 16,15f; ähnlich 1Thess 5,12f). »Mühen« ist ein Lieblingswort des Paulus, das eigentlich niedere, schweißtreibende Sklavenarbeit bezeichnet, von ihm aber für die Mühe seiner missionarischen und Gemeinde aufbauenden Arbeit verwendet wird. Die Gemeinde soll also auf die hören, sich denen »unterordnen«, die sich  – im wörtlichen und im übertragenen Sinne  – die Hände schmutzig machen für die missionarische und diakonische Arbeit der Gemeinde. Dass es hier ein breites Spektrum von verantwortlicher Mitarbeit in den Gemeinden gab, zeigt Röm 16, wo Paulus eine Fülle von Personen  – vor allem Frauen  – nennt, die sich für die Gemeinde und andere einsetzen (V. 1.4.6.12). Aber nirgends werden diese Dienste zu festen Ämtern formalisiert – am ehesten vielleicht in Philippi mit den Bischöfen/Aufsehern und Diakonen, über deren Aufgaben und Stellung in der Gemeinde wir leider gar nichts wissen (Phil 1,1). Das gilt auch für Timotheus und Titus, die Mitarbeiter des Paulus, die er einige Male in teilweise sehr heikler Mission als seine Beauftragten in die Gemeinden schickt und deren Autorität er ebenfalls stark betonen kann. Aber auch hier scheint es nicht zu einer formalen Beauftragung als Stellvertreter oder Nachfolger des Paulus gekommen zu sein. Auch

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bei ihnen begründet Paulus sein Werben um Gehör für sie vor allem mit dem Hinweis auf ihren hingebungsvollen Dienst (1Kor 4,17; 2Kor 7,14f). 2) Das missionarische Engagement Eine ähnliche Ambivalenz finden wir auch, wo es um die missionarische Aktivität der Gemeinden geht. Es gibt in keinem der Briefe des Paulus eine Mahnung an die Gemeinden, missionarisch tätig zu sein, die Botschaft weiterzutragen und Menschen für Christus zu gewinnen. Das scheint ganz Sache des Apostels und seiner engeren Mitarbeiter zu sein. Für seine missionarische Haltung und für die Art, das Evangelium mit Menschen zu teilen, findet Paulus sehr eindrückliche Worte. Nicht nur die Botschaft, sondern auch sein Leben teilt er mit ihnen und versucht, den Juden wie ein Jude und den Griechen wie ein Grieche zu werden (1Thess 2,7f; 1Kor 9,19–23). Aber es fehlen direkte Aufforderungen, ihm darin zu folgen. Aber es gibt Indizien dafür, dass Paulus ganz selbstverständlich von einer missionarischen Wirkung der Existenz der Gemeinden ausging. Dass er das Verstehen von Außenstehenden zum Maßstab für die Verwendung der einzelnen Charismen im Gottesdienst macht, spricht hier eine klare Sprache (1Kor 14,20–25). Dass es auch zu missionarischen Aktionen von Leuten in der Gemeinde kam, zeigt Phil 1,15–18, wenn auch unter merkwürdigen Vorzeichen. Und die Art, wie Paulus seine innere Verpflichtung, allen Menschen das Evangelium zu bringen, den Christen in Rom vorstellt, will zweifellos diese gewinnen, sich an seiner Mission zu beteiligen (1,8–17). Das zeigt sich auch daran, dass sein Appell an die Christen in Rom, einander trotz verschiedener Auffassung in manchen Dingen anzunehmen, in den Ausblick darauf mündet, wie Christus Juden und Heiden begegnet (Röm 15,8–13). Exkurs: Die Rolle Israels im Denken des Paulus Das einzige Thema in der Korrespondenz des Paulus, zu dem es eine klare Selbstkorrektur des Apostels gibt, ist die Frage nach dem künftigen Geschick Israels und insbesondere der jüdischen Menschen, die nicht zum Glauben an Christus finden. Unter dem Eindruck der heftigen Auseinandersetzungen mit Mitgliedern der Synagoge bei der Entstehung christusgläubiger Gemeinden, die es auch in Thessalonich gegeben hat (Apg 14,1f; 17,5f), fällt Paulus in 1Thess 2,14–16 ein sehr pauschales Urteil über »die Juden«. Zur Begründung nennt er innerjüdische Kritik (»die Propheten verfolgt«, Neh 9,26, vgl. Mt 23,31.37), typisch christliche Vorwürfe (»den Herrn Jesus getötet«, vgl. Apg 2,23; 3,13), aber auch antijüdische heidnische Polemik (»allen Menschen feind«, vgl. Tacitus, Historien V,5,1) und aktuelle Probleme (»hindern uns den Heiden zu pre-

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digen«, vgl. Apg 13,50; 14,4). Vor allem der letzte Vorwurf wiegt schwer und führt zu dem Urteil, Gottes Gericht (sein »Zorn«) sei schon über sie gekommen, wobei offenbleibt, woran Paulus hier konkret denkt. Paulus wiederholt diese Vorwürfe und dieses Urteil nirgends. Im Gegenteil: Röm 9–11 liest sich wie ein ausdrücklicher Widerruf dieser Aussagen. Er argumentiert hier sehr differenziert und macht für den Unglauben der Juden den unerforschlichen Ratschluss Gottes (9,6–29), aber auch den fehlgeleiteten Eifer des Volks (9,30–10,21) verantwortlich. Vor allem aber sieht er im Unglauben eines großen Teils Israels eine Art göttliche »List«, durch die Raum für die Heiden geschaffen wurde, zu Gott zu finden (11,11–24). Das ist ein eklatanter Widerspruch zu den Aussagen in 1Thess 2,16! Vor allem aber hat Paulus die Überzeugung gewonnen, dass »ganz Israel gerettet wird« (11,26), und zwar durch eine besondere Begegnung mit Christus, durch die Gott sich seinem Bund mit Israel treu erweisen wird. Wenn Paulus in Gal 6,16 nicht nur denen »Frieden und Barmherzigkeit« zuspricht, die sich nach dem »Maßstab« des Glaubens richten, sondern auch dem »Israel Gottes«, so ist das keine andere Bezeichnung für die christliche Kirche; entweder ist ganz Israel als Gottes Volk gemeint oder speziell die gläubigen Juden. Zwar kann Paulus in heftiger Polemik auch einmal sagen: »Wir sind die Beschneidung, die wir im Geist Gottes dienen« (Phil 3,3). Aber dahinter steht keine prinzipielle Enterbungstheorie, sondern gegen die Beschneidungsforderung judaistischer Missionare setzt Paulus seine Überzeugung, worauf es für die Zugehörigkeit zu Gottes Volk, für die die Beschneidung ein Zeichen sein soll, wirklich ankommt (vgl. Röm 2,25–29). Die Hoffnung auf die endzeitliche Rettung ganz Israels hat allerdings für Paulus die innere Verpflichtung, die Botschaft von Jesus als dem Messias auch den Juden zu verkünden, nicht aufgehoben. Denn für ihn bedeutet das ja nicht, Juden zu Christen zu machen, sondern jüdische Menschen schon jetzt zum Glauben an Gottes rettendes Handeln in Jesus Christus zu führen. Judentum und christliche Kirche stehen sich noch nicht als völlig getrennte Größen gegenüber, auch wenn es bei Paulus erste Ansätze für eine Sicht der Kirche als »drittes Geschlecht« neben Juden und »Griechen« (= Heiden) gibt (1Kor 10,32). Christlicher Antijudaismus könnte sich zwar auf vereinzelte Aussagen des Apostels berufen; aber seine Verkündigung und Lehre als ganze widersprechen dieser Haltung eindeutig. Neues Sein schafft neues Handeln Paulus war vor allem in der letzten Phase seiner Wirksamkeit immer wieder dem Vorwurf ausgesetzt, seine radikale Gnadenlehre mache es

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unmöglich, die Notwendigkeit richtigen Handelns zu begründen. Er zitiert solche Vorwürfe selbst in Röm 3,8 und 6,1.15. Entsprechende Bedenken dürften auch hinter der Argumentation von Mt 7,21–27 und Jak 2,14–26 stehen. Auch bis in neuerer Zeit ist immer wieder behauptet worden, dass sich mit der Rechtfertigungslehre keine Ethik begründen lasse. Paulus hat sich diesen Vorwürfen und der Gefahr, auf die sie hinweisen, gestellt. Schon im Galaterbrief, dem ersten Brief, in dem er seine Rechtfertigungslehre entfaltet hat, widmet er diesem Thema einen längeren Abschnitt. Hatte er in Gal 5,1 noch emphatisch den Christen in Galatien zugerufen: »Zur Freiheit hat Christus uns befreit! Bleibt daher standhaft und lasst euch nicht wieder unter das Joch der Sklaverei zwingen!« (NGÜ), fährt er in 5, 13 warnend fort: »Ihr seid zur Freiheit berufen, Brüder und Schwestern. Nur nehmt die Freiheit nicht zum Vorwand für das Fleisch, sondern dient einander in Liebe!« (EÜ). Er sieht durchaus die Gefahr, dass Christen mit der durch Christus errungenen Freiheit Schindluder treiben und, ohne auf die warnenden Hinweise des Gesetzes zu achten, den geschenkten Freiraum dazu nutzen, die eigenen selbstsüchtigen Begierden auszuleben. Dagegen setzt Paulus die Überzeugung, dass wirkliche Freiheit immer Freiheit zur Liebe ist und die Herrschaft des Geistes dafür sorgt, dass die Selbstsucht der Menschen (das »Fleisch«) nicht wieder die Oberhand über das Leben und Tun der Christen gewinnt (Gal 5,16–18). Paulus greift dazu auch die jesuanisch-urchristliche Tradition auf, dass das Gesetz im Liebesgebot erfüllt ist. Aber unter der Leitung des Geistes tritt den Glaubenden dieses Gebot nicht mehr mit seinem »Du sollst« gegenüber. Der Geist lässt durch sein Wirken im Leben derer, in denen er wirkt, ganz organisch die »Frucht des Geistes« erwachsen, nämlich Liebe und alle anderen Verhaltensmerkmale, die von ihr geprägt sind (Gal 5,19f). Allerdings geschieht dies nicht automatisch, und die Christen werden nicht zur Marionette des Geistes, sondern sind aufgefordert, was der Geist wirkt, auch an sich geschehen zu lassen. Paulus schließt diese Überlegungen mit dem knappen Satz: »Wenn wir im Geist leben, so lasst uns auch im Geist wandeln« (5,25 LÜ, EÜ). Oder etwas besser verständlich: »Da wir also durch Gottes Geist ein neues Leben haben, wollen wir uns jetzt auch auf Schritt und Tritt von diesem Geist bestimmen lassen« (NGÜ). Das Wirken des Geistes fragt also nach dem Mit-Wirken des Menschen! Das ist in der evangelischen Theologie ein verpönter Gedanke. Man hat sogar ein eigenes theologisches Schimpfwort dafür: Synergismus (aus dem Griechischen: Mit-Wirken). Er gilt als Verleugnung des reformatorischen »allein«: Allein durch Christus, allein durch Gnade, allein

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durch Glauben. Aber Paulus (und auch andere neutestamentlichen Autoren) scheuen diesen Gedanken nicht. Paulus kann ihn in Phil 2,12f mit äußerster Paradoxie formulieren: »Schaffet, dass ihr selig werdet, mit Furcht und Zittern. Denn Gott ist’s, der in euch wirkt beides, das Wollen und das Vollbringen, nach seinem Wohlgefallen« (LÜ), bzw. – etwas Urtext näher: »Wirkt mit Furcht und Zittern euer Heil! Denn Gott ist es, der in euch das Wollen und das Vollbringen bewirkt zu seinem Wohlgefallen« (EÜ). Hier wird deutlich, dass solches Mit-wirken nicht bedeutet: Gott hat seinen Teil für euer Heil getan, jetzt seid ihr dran! Nein, dieses Mit-wirken heißt nichts anderes, als sich hineinnehmen zu lassen in das Wirken Gottes. Paulus entfaltet diesen Gedanken vor allem im Römerbrief. Über Röm 6 und die Begründung eines neuen Lebens durch das Sterben mit Christus in der Taufe haben wir schon gesprochen (s. o. S. 152). Hier operiert Paulus nicht mit dem Begriff Freiheit, sondern mit dem Motiv des Herrschaftswechsel: die Herrschaft der Sünde ist überwunden, die Getauften sind eingegliedert in den Herrschaftsbereich Gottes und stehen im Dienst der Gerechtigkeit. Doch auch hier werden sie ermahnt, sich ganz konkret (mit ihren »Gliedern«) in den Dienst Gottes zu stellen (6,12f). Wie das praktisch aussieht, entfaltet Paulus in Röm 12 und 13. Hier sagt er ganz unpolemisch, wie Christen miteinander und für andere leben. Er nennt das den »vernünftigen« oder »wahren Gottesdienst«, in dem Menschen sich mit Leib und Leben »als lebendiges Opfer« Gott zur Verfügung stellen (Röm 12,1). Ernst Käsemann hat das »Gottesdienst im Alltag der Welt« genannt. Auch hier stehen diese Mahnungen nicht isoliert neben den Aussagen über Gottes Heilshandeln. Paulus fordert zu einem solchen Verhalten »kraft der vielfältigen Barmherzigkeit Gottes« auf. Sie ist Grundlage, Motivations- und Kraftquelle, aber auch Beispiel für das Handeln der Christen (vgl. Lk 6,36). Solches Handeln unterscheidet sich deutlich von dem, was »man« in der Gesellschaft tut. Deshalb mahnt der Apostel: »Fügt euch nicht ins Schema dieser Welt«, lasst euch nicht gleichschalten, »sondern verwandelt euch durch die Erneuerung eures Sinnes, dass ihr zu prüfen vermögt, was der Wille Gottes ist: das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene« (Röm 12,2 ZB). Sich von der »Welt« zu unterscheiden, zeigt sich nicht nur daran, was man nicht tut, sondern vor allem an einem positiveren Verhalten anderen gegenüber. Paulus macht das interessanterweise zunächst an der Art des Zusammenlebens in der Gemeinde deutlich (12,3–8), zeigt dann aber in einer ganzen Reihe von Einzelsentenzen, die teilweise enge Berührung mit der Jesustradition aufweisen, was es heißt, Liebe in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen zu leben (12,9–21). Diese Anleitung zum rechten

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Leben unter »falschen«, sprich schwierigen Bedingungen gipfelt in der Aufforderung: »Lass dich nicht vom Bösen besiegen, sondern besiege das Böse mit Gutem« (12,21). Es folgt ein gewichtiger Exkurs zum Verhältnis der Christen zum römischen Staat, der durch seine vermeintliche Aufforderung zum unbedingten Gehorsam auch eine problematische Nachwirkung hatte (13,1–7). Am Schluss steht auch hier die Überzeugung, dass das ganze Gesetz im Gebot der Nächstenliebe zusammengefasst ist und durch ein Leben nach diesem Gebot erfüllt wird (13,8–14). Paulus sagt freilich nicht nur, wie das Augustinus tat: »Liebe und tu, was du willst«, sondern er konkretisiert durch einzelne Gebote oder Mahnungen, wie sich seiner Meinung nach Liebe in bestimmten Situationen verhält. Das ist wichtig, damit Liebe nicht nur ein Wort oder eine Stimmung bleibt, sondern zur Tat wird. Allerdings schließt das auch ein, dass sich die einzelnen Gebote am Liebesgebot messen lassen müssen. Die Hoffnung der Christen In seiner Auseinandersetzung mit Christen in Korinth, die Probleme mit dem Glauben an eine leibliche Auferstehung hatten, schreibt Paulus: »Hoffen wir allein in diesem Leben auf Christus, so sind wir die elendesten unter allen Menschen« (1Kor 15,19). Uns mag das übertrieben erscheinen, aber es zeigt, welche grundlegende Bedeutung für Paulus eine Hoffnung hat, die über das jetzige Leben hinausweist. Es zeigt auch, welch entscheidende Rolle für diese Hoffnung die Frage der persönlichen Zukunft über den Tod hinaus hatte. Aber es ging Paulus nicht nur um das eigene Weiterleben nach dem Tod. Diese Hoffnung war eingebettet in eine Vision von der Zukunft des ganzen Kosmos, in deren Mittelpunkt der Auftrag des auferstandenen Christus stand, Gottes Herrschaft in dieser Welt durchzusetzen. 1) Die Hoffnung auf die Vollendung Am klarsten ist diese Vision in 1Kor 15,23–28 beschrieben, wo Paulus eine genaue Reihenfolge der End- und Auferstehungsereignisse nennt: Erster ist Christus; dann folgen, wenn Christus kommt, alle, die zu ihm gehören. Danach kommt das Ende, wenn er jede Macht, Gewalt und Kraft entmachtet hat und seine Herrschaft Gott, dem Vater, übergibt. Denn er muss herrschen, bis Gott ihm alle Feinde unter seine Füße gelegt hat. Der letzte Feind, der entmachtet wird, ist der Tod. Denn: Alles hat er seinen Füßen unterworfen. … Wenn ihm dann alles unterworfen ist, wird auch er, der Sohn, sich dem unterwerfen, der ihm alles unterworfen hat, damit Gott alles in allem sei. (EÜ)

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Dass »Gott alles in allem sein wird«  – darum geht es. Auch die Vorstellung von einer Herrschaft des wiedergekommenen Christus dient einzig dem Ziel, Gottes Herrschaft in dieser Welt durchzusetzen. Im Rahmen dieses Gesamtbilds erscheint es dann wie eine Ausschnittvergrößerung, was Paulus in 1Kor 15,52–54 über die Wiederkunft Jesu und die Auferstehung derer, die zu Christus gehören, sagt: Seht, ich enthülle euch ein Geheimnis: Wir werden nicht alle entschlafen, aber wir werden alle verwandelt werden – plötzlich, in einem Augenblick, beim letzten Posaunenschall. Die Posaune wird erschallen, die Toten werden als Unverwesliche auferweckt, wir aber werden verwandelt werden. Denn dieses Verwesliche muss sich mit Unverweslichkeit bekleiden und dieses Sterbliche mit Unsterblichkeit. Wenn sich aber dieses Verwesliche mit Unverweslichkeit bekleidet und dieses Sterbliche mit Unsterblichkeit, dann erfüllt sich das Wort der Schrift: Verschlungen ist der Tod vom Sieg. (EÜ)

Ähnlich wie in den parallelen Aussagen in 1Thess 4,13–17 vertritt Paulus hier eine ausgesprochene Naherwartung und rechnet damit, dass die Wiederkunft Jesu noch zu seinen Lebzeiten erfolgen und er wie die anderen noch lebenden Christen in eine neue Auferstehungsleiblichkeit verwandelt werden wird. Eine erste Korrektur dieser Auffassung könnte in 2Kor 5 vorliegen, wo Paulus davon spricht, dass für die Christen schon bei ihrem Tod eine neue Existenz bei Gott bereit liegt: »Wir wissen: Wenn unser irdisches Zelt abgebrochen wird, dann haben wir eine Wohnung von Gott, ein nicht von Menschenhand errichtetes ewiges Haus im Himmel« (V. 1). Ganz sicher aber begegnet uns die Überzeugung, dass Christen nicht erst mit der zukünftigen Auferstehung ihrem Herrn begegnen und in seine Gemeinschaft aufgenommen werden, in Phil 1,23, wo Paulus angesichts des drohenden Märtyrertodes schreibt: »Eigentlich hätte ich Lust, aufzubrechen und bei Christus zu sein« (ZB), denn er ist gewiss, dass die Gemeinschaft mit Christus, die jetzt sein Leben ausmacht, sich durch den Tod hindurch entscheidend intensivieren wird: »Denn für mich ist Christus das Leben und Sterben Gewinn« (1,21 EÜ). Paulus sagt nicht, wie er die Vorstellung von der künftigen Auferstehung und dem sofortigen Überschritt in die Gemeinschaft mit Christus beim Tod miteinander verbindet. Er hat damit endlose Diskussionen um einen sog. Zwischenzustand ausgelöst und Stoff für viele Endzeitszenarien geliefert. Überhaupt fehlt bei ihm jede Tendenz, das zukünftige Handeln Gottes auszumalen. Er entwickelt keine Vision eines neuen Himmels und einer neuen Erde, in denen Gott alles in allem sein wird. Er erzählt nicht, wie die Herrschaft Christi und sein Kampf gegen die Feinde Got-

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tes und der Menschen aussehen wird. Er sagt auch nicht, wie er sich das Leben nach der Auferstehung vorstellt. Nur eines macht er klar: Bei der Auferweckung der Toten handelt es sich nicht um eine Wiederbelebung des alten Körpers, sondern um die völlige Verwandlung des ganzen Menschen in eine neue Existenzweise vor und mit Gott (1Kor 15,35–49; Phil 3,21). Dass er so intensiv an der Hoffnung auf die Auferstehung des Leibes (nicht: »Fleisches«) festhält, liegt daran, dass es ihm wichtig ist, dass der ganze Mensch mit allem, was ihn ausmacht, und nicht nur ein Teil von ihm, sei es Seele oder Geist, in die Verantwortung vor Gott und die Gemeinschaft mit ihm hineingestellt wird. 2) Hoffnung jetzt und heute Aber trotz der pessimistischen Aussage, die wir am Anfang des Abschnitts zitiert haben, kennt Paulus nicht nur eine Hoffnung für das Jenseits. Es gibt für ihn auch Hoffnung für das Leben vor dem Tod. Wichtig ist ihm aber, dass die Spannung zwischen einem schon jetzt und dem noch nicht auf keinen Fall schwärmerisch übersprungen wird: Wir sind noch nicht am Ziel (Phil 3,12–14), wir sind noch nicht zur Herrschaft gelangt (1Kor 4,8) und wir leben im Glauben und noch nicht im Schauen (2Kor 5,7). Aber »im Glauben« zu leben ist kein defizitärer oder gar heilsleerer Zustand, sondern die Art, wie wir schon jetzt mit Christus verbunden sind (Gal 2,20). Ist jemand »in Christus«, so ist er oder sie schon jetzt »neue Kreatur«, Teil der neuen Schöpfung. »Das Alte ist vergangen, Neues ist geworden« (2Kor 5,17). Die Verheißung, dass Gott alles neu macht, beginnt sich schon jetzt zu erfüllen. Die auf das Kommen des Tages des Herrn warten, leben schon jetzt im Licht des Tages (1Thess 5,5–11). Die auf das Erscheinen des Retters Jesus Christus aus dem Himmel hoffen, dürfen schon jetzt gewiss sein: »Unsere Heimat (oder: unser Bürgerrecht) ist im Himmel«, d. h. bei Gott, und darum können wir getrost und gewiss auf der Erde leben und kämpfen (Phil 3,20f). Sehr schön zeigt sich das Ineinander von gegenwärtiger und zukünftiger Hoffnung in Röm 5,1–11. Paulus macht zunächst deutlich, dass ein Leben im Frieden mit Gott zu Konflikten und Schwierigkeiten mit der gegenwärtigen Wirklichkeit führen kann. Aber aus solcher Bedrängnis erwächst Geduld, genauer: Durchhaltevermögen, Resilienz, und daraus erwächst neue Hoffnung, und diese Hoffnung enttäuscht nicht. Denn »die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist« (V. 5). Die Liebe Gottes, die er durch die Lebenshingabe Jesu erwiesen hat, ist gegenwärtige Wirklichkeit, schon erfüllte Hoffnung. Dass aber Gott uns diese Liebe gezeigt hat, als wir noch Sünder waren, ja, Gottes Feinde, weit weg von ihm, das schenkt die Gewissheit, dass er auch in der letzten Begegnung mit ihm auf unserer Seite stehen wird:

Die Botschaft des Paulus

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Gott aber erweist seine Liebe zu uns darin,  dass Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren. Um wie viel mehr werden wir nun durch ihn gerettet werden vor dem Zorn,  nachdem wir jetzt durch sein Blut gerecht geworden sind. Denn wenn wir mit Gott versöhnt worden sind  durch den Tod seines Sohnes, als wir noch Feinde waren, um wie viel mehr werden wir gerettet werden durch sein Leben,  nachdem wir nun versöhnt sind (5,8–10).

Gott ist für uns – das hat Gott durch den rettenden Tod Jesu gezeigt und das wird sich auch im letzten Gericht erweisen (vgl. Röm 8,31–39). Diese Aussage ist umso bemerkenswerter, als Paulus gerade die Christen davor warnt, dass sie sich im Gericht vor Gott verantworten müssen (Röm 14,10; 2Kor 5,10). Zu wissen, Gottes Liebe und Treue sind unverbrüchlich, entlässt nicht aus der Verantwortung vor ihm. Was aber bei Paulus fehlt, ist eine Schilderung des Jüngsten Gerichts über alle Menschen mit einem doppelten Ausgang: Freispruch oder Verurteilung. Obwohl sie in vielen Aussagen vorausgesetzt scheint (vgl. 1Thess 1,10; Röm 2,1–3,20), fehlt eine solche Darstellung auch in Passagen, wo man sie eigentlich erwartet (1Kor 15,20–28). Paulus spricht auch nirgends von einer allgemeinen Auferstehung zum Gericht. 2Thess 1 wird das dann nachholen. Gibt es einen Grund dafür? Für Israel hat sich Paulus die Hoffnung schenken lassen, dass letztlich »ganz Israel gerettet werden« wird, und zwar durch eine neue Begegnung mit Christus (Röm 11,26f). Wie aber steht es mit den andern? Paulus lehrt keine Allversöhnung. Aber es scheint so, dass sich ihm beim Nachdenken über die alle umfassende Güte Gottes ein Horizont der Hoffnung auftut, der tatsächlich alle Menschen umfasst. Gottes Weg der Barmherzigkeit gilt Juden wie Heiden: »Denn wie ihr einst Gott ungehorsam gewesen seid, nun aber Barmherzigkeit erlangt habt wegen ihres Ungehorsams, so sind auch jene jetzt ungehorsam geworden wegen der Barmherzigkeit, die euch widerfahren ist, damit auch sie jetzt Barmherzigkeit erlangen. Denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme« (Röm 11,30–32). Die Botschaft des Paulus hat ein Thema: Gott hat durch sein Handeln in Jesus Christus die ganze Menschheit mit sich versöhnt. Er hat alles Trennende überwunden, hat Frieden geschaffen und so den Grund gelegt für wirkliche Gemeinschaft mit ihm und für ein neues Miteinander der Menschen. Die Menschen müssen und sollen ihr Leben und das, was ihm Sinn und Wert gibt, nicht mehr auf Herkunft und religiöse Sozialisa-

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Dokumente der Paulusschule

tion, auf eigene Leistung oder ererbtes Gut bauen, sondern dürfen sich ganz auf Gottes Ja verlassen, das er in Jesus Christus zu ihnen gesprochen hat. Was sich an Schuld und Hader, an Leid und Selbstruhm zwischen Gott und Mensch geschoben hat, ist von Gott durch Leben und Sterben Jesus entsorgt und verarbeitet. Diese Botschaft müssen die Menschen erfahren: sei es durch die Verkündigung des Evangeliums, sei es, dass mit ihnen zusammen die Liebe Gottes gelebt wird. Wo diese Botschaft Menschen erreicht und mit hörendem Herzen aufgenommen wird, da wirkt sie – Glauben und Vertrauen, durch die Menschen sich in der Liebe Gottes bergen, – Liebe und Freiheit, durch die Menschen befähigt werden, füreinander da zu sein, – Hoffnung und Zuversicht, die ermutigen, gegen allen Widerstand das zu tun, was die Liebe empfiehlt, und auf die Überwindung allen Leides und alles Bösen durch Gott zu trauen. All das ist Gnade, bedingungslos geschenkt, aber nicht wirkungslos empfangen. Eine Gemeinschaft, die dafür offen ist, wird erfahren, was das Werk und Engagement des Glaubens, die Arbeit und Mühe der Liebe und die Geduld und Standhaftigkeit der Hoffnung (1Thess 1,3) an Gutem für Menschen drinnen und draußen bewirken. Alles aber geschieht in der Gewissheit: Nichts kann uns scheiden von der Liebe Gottes: weder Tod noch Leben, weder die Höhe beglückenden Erlebens noch die Tiefe leidvoller Erfahrung, weder die Last der Vergangenheit noch die Unsicherheit der Zukunft – nichts! (Röm 8,38f) III. E  ntfaltung und Sicherung des paulinischen Erbes – Dokumente der Paulusschule Neben den sieben Briefen, die mit großer Sicherheit von Paulus selbst diktiert wurden, finden sich in der Sammlung der Paulusbriefe sechs weitere Scheiben, die in seinem Namen geschrieben sind, deren paulinische Verfasserschaft aber fraglich ist. Von manchen Auslegern wird für den Kolosserbrief und gelegentlich auch für den 2. Thessalonicherbrief oder den 2. Timotheusbrief eine paulinische Verfasserschaft oder zumindest eine Autorisierung durch den Apostel angenommen. Der Epheserbrief und die beiden anderen Pastoralbriefe sind dagegen sicher erst nach dem Tod des Apostels in seinem Schülerkreis entstanden. In jedem Fall stellen Kolosser- und Epheserbrief einerseits und die Pastoralbriefe andererseits eine Weiterentwicklung der paulinischen« Theologie dar, die freilich in unterschiedliche Richtungen weist. Der 2. Thessalonicherbrief nimmt eine Sonderstellung ein.

Der Kolosserbrief

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1. Der Kolosserbrief – der kosmische Christus Der Brief an die Gemeinde in Kolossä ist wie der Römerbrief ein Schreiben an eine Gemeinde, die Paulus nicht selbst gegründet hat. Allerdings war Epaphras, der Gründer der Gemeinde, der selbst aus Kolossä stammte, ein enger Mitarbeiter des Paulus (1,7f; 4,12f). Die Gemeinde zählt deshalb, ähnlich wie die benachbarten Gemeinden von Laodizea und Hierapolis, indirekt zum Kreis der paulinischen Gemeinden. Es gibt enge Beziehungen zum Brief an Philemon (4,9–14; Phlm 23f), und wie dieser ist der Brief im Gefängnis geschrieben. Allerdings gibt es – wie schon erwähnt (s. o. S. 161) – erhebliche Zweifel daran, ob der Brief von Paulus persönlich geschrieben wurde. Der Sprachstil unterscheidet sich deutlich von den anderen Paulusbriefen. Auch in theologischen Aussagen gibt es wesentliche Akzentunterschiede, aber auch grundsätzliche Übereinstimmung. Die beste Erklärung für dieses Phänomen ist die Annahme, dass ein Mitarbeiter des Paulus (vielleicht Timotheus, vgl. 1,1) den Brief in seinem Auftrag geschrieben hat. Ein ganz konkreter Anlass für das Schreiben ist nicht zu erkennen. Offensichtlich gab es neue Herausforderungen durch religiöse Strömungen innerhalb oder außerhalb der Gemeinden. Das regte an, die Aussagen über Christus zu vertiefen und die Gegenwart des Heils stärker zu betonen, als das bisher bei Paulus der Fall war. Und während in den anderen Paulusbriefen die Aussagen über das richtige Verhalten der Christen immer durch konkrete Probleme veranlasst waren, gibt es mit der sog. Haustafel und vergleichbaren Ausführungen sehr viel allgemeinere ethische Belehrung und Anleitung. An einer Stelle mag aber doch ein konkreter Anlass für den Brief erkennbar sein: Die Auseinandersetzung mit anderen religiösen Strömungen Der Brief scheint gegen eine gefährliche Lehre zu kämpfen (2,8 nennt sie Philosophie). Aber leider ist es schwierig, sie genauer ins religiöse Spektrum der Zeit einzuordnen. In ihrem Mittelpunkt stand offensichtlich die Erkenntnis, dass sog. »Mächte der Welt« (EÜ: Elementarmächte der Welt, 2,8.20; vgl. auch Gal 4,3) im Bereich zwischen Himmel und Erde herrschten und sich zwischen Christus und die Christen stellten. Man sah in ihnen mächtige Engel, denen besonders demutsvolle Verehrung erwiesen werden musste, damit sie einen nach »oben« ließen (2,18). Dazu gehörte die Beachtung von Speisevorschriften, bestimmten Kalender- und Feiertagen, einschließlich des Sabbats, und anderer Tabuvorschriften (2,16.20-23). Es gab wohl auch Einweihungsriten, in denen geheime Dinge geschaut wurden (2,18) und zu denen vielleicht auch die

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Beschneidung gehörte. Es könnte sich also um eine jüdische Sondergemeinschaft gehandelt haben. Aber das bleibt unklar. Eindeutig ist dagegen die Abgrenzung vom Judentum. Die Gesetze der Tora sind für den Verfasser überholt (2,14.16f). Aber sie werden sehr viel weniger negativ gezeichnet als die Vorschriften der sog. »Philosophie«. In ihnen zeigt sich schon etwas von der Überwindung der irdischen Welt, und so nehmen sie schattenhaft vorweg, was in Christus Wirklichkeit geworden ist (2,17). Vielleicht steht hinter der sog. »Philosophie« keine aktuelle Bedrohung der Gemeinden, sondern es wird allgemein die Gefahr durch verschiedene religiöse Bewegungen der Antike gezeichnet. In jedem Fall bietet sie den Hintergrund für die Neuformulierung paulinischer Grundüberzeugungen. M. Gese formuliert sie in seinem Kommentar knapp und klar: »Der christliche Glaube beruht nicht auf menschlichen Überlieferungen, sondern gründet in Gottes Offenbarung, die sich in Christus ereignet hat. Der christliche Glaube orientiert sich nicht an den kosmischen Gesetzen, die die Welt bestimmen, sondern an dem, der die Welt und die in ihr waltenden Gesetze erschaffen hat. Damit ist der christliche Glaube nicht nur eine kleine messianisch-­ jüdische Sekte innerhalb des breiten Spektrums religiöser Vorstellungen. Der christliche Glaube hat vielmehr revolutionierende Kraft. Er hebt alle religiösen Vorstellungen und Erwartungen der Antike aus den Angeln. Dieser Anspruch zeigt sich in der Vorordnung Christi vor aller Schöpfung und in der kosmischen Bedeutung des Heilsgeschehens!« … »In dieser Christusvorstellung liegt eine geistige Kraft, die die antiken religiösen Vorstellungen hinter sich lässt. Das Verhältnis zur Welt wird auf völlig neue Füße gestellt. Hier geht es weder um ein Aufgehen in der Natur nach pantheistischen Vorstellungen noch um eine radikale Ablehnung der Geschöpflichkeit durch strikten Rigorismus oder absolute Askese. Der christliche Glaube ist der Welt zugewandt, ohne mit ihr zu verschwimmen. Denn er hat seine Verankerung in der himmlischen Welt, in der Christus zur Rechten Gottes ist. Gerade das macht seine große Stärke und Überzeugungskraft gegenüber den religiösen Vorstellungen der Antike aus« (Gese, Kolosserbrief 196f). Die umfassende Bedeutung des Christusgeschehens Kern der Argumentation ist eine Vertiefung der Deutung des Christusgeschehens. Darum steht gleich am Anfang des Briefes ein großer Hymnus, der zeigt, was Gott durch Christus wirkt (1,15–20). Er beschreibt mit seinen zwei Strophen eindrucksvoll die Parallelität von Schöpfung und Erlösung. Leitbegriffe der beiden Strophen sind Christus als »Erstgeborener der Schöpfung« und Christus als »Erstgeborener von den Toten«. Damit wird deutlich: Schöpfung und Erlösung korrespondie-

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ren einander. Schöpfung und Erlösung sind kein Gegensatz, sondern bauen aufeinander auf. Erlösung ist keine Korrektur oder Reparatur der alten Schöpfung, sondern wesentlich Neuschöpfung. Hymnus und Brief knüpfen hier unmittelbar an paulinische Aussagen wie 1Kor 8,6 an. Diese Aussagen werden im Folgenden weiter vertieft: In Christus »wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig« (2,9; vgl. 1,19). Betont wird von der »ganzen Fülle« gesprochen. Christus ist nicht nur ein begnadeter Mensch oder ein göttlich-menschliches Zwischenwesen wie die antiken Heroen. Vielmehr ist in Christus Gott vollkommen gegenwärtig. Damit ist die Wesenseinheit von Vater und Sohn ausgesagt. Deshalb ist Christus von vornherein der Welt und ihren Mächten vorgeordnet, jenseits von Zeit und Raum, vor allem Anfang und Dasein. Der Brief stellt das Heilsgeschehen bewusst unter zwei Aspekten dar: In der Aussage, dass Gott den Schuldbrief ans Kreuz geheftet hat (2,14), begegnet eine originäre Darstellung der Kreuzestheologie. Im Tod Jesu wird aber nicht nur die schuldhafte Vergangenheit der Menschen bewältigt, Gott hat damit auch die Mächte und Gewalten besiegt und entwaffnet (2,15). Beide Aspekte werden parallel nebeneinandergestellt und miteinander verbunden. So gelingt dem Kolosserbrief, die Heilsbedeutung des Kreuzestodes in kosmischen Dimensionen auszusagen: Durchgehend ist Gott der Handelnde. Er hat am Kreuz für die Welt das Heil eröffnet. »Im Kolosserbrief begegnet also ein Christusverständnis, das  – wie der Hymnus – dem Paulus in den anerkannten Briefen entspricht. Die kosmisch-universale Dimension, die in den anderen paulinischen Briefen ebenfalls angelegt ist, wird von ihm nochmals stärker in den Vordergrund gerückt und mit den zentralen Aussagen der Kreuzestheologie verbunden. Darin entspricht der Kolosserbrief ganz der Theologie des Paulus« (Gese, 195). Gegen die Spekulationen der sog. Philosophie setzt der Kolosserbrief eine Verkündigung der Christusbotschaft, die herausstellt, dass Gott durch Christi Tod am Kreuz und durch seine Auferweckung schon die ganze Schöpfung mit sich versöhnt und Frieden mit ihr und den Menschen gemacht hat (1,19f). Gott hat durch Christus »die Mächte und Gewalten ihrer Macht entkleidet und sie öffentlich zur Schau gestellt und über sie triumphiert« (2,15). Deshalb stehen die Christen nicht mehr unter der Herrschaft irgendwelcher Engelmächte und müssen sich auch nicht mehr besondere Vorschriften und Satzungen auferlegen lassen, um den Weg zu Gott frei zu machen. Denn sie sind »mit Christus für die Mächte der Welt gestorben« (2,20). Sie leben nicht mehr in dieser von allen möglichen Gewalten beherrschten Welt, sondern sind mit Christus auferstanden. Darum soll ihr Leben jetzt ganz auf das, was »droben ist«, also was Christus entspricht, ausgerichtet sein (3,1f).

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Im Zuge dieser Auseinandersetzung macht der Kolosserbrief aber auch Aussagen, die sich merklich von dem unterscheiden, was Paulus in früheren Briefen gesagt hat. Heißt es in Röm 6,8: »Sind wir aber mit Christus gestorben, so glauben wir, dass wir auch mit ihm leben werden«, so lesen wir in Kol 2,12: »Mit ihm seid ihr begraben worden durch die Taufe; mit ihm seid ihr auch auferstanden durch den Glauben« (vgl. 3,1). Auch das Bild vom Leib Christi wird unterschiedlich gebraucht: Wird in 1Kor 12,12f die Gemeinde als Leib Christi bezeichnet, und damit der ganze Leib mit Christus identifiziert, so ist im Kolosserbrief Christus das Haupt des Leibes, und zwar nicht nur der Gemeinde, sondern auch das »Haupt aller Mächte und Gewalten« (1,18; 2,10.19). Die Konsequenzen für die praktische Lebensführung Die Mahnungen im Blick auf die praktische Lebensführung beginnen mit einem eindrucksvollen Paradox, nämlich der Aufforderung: »Seid ihr nun mit Christus auferweckt, so sucht, was droben ist, wo Christus ist … Trachtet nach dem, was droben ist, nicht nach dem, was auf Erden ist« (3,1f). Aber diese Ausrichtung auf die himmlische Welt hat Konsequenzen für das irdische Leben: »So tötet nun die Glieder, die auf Erden sind, Unzucht, Unreinheit, schändliche Leidenschaft  …« (3,5f). Die Voraussetzungen dafür sind geschaffen: »Denn ihr habt den alten Menschen mit seinen Werken ausgezogen und den neuen angezogen, der erneuert wird zur Erkenntnis nach dem Ebenbild dessen, der ihn geschaffen hat« (3,9f). Das führt zu einer ganz neuen menschlichen Gemeinschaft: »Da ist nicht mehr Grieche oder Jude, Beschnittener oder Unbeschnittener, Nichtgrieche, Skythe, Sklave, Freier, sondern alles und in allen Christus« (3,11; vgl. Gal 3,28). Und das ermöglicht ein ganz neues Verhalten: »So zieht nun an als die Auserwählten Gottes, als die Heiligen und Geliebten, herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut, Geduld … Über alles aber zieht an die Liebe, die da ist das Band der Vollkommenheit« (3,12–14). Dieses neue Sein in Christus bestimmt auch das gottesdienstliche Leben, das nirgends im Neuen Testament so eindrücklich geschildert wird wie hier: »Lasst das Wort Christi reichlich unter euch wohnen: Lehrt und ermahnt einander in aller Weisheit; mit Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern singt Gott dankbar in euren Herzen. Und alles, was ihr tut mit Worten oder mit Werken, das tut alles im Namen des Herrn Jesus und dankt Gott, dem Vater, durch ihn« (3,16f). So werden auch die Konsequenzen für die praktische Lebensführung aus den Christusaussagen abgeleitet. Weil Christus »der Erstgeborene aus den Toten« ist, soll das ganze Leben der Glaubenden von der Auferstehungswirklichkeit Christi geprägt sein. Die Glaubenden werden

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in die entscheidenden Christusaussagen einbezogen. Sie bekommen Anteil an Christus. Dreimal hebt der Brief das hervor. Er betont, dass der Reichtum des Geheimnisses »Christus in euch« ist (1,27). Er macht deutlich, dass die Christen an der Fülle Gottes teilhaben, die in Christus leibhaftig wohnt (2,9). Er sagt, dass das Auferstehungsleben der Christen »mit Christus in Gott verborgen« ist (3,3). Damit unterstreicht der Kolosserbrief, dass das ganze Leben der Christen in der Christuswirklichkeit gründet. Und daraus wird dann entfaltet, wie das Leben der Glaubenden durch die Verbundenheit mit Christus umgeformt wird und auch ihr Verhalten in den sozialen Beziehungen ganz konkret bestimmt wird. Auch die Haustafel, die das Sozialverhalten grundsätzlich beschreibt, ist von diesem Christusbezug geprägt: Die Mahnung an die Sklaven bildet beispielhaft ab, was allen gilt: »Alles, was ihr tut, das tut von Herzen als dem Herrn und nicht den Menschen« (3,23). So ist der der Kolosserbrief ein eindrucksvolles Zeugnis für die Überzeugung der Urchristenheit, dass Gottes Handeln in Jesus Christus nicht nur Rettung und Befreiung für die einzelnen Glaubenden oder die christliche Gemeinde bedeutet, sondern Auswirkungen auf die ganze Schöpfung hat. In Christus begegnet Gott, der Schöpfer, der Befreier und der Versöhner, denn in ihm ist Gott in der ganzen Fülle seines göttlichen Wirkens »leibhaftig« gegenwärtig (2,9). Weil sie nicht mehr von den Machtspielen der Mächte dieser Welt abhängig sind, sind Christen zu einem neuen Leben befähigt (3,10), zu einem Handeln in dieser Welt, das im Namen Jesu geschieht und von seiner Liebe geprägt ist (3,16f), und zu einem Miteinander, das alle Grenzen überwindet (3,11). Die Botschaft des Kolosserbriefs ist aktueller als das vielen heute bewusst ist. Ziel des Briefs ist es, die umfassende Bedeutung und Geltung des Christusgeschehens für die Welt und für das Leben der Einzelnen herauszuarbeiten. Dabei werden die unterschiedlichen Dimensionen dessen abgeschritten, was diese Welt und die menschliche Existenz bestimmt. Herzstück ist der Christushymnus (1,15–20): Christus als Bild des unsichtbaren Gottes, in ihm sind Schöpfung und Erlösung zusammengefasst. Die Einheit von Schöpfung und Erlösung, von schöpferischem und rettendem Wirken des Christus werden herausgestellt. Aber auch die ganz persönliche Dimension des »Christus in euch« und unserer Existenz bei Christus wird herausgehoben und entfaltet. Und nicht zuletzt wird sehr konkret beschrieben, was es für das Verhalten der Christen anderen gegenüber und für das Miteinander in der Gemeinde bedeutet, dass ihr Lebensmittelpunkt schon bei Christus und Gott liegt. Schon hineingenommen zu sein in die Auferstehungswirklichkeit Christi macht ein

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Leben in der Liebe im Alltag von Gemeinde und Welt möglich. Vielleicht gehört der Kolosserbrief immer noch zu den am meisten unterschätzten Schriften des Neuen Testaments. Aus dem Brief ergeben sich nicht nur interessante Einblicke in die Entstehungssituation einer Gemeinde, die Paulus nicht selbst gegründet hat, sondern auch wertvolle Gedanken für heute: Wie kann christlicher Glaube in einer multireligiösen Gesellschaft gelebt werden? Wie kann ein Konzept für eine christliche Schöpfungsspiritualität aussehen? Hier finden sich Impulse für eine Antwort! 2. Der Epheserbrief – das Ringen um die Einheit der Kirche Ein neues Kapitel in der Weiterentwicklung der paulinischen Theologie schlägt der Brief an die Epheser auf. Er knüpft an die Aussagen des Kolosserbriefs an und hat diesen offensichtlich als Vorlage benutzt. Aber er geht in der Neuformulierung der Anliegen des Paulus einige Schritte weiter. Dabei wendet sich der Brief nicht ausschließlich an die Gemeinde in Ephesus. Es gibt weder Hinweise auf die dortige Situation noch persönliche Grüße, obwohl Paulus mit dieser Gemeinde sehr verbunden war und relativ lange in ihr wirkte (Apg 19). In einigen Handschriften fehlt sogar die Adresse »in Ephesus«. Es handelt sich also eher um einen Rundbrief der »Paulusschule«, eine Art Manifest des Paulinismus in der nächsten Generation, das ganz allgemein die Herausforderungen anspricht, die sich den paulinischen Gemeinden in dieser Zeit stellen. Ein aktueller, äußerer Anlass des Briefes ist nicht zu erkennen. Im Hintergrund könnten Auseinandersetzungen mit der aufkommenden Gnosis stehen und vor allem das drohende Auseinanderbrechen der Gemeinschaft von Juden- und Heidenchristen. Es handelt sich also nicht um einen »echten« Brief, der zu einem bestimmten Anlass an bestimmte Empfänger geschrieben wurde, sondern eher um eine Epistel, eine thematische Entfaltung christlicher Glaubensaussagen in Gestalt eines Briefes. Und doch ist dieser Brief nicht einfach eine theologische Abhandlung. Der ganze erste Teil des Schreibens ist eine erweiterte Danksagung. Es beginnt mit einem großen, sehr sorgfältig gestalteten Lobpreis der Gnade Gottes (1,3–14; vgl. 2Kor 1,3–7; 1Petr 1,3–5), der dann in eine briefliche Danksagung übergeht, die bis 3,21 reicht, dem Ende der Aussagen über Gottes Heilshandeln. Zwar findet sich auch in 1Thess 1–3 eine ähnliche Form, aber dort wird das Gebet durch eine Reihe von Informationen unterbrochen. Hier aber wird die Theologie ganz hineingenommen in das Gebet. Aussagen über das Handeln Gottes werden in Form einer Doxologie entfaltet!

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Die Dimensionen der Gnade Eines der Hauptanliegen des Briefes ist es, die unterschiedlichen Dimensionen von Gottes Handeln in Jesus Christus aufzuzeigen. Zu begreifen, »welches die Breite und die Länge und die Höhe und die Tiefe ist« und so die Liebe Christi zu erkennen, »die alle Erkenntnis übertrifft« (3,18f), das ist nicht nur die Bitte des Apostels, es ist auch das Ziel dieses Briefes. Und so werden die Adressaten immer wieder ganz persönlich angesprochen als Leute, die dazu bestimmt sind, Gottes Kinder zu sein (1,5). Ihnen gilt »die Erlösung durch sein Blut, die Vergebung der Sünden« (1,7). Dabei nimmt der Verfasser häufig sich und die Adressaten in ein gemeinsames »wir« hinein: »Gott, der reich ist an Barmherzigkeit, hat in seiner großen Liebe, mit der er uns geliebt hat, auch uns, die wir tot waren in den Sünden, mit Christus lebendig gemacht« (2,5f). Dazu tritt die heilsgeschichtliche Dimension, das Wunder, dass Christus auch den Heiden das Tor zur Gottesgemeinschaft Israels aufstößt und ihnen Anteil gibt an seinem »Bürgerrecht«, seinen Verheißungen und Gottes Bund mit ihm (2,12f). Das ist der zentrale Inhalt des »Geheimnisses Christi«, das jetzt durch die Apostel aufgedeckt wird, »nämlich dass die Heiden Miterben sind und mit zu seinem Leib gehören und Mitgenossen der Verheißung in Christus Jesus sind durch das Evangelium« (3,6). Am Kreuz hat Christus nicht nur die Schuld der Menschen gesühnt, sondern Juden und Heiden gemeinsam mit Gott versöhnt und so die Feindschaft zwischen ihnen aufgehoben (2,15f). Das bestimmt seine ganze Sendung: »Er ist gekommen und hat im Evangelium Frieden verkündigt euch, die ihr fern wart, und Frieden denen, die nahe waren« (2,17). Das Heil besteht deshalb auch nicht nur in der Rettung durch die Vergebung der Sünden, sondern in der Aufnahme in die Gemeinschaft mit Gott: »So seid ihr nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen, erbaut auf den Grund der Apostel und Propheten, da Jesus Christus der Eckstein ist, auf welchem der ganze Bau ineinandergefügt wächst zu einem heiligen Tempel in dem Herrn« (2,19–21). Das aber zeigt die gemeinschaftlich kirchliche Dimension des Gnadenhandelns Gottes. Die Gemeinde ist Leib Christi, dessen Haupt Christus ist (1,22f) und dessen Glieder in ihm durch den Dienst der Beauftragten in der Liebe wachsen und für ihre Aufgaben befähigt und gestärkt werden (4,11–14). Sie ist Tempel Gottes, in dem Gott durch seinen Geist wohnt (2,22) und die Christen sich durch Gebet und Gesang gegenseitig ermutigen. Das alttestamentliche Bild von Israel als Braut oder Frau Gottes aufnehmend mahnt 5,25–27 die Männer, ihre Frauen zu lieben, »wie Christus die Gemeinde geliebt hat und hat sich selbst für sie dahingegeben, um sie zu heiligen« (vgl. 2Kor 11,2). Das dürfte die ein-

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zige Stelle im Neuen Testament sein, an der die Gemeinde kollektiv als Adressat der liebenden Hingabe Christi gesehen wird. Und nicht zuletzt gibt es  – wie im Kolosserbrief  – die kosmische Dimension des gnädigen Wirkens Gottes durch Christus, in dem »alles zusammengefasst wird, was im Himmel und auf Erden ist« (1,10). Er ist eingesetzt »über alle Reiche, Gewalt, Macht und Herrschaft« ist »Haupt über alles« (1,21f). Diese allumfassende Herrschaft Christi findet jetzt schon ihren Ausdruck im universalen Charakter der Kirche, die »die Fülle dessen« darstellt, »der alles in allem erfüllt« (1,23). Aus Gnade gerettet Der Epheserbrief versucht, die Rechtfertigungsbotschaft des Paulus neu zu formulieren. In fast wörtlicher Anknüpfung an entsprechende Formulierungen in Röm 3,27f und Gal 2,16 heißt es in 2,8f: »Denn aus Gnade seid ihr gerettet durch Glauben, und das nicht aus euch: Gottes Gabe ist es, nicht aus Werken, damit sich nicht jemand rühme«. Offensichtlich ist sich der Verfasser nicht mehr sicher, ob seine Adressaten die Rechtfertigungsterminologie verstehen. Er spricht deshalb statt von gerechtfertigt werden von gerettet werden. Das ist auch für nichtjüdische Menschen verständlich. Auch Paulus verwendet gelegentlich diese Aussage; bei ihm ist damit freilich sehr konkret die Rettung im Endgericht gemeint (1Thess 1,10; Röm 5,9f). Im Epheserbrief wird mit dem Begriff – wie in den Pastoralbriefen – ganz umfassend die Rettung und Befreiung aus einer verfehlten Existenz zu einem Leben mit Gott beschrieben. Eindrücklich ist auch die Lösung der Frage, wie sich das allein aus Gnade und allein aus Glauben mit der Notwendigkeit rechten Handelns vereinbaren lässt. In 2,10 folgt auf die Ablehnung der Werke als Weg zur Erlösung die Begründung: »Denn wir sind sein Werk, geschaffen in Christus Jesus zu guten Werken, die Gott zuvor bereitet hat, dass wir darin wandeln sollen.« Hier ist der Imperativ dessen, was wir tun sollen, ganz umschlossen von dem Indikativ dessen, was Gott in Jesus Christus für uns und unser Leben getan hat. Mit etwas anderer Akzentsetzung findet sich der gleiche Gedanke auch später im paränetischen Teil des Briefs, der zu einem Verhalten mahnt, das der neuen Existenz in Christus entspricht. Hier wird dazu aufgefordert, »den alten Menschen«, die falschen Verhaltensmuster, abzulegen und sich durch Gottes Geist erneuern zu lassen (4,22f). Konkret heißt das: »Zieht den neuen Menschen an, der nach dem Bild Gottes geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit! (4,24 EÜ). Der Glaubende ist also keineswegs passiv, sondern soll handeln. Aber die neue Existenz ist nicht das Produkt von eigenen Übungen in der Selbstvervollkommnung, sondern bleibt Geschenk, von Gott geschaffen. Auf-

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gabe der Glaubenden ist es, sich das Geschenk anzueignen, es zu nutzen und zu leben. Bemerkenswert ist nicht zuletzt, wie der Verfasser seine Gnadentheologie dazu nutzt, insbesondere den Heidenchristen einzuschärfen, dass ihre Gemeinschaft mit Gott reines Geschenk ist, gnädige Hineinnahme in die Gemeinschaft Israels mit seinem Gott (2,11–22). Fast liest sich dieser Abschnitt wie eine unpolemische Fortschreibung der Mahnung an die Heidenchristen in Röm 11,11–24, nicht überheblich gegenüber den ungläubigen Juden zu werden, sondern sich immer bewusst zu machen, dass ihr Glaube nicht eigene Leistung, sondern Geschenk der Güte Gottes ist. Es ist fatal, wie wenig diese Mahnung von der heidenchristlichen Kirche beachtet wurde. Schon im Himmel und doch noch der Erde verpflichtet Eines der herausragenden Charakteristika des Briefes ist seine präsentische Eschatologie. Er sagt nicht nur wie Kol 2,12; 3,1, dass die Christen mit Christus auferweckt sind; sie sind auch »mit eingesetzt im Himmel in Christus Jesus« (2,6). Sie haben teil an der Herrschaft Christi, ihre Zugehörigkeit zu ihm ist der universale Erweis des »überschwänglichen Reichtums seiner Gnade durch seine Güte gegen uns in Christus Jesus« (2,7). Aber diese Wirklichkeit wird nur in Christus Jesus gelebt und enthebt keineswegs der Verantwortung einer irdischen Existenz. Das zeigt die ausführliche Paränese des Briefs, die Mahnungen und Ratschläge, die zeigen, dass die Glaubenden noch nicht der irdischen Wirklichkeit entrückt sind, sondern sich in ihr zu bewähren haben. Sie umspannen ein weites Gebiet und berühren ganz unterschiedliche Ebenen. Neben so simplen Aufforderungen wie nicht mehr zu stehlen (4,28) oder sich nicht zu betrinken (5,18) steht die Mahnung, bereit zur Vergebung zu sein (4,32), oder die detaillierte Anleitung in 6,10–17 für den Kampf mit Mächten und Gewalten, mit den Ideologien und verführerischen Geisteskräften dieser Welt. Vor allem hat der Verfasser mit viel Liebe die Haustafel aus dem Kolosserbrief ausgestaltet und ihre Argumentation vertieft, wobei ihn bei dem Wort an die Männer noch eine Überlegung auf ganz anderer Ebene geleitet hat, nämlich das Geheimnis der Beziehung zwischen Christus und seiner Gemeinde (5,21–6,9). Was über das Wesen einer Ehe aufgrund von Gen 2,24 zu sagen ist, welche Folgen sich daraus für das Verhältnis von Mann und Frau ergeben und wie sich darin gleichnishaft die Beziehung Christi und seiner Gemeinde abbildet, all das begründet und erläutert sich gegenseitig in ganz einzigartiger Weise. Was Christus aus Liebe für seine Gemeinde getan

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hat und tut, ist Grund und Vorbild für die Liebe der Männer zu ihren Frauen. Das setzt freilich die Männer nicht einfach in die Position Christi. Denn was dann zur Unterordnung von Frauen, Sklaven und Kindern gesagt wird, steht unter dem Vorzeichen des ersten Satzes: »Ordnet euch einander unter, wie es die Ehrfurcht vor Christus verlangt« (5,21 GNB). Einheit und Wachsen der Kirche als Frucht der Gnade Zweifellos ist die Sorge um die Einheit der Kirche einer der Schwerpunkte des Briefs. Dabei geht es einmal um die Einheit einer Kirche aus Juden und Heiden (2,11–22). Dieses Anliegen mag zu seiner Zeit schon fast anachronistisch gewesen sein, aber noch einmal wird es eindrucksvoll theologisch begründet  – und leider kurze Zeit später kaum noch beachtet. Aber es geht auch um die Einheit im Miteinander in Kirche und Gemeinde (4,1–16). Es gibt keine Indizien dafür, dass der Verfasser schon eine Spaltung der Kirche in verschiedene »Konfessionen« im Auge hat. Es geht grundsätzlich um die Bewahrung der Einheit. Während der Epheserbrief – anders als die früheren Paulusbriefe – unter Kirche bzw. Gemeinde meist die Gesamtheit der Christenheit versteht (1,22; 3,21), scheint bei den Mahnungen zur Einheit auch die Situation der einzelnen Ortsgemeinden im Blick zu sein. Er nimmt hier Mahnungen wie Phil 2,2 auf, begründet sie aber sehr viel eingehender. Die Einheit der Gemeinde gründet in der Einheit Gottes und der Wirklichkeit, die er schafft und schenkt. Sieben ganz unterschiedliche Vorgaben Gottes werden in 4,4–6 genannt, auf die die Einheit der Gemeinde und ihres Lebens beruht – wobei merkwürdigerweise zwar die eine Taufe und der eine Glaube, nicht aber das eine Mahl genannt wird, das für manche heutigen Konfessionen Vorbedingung und Wesensmerkmal christlicher Einheit darstellt. Mit der Rede von »der Gnade, die einem jeden von uns nach dem Maß des Glaubens gegeben ist« (4,7), nimmt der Epheserbrief das Thema der Charismen auf, an dem Paulus das Ineinander von Vielfalt und Einheit in der Gemeinde deutlich macht (1Kor 12,4–10; Röm 12,3–8). Für ihn konkretisieren sich diese »Gnadengaben« aber in relativ klar umschriebenen Beauftragungen bzw. Ämtern, die es in der Kirche und den Gemeinden gibt: Apostel, Propheten, Evangelisten, Hirten und Lehrer (4,11). Gott hat sie gegeben, »um die Heiligen für die Erfüllung ihres Dienstes zuzurüsten, für den Aufbau des Leibes Christi, bis wir alle zur Einheit im Glauben und der Erkenntnis des Sohnes Gottes gelangen, zum vollkommenen Menschen, zur vollen Größe, die der Fülle Christi entspricht« (4,12f EÜ). Es ist deutlich, dass dies eine Fortschreibung dessen ist, was Paulus über die Aufgaben der Charismen und Dienste in 1Kor 12 sagt,

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jetzt aber für eine schon sehr viel strukturiertere Gemeindearbeit. So sucht der Brief eine gute Balance zwischen einer Vielfalt von Aufgaben und einer klaren Leitung von Gemeinde und Kirche. Die Botschaft des Epheserbriefs ist klar und eindeutig: Dass Menschen Kinder Gottes werden zum Lob seiner herrlichen Gnade und dass sie zum Lob seiner Herrlichkeit leben, das ist Gottes Plan für sie in dem, was er durch Jesus Christus getan hat (1,3–14). Die vielfältigen Dimensionen dieser Gnade aufzuzeigen ist das Ziel des Epheserbriefs. Sie stellt jeden und jede ganz persönlich in die rettende Gemeinschaft mit Gott, schafft eine neue Beziehung und eine tragfähige Gemeinschaft zwischen Menschen, insbesondere zwischen Juden und Heiden, und befähigt zu einem neuen Verhalten gegenüber den Mitmenschen, das von der Liebe bestimmt ist und dem Leben dient. Die ökumenische Bedeutung dieses Briefes ist bis heute bewusst geblieben. Dabei ist freilich die Frage, ob wir dem Brief nur die passenden Stichworte wie Einheit u. ä. entnehmen oder uns auf die entschieden christologische Begründung dieser Einheit einlassen. Integrität, Heiligkeit und Einheit von Kirche und Gemeinde beruhen allein darauf, dass Christus sie geliebt und sich für sie geopfert hat. Diese Wirklichkeit in Anspruch zu nehmen, dazu will der Epheserbrief Mut machen. 3. Der zweite Thessalonicherbrief – Halt in schwieriger Zeit Der zweite Brief an die Thessalonicher gibt den Auslegern viele Rätsel auf. Einerseits ist der Brief so bewusst als eigenhändiges Schreiben des Apostels gestaltet, dass man nicht gerne annimmt, dass es sich dabei um eine Fiktion handelt. Man fragt sich auch, wie ein Brief, der sich angeblich an eine bestehende Gemeinde wendet, als echt akzeptiert werden konnte, wenn dort nie ein solcher Brief angekommen ist. Andererseits ist der Brief inhaltlich so weit weg von anderen Briefen des Paulus, und die Frage, in welchem zeitlichen und sachlichen Verhältnis er zum ersten Brief steht, ist so unklar, dass die meisten Exegeten ihn nicht für paulinisch halten. Aber auch das klärt nicht alle Fragen zu diesem Brief. Der Anlass, dieses Schreiben zu verfassen, war wohl das Aufkommen einer extremen Naherwartung, die sich möglicherweise auch auf Aussagen im 1. Thessalonicherbrief stützte. Die Adressaten sollen sich nicht erschrecken lassen, »weder durch eine Weissagung noch durch ein Wort noch durch einen Brief, die von uns sein sollen und behaupten, der Tag des Herrn sei schon da« (2,2). Es ist nicht leicht herauszufinden, welche Aussagen des 1. Thessalonicherbrief Anlass zu dieser Behauptung gegeben haben. Man kann vermuten, dass in einer verschärften Situation von Bedrängnis und Verfolgung

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solche Erfahrungen nicht nur als Vorboten des Kommens Jesu gesehen wurde, sondern als Signal für den unmittelbaren Anbruch des »Tags des Herrn«. Möglicherweise haben manche Leute – wie viele spätere Endzeitenthusiasten – daraus den Schluss gezogen, dass man sich nun aus den Erfordernissen des Alltags lösen müsse, um für das Kommen des Herrn bereit zu sein. Der Brief antwortet auf diese Situation mit drei Argumentationsgängen. 1. Durch eine Neuinterpretation des Ablaufs der Endereignisse (2,1–12). Hier setzt sich der Autor direkt mit dem Slogan der Gegner auseinander (2,2). Er bedient sich dazu der Stichworte aus 1Thess 4,13–5,10, korrigiert aber den dort vorausgesetzten zeitlichen Ablauf. Vor der Wiederkunft Jesu wird es noch tiefgreifende Auseinandersetzungen mit den Mächten des Bösen geben. Die Gestalt des Antichristen taucht auf; aber viele Details der hier vorausgesetzten Vorstellungen bleiben für uns unklar. Entscheidend ist in jedem Fall die Zusicherung, dass Christus den Sieg behalten und nichts ohne Gottes Zulassen geschehen wird, da mit der Zeit der Verführung schon das Gericht an den Ungläubigen und Frevlern beginnt. 2. Durch das Ausfüllen einer Leerstelle in der paulinischen Eschatologie. Es ist auffällig, dass Paulus in seinen früheren Briefen, wenn er von den Endereignissen handelt, nirgends vom doppelten Ausgang des Endgerichts spricht und die Verurteilung derer beschreibt, die in ihrer Feindschaft gegen Gott verharren. Angedeutet ist das in Röm 2, aber in einem anderen Zusammenhang. Für uns heute mag der Verzicht auf eine solche Gerichtsschilderung sympathisch sein, aber für die Christen in neutestamentlicher Zeit entzündete sich daran die Frage: Wie steht es um die Gerechtigkeit Gottes? Was geschieht mit denen, die Gottes Willen nicht beachten und diejenigen verfolgen, die sich zu Gott halten? Solche Fragen werden schon in den Psalmen gestellt und besonders eindrucksvoll von den Seelen der Märtyrer am Fuß des himmlischen Altars in Offb 6,10 artikuliert. Die Antwort des Verfassers ist klar. Er versichert seinen Lesern und Leserinnen: Schon dass ihr leiden müsst, »ist ein Anzeichen des gerechten Gerichtes Gottes; ihr sollt ja des Reiches Gottes teilhaftig werden, für das ihr leidet. Denn es ist gerecht von Gott, denen mit Bedrängnis zu vergelten, die euch bedrängen, euch aber, den Bedrängten, zusammen mit uns Ruhe zu schenken, wenn Jesus, der Herr, sich vom Himmel her offenbart« (1,5–7). Uns erscheinen solche Aussagen als unchristliche Rachegefühle, in der Urchristenheit sind sie Ausdruck des Vertrauens auf Gottes Gerechtigkeit. 3. Durch die Mahnung zur Nüchternheit. Neben diese grundsätzlichen Aussagen über Gottes Handeln treten eine Reihe von Ratschlägen und

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Mahnungen, die den Christen helfen sollen, mit den Herausforderungen des alltäglichen Lebens zurechtzukommen. Sie sollen die Dinge realistisch sehen und sich deshalb auch im Klaren darüber sein, dass es immer Leute geben wird, die die Botschaft nicht annehmen und den Glaubenden feindlich entgegentreten. Die Feststellung, dass der Glaube »nicht jedermanns Sache ist« (3,2), klingt resignativ, ist aber auch eine entlastende Aussage, die hilft, die Schuld am Unglauben anderer nicht nur bei der eigenen Verkündigung zu suchen. Ausführlich wird das Problem angesprochen, dass manche in ihrem endzeitlichen Enthusiasmus ihre Arbeit aufgeben, um ganz für das Kommen des Herrn bereit zu sein (3,6–13). Auch hier klingt der Satz: »Wer nicht arbeiten will, der soll auch nicht essen« (3,10) für unsere Ohren fast brutal, auch wenn durch das Vorbild des Arbeiter-Apostels Paulus die positive Alternative illustriert wird. Andrerseits stellt er die Stimme des gesunden Menschenverstands dar, wie wir sie auch im Buch der Sprüche hören (Spr 6,6–11; 20,4). Sie wendet sich gegen alles fromme Schmarotzertum, mit dem man schon in der frühen Kirche zu kämpfen hatte. Freilich ist es in der Praxis nicht immer leicht, zwischen nicht arbeiten wollen und nicht arbeiten können zu unterscheiden. Wenn einer in Not ist, gilt es zunächst einfach einmal zu helfen. So wird man auch vorsichtig sein, den Satz vorschnell als biblisches Argument gegen ein bedingungsloses Grundeinkommen zu verwenden. Die Botschaft des zweiten Thessalonicherbriefs Orientierung und Halt in schwieriger Zeit zu geben, das ist das Ziel dieses Schreibens. Er stammt aus einer Zeit, in der sich neu die Frage erhob, warum es den Gottlosen so gut geht und die Nachfolger Christi so heftig verfolgt werden. Es ist eine Zeit, in der schwärmerische Naherwartung sich mit den harten Realitäten eines christlichen Alltags streitet und die Frage, wie man sich richtig auf das Kommen Jesu vorbereitet, die Gemeinden spaltet. Die Antwort ist die Vergewisserung, dass das letzte Wort über menschliches Verhalten noch nicht gesprochen ist, dieses Wort aber in jedem Fall Gott gehört. Sein Urteil wird gerecht sein. Es ist die Mahnung, sich auf das Schlimmste gefasst zu machen, und zugleich die Zusage, dass die Herrschaft der lebensfeindlichen und antichristlichen Mächte von Christus überwunden werden wird. Und es ist die Einweisung in eine realistische und nüchterne Weltsicht, deren Blick auf die Liebe Gottes ausgerichtet ist und die so geduldig und beharrlich auf das Kommen Christi wartet (3,5). Die Botschaft des 2. Thessalonicherbriefs gehört sicher nicht zu den Kernaussagen des Neuen Testaments. Aber sie stellt eine warnende und korrigierende Fußnote dar, die zu beachten bis heute in manchen Situationen hilfreich sein wird.

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4. Die Pastoralbriefe – vom Segen der Ordnung Den Abschluss der Sammlung der Paulusbriefe bilden drei Briefe, die an die engsten Mitarbeiter des Apostels, Timotheus und Titus, gerichtet sind. Sie werden unter dem Begriff »Pastoralbriefe« zusammengefasst, weil in ihnen der Auftrag zur Leitung der Gemeinden, also der Dienst als »Hirte« (lat.: Pastor) der Gemeinde, eine zentrale Rolle spielt. Wir haben schon mehrfach darauf hingewiesen, dass viele Indizien – vor allem die Sprache, die verwendeten Begriffe, aber auch die historische Situation, die sie voraussetzen  – es unwahrscheinlich erscheinen lassen, dass sie von Paulus selbst geschrieben wurden. Manche Ausleger nehmen freilich an, dass Paulus aus der Gefangenschaft in Rom, von der Apg 28 berichtet, freigekommen ist, seine geplante Spanienmission durchgeführt und noch einmal seine kleinasiatischen Gemeinden besucht hat, dann aber wieder verhaftet wurde und diese Briefe aus einer zweiten Gefangenschaft in Rom schreibt. Das könnte teilweise die Angaben über die Wirksamkeit der Mitarbeiter erklären, die schlecht in den Rahmen der in der Apostelgeschichte berichteten Situation passen – aber eben nur zum Teil. Vor allem enthalten die Briefe selbst keine Hinweise auf eine solche Phase einer weiteren Mission des Apostels. So bleibt die Annahme am wahrscheinlichsten, dass im Mitarbeiterkreis des Paulus nach seinem Tod in seinem Namen Briefe verfasst wurden, die zeigen sollen, wie er sich wohl die Sicherung seiner Arbeit angesichts neuer Herausforderungen vorgestellt hätte. Dabei betonen der 1. Timotheusbrief und der Titusbrief vor allem die Notwendigkeit einer geordneten Leitung der Gemeinden durch Bischöfe und Älteste, während der 2. Timotheusbrief ein persönliches Testament des Paulus darstellt und mit den Ratschlägen an Timotheus eine Anleitung für die Lebensführung von Leitungspersonen bietet. Auch in Apg 14,23 und 20,17 wird berichtet, dass Paulus in allen Gemeinden Älteste eingesetzt habe, obwohl davon in seinen früheren Briefen nichts gesagt wird. Das zeugt von dem Bemühen der zweiten Generation, die Sicherung des Werks des Paulus durch geordnete Ämter schon in der Wirksamkeit des Apostels selbst zu verankern. Dazu tritt in den Pastoralbriefen die Betonung der Bedeutung der apostolischen Tradition. Doch wenden wir uns den Briefen selbst zu. Ihr Ziel ist, das Erbe der paulinischen Theologie zu bewahren und gegen Irrlehren abzusichern. Wie gut ihnen das gelungen ist, ist umstritten. Aus Gnade gerettet – das lebendige paulinische Erbe Im Zentrum der Botschaft der Pastoralbriefe steht die Aussage, dass Gott durch sein Handeln die Menschen rettet, und zwar ohne deren Verdienst

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und Würdigkeit, allein aus Gnade. Gott »hat uns gerettet; mit einem heiligen Ruf hat er uns gerufen, nicht aufgrund unserer Taten, sondern aus eigenem Entschluss und aus Gnade« (2Tim 1,9 EÜ). »Er will, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen« (1Tim 2,4 EÜ). »Die Gnade Gottes ist erschienen, um alle Menschen zu retten« (Tit 2,11 EÜ). Gott hat »hat uns gerettet – nicht aufgrund von Werken der Gerechtigkeit, die wir vollbracht haben, sondern nach seinem Erbarmen« (Tit 3,5 EÜ). Hier ist zweifellos der Grundton der Rechtfertigungsbotschaft des Paulus gewahrt. Allerdings sprechen die Pastoralbriefe selten von rechtfertigen, sondern meist von retten, eine Entwicklung, die sich schon in Eph 2,8 anbahnt. Eine Ausnahme bildet Tit 3,6f: Gott hat den Heiligen Geist »in reichem Maß über uns ausgegossen durch Jesus Christus, unseren Retter, damit wir durch seine Gnade gerecht gemacht werden und das ewige Leben erben, das wir erhoffen« (EÜ). Auch Paulus benützt den Begriff retten, bei ihm ist aber damit sehr konkret die Rettung im Endgericht gemeint (Röm 5,9f; 1Thess 1,10), während er nun das Ganze des befreienden, vergebenden und erlösenden Wirkens Gottes und Christi umschreibt. So wird in den Pastoralbriefen die Bezeichnung Retter, Heiland (griech. so-te-r), die auch in der politischen Theologie jener Zeit eine große Rolle spielt, zum Titel für Gott (1Tim 1,1; 2,3; 4,10; Tit 1,3; 2,10; 3,4) und für Christus (2Tim 1,10; Tit 1,4; 2,13). Damit wird das Motiv des rechtfertigenden Handelns Gottes, das aus alttestamentlich-hebräischem Denken stammt, in die Sprache der hellenistischen Kultur übersetzt. Das geschieht am schönsten und berührendsten in Tit 3,4 (EÜ). Durch die Aussage: »Als aber die Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes, unseres Retters, erschien …«, wird die paulinische Wendung von der Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes (Röm 1,16f) für das Verstehen von Menschen der hellenistischen Kultur interpretiert. Auch wenn Gott sehr betont als Urheber und Subjekt des rettenden Handelns gesehen wird, so steht doch Christus und sein Weg und Werk im Zentrum des Geschehens: »Christus Jesus ist in die Welt gekommen, um die Sünder zu retten« (1Tim 1,15 EÜ). Das Bekenntnis zu dem einen Gott wird betont, doch zugleich wird ihm Jesus Christus als Mittler an die Seite gestellt, der durch seinen Tod die Menschen losgekauft und erlöst hat. »Einer ist Gott, Einer auch Mittler zwischen Gott und Menschen: der Mensch Christus Jesus, der sich als Lösegeld hingegeben hat für alle« (1Tim 2,5f EÜ). Ganz ähnlich wird die Bedeutung des Todes Jesu in Tit 2,14 charakterisiert: »Er hat sich für uns hingegeben, damit er uns von aller Ungerechtigkeit erlöse und für sich ein auserlesenes Volk schaffe, das voll Eifer danach strebt, das Gute zu tun« (EÜ).

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Diese letzte Wendung zeigt, dass auch für die Pastoralbriefe Rettung nicht nur Vergebung der Sünden und Bewahrung vor der Verurteilung im letzten Gericht bedeutet, sondern zugleich die Befähigung zu einem neuen Leben, das dem Willen Gottes entspricht. Auch damit ist paulinisches Erbe auf neue Weise aufgenommen. Doch werden dafür teilweise sehr ungewöhnliche Formulierungen gefunden: Die Gnade »erzieht uns dazu, uns von der Gottlosigkeit und den irdischen Begierden loszusagen und besonnen, gerecht und fromm in dieser Welt zu leben« (Tit 2,12f EÜ). Die Rettung durch Christus ist also nicht nur einmaliger Akt durch Glaube und Taufe (Tit 3,5), sondern zugleich ein Prozess des Lernens und der Erziehung durch die Gnade. In ihn sind die Glaubenden hineingenommen, sodass »alle, die zum Glauben an Gott gekommen sind, darauf bedacht sind, sich in guten Werken hervorzutun« (Tit 3,8). Ziel ist die Hoffnung auf das ewige Leben (Tit 3,7; vgl. 2,13: »während wir auf die selige Erfüllung unserer Hoffnung warten: auf das Erscheinen der Herrlichkeit unseres großen Gottes und Retters Christus Jesus« EÜ). Was an den Glaubenden geschieht, hat seinen Grund in dem, was ein für alle Mal durch Christus geschehen ist: »Er hat den Tod vernichtet und uns das Licht des unvergänglichen Lebens gebracht durch das Evangelium« (2Tim 1,10 EÜ). Sein Weg wird in 1Tim 3,16 in einer traditionellen Formel ganz knapp zusammengefasst: »Wahrhaftig, groß ist das Geheimnis unserer Frömmigkeit: Er wurde offenbart im Fleisch, gerechtfertigt durch den Geist, geschaut von den Engeln, verkündet unter den Völkern, geglaubt in der Welt, aufgenommen in die Herrlichkeit« (EÜ). Menschwerdung und Auferstehung Jesu, Erhöhung und Verkündigung unter allen Menschen, die Antwort des Glaubens und Jesu himmlische Autorisierung werden hier als Geheimnis des christlichen Glaubens zusammengefasst. Aber all das kommt aus dem Wesen Gottes, der oft doxologisch geprie­ sen wird: »Dem König der Ewigkeit, dem unvergänglichen, unsichtbaren, einzigen Gott, sei Ehre und Herrlichkeit in alle Ewigkeit. Amen.« (1Tim 1,17 EÜ, ähnlich 6,15). ER ist die Quelle des Heils! Die gesunde Lehre bewahren – das Festhalten am Überkommenen Das eigentliche Anliegen dieser Briefe aber ist, diese Botschaft vor Irrlehren zu schützen und unverfälscht an die nächste Generation weiterzugeben. Programmatisch heißt es in 1Tim 1,18 (EÜ): »Diese Weisung vertraue ich dir an, Timotheus«. Die Apostelschüler werden zu Gewährsleuten, denen die Botschaft des Paulus zu treuen Händen übergeben wurde (2Tim 1,13; 3,14). Sie sollen dieses anvertraute Gut (parathe-ke-) bewahren (1Tim 6,14.20; 2Tim 1,14) und es an vertrauenswürdige Beauftragte weitergeben (2Tim 2,2). Grundlage für diese Botschaft ist das

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Zeugnis der Schrift, mit der Timotheus schon seit Kindheit vertraut ist (2Tim 1,5; 3,14f). Im Hintergrund scheint freilich auch ein Streit um das rechte Verständnis der Tora, des jüdischen Gesetzes, zu schwelen. Davon handelt der erste inhaltliche Abschnitt in 1Tim 1,7–11, wobei nicht ganz klar ist, worum es bei dieser Auseinandersetzung ging. Im Mittelpunkt scheint weniger die Forderung gestanden zu haben, die Vorschriften des mosaischen Gesetzes einschließlich der Notwendigkeit der Beschneidung einzuhalten. Das Problem dürfte eher eine spekulative Auslegung seiner Gebote und Verbote gewesen sein. Deshalb betont der Verfasser, dass das Gesetz bei richtigem Gebrauch gut und hilfreich ist. Er hebt dabei ausdrücklich die grundlegende Bedeutung der heiligen Schriften des Judentums hervor. Sie können Einsicht geben »in das, was dir Heil verschafft, durch den Glauben an Christus Jesus«, vor allem durch die prophetischen Aussagen. So gilt ganz grundsätzlich: »Jede von Gott eingegebene Schrift« – und damit sind alle Schriften des Alten Testaments gemeint und als von Gott inspiriert qualifiziert – »ist auch nützlich zur Belehrung, zur Zurechtweisung, zur Besserung und zur Erziehung in der Gerechtigkeit« (2Tim 3,15f ZB). Also nicht nur die prophetischen Worte sind für den christlichen Gebrauch der Schrift wichtig, sondern auch die Hilfestellung, die durch die alttestamentlichen Erzählungen, durch die ethische Weisung in Gesetz, Prophetie und Weisheit und die Impulse der Psalmen für das Verhältnis zu Gott, für die Gestaltung des Lebens und die theologische Auseinandersetzung gegeben wird. Solcher Gebrauch der Schrift, der sich durchaus am paulinischen Vorbild orientieren mag, und das Festhalten an der apostolischen Überlieferung garantieren die gesunde (LÜ: heilsame) Lehre, die für die Pastoralbriefe so wichtig ist (1Tim 1,10; 2Tim 4,3; Tit 1,9; 2,1.8; vgl. 1Tim 6,3; 2Tim  1,13). Schlechte Lehre macht krank und schadet; eine gute und nüchterne Theologie dagegen macht gesund. Auf sie kann man sich verlassen. Darum bekräftigt der Verfasser seine Aussagen immer wieder mit der Formel: Glaubwürdig bzw. zuverlässig ist das Wort (LÜ: Das ist gewisslich wahr: 1Tim 1,15; 3,1; 4,9; 2Tim 2,11; Tit 3,8). Verlässliche Lehre weiterzugeben, das ist das Anliegen der Pastoralbriefe. Eine Folge davon ist, dass es dort, wo vom Glauben die Rede ist, vor allem um die Lehre geht. Die Entwicklung, dass Glaube vor allem das zu Glaubende bedeutet, ist schon im Gange. Wo vom Lebensvollzug die Rede ist, verwenden die Briefe ein Wort, das im Neuen Testament nur in ihnen vorkommt: auf Griechisch eusebeia, was am besten mit Frömmigkeit übersetzt wird (LÜ früher Gottseligkeit). Damit ist ein weiterer Schritt der Übersetzung aus der biblisch-jüdischen in die hellenistische religiöse Vorstellungswelt getan. In diesem Fall ist er freilich nicht ganz

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unproblematisch. Wenn »Frömmigkeit« statt »Glaube« das Verhältnis zu Gott kennzeichnet, wird leicht aus der personalen Beziehung eine zu erwerbende Tugend! Die Treue zum Evangelium – das Vorbild des Apostels Schon in den echten Briefen ist Paulus als zum Apostel berufener Ver­ folger Prototyp des gerechtfertigten Sünders (1Kor 15,8–10; Gal 1,13– 17; Phil 3,6–9). Das wird in den Pastoralbriefen noch sehr viel deutlicher ausgesprochen. Paulus war Verfolger und Lästerer, und gerade er hat Erbarmen gefunden, was freilich ganz unpaulinisch auch da­ mit begründet wird, dass er das unwissend im Unglauben getan hat (1Tim 1,12–14). Sehr viel paulinischer klingt dagegen die weitere Begründung: Er, der sich als »erster« der Sünder bezeichnet, hat erkannt: »Aber ich habe gerade darum Erbarmen gefunden, damit Christus Jesus an mir als Erstem seine ganze Langmut erweisen konnte, zum Vorbild für alle, die in Zukunft an ihn glauben, um das ewige Leben zu erlan­ gen« (1Tim 1,16). Darum wurde gerade er zum »Verkünder und Apostel« der rettenden Botschaft und »Lehrer der Völker im Glauben und in der Wahrheit« eingesetzt. Ihm wurde diese Botschaft anvertraut (2Tim 1,10f; Tit 1,3), und er vertraut sie seinen Schülern an, damit sie sie bewahren und unversehrt weitergeben (1Tim 1,18; 6,20; 2Tim 1,14; 2,2; 3,14). Für die Pastoralbriefe ist die apostolische Tradition identisch mit der Botschaft des Paulus, der sie direkt von Christus empfangen hat. Eine wohlgeordnete Kirche – die wachsende Bedeutung von Leitungsämtern Timotheus und Titus haben nach den Pastoralbriefen eine doppelte Aufgabe: Sie sind für die Weitergabe der paulinischen Botschaft und der gesunden Lehre verantwortlich; sie sollen aber zugleich in den Gemeinden vertrauenswürdige Leute in klar definierte Ämter einsetzen, denen sie die apostolische Tradition anvertrauen können. Die Apostelschüler haben also als Nachfolger des Apostels die Verantwortung der Aufsicht über die Gemeinden, eine Art Superintendenten- oder Bischofsamt. Ob sie diese Aufgabe jemals für die paulinischen Gemeinden ausgeübt haben und wenn ja, wie lange, wissen wir nicht. Vielleicht sind sie auch zu Symbolgestalten geworden, die die Notwendigkeit verlässlicher Überlieferung und verantwortlicher Aufsicht verkörpern. Für die Gemeindeämter, die eingesetzt werden sollen, bieten die Briefe klare Grundsätze. Aber das Verhältnis der einzelnen Ämter zueinander ist unklar. Es werden Bischöfe, Diakone und Älteste/Presbyter genannt. Aber es liegt noch nicht die Struktur eines dreifach gegliederten Amtes

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mit den Stufen Bischof, Presbyter und Diakon vor, die heute ökumenisch oft als Goldstandard einer nach biblischem Vorbild geordneten Kirche angesehen wird. Vielmehr stehen die Anweisungen für Bischöfe und Diakone (1Tim 3,1–13) und Älteste (1Tim 5,17–22) relativ unverbunden nebeneinander. In Tit 1,5–9 werden Älteste und Bischof zwar im gleichen Zusammenhang genannt, aber ihr Verhältnis bleibt unklar. Vermutlich wird vorausgesetzt, dass ein Bischof aus dem Kreis der Ältesten heraus bestimmt wird. Meist wird angenommen, dass in den Pastoralbriefen zwei Ordnungsmodelle miteinander kombiniert werden, ohne dass die Details dafür schon klar herausgearbeitet sind. Das eine Modell ist die Ältestenverfassung, die aus der Ordnung der jüdischen Synagoge stammt und in der Apostelgeschichte als Ordnungsmodell vorausgesetzt wird (Apg 14,23; 20,17). Das andere ist das Modell des Zusammenwirkens von Bischof (Aufseher) und Diakonen, das wohl im Leben der paulinischen Hausgemeinden entstanden ist. Die beiden Ämter werden erstmals in Phil 1,1 genannt, wobei ihre ursprünglichen Funktionen unklar sind. Offensichtlich kommt es den Pastoralbriefen auch gar nicht darauf an, ein fertiges und praktikables Ordnungsmodell anzubieten. Denn die einzig geistliche Kompetenz, die für die Amtsträger gefordert wird, ist die Aufgabe, die Lehre zu bewahren und weiterzugeben bzw. über die rechte Lehre zu wachen (1Tim 3,2.9; 5,17; Tit 1,9). Was es sonst bedeutet, einer »Gemeinde gut vorzustehen« (1Tim 5,17), wird nicht gesagt. Welche Funktion sie etwa im Gottesdienst haben und wer die Feier des Mahls leitet, erfahren wir nicht. Was von ihnen sonst gefordert wird, sind alles eher »bürgerliche« Tugenden. Ein ruhiges und stilles Leben führen – die Anpassung an die bürgerliche Ordnung Das Gebet für die Regierung, zu dem der Apostel in 1Tim 2,1f aufruft, wird mit dem Ziel begründet: »damit wir ein ruhiges und stilles Leben führen mögen in aller Frömmigkeit und Ehrbarkeit« (oder etwas weniger idyllisch übersetzt: »damit wir in aller Frömmigkeit und Rechtschaffenheit ungestört und ruhig leben können« EÜ). Man kann das unterschiedlich interpretieren: Ist es das Ziel, durch Loyalität gegenüber der Obrigkeit den Freiraum für Verkündigung und Gemeindeleben zu schaffen? Oder geht es um ein möglichst unauffälliges Praktizieren der eigenen Frömmigkeit als die Stillen im Lande? Auffallend ist tatsächlich, wie stark die Mahnung zu einem ehrbaren und bürgerlich anständigen Verhalten die Paränese der Briefe bestimmt. Besonders auffällig ist dabei, dass außer der Befähigung zur Lehre bei den Anforderungen an die »Amtsträger« das gesellschaftliche Ansehen

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dominiert. Die Forderung, die eigene Familie in guter Ordnung zu halten, steht dabei im Vordergrund (1Tim 3,2–13; Tit 1,6–9). Das hat einerseits seinen Grund darin, dass in der antiken Gesellschaft wie bis vor kurzem auch in der bürgerlichen Gesellschaft der Neuzeit ein (nach außen) intaktes Familienleben die Vorbedingung für die Übernahme öffentlicher Verantwortung war. Für die Pastoralbriefe wird dies andererseits dadurch verstärkt, dass die Gemeinde sehr betont als Haus Gottes gesehen wird und Bischof, Älteste und Diakone damit mit unterschiedlichen Funktionen als Haushaltsvorstand in der Gemeinde dienen. »Denn wenn jemand seinem eigenen Haus nicht vorzustehen weiß, wie soll er für die Gemeinde Gottes sorgen?« (1Tim 3,5). Auch wenn in den Pastoralbriefen noch nicht eindeutig der monarchische Episkopat vertreten wird, so weist die Rolle des »Hausvaters« in der Gemeinde doch klar in diese Richtung. Mit der Übernahme der gesellschaftlichen Konventionen und Rollenprägungen wird leider auch die Position der Frauen in der Gemeinde deutlich gegenüber dem geschwächt, was die frühen Paulusbriefe über die verantwortliche Mitarbeit von Frauen in der Gemeinde sichtbar werden lassen (vgl. vor allem Röm 16,1–16). Das Verbot des Lehrens für Frauen (1Tim 2,11–15) hat verhängnisvolle Folgen für die weitere Entwicklung der Kirche gehabt und ebenso, dass die Verantwortung für den Sündenfall – anders als in Röm 5,12–21 – einzig Eva, der Frau, zugeschrieben wird. Manches an den schwierigen Aussagen dieser Passage erklärt sich aller­ dings auch durch gegnerische Positionen, gegen die sie sich wenden. Dass Frauen »dadurch gerettet werden, dass sie Kinder zur Welt bringen«, ist eine Aussage, die in einem angeblich paulinischen Brief äußerst befremdlich wirkt und für Kinderlose ein Affront ist. Sie wird aber dadurch verständlich, dass kurze Zeit später von Irrlehrern berichtet wird, die »verbieten zu heiraten« (1Tim 4,3). Wir begegnen hier Vertretern einer rigorosen Askese, wie wir sie aus späteren apokryphen Schriften kennen. Auch in der sog. Gnosis (»Erkenntnis«, 1Tim 6,20) gab es Richtungen, die zwar einerseits Frauen eine bedeutende Rolle zukommen ließen, aber das geschöpflich Weibliche als gefährliche Reproduktion des »Fleisches« ansah, die unterbunden werden musste. Eine Frau muss zum Mann werden (EvThom, Logion 114). So konnte die befremdliche Aussage auch eine befreiende Seite haben: Das Natürliche ist auch das Geistliche! In ihrem Kampf gegen eine zwanghafte Askese und der Aussage: »Alles, was Gott geschaffen hat, ist gut, und nichts ist verwerflich, was mit Danksagung empfangen wird« (1Tim 4,4), haben die Pastoralbriefe auch ein klares Signal für die Freiheit eines Christenmenschen gesetzt (vgl. auch 1Tim 5,23).

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Die Botschaft der Pastoralbriefe Das Ziel, das die Pastoralbriefe verfolgen, ist klar: Sie wollen den paulinischen Gemeinden zeigen, wie ihr Weg nach dem Tod des Apostels – und vermutlich auch dem seiner engsten Mitarbeiter – weitergehen kann. Es waren heftige Kämpfe um die Deutungshoheit im Blick auf das paulinische Erbe entbrannt. Dabei wählen die Briefe einen paradoxen Weg: Sie wollen an der bewährten Botschaft festhalten und formulieren sie doch neu mit anderen Begriffen und einer anderen Akzentsetzung. Aber sie haben dadurch die paulinische Gnadenbotschaft in ihren Grundzügen für die Zukunft bewahrt. Wer sich um den Inhalt der Botschaft sorgt, muss auch entsprechende Gefäße für eine gesicherte Weitergabe bereitstellen. Darum handeln die Briefe vom Segen einer wohl geordneten Kirche. Das ist ebenfalls ein Verdienst dieser Briefe. Auf die Dauer wäre ein freies Spiel der Kräfte, wie das etwa in der Gemeinde in Korinth stattfand, nicht durchzuhalten gewesen. Allerdings stehen die Briefe in einer Gefahr, von der viele solcher Versuche in der Geschichte der Kirche bedroht waren. Es ist die Gefahr, die Form vor den Inhalt zu stellen. Ein Manko dieser Briefe ist auch, dass sie nicht mehr mit Andersdenkenden diskutieren und versuchen, sie inhaltlich zu widerlegen, sondern dass sie dekretieren und den Schluss der Diskussion fordern. Auch Paulus sagt: »Gott ist kein Gott der Unordnung« (1Kor 14,33). Aber er fährt nicht fort, wie manchmal zitiert: »sondern der Ordnung«. Er schreibt »sondern des Friedens«. Auch er konnte heftig, ja manches Mal ausfallend für die Wahrheit kämpfen. Aber er würdigt seine Gegner immer auch eines Arguments. So bleibt ein zwiespältiger Eindruck: Zu manchen Fragen bieten die Pastoralbriefe eine hilfreiche Ergänzung zu den Aussagen der früheren Briefe. Sie sind auch ein instruktives Beispiel für den Versuch, die Botschaft des Paulus in einer neuen Situation neu zu formulieren und gerade so zu bewahren. Was daran gelungen und was daran schwierig scheint, mag uns helfen, unsere eigenen Versuche kritisch zu analysieren, uns aber auch ermutigen, es immer wieder neu zu wagen. Was die Briefe zur politischen Verantwortung von Christen sagen, lässt sich so für unsere Situation nicht übernehmen, fordert aber dazu heraus, herauszufinden, wie solche Verantwortung in einem demokratischen Rechtsstaat aussehen kann, und erinnert daran, dass es Systeme gibt, in denen Christen ähnlich wie damals nur sehr eingeschränkt oder gar nicht in gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen mitwirken können. Wichtig aber ist: Die Pastoralbriefe sind nicht in allem, was sie sagen, das letzte und entscheidende Wort des Apostels, sondern ein Nachwort angesichts neuer Herausforderungen, das Beachtung, aber auch kritische Würdigung verdient (s. u. 5: Das Corpus Paulinum).

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Dokumente der Paulusschule

Exkurs: Ein Wort zur Pseudepigraphie, d. h. zur Veröffentlichung von Schriften unter dem Namen einer Autorität der Vergangenheit.

Eine Schrift mit einer wichtigen Botschaft unter dem Namen einer bekannten Autorität der Vergangenheit zu veröffentlichen war in der Antike ein beliebtes Stilmittel. Es begegnet auch im Alten Testament und vor allem im apokalyptisch geprägten Judentum. Dabei gab es auch traditionelle Zuschreibungen: David war für Psalmen zuständig, Salomo für die Weisheit, Henoch für apokalyptische Offenbarungen. In der nichtjüdischen Antike wurden z. B. medizinische Schriften gerne Hippokrates zugeschrieben. In manchen wissenschaftlichen Schulen galt auch das Abfassen einer Schrift im Namen eines Lehrers nicht als Fälschung, sondern als Ehrung für den Lehrer, dem der Schüler ja alle Erkenntnis verdankt. Man unterscheidet zwei Arten der Pseudepigraphie: Die primäre (oder absichtlich gewollte) und die sekundäre (oder unabsichtliche) Pseudepigraphie. Zur sekundären Pseudepigraphie zählen im Alten Testament z. B. die fünf Bücher Mose, die nirgends selbst den Anspruch erheben, von Mose geschrieben worden zu sein. Seine Verfasserschaft wurde aber in der Tradition schon früh angenommen (vgl. Mt 22,24). Im Neuen Testament gehören zu dieser Gruppe die drei ersten Evangelien, die selbst keine Angabe über ihre Verfasser machen, aber sehr bald durch die zugefügten Überschriften den Autoren Matthäus, Markus und Lukas zugeschrieben werden – was bei Markus und Lukas durchaus zutreffen kann, für Matthäus aber unwahrscheinlich ist. Ein Grenzfall stellt das Johannesevangelium dar, das sich einerseits auf den Lieblingsjünger als Gewährsmann beruft, aber offenlässt, mit wem er zu identifizieren ist. Dagegen macht der 1. Johannesbrief keine Angaben zu seinem Verfasser, knüpft aber durch seinen Anfang (1,1–4) an das Zeugnis des Evangeliums an. Ein Grenzfall ist auch der Hebräerbrief. Er macht keinerlei Angaben zu seinem Verfasser, aber der angehängte briefliche Schluss erweckt den Eindruck, er stamme aus dem paulinischen Umfeld. Bei der primären Pseudepigraphie wird durch entsprechende Angaben der Anspruch erhoben, eine Person mit besonderer Autorität habe die Schrift verfasst. Auch hier muss man zwei Gruppen unterscheiden: Schriften, bei denen die Fiktion nur schwach ausgeprägt ist, und Schriften, bei denen sie sehr intensiv durchgeführt ist, um dem Schreiben eine möglichst authentische Note zu geben. Zur ersten Gruppe gehört der Epheserbrief, bei dem nur am Anfang das typisch paulinische Präskript und am Ende ein entsprechender Schlussgruß steht. Dazu kommt ein Hinweis auf die Situation als Gefangener.

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Aber sonst fehlen alle persönlichen Angaben. Ähnliches gilt für den Jakobusbrief. Hier besteht die Zuschreibung an Jakobus ausschließlich in der Absenderangabe, ansonsten fehlen alle persönlichen Züge oder Hinweise auf die besondere Autorität des Verfassers. Auf der Grenze zur anderen Gruppe steht der erste Petrusbrief, bei dem am Schluss zwar einige persönlich klingende Aussagen stehen, aber eine Berufung auf die besondere Autorität des Petrus fehlt. Zur zweiten Gruppe gehören der Kolosserbrief, der 2. Thessalonicherbrief, die Pastoralbriefe – und hier besonders der 2. Timotheusbrief – und der 2. Petrusbrief – sofern sie wirklich pseudepigraph sind. Das ist vor allem beim Kolosserbrief sehr umstritten. Wie wir sahen, halten ihn viele für die Arbeit eines Mitarbeiters im Auftrag des Apostels. Relative Einmütigkeit besteht dagegen beim 2. Petrusbrief, der kaum noch von einem Ausleger als echt angesehen wird. Für alle diese Briefe gilt, dass sie durch sehr persönliche Angaben die Fiktion der Verfasserschaft durch einen Apostel intensiv betreiben und auch dessen Autorität ausdrücklich in Anspruch nehmen. Besonders problematisch ist der 2. Thessalonicherbrief, da er nicht nur beansprucht, von Paulus mit einem eigenhändigen Gruß beglaubigt zu sein (3,17), sondern auch vor einem Brief warnt, der angeblich von ihm stammt (2,2). Die Beurteilung dieses Phänomens ist schwierig und äußerst umstritten. Denn Pseudepigraphie war zwar in der Antike sehr häufig, aber durchaus nicht ein allgemein akzeptierter Normalfall. Eine Reihe von frühchristlichen Dokumenten, bei denen die Täuschung offensichtlich war (3. Korintherbrief, Brief an die Gemeinde nach Laodizea oder Petrusapokalypse), wurde u. a. deshalb nicht in den Kanon aufgenommen. Unproblematisch sind die Schriften, die zur sekundären Pseudepigraphie zählen. Bei ihnen lag keine Täuschungsabsicht vor. Auch die Schriften, die wir als schwach durchgeführte primäre Pseudepigraphie gekennzeichnet haben, wird man ohne große Probleme als Schriften einer »Schule« akzeptieren können, auch wenn wir im Fall des Jakobus (und letztlich auch bei Paulus) nichts von einer Schule wissen. Sich auf diese Weise unter die Autorität eines Vorbildes zu stellen galt wohl als legitim und lässt sich auch heute noch theologisch nachvollziehen. Das trifft auch für den 1. Petrusbrief zu, den manche (z. B. Ostmeyer, 1. Petrus 20) für »offene« Pseudepigraphie halten, bei der damit gerechnet wurde, dass die Leser sie als Stilmittel durchschauen. Wirklich grenzwertig sind der 2. Thessalonicherbrief und der 2. Petrusbrief. Es gibt Ausleger, die urteilen, dass ein solches Maß an Täuschung im Kanon nicht denkbar sei, und die deshalb diese Briefe (wie auch alle anderen) für echt halten. Das ist eine schwierige Argumentation, nach der nicht sein kann, was nicht sein darf – wobei zuzugestehen ist, dass

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alle historischen Urteile nur Wahrscheinlichkeitsurteile sind. Deshalb wird man auch nicht zur anderen Radikalkur greifen können und diese Briefe aus dem Kanon entfernen. Sie gehören dazu, sind aber historisch und theologisch randständig. Sie zeigen, dass schon in der frühen Kirche gelegentlich eine vermeintlich gute Sache durch problematische Mittel durchgesetzt werden sollte. Dass die Schriften in diesen Grenzen uns dennoch etwas zu sagen haben, haben wir bei der Einzelbesprechung deutlich zu machen versucht. 5. Das Corpus Paulinum – Stimme des Paulus durch die Jahrhunderte Bis weit in das 19. Jahrhundert hinein – und in manchen Kreisen bis heute – wurde die ganze Sammlung der Paulusbriefe als Stimme des Apostels gehört. In vergangenen Jahrzehnten sind dagegen die sog. Deuteropaulinen, also Kolosser-, Epheser- und 2.Thessalonicherbrief und die Pastoralbriefe, in der evangelischen Theologie oft äußerst kritisch gesehen worden. Man sah in ihrer Theologie den Abfall von der Rechtfertigungsbotschaft und der Kreuzestheologie der echten Briefe. Das hat sich inzwischen teilweise geändert. Einerseits hat man gelernt, Anliegen und Botschaft dieser Briefe aus ihrer Zeit gerechter zu würdigen, andererseits hat man entdeckt, dass auch der »echte« Paulus kein hundertfünfzigprozentiger Lutheraner war. Dennoch bleibt es eine wichtige Aufgabe zu klären, wie das Verhältnis der früheren zu den späteren Briefen bestimmt wird. Werden die einen im Licht der anderen gelesen und welche Perspektive hat dann Vorrang? Können die unterschiedlichen Akzentsetzungen (besonders in der Gemeindetheologie) nebeneinanderstehen oder muss man sich entscheiden? Dabei gibt es durchaus so etwas wie einen theologischen roten Faden, der sich durch alle Briefe zieht, bzw. eine geistige Klammer, die sie zusammenhält. Eine davon findet sich in der Gnadenlehre, dem Proprium der paulinischen Theologie. Zwar gibt es Akzentunterschiede und vor allem eine sich wandelnde Begrifflichkeit. Aber das allein aus Gnade und allein aus Glauben findet sich nicht nur im Galater- oder dem Römerbrief, sondern auch im Epheser- und Titusbrief. Vergleichbares gilt für diese Aussagen über die Heilsbedeutung des Todes Jesu. Und ganz grundsätzlich lässt sich das auch von der Ekklesiologie, der Lehre von Kirche und Gemeinde sagen. Christsein wird in Gemeinschaft gelebt. Sie ist Lebensraum des Glaubens und Bewährungsort für die Verantwortung für die Mitmenschen. Das zeigen die Korintherbriefe genauso intensiv wie der Epheserbrief und die Pastoralbriefe. Auch die Rolle des Apostels als Vorbild und Autorität für seine Gemeinde bleibt ein gemeinsamer Grundzug der Sammlung, wenn auch seine Person in

Das Corpus Paulinum

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den Pastoralbriefen sehr viel stärker idealisiert ist. Aber letztlich gilt für das ganze Corpus: Das Apostolische ist das Paulinische! Deutliche Unterschiede zeigen sich freilich in der Frage der Ämter. Während sich in Korinth überhaupt noch keine festen amtlichen Strukturen abzeichnen und Paulus zwar die Autorität der Erstbekehrten stärkt, aber sonst auf ein freies Spiel der Kräfte zu setzen scheint, nennt er in den parallelen Ausführungen zur Gemeinde als Leib in Röm 12,3–8 schon relativ feste Funktionen. Im Epheserbrief erscheint dann eine Reihe von Aufgaben, die schon festen, amtlichen Charakter zu haben scheinen, aber noch eine vielfältige Wirksamkeit entfalten. Das verengt sich in den Pastoralbriefen auf die Bischöfe und Diakone bzw. Ältesten, deren Aufgabenfeld eher restriktiv erscheint. Nur die Institution der Gemeinde-Witwen verrät noch etwas von einem breiteren Engagement der ganzen Gemeinde (1Tim 5,3–16). Und hier stellt sich die spannende Frage, ob diese Entwicklung eine Art kanonische Richtungsanzeige darstellt, die dann weiter über Ignatius von Antiochien, für den sich die Kirche im Amt des Bischofs verkörpert, hin nach Rom führt, wie das traditionelle katholische Theologie sieht. Diese Entwicklung allerdings umgekehrt einfach als Fehlweg in den Frühkatholizismus abzuqualifizieren, in dem sich das Amt an die Stelle des Geistes setzt, wie das manche protestantische Theologen getan haben, dürfte ebenfalls problematisch sein. Denn auf die Dauer wären Gemeinden sicher überfordert, das gemeinsame Leben ohne feste Leitungsstrukturen zu gestalten. Die Herausforderung dürfte also darin bestehen, die Hilfen, die die eine oder andere Form des geordneten Amtes bietet, anzunehmen, aber zugleich an dem Grundsatz der gemeinsamen Verantwortung der Gemeinde festzuhalten. Die Überzeugung des Paulus, dass alle für den gemeinsamen Dienst begabt sind, bleibt grundlegend, und deshalb sind Vollmacht und Struktur fester Ämter so zu gestalten, dass sie diese Wirklichkeit fördern und nicht behindern (vgl. Eph 4,11–14). Dann dürfte klar sein, dass auch die restriktiven Bestimmungen im Blick auf die Mitwirkung von Frauen an Lehre und Verkündigung als zeitbedingte Maßnahmen zu bewerten sind und an ihre Stelle die gleichberechtigte Mitarbeit von Frauen und Männern, wie sie schon Röm 16 voraussetzt, tritt. Für alle Themen wird also wichtig sein, sowohl die originalen Briefe des Apostels als auch die Schriften, die in seinem Namen publiziert wurden, jeweils als Zeugnisse im eigenen Recht zu lesen und zu würdigen. Da sich aber die Deuteropaulinen ausdrücklich auf die Autorität des Paulus berufen, müssen sie sich auch an seiner Botschaft messen lassen. Daran entscheidet sich, ob ihr Zeugnis eine legitime Weiterführung der An-

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liegen des Apostels darstellt, die in einer neuen Situation und unter neuen Herausforderungen seine Botschaft ergänzt, aktualisiert oder absichert  – oder ob es in Gefahr steht, die Kühnheit und Radikalität des Evangeliums, wie es Paulus verstanden und verkündigt hat, zu domestizieren und in problematischer Weise zu »verkirchlichen«, d. h. es menschlich handhabbar zu machen. 6. Der Hebräerbrief – Ermutigung in Zeiten der Ermüdung Das Schreiben, das wir Hebräerbrief nennen, ist zweifellos kein Brief, auch wenn am Ende eine Art Briefschluss angehängt ist. Es handelt sich um eine großartige Predigt, genauer gesagt eine Homilie über ausgewählte biblische Texte zu grundlegenden Themen christlichen Glaubens. Gegen Ende ist dann auch der konkrete Anlass für diese Ausführungen zu erkennen: Es geht darum, Ermüdungserscheinungen in den urchristlichen Gemeinden zu überwinden. Wie es zu der Überschrift: »An die Hebräer« gekommen ist, bleibt ein Rätsel. Denn der Brief wendet sich keinesfalls nur an judenchristliche Adressaten (vgl. 6,1f). Vermutlich ist der Titel durch die durchgehende Verwendung des Alten Testaments veranlasst, die zu der Meinung führte, der Brief richte sich besonders an Menschen jüdisch-palästinischer Herkunft, die Aramäisch bzw. Hebräisch sprechen (vgl. Apg 6,1). Der unbekannte Verfasser des Hebräerbriefs begnügt sich aber angesichts dieser Situation nicht mit einfachen Durchhalteparolen. Die theologische Qualität seines Schreibens zeigt sich darin, dass er zunächst noch einmal grundlegend das Wesen der Offenbarung Gottes in Jesus Christus und die Bedeutung von Gottes Handeln durch ihn beschreibt. Dabei zeichnen diesen Versuch drei Merkmale aus: 1) Die Anknüpfung an die Botschaft der Schriften Israels und vor allem an das, was dort über die Begegnung mit Gott im Tempelgottesdienst gesagt wird. 2) Die Vertiefung der herkömmlichen Christologie durch neue Aspekte, vor allem durch die Beschreibung des Weges Christi als hohepriesterlichen Dienst. 3) Die Charakterisierung der christlichen Existenz als Weg zu einem gewissen Ziel. Wie die Väter und Mütter Israels ist die Gemeinde Jesu »wanderndes Gottesvolk«. Doch während diese auf der Wüstenwanderung ungehorsam wurden, sollen die Christen im Wissen um ihr Ziel und um die enge Verbindung zu Gott, die schon jetzt besteht, treu bleiben und bis zum Ziel durchhalten. Der wichtigste Beitrag des Hebräerbriefs zu der Botschaft des Neuen Testaments ist sicher, dass er noch einmal eine ganz neue Dimension der Bedeutung der Person und des Wirkens Jesu erschließt. Der einzigartige Rang Jesu Christi wird zunächst daran festgemacht, dass er »der

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Sohn« ist. Er kommt direkt von Gott und wird damit mit Melchisedek verglichen, der angeblich keinen Vater und keine Mutter hatte (7,3). Allerdings kann von Jesus auch gesagt werden, dass er aus dem Stamm Juda kommt (7,14). Es ist also sowohl seine irdische Abstammung als auch seine Herkunft von Gott im Blick. Entscheidend aber ist, dass Gott durch ihn das letztgültige Wort gesprochen hat. »Nachdem Gott vorzeiten vielfach und auf vielerlei Weise geredet hat zu den Vätern durch die Propheten, hat er zuletzt in diesen Tagen zu uns geredet durch den Sohn, den er eingesetzt hat zum Erben über alles, durch den er auch die Welten gemacht hat« (1,1f). Eigentümlicherweise macht der Hebräerbrief den einzigartigen Rang des Sohnes im Gegenüber zu den Engeln deutlich, sodass man sich gefragt hat, ob er sich mit einer Form von Christologie auseinandersetzt, die in Jesus eine Art Engel gesehen hat. Doch im Sohn begegnet Gott selbst: »Er ist der Abglanz seiner Herrlichkeit und das Ebenbild seines Wesens« (1,3). Dabei lässt das Stichwort »Ebenbild des Wesens Gottes« auch die schöpfungsmäßige Bestimmung des Menschen anklingen (vgl. Gen 1,27). Jesus ist damit als wahrer Mensch und wahrer Gott gekennzeichnet, ohne dass diese Formel schon gebraucht würde. Dieselbe kreative Paradoxie kennzeichnet das Bild Jesu in der Rolle des Hohepriesters. Er ist ein Hohepriester, der mitleiden kann und versucht war wie wir – doch ohne Sünde (4,15). Aber zugleich muss er nicht wie der menschliche Hohepriester Jahr für Jahr um Sühne der eignen Sünden bitten. Darum ist er – anders als dieser – immer im himmlischen Heiligtum gegenwärtig (8,1f) und konnte die Sünden der Menschen ein für alle Mal sühnen. Der Verfasser führt allerdings dieses Bild nicht konsistent durch. Für ihn ist – wie im Urchristentum insgesamt – Jesus in seinem Tod auch das Sühnopfer, mit dem die Sünden der Menschen ein für alle Mal gesühnt werden (9,24–28). Ziel des hohepriesterlichen Wirkens und des Opfertodes Jesu ist aber nicht nur die Beseitigung dessen, was von Gott trennt (also die Negation der Negation), sondern vor allem die positive Seite dieses Geschehens: die Öffnung des Zugangs zum Vater (10,19–21). Was in Israel nur einmal im Jahr und nur für den Hohepriester möglich war, nämlich der Zutritt zur Gegenwart Gottes im Allerheiligsten, das ist nun für alle, die sich diesem Hohepriester anvertrauen, zu jeder Zeit möglich. Sie haben – um ein anderes Bild zu gebrauchen – immer und überall Zutritt zum Herzen Gottes. Darum ermuntert der Verfasser immer wieder: Lasst uns hinzutreten … (4,16; 10,22). Das große Vorrecht, immer zu Gott kommen zu können, soll auch wahrgenommen werden  – gerade unter schwierigen Umständen und in Zeiten der Ermüdung.

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Denn noch leben die Christen nicht im Himmel bei Gott. Sie sind noch unterwegs, und ihr Weg durch Schwierigkeiten, Versuchung und Verfolgung wird vom Hebräerbrief mit der Wüstenwanderung der Väter und Mütter Israels verglichen. Dieser Vergleich hat eine doppelte Pointe: Die Wüstengeneration Israels ist mit ihrem Ungehorsam zunächst ein negatives Beispiel (3,7–19). Dass das Volk trotz seines Scheiterns doch noch ein Stück irdisches Land in Besitz nehmen konnte, bedeutet nicht, dass es schon an dem von Gott verheißenen Ziel angekommen ist. Sie »haben die Verheißungen nicht ergriffen«, aber sie haben sie »von ferne gesehen und gegrüßt und haben bekannt, dass sie Gäste und Fremdlinge auf Erden sind« (11,13). So sind sie zugleich auch positives Vorbild in ihrer Erwartung, doch noch an das wahre Ziel zu gelangen. Sie streben nämlich »zu einem besseren Land, nämlich dem himmlischen« (11,16). Gottes Weg mit seinem Volk ist noch nicht zu Ende, es ist noch nicht zur »Ruhe«, zur wirklichen Einkehr bei Gott gekommen. So ist noch Raum für die, die sich mit Christus auf den Weg machen: »Es ist also noch eine Ruhe vorhanden für das Volk Gottes« (4,9). Darum ist es nicht nur das Versagen des Volkes, das dazu geführt hat, dass sie noch nicht in die völlige Gemeinschaft mit Gott aufgenommen worden sind. Dahinter steht ein weiterreichender Plan Gottes: »Sie sollten nicht ohne uns zur Vollendung gelangen« (11,39f; vgl. 11,13). Das ist ein Gedanke, der an die Argumentation des Paulus in Röm 11,11–24 erinnert. Und darum sind die Männer und Frauen des »alten Bundes« nicht nur Negativbeispiel für das Versagen durch Ungehorsam. Im Gegenteil: Es gibt eine Fülle von Vorbildern des Glaubens, eine ganze »Wolke von Zeugen«, die dazu ermutigen, am Glauben auch unter schwierigen Bedingungen festzuhalten (11,1–12,3). Worin ihr Glaube konkret bestand, ist sehr verschieden. Bei den meisten der Beispiele ist im Alten Testament gar nicht vom Glauben die Rede. Aber der Verfasser spürt bei vielen von ihnen eine Haltung auf, die er Glauben nennt. So etwa bei Henoch, von dem es heißt, dass er bei Gott Gefallen gefunden habe. Aber »ohne Glauben ist’s unmöglich, Gott zu gefallen; denn wer zu Gott kommen will, der muss glauben, dass er ist und dass er denen, die ihn suchen, ihren Lohn gibt« (11,6). Im Grunde geht es immer darum, dass Menschen an Gottes Verheißung festgehalten haben, auch da, wo das sehr schwierig war. Das zeigt sich auch in der Definition von Glauben, die der Verfasser an den Beginn dieser Aufzählung stellt: »Der Glaube ist ein unbeirrbares Feststehen bei Erhofftem, ein Überführtsein von der Realität der Dinge, die man nicht sieht« (11,1 nach Rose, Hebräerbrief 179). Glauben so zu definieren ist im Neuen Testament einzigartig. Fast scheint es so, als

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handle es sich um eine rein menschliche Tugend, eine Art geistlicher Resilienz, die Menschen aufbringen sollten. Aber wenn Glaube ein »Überführtsein« genannt wird (EÜ schreibt »Zutagetreten von Tatsachen«; dagegen trifft »Nichtzweifeln« in der LÜ nicht den Sinn des schwierigen griechischen Begriffs), dann zeigt das: Es geht nicht um menschliche Leistung, sondern um die Begründung und Ermöglichung des Glaubens durch das, was Gott gesagt und getan hat. Vordergründig ist dies kein Glaube an Christus. Christus ist »Anfänger und Vollender des Glaubens« (12,2), also das klarste und eindeutigste Vorbild und Beispiel für solchen Glauben. Als Sohn, der vor aller Zeit bei Gott war und durch den Gott sein Werk vollenden wird, steht er am Anfang und am Ende der Wolke von Zeugen. Bei dem anstrengenden Lauf zum Ziel zu ihm »aufzuschauen« und so alles, was hindert, hinter sich zu lassen, bedeutet dann aber auch, sich ihm anzuvertrauen und auf sein Vorbild zu setzen. Wir finden im Hebräerbrief eine ausgesprochen intensive Beziehung zwischen Indikativ und Imperativ. Das zeigt sich schon in der Struktur des Briefes. Abschnitte, die erklären, was in Christus ein für alle Mal geschehen ist (1,1–14; 2,5–18; 5,1–10; 7,1–10,18; 11,1–40; 12,18–24), wechseln mit solchen, die mahnen, daraus Konsequenzen zu ziehen (2,1–4; 3,1–4,16; 5,11–6,20; 10,19–39; 12,1–17.25-29). Was Gott in Christus getan hat, befähigt, sich ihm zuzuwenden und den Weg mit ihm und zu ihm zu gehen. Das aber wird dann auch mit ganzem Ernst erwartet: »Jagt dem Frieden nach mit jedermann und der Heiligung, ohne die niemand den Herrn sehen wird« (12,14). Dabei ist Heiligung auch im Hebräerbrief nicht einfach Tat des Menschen, die ihm abverlangt wird, sondern grundsätzlich Werk Gottes: Christus hat das Volk durch sein Blut und das Opfer seines Leibes geheiligt (10,10; 13,12). In diese Wirklichkeit muss der Mensch sich hineinnehmen lässt. Nur was geheiligt ist, kann in die Gemeinschaft mit Gott treten. Das große Problem des Briefs ist jedoch die energische Ablehnung der Möglichkeit einer zweiten Buße (6,4–6; 10,26–31; 12,16f; vgl. 3,15–19). Deshalb wurde der Brief im Westen der Alten Kirche zunächst abgelehnt und von Luther in den Anhang seines Neuen Testaments verbannt. Bevor darüber ein schnelles Urteil gefällt wird, muss die Funktion dieser Aussagen im Brief beachtet werden. Es handelt sich um eine Art möglichst abschreckend gestalteter Warntafeln, die vor einer Haltung warnen, die meint, Gott müsse doch immer vergeben, das sei schließlich »sein Metier« (Voltaire). Ob und wie eine solche Haltung im Umfeld des Hebräerbriefs formuliert wurde, wissen wir nicht. Aber der Verfasser sieht sich veranlasst, eine scharfe Warnung auszusprechen. Sie ist zweifellos zu apodiktisch ausgefallen und hat zusammen mit der ähn-

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lich pointierten Warnung vor der Lästerung des Heiligen Geistes (vgl. Mk 3,28f//Mt 12,31f//Lk 12,10) viel seelische Not verursacht. Aber deutlich ist auch, dass es das eigentliche Anliegen des Verfassers ist, Christen zu ermutigen, gerade in Schwierigkeiten neu die Gemeinschaft mit Gott suchen. Nicht von ungefähr steht die Einladung: »Lasst uns hinzutreten …« (10,22) vor dem Abschnitt über die Unmöglichkeit einer zweiten Buße (10,26–31). So grundlegend der Hinweis auf das Heilswerk Christi ist, wichtig ist dem Verfasser auch die Gemeinschaft der Christen untereinander. Sie in schwierigen Zeiten und in Tagen der Ermüdung nicht zu vernachlässigen und füreinander einzustehen, ist die menschlich konkrete Entsprechung zu dem, was innerlich in der Beziehung zu Gott geschieht. So wird immer wieder dazu aufgerufen, diese Gemeinschaft zu suchen und sie zu einem Netzwerk gegenseitiger Hilfe zu gestalten (10,23–25.32-34; 13,1–6). Die Botschaft des Hebräerbriefs Ziel des Briefs ist die Ermutigung von Christen, die nach einer Zeit von Verfolgung und Schwierigkeiten müde und mutlos geworden sind. Ihnen wird zugerufen: »Werft euer Vertrauen nicht weg« (10,35). Der Verfasser zeigt dazu die unvergleichliche Größe und Tiefe dessen auf, was Gott in Christus getan hat. Er nutzt die Sprache des alttestamentlichen Opferkultes, um zu zeigen, wie dieses Geschehen Himmel und Erde, Gott und Mensch verbindet und wie Christus gerade auch Anfechtung und Verfolgung für die Seinen mit durchlitten und getragen hat. Uns sind die Bildwelt und die Art der Argumentation des Verfassers in vielem fremd. Aber es gibt auch Aussagen, die uns unmittelbar ansprechen, wenn wir uns nur ein wenig auf die Symbolik der alttestamentlichen Riten einlassen. Wie tiefsinnig der Verfasser Motive aus dem alttestamentlichen Opferkult mit dem geschichtlichen Weg Jesu verbindet, zeigt etwa 13,11–14. Der Verfasser greift noch einmal ein Detail aus der Liturgie des Versöhnungstages auf: »Die Leiber der Tiere, deren Blut durch den Hohenpriester als Sündopfer in das Heilige getragen wird, werden außerhalb des Lagers verbrannt« (vgl. Lev 16,27). Sie sind gewissermaßen religiöser Sondermüll, schwer kontaminiert, und müssen draußen vernichtet werden. Darin aber sieht der Hebräerbrief einen wichtigen Hinweis auf die Bedeutung des Todes Jesu: »Darum hat auch Jesus, damit er das Volk heilige durch sein eigenes Blut, gelitten draußen vor dem Tor.« Die geschichtliche Tatsache, dass die Hinrichtungsstätte Jesu vor dem Tor der Stadt lag, wird zum Symbol dafür, dass Jesus »draußen vor dem Tor«, dort wo man allen Müll und allen Schmutz ablädt, für uns gelitten und den ganzen Dreck menschlicher Schuld auf sich genommen hat, um »das Volk zu heiligen«, d. h. es von aller Sünde und allem Schmutz befreit in die Gemeinschaft mit Gott zu stellen.

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Aber fast noch überraschender ist die Folgerung, die der Verfasser daraus zieht: »So lasst uns nun zu ihm hinausgehen vor das Lager und seine Schmach tragen. Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir«. Nicht zu dankbarer Freude über das, was hier geschieht, wird aufgerufen, an dieser Stelle auch nicht eingeladen ins himmlische Heiligtum einzutreten, sondern dazu motiviert, mit Christus den Weg durch das Elend dieser Welt zu gehen im Wissen: das führt zum Ziel! Das ist der Hebräerbrief »in einer Nussschale«! Was es aber heute bedeutet, draußen »vor dem Lager« die Schmach Christi zu tragen, könnte zu Wegen und Aktionen führen, die der Hebräerbrief noch nicht im Blick hatte! 7. Theologie in Briefform – reflektierte Kommunikation des Evangeliums Wir haben schon in der Einleitung darauf hingewiesen: Dass Paulus seine Theologie in Form von Briefen entfaltet hat, ist prägend für die theologische Literatur der Urchristenheit in der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts geworden. Auch Schreiben, die in keiner Weise echte Briefe sind, kleiden sich mehr oder weniger in Briefform, und selbst diejenigen, die wie der 1. Johannesbrief ganz darauf verzichten, werden als »Brief« überliefert. Das ist nicht zufällig, sondern hat etwas mit dem Inhalt der Nachricht zu tun, die übermittelt werden soll. Der Züricher Neutestamentler Hans Weder hat diesen Zusammenhang eingehend untersucht. Er schreibt dazu: »Die Form des Briefs hängt mit der Gestalt des Evangeliums zusammen« (Hermeneutik 214). Weil das Evangelium Anrede ist, ist auch das Nachdenken darüber nicht monologisch, sondern lebt von der Kommunikation. Ein Brief ist »eine bestimmte Form der Zuwendung« (Hermeneutik 315). In ihm kommt es zum Eingehen auf die Situation der anderen, aber auch zum Herausgehen aus sich selbst. Ein Brief ist ein Zeichen dafür, dass man sich um den anderen kümmert, sich in seine Angelegenheiten einmischt und für ihn eintritt. Genau das aber entspricht der Menschwerdung Gottes, »der Einmischung Gottes in die menschlichen Verhältnisse« (316). Das gilt nicht nur für die Briefe im engeren Sinn. Auch die Schreiben, die sich nur äußerlich durch einen Briefeingang bzw. -schluss oder auch gar nicht als Brief ausgeben, reden ihre Leser und Leserinnen immer wieder an und bekunden damit ihren Willen zur dialogischen Kommunikation (s. Jakobus- und 1. Johannesbrief). Der Anredecharakter der Briefe aber wirkt weiter, auch über die ursprünglichen Adressaten hinaus. Obwohl die Briefe des Paulus an bestimmte Gemeinden in bestimmten Situationen gerichtet sind, sind sie schon bald an andere Gemeinden weitergegeben und dort gelesen wor-

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den. Auch später hat man sie nicht nur auf ihre historische Situation befragt, sondern immer wieder neu als Anrede verstanden und ausgelegt. Auch die Pastoralbriefe sprechen nicht nur zu ihren realen oder fiktiven Empfängern, sondern laden alle, die in irgendeiner Weise in den Gemeinden Verantwortung tragen, dazu ein, sich mit den Adressaten zu identifizieren. Kennzeichnend für dieses Format ist der Wille zur Argumentation. Das Niveau dieser Argumentation ist zwar in den neutestamentlichen Schriften sehr unterschiedlich; aber alle stellen sich der Notwendigkeit, das Christusgeschehen für ihre Situation zu erklären und seine Bedeutung zu entfalten. Die Verkündigung des Evangeliums und seine nachdenkende, reflektierende Kommunikation gehen ineinander über. IV. D  as apostolische Erbe – Weiterführung und Abgrenzung. Die katholischen Briefe oder Kirchenbriefe Wie schon erwähnt, ist die Zusammenstellung dieser sieben Briefe relativ spät erfolgt. Vor allem die kleineren Briefe, der zweite und dritte Johannes- und der Judasbrief, aber auch der 2. Petrusbrief, galten lange nicht als kanonisch und fehlen teilweise bis heute in der Bibel der syrischen Kirche. Aufgenommen wurden sie wohl vor allem, weil dadurch die Siebenzahl hergestellt wurde. Welche Gründe haben dazu geführt, diese kleine Sammlung so zu gestalten? Gibt es etwas Gemeinsames in den katholischen Briefen? 1. Das Apostolische und Katholische – ein Gegenüber zu Paulus Den Grundstock für diese Sammlung bilden Briefe, die den drei Aposteln zugeschrieben werden, die nach Gal 2,9 die Leitung der Urgemeinde innehatten. Dass diese Konstellation im Hintergrund steht, dafür spricht die ungewöhnliche Anordnung Jakobus, Petrus und Johannes in den griechischen Handschriften und den meisten Bibelausgaben. Dass Petrus an zweiter Stelle steht, ist anders kaum zu erklären. Die junge Kirche hörte in diesen Briefen also die Stimme der »Urapostel«. Sie repräsentieren ein Pendant zur Botschaft des Paulus, eine wichtige Ergänzung zu dem, wie er in seinen Briefen die Botschaft von Jesus Christus entfaltet. Allerdings richten sich diese Briefe nun nicht  – wie man das aus der Anspielung auf Gal 2,9 schließen könnte – an einen judenchristlichen Adressatenkreis, sondern an Gemeinden gegen Ende des 1. Jahrhunderts, die mehrheitlich heidenchristlich waren, in denen das jüdische Erbe aber immer noch lebendig war. Der Name der kleinen Sammlung, katholi-

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sche oder allgemeine Briefe, bezieht sich darauf, dass sie nicht an bestimmte Gemeinden, sondern ganz allgemein an christliche Gemeinden gerichtet sind. Da im deutschsprachigen Raum das Wort katholisch sehr stark konfessionell besetzt ist, werden die Briefe im protestantischen Bereich gelegentlich auch als Kirchenbriefe bezeichnet. 2. Der Jakobusbrief – ein Plädoyer für ein Christentum der Tat Seit Luther diesen Brief eine »stroherne Epistel« genannt und ihn fast ans Ende seiner Ausgabe des Neuen Testaments verbannt hat, hat er es zumindest bei evangelischen Christen schwer, Beachtung zu finden. Aber es lohnt sich, sich mit ihm intensiver zu beschäftigen. Sein Verfasser stellt sich als »Jakobus, Sklave Gottes und des Herrn Jesus Christus« vor und nimmt mit diesem Titel eine Bezeichnung auf, die auch Paulus zur Charakteristik seiner Autorität verwendet (Röm 1,1; Phil 1,1). Das sagt über seine Identität zunächst nichts aus. Aber es besteht wenig Zweifel daran, dass wir hier die Stimme des Herrnbruders Jakobus vernehmen sollen. Allerdings wird von vielen bezweifelt, dass er wirklich der Verfasser sein kann. Das gewählte Griechisch, das den Brief auszeichnet, spricht dagegen, aber auch, dass jede Anspielung auf das besondere Verhältnis zu Jesus fehlt. Da der Verfasser aber selbst keinerlei formale Autorität beansprucht, ist die Frage theologisch bedeutungslos. Als Adressaten werden die »zwölf Stämme in der Zerstreuung« genannt. Damit wird das Volk Gottes bezeichnet, das noch in der Diaspora, zerstreut unter den Völkern, lebt. Offen bleibt die Frage, wer damit konkret gemeint ist. Sind vor allem judenchristliche Adressaten als das wahre Israel angesprochen oder die Kirche aus Juden und Heiden als Verwirklichung des endzeitlichen Volkes Gottes? Da das Schreiben keine weiteren Israel typischen Akzente setzt, dürfte die zweite Alternative zutreffen. Ein konkreter Anlass für das Schreiben ist nicht erkennbar. Aber es hat ein Anliegen, mit dem es sich bewusst an die ganze Christenheit wendet. Der Verfasser will den Christen in ihrer »Zerstreuung« in einer feindlichen Welt den Weg zu einem Verhalten zeigen, das ihrer Berufung durch Gott entspricht. Formal handelt es sich nicht um einen Brief. Es gibt eine briefliche Einleitung, aber dann entfaltet der Verfasser sein Anliegen in Form einer Mahnrede. Die Adressaten werden immer wieder angeredet (1,2.16.19; 2,1.14; 3,1), es soll zu einer lebendigen Kommunikation kommen, doch ein brieflicher Schluss fehlt. Das Schreiben geht also nicht an einen bestimmten Kreis von Menschen oder Gemeinden, sondern ist für die Allgemeinheit bestimmt – ein echter »katholischer«, alle umfassender Brief.

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Aber obwohl das Schreiben durch und durch Mahnung ist, sind die Ermahnten nicht einfach an ihre eigene Kraft gewiesen. Grund und Kraft zu dem richtigen Verhalten als Christen liegt in dem, was Gott für sie und an ihnen getan hat. Das wird gleich am Anfang durch eine grundsätzliche Aussage begründet: »Jede gute Gabe und jedes vollkommene Geschenk kommt von oben, vom Vater der Himmelslichter, bei dem es keine Veränderung und nicht die Spur eines Wandels gibt« (1,17 ZB). Ursprung alles Guten und Vollkommenen ist Gott; und entgegen mancher biblischen Aussagen, dass Gott auch Unheil verursacht, wird betont, dass Gott absolut verlässlich ist. Deshalb wendet sich Jakobus auch gegen die – ebenfalls durchaus biblische – Aussage, Gott könne der Urheber einer Versuchung sein (1,13; gegen Gen 22,1; 2Sam 24,1 [korrigiert in 1Chr 21,1]; Mt 6,13; 1Kor 10,13). In Gottes Treue und Verlässlichkeit liegt der Grund der neuen Existenz der Christen: Gott »hat uns geboren nach seinem Willen durch das Wort der Wahrheit, damit wir die Erstlinge seiner Geschöpfe seien« (1,18). Christen leben in einer neuen Existenz, die Gott durch das »Wort der Wahrheit«, die wirkungskräftige Botschaft des Evangeliums, geschaffen (= geboren) hat. Richtiges Leben und richtiges Verhalten als Repräsentanten von Gottes guter Schöpfung wird möglich, weil die Basis dafür durch Gottes wirkmächtiges Wort geschaffen und erhalten wird. »›Klassisch‹ formuliert: der ›Imperativ‹ steht bei Jakobus im ›Indikativ‹« (Konradt, Jakobus 100). Sehr wichtig ist in diesem Zusammenhang die Betonung des Zusammenwirkens von Hören und Tun (1,22–25). Wo das Hören nicht zur Tat wird, da bleibt die Begegnung mit der Botschaft oberflächlich und flüchtig und das Gehörte ist schnell vergessen. Dabei ist das Hören nicht unwichtig. Im Gegenteil: Dadurch wird die Botschaft aufgenommen und rechtes Tun erst möglich. Aber wo es nicht zum Tun kommt, da kommt auch das Wort der Botschaft nicht zum Ziel. Sehr schön beschreibt Jakobus den ganzheitlichen Vorgang der Aufnahme und des Weiterwirkens des Wortes: »Wer aber sich vertieft in das vollkommene Gesetz der Freiheit und dabei beharrt und ist nicht ein vergesslicher Hörer, sondern ein Täter, der wird selig sein in seinem Tun« (1,25). Die christliche Botschaft wird hier mit einem singulären Begriff als »vollkommenes Gesetz der Freiheit« bezeichnet. Der Begriff »Gesetz der Freiheit« taucht auch in 2,12 auf und wird dort durch Gebote der sog. Zweiten Tafel des Dekalogs konkretisiert, nach denen im Gericht geurteilt werden wird. Das berührt sich eng mit der Bezeichnung »königliches Gesetz« in 2,8 für das Gebot der Nächstenliebe und erinnert an die Zusammenfassungen des Gesetzes bei Paulus in Röm 13,9f und Gal 5,14. Das vollkommene Gesetz der Freiheit ist also die Tora, wie sie ursprünglich gemeint war, im Liebesgebot zusammengefasst ist und so zum »Ge-

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setz Christi« wurde (Gal 6,2). Das ist das ganze, vollkommene Gesetz. Durch das Hören auf das Wort der Wahrheit zum Tun des Gesetzes befähigt zu werden führt zu wahrer Freiheit. Dass als entscheidender Maßstab die Barmherzigkeit genannt wird, erinnert wiederum an das Gebot Jesu »Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist« (Lk 6,36). Es wird in der Tradition der Bergpredigt mit »Seid vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist« (Mt 5,48) wiedergegeben, was zeigt, dass mit »Vollkommenheit« nicht Perfektion gemeint ist, sondern die Ganzheitlichkeit der Zuwendung. Das kennzeichnet auch die Bedeutung von »vollkommen« bei Jakobus. Der »vollkommene Mensch« (3,2) ist nicht »perfekt« im moralischen Sinn, sondern kann sich in allem beherrschen, im Wirken des Worts und im Tun des Leibes. Es kennzeichnet den Jakobusbrief, dass er viele Anliegen der Jesustradition, wie sie in Feldrede und Bergpredigt gesammelt ist, aufnimmt. Das betrifft die radikale Parteinahme für die Armen und die Warnung vor den Gefahren des Reichtums (2,1–9; 5,1–6), aber auch manche einzelnen Anweisungen. An einer Stelle besteht sogar die Vermutung, dass Jakobus das Eidverbot in einem ursprünglicheren Wortlaut als die Fassung in der Bergpredigt überliefert (vgl. 5,12 mit Mt 5,37). Aber das betrifft nicht nur die Überlieferung einzelner Worte oder Anliegen. Es gilt auch für den grundsätzlichen Ansatz. Wie bei Matthäus Jesu Gebot sowohl Ermöglichung und Ermächtigung zum Tun des Willens Gottes darstellt als auch die zentrale Forderung, das Richtige zu tun, so ist auch bei Jakobus das Gesetz der Freiheit sowohl Evangelium, Wort der Wahrheit, als auch Gesetz und Gottes Maßstab im Gericht. Sich in dieses Gesetz zu vertiefen, es mit der ganzen Existenz aufzunehmen (zu »hören«) schenkt die Kraft und die Orientierung zu rechtem Tun (vgl. Hören und Tun in Mt 7,24–27; s. S. 92, 252, 291). Dieser Ansatz aber führt zu einer heftigen Auseinandersetzung über die Frage des Verhältnisses von Glauben und Werke. Die Aussage, »dass der Mensch durch Werke gerecht wird, nicht durch Glauben allein« (2,24), scheint eine direkte Kampfansage an das paulinische sola fide von Röm 3,28; Gal 2,16 zu sein. Das war auch der wichtigste Grund für die Ablehnung des Briefes durch Luther. Neuere Untersuchungen haben aber ergeben, dass sich der Jakobusbrief wohl kaum mit den paulinischen Thesen selbst auseinandersetzt, sondern mit einem radikalen Paulinismus, der das »allein aus Glauben« absolut setzte, vergleichbar mit der These von N. v. Amstorf in der Zeit der Reformation, dass gute Werke »schädlich zur Seligkeit« seien. Analysiert man die Argumentation des Jakobusbriefes genau, so zeigt sich, dass seine Formel: »Glaube und Werke« nicht bedeutet: Ver-

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trauen auf Gottes Handeln plus menschliche Eigenleistung. Es geht nicht um eine Addition göttlichen und menschlichen Tuns, sondern um das Miteinander von dem, was Gott tut, und dem, was dieses Tun bewirkt. Dass der Glaube durch die Werke »vollkommen« wird, bedeutet deshalb nicht, dass der Mensch zu Gottes Tun etwas Eigenes hinzufügen muss, damit es perfekt wird, sondern dass der Glaube erst »ganz« wird, wenn er auch im Tun des Menschen seinen Ausdruck findet. »Die Werke werden zur sichtbaren Seite des Glaubens« (Niebuhr, Glaube 501). In der Sache entspricht das Anliegen des Jakobus dem, was Paulus mit einem »Glauben, der in der Liebe tätig wird« beschreibt (Gal 5,6). Glaube bedeutet für Jakobus auch keineswegs nur die Zustimmung zu dem Bekenntnis, dass es nur einen Gott gibt, wie das manche aus 2,19 schließen. Glaube beschreibt bei ihm die Offenheit für Gottes Handeln in Jesus Christus. Darum bewirkt der Glaube, wenn er sich bewährt, Geduld, d. h. ein Durchhaltevermögen, das sich an Gott hält und dadurch zu »einem vollkommenen Werk« führt, einem Handeln, das von Liebe geleitet ist (1,3f). Vor allem aber soll der »Glaube an Jesus Christus«, und das heißt auch das Leben mit Christus und in der Gemeinde, frei bleiben von jedem Ansehen der Person (2,1). Etwas zugespitzt gesagt, bedeutet Glauben für Jakobus, »in dem von Gott eröffneten Liebesverhältnis« zu bleiben (Konradt, Jakobus 169). Die Botschaft des Jakobusbriefs Was will dieser umstrittene Brief sagen? Sein Ziel ist die Anleitung zu einem ganzheitlichen Verständnis des Glaubens, und das heißt vor allem zu einem Christentum der Tat. Hören und Tun, Glaube und Werke gehören zusammen und werden gespeist von der Botschaft Jesu Christi, dem Wort der Wahrheit, dem vollkommenen Gesetz der Freiheit, das zur Nächstenliebe befreit. Prüfstein für die Ernsthaftigkeit solchen Glaubens ist das Verhältnis zu den Armen. Die biblische Option für die Armen wird im Jakobusbrief in seltener Konsequenz durchgeführt und die Gefahr der Kirche, sich durch Reichtum korrumpieren zu lassen, mit beißender Schärfe vorgeführt. So ist der Jakobusbrief keineswegs eine stroherne Epistel, sondern ein Weckruf, der zum Schaden der Kirche meist überhört wird. Er führt die Jesustradition, wie sie besonders von Lukas und der Bergpredigt repräsentiert wird, selbständig weiter. Theologisch bleibt wichtig, dass Paulus neben – bzw. vor – ihm steht. Sonst könnte er doch zu frommer oder sozialer Leistungsgerechtigkeit verleiten. Aber mit Paulus als starkem Gegenüber bleibt er ein wichtiges Korrektiv für eine Christenheit, die so oft den Einsatz für die Armen vergessen hat.

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3. Der erste Petrusbrief – Freude im Leiden Das Neue Testament enthält zwei Briefe, die den Namen des Petrus tragen, aber sehr unterschiedliche theologische Botschaften haben. Auch sprachlich gibt es deutliche Unterschiede. So stellt sich bei beiden Briefen die Frage: Spricht hier wirklich Petrus? Aber offensichtlich gab es das Bedürfnis, auch die Stimme des »Apostelfürsten« zur Geltung zu bringen. Das geschieht freilich in den beiden Briefen auf sehr verschiedene Weise. Wenden wir uns deshalb zuerst dem ersten Petrusbrief zu. Petrus, der Autor des Briefs, stellt sich als Apostel Jesu Christi vor, verzichtet aber auf Zusätze wie »durch den Willen Gottes« oder ähnlich, wie sie sich bei Paulus zu diesem Titel finden. Dass in der Forschung bezweifelt wird, dass der Brief tatsächlich von Petrus selbst stammt, hat mehrere Gründe. Die Sprache ist ein sehr gewähltes Griechisch, die Argumentation hat nirgends den persönlichen Ton, den man von Petrus erwarten würde, und die vorausgesetzte Situation scheint eher in die Zeit zehn oder zwanzig Jahre nach dem Tod des Apostels zu passen (80–90 n. Chr.). Da der Verfasser in 5,12 sagt, er habe »durch Silvanus, den treuen Bruder, wie ich meine, … euch wenige Worte geschrieben,«, nehmen manche Ausleger an, Silvanus (der Silas der Apostelgeschichte) habe den Brief im Auftrag des Petrus formuliert. Die meisten Exegeten aber gehen davon aus, dass der Brief erst nach dem Tod des Apostels geschrieben wurde, um auch seine Stimme hörbar zu machen. Der Brief geht an die »erwählten Fremden in der Diaspora« (1,1 EÜ; LÜ: »die auserwählten Fremdlinge, die in der Zerstreuung leben«). Auf diese sehr allgemeine Adressenangabe folgt noch eine nähere Ortsbestimmung: »in Pontus, Galatien, Kappadozien, der Provinz Asia und Bithynien«. Das sind die Namen der römischen Provinzen im nordwestlichen Kleinasien; in einigen von ihnen hatte auch Paulus gewirkt. Die »erwählten Fremden in der Diaspora«, die in diesem Gebiet leben, sind also Christen, die auf doppelte Weise gekennzeichnet werden. Sie sind von Gott erwählt, gehören zu ihm und zu seiner Gemeinde. Das aber macht sie zu Fremden in der eigenen Heimat. Gleich welcher ethnischen Herkunft sie sind, und selbst wenn sie die römische Staatsbürgerschaft besitzen, sind sie zu Fremden geworden. Wie viele Juden seit der Zeit des babylonischen Exils leben sie in der Zerstreuung, der Diaspora, in einer mehr oder weniger feindlichen Umgebung. Dieses Gefühl scheint im Urchristentum verbreitet gewesen zu sein (vgl. Jak 1,1). Damit aber stehen wir schon beim Anlass des Briefs. Christen, die unter Mobbing durch ihr gesellschaftliches Umfeld zu leiden haben, wird Mut zu gesprochen. Noch scheint es keine staatlich gesteuerte große Ver-

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folgung zu geben, aber die Christen haben sehr unter Ausgrenzung und Diskriminierung zu leiden. Deshalb lautet das Thema des Briefs: Freude im Leiden. Dass es zu Unterdrückung und Verfolgung von Christen kommt, ist kein unglücklicher Zufall, der bei etwas gutem Willen aller Beteiligten vermieden werden könnte. Es liegt in der Natur der Sache. Wer auserwählt ist, ist fremd geworden in der Welt. Auch Jesus Christus blieb fremd in dieser Welt. Darum ist Leiden ein Zeichen dafür, mit Christus unterwegs zu sein und sich klar von der Welt zu unterscheiden. Die Wurzel der Problematik liegt in der Zugehörigkeit zu Christus. Sie aber ist Grund und Quelle neuen, wahren Lebens. Und so zeigt der Verfasser auch zuerst auf, was es bedeutet, zu Christus zu gehören. Die Grundlage eines neuen Lebens ist die Wiedergeburt aus der Kraft der Auferstehung und dem lebendigen Wort Gottes. Das ist Leben, das eine bleibende Zukunft hat, nämlich eine Zukunft bei Gott (1,3–12.23). Voraussetzung dafür ist, dass Christus durch seinen Tod die Vergangenheit der Glaubenden bewältigt und sie aus ihrem »nichtigen Wandel«, einem Leben, das nur um sich selbst kreist und darum leer bleibt, herausgelöst hat (1,18f). Der erste Petrusbrief ist eine der Schriften des Neuen Testaments, in denen die Heilsbedeutung des Kreuzes am eindrücklichsten entfaltet wird. Er ist auch eine der wenigen, der Worte aus Jes 53 wörtlich zitiert (2,24f: Jes 53,5f). Dabei werden zwei Aspekte der Bedeutung des Todes Jesu eng miteinander verflochten: Im Tod Jesu hat Gott ein für alle Mal die Schuld der Menschen verarbeitet. Christus hat »unsere Sünden selbst an seinem Leib auf das Holz hinaufgetragen« (2,24). Zugleich ist das bereitwillige Leiden Christi Vorbild und Motivation, das eigene Leiden willig zu tragen (2,20–23). Leiden zu müssen, weil man das Gute tut, »ist Gnade bei Gott«. Der Verfasser weist aber auch immer wieder darauf hin, dass der Schlüssel zum Verständnis der Heilsbedeutung des Todes Jesu seine Auferweckung durch Gott ist. Sie ist Grund für den Glauben und die Hoffnung, dass aus dem Leiden eine gute Zukunft erwächst (1,21; 3,21). Die Teilhabe an Jesu Tod und Auferstehung ist der Grund für ein neues Leben, das schon jetzt beginnt. Christus ist gestorben, »damit wir, der Sünde abgestorben, der Gerechtigkeit leben« (2,24). Das sind Gedanken, die den paulinischen Aussagen in Röm 6 äußerst nahekommen. Diese neue Gemeinschaft mit Gott wird in der Gemeinschaft mit anderen gelebt. Was das bedeutet, wird in eindrücklichen Bildern geschildert. Gemeinde ist Tempel Gottes. Sie ist ein Haus aus lebendigen Steinen (2,5–10), in dem Christen ihre Berufung, bei Gott zu sein, leben. In dieses Bild zeichnet der Verfasser aber zugleich die christo-

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logische Begründung mit ein. Der entscheidende Stein für dieses Gebäude ist Christus, der Stein, der von den Bauleuten verworfen wurde, aber sich als »Eckstein« erwiesen hat, durch den der ganze Bau zusammengehalten wird. Wie in Röm 9,33 wird hier eine Kombination von Zitaten aus Ps 118,22 und Jes  8,14 verwendet, um das Geschick Jesu  – seine Verwerfung durch Israel durch die Auslieferung an die Römer und seine Rechtfertigung durch Gott durch die Auferweckung – zu beschreiben. Und wie in Röm 9 trägt die positive Aussage über Christus einen kritischen Akzent gegenüber dem Judentum der Zeit. Wie dort wird die Voraussage von Hos 2,25, dass aus denen, die kein Volk waren, nun Gottes Volk geworden ist, auf das Entstehen einer Gemeinde bezogen, zu der auch Nichtjuden ganz unterschiedlicher Herkunft gehören. Ihr gilt die große Berufung, wie sie Israel am Sinai zugesprochen wurde. Sie ist »ein auserwähltes Geschlecht, eine königliche Priesterschaft, ein heiliges Volk, das Volk, das er sich zu eigen machte« (2,9 ZB). Wer zur Gemeinde gehört, gehört ganz zu Gott und steht in seinem Dienst. Diese Aussagen sind nicht ungefährlich, denn sie haben später dazu gedient, die sog. Enterbungstheorie zu begründen. Aber hier sind sie zunächst ganz positiv verstanden und von der Freude durchzogen, dass Gott gerade denen nahegekommen ist, die fern von ihm waren. Eine Abqualifizierung Israels ist nicht damit verbunden. Diese Zusage ist auch kein Privileg, das man für sich still oder stolz genießen darf. In ihr steckt ein Auftrag. Gott hat die Christen zu diesem Volk gemacht, »damit ihr verkündet die Wohltaten dessen, der euch aus der Finsternis in sein wunderbares Licht gerufen hat«. Was Gott an denen, die glauben, getan hat, das sollen auch andere kennenlernen. Allerdings erlaubt die Situation der Gemeinden des 1. Petrusbrief keine großartigen Verkündigungsaktionen. Ihre missionarische Existenz beruht vor allem darauf, dass sie bereit sind, auch ungerechtes Leiden auf sich zu nehmen und so zum stillen Zeugnis für die Kraft und die Hoffnung werden, von der sie leben. Frauen werden deshalb ermutigt, sich ihren Männern unterzuordnen. Denn »so können einige unter ihnen, die nicht auf das Wort hören, durch den Lebenswandel ihrer Frauen, auch ohne Wort, gewonnen werden, wenn sie euren reinen, von Ehrfurcht geprägten Lebenswandel wahrnehmen« (3,1f ZB). Ein solches Verhalten kann auch dazu führen, dass Mitmenschen ins Fragen kommen und Auskunft darüber haben wollen, was zu einem solch beispielhaften Lebensstil führt. Deshalb gilt für die Christen: »Seid stets bereit, Rede und Antwort zu stehen, wenn jemand von euch Rechenschaft fordert über die Hoffnung, die in euch ist« (3,15 ZB).

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Das ist dann auch der Tenor der vielen praktischen Ermahnungen, die den 1. Petrusbrief kennzeichnen. Es geht um das richtige Verhalten in den verschiedenen Lebensbereichen. Die Bereitschaft, auch Unrecht zu erdulden, soll zum Zeugnis für die Welt werden, und das wird immer wieder neu durch den Verweis auf Christus als Grund und Vorbild für solches Verhalten begründet. Grundsätzlich gilt es Distanz zu den Begierden dieser Welt zu halten (2,11f; 4,1–3). Gleichzeitig aber wird dazu ermutigt, sich positiv in Staat und Gesellschaft einzubringen, was freilich weniger durch konstruktivkritisches Mitwirken geschehen kann, sondern eher durch ein Sich einfügen in bestehende Herrschaftsverhältnisse – aber doch in einer letzten Distanz und nicht in völliger Anpassung, sondern mit der Bereitschaft, durch das Tun des Guten falsche Parolen zum Schweigen zu bringen und für diesen letzten Vorbehalt auch leidend einzustehen (3,13–17). Gott zu fürchten und den Kaiser zu ehren wird als richtige Balance zwischen der absoluten Autorität Gottes und der abgeleiteten Vollmacht des Kaisers gesehen (3,17). Vergleichbare Mahnungen ergehen an die Sklaven und an die Frauen (2,18–25; 3,1–6), während von den Männern erwartet wird, dass sie ihre Vorrangstellung nützen, um das Verhältnis zu ihren Frauen so zu gestalten, dass diese als »Miterben der Gnade des Lebens« gewürdigt werden und ein gemeinsames geistliches Leben möglich ist (3,7). Alle diese Mahnungen sind immer wieder durchwoben von der Ermutigung, unausweichliches Leiden nicht zu scheuen, und dem Hinweis, dass die Leidensbereitschaft Jesu sowohl Grund unseres Heils als auch Vorbild für unser Verhalten ist. In diesen Zusammenhang ist dann auch die im Neuen Testament einzigartige Aussage eingefügt, dass Jesus nicht nur für die den Tod erlitten hat, die jetzt die Botschaft hören, sondern auch ins Totenreich hinabgestiegen ist, um den »Geistern im Gefängnis« zu predigen (3,19f; 4,6). Damit ist eine – wenn auch reichlich spekulative – Antwort auf die Frage gegeben, wie denn die Menschen, die vor dem Kommen Christi verstorben sind, zum Heil kommen können. Für die Arbeit in der Gemeinde und ihre Leitung folgt der Brief einer doppelten Linie. Einerseits wird der paulinische Begriff der Gnadengabe, des Charismas, aufgegriffen und auch dessen Grundsatz vertreten, dass alle in der Gemeinde von Gott zu gegenseitigem Dienst begabt sind. Darin zeigt sich die »vielfältige Gnade Gottes«. Sie ist den Christen anvertraut, um sie verantwortlich zu nutzen: »Dient einander – ein jeder mit der Gabe, die er empfangen hat – als gute Haushalter der vielfältigen Gnade Gottes« (4,10 ZB). Diese unterschiedlichen Gaben konzentrieren sich aber auf zwei Tätigkeitsfelder, Verkündigung und Dienst: »Wenn

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einer spricht, dann Worte Gottes; wenn einer dient, dann aus der Kraft, die Gott ihm schenkt, damit in allen Dingen Gott verherrlicht werde durch Jesus Christus; ihm sei die Herrlichkeit und die Herrschaft in alle Ewigkeit, Amen« (4,11 ZB). Andrerseits setzt der erste Petrusbrief voraus, dass die Gemeinde durch Älteste geleitet wird (5,1–5). »Petrus« selbst ordnet sich in diese Gruppe als Mitältester, aber auch als Zeuge des Leidens Christi ein. Der Leitungsstil, den er empfiehlt, ist ausgesprochen un-autokratisch. Die Ältesten sollen nicht herrschen, sondern Vorbild sein. »Hirte der Hirten« (LÜ: Erzhirte) aber ist und bleibt Jesus selbst. Nicht umsonst endet der Brief mit der Mahnung zur Demut an alle, aber auch mit der Ermutigung, sich mit allen Sorgen Gott anzuvertrauen (5,5–7). Die Botschaft des ersten Petrusbriefs Dieser Brief ist ein eindrückliches Zeugnis dafür, wie gegen Ende des ersten Jahrhunderts christliche Verkündigung eine schwierige Situation positiv und kreativ und unter Berufung auf die Mitte des Evangeliums bewältigt hat. Sein Ziel ist es, die Christen in Kleinasien zu einem Leben zu befähigen, das seiner Berufung treu ist und Leiden nicht scheut. Er zeigt deshalb zunächst auf, welche Gewissheit und Perspektive für die Zukunft diese Berufung schenkt, und versucht deutlich zu machen, dass Leiden ein Zeichen der Zugehörigkeit zu Christus ist und das Ertragen von Benachteiligung und Ausgrenzung ein Zeugnis für die Größe und den Wert der Botschaft von Christus darstellt. Darin liegt auch der missionarische Ansatz des Briefes, der wohl typisch für die christlichen Gemeinden der nachapostolischen Zeit ist: Die Treue zu Jesus und dem Evangelium soll das Verhalten der Christen so gestalten, dass Menschen sie nicht mehr wegen ihrer Andersartigkeit verachten und ablehnen, sondern auf ihren alternativen Lebensentwurf aufmerksam werden und nach dem Grund für ein solches Leben in Liebe und Hoffnung fragen. Dazu treten Ratschläge, wie sich Christen in verschiedenen Verantwortungsbereichen verhalten sollen. Das Gemeindebild des Briefes ist bestimmt durch gegenseitigen Dienst aller mit den unterschiedlichen Gaben und Fähigkeiten, die Gottes Gnade schenkt, aber auch durch eine Form der Leitung durch Älteste, deren Autorität in vorbildlichem Dienst und nicht in Herrschaftsansprüchen liegt. Der Petrus des Briefs beansprucht auch keine andere Autorität, als Zeuge des Leidens Christi zu sein. Das könnte in der ökumenischen Diskussion um die Bedeutung des Petrusdienstes wohl noch intensiver bedacht werden. Auffallend ist die formale und auch inhaltliche Nähe des Briefs zu den Paulusbriefen. Dennoch handelt es sich nicht um eine Art deuteropaulinisches Schreiben, wie gelegentlich behauptet wird. Die Gemeinsamkeiten dürften vor allem durch die Theologie der frühen hellenistischen Gemeinden verursacht sein und ein gemeinsames Erbe der Gemeinde in Antiochien darstellen. Aber es gibt

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auch deutliche Anklänge an den Jakobusbrief und die Tradition christlicher Ermutigung und Ermahnung, die dieser vertritt (so etwa der Hinweis auf die Unausweichlichkeit von Anfechtung oder die Mahnung zur Demut; vgl. 1,6; 5,5 mit Jak 1,4; 4,10). Der Brief nimmt also eine echte theologische Vermittlerrolle ein und beruft sich mit innerem Recht auf Petrus als den Apostel der Einheit. 4. Der zweite Petrusbrief – der Kampf um die rechte Lehre Wir haben es schon angedeutet: Auch beim zweiten Brief, der Petrus zugeschrieben wird, ist es sehr zweifelhaft, dass er wirklich von Petrus geschrieben wurde. Dagegen dürfte die fast wörtliche Übernahme des Judasbriefs in Kapitel 2 sprechen, aber auch die theologische Terminologie, die sehr stark hellenistisch geprägt ist und kaum von dem Fischer aus Galiläa stammen kann. Dass von den Gegnern die Erwartung des baldigen Kommens Jesu als widerlegt angesehen wird, weist auf eine deutlich spätere Zeit als die Wirksamkeit des Petrus, ebenso, dass er sich schon auf eine Sammlung von Paulusbriefen bezieht. Deshalb wird heute nur noch von ganz wenigen Auslegern angenommen, dass der Brief von Petrus stammt. Es ist auch unwahrscheinlich, dass der Verfasser mit dem des ersten Briefs identisch ist. Die theologische Begrifflichkeit und Ausrichtung unterscheiden sich sehr stark. Das ist freilich nicht unproblematisch, da der Brief selbst sehr dezidiert behauptet, der Verfasser habe auch den ersten Brief geschrieben (3,1f), und dieser sich als Augenzeuge auf Erlebnisse mit Jesus beruft. Der Bericht von der Verklärung in 1,16–18 ist neben der Abendmahlsüberlieferung (und möglicherweise der Anspielung auf die Gethsemanegeschichte in Hebr 5,7) die einzige Stelle in der Briefliteratur, die auf eine Erzählung in den Evangelien Bezug nimmt (zum theologischen Problem dieser Form der Pseudepigraphie s. o. S. 214 f.). Der Brief ist ähnlich wie der 2. Timotheusbrief als Testament des Petrus stilisiert, der seinen baldigen Tod erwartet (1,12–15) und deshalb Anweisungen für die Zeit danach gibt. Er sagt voraus, dass »in den letzten Tagen« Leute auftreten werden, die darauf hinweisen, dass sich die Hoffnung auf eine baldige Wiederkunft Jesu nicht erfüllt habe (3,3f). Es ist offensichtlich, dass dieses Problem zur Zeit der Abfassung des Briefs aktuell und der eigentliche Anlass für ihn ist. Alle anderen Problemanzeigen sind sehr viel allgemeiner gehalten. Der Brief stammt also aus der Spätzeit des Neuen Testaments, in der der Tod der ersten Generation schon längere Zeit zurückliegt (»die Väter sind entschlafen«). Der Brief beschreibt diese Leute als »Spötter« und »Skeptiker«, die das Ausbleiben des Jüngsten Tages dazu nutzen, »ihren

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eigenen Begierden nachzugehen«. Aber es scheinen eher Stimmen zu sein, die innerhalb der Gemeinde laut werden und deshalb besonders gefährlich sind. Manche Ausleger nehmen deshalb an, dass es sich dabei nicht um Leute handelt, die die Botschaft von der Wiederkunft Jesu als widerlegt ansahen, sondern um Enthusiasten, die eine ausschließlich präsentische Eschatologie vertreten. Solche Ansichten werden auch in 2Tim 2,18 bekämpft (»die Auferstehung ist schon geschehen«). Ihre Vertreter haben sich möglicherweise auf Aussagen wie Kol 2,12; 3,1; Eph 2,6 (»mit Christus auferweckt«) berufen. Es könnte sich also um eine Auseinandersetzung um das Verständnis der Eschatologie in den paulinischen Briefen handeln. Das könnte auch die vorsichtige Kritik an ihnen in 3,16 erklären. Sicher ist das freilich nicht. Möglicherweise gab es tatsächlich kritische Stimmen in den Gemeinden, die auf das Problem hinwiesen, dass sich die hochgespannten Hoffnungen der Frühzeit nicht erfüllt haben. Welche Konsequenzen sie daraus gezogen haben, ist schwer zu sagen, da die entsprechenden Vorwürfe im Brief, sie würden ein sittenloses Leben führen, eher die typische Polemik gegen Irrlehrer darstellt. Sie haben sich aber offensichtlich nicht enttäuscht von der Gemeinde abgewendet, sondern ein »weltlicheres« Christsein propagiert. Die Argumente, die der 2. Petrusbrief dagegen anführt (3,8–13), sind die klassischen Argumente geblieben, die bis heute von Befürwortern eines chronologischen Verständnisses der Wiederkunft Jesu angeführt werden: (1) Gottes Zeitmaß ist anders als das der Menschen: »Tausend Jahre sind vor dir wie ein Tag«, das relativiert alles Berechnen der Nähe des Jüngsten Tages. (2) Gott gibt mehr Zeit zur Buße. Um das Evangelium allen Menschen zu verkünden, braucht es Zeit. (3) Die prophetische Verheißung eines neuen Himmels und einer neuen Erde, in denen Gerechtigkeit wohnt, bleibt bestehen. Sie ist Grundlage und Fundament aller christlichen Hoffnung. Während der Brief bei diesem Problem trotz mancher allgemeinen Beschuldigungen der Gegner durchaus sachlich argumentiert, bleibt es im Übrigen bei einer pauschalen Ketzerpolemik, in der insbesondere die sittliche Verworfenheit der Gegner betont wird. Dass der Verfasser den Text des Judasbriefs fast wörtlich übernimmt, lässt es als unwahrscheinlich erscheinen, dass es um eine gezielte Auseinandersetzung mit anderen theologischen Positionen geht. Es zeigt auch die Grenze dieser nachapostolischen Literatur auf, die oft argumentativ ihren Gegnern nicht mehr gewachsen zu sein scheint. Doch es gibt auch positive und weiterführende Akzente. So nennt der Verfasser vor allem im ersten und letzten Kapitel einige wichtige Grundsätze, wie etwa das Vertrauen auf das prophetische Wort, die bleibend wirksam geworden sind.

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Die Botschaft des zweiten Petrusbriefs Ziel dieses Briefes ist es, die traditionelle Endzeithoffnung der Urchristenheit gegen Zweifel oder radikale Umformulierungen zu bewahren. Dabei ist auch für den Verfasser klar, dass die ursprüngliche chronologische Auffassung von der Naherwartung nicht zu halten ist. Dagegen setzt er ein neues Maß für die Zeit und eine theologische Begründung für die scheinbare Verzögerung der Wiederkunft Christi und des Jüngsten Gerichts. Insgesamt scheint der Brief eine Situation widerzuspiegeln, in der die Vertreter der »Orthodoxie« sich intellektuell unterlegen fühlen und deshalb zu einer rein formalen Bestreitung der Irrlehre und polemischen Rundumschlägen neigen. Das tut ihrer Argumentation nicht gut, ändert aber nichts daran, dass sie ein wichtiges Anliegen vertreten. Sollten die Gegner nicht einfach Zweifel gestreut, sondern eine radikale präsentische Eschatologie vertreten haben, würde das bedeuten, dass beide Positionen im Neuen Testament vertreten sind. Der kritische Hinweis auf missverständliche Stellen in den Briefen des Paulus, könnte das bestätigen. In Joh 5,24–29 wird ja sogar versucht, beide Aussagen innerhalb weniger Verse dialektisch zusammenzuhalten. Theologisch sind beide Positionen notwendig. Eine rein zukünftige Hoffnungsperspektive lässt die Gegenwart heilsleer erscheinen und steht in Gefahr, zur Vertröstung auf ein besseres Jenseits zu werden. Eine rein präsentische Eschatologie verliert das Potential einer Hoffnung auf reale Veränderung und steht in Gefahr, die Hoffnung für diese Welt aufzugeben. So war der Protest der Bekenntnisbewegung gegen eine rein existentiale Interpretation der Eschatologie in der Theologie Rudolf Bultmanns zwar sicher zu pauschal und undifferenziert – vergleichbar der Polemik im 2. Petrus- und Judasbrief – aber im Kern nicht ganz unberechtigt. Erst Jürgen Moltmanns »Theologie der Hoffnung« hat dann eine sachgemäße Korrektur gebracht und die Denkmöglichkeit und Notwendigkeit einer Hoffnung »auf einen neuen Himmel und eine neue Erde nach seiner Verheißung, in denen Gerechtigkeit wohnt,« (3,13) auch für unsere Zeit begründet. 5. Der Judasbrief – fester Halt in stürmischen Zeiten Der Brief des Judas dürfte das Schreiben im Neuen Testament sein, das auf heutige Leser und Leserinnen am befremdlichsten wirkt. Mit seiner scharfen Polemik und der Fülle an Beispielen für Gottes Gericht an Frevlern aus Altem Testament und apokryphen Schriften steht er quer zu dem, was wir heute als Zentrum der christlichen Botschaft ansehen. Als Verfasser zeichnet Judas, der sich selbst Sklave Jesu und Bruder des Jakobus nennt. Damit ist mit großer Sicherheit einer der Brüder Jesu gemeint, die in Mk 6,3//Mt 13,55 namentlich genannt sind. Tatsächlich dürfte der Autor ein Judenchrist gewesen sein; aber die teilweise recht

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gewählte griechische Sprache lässt es als unwahrscheinlich erscheinen, dass ein Handwerkersohn aus Nazareth wirklich der Verfasser des Briefes war. Ein konkreter Anlass des Briefes ist nicht erkennbar. Er richtet sich ganz allgemein »an die Berufenen, die geliebt sind in Gott, dem Vater, und bewahrt für Jesus Christus«, also an die ganze Christenheit. Was den Verfasser zum Schreiben veranlasst, ist eine allgemeine Bedrohung der christlichen Gemeinden. Er sieht sie in Gefahr, von Leuten unterwandert zu werden, die einerseits einer laxen Lebensführung das Wort reden, andererseits aber nicht den nötigen Respekt vor den dunklen Mächten haben, die das christliche Leben bedrohen, und sie lächerlich machen, anstatt mit ihrer gefährdenden Wirklichkeit zu rechnen (V. 10). Allerdings ist die Polemik des Verfassers so plakativ und nutzt so viele Stereotype frühchristlicher Ketzerbestreitung, dass es schwer ist, sich ein klares Bild von der wirklichen Bedrohung zu machen. Es erheben sich auch ernste Zweifel, ob diese Art von Polemik den Betroffenen wirklich gerecht wird. Auch Paulus kann grobes Geschütz gegen seine Gegner auffahren. Aber er versucht immer auch, sie argumentativ zu überwinden und nicht nur mit »Totschlagargumenten« zu bekämpfen. Ob diese Art der Bestreitung von gegnerischen Überzeugungen sachgemäß und hilfreich ist, bleibt deshalb eine ernste Anfrage an den Brief. Dagegen ist die Art, wie der Verfasser zu denen spricht, die er vor diesen Gefahren bewahren will, sehr ansprechend und einfühlend: Hier ist viel von Liebe und Erbarmen die Rede und davon, dass Gott diejenigen, die er berufen hat, auch in solchen Situation schützen und sicher führen wird. Und so sehr seine Ausführungen von einem Schwarz-Weiß-Denken geprägt sind, das bei den einen nur krasses Dunkel und Schlechtes und bei den anderen nur Licht und Gutes sieht, weiß er doch auch um eine Mittelgruppe, die hin und her gerissen ist, weil sie unsicher ist, wem sie sich zuwenden soll. Um sie gilt es sich zu mühen, sich ihrer zu erbarmen und sie dem drohenden Feuer zu entreißen (V. 22f). Und nicht zuletzt ist es wichtig, sich selbst vor dem Straucheln zu bewahren, oder besser gesagt, sich dem großen Gott und Retter anzuvertrauen, der die Seinen vor dem Fall bewahren und untadelig zum Ziel führen kann. Die Botschaft des Judasbrief – ein Versuch, sie zu verstehen Ziel dieses Briefes ist es, vor den Gefahren einer Unterwanderung der Gemeinden durch gefährliche Ideen zu warnen. Und es liegt in der Natur von Warntafeln, dass sie vereinfachen, schematisieren, vielleicht auch übertreiben. Sie differenzieren nicht und reflektieren nicht darüber, ob in der Gefahrensituation auch eine Chance oder eine positive Möglichkeit liegt. Sie wollen warnen: Achtung Lebensgefahr! Wir können nicht beurteilen, wie gerecht Judas

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denen wird, die er bekämpft. Man mag daran seine Zweifel haben. Aber er will warnen! Damit erinnert der Brief daran, dass es in der Geschichte der Kirche immer wieder Situationen gegeben hat, in denen es nötig war: Halt! Vorsicht! zu rufen. Wir mögen als Nachgeborene dann unter Umständen den Eindruck haben, dass auch die Haltung und die Lehre, die bekämpft wurden, ein Körnchen Wahrheit oder auch mehr für sich in Anspruch nehmen konnten. Aber es war dennoch wichtig, dass es Leute gab, die warnten, selbst wenn das mit unzulänglichen Mitteln geschah. Wichtig aber ist, dass der Judasbrief nicht nur warnt, sondern auch den Weg weist, wie man sich in Gottes Liebe und Erbarmen bergen kann. Möglicherweise steckt in der Polemik des Autors auch so etwas wie eine »paradoxe Intervention«: Indem er gerade nicht die aktuellen Probleme differenziert darstellt, sondern holzschnittartig die Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse am Beispiel der Heroen der Vorzeit schildert, provoziert er bei den Lesenden so etwas wie eine »reinigende Lektüre« (K.H Ostmeyer, Judas 199), die sie unausweichlich vor die Frage stellt: Auf welche Seite gehöre ich? Jedenfalls wurde der Brief in der Urchristenheit so sehr geschätzt, dass er vom Verfasser des zweiten Petrusbriefs im zweiten Kapitel seines Schreibens in leichter Überarbeitung übernommen wurde. Um ihn für heute zu aktualisieren, müsste man ihn als eine Art surrealistisches Plakat interpretieren, das durch die Exotik und die übersteigerte Zeichnung seiner Figuren seine Botschaft weiterträgt. Zu denen zu gehören, »die in Gott, dem Vater, geliebt und für Jesus Christus bewahrt sind« (V. 1). könnte dann auch für uns heute ein hilfreicher Zuspruch werden. 6. Die Johannesbriefe – ein Manifest der Liebe Eine ganz andere theologische Welt tut sich auf, wenn wir uns den Johannesbriefen zuwenden. Hier stehen andere Begriffe und andere Fragen im Mittelpunkt. Unstrittig ist, dass die Briefe, die unter dem Namen eines »Ältesten« Johannes überliefert sind, in engem Zusammenhang mit dem Johannesevangelium stehen. Vor allem der erste Johannesbrief greift viele seiner Themen auf und nimmt mit seinem Anfang auch ausdrücklich Bezug darauf. Im Blick auf den Verfasser ist aber fast alles umstritten. Stammen die Briefe vom selben Autor wie das Evangelium? War das – wie die Tradition meint – der Apostel Johannes, der Sohn des Zebedäus? Oder steht hinter dem »Ältesten« ein anderer Johannes, der auch ein naher Jünger Jesu war, wie es eine Notiz des Kirchenvaters Papias (60–135 n. Chr.) vermuten lässt? Und war er auch der Verfasser bzw. der Gewährsmann des Evangeliums? Wir wissen es nicht, und theologisch

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gesehen ist es auch nicht wichtig. Denn gerade der erste, theologisch gewichtigste der Briefe beruft sich nicht auf eine ganz persönliche Autorität, wohl aber mit seinen Eingangsworten auf die gemeinsame Vollmacht der ersten Zeugen (»Was wir gesehen haben …« 1,1–4). Anlass vor allem des ersten Briefs scheint eine Spaltung innerhalb der johanneischen Gemeinschaft zu sein. Wir wissen nicht, ob es sich dabei um bestimmte kleinasiatische Ortsgemeinden oder um eine Sondergruppe innerhalb der Urchristenheit handelt. Offensichtlich aber gab es in dieser Gemeinschaft Streit wegen Aussagen über die Menschwerdung Christi. Manches deutet darauf hin, dass diese Leute leugneten, dass Jesus wirklich Mensch geworden (im Fleisch gekommen) ist, und annahmen, das sei nur zum Schein geschehen (1Joh 4,2f; vgl. 2,22f). Diese Meinung wurde in der Alten Kirche immer wieder vertreten; sie wird Doketismus genannt. Sie soll in diesem Brief bekämpft werden. Aber diese Trennung ist auf eine Weise geschehen, die den Zurückbleibenden äußerst lieblos erschien. Und darum ist das zweite Thema des Briefes die Notwendigkeit geschwisterlicher Liebe. Möglicherweise gab es noch einen dritten Streitpunkt. Es scheint in der Gemeinde oder bei denen, die sich abgesondert haben, Leute gegeben zu haben, die behaupteten, ein Christ könne nicht mehr sündigen. Auch damit setzt sich der erste Brief auseinander. Von der Form her sind nur die beiden kleinen Briefe wirkliche Briefe; vor allem der dritte dürfte ein echter Brief sein, der in einer ganz bestimmten Situation geschrieben worden ist. Dagegen ist der erste Brief eher eine Art Traktat oder eine schriftlich aufgezeichnete Ansprache. Allerdings hat auch dieses Schreiben durch seine häufige Anrede der Adressaten einen bemerkenswert dialogischen Charakter. Schon der Beginn mit dem bekenntnisartigen »Wir« gibt dem Ganzen eine sehr persönliche Note. Wir konzentrieren uns zunächst auf die Botschaft des ersten Briefs. Im Zentrum steht der Streit um die Realität der Gegenwart Gottes im Menschen Jesus. Die wichtigste Konsequenz der Tatsache, dass Jesus wirklich »im Fleisch« gekommen ist, besteht darin, dass er auch den Tod der Menschen erlitten hat. Ist im Evangelium noch offen, was es bedeutet, dass Gott in seiner Liebe seinen eigenen Sohn »gab«, wird das im ersten Brief in aller Deutlichkeit ausgesprochen: »Darin ist erschienen die Liebe Gottes unter uns, dass Gott seinen eingebornen Sohn gesandt hat in die Welt, damit wir durch ihn leben sollen.« Und wie das geschah, wird durch eine parallele Aussage erklärt. »Darin besteht die Liebe: nicht dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt hat und gesandt seinen Sohn zur Versöhnung für unsre Sünden« (4,9f). Das aber kann im Rahmen urchristlicher Vorstellungen nur bedeuten, dass von Jesu Tod die Rede ist, der als sühnendes und versöhnendes Opfer verstanden wird.

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Mit dieser Aussage berührt sich die johanneische Tradition im Brief noch stärker als im Evangelium mit der Botschaft des Paulus. Die Sendung des Sohnes in die Welt und in den Tod wird als Überwindung der Sünde verstanden (Röm 8,3f). Der johanneische Spitzensatz, der sicher der gesamtchristlichen Tradition entnommen ist, lautet: »Das Blut Jesu Christi, des Sohnes Gottes, macht uns rein von aller Sünde« (1,7; vgl. Röm 3,25). Und wie bei Paulus (vgl. Röm 5,8; 8,37–39) wird das Kommen des Sohnes und die Hingabe seines Lebens als Ausdruck der Liebe Gottes verstanden (»Darin ist erschienen die Liebe Gottes …). Daraus wird aber eine doppelte Folgerung gezogen: (1) Dieses Handeln Gottes zeigt: »Gott ist Liebe« (4,8.16). Was Gott in Jesus getan hat, offenbart, was sein Wesen ausmacht: Seine Zuwendung zum Geschöpf, die sich schon in der Schöpfung manifestiert hat (Joh 1,1f), sie wird im Kommen des Sohnes für alle sichtbar. (2) Daraus folgt: »Hat uns Gott so geliebt, so sollen (und können) wir uns auch untereinander lieben« (4,11). Wenn Gott Liebe ist, dann gilt auch: »Wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm« (4,16). Das aber sollte keiner großen Willensanstrengung bedürfen, denn unsere Liebe zu Gott und zu den Mitmenschen ist ja nur die Re-Aktion auf die Liebe Gottes: »Lasst uns lieben, denn er hat uns zuerst geliebt« (4,19). Und so wird der 1. Johannesbrief nicht müde, dieses unauflösliche Ineinander von Liebe zu Gott und Liebe zum Nächsten zu beschreiben. Die Liebe zum Bruder und zur Schwester wird geradezu zum Indiz dafür, dass auch die Liebe zu Gott echt ist. Für uns heute stellt sich freilich die Frage, warum der Brief diese zwischenmenschliche Liebe so stark auf das Miteinander in der christlichen Gemeinde einengt. Das sieht auf den ersten Blick wie eine starke Eingrenzung der Liebe auf die Ingroup aus, die der jesuanischen Ausweitung der Nächstenliebe bis hin zur Feindesliebe zuwiderläuft. Eine Erklärung dafür könnte sein, dass der Verfasser eben das Verhältnis zu den Geschwistern der Gemeinde als erstes Bewährungsfeld für die Liebe zum Mitmenschen sieht. In Abwandlung seiner Aussagen von 2,9–11 und 4,20f könnte er sagen: Wie will der seinen Feind lieben, der es nicht einmal schafft, seine Mitbrüder und -schwestern zu lieben? Es könnte noch eine dritte Folgerung genannt werden. 3,6 heißt es: »Wer in ihm (nämlich in Christus) bleibt (und damit auch in der Liebe bleibt), der sündigt nicht«. Wir stoßen damit auf eine merkwürdig paradoxe Argumentation im 1. Johannesbrief, in der sich zwei Aussagenreihen völlig zu widersprechen scheinen. Einerseits gibt es eine Reihe grundsätzlicher Aussagen, die wie die eben zitierte feststellen, dass es keine Gemeinschaft mit Gott und zugleich

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mit der Sünde geben kann. »Wer Sünde tut, der ist vom Teufel« heißt es in 3,8f, aber: »Wer aus Gott geboren ist, der tut keine Sünde; denn Gottes Same bleibt in ihm, und er kann nicht sündigen; denn er ist aus Gott geboren«. Das Wesen Gottes und das der Sünde können nicht nebeneinander existieren. Denn »Gott ist Licht, und in ihm ist keine Finsternis«. Deshalb gilt: »Wenn wir sagen, dass wir Gemeinschaft mit ihm haben, und wandeln doch in der Finsternis, so lügen wir und tun nicht die Wahrheit« (1,5f). Aber wenige Sätze danach heißt es andererseits: »Wenn wir sagen, wir haben keine Sünde, so betrügen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns« (1,8). Nach den Worten Jesu brauchen wir alle Vergebung. Deshalb: »Wenn wir sagen, wir haben nicht gesündigt, so machen wir ihn zum Lügner, und sein Wort ist nicht in uns« (1,10). Diese beiden Aussagenreihen scheinen sich zu widersprechen. Aber hier sind nicht – wie manche Ausleger meinten – zwei widersprüchliche Dokumente ineinander gearbeitet worden, sondern der Verfasser wählt bewusst diese Aussageform. Denn einerseits möchte er die grundsätzliche Aussage bestätigen, dass sich die völlige Zugehörigkeit zu Gott nicht mit einem Leben in der Sünde verträgt. Aber andererseits muss er den Anspruch mancher Leute, sie würden nicht mehr sündigen, als gefährlichen Selbstbetrug zurückweisen. Und so versucht er gewissermaßen, die wesleyanische Lehre von der christlichen Vollkommenheit und das lutherische simul iustus et peccator miteinander zu verbinden. Die Lösung des Dilemmas liegt in der Gewissheit der Vergebung: »Wenn wir aber unsre Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und reinigt uns von aller Ungerechtigkeit« (1,9). Das bedeutet: »Wenn jemand sündigt, so haben wir einen Fürsprecher bei dem Vater, Jesus Christus, der gerecht ist. Und er selbst ist die Versöhnung für unsre Sünden, nicht allein aber für die unseren, sondern auch für die der ganzen Welt« (2,1f). Beide Linien vereinigen sich darin, dass wir uns mit allem, was wir tun und sind, Gott in Christus anvertrauen: »Wenn wir aber im Licht wandeln, wie er im Licht ist, so haben wir Gemeinschaft untereinander«, das heißt die Gemeinschaft mit Jesus ist Grundlage auch für die Gemeinschaft mit anderen. Und alles, was diese Gemeinschaft stört und verdirbt, wird von ihm verarbeitet und weggenommen, denn »das Blut Jesu, seines Sohnes, macht uns rein von aller Sünde« (1,7). Damit ist aber grundsätzlich auch die Herrschaft der Sünde gebrochen, »denn dazu ist erschienen der Sohn Gottes, dass er die Werke des Teufels zerstöre« (3,8). Doch der Verfasser widersetzt sich nicht nur der Gefahr enthusiastischer Selbsttäuschung, er hat auch seelsorgerlichen Rat für die, die in Gefahr sind, im Teufelskreis skrupulöser Selbstbeschuldigung zu versinken.

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Auch sie dürfen sich Gott und seiner Wahrheit anvertrauen: »Vor ihm werden wir unser Herz beruhigen. Denn auch wenn das Herz uns verurteilt: Gott ist grösser als unser Herz und erkennt alles« (3,19f ZB). Ein kurzes Wort zu den beiden kleinen Briefen: Der zweite Brief ist ein echter Brief: Der Absender nennt sich nur »der Älteste« oder »der Alte«, scheint also eine unter diesem Namen bekannte Persönlichkeit zu sein. Empfängerin ist die »auserwählte Herrin und ihre Kinder«, vermutlich der Ehrentitel für eine Hausgemeinde. Das kurze Schreiben fasst die Botschaft des ersten Briefes knapp zusammen: Im Zentrum steht das Gebot, sich »untereinander zu lieben« (4–6), aber daneben auch die Abwehr der verführerischen Irrlehre, die ablehnt, dass »Jesus Christus im Fleisch kommt« (7). Wer das lehrt, wird hier in aller Schärfe als »Antichrist« bezeichnet (vgl. schon 1Joh 2,18.22; 4,3), und die Vertreter dieser Ansicht sollen nicht ins Haus aufgenommen, ja, nicht einmal gegrüßt werden. Der Brief dokumentiert damit schmerzlich das Dilemma zwischen notwendiger Abgrenzung von gefährlichen Tendenzen der Lehre und dem Gebot, einander auch unter schwierigen Bedingungen zu lieben. Der dritte Brief ist ein echtes Gelegenheitsschreiben, das hochinteressante Einblicke in die Auseinandersetzungen innerhalb der christlichen Gemeinden gegen Ende des 1. Jahrhunderts gibt, die wir allerdings relativ schwer in ein Gesamtbild einordnen können. Der »Älteste« schreibt an einen Gaius, vermutlich Leiter einer Hausgemeinde, und lobt ihn dafür, dass er »in der Wahrheit wandelt« und die Wandermissionare, die der Älteste ausgesandt hat, aufgenommen hat. Dagegen hat ein gewisser Diotrephes, der sich die Leitung der Gemeinde anmaßt, diese Abgesandten abgewiesen und auch die Gemeindeglieder, die bereit gewesen wären, sie aufzunehmen, daran gehindert. Es ist schwer zu sagen, wer hier welche Position vertritt. Das Pikante ist, dass dieser Diotrephes genau das tut, was in 2Joh 10f gefordert wird – nur dass er auf der anderen Seite steht. Vertritt er die Seite einer strengen Orthodoxie, die sich gegen die Kühnheiten der johanneischen Theologie verschließt? In der Praxis stoßen sich die Gegensätze manchmal hart im Raum! Die Botschaft der Johannesbriefe Grundsätzlich gilt: Rechtgläubigkeit und die Bereitschaft zur gegenseitigen Liebe sind keine Gegensätze, sondern gehören untrennbar zusammen. Das ist Ziel und Botschaft des ersten Johannesbriefs. Denn beides, das richtige Verständnis von Gottes Wirken in der Person Jesu Christi als auch die Motivation zur gegenseitigen Liebe, wurzelt in der Erkenntnis, dass Gott und sein Handeln Liebe ist. Allerdings zeigen dann die beiden anderen Briefe, wie schwer es ist, die Notwendigkeit, falsche Lehre abzuwehren, und das Gebot,

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die Geschwister zu lieben, miteinander zu vereinen. Vielleicht ist hier die Beschränkung der Sicht auf die geschwisterliche Liebe ein Handicap. Dass Jesus Christus nicht allein die Versöhnung »für unsere Sünden«, »sondern auch für die der ganzen Welt« ist (1Joh 2,2), könnte den Horizont dafür weiten, auch die Feinde, ja selbst die innerkirchlichen Gegner zu lieben. Der grundsätzliche Ansatz aber, das Angewiesensein auf Gottes Liebe und die Befähigung zu menschlicher Liebe in seinem unauflöslichen Zusammenhang zu sehen, ist der besondere Beitrag des ersten Johannesbriefs zur Botschaft des Neuen Testaments. »Mach’s wie Gott, werde Mensch«, heißt ein flotter Spruch: Die Menschwerdung Gottes ist Grund wahrer Menschlichkeit! Das ist die Botschaft des Briefs. Wie sie gelebt werden kann, ist immer wieder neu eine Herausforderung! 7. Katholische Briefe – Zeugnisse einer bedrohten Christenheit Obwohl sich die Sammlung dieser Briefe an der Aufzählung der Jerusalemer Autoritäten nach Gal 2,9 orientiert, repräsentiert sie sicher nicht die Theologie, die diese damals im Gespräch mit Paulus vertreten haben. Die Briefe wurden auch nicht als Gegenposition zur paulinischen Theologie verfasst, obwohl der Jakobusbrief und der 2. Petrusbrief Tendenzen in diese Richtung aufweisen. Aber die Sammlung, die ja erst sehr zögerlich entstanden ist, repräsentiert doch etwas von der der Breite der urchristlichen Tradition neben und nach Paulus. Die verschiedenen Positionen, die die Briefe vertreten, sind nicht unbedingt ein Hinweis auf konkurrierende »Denominationen« im Urchristentum, aber sie zeigen die Existenz unterschiedlicher theologischer Strömungen auf. Jakobus repräsentiert die Jesustradition und ihre Transformation in Gemeindeparänese. Der 1. Petrusbrief vertritt die jüdisch-hellenistische Missionstradition und damit wohl am ehesten die Form der Verkündigung, wie sie typisch für die zweite und dritte Generation in der frühen Kirche war. Der 2. Petrus- und der Judasbrief stehen stärker für das Bemühen in der nachapostolischen Zeit, die christliche Botschaft vor einem Zerfasern in unterschiedliche Strömungen und einem als problematisch angesehenen Modernisierungsschub zu bewahren. Umgekehrt zeigen die Johannesbriefe die Vertiefung der Jesustradition durch die Intensivierung der christologischen Botschaft und das Bemühen, diesen Sonderweg im Rahmen der gesamtkirchlichen Tradition – falls man in dieser Zeit von so etwas sprechen darf – zu verankern. Gemeinsam ist den Schriften die Betonung des Tuns. Das wird unterschiedlich konkretisiert: Bei Jakobus geht es um aktive Nächstenliebe, die besonders den Armen zugutekommt, bei Petrus um ein vorbildliches Verhalten auch im Leiden und bei Johannes um ein Miteinander in ge-

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schwisterlicher Liebe. Aber gleichzeitig ist für die Johannesbriefe und mit anderer Schwerpunktsetzung für den 2. Petrus- und den Judasbrief die Verteidigung der rechten Lehre wichtig. Alle Briefe aber reagieren auf eine Bedrohung: Der Jakobusbrief auf die schleichende Korrumpierung der Gemeinden durch den Einfluss reicher Mitglieder und ein nachlassendes Engagement im Dienst der Nächstenliebe, der 1. Petrusbrief auf den steigenden Druck, den Gemeinden und einzelne Christen in ihrer Umgebung erfahren, der 2. Petrus- und der Judasbrief auf die wachsende Gefahr von Irrlehren bzw. neuen Positionen, die als solche angesehen werden, und die Johannesbriefe auf die Spaltung der Gemeinde durch unterschiedliche Auffassungen in der Lehre und ihre lieblose Propagierung. Ziel dieser Briefe ist Festigung und Konsolidierung der christlichen Bewegung. Sie stehen dabei vor unterschiedlichen Herausforderungen und stellen sich ihnen auch mit sehr unterschiedlichen Mitteln. Insofern machen gerade die »katholischen« Briefe deutlich: Zum »Katholischen« gehört auch eine Vielfalt, die sich nicht immer ganz einfach harmonisieren lässt. Gerade, wo es um das »Allumfassende« der Kirche geht, begegnet uns auch eine Polyphonie, deren Dissonanzen es auszuhalten gilt. Nur so werden wir auch den gemeinsamen Grundton hören, der auch diese Schriften durchzieht. V. Das prophetische Buch – Die Offenbarung des Johannes Wie haben schon darauf hingewiesen: Es war kein Konzil oder ein anderes kirchliches Gremium, das beschlossen hat, am Schluss der christlichen Bibel müsse ein Buch stehen, das über Gottes Handeln am Ende der Zeiten Auskunft gibt, so wie auf den ersten Seiten erzählt wird, was Gott im Anfang getan hat. Im Gegenteil: Es war sogar äußerst umstritten, ob dieses Buch überhaupt in die christliche Bibel gehört. Vor allem im Osten des Reichs, wo man mit prophetischen Bewegungen schwierige Erfahrungen gemacht hatte, war der Widerstand groß. Dagegen fand diese Schau der Endgeschichte im Westen viele interessierte Ausleger. So ist es bei der endgültigen Entscheidung über die Grenzen des Kanons doch noch aufgenommen worden und fand seinen Platz am Ende der christlichen Bibel. Dabei ist interessant, dass gerade diese Schrift beide theologischen »Medien«, die das Neue Testament zur Vermittlung theologischer Botschaften kennt, nämlich Brief und Erzählung, in sich vereinigt! Ein Brief ist die Offenbarung auf zwei Ebenen. Das ganze Buch ist als Brief des Sehers Johannes an die sieben Gemeinden in der römischen

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Provinz Asien formatiert. Es beginnt und endet stilgerecht mit einem Briefanfang und Schluss. Was in der Offenbarung berichtet wird, will also keine neutrale Darstellung von künftigen Ereignissen und keine Schau für unbeteiligte Zuschauer sein. Es soll auch nicht versiegelt und für die spätere Zeiten verborgen bleiben (22,10). Der Bericht über das, »was du gesehen hast und was ist und danach geschehen soll« (1,19), will seine Leser und Leserinnen unmittelbar anreden und ihnen kommunizieren, was der erhöhte Herr seiner Gemeinde zu sagen hat. Das geschieht dann sehr eindrücklich in den sog. Sendschreiben an die sieben Gemeinden am Beginn des Briefes (Kap. 2 und 3). Formal sind diese »Schreiben« keine Briefe, sondern die Niederschrift von Worten des erhöhten Herrn, die der Seher in dessen Auftrag aufgeschrieben hat – also typisch prophetische Worte. In ihnen geht es nicht so sehr um die Zukunft, sondern um die Gegenwart, um den Zustand der Gemeinden im Urteil ihres Herrn. Es fällt sehr unterschiedlich aus: Ermutigung steht neben ernster Warnung, Trost neben Drohung. Aber es geht immer um die Begegnung der Gemeinde mit ihrem Herrn. Doch der Seher erzählt auch. Er erzählt von seiner Beauftragung durch Jesus Christus (1,9–20) und vor allem von seiner Schau dessen, was im Himmel, der Welt Gottes, geschieht und was dies für das Geschick der Menschen bedeutet. Immer wieder setzt er an »und ich sah« und nimmt so die Leserinnen und Leser unmittelbar hinein in sein Erleben. Denn was er ihnen mitteilt, sind keine interessanten persönlichen Träume, sondern Einblicke in die wirklichen Machtverhältnisse im erbitterten Kampf um die Herrschaft über Himmel und Erde. Was der äußere Anlass für die Niederschrift war, ist ebenso umstritten wie die Frage, wer ihr Verfasser ist. Was die letzte Frage angeht, sind die meisten Ausleger überzeugt, dass es sich um eine in den Gemeinden der Provinz Asia bekannte prophetische Gestalt namens Johannes handelt, die aber nicht identisch mit dem Apostel Johannes, dem Sohn des Zebedäus ist. Dagegen spricht das Selbstzeugnis der Schrift, die nichts von dieser Identifizierung verrät und für die die »zwölf Apostel« Gestalten der Vergangenheit sind, die das Fundament der Kirche und des himmlischen Jerusalems darstellen (21,14). Im Blick auf den Anlass begnügt sich kaum ein Ausleger mit der einfachen Auskunft, Jesus Christus habe eben dem Seher während dessen Verbannung auf Patmos all diese Dinge gezeigt. Wie immer man sich die Niederschrift des Buches vorstellt, es ist deutlich, dass eine bestimmte Situation in Gemeinde und Gesellschaft den Seher drängt, weiterzugeben, was er als Stimme seines Herrn gehört und als Vision für die Zukunft von Gemeinde und Welt gesehen hat.

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Lange Zeit hat man angenommen, dass es unter Kaiser Domitian (81– 96 n. Chr.) zu ersten großen Verfolgungen im Reich gekommen ist und dies den unmittelbaren Anlass für das Buch bildet. Inzwischen wird aber von vielen bezweifelt, dass es diese Verfolgung gegeben hat. Möglicherweise ist es der stärker werdende Druck zur verpflichtenden göttlichen Verehrung des Kaisers von Seiten der örtlichen Magistrate in Kleinasien und einer aggressiv agierenden Kaiserpriesterschaft, der den Anstoß zur Abfassung des Buches gab. Die eigentümliche Verbindung von Vorbereitung auf eine unausweichlich bevorstehende tödliche Verfolgung im Hauptteil des Buchs und Warnung vor einer scheinbar erfolgreichen Anpassung an die Gesellschaft in den Sendschreiben ist aus dieser Situation gut erklärbar. Die Offenbarung hat eine klare Botschaft: Nachdem Gott die Schuldfrage durch Jesus Christus, »dem Lamm, das geschlachtet wurde,« gelöst hat, wird er durch ihn auch die Machtfrage lösen und seinen Weg mit dieser Welt zum Ziel führen (Kap. 4 und 5). Diese Botschaft wird aber mit unterschiedlichen Facetten entfaltet. Als erstes werden die Gemeinden auf die Begegnung mit ihrem Herrn vorbereitet. Ihnen stehen harte Bewährungsproben bevor. Darum muss jetzt geklärt werden, was vor dem kommenden Herrn bestehen kann und was nicht (Kap. 2 und 3). Teilweise werden spezielle Probleme angesprochen wie die Frage nach dem Essen von Götzenopferfleisch (2,20). Grundsätzlich geht es aber um die Frage, inwieweit sich die Christen in eine heidnische, von einer politischen Religion beherrschten Gesellschaft integrieren können und wo sie Widerstand leisten müssen. In der Beurteilung des Zustands der Gemeinde kommt es zu einer typischen Umwertung der Werte. Gemeinden, die als reich und lebendig gelten, werden kritisch beurteilt (3,1.17), solche, die als arm und schwach gelten, werden gelobt und ermutigt (2,9; 3,8). Hier nimmt die Offenbarung eine Linie auf, die sich von Jesus über Paulus und Jakobus bis hierher zieht. Es gibt im Einzelnen hohes Lob und scharfen Tadel; aber am Ende steht bei jeder Gemeinde eine Verheißung für alle, die »überwinden« und trotz Bedrängnis und Verfolgung die Treue halten und so den Sieg behalten. Auch in der Offenbarung ist die heilvolle Begegnung mit Jesus nicht der Zukunft und einem fernen Jenseits vorbehalten. Es ist sehr berührend zu lesen, wie gerade die Gemeinde, die am schärfsten kritisiert wird, die Zusage erhält: »Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wenn jemand meine Stimme hören wird und die Tür auftun, zu dem werde ich hineingehen und das Abendmahl mit ihm halten und er mit mir« (3,20).

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Als zweites wird den Lesern und Leserinnen zugemutet, der tödlichen Konfrontation zwischen der Realität der Herrschaft Gottes und den widergöttlichen Mächten ins Auge zu sehen. Das beginnt tröstlich mit einem Blick in den »Himmel«, der Dimension der Wirklichkeit, in der Gott schon unumschränkt herrscht (Kap. 4). Hier erhebt sich freilich auch die bange Frage, wer das Buch mit den sieben Siegeln öffnen und Gottes Plan mit dieser Welt zu seinem Ziel führen kann. Niemand anderes ist dafür geeignet als »das Lamm, das geschlachtet wurde« (Kap. 5). Nur der, der sein Leben für andere gab, und so die Schuldfrage löste, ist fähig, nun auch die Machtfrage im Sinne Gottes zu lösen. Für heutige Leser und Leserinnen ist freilich etwas verstörend und befremdend, dass dort, wo der Sieg des »Lammes« beschrieben wird, dies mit den gleichen grausamen, ja brutalen Bildern geschieht, die in der Geschichte der Menschheit den Kampf um die Macht gekennzeichnet haben (Kap. 19). Dann aber wendet sich der Blick auf die Erde und auf die Reihe von existenzbedrohenden Gefahren, die auf ihre Bewohner und Bewohnerinnen zukommen werden. In drei großen Plagenreihen wird mit dramatischen und sich immer mehr steigernden Bildern geschildert, welche zerstörerischen Kräfte auf göttlichen Befehl aus den Abgründen von Himmel und Erde entfesselt werden (die sieben Siegel 6,1–17; 8,1–5; die sieben Posaunen 8,6–9,21; 11,15–19; die sieben Schalen 15,5–16,21). Sie sind letzte Mahnungen an die Menschen ihr Vertrauen nicht auf selbstgemachte Götter und die Vergötzung menschlicher Macht zu setzen. Aber die Menschen kehren nicht um, sondern verfluchen Gott und versuchen dem Verderben zu entfliehen (6,15–17; 9,20f; 16,10f). Zwischen diese Plagenreihen stellt der Seher immer wieder Ausblicke auf die Vollendung derer, die Gott die Treue gehalten haben (Kap. 7 und 14), aber auch Bilder von der Entmachtung des Satans in der himmlischen Welt und von seinen teuflischen Machenschaften auf der Erde zur Verführung und Verfolgung derer, die sich dem Anspruch verweigern, ihm und seinen Geschöpfen göttliche Ehren zu geben (Kap. 12 und 13). Diese »UmschaltTechnik« macht deutlich, dass es in der Abfolge der Visionen nicht um eine chronologische Folge kommender Ereignisse geht, sondern um Einblicke in Wesensmerkmale der bevorstehenden großen Auseinandersetzung. Das große Finale besteht in dem Bericht vom Sturz Babels, dem Inbegriff eines totalitären und globalen Wirtschaftssystems, und der Niederlage aller gottfeindlichen Mächte (Kap. 17 und 18). Der Sieg des kommenden Menschensohns wird mit drastischen Bildern beschrieben, dann das Gericht über die Menschen geschildert (Kap. 19 und 20), und nach der rätselhaften Episode des Tausendjährigen Reichs (20,1–6) malt der Seher mit tief berührenden Farben die zukünftige Gemeinschaft Gottes mit den Menschen, einen neuen Himmel und eine neue Erde und eine uto-

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pische »Stadt« mit einer lebensspenden Quelle als zukünftige Heimat der Menschen (Kap. 21 und 22). Die Offenbarung ist von einer doppelten Spannung durchzogen, die sich an ihrem Ende massiv verdichtet: (1) Alles ist Gnade und von ihr zu leben, darauf kommt es an. Und doch wird konsequentes Verhalten erwartet. Nur wer im Buch des Lebens steht, wird im Gericht bestehen können, und doch werden auch Bücher aufgetan, in denen steht, was Menschen Gutes und Böses getan haben (20,12–15). (2) Angesichts von Verführung und Verfolgung wird es immer wieder zu schmerzlichen Trennungen kommen, und es scheint eine kleine Schar von Überwindern und Märtyrern zu sein, die in die Gemeinschaft mit Gott findet. Und doch sieht der Seher in den 144 000 die Fülle des Gottesvolks und eine unzählbare Schar aus allen Nationen und Kulturen vor dem Thron Gottes (Kap. 7), und Gottes bleibende Gegenwart unter den Menschen scheint alle Grenzen zu sprengen und noch viele anzuziehen (21,3 f.26; 22,2). Die universale Vision und das Nein gegen alles Gottfeindliche und Widergöttliche stehen unausgeglichen nebeneinander. Am schmerzlichsten zeigt sich das in 21,1–8, wo direkt nach der Schilderung der völligen Gemeinschaft mit Gott eine massive Strafankündigung steht (V. 8). Umfassende und innigste Schilderung des Heils, das Gott den Menschen schenkt, und Drohung mit brennenden Höllenqualen folgen unmittelbar aufeinander! Die doppelte Botschaft der Offenbarung Warnung und Trost, realistische Einschätzung kommender Bedrohung und kontrafaktische Hoffnung auf Gottes Zukunft, eine universale Perspektive und den ernsten Hinweis auf notwendige Ent-Scheidungen, all das möchte die Offenbarung bieten. Ihr Ziel ist es, die Gemeinden in der Provinz Asia aufzurütteln und zu stärken, sie zu einer ehrlichen Evaluation ihrer eigenen Situation anzuleiten und ihnen trotz aller Gefährdung eine tragfähige Perspektive für die Zukunft zu geben. Der Seher warnt eindringlich vor der Gefahr, sich dem Ruf Gottes zu verweigern oder die einmal gehörte Berufung zu verleugnen. Gottes Ja zu den Menschen gilt, aber auch sein Respekt vor ihrem Nein. Und doch steht am Ende der Offenbarung, nachdem alles entschieden und die Scheidung zwischen Geretteten und Verlorenen vollzogen scheint, noch einmal die große Einladung: »Wen dürstet, der komme; wer da will, der nehme das Wasser des Lebens umsonst« (Offb 22,17).

C. Die neutestamentliche Botschaft und ihre Themen

Auf den ersten Blick ist es eine verwirrende Vielfalt von Ausprägungen der christlichen Botschaft, der wir auf den vorhergehenden Seiten begegnet sind. Gibt es so etwas wie ein einigendes Band, das diese Vielfalt zu einer Einheit zusammenbindet? Oder sind es diese unterschiedlichen Theologien im neutestamentlichen Kanon, die statt der Einheit der Kirche die Vielfalt der Konfessionen begründen, wie der Neutestamentler Ernst Käsemann mit einer provozierenden These behauptet hat? Schaut man freilich etwas genauer hin, zeigt sich: Es gibt doch eine gemeinsame Botschaft der Schriften des Neuen Testaments. Ganz knapp könnte man sie so formulieren: Gott hat im Leben und Sterben Jesu von Nazareth entscheidend zum Heil und zum Wohl der Menschen gehandelt. Er hat dies getan in Weiterführung, aber auch Überbietung seines Handelns in der Schöpfung und in der Geschichte Israels. Kurz und sehr einfach gesagt: Die Botschaft des Neuen Testaments ist Jesus. Jesu Wirken und Tod ist das Grundereignis der göttlichen Offenbarung, in dem sich »Gott den Menschen endgültig als die schöpferische Liebe zu verstehen gab, die alles neu macht. Dieses christologische Grundereignis bezeugen die neutestamentlichen Texte als das Ende des gottfernen alten und den Anfang des gottoffenen neuen Lebens« (Dalferth, Wirkendes Wort 393). Das aber hat entscheidenden Einfluss auf die Beziehung zu Gott. Wo von Jesus die Rede ist, da steht Gott im Mittelpunkt. Dass sich Gott allein in Christus verlässlich offenbart, bedeutet »eine fundamentale Konkretion des Gottesverständnisses«. »Gegen jeden abstrakten Theismus und seine Entgegensetzung von Gott und Welt« wird damit die faktische und unhintergehbare Zwiespältigkeit nicht nur der Welterfahrung, sondern auch der Gotteserfahrung ernst genommen. »Gott ist in der Tat in allem gegenwärtig und wirksam, aber dass sein wahres Wesen seine unerschöpfliche Liebe ist, das erschließt sich eindeutig allein durch die Geschichte Jesu Christi« (Dalferth, 398). Gibt es darüber hinaus so etwas wie einen gemeinsamen Verstehensrahmen, eine »Gesamterzählung« (overall narrative), die ebenso hinter dem Wirken Jesu steht wie hinter den Berichten der Evangelien und der Ent-

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faltung der christlichen Botschaft bei Paulus und in den anderen Schriften des Neuen Testaments? Der anglikanische Theologe N. T. Wright vertritt in seinen vielen und teilweise recht populären Schriften diese These. Wright ist überzeugt: »Viele Juden des ersten Jahrhunderts verstanden sich als Menschen, die in einer fortdauernden Erzählung lebten, die in sehr früher Zeit begonnen hatte, sich durch die alten Prophetien zog und bis hin zu einem Höhepunkt der Befreiung lief, der jeden Moment erfolgen konnte« (Rechtfertigung 45). Sie »stellten sich die Zeit, in der sie lebten, als Fortsetzung der großen biblischen Erzählung vor, und den Moment ihrer Existenz als Spätphase innerhalb des ›andauernden Exils‹ von Dan 9« (Rechtfertigung 47). Die Bibel Israels, das Frühjudentum und auch Paulus sind alle überzeugt: »Gottes einer Plan, um die Welt in Ordnung zu bringen, ist sein Plan, dies durch Israel zu tun« (Rechtfertigung 51). Sehr wichtig für dieses Konzept ist die Abschiedsrede Moses in Dtn 27–30 mit ihren Segens- und Fluchworten. Aus ihnen wurde geschlossen, dass sich Israel aufgrund seines Versagens immer noch im »Exil« befindet. Erst der völlige Gehorsam Israels würde zu einer Wiederherstellung des ganzen Zwölf-Stämme-Volkes führen. Dann würde der wahre Tempel Gottes errichtet werden, Gott mit seiner Herrlichkeit in ihn zurückkehren und Gottes Plan mit den übrigen Völkern und der ganzen Schöpfung zur Erfüllung kommen. Diese Hoffnung teilen nach Wright auch Jesus und Paulus, und sie bildet den bestimmenden Rahmen für ihre Verkündigung. In seiner Begegnung mit dem gekreuzigten und auferstandenen Christus hat Paulus das grundsätzliche Scheitern Israels und seiner Versuche, das Gesetz zu erfüllen, erkannt. Jesus, der Messias, ist Gottes Sohn und damit Repräsentant Israels. Er erfüllt durch seinen Lebensgehorsam den Gehorsam, der Israels Aufgabe gewesen wäre, und mit seiner Auferstehung beginnt Gottes endzeitliches Handeln zum Heil der ganzen Schöpfung. Es geht nicht darum, ob jemand in den Himmel kommt und das ewige Heil erlangt – das betont Wright immer wieder –, sondern es geht um die Verwirklichung der Verheißung Gottes einer neuen Schöpfung und darum, dass Gott alles in allem sein wird.

Zweifellos ist dieser Entwurf eine wichtige Korrektur an einer einseitig individualistischen Auslegung der Botschaft Jesu oder des Paulus, insbesondere dessen Rechtfertigungslehre. Aber er ist auf seine Weise auch wieder sehr einseitig und übergeht, dass es Paulus an zentralen Stellen doch um die Stellung der Einzelnen vor Gott geht (vgl. nur Röm 7 und 8 oder Phil 3,7–10). Auch wenn es Indizien dafür gibt, dass Jesus die Wiederherstellung des Zwölf-Stämme-Volks erwartet und vielleicht mit der Errichtung eines neuen Tempels gerechnet hat (vgl. Mt 19,28;

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Mk 14,58), so ist doch nicht zu erkennen, dass sein Wirken als Ganzes maßgeblich von diesen Erwartungen bestimmt ist. Aber gibt es einen Alternativentwurf für eine Grundidee, der alle neutestamentlichen Schriften folgen? Zwar lässt sich keine »Gesamterzählung« erkennen, die hinter allen steht, aber es gibt eine Reihe von Motiven, die in der einen oder anderen Form in fast allen von ihnen auftauchen. 1) Die Not der Gottesferne der Menschen. In den synoptischen Evangelien sind es vor allem Krankheit und Besessenheit, die als Symptome der Entfremdung von Gott gesehen werden. Im Johannesevangelium und in den Briefen wird dagegen die Sünde in ihrem Wesen als Macht und als Tat zum grundlegenden Merkmal der Entzweiung zwischen Gott und Mensch und der Zerstörung der menschlichen Gemeinschaft. Gemeinsam aber ist beiden Sichtweisen die Überzeugung, dass die Menschen diese Kluft nicht von sich aus überbrücken können und dass ihr Leben verdirbt, wenn sie keine Hilfe erhalten. 2) Das rettende Handeln Gottes in der Person Jesu. Alle neutestamentlichen Schriften teilen die Gewissheit, dass Gott im Leben und Wirken Jesu Christi entscheidend zum Wohl und zum Heil der Menschen gehandelt hat. Auch hier werden verschiedene Aspekte betont: Dass Jesus Kranke heilt und Besessene aus der Gewalt zerstörerischer Mächte befreit, ist Zeichen dafür, dass durch ihn Gott und seine heilvolle Herrschaft den Menschen ganz nahekommt. Seine vollmächtige Auslegung des Willens Gottes legt den Grund und schenkt die Kraft und die Orientierung, das Leben im Einklang mit Gottes Willen zu leben. Durch das Sterben und die Auferweckung Jesu bewältigt Gott die Folgen menschlicher Sünde und entsorgt die giftigen Altlasten von Hass und Schuld. In der Person Jesu begegnen Menschen Gott in seiner ganzen Liebe und Zuwendung zu den Menschen. Gott ist mit uns und er ist für uns, das ist die Botschaft der Person Jesu. 3) Die Identität des einen Gottes. Alle Schriften des Neuen Testaments halten daran fest, dass der Vater Jesu Christi, der Gott, auf den Jesus sich beruft und auf den zu vertrauen er alle einlädt, kein anderer ist als der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs und der Schöpfer der ganzen Welt. Auch wo der Zwiespalt zwischen Gott, der das Gute will, und einer Welt, die im Argen liegt und von Mächten des Bösen beherrscht wird, gesehen wird, kommt es nicht zu einem Dualismus zwischen Gott und Gegengott. Gott bleibt der, der alles in Händen hält. Und obwohl an manchen Stellen über das zeitgenössische Judentum harsche und teilweise ungerechte Urteile gefällt werden, wird an der Überzeugung festgehalten, dass das Heil von den Juden kommt und Gottes Verheißung für Israel Grund für das Heil aller ist.

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4) Die zuvorkommende Gnade Gottes und die Frage nach der Antwort der Menschen. Die neutestamentlichen Schriften sind sich einig darin, dass Gottes Zuwendung in Jesus Christus allen Menschen gilt, bevor sie irgendetwas dafür tun können. Weil aber diese Zuwendung Gottes eine neue Beziehung begründen will, darum ist für alle genauso zentral, dass Gott auf eine Reaktion der Menschen wartet und nach ihrer Antwort fragt. Diese Antwort zeigt sich im Wagnis des Vertrauens auf Gottes Handeln und im Glauben an sein Wirken in Jesus Christus. Sie wird aber auch im Ruf in die Nachfolge erfragt oder in der Aufforderung zum Hören und Tun des Wortes. Überall aber bleibt klar, dass es dabei nicht um eine geforderte Eigenleistung der Menschen geht, sondern um eine Re-Aktion, die ihre Kraft aus der Aktion Gottes gewinnt. 5) Die Realität einer neuen Gemeinschaft. Durch Jesu Wirken entsteht eine neue Gemeinschaft von Männern und Frauen. Schon ganz am Beginn seines öffentlichen Auftretens ruft er Menschen zu sich, um mit ihnen den Weg gemeinsam zu gehen. Und auch nach seiner Auferstehung blieben seine Jünger und Jüngerinnen als Gemeinschaft beieinander und luden andere dazu ein, sich dieser Gemeinschaft mit Christus anzuschließen. Alle Schriften im Neuen Testament gehen davon aus, dass Christen immer als Gemeinde leben. 6) Die Wirklichkeit eines neuen Lebens. Die neutestamentlichen Schriften sind davon überzeugt, dass aus der Gemeinschaft mit Christus die Kraft zu einem neuen, veränderten Leben wächst. Seine Gegenwart in der Kraft des Heiligen Geistes befähigt zu einem Leben, das dem Willen Gottes entspricht und von der Liebe geleitet wird. Auf dieses Potential wollen sie ihre Leserinnen und Leser ansprechen und darum nimmt die Paränese, d. h. die Ermutigung und Ermahnung zu einem Handeln, das dieser Gemeinschaft entspricht, einen so großen Raum in ihnen ein. Die grundsätzliche Leitlinie dabei bildet das Gebot der Nächstenliebe. Und auch dort, wo die Menschen als Einzelne angesprochen werden, geschieht das in dem Bewusstsein, dass sie Glieder einer tragfähigen Gemeinschaft sind. 7) Die Hoffnung auf Vollendung. In fast allen Schriften des Neuen Testaments wird in großer Gewissheit davon gesprochen, dass Gott der Zweideutigkeit dieser Welt und der Herrschaft zerstörerischer Mächte in ihr ein Ende setzen und eine neue Welt schaffen wird, in der er alles in allem sein wird. Sie sind sich weiter darin einig, dass auch die Vollendung von Gottes Werk das »Gesicht« Jesu Christi tragen und durch sein Wiederkommen geprägt sein wird. Die frühen Schriften des Neuen Testaments erwarten dieses Geschehen in unmittelbarer zeitlicher Nähe, die späteren weisen teilweise darauf hin, dass noch einige Zeit vergehen wird, andere betonen, dass die Zukunft Gottes schon begonnen hat. Alle

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aber halten fest, dass es dabei um kein allmähliches Wachsen des Reichs und eine ständige Verbesserung der Lebensumstände geht, sondern dass der Weg dorthin durch Bedrängnis, Verfolgung, Verführung und gesellschaftliche und natürliche Katastrophen führen wird. Umgekehrt ist die Hoffnung auf die Vollendung nie nur Vertröstung auf ein besseres Jenseits, sondern wirkt mit ihrer erneuernden und ermutigenden Kraft schon in die Gegenwart hinein. So eindrücklich die Einheit dieser Botschaft zu sein scheint, so ist doch nicht zu übersehen, dass sie sehr unterschiedlich und im Detail manchmal auch widersprüchlich entfaltet wird. Daher stellt sich noch einmal die Frage: Begründet der Kanon die Einheit der Kirche und nicht vielmehr die Vielfalt der Konfessionen? Einerseits scheint es tatsächlich so zu sein, dass manche Unterschiede in den verschiedenen kirchlichen Traditionen darauf zurückzuführen sind, dass man sich bei ihrer Entstehung auf unterschiedliche Schwerpunkte der Heiligen Schrift berufen hat. Aber andererseits wäre es eine unzulässige Vereinfachung, wollte man die heutigen Modelle von Kirche auf entsprechende Entwürfe in neutestamentlicher Zeit zurückführen, etwa die Römisch-katholische Kirche auf Matthäus, die protestantischen Kirchen auf Paulus, die Orthodoxie auf Johannes und die Pfingstbewegung auf die Apostelgeschichte oder ähnlich. Man könnte leicht zeigen, dass es hier jeweils sehr große Differenzen gibt. Aber es kann nicht geleugnet werden, dass die unterschiedliche Ausprägung der kirchlichen Traditionen in Theologie und Praxis auch (aber nicht ausschließlich!) durch eine unterschiedliche Schwerpunktsetzung in der Bewertung und Auswahl der biblischen Traditionen verursacht ist. Tatsächlich bietet das Neue Testament Ansatzpunkte für sehr unterschiedliche Ausgestaltung kirchlicher Theologie und Praxis. Umgekehrt ist nicht alles, was heute als kirchentrennend oder -unterscheidend gesehen wird, durch verschiedene Vorgaben im Neuen Testament begründet. Etwas pointiert kann man sagen: Das Neue Testament, so wie es entstanden ist und uns heute vorliegt, repräsentiert eine Einheit in versöhnter Verschiedenheit. Bevor wir den neutestamentlichen Befund noch mehr im Detail entfalten, noch zwei methodische Überlegungen: Bei einem solchen systematischen Überblick über das ganze Neue Testament erhebt sich ein grundsätzliches Problem. Die besonderen Formen, in denen sich neutestamentliche Theologie darbietet, also Brief oder Erzählung, müssen verlassen und eine abstrakte Systematik muss gewählt werden. Das ist einer der Gründe, warum wir nicht versucht haben, die ganze Darstellung der Botschaft des Neuen Testaments so durchzuführen, sondern zunächst die besondere Eigenart der einzelnen Schriften herausgearbeitet haben.

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Jetzt gilt es zu versuchen, eine Art der Gesamtdarstellung zu finden, in der dieses besondere Profil nicht völlig eingeebnet wird. Damit hängt auch das zweite methodische Problem zusammen: Wird diese Gesamtdarstellung eine Art Wiederholung der Detailergebnisse in systematischer Anordnung sein oder gelingt der Versuch einer Synthese, in der die Details sich zu einem größeren Zusammenhang zusammenfinden? Das wird sich im Lauf der Darstellung erweisen müssen. I. Jesus Christus – Zeuge des einen Gottes Es geht Jesus in seiner Verkündigung und seinem Handeln um Gott und sein Kommen. Sein Zeuge und Werkzeug will er sein. Nicht selten hört oder liest man die Behauptung, Jesu habe gegen den richtenden und zornigen Gott des Alten Testaments die Botschaft von einem gütigen Gott und liebenden Vater gestellt. Sie lässt sich offensichtlich nicht aus der Welt schaffen, auch wenn sie keinen Anhalt an den Texten hat. Jesus und die Autoren des Neuen Testaments knüpfen unmittelbar an die Gottesverkündigung der Schriften Israels an. Gott, der Schöpfer Himmels und der Erde Gott ist Schöpfer der ganzen Welt und bleibt seiner Schöpfung als ihr Bewahrer treu. Davon sind alle Autoren des Neuen Testaments überzeugt. Von der These Marcions (um 85–160 n. Chr.), dass diese Welt mit all ihren Übeln von einem bösen Gegengott geschaffen worden sei, der nichts mit dem gütigen Vater Jesu zu tun habe, findet sich keine Spur in den Schriften des Neuen Testaments. Jesus hat nach dem Zeugnis der Evangelien immer wieder zum Vertrauen auf einen gütigen Schöpfer aufgerufen, der die Blumen auf dem Feld und die Vögel unter dem Himmel versorgt. Gottes beispiellose Großzügigkeit, in der er »seine Sonne über Böse und Gute aufgehen und es über Gerechte und Ungerechte regnen lässt«, ist für ihn Vorbild auch für menschliches Handeln (Mt 5,45; 6,25–30//Lk 12,22–28). Auch für Paulus ist klar, dass die Schöpfung auf ihren Schöpfer weist und die Menschen ihn aufgrund dieser Erkenntnis als den einzigen und wahren Gott verehren müssten (Röm 1,19f). Und selbst Johannes, dem man am ehesten eine dualistische Theologie nachsagen könnte, hält daran fest, dass die ganze Welt durch Gott und sein Wort entstanden ist (Joh 1,1–4). Für Johannes ist dieses Wort aber nicht nur das gesprochene Schöpfungswort von Gen 1 oder Ps 33,6. Das WORT (griech.: der Logos) ist die Seite

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Gottes, die der Schöpfung und den Menschen zugewandt ist. Durch sie steht er in Beziehung zur Schöpfung und sie ist in Jesus Christus Fleisch, d. h. wirklicher Mensch, geworden (Joh 1,14). So bekennt auch Paulus, dass es einen Gott gibt, »den Vater, von dem alle Dinge sind und wir zu ihm«, und den einen Herrn, Jesus Christus, durch den alle Dinge sind und wir durch ihn« (1Kor 8,6). Hinter dieser Vorstellung von Christus als »Partner« des Schöpfungswerkes Gottes stehen alttestamentlich jüdische Vorstellungen von der Weisheit als Schöpfungsmittlerin (Spr 8,22–31). Der Gott, der die Welt geschaffen hat, ist kein anderer als der, der sich seinem Volk geoffenbart hat. Im Neuen Testament wird das am eindrücklichsten in dem Christushymnus in Kol 1,15–20 entfaltet. Christus ist der »Erstgeborene vor aller Schöpfung« und »in ihm ist alles geschaffen, was im Himmel und auf Erden ist«, und er ist der »Erstgeborene aus den Toten«, durch den Gott »alles mit sich versöhnt hat«. Das heißt: Gott handelt in Schöpfung und Erlösung auf dieselbe Weise, und dieses Handeln umfasst alles, was geschaffen ist, und alles, was Versöhnung braucht. Die christologische Zuspitzung der Schöpfungsaussagen steht für die Eindeutigkeit des Handeln Gottes. Gerade die Aussagen über Christus als Schöpfungsmittler sollen bezeugen: Was durch ihn geschieht, ist Wirken des einen Gottes. Der Gott Israels Auch die andere Voraussetzung für die Gottesverkündigung des Neuen Testaments ist schon genannt worden: Der Vater Jesu Christi ist kein anderer als der Gott Israels, der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs. Auf ihn beruft sich Jesus (Mk 12,26//Mt 22,32//Lk 20,37), und sein Handeln an Israel bleibt auch für die urchristliche Gemeinde Vorbild und Maßstab. Dass er die Menschen zur Verantwortung zieht und sie sein Gericht fürchten müssten, ist ebenfalls nicht hinterfragte Voraussetzung der christlichen Verkündigung. Auch dass das Gesetz des Mose Gottes Willen darstellt, wird nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Nur über seine Auslegung im Einzelnen und seine Rolle für den Weg zum Heil gibt es unterschiedliche Urteile. Die einzelnen Schriften des Neuen Testaments mögen das Verhältnis des zeitgenössischen Judentums zu seinem Gott mehr oder weniger kritisch beleuchten. Aber nirgends taucht ein Zweifel daran auf, dass Juden und Christen vom selben Gott sprechen, zumal sich weite Teile der frühen Christenheit noch als Teil des Judentums betrachteten. »Das Heil kommt von den Juden« (Joh 4,22).

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Schwerpunkte der Gottesverkündigung im Neuen Testament Die Gottesverkündigung des Neuen Testaments hat drei unterschiedliche Schwerpunkte und ein zusammenfassendes Thema. Mit drei Motiven, die schon im Alten Testament zentral für Aussagen vom Kommen Gottes zu seinem Volk sind, wird in den unterschiedlichen Schichten des Neuen Testaments beschrieben, wie Gott und sein heilvolles Handeln in der Person und im Geschick Jesu gegenwärtig wird. 1. Das Kommen des Reiches Gottes »Das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen«, dieser Ruf stand im Zentrum der Verkündigung Jesu, und die synoptischen Evangelien entfalten dieses Thema intensiv. Vor allem Lukas greift es immer wieder auf: Jesus »predigt das Evangelium vom Reich« (Lk 4,43; 8,1; 16,16, vgl. 9,11), und die Proklamation von Gottes Herrschaft und Reich steht auch im Zentrum des missionarischen Auftrags der Jünger (9,2.60; 10,11). Konsequenterweise ist auch in der Apostelgeschichte das Reich Gottes wichtiger Inhalt der Verkündigung der Apostel, Paulus eingeschlossen (Apg 8,12; 14,22; 19,8). Dessen Verkündigung wird mit dem Satz zusammengefasst: Er »predigte das Reich Gottes und lehrte von dem Herrn Jesus Christus« (28,31; vgl. 28,23). Im Johannesevangelium erscheint das Motiv nur in dem Gespräch mit Nikodemus in der traditionellen Formulierung; »das Reich Gottes sehen«, bzw. »in das Reich Gottes kommen« (3,3.5). Hier ist das Motiv zur Kurzformel für das erwartete Heil geworden, an dem man teilhaben möchte (vgl. Mt 25,34: »ererbt das Reich«). Ähnlich ist der Befund in den Briefen des Paulus, in denen vom Reich Gottes meist dort die Rede ist, wo es darum geht, wer das Reich nicht »erben«, also keinen Anteil an ihm haben wird (1Kor 6,9; 15,50; Gal 5,21; Eph 5,5). Positiver sind Aussagen wie 1Kor 4,20: »Denn nicht in Worten erweist sich die Herrschaft Gottes, sondern in der Kraft« (EÜ). Hier zeigt sich der dynamische Charakter des Motivs (deshalb übersetzen EÜ, ZB mit »Herrschaft«) und auch, dass das Wesen der Herrschaft Gottes schon jetzt die Gegenwart bestimmen will. Ähnlich Röm 14,17: »Das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit, Friede und Freude im Heiligen Geist«. Nicht der Streit um Speisevorschriften soll das Leben der Christen in Rom bestimmen, sondern das, was das Wesen des kommenden Reiches Gottes ausmacht: Gerechtigkeit, Friede und Freude, die Gottes Geist schon jetzt als Vorschmack auf das kommende Reich schenkt. Die Vollendung der Hoffnung auf das Kommen des Reiches Gottes wird dann in der Offenbarung nach der Vertreibung Satans aus dem Himmel proklamiert: »Jetzt ist erschienen das Heil und die Kraft und die

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Königsherrschaft unseres Gottes und die Vollmacht seines Gesalbten« (Offb 12,10 ZB). Die Vorstellung, die dem Motiv von der Königsherrschaft bzw. dem Reich Gottes zugrunde liegt, stammt aus dem Bereich der Politik und des staatlichen Handelns. Schon im Alten Testament wird es in den sog. Thronbesteigungspsalmen 93,1; 96,10; 97,1; 99,1 auf Gott angewandt und proklamiert: »Der HERR ist König«, und zwar König über alle Völker. Das war freilich eine angefochtene Wahrheit, insbesondere angesichts der Erfahrung des Exils. Deshalb ist es eine außerordentliche Freudenbotschaft, ein »Evangelium«, das nach Jes 52,7 Jerusalem verkündigt wird: »Sagt der Tochter Zion: Dein Gott ist König geworden!« Gott setzt seine Herrschaft durch! Interessanterweise gibt der Targum, die aramäische Übersetzung des Jesaja, diese Aussage so wieder: »Die Königsherrschaft Gottes wird offenbar«. Diese Übertragung löst eine theologische Frage: Warum soll Gott König werden, wo er doch schon immer über die Welt herrscht? Die Antwort lautet: Was immer schon galt, wird sich jetzt offenbaren. Die Erwartung, dass Gottes Herrschaft für alle offenbar und wirksam wird, ist der gedankliche Hintergrund, auf dem Johannes der Täufer und Jesus verkünden: Gottes Reich ist ganz nahegekommen! Ja, Jesus ist überzeugt, dass dort, wo er Dämonen austreibt und Menschen aus der zerstörerischen Macht des Bösen befreit, Gottes Herrschaft schon angebrochen ist (Lk 11,20//Mt 12,28). Was Gott für alle sichtbar vollenden wird, beginnt mit dem Wirken Jesu schon keimhaft und verheißungsvoll. In ihm begegnet schon jetzt die Macht des rettenden und befreienden Gottes, die am Ende der Zeit alles bestimmen wird. In ihm erfahren Menschen schon jetzt – um mit Paulus zu reden – »Gerechtigkeit, Frieden und Freude« (Röm 14,17). 2. Die Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes Im Evangelium von Jesus Christus wird »die Gerechtigkeit Gottes offenbart aus Glauben zum Glauben«. Darum ist es Gottes Kraft, die jeden rettet, der glaubt, und darum schämt sich Paulus nicht, es zu verkünden, sondern weiß sich verpflichtet, diese Botschaft möglichst mit vielen zu teilen (Röm 1,14–17). Die Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes im Evangelium ist das Leitmotiv der Sendung und Botschaft des Apostels. Er spricht darüber nicht oft. In Röm 3,21.25 nimmt er das Motiv noch einmal auf, diesmal ist die Offenbarung und der Erweis der Gerechtigkeit Gottes nicht nur auf die Botschaft des Evangeliums, sondern auf das Christusgeschehen selbst bezogen. Indem Gott Christus die Sünde tragen lässt, erweist er seine Gerechtigkeit, seine rettende Treue zu den Menschen. Das wird in 2Kor 5,21 ganz paradox formuliert: »Gott hat

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den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm zur Gerechtigkeit Gottes werden« (s. o. S. 142). Auch die Vorstellung von der Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes als Heilsereignis hat ihren Ursprung im Alten Testament. In Psalm 98,2f heißt es: »Der Herr lässt sein Heil verkündigen; vor den Völkern macht er seine Gerechtigkeit offenbar. Er gedenkt an seine Gnade und Treue für das Haus Israel, aller Welt Enden sehen das Heil unseres Gottes« (vgl. Jes 56,1). Das ist eine der Stellen im Alten Testament, die unmissverständlich deutlich machen: Mit Gottes Gerechtigkeit ist kein verurteilendes und strafendes Handeln gemeint, sondern Gottes rettende Treue zu seinem Volk, mit der er Hilfe und Heil schenkt. Der Begriff gehört also nicht nur in die Sphäre des Rechts, sondern ganz umfassend in den Bereich sozialer Beziehungen. Wo sich Gottes Gerechtigkeit offenbart, da erfahren Menschen, dass Gott zu seinem Wort steht und zerbrochene Beziehungen heilt und ungerechte Verhältnisse zurechtbringt. Paulus ist überzeugt: So zeigt sich Gott durch sein Handeln in Jesus Christus und so wird er in der Verkündigung des Evangeliums für Menschen erfahrbar. Es ist hochinteressant, dass dieses Motiv auch bei Matthäus vorkommt, der sonst ganz andere theologische Wege geht als Paulus. In Mt 6,33 zitiert er eine Aufforderung Jesu: »Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner [Gottes] Gerechtigkeit …«. Hier sind die beiden Leitmotive Gottes Reich und Gottes Gerechtigkeit miteinander verbunden und werden als die Ziele menschlichen Wollens und Suchens benannt, für die es sich lohnt, sich ganz auf sie auszurichten. Moderne Übersetzungen schreiben statt »Trachtet« »Suchet« (EÜ). Das liegt sprachlich nahe, ist aber theologisch problematisch. Denn es erweckt den Eindruck, Gottes Reich und seine Gerechtigkeit seien noch verborgen und müssten erst mühsam gesucht werden. Der Zusammenhang aber zeigt, dass das nicht gemeint ist. Statt sich um die Dinge des täglichen Lebens zu sorgen, gilt es, sich ganz auf Gottes Reich und seine Gerechtigkeit auszurichten, die in Jesu Lehre und Leben schon gegenwärtig sind. Davon spricht auch die vierte Seligpreisung, die denen, die »hungern und dürsten nach Gerechtigkeit« zusagt, dass sie satt werden (Mt 5,6). Ihr Hunger und Durst werden gestillt werden, weil Gottes rettende und zurechtbringende Gegenwart schon jetzt in Jesus begegnet und durch Gottes Handeln mit ihm vollendet werden wird. Wo Gottes Reich ganz nahe ist und sich seine Gerechtigkeit offenbart, da werden Menschen frei und Beziehungen heil – vor allem die Beziehung zu Gott. Und so erwartet auch der 2. Petrusbrief »einen neuen Himmel und eine neue Erde …, in denen Gerechtigkeit wohnt« (2Petr 3,13).

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3. Das Aufscheinen der Herrlichkeit Gottes im Wirken Jesu »Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit«, so beschreibt die Gemeinschaft der Jünger und Jüngerinnen Jesu, die hinter dem Johannesevangelium steht, ihre Erfahrung in der Begegnung mit Jesus (Joh 1,14). Entsprechend heißt es nach dem ersten »Zeichen« Jesu: »Er offenbarte seine Herrlichkeit« (2,11). Ist damit zunächst von der Herrlichkeit Jesu die Rede, so wird im Verlauf des Evangeliums deutlich, dass sich durch Jesu Handeln Gottes Herrlichkeit offenbart. So sagt Jesus in 11,40 vor der Auferweckung des Lazarus zu Martha: »Habe ich dir nicht gesagt: Wenn du glaubst, wirst du die Herrlichkeit Gottes sehen?« Im Handeln Jesu und seinem Sieg über den Tod wird Gottes Herrlichkeit sichtbar. Das führt zu der paradoxen Aussage, dass der Vater wie der Sohn gerade durch Jesu Tod verherrlicht werden wird (Joh 13,31f; vgl. 12,16.23). Auch dieses Motiv kommt aus dem Alten Testament, und zwar aus dem Bereich des Kults. Der hebräische Begriff, den wir im Deutschen mit Herrlichkeit übersetzen (hebr. kabod), beschreibt Gottes gnädige Zuwendung zu seinem Volk (Ex 16,7) und seine Gegenwart im Heiligtum Israels (Ex 24,16f; 40,34f; 1Kön 8,11). In Ez 10 findet sich eine ausführliche Beschreibung dieser Erscheinung, aber in 11,22–25 auch die Vision, wie Gottes Herrlichkeit den verunreinigten Tempel verlässt. Sie wird erst in das neue, von Gott geschenkte Heiligtum zurückkehren (Ez 43,4f). Das Motiv der Herrlichkeit Gottes vereint also zwei widersprüchliche Elemente: Es beschreibt Gott als den Heiligen und ganz Anderen, der aber gerade so seinem Volk nahe ist und ihm heilvoll begegnet. Es gibt deshalb einerseits Berichte davon, dass Menschen Gottes Herrlichkeit »sehen« durften (Ex 16,7.10; Num 14,22; Dtn 5,24; Ps 63,3), aber andererseits auch die tiefsinnige Erzählung in Ex 33,18–23, in der Mose der Wunsch verweigert wird, Gottes Herrlichkeit zu sehen, und er der Herrlichkeit, die an ihm vorübergeht, nur hinterher sehen kann. Gottes Gegenwart, sein göttliches Wesen, das den Menschen zugewandt und doch ganz anders ist und deshalb durch kein Götterbild veranschaulicht werden kann, offenbart sich in Jesus Christus. Das ist die Botschaft, die das Johannesevangelium weitergeben will. Interessanterweise findet sich dieses Motiv auch bei Paulus. Im Zusammenhang mit einer Diskussion über die »Herrlichkeit«, die Mose nach seiner Begegnung mit Gott ausstrahlte und die die Israeliten nicht ertragen konnten (Ex 34,33–35), beansprucht Paulus für seine Verkündigung: »Wir alle aber spiegeln mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn wider« (2Kor 3,18). In der Botschaft von Jesus Christus begegnen Menschen Gott in seinem wahren göttlichen Wesen

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und sie »sehen« ihn »im hellen Licht des Evangeliums von der Herrlichkeit Jesu Christi, der das Ebenbild Gottes ist« (2Kor 4,4). Wer aber der »Herrlichkeit Jesu Christi« begegnet, der begegnet der Herrlichkeit Gottes. Wo die Botschaft des Evangeliums gehört wird, da werden Menschen erleuchtet »zur Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes in dem Angesicht Jesu Christi« (4,6). Das ist die paulinische Variante des johanneischen »Wer mich sieht, sieht den Vater« (Joh 14,9). Die unterschiedlichen Weisen, wie im Neuen Testament von Gottes Gegenwart im Wirken Jesu und der Verkündigung des Evangeliums gesprochen wird, sind ein sehr schönes Beispiel für Einheit in der Vielfalt. Es werden verschiedene Motive verwendet, die ihre argumentative Kraft aus unterschiedlichen Lebensbereichen schöpfen. Und es werden unterschiedliche Aspekte dessen, was in Christus geschieht, hervorgehoben. Aber alle leitet dieselbe Aussageabsicht: Im Christusereignis und in der Botschaft von ihm wird Gottes heilvolle und rettende Gegenwart erfahren. In allen drei Bereichen aber gibt es ein gemeinsames Thema: die Erfahrung, dass Gott uns Menschen im Wirken Jesu Christi als liebender Vater begegnet. Darum gehört die Aufforderung: Sorgt euch nicht, sondern vertraut euch in allem Gott an, ebenso zu den durchlaufenden Themen des Neuen Testaments wie die Ermutigung zum vertrauensvollen Gebet (zur Sorge vgl. Mt 6,25–34//Lk 12,22–26; Phil 4,6; 1Petr 5,7; zum Gebet Mt 7,7–11//Lk 11,9–13; Mt 17,20//Mk 11,23f; Joh 14,13; 15,7; 16,23–26; Eph 6,18; 1Thess 5,17; 1Tim 2,8; Jak 5,13–18). Die Möglichkeit, durch Jesus Christus Gott in seinem wahren Wesen zu begegnen, wird im Neuen Testament in der Regel exklusiv gesehen. Nur durch ihn findet man zu Gott. Bei Johannes wird das am klarsten als Selbstaussage Jesu formuliert: »Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Niemand kommt zum Vater denn durch mich« (Joh 14,6). Nur wer Gottes Wesen und Wirklichkeit in der Begegnung mit Jesus erkennt, kann zu Gott kommen! Allerdings gibt es auch Hinweise darauf, dass es Spuren rechter Gotteserkenntnis unabhängig von der Begegnung mit Jesus gibt. Jesus selbst sagt zu einem jüdischen Schriftgelehrten in Mk 12,34: »Du bist nicht fern vom Reich Gottes«. Im Doppelgebot der Liebe hat er den Willen Gottes erkannt. Und in der Areopagrede versichert Paulus seinen heidnischen Zuhörern und Zuhörerinnen: Gott »ist nicht ferne von einem jeden von uns. Denn in ihm leben und weben und sind wir«. Der letzte Satz ist bemerkenswerterweise ein Zitat aus dem Zeushymnus des griechischen Dichters Arat (Apg 17,27f)! Hier wird auch nichtjüdischem Denken und Fühlen eine Ahnung von Gott und seinem Wesen zuerkannt. Aber Maßstab dafür, wie treffend solche Gotteserkenntnis ist, bleibt Gottes Offenbarung in Jesus Christus.

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II. Jesus Christus – Sohn des lebendigen Gottes Jesus wirkte als Zeuge und Verkündiger des wahren Gottes. Was bedeutet das für ihn selbst? Wer war, wer ist Jesus von Nazareth? Diese Frage wird oft identifiziert mit der historischen Fragestellung: Für wen hat sich Jesus selbst gehalten? Und was wurde dann aus ihm gemacht? Um es so plakativ zu sagen, wie es in einem kritischen Leserbrief einer Tageszeitung formuliert wurde: Wurde der Künder wahrer Menschlichkeit zum Gott hochgejubelt? Interessanterweise berichten die Evangelien, dass Jesus selbst seinen Jüngern diese Frage gestellt hat. Ganz im Norden des jüdischen Gebiets, bei Cäsarea Philippi, fragt er sie: »Wer, sagen die Leute, dass ich sei?« Und sie können sehr positive Antworten vermelden: der wiedererstandene Täufer, Elia oder einer der Propheten. Aber Jesus genügt das positive Ergebnis seiner kleinen Meinungsumfrage nicht. Er fragt weiter: »Wer, sagt ihr, dass ich sei?« Und Petrus antwortet: »Du bist der Christus, der Messias!«. Doch nach der ältesten Fassung dieser Erzählung in Mk 8,27–30 reagiert Jesus darauf abwehrend: »Und er bedrohte sie, dass sie niemandem von ihm sagen sollten«. Das heißt offensichtlich, dass Jesus die Antwort für richtig, aber zu diesem Zeitpunkt für missverständlich hält. Und nicht von ungefähr folgt gleich darauf die erste Leidensankündigung Jesu, der Petrus mit dem völligen Unverständnis begegnet (Mk 8,31f). Matthäus setzt in seinem Bericht einen ganz anderen Akzent. Die Antwort des Petrus fällt sehr viel ausführlicher aus: »Du bist der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes!« sagt er, und die Reaktion Jesu ist überwältigend positiv: »Selig bist du, Simon, Jonas Sohn; denn Fleisch und Blut haben dir das nicht offenbart, sondern mein Vater im Himmel. Und ich sage dir auch: Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich meine Gemeinde bauen, und die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen« (Mt 16,16–18). Es kann kein Zweifel sein: Hier leuchtet schon das Bekenntnis der nachösterlichen Gemeinde und seine grundlegende Bedeutung für den Glauben der Kirche auf. In welchem Verhältnis stehen beide Fassungen zueinander? Schon bei der Frage nach dem Selbstverständnis Jesu haben wir gesehen: Jesus war während seines irdischen Wirkens sehr zurückhaltend bei der Verwendung bestimmter messianischer Titel (s. o. S. 55 f.). Aber das bedeutete nicht, dass er seinem Wirken keine einzigartige Bedeutung zugeschrieben hätte. Kurz gesagt: Jesus hat sich für die entscheidende Stimme Gottes in letzter Zeit gehalten, für »den Finger Gottes«, mit dem Gott schon jetzt heilvoll diese Welt berührt (Lk 11,20; vgl. Mt 12,28). Dieser einzigartige Vollmachtsanspruch wird nach Tod und Auferwe-

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ckung Jesu von der Gemeinde durch ihr Christusbekenntnis aufgenommen und verkündet. Auf die Frage: Wer ist Jesus von Nazareth? geben die neutestamentlichen Autoren eine dreifache Antwort: 1) Es ist die Antwort durch die Berichte von seinem irdischen Wirken. Die Erzählungen von seinem Lehren und Heilen, seiner Nähe zu den Menschen und der Kraft seiner Verkündigung sprechen eine eigene Sprache. 2) Es ist die Antwort der Erzählung von seinem Leiden und seiner Auferweckung und der Deutung dieses Geschehens in der Verkündigung der Apostel und den Briefen des Neuen Testaments. 3) Und es ist die Antwort der christologischen Titel, der »Ehrennamen« Jesu, die – verwurzelt in der Hoffnungsgeschichte Israels, aber neu geprägt durch das Wirken Jesu – etwas von der außerordentlichen Gegenwart Gottes in einem Menschen und seinem Handeln aussagen. In der systematischen Theologie spricht man in diesem Zusammenhang nicht selten vom Nebeneinander einer »hohen« und einer »niedrigen« Christologie, wobei der zweite Ausdruck kaum gebraucht wird. »Hohe Christologie« nennt man Aussagen über Jesus Christus, die ihm vor allem hoheitliche oder göttliche Prädikate beilegen: Er steht ganz auf der Seite Gottes, war schon immer bei Gott, hat bei der Erschaffung der Welt mitgewirkt und wird im Auftrag Gottes die Welt richten. Das Gegenmodell beschreibt die Bedeutung Jesu vor allem mit menschlichen Kategorien: Er war Prophet, Wanderrabbi oder Wunderheiler und hat sich um die Armen, Kranken und an den Rand Gedrängten der Gesellschaft gekümmert. Doch diese Alternative ist für das Zeugnis des Neuen Testaments unangemessen. Natürlich beschreiben die Evangelien Jesus auch als Mensch unter Menschen. Die Jünger reden ihn mit Rabbi an, sprechen von ihm als einem »Propheten, mächtig in Taten und Worten« (Lk 24,19), und der Hebräerbrief betont, dass Jesus »versucht war in allem wie wir« und deshalb ein Hohepriester ist, der mit uns und unserer Schwachheit mitleiden kann (Hebr 4,15). Aber keine Schrift im Neuen Testament beschränkt sich auf diese Aussagen. Überall wird in der einen oder anderen Form auch Jesu enge Zugehörigkeit zu Gott benannt. Exemplarisch kann das an der Bezeichnung Menschensohn deutlich gemacht werden, die bekanntlich mit einer Ausnahme nur in den Evangelien und im Munde Jesu vorkommt. Sie kann Jesus als Mensch unter Menschen charakterisieren, so besonders eindrücklich in dem Wort Jesu: »Die Füchse haben Gruben und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber der Menschensohn [manche übersetzen hier: ein Mensch wie ich] hat nichts, wo er sein Haupt hin-

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lege« (Mt 8,20). Die Unbehaustheit des Menschen zeigt sich beispielhaft am Geschick Jesu. Auch die Worte vom leidenden Menschensohn zeigen Jesus als den, der das menschliche Geschick durchleidet. Aber zu den Menschensohnworten gehört auch eine Gruppe von Aussagen Jesu, in denen er in Anlehnung an Dan 7,13 als Repräsentant Gottes bezeichnet wird, der in seinem Auftrag wiederkommen und das Gericht vollziehen wird (z. B. Mk 13,26//Mt 24,30//Lk 21,27). Wir finden diese doppelte Sicht mit unterschiedlicher Gewichtung in allen drei Formen, in denen das Neue Testament die Frage: Wer ist Jesus von Nazareth? beantwortet: Wie von Jesus erzählt wird Jesus ist Mensch unter Menschen, er lässt sich von Johannes taufen, er zieht mit Jüngern und Jüngerinnen durch Galiläa und ist auf die Unterstützung von Sympathisantinnen angewiesen. Aber er vollbringt Taten, die immer wieder neu zu der erstaunten Frage führen: Wer ist der? – ohne dass eine endgültige Antwort darauf gefunden wird. Jesus findet begeisterte Zustimmung, aber sein Wirken trifft auch auf heftigen Widerstand, dem er immer wieder ausweichen muss. Im Grunde aber wollen alle Evangelien bezeugen, was Matthäus programmatisch an den Anfang seiner Erzählung stellt. In Jesus von Nazareth begegnen wir dem Immanuel, »Gott mit uns« (Jes 7,14; Mt 1,23). In der Sprache des Johannesevangeliums heißt das dann im Blick auf das Wirken Jesu: »Wir sahen seine Herrlichkeit« (Joh 1,14; 2,11). Wie Jesu Tod gedeutet wird Jesu Sterben wird sehr realistisch als menschliches Leiden und Erleiden menschlicher Gottverlassenheit dargestellt. Das zeigt sein Beten in Gethsemane (Mk 14,32–42//Mt 26,36–46//Lk 22,39–46) und sein letzter Schrei am Kreuz (Mk 15,37//Mt 27,50). Auch der Hebräerbrief betont diese Seite seines Wegs in den Tod (Hebr 2,17; 4,15; 5,7f). Und nach Mk 15,39 erfolgt das erste Bekenntnis eines Menschen zu ihm als Gottes Sohn durch den römischen Centurio unterm Kreuz angesichts der Erschütterung seines Todes. Daneben aber steht die erzählende Interpretation seines Sterbens als Erhöhung und Verherrlichung bei Johannes. Auch die Deutungen des Todes Jesu weisen diesen doppelten Akzent auf: Es ist Leiden des Gerechten (vgl. Lk 13,33; 23,32–46), aber vor allem stellvertretendes Leiden für die Menschheit, von Gott geleistetes Sühnopfer und äußerster Ausdruck der Liebe Gottes (vgl. Mk 10,45//Mt 20,28; Mk 14,22–24//Mt 26,26–28//Lk 22,19f; Joh 1,29; 3,16; Röm 3,25; 8,32f;

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2Kor 5,21; Gal 2,20; 3,13; Eph 5,1f; Hebr 9,14; 1Petr 1,18f; 2,21–25: 1Joh 4,9f; Offb 1,5; 5,9f). Doch die heute nicht selten gemachte Aussage: »In Jesu Tod stirbt Gott am Kreuz« findet sich nicht im Neuen Testament. Gott bleibt das Gegenüber auch des sterbenden Jesus (vgl. Mk 15,34//Mt 27,46: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?«). Allerdings kommt das Motiv. dass Gott seinen Sohn in den Tod gegeben hat, dieser Aussage sehr nahe, denn für antikes Denken sind Vater und Sohn nicht einfach zwei verschiedene Personen, sondern bilden eine enge Schicksalsgemeinschaft (vgl. Röm 8,31f). Wie Jesus genannt wird Bei den verschiedenen christologischen Hoheitstiteln überwiegt naturgemäß eine Sichtweise, die man eher der »hohen Christologie« zuweisen würde. Aber auch hier werden beide Aspekte benannt. Jesus wird auch von seinen Jüngern respektvoll als Rabbi angesprochen (Mt 26,25; Mk  9,5; 11,21; Joh 1,38; 4,31; 6,25; 20,16); er selbst kann sich als Prophet bezeichnen und wird so von vielen angesehen (Lk 13,33; Mk 8,28// Mt 16,14//Lk 9,19; Lk 7,16; 24,19: Joh 4,19; 6,14). Bei Johannes wird er unwidersprochen Josefs Sohn genannt (1,45). Über den Titel Menschensohn haben wir schon gesprochen: Er kann das Menschsein Jesu betonen und wird gelegentlich als Niedrigkeitsaussage verwendet. Aber er ist nicht darauf beschränkt, wie das manchmal im Gegensatz zum Titel Gottessohn vermutet wird, sondern signalisiert in den Worten vom erhöhten und wiederkommenden Menschensohn auch eine klare Hohheitsaussage. Der Titel Christus/Messias wird selten mit klassischen Attributen der Messiaserwartung verbunden, die ihn als Friedenskönig der Endzeit ausweisen würden. Im Vordergrund stehen vor allem bei Paulus, aber nicht nur bei ihm, Aussagen zu Leiden und Auferweckung des Christus, und dies obwohl das Judentum keine Aussagen über einen leidenden Messias kennt. Das Bild des Friedenskönigs erscheint am ehesten in der Erzählung vom Einzug in Jerusalem (Mk 11,1–11). Aber gerade hier ist es mit Attributen der Niedrigkeit verbunden, die auf die bevorstehende Passion hinweisen. Von einer Herrschaft oder einem Reich Christi ist ganz knapp in 1Kor 15,24; Kol 1,13 und in dem rätselhaften Text vom 1000jährigen Reich in Offb 20,4f die Rede. Dagegen fehlt der Titel Christus in dem großen Schlachtengemälde in Offb 19! Mit dem Titel Gottes Sohn wird die enge Verbindung Jesu mit Gott zur Sprache gebracht. Dabei gibt es unterschiedliche Vorstellungsweisen: Röm 1,3f spricht von der Einsetzung Jesu als Sohn Gottes »in Macht«

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bei seiner Auferweckung; dagegen sind die Taufberichte als Bestätigung seiner Gottessohnschaft gestaltet (Mk 1,9–11//Mt 3,13–17//Lk 3,21f). Einen besonderen Akzent setzen die Vorgeschichten bei Matthäus und Lukas, die in unterschiedlicher Weise von einer Zeugung Jesu durch Gottes Geist reden (Mt 1,18; Lk 1,35). Aber damit wird nicht wie bei entsprechenden Erzählungen von antiken Heroen und Herrschern ein naiv biologisches Verständnis vorausgesetzt, in dem Jesus als eine Art Halbgott mit menschlicher und göttlicher Erbmasse gesehen würde. Sinn dieser Darstellung ist festzuhalten: Jesus ist von Anfang an ganz von Gott bestimmt. Und so läuft bei den Stammbäumen in Mt 1,2–17 und Lk 3,23–38 die Abstammungslinie immer auf Josef zu. Auch Johannes lässt das Paradox stehen: Jesus wird fast im gleichen Atemzug Josefs Sohn und Gottes Sohn genannt (1,45.49). Bei Paulus, Johannes und im Hebräerbrief ist Jesus der präexistente Sohn Gottes. Jesus hat schon immer zu Gott gehört. In ihm hat Gottes der Welt und den Menschen zugewandte Seite menschliche Gestalt angenommen (vgl. Phil 2,6–11; Joh 1,1–18). Hier haben Traditionen aus dem hellenistischen Judentum Formulierungshilfe geleistet. So sieht auch Philo im Logos den erstgeborenen Sohn Gottes – von einer Menschwerdung des Logos weiß er aber nichts. Der Hebräerbrief geht dann noch einen Sonderweg, indem er Jesus die Funktion eines himmlischen Hohepriesters zuschreibt. Auch der Titel Herr weist eine Vielzahl von Aspekten auf: (1) Vor allem bei Lukas erscheint er als ehrfürchtige Anrede des irdischen Jesus (Lk 5,8; 7,6 u. ö.), parallel dazu steht bei Johannes Rabbi. (2) Er ist politischer und religiöser Herrschertitel; das bedeutet: Mit der Akklamation: Jesus ist Herr! unterstellen sich die Christen rechtsgültig der Herrschaft Jesu (Röm 10,9; Phil 2,11; kritisch: Mt 7,21–23). (3) Aufgrund der Übersetzung des Gottesnamens mit Herr im griechischen Alten Testament werden viele alttestamentliche Zitate auf Jesus bezogen. Dennoch wird er nicht mit Gott gleichgesetzt. Eine ähnliche Doppelbedeutung hat bei Lukas, Johannes und in den Pastoralbriefen auch der Titel Retter, Heiland (griech.: so-te-r), der ebenfalls für Gott und Jesus verwendet wird. Höhepunkt des Bekenntnisses zu Jesus ist der Ausruf des Thomas in Joh 20,28: »Mein Herr und mein Gott« (so wollte auch Kaiser Domitian angesprochen werden!). Es gibt darüber hinaus zwei Motive, durch die sehr häufig die besondere Verbindung Jesu mit Gott ausgedrückt wird: (1) Seine Erhöhung zur Rechten Gottes, ein Motiv, das ursprünglich mit der Auferstehung verbunden war und erst bei Lukas in der Erzählung von Jesu Himmelfahrt als ein gesondertes Ereignis veranschaulicht wird. Psalm 110,1, der von der Inthronisation des Messiaskönigs spricht, ist

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interessanterweise die meist zitierte Stelle aus dem Alten Testament (vgl. Mk 12,36//Mt 22,44//Lk 20,42f; Apg 2,34f; 1Kor 15,25; Hebr 1,3.13). (2) Noch einflussreicher dürfte die Vorstellung von Jesu Präexistenz und Inkarnation gewesen sein (z. B. Joh 1,1–18; 8,58; 1Kor 8,5f; Gal 4,4f; Phil 2,6–9; Kol 1,15–20; Hebr 7,28). Sie wird nie ausgemalt, als säße Jesus vor seiner Menschwerdung auf einem himmlischen Thron neben dem Vater. Aber der Grundgedanke ist klar: Die Seite Gottes, die sich in Jesus den Menschen gezeigt hat, gehörte von Anfang an zu seinem Wesen. Beide Vorstellungen, Erhöhung Jesu und die Überzeugung von seiner Präexistenz, sind interessanterweise keine späten Entwicklungen, die irgendwann zu seiner Ehre erfunden wurden, sondern prägen das Bild von ihm schon sehr früh. Die Erfahrung der Begegnung mit dem Auferstanden und der Eindruck seines Lebens und Sterbens drängen offensichtlich zur Gewissheit, dass man es bei diesem Jesus mit Gott selbst zu tun hat. Diese Überzeugung wird besonders durch zwei Titel für Jesus unterstrichen, die nicht sehr häufig erscheinen, aber wirkungsgeschichtlich sehr bedeutsam sind: (1) Jesus als Wort Gottes (Joh 1,1–18; Offb 19,13). Die Bedeutung dieser Bezeichnung kann am besten durch ein Wortspiel deutlich gemacht werden. Gott ent-äußert sich in Jesus Christus. Das schöpferische und das erlösende Wort Gottes wird in Jesus von Nazareth Mensch, unterwirft sich den Bedingungen einer menschlichen Existenz und spricht so auf ganz neue Weise zu den Menschen. Dabei steckt im griechischen Text nicht nur ein Hinweis auf das gesprochene Wort Gottes, sondern auf den Logos Gottes, den Sinn und den Plan Gottes, der Mensch unter Menschen wurde und so menschlich verstehbar wird. (2) Jesus als Bild Gottes. Eigentlich ist es die Bestimmung der Menschen, als Frau und als Mann Gottes Ebenbild und das heißt: Gottes Platzhalter in dieser Welt zu sein. Das aber wurde zur Aufgabe Jesu Christi. In ihm offenbart sich Gott den Menschen; er ist die eiko-n, die wahre Ikone Gottes, sein vollgültiger Repräsentant (2Kor 4,4; Kol 1,15; Heb 1,3). Und so wird Jesus auch zum Bild des wahren Menschen, und nach seinem Bild gestaltet sich die neue Existenz, die Gott den Menschen durch ihn schenkt (2Kor 3,18; Röm 8,29; Kol 3,10). In Jesus begegnet zugleich der wahre Gott und der wahre Mensch. Das ist die Summe des Christuszeugnisses des Neuen Testaments! III. Jesus Christus – Träger und Spender des Geistes Gottes »Gott ist Geist, und die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten«, sagt Jesus nach Joh 4,24 zu der Frau am Jakobs-

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brunnen, die mit ihm über die Frage diskutiert, ob man Gott auf dem Garizim oder in Jerusalem anbeten muss. Aber es ist keineswegs so, dass damit gegenüber der alttestamentlich-jüdischen Tradition etwas völlig Neues gesagt werden würde. Das Wirken des Geistes Gottes ist ein wichtiges Thema im ganzen Alten Testament, beginnend mit der rätselhaften Aussage in Gen 1,2, dass der Geist Gottes über dem Wasser der Urtiefe schwebte, bis zur prophetischen Verheißung in Sach 12,10, dass Gott über Jerusalem »den Geist der Gnade und des Gebets« ausgießen werde. Schon bei den Propheten findet sich auch die für das Neue Testament so charakteristische Gegenüberstellung von Fleisch für die angemaßte und doch so vergängliche Stärke der Menschen und Geist für Gottes überlegene Macht. In Jes 31,3 warnt der Prophet davor, die Hoffnung auf ein Bündnis mit Ägypten zu setzen: »Denn Ägypten ist Mensch und nicht Gott, und seine Rosse sind Fleisch und nicht Geist« (ähnlich in Sach 4,6: »Es soll nicht durch Heer oder Kraft, sondern durch meinen Geist geschehen, spricht der HERR Zebaoth«). Es ist eine der Grundüberzeugungen des Urchristentums, dass Jesus ganz von Gottes Geist bestimmt und erfüllt war. Nach dem Bericht des Lukas in Lk 4,16–21 liest Jesus bei seiner ersten Predigt in Nazareth Worte aus Jes 61,1f: »Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat und gesandt, zu verkündigen das Evangelium den Armen, zu predigen den Gefangenen, dass sie frei sein sollen, und den Blinden, dass sie sehen sollen, und die Zerschlagenen zu entlassen in die Freiheit und zu verkündigen das Gnadenjahr des Herrn«. Und er beginnt seine Auslegung mit den Worten: »Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren«. Es spricht sehr viel dafür, dass damit das Selbstbewusstsein Jesu treffend wiedergegeben ist (vgl. Mt 11,5f//Lk 7,22f); in jedem Fall war dies die Überzeugung der nachösterlichen Gemeinde. So beschreiben die drei ersten Evangelien sehr anschaulich, wie bei der Taufe der Geist Gottes auf Jesus herabkommt und er damit für seinen Auftrag gerüstet wird. Lukas erzählt darüber hinaus, wie schon das Entstehen des Kindes im Leib seiner Mutter Werk des Heiligen Geistes ist. Bei der Ankündigung seiner Geburt sagt der Engel zu Maria: »Der Heilige Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten; darum wird auch das Heilige, das geboren wird, Gottes Sohn genannt werden« (Lk 1,35; vgl. Mt 1,18: Maria ist »schwanger vom Heiligen Geist«). Vom Beginn seines Lebens an ist Jesus ganz vom Geist bestimmt. Als Träger der Gegenwart Gottes ist er Gottes Sohn, was bei der Taufe ausdrücklich bestätigt wird. So wird Jesus auch in allem, was er tut, vom Geist geleitet: Der Geist führt ihn in die Wüste, in die Bewährungsprobe der Versuchung (Mt 4,1//

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Lk 4,1). Aber er beginnt sein Wirken dann auch »in der Kraft des Geistes« (Lk 4,14). In dieser Kraft predigt und lehrt er, heilt Menschen und treibt Dämonen aus. Matthäus betont das besonders; bei ihm antwortet Jesus auf den Vorwurf, er treibe die bösen Geister durch ihren Anführer aus, mit den Worten: »Wenn ich aber die Dämonen durch den Geist Gottes austreibe, so ist ja das Reich Gottes zu euch gekommen« (Mt 12,28). Er ersetzt den wohl ursprünglichen Wortlaut »durch den Finger Gottes« (Lk 11,20) durch die Sacherklärung »durch den Geist Gottes«. Es ist Gottes befreiende Gegenwart, die in Jesus Christus wirkt! Die Evangelien berichten alle, dass Johannes der Täufer den, der nach ihm kommen würde, mit den Worten angekündigt hat: »Ich taufe euch mit Wasser, aber er wird euch mit Heiligem Geist taufen« (Mk 1,8; vgl. Joh 1,33). In der Fassung der Logienquelle heißt es sogar: »mit Heiligem Geist und Feuer« (Mt 3,11//Lk 3,16). Das lässt vermuten, dass der Täufer ursprünglich an ein Kommen zum Gericht dachte. In der christlichen Gemeinde aber wurde das Wort als Hinweis auf die »Geisttaufe« an Pfingsten verstanden. Der, durch den Gottes Geist in einzigartiger Weise unter den Menschen gewirkt hat, schenkt seinen Geist den Seinen, dass auch sie in der Kraft des Geistes leben und handeln können. Was der Geist für die Gemeinde und die Christen bedeutet, wird im Neuen Testament in drei verschiedenen Traditionslinien entfaltet: Gottes Geist als Kraft und Orientierung für die Mission – Geist in der Apostelgeschichte Für die Apostelgeschichte ist die Gabe des Geistes so etwas wie der Herzschlag des Lebens jedes Christen und der Kirche. Das Wirken des Geistes hat dabei drei Funktionen: a) Es stellt die Grundausrüstung für das Leben jedes Christen dar. Mit dem Heiligen Geist getauft zu werden ist die erste Verheißung des Auferstandenen an seine Jünger (1,5). Sie erfüllt sich an Pfingsten (2,4), und die Gabe des Geistes wird als Kraft zu neuem Leben allen zugesprochen, die umkehren und sich taufen lassen (2,38). Der Geist kann auch ganz unerwartet und ohne Vorbedingungen auf Menschen herabkommen und damit den Durchbruch zur Verkündigung an die Heiden markieren (10,44f; 11,15; 15,8). Er kann aber auch »ordnungsgemäß« durch die Handauflegung der Apostel vermittelt werden (8,17; 19,6). b) Der Geist schenkt die Kraft zur missionarischen Verkündigung. Auch dies ist eine grundlegende Verheißung des Auferstandenen (1,8: »Ihr werdet die Kraft des Heiligen Geistes empfangen und werdet meine Zeugen sein«). Sie erfüllt sich an Pfingsten (2,4) und bewährt sich immer wieder neu (4,8.31; 6,3.5; 7,55 u. ö.)

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c) Vor allem aber leitet der Heilige Geist die Kirche und ihre Beauftrag­ ten, gibt Weisung zu neuen Aufgaben, setzt Beauftragte ein oder hindert auch einmal daran, eigene Pläne durchzuführen (10,45; 11,15; 13,2.4; 16,6; 20,28; 21,11). Dabei kann das Wirken des Geistes auch das Ergebnis intensiver Beratung sein (15,26 EÜ: »der Heilige Geist und wir haben beschlossen«). Gottes Geist als Kraft zu neuem Leben – Geist bei Paulus Auch bei Paulus konnten wir drei Dimensionen des Wirkens des Geistes beobachten (s. o. S. 169–171), die allerdings etwas andere Schwerpunkte aufzeigen. a) Gottes Geist schenkt die Gewissheit, ganz zu Gott zu gehören und sein Sohn oder seine Tochter zu sein (Röm 8,14–16; Gal 4,4–7; vgl. 3.2–5). b) Gottes Geist rüstet die Glaubenden und die Gemeinden mit den Gaben und Befähigungen aus, die zu einem hilfreichen Miteinander in der Gemeinde nötig sind. Er motiviert dazu, Begabungen und Aufgaben organisch zusammenwirken zu lassen, dass sie dem Aufbau des Ganzen dienen (1Kor 12–14) c) Gottes Geist ist die Kraft, die dazu befähigt, die egoistische Natur des Menschen (»das Fleisch«) zu überwinden und ein Leben in der Liebe zu führen (Gal 5,16–18; Röm 8,5–11). Gottes Geist als neue Gegenwart Christi – Paraklet bei Johannes Die Geistverheißung im Johannesevangelium gewinnt in der Gestalt des Parakleten, des Fürsprechers, ein ganz besonderes Profil. Auch hier sind es drei Grundfunktionen, die der Geist wahrnimmt (s. o. S. 112). a) Der Geist vergegenwärtigt und aktualisiert die Verkündigung von Jesu Wirken und seiner Botschaft und befähigt dazu, immer wieder neu in die Zeit zu sprechen (15,26). b) Zugleich wird der Geist dafür Sorge tragen, dass das, was verkündigt wird, Jesu Botschaft bleibt und sich Verkündigung und Leben der Gemeinde immer an ihm orientieren (16,14). c) Und nicht zuletzt wird er der Gemeinde bei der Auseinandersetzung mit dieser Welt beistehen und ihr helfen in Gericht und Gnade den Menschen deutlich zu machen, wie es um sie steht und was zu ihrem Heil dient (16,8–11). Es sind neun unterschiedliche Aspekte für das Wirken des Geistes, die in der Botschaft des Neuen Testaments entfaltet werden. Aber sie widersprechen einander nicht, sondern ergeben ein lebendiges und reiches

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Gesamtbild vom Wirken des Geistes als Träger der neuen Beziehung zu Gott, als Kraft zur Liebe und als Lebenselement einer neuen Gemeinschaft. Exkurs: Spuren der Trinitätslehre im Neuen Testament

Das Neue Testament kennt noch keine Trinitätslehre. Das ist für manche Grund genug, diese für Juden und Muslime anstößige und auch für viele Christen schwer verständliche Lehre als unbiblisch zu verwerfen. Aber das ist ein vorschnelles Urteil. Es gibt im Neuen Testament einige Stelle, an denen Vater, Sohn und Heiliger Geist in einer trinitarischen Formel gemeinsam genannt werden. Vor allem aber wird im Neuen Testament die Gegenwart und das Wirken Gottes in Jesus Christus und durch den Heiligen Geist in einer Weise beschrieben, die nach einer systematischen Darstellung ihres Verhältnisses ruft. Schon bei Paulus gibt es zwei Stellen, an denen er in bemerkenswerterweise das Wirken des Vaters, des Sohnes und des Geistes parallel darstellt. Die erste findet sich in 1Kor 12,4–6, wo Paulus deutlich macht, dass die verschiedenen Gaben und Aufgaben in der Gemeinde alle von Gott kommen: »Es sind verschiedene Gaben; aber es ist ein Geist. Und es sind verschiedene Ämter; aber es ist ein Herr. Und es sind verschiedene Kräfte; aber es ist ein Gott, der da wirkt alles in allen.« Da es in Korinth um die Geistesgaben geht, steht der Geist am Anfang und Gott wirkungsvoll am Schluss. Das zeigt auch, dass es sich um keine trinitarische Aussage im engeren Sinn handelt. Denn der Geist und Jesus, der Herr, stehen noch nicht unter dem Oberbegriff Gott, sondern neben ihm. Aber zugleich betont Paulus, dass Gott »alles in allem« wirkt, das heißt: er steht auch hinter dem Wirken des Geistes und des Herrn. Das Gleiche gilt für das Segenswort in 2Kor 13,13: »Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen!« Hier steht »die Gnade unseres Herrn Jesus Christus« voran, weil das die sonst von Paulus am Ende seiner Briefe gebrauchte Segensformel ist (Röm 16,20; 1Kor 16,23; 1Thess 5,28). Aber statt dass Paulus der Gemeinde wie in 1Kor 16,24 versichert, dass seine Liebe mit allen sei, spricht er ihnen hier als Segenswunsch die Gegenwart der Liebe Gottes zu und ergänzt dazu das, was der Geist schenkt, nämlich die Gemeinschaft und Teilhabe am Heil. Auch hier ist Gott nicht Oberbegriff für alle drei Genannten; aber die Art, wie ihr Wirken einander zugeordnet wird, drängt nach einer Antwort auf die Frage, wie die drei »Personen« in einer göttlichen Wirklichkeit verbunden sind. Am stärksten einem trinitarischen Verständnis nähert sich die Taufformel, die sich in Mt 28,19 findet. Als erster Schritt für den Weg, auf dem Menschen in die Jüngerschaft Jesu geführt werden sollen, wird

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genannt: »Taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes«. Es ist erstaunlich, dass schon vor dem Ende des 1. Jahrhunderts diese Formulierung gebraucht wird. Denn sonst erfolgt im Neuen Testament die Taufe »auf den Namen Jesu Christi« (Apg 2,38; 10,48; 19,5; 1Kor 1,13; vgl. Röm 6,3). Offensichtlich war diese Formulierung aber für die Mission unter Nichtjuden nicht mehr eindeutig genug. Jesus Christus musste im Gottesglauben Israels (»Vater«) und im gegenwärtigen Wirken Gottes (»Heiliger Geist«) verortet werden. Besonders zukunftsträchtig aber ist, dass durch die Formulierung »Vater, Sohn und Heiliger Geist« die Bezeichnung Gott frei wird, zum Oberbegriff für alle drei »Personen« zu werden. Dieser Schritt ist im Neuen Testament noch nicht vollzogen. Aber im Grunde drängte alles darauf hin, mit den Worten »im Namen Gottes, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes« zu taufen. Aber die »trinitarischen« Formeln sind nur der eine Anknüpfungspunkt, die das Neue Testament für die spätere Trinitätslehre bietet. Der andere liegt in all den Stellen, in denen das Wirken Jesu und das Wirken des Heiligen Geistes mit der Gegenwart und dem Wirken Gottes identifiziert wird. Hier ist vor allem das Zeugnis des Johannesevangeliums wichtig. Wenn von Jesus gesagt wird: »Wer mich sieht, sieht den Vater« (14,9), dann stellt sich unausweichlich die Frage: In welchem Verhältnis stehen Vater und Sohn zueinander? Auch die Aussage am Beginn des Evangeliums, dass das WORT »bei Gott«, aber auch »Gott (von Art)« war (1,1), rief nach einer solchen Klärung, ebenso wie die Formulierung in Phil 2,6, dass Jesus Christus »in Gestalt Gottes« (LÜ: in göttlicher Gestalt; EÜ: Gott gleich) war. Im Blick auf den Geist drängt die ParakletVerheißung darauf, das Verhältnis der handelnden »Personen« zu klären. Denn wenn Joh 15,26 verspricht, dass Jesus den »Geist der Wahrheit« senden wird, der »vom Vater ausgeht«, ist das der Ansatz zu trinitarischem Denken. Diese Klärung wurde dann im trinitarischen und christologischen Dog­ma der Alten Kirche vollzogen, und zwar unter den Denkvoraussetzungen der Spätantike. An die Stelle der biblischen Aussagen, die über Beziehungen sprechen, treten nun Begriffe, die am Sein orientiert sind, wie »Wesen«, »Person« oder »Natur«. Das war eine notwendige Übersetzungsarbeit. Aber ihre Voraussetzungen entsprechen nicht mehr den unsrigen. Wir denken eher wieder in Kategorien von Beziehung. So gilt es, auf der Grundlage der neutestamentlichen Botschaft neu zu übersetzen, wie uns im Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist die Wirklichkeit Gottes und seine Liebe auf je eigene Weise begegnen.

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IV. Jesus Christus – Gericht und Heil für die Menschen Es geht im Neuen Testament um Gott und um seine Gegenwart unter den Menschen. Das haben die Aussagen über Gottes Handeln im Sohn und durch den Heiligen Geist eindrucksvoll gezeigt. Doch darum geht es auch um die Not der Menschen, um ihre Entfremdung von Gott, ihre Gottesferne, ja ihre bewusste oder unbewusste Feindschaft gegen Gott und ihre Abhängigkeit von anderen »Göttern« und Mächten. Gott, der Schöpfer, hat die Menschen als partnerschaftliches Gegenüber geschaffen. Deshalb nimmt Jesus Christus, der Sohn, die Last der menschlichen Entfremdung von Gott auf sich, um die Menschen zu wahrem Menschsein zu befreien, und Gottes Gegenwart im Geist ermöglicht ein Leben in der versöhnten Gemeinschaft mit Gott. Dass Gott für die Menschen Heil schafft, steht im Zentrum der Botschaft des Neuen Testaments und darum auch im Zentrum unserer Zusammenfassung dieser Botschaft. Der griechische Begriff, den wir mit Heil oder Rettung übersetzen (so-te-ria), kommt im Neuen Testament nicht besonders häufig vor, jedoch in ganz unterschiedlichen Traditionen und oft in programmatischen Aussagen. So wird es die Aufgabe Johannes des Täufers sein, »Erkenntnis des Heils zu geben seinem Volk durch die Vergebung ihrer Sünden« (Lk  1,77 ZB). Und Joh 4,22 stellt fest: »Das Heil kommt von den Juden«, während Pe­trus nach Apg 4,12 bekennt: »In keinem andern [als in Jesus Christus] ist das Heil«. Nach Röm 1,16 ist das Evangelium »Kraft zur Rettung« und Röm 10,9f stellt fest, dass das Bekenntnis zu Jesus als dem Herrn »zur Rettung« dient. Eph 1,13 bezeichnet die Botschaft des Paulus als »das Evangelium von eurer Rettung« und für Hebr 5,9 ist Jesus der »Urheber des ewigen Heils« (vgl. 2,10). Auch für 1Petr 1,5.9 führt der Glaube zum Heil, das am Ziel des Wegs der Christen auf sie wartet. Wie eine Zusammenfassung klingt es, wenn in der Offenbarung im himmlischen Lobpreis festgestellt wird: »Nun ist das Heil … unseres Gottes« (Offb 7,10; 12,10; 19,1). Heil und Rettung kommen allein von Gott und durch das, was er durch Christus, das Lamm, getan hat. Es sind unterschiedliche Aspekte von Rettung und Heil, die in diesen Worten benannt werden. Aber zusammenfassend kann gesagt werden: Dass das Leben der Menschen aus der Verlorenheit einer Existenz ohne Gott gerettet wird und hineingestellt wird in die bleibende Gemeinschaft mit Gott, der Quelle und dem Grund allen Lebens, das versteht das Neue Testament unter Heil. Aber mit dieser Aussage ist zugleich etwas Zweites, Entscheidendes ausgesagt: Dass Menschen Heil und Rettung brauchen, setzt voraus, dass

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sie »verloren« sind und ihr Leben »heil-los« ist. Und dazu hat das Neue Testament viel zu sagen! Schuld und Elend der Menschen Dass die Menschen ohne Gott zugrunde gehen, ist gemeinsame Überzeugung der Schriften des Neuen Testament. Worin die Heillosigkeit der Menschen besteht, das wird aber mit unterschiedlicher Akzentsetzung beschrieben. Zwei Grundprobleme werden genannt: (1) Die Not und das Leiden von Menschen unter Krankheit, Besessenheit und gesellschaftlicher Ächtung als Zeichen für das Verfehlen ihrer eigentlichen Bestimmung als Geschöpf Gottes und (2) Sünde und Tod als Folge ihrer Trennung und Entfremdung von Gott. In den synoptischen Evangelien steht die Problematik der Sünde nicht im Mittelpunkt der Berichte vom rettenden und helfenden Handeln Jesu. Die Aussage, dass Jesus gekommen ist, die Sünder zu rufen (Mk 2,15– 17//Mt 9,9–13//Lk 5,27–32), und mit ihnen Gemeinschaft hat (Lk 7,34– 50; 15,1f), gehört freilich zu den wichtigen Schlüsselaussagen über das Wirken Jesu. Dabei scheint »Sünder« in diesem Zusammenhang nicht nur eine allgemeine theologische Kategorie zu sein, sondern auch soziologisch eine Gruppe von Menschen zu bezeichnen, die sich nicht gemeinschaftskonform verhält. Umso größer die Freude über einen Sünder, der umkehrt (Lk 15,8.10)! Menschen erkennen ihre Sünde an ihrem gemeinschaftsschädigenden Verhalten (Lk 15,18; 18,13), aber auch daran, dass ihr Leben vor Gottes Güte nicht bestehen kann (so Petrus nach dem wunderbaren Fischzug, Lk 5,8). Vergebung der Sünden ist zunächst Thema des Täufers (Mk 1,4//Lk 3,3). Für Matthäus liegt aber gerade darin die Summe des Wirkens Jesu (Mt 1,21: »er wird sein Volk von ihren Sünden retten«). Allerdings spricht Jesu nur zwei Mal jemand Vergebung der Sünden zu: In Mk 2,5//Mt 9,2// Lk 5,20 relativ überraschend einem Gelähmten und in Lk 7,47–49 einer übel beleumundeten Frau, was in beiden Fällen heftigen Widerstand seiner Gegner hervorruft. Aber im Mittelpunkt der Erzählungen der drei ersten Evangelien stehen andere Nöte. Krankheit und Besessenheit sind Symptome der Heillosigkeit der Menschen, Zeichen für ihre Entfremdung von Gott. Vor allem das Phänomen der Besessenheit macht an den Betroffenen deutlich, was letztlich für alle gilt: Die Menschen stehen unter der Herrschaft böser Mächte, die ihr Leben beherrschen und zerstören wollen. Dabei gibt es grundsätzlich keinen Zusammenhang zwischen persönlicher Schuld und Krankheit, auch wenn Stellen wie Mk 2,5 oder Joh 5,14 das anzudeuten scheinen. Aber dagegen spricht das klare Nein Jesu in Lk 13,5 und vor

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allem in Joh 9,2. Auch im Fall von Besessenheit wird nie nach individueller Schuld gefragt. Kranke und Besessenen sind Symptomträger dafür, dass die Menschheit im Argen liegt. Dabei setzen die Evangelien unterschiedliche Schwerpunkte: Markus betont, wie sehr die Menschen der Krankheit und der Gewalt böser Mächte ausgeliefert sind, Matthäus ihre Orientierungslosigkeit und die Überforderung durch eine falsche Auslegung des Gesetzes (Mt 9,36; 11,28– 30), Lukas vor allem das Geschick der Einzelnen, die sich verirrt haben und in Gefahr sind, verloren zu gehen. Ein ganz anderer Schwerpunkt wird dagegen im Johannesevangelium und der Briefliteratur gesetzt. Hier wird vor allem die Sünde als Grund für das Elend der Menschen gesehen, und zwar die Sünde als Macht und als Tat. Im Johannesevangelium wird nicht häufig, aber sehr grundsätzlich von der Sünde gesprochen. Schon am Beginn steht das programmatische Wort des Täufers über Jesus: »Siehe, Gottes Lamm, das die Sünde der Welt wegträgt« (Joh 1,29). Und in Joh 8,34 trifft Jesus eine Feststellung, die das Ineinander von Sünde als Tat und als Macht ganz knapp und präzis benennt: »Wer Sünde tut, der ist Sklave der Sünde«. Die Sünde gewinnt ihre Macht über die Menschen, weil sie getan wird. Zu den Aufgaben des Parakleten wird es gehören, die Welt der Sünde zu überführen, der Sünde, die darin besteht, dass die Menschen nicht an Jesus glauben (16,9f). Durch die Ablehnung dessen, der ihnen Gott und seine Liebe nahebringt, bestätigen sie ihre Entfremdung von Gott. Und nicht zuletzt bildet nach Joh 20,23 die Vollmacht, Sünden zu erlassen und zu behalten, den Inhalt der Sendung der Jünger. Vergebung der Sünden ist auch der Kern der christlichen Botschaft in der Apostelgeschichte und wird immer wieder als das Ziel der Verkündigung der Apostel genannt (2,38; 3,19; 5,31; 10,43; 13,38: 22,16; 26,18). Interessanterweise findet sich in ihren Reden kein ausführlicher Aufweis der Sündhaftigkeit der Menschen. Zwar wird in Apg 7 so etwas wie die Unheilsgeschichte Israels entfaltet und in den Missionsreden vor Juden wird immer die traurige Tatsache erwähnt, dass Juden Jesus ans Kreuz gebracht haben (2,23; 3,14; 10,39; 13,28). Aber es wird nie ausdrücklich als Sünde thematisiert, sondern sogar – wie die Verehrung falscher Götter durch die Heiden  – mit »Unwissenheit« entschuldigt (3,17; vgl. 17,30). Die Heiden dagegen werden aufgerufen, sich »von den nichtigen Göttern« abzuwenden (14,15; 17,29). Deren Verehrung ist ihre Grundsünde. Aber auch das wird nicht besonders vertieft. Die Apostelgeschichte geht also von der Erlösungsbedürftigkeit aller aus, ohne dies im Detail demonstrieren zu wollen. Bei Paulus spielt das Motiv der Vergebung der Sünden kaum eine Rolle (vgl. Röm 3,25; 4,7f [Zitat Ps 32,1f]; anders dann Kol 1,14; Eph 1,7). Wenn

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es aber um die Ursache der Trennung der Menschen von Gott geht, steht die Sünde im Mittelpunkt der Betrachtung. Dabei unterscheidet Paulus zwischen Heiden und Juden. Die Grundsünde der Heiden ist, dass sie von Menschen gemachte Bilder der Verehrung des wahren Gottes vorziehen (Röm 1,18–22). Was darüber hinaus bei ihnen an Fehlverhalten zu nennen ist, ist Konsequenz ihrer falschen Gotteserkenntnis. Gott hat sie an die Folgen ihrer Ich bezogenen Religiosität ausgeliefert, und das führt zur Zerstörung der menschlichen Gemeinschaft (Röm 1,23–31). Die Juden sind nicht in gleicher Weise Sünder wie die Heiden. Sie sind von Geburt an in das richtige Gottesverhältnis gestellt (Gal 2,15). Ihr Problem ist, dass sie das in falscher Weise als Privileg sehen und sich damit vom Befolgen des wahren Willen Gottes dispensieren (Röm 2). Also stehen alle, Juden wie Heiden, unter der Herrschaft der Sünde (Röm 3,9). »Alle haben gesündigt und die Herrlichkeit Gottes [d. h. das, was sie als Ebenbild Gottes ausgezeichnet hat] verloren« (Röm 3,23 EÜ). Unter der Herrschaft der Sünde zu stehen und so dem Tod verfallen zu sein, ist für Paulus menschliches Schicksal, das von Anfang an – biblisch gesprochen: seit Adam – die Menschen bestimmt. Und doch haben Sünde und durch sie der Tod nur deshalb Macht über die Menschen, »weil sie alle gesündigt haben« (Röm 5,12). Das Ineinander des Wirkens der Sünde als Macht und konkreter Übertretung durch den Menschen analysiert Paulus sehr intensiv in Röm 7,7–25. Überwunden wird die Sünde dadurch, dass »Christus für unsere Sünden gestorben ist« (so die traditionelle Ausdrucksweise in 1Kor 15,3) bzw. »für uns zur Sünde gemacht wurde« (2Kor 5,21) und so »die Sünde im Fleisch verurteilt wurde« (Röm 8,3). Aufgrund der Lebenshingabe Jesu hat uns »das Gesetz des Geistes und des Lebens in Christus Jesus« frei gemacht vom »Gesetz der Sünde und des Todes« (Röm 8,2). Ohne dass wir dieses Thema durch die übrigen Schriften des Neuen Tes­ ta­ments weiter verfolgen, lässt sich als gemeinsames Fazit feststellen: Alle gehen von der Voraussetzung aus, dass die Menschen die lebendige Verbindung zu Gott verloren haben. Sie sind »verloren«, das heißt einerseits, dass sie dem negativen Urteil Gottes im Gericht verfallen sind, aber andererseits sehr viel umfassender, dass sie die Bestimmung ihres Lebens verfehlen, sich ohne Orientierung in den Irrwegen einer gottfernen Welt verlieren und dadurch ihr Leben und das anderer gefährden und zerstören. Aus dieser aussichtslosen Situation will Gott sie durch sein Handeln in Jesus Christus retten. Aber wie für das Alte Testament gilt auch für das Neue: Gott handelt an den Menschen durch Gericht und Gnade. Zu seinem Ja zu den Menschen gehört auch sein Nein zu allem, was ihr Leben bedroht und verneint.

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Was zählt im Gericht? Dass sich die Menschen im Gericht vor Gott verantworten müssen und dass ihre Chancen, vor seinem Urteil bestehen zu können, schlecht sind, ist gemeinsame Überzeugung aller, von deren Verkündigung das Neue Testament berichtet. Das gilt auch für Jesus. Bei ihm lag zwar der Akzent seines Wirkens sehr viel stärker auf der Botschaft, dass das Kommen der Herrschaft Gottes für die Menschen Heil bedeutet. Aber er deutet auch an, dass sich Menschen Gottes heilvoller Nähe verschließen können. So macht das Gleichnis vom gütigen Vater und seinen beiden Söhnen klar: Wer die Botschaft der Gnade ablehnt, schließt sich auch von Gottes heilvoller Gemeinschaft aus (Lk 15,25–32). Auch das Gleichnis vom großen Festmahl spricht diese Warnung aus: Man kann die Einladung Gottes auch ausschlagen (Lk 14,15–24). Sicher hat die spätere Überlieferung diesen Akzent noch verstärkt (vgl. Mt 22,1–14), aber er war schon in der Verkündigung Jesu vorhanden. Die Überzeugung, dass sich das Urteil im Gericht an der Stellung zu Jesus entscheidet, hat hier ihre Wurzel. Denn er konfrontierte »die Menschen mit der Entscheidung über Heil und Unheil« (Schröter, Jesus 283; vgl. Lk 9,26). Dem entspricht der Befund im ganzen Neuen Testament. In kaum einer neutestamentlichen Schrift fehlt der Gerichtsgedanke. Paulus hält in Röm 1,18–3,20 fest, dass niemand vor Gottes Richten bestehen kann. Bei Matthäus sind die Gerichtsgleichnisse ein wirkungsvoller Abschluss seines Berichts von der Verkündigung Jesu (Mt 25). In der Apostelgeschichte bildet der Hinweis darauf, dass Christus mit dem Gericht über die ganze Menschheit beauftragt ist, die Schlusspointe der Areopagrede (Apg 17,31), und die Offenbarung bietet neben Mt 25,31–46 die eindrucksvollste Schilderung des Jüngsten Gerichts (Offb 20,11–15). Einen Sonderweg geht das Johannesevangelium; hier fällt das Urteil des Gerichts schon jetzt in der Entscheidung für oder gegen den Glauben an Jesus Christus (3,17–21). Es bedarf keines Gerichtstags, keines Richters und keines Urteilsspruchs; wer sich gegen das Licht entscheidet, stellt sich selbst in die Finsternis. Aber fast alle neutestamentlichen Aussagen über das künftige Gericht durchzieht eine merkwürdige Spannung: Wird das Urteil im Gericht aufgrund des Bekenntnisses zu Christus oder aufgrund der Werke gefällt? In der Jesustradition wird diese Spannung vor allem im Matthäusevangelium spürbar (vgl. Mt 7,15–27; 25,14–46). Selbst im Johannesevangelium, das so eindeutig auf den Glauben setzt, taucht sie auf (3,20f). Bei Paulus scheint die Frage eindeutig gelöst (Gal 2,16; Röm 3,21–31), und doch betont er mehrmals, dass sich gerade die Christen im Gericht

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aufgrund ihrer Werke verantworten müssen (Röm 14,10; 2Kor 5,10). Bei Jakobus scheint sich der Befund eindeutig nach der anderen Seite zu neigen (2,24), aber auch hier ist es nicht einfach das Tun des Menschen, das gerecht macht (s. o. S. 227 f.). Am schärfsten aber wird diese Spannung in der Offenbarung sichtbar. Nach 20,11–15 werden im Gericht sowohl das Buch des Lebens als auch die Bücher der Taten aufgeschlagen. In welchem Verhältnis die beiden zueinander stehen, bleibt offen. Klar scheint freilich, dass die Letztentscheidung davon abhängt, ob ein Name im Buch des Lebens steht. Offensichtlich verrät sich hier eine sachliche Spannung: Das Grundübel menschlicher Existenz liegt darin, dass sich die Menschen Gott entfremdet haben. Das aber zeigt sich auch an einzelnen Taten und konkretem Verhalten, durch die sie sich und anderen schaden. Deshalb kommt alles darauf an, ob sich die Menschen dem Ruf der Gnade öffnen, und dennoch ist es nicht gleichgültig, wie sie ihr Leben gestaltet haben. Das Zuvorkommen Gottes Es kommt also alles auf die Antwort des Menschen auf den Ruf der Gnade an! Und doch ist sie nicht mehr als die Re-Aktion auf die Aktion Gottes, ist Ant-Wort auf sein Wort, das er in Jesus Christus gesprochen hat. Das Wort der Gnade kommt allem zuvor, was Menschen antworten können. Es wird in den verschiedenen Traditionen unterschiedlich formuliert und hat doch immer dieselbe Pointe: Gott kommt in der Person und dem Wirken Jesu Christi den Menschen entgegen. Was wir über die unterschiedlichen Akzente neutestamentlicher Gottesverkündigung gesagt haben (s. o. S. 256–260), wirkt sich auch auf die Art aus, wie Gottes Heilshandeln gesehen wird. Drei Schwerpunkte sind zu nennen: 1. Jesu Botschaft vom Kommen des Reichs und vom gütigen Vater »Heute ist diesem Haus Heil widerfahren«, so kommentiert Jesus nach Lk 19,9, was sein Kommen für das Haus des Zachäus bedeutet. Wo Jesus einkehrt, finden Menschen, die sich durch ihr Verhalten weit von Gott entfernt haben, wieder zurück in die Gemeinschaft mit ihm. Denn wenn Jesus sagt, dass Gottes Herrschaft nahegekommen ist, dann bedeutet das nach dem griechischen Text nicht, dass Gott immer noch nicht ganz da ist. Im Wirken Jesu ist Gott schon so nahe, dass seine rettende und heilschaffende Wirklichkeit das Elend dieser Welt wie mit »dem Finger Gottes« berührt (vgl. Lk 11,20) und verborgen und keimhaft in ihr zu wirken beginnt (vgl. die Saatgleichnisse in Mk 4). Jesus beschreibt die Art, wie Gott den Menschen entgegenkommt, durch eine Reihe von Gleichnissen. Gottes heilvolle Initiative den Menschen

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gegenüber lässt sich mit dem Verhalten eines Mannes vergleichen, der zu einem großen Festmahl einlädt und nicht locker lässt, bis der Saal voll ist (Lk 14,16–24). Sein Handeln gleicht dem eines Weinbergbesitzers, der sich immer wieder von neuem aufmacht, um Arbeiter für seinen Weinberg zu suchen (Mt 20,1–16). Auch der Hirte und die Hausfrau, die alles dransetzen, um ihr verlorenes Schaf bzw. ihre verlorene Drachme zu finden, charakterisieren das Wesen des Handeln Gottes, der die Verlorenen sucht (Lk 15,3–10). Und nicht zuletzt wird Gott und sein Verhalten den Menschen gegenüber in dem Gleichnis von dem gütigen Vater beschrieben, der beiden Söhnen entgegengeht, um sie in seine Gemeinschaft zurückzuholen (Lk 15,11–32). In Jesu Tun und Reden kommt Gott den Menschen ganz nahe. Darum können sie umkehren und finden in seine Gemeinschaft zurück. Weil Jesus gerade zu denen geht, die meinen, sie seien abgeschrieben, können sie sich ändern und sich Gott und ihren Mitmenschen zuwenden. Auch bei Paulus taucht diese grundsätzliche Einsicht auf, wenn er denen, die sich auf Gottes Langmut und Geduld mit Israel berufen, sagt: »Weißt du nicht, dass dich Gottes Güte zur Umkehr leitet?« (Röm 2,4). Und im letzten Sendschreiben der Offenbarung wird der eindringliche Ruf zur Buße an die Gemeinde in Laodizea durch die Aussage ihres Herrn begründet: »Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an« (Offb 3,20). Gott und Christus kommen allem Reagieren der Menschen immer schon zuvor. 2. Das Wort vom Kreuz und die Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes »Gott erweist seine Liebe zu uns darin, dass Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder«, ja, mehr noch, »als wir noch Feinde waren«. So beschreibt Paulus in Röm 5,8.10 das »Zuvorkommen« Gottes. Ohne jede Vorleistung des Menschen hat sich Gott durch Jesu Tod mit der Not der Menschen identifiziert und sie auf sich genommen. Mit der Lebenshingabe Jesu hat Gott seine rettende Gerechtigkeit gezeigt und wirksam werden lassen. Ihre Geltung für alle offenbart sich in der Verkündigung des Evangeliums und wird im Glauben zur Lebenswirklichkeit jedes Einzelnen (Röm 3,21f; 1,16f). Die Bedeutung des Todes Jesu wird bei Paulus und im übrigen Neuen Testament mit unterschiedlichen Deutekategorien aus verschiedenen Lebensbereichen erklärt. Es gibt die kultische Vorstellung eines Sühnopfers, wobei als alttestamentliches Vorbild häufig das Geschehen am Versöhnungstag genannt wird (vgl. Lev 4f und 16; Röm 3,25; Hebr 9; weiter Joh 1,29; Offb 5,9). Daneben steht der Hinweis auf den stellvertretenden Einsatz des Lebens für andere, durch den verschuldetes Unheil gebannt und Versöhnung bewirkt wird (vgl. Jes 53; Joh 15,13; 2Kor 5,18f;

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1Petr 2,24f). Die Übernahme des Fluchs des Gesetzes, die Identifikation mit der Sünde und mit dem Todesurteil über sie, sind Vorstellungen, die aus dem juristischen Bereich kommen (Gal 3,13f; 2Kor 5,21; Röm 8,2). Das Motiv vom Loskauf (Mk 10,45//Mt 20,28; 1Kor 6,20; 7,23; 1Petr 1,18f u. ö.) stammt dagegen aus dem Bereich sozialer Not durch Schuldknechtschaft und Sklaverei. Eindrücklich ist, wie die Lebenshingabe Jesu gerade an entscheidenden Stellen als Ausdruck der Liebe Gottes bzw. Christi verstanden wird (vgl. Joh 3,16; 15,13; Röm 5,5–11; 8,31–39; Gal 2,20; Eph 5,1f; 1Joh 4,9f). Im Gegensatz zu den modernen Zweifeln daran, dass ein Gott der Liebe das Opfer seines Sohnes brauchte, um sich mit den Menschen zu versöhnen, sieht die neutestamentliche Überlieferung darin gerade den tiefsten Erweis der Liebe Gottes. Dazu tritt eine zweite, zentrale Beobachtung. Nach einhelliger Überzeugung aller neutestamentlichen Schriften hat Christus mit seinem Tod ein für alle Mal die Sünden der Menschen weggenommen (vgl. Hebr  9,28). Alles, was am zum Heil der Menschen nötig war, ist am Kreuz auf Golgatha geschehen. Und doch ist, was hier geschah, nicht einfach eine von den Betroffenen unabhängige Transaktion, vergleichbar einer Überweisung auf ein Konto zur Deckung aller Schulden oder der Beseitigung von giftigen Altlasten von einem Grundstück. Was sich hier ereignet hat, ist ein offenes Geschehen, das weiterwirkt und durch die Verkündigung den Menschen hier und heute be-trifft: Jesu Tod am Kreuz entspricht das Wort vom Kreuz, die Botschaft, die weiterträgt, was dort geschehen ist (1Kor 1,18–25). Das Geschehen am Kreuz erscheint sinnlos und verstörend. Aber dass es als Tat der Liebe Gottes verkündigt wird, macht klar: Was so töricht, so ärgerlich und so ohnmächtig zu sein scheint, erweist sich für den Glauben als tiefste Weisheit und Stärke dieser Liebe. Paulus macht immer wieder auf diesen Zusammenhang aufmerksam: Gottes Gerechtigkeit erweist sich in der erlösenden Lebenshingabe Christi (Röm 3,24f) und offenbart sich deshalb als Kraft zur Rettung für Juden und Griechen dort, wo Jesu Tod im Evangelium verkündigt wird (Röm 1,16f). Zur Tat der Versöhnung, in der Gott uns durch den Tod Jesu mit sich versöhnt hat (Röm 5,10), gehört das Wort von der Versöhnung, die Botschaft, die den Menschen sagt, dass Gott Frieden mit ihnen geschlossen hat, und sie einlädt, diesen Frieden anzunehmen: »So sind wir nun Botschafter an Christi statt, denn Gott ermahnt durch uns; so bitten wir nun an Christi statt: Lasst euch versöhnen mit Gott!« (2Kor 5,20). Von einem bittenden Gott zu sprechen, ist für antikes Verständnis ganz unerhört. Es ist neben dem Bild von dem seinem heimkehrenden Sohn entgegeneilenden Vaters wohl der stärkste Ausdruck für das Zuvor-

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kommen Gottes. Aber es zeigt auch: Weil Gott echten Frieden will und die Menschheit nicht wie die Mächtigen jener Zeit »befriedet«, gerade deshalb bleibt der Mensch gefragt! 3. D  ie Menschwerdung des Wortes und die Offenbarung der Herrlichkeit Gottes »Bevor dich Philippus rief, als du unter dem Feigenbaum warst, habe ich dich gesehen«. Das sagt Jesus nach Joh 1,48 zu dem zweifelnden Nathanael. Und dieses »Bevor« gibt uns das Stichwort für das »Zuvor« des Handelns Gottes nach dem Zeugnis des Johannesevangeliums. In der Sache ist das freilich schon das Thema des Prologs. Im Anfang, bevor irgendetwas anderes geschah, tritt Gott im Wort aus sich heraus, schafft sich mit seiner Schöpfung ein Gegenüber und versucht durch dieses Wort, die Menschen, die seine Repräsentanten in ihr sein sollten, in seine Gemeinschaft zurückzurufen. Er kommt ihnen bis zum Äußersten entgegen: »Das WORT wurde Fleisch«, es wurde Mensch in all seiner geschöpflichen Begrenzung. In der Menschwerdung des Wortes gibt sich Gott hinein in die Not der Menschen, teilt ihr Geschick bis in den Tod und erweist damit sein rettende Liebe, denn wo die Quelle des Lebens in den Tod geht, kann der Tod nicht Tod bleiben (Joh 3,16: 1Joh 4,9f). Im Menschen Jesus von Nazareth, in seinem Leben und Sterben, begegnet Gott und seine Liebe. Hier leuchtet die Herrlichkeit Gottes auf: in den Wundern ebenso wie im Weg zum Kreuz. Das bringt Licht und wahres Leben in diese Welt. Mit den bildkräftigen Zusagen Jesu: »Ich bin … das Brot des Lebens, der gute Hirte, der wahre Weinstock, die Auferstehung und das Leben« beschreibt Johannes die Wirklichkeit des Heils, die den Menschen in Jesu Person und Wirken begegnet. Das ist die Vor-Gabe Gottes, die nach Glauben fragt und ihn zugleich hervorruft. Drei Weisen, von Gottes Heilshandeln zu sprechen! Blickt man auf ihr Verhältnis zueinander, so ist vor allem umstritten, wie sich Jesu Botschaft von der bedingungslosen Vergebung Gottes und die Aussage, es sei notwendig gewesen, dass Jesus für die Sünden der Menschen starb, zueinander verhalten. Widersprechen sich diese beiden Ansätze nicht diametral oder gibt es doch einen inneren Zusammenhang zwischen ihnen? Die Lösung dieses Problems liegt in der Einsicht, dass die Aussagen von der Heilsbedeutung des Todes Jesu nicht voraussetzen, Gott sei gezwungen gewesen, den Tod eines Unschuldigen zu fordern, um seine Gerechtigkeit unter Beweis zu stellen. Wie die Sühnopfer im Alten Testament ist Jesu Tod wirksames Zeichen der von Gott gewährten Vergebung. Nach Lev 4,26.31.35 ist der Vollzug der Sühnung äußeres Zeichen dafür,

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dass Gott vergibt. Es macht erfahrbar: Schuld ist gesühnt. Das Kreuz Jesu zeigt gegen allen Zweifel: Unsere Schuld ist verarbeitet. Darum kann das Neue Testament so einhellig Jesu Lebenshingabe als Ausdruck der Liebe Gottes und seiner Bereitschaft zu vergeben bezeichnen. Alle drei Ansätze sind sich in zwei wesentlichen Punkten einig: Gott handelt zuerst. Sein Ja gilt. Gott ist in Jesus Christus unterwegs zu den Menschen. Das Thema sind nicht die Gottsucher, sondern Gott, der die Verlorenen sucht. Aber er sucht ein Gegenüber. Zwar lässt er »seine Sonne über Böse und Gute aufgehen und lässt über Gerechte und Ungerechte regnen« (Mt 5,45). Aber seine Liebe fragt nach Gegenliebe, sein Geben nach Annehmen, sein Wort nach Glauben, sein Ja nach unserem Ja. Der Weg zum Heil Man kann es nicht genug betonen: Das Heil ist reines Geschenk, ein Geschenk, das Jesus den Menschen nahebringt und dessen Geltung er durch seinen Tod für die Menschen verbürgt. Aber: Es ist ein Geschenk, das angenommen werden will. Wasser zu trinken, das den Durstigen gereicht wird, ist kein Verdienst, ein Geschenk anzunehmen, keine Leistung. Und doch ist es die notwendige Bedingung für das Wirksamwerden der rettenden Gnade. Dabei gibt es im ganzen Neuen Testament, vor allem aber im Johannesevangelium und bei Paulus, Aussagen, die darauf hinweisen, dass es nicht einfach an der Entscheidung der Menschen hängt, ob sie zum Heil gelangen, sondern allein am Willen Gottes (vgl. Joh 6,37.44.65; Röm 9,14– 23). Die Frage, ob es eine individuelle Vorherbestimmung, eine Prädestination der Menschen zum Heil oder Unheil gibt, also ob die einen erwählt und die anderen verworfen sind, ist in der Geschichte der Kirche heiß diskutiert worden und bis heute umstritten. Es gibt im Neuen Testament Aussagen, die das nahelegen, so vor allem an den Stellen, die Jes 6,9f zitieren: Mk 4,10–12//Mt 13,14f; Joh 12,38–41; Apg 28,26 f. Aber direkt neben ihnen stehen oft andere, die zur Umkehr oder zum Glauben einladen (vgl. Joh 12,36; Apg 28,23f). Hier bleibt eine Spannung. Aber man kann als Faustregel sagen: Prädestinatianische Aussagen halten fest, dass es nicht am Wollen oder Laufen der Menschen liegt, ob sie zum Heil kommen, sondern allein an der Gnade Gottes. Aber weil Gott mit uns Menschen eben doch nicht wie mit einem Stück Ton umgeht (trotz Röm 9,21–23), sondern wie mit verantwortlichen Partnern, steht daneben die dringende Aufforderung, sich Gottes Wirken zu öffnen. Paulus hat diese Spannung in einer sehr paradox klingenden Aussage festgehalten: »Wirkt mit Furcht und Zittern euer Heil!« heißt es in Phil 2,12f (EÜ), wobei biblisch »Furcht und Zittern« nicht für das Gefühl der Angst,

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sondern für das Wissen um die völlige Abhängigkeit von Gott steht (vgl. 1Kor 2,3). Und darum setzt Paulus hinzu; »Denn Gott ist es, der in euch das Wollen und das Vollbringen bewirkt zu seinem Wohlgefallen.« Letztlich verdanken wir alles Gott, und dennoch findet sich im ganzen Neuen Testament immer wieder die herzliche Einladung und dringende Aufforderung, auf Gottes Handeln in Jesus Christus zu reagieren. Diese Einladung wird in den verschiedenen Traditionen verschieden formuliert: 1. Der Ruf zur Umkehr Dem Ruf zur Umkehr und zur Buße begegnen wir vor allem in der Überlieferung von Jesus und hier besonders bei Lukas. Aber es ist Matthäus, der sehr prägnant sowohl die Verkündigung des Täufers als auch die Botschaft Jesu unter die knappe Aufforderung stellt »Kehrt um! Denn das Himmelreich ist nahe« (Mt 3,1; 4,17 EÜ; vgl. ZB). Traditionell wird das allerdings übersetzt: »Tut Buße« (LÜ; REB). Was ist richtig? Das griechische Wort lässt beide Übersetzungen zu; aber offensichtlich steht hinter ihm das hebräische Wort für »umkehren«, das so typisch für die Umkehrpredigt der Propheten Israels war (Jes 30,15; Jer 4,1; 35,15; Ez 33,9– 12; Hos 5,4; 12,7). Es geht nicht um die Aufforderung zu irgendwelchen Bußleistungen, sondern um die Einladung, sich abzukehren von falschen Göttern und tödlichen Zielen und sein Leben ganz Gott zuzuwenden. Das eindringlichste Beispiel für das, was Jesu Ruf zur Umkehr bedeutet, ist das Gleichnis von dem Vater und seinen beiden Söhnen (Lk 15,11–32), obwohl in ihm der Begriff Umkehr gar nicht vorkommt. Man hat zurecht davor gewarnt, in dieser Geschichte so etwas wie die allegorische, detailgetreue Einkleidung lehrbuchgemäßer Buße zu sehen. Auf der Erzählebene gelte die Logik der erzählten Geschichte, für die Sachebene sei allein ihre Pointe wichtig. Das bleibt grundsätzlich richtig, und doch ist gerade bei diesem Gleichnis das, was man die »Verschränkung« von Erzähl- und Sachebene genannt hat, bis ins Detail hinein frappierend. In seinem tiefsten Elend erkennt der jüngere Sohn, wie sehr er sich verrannt hat. Eine bescheidene Erinnerung an das Zuhause weckt in ihm Hoffnung. Und wenn er als sein Bekenntnis, das er vor dem Vater sprechen will, formuliert: »Ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir«, dann liegt darin durchaus auch der Aspekt der Buße. Aber entscheidend ist die Umkehr, die Heimkehr zum Vater. Und anders als das eine traditionelle Bußtheologie darstellen würde, kommt ihm der Vater schon von ferne entgegen. Sein Bekenntnis spricht er in den vergebenden Armen des Vaters, und dessen Willkommensgruß mit Festkleid, Siegelring und Sandalen bedeutet nichts anderes als die Wiedereinsetzung in den Status des Sohnes, die gebührend gefeiert werden muss.

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Die ganze Qualität dieser Erzählung aber zeigt sich in der einfühlsamen Erzählung von der Reaktion des älteren Bruders, dessen Problem mit der allzu raschen und überschwänglichen Aufnahme seines Bruder durchaus nachvollziehbar ist. Aber auch ihm kommt der Vater entgegen und lädt ihn ein, hereinzukommen und mitzufeiern. Für ihn würde Umkehr bedeuten, ohne Berechnung und Pochen auf das eigene Verdienst beim Vater einzukehren und sich mitzufreuen über die Heimkehr seines Bruders. Gott kommt denen entgegen, die von ihm weggelaufen sind und in der Gottferne zu verderben drohen. Aber er geht auch zu denen, die meinen, ihm ganz nahe zu sein, und doch in Gefahr sind, sich ihm zu entfremden, weil ihnen seine Liebe fremd bleibt. Wenn Jesus dieses Gleichnis erzählt, dann zweifellos mit der Botschaft an die einen wie die anderen: So kommt Gott euch in meinem Wirken entgegen, den »Sündern« wie den »Frommen«. Dieses Gleichnis steht bei Lukas, und das ist kein Zufall, denn für ihn ist das Thema Umkehr ganz besonders wichtig. Das zeigt sich an seiner Version der Antwort Jesu auf den Vorwurf der Schriftgelehrten, er esse mit Zöllnern und Sündern. Den Worten aus Mk 2,17: »Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder«, fügt er hinzu: »zur Umkehr« (Lk 5,32). Manche halten das für eine Verengung der Botschaft Jesu, weil damit eine vom Menschen zu leistende Bedingung als Ziel des Rufes Jesu genannt werde. Aber das ist nicht das, was Lukas unter Umkehr versteht (und darum ist die Übersetzung »zur Buße« irreführend). Das zeigen die beiden Gleichnisse vom verlorenen Schaf und von der verlorenen Drachme in Lk 15,3–10. Beide enden mit den Worten: »So wird Freude sein im Himmel über einen Sünder, der umkehrt …«. Auf der Bildebene ist aber weder das verlorene Schaf oder die verlorene Drachme umgekehrt; sie wurden gefunden. Und das erste Ziel aller drei Gleichnisse in Lk 15 ist ja, zur Mitfreude darüber zu motivieren, dass Menschen, die Gott ferne schienen, zu ihm zurückgefunden haben. Aber sie enthalten auch das interessante Detail, dass umkehren eigentlich bedeutet: Gefunden werden. Das zeigt auch der Schluss des dritten Gleichnisses, wo es mit derselben Un-Logik heißt: Dein Bruder »war verloren und ist wiedergefunden« (nicht: »ist heimgekehrt«! V. 32). Wie wenig schematisch Lukas diesen Vorgang sieht, zeigen drei Geschichten, in denen der Begriff »Umkehr« oder »Buße« nicht vorkommt, die aber unterschiedliche Weisen der Hinwendung zu Gott zeigen. Das ist die Begegnung Jesu mit Zachäus (Lk 19,1–10): Er sieht Zachäus auf dem Baum und ruft ihn zu sich und lädt sich ein in sein Haus. Das aber führt zu einer totalen Lebenswende des Zöllners und wird am Schluss mit den Worten kommentiert: »Der Menschensohn ist gekommen, um

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zu suchen und zu retten, was verloren ist«. Da ist das Beispiel des Zöllners, der im Tempel betet und nur noch sagen kann: »Gott, sei mir Sünder gnädig«. Von ihm sagt Jesus, dass er bei Gott angenommen und gerechtfertigt ist (Lk 18,9–14). Und nicht zuletzt ist da der eine der beiden Männer, die mit Jesus gekreuzigt wurden: Er sieht in der Stunde seines Todes sein verfehltes Leben, bittet Jesus um Fürsprache und erhält die Zusage, mit Jesus im »Paradies«, dem Leben bei Gott, zu sein. Jesus sucht und findet Menschen, die sehr weit weg von Gott zu sein scheinen, und Menschen, die spüren, dass sie sich weit von Gott entfernt haben, finden zurück zu Gott, weil sie sich aus ihrer Gottferne zu ihm wenden. Beides ist für Lukas Umkehr! Aber zugleich berichtet er, wie Jesus angesichts dramatischer Unglücksfälle rät, nicht nach der Schuld der Betroffenen zu fragen, sondern das eigene Leben zu ändern und sich Gott neu zuzuwenden (Lk 13,5). Es ist darum nicht verwunderlich, dass das Thema bei Lukas im Zentrum des Missionsauftrags des Auferstandenen steht: In Jesu Namen »wird man allen Völkern Umkehr verkünden, damit ihre Sünden vergeben werden« (Lk 24,47 EÜ). Dieser Auftrag wird einerseits mit der Aufforderung zur Umkehr erfüllt: Am Ende der Pfingstpredigt des Petrus steht der Appell: »Kehrt um und jeder von euch lasse sich auf den Namen Jesu Christi taufen zur Vergebung eurer Sünden« (Apg 2,38 EÜ). Und in seiner Rede auf dem Areopag schließt Paulus mit den Worten: Gott »gebietet jetzt den Menschen, dass überall alle umkehren sollen« (Apg 17,30 EÜ). Der Ruf zur Umkehr ist universell. Aber andererseits ist Umkehr keineswegs nur Bringschuld der Menschen, sondern Gottes Geschenk. In seiner Rede vor dem Hohen Rat sagt Petrus: Gott hat den gekreuzigten Jesus auferweckt und »als Anführer und Retter an seine rechte Seite erhoben, um Israel die Umkehr und Vergebung der Sünden zu schenken« (Apg 5,32 EÜ). Das gilt nicht nur für Israel, sondern auch für die »Völker«. Nach dem Bericht des Petrus über das Geschehen im Haus des Cornelius (Apg 10,1–11,18) stellen die Zuhörenden voller Dankbarkeit fest: »So hat Gott auch den Heiden die Umkehr gegeben, die zum Leben führt« (11,18 EÜ). Das bedeutet nicht nur, dass Gott durch sein Handeln die Möglichkeit zur Umkehr geschaffen hat. Cornelius und die Seinen »bekehren« sich ja nicht; sie werden vom Wirken des Geistes überwältigt. Das »Zuvorkommen« der Gnade Gottes vor allen menschlichen Entschlüssen wird hier exemplarisch dargestellt. Doch das mindert für Lukas nicht die Notwendigkeit, die Menschen zur Umkehr zu rufen, und zwar Juden wie Heiden. Nach seinem Bericht über die Rede des Paulus vor dem König Agrippa fasst dieser seine Wirksamkeit mit der Feststellung zusammen, er habe »zuerst denen in Damaskus und in Jerusalem, dann im ganzen Land Judäa und bei den Heiden ver-

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kündet, sie sollten umkehren, sich Gott zuwenden und der Umkehr entsprechende Taten tun« (26,20 EÜ). Umkehr ist Gottes Werk und bleibt doch auch Tat des Menschen! In den Briefen des Paulus hat das Thema Umkehr nicht die zentrale Stellung, wie das die Berichte des Lukas vermuten lassen. Es gibt nur eine Stelle, an der der Begriff vorkommt, hier allerdings mit einer sehr pointieren Aussage. Leute, die meinen, sie könnten immer mit Gottes Geduld und seiner Bereitschaft zur Vergebung rechnen, mahnt Paulus: »Weißt du nicht, dass Gottes Güte dich zur Umkehr treibt?« (Röm 2,4). In diesem Satz steckt eine interessante Doppelbotschaft: Einerseits zeigt sich bei Paulus wie bei Jesus, dass nicht die Drohung mit dem Gericht zur Umkehr motivieren soll, sondern der Hinweis auf Gottes unbegreifliche Güte. Auch hier wird Gottes Entgegenkommen zur Triebfeder für die dankbare Hinkehr zu ihm. Andererseits ruft das Wort sehr energisch dazu auf, Gottes Güte ganz ernst zu nehmen und nicht Schindluder mit ihr zu treiben. Auch das hat Parallelen in der Jesustradition, insbesondere in ihrer Ausprägung bei Matthäus. Sehr prominent ist das Thema Umkehr in der Offenbarung. Allerdings fällt es in doppelter Hinsicht aus dem Rahmen dessen, was uns bisher im Neuen Testament begegnet ist. Erstens richtet sich die Aufforderung zur Umkehr hier nicht an ungläubige Juden oder Heiden, sondern an christliche Gemeinden. Fünf der sieben Gemeinden, an die sich die Sendschreiben in Kap. 2 und 3 richten, werden nachdrücklich aufgefordert, sich von falschen Verhaltensweisen abzuwenden und wieder zu ihrem Herrn zurückzukehren (vgl. 2,5.16.21; 3,3.19). Zweitens wird in den Sendschreiben der Ernst der Aufforderung zur Umkehr deutlich mit der Warnung vor den negativen Konsequenzen einer Weigerung unterstrichen: »Wenn du nicht umkehrst, werde ich zu dir kommen und deinen Leuchter von seiner Stelle wegrücken« (2,5). Allerdings wird gerade der Gemeinde in Laodizea, die am schärfsten kritisiert wird, zugerufen: »Mach also Ernst und kehr um! Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wenn einer meine Stimme hört und die Tür öffnet, bei dem werde ich eintreten und Mahl mit ihm halten und er mit mir« (3,19f EÜ). Auch hier ist das »Entgegenkommen« des erhöhten Herrn die eigentliche Motivation des Rufs zur Umkehr. Der Ruf zu Umkehr und Buße in der Offenbarung stellt so in gewissem Sinn das Gegenstück zur Ablehnung der Möglichkeit einer zweiten Buße im Hebräerbrief dar (vgl. Hebr 6,4–6; 10,26–31). Allerdings geht der Hebräerbrief bei dieser Aussage von einem bewussten und grundsätzlichen Abfall vom Glauben aus. Im Grunde sind auch seine Aufforderungen, sich ganz neu Gott und Christus zuzuwenden (vgl. 10,19– 25; 12,1–3) ein Ruf zur Umkehr und erneuten Hinkehr zu Gott.

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Ohne dass das so expressis verbis formuliert wird, sind für die Offenbarung die großen Plagenreihen ein letzter Versuch Gottes, die Menschheit zur Umkehr zu bewegen. Das freilich wird erst durch die lapidare Feststellung klar, die sich am Schluss einiger der Plagen findet: »Sie bekehrten sich nicht dazu, ihm [Gott] die Ehre zu geben« (Offb 16,9; vgl. 16,11; 9,20f). Die Offenbarung nimmt damit ein Motiv auf, das sich schon bei den frühen Propheten findet. So schildert Amos in Am 4,6– 11 eine Reihe von Plagen, die Gott Israel geschickt hat, und stellt jedes Mal fest: »Dennoch seid ihr nicht umgekehrt zu mir« (Am 4,6–11; vgl. Hos 7,10). Und doch steht am Ende der Offenbarung die bedingungslose Einladung: »Wen dürstet, der komme, wer da will, der nehme das Wasser des Lebens umsonst (22,17; vgl. 21,6). Der Ruf zur Umkehr ergeht als Einladung zur Einkehr bei Gott, der Quelle des Lebens! 2. Die Einladung zum Glauben In Mk 1,14f zitiert der Evangelist eine knappe Zusammenfassung der Botschaft Jesu. Grundlegend ist die Feststellung: »Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe«. Ihr folgt als Konsequenz der Ruf: »Kehrt um und glaubt an das Evangelium!« Die Einladung zum Glauben steht neben dem Ruf zur Umkehr. So wird die Botschaft Jesu programmatisch mit der Verkündigung der christlichen Gemeinde verknüpft. Denn nach dem Zeugnis der synoptischen Evangelien war für Jesus die Frage nach dem Glauben an das Evangelium oder an ihn selbst kein Thema seiner Predigt. Dabei spricht Jesus nicht selten vom Glauben. Sein Wirken weckt Glauben, und oft wird berichtet, dass Jesus darüber staunt, welch großes Vertrauen ihm manche Hilfesuchenden entgegenbringen. Als die Freunde eines Gelähmten es schaffen, diesen durch ein Loch im Dach des Hauses zu Jesus zu bringen, heißt es: »als Jesus ihren Glauben sah« (Mk 2,5). Angesichts der Überzeugung des Hauptmanns von Kapernaum, dass Jesus seinen Knecht auch aus der Ferne heilen kann, sagt Jesus: »Einen solchen Glauben habe ich bei niemanden in Israel gefunden« (Mt 8,10). In der Matthäus-Fassung der Geschichte von der Heilung der Tochter einer Syrophönizerin sagt Jesus angesichts der Hartnäckigkeit der Frau: »Dein Glaube ist groß« (Mt 15,28; vgl. Mk 7,29). Und der Frau, die an unstillbaren Blutungen litt und sich heimlich durch eine Berührung Jesu Heilung verschafft, versichert er: »Dein Glaube hat dich geheilt« (Mk 5,34; ähnlich Mk 10,52, Lk 7,50; 17,19). Glaube ist nach dem Zeugnis dieser Geschichten das feste Vertrauen auf Jesu Hilfe, das sich auch nicht von widrigen Umständen abschrecken lässt. Allerdings kann sich Jesus dann auch wundern, dass seine Jünger so wenig Vertrauen in seine Vollmacht haben (Mk 4,40; bei Matthäus heißen sie »kleingläubig« Mt 6,30; 8,26; 14,31; 16,8).

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Das aber führt zum zweiten Merkmal des Thema Glauben in den synoptischen Evangelien: Jesus ermutigt zum Glauben. Zu dem Synagogenvorsteher Jairus, der um das Leben seiner Tochter bangt, sagt er: »Fürchte dich nicht, glaube nur« (Mk 5,36). Sehr eindrücklich ist Jesu Wort vom Glauben, der Berge versetzen kann (Mk 11,22f//Mt 21,21f; vgl. 1Kor 13,3). In der Logienquelle Q sagt Jesus das sogar von einem Glauben, der nur so groß ist wie ein Senfkorn (Mt 17,20//Lk 17,6). Und wenn dann berichtet wird, dass Jesus zu dem verzweifelten Vater eines von Dämonen besessenen Knaben sagt: »Wer glaubt, kann alles« (Mk 9,23; ähnlich 11,24), dann wird einem angesichts solch pauschaler Zuversicht doch fast ein wenig bange. Dabei erwartet Jesus von denen, die bei ihm Hilfe suchen, kein bestimmtes Maß an »Glaubensvorschuss«. Oft sind es ja gar nicht die Betroffenen, sondern die Angehörigen, von deren Glauben gesprochen wird. Jesus ist für sein Helfen nicht auf die Kraft des Glaubens derer angewiesen, die Hilfe erwarten. Nur wo ihm von vorneherein mit skeptischem Zweifel und voreingenommener Beobachtungshaltung begegnet wird wie in seinem Heimatort Nazareth, da muss er den Menschen Hilfe versagen (Mk 6,1–6). Aber auf den Ruf des Vaters des besessenen Kindes: »Ich glaube, hilf meinem Unglauben« zögert er nicht zu helfen (Mk  9,24f). Der Glaube, den Jesus erwartet, ist keine zu erbringende Vorleistung, sondern die erwartungsvolle Offenheit für Gottes helfendes und rettendes Handeln in seiner Person. Ein ganz anderes Verständnis von Glauben begegnet uns dort, wo in der urchristlichen Verkündigung und vor allem bei Paulus oder Johannes vom Glauben gesprochen wird. In der Erzählung von der Bekehrung des Gefängnisaufsehers in Philippi findet sich in Apg 16,30f eine Kurzfassung der missionarischen Verkündigung der frühen Kirche. Der tief erschütterte Gefängnisaufseher fragt Paulus und Silas: »Was muss ich tun, um gerettet zu werden?« Sie antworten: »Glaube an Jesus, den Herrn, und du wirst gerettet werden, du und dein Haus« (EÜ). Und dann »sagten sie ihm das Wort des Herrn«, das heißt, sie erklärten, was Grund und Inhalt eines solchen Glaubens ist, und er lässt sich ohne Umschweife noch in derselben Nacht mit den Seinen taufen! Worum es bei solchem Glauben geht, zeigt ein ganz ähnlicher Satz, den Paulus in Röm 10,9 zitiert und der wie eine Formulierung aus einem urchristlichen Katechismus klingt: »Wenn du mit deinem Mund bekennst: Herr ist Jesus! und in deinem Herzen glaubst: Gott hat ihn von den Toten auferweckt, so wirst du gerettet werden« (EÜ). Für uns heute stellt sich dabei freilich die Frage: Wird hier nicht der Glaube auf das Fürwahr-halten eines unglaublichen Wunders reduziert und darum doch so etwas wie eine Leistung des Menschen? (s. o. S. 177)

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Doch für Paulus trifft dieser Verdacht nicht zu. Für ihn ist die Rede von »Gott, der Jesus von den Toten auferweckt hat,« eine Art Kurzformel für das rettende Eingreifen Gottes in die menschliche Not von Schuld und Tod (vgl. Röm 8,11; 2Kor 4,14; Gal 1,1). Sehr schön machen das die verschiedenen Definitionen von Glauben in Röm 4 deutlich. In 4,5 heißt es: »Abraham glaubte an den, der den Gottlosen rechtfertigt«. Paulus formuliert nicht: »der den Glaubenden rechtfertigt«, obwohl das vom Zusammenhang nahegelegen hätte. Aber der Glaube setzt sich nicht selbst ins Kalkül, als wäre er ein vom Menschen zu erbringender Vorschuss. Gott rechtfertigt die, die von sich aus nichts vorzuweisen haben und keine religiösen Voraussetzungen mitbringen und sich gerade so Gott anvertrauen. Das zeigt die parallele Aussage in 4,17: Abraham glaubte dem Gott, »der die Toten lebendig macht und das, was nicht ist, ins Dasein ruft«. Der Gott, der die Gottlosen rechtfertigt, ist der Gott, der aus dem Nichts schafft und die Toten auferweckt! Und von diesem Gott spricht Paulus auch, wenn er sagt: »Wir glauben an den, der unseren Herrn Jesus Christus von den Toten auferweckt hat« (4,24). Zu glauben, dass Gott Jesus von den Toten auferweckt hat, bedeutet also nichts anderes, als darauf zu vertrauen, dass Gottes schöpferische Kraft keine Vorgaben braucht und stärker ist als Schuld und Tod. Das ist auch Inhalt und Grund des Glaubens an Christus Jesus, durch den nach Gal 2,16 Juden wie Heiden gerechtfertigt werden. Dieser Glaube besteht in der Bereitschaft, die leeren Hände zu öffnen und sich von Gottes Liebe, die er in Jesus Christus erwiesen hat, beschenken zu lassen. Er kommt daher nicht aus irgendeiner Kraft zum positiven Denken auf Seiten der Glaubenden, sondern er kommt aus dem Hören (Röm 10,17; vgl. Gal 3,2; LÜ: aus der Predigt). Es ist die Botschaft von Gottes Handeln in Jesus Christus, die den Anstoß zum Glauben gibt und ihm seine Kraft verleiht. Die Verkündigung des Evangeliums begründet den Glauben und gerade deshalb fragt sich auch nach dem Glauben. Das »äußere«, leibhaftig erfahrbare Pendant zum Glauben ist in der Apostelgeschichte und bei Paulus die Taufe. Für sie sind Aussagen im Passiv konstitutiv: Man lässt sich taufen und wird getauft (Apg 2 u. ö.). Der Glaube als Tat der Menschen wird umgriffen von dem, was an ihnen geschieht, d. h. von der wirksamen Zueignung dessen, was Gott in Christus für sie getan hat, lange bevor sie glauben konnten (s. o. S. 177 f.). Eine ähnlich zentrale Rolle spielt der Glaube im Johannesevangelium. Nach Joh 20,31 ist es geschrieben worden, »damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben Leben habt in seinem Namen«. Auch hier bedeutet zu glauben, dass Jesus der Messias und Gottes Sohn ist, weit mehr als die formale An-

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erkennung eines Titels oder seiner göttlichen Herkunft. Es ist Ausdruck des Vertrauens, dass in ihm Gott selbst begegnet. So bekennt der »ungläubige« Thomas in der Begegnung mit dem Auferstanden: »Mein Herr und mein Gott!« (Joh 20,28) Weil sich ein Mensch im Glauben Gott, der Quelle des Lebens öffnet, darum schenkt der Glaube wahres Leben, ewiges Leben. Dieser Zusammenhang zwischen Glauben an Jesus und Leben durch den Glauben wird sehr klar in dem Gespräch Jesu mit Martha vor der Auferweckung ihres Bruders Lazarus formuliert. Jesus sagt: »Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt, und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird auf ewig nicht sterben. Glaubst du das?« Und Martha antwortet: »Ja, Herr, ich glaube, dass du der Christus bist, der Sohn Gottes, der in die Welt kommen soll« (Joh 11,25–27). Auch der programmatische Satz in 3,16 zeigt den Zusammenhang zwischen der Sendung Jesu, dem Glauben an ihn und dem Geschenk des Lebens: »Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben«. Grund für diesen engen Zusammenhang von Glauben und ewigem Leben ist die Tatsache, dass in Jesus Gott, der Ursprung des Lebens, den Menschen begegnet: »Wer an mich glaubt, glaubt nicht an mich, sondern an den, der mich gesandt hat« (12,44). Darum besteht die Sünde der Welt auch darin, dass die Menschen nicht an Jesus glauben (16,9f). Aber deswegen ergeht immer wieder neu die dringende Einladung an die Menschen: »Glaubt an Gott und glaubt an mich« (14,1), oder »Wer mich hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben« (5,24). Dabei ist Glaube bei Johannes mehr als ein Akt intellektueller Zustimmung. Das zeigt die Einladung Jesu: »Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern; und wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten« (6,35). Glauben bedeutet, zu Jesus zu kommen! Menschen werden eingeladen, sich aufzumachen und ihr Leben Jesus anzuvertrauen. Es wird an ihre Initiative appelliert und zugleich betont, dass es nicht nur an ihrem guten Willen liegt, ob sie kommen oder nicht: »Alles, was mir der Vater gibt, das kommt zu mir; und wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinausstoßen« (6,37). Auch für den Hebräerbrief »ist der Glaube Bedingung und Voraussetzung für den Heilsempfang« und so der einzige Weg, das Heil zu erlangen (Rose, Hebräer 180). Aber er wird nicht durch den Bezug zu Christus bestimmt, sondern durch das Festhalten an der Verheißung Gottes (Hebr 11,1). Deshalb kann es schon im Alten Testament eine Wolke von Glaubenszeugen geben, die selbst unter schwierigen Verhältnissen an Gottes Zusage festhielten (11,3–12,2). Doch auch im Hebräerbrief ist der Glaube keine Tu-

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gend oder geforderte Eigenleistung der Gläubigen. »Glaube ist vielmehr die Antwort auf Gottes Verheißungswort und zwar die einzig mögliche Antwort. Glaube ist die geforderte und jedes Verdienst ausschließende re-actio auf die actio Gottes« (Rose, Hebräer 185). Wir begegnen im Neuen Testament also sehr unterschiedlichen Akzentsetzungen im Verständnis des Glaubens, und doch ist die innere Einheit nicht zu übersehen: Glaube ist wagendes Vertrauen auf Jesu Wort und dankbares Ja zu Gottes Handeln durch ihn. Und darum ist der Ruf zum Glauben in seiner unterschiedlichen Gestalt die immer wieder neue, mutmachende Einladung, sein Ja zu Gottes Ja zu sagen. 3. Der Ruf in die Nachfolge und zum Tun des Gerechten »Geh hin, verkaufe alles, was du hast, und gib’s den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben, und komm, folge mir nach!« So lautet die abschließende Antwort Jesu an einen Reichen, der ihn gefragt hat, was er tun müsse, um das ewige Leben zu erlangen (Mk 10,21). Ist das Jesu Bedingung für alle, die Heil und Leben empfangen wollen? Das ist nicht der Fall. Der Ruf, mit dem Jesus seine ersten Jünger in die Nachfolge gerufen hat, war mit einem speziellen Auftrag für ganz bestimmte Menschen verbunden (Mk 1,17; Lk 5,10). Nirgends wird davon berichtet, dass Jesus seine Verkündigung mit einem allgemeinen Aufruf zur Nachfolge verbunden habe. Umgekehrt sagt er zu dem geheilten Besessenen von Gerasa, der ihm nachfolgen will, er solle nach Hause gehen und seiner Familie alles berichten, »was der Herr für dich getan und wie er Erbarmen mit dir gehabt hat!« (Mk 5,19 EÜ). Doch der Ruf in die Nachfolge wird zum Beispiel für die Radikalität der Herausforderung, die in der Begegnung mit der Nähe des Reiches Gottes liegt. Nachdem Jesu Hinweis auf die Befolgung der Gebote dem reichen Frager nicht genügt hat, konfrontiert er ihn mit dieser Forderung. Bei Gott geht es immer ums Ganze! Das ist auch der Sinn der steilen Worte Jesu zu den »Kosten« der Nachfolge in dem Bericht über vergebliche Berufungen in Mt 8,19–22//Lk 9,57–62. Damit wird Nachfolge zum Kennwort für die Ausrichtung des ganzen Lebens auf Jesus und sein bahnbrechendes Vorbild, insbesondere in den Worten über die Kreuzesnachfolge (Mk 8,34–38//Mt 16,24–27//Lk 9,23– 27). Diese Tradition nimmt der 1. Petrusbrief auf, wenn er dazu aufruft, sich auf das Vorbild des leidenden Christus auszurichten und »seinen Fußstapfen« nachzufolgen (1Petr 2,21–25). Auch im Hebräerbrief wird dazu aufgerufen, den Blick auf Jesus, »den Anfänger und Vollender des Glaubens« zu richten, der den Weg zum Kreuz auf sich genommen hat, und sich im Lauf des Lebens an ihm zu orientieren (Hebr 12,2f). Und noch eindrucksvoller die Aufforderung in Hebr 13,13, »hinauszugehen

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vor das Lager« zu Jesus, der draußen vor dem Tor gelitten hat, »und seine Schmach zu tragen«. Nachfolge wird so zum Synonym für einen Glauben, der sich nicht in Worten erschöpft, und für ein Bekenntnis, das nicht nur mit den Lippen geschieht, sondern mit Leib und Seele dem Ruf Jesu folgt. Dass das geschieht, ist das Anliegen von Matthäus und Jakobus, wenn sie darauf bestehen, dass zu dem Hören auch das Tun kommen muss (Mt 7,21–27; Jak 1,22–27). Wie wir sahen, geht es ihnen dabei nicht darum, dass zu der Offenheit für die Botschaft auch die eigene Leistung kommt (s. o. S. 227 f., 277). Vielmehr ist ihr Anliegen, dass ein Mensch sich wirklich ganz für das Evangelium öffnet und mit »Herz und Mund und Tat und Leben« auf seine Zusage antwortet. Auch Jesus verweist in seiner Antwort auf die Frage nach dem ewigen Leben immer wieder auf das Liebesgebot und seine Konkretion in der zweiten Tafel des Dekalogs (Lk 10,25f; Mk 10,19). Dabei ging es ihm nicht um verdienstliche Gesetzesfrömmigkeit, sondern darum, sich ganz Gottes Wirken und Willen zu öffnen. Und gerade im protestantischen Milieu wäre es interessant, einmal darüber nachzudenken, wie sehr ein tätiges Engagement, das von der Botschaft Jesu angestoßen wird, hilft, die Botschaft des Glaubens auch zu verinnerlichen! Ruf zur Umkehr  – Einladung zum Glauben  – Ruf in die Nachfolge: unterschiedliche Formen der Frage nach einer Antwort auf die Zusage Gottes im Evangelium! Ihnen allen ist eines gemeinsam: Sie fordern dazu auf und ermutigen zugleich, das Leben Gott ganz anzuvertrauen, sich ihm ganz zuzuwenden, das eigene Ja zu seinem Ja zu sagen und das ganze Leben auf ihn ausrichten, Dimensionen des Heils Wie aber erleben Menschen das Heil, das ihnen im Evangelium zugesagt wird? Was bedeutet es, dass Gott diejenigen, die seinem Ruf folgen, durch sein Handeln in Jesus Christus rettet? Paulus sagt in einer Auseinandersetzung mit der Gemeinde in Korinth über das Wesen des Christseins: Durch Gottes Tat »seid ihr in Christus Jesus, der für uns zur Weisheit wurde und zur Gerechtigkeit und zur Heiligung und zur Erlösung« (1Kor 1,30). Die Erwähnung der Weisheit ist der aktuellen Auseinandersetzung des Paulus mit den Korinthern geschuldet, aber die Stichworte Gerechtigkeit (oder mit anderen Worten: Rechtfertigung), Heiligung und Erlösung benennen drei grundlegende Dimensionen des Heils in Christus. Die Begriffe selbst sind im Wesentlichen auf Paulus und seinen Einflussbereich beschränkt. Die Sache aber, die sie bezeichnen, findet sich

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in allen Teilen des Neuen Testaments. Dabei steht Rechtfertigung für die Bereinigung einer verfehlten Vergangenheit und das Geschenk eines neuen Verhältnisses zu Gott, Heiligung für ein Leben in der Gemeinschaft mit Gott und dessen richtige Gestaltung und Erlösung für die Befreiung aus den Begrenzungen einer irdischen Existenz und die Vollendung des rettenden Handeln Gottes. 1. Rechtfertigung – leben von Gottes Ja Rechtfertigung  – so haben wir schon mehrfach gesehen (s. o. S. 145 f., 175)  – steht einerseits für den Aspekt der Bewältigung einer schuldbelasteten Vergangenheit. Im Rahmen eines Gerichtsverfahrens in Israel heißt, gerechtfertigt zu werden, Freispruch von allen Anklagen und Beschuldigungen. Anders aber als in einem irdischen Gerichtsverfahren bedeutet, von Gott gerechtfertigt zu werden, keinen Freispruch wegen erwiesener Unschuld, sondern Entlastung des Schuldigen durch das, was Gott in Jesus Christus getan hat. Dieser Aspekt des Rechtfertigungsgeschehens nimmt auf, was vor allem in der lukanischen Tradition mit Vergebung der Sünden angesprochen wird (vgl. Lk 18,9–14, wo die Bitte des Zöllners »Gott sei mir Sünder gnädig« durch die Zusage beantwortet wird, dass er »gerechtfertigt« in sein Haus hinabging; s. o. S. 284). Es entspricht auch dem, was im 1. Petrusbrief und im Hebräerbrief als sühnende Wirkung des Kreuzestodes Jesu beschrieben wird (1Petr 1,18f; Hebr 7–9). Für uns heute scheinen mit diesen unterschiedlichen Vorstellungen von Freispruch im Gericht, Zusage von Vergebung oder Verarbeitung von Schuld durch kultische Sühne sehr unterschiedliche Weisen der Bewältigung von Schuld genannt zu sein, die sich teilweise sogar widersprechen. Für das biblische Denken aber wird damit aus verschiedener Perspektive eine zentrale Dimension dessen angesprochen, was Heil bedeutet: wirksame Befreiung von der Last und Anklage schuldhaftem Verhaltens und Aufarbeitung und Heilung all dessen, was durch ein Leben ohne und gegen Gott an Schaden im eigenen Leben und dem anderer verursacht wurde. Aber andererseits bedeutet Rechtfertigung sehr viel mehr als nur die Bewältigung einer verfehlten Vergangenheit. Durch sie wird auch Gegenwart und Zukunft der Gerechtfertigten entscheidend bestimmt. Denn gerecht gesprochen zu werden bedeutet auch die Wiederaufnahme in die Gemeinschaft und das heißt für die Rechtfertigung durch Gott: Gott nimmt uns an, wie wir sind, nimmt uns auf in seine Gemeinschaft und schenkt unserem Leben Wert und Würde. Wir können von Gottes Ja leben. Dieser Aspekt des Heilsgeschehens wird im Neuen Testament auf vielfältige Weise veranschaulicht. Eines der schönsten Beispiele ist der Be-

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richt von »Wiedereinsetzung« des Verlorenen Sohns durch die Gabe von Ring, Festkleid und Sandalen, die symbolisieren, dass er wieder voll in die Rechte eines Sohnes eingesetzt ist (Lk 15,22). Bei Paulus wird dasselbe – ohne die bildhafte Symbolik – mit der Zusage der Annahme an Kindesstatt ausgesagt (Röm 8,14–16; Gal 4,4–7). In einem ganz anderen Bild beschreibt auch das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg diesen Vorgang: Gebraucht zu werden bedeutet angenommen zu sein, auch noch in der letzten Stunde. Lebensgeschichtlich wird dies am Beispiel des Petrus veranschaulicht. Als er unter dem Eindruck des überwältigenden Fischfangs die göttliche Gegenwart in Jesus spürt und sagt: »Herr, gehe von mir hinaus. Ich bin ein sündiger Mensch!« da antwortet Jesus: »Fürchte dich nicht. Von jetzt an wirst du Fische fangen!« (Lk 5,8–10) Annahme des Sünders durch einen Auftrag! Und obwohl es dort nicht in derselben Deutlichkeit gesagt wird, zeigt auch die Erzählung von der Neubeauftragung des Petrus in Joh 21,15–17, dass ihn Jesus trotz seines Versagens wieder voll und ganz in seine Gemeinschaft aufnimmt. Paulus jedenfalls hat die Tatsache, dass er, der Verfolger der Gemeinde, zum Apostel für die Heiden berufen wurde, als einen Ausdruck für die Rechtfertigung des Gottlosen verstanden. Wieder auf einer ganz anderen bildlichen Ebene wird diese Seite des Heilsgeschehens im Hebräerbrief als Gewährung des Zugangs zum Allerheiligsten beschrieben (Hebr 10,19–22). Immer Zutritt zum Herzen Gottes zu haben ist ein außerordentlich tiefer Ausdruck dafür, von Gott angenommen und aufgenommen zu sein. Jesus selbst hat dies seinen Jüngern im Bild eines gütigen Vaters oder zuverlässigen Freundes nahegebracht (Lk 11,5–13). Ein wichtiger Aspekt dessen, was im Neuen Testament als Heil bezeichnet wird und auf ganz unterschiedliche Weise veranschaulicht wird, ist die Gewissheit, in ein neues, vertrauensvolles Verhältnis zu Gott gestellt zu sein. 2. Heiligung – ganz Gott gehören Das Stichwort Heiligung führt uns zunächst in den Bereich kultischen Denkens. Heilig ist Gott und alles, was zu Gott gehört: der Tempel, die Priester und die kultischen Geräte. Nicht ihre materielle Beschaffenheit ist entscheidend, sondern dass sie zu Gott gehören. Und so kann schon im Alten Testament der Begriff heilig über den kultischen Bereich hinaus zur Feststellung verwendet werden, dass Israel ganz Gott gehört. »Ihr sollt mir ein heiliges Volk sein«, heißt es in der Gottesbegegnung am Sinai (Ex 19,6), und das sog. Heiligkeitsgesetz steht unter dem Motto: »Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig« (Lev 19,2). An beiden Stellen ist aber klar, dass die Heiligkeit des Volkes nicht das Ergebnis des Mühens des Volkes ist. Was das Volk tun soll, ist Konse-

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quenz dessen, was Gott grundlegend für es getan hat: »Ich der HERR, der euch heiligt, der euch aus Ägypten geführt hat, um euer Gott zu sein« (Lev 22,32f; vgl. 21,8). Oder mit anderen Worten, die sehr schön zeigen, was heiligen bedeutet: »Darum sollt ihr mir heilig sein; denn ich, der HERR, bin heilig, ich habe euch abgesondert von den Völkern, dass ihr mein wäret« (Lev 20,26). Grundsätzlich gilt das auch für die Aussagen im Neuen Testament. Heiligung ist zuallererst nicht Tat des Menschen, sondern Handeln Gottes. Das zeigt sehr schön die Anrede des Paulus an die Christen in Korinth: »an die Geheiligten in Christus Jesus, die berufenen Heiligen« (1Kor 1,2). Die Christen in Korinth werden nicht Heilige genannt, weil sie ein vorbildliches christliches Leben geführt haben, sondern weil sie durch Gottes Handeln in Jesus Christus zu Gott gehören. In diesem Sinne sagt Paulus dann 1Kor 1,30, dass »Christus für uns zur Heiligung wurde«. Zu Christus zu gehören bedeutet, zu Gott zu gehören, und das bedeutet Heil und Leben. Grundsätzlich beschreibt Heiligung denselben Vorgang wie Rechtfertigung. Anstelle einer Vorstellung, die aus dem Bereich des Rechts und des sozialen Miteinanders stammt, tritt ein Begriff, der aus dem Bereich kultischen Denkens kommt. Damit ist aber auch ein Unterschied in der Akzentsetzung verbunden. Stärker als mit dem Begriff der Rechtfertigung ist mit dem der Heiligung das Ineinander von Sein und Sollen verbunden. Wie schon durch Lev 19 vorgegeben, umfasst Heiligung auch die Verpflichtung, die sich aus der engen Gemeinschaft mit Gott ergibt. Heiligung beschreibt ein Leben, das im Einklang mit dem Wesen und Willen Gottes gelebt wird. Adel verpflichtet. »Das ist der Wille Gottes, eure Heiligung«, schreibt Paulus in 1Thess 4,3 und verbindet damit eine Reihe sehr praktischer Anweisungen für richtiges Verhalten im persönlichen Leben. In Röm 6 erklärt Paulus zunächst am Geschehen der Taufe, dass eine neue Existenz ein neues Verhalten mit sich bringt. Das aber gilt es auch konkret zu leben; in der Sprache des Paulus: »Stellt eure Glieder in den Dienst der Gerechtigkeit zur Heiligung« (V. 19 ZB)! Durch das, was durch Glaube und Taufe geschehen ist, sind dafür alle Voraussetzungen gegeben: »Jetzt aber, da ihr aus der Macht der Sünde befreit und zu Sklaven Gottes geworden seid, habt ihr eine Frucht, die zu eurer Heiligung führt und das ewige Leben bringt« (V. 22 ZB). Das Stichwort Heiligung beschreibt also das, was durch Christus an Heil gewirkt und geschenkt wird, als neue Existenz, die ganz zu Gott gehört und deshalb fähig und verpflichtet ist, im Einklang mit Gottes Wesen und Willen zu leben. Das kann im Neuen Testament auch mit anderen Vorstellungen und Bildern ausgedrückt werden.

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Eine davon ist das Bild von der neuen Existenz als neues Gewand, so in Gal 3,27: »Ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen«. Das bewirkt nicht nur eine radikale Veränderung der eigenen Existenz, sondern auch im Miteinander in der Gemeinde (V. 28). Aber in Röm 13,14 kann Paulus mit demselben Bild die Mahnung aussprechen, sich nicht Ausschweifungen hinzugeben, »sondern zieht an den Herrn Jesus Christus und sorgt für den Leib nicht so, dass ihr den Begierden verfallt«. Dieses Ineinander von Indikativ und Imperativ findet sich auch in anderen Briefen. Kol 3,9f begründet die Mahnung zu einem menschenfreundlichen Verhalten mit dem Hinweis: »Denn ihr habt den alten Menschen mit seinen Werken ausgezogen und den neuen angezogen, der erneuert wird zur Erkenntnis nach dem Ebenbild dessen, der ihn geschaffen hat«. Und dem folgt dann als Konsequenz die Aufforderung: »So zieht nun an als die Auserwählten Gottes, als die Heiligen und Geliebten, herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut, Geduld …« (V. 12). Dagegen betont der Epheserbrief stärker die Mahnung: »Erneuert euch aber in eurem Geist und Sinn und zieht den neuen Menschen an, der nach Gott geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit (4,23f). Die heilvolle neue Existenz ist von Gott geschaffen (vgl. auch 2,10 »wir sind sein Werk, geschaffen in Christus Jesus zu guten Werken, … dass wir in ihnen wandeln sollen). Aber sie immer wieder neu für sich zu beanspruchen und zu leben, das ist Aufgabe des Menschen (vgl. 1Petr 1,16 mit Zitat von Lev 19,2). Im Grund gehören in diesen Zusammenhang alle Aussagen des Neuen Testaments, die Christsein als neue Existenz und Neuschöpfung beschreiben, die in sich auch die Befähigung und Verpflichtung zu neuem Handeln tragen. So findet sich in Röm 8,2–13 eine lebendige Schilderung der befreienden Gegenwart des Geistes im Leben der Glaubenden verbunden mit der klaren Mahnung, »durch den Geist die [verkehrten] Taten des Leibes« zu töten (V. 13). Sehr schön beschreibt auch Jak 1,18 das Ineinander von neuer Existenz und Verantwortung als Repräsentanten der neuen Schöpfung Gottes: »Er hat uns geboren nach seinem Willen durch das Wort der Wahrheit, damit wir die Erstlinge seiner Geschöpfe seien«. Sehr wichtig ist, dass dieser Aspekt des Heils eine ganz starke soziale Komponente hat. Für das Begriffsfeld Heiligung ist das schon im Grundtext von Lev 19 angelegt. Dessen Aufforderung, als Geheiligte Gottes heilig zu leben, wie es seinem Wesen entspricht, enthält nicht nur das Gebot der Liebe zum Nächsten und zum Fremden, sondern auch eine Fülle von ganz praktischen Vorschriften im Blick auf eine soziale und behindertengerechten Gemeinschaft. Nicht nur die einzelnen Christen

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sind heilig, sie sind das gemeinsam. Nicht von ungefähr erscheint die Anrede Heilige nur im Plural. Die Gemeinde als ganze ist Heiligtum und Wohnung Gottes (1Kor 3,16f; Eph 2,19–21; 1Petr 2,9f). So hat auch das Anziehen Christi bzw. des neuen Menschen tiefgreifende Konsequenzen für das Miteinander in der Gemeinde und das gegenseitige Verhalten (Gal 3,27f; Kol 3,12–16). Heiligung bedeutet gelebte Liebe und ist daher immer auch soziale Heiligung! Heil, wie es durch das Stichwort Heiligung beschrieben wird, bedeutet also, hineingenommen zu sein in ein Leben mit Gott, mit einer neuen Existenz beschenkt zu sein, zu einer von der Liebe bestimmten menschlichen Gemeinschaft zu gehören, zu neuem Handeln befähigt zu werden und sich zugleich mit der Verantwortung betraut zu wissen, die daraus erwächst. 3. Erlösung – alles wird gut Das deutsche Wort Erlösung umfasst ein sehr viel umfassenderes Bedeutungsspektrum als sein griechisches Äquivalent apolytro-sis. Der Begriff kann für das Heil der Menschen insgesamt stehen, so etwa wenn der zweite Teil des Heidelberger Katechismus mit dem Satz überschrieben ist: »Von des Menschen Erlösung«. Im Neuen Testament bedeutet dagegen Erlösung/apolytro-sis zunächst sehr präzise die Loslösung und Befreiung der Menschheit aus ihrer Schuldverfallenheit durch den Tod Jesu (vgl. Röm 3,24; Eph 1,7; Hebr 9,15). Aber es gibt auch Stellen, an denen das Wort ganz umfassend die Befrei­ ung von der Herrschaft der Sünde und des Todes beschreibt. So zweifellos in unserem Motto-Wort in 1Kor 1,30. Für die Glaubenden ist die Erlösung schon gegenwärtige Realität (Kol 1,14), steht aber als alles bestimmende Wirklichkeit noch aus: Wenn das Ende kommt, naht auch die Erlösung (Lk 21,28), und die Christen sind durch den Heiligen Geist versiegelt und bewahrt für den Tag der Erlösung (Eph 4,30; vgl. 1,13f). Ein besonderes Signal sendet dabei Röm 8,23 aus, wo Paulus betont, dass auch die Christen, wie die ganze Schöpfung, noch »seufzen« und warten »auf die Kindschaft«. Das ist merkwürdig, da Paulus ja im selben Kapitel betont hat: »diejenigen, die der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder« (8,16). Aber er macht sofort klar, wie er das versteht: Es geht um die »Erlösung des Leibes«, die Befreiung unsrer Existenz zur völligen Gemeinschaft mit Gott. Das aber verbindet sich für ihn mit der Hoffnung, dass auch die Schöpfung frei werden wird »von der Knechtschaft der Vergänglichkeit zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes« (8,20). Der Begriff Erlösung wird so zum Kennwort für den Aspekt des Heils, dass Gott alle Widersprüche und Begrenzungen unserer Existenz aufheben wird. Darüber aber wird dann in Kap. VII weiter zu reden sein.

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Christus und Gottes Handeln durch ihn ist Grund und Kraft für Rechtfertigung, Heiligung und Erlösung, d. h. für ein Leben in der erneuerten Gemeinschaft mit Gott und einem geheilten Verhältnis zu anderen und zu sich selbst. Das heißt nach neutestamentlichem Verständnis freilich auch: An der Stellung zu ihm entscheidet sich, ob wir vor Gott bestehen können oder nicht. Doch was Heil bedeutet, erfahren Menschen schon jetzt in der Gemeinschaft der Gemeinde und in einem Leben in der Liebe. Davon handeln die nächsten beiden Kapitel. V. Jesus Christus – Grund und Hirte seiner Gemeinde Jesus lebte und wirkte nicht allein. Einhellig berichten die Evangelien, dass die erste Aktion seines öffentlichen Wirkens die Berufung eines kleinen Kreises von Schülern war, die mit ihm durch Galiläa zogen und ihn bei seinem Lehren und Tun begleiteten. Namentlich werden zunächst nur Männer genannt, aber es gibt genügend Hinweise dafür, dass zu dieser Gemeinschaft auch Frauen gehörten (vgl. Mk 15,40f; Lk 8,1–3). Damit wird für alles Weitere ein klares Vorzeichen gesetzt: Christsein wird in Gemeinschaft gelebt, in der Gemeinschaft mit Jesus Christus, aber eben auch in Gemeinschaft mit anderen, die dem Ruf Jesu gefolgt sind. Das zeigen alle Schriften des Neuen Testaments: Vom Matthäusevangelium an bis zur Offenbarung des Johannes werden Christen immer als Gemeinschaft angesprochen. Auch ein Brief an einen einzelnen Christen wie Philemon ist eingebettet in Grüße an seine Hausgemeinde. Und die Schreiben an einzelne Beauftragte wie die Briefe an Timotheus und Titus oder der 3. Johannesbrief sprechen diese auf ihre Aufgabe in den Gemeinden an. Es gibt zwar später in der Christenheit die hochgeschätzte Form des Einsiedlers; aber sie hat keinen Anhalt an dem, was im Neuen Testament Christsein ausmacht. Angesichts der Tatsache, dass Jesus mit dem unmittelbaren Anbrechen des Reiches Gottes rechnet, ist die Frage, warum er Menschen in seine Nachfolge und zum gemeinsamen Leben mit ihm gerufen hat, gar nicht einfach zu beantworten (s. o. S. 57 f.). Aber sein Auftrag war nicht, ein einsamer Rufer in der Wüste zu sein. Sein Ruf in die Nachfolge sollte beispielhaft deutlich machen, was es bedeutet, sich ganz auf das Kommen des Reiches Gottes einzustellen. Er zeigt den Preis der Nachfolge, aber auch das, was sie an neuer Gemeinschaft schenkt. Die Aussendung der Jünger macht dann klar, dass zur Nachfolge Jesus immer Sammlung und Sendung gehört (Mk 6,7–13//Mt 10,5–14//Lk 9,1–6;10,1–12). Mit der Erwählung der Zwölf (Mk 3,13–19//Mt10,1–4//Lk 6,12–16) hat Jesus wohl auch signalisiert, dass er mit einer Wiederherstellung ganz

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Israels rechnete (vgl. Mt 19,28). Obwohl diese Gruppe möglicherweise nach Ostern für kurze Zeit eine gewisse Leitungsfunktion gehabt hat (Apg  6,2), wurde mit ihr keine hierarchisch strukturierte Kirchenordnung installiert. Die ganze Überlieferung über das Leben im Kreis der Jünger und Jüngerinnen Jesu ist sogar ausgesprochen antihierarchisch ausgerichtet (vgl. Mk 9,33–37//Mt 18,1–5//Lk 9,46–48; Mk 10,35–45// Mt 20,20–28). Das wird gerade in den beiden Evangelien am stärksten betont, in denen die Berichte über das Leben im Kreis der Jünger schon stark im Blick auf die nachösterliche Situation gestaltet sind, nämlich im Matthäus- und im Johannesevangelium. Nach dem Matthäusevangelium soll es keine Rangordnung und keinen Anspruch auf Ehrentitel geben (Mt 23,8–12). Stattdessen ist gegenseitiges Dienen angesagt, und das ist auch im Johannesevangelium das Kennzeichen einer Gemeinschaft von Freunden (Joh 13,13–17). Dass gerade in diesen beiden Evangelien von der Beauftragung des Petrus mit einer hervorgehobenen Führungsrolle berichtet wird, dürfte darum kaum ein besonderes, monarchisch verstandenes Petrusamt begründen, sondern verweist auf die grundlegende Bedeutung von Bekenntnis und Weg des Apostels (vgl. Mt 16,16–19; Joh 21,15–19). Die ersten Gemeinden Die Erfahrung der Erscheinungen des Auferstandenen markiert einen völligen Neuanfang für die Gemeinschaft der Jesusleute. Sie begreifen: Jesu Tod war nicht das Ende ihres Lebens mit ihm und all der Erwartungen, die sie auf ihn setzten. Der Weg mit ihm ging auf neue Weise weiter, und zwar – und das war ja keineswegs selbstverständlich – als Gemeinschaft von Brüdern und Schwestern, die mit ihm verbunden bleiben. Die alten Gefährten fanden sich wieder zusammen und begannen, Jesus Christus als Messias zu verkünden und andere einzuladen, sich ihm und ihrer Gemeinschaft anzuschließen. Die Pfingstgeschichte ist die zusammenfassende Darstellung dieses Durchbruchs (Apg 2). Es scheinen sich zwei erste Zentren gebildet zu haben, nämlich die sog. Urgemeinde in Jerusalem und Jesusgruppen in Galiläa. Von der Urgemeinde in Jerusalem haben wir einen idealisierenden Bericht in der Apostelgeschichte. Was über sie berichtet wird, mag keine exakte historische Beschreibung sein, zeigt aber, welche Wesensmerkmale man zur Zeit des Lukas als grundlegend ansah: Lehre der Apostel, Brotbrechen (Herrenmahl), Gemeinschaft und gemeinsames Gebet (Apg 2,42–47). Die Berichte über die Gütergemeinschaft der ersten Christen (Apg 4,32–37) zeigen das Ideal völliger Solidarität (historisch ist dieses Experiment durchaus denkbar, es führte aber zur Verarmung, weil man

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nicht die Produktionsmittel vergesellschaftete, sondern das Kapital verbrauchte). Über die Gemeinden in Galiläa wissen wir nichts; aber Rückschlüsse aus Mt 10 und ähnlichen Texten lassen vermuten, dass es dort ein Netzwerk von örtlichen Gruppen von Anhängerinnen und Anhängern Jesu gab, zu denen auch missionierende Wandercharismatiker gehörten. Was von ihrem Wirken berichtet wird, ist nie zum Normalfall geworden, aber es hat im Zeugnis des Neuen Testaments immer wieder für kreative Unruhe gesorgt, die auch später in wichtigen Erneuerungsbewegungen aufgebrochen ist (so etwa bei den Waldensern oder bei Franz von Assisi). Gemeinde und Gemeindeleitung bei Paulus Als Paulus zu den Jesusleuten stößt, findet er schon eine ganze Reihe von Gemeinden vor, auch außerhalb von Judäa und Galiläa, z. B. in Damaskus und später in Antiochien, dem Zentrum der Mission unter Griechisch sprechenden Menschen. Auch er gründet überall, wo seine Botschaft Glauben findet, Gemeinden. Es war für ihn eine nirgends in Frage gestellte Selbstverständlichkeit, Menschen, die durch seine Verkündigung zum Glauben kamen, zu Gemeinden zusammenzuführen. In vielen Fällen werden das zunächst kleine Hausgemeinden gewesen sein, die sich aber an manchen Orten zu größeren Gemeinden entwickelten. Im Neuen Testament sind seine Briefe Hauptquelle für eine Lehre von der Kirche, wobei sich in der Geschichte der Auslegung und der systematischen Auswertung gerade zu diesem Thema das Zeugnis der Deuteropaulinen sehr stark mit dem der originalen Paulusbriefe vermischt hat. So leistet die Sammlung der Paulusbriefe einen mehrfachen Beitrag zu dem Bild von Kirche im Neuen Testament: 1) Die Briefe zeichnen ein anschauliches Bild von lebendigen Gemeinden (vor allem von denen in Korinth, Philippi und Rom), die mit ihren positiven und negativen Seiten motivierende und warnende Impulse aussenden. 2) Durch seine Darstellung der Gemeinde als Organismus und Leib Christi gibt Paulus eine theologische Begründung für die grundlegende Verbindung der Gemeinde mit Christus und ihrer Glieder untereinander (1Kor 12). Kolosser- und Epheserbrief liefern dann eine wichtige und wirkungsgeschichtlich fruchtbare Modifikation: Christus ist das Haupt des Leibes, das alles bestimmt, die Gemeinde der Leib mit vielen Gliedern (Kol 1,18; Eph 1,22f). Im Johannesevangelium findet sich eine vergleichbare Aussage in dem Bild von Jesus als Weinstock und den Jüngern als Reben (Joh 15,1–8). Diesem Bild fehlt aber die horizontale Dimension der gegenseitigen Verbindung der Glieder der Gemeinde.

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3) Die paulinischen Schriften geben eine sehr differenzierte Antwort auf die Frage nach Autorität und Leitungskompetenz in der Kirche. Paulus selbst versucht unablässig Autorität zu begründen – seine eigene und die derer, die sich für die Gemeinde einsetzen –, aber er formalisiert sie nicht. Die Pastoralbriefe bringen dagegen eine stark institutionalisierte Form von Autorität ins Spiel. Dies scheint eine notwendige Spannung in der Kirche zu sein, deren Gewichtung immer wieder neu ausbalanciert werden muss. Gemeinsame Verantwortung und die Entstehung von Ämtern Eindrücklich ist, wie ganz verschiedene Schriften grundsätzlich von einer Gesamtverantwortung aller in der Gemeinde für die Situation und die Entscheidungen in der Gemeinde ausgehen. Mehrere Worte der Jesustradition wenden sich ausdrücklich gegen die Etablierung von Rangordnungen und Herrschaftsstrukturen in den Gemeinden (Mk 9,33–37// Mt 18,1–5; Mk 10,35–45//Mt 20,20–28). Mt 18,15–20 entwickelt ein Modell von Mediation und Streitschlichtung in der Gemeinde, dessen letzte Instanz nicht ein Gemeindeleiter ist, sondern die Versammlung der ganzen Gemeinde. Mt 23,8–10 verbietet ausdrücklich die Verwendung von Ehrentiteln in der Gemeinde, die davon ablenken könnten, dass allein Christus Herr und Meister seiner Gemeinde ist. Auch Paulus wendet sich bei der Klärung der vielfältigen Probleme in den Gemeinden nie an besondere Beauftragte mit dem Auftrag, für Ord­nung zu sorgen. Es ist immer die ganze Gemeinde, die er anspricht und in Verantwortung nimmt. Er kündigt zwar gelegentlich an, dass er selbst kommen und – wenn nötig – die Dinge zurechtbringen werde. Aber das ist für ihn eine Notlösung, die er eigentlich vermeiden möchte (vgl. 2Kor  1,24). Auch seine Abgesandten, Timotheus und Titus, sind keine Amtsträger, die mit entsprechenden Vollmachten ausgestattet die Gemeinden zur Räson bringen sollen, sondern Vermittler und Impulsgeber in seinem Auftrag. Das wird dann in den Pastoralbriefen ganz anders gesehen. Eine interessante Parallele bieten dazu die Sendschreiben der Offenbarung. Auch hier gibt es Missstände, die beseitigt werden müssen, und Kurskorrekturen, die möglichst bald vorgenommen werden müssen. Aber auch hier werden nicht einzelne Amtsträger und Gemeindeleiter angesprochen, sondern immer die ganze Gemeinde. Es wird zwar von manchen die These vertreten, mit dem »Engel der Gemeinde«, der am Beginn jedes Schreibens genannt wird, sei der örtliche Bischof gemeint. Aber im eigentlichen Text wird eindeutig die ganze Gemeinde aufgefordert, umzukehren und die nötigen Schritte zur Veränderung zu tun.

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Dennoch bilden sich mit einer gewissen Notwendigkeit nach und nach Leitungs- und Dienstämter in der Kirche aus. Dabei ist besonders interessant, die Entwicklung des Verständnisses der Charismen zu verfolgen. Hatte Paulus in 1Kor 12 unter diesem Begriff eine ganze Fülle von unterschiedlichen Aktivitäten aufgelistet, so konzentriert er sich in Röm 12,3–8 auf einige für das gemeinsame Leben in der Gemeinde wichtige Funktionen. In Eph 4,7–12 finden sich dann unter dem Stichwort der »Gnade, die nach dem Maß der Gabe Christi« jedem anvertraut ist, eine Aufzählung von fünf klar umrissenen Ämtern, die »den Heiligen«, d. h. der christlichen Gemeinde, gegeben sind, um sie für den gemeinsamen Dienst zuzurüsten und den Leib Christi aufzubauen. Auch 1Petr 4,10f spricht davon, dass die Christen einander dienen sollen, ein jeder und eine jede mit der Gabe (charisma), die er oder sie empfangen hat. So sind sie Verwalter der vielfältigen Gnade Gottes. Diese vielfältigen Gaben werden aber nur noch zwei Grundfunktionen der Gemeindearbeit zugeordnet, nämlich Verkündigung und Dienst. Es findet also eine deutliche Konzentration auf bestimmte Aufgaben und Ämter statt. Offensichtlich wird es gegen Ende des ersten Jahrhunderts immer wichtiger, etablierte Leitungsämter in den Gemeinden zu haben. Die Apostelgeschichte, die Pastoralbriefe und der 1. Petrusbrief setzen ein Leitungsteam aus Ältesten voraus und verankern seine Entstehung schon in der apostolischen Zeit (Apg 11,30; 14,23; 15,2; 20,17; 1Tim 4,14; 5,17; 1Petr 5,1). Die Pastoralbriefe verbinden es mit dem Dienst von Bischöfen und Diakonen, schaffen aber noch keine klare hierarchische Ordnung zwischen den drei Ämtern (1Tim 3,1–13; Tit 1,5–9). Bischöfe und Diakone werden auch schon von Paulus in Phil 1,1 erwähnt; ihre ursprüngliche Funktion ist aber unbekannt. In den Pastoralbriefen sind sie vor allem für die Weitergabe der rechten Lehre und die Bekämpfung von Irrlehre zuständig. Eine offene Frage ist, wie diese Entwicklung zu bewerten ist. Hat die Kirche nach einer sorglosen Kindheit unter der väterlichen Aufsicht der Apostel und etwas wilden Jugendjahren nun ihre reife Gestalt gefunden, die dann nachneutestamentlich durch die zentrale Stellung des Bischofsamtes zu ihrer Vollendung kommt? Oder ist das freie Spiel des Geistes und seiner Gaben mehr und mehr durch die starren Regeln einer Amtskirche eingeengt und ausgelöscht worden? Oder zeigt sich in der Art dieser Entwicklung, dass Kirche und Gemeinde auf die Dauer nicht ohne eine feste Leitungsstruktur auskommen kann, dass aber der Grundsatz der Gesamtverantwortung der Gemeinde, wie er im größten Teil der neutestamentlichen Schriften begegnet, nicht vergessen und verdrängt werden darf? Es liegt nahe, sich für die dritte dieser Alternativen zu entscheiden. Eph 4,11f bietet ein schönes Beispiel für die Konzeption

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eines gegliederten Amtes und seines Einsatzes für eine verantwortungsbewusste Gemeinde. Ein ausführliches Pflichtenheft für die Aufgaben der Gemeindeleitung findet sich nirgends im Neuen Testament, auch nicht in den Pastoralbriefen (s. o. S. 211). Und die Aufgabe, die in der heutigen ökumenischen Diskussion die wichtigste Rolle spielt, nämlich die Frage, wer beim Herrenmahl den Vorsitz führt, wird nie erwähnt. Sie scheint nirgends zum Problem geworden zu sein. Überhaupt spielt das Mahl im Neuen Testament nicht die zentrale Rolle, die es heute in vielen kirchlichen Traditionen einnimmt. Paulus kommt nur einmal darauf zu sprechen (1Kor 11,17–34). Er behandelt dort das Thema ausführlich, aber nur weil es in Korinth damit Probleme gab. Von sich aus greift er es nie auf. Und auf das Fehlen des Mahls in der Aufzählung der Wesensmerkmale der Einheit in Eph 4,4–6 haben wir schon hingewiesen. Auch der Wiederholungsbefehl beim letzten Mahl Jesu findet sich nur in Lk 22,19; 1Kor 11,24, nicht aber in Mk 14,22–25// Mt 26,26–29! In der Apostelgeschichte scheint das »Brotbrechen« fester Bestandteil des Gottesdienstes zu sein (2,42; 20,7). Johannes jedoch erwähnt zwar die letzte Mahlzeit Jesu mit seinen Jüngern, berichtet aber nur von der Fußwaschung (Joh 13), obwohl er in 6,51–58 auf das Essen der Elemente des Mahls anzuspielen scheint. Wird seine Bedeutung heute überbewertet? Vom Neuen Testament her lässt sich sagen, dass das Mahl des Herrn mit die intensivste Möglichkeit ist, die Gegenwart Jesu Christi und seiner Lebenshingabe zu erfahren. Es erscheint aber nicht als das alles bestimmende Zentrum des Lebens der Gemeinden. Das missionarische Engagement der Gemeinden Eine andere »Leerstelle« in den Briefen des Neuen Testaments besteht darin, dass in ihnen so gut wie nie zum Einsatz in der missionarischen Verkündigung oder zu anderen Formen der Verbreitung des Evangeliums aufgerufen wird. Zweifellos waren die Möglichkeiten dazu in neutestamentlicher Zeit sehr beschränkt, aber das Fehlen solcher Aufforderungen ist doch eigenartig. Dabei kommt das Thema in den synoptischen Evangelien an zwei sehr prominenten Stellen vor. Die eine ist die Überlieferung von der Aussendung der Jünger durch Jesus während dessen irdischer Wirksamkeit (Mk 6,7–13//Mt 10,5–14//Lk 9,1–6;10,1–12). Die Funktion dieser Aktion im Rahmen des Wirkens Jesu ist nicht ganz klar (s. o. S. 58). In der Zusammenstellung der entsprechenden Worte Jesu, insbesondere in Mt 10, dürfte sich schon die Situation in Teilen der nachösterlichen Gemeinden widerspiegeln, unter denen sog. Wandercharismatiker wirkten, die ver-

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suchten, die Mission Jesu fortzuführen. In den Briefen zeigt sich davon so gut wie nichts, es sei denn, man sieht in den Gegnern des Paulus im 2. Korintherbrief solche Wandercharismatiker. Die andere Stelle ist die Überlieferung von den Erscheinungen des auferstandenen Christus nach Ostern. In allen Evangelien wird von einer ausdrücklichen Sendung der Jünger durch den auferstandenen Herrn berichtet (im Markusevangelium ist der Bericht im sekundären Schluss in Mk 16,15–18 nachgetragen). Der Inhalt des Auftrags ist jeweils sehr spezifisch dem Profil des Wirkens Jesu in dem betreffenden Evangelium angepasst, aber– anders als in den Aussendungsreden – geht es inhaltlich nicht einfach um die Fortsetzung des Wirkens Jesu. Nach Lk 24,47f werden die Jünger Zeugen dafür sein, dass in Christi Namen »allen Völkern Umkehr verkündigt werden wird zur Vergebung der Sünden«. Auch nach Joh 20,21 setzen die Jünger die Sendung Jesu fort (»Wie mich mein Vater gesandt hat, so sende ich euch«). Was das bedeutet, wird dann an der Bevollmächtigung, Sünden zu vergeben oder zu behalten, konkretisiert (20,23). Am eindrücklichsten ist aber zweifellos der Missionsbefehl in Mt 28,19f, der dazu auffordert, zu den »Völkern« zu gehen und sie in die Nachfolge Jesu zu rufen, und zwar durch die Taufe auf den Namen des dreieinigen Gottes und die Weitergabe der Lehre und Gebote Jesu. Aber keine dieser Beauftragungen zu missionarischer Wirksamkeit durch den Auferstandenen findet sich in den Briefen wieder. War man – wie etwa in der Reformationszeit – der Meinung, dies sei die spezielle Aufgabe der Apostel gewesen und nicht die der Gemeinden? Auch in den Paulusbriefen scheint die missionarische Wirksamkeit allein die Sache des Apostels und seiner unmittelbaren Mitarbeiter zu sein. Doch umgekehrt gewinnt man am Beginn des Römerbriefs den Eindruck, Paulus wolle durch die Schilderung seiner inneren Verpflichtung zur Weitergabe des Evangeliums auch die Christen in Rom dazu gewinnen, sich an dieser Aufgabe zu beteiligen. Dabei ist zu beachten, dass für Paulus sein missionarisches Wirken nicht nur in der Verkündigung besteht, sondern auch darin, dass er mit anderen Menschen zusammenlebt und Freude und Leid mit ihnen teilt (1Thess 2,7f). Das aber scheint die Art und Weise gewesen zu sein, wie auch die Gemeinden das Evangelium an andere weitergaben. Sie vertrauten darauf, dass der Lebensstil der Christen zum Anlass wird, dass Menschen auf ihre Botschaft aufmerksam werden und nach ihr fragen. Im 1. Petrusbrief wird diese »Doppelstrategie« sehr schön formuliert. Gott hat die Gemeinde als sein Volk berufen, »damit ihr die großen Taten dessen verkündet, der euch aus der Finsternis in sein wunderbares Licht gerufen hat« (1Petr 2,9 EÜ). Gottes Heilshandeln (seine »großen Taten«) und die

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persönliche Erfahrung der Gemeinde gehören in der missionarischen Verkündigung eng zusammen. Das aber wird nicht nur in der Predigt, sondern auch im persönlichen Gespräch weitergegeben. Deshalb wird gemahnt: »Seid stets bereit, jedem Rede und Antwort zu stehen, der von euch Rechenschaft fordert über die Hoffnung, die euch erfüllt« (1Petr 3,15 EÜ). Das soll in geeigneter Form geschehen: »Antwortet aber bescheiden und ehrfürchtig, denn ihr habt ein reines Gewissen, damit jene, die euren rechtschaffenen Lebenswandel in Christus in schlechten Ruf bringen, wegen ihrer Verleumdungen beschämt werden« (3,16 EÜ). Die hier vorausgesetzte Situation hat ihren Grund: Gemeinde Jesu Christi ist anders  – anders, als »man« ist; das bringt sie in Verruf, aber es erregt auch Aufsehen und führt zu Nachfragen. Der katholische Neutestamentler Gerhard Lohfink hat dieses Phänomen mit dem Schlagwort »Gemeinde als Kontrastgesellschaft« beschrieben. Er geht dabei von Worten Jesu aus, in denen dieser das Machtstreben und die Unterdrückungstendenzen in der menschlichen Gesellschaft mit der Aussage konfrontiert: »Aber so ist es bei euch nicht« (Mk 10,43; die Matthäusfassung ist vorsichtiger: »Aber so soll es bei euch nicht sein«; Mt 20,26). In der Gemeinschaft der Jünger und Jüngerinnen Jesu wird das Streben, erste zu sein und über andere zu herrschen, verwandelt in das Bemühen, möglichst für andere da zu sein und einander zu helfen und zu dienen. Dieser alternative Lebensstil einer Kultur des Sich-umeinander-Küm­ merns wird immer wieder im Neuen Testament propagiert und gehört zu den Gemeinsamkeiten seiner Schriften (vgl. Apg 2,42–47; Phil 2,1–4; 1Petr 4,8–11). Von ihm wird erwartet, dass Menschen außerhalb der Gemeinde aufmerksam werden und nach dem Grund für solches Verhalten fragen. Selbst im Johannesevangelium, in dem die Gemeinschaft der Jünger zu entschiedener Distanz zur »Welt« aufgefordert wird, wird die Hoffnung formuliert, dass die Welt an dem Miteinander und der Einheit der Gemeinde die Liebe Gottes erkennt und zum Glauben kommt (Joh 17,20–23). Besonders eindrücklich sind diese Gedanken in Röm 12,1f formuliert: »Stellt euch nicht dieser Welt gleich« bzw. »Fügt euch nicht ins Schema dieser Welt« (ZB) heißt die zunächst eher negativ klingende Mahnung des Apostels. Aber diese Aufforderung zu einem alternativen Lebensstil wird nicht wie in manchen pietistischen Milieus mit einer Aufzählung dessen erläutert, was man alles nicht tun darf, sondern mit Hinweisen darauf, wie man sich durch positives Verhalten und vor allem durch ein Leben in der Liebe von anderen unterscheidet. Der Versuch, das Böse mit Gutem zu überwinden (12,21) und sein Leben von der Nächstenliebe be-

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stimmen zu lassen (13,8–12), ist kennzeichnend für diesen alternativen Lebensstil, der in der Umgebung nicht unbeachtet bleiben wird. Die jungen Gemeinden verstehen sich als neue Familie (Mk 10,29f// Mt 19,29//Lk 18,29f). In ihnen sind Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft und sozialer Stellung willkommen, auch wenn bald wieder die Gefahr besteht, dass Reichtum Einfluss und Wertschätzung begründet (vgl. 1Kor 1,26–29 mit Jak 2,1–9). Wie bei vielen jungen Bewegungen dürfte die soziale Kontrolle relativ engmaschig gewesen sein. Aber das wurde dadurch ausgeglichen, dass diese Gemeinschaften durch den Ernst und die Konsequenz ihres Engagements beeindruckten. So finden sich in den Gemeindeversammlungen auch Fremde ein (sog. »Ungläubige oder Unkundige«), die neugierig erkunden, was diese Leute bewegt, und für die deshalb das, was geschieht, verständlich sein soll (1Kor 14,20–25). Mit am prägnantesten wird diese Form eines missionarischen und diakonischen Wirkens in die Umgebung hinein in einem Wort Jesu in der Bergpredigt beschrieben: »Ihr seid das Salz der Erde«, heißt es da, und »Ihr seid das Licht der Welt« (Mt 5,13–16). Salz und Licht sind anders als ihre Umgebung und müssen anders sein, wenn sie in ihre Umgebung hineinwirken sollen. Aber sie sind nicht anders durch ängstliche Abgrenzung, sondern durch die Energie, die in ihnen liegt. Christen sind anders als ihre Umgebung und sollen anders sein. Sie sind anders, weil sie von der Energie der Liebe erfüllt sind. Sie ist zu bewahren, aber nicht indem man sie ängstlich versteckt oder verschließt, sondern indem man sie lebt. Und wie bei Salz und Licht wird das nicht ohne Wirkung bleiben: »So soll euer Licht vor den Menschen leuchten, damit sie eure guten Taten sehen und euren Vater im Himmel preisen« (V. 16 EÜ). Nicht die guten Taten werden gelobt, sondern Gott, der Menschen befähigt, sie zu tun! Matthäus wird am Ende seines Evangeliums berichten, wie das positive Urteil Gottes im letzten Gericht gerade denen gilt, die anderen geholfen haben – ohne berechnende Hintergedanken, aus keinem anderen Grund, als dass sie Hilfe brauchten. Aber wo das geschieht, öffnet sich auch der Blick für Gott, von dem alle Liebe und Barmherzigkeit kommt, und er wird geehrt und gepriesen. Kirche oder Reich Gottes? Am Schluss dieses Abschnittes muss noch auf eine grundsätzliche Frage hingewiesen werden. In den drei ersten Evangelien sind die Berichte von Jesu Verkündigung und Wirken ganz davon bestimmt, dass er das unmittelbare Hereinbrechen der Herrschaft Gottes und das Kommen seines Reiches erwartet. Es gibt zwar auch Worte, in denen die Existenz einer weiter bestehenden Gemeinschaft von Jesusanhängern an-

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gedeutet ist. Aber in ihrer jetzigen Formulierung entstammen sie wohl meist der Gemeindeüberlieferung (besonders bei Matthäus: 16,16–19; 18,15–18). Dagegen spielt in den Briefen das Motiv des kommenden Reiches Gottes eine ganz untergeordnete Rolle. Nur in der Apostelgeschichte nimmt die Verkündigung des Reiches Gottes eine prominente Stellung ein (s. o. S. 256). Wie verhalten sich Reich Gottes und Kirche zueinander? Diese Spannung zwischen der Reich-Gottes-Erwartung Jesu und dem Entstehen der christlichen Gemeinde hat der katholische Theologe Alfred Loisy in einem oft zitierten Satz charakterisiert: »Jesus hat das Reich Gottes verkündet, gekommen aber ist die Kirche« (L’évangile 153). Dieser Satz wird, wenn er zitiert wird, meist als bittere Ironie verstanden. In seinem ursprünglichen Kontext war er aber nicht so gemeint. Zwar etwas provokativ formuliert will er nur sagen, dass Jesus das Reich Gottes verkündet hat und als Folge der Verkündigung des Reiches Gottes die Kirche entstand. Allerdings wurde zur Zeit des Neuen Testaments das Entstehen und Wachsen der Kirche noch nicht wie später in der christlichen Theologie als Beginn des Kommens des Reiches gesehen. Nur in Kol 4,11 gibt es einen ersten Ansatz dafür, wenn der Verfasser von »meinen Mitarbeitern am Reich Gottes« spricht. So bleibt das Verhältnis von Reich-Gottes-Erwartung und Entstehen der Kirche im Neuen Testament eine offene Frage, die wenig reflektiert wird (s. u. VII). VI. Jesus Christus – Kraft und Leitbild für neues Leben Immer wieder wird in den Schriften des Neuen Testaments Jesus Christus und sein Verhalten als Vorbild genannt. Aber dabei geht es nie darum, dass man diesem Vorbild aus eigener Kraft folgen soll; immer ist in die Aufforderung die Zusage eingeschlossen, dass sein Weg die Bahn dafür gebrochen hat, dass die, die zu ihm gehören, ihm folgen können. Dazu einige Beispiele: In Mk 10,35–45//Mt 20,20–28) spricht Jesus über das rechte Verhalten im Kreis der Jünger und Jüngerinnen und sagt: »Wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein; und wer unter euch der Erste sein will, der soll aller Knecht sein. Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viele« (Mk 10,45). Jesus ist damit als Beispiel für ein Leben im Dienst anderer genannt. Dass aber die Hingabe seines Lebens als Loskauf aus dem Teufelskreis von Selbstüberhebung und Schuld gesehen wird, macht deutlich: Jesus hat den Bann gebrochen, der Menschen daran hindert, sich für andere einzusetzen.

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Eine ähnliche Argumentation findet sich auch im Zusammenhang mit der Geschichte der Fußwaschung. Sie beginnt mit der Bemerkung: »Wie er die Seinen geliebt hatte, die in der Welt waren, so liebte er sie bis ans Ende« (Joh 13,1). Damit wird die Aktion der Fußwaschung in eine enge Verbindung zu Jesu Weg ans Kreuz gesetzt. Der Sklavendienst der Fußwaschung nimmt die Erniedrigung am Kreuz vorweg, die ja für Johannes zugleich Erhöhung und Verherrlichung ist. Am Schluss der Erzählung aber steht die Mahnung: »Ein Beispiel habe ich euch gegeben, damit ihr tut, wie ich euch getan habe« (Joh 13,15). Jesu Gebot, einander zu lieben, wird durch das Verhalten Jesu begründet und beispielhaft erfüllt. Sein Beispiel zeigt nicht nur, wie es gehen soll, sondern befähigt auch dazu, diese Haltung selbst einzunehmen. Und als letzte Beispiel ein Text aus den Paulusbriefen: Paulus unterstreicht seine Mahnung, in der Gemeinschaft der Gemeinde »eines Sinns zu sein« und einer den anderen höher zu achten als sich selbst, mit der grundsätzlichen Aufforderung (Phil 2,5) »Seid so unter euch gesinnt, wie es der Gemeinschaft in Christus Jesus entspricht«. Was aber einem Leben »in Christus« entspricht, das zeigt Paulus mit den Worten eines Christushymnus auf, der von der Bereitschaft des Christus spricht, auf das Sein bei Gott zu verzichten und die äußerste Erniedrigung bis zum Tod am Kreuz auf sich zu nehmen, um seine heilschaffende Herrschaft über alles, was lebt, aufzurichten (Phil 2,6–11). Wer sich zu Jesus als dem Herrn bekennt, wird also nicht zum Triumphator über andere, sondern wird befähigt, seinem Beispiel zu folgen und nicht auf andere herabzusehen, sondern ihnen auf Augenhöhe zu begegnen. Neues Leben wird möglich Der enge Zusammenhang zwischen dem Heil schaffenden Geschehen in Jesus Christus und der Befähigung zu einem neuen, alternativen Leben, zeigt sich auch an anderen Stellen. So etwa bei Paulus, wenn er sich dagegen wehrt, dass seine Verkündigung der Gnade Leute zum Sündigen verführe, weil sie ja immer mit der Vergebung rechnen könnten. In Röm 6 macht er deutlich, dass es bei der Taufe nicht nur um die Abwaschung vergangener Sünden geht, sondern dass durch sie ein neues Leben begründet wird: »Wir wurden ja mit ihm begraben durch die Taufe auf den Tod, damit auch wir, so wie Christus durch die Herrlichkeit des Vaters von den Toten auferweckt wurde, in der Wirklichkeit des neuen Lebens wandeln« (Röm 6,4 EÜ). Die Wirklichkeit eines neuen Lebens ist ein Leben im Dienst der Gerechtigkeit, das nach dem Willen Gottes fragt und ihn tut. Wer weiß: Mein Leben ist in Gott geborgen, wird frei, sein Leben auch für andere einzusetzen.

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Ganz ähnlich fasst der 1. Johannesbrief zusammen, was aus der Erkenntnis, welch große Liebe Gott in der Lebenshingabe Jesu gezeigt hat, folgt: »Ihr Lieben, hat uns Gott so geliebt, so sollen [und können] wir uns auch untereinander lieben« (1Joh 4,11). Und dieses »sollen« ist eben kein reiner Imperativ, der den Menschen, der von Gottes Liebe berührt und erfüllt ist, von außen trifft, sondern ist nichts anderes als die selbstverständliche Konsequenz dieser Liebe: »Lasst uns lieben, denn er hat uns zuerst geliebt« (1Joh 4,19). In der älteren Auslegung hat man dieses Ineinander von Heilshandeln Gottes und Konsequenz für das Handeln der Menschen als Zuordnung von Indikativ und Imperativ beschrieben. Heute wird diese Beschreibung oft als zu schematisch abgelehnt. Und in der Tat ist sie, wie gerade das letzte Beispiel zeigt, in manchem zu einfach. Gottes Tat und das menschliche Tun, das daraus folgt, sind in den neutestamentlichen Texten stärker verschränkt, als es diese Formel zeigt. Aber dennoch macht sie etwas Wichtiges deutlich: Gottes Heilshandeln will den Menschen nicht nur für den Himmel retten, sondern auch zu rechtem Leben in dieser Welt und unter Menschen befähigen und fragt deshalb nach seinem Tun. Die Selbstverständlichkeit, mit der eine Begegnung mit Jesus dazu führt, konsequent zu handeln, zeigt die Geschichte von Jesu Einkehr bei Zachäus in Lk 19,1–10. Die innere Notwendigkeit, dass auf das Hören der Botschaft Jesu auch ein entsprechendes Tun folgt, wird besonders von Matthäus und Jakobus betont (Mt 7,15–27; Jak 1,22–25; 2,24). Dabei liegt ihnen nichts daran, dass der Mensch in irgendeiner Weise sich auch noch durch »verdienstliche« Werke für die Gemeinschaft mit Gott qualifizieren müsse. Es geht ihnen vielmehr um eine ganzheitliche Antwort des Menschen auf die Botschaft mit »Herzen, Mund und Händen«. Nicht von ungefähr ist bei beiden das Thema »Vollkommenheit« wichtig. Dabei geht es nicht um einen moralischen Perfektionismus, sondern um ein Verhalten, das Gottes umfassender Barmherzigkeit entspricht (vgl. Mt 5,48 mit Lk 6,36 und s. o. S. 81, 85, 227 f.). Paulus ist beim Thema Vollkommenheit eher skeptisch (vgl. 1Kor 13,11f und Phil 3,12–21). Aber auch er kann die Ganzheitlichkeit der Antwort auf die Botschaft des Evangeliums sehr klar formulieren: »In Christus Jesus vermag weder die Beschneidung noch die Unbeschnittenheit etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe wirkt« (Gal 5,6 EÜ; LÜ: »durch die Liebe tätig ist«). Wobei Paulus – wohl etwas anders als Jakobus – nicht sagen möchte, dass zum Glauben auch noch die tätige Liebe hinzukommen muss, sondern dass es zum Wesen wahren Glaubens gehört, durch die Liebe zu wirken!

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Das Liebesgebot Damit aber stehen wir bei dem Leitmotiv aller neutestamentlichen Ethik, dem Liebesgebot. Es steht im Zentrum christlicher Ethik und kommt in allen neutestamentlichen Traditionen vor. Der Ursprung dieser Übereinstimmung liegt zweifellos darin, dass Jesus den Willen Gottes, wie er im Gesetz des Mose formuliert ist, mit dem Doppelgebot der Liebe zusammengefasst und dabei die Bedeutung des »Nächsten« im Gebot der Nächstenliebe ungewöhnlich weit ausgelegt hat. Nächste sind weder nur die Familienangehörigen oder die Nachbarn noch nur die Volksgenossen, sondern diejenigen, die Hilfe brauchen (Lk 10,25–37; indirekt ist das auch in Mt 25,31–46 vorausgesetzt). Ja, es kann sogar der Feind sein (Mt 5,44)! Damit vertieft Jesus einen Ansatz, der sich schon in Lev 19,33 findet, wo neben das Gebot der Nächstenliebe (V. 18) auch die Liebe zum Fremden tritt. Zwei Dinge sind wichtig für das Verständnis des Liebesgebots: (1) Liebe im biblischen Sinn ist nicht gleichzusetzen mit Zuneigung aufgrund von Sympathie oder Gleichklang der Seelen. Solche Liebe könnte man schlecht gebieten. Liebe im Sinne des Liebesgebots zeichnet sich durch zwei Merkmale aus: Achtung und Respekt vor der Würde der anderen und Offenheit für das, was sie brauchen (oder auch geben können!). Liebe zu Gott ist also gekennzeichnet durch tiefen Respekt vor Gottes Gottsein, durch staunende Anerkennung seiner Zuwendung und Liebe und durch dankbares Fragen nach dem, was Gott will. Liebe zum/zur Nächsten zeigt sich in der Achtung vor der Würde seiner oder ihrer Person – wer immer es sein sollte – und das Gespür für das, was die oder der andere braucht. Jesus hat das in seinem Gleichnis vom barmherzigen Samariter sehr eindrücklich beschrieben (Lk 10,30–37). (2) Das wird sehr schön durch das »wie dich selbst« im Gebot der Nächstenliebe verdeutlicht. Dabei handelt es sich nicht – wie oft behauptet – um ein drittes Gebot der Selbstliebe. Es geht vielmehr darum, sich in die Rolle des oder der anderen zu versetzen und zu erspüren, was man sich selbst an Achtung und Hilfe wünschen würde (das zeigt die Übersetzung von Martin Buber mit »dir gleich« sehr schön). Das »wie dich selbst« ist gewissermaßen die Kurzfassung der Goldenen Regel von Mt 7,12: »Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch!« Wer sich freilich selbst nicht mag und sich nichts Gutes gönnt, kommt da in Schwierigkeiten. Insofern ist richtig, dass es ohne ein Stück Selbstachtung auch schwer ist, andere zu lieben und zu achten. Paulus nimmt diese Interpretation des Gesetzes auf und zeigt an zwei Stellen an den Geboten der zweiten Tafel des Dekalogs, wie durch das Gebot der Nächstenliebe das ganze Gesetz erfüllt wird (Röm 13,8–10;

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Gal 5,14). Dort, wo er beschreibt, wie sich ein Leben in der Liebe im Alltag auswirkt, kommt er den Anweisungen zur Feindesliebe aus der Jesustradition sehr nahe (Röm 12,9–21). Dabei kommt es Paulus nicht nur auf die Taten selbst an, sondern auch auf die Motivation, mit der sie getan werden. Für ihn sind auch die heroischste Selbstaufopferung und radikalste Hilfsbereitschaft nichts, wenn sie nicht aus Liebe geschehen, sondern um sich Ruhm und Ansehen zu verschaffen (1Kor 13,1–3). Das Liebesgebot ist für ihn kein Gebot, das um der Pflichterfüllung willen befolgt wird, sondern die Beschreibung dessen, was geschieht, wenn Menschen von der Liebe Gottes erfüllt sind. Gleiches gilt für die johanneische Tradition (Joh 13; 1Joh 4), wobei es dort vor allem um die Liebe zu denen geht, die miteinander auf dem Weg mit Jesus sind. Das kann eine nicht ungefährliche Einengung des Verständnisses von Nächstenliebe sein; man kann es aber auch als eine erste, wichtige Konkretion dieses Gebots ansehen. Liebe wird konkret Wir haben schon bei der Besprechung dieses Sachverhalts bei Paulus darauf hingewiesen, dass er es bei konkreten Anfragen zu rechtem Verhalten nicht bei der Auskunft belässt: »Liebe und mache dann, was du willst« (Augustin), sondern oft sehr genaue Anweisungen gibt, was er in diesem Fall für richtig hält (s. o. S. 188). Das ist im ganzen Neuen Testament so. Diese Anweisungen erfolgen allerdings oft sehr pauschal mit Hilfe von Laster- und Tugendkatalogen (Röm 1,29–34; 1Kor 5,10f; 6,9f; 2Kor 12,20; Gal 5,19–21 u. ö.). In diesen listenmäßigen Aufzählungen geht es fast immer um das Verhalten in der Gemeinschaft und gegenüber anderen Menschen. Davon handeln auch die sog. Haustafeln, in denen die gegenseitigen Verpflichtungen der Mitglieder eines Haushalts benannt werden (Kol 3,18–4,1; Eph 5,21–6,9; 1Petr 2,18–3,7). Dass es sich dabei um gegenseitige Verantwortung handelt, unterscheidet sie von vergleichbaren Aussagen der Umwelt. Wie diese weisen sie aber ein deutlich patriarchalisches Gefälle auf, was dazu geführt hat, solche familiären Herrschaftsstrukturen lange als genuin christlich zu verteidigen. Dabei gibt es schon in den Texten Ansätze, die diese einseitige Interpretation in Frage stellen (Eph 5,21.25; 6,8f). Das frühe Christentum zeigt sich in all dem als eine »soziale« Religion, bei der nicht kultische Verfehlungen im Brennpunkt stehen, sondern die Frage, ob man den Mitmenschen oder der Gemeinschaft gerecht wird. Etwas vereinfacht kann man sagen, dass Unzucht und Habgier

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als die Grundprobleme angesehen werden (Hebr 13,4f u. ö.). Ein Verhalten zwischen Geschlechtern, dass den andern zur Ware macht, und ausbeuterisches Handeln, das anderen Lebensraum und -mittel raubt, gelten als klarste Missachtung des Willens Gottes – und damit auch der Würde der anderen. Wenn Habgier als Götzendienst bezeichnet wird (Kol 3,5), wird damit aber auch die Problematik eines gestörten Gottesverhältnisses angespro­ chen. Hier klingt in der Sache das Wort Jesu an: »Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon« (Mt 6,24). Dennoch sind in der Geschichte der Kirche fast nur sexuelle Verfehlungen sanktioniert, aber sehr selten die schädlichen Folgen von Habgier und Ausbeutung konkret angesprochen oder gar bekämpft worden. Umgekehrt hat man sehr viel eher Geld und Besitz als gute Gabe Gottes gesehen, mit denen sich auch viel Gutes tun lässt, als die Sexualität als Geschenk Gottes zu preisen, das Freude und tiefe Beziehung schenkt – so sehr beide Gaben missbraucht werden können. Es wird also darauf ankommen, die entsprechenden Passagen im Neuen Testament als Anleitung und Richtschnur für eine konstruktiv-kreative Nutzung der Gaben Gottes unter Berücksichtigung möglicher Gefahren zu lesen, statt sie zur Unterdrückung Gott gegebener Entfaltungsmöglichkeiten zu missbrauchen. Exkurs: Die drei aktuellen Schibboleth für wahre Bibeltreue In der gegenwärtigen Diskussion um die Geltung biblischer Weisungen für das Leben in Kirchen und Gemeinden sind es immer wieder drei Fragen, an denen sich nach Meinung mancher entscheidet, ob die Bibel und ihr Wort noch etwas gelten oder ob man sich einfach dem Zeitgeist anpasst. Das ist die Frage der Wiederheirat Geschiedener, der Ordination von Frauen zum Verkündigungs- und Leitungsdienst und der Stellung zur Homosexualität. Man könnte auch noch das Thema Abtreibung hinzufügen; aber dazu gibt es keine ausdrückliche biblische Aussage. Hier geht es um die Auslegung des Gebots: »Du sollst nicht töten!«, bei dem es ja auch noch andere offene Fragen wie Todesstrafe oder Kriegsdienst gibt. Interessanterweise steht bei all diesen Fragen die katholische Kirche sehr dezidiert auf der »bibeltreuen« Seite, was in neuerer Zeit zu unerwarteten Koalitionen mit evangelikalen und charismatischen Gruppen aus dem Protestantismus geführt hat. 1. Ehescheidung und Wiederheirat Jesu Kritik an der Ehescheidungspraxis seiner Zeit und seine strikte Warnung vor einer Wiederheirat Geschiedener stellt unter theologischen Gesichtspunkten die größte Herausforderung dar. Denn diese Aussagen

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gehen mit Sicherheit auf Jesus selbst zurück und können nicht als zeitbedingt relativiert werden. Zur Haltung Jesu gibt es weder in der griechisch-römischen Umwelt noch im damaligen Judentum eine Parallele – vielleicht mit Ausnahme einer Stelle in der sog. Damaskusschrift, die auch in Qumran gelesen wurde (CD 4,20f). Sowohl die Markustradition (Mk 10,11f//Mt 19,9) als auch die Reden-Quelle Q (Mt 5,32//Lk 16,18) überliefern diese Aussage Jesu, und sie ist eines der wenigen Worte Jesu, das auch Paulus zitiert (1Kor 7,10f). Die ursprünglichste Fassung des Wortes dürfte sich in Lk 16,18 finden: »Jeder, der seine Frau entlässt und eine andere heiratet, begeht Ehebruch; und jeder, der die von einem Mann Entlassene heiratet, begeht Ehebruch«. Dass eine Ehe durch Scheidung beendet werden konnte, war im zeitgenössischen Judentum eine Selbstverständlichkeit, sodass die Modalitäten bei der Scheidung oft schon im Ehevertrag festgelegt wurden. Dem stellt Jesus die Auffassung entgegen, dass nach Gottes Willen eine Ehe auf unbedingter Treue beruhe. Er stellte sich damit auch gegen die Regelung in Dtn 24,1, die das Recht eines Mannes, seine Frau zu entlassen, als selbstverständlich voraussetzt, der Frau aber durch die Vorschrift, ihr einen Scheidebrief auszustellen, eine gewisse rechtliche Sicherheit gibt (vgl. Mt 5,31f; 19,3–9). Man hat in der Urchristenheit offensichtlich erkannt, wie revolutionär und unangepasst Jesu Haltung war und deshalb seine Aussage als bindendes Gebot Jesu tradiert (1Kor 7,10f). Doch warum tolerieren dann heute große Teile der Christenheit eine Scheidung auch bei Christen, während andere sie nicht nur missbilligen, sondern Geschiedene und Wiederverheiratete aus ihrer Gemeinschaft bzw. von der Teilnahme an der Eucharistie ausschließen? Im Neuen Testament gibt es zwei Ansatzpunkte für diese veränderte Haltung: Auch in der frühen Christenheit kannte man Situationen, in denen sich Jesu absolute Haltung schwer durchhalten ließ. So fügt Matthäus bzw. seine Tradition an beiden Stellen, an denen er dieses Wort Jesu zitiert, die Klausel ein: »es sei denn wegen Unzucht« (Mt 5,32; 19,9). Wir wissen nicht, was genau mit »Unzucht« gemeint ist; meist wird an Ehebruch gedacht (so LÜ bis 2017). Aber klar ist, dass diese Form der Überlieferung des Wortes Jesu damit rechnet, dass es Situationen gibt, in denen eine Ehe gescheitert ist und es nicht zumutbar ist, sie aufrecht zu erhalten. Auch Paulus nennt eine Ausnahmesituation, bei der er eine Scheidung für möglich hält (1Kor 7,10–15). Er beruft sich zunächst auf das grundsätzliche Verbot der Scheidung durch Jesus. Neben das autoritative Wort des Herrn stellt er aber einen bewusst als seine eigene Meinung gekennzeichneten Kommentar: Wenn Christen mit einem ungläubigen Partner oder Partnerin verheiratet sind und diese sich nicht scheiden lassen wollen, dann sollen das auch die Christen nicht tun. »Wenn aber der Un-

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gläubige sich scheiden will, so lass ihn sich scheiden. Der Bruder oder die Schwester ist nicht gebunden in solchen Fällen«. Paulus meint demnach nicht, dass ein Christ oder eine Christin versuchen soll, in diesem Fall die Ehe unter allen Umständen aufrecht zu erhalten. Man hat also im Urchristentum die Weisung Jesu sehr ernst genommen und doch nicht als rigides Gesetz verstanden. Aber es sind nicht nur diese Bibelstellen, die zur Vorsicht mahnen, Jesu Gebot in gesetzlicher Weise auf jeden Fall durchsetzen zu wollen. Wichtig sind für diese Frage auch Beispiele für ein Verhalten Jesu gegenüber Menschen, die in ihrer Beziehung gescheitert sind und die er dennoch nicht aus seiner Gemeinschaft ausschließt. Hier ist vor allem seine Begegnung mit der Frau am Jakobsbrunnen zu nennen, die fünf gescheiterte Ehen hinter sich zu haben scheint und die Jesus dennoch nicht verurteilt (Joh 4,18). Aber auch die Erzählung von Jesu Konfrontation mit einer Ehebrecherin, in der er sich weigert, sie zu verurteilen, sondern ihr den Weg in eine neue Zukunft öffnet, ist dafür wichtig (Joh 8,3–11). Wir stehen offensichtlich bei der Frage nach der Bedeutung dieser Weisung Jesu für uns heute vor einem Dilemma: Ein gesetzliches Verständnis seiner Worte, das Menschen, deren Beziehung scheitert, kategorisch aus der christlichen Gemeinschaft ausschließt oder sie u. U. in einer Beziehung fesselt, die für sie zur Hölle wird, trifft nicht die eigentliche Intention Jesu. Aber auch eine Haltung, bei der Scheidung wieder ein selbstverständlich möglicher Ausgang einer Ehe wird, widerspricht dem, was Jesus gewollt hat. Er wollte, dass die Partnerschaft zweier Menschen von verlässlicher Treue getragen ist, die den Partner oder die Partnerin auch in schwierigen Situationen nicht im Stich lässt. Wir werden also versuchen müssen, auch heute die Worte Jesu ernst zu nehmen und festzuhalten: Gottes Wille für das verbindliche Miteinander zweier Menschen ist eine Treue, die sich bleibend für den anderen verantwortlich weiß. Aber zugleich darf Jesu Wort nicht zu einem Gesetz gemacht werden, an dem Menschen zerbrechen. Die Gnade eines neuen Anfangs sollte niemand verweigert werden. 2. Frauen in Verkündigung und Leitung Die Auffassung, dass Frauen in der Kirche nicht lehren und leiten dürfen, beruht vor allem auf zwei Aussagen in 1Kor 14,33–36 und 1Tim 2,11f. Dazu tritt oft der Hinweis, dass Jesus nur Männer in den Kreis der Zwölf berufen habe. Der wichtigste Grund, warum die katholische Kirche Frauen nicht zu Priestern weiht, dass nämlich eine Frau bei der Feier der Eucharistie nicht die Rolle Christi als Gastgeber übernehmen könne, spielt im Neuen Testament keine Rolle.

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Anders als die Ablehnung von Scheidung und Wiederheirat ist der Ausschluss von Frauen aus dem Verkündigungs- und Leitungsdienst sehr stark zeit- und situationsbedingt. Einerseits entspricht das der Rollenverteilung in der patriarchalischen Gesellschaft, verbunden mit einer Verdächtigung der Frauen als Quelle der Sünde, die sich auch im zeitgenössischen Judentum findet. Andererseits scheinen insbesondere die Ausführungen in 1Tim 2,11–15 Reaktion auf den starken  – und nach Meinung des Verfassers problematischen – Einfluss von Frauen in der beginnenden Gnosis zu sein, in der freilich zugleich die Tendenz bestand, die natürliche Seite des Frauseins zu unterdrücken (s. o. S. 212). Diese beiden Stellen mit ihrer verhängnisvollen Langzeitwirkung spiegeln allerdings nicht die Wirklichkeit der frühen Christenheit wider. Schon im 1. Korintherbrief zeigt sich ein klarer Widerspruch: In 1Kor 11,1–16 will Paulus zwar durchsetzen, dass Frauen in der Gemeindeversammlung eine Kopfbedeckung tragen, nimmt aber ganz selbstverständlich an, dass Frauen in der Gemeinde öffentlich beten und prophetisch reden. Viele Ausleger nehmen deshalb an, dass es sich bei der entgegengesetzten Anweisung in 14,34f um eine spätere Einfügung aus 1Tim 2,11f handelt. Paulus sagt ja auch in Gal 3,28 grundsätzlich: »hier ist weder Frau noch Mann«, wobei freilich offenbleibt, wie diese Wirklichkeit »in Christus« sich auch praktisch auswirkte. Vor allem in Röm 16 findet sich eine Fülle von Zeugnissen für das intensive Engagement von Frauen in der Gemeinde: Phoebe, die Diakonin und Patronin der Gemeinde in Kenchreä, Priska, die zusammen mit ihrem Mann Hausgemeinden in Korinth, Ephesus und nun auch in Rom leitete, Junia, die Paulus zusammen mit (ihrem Mann?) Andronikus zu den Aposteln zählt, und eine Reihe von Frauen, die sich »gemüht« haben, was für Paulus terminus technicus für verantwortlichen Gemeinde- und Leitungsdienst ist (1Kor 16,16; 1Thess 5,12). Es ist also im Urchristentum etwas passiert, was sich in der Geschichte der Kirche nicht selten wiederholt hat: In einer bewegten Aufbruchszeit werden auch Frauen mit in die Verantwortung für Verkündigung und Leitung einbezogen. Dann aber, im Zug einer gewissen Verbürgerlichung, wird ihr Dienst zurückgedrängt, oft mit dem Hinweis auf die Anstößigkeit solchen Engagements für die patriarchalisch geprägte umgebende Gesellschaft. Im Grunde steht hier Schrift gegen Schrift, und es ist zu entscheiden: Berufen wir uns auf die Offenheit der jungen Christenheit, anerkennen die geistliche Begabung von Frauen und werden damit auch der gesellschaftlichen Situation unserer Zeit gerecht? Oder halten wir die patriarchalisch geprägten, engen Restriktionen der Spätzeit für maßgebend und missachten damit, was Frauen an Lehr- und Leitungsgabe einbringen können?

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3. Die Stellung zur Homosexualität Sehr viel komplexer ist das Problem, ob in der Kirche Menschen voll akzeptiert werden können, die ihre homosexuelle Veranlagung auch in einer entsprechenden Beziehung leben wollen. Dabei sind es nur noch sehr konservative Randgruppen, die Menschen mit homosexueller Veranlagung grundsätzlich mit dem Argument ablehnen: Homosexualität ist Sünde, und Sünde kann man lassen. In dem meisten Kirchen wird heute betont, dass auch Menschen mit homosexueller Veranlagung willkommen sind, auch werden homosexuell Lebende in der Regel nicht aus der Gemeinschaft ausgeschlossen oder exkommuniziert. Aber als Zeichen dafür, dass gelebte Homosexualität nicht dem Willen Gottes entspricht, sollen in homosexuellen Beziehungen Lebende nicht ordiniert und homosexuelle Paare nicht gesegnet bzw. getraut werden. In den meisten evangelischen Landeskirchen in Deutschland sind diese Einschränkungen inzwischen abgeschafft; aber weltweit haben sich an dieser Frage eine ganze Reihe von Kirchen und Kirchengemeinschaften gespalten oder stehen noch in dieser Zerreißprobe. Was ist der neutestamentliche Befund, der zu dieser heftigen Auseinandersetzung führt? Im Neuen Testament wird das Problem nur an wenigen Stellen, dort aber unter sehr spezifischen Vorzeichen erwähnt. In 1Kor 6,9 werden in einem Lasterkatalog unter vielen anderen falschen Verhaltensweisen auch »Lustknaben« und »Knabenschänder« genannt. Es geht also hier nicht um Homosexualität allgemein, sondern um Päderastie, die in der griechischen Kultur unter bestimmten Umständen nicht nur akzeptiert, sondern teilweise hochgeschätzt wurde. Dass es dann pauschal heißt, dass einige der Korinther sich so verhalten haben, jetzt aber »abgewaschen, gerechtfertigt und geheiligt« sind (6,11), wird von den einen als Argument gesehen, dass man als Christ von der homosexuellen Veranlagung oder Praxis frei werden könne und müsse. Andere sehen darin gerade den Beweis dafür, dass es hier um problematische gesellschaftliche Konventionen und nicht um eine tiefe persönliche Prägung geht. Dasselbe gilt auch für 1Tim 1,10, wo das Stichwort »Knabenschänder« unter anderen schweren Vergehen erscheint. Sehr viel ausführlicher behandelt Paulus dagegen weibliche und männliche Homosexualität in Röm 1,26f und brandmarkt beides als »widernatürlichen« Verkehr. Das Besondere an dieser Stelle ist allerdings, dass diese Praktiken nicht einfach als persönlich zu verantwortendes Fehlverhalten gesehen werden, sondern als Verhängnis, das Gott über die Menschen brachte. Weil sie die ihm als Schöpfer gebührende Verehrung mit der Anbetung der Bilder von Geschöpfen »vertauschten«, ließ Gott sie »den natürlichen Verkehr mit dem widernatürlichen vertauschen«. Weil sie nicht Gott als Gegenüber suchten, hat er sie »an ihre Begierden

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dahingegeben«, sodass sie nicht mehr das natürliche Gegenüber im anderen Geschlecht suchen, sondern im gleichgeschlechtlichen Partner letztlich sich selbst. Homosexualität ist für Paulus also so etwas wie ein Symp­tom für die eigentliche Sünde der Menschen. Er spricht darüber zwar verhältnismäßig ausführlich, aber sieht es keineswegs isoliert, sondern nennt noch eine ganz Reihe anderer »Symptome« für die grundsätzliche Verfehltheit menschlicher Existenz, die in der heutigen Diskussion nicht die gleiche Rolle spielen (Röm 1,29–32). Deutlich aber ist auch an dieser Stelle, dass Paulus – wie die ganze Antike – nichts von einer tief in einen Menschen eingeprägten Anlage zur Homosexualität wusste, und dass er bei seinen Beispielen keine verantwortlich gelebte Partnerschaft zweier Menschen gleichen Geschlechts vor Augen hatte. Was die Haltung der Umwelt in dieser Frage betrifft, so war sie extrem konträr. Während für die biblisch-jüdische Tradition Homosexualität im Gefolge von Lev 18,22 als Gräuel galt, wurden in der griechisch-römischen Kultur sexuelle Beziehungen zwischen Männern, bzw. zwischen Männern und heranwachsenden Knaben nicht nur toleriert, sondern gelegentlich sogar als die edlere Form gelebter Sexualität gepriesen. Einerseits ist also festzustellen: Die biblische Ablehnung von Homosexualität ist eindeutig, nimmt aber auch bei Paulus keineswegs den zentralen Platz ein, den das Thema heute in den kirchlichen Auseinandersetzungen besitzt. Andererseits ist klar, dass diese Ablehnung ganz andere sexuelle Verhaltensweisen trifft als die, um die es in der heutigen Diskussion geht. Deutlich ist auch, dass die rigorose Verfolgung Homosexueller in christlich geprägten Gesellschaftsordnungen unendliches Leid über Menschen gebracht hat, die – nach unserer heutigen Erkenntnis – ihre sexuelle Prägung nicht aus irgendwelchen niedrigen Motiven gewählt haben, sondern ihre Zuneigung zu Menschen des gleichen Geschlechts als Teil ihres Wesens vorgefunden haben. Ihnen die Gemeinschaft und verantwortliche Mitarbeit in Kirche und Gemeinde zu verweigern, widerspricht dem Liebesgebot und der Weisung des Paulus einander anzunehmen, wie Christus uns angenommen hat (Röm 15,7). Nach biblischem Verständnis gehört jede sexuelle Beziehung in eine das ganze Leben umfassende verantwortliche Partnerschaft hinein. Das zu bezeugen und dafür Gottes Hilfe und Segen zuzusprechen ist die Funktion einer kirchlichen Trauung. Gerade deshalb ist es wichtig, diesen Segen auch einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft nicht zu verweigern – selbst wenn man (auch aus biologischen Gründen) der Überzeugung sein kann, dass Homosexualität nicht die gleiche Stellung im Masterplan Gottes wie die Heterosexualität einnimmt.

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Angesichts der untergeordneten Bedeutung der entsprechenden Aussagen im Neuen Testament kann man fragen, warum – verglichen mit den beiden anderen  – gerade diese Frage zu so heftigen Auseinandersetzungen in den Kirchen führt. Ist sie sozusagen die letzte Bastion der Überzeugung, dass auch Einzelanweisungen der Schrift beachtet werden müssen? Oder gibt es dafür psychologische Gründe angesichts tiefer Ängste vor der Andersartigkeit gerade auf dem Gebiet der Sexualität? Gelegentlich werde ich in diesem Zusammenhang gefragt, ob es nicht richtiger wäre, alles in der Bibel wörtlich zu nehmen. Ich pflege darauf zu antworten, dass man das nicht nur nicht kann, sondern offensichtlich auch nicht darf! Und ich nenne als Beispiel das Wort Jesu aus Mt 5,29f// Mk 9,43–47: »Wenn dich dein rechtes Auge zum Bösen verführt, dann reiß es aus und wirf es weg!« (EÜ). Dieses Wort wörtlich zu nehmen wäre nicht nur zutiefst pathologisch, sondern würde auch nichts Entscheidendes bringen – gibt es ja immer noch das linke Auge! Es aber bildhaft zu verstehen, als Aufforderung zu entschiedener Psychohygiene, zeigt eine tiefe Weisheit. So mag es gut sein, auch andere schwierige biblische Weisungen nicht einfach als veraltet zu streichen, sondern nach einem tieferen Sinn oder einer neuen Bedeutung zu fragen. Jesu Verbot der Ehescheidung und Wiederheirat wird dann nicht zu einem tötenden Gesetz, sondern zur Ermutigung, Treue zu wagen und zu beachten, dass durch eine Ehe eine Bindung entsteht, die mit der Scheidung nicht einfach endet, sondern die weiter bedacht und verarbeitet werden muss. Die Ablehnung der Homosexualität in der Form, wie sie in der Antike gelebt wurde, kann dann zum Anstoß werden, sich gegen alle Arten ausbeuterischer und erniedrigender Sexualität, gleich ob hetero- oder homosexuell, zu wenden und zu versuchen, sie zu überwinden. Ob die neutestamentliche Debatte um die Beteiligung von Frauen am Dienst der Verkündigung und Leitung dazu anregen könnte, darüber nachzudenken, inwieweit Frauen und Männer auf verschiedene Weise zur Leitung und zur Verkündigung begabt sind, möchte ich offenlassen. Denn hier könnte dankbare Anerkennung einer andersartigen Begabung der andern wieder schnell in eine subtile Form neuer Diskriminierung umschlagen. VII. Jesus Christus – Quelle und Inhalt der Hoffnung Maranata – unser Herr, komm! Das war ein Gebetsruf, der in vielen urchristlichen Gottesdiensten erklang. Dass Paulus diesen aramäischen Ruf in seinem ersten Brief an die Gemeinde in Korinth zitiert (1Kor 16,22), in der sicher kaum jemand diese Sprache verstand, zeigt,

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wie weit verbreitet dieser Ausdruck christlicher Hoffnung war. Dass das entscheidende Heilshandeln Gottes sich erst in der Zukunft ereignen würde, ist gemeinsame Überzeugung aller neutestamentlichen Schriften vom Matthäusevangelium bis zur Offenbarung des Johannes. Allerdings wird das Verhältnis zwischen schon jetzt erfahrbarem und erst zukünftigem Heil sehr unterschiedlich gewichtet. Im Extrem erscheint die Gegenwart in der Offenbarung fast als »heilsleer«, vor allem im Blick auf die schweren Zeiten der Verfolgung und der Verwüstung der Erde, die noch zu bestehen sein würden, bis Gott alles neu und gut macht. Umgekehrt wird im Johannesevangelium aller Nachdruck darauf gelegt, dass Heil und ewiges Leben schon jetzt beginnen. Die wenigen Hinweise auf ein endzeitliches Handeln Gottes wirken fast wie eine spätere Korrektur (Joh 5,25–29). Auch in der Sammlung der Paulusbriefe findet sich eine ähnliche Spannung. Für den Epheserbrief sind die Christen schon mit Christus auferweckt und erhöht worden, das Entscheidende ist also schon geschehen, während für den 2. Thessalonicherbrief noch heftige Auseinandersetzungen zwischen Gott und seinen Widersachern zu bestehen sind, bevor Gott mit seinem Wirken am Ziel ist. Dennoch gibt es einen gemeinsamen Verstehensrahmen im Blick auf das, was Gott am Ende der Tage tun wird. Seine wesentlichen Elemente stammen aus den prophetischen Schriften des Alten Testaments und der jüdischen Apokalyptik. Aber diese Vorstellungen werden nicht einfach unverändert übernommen. Sie bekommen ein neues Profil und teilweise auch einen neuen Inhalt dadurch, dass sie mit der Person und dem Wirken Jesu verbunden werden. Gemeinsam mit dem alttestamentlich-jüdischen Erbe ist die Überzeugung, dass es bei der christlichen Hoffnung nicht nur um die einzelnen Menschen und ihre persönliche Zukunft geht, sondern um Gott und die Vollendung seines Weges mit dieser Welt. Kennzeichnend für die christliche Ausprägung dieser Zukunftsschau ist, dass Grund und Gestalt dieser Hoffnung eng mit Gottes Handeln in Jesus Christus verbunden sind. Insofern ist er Quelle und Inhalt der Hoffnung. Dieses Ineinander einer Hoffnung, die ganz auf Gott gerichtet ist und für deren Verwirklichung Christus die entscheidende Rolle spielt, zeigt sich in der knappen Schilderung in 1Kor 15,20–28 und wird in Offenbarung 4–22 breit ausgeführt. Die verschiedenen Ausprägungen dieser Hoffnung sind im Neuen Testament mit verschiedenen Motivkomplexen verbunden, die fast alle – wenn auch mit unterschiedlicher Intensität – im ganzen Neuen Testament zu finden sind.

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Das Kommen des Reiches Gottes Der Schwerpunkt dieser Aussage liegt in der Verkündigung Jesu und den synoptischen Evangelien (vgl. dazu die Belege auf S. 256). Gottes Herrschaft beginnt schon im Wirken Jesu, vor allem im Sieg über die Dämonen. Aber auch die Vorstellung vom kommenden »Reich« als Inbegriff des Heils ist zu finden. Diese Bedeutung wird in der Apostelgeschichte vorherrschend. Ähnliches gilt für die wenigen Vorkommen des Begriffs bei Johannes und Paulus. Dagegen herrscht in der Offenbarung wieder stark die dynamische Vorstellung von der Herrschaftsübernahme Gottes. Die sachliche Mitte der Vorstellung ist die Hoffnung, dass Gott allein das Sagen haben wird und dass das auch für die Menschen Heil und Frieden bedeuten wird. Sie ist überall im Neuen Testament vorhanden, tritt aber bei Johannes und in der Briefliteratur gegenüber der Thematik der individuellen Erlösung eher zurück. Sie hat in der Geschichte der Kirche immer wieder eine entscheidende Rolle gespielt, nicht selten aber auch unter dem nicht unproblematischen Vorzeichen, dass »wir« das Reich Gottes bauen müssten. Die Wiederkunft Christi Auch bei diesem Motiv christlicher Hoffnung liegt der Schwerpunkt auf der Überlieferung, die in den synoptischen Evangelien gesammelt ist (Mk 13,24–27//Mt 24,29–31//Lk21,25–28; Mt 25,31–46). Doch auch in vielen anderen neutestamentlichen Schriften und vor allem bei Paulus wird diese Vorstellung vorausgesetzt (1Kor 15,23; 1Thess 4,16; vgl. Joh  14,3; Jak 5,8). Das Motiv ist Chiffre für die Hoffnung, dass das, was mit Jesus begonnen hat, auch durch ihn zu seiner Erfüllung gebracht werden wird. Dabei spielt das Gerichtsmotiv eine wichtige Rolle (Mt 13,37–43; 24,45–51; 25,14–46), gelegentlich auch mit dem Beiklang der Vergeltung (2Thess 1,6–9). Daraus ergibt sich ein gewisses Dilemma: Einerseits ist die Hoffnung auf die Wiederkunft Jesu das Signal dafür, dass auch die Endereignisse sein menschliches Gesicht tragen werden. Andererseits zeigen manche der ausführlicheren Darstellungen, vor allem aber die Schilderung des Endkampfes in Offb 19, den wiederkommenden Christus eher als den Antityp des irdischen Jesus und weniger als Vollender seines Wirkens. Es ist nicht »das Lamm, das geschlachtet wurde« (Offb 5,6.12), das den Endsieg erringt, sondern der Reiter auf dem weißen Pferd, dessen Gewand »in Blut getaucht war« (19,13: s. o. S. 247). Anders dagegen Mt 25,31–46; hier richtet der Weltenrichter nach Maßstäben, die der Verkündigung Jesu entsprechen!

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Auferstehung der Toten und das ewige Leben Für fast alle neutestamentlichen Autoren ist die individuelle Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod mit der Vorstellung von der Auferstehung der Toten verbunden. Das war schon im Judentum nicht unumstritten und für die Menschen der griechisch-hellenistischen Kultur sehr schwer verständlich. Aber sowohl Jesus als auch Paulus halten an dieser Hoffnung fest, wenden sich aber zugleich gegen naiv populäre Vorstellungen, die eine Wiederherstellung der bisherigen Körperlichkeit erwarten. Die Auferstandenen werden »sein wie die Engel«, sagt Jesus (vgl. Mk 12,18–27// Mt 22,23–33//Lk 20,27–38), und Paulus macht klar: »Fleisch und Blut können das Reich Gottes nicht erben« (1Kor 15,50). Für beide liegt der Kern der Hoffnung darin, dass der ganze Mensch von Gott zu sich gerufen und in eine neue, bleibende Gemeinschaft mit ihm gestellt wird. Wie wir sahen, hat Paulus gegen Ende seines Lebens damit begonnen, eine zweite »Hoffnungslinie« zu zeichnen, nämlich die Erwartung sofort nach dem Tod »bei Christus« zu sein (2Kor 5,1–5; Phil 1,21–24). In diese Richtung weist auch die Neuinterpretation des Verständnisses von »ewiges Leben« bei Johannes: Es meint nicht die Fortsetzung der jetzigen Existenz unter optimalen Bedingungen nach dem Tod, sondern Leben in der völligen Gemeinschaft mit Gott, die durch den Schritt des Glaubens eröffnet und schon jetzt Wirklichkeit wird (Joh 6,40a; 11,25f; 17,2f). Die johanneische Überlieferung versucht dann auch den Ausgleich mit der herkömmlichen Vorstellung von der Auferstehung und ewigem Leben nach dem Tod (Joh 5,24–29; 6,40b), aber der Schwerpunkt liegt eindeutig auf der Realität ewigen Lebens schon jetzt im Glauben. So unterschiedlich die Vorstellungen sind, die mit dieser Hoffnung verbunden sind, sie haben doch eines gemeinsam: Die Hoffnung beruht nicht auf einer unsterblichen Substanz im Menschen, sei es die Seele oder der Geist. Die leibliche Auferstehung der Toten hängt auch nicht von dem Vorhandensein körperlicher Überreste ab, wie man im Mittelalter annahm und deshalb Ketzer verbrannte. Grund der Hoffnung ist die Überzeugung, dass das Leben derer, die sich Gott anvertrauen, ganz in Gottes Hand liegt. Das gilt schon jetzt, wird sich aber am Ende der Zeit auch in seiner ganzheitlichen Realität zeigen. Das Jüngste Gericht Dass Gott am Ende der Tage die Menschheit richten wird, gehört ebenfalls zu den Grundaussagen neutestamentlicher Zukunftserwartung. Dieser Gedanke ist zwar heute nicht populär, gehört aber zum Grundbestand allgemeinmenschlicher Zukunftshoffnung. Die Notwendigkeit

Jesus Christus – Quelle und Inhalt der Hoffnung

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einer ausgleichenden Gerechtigkeit wird sehr stark empfunden. Kant hat deshalb die Existenz eines gerecht richtenden Gottes als Postulat der praktischen Vernunft angesehen (Kritik der praktischen Vernunft, A 226). Der Schrei der Seelen der Märtyrer, deren Blut am himmlischen Altar ausgegossen ist, nach Rache und Gerechtigkeit ist im Neuen Testament der stärkste Ausdruck dieser Erwartung (Offb 6,10). Entscheidend ist dabei der Maßstab des Gerichts. Wie wir sahen, konkurrieren dazu im Neuen Testament zwei Linien spannungsvoll miteinander (s. o. S. 276 f.): Das Urteil aufgrund des Tuns und des Einsatzes für die Notleidenden und das Urteil aufgrund des Bekenntnisses zu Jesus. Mt 25,31–46 und Röm 10,9 scheinen hier in starker Spannung zueinander zu stehen (vgl. auch Mt 7,21, das wie ein Votum gegen die pauschale Geltung von Röm 10,9 klingt). In Offb 20,12.15 ist das Pro­ blem auf engstem Raum sichtbar durch das Nebeneinander eines Urteils aufgrund der Eintragung des Namens im Buch des Lebens oder aufgrund der Bücher mit der Aufzeichnung der Taten der Menschen. Aber auch bei Paulus gibt es ein Gericht nach den Werken gerade für die Christen, die doch allein aus Glauben gerechtfertigt werden (vgl. Röm 14,10; 2Kor 5,10 mit Röm 3,28; Gal 2,16). Es ist schwierig, diesen Widerspruch aufzulösen. Vermutlich soll es bei der paradoxen Feststellung bleiben: Es ist alles Gnade und es kommt alles darauf an, sich durch den Glauben an Jesus in dieser Gnade zu bergen. Aber zugleich bleibt auch wichtig, was wir tun und wie wir mit anderen Menschen umgehen. Gott wird wissen, wie er einem Menschen angesichts beider Kriterien gerecht wird! Am Horizont der Erwartung taucht freilich auch die Hoffnung auf, Gott werde sich aller erbarmen (Röm 11,32). Insgesamt jedoch ist die Vorstellung vom »doppelten Ausgang« des Gerichts mit Freispruch oder Verurteilung vorherrschend. Was nach dem Gericht folgt, wird im Neuen Testament nur vorsichtig ausgemalt: Die positive Seite wird mit den Bildern eines himmlischen Festmahls gezeichnet (Mt 8,11//Lk 13,29; Lk 14,15–24//Mt 22,1–10) und in Offb 21,1–7 durch eine sehr berührende Darstellung der vollendeten Gemeinschaft mit Gott charakterisiert, in der es kein Leid und kein Geschrei mehr geben und Gott jede Träne abwischen wird. Die negative Seite, das Geschick der Verurteilten, wird selten näher beschrieben; nur Matthäus und die Offenbarung stellen mit ihrem Bild von der Hölle dafür abschreckende Warntafeln auf (Mt 8,12//Lk 13,28; Mt 13,42 u. ö.; Offb 20,10). Ein neuer Himmel und eine neue Erde Im alttestamentlich-jüdischen Erbe des Christentums finden sich zwei ganz unterschiedliche Vorstellungsweisen von der endzeitlichen Voll-

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endung des Wirkens Gottes. In den prophetischen Schriften begegnen wir der Erwartung, dass am Ende der Zeit auf dieser Erde paradiesische Zustände herrschen werden: Menschen leben lange und in Frieden miteinander und mit den Tieren, es wird keine Krankheiten mehr geben, und Äcker, Obstbäume und Weinberge werden außerordentlich fruchtbar sein, auch die Tiere werden friedlich miteinander leben und unter den Menschen wird Gerechtigkeit und Friede herrschen (Jes 2,2–4; 11,1–9; 25,6–8; 29,17–21; 35; 65,17–24; Joel 4,18; Am 9,13–15; Mi 4,3f). In späteren Schriften und der jüdischen Apokalyptik bricht sich die Vorstellung Bahn, dass Gott einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen wird (vgl. Jes 65,17, wobei dies dort mit durchaus irdisch-paradiesischen Zuständen illustriert wird). In den apokalyptischen Schriften finden sich dazu visionäre Bilder einer himmlischen Welt. Neutestamentliche Autoren nehmen das Bild von dem neuen Himmel und der neuen Erde auf (2Petr 3,13; Offb 21,1). Wo jedoch überhaupt genauere Vorstellungen darüber formuliert werden, geschieht das in einer Weise, die das ganz andere dieser neuen Welt betont. Die ausführlichste Schilderung findet sich in Offb 21 und 22. Die Bilder, die dort verwendet werden, nehmen zwar im Detail paradiesische Vorstellungen auf (z. B. der Strom und die Bäume des Lebens), aber andere Motive (z. B. Maße und Baumaterialien der himmlischen Stadt) lassen erkennen, dass sie ganz eindeutig symbolische Bedeutung haben und eine Lebenswelt beschreiben wollen, in der Gott unmittelbar gegenwärtig ist. Gott alles in allem Mit diesen Worten beschreibt Paulus das endgültige Ziel des Wirkens Gottes in Jesus Christus (1Kor 15,28). Dass Gott alles bestimmt und durchdringt, das ist das Ziel aller Wege Gottes, und das ist der Ort, wo alles menschliche Streben und Sehnen und Wollen und Wähnen zur Ruhe und zur Vollendung kommt. Wenn Gott »alles in allem« ist, dann ist auch die Sache der Menschen, ja der ganzen Schöpfung gut aufgehoben. Das ist keine Aussage, die in eine heutige kosmologische Zukunftsschau eingezeichnet werden könnte. Es ist eine Grenzaussage, die darauf zielt, dass diese Welt einen Sinn hat, auf dessen Erfüllung sie zielt.

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Zum Schluss: Die Botschaft des Neuen Testaments und wir Es geht um Gott im Neuen Testament und darum um den Menschen, denn der Gott der Bibel ist ein Gott, der die Menschen als sein Gegenüber sucht. Es geht um den Menschen im Neuen Testament, und darum geht es immer auch um Gott, denn die größte Not der Menschen liegt in ihrer Trennung von Gott. Sie ist die Ursache für das Elend ihres oft so unmenschlichen Verhaltens. Es geht um Gott und um die Menschen, und darum geht es um Jesus, in dem der wahre Gott den Menschen begegnet und von dem sie wirkliches Menschsein lernen können. Humanität ohne Religiosität wird zur Bestialität. Diesen Satz hörte ich in meiner Jugend, und er richtete sich gegen den Kommunismus, der als Humanismus begann und im Stalinismus mit der Verfolgung und Vernichtung von Feind und Freund endete. Als ich später die Kirchen- und Religionsgeschichte zu studieren begann, habe ich den Spruch ergänzt: Religiosität ohne Humanität wird zur Bestialität. Diese Fassung erklärt das Rätsel, warum im Zeichen des Kreuzes so viele scheußliche Verbrechen begangen worden sind. Dabei ist das Kreuz das intensivste Zeichen dafür, dass Gott die Menschen in ihrem tiefsten Elend aufsucht. Vielleicht ist es schon ein Grundübel, dass das Kreuz zu einem religiösen Zeichen wurde. Es müsste Mahnmal bleiben, Erinnerungszeichen dafür, dass Gottes Liebe sich zum Opfer menschlicher Bestialität machen ließ, um sie ganz zu überwinden. Wir haben als eines der herausragenden Kennzeichen der Verkündigung und des Wirkens Jesu festgestellt, dass für ihn die Ausrichtung auf Gott und seinen Willen und die Sorge für die Mitmenschen nie in Gegensatz treten können. Für Jesus gilt: Wo es um Gott geht, geht es auch um den Menschen. Und wo es um den Menschen geht, geht es auch um Gott. Was das für die Botschaft und die Theologie des Neuen Testaments bedeutet, soll noch einmal in sieben Thesen dargestellt werden. Aus der Polyphonie der vielen neutestamentlichen Stimmen formt sich doch ein unüberhörbarer Cantus Firmus heraus, der ebenso deutlich vom Basso continuo der Schriften Israels, der »alten« grundlegenden Zusage Gottes getragen wird. Die eine Botschaft in den vielen Stimmen 1) Gott sagt Ja. Er sagt Ja zu seiner Schöpfung und er sagt Ja zu den Menschen, die er geschaffen hat. Er sagt Ja, auch wo sie Nein zu ihm sagen oder sich nicht um ihn kümmern. Dieses Ja zu einem Gegenüber

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ist der Grund, dass Gott die Welt erschuf, und dieses Ja ist der Grund für die Befreiung und Erlösung der Menschen durch das Wirken Jesu. Diesem Ja kann man trauen und sich Gott mit Sorgen und Nöten anvertrauen. Gott sagt Ja, denn Gott ist Liebe. Er ist nicht der »liebe Gott«, der zu allem Ja und Amen sagt. Wo Menschen sich in Lieblosigkeit und Unmenschlichkeit verstricken, sagt er Nein. Richten in Gerechtigkeit gehört zur Liebe Gottes. Aber sein Nein gilt der Sünde, der tödlichen Verstrickung der Menschen in Egoismus und Maßlosigkeit, weil er will, dass sie im Gegenüber zu ihm und in seiner Gemeinschaft wirklich leben. 2) Die Menschen brauchen Gott. Sie sind auf sein Ja angewiesen. Der Mensch ist geschaffen und berufen, Mensch zu sein: Lebendiges Wesen unter lebendigen Wesen und zugleich Gegenüber Gottes. Gott hat die Menschen, Mann und Frau, dazu geschaffen, sein »Ebenbild« zu sein, das Geschöpf, das um seinen Schöpfer weiß, ihn in dieser Welt repräsentiert und so den Platz für ihn als Gott und Herrn freihält. Die Menschen aber wollen »sein wie Gott«, versuchen, sich an seine Stellen zu setzen, und schaffen sich Götter nach ihrem Bild, ihren Wünschen, ihren Projektionen. Das hat für sie selbst und für die Schöpfung katastrophale Auswirkungen. Ohne Gott ist der Mensch verloren, verloren in seiner Hybris, verloren ohne Orientierung. Darum brauchen die Menschen Gott – nicht irgendwelche Götter, sondern den einzigen, wahren Gott. Es ist keine problematische Intoleranz, dass dieser Gott keine anderen Götter neben sich haben will. Es ist lebenswichtig für uns Menschen zu erkennen, wer wirklich Gott ist, der Gott, an dem wir uns orientieren können und vor dem wir uns verantworten müssen. Es gehört zum Wesen des Menschen, sich zu verantworten. Auch wenn es uns nicht bewusst ist: Wir sind pausenlos dabei, uns zu rechtfertigen – vor uns selbst, vor der Peergroup, vor dem, »was man tut«, – und sind in Sorge, ob wir unseren selbstgemachten Göttern wie Reichtum, Ansehen oder Schönheit noch genügen. Sich der falschen Instanz auszuliefern kann gefährlich, ja tödlich sein, weil das lebensfeindliche Prioritäten setzt. Entscheidend ist, sich vor dem wahren Gott und Gegenüber des Lebens zu verantworten. Denn dieser Gott fragt nach Liebe und Menschlichkeit. 3) Jesus von Nazareth ist das Mensch gewordene Ja Gottes. Er war Mensch unter Menschen und lebte zugleich auf einzigartige Weise Gottes Gegenwart in der Not und dem Elend der Menschen. In seinem Wirken bricht Gottes Herrschaft an. Das befreit von der Lähmung der vorauseilenden Resignation und dem Diktat des Faktischen, das dekretiert, man könne doch nichts machen gegen die Not der Welt.

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In seinem Tod und seiner Auferweckung offenbart sich die rettende Gerechtigkeit Gottes: Gottes Ja überwindet das Nein der Menschen, indem er die Folgen des Neins, Schuld und Tod, auf sich nimmt. In seinem Leben und Sterben leuchtet die Herrlichkeit Gottes auf: Gottes Gottsein wird in der Menschlichkeit Jesu erfahrbar, Gottes Liebe in seiner Lebenshingabe. Was Gott durch Jesus Christus tut, das ist die entscheidende Hilfe zur – Bereinigung der Vergangenheit durch Vergebung der Sünden und sühnende Verarbeitung der Schuld im Tod Jesu, – Bewältigung der Gegenwart nach dem Vorbild der Heilungen und Befreiungstaten Jesu, – Eröffnung der Zukunft: Jesu Auferstehung ist Grund für neues und bleibendes Leben. 4) Gott sucht Glauben. Er sucht unser Ja zu seinem Ja. Er fragt nach Glauben an Jesus Christus als dankbare Antwort auf das, was er durch ihn getan hat. Er hofft auf Vertrauen in seine Zusage und seine Güte. Es ist sein Wort, die frohe Botschaft von Jesus Christus, das Glauben weckt und Vertrauen schafft. Gott schenkt Hoffnung. Weil ihr Leben in Gottes Hand ist, sind Christen Menschen, die Hoffnung haben, Hoffnung, die den Tod übersteigt, aber schon hier beginnt. Es ist Hoffnung für mich, Hoffnung für Hoffnungslose, Hoffnung für die Welt. Gott sehnt sich nach Liebe. Weil Gott uns liebt, fragt er nach Gegenliebe und zugleich nach der Liebe, die an andere weitergegeben wird. Seine Liebe soll überfließen in die Gemeinschaft mit anderen. Darum steht im Zentrum des Willens Gottes das doppelte Liebesgebot, das nicht mehr und nicht weniger fordert, als Gott an die erste Stelle zu setzen und für die Nächsten das zu tun, was nötig ist. Im Grunde weiß die Liebe, was zu tun ist. Aber es bedarf doch immer wieder konkreter Orientierungshilfen und genauerer Leitlinien, um sich richtig zu verhalten und wirklich zu helfen. Doch steckt im Willen zur Konkretion auch die Gefahr pauschaler Verhaltensregeln, die die Liebe zu ersticken drohen. 5) Gottes Geist macht Liebe möglich. Geistesgegenwart im Leben der Glau­benden und der Gemeinde bedeutet: Gottes Liebe ist gegenwärtig und wird zur Wirklichkeit, die unser Leben trägt und inspiriert. Gottes Geist – schafft Gewissheit, ganz zu Gott zu gehören. Wir sind Gottes Kinder. – befreit von der krankhaften Sorge um uns selbst und schenkt Freiraum und Mut, uns um andere zu kümmern. – befähigt zum Leben in einer Gemeinschaft verschieden Begabter und Geprägter und zur Leitung von Gemeinde und Kirche im Sinne Jesu. 6) Gottes Ja schafft Gemeinschaft: Sein Ja gilt nicht nur mir. Wir Menschen sind als soziale Wesen geschaffen. Die Begegnung mit Gott stellt

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uns in eine neue Gemeinschaft. Alte Trennlinien werden überwunden, neue Beziehungen geschaffen. Geschwisterlicher Umgang miteinander wird möglich in einer Gemeinde, die geprägt ist von einer Kultur des sich Kümmerns und gegenseitiger Achtung. Aber eine solche Gemeinschaft bleibt nicht unter sich. Jünger und Jüngerinnen Jesu sind wie er in die Welt gesandt. Sie tragen die Botschaft von ihm weiter und laden andere dazu ein, Jesus zu begegnen und mit ihnen von ihm zu lernen. Sie tun das durch ihr Leben mit anderen, durch ihr Engagement für Menschen, die Hilfe brauchen, und durch eine verständliche Verkündigung. Weil sie die Liebe Christi leben, sind sie anders als »man« ist. Das macht ihre Wirkung aus, ist aber auch Anlass zu Konflikten und Verfolgung. Für das Leben in Kirche und Gemeinde stellen sich zwei Aufgaben. Es gilt die rechte Balance zu halten zwischen einem entschlossenen Nein zu gemeinschaftsschädlichem Verhalten in der Kirche und dem Verstehen und Verzeihen von Verfehlungen und menschlicher Schwäche. Und es muss ein Weg gefunden werden, wie Leitung und Autorität ohne autoritäre Herrschaft gestaltet und gelebt werden kann und wie der Raum für die Verantwortung aller, gleich ob Frau oder Mann, offenbleiben kann. 7) Gott kommt zum Ziel. Was Gott geschaffen hat, verliert sich nicht ins Nichts. Unser Leben findet seine Ruhe in Gott, und die Welt kommt an das Ziel, das Gott ihr bestimmt hat. Gottes Ja setzt sich durch. Vor Gott wird offenbar werden, worauf wir unser Leben gebaut und was wir daraus gemacht haben. Und Gott wird dem gerecht werden. Er wird unsere Lebensentscheidungen ernst nehmen und doch  – in einer Weise, die wir noch nicht denken können – alles in sein Erbarmen und seine Liebe hüllen. Dass es auf dem Weg dahin zu großen Katastrophen kommen mag, ändert nichts daran, dass Gott die Geschichte an ihr Ziel bringt. Es scheint so, als müsse die Welt ihr tödliches Potential verausgaben, bevor am Ende Gott alles in allem sein kann und kein Leid und kein Tod mehr sein wird, sondern das Leben siegt. Was sagt uns diese Botschaft heute? Ich habe versucht, diese letzte Zusammenfassung in einer Sprache zu schreiben, die eine Brücke zu unserer heutigen Situation schlägt. Aber inhaltlich ging es noch einmal um die Aussagen des Neuen Testaments. Manche mögen sich deshalb beim Lesen gefragt haben: Stimmt das denn für uns heute? Kann das Gottes Wort für uns sein? Auch mir hat sich bei der Arbeit immer wieder die Frage aufgedrängt, welche Inhalte der Botschaft des Neuen Testaments in der heutigen Ver-

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kündigung und im Leben der Kirche noch wirklich eine Rolle spielen. Ich habe in dieser Zeit relativ regelmäßig Andachten im Rundfunk gehört und den Eindruck gewonnen, dass dort sehr wenig von den entscheidenden Inhalten des Neuen Testaments zur Sprache kommt, und umgekehrt die Themen, die dort wichtig sind, im Neuen Testament keine Rolle spielen. Das mag bei der sonntäglichen Predigt aufgrund des Perikopenzwangs etwas anders sein. Aber die Beobachtung, dass so zentrale Themen des Neuen Testaments wie Verlorenheit und Rettung fast nur noch in Randgruppen der Christenheit lebendig sind, dürfte nicht ganz falsch sein. Was bedeutet das für unsere Verkündigung? Gibt es Wege, die neutestamentliche Botschaft als Ganzes für uns heute wieder lebendig werden zu lassen? Ein Patentrezept dafür wird es nicht geben. Und im Rahmen dieser Schlussbemerkungen kann auch nur versucht werden, ein paar Impulse zum weiteren Nachdenken zu geben. Ich nenne zunächst zwei eher formale Überlegungen: Vielfalt als Chance und als Gefahr Die Vielfalt der Aussagen im Neuen Testament und ihre unterschiedlichen Akzentsetzungen sind ein großer Reichtum. In dieser Fülle steckt aber auch die Gefahr des Missbrauchs. Immer wieder haben in der Geschichte der Kirche unterschiedliche Texte und Themen der Bibel zu den Menschen gesprochen und ihnen geholfen, mit den Herausforderungen der Zeit fertig zu werden. Hier erweisen sich Weite und Reichtum der biblischen Botschaft als hilfreich. Die Gefahr aber liegt darin, diese Fülle wie das Angebot eines Supermarkts zu betrachten: Ich hole aus dem Regal, was mir gerade passt, und lasse alles andere liegen. Dass Jesu Gleichnisse vom barmherzigen Samariter und von den Arbeitern im Weinberg oder die Geschichte von der Heilung einer verkrümmten Frau uns heute besonders ansprechen, ist gut. Aber wenn unser persönlicher Kanon die Tendenz hat, sich auf ein paar Lieblingstexte zu beschränken, dann besteht die Gefahr, dass unsere Bibel sehr dünn wird und wir aus ihr nur hören, was uns sowieso schon einleuchtet. Dass die Kirche sich solch einen vielfältigen Kanon hat geben lassen, ist ein Geschenk auch für uns. Aber darin liegt auch die Herausforderung, immer wieder neu auf die verschiedenen Stimmen zu hören und darauf zu achten, was sie uns zu sagen haben. Minderheitssituation als Normalfall Alle neutestamentlichen Texte gehen davon aus, dass Christen als Minderheit in einer eher feindlichen Umgebung leben. Was wir in Mittel-

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europa oder Nordamerika immer noch mehr oder weniger als Normalfall ansehen, dass nämlich die Mehrheit der Bevölkerung Christen sind und somit auch die Art der sozialen und religiösen Kultur bestimmen, ist in den biblischen Texten nicht vorgesehen  – auch nicht als wünschenswerte Zukunftsvision. Man hat sich in der Geschichte der Kirche für diese andere Situation oft damit beholfen, das alttestamentliche Ideal eines religiös homogenen Volks in ein Programm der Gleichschaltung von Kirche und Gesellschaft umzuschreiben – nicht immer zum Wohl beider! Es ist freilich nicht zu übersehen, dass in vielen Teilen der Welt christliche Gemeinde immer noch oder wieder neu als bedrohte Minderheit existiert und dass der Einfluss der Kirchen auf die Gesellschaft auch bei uns rapide schwindet. In dieser Situation ist es hilfreich, sich durch die neutestamentlichen Texte an die Ausgangssituation der christlichen Bewegung erinnern zu lassen. Anstatt über den Verlust an Prestige und Ansehen zu lamentieren, gilt es, sich an dem ursprünglichen Auftrag zu orientieren, durch das Zeugnis in Wort und Tat prophetische Stimme zu sein und als Salz und Licht hilfreich und erleuchtend in die Gesellschaft hineinzuwirken. Dazu freilich müssen wir uns immer wieder neu darauf besinnen, was unser Auftrag und unsere Botschaft ist. Wie hilft uns dazu das, was wir als Botschaft des Neuen Testaments gehört haben? Gelten die HerausForderungen und die Zu-Mutungen der neutestamentlichen Botschaft auch für unsere Zeit? Ich kann hier nur drei Schwerpunkte nennen. Wir müssen immer wieder neu versuchen zu erklären und weiterzusagen: 1) Was Glaube wirklich bedeutet Dass Gott Liebe ist und gerade den Schwachen, Außenseitern und Verarmten nahe ist, wird landauf landab von den Kanzeln verkündet. Das wird auch gerne zur Kenntnis genommen. Allerdings so ganz fühlen sich die meisten Predigthörer und -hörerinnen gar nicht davon betroffen – von anderen Zeitgenossen ganz zu schweigen. Sie gehören meist nicht zu diesen Leuten. Dass der Glaube an Christus ihr »einziger Trost im Leben und im Sterben« sei, wie das die erste Frage des Heidelberger Katechismus formuliert, würden die wenigsten sagen. Wir haben offensichtlich Schwierigkeiten damit, uns und anderen deutlich zu machen, dass wir Gottes Ja, das er durch Jesus spricht, bitter nötig haben und es überlebensnotwendig ist, sich daran im Glauben festzuhalten. Es mag Menschen in Extremsituationen geben, für die das zum existentiellen Halt wird. Aber für viele erscheint das Evangelium, wie es heute verkündigt wird, kaum mehr als ein Wellnessangebot für die Seele

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unter vielen anderen und keineswegs als eine Sache, bei der es um Leben oder Tod geht. Lässt sich das durch einen entschiedeneren Rückgriff auf die Botschaft des Neuen Testaments ändern? Den Evangelisten der alten Schule hat man oft den Vorwurf gemacht, dass sie die Not, aus der sie die Menschen retten wollten, erst mit Hilfe ihrer Gerichtspredigt schaffen mussten. Hier wurde die Frohbotschaft zur Drohbotschaft. Das dürfte heute kaum noch funktionieren. Es ist auch nicht der Weg, den das Neue Testament aufzeigt. Gerade in der Begegnung mit der alles umgreifenden Güte Gottes im Wirken Jesu und der Botschaft des Evangeliums werden Menschen gewahr, wie weit sie sich von Gott entfernt haben. Dann merken sie, wie brüchig die Krücken sind, auf die sie bisher Wert und Würde ihres Lebens gestützt haben, und wie sehr sie mit ihrem eigenen Leben in lebensfeindliche Verhaltensweisen und Strukturen verstrickt sind. Erst in der Begegnung mit dem wahren Gott in der Person Jesu kann klar werden, welche trügerischen »Götter« unserer Zeit die Herrschaft über uns und unsere Gesellschaft gewonnen haben. Erst wenn wir in der Liebe Gottes festen Halt gewonnen haben, sind wir in der Lage, in die Abgründe von Lieblosigkeit und Hass zu schauen, die auch unser Leben bedrohen. Erst im Vernehmen des bedingungslosen Ja Gottes können wir aufnehmen, wie ernst sein Nein gegen alle Verhältnisse und Verhaltensweisen ist, die das Leben anderer und den Bestand seiner Schöpfung gefährden und zerstören. Kann es uns gelingen, so von der Liebe Gottes zu sprechen und sie so zu leben, dass Menschen erschrocken die Lieblosigkeit dieser Welt und ihres eigenen Lebens und Verhaltens entdecken und sich mit allem Ernst für diese Botschaft öffnen? Die dringende Einladung, unser Leben nicht auf die eigene Leistung zu bauen und unsere Schuld, unser Lebensdefizit und die ungelösten Fragen unseres Lebens Gott und seiner Liebe zu überlassen, würde dann aktueller denn je. Sie anzunehmen und zum Fundament des eigenen Lebens zu machen, das nennt das Neue Testament Glauben Zu glauben bedeutet also: – sich von Jesu Wort und Tat ins Vertrauen ziehen zu lassen und sich trotz der Zweideutigkeit vieler Erfahrungen ganz auf seine Zusage zu verlassen: Gott meint es gut mit uns. – sich der Wirklichkeit eigenen Versagens zu stellen und nicht zu versuchen, die eigene Vergangenheit zu retuschieren, sondern sich mit dem Plus und Minus unseres Lebens ganz Gott anzuvertrauen. Was Hass und Schuld an Elend und Tod bewirken, zeigt sich brennpunktartig im Tod Jesu; gerade deshalb ist für den Glauben Kreuz

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und Auferstehung Jesu das Ereignis, an dem Gott menschlicher Not ganz nahekommt und sie mit seiner Liebe überwindet. Daran kann sich der Glaube halten. – sich Wert und Würde des eigenen Lebens von Gottes Ja zusprechen zu lassen, gleich ob wir dankbar feststellen können, dass uns manches im Leben gelingt, oder ob wir an unseren Schwächen, unseren Grenzen oder unserem Versagen leiden. – sich unbesorgt und unbekümmert um uns selbst für andere einzusetzen im Vertrauen darauf, dass unser Leben bei Gott in guten Händen ist, und uns darum auch schwierigen Aufgaben in verantwortungsbewusster Sorglosigkeit zu stellen. 2) Wie radikal die Liebe ist Eines der eindrücklichsten Ergebnisse unseres Versuchs, die Botschaft des Neuen Testaments zu erfassen, ist die Beobachtung, wie zentral in allen neutestamentlichen Traditionen der Verweis auf die Liebe Gottes und die Stellung des Liebesgebots ist. Angesichts dieses Befunds fragt man sich betroffen, wie es sein kann, dass auch Christen und christliche Kirchen so viel Hass auf andere entwickeln und so viel Zerstörung und Unheil anrichten konnten. Sicher – es gibt auch im Neuen Testament heftige Polemik gegen Irrlehrer und andere Gegner. Aber wer die Bibel nicht selektiv liest, sondern ihre Botschaft als Ganzes aufnimmt, wird in ihr den Weg zu einer Liebe entdecken, die sich zwar nicht scheut, auch Missstände zu benennen und zu bekämpfen, aber den betroffenen Menschen zugewandt bleibt. Es ist eines der positiven Zeichen unserer Zeit, dass sich seit Mitte des letzten Jahrhunderts viele Kirchen auf einen Weg zueinander und miteinander begeben haben und auch nicht mehr wie so oft Verbündete und Werkzeuge der Mächtigen und Reichen sind, sondern sich – mit mehr oder weniger Engagement – auch für Benachteiligte einsetzen. Leider entstehen heute wieder neue Bewegungen, die sich mit Machthabern verbünden, die menschenverachtende und umweltfeindliche Programme haben, nur weil sie vorgeben, Abtreibung und Homosexualität zu bekämpfen. Aber auch für uns stellt sich weiter die Frage, wo auch wir immer noch faule Kompromisse eingehen und uns in falsche Abhängigkeiten begeben. Anders als manche Aussagen zu Glauben und Hoffnung steht das, was die Bibel über die Liebe sagt, nicht in Spannung zum naturwissenschaftlichen Weltbild unserer Zeit. Aber es widerspricht in vielem dem, was man den gesunden Menschenverstand nennt. Man versucht zwar naturwissenschaftlich den evolutionären Vorteil von Altruismus unter Tieren zu erklären, stößt dabei aber an Grenzen. Und kein geringerer als der große Humanist Sigmund Freud hat in seiner Abhandlung »Das Un-

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behagen in der Kultur« nicht nur die Feindesliebe, sondern auch die Forderung einer allgemeinen Nächstenliebe für unvernünftig erklärt. Und doch sind gerade von Menschen, die sich der Radikalität der Aussagen Jesu über die Liebe gestellt haben, bis heute wichtige humanitäre Impulse ausgegangen. Will man zu einem solchen Engagement ermutigen, dann ist es nötig, nicht nur aufzeigen, wo wir versäumen, andere zu lieben, sondern auch, woher die Kraft zu dieser Liebe kommt. Zu lieben würde dann bedeuten: – sich Liebe schenken lassen – und zwar von Gott und Menschen. Wir sehnen uns nach Liebe und tun uns doch oft schwer damit, uns lieben zu lassen. Die überwältigende und zugleich unaufdringliche Liebe, die Gott in der Lebenshingabe Jesu zeigt, ist die große Einladung, sich von Liebe erfüllen und tragen zu lassen. – diejenigen zu sehen, die Hilfe und Liebe brauchen, ihnen auf Augenhöhe zu begegnen und Unterstützung anzubieten, die ihnen ihre Würde lässt. Bei allem Wissen um das strukturell Böse bleibt es wichtig, die einzelnen Menschen im Blick zu behalten und ihre Möglichkeiten zur Selbsthilfe zu stärken. – nicht nur Wunden zu verbinden, sondern die Ursache von Verletzungen und von Ausbeutung zu bekämpfen. Es gibt keine institutionelle Liebe, aber Liebe, die mit Hilfe von Organisationen und einer sozialen Gesetzgebung wirkt. – sich für die Gemeinschaft derer zu öffnen, die auch von Gottes Liebe leben. Gemeinde Jesu ist eine »Selbsthilfegruppe« von Menschen, die sich nicht selbst helfen können, sondern wissen, dass sie auf die Hilfe Gottes und von Brüdern und Schwestern angewiesen sind. – mit allem Ernst gegen Missstände und ungerechte Strukturen zu kämpfen und doch keine Feindbilder aufzubauen und keinen Hass auf Menschen zu schüren. 3) Was wir hoffen dürfen Was das Neue Testament über die Hoffnung sagt, ist wohl am schwierigsten in die heutige Zeit zu übersetzen. Sowohl die Aussagen über das Geschick der Einzelnen nach dem Tod als auch die Bilder, die in der Bibel von der Zukunft dieser Welt gezeichnet werden, lassen sich sehr schwer mit heutigen anthropologischen und kosmologischen Vorstellungen vereinbaren. Es blühen zwar unter uns auch ganz neue Jenseitshoffnungen auf, aber sie sind kaum geeignet, das zu veranschaulichen, was die biblischen Verheißungen sagen wollen. Was ist zu tun? Sollen wir versuchen, an den traditionellen Vorstellungen festzuhalten, auch wenn sie mit unserer sonstigen Sicht der Welt nicht

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zu vereinbaren sind? Oder müssen wir uns mit dem modernen, materialistischen Weltbild abfinden und dadurch fast notwendigerweise einem evolutionären Fatalismus verfallen? Oder lässt sich das Hoffnungspotential, das in den biblischen Verheißungen liegt, unabhängig von den damit verbundenen weltanschaulichen Vorstellungen in unsere heutige Sicht der Welt übertragen, ohne dass wir deren geschlossenes, materialistisches Weltbild einfach übernehmen? Das sollte möglich sein, denn es zeichnet die biblische Sicht von Hoffnung aus, dass sie die diesseitige Wirklichkeit ganz ernst nimmt und sich doch von ihr nicht einschränken lässt (vgl. das Beispiel Abrahams nach Röm 4,18). Schon im Neuen Testament schafft die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod auch Hoffnung für das Leben vor dem Tod. Zu hoffen würde dann bedeuten: – Hoffnung zu schöpfen, wo es nichts zu hoffen gibt; es auf Jesu Wort zu wagen, auch dort, wo keine Hoffnung zu sein scheint, dennoch zu hoffen und zu handeln. Solche Hoffnung ist offen für unerwartete Wege und für Lösungen jenseits der eigenen Erwartungen und lässt sich durch enttäuschte Erwartungen nicht entmutigen. – Hoffnung zu wagen auch für die, die als hoffnungsloser Fall gelten. Das ist kein realitätsferner Idealismus, der schnell an den Tatsachen scheitert, sondern ein Optimismus der Gnade, der sehr nüchtern die vorfindliche Realität in den Blick nimmt und doch mit der Wirklichkeit der Gnade Gottes rechnet, die weiter reicht als die nackten Fakten. – Hoffnung zu behalten, auch wo die eigene Zukunft in Frage steht, das eigene Leben in Gottes Hand zu wissen, auch im Sterben und über den Tod hinaus. Diese Hoffnung gilt auch für den Weg der Kirche, die eine unsichere Zukunft vor sich zu haben scheint – nicht, dass sie immer größer und einflussreicher wird, wohl aber, dass sie trotz Versagens und Verfolgung neu zu ihrem Auftrag zurückfinden wird. – Hoffnung zu bewahren auch für Gottes Schöpfung, obwohl wir um ihre Vergänglichkeit wissen. Wo gefährdetes Leben beschützt wird und neues Leben erblüht, entsteht neue Hoffnung, die über die Grenzen menschlicher Prognosen hinausweist, Das sind Heraus-Forderungen und Zu-Mutungen der neutestamentlichen Botschaft auch für unsere Zeit. Sich auf sie einzulassen, mag schwierig erscheinen. Aber in ihnen begegnet uns Gott. Die Kraft seiner Liebe genügt.

Weiterführende und zitierte Literatur

Einführungen in die Theologie des Neuen Testaments (­allgemeinverständlich) Alkier, Stefan: Das Neue Testament. UTBBasics, Tübingen 2010 Bormann, Lukas: Das Neue Testament. Theologie kompakt, Stuttgart 2004 Kollmann, Bernd: Das Neue Testament Kompakt, Stuttgart 2014 Niebuhr, Karl-Wilhelm/Bachmann, Michael: Grundinformation Neues Testament, 5. Aufl. Göttingen 2020 Porsch, Felix: Kleine Theologie des Neuen Testaments, 2. Aufl. Stuttgart 2005 Roloff, Jürgen: Einführung in das Neue Testament, Stuttgart 2005 Roose, Hanna: Das Neue Testament. Module des Neuen Testaments 2, Gütersloh 2009 Schreiber, Stefan: Begleiter durch das Neue Testament, 4.  Aufl. Ostfildern 2018 Theißen, Gerd: Das Neue Testament, München 2002

Wissenschaftliche Theologien des Neuen Testaments Bultmann, Rudolf: Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 1953, 9. Aufl. 1984 Childs, Brevard S.: Die Theologie der einen Bibel. 2 Bände, Freiburg  i. Br. 1994/1996 Conzelmann, Hans: Grundriß der Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 1967, 4. Aufl. 1987 Dormeyer, Detlef: Einführung in die Theologie des Neuen Testaments, Darmstadt 2010 Feldmeier, Reinhard/Spieckermann, Hermann: Der Gott der Lebendigen. Eine biblische Gotteslehre, Tübingen 2011 Feldmeier, Reinhard/Spieckermann, Hermann: Menschwerdung, Tübingen 2019 Gnilka, Joachim: Theologie des Neuen Testaments, Freiburg i. Br. 1994 Goppelt, Leonhard: Theologie des Neuen Testaments, Göttingen 1976, 3. Aufl. 1991

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Weiterführende und zitierte Literatur

Hahn, Ferdinand: Theologie des Neuen Testaments. 2 Bände, Tübingen 2002, 2. Aufl. 2005 Hörster, Gerhard: Theologie des Neuen Testaments, Wuppertal 2004 Hübner, Hans: Biblische Theologie des Neuen Testaments. 3 Bände, Göttingen 1990–1995 Jeremias, Joachim: Neutestamentliche Theologie. Erster Teil. Die Verkündigung Jesu, Gütersloh 1971, 4. Aufl. 1979 Kümmel, Werner Georg: Die Theologie des Neuen Testaments nach seinen Hauptzeugen. Jesus, Paulus, Johannes, Göttingen 1969, 5. Aufl. 1987 Lohse, Eduard: Grundriß der neutestamentlichen Theologie, Stuttgart 1974, 5. Aufl. 1998 Schnelle, Udo: Theologie des Neuen Testaments, Göttingen 2007, 2. Aufl. 2014 Strecker, Georg: Theologie des Neuen Testaments, Berlin/New York 1996 Stuhlmacher, Peter: Biblische Theologie des Neuen Testaments. Band 1, Göttingen 1992, 3. Aufl. 2005; Band 2, 1999, 2. Aufl. 2012 Theißen, Gerd: Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh 2000, 3. Aufl. 2003 Thüsing, Wilhelm: Die neutestamentlichen Theologien und Jesus Christus. Grundlegung einer Theologie des Neuen Testaments. 3 Bände, Münster 1981–1999 Wilckens, Ulrich: Theologie des Neuen Testaments. Band 1: Geschichte der urchristlichen Theologie. Teilbände 1–4, Neukirchen-Vluyn 2002–2005; Band 2: Die Theologie des Neuen Testaments als Grundlage kirchlicher Lehre. Teilbände 1/2, 2007/2009; Band  3: Historische Kritik der historisch-kritischen Exegese, Göttingen 2017. Studienausgabe Band 1 und 2 in 6 Teilbänden, Göttingen 2014 Wright, Nicholas Thomas: Ursprünge des Christentums und die Frage nach Gott. Band 1: Das Neue Testament und das Volk Gottes, Marburg 2011; Band 2: Jesus und der Sieg Gottes, 2013; Band 3: Die Auferstehung des Sohnes Gottes, 2014

Methodische Fragen zur Theologie des Neuen Testaments Breytenbach, Cilliers/Frey, Jörg (Hg.): Aufgabe und Durchführung einer Theologie des Neuen Testaments. WUNT 205, Tübingen 2007 Frey, Jörg: Zum Problem der Aufgabe und Durchführung einer Theologie des Neuen Testaments. In: Breytenbach/Frey, Aufgabe, 3–55 Hübner, Hans/Jaspert, Bernd (Hg.): Biblische Theologie. Entwürfe der Gegenwart, BThSt 38, Neukirchen-Vluyn 1999 Hübner, Hans: Warum biblische Theologie? In: Hübner/Jaspert, Biblische Theologie, 9–40

Weitere zitierte Literatur

335

Klumbies, Paul-Gerhard: Herkunft und Horizont der neutestamentlichen Theologie, Tübingen 2015 Luz, Ulrich: Theologische Hermeneutik des Neuen Testaments, NeukirchenVluyn 2014 Söding, Thomas: Entwürfe Biblischer Theologie in der Gegenwart – Eine neutestamentliche Standortbestimmung. In: Hübner/Jaspert, Biblische Theologie, 41–104 Weder, Hans: Neutestamentliche Hermeneutik, Zürich 1986

Zur Kanonsfrage Auwers, Jean Marie/De Jonge, Henk Jan (Hg.): The Biblical Canons, BETL CLXIII, Leuven 2013 Campenhausen, Hans von: Die Entstehung der christlichen Bibel, Tübingen 1968 Käsemann, Ernst (Hg.): Das Neue Testament als Kanon, Göttingen 1970 Niebuhr, Karl Wilhelm: Exegese im kanonischen Zusammenhang: Überlegungen zur theologischen Relevanz der Gestalt des neutestamentlichen Kanons. In: Auwers/De Jonge, Biblical Canons, 557–586 Ohlig, Karl-Heinz: Die theologische Begründung des neutestamentlichen Kanons in der alten Kirche, Düsseldorf 1972 Schröter, Jens: Die Apostelgeschichte und die Entstehung des neutestamentlichen Kanons. Beobachtungen zur Kanonisierung der Apostelgeschichte und ihrer Bedeutung als kanonischer Schrift. In: Auwers/De Jonge, Biblical Canons, 395–430 Schröter, Jens: Die Bedeutung des Kanons für eine Theologie des Neuen Testaments. Konzeptionelle Überlegungen angesichts der gegenwärtigen Diskussion. In: Breytenbach/Frey, Aufgabe, 135–158 Söding, Thomas: Der Kanon des alten und neuen Testaments. Zur Frage nach seinem theologischen Anspruch. In: Auwers/De Jonge, Biblical Canons, XLVII–LXXXVIII

Weitere zitierte Literatur Barth, Karl: Der Römerbrief, 1919; 2. Fassung Zürich 1922; 21.  Aufl. 2019 (Gesamtausgabe Band 47, 2010) Bonhoeffer, Dietrich, Nachfolge, 16. Aufl. München 1987 Böttrich, Christfried: Proexistenz im Leben und Sterben: Jesu Tod bei Lukas. In: Frey, Jörg (Hg): Deutungen des Todes Jesu im Neuen Testament, WUNT 181, Tübingen 2005, 413–436

336

Weiterführende und zitierte Literatur

Burchard.Christoph: Der dreizehnte Zeuge: traditions- und kompositionsgeschichtliche Untersuchungen zu Lukas’ Darstellung der Frühzeit des Paulus. FRLANT 103, Göttingen 1970 Dalferth, Ingolf: Wirkendes Wort: Bibel, Schrift und Evangelium im Leben der Kirche und im Denken der Theologie, Leipzig 2018 Feldmeier, Reinhard (Hg.): »Salz der Erde«: Zugänge zur Bergpredigt, BTS 14, Göttingen 1998 Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur. In: Sigmund Freud: Studienausgabe, Bd. IX. Fragen der Gesellschaft, Ursprünge der Religion, Frankfurt am Main 1997, 191–270 Hieke, Thomas: Biblos Geneseos – Mt 1,1 vom Buch der Genesis aus gelesen. In: Auwers/De Jonge, Biblical Canons, 635–650 Käsemann, Ernst: Begründet der neutestamentliche Kanon die Einheit der Kirche? In: Exegetische Versuche und Besinnungen, Band 1, Göttingen 6. Aufl. 1970, 214–223 Käsemann, Ernst: Gottesdienst im Alltag der Welt. In: Exegetische Versuche und Besinnungen, Band 2, Göttingen 3. Aufl. 1970, 198–204 Kant, Immanuel: Kritik der Praktischen Vernunft. In: Immanuel Kant. Werke in 10 Bänden (hg. W. Weischedel), Band 6, Darmstadt 1968 Klaiber, Walter: Gerecht vor Gott. Rechtfertigung in der Bibel und heute, Göttingen 2000 Klaiber, Walter: Jesu Tod und unser Leben. Was das Kreuz bedeutet, Leipzig 2011, 2. Aufl. 2014 Klaiber, Walter: Rechtfertigung und Gemeinde. Eine Untersuchung zum paulinischen Kirchenverständnis. FRLANT 127, Göttingen1982 Klaiber, Walter: Ruf und Antwort. Biblische Grundlagen einer Theologie der Evangelisation, Stuttgart/Neukirchen-Vluyn 1990 Klumbies, Paul-Gerhard: Soteriologische Wirklichkeitserschließung. Der Beitrag der synoptischen Evangelien, ThLZ 141, 2018, 859–872 Konradt, Matthias: Christliche Existenz nach dem Jakobusbrief: eine Studie zu seiner soteriologischen und ethischen Konzeption, StUNT 22, Göttingen 1998 Lindemann, Andreas: Die Sammlung der Paulusbriefe im 1. und 2. Jahrhundert. In: Auwers/De Jonge, Biblical Canons, 321–352 Lohfink, Gerhard: Wie hat Jesus Gemeinde gewollt? Zur gesellschaftlichen Dimension des christlichen Glaubens, Freiburg i.B. u. a. 1982, 7. Aufl. 1987; aktualisiert Neuausgabe: Wie hat Jesus Gemeinde gewollt? Kirche im Kontrast, Stuttgart 2015 Loisy, Alfred: L’évangile et l’eglise, Bellevue 1902; 4. Aufl. 1908 (Nachdruck 1973); deutsche Übersetzung: Evangelium und Kirche, München 1904 Luther, Martin: Vorlesung über den Römerbrief, 1515/1516 (lat./deutsch), Darmstadt 1960

Weitere zitierte Literatur

337

[Luther, Martin] Luthers Vorreden zur Bibel. Hrg. v. Heinrich Bornkamm, 3. Aufl. Göttingen 1989 Luz, Ulrich u. a. (Hg.): Exegese – ökumenisch engagiert, Ostfildern/Göttingen 2016 Markschies, Christoph; Schröter, Jens (Hg.): Antike christliche Apokryphen in deutscher Übersetzung. I. Band: Evangelien und Verwandtes. Teilband 1, Tübingen 2012 Moltmann, Jürgen: Theologie der Hoffnung. Untersuchungen zur Begründung und zu den Konsequenzen einer christlichen Eschatologie, 1. Aufl. 1964; 15. Aufl. Gütersloh 2016 Mittmann-Richert, Ulrike: Der Sühnetod des Gottesknechts: Jesaja 53 im Lukasevangelium, WUNT 220, 2008 Niebuhr, Karl Wilhelm: Glaube im Stresstest. PISTIS im Jakobusbrief. In: Frey, Jörg/Schließer, Benjamin/Ueberschaer, Nadine (Hg.): Glaube, WUNT 373, Tübingen 2017, 473–501 Nock, Arthur Darby (Hg.): Sallustius: Concerning the Gods and the Universe, Cambridge 1926 Schröter, Jens: Jesus von Nazaret. Jude aus Galiläa – Retter der Welt. Biblische Gestalten Band 15, Leipzig, 6. Auflage 2017 Stettler, Christian: Das Endgericht bei Paulus: framesemantische und exegetische Studien zur paulinischen Eschatologie und Soteriologie, WUNT 371, Tübingen 2017 Theißen, Gerd/Merz, Annette: Der historische Jesus: ein Lehrbuch, 3. Aufl. Göttingen 2001 Weder, Hans: Die Entdeckung des Glaubens im Neuen Testament. In: Glauben heute. Christ werden – Christ bleiben, Gütersloh 1988, 52–64 Wolter, Michael: Jesu Selbstverständnis. In: Schröter, Jens/Jakobi, Christine (Hg.), Jesus Handbuch, Tübingen 2017, 425–431 Wright, Nicholas Thomas: Rechtfertigung. Gottes Plan und die Sicht des Paulus, Münster 2015 Zager, Werner: Gottesherrschaft und Endgericht in der Verkündigung Jesu: eine Untersuchung zur markinischen Jesusüberlieferung einschließlich der Q-Parallelen, BZNW 82, Berlin u. a. 1996

Die Kommentare der Reihe »Botschaft des Neuen Testaments« Klaiber, Walter: Das Matthäusevangelium, Band 1 und 2, Neukirchen-Vluyn 2015 Klaiber, Walter: Das Markusevangelium, 3. Aufl. Göttingen 2020 Söding, Thomas: Das Lukasevangelium, erscheint voraussichtlich 2021

338

Weiterführende und zitierte Literatur

Klaiber, Walter: Das Johannesevangelium. Band 1, Neukirchen-Vluyn 2017; Band 2, 2018 Gebauer, Roland: Apostelgeschichte. Band 1, Neukirchen-Vluyn 2014; Band 2, 2015 Klaiber, Walter: Der Römerbrief. 2. Aufl. Neukirchen-Vluyn 2012 Klaiber, Walter: Der erste Korintherbrief, Neukirchen-Vluyn 2011 Klaiber, Walter: Der zweite Korintherbrief, Neukirchen-Vluyn 2012 Klaiber, Walter: Der Galaterbrief, Neukirchen-Vluyn 2013 Gese, Michael: Der Epheserbrief, 2. Aufl. Göttingen 2020 Schluep, Christoph: Der Philipper- und Philemonbrief, Neukirchen-Vluyn 2014 Gese, Michael: Der Kolosserbrief, Göttingen 2020 Roose, Hanna: Die Thessalonicherbriefe, Neukirchen-Vluyn 2016 Engelmann, Michaela: Die Briefe an Timotheus und Titus, erscheint voraussichtlich 2021 Rose, Christian: Der Hebräerbrief, 2. Aufl. Göttingen 2020 Hampel, Volker: Der Jakobusbrief, erscheint voraussichtlich 2022 Rusam, Dietrich: Die Johannesbriefe, Neukirchen-Vluyn 2017 Ostmeyer, Karl-Heinrich: Die Petrusbriefe und der Judasbrief, Göttingen 2021 Klaiber, Walter: Die Offenbarung des Johannes, Göttingen 2019

Abkürzungen

Altes Testament Gen Buch Genesis = 1. Buch Mose Ex Buch Exodus = 2. Buch Mose Lev Buch Levitikus = 3. Buch Mose Num Buch Numeri = 4. Buch Mose Dtn Buch Deuteronomium = 5. Buch Mose Jos Buch Josua Ri Buch der Richter Rut Buch Ruth 1/2Sam Erstes und zweites Buch Samuel 1/2Kön Erstes und zweites Buch der Könige 1/2Chr Erstes und zweites Buch der Chronik Esra Buch Esra Neh Buch Nehemia Est Buch Ester Hiob Buch Hiob = Ijob Ps Buch der Psalmen Spr Buch der Sprüche Salomos = Sprichwörter Pred Buch des Predigers = Kohelet Hld Hohelied Salomos Jes Buch Jesaja Jer Buch Jeremia Klgl Klagelieder Jeremias Ez Buch Ezechiel = Hesekiel Dan Buch Daniel Hos Buch Hosea Joel Buch Joel Am Buch Amos Obd Buch Obadja Jon Buch Jona Mi Buch Micha Nah Buch Nahum Hab Buch Habakuk Zef Buch Zefanja

Abkürzungen

340 Hag Sach Mal

Buch Haggai Buch Sacharja Buch Maleachi

Apokryphen Jud Buch Judith Weish Weisheit Salomos Tob Buch Tobias Sir Buch Jesus Sirach 1/2Makk Erstes und zweites Buch der Makkabäer Neues Testament Mt Evangelium nach Matthäus Mk Evangelium nach Markus Lk Evangelium nach Lukas Joh Evangelium nach Johannes Apg Apostelgeschichte Röm Brief an die Römer 1/2Kor Erster und zweiter Brief an die Korinther Gal Brief an die Galater Eph Brief an die Epheser Phil Brief an die Philipper Kol Brief an die Kolosser 1/2Thess Erster und zweiter Brief an die Thessalonicher 1/2Tim Erster und zweiter Brief an Timotheus Tit Brief an Titus Phlm Brief an Philemon Hebr Brief an die Hebräer Jak Brief des Jakobus 1/2Petr Erster und zweiter Brief des Petrus 1/2/3Joh Erster, zweiter und dritter Brief des Johannes Jud Brief des Judas Offb Offenbarung des Johannes Andere antike und frühchristliche Schriften AscJEs Ascensio Jesaiae/Himmelfahrt des Jesaja CD Damaskusschrift Did Didache (Lehre der Zwölf Apostel) EvThom Thomasevangelium 1 Hen 1. (= äthiopischer) Henoch

Abkürzungen

341

Bibelübersetzungen Bibelstellen ohne Angabe der Übersetzung stammen in der Regel aus der Lutherbibel 2017 oder sind eigene Übersetzung. Im Übrigen werden folgende Abkürzungen verwendet: EÜ Einheitsübersetzung (revidierte Fassung von 2016) GNB Gute Nachricht Bibel LÜ Lutherübersetzung (revidierte Fassung 2017) LXX Septuaginta (»die Siebzig«) – griechische Übersetzung des Alten Testaments REB Revidierte Elberfelder Bibel NGÜ Neue Genfer Übersetzung ZB Zürcher Bibel Und ein letzter Hinweis: // Parallelstellen in den synoptischen Evangelien

Register der Bibelstellen (in Auswahl)

Altes Testament Genesis 1,120 1,2267 2,420 4,890 5,120 15,639.146f 22,1226 38,26175

Exodus 16,7259 19,6293 33,18–23259 34,34f259

5,12–1540.54 6,4f54 13,121 21,22f164.168 23,2–9182 24,1312 25,439 27–30250

Sprüche 8,22–31255

1 Samuel

Jesaja

2,1–1095f

6,9f38.52.281 7,1480.263 8,1438.231 25,6–856.38 28,1638 29,18f56 31,3267 35,5f56.83 43,3f62 43,18f41 43,22–25174 52,7257 5337.61.278 53,138 53,5f230 53,7122f 53,11f62 56,1151.163 61,1f18.48.56.83. 97.267 65,173,22

2 Samuel 7,1438.164 24,1226

Levitikus

1 Könige

4 und 5 174.278.280 1637.61.151.174.278 18,539.173 19295f 19,2293 19,1854.149 19,33309 20,26294 22,32f294

19,19–2157

1 Chronik 21,1226

2 Chronik 24,20–2291

Nehemia 9,26184

Numeri 21,4–9111

Psalmen

Deuteronomium

2,738.164 2237.61.76 22,269

4,221

6937.61 93,1257 98,2f151.163.258 110,138.265f 118,22f38.231

Register der Bibelstellen

344 Jeremia

Daniel

Amos

9,22f173 31,31–3432.38

7,1356.263 9250

4,6–11 

Ezechiel

Hosea

10259 11,19f38 11,22–25259 36,26f36

2,25231

286

Habakuk 2,439.147.150

Sacharja Joel

12,10267

3,1–538

Maleachi 3,168

Neues Testament Matthäus 17.20.33.66.78–93.119 1,120.79.84 1,2–1779.265 1,1880.265 1,2180.273 1,22f80.90.263 3,1f46.80.282 3,11268 3,13–1745.265 3,1581 4,1267f 4,12–1745 4,1745f.80.281 4,18–2257.83 4,23–2583 5–783 5,3–1284 5,6258 5,1290 5,13–1685.88.305 5,1785 5,18f85 5,2081.85 5,21–4840.55.85 5,21f.27f55 5,29f317

5,31f23.55.312 5,33f55 5,43–4539.117.309 5,4555.88.254.281 5,4855.81.85.99.227. 308 6,1.4.681f 6,9–1349.82 6,13226 6,1882 6,19–2149 6,24311 6,25–3449.254 6,3380f.258 7,950 7,12309 7,15–27276.291.308 7,21–2346.265 8 und 9  83.86 8,11f61.90.321 8,19–22290 8,20263 9,2273 9,1348.273 9,2784 9,36274 9,37f86

1083.87 10,1–1558.297.302 10,5f87f 10,745f 10,23103 10,40–4287 11,2–683 11,518.48.56 11,20–2460 11,2582 11,2782f 11,28–3086.274 12,1–1440.54 12,2384 12,2846.56.257.268 12,41f60 13,1–5283 13,3–950f 13,10–1752 13,14f281 13,31–3350f 13,37–43319 13,3888 13,42321 13,44–4651.53 14,3384.87 15,1–2054

Register der Bibelstellen

15,2284 15,28286 16,16–1991.261.298. 306 16,1687 16,18f86.91 16,24–27290 16,28103 17,20287 1883 18,1–5298.300 18,15–2087.91.300. 306 18,1786 18,21–3552f 19,923.312 19,16–2658 19,18f39 19,27–3087 19,2859.61.250 19,29305 20,1–1651.82.278.293 20,20–2862.298.300. 306 20,2687.304 20,28279 20,30f84 21,12–1745 21,21f287 21,33–4690 21,4189 22,1–14276 22,1–10321 22,290 22,1088 22,11–1382.88f 22,23–33320 22,32255 22,35–4039 2389 23,8–1287.91.298.300 23,29–3190

345 23,34f90 24 und 25 83 24,9–1461 24,29–31319 24,45–25,4689 24,45–51319 2560.276 25,1–1352.61 25,1090 25,14–3052.89 25,31–4652.54.86. 89.276.319.321 25,3446 25,4054 26,26–29117f.302 26,27f62.91 26,36–4662 26,6161 27,4.2491 27,2589.91 27,39–4384.91 27,4690.264 27,52f90 28,6.9f118 28,16–2087 28,18–2092.103.119 28,19f80.83f.86.88. 90.118.270f.303

Markus 17.20.33.66.68–78.119 1,120.66.68 1,268 1,4273 1,8268 1,9–1145.70.265 1,14f45f.68.71.286 1,16–2057.73 1,17290 1,21f72 1,24f70 1,2773

1,30f59 1,3470 1,35–3947 2,1–3,675 2,556.71.273.286 2,12–1473 2,1748.73.273 2,23–3,640.54 2,2740.54 3,670.73 3,13–1958.74.297 3,1457 3,20f59.75 3,31–3559.75 4,3–950f 4,10–1252.75.281 4,26–2950f 4,30–3250 4,4072.286 4,4170.73 5,18–2058 5,19f74.290 5,21–4359 5,3472.286 5,3671.287 6,1–670.74.287 6,672 6,7–1358.74.297.302 6,14–2975 6,5273.87 7,1–2354 7,24–3059 7,31–3747 7,3773 8,14–2170 8,2173 8,27–3375 8,27–3070.261 8,31–3874 8,31f69.261 8,34–3869.74.290 8,3568

Register der Bibelstellen

346 9,1103.118 9,2–1375 9,2–870 9,14–2969 9,2349.287 9,24f72.287 9,31–3774 9,3169 9,33–3769.74.298.300 9,43–47317 10,9–1223 10,11f312 10,14f46.48 10,17–3158.74 10,1746 10,1939.291 10,2160.290 10,28–3159.74 10,29f68.305 10,33–4574 10,33f69 10,35–4569.74.298. 300.306 10,43304 10,4562.70.279.306 10,46–5247.69.75 10,5272 11,1–11264 11,15–1945 11,22–2472.287 12,18–3454.69.320 12,26255 12,28–3439.117 12,3460.260 13,9–2376 13,1068 13,24–27319 14,3–959 14,968 14,22–25117.302 14,23f62 14,32–4262.263

14,3649 14,5861.251 14,61f70 14,66–7275 15,3469.264 15,3970f.76.263 15,40f59.75.297 15,42–4760 15,4375 16,1–875 16,376 16,6118 16,7f  75f.78 16,9–2070 16,15–18118.303

Lukas 17.33.93–103.119 1,1–420 1,1f.3f93 1,467 1,26–3895 1,3295 1,3595.265.267 1,46–5595f 1,67–7996 1,77272 2,1–2096 2,11.2696f 2,29–3296 2,30100 2,34f96 3,3273 3,16268 3,21–4,1397 3,21f45f.265 3,23–3897.265 4,1267f 4,397 4,14–4497.268 4,16–21267 4,1848

4,29.3298 4,4196 4,4397f.256 5,1–1157 5,898.273.293 5,1058.98.290.293 5,20273 5,3248.98.283 6,1–1140.54 6,12–1658.297 6,20–4999 6,20–2399 6,2097 6,24–2699 6,27–4299 6,27f39.117 6,3653.99.227.308 7,1–10100 7,11–17100 7,2218.48.56.98 7,34–50273 7,36–5048.59.99.273 7,47–49273 7,4753 7,4856 8,1–359.100.297 8,197.256 8,5–850f 8,9f52 9,1–658.100.297.302 9,2256 9,1058 9,2096 9,23–27290 9,27103 9,46–48.298 9,51–18,4399 9,57–62290 10,1–1258.100.297. 302 10,13–1560 10,1145f.256

Register der Bibelstellen

10,1758 10,1847 10,25–3799.117.309 10,25–2839.291 10,30–3752.100.309 11,2–448f 11,5–13293 11,5–850.100 11,1150 11,2046.56.257.261. 277 11,29–3140 12,22–31 49. 254 12,33f49 13,5273.284 13,10–1759 13,18–2050 13,28f321 13,32f61f 14,15–2451.61.100. 276.278.321 1548 15,1f48.56.98.273 15,3–1051.98.278.283 15,748 15,8.10  273 15,11–3251.98.100. 276.278.282f 15,18273 15,22293 16,1–9100 16,1697.256 16,1823.312 16,19–3198 17,6287 17,11–19100 17,20–37100 17,21100 18,1–8100 18,9–1457.98.100. 284.292 18,18–2758

347 18,2039 18,29f305 19,1–1048.53.99. 283.308 19,9277 19,12–2752 19,45–4845 20,27–38320 20,37255 21,7–36100 21,12–18  61 21,25–28319 21,28296 22,19f101.117.302 22,3737 23,32–4662 23,35.3996 23,4391 24,5f118 24,19262 24,25–2737 24,2696.101 24,30f101 24,36–43118 24,39f101 24,44–4637 24,46–49101.103.119 24,47f118.120.284. 303

Johannes 17f.20.25.33.66.105– 114.119f.214 1,1–18105.265f 1,1–14108 1,1–4254 1,1271 1,5109 1,10109 1,1417.106.108.255. 259.263.280 1,17106

1,19–2445 1,29107f.111.263. 274.278 1,35–5157 1,38107 1,41107 1,45.49107.264f 1,48280 2,11106.263 2,13–1645 3,1f60.109 3,3.5256 3,14f38.107f.111 3,15–18111 3,16108.111.279f.289 3,17–21110.276 3,19119 3,20f276 3,36111.119 4,1f45 4,13f106 4,18313 4,22255.272 4,24266f 4,42107f.109.111 4,46–54106 5,9–1840 5,14273 5,24–29119.236.320 5,24110f.289 5,25–29112.119.318 6,28–5138 6,33109.111 6,35111.289 6,37281.289 6,40111.320 6,44111.281 6,47111 6,51–58302 6,51109 7,13110 7,5060.109

Register der Bibelstellen

348 8,3–11313 8,12109 8,34110.274 8,44114 8,51113 9,2f110.274 9,5109 9,22110 10,30.33107 11,24112 11,25–27289.320 11,40259 12,31109 12,36281 12,38–41281 12,44289 12,45f108f 13117.302.310 13,1307 13,13–17297 13,15307 13,23110 13,31f259 13,34f39.112.114.117 14–16111 14,1289 14,3119 14,6106 14,9107f.260 14,13f114 14,16f24.109.112 14,18119 14,23f113 14,28116 14,30f109 15,1–8299 15,7114 15,12f112.278f 15,1739 15,26112.269.271 16,8–11110.112.269 16,9f111.274.289

16,11109 16,14112.269 16,23f114 16,33109 17111 17,2f320 17,6–16109 17,20–23112.114.304 17,2619.26.110.112. 114 19,3517.20 19,3960.109 20,6f118 20,21112.118.303 20,23274.303 20,24–29118 20,28265.289 20,30f21.106.111.288f 21,15–17112.293.298 21,2417.20

Apostelgeschichte 18.21.33.120–128 1,1f120 1,5268 1,7f119.120 1,8103.120.124.268 1,13–26125 1,2245 2,4268 2,17–21124 2,21123 2,22f120.122.274 2,38122f.268.274.284 2,40123 2,42–47125f.298.304 3,17274 3,19122.274 4,12123.272 4,32–37126.298 5,31274 5,32284

6,1125 6,2298 7121.274 8,12122.256 8,15–17123 8,17125.268 8,32–3537.122 8,39123 9,3–9131 9,15127 10,1–11,18284 10,3745 10,38f120.274 10,42124 10,43122f.274 10,44–48123.268f 10,48122 11,2f125 11,17123 11,18122f.284 11,30301 13,1–3125 13,24f45.120 13,28.31122.274 13,38123.128.274 13,39122 14,4.14125 14,15–17122.124.274 14,22256 14,23125.206.211.301 15121.131 15,1f125.301 15,26–32132.269 15,28125 15,37–40126 16,340 16,14f122f 16,30f122f.287 16,33f122f 17,24–29124.274 17,27f37.260 17,30122.284

Register der Bibelstellen

17,31124.276 19,2123 19,6123.268 19,8256 20,17–35121 20,17125.206.211.301 20,21122 21,18–26126 22,6–18131 22,14f.21127 24,21122 26,12–18131 26,17f122f.127.274 26,20122.284 28,23281 28,25–28127f 28,26f281 28,31256

Römer 15.150–155 1,3f164.264f 1,8–17150.184 1,14–17150.257 1,16f150.163.272. 278f 1,18–3,20276 1,18–31151 1,18–22275 1,18–20163.172.254 1,23–31173.275 1,26f315 1,29–34310.316 2,1–3,20151.191 2275 2,1172 2,4278.285 3,9–2038.173 3,21–31151.163.276 3,21f257.278 3,23275 3,24f279.296

349 3,25168.174f.257.274. 278 3,28227.321 4151 4,5175.288 4,7f274 4,17.24288 4,18332 4,25169 5,1–11190 5,1180 5,5–11279 5,5152.169.190 5,8–10152.163.168. 191.278 5,9163 5,10279 5,12–21152 5,12172.275 6152.178 6,3f176.178.307 6,19.22294 7,7–25152.179.275 7,7f173 8152.178 8,2–13295 8,2164.275.279 8,3168.174.240.275 8,5–11269 8,11171.288 8,13171.295 8,14–16170.269.293 8,1549 8,20173f.296 8,21f181 8,23171.296 8,26f171 8,29266 8,31–39152.164.191. 279 8,32168f 8,37–39169

8,38f165.192 9–1138f.152.185 9,1–5152 9,5165 9,6–29153.185 9,14–23281 9,25–2939 9,30–10,21153.185 9,33231 10,1–4173 10,539 10,9f165.177.265. 272.287.321 10,17176.288 10,19f39 11,1–10151 11,11–24153.185 11,25–3639.153 11,26f185.197 11,30–32191 11,3636 12 und 13 187f 12,1f133.187.304 12,3–828.153.182. 187.217.301 12,9–21153.182.187. 310 12,21187.304 13,1–7153.188 13,8–14153.188.305 13,8–10309 13,939 13,14295 14,9165 14,10191.277.321 14,17256f 15,1–6154 15,7–13150.154.184 15,7167.316 15,17–33150 16,1–16154.183

Register der Bibelstellen

350 1 Korinther 15.135–139 1,220.294 1,10–16136 1,17–25136f.169.279 1,17135 1,26–31137.169.305 1,30f139.173.291. 294.296 2,2–5137.169 2,919 3,5–23136 3,9f40 3,11136 3,16f296 3,23136 4,8190 4,17184 4,20256 4,21183 5,1–5138 5,915 5,10310 6,9–11179.256.315 6,11178 6,20168.279 7,10–1523.166.312 7,18f40 7,23168.279 7,4019 8–10  137 8,5f165f 8,636.163.255 8,11f137 9,559.166 9,939 9,14  23 9,19–23184 10,1–1138 10,13226 10,32185 11,1–16138.314

11,5138 11,17–34137.302 11,24302 12–14  137.269 12170.182.301 12,3165 12,4–6270.299 12,7170 12,12f137.170.178. 182.280 13137–139.171 13,1–3310 13,11f308 14137 14,20–25184.305 14,33–36138.313 14,3439.314 14,37f19 15137 15,3–718.37.162.165. 275 15,5.758f 15,8–10131 15,9f19 15,19131.188 15,20–28138.191.318 15,23–28188.319 15,24264 15,2836.322 15,35–49190 15,50138.320 15,52–54189 16,15f183.314 16,22166.317

2 Korinther 15.139–144 1,8f141 1,22171 1,24183.300 2,915 3,1–4,6140

3,1–630.140 3,330.143 3,4–18140 3,5f143 3,1431 3,18259.266 4,3140 4,4260.266 4,5140 4,6140.260 4,719.141 4,8–10141 4,10–12166 4,11183 5,1–5156.320 5,1189 5,7177.190 5,10191.277.321 5,11–13142 5,14f142 5,1741.178.180.190 5,18–21163.175 5,18f142.180.278 5,20142.176.183 5,21142.168.180.257f. 275.279 6,3–10143.183 6,1838 7,14f184 8 und 9 143 8,9143.167 10,1–10140 10,4f183 10,1019 11,4166 11,5–719.140 11,16–22141 11,23–33141 12,1–6141 12,7.9f.12141 13,4142 13,10183

Register der Bibelstellen

13,13144.270

351 6,1540 6,16185

Galater 15.144–149 1,13–17145 1,13131.181 1,15–21131 1,15f131.162.164.168 2,1–10131.145 2,4f145 2,933f.224.243 2,11–14125.132.145 2,15–21145 2,15f146.275 2,16227.276.288.321 2,19146 2,20146.165.176f. 190.279 3,1–5147.176 3,2170.288 3,6146f 3,10f39.147.173 3,13f147.168.175.279 3,15–1831 3,22–26147 3,23177 3,26f176 3,27f148.176.178.295f 4,1–7148 4,4–7269.293 4,4f164.167.170.174 4,649 4,7148 5,1148.186 5,640.149–308 5,11f40 5,13f39.148.186.310 5,16–18171.186.269 5,21256 5,22f171 5,25171.186 6,2149.227

Epheser 15.198–203.214 1,3–14198.203 1,5199 1,7199.274.296 1,10200 1,13272 1,21–23199.200.299 2,5f199.201.235 2,7201 2,8f200 2,10200.295 2,11–22201f 2,12f199 2,17199 2,19–21199.296 2,22199 3,6.18f199 4,1–16202 4,4–6202.302 4,7–12202.301 4,11–14199.202.217. 301 4,22–24200.295 4,30296 5,1f279 5,5256 5,21–6,9160.201.310 5,21202 5,25–27199 6,10–17201

Philipper 15.155–159 1,1183.211.301 1,6156.159 1,15–18184 1,21–24156.189.320 1,23f156.183

1,29156 2,1–4156.304 2,5156.307 2,6–11157.167.265.307 2,6271 2,11165.265 2,12f157.187.281f 2,14–16157 2,17f155 3,1155 3,2157 3,3–11  157.179 3,3185 3,6–9131 3,7–11131.157f.162 3,7f168 3,8–10179 3,12–14158.190.308 3,20f190f 4,1  155 4,2f.4–7159 4,8f.10–20159

Kolosser 15.161.193–198 1,7f193 1,13264 1,14274.296 1,15–20194f.197.255 1,15266 1,1737 1,18196.299 1,19f195 1,27197 2,8193 2,9195.197 2,10196 2,12196.235 2,14194f 2,15195 2,16–18193f 2,19196

Register der Bibelstellen

352 2,20–23193.195 3,1f195f.235 3,3197 3,5311 3,9f196f.266.295 3,1137.197 3,12–14196.295f 3,16f196f 3,18–4,1160.310 3,23197 4,9–14193 4,11306 4,12f193 4,16  19

1 Thessalonicher 14.133–135 1,2–10133 1,3135.192 1,9f163.179.191 2,7f133.184.303 2,13133 2,14–16134.184 4,1–12134 4,3294 4,13–17134.166.189 4,1523 4,16319 5,5–11190 5,8–10134 5,12f133.314

2 Thessalonicher 135.203–205.215.318 1,5–7204 1,6–9319 2,1–12204 2,2203.215 3,2.5205 3,6–13205 3,10205 3,17135.215

1 Timotheus 15f.206–213 1,7–11209 1,10209.315 1,12–14210 1,15207.209 1,16210 1,17208 1,18208.210 2,1f211 2,4–6207 2,11–15212.313f 3,1–13211f.301 3,2211 3,5212 3,9211 3,16208 4,3f212 4,14301 5,3–16217 5,17–22211.301 6,1f160 6,14208 6,20208.210.212

2 Timotheus 15f.206–213 1,5209 1,9207 1,10f.13f208.210 2,2208.210 2,11209 2,18235 3,14f208–210 3,15f40.209 4,3209

Titus 15f.206–213 1,3210 1,5–9211f.301 1,9209.211

2,11207 2,12f208 2,14207 3,4–8207f

Philemon 15.159–161 1,16–19160 23f193

Hebräer 16.25f.214.218–223 1,1f219 1,3219.266 2,17263 3,7–1938.220 4,9220 4,15219.262f 5,7f263 5,9272 6,1f218 6,4–6221.285 7,3.14219 8,1f219 9,737 9,15296 9,16f31 9,24–28219 10,10221 10,19–21219.285.293 10,22–25222 10,26–31221f.285 10,32–34222 11,1–12,3220.289 11,1220f.289 11,6.13.16220 11,39f220 12,2f221.290 12,14.16f221 13,1–6222 13,4f311 13,11–14222f

Register der Bibelstellen

13,1137 13,12221 13,13290

Jakobus 16.215.225–228.243f 1,13.17f226 1,18295 1,22–25226.291.308 1,25226 2,1–9227f 2,839.228 2,12226 2,1936.228 2,24227f.277.308 3,2227 5,1–6.12227

1 Petrus 16.25.215.229–234.243 1,1229 1,3–12230 1,5.9272 1,18f230.279.292 1,21230 2,5–10230f 2,9f231.296.303f 2,11–15232.313f 2,18–3,7160.310 2,18–25232 2,20–23230 2,21–2537.290 2,24f230.279 3,1–7232 3,1f231 3,13–17232 3,15f231.304 3,17.19f232 3,21230 4,1–3232 4,6232 4,8–11304

353 4,10232.301 4,11233 5,1–5233.301 5,5–7233 5,12229

2 Petrus 16.25.215.234–236.243f 1,12–15234 1,16–18234 3,1–4234 3,8–13235 3,13236.258.322 3,15f  22.235

1 Johannes 16.25.214.238–243 1,1–420.239 1,5f241 1,7f240f 1,10241 2,1f241–243 3,6240 3,8f241 3,19f242 4,2f239 4,8108.240 4,9f239.279f 4,11f39.240.308 4,16108.240 4,19240.308

2 Johannes 16.242f 4–7242

3 Johannes 16.242f

Judas 16.236–238.243f 1238

10237 14f19 22f237

Offenbarung 16.20–22.25f.33f. 244–248 1,314 1,421 1,9–20245 1,921 1,19245 2 und 3 245f 2,5285 2,9246 2,16285 2,20137.246 3,1246 3,8.17246 3,19f285 3,20246.278 4 und 5  246f 5,6.12319 6,10204.321 6,15–17247 7247 7,10272 9,20f247 12247 12,10257 13247 14247 16,9286 16,10f247 17 und 18 247 19247.264.319 19,13266.319 20,1–6247 20,4f264 20,11–15248.276f.321 21 und 22 248.322 21,1–8248.321

354 21,1322 21,3f248 21,738 21,8248 21,14245 22,2248 22,10245 22,17248.286 22,18f21

Register der Bibelstellen

Register wichtiger Begriffe

Es werden nur Stellen angeführt, an denen Erklärungen zu den genannten Begriffen zu finden sind. Abendmahl 38.62.91.101.117.126.137.183.202.211.302 Altes Testament 23.30f.36–41.339 Älteste 125.183.206.210–212.233.238.244.301 Amt 87.125.136.183.202.206.210f.217.270.300–302 Apokryphen 19.23.27.35.212.236.340 Apostel 19.24f.28.33.93.115.120–126.131.140–144.182f.210.245.314 Auferstehung 43.62.65.118.122.138.167f.179.188–190.196f.320 Barmherzigkeit s. Erbarmen Berufung 45.48.57f.73.98.127.131.162.210 Beschneidung 39f.127.144.146.149.185 Bischof 125.183.206.210–212.217.301 Brüder/Schwestern 74f.137.139.154.240.298.331 Bund 30–32.40.185.199 Buße s. Umkehr Christus 35.38.55.69f.79.83.96.106f.164–166.261.264 Diakon 183.210–212.217.301 Dienen/Dienst 30.54.59.62.70.74.77f.137f.142f.149.176.183f.186f.232f.301.306f Ehe/Ehescheidung 40.55.201.312f.317 Erbarmen 53.60.82.88.99.119.152–154.187.191.237f.277.321.326. Erlösung 96.174.194f.197.255.291f.296f.319 Evangelium 17f.20–23.66.68.71f.78.82.97f.144.150f.223.227.272 Fleisch 34.104–106.113.146–149.164f.171.186.239.267.269 Fluch 89.147.168.250.279 Frauen 59.75f.79.100.138.154.183.199.202.212.217.231f.297.313f.317 Freiheit 136f.139.145.148f.159.186f.212.226–228 Friede 142.144.165.175f.190f.199.256f.269.279f.319.322

356

Register wichtiger Begriffe

Gebet 48f.72.82.111f.114.171.211.260.298 Geist 19.30.38.95.97.112.123–125.128.135.143.147–149.152.169–171.178.186. 266–272.325 Gemeinde/Kirche 21f.30.65.78.86–89.102.104f.111–114.117f.124–128.135– 139.143f.146.153f.156f.159.178.181–184.196–203.210–212.216–218.230– 233.240.245f.252.296–307.325f.331 Gerechtigkeit (Gottes) 39.63.81f.85.92f.139.147.150f.154.158.168.173–175. 179f.204.257f.278–280.321f.324f Gericht 38.45f.54.60.89.93.119.124.145.191.204.248.276f.320f Gesetz/Tora 19.30f.33.37.39–41.53–55.80.82f.107.140.146f.168.173.179.188. 194.209.226f.255.309.313.317 Glaube 28.36.39.71f.106.111.113.116f.122f.134f.145–150.176f.179f.190.200– 202.208–210.220f.227f.286–291.308.325.328–330 Gnade 53.63.95.106f.111.152.161f.177f.182.192.199–203.206–208.232f.277. 281.321f Gottesdienst 19.26.138.154.184.187.211.302 Haustafel 160.193.197.201.310 Heiden s. Völker Heil/Rettung 41.45f.61f.68.100.102.109.111.113.123.134.158.171f.177.185. 199f.207f.250f.272.281.291–297.318f.327 Heiland s. Retter Heiligung/Heiligkeit 134.139.178.199f.221f.292–296 Heilung 47.54.69.71f.77.110.121.141.286.292.325 Herr 23.64.96.163.165f.177.265.270.287.312 Herrlichkeit 105.107f.113.116.119.259f.280.325 Herrschaft Gottes s. Reich Gottes Hoffnung 60f.63.105.124.134f.152–154.156.188–192.208.231.235f.252f.317– 322.325.331f Homosexualität 173.311.315–317. Juden/Judentum/Israel 31f.35–42.61.87–89.96.110.114.122.126–128.152f.163. 173.184f.201f.225.250f.255.274f.284 Kanon 11f.19–25.27–29.31–35.103.115.120.132.215f.253.327 Kinder/Söhne/Töchter Gottes 38.82.147f.170.199.203.269.296.325 Kirche s. Gemeinde Krankheit 46f.78.110.141.251.273f Kreuz Christi/Tod Jesu 33.67.69–71.77.90.96.101.104.107–109.111.117.136f. 140.142.151.163.168f.174–176.191.195.199.222f.230.263f.279f.296.307. 323.325.329

Register wichtiger Begriffe

357

Leben/ewiges Leben 49.53.62f.74.77–86.92.106–113.119f.134f.146.156–159. 175.189f.208.289–291.294.307f.320.325f.332 Leib Christi 62.137.139.153.170.187.196.199.217.299 Liebe (Gottes/Christi) 48.52f.55.63f.82.85.92f.108f.113f.139.142.152.163–165. 168f.190–192.199.201f.240.242f.263.270.279–281.324f.329f Liebe (zu Gott/Nächsten) 39.54.85.112–114.117.134f.138f.148f.153f.170f.186– 188.192.199.228.239f.242f.295f.304f.308–310.325f.330f Menschensohn 56.78.84.97.104.107f.262–264 Messias s. Christus Mission 15.58.78.86–88.93.114.118.120–128.133.150.154.184.231.233.256. 268.302–305 Nachfolge 57f.73–75.88.104.118f.166.252.290f.297.303 Offenbarung 34f.42.105.108f.194.207.218.249.257–260 Rechtfertigung 128.139.145–147.151f.154f.157–159.175f.179f.186.200.207f. 250.288.292f Reich/Herrschaft Gottes 45–51.56–58.63.69.71.73.77f.80f.92.97f.119.188f. 247.256–258.276f.305–307.319 Retter 35.42.86.95–97.100.107.109.111.116.119.206f.265.284 Rettung s. Heil Schöpfer, (neue) Schöpfung 36f.105.108f.124.140.151.163.172–174.180f.194– 198.240.250.254f.272f.280.296.323f Schrift (Heilige) 15.19.24f.29–32.35–42.68.124.127f.147.163.209.253f.311. 314 Schuld s. Sünde Sklave, Sklaverei 148.159f.170.178.180.196f.202.232.274.279 Sklave (Christi/der Sünde) 19.78.110.140.148.167.186.225.236.274.294 Sohn Gottes 55.70f.76.78.82–84.87.95.97f.105–111.119.148.164f.167f.218f.239f. 261f.264f.271f.288f Sühne/Sühnopfer 101.111.168.174f.219.292.325 Sünde/Sünder 61f.91.102.108.110–112.128.144f.162f.168.172.174f.180.187.222. 230.240f.251.257f.273–275.292f.315f.324f.329 Taufe 45.70.81.88.97.122f.152.176–179.196.267.271.287f.294.307 Tempel 45.61.199.218.230.250.259 Umkehr 48.58.80.98.103–104.118f.122–124.281–286.291

358

Register wichtiger Begriffe

Vater (Gott) 37.48f.81–83.99.107–109.148.152.170.195.254f.259f.271 Vergebung 53.91f.98.118.123.174.241.273f.280f.284f.292.325 Verheißung 18.37f.40.64.79f.102.112.123f.147.199.220.250f.268f.331f Versöhnung 140.142.144.163.168.175f.180.191.195.199.239.259.279 Versuchung 49.84.97.226.267f Volk Gottes 38–40.45f.64.80f.102.124.158.172.185.220–222.231.258f.303 Völker/Heiden 33.87f.96.101f.118f.122–128.131f.144f.153f.172f.179.199.201. 274f.284 Wahrheit 43.63f.69.100.105–109.144f.149.162.226–228.241f.259f Welt 41f.46.62f.67f.78.85.92f.105.107–109.111–114.128f.153.166–169.175. 187–189.194–197.230.252.254.262.289.304.324–326 Werke (des Gesetzes) 49.145f.170.177.200.227f.276f.308 Wille Gottes 53f.63.84f.187.294.313 Zorn Gottes 134.151.163.254