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German Pages 402 [404] Year 2007
Die Bibel als politisches Argument
HISTORISCHE ZEITSCHRIFT Beihefte (Neue Folge) Herausgegeben von Lothar Gall Band 43
R. Oldenbourg Verlag München 2007
Andreas Pecar/Kai Trampedach (Hrsg.)
Die Bibel als politisches Argument Voraussetzungen und Folgen biblizistischer Herrschaftslegitimation in der Vormoderne
R. Oldenbourg Verlag München 2007
Bibliographische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über abrufbar.
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Inhalt Vorwort. Von Andreas Pecar und Kai Trampedach
VII
Der „Biblizismus" - eine politische Sprache der Vormoderne? Von Andreas Pecar und Kai Trampedach
1
Politische Argumentationen in der alttestamentlichen Prophetie. Von Markus Saur
19
Die Hasmonäer und das Problem der Theokratie. Von Kai Trampedach
37
„Biblizismus" in der frühchristlichen Apologetik? Bibel und politische Autorität in vorkonstantinischer Zeit. Von Steffen Diefenbach
67
Moses oder Pharao? Die ersten christlichen Kaiser und das Argument der Bibel. Von Bernd Isele
103
Das Alte Testament und der Erfahrungsraum der Christen. Davids Buße in den Apologien des Ambrosius. Von Hartmut Leppin
119
Die Demut des Kaisers. Aspekte der religiösen Selbstinszenierung bei Theodosius II. (408^50 n. Chr.). Von Mischa Meier
135
Alienigena coniugia. Bestrebungen zu einem Verbot auswärtiger Heiraten in der Karolingerzeit. Von Walter Pohl
159
Der Mehrwert der päpstlichen Schlüsselgewalt und die Tradition des heiligen Clemens. Von Karl Ubl
189
Das Schriftargument zwischen Papstmonarchie und konziliarer Idee. Biblische Argumentationsmodelle im Basler Konziliarismus. Von Thomas Prügl
219
Politik im Angesicht des Weltendes. Die Verzeitlichung des Politischen im Horizont des lutherischen Schriftprinzips. Von Marcus Sandl
243
Juan de Mariana: Bibelexegese und Tyrannenmord. Von Nicole Reinhardt
273
Auf der Suche nach den Ursprüngen des Divine Right of Kings. Herrschaftskritik und Herrschaftslegitimation in Schottland unter Jakob VI. Von Andreas Pecar
295
The Revelation of the Revelation. Die Bedeutung der Offenbarung des Johannes für das politische Denken in England im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert. Von Ronald G. Asch
315
Zwischen Gottesebenbildlichkeit und Höllensturz. Das Bild des französischen Königs in Zeiten der Fronde. Von Andreas Pietsch
333
Bossuet, die Bibel und der .Absolutismus'. Von Lothar Schilling
....
349
VI
Inhalt
Bibelkritik im Schatten des „Leviathan". Thomas Hobbes' Rekonstruktion biblischer, Wahrheit'. Von Hans-Dieter Metzger
371
Abkürzungen
385
Register
387
Die Autoren
391
Vorwort Die meisten der in diesem Band versammelten Aufsätze sind aus Vorträgen und Diskussionen einer Tagung hervorgegangen, die vom 6. bis zum 9. Oktober 2005 auf Schloß Reisensburg in Günzburg stattgefunden hat. Walter Pohl (Wien), Nicole Reinhardt (Lyon) und Marcus Sandl (Konstanz) haben sich bereitgefunden, unser Vorhaben nachträglich mit gewichtigen Beiträgen zu unterstützen. Dafür gebührt ihnen ebenso wie den Referenten unser ausdrücklicher Dank. Die Veranstaltung wäre nicht möglich gewesen ohne die großzügige finanzielle Förderung der Gerda-Henkel-Stiftung, der wir dafür großen Dank schulden. Dankbar sind wir auch den Herausgebern der Historischen Zeitschrift für die Aufnahme des Bandes in die Reihe der Beihefte der HZ sowie der HZ-Redaktion für die sorgfältige redaktionelle Betreuung. Große Verdienste um das Erscheinungsbild dieses Bandes hat sich ferner Wolfgang Havener (Konstanz) erworben, der die Erstredaktion der Beiträge mit großer Sorgfalt durchgeführt und das Bibelstellenregister angefertigt hat. Rostock / Konstanz, im Juni 2007
Andreas Pecar / Kai Trampedach
Der „Biblizismus" - eine politische Sprache der Vormoderne? Von
Andreas Pecar und Kai Trampedach Aus den drei einflußreichsten Traditionssträngen Europas, dem alt- und neutestamentlichen Judentum, dem antiken Griechenland und aus Rom, sind jeweils ausgeprägt monarchiekritische Diskurse überliefert. Seitdem ging mit der Existenz von Monarchie beinahe zwangsläufig eine öffentliche Auseinandersetzung über die Legitimität und die Reichweite monarchischer Herrschaft einher. Ebenso zwangsläufig scheint zu sein, daß die Protagonisten in dieser Debatte zurückgriffen auf fundierende Texte und Traditionsfelder, deren Autorität außer Frage stand und die sich daher als Reservoir politischer Argumente eigneten. Eines dieser Traditionsreservoirs waren die in der Bibel gesammelten heiligen Schriften. Auf welche Weise sich die Akteure jeweils einzelner Aussagen und exempla der Bibel zu politischen Zwecken bedienten, wird im vorliegenden Sammelband anhand einiger Beispiele, die dem Zeitraum von der Antike bis zum Anbruch der Moderne entnommen sind, exemplarisch erörtert. Der Ausdruck .Biblizismus' dient uns dazu, eine Argumentation, die zur Begründung und Autorisierung vorgebrachter Positionen auf die Bibel Bezug nimmt, auf den Begriff zu bringen. Eine pejorative Kennzeichnung dieses Phänomens ist damit nicht beabsichtigt, im Gegensatz zur Verwendung des Begriffes in der Theologie, wo unter,Biblizismus' insbesondere der strikt am Wortlaut orientierte unkritische Bezug auf die Bibel im 19. und im 20. Jahrhundert verstanden wird.1 Daß die Bibel im politischen Diskurs der Vormoderne mitunter die Rolle eines fundierenden Textes2 - meistens neben anderen - einnahm, kann eigentlich nicht verwundern. Herrschaft und Religion waren in der Vormoderne keine strikt voneinander getrennten Bereiche. Herrschaftslegitimation sowie die Formulierung politischer Ziele kamen beide nicht aus ohne Anleihen bei der Religion. Im Geltungsbereich von ,Buchreligionen' liegt es nahe, zu diesem Zweck auf heilige Schriften zurückzugreifen. Es ist daher wenig erstaunlich, daß auch die in der Bibel enthaltenen Texte herangezogen wurden, um zu Aussagen über politische Herrschaft, deren Möglichkeiten und deren Grenzen zu gelangen. 1
Heinrich Karpp, Art. „Biblizismus", in: TRE 6, 1980, 478^84. Vgl. hierzu Quentin Skinner, The Foundations of Modern Political Thought. Vol. 1. Cambridge 1978, IX-XV; Anthony Pagden, Introduction, in: ders. (Ed.), The Languages of Political Theory in Early-Modern Europe. Cambridge 1987, 1-17, hier 1-3. 2
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Andreas Pecar und Kai
Trampedach
Seitdem die Bibel als Textkanon vorliegt, ist sie als Argument in der politischen Debatte benutzt worden. Gleichwohl ist die Art und Weise, wie die Bibel im Laufe ihrer Wirkungsgeschichte zur politischen Argumentation herangezogen wurde, welche Gruppen sich ihrer jeweils bedienten und welche Textstellen sich zur politischen Argumentation offensichtlich in besonderer Weise anboten, bislang in der Geschichtswissenschaft nur selten explizit untersucht worden, schon gar nicht in vergleichender Perspektive.3 Der vorliegende Vergleich verschiedener Spielarten biblizistischer Argumentation in unterschiedlichen politischen Kulturen soll daher ein erster Schritt sein, um etwas Aufmerksamkeit für das aus der Bibel gewonnene Argument in der Geschichte der politischen Theorie und Praxis zu wecken. Mit den hier versammelten Beiträgen wird daher nicht der Anspruch erhoben, das Thema vollständig erfaßt zu haben - anläßlich der Ubiquität biblizistischer Argumentationen in der Vormoderne wäre diese Absicht ohnehin zum Scheitern verurteilt. Es ist vielmehr die Absicht der Herausgeber, durch den Vergleich der hier präsentierten Fallbeispiele einige grundsätzliche Aspekte biblisch legitimierter Herrschaftskonzeptionen kultur- und epochenübergreifend in den Blick zu nehmen. Der Betrachtungszeitraum der vorliegenden Aufsatzsammlung, der in der Überschrift mit dem Begriff der Vormoderne etikettiert wurde, ist denkbar weit gespannt. Mit dem Begriff der Vormoderne soll natürlich keine kulturelle Einheit oder Kontinuität behauptet werden.4 Vielmehr akzentuiert der Begriff den radikalen Bruch, der in der westlichen Welt mit der Aufklärung und der Industrialisierung seit dem 18. Jahrhundert eingetreten ist. Bezogen auf unser Thema läßt sich nämlich konstatieren, daß eine politische Argumentation, die sich wesentlich aus der Bibel speiste und in der Vormoderne häufig anzutreffen war, in der Moderne ihre Legitimität indes verlo3
Eine grundlegende und übergreifend angelegte Pionierleistung stellt sicherlich das Werk Hennig Graf Reventlows dar, das in der Geschichtswissenschaft bislang leider noch nicht die notwendige Aufmerksamkeit gefunden hat; vgl. nur Hennig Graf Reventlow, Epochen der Bibelauslegung. 4 Bde. München 1990-2001. Unser ebenfalls übergreifend angelegter Vergleich biblizistischer Argumentationen unterscheidet sich jedoch in zwei Punkten von Reventlows Ansatz. Zum einen ist bei uns der Fokus nicht allgemein auf Bibelrezeption gerichtet, sondern auf den Gebrauch biblischer Verweise in politischen Debatten. Zum anderen führt Reventlow seine Beispiele für Bibelrezeption wesentlich in Form einer Autorengeschichte vor. Im vorliegenden Sammelband stehen hingegen politische Konflikte im Mittelpunkt. 4
Ein prominenter Versuch, eine solche Einheit zu proklamieren, ist Otto Brunners Konzept ,Alteuropas', mit dem er einen Zeitraum im Blick hatte, der ,von Homer bis Goethe' reichte; vgl. hierzu Reinhard Blänkner, Von der „Staatsbildung" zur „Volkswerdung". Otto Brunners Perspektivenwechsel der Verfassungshistorie im Spannungsfeld zwischen völkischem und alteuropäischem Geschichtsdenken, in: Luise Schorn-Schütte (Hrsg.), Alteuropa oder Frühe Moderne? Deutungsmuster für das 16. bis 18. Jahrhundert aus dem Krisenbewußtsein der Weimarer Republik in Theologie, Rechts- und Geschichtswissenschaft. (ZHF, Beih. 23.) Berlin 1999, 87-135, hier 117-124 u. 130f.
Der „ Biblizismus " - eine politische Sprache der Vormoderne ?
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ren hat, wenn man von gesamtgesellschaftlichen Randgruppen oder Sekten wie den Mormonen einmal absieht. Die Bibel hat an politischer Autorität spürbar eingebüßt, als sie Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung wurde und die historische Bibelkritik im 18. und verstärkt dann im 19. Jahrhundert die verschiedenen Textschichten, Entstehungsphasen und Überlieferungen der einzelnen Schriften zu untersuchen begann. Ein erstes Aufflackern der Bibelkritik, wenn auch weitgehend gespeist aus einer politischen Zielsetzung, läßt sich bereits in Hobbes' „Leviathan" ausmachen, wie der Beitrag von Hans-Dieter Metzger deutlich macht. Deshalb beschließt dieser Beitrag den vorliegenden Sammelband. Wo die Bibelkritik ihren Anfang hat, ist das Thema - die ,Bibel als politisches Argument' - weitgehend ans Ende gelangt. Zuvor ist allerdings ein großer Zeitraum abzuschreiten. Den Anfang macht ein Blick auf die Epoche, in der die einzelnen Schriften der Bibel und hier des Alten Testaments zuallererst entstanden und die Texte sich als Ausfluß politischer Auseinandersetzungen zu erkennen geben. Die Perspektive ist dabei ebenso wie in den folgenden Beiträgen - angefangen beim hellenistischen Judentum und dem frühen Christentum über den Beginn des christlichen Kaisertums und das Papsttum des Mittelalters bis in die Zeit der konfessionellen Auseinandersetzungen im 17. Jahrhundert - auf den Umgang mit den biblischen Texten, auf ihre Nutzung im politischen Diskurs gerichtet.
I. Gerade der kultur- und epochenübergreifende Vergleich biblizistischer Rede über Herrschaft ermöglicht Aussagen darüber, inwieweit sich strukturelle Gemeinsamkeiten des biblischen Arguments in den unterschiedlichen Verwendungskontexten ausmachen lassen. Wer Herrschaft an biblischen Vorbildern mißt und die Bibel für politische Aussagen heranzieht, hat eine eigene Art, über Politik zu reden. Der Bezug auf eine gemeinsame Autorität ordnet diese Aussagen einem gemeinsamen politischen Diskurs zu, macht sie zu unterschiedlichen Äußerungen eines spezifischen Diskurses oder einer gemeinsam geteilten .politischen Sprache'. Um die politische Kultur einer Zeit zu erfassen, ist es stets bedeutsam, in welchen sprachlichen Zusammenhängen - oder politischen Sprachen, wie sie fortan präziser genannt werden sollen - eine Gesellschaft aktuelle Probleme und Konflikte jeweils diskutiert und aus welchen Traditionsreservoirs sie ihre Argumente bezieht. Ob und inwiefern der Bezug auf die Bibel das Potential in sich barg, politische Sprachen hervorzubringen oder nicht - diese Frage dient gewissermaßen als heuristisches Mittel, um die unterschiedlichen historischen Beispiele und Sprechakte im Rahmen eines einheitlichen Deutungskonzepts miteinander vergleichen zu können.
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Andreas Pecar und Kai Trampedach
Das methodische Konzept der politischen Sprache - der .political language' - stammt aus der ,Cambridge school of political ideas' und ist insbesondere von John Pocock und Quentin Skinner im Laufe der letzten vierzig Jahre entwickelt worden.5 Dabei ging es insbesondere darum zu untersuchen, mit welchen Argumenten im 17. Jahrhundert Aussagen über die Verfassung und die Monarchie in England getroffen wurden. Zwei Argumentationsreservoirs waren für Pocock und Skinner von besonderem Interesse: erstens der Bezug auf die eigene Geschichte als Argument, mit dem in England insbesondere auf die verbrieften Freiheitsrechte des Volkes verwiesen wurde, niedergelegt in der sogenannten Ancient Constitution.6 Und zweitens der sogenannte ,civic humanism' - der Bezug auf antike Staatsphilosophie, insbesondere auf Autoren, in denen sich ein republikanisches Staatsverständnis widerspiegelt.7 Die Bibel als Argumentationsarsenal bleibt bei beiden Autoren weitgehend ausgespart. , Die Kategorie der politischen Sprache hat für die Erforschung von Diskursen eine vergleichbare Funktion wie der Begriff Struktur für die Interpretation menschlichen Handelns. Politische Sprachen liefern eine Disposition für politische Sprechakte. Innerhalb einer politischen Sprache ist eine bestimmte Bandbreite politischer Äußerungen möglich, bestimmte Aussagen schließt der Gebrauch einer Sprache jedoch jeweils aus. Pocock betont, daß politische Sprechakte, die er mehrfach auch in Anlehnung an den Strukturalismus mit dem Ausdruck parole benennt, sich orientieren müssen an den zur Verfügung 5
John Greville Agard Pocock, Languages and their Implications. The Transformation of the Study of Political Thought, in: ders., Politics, Language and Time. Essays on Political Thought and History. Chicago/London 1989, 3-41; ders., The Concept of a Language and the Métier d'Historien. Some Considerations on Practice, in: Anthony Pagden (Ed.), The Languages in Political Theory in Early-Modem Europe. Cambridge u.a. 1987, 19-38; James Tully, Quentin Skinner and His Critics. Princeton 1988; Melvin Richter, Zur Rekonstruktion der Geschichte der Politischen Sprachen. Pocock, Skinner und die Geschichtlichen Grundbegriffe, in: Hans E. Bödeker/Emst Hinrichs (Hrsg.), Alteuropa - Ancien Régime - Frühe Neuzeit. Probleme und Methoden der Forschung. Stuttgart 1991, 134-174; Achim Landwehr, Die Grenzen des Sagbaren. Einführung in die Historische Diskursanalyse. Tübingen 2001,40-45; Günther Lottes, „The State of the Art". Stand und Perspektiven der „Intellectual History", in: Frank-Lothar Kroll (Hrsg.), Neue Wege der Ideengeschichte. Fschr. für Kurt Kluxen zum 85. Geburtstag. Paderborn 1996, 27^45; Eckhart Hellmuth/Christoph von Ehrenstein, Intellectual History Made in Britain. Die Cambridge School und ihre Kritiker, in: GG 27, 2001, 149-172; Luise Schorn-Schütte/Sven Tode (Hrsg.), Debatten über die Legitimation von Herrschaft. Politische Sprachen in der Frühen Neuzeit. (Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel, Bd. 19.) Berlin 2006. 6
John Greville Agard Pocock, The Ancient Constitution and the Feudal Law. Cambridge 1987 [1957]; Glenn Burgess, The Politics of the Ancient Constitution. An Introduction to English Political Thought. London 1992. 7 John Greville Agard Pocock, The Machiavellian Moment. Florentine Political Thought and the Atlantic Republican Tradition. Princeton 1975; Quentin Skinner, Liberty before Liberalism. Cambridge 1998; Markku Peltonen, Classical Humanism and Republicanism in English Political Thought 1570-1640. Cambridge 1995; Martin van Gelderen (Ed.), Republicanism. A Shared European Heritage. 2 Vols. Cambridge 2002.
Der „Biblizismus" - eine politische Sprache der Vormoderne?
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stehenden politischen Sprachen, die er mit dem Begriff langue gleichgesetzt.8 Diese politischen Sprachen bestimmen wiederum Möglichkeiten und Grenzen des Gesagten: „For anything to be said or written or printed, there must be a language to say it in; the language determines what can be said in it, but is capable of being modified what is said in it".9 Dies habe keine Homogenisierung der Aussagen zur Folge - in einer politischen Sprache können durchaus wohl aber einen gemeinsagegensätzliche Standpunkte vertreten werden men Kanon an Autoritätsinstanzen sowie ein bestimmtes Maß gemeinsamer Begriffe und debattierter Themen.10 Die politischen Sprachen legen nicht so sehr fest, was, sondern wie etwas gesagt werden muß, um zu überzeugen. Es ist diese Funktionsäquivalenz, die die Kategorie der politischen Sprache mit derjenigen der Struktur aufweist, die dazu geführt hat, daß politische Sprachen mitunter mit dem Begriff des ,Habitus' gleichgesetzt wurden. Damit wird aber letztlich der unterschiedliche Gehalt beider methodischer Konzepte mißverstanden.11 Ein Habitus wird durch Sozialisation erworben, gleichsam inkorporiert, um fortan Wahrnehmung und Weltanschauung, Verhalten und Lebensstil entscheidend zu prägen. Im Gegensatz zum Rollenverhalten, das dem Akteur je nach Rolle bestimmte Verhaltensweisen nahelegt und andere ausschließt, ist der Habitus nach Abschluß der Sozialisation fest mit der Person verknüpft, läßt sich weder austauschen noch beliebig neuen sozialen Erfordernissen anpassen. Politische Sprachen sind hingegen der Rollenkategorie weit näher als dem Habituskonzept. Für jeden Sprechakt steht dem Autor theoretisch eine Auswahl verschiedener Sprachen zur Verfügung, derer er sich bedienen kann, sofern er deren Regeln beherrscht12 und eine bestimmte politische Sprache nicht prinzipiell - z.B. aus weltanschaulichen Gründen - ablehnt. Auch können in
8 John Greville Agard Pocock, The State of the Art, in: ders., Virtue, Commerce, and History. Essays on Political Thought and History, Chiefly in the Eighteenth Century. Cambridge 1985, 1-34, hier 5 passim. Als weitere Parallelbegriffe fuhrt Pocock mitunter auch die Begriffe Vokabulare, Rhetoriken und Diskurse ins Feld; vgl. hierzu Pocock, Concept (wie Anm. 5), 21. Diese Vielfalt trägt jedoch unseres Erachtens vor allem zur Verwirrung bei, weshalb hier dem Begriff der politischen Sprache der alleinige Vorzug gegeben werden soll, da sich dieser letztlich auch am stärksten mit dem vorgestellten theoretischen Konzept verbindet. 9 Pocock, Concept (wie Anm. 5), 20. 10 Pocock, The State of the Art (wie Anm. 8), 8-10. 11 Daß beides keineswegs miteinander identisch ist, betont Pocock, The State of the Art (wie Anm. 8), 18; ders., Concept (wie Anm. 5), 22. 12 Pocock betont, daß auch eine politische Sprache angeeignet werden muß. Mit dieser Aneignung geht jedoch, im Gegensatz zum Habitus, nicht notwendigerweise eine Persönlichkeitsprägung einher. Es ist daher jeweils vom Bildungsstand des Autors abhängig, wie viele verschiedene politische Sprachen er sich zu eigen macht. Beispiele für Personen, die auf unterschiedlichen Klaviaturen zu spielen in der Lage sind, werden sich in den folgenden Beiträgen zahlreich finden.
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Andreas Pecar und Kai
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einem Text unterschiedliche Sprachen zugleich herangezogen werden - im politischen Diskurs ein keineswegs seltener Fall der Argumentation.13 Sollte es daher zu einer annähernden Deckungsgleichheit zwischen Habitus und der verwendeten politischen Sprache kommen, so ist dies die Ausnahme, keineswegs die Regel. Dieser Fall mag immer dann zutreffen, wenn aufgrund habitueller und weltanschaulicher Prägung aus der Summe der möglichen Sprachen nur eine als legitim erscheint, die anderen hingegen aus prinzipiellen Gründen verworfen werden müssen. So bleibt beispielsweise einem Presbyterianer im politischen Diskurs beinahe keine andere Wahl, als sich ausschließlich biblizistisch zu Wort zu melden, da ihm alle anderen Autoritätsinstanzen neben der Bibel bestenfalls als nachrangig, wenn nicht gar als illegitim zu gelten haben. 14 Von besonderem Interesse ist daher die Frage, ob sich jeweils spezifische Kultur- und Personenkreise ausmachen lassen, die nicht allein auf den Biblizismus als politischer Sprache zurückgreifen, sondern ihn darüber hinaus auch zum Monopol erheben und andere politische Sprachen entweder implizit ignorieren oder aber explizit als illegitim verwerfen: man denke hier nur an die politische Kultur im Alten Israel.15 Im Unterschied zu anderen politischen Sprachen besaß der Biblizismus offenbar das Potential, in bestimmten Konstellationen andere Autoritätsquellen zu verdrängen. Es ist für das Verständnis hilfreich, das Konzept der politischen Sprache nicht nur vom Habitusbegriff, sondern auch vom Begriff des Paradigmas abzugrenzen, den Thomas Kuhn zur Beschreibung des wissenschaftlichen Argumentationsverhaltens insbesondere in den Naturwissenschaften entwickelt hat. Auf diese Weise hat schon Pocock sein Konzept schärfer profiliert. Die Gemeinsamkeiten liegen auf der Hand: Den politischen Sprachen vergleichbar steuern die Paradigmen, was als Argument im Wissenschaftsdiskurs jeweils vorgebracht werden kann und was nicht.16 Es ist jedoch Kuhns Modell einer wissenschaftlichen Revolution, das sich nicht mit dem Konzept der politischen Sprache vereinbaren läßt. Die Grenzen des Sagbaren und Denkbaren, die ein Paradigma jeweils zieht, lassen sich Kuhn zufolge in den Naturwissenschaften nur durch eine wissenschaftliche Revolution durchbrechen, in der dann ein neues Paradigma an die Stelle des alten tritt.17 Diese Annahme läßt sich allerdings kaum auf das Konzept der politischen Sprache übertragen, womit die gravierenden Unterschiede angesprochen sind, die beide Konzepte letztlich voneinander trennen: So ist zunächst der soziale Rahmen der unter13
Pocock, Concept (wie Anm. 5), 30f. Vgl. den Beitrag von Andreas Pecar in diesem Band. Vgl. die Beiträge von Markus Saur und Kai Trampedach in diesem Band. Zum Monopolanspruch biblisch-theologischer Rede vgl. auch den Beitrag von Thomas Prügl. 16 Pocock, Languages (wie Anm. 5), 15. 17 Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. 2. Aufl. Frankfurt am Main 1976, Kap. 9 und 10. 14 15
Der „Biblizismus" - eine politische Sprache der Vormodeme?
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suchten Debatten nicht vergleichbar. Die Regeln der politischen Öffentlichkeit und des politischen Diskurses sind weitgehend verschieden von denjenigen der wissenschaftlichen Gemeinschaft 18 - was auch dann gilt, wenn man die Ausdifferenzierung der Wissenschaft im 17. Jahrhundert weniger optimistisch veranschlagt, als Kuhn und auch Pocock dies tun. 19 So mag der naturwissenschaftliche Diskurs allein auf Problemlösung und Erkenntnis ausgerichtet sein. Der politische Diskurs hingegen erfüllt mannigfaltige Funktionen: Neben Erkenntnisfragen spielen auch die Legitimation und Delegitimation politischen Handelns eine große Rolle, die Beschwörung gemeinsamer Wertvorstellungen, die Evozierung von Feindbildern und vieles andere mehr.20 Vor allem aber erscheint der zur Beschreibung wissenschaftlichen Fortschritts in der Naturwissenschaft entwickelte Begriff des Paradigmas für den Ablauf politischer Debatten als zu starr, um übertragbar zu sein. Letztlich handelt es sich hier um die gleiche Differenz der Erklärungsansätze wie auch beim Habitusbegriff: Im politischen Kommunikationsraum war und ist meist eine Vielzahl von politischen Sprachen zugleich im Gebrauch, die sich durchaus miteinander vereinbaren lassen und keineswegs notwendigerweise ausschließen.21 Diesem Umstand muß durch ein flexibleres Erklärungsmodell Rechnung getragen werden, als es die beiden Konzepte des Habitus und des Paradigmas bereitstellen. Ein letzter Aspekt soll hier im Zusammenhang mit dem Erklärungsmodell der politischen Sprache noch kurz angesprochen werden: die Frage nach der Folgewirkung der politischen Sprache(n) für die politische Praxis. Dieses Verhältnis wird bei Pocock eher beiläufig behandelt. Er versteht politische Theorie, d.h. die Rede über Herrschaft, zugleich als politische Handlung. Das Verhältnis von Diskurs und Praxis sieht er als wechselseitig bedingt an. Zum einen ist der politische Kontext eine wesentliche Bedingung für die Hervorbringung und die Art und Weise der produzierten Sprechakte. Zum anderen sind die damit geschaffenen Ideologien wiederum ein ,material factor' für die politische Praxis, die davon durchaus nicht unberührt bleiben muß. Angewandt auf den Diskurs über die Legitimität politischer Handlungen heißt das: „the limits of the stretchability of the available ideologies sets the limits to
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Pocock, Languages (wie Anm. 5), 16f. Vgl. hierzu Rudolf Stichweh, Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen: Physik in Deutschland 1740-1890. Frankfurt am Main 1984. 20 Pocock, Languages (wie Anm. 5), 18. 21 Pocock, Concept (wie Anm. 5), 21. Auf dieses Problem stößt man bereits, wenn man den Paradigma-Begriff für die Entwicklung in den Geisteswissenschaften fruchtbar zu machen sucht. Auch hier fallen schnell die Unterschiede zwischen Natur- und Geisteswissenschaften ins Auge; vgl. hierzu Stefan Haas, Historische Kulturforschung in Deutschland 1880-1930. (Münstersche Historische Forschungen, Bd. 5.) Köln/Wien/Weimar 1994, 446-453; Peter Burke, Varieties of Cultural History. Cambridge 1997, 177. 19
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legitimate action".22 Die Unschärfe solcher Aussagen verstehen wir nicht als Manko. Präzisere Festlegungen würden die epochenübergreifende Anwendbarkeit des Konzepts behindern, zumal das Postulat kausaler Beziehungen auf diesem Feld fragwürdig erscheint. Vergleicht man die hier vorliegenden Beiträge miteinander, scheint sich Pococks und Skinners Befund einer wechselseitigen Bedingtheit zwischen politischer Sprache und politischem Handeln zu bestätigen. Zum einen hatte der betonte Rückgriff auf biblische exempla im politischen Diskurs mitunter durchaus politische Handlungen zur Folge, wie Mischa Meier in seinem Beitrag an Kaiser Theodosius II. und dessen Praktiken der Davidimitatio vorführt. Zum anderen wurde politischen Entscheidungen, denen man mit biblischen Maximen und exempla entgegentreten konnte, mitunter erfolgreich die Legitimität abgesprochen - dies zeigt sich etwa an der von Walter Pohl untersuchten päpstlichen Kritik am geplanten Heiratsprojekt Karls des Großen mit der Tochter des Langobardenkönigs Desiderius.
II. Das Konzept der politischen Sprache ermöglicht es, die zahlreichen Beiträge zu unterschiedlichen Kulturen und Epochen einem einheitlichen Frageraster zu unterwerfen und damit überhaupt erst klar zu benennen, wo Unterschiede und Besonderheiten und wo die Gemeinsamkeiten im Bezug auf biblische Maximen und exempla zu verorten sind. Keineswegs soll damit die Existenz einer einheitlichen politischen Sprache des Biblizismus vom Alten Israel bis in die Frühe Neuzeit unterstellt oder behauptet werden. Je nach den untersuchten politischen Kulturen gestaltete sich der Zugriff auf Maximen und exempla der Heiligen Schrift unterschiedlich. Gleichwohl läßt sich auch die Vielgestaltigkeit der biblizistischen Argumentation am besten dadurch bestimmen, daß man die einzelnen Fallbeispiele auf systematische Weise miteinander vergleicht. Die Kriterien, nach denen die einzelnen Beiträge befragt werden sollen, sind dem Konzept der ,political language' entnommen. Im einzelnen fragen wir 1. nach den Voraussetzungen bibelgestützter Argumentation, 2. nach dem Verhältnis biblizistisch gewonnener Argumente zu Argumenten anderer politischer Sprachen, 3. nach der Pluralität der in der Bibel angelegten bzw. im Rückgriff auf die Bibel generierten Sprachen, und 4. schließlich nach den jeweiligen .Sprechern' und Adressaten des Biblizismus. Der letzte Aspekt bietet zugleich einige Ausblicke auf die jeweilige Verzahnung von politischem Diskurs und der Herrschaftspraxis und damit einherge22
James Tully, The Pen is a Mighty Sword, in: ders., Quentin Skinner and His Critics (wie Anm. 5), 23.
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hend auf die Ambivalenzen des Bibelbezugs für die Stabilität monarchischer Herrschaft. 1. Voraussetzungen biblizistischer Argumentation Eine politische Argumentation mit der Bibel war an Voraussetzungen geknüpft, um hinreichende Überzeugungskraft entfalten zu können. Eine prinzipielle conditio sine qua non war die anerkannte Normativität der jeweils angeführten Texte. Dies wird bereits in der alttestamentarischen Prophetie sichtbar, wie der Beitrag von Markus Saur deutlich macht. Schon die Propheten bezogen sich in ihrer politischen Rede auf bereits existierende Schriften, die normativen Status erlangt hatten. Saur zeigt Techniken des Traditionsbezugs der Propheten: neben allgemeinen Verweisen auf die bereits bestehende Überlieferung auch direkte Zitate in den prophetischen Schriften, wie etwa ein Michawort als Argument in der Verteidigung des Propheten Jeremia (Jer 26) belegt. Auch der performative Einsatz der Schrift - beispielsweise die Zurschaustellung von Schriftrollen etc. - läßt sich wiederholt in den Prophetenschriften finden. Sofern an der Authentizität der Schrift als Offenbarungstext kein Zweifel mehr bestand, war sie als Argument in politischen Kontexten einsetzbar. Wenn daher die Kanonizität einzelner Schriften der Bibel in Zweifel gezogen wurde, wie dies beispielsweise Erasmus von Rotterdam im Hinblick auf die Offenbarung des Johannes tat, so hatte dies unmittelbare Folgen auf ihr Legitimationspotential im politischen Diskurs. Es ist daher alles andere als Zufall, daß Luther, der ursprünglich ebenso wie Erasmus an der Kanonizität der Offenbarung zweifelte, diese Zweifel in dem Moment verlor, als die baldige Erwartung des Jüngsten Gerichts zum konstitutiven Moment der Reformation werden sollte, wie Marcus Sandl in seinem Beitrag hervorhebt. Aus einer Schrift zweifelhafter Kanonizität wurde nunmehr ein Text, mit dem sich das historische Ereignis der Reformation in das göttlich offenbarte Heilsgeschehen integrieren und der Papst als Antichrist dechiffrieren ließ, eine Lesart, die für die protestantische Identität nicht nur im Heiligen Römischen Reich, sondern in ganz Europa bedeutsam war, wie auch Ronald G. Asch in seinem Aufsatz deutlich macht. Diese Lesart konnte indes nur hinreichende Durchschlagskraft entfalten, solange die Kanonizität des der Interpretation zugrunde liegenden Textes, in diesem Fall der Apokalypse, außer Frage stand. Hans-Dieter Metzger verdeutlicht, wie Thomas Hobbes insbesondere in den letzten beiden Bänden seines Leviathan eben diese normative Gültigkeit des Bibeltextes im einzelnen in Frage zu stellen suchte. Mit Mitteln der Bibelkritik suchte er die Authentizität und damit zugleich die Autorität großer Teile insbesondere des Alten Testaments, aus dem sich neben Johannes' Offenbarung die meisten politischen Aussagen speisten, in Frage zu stellen. Mit dem zunehmenden Zweifel daran, daß die Bibel in allen Teilen das unverfälschte
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Andreas Pecar und Kai Trampedach
Wort Gottes sei, war zugleich die wichtigste Voraussetzung für den Biblizismus in die Diskussion geraten: die unstrittige Normativität der biblischen Texte selbst. Der Zweifel daran sollte auf lange Sicht auch dem Biblizismus als politischem Argument ein Ende bereiten.23 Es ist wohl kein Zufall, daß die sich etablierende historische Bibelkritik im 18. Jahrhundert und der zunehmende Bedeutungsverlust der Bibel als Referenzrahmen politischer Argumentation Hand in Hand gingen. Je besser es der philologisch und historisch arbeitenden Bibelkritik gelang, in den einzelnen Texten der Bibel unterschiedliche Entstehungsschichten zu identifizieren und damit die Genese der biblischen Texte und deren jeweils spezifischen Entstehungshintergrund zu erfassen, desto mehr geriet die Vorstellung vom vollständig inspirierten Wort Gottes in Begründungsnot. Die Kontexte der Entstehung der biblischen Texte waren dagegen im Zeitraum, der hier zur Debatte steht, weitgehend aus dem historischen Bewußtsein verschwunden. Der Autorität der biblischen Texte tat dieser Kontextverlust keinen Abbruch, im Gegenteil: Im selben Maß, in dem der Entstehungskontext aus dem Bewußtsein verschwand, konnte das Bild vom zeitlosen, ewigen Gotteswort Wirkung entfalten. Als im Zuge der Kanonisierung der Bibel ein abgeschlossener Textkorpus entstand, war der historische Entstehungskontext bereits vergessen, und die Vorstellung vom inspirierten Wort Gottes setzte sich durch. Die anerkannte Normativität biblischer Texte war indes nur eine notwendige, keineswegs bereits eine hinreichende Bedingung für biblizistische Sprechakte. Damit die Bibel als Argument eingesetzt wurde, bedurfte es auch geeigneter Kontexte, in denen das Argument Wirkung entfalten konnte. So finden sich beispielsweise in der frühchristlichen Apologetik nur wenige explizite Zitate oder Hinweise auf die als kanonisch geltenden Schriften des Alten oder des Neuen Testaments. Steffen Diefenbach legt dar, warum Hinweise auf die Schrift als Argument in der vorgegebenen Redesituation nicht zweckdienlich waren. Es galt, eine nichtchristliche Außenwelt dadurch vom Christentum zu überzeugen, daß man den Gegner mit seinen eigenen Waffen schlug: der rhetorischen Tradition, wie sie unter der Überschrift der zweiten Sophistik erneut Konjunktur hatte, sowie der Anknüpfung an römische Traditionselemente wie dem mos maiorum etc. Für dieses Ansinnen mußte der Re23 Jonathan Sheehan, The Enlightenment Bible: Translation, Scholarship, Culture. Princeton 2005; Adam Sutcliffe, Judaism and Enlightenment. Cambridge 2003; Reventlow, Epochen der Bibelauslegung (wie Anm. 3), Bd. 4; Rudolf Smend, Epochen der Bibelkritik. (Beiträge zur evangelischen Theologie, Bd. 109.) München 1991; ders., Bibel und Wissenschaft. Historische Aufsätze. Tübingen 2004; Michael Moriarty, Early Modem French Thought. The Age of Suspicion. Oxford 2003; Hans-Joachim Bechtoldt, Die jüdische Bibelkritik im 19. Jahrhundert. Stuttgart 1995; Georg Schwaiger (Hrsg.), Historische Kritik in der Theologie. Beiträge zu ihrer Geschichte. Göttingen 1980; Hans-Joachim Kraus, Geschichte der historisch-kritischen Erforschung des Alten Testaments. 2. Aufl. NeukirchenVluyn 1969.
Der „ Biblizismus
" - eine politische
Sprache der Vormoderne ?
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kurs auf die Bibel geradezu kontraproduktiv erscheinen. Auch eine Verzahnung der historia sacra mit der Rede über Herrschaft im allgemeinen und das römische Imperium im besonderen konnte sich daher im Frühen Christentum vor Konstantin nicht etablieren. 2. Das Verhältnis des Biblizismus zu anderen politischen
Sprachen
Der Biblizismus war oftmals nur eine von mehreren Spielarten, monarchische Herrschaft zu konzeptualisieren. Nur in Ausnahmefällen kam biblischen Texten das Privileg zu, das einzig legitime Traditionsreservoir zur Gewinnung politischer Argumente zu sein. Am ehesten war dieser Zustand in der politischen Kultur des antiken Judentums gegeben, wo sich Politik - zumal nach dem Scheitern der hellenistischen Reform und der sich daran anschließenden Religionsverfolgung - nur in direkter Abhängigkeit zu der in der Überlieferung enthaltenen göttlichen Offenbarung konzeptualisieren ließ, wie Kai Trampedach in seinem Beitrag verdeutlicht. Christliche Autoren waren dagegen auch nach der kaiserlichen Sanktionierung des Christentums durch Konstantin weiterhin konfrontiert mit politischen Deutungsmustern der antiken Welt. Gegen diese lange und ehrwürdige Tradition anderer politischer Sprachen hatte es der Biblizismus in der Spätantike schwer sich durchzusetzen. Für das Frühmittelalter im Westen ergibt sich dagegen ein anderes Bild. Gerade weil hier die Tradition antiker Rede Uber Herrschaft abgerissen war, ergab sich für politische Argumentation mit biblischen Maximen und exempla ein weit größerer Spielraum. Walther Pohl macht in seinem Aufsatz deutlich, wie das biblische Argument insbesondere dann an Gewicht gewinnen konnte, wenn das kanonische Recht und die Patristik sich als wenig aussagekräftig erwiesen. Dies zeigte sich insbesondere bei der Diskussion von Ehen fränkischer Herrscher mit fremdstämmigen Frauen. Was von den Rechtsquellen in keiner Weise beanstandet wurde, konnte im Lichte des Alten Testaments als Frevel erscheinen. Wie eine Bibelstelle zunehmend und systematisch zur Legitimation politischer Herrschaftsansprüche herangezogen wurde, demonstriert Karl Ubl anhand der Rede von der Schlüsselgewalt Petri (Mt 16,18). Sein Beitrag nimmt das gesamte Früh- und Hochmittelalter in den Blick und läßt dabei erkennen, daß die Kurie sich zur Legitimation der päpstlichen Vollgewalt auf Mt 16,18 berief. Obwohl diese politische Interpretation allein den Papst als Inhaber der petrinischen Schlüsselgewalt auszeichnete, blieb im allgemeinen Bewußtsein die Binde- und Lösegewalt der Seelsorge stets etwas, über das jeder Priester bei der Erteilung der Absolution verfügte. Diese latente Spannung zweier voneinander abweichender Auslegungstraditionen wurde um so größer, je stärker die Päpste ihren Anspruch auf die plenitudo potestatis mit Hilfe der Exegese von Mt 16,18 durchzusetzen suchten, und bot damit zugleich der Papstkritik eine willkom-
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mene Möglichkeit, den päpstlichen Herrschaftsanspruch in der Kirche in Frage zu stellen. Sowohl Pohls als auch Ubls Beitrag lassen deutlich erkennen, daß der Bibel im Mittelalter unter den möglichen Argumentationsspeichern politischer Rede (wie Kanonistik, Patristik, mitunter auch antike Staatsphilosophie) keineswegs eine Vorrangstellung eingeräumt wurde. So war die Heilige Schrift in der Auseinandersetzung um die Fremdehen ebenso wie um den päpstlichen Primat nur eine von mehreren Legitimationsquellen. Auch das Mittelalter kannte daher eine Pluralität politischer Sprachen, derer man sich zur Diskussion monarchischer Herrschaft - sei es in der weltlichen oder aber in der geistlichen Spielart - jeweils bedienen konnte. Diese Pluralität politischer Sprachen wurde allerdings seit dem Spätmittelalter zunehmend selbst zum Anlaß politischer Debatten. Thomas Prügl demonstriert dies anhand der Argumentation der Theologen Johannes von Segovia und Johannes von Ragusa im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen auf dem Basler Konzil. Beide Autoren sahen in der Bibel die prominenteste und letztlich einzig legitime Autorität, die Gestalt der Kirche zu erörtern. Dieses Sola-Scriptura-Argument, das sich auch bei den Hussiten und später bei den Reformatoren wiederfindet, bot nun ganz neue Spielräume für eine biblizistische Argumentation. Es ist bezeichnend, daß der Gegenspieler der Konziliaristen auf dem Basler Konzil, Johannes de Torquemada, sich weniger auf die Bibel als vielmehr auf die bewährten Traditionsfelder der Kanonistik und der antiken Philosophie stützte, um das biblische Argument damit abzuschwächen. Diente das Sola-Scriptura-Argument den Konziliaristen dazu, Fragen der Kirchenstruktur und der innerkirchlichen Herrschaftsverhältnisse zu diskutieren, dehnte die Reformation die Reichweite des biblischen Arguments auf letztlich alle gesellschaftlichen Bereiche aus, wie Marcus Sandl in seinem Beitrag verdeutlicht. Mit der Gattung der Predigt als politischer Mahnrede sowie politischen Gutachten rückten Geistliche in die Rolle politischer Berater oder Kritiker der Obrigkeit. Ihre Aussagen zur Gestaltung von Politik und Herrschaft waren wesentlich aus der Bibel entnommen. Der Biblizismus hielt so Einzug in die vermeintlich weltliche Sphäre politischer Herrschaftsausübung. Welche gesellschaftliche Dynamik ausgelöst werden konnte, wenn das Sola-Scriptura-Argument auch außerhalb des Klerus als verbindliche Maxime auf Zustimmung stieß, läßt sich ferner im Zusammenhang mit dem Hussitenaufstand oder auch mit den sozialen Protesten, die die frühe Reformation begleiteten, beobachten. In der Zeitspanne der konfessionellen Auseinandersetzungen sollte es immer wieder soziale Gruppen und Glaubensrichtungen wie die Täufer und die Presbyterianer geben, die nicht nur die Kirche, sondern auch die Gesellschaft als Ganzes einschließlich der weltlichen Herrschaft allein den Vorgaben der Bibel bzw. ihrer spezifischen Lesart der Heiligen Schrift unterwerfen wollten.
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Auch vor der prinzipiellen Erörterung der Reichweite und der Grenzen der Königherrschaft machte der Biblizismus nicht halt. Dies war nicht nur der Fall, als sich die Wittenberger Reformatoren vor die Aufgabe gestellt sahen, sich in Gutachten zur Frage zu äußern, ob man dem Kaiser und seinem Ansinnen, die Umsetzung der auf dem Reichstag getroffenen Religionsbeschlüsse, also die faktische Abschaffung der Reformation durchzusetzen, Widerstand leisten dürfe oder nicht.24 Die Frage nach dem Widerstandsrecht stellte sich im Zusammenhang mit den konfessionellen Auseinandersetzungen in katholischen wie in protestantischen Monarchien gleichermaßen. Nicole Reinhardt führt mit Juan de Mariana einen katholischen Theologen vor, der weithin als Apologet des Widerstandsrechts gegen den König verstanden wurde. Sein Traktat „De Rege", eine Erziehungsschrift für Philipp III., greift bei der Diskussion über die Legitimität des Tyrannenmords neben historischen auch auf biblische Beispiele zurück. Reinhardt führt allerdings vor, daß sich Mariana einer spezifischen Technik der Interpretation bedient, um den biblischen exempla letztlich ihre Beweiskraft für die Debatte zu entziehen. Der Biblizismus ist in Marianas Augen keine legitime Sprache zur Diskussion der Möglichkeiten und Grenzen der Königsherrschaft. Die Ambivalenz biblischer Rede über die Königsherrschaft betont auch Andreas Pietsch, der sich einem Traktat zuwendet, der im Zusammenhang mit der Fronde entstanden ist und die Königsherrschaft unter Rückgriff auf einzelne biblische Beispiele charakterisiert. Der Autor des Traktats stellt den Biblizismus aber nicht explizit in Frage, sondern bedient sich hierfür einer Art Montagetechnik, in welcher er einzelne biblische Aussagen über die Herrschaft des Königs so miteinander verknüpft, daß ein Zerrbild der Monarchie erscheint, ein König auf eine vom Tyrannen nicht mehr zu unterscheidende Art und Weise charakterisiert wird. 24
Dies zeigt schon ein Blick auf die eigens zur Dokumentation der Debatte des Widerstandsrechts im Alten Reich angefertigte Quellensammlung von Friedrich Hortleder, Der Römischen Kayser- und Königl. Maiestete Auch deß heiligen Rö. Reichs, geistlicher und weltlicher Stände, Churfürsten, Fürsten, Graffen, Herrn, Reichs- und anderer Stätte, zusampt der Heiligen Schrifft, geistlicher und weltlicher Rechte Gelehrten Handlungen und Außschreiben, Rathschläge, Bedencken, Send- und andere Brieffe, Bericht, Supplicationschrifften ... von Rechtmässigkeit, Anfang, Fort- und endlichen Außgang deß Teutschen Kriegs, Keyser Carls deß Fünften, wider die Schmalkaldische Bundsoberste, Chur- und Fürsten, Sachsen und Hessen und J. Chur- und Fürstl. G. G. Mitverwandte. Frankfurt am Main 1618. Vgl. ferner Heinz Scheible (Hrsg.), Das Widerstandsrecht als Problem der deutschen Protestanten 1523-1546. Gütersloh 1969; Eike Wolgast, Die Wittenberger Theologen und die Politik der evangelischen Stände. Heidelberg 1977; Robert von Friedeburg, Widerstandsrecht und Konfessionskonflikt. Notwehr und Gemeiner Mann im deutsch-britischen Vergleich 1530-1669. (Schriften zur europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte, Bd. 27.) Berlin 1999; Luise Schom-Schütte, Obrigkeitskritik und Widerstandsrecht. Die „politica christiana" als Legitimitätsgrundlage, in: dies. (Hrsg.), Aspekte der politischen Kommunikation im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts. (HZ, Beihefte, NF., Bd. 39.) München 2004, 195-232.
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In bestimmten Kontexten konnte der Biblizismus auch bei solchen Autoren zum vorherrschenden Argument werden, die keineswegs als Verfechter des Sola-Scriptura-Prinzips gelten dürfen. Ein solches Beispiel präsentierte Lothar Schilling mit Bossuets Traktat „Politique tirée des propres paroles de l'Ecriture sainte". Bossuet bediente sich in diesem Traktat mit über 2000 Bibelbelegen und zahlreichen direkten Zitaten aus der Heiligen Schrift einer biblizistischen Überwältigungsrhetorik. Gleichwohl speiste sich die von ihm vertretene Argumentation zu wesentlichen Teilen weniger aus der Bibel als vielmehr aus der bis ins Spätmittelalter zurückreichenden gallikanistisch-legalistischen Argumentationstradition, auch wenn er diese Übernahmen häufig nicht kenntlich machte. Offenkundig suchte Bossuet die Bibel für seine politische Position auf eine Weise fruchtbar zu machen, wie dies bislang vor allem bei Hugenotten und Jansenisten gängige Praxis war. Dieser spezifische Kontext der religiösen Konflikte innerhalb Frankreichs, in den Bossuets Text eingebunden war, ließ offenbar eine biblizistische Argumentation zumindest dem Anschein nach auch dann als opportun erscheinen, wenn sie sich in Wirklichkeit aus anderen politischen Sprachen speiste. Auch und gerade weil der französische König seine Herrschaft in Bossuets Augen anderen Legitimitätsquellen zu verdanken hatte als der Heiligen Schrift, erachtete Bossuet es offenkundig als notwendig, darzulegen, daß diese Königsherrschaft den in der Schrift enthaltenen Wahrheiten nicht widersprach. Um dies aber unter Beweis zu stellen, mußten sich auch Gegner des Sola-Scriptura-Arguments erst einmal darauf einlassen, mit den Mitteln der Schriftinterpretation Aussagen zur Legitimität weltlicher Herrschaft zu gewinnen. Auf diese Weise erhielten auch politische Texte mitunter ein biblizistisches Antlitz, deren Autoren dem Sola-Scriptura-Argument skeptisch gegenüberstanden. 3. Anknüpfungselemente in der Bibel zur Thematisierung von Herrschaft Genaugenommen kann in allen untersuchten Fällen von einem Bezug auf die Bibel im Singular keine Rede sein. Die Bibel bot für politische Debatten keinen einheitlichen Referenzrahmen, sondern nur einen normativ abgesicherten Bestand höchst unterschiedlicher Texte. Zum einen handelt es sich bei der Bibel um keinen Verfassungstext, aus dem sich die notwendigen Regeln einer Gemeinschaft einfach ablesen und in Gesetzesform bringen ließen, sondern um eine äußerst komplexe, vielschichtige und widersprüchliche Textsammlung mit einem Entstehungsprozeß von insgesamt ungefähr tausend Jahren. Entsprechend der vielschichtigen Textgrundlage gestaltete sich auch der Zugriff auf die in der Bibel gesammelten Texte höchst unterschiedlich. Im Hinblick auf die Monarchie werden in diesem Sammelband insbesondere zwei biblische Traditionskomplexe aufgegriffen: zum einen die Aussagen über die Königsherrschaft, wie sie sich vor allem in den historischen Bü-
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ehern des Alten Testaments finden lassen, zum anderen die apokalyptische Tradition, die ganz eigene Möglichkeiten bot, Herrschaft zu thematisieren. Beide Traditionen präfigurierten zwar die Art und Weise, wie politische Herrschaft jeweils verhandelt wurde, nicht aber die politische Ausrichtung des Arguments. Der Vergleich der verschiedenen Beiträge macht deutlich, daß derselbe Bestand an Maximen und exempla sowohl Befürwortern als auch Kritikern der Monarchie genügend Material für ihre jeweilige Argumentation bieten konnte. So diente die Offenbarung des Johannes in Religionsauseinandersetzungen häufig zur radikalen Ausgrenzung des jeweiligen Kontrahenten und besaß in diesem Sinne auch immer herrschaftskritisches Potential, sofern man den Monarchen nur unter Verdacht stellte, mit dem Antichristen in Verbindung zu stehen. Selbst diese Schrift konnte aber auch im königsfreundlichen Sinne ausgelegt werden, wie Ronald G. Asch auf höchst aufschlußreiche Weise anhand der exegetischen Schriften des schottischen und englischen Königs Jakob VI./I. zur Offenbarung verdeutlicht. Die Bibel enthielt mit ihren zumindest im politischen Sinne - widersprüchlichen Maximen und exempla nur das Potential zur biblizistischen Argumentation. Ob es opportun war, sich dieses Potentials zu bedienen und in welcher Weise dies jeweils geschah, dies hing entscheidend vom jeweiligen Verwendungszusammenhang der Argumentation ab. 4. Die Träger des biblizistischen Diskurses und das Verhältnis zur politischen Praxis Wer bediente sich der Bibel zur Unterfütterung politischer Argumente in besonderer Art und Weise? Es ist ein wohl wenig erstaunlicher Befund, daß insbesondere Geistliche der Bibel und ihrem immensen Fundus an Vergleichsmöglichkeiten auch politische Interpretationen entlocken konnten. Schon manche Propheten des Alten Testaments bedienten sich, wie Marcus Saur zeigt, bereits existierender normativ abgesicherter Texte, um mit ihnen ihre Rolle als politische Kommentatoren und Mahner überzeugender ausfüllen zu können. Kai Trampedach führt anhand der Hasmonäer vor, welche Probleme die zur Norm gewordene Schrifttradition für die Legitimation politischen Handelns aufwarf. Zwar waren die Hasmonäer die Initiatoren des erfolgreichen Aufstands der Juden gegen die Herrschaft der Seleukiden und bestimmten als Dynastie die Geschicke der Juden über etwa hundert Jahre. Sie versuchten, ihre Herrschaft dem theokratischen Ideal, das ihnen aus zahlreichen kanonischen Schriften entgegenschlug, anzupassen. Als Eiferer für das Gesetz, als Führer eines heiligen Krieges gegen die umliegenden Völker, als von Gott und dem Volk Erwählte ergriffen die Hasmonäer Rollen, die sie in den heiligen Schriften vorgezeichnet fanden. Doch auch die quietistischen, genealogischen,
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ethisch-rituellen und politischen Einwände der vielgestaltigen Opposition beriefen sich auf das Gesetz. So fand der Versuch der Hasmonäer, sich durch eine typologische Interpretation, wie sie das erste Makkabäerbuch vorführt, aus dem Korsett einengender Gesetze zu befreien, auf Dauer keine Akzeptanz. Die Hasmonäer orientierten sich daher immer stärker an hellenistischen Vorbildern und gestanden auf diese Weise das Scheitern ihres ,Biblizismus' implizit ein. Auch im Christentum war es zuvorderst der Klerus, der sich der Interpretation der Bibel auch in politischer Hinsicht bedienen sollte, kaum daß er seit Konstantin keiner Verfolgung mehr ausgesetzt war. Eusebius beispielsweise charakterisierte Konstantin als zweiten Moses und schrieb ihm damit eine spezifische Herrschaftsrolle mit dem doppelten Anforderungsprofil eines Herrschers und Kirchenführers zu. Bei allen Vorteilen, die ein Kaiser kurzfristig aus solchen Vergleichen ziehen konnte, blieb die Identifizierung römischer Herrscher mit biblischen Gestalten für die Institution der Monarchie stets ambivalent, wie Bernd lsele in schönster Klarheit herausarbeitet. Bereits Konstantins Nachfolger Constantius II. mußte damit leben, von Athanasius wegen seiner Nähe zur Lehre Arians als Pharao und Antichrist tituliert zu werden, als Tyrann und Irrlehrer gleichermaßen. Biblizistische Herrscherlegitimation hatte daher keineswegs rein herrschaftsstabilisierende Funktionen. Sie unterwarf den Herrscher zugleich einem neuen Anforderungsprofil, und sie etablierte zugleich die Geistlichkeit in der Wächterrolle über die rechtmäßige, d.h. den jeweils aus der Bibel entnommenen politischen Imperativen gemäße Herrschaft. Diese Wächterrolle sollte der Klerus bis zum Ende des Betrachtungszeitraums beibehalten - die Bibel bzw. deren jeweilige Auslegung diente dabei als Meßlatte und Richtschnur, um daraus politische Vorgaben abzuleiten. Die Predigt war die bevorzugte Gattung, um die eigene Rolle als Mahner und Kritiker der Obrigkeit gemäß den Prinzipien der Heiligen Schrift mit Leben zu füllen. Hartmut Leppin führt die Vieldeutigkeit von biblischen Vörbildfiguren anhand von Ambrosius' Interpretation des Königs David vor. War David zum einen ein Prophet und im heilsgeschichtlichen Sinne Typus für Christus, so war er doch zugleich auch ein reuiger Sünder. Aus dieser Ambivalenz gewinnt Ambrosius mehrere Aussagen, mit denen er das Herrscheramt allgemein charakterisiert: So wird die Verpflichtung des Königs gegenüber Gottes Gesetz betont und festgestellt, daß auch die göttliche Auszeichnung des Herrscheramtes nichts an der menschlichen Sündhaftigkeit des Königs ändere. David wird auch deshalb als positive Herschergestalt vorgeführt, da er in seiner Reue und in seiner Selbstbeschränkung als Herrscher vorbildlich gewesen sei. Damit hatte Ambrosius in seinen Predigten die Rollenbeschreibung bereits etabliert, die er später für Kaiser Theodosius im Mailänder Bußakt in die politische Praxis übertragen sollte.
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Vormodeme?
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Bereits in der Spätantike suchten neben den Geistlichen immer auch die Herrscher selbst, mit Rückgriffen auf die Bibel ihren Deutungsspielraum im politischen Feld zu erweitern. Mischa Meier zeigt am Beispiel der Selbstinszenierung Kaiser Theodosius' II. als demütiger Herrscher, wie diese Rolle offenkundig auch für den Kaiser einige Aussicht auf Legitimation versprach. Es war hier nicht ein Mann der Kirche, sondern der Herrscher des römischen Imperiums, der sich Davids Vorbild als reuiger Sünder in mehreren performativen Akten - z. B. im demonstrativen Tragen eines an David gemahnenden Büßerhemdes - für die eigene Selbstdarstellung zunutze machte. Allerdings blieben solche Stilisierungen des Herrschers als frommer und demütiger Sklave vor Gott stets ambivalent. Zwar konnte die Koppelung der Legitimität des Kaisers an seine persönliche Frömmigkeit dem einzelnen Kaiser gewisse Vorteile einbringen, die Legitimität des Herrscheramtes wurde mit dieser Praxis jedoch eher gefährdet als stabilisiert. Die Privilegierung des Herrschers gegenüber anderen Inhabern christlicher Frömmigkeitstugenden erwies sich als ein Strukturproblem der Herrschaft oströmischer Kaiser. Bis in die Frühe Neuzeit machten immer wieder Monarchen selbst von der Bibel Gebrauch, um ihre eigene Herrscherrolle zu bekräftigen. Ein besonderer Fall war dabei sicherlich der schottische, später auch englische König Jakob VI./L, der in einer Vielzahl theologischer Traktate die eigene Herrschaft biblizistisch zu immunisieren suchte, wie die Beträge von Pecar und Asch gleichermaßen verdeutlichen. Auch Jakob sollte die nichtintendierten Folgen seiner biblischen Exegese in den letzten Jahren seiner Amtszeit zu spüren bekommen. Seine historische Ausdeutung der Apokalypse, die den Papst mit dem Antichristen identifizierte, wurde von zahlreichen Geistlichen zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges aufgegriffen, um den König zu einem militärischen Eingreifen zugunsten seines Schwiegersohnes, des pfälzischen Kurfürsten und böhmischen Königs Friedrich V., zu veranlassen. Jakobs eigene politische Pläne, das Heiratsprojekt zwischen seinem Sohn Karl und der spanischen Infantin, litten von Anfang an unter einem Legitimitätsdefizit, zu dem auch Jakobs eigene exegetische Schriften das ihre beigetragen hatten, was die Kritiker des Heiratsprojekts mehrfach betonten. Dieses Beispiel verdeutlicht noch einmal einen allgemeinen Befund biblisch fundierter Argumentation: Sofern politische Aussagen sich aus der Interpretation von Maximen und exempla der Bibel ableiteten, ist die Überzeugungskraft dieser Aussagen untrennbar verknüpft mit der Überzeugungskraft der vorgenommenen Schriftauslegung. Gerade die Interpretation der Referenzstellen zur Konzeptualisierung monarchischer Herrschaft blieb aber ebenso strittig wie die damit verknüpften politischen Inhalte auch: Ob Nimrod (Gen 10,8-9) ein Tyrann auf Erden war oder aber die erste in der Bibel erwähnte Herrschaftsgestalt in Gottes Heilsgeschichte, ob in Samuels Rede über die Folgen der Königsherrschaft (1 Sam 8,11-18) eine Tyrannenherr-
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schaft charakterisiert wird oder aber die legitimen Herrschaftsrechte des Königs aufgezählt werden, ob das Gehorsamsgebot in Römer 13 für alle Herrscher gleichermaßen zu gelten habe oder aber nur für Herrscher, die im Einklang mit den Gesetzen Gottes ihr Amt ausübten, ob die Offenbarung des Johannes schließlich auf politisch-historische Weise gelesen werden dürfe oder aber nur im ethisch-allegorischen Sinne, all dies war Bestandteil der Kontroverse, solange politische Kontroversen mit Bezug auf die Bibel ausgefochten wurden. Auch wenn einzelne Autoren immer wieder auf die Eindeutigkeit ihrer jeweiligen Interpretation pochten und abweichende Auslegungen als illegitim auszuschließen suchten - an der Pluralität der Lesarten und Deutungen der Heiligen Schrift konnten weder Theologen noch Monarchen etwas ändern. Der Versuch, politisch umstrittenen Sachverhalten dadurch größere Legitimität zu verleihen, daß man sie aus biblischen Texten ableitete, deren Normativität weitgehend unstrittig war, hatte daher auch eine Kehrseite. Stets bot sich anderen Autoren die Möglichkeit, mit einer abweichenden Interpretation der zugrunde gelegten Bibelstellen auch die damit verknüpften politischen Aussagen anzugreifen und in Frage zu stellen. Der erhoffte Legitimitätsgewinn konnte so - in geeigneten politischen Kontexten - umschlagen in das Gegenteil, die offene Herrschaftskritik, das Anprangern der Diskrepanz zwischen einer aus der Bibelexegese abgeleiteten politischen Norm und einer als skandalös empfundenen politischen Praxis. Dieses Problem wird in den einzelnen Fallbeispielen wiederholt deutlich, bei den Hasmonäern (Trampedach) ebenso wie bei Constantius II. (Isele), bei den Flugschriften zur Zeit der Fronde (Pietsch)
oder aber bei J a k o b I. (Asch).
Ob es gelang, Herrschaft allgemein oder politische Aktionen im einzelnen mit dem Bezug auf biblische Aussagen und Vorbilder zu legitimieren oder nicht, entzog sich weitgehend den Autoren und Akteuren selbst. Statt dessen entschied die Rezeption der vorgelegten Deutungsversuche über ihren Erfolg. Dies haben biblizistische Sprechakte mit allen anderen Sprechakten gemein. Auch aus diesem Grund erscheint es uns sinnvoll, politische Aussagen, die unter Bezug auf die Bibel bzw. auf einzelne biblische Schriften gewonnen wurden, unter dem Begriff der politischen Sprache zu subsumieren. Diese Aussagen eint die Redeweise über Herrschaft, nicht die Botschaft, sie waren daher Teil einer gemeinsamen Sprache, aber kein gemeinsames politisches Programm. Und wie alle sprachlichen Äußerungen teilen sie ein Schicksal, das Lichtenberg bereits in die Worte gekleidet hat: „die Metapher ist klüger als ihr Verfasser".
Politische Argumentationen in der alttestamentlichen Prophetie Von
Markus Saur
I. Politik und Prophetie Wenn unter Politik sowohl die Praxis als auch die Theorie des Handelns zu verstehen ist, die sich auf ein Gemeinwesen beziehen, und Politik damit grundsätzlich eine öffentliche Dimension hat1, so liegt es nahe, die alttestamentliche Prophetie als ein politisches Phänomen zu beschreiben. Denn die Propheten des antiken Israel können zwar nicht als politische Theoretiker verstanden werden; sie sind aber in hohem Maße politische Praktiker, die sich mit ihrer öffentlichen Botschaft auf das Gemeinwesen beziehen, in dem Religion und Politik so miteinander verbunden sind, daß sich beide nicht voneinander trennen lassen. Da der soziale Hintergrund, die Sprache und die historischen Konstellationen, in denen die verschiedenen Propheten auftreten, sich zum Teil deutlich voneinander unterscheiden, muß man sich allerdings im Blick auf die alttestamentliche Prophetie vor Verallgemeinerungen hüten. Von den Überlieferungen aus dem 8. Jahrhundert v. Chr., die sich aus den erst später zusammengestellten Prophetenbüchern rekonstruieren lassen, bis zur Prophetie der hellenistischen Zeit im Übergang zur apokalyptischen Literatur der Zeitenwende ist es ein langer Weg, und die politischen Anliegen der Propheten der vorexilischen Königszeit dürfen nicht mit den Absichten der Verfasser der späteren Prophetenbücher verwechselt werden. Die Prophetenbücher sind erst die letzte Stufe eines längeren Überlieferungsprozesses, dessen Ausgangspunkt - das Auftreten der historischen Prophetengestalten - sich in der Regel nur schwer bestimmen läßt. Dennoch kann man natürlich nicht davon absehen, sich diesem Ausgangspunkt möglichst weit anzunähern, um die Gestalten in den Blick zu bekommen, deren Wirken den Anstoß des folgenden Verschriftlichungsprozesses gegeben hat. Dabei geht es in keiner Weise darum, die späteren Träger der prophetischen Überlieferung und ihre literarischen Zusätze und Fortschreibungen der prophetischen Botschaft hinsichtlich der Qualität in Frage zu stellen; es geht lediglich darum, auf der Grundlage der Rekonstruktion der historischen Prophetengestalt zu einem besseren Verständnis dessen zu gelangen, was die Schüler der Propheten und die Träger1 Vgl. Manfred Hutter, Art. „Politik III. Politik und Religion 1. Religionswissenschaftlich", in: Religion in Geschichte und Gegenwart. Bd. 6. 4. Aufl. Tübingen 2003, 1453 f.
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Markus Saur
gruppen der prophetischen Überlieferung dazu brachte, die ursprüngliche Botschaft der Propheten immer wieder zu aktualisieren und in komplexen Textsammlungen zusammenzustellen. Denn auch wenn es richtig ist, daß erst die literarische Überlieferung in der Form von Prophetenbüchern die alttestamentliche Prophetie von den prophetischen Zeugnissen aus der Umwelt des antiken Israel unterscheidet2, so bleibt doch die Frage nach dem Ausgangspunkt dieser literarischen Überlieferung ein offenes Problem. Es ist für die Rekonstruktion des Verhältnisses von Prophetie und Politik unerläßlich, zu Beginn auf die Schwierigkeit hinzuweisen, die sich dadurch ergibt, daß man die Berichte der Prophetenbücher nicht ohne weiteres mit den historischen Ereignissen gleichsetzen kann. Doch auch wenn man es in den Texten mit theologisch angereicherter Traditionsliteratur und nicht mit historischen Berichten zu tun hat: Die Prophetenbücher sind und bleiben die einzige Quelle für die Rekonstruktion des Auftretens und der Botschaft der historischen Propheten des antiken Israel. Auf dieser Grundlage ist die Frage zu erörtern, inwiefern die prophetischen Interventionen als politisches Auftreten und die prophetische Botschaft als politisches Argument interpretiert werden können. Was ist nun eine politische Botschaft oder ein politisches Argument? Die klassische politische Rede richtet sich an ein Publikum, das mit Hilfe überzeugender Gründe für eine bestimmte Sicht der Dinge gewonnen werden soll. Neben der präzisen Darstellung der eigenen Position kommt der Art und Weise der Argumentation dabei eine besondere Bedeutung zu: Die Argumentation sollte derart konzise und schlüssig sein, daß der Hörer letztlich gar nicht umhinkann, sich die vorgeschlagene Position zu eigen zu machen. Die gekonnte Anwendung von Motiven und Bildern, von Stilfiguren und Sprachspielen bildet dabei die formale Seite des Handwerkszeugs; auf der inhaltlichen Seite greift die politische Rede in zahlreichen Fällen auf Autoritäten, auf geschichtliche Vergleiche oder auf klassische Texte zurück.3 Was für die politischen Argumentationen der Moderne gilt, läßt sich mutatis mutandis auch in der Formationsphase der biblischen Literatur beobachten, denn die Kunst der öffentlichen Rede ist keine Erfindung der Neuzeit, sondern reicht über Griechenland und Rom zurück bis in den Vorderen Orient. Besonders im 1. Jahrtausend v. Chr., also der Zeit der Entstehung der Hebräischen Bibel, des Alten Testaments, lassen sich Spuren der öffentlichen Rede 2
Vgl. Jörg Jeremias, Art. „Prophetenbücher", in: ebd. 1708-1715. Als ein Kristallisationspunkt derartigen Traditionsbezugs in der politischen Argumentation läßt sich spätestens seit der Konstantinischen Wende anhand zahlloser Beispiele die Bibel bestimmen, die Autorität, Repertoire geschichtlicher Analogien und klassischer, ja sogar kanonischer und heiliger Texte in einem ist. Die Verwendung der Bibel als Teil politischer Argumentationen gehört allerdings in die Rezeptionsgeschichte der biblischen Texte. 3
Politische
Argumentationen
in der alttestamentlichen
Prophetie
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finden, die die Frage provozieren, worin sich diese öffentliche Rede von den politischen Diskursen der Neuzeit unterscheidet und worin die Gemeinsamkeiten beider zu sehen sind. Zur Beantwortung dieser Frage liegt es nahe, die frühe prophetische Überlieferung des Alten Testaments in den Blick zu nehmen, da sich hier am ehesten das finden läßt, was man als politische Rhetorik bezeichnen könnte. Die alttestamentlichen Propheten sind die politischen Kommentatoren ihrer Zeit; entgegen dem landläufigen Verständnis von Prophetie lag die Grundkompetenz der Propheten zunächst nicht in der Zukunftsansage, sondern in einer schonungslosen Gegenwartsanalyse, auf deren Grundlage dann erst in zweiter Linie bestimmte Perspektiven für die Zukunft entwickelt wurden. Ein wesentlicher Bestandteil der prägnanten Gegenwartsanalysen der Propheten liegt in dem, was man ein politisches Argument' nennen könnte: Die vielfältigen Gerichtsworte und Unheilsankündigungen der Propheten stehen in ganz wenigen Fällen unbegründet im Raum; in der Regel geht den Vorhersagen eine ausführliche Begründung des kommenden Unheils voraus - und genau diese Begründungen sind nichts anderes als Argumentationen, mit denen erklärt und plausibilisiert wird. Bei den politischen und religiösen Argumentationen der Propheten ist allerdings grundsätzlich zu beachten, daß innerhalb der alten Kulturen des Vorderen Orients Politik und Religion einen untrennbaren Sachzusammenhang bilden: Jede politische Aussage hat eine religiöse Dimension, und religiöse Einsichten gehen einher mit politischen Konsequenzen; Religion und Politik bilden zwei Seiten derselben Medaille.4 Anhand der folgenden Beispiele sollen im wesentlichen drei unterschiedliche Formen politischer Argumentation innerhalb der alttestamentlichen Prophetie genauer betrachtet werden. Dabei handelt es sich natürlich nur um einen Ausschnitt aus einem viel breiteren Repertoire; dieser Ausschnitt gibt allerdings einen Einblick in die Variationsbreite und Verschiedenartigkeit der Argumentationsformen.
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Das hängt natürlich damit zusammen, daß die Gottheiten der altorientalischen Völker sei es nun Assur bei den Assyrern, Marduk bei den Babyloniern oder Jahwe in Jerusalem vorrangig keine Figuren sind, an die sich der einzelne Fromme aufgrund seiner persönlichen Spiritualität wendet, sondern daß die Hauptgötter der altorientalischen Panthea vor allem als Nationalgötter verehrt werden, deren Herrschaftsanspruch sich in der Person des Königs manifestiert, der daher auch nicht selten als ,Sohn Gottes' angesprochen wird (vgl. Ps 2). Die moderne Trennung von Politik und Religion ist den alten Kulturen also fremd; politisch-religiöse Argumentationen haben daher eine weithin unhinterfragte Gültigkeit. Daran ändert sich im übrigen bis in die Neuzeit hinein nichts; erst da, w o die Souveränität und Macht eines obersten Gottes grundsätzlich in Frage gestellt wird, bricht die Überzeugungskraft traditionsbezogener religiöser Argumentationen ein.
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II. Tradition als Argument Während im 10. und 9. Jahrhundert v. Chr. den erzählenden Texten des Alten Testaments zufolge so bekannte Prophetengestalten wie Samuel, Natan und Elia auftauchen, sind aus dieser frühen Zeit dennoch keine Prophetenbücher überliefert, in denen man die Botschaft dieser älteren Propheten gewissermaßen aus der Binnenperspektive greifen könnte. Erst im 8. Jahrhundert v. Chr. vollzieht sich offensichtlich der Prozeß hin zur Verschriftlichung der prophetischen Botschaft, die wohl in Auftrittsskizzen und Notizen besonders bedeutender prophetischer Worte ihren Anfang nahm. In dieser Phase sehen sich die beiden getrennten Reiche, Israel im Norden und Juda im Süden, der sich immer deutlicher abzeichnenden Bedrohung durch das assyrische Großreich gegenüber, das spätestens unter Tiglatpileser III. zu einer expansiven Eroberungspolitik überging. Trotz dieser außenpolitischen Bedrohung scheint es in dieser Phase in Israel und Juda zu einer gewissen wirtschaftlichen Blüte gekommen zu sein, von der allerdings allein die Oberschicht profitierte, die durch die Abkehr vom alten israelitischen Bodenrecht ihren Besitzstand immer weiter vergrößern konnte. Während in der Frühphase des antiken Israel das alte Erbrecht noch beachtet wurde, nach dem der Erbbesitz einer Familie prinzipiell unveräußerlich war, so daß es zu keinen dramatischen Umwälzungen der Besitzverhältnisse kommen konnte, änderte sich das durch Einflüsse von außen in zunehmendem Maße.5 Gegen das auf diese Weise stetige Wachstum des Reichtums auf der einen und das damit einhergehende soziale Elend auf der anderen Seite wenden sich gleich vier Propheten: im Nordreich Israel die Propheten Arnos und Hosea, im Südreich Juda die Propheten Micha und Jesaja. Konzentriert man sich einmal auf den Nordreichspropheten Hosea, so zeigt sich an seinem Beispiel, welche Auswirkungen eine tiefe Verwurzelung in den alten Überlieferungen und Traditionen auf die prophetische Argumentation hat: In seinen sprachgewaltigen Reden greift Hosea auf Themen und Motive zurück, die in die Zeit der Patriarchen, des Exodus, der Wüstenwanderung und der Landnahme, also in die Anfangszeit Israels zurückführen. An erster Stelle steht hier Hos 11,1 f.6:
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Locus classicus dieses Vorgangs ist die Erzählung in 1 Kön 21, derzufolge der israelitische König Ahab unter Mitwirkung seiner phönizischen Frau Isebel den Weinberg des Jesreeliters Nabot dem königlichen Besitz einverleibt, ohne die alten Rechtsgrundsätze des Erbbesitzes zu beachten. Das entscheidende Argument Isebels, mit dem sie ihren Gatten antreibt, lautet: ,Du bist doch König über Israel!' Hier treffen offensichtlich verschiedene Rechtssysteme aufeinander: Nabot ist Repräsentant des alten Erbrechts, das es ihm verbietet, seinen Erbbesitz zu veräußern; Isebel steht dagegen für das phönizische Königsrecht, demzufolge der König sein Land besitzt und demnach schalten und walten kann, wie es ihm beliebt. 6 Die folgenden Übersetzungen der Hoseatexte stammen von Hans Walter Wolff, Dodeka-
Politische Argumentationen
in der alttestamentlichen
Prophetie
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„Als Israel jung war, gewann ich ihn lieb; aus Ägypten berief ich meinen Sohn. Doch wie ich sie rief, wichen sie von mir. Sie opferten den Baalen, den Schnitzbildern räucherten sie."
Hosea wendet sich zurück zu den Anfängen Israels in Ägypten, von wo aus Jahwe sein Volk berufen habe. Diesem Ruf und der Liebe Jahwes begegnete Israel jedoch Hosea zufolge von Anfang an mit dem Abfall von seinem Gott, indem es den Baal-Gottheiten anhing und Götterfiguren verehrte. Ganz ähnlich argumentiert das Hoseabuch auch in Hos 9,10: „Wie Trauben in der Wüste fand ich Israel. Wie eine Frühfrucht am Feigenbaum als seinen Erstling entdeckte ich eure Väter. Aber als sie zum Baal-Peor kamen 7 , da weihten sie sich der Schande, da wurden sie Scheusale wie ihr Freund."
Wie in Hos 11,1 f. wird auch hier auf die Exodus- und die Wüstenwanderungstraditionen Israels zurückgegriffen, die Hosea aber in schonungsloser Offenheit darstellt: Jahwe suchte und fand Israel, die Väter der Zeitgenossen Hoseas - diese aber zogen andere Götter vor und fielen von Jahwe ab. Noch einen Schritt weiter zurück geht der Verweis auf den Stammvater Jakob, der sich in Hos 12,3 f. findet: „Gericht hält Jahwe mit Israel, daß er Jakob zur Rechenschaft ziehe nach seinem Wandel; nach seinen Taten wird er ihm heimzahlen. Im Mutterleib hinterging er seinen Bruder, in seinem Reichtum stritt er gegen Gott."
Die Jakobserzählungen, die in Gen 26ff. überliefert sind, werden hier in einer ganz eigenen Weise akzentuiert: Bereits vor seiner Geburt betrog Jakob seinen Bruder Esau, Jakob stritt gegen Gott - angespielt wird auf den Jakobskampf am Jabbok, von dem in Gen 32 berichtet wird - und deutlich soll damit werden, wo die Gründe für das Verhalten des gegenwärtigen Israel liegen: Es wandelt in den Spuren seines Stammvaters Jakob - wie könnte es besser sein als sein Urahn?8
propheton 1. Hosea. (Biblischer Kommentar Altes Testament, Bd. 14/1.) NeukirchenVluyn 1961, passim. 7 Vgl. Wolff, Hosea (wie Anm. 6), 213: „Baal-Peor ist Name eines Gottes (Nu 25,3), der am Berg Peor (Nu 23,28) verehrt wird." 8 Vgl. Wolff, Hosea (wie Anm. 6), 273: „In seinem Ahnherrn wird das gegenwärtige Israel bloßgestellt. Prophetisch erzählte Geschichte entdeckt den Betrug der Gegenwart."
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Als letztes sei noch Hos 13,4-8 zitiert: „Aber ich bin Jahwe, dein Gott von Ägyptenland her. Du kennst keinen Gott neben mir, es gibt keinen Helfer außer mir. Ich weidete dich in der Wüste, im Lande der Dürre. Ihrem Weideplatz entsprechend wurden sie satt, sie wurden satt, und ihr Herz überhob sich. Darum vergaßen sie mich. So wurde ich für sie zum Löwen, wie ein Panther laure ich am Wege. Ich falle sie an wie eine Bärin, die der Jungen beraubt ist, und zerreiße den Verschluß ihres Herzens. Dann fressen sie die Hunde, wildes Getier zerfetzt sie."
Die Anklänge von Hos 13,4 an das erste Gebot des Dekalogs in Ex 20 bzw. Dtn 5 sind nicht zu überhören; der Tenor des Textes liegt auf einer Linie mit den vorangehenden Beispielen: Obwohl Israel um die Einzigartigkeit der Hilfe und Sorge Jahwes für sein Volk weiß, kümmert es sich nicht darum, sondern vergißt seinen Gott, der nun seinerseits Rache nehmen wird, indem er sein Volk den Angreifern von außen preisgibt. Daß diese Preisgabe Israels in der Bildsprache der Wüstenwanderung geschildert wird, kann im Rahmen des Hoseabuches nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Prophet hier wohl auf die konkreten Bedrohungen seiner Zeit anspielt, die eine Vernichtung des Volkes bereits erahnen lassen und damit Eingang in die prophetische Botschaft finden. In den Argumentationen Hoseas werden demnach aufgrund der Überlieferungen der Vergangenheit gegenwärtige Problemkonstellationen beleuchtet und gedeutet; man hat es hier in gewisser Weise mit einer Rezeption in Geltung stehender, fast möchte man sagen: protokanonischer Traditionen zu tun. Diese Traditionen sind nun von Hosea mit Bedacht in seine Argumentation übernommen worden, denn es handelt sich bei der Jakobtradition wie auch bei der Exodus- und der Wüstentradition nicht um irgendwelche beliebigen Erinnerungselemente ohne besondere Bedeutung; man hat es hier vielmehr mit den grundlegenden Erinnerungsfiguren des Nordreiches Israel zu tun, die innerhalb des von häufigen Herrschaftswechseln gebeutelten Staatswesens eine gewisse Identität stifteten und Kontinuität sicherten.9 Der Rückgriff auf die 9
Zur Kritik Hoseas an den gegenwärtigen Zuständen des Königtums vgl. Hos 8,4: „Sie setzen Könige ein, doch ohne meinen Willen. Sie bestellen Beamte, doch ohne mein Wissen. Aus ihrem Silber und ihrem Gold machen sie sich Götterbilder, damit es vernichtet wird."
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Tradition innerhalb der politischen Argumentation des Propheten Hosea signalisiert damit den Hörern seiner prophetischen Botschaft einerseits die Zugehörigkeit des Propheten zu der politischen Gemeinschaft, auf deren grundlegende Traditionen er zurückgreift, die spezifische Art dieses Rückgriffs in pointiert kritischer Absicht macht andererseits in gleichem Maße deutlich, daß die alleinige Wiederaufnahme der Tradition nicht ausreicht - erst die Konfrontation der Tradition mit der Gegenwart führt den Propheten zum Kern seiner politischen Botschaft, der Aufkündigung der Gemeinschaft zwischen Jahwe und seinem Volk - greifbar etwa im Bildwort der Namensgebung des dritten Sohnes Hoseas (Hos 1,9): „Nenne ihn Nicht-mein-Volk, denn Nicht-mein-Volk seid ihr, und ich - Ich-bin-nicht-da für euch."
Die alttestamentliche Wissenschaft steht im Blick auf die Botschaft des historischen Hosea zwar vor einem gewissen Problem, denn es läßt sich nicht bestreiten, daß das vorliegende Propheten&Hc/? das Ergebnis eines komplexen Verschriftlichungsprozesses darstellt, hinter dem der historische Hosea weithin zurücktritt; man wird die Texte in ihrer überlieferten Form daher nicht ohne weiteres dem Propheten des 8. Jahrhunderts v.Chr. zuschreiben können. Dennoch kann man wohl davon ausgehen, daß Hosea mehr oder weniger so in den Traditionen Israels verwurzelt war, wie es das Hoseabuch in seiner nun vorliegenden Form noch erkennen läßt. 10 Es ist damit deutlich, daß in dieser frühen Phase der alttestamentlichen Prophetie kein kanonisiertes Gotteswort oder irgendein heiliger Text zur Grundlage der prophetischen Argumentation werden konnte; es ist vielmehr der Rückgriff auf die gedeutete Geschichte, der der Gerichtsbotschaft Hoseas ihr eigenes Profil gibt. Derartige Rückgriffe auf Motive aus der Geschichte der Frühzeit finden sich übrigens auch bei Hoseas Zeitgenossen (vgl. etwa Am 2,10f.; 3,1; Mi 6,3-5; Jes 1,10), doch wird der Traditionsbezug nirgendwo so stark erkennbar wie bei Hosea. Erst eineinhalb Jahrhunderte später entwerfen Ezechiel, der Prophet des babylonischen Exils, bzw. sein Schülerkreis umfassende geschichtliche Rückblicke, die in die prophetische Botschaft eingebaut werden, um den Untergang des Königreiches von Juda zu erklären (vgl. Ez 16; 20; 23). Bei Ezechiel hat man es aber
10
Vgl. dazu die umfassende Studie von Jochen Vollmer, Geschichtliche Rückblicke und Motive in der Prophetie des Arnos, Hosea und Jesaja. (Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft, Bd. 119.) Berlin 1971, 55-126, sowie den Aufsatz von Walther Zimmerli, Die kritische Infragestellung der Tradition durch die Prophetie, in: Odil Hannes Steck (Hrsg.), Zu Tradition und Theologie im Alten Testament. (Biblisch-Theologische Studien, Bd. 2.) Neukirchen-Vluyn 1978, 57-86, demzufolge Hosea „die alte Israeltradition sichtlich viel voller vor Augen hat und sie reichlich zitiert. [...] In dem Ahnen sieht der Prophet das gegenwärtige Volk in seiner Sündigkeit repräsentiert. So wird diese altehrwürdige Überlieferung zum Gegenstand der Polemik" (66).
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mit politisch-religiösen Traktaten und komplexen Allegorien, also mit Literatur zu tun; Hoseas Argumentationen atmen dagegen noch den Geist des mündlichen Vortrags und damit den der politischen Streit rede. Wo und wann diese Streitreden gehalten wurden, läßt sich natürlich nicht mehr mit Sicherheit sagen; man kann aber mit Hans Walter Wolff annehmen, daß vielen Texten des Hoseabuches, die in ihrer überlieferten Form aus späterer Zeit stammen dürften, so etwas wie Auftrittsskizzen zugrunde lagen, die von Augenzeugen aus dem Umfeld des Propheten oder sogar dem Propheten selber angefertigt wurden; auf der Grundlage dieser Skizzen entstanden dann wohl später zusammenhängende Textsammlungen und das überlieferte Prophetenbuch.11
III. Zitat als Argument Daß zur Unterstützung von Argumentationen Zitate aus verschiedenen Zusammenhängen herangezogen werden, ist im neuzeitlichen politischen Diskurs keine Besonderheit. Vor allem die biblische und die klassische antike Literatur stellen hier ein nahezu unerschöpfliches Reservoir an Bildern, Sprachspielen und Sentenzen zur Verfügung. Für die Formationsphase der biblischen Texte ist diese Form der Argumentation mit Hilfe von Zitaten nicht in dem Umfang nachweisbar, wie das etwa für die neuzeitlichen Debatten der Fall ist, deren Umfang und Anzahl eine ungleich breitere Quellenbasis zur Auswertung bereitstellt. Bleibt man jedoch einmal im Bereich der prophetischen Literatur, so findet sich im Buch des Propheten Jeremia der Bericht von einem politischen Prozeß, in dessen Verlauf ein Zitat die weiteren Vorgänge entscheidend beeinflußt. Für das Verständnis des Zusammenhangs muß man allerdings zunächst noch einmal einen Blick in die prophetische Überlieferung des 8. Jahrhunderts v. Chr. werfen, in dem im Südreich Juda der Prophet Micha auftrat, der aus der kleinen Stadt Moreschet stammte und hier wohl einen gewissen politischen Einfluß hatte.12 In den ersten drei Kapiteln des Michabuches finden sich zahlreiche Worte, die sich in deutlicher Form gegen die führenden Kreise des Südreiches richten. Genannt werden die politischen Anführer 13 , die Pro11 Vgl. dazu Wolff, Hosea (wie Anm. 6), XXIII-XXVII, und - vorsichtiger im Blick auf den historischen Hosea - Jörg Jeremias, Der Prophet Hosea. (Altes Testament Deutsch, Bd. 24/1.) Göttingen 1983, 18-20. 12 Vgl. dazu Hans Walter Wolff, Wie verstand Micha von Moreschet sein prophetisches Amt? (1978), in: ders., Studien zur Prophetie. Probleme und Erträge. (Theologische Bücherei, Bd. 76.) München 1987, 79-92, der davon ausgeht, daß man es bei Micha mit einem Sippenältesten zu tun hat, der sich aufgrund der Ungerechtigkeiten in seiner direkten Umgebung zur prophetischen Verkündigung genötigt sah. 13 Ob der König hier einbezogen werden muß, ist nicht sicher; er wird in der Unheilspro-
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pheten und die Priester. Ihnen allen wird ihr unrechtes Verhalten vorgeworfen, mit dem sie Recht und Gerechtigkeit in das Gegenteil verkehren und damit die Grundlagen des judäischen Staatswesens gefährden. Die radikale Konsequenz der Kritik Michas findet sich am Ende der Eingangskapitel des Michabuches in Mi 3,9-12, dem Höhepunkt der Gerichtsbotschaft des Propheten: „Höret doch dies, ihr Häupter des Hauses Jakob und ihr Führer des Hauses Israel, die das Recht verabscheuen und alles, was gerade ist, verbiegen: die Zion mit Blut bauen und Jerusalem mit Unrecht. Seine Häupter richten nach Bestechung und seine Priester erteilen Weisung gegen Bezahlung und seine Propheten wahrsagen um Geld, und dabei stützen sie sich auf Jahwe und sagen: Ist nicht Jahwe in unserer Mitte? Da trifft uns kein Unheil! Darum wird um euretwillen der Zion als Acker gepflügt und Jerusalem zu Trümmern werden und der Tempelberg zu Anhöhen wilden Gestrüpps."
Dieses Gerichtswort Michas richtet sich gewissermaßen summarisch an alle Kreise, die in Juda Verantwortung tragen und die allesamt ihre eigentlichen Aufgaben ins Gegenteil verkehren und aufgrund ihrer Verkommenheit den Untergang Jerusalems geradezu heraufbeschwören: Die politischen Anführer verdrehen das Recht, die Priester und Propheten sind korrupt und erfüllen ihre Aufgaben den jeweils gezahlten Beträgen entsprechend. In äußerst scharfer Form attackiert Micha das falsche Selbstvertrauen der Aristokratie, die sich trotz der außenpolitischen Bedrohung durch die Assyrer selbstgewiß auf die Gegenwart Jahwes verläßt, und sagt die Vernichtung des heiligen Berges Zion, die Zerstörung der Stadt Jerusalem und die Verwüstung des Tempelberges voraus. Für die Bewertung dieses Michawortes, vor allem im Blick auf seine Authentizität, ist es von großer Bedeutung, daß die Vorhersage des Untergangs im 8. Jahrhundert v.Chr. nicht in Erfüllung ging. 701 v.Chr. kommt es zwar zu einer Belagerung Jerusalems durch den assyrischen König Sanherib; diese Belagerung wird allerdings von den Assyrern abgebrochen. Die Gründe für phetie Michas nirgendwo explizit genannt. Daß Micha den König von der Kritik ausnehmen wollte, ließe sich zwar vermuten, aber letztlich bilden die politisch führenden Kreise mit dem König eine Einheit, die nicht auseinandergenommen werden kann, so daß Michas Kritik auch den König als höchsten politischen Verantwortungsträger nicht ausgenommen haben wird; daß er ihn nicht nennt, könnte mit der damit verbundenen Gefahr des Vorwurfs des Hochverrats zusammenhängen, in die der Prophet Jeremia aufgrund seiner Kritik am Königshaus ein gutes Jahrhundert später geraten ist.
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den Abzug der Assyrer sind nicht ganz klar, wahrscheinlich brach eine Seuche innerhalb ihres Lagers aus, so daß sie die Belagerung nicht aufrechterhalten konnten. Dieses Ereignis hatte allerdings für die Staatsideologie des Kleinkönigreiches Juda eine enorme Bedeutung: Der Assyrerkönig - so die Deutung der Jerusalemer - geht vor Juda in die Knie und muß unverrichteter Dinge abziehen. Das von Micha angeprangerte Sicherheitsgefühl der Jerusalemer, die sich auf die Präsenz Jahwes im Tempel stützen und daher keine Bedrohung fürchten, wurde durch dieses Ereignis natürlich noch weiter gestärkt. Diese Umstände - das Nicht-Eintreten der Ansage der Zerstörung und die der allgemeinen Ideologie entgegenlaufende Position des Wortes Michas - lassen darauf schließen, daß wir es bei Mi 3,9-12 mit einem Wort des Propheten zu tun haben, das von den Anhängern Michas trotz seines zunächst unzutreffenden Inhalts bewahrt und überliefert wurde - und damit eine spätere Renaissance erleben konnte. Gut hundert Jahre später kommt es in Jerusalem zu dem bereits erwähnten Prozeß gegen den Propheten Jeremia aus Anatot. Jeremia kündigt - so der Bericht in Jer 26 - vor dem Hintergrund des erstarkenden neubabylonischen Großreiches wie hundert Jahre zuvor sein Kollege Micha aus Moreschet den Untergang Jerusalems an. Jeremias politische Agitationen werden von den Priestern und Kultpropheten jedoch als so staatsgefährdend angeprangert, daß ein Prozeß gegen Jeremia eröffnet wird, an dessen Ende nach dem Willen der religiösen Klageführer ein Todesurteil gegen den Unruhestifter stehen soll. Im Verlauf des Prozesses verteidigt sich Jeremia allerdings und beruft sich darauf, von Jahwe beauftragt und gesendet worden zu sein. Erstaunlicherweise kann Jeremia damit überzeugen - später erfährt man, daß er von einflußreichen Kreisen geschützt wird - , und es treten zu seiner Entlastung die so genannten »Ältesten des Landes' auf, offensichtlich eine Art Senatsschicht, die das Prophetenwort Michas zitieren und dazu die historischen Umstände in Erinnerung rufen: „Da standen einige von den Ältesten des Landes auf und sagten zur ganzen Versammlung des Volkes: Micha, der Moraschtiter, ist in den Tagen Hiskias, des Königs von Juda, als Prophet aufgetreten und hat zum ganzen Volk Judas gesagt: So hat Jahwe Zebaot gesprochen: Der Zion wird als Acker gepflügt und Jerusalem wird zu Trümmern werden und der Tempelberg zu Anhöhen wilden Gestrüpps. Haben ihn da etwa Hiskia, der König von Juda, und ganz Juda hinrichten lassen? Hat er nicht Jahwe gefürchtet und Jahwes Antlitz besänftigt, so daß Jahwe sich des Unheils gereuen ließ, das er ihnen angedroht hatte? Wir aber sind gerade dabei, großes Unheil über uns zu bringen" (Jer 26.17-19). 1 4
14 Zur Übersetzung vgl. Gunther Wanke, Jeremia. Teilbd. 2: Jeremia 25,15-52,34. (Zürcher Bibelkommentare Altes Testament, Bd. 20/2.) Zürich 2003, 236.
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Von der im Jeremiabuch geschilderten Wirkung der Worte Michas berichtet das Michabuch zwar nichts, doch läßt sich vor dem Hintergrund dieser Wirkung gut verstehen, daß es überhaupt zur Sammlung der Michasprüche kam und daß man diese offensichtlich in bestimmten Kreisen auswendig zitieren konnte; das Zitat und die Erinnerung an den historischen Kontext haben Jeremia in jedem Fall das Leben gerettet. Innerhalb eines politischen Prozesses gegen einen des Hochverrates verdächtigten Agitator wird hier also das Zitat als eigene Form politischer Argumentation greifbar; die direkte Wiedergabe des Michawortes, die Autorität derjenigen, die es wiedergeben können, und die Erinnerung an die historischen Umstände, in die dieses alte Wort gehört, unterstützen in entscheidender Weise die Absichten der Verteidiger Jeremias und führen aufgrund der Überzeugungskraft dieses Zitats letztlich zum Freispruch des Propheten.15 An der Rezeption des Michawortes zur Zeit Jeremias läßt sich im Vergleich zum Hoseabuch eine weitaus konkretere und direktere Form des Traditionsbezuges erkennen: Hier wird eine Überlieferung bzw. Tradition nicht nur rezipiert, sondern eine prophetische Unheilsankündigung wörtlich wiedergegeben. Auch wenn das wörtliche Michazitat auf das Konto der späteren Verfasser des Jeremiabuches gehen könnte, scheint hier doch eine weiterentwickelte Form der Rezeption durch: Es werden ein früherer Prophet und eine konkrete Situation benannt, die sich mit dem laufenden Prozeß gegen Jeremia in Beziehung setzen lassen. Die Pointe dieses Bezugs auf Micha stellt das zitierte Prophetenwort dar, das der Botschaft Jeremias entspricht. Auch wenn man nicht sicher sein kann, daß die ,Ältesten des Landes' schriftliche Dokumente vorliegen hatten, denen sie das Michawort entnehmen konnten, so kann man diese Möglichkeit letztlich auch nicht ganz ausschließen: Jes 8,1 zeigt, daß es auch im 8. Jahrhundert bereits zur Verschriftlichung bestimmter prophetischer Überlieferungen kam; man darf allerdings auch den Anteil an auswendig gewußter Tradition nicht unterschätzen - auswendiges Zitieren von Texten, denen gewissermaßen kanonische Geltung zukommt, war im Alten Orient nichts Ungewöhnliches. Man muß wohl in dieser Phase mit einem Übergang von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit rechnen. Eine solche Tendenz zur Schriftlichkeit zeigt sich ja nicht zuletzt daran, daß die entsprechenden Prophetenbücher auf der Grundlage schriftlichen Materials zusammengestellt wurden, denn wenn es auch sicher ist, daß weder das Micha- noch das Jeremiabuch in ihrer überlieferten Form auf die Propheten Micha oder Jeremia zurückgehen, so wird man doch nicht annehmen können, daß die Vorformen der vorliegenden Texte erst Jahrhunderte nach dem Auftreten der Propheten ent15 Daß derartige Prozesse unberechenbar waren und auch anders ausgehen konnten, zeigt die Passage in Jer 26,20-23: Der Prophet Uria ben Schemaja wird im Gegensatz zu Jeremia, dessen einflußreiche Fürsprecher ihn schützen, zum Tode verurteilt.
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standen sind. Erste Mitschriften aus dem Kreis der Anhänger und Schüler wird es schon zu Lebzeiten der Propheten gegeben haben, und diese bilden den Grundstock der späteren Ausarbeitung der überlieferten Prophetenbücher.
IV. Schrift und Buch als Argument Von einer derartigen Mitschrift wird ausdrücklich im Jeremiabuch berichtet, das im Gegensatz zu den anderen Prophetenbüchern einen vergleichsweise großen Anteil an Texten enthält, die in der 3. Person vom Leben des Propheten Jeremia berichten. Ein solcher Bericht findet sich in Jer 36, wo davon erzählt wird, wie Baruch, der Schreiber Jeremias, dem König Jojakim eine Schriftrolle zukommen läßt, die Baruch nach dem Diktat Jeremias erstellt hat. Jojakim läßt sich diese Schriftrolle vorlesen, zerschneidet sie daraufhin jedoch und wirft sie Stück für Stück ins Feuer, bis sie ganz verbrannt ist - ohne Zweifel konnte und wollte er die Unheilsankündigungen Jeremias nicht ernst nehmen. Jeremia wird daraufhin von Jahwe beauftragt, eine neue Schriftrolle zu erstellen - und erneut nimmt der Schreiber Baruch das Diktat Jeremias entgegen. Diese kleine Szene aus dem Jeremiabuch geht in ihrer literarischen Form mit großer Wahrscheinlichkeit auf die späteren Verfasser des Jeremiabuches zurück, die die prophetische Botschaft Jeremias in einen biographischen Zusammenhang einordnen wollten. Dennoch zeigt der Bericht etwas von den Umständen des prophetischen Auftretens zur Zeit Jeremias im 7./6. Jahrhundert v. Chr. - der Prozeß hin zur Verschriftlichung der prophetischen Botschaft ist hier offensichtlich auf einer neuen Stufe angekommen: Jeremia äußert sich nicht allein mündlich in öffentlicher Rede vor dem Volk oder vor ausgewählten Repräsentanten, sondern er legt seine Botschaft dem König und seinen Beamten in schriftlicher Form vor und verleiht seinem Anliegen damit entscheidenden Nachdruck. Der Inhalt der Schriftrolle, die Gerichtsbotschaft von der Vernichtung Jerusalems durch den babylonischen König, ist natürlich mehr als ein politisches Argument; es handelt sich vielmehr um ein politisches Manifest, das seine Bedeutung nicht dadurch erlangt, daß die Schriftrolle einen bestimmten kanonischen Rang hätte, sondern dessen Bedeutung schlichtweg in seiner Qualität als Gotteswort liegt: Die Schriftrolle ist - so der Bericht in Jer 36 - nichts anderes als ein Träger göttlicher Offenbarung und bezieht aus diesem Sachverhalt ihre Bedeutung. Daher ist auch das Verbrennen der Schriftrolle nicht nur ein Affront gegenüber Jeremia und Baruch, sondern letztlich ein beispielloses Sakrileg, weil mit der Schriftrolle das Wort Jahwes vernichtet wird. Innerhalb des Jeremiabuches folgt daher auf Jojakims Verbrennen der Schriftrolle in Jer 36,29-31 auch unverzüglich eine Vernichtungsansage gegen Jojakim persönlich:
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„Über Jojakim aber, den König von Juda, sollst du sagen: So spricht Jahwe: Du hast diese Schriftrolle verbrannt und gesagt: Warum hast du darauf geschrieben, daß der König von Babel kommen und dieses Land verderben werde, so daß weder Menschen noch Vieh mehr darin sein werden? Darum spricht Jahwe über Jojakim, den König von Juda: Es soll keiner von den Seinen auf dem Thron Davids sitzen, und sein Leichnam soll hingeworfen liegen, am Tag in der Hitze und nachts im Frost. Und ich will ihn und seine Nachkommen und seine Knechte heimsuchen um ihrer Schuld willen, und ich will über sie und über die Bewohner Jerusalems und über die Judäer kommen lassen all das Unheil, von dem ich zu ihnen geredet habe, und sie haben nicht gehört."
Auch hier läßt die Tatsache, daß sich dieses Wort nicht erfüllt hat und erst Jojakims Sohn Jojachin 586 v.Chr. in die Hände der Babylonier fiel, Rückschlüsse auf die Authentizität zu: Es ist wohl kaum vorstellbar, daß ein solches - nicht erfülltes - Gerichtswort und die hinter diesem Wort stehende Szene in späterer Zeit frei erfunden wurden; die literarische Gestaltung kann durchaus das Ergebnis späterer Arbeit an der Botschaft Jeremias sein, man wird aber davon ausgehen müssen, daß dieses Wort und die gesamte Szene einen historischen Kern enthält, in dem die Schriftlichkeit der prophetischen Botschaft offensichtlich eine wichtige Rolle spielt - und diese Schriftlichkeit der prophetischen und politischen Kommunikation ist wohl das entscheidend Neue, das an diesem Beispiel greifbar wird. Dies ist natürlich zunächst einmal eine formale Weiterentwicklung der politischen Argumentation, doch hat dieses formale Element auch eine inhaltliche Seite, die in der Prophetie des 6. Jahrhunderts v. Chr. immer bedeutender wird: Der Umfang der Argumentationen, die Länge der Gerichtsbotschaften nimmt zu. Während sich die prophetische Verkündigung bei Hosea und noch deutlicher bei Micha eher kurzer und prägnanter Sprachformen bedient, die die Mündlichkeit des prophetischen Auftretens durchscheinen lassen, gewinnt die Prophetie im 6. Jahrhundert v. Chr. an Schriftlichkeit, sie wird zu einer literarischen Angelegenheit. Daß die Literarizität der prophetischen Botschaft im politischen Kontext in dieser Zeit an Bedeutung gewinnt, läßt sich über Jer 36 hinaus noch an zwei Zeichenhandlungen veranschaulichen. Prophetische Zeichenhandlungen illustrieren in der Form unkonventioneller Handlungen das prophetische Wort durch eine symbolische Tat; man hat daher auch von politischem Straßentheater' gesprochen, das die Propheten veranstaltet hätten, um ihre Botschaft zu unterstreichen.16 In Jer 51,59-64 wird eine Unheilsankündigung des Propheten Jeremia gegen Babylon mit der Beauftragung abgeschlossen, ein Buch mit den Unheilsansagen gegen die babylonische Hauptstadt zu verlesen, es daraufhin im Eu-
16
Vgl. dazu Bernhard Lang, Kein Aufstand in Jerusalem. Die Politik des Propheten Ezechiel. (Stuttgarter Biblische Beiträge.) Stuttgart 1978, 170.
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phrat zu versenken und damit den Untergang der Stadt symbolisch vorwegzunehmen17: „Das Wort, das der Prophet Jeremía Seraja, dem Sohn Nerias, des Sohnes Machsejas, auftrug, als dieser mit Zedekia, dem König von Juda, nach Babel ging im vierten Jahr seiner Regierung - Seraja war oberster Quartiermeister. Jeremía aber hatte all das Unheil, das über Babel kommen sollte, auf ein einzelnes Schriftstück geschrieben, alle die Worte, die über Babel aufgezeichnet sind. Und Jeremia sagte zu Seraja: Wenn du nach Babel kommst, dann sieh zu, daß du alle diese Worte (laut) verliest, und du sollst sagen: Jahwe, du selbst hast diesem Ort angedroht, ihn zu vernichten, daß niemand mehr darin wohne, weder Mensch noch Tier, denn eine ewige Öde soll er sein. Und wenn du dieses Schriftstück zu Ende gelesen hast, binde einen Stein daran und wirf es mitten in den Euphrat und sage: So soll Babel versinken und nicht wieder hochkommen wegen des Unheils, das ich über es bringen werde. Und sie plagen sich. Bis hierher (gehen) die Worte Jeremias."
Daß hinter diesem Text eine politische Kommunikationsabsicht steht, liegt auf der Hand. Von einem politischen Argument im engeren Sinne kann nicht die Rede sein, denn der Kern der Kommunikation liegt in einer Handlung, deren vorweggenommene Deutung durch den Propheten den weiteren Sinn und damit den Kommunikationsrahmen absteckt; es handelt sich demnach vielmehr um einen argumentativen Wort-Tat-Zusammenhang: Der Inhalt des zu versenkenden Schriftstückes bzw. Buches wird verlesen und sogleich in einer Handlung zeichenhaft vorweggenommen. Diese Verbindung zwischen Text und Tat veranlaßt den Leser des Berichts aus Jer 51 dazu, das geschriebene Wort des Propheten als ein Performativ zu deuten und damit als eine Sprachhandlung, die durch die Sprache und ihren Gebrauch bereits Wirklichkeit schafft. Es ist gewiß kein Zufall, daß der Bericht von der Versenkung des Buches im Euphrat am Ende des Jeremiabuches steht18, denn der performative Rang, der den Worten Jeremias gegen Babel zukommt und der durch die Verbindung der Worte mit einer Zeichenhandlung deutlich unterstrichen wird, soll vom Ende des Jeremiabuches her wohl auf die gesamte Botschaft des Propheten zurückstrahlen und diese Botschaft als eine wirkmächtige Sprachhandlung kennzeichnen. Die in die literarische Form eines Prophetenbuches gebrachte und im weiteren Sinne als politisch zu beschreibende Kommunikation des Propheten mit seinen Zeitgenossen wird dadurch zu einem Argument über die Zeit Jeremias hinaus, daß sie als Text rezipiert und für die jeweilige Gegenwart aktualisiert werden kann. Was dem Wort Michas gegen Jerusalem gut ein Jahrhundert später im Prozeß gegen Jeremia widerfuhr, nämlich eine gegenwartswirksame Wiederaufnahme, erhofften sich die Verfasser des Jeremiabuches offensichtlich auch für die Worte des Propheten Jeremia.
17
Übersetzung nach Wanke, Jeremia (wie Anm. 14), 460 f. Jer 52 ist als ein historischer Anhang an die Prophetenworte zu deuten, in dem - 2 Kön 24 f. entsprechend - von der Zerstörung Jerusalems berichtet wird (vgl. dazu Wanke, Jeremia [wie Anm. 14], 465f.). 18
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Die immense Bedeutungssteigerang des geschriebenen Wortes innerhalb der Prophetie des 6. Jahrhunderts v. Chr. läßt sich über die Zeichenhandlung aus Jer 51 hinaus auch noch am Beispiel eines Zeitgenossen Jeremias zeigen, der im Gegensatz zu Jeremia nicht in Jerusalem, sondern in Babylonien unter den aus Jerusalem Deportierten auftrat; es handelt sich um den Propheten Ezechiel. Im Ezechielbuch begegnet die prophetische Botschaft durchgängig als Rede Jahwes an den Propheten; im Zusammenhang der Berufung Ezechiels ist in Ez 2,8-3,3 zu lesen19: „Du aber, Menschensohn, höre, was ich zu dir rede. Sei nicht widerspenstig wie das Haus Widerspenstigkeit. Tue deinen Mund auf und iß, was ich dir gebe. Und als ich hinsah, siehe, da war eine Hand zu mir hin ausgestreckt, in ihr lag eine Buchrolle. Und er entfaltete sie vor mir; und sie war vom und hinten beschrieben, und auf ihr stand geschrieben Klagen und Seufzen und Wehe. Und er sprach zu mir: Menschensohn, was du findest, iß, iß diese Rolle und geh, rede zum Hause Israel. Da öffnete ich meinen Mund, und er ließ mich diese Rolle essen und sprach zu mir: Menschensohn, deinen Leib speise und dein Innerstes fülle mit dieser Rolle, die ich dir gebe. Da aß ich sie, und sie wurde in meinem Munde süß wie Honig."
Während das in Jer 51 erwähnte Buch nur einen Teil der prophetischen Botschaft enthält, scheint die zu Beginn des Ezechielbuches genannte Schriftrolle die gesamte Unheilsbotschaft des Propheten zu umfassen. 20 Ezechiel nimmt diese Botschaft, deren Inhalt - Klagen und Seufzen und Wehe - nur sehr grob und unspezifisch umrissen wird, vollständig in sich auf; trotz ihres traurigen Inhalts schmeckt sie dem Propheten süß wie Honig. Die Schriftrolle wird hier inkorporiert, ihr Inhalt gewissermaßen zu einem Teil der Persönlichkeit des Propheten. Es ist nicht ganz einfach, in diesem Zusammenhang von einem Argument zu sprechen, denn das pure Verschlingen der Schriftrolle ist natürlich noch keine sprachliche Kommunikation. Dennoch liegt hinter dieser Zeichenhandlung eine Begründungsstrategie, deren Absicht die Zeichenhandlung mit einem klassischen, sprachlich vorgetragenen Argument teilt: Durch die Inkorporation des aufgezeichneten Unheils in Form der Schriftrolle verkörpert der Prophet als ein von Jahwe in Anspruch genommener Bote die Ansage des Untergangs. Interpretiert man die Schriftrolle, ihren Inhalt und das Verschlingen in diesem weiteren Sinne als ein Argument, so wird man am ehesten sagen können, daß der Zeichenhandlung zufolge der Prophet durch das Aufessen der Schriftrolle zu einem lebendigen, wandelnden Argument wird: Ezechiel steht mit seinem Leben für den Inhalt der Schrift ein. Daß diese Deutung der Absicht von Ez 2,8-3,3 sehr nahe kommt, zeigt sich, wenn man die Zeichen19 Übersetzung nach Walther Zimmerli, Ezechiel. Teilbd. 1: Ezechiel 1-24. (Biblischer Kommentar Altes Testament, Bd. 13/1.) 2. Aufl. Neukirchen-Vluyn 1979, 2f. 20 Zu den Verbindungen zwischen Ez 2,8-3,3 und Jer 36 vgl. Zimmerli, Ezechiel (wie Anm. 19), 79.
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handlung, die am Anfang des Prophetenbuches steht, als eine Überschrift und einen Interpretationsschlüssel begreift, denn im weiteren Verlauf des Ezechielbuches wird deutlich, daß das Leben des Propheten Ezechiel - viel mehr als das bei den älteren Propheten der Fall war - von seiner Botschaft geprägt und in seine Verkündigung hineingezogen wird. Das zeitweilige Verstummen des Propheten, das ihm von Jahwe auferlegt wird (vgl. Ez 3; 33), oder der Tod seiner Frau (vgl. Ez 24), der als ein Zeichen für das Ende Jerusalems verstanden werden soll, sind nur zwei Beispiele für diese existentielle, bis in den physischen Bereich hineingehende Inanspruchnahme des Propheten durch seine Botschaft. Politisch wird diese Botschaft durch die Öffentlichkeit, vor der und für die der Prophet auftritt, spricht und schweigt. In diesem Sinne wird Ezechiel mit seiner Prophetie zu einem politischen Argument, weil er die Begründung für den anzusagenden Untergang vor seinen Zeitgenossen öffentlich vertritt und im eigentlichen Sinne des Wortes verkörpert.
V. Prophetische Argumentationsstrukturen Die vorgestellten Texte aus der alttestamentlichen Prophetie stehen lediglich für einen Teil der alttestamentlichen Literatur, die man im weiteren Sinne als politisch bezeichnen könnte. Der Ausschnitt repräsentiert allerdings in einem Punkt die alttestamentlichen Texte insgesamt: Es finden sich unter den literarischen Hinterlassenschaften des antiken Israel keine politischen Traktate oder gar theoretischen Abhandlungen, sondern Texte, die in konkreten Situationen entstanden sind und sich auf konkrete Situationen beziehen. Im Unterschied zur theoretischen Reflexion, die bis zu einem bestimmten Punkt von konkreten Gegebenheiten absehen kann, müssen Texte dieser Art je neu gedeutet und aktualisiert werden, um nicht in Vergessenheit zu geraten. Die Prophetenbücher dokumentieren mit ihren Fortschreibungen und Ergänzungen diesen Prozeß der fortlaufenden Neuinterpretation und geben auf dieser Grundlage einen Einblick in die Veränderung von Argumentationsstrukturen - auch im Bereich des Politischen. Versucht man - auch im Blick auf die Verwendung der Bibel als politisches Argument - die Beobachtungen an den Texten zusammenzustellen, lassen sich einige Schlüsse ziehen, die die Formationsphase der biblischen Literatur mit der Rezeption der Bibel in der Kulturgeschichte des Abendlandes verbinden; denn schon während der Entstehung der kanonischen Texte der Hebräischen Bibel lassen sich Formen der Rezeption von Traditionen im Kontext politischer Argumentationen erkennen. Dabei kann man unterscheiden zwischen a) Formen traditionsgestützter Argumentationen, wie sie sich etwa im Hoseabuch rekonstruieren lassen, demzufolge der Prophet auf bekannte Traditi-
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onszusammenhänge zurückgreift und diese in seine Gerichtsprophetie einbaut, b) Formen des direkten Zitats zur Begründung politischer Positionen, wie es sich bei der Rezeption des Michawortes im Prozeß gegen Jeremia zeigt, sowie c) Formen der Verschriftlichung des Gotteswortes in Schriftrollen oder Büchern und deren Einsatz in politischen Zusammenhängen, wie sich an der Schriftrolle Baruchs vor Jojakim und den beiden erwähnten Zeichenhandlungen Jeremias und Ezechiels beobachten läßt. Der Bezug auf Autoritäten zur Absicherung politischer Intentionen ist ein Sachverhalt, der sich offensichtlich bereits innerhalb der Bibel selber findet. Die in der späteren Rezeptionsgeschichte biblischer Texte verwendeten Grundformen traditionsgestützter politischer Argumentation sind daher kein neues Phänomen, sondern eine Weiterentwicklung der in den alttestamentlichen Texten selber angelegten Argumentationsstrukturen: Traditionsbezug, Zitate und Einsatz der Bibel als Ganzer in politischen Kontexten entsprechen den Traditionsbezügen, wie sie sich etwa bei Hosea finden lassen, entsprechen dem Zitat, mit dem Jeremias Kopf aus der Schlinge gezogen wird, und entsprechen dem politischen Einsatz einer Schriftrolle oder eines Buches als Ganzem, wie die Beispiele aus dem Jeremia- und dem Ezechielbuch deutlich machen. Über die genannten Beispiele hinaus zeigt sich allerdings, daß sowohl in der Formationsphase der biblischen Literatur als auch in der Rezeptionsgeschichte der Bibel die genannten Argumentationsstrukturen nur da angewendet werden können, wo Kanonizität Geltung sichert. Für die Bibel bedeutet das, daß sie nur da als politisches Argument eingesetzt werden kann, wo ihr kanonischer Rang als Gotteswort nicht in Frage steht. Auf der Grundlage einer unhinterfragten normativen Geltung kann dann sachlich oder wörtlich zitiert werden, um durch das Zitat die jeweilige Gegenwart mit der zitierten Vergangenheit in Beziehung zu setzen und auf diese Weise bestimmte Handlungsmaximen aufzustellen oder bestimmte politische Positionen zu begründen. Wo die normative Stellung der Bibel allerdings bestritten wird, taugen biblische Texte nicht mehr als politisches Argument. Wird die Normativität der Bibel aber anerkannt, eignet sie sich vor allem deshalb als Fundgrube für politische Argumentationen, weil sie zum einen aufgrund ihres Bibliothekscharakters gewissermaßen systemimmanent schon eine immense Vielfalt an Positionen vereinigt, die in neuen Kontexten rezipiert werden können, und weil sich zum anderen - wie gezeigt - bereits innerhalb der Bibel textinterne Rezeptionsprozesse rekonstruieren lassen, die der Struktur nach dem entsprechen, was sich in der späteren Rezeption der Bibel wiederholt.
Die Hasmonäer und das Problem der Theokratie Von
Kai Trampedach Mit unverkennbarem Stolz konstatiert der Autor des 1. Makkabäerbuches für den Herbst 143 v.Chr. die Befreiung Israels: „Im Jahre 170 wurde das Joch der Heiden von Israel genommen, und das Volk begann, in den Urkunden und Verträgen zu schreiben: ,1m ersten Jahr Simons, des großen Hohepriesters, Feldherrn und Führers der Juden'." 1 So begann knapp 450 Jahre nach dem Ende des Königreichs Juda für die Juden in Palästina eine neue Ära der Unabhängigkeit. Beseitigt wurde die Fremdherrschaft unter Führung der Hasmonäer, die zunächst erfolgreich den Aufstand gegen die Religionsverfolgung unter Antiochos IV. organisiert hatten und denen es dann mittels einer geschickten Schaukelpolitik gelungen war, die dynastischen Spaltungen der seleukidischen Oberherren für einen kontinuierlichen Ausbau ihrer Position zu nutzen. Kurze Zeit nach der Befreiung, im September 140 v.Chr., fanden sich die Priester und das Volk, die Obersten des ethnos und die Ältesten des Landes zu einer großen Versammlung zusammen, um die neuen Verhältnisse konstitutionell zu befestigen. Das Ergebnis dieser Versammlung hielt eine Urkunde fest, von der Bronzetafeln im Heiligtum an einer sichtbaren Stelle aufgestellt und in der Schatzkammer deponiert wurden. Dabei beschlossen die Juden und die Priester, daß Simon ihr Führer und Hohepriester sein solle, und zwar „für immer, bis ein glaubwürdiger Prophet auftreten würde". Auch solle er ihr Feldherr sein und für das Heiligtum Sorge tragen; durch ihn seien die Beamten zu ernennen für die Arbeiten am Tempel, für das Land, das Heer und die Festungen. Obwohl der Titel König vermieden wird, erscheinen Simons Herrschaftsbefugnisse hier so monarchisch wie das Purpurgewand und die gol1 1 Makk 13,41-42: "Etoug Eßöo|ir)xooto'D xal ExaToaToi rjoBn 6 i^ir/ög t ü v eOvojv aiio xoC IoQar))., x a i rjogaxo 6 Äctög YÖ^EIV EV xaig aic; x a l ovvah).äy\iaow "Etoug JIQOJTOU eni Zi|xcovog CIQXICPECOG |i£YdXou x a l CRTQATRIYOIJ x a i f|YOU|X6voii Iouöaüuv. Vgl. Stephanie von Dobbeler, Die Bücher 1/2 Makkabäer. (Neuer Stuttgarter Kommentar - Altes Testament, Bd. 11.) Stuttgart 1997, 128: „Die Scheu des Autors vor der direkten Nennung des Namens Gottes läßt die passivische Formulierung , wurde genommen' als passivum divinum erscheinen. Somit ist es auch hier letztlich Gott, der Israel endgültig aus der Unterdrückung befreit." Klaus Bringmann, Hellenistische Reform und Religionsverfolgung in Judäa. Eine Untersuchung zur jüdisch-hellenistischen Geschichte (175-163 v.Chr.). Göttingen 1983, hat nachgewiesen, daß alle Datierungen der beiden ersten Makkabäerbücher der im Westteil des Seleukidenreiches gebräuchlichen Jahreszählung folgen, die im Herbst 312 v.Chr. beginnt: vgl. bes. 15-28; zum Datum der Unabhängigkeit ebd. 21.
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dene Spange, die zu tragen ihm durch das Dekret als weiteres, exklusives Vorrecht eingeräumt wird. Seine Befehle sollen widerspruchslos gelten, und niemand soll das Recht haben, ohne seine Zustimmung Versammlungen im Land einzuberufen.2 Die biblische Formel eig xöv cdtöva verdeutlicht überdies, daß Simon außerdem das Recht erhielt, seine fürstliche Stellung und das Hohepriestertum zu vererben.3 So scheint die neue Ära der Freiheit mit einer eindrucksvollen Demonstration politischer Loyalität zu beginnen. Doch das schöne Bild der Einmütigkeit trügt: Schon während der Religionsverfolgung und verstärkt in den Jahren danach bildeten sich Gruppen, die der hasmonäischen Führung kritisch oder sogar feindlich gegenüberstanden. Offener Widerstand zeigte sich erstmals unter der Regierung von Simons Sohn Johannes Hyrkanos (135-104). Sein Enkel Alexander Jannaios (103-76), der sich nicht mehr scheute, den Königstitel zu übernehmen, mußte sich fast ununterbrochen mit Aufständen herumplagen, die er mit äußerster Brutalität niederschlug. Schließlich, 77 Jahre nach dem Beschluß für Simon, gingen die Ansprüche der Urenkel Hyrkanos II. und Aristobulos II. im Bruderzwist unter. Als der römische Feldherr Pompeius im Frühjahr 63 v. Chr. in Damaskus Hof hielt, präsentierten sich ihm drei jüdische Fraktionen und baten um Unterstützung für ihre jeweiligen Forderungen. Während die Brüder Aristobulos II. und Hyrkanos II. um das Königtum stritten, erschien vor Pompeius eine dritte Gruppe, die nach Diodor aus mehr als zweihundert der angesehensten Männer (oi ejtKjjaveaxaxoi) bestand und nach Josephus das ethnos repräsentierte. Diese Gruppe bat Pompeius, die Juden überhaupt von der Königsherrschaft zu befreien und statt dessen den Hohepriester und die (priesterliche) Aristokratie wieder in ihre alten Rechte einzusetzen. Diodor und Josephus zufolge begründete diese Gruppe ihr Anliegen mit einem allgemeinen und einem speziellen Argument: 1. Die Königsherrschaft liefe den Traditionen ihres Volkes zuwider; vielmehr sei es bei ihnen üblich, den Priestern ihres Gottes zu gehorchen. 2. Die jetzigen Könige hätten die väterlichen Gesetze mißachtet und die Bürger auf ungerechte Weise versklavt; sie hätten die Königsherrschaft nämlich durch eine Masse von Söldnern, durch Verbrechen und zahlreiche frevelhafte Morde erworben.4
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1 Makk 14,25-49; vgl. T. Rajak, The Jews under Hasmonean Rule, in: CAH 9, 2 1994, 274-309, hier 285. 3 Vgl. Diego Arenhoevel, Die Theokratie nach dem 1. und 2. Makkabäerbuch. Mainz 1967, 92 f.; bezeichnenderweise bezieht der Verfasser des 1. Makkabäerbuch den Beschluß ausdrücklich, wie schon Carl L. W. Grimm in seinem Kommentar zur Stelle (Kurzgefasstes exegetisches Handbuch zu den Apokryphen des Alten Testamentes, Dritte Lieferung: Das erste Buch der Maccabäer. Leipzig 1853,216) erkannt hat, sowohl am Anfang als auch am Ende seines Berichts auf „Simon und seine Söhne" (14,25. 49). 4 Diod. 40,2; los. ant. 14,41.
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Pompeius nahm die Einladung zur Intervention in die jüdischen Angelegenheiten an. Nachdem er den letzten Widerstand durch die Eroberung des Tempels in Jerusalem gebrochen hatte, löste er das durch die Hasmonäer gewonnene Reich auf, schaffte das Königtum ab, machte Judäa den Römern tributpflichtig und setzte Hyrkanos als Hohepriester und Ethnarch der Juden ein.5 Die römische Reorganisation schuf damit politische Verhältnisse, die im großen und ganzen denen der Zeit der persischen und makedonischen Oberherrschaft vor dem Makkabäeraufstand entsprachen: Erneut korrespondierte die Fremdherrschaft mit einer weitgehenden inneren Autonomie des Tempelstaates von Jerusalem. Wie ist die fortschreitende politische Desintegration, die am Ende die Unabhängigkeit kostete, zu erklären? Eine Antwort auf diese Frage muß die sich in der Bibel manifestierenden israelitischen Traditionen berücksichtigen. Alle inneren und äußeren Konflikte erscheinen in der Überlieferung als religiöse Konflikte. Mit anderen Worten: Die gesamte jüdische Literatur der Zeit mißt die zeitgenössischen Verhältnisse am Maßstab biblischer Geschichte und Offenbarung. Will man diesen Maßstab auf einen Begriff bringen, empfiehlt sich das Wort Theokratie.6 Das Problem der Theokratie läßt sich dann, bezogen auf unseren Gegenstand, in folgende Frage kleiden: Wie verhält sich die Herrschaft der Hasmonäer über Israel zu der übergeordneten Herrschaft Gottes? Da das Konglomerat der heiligen Schriften in hasmonäischer Zeit natürlich keine einheitliche oder selbstverständliche Position vorgab, sind unterschiedliche Antworten auf der Basis unterschiedlicher Interpretationsweisen möglich und auch überliefert. Ich möchte im folgenden erörtern, 1. wie die Hasmonäer selbst ihre Herrschaft im Rahmen der jüdischen Geschichte legitimiert haben und 2. warum dieser Legitimation sowohl kurz- als auch langfristig relativ wenig Erfolg beschieden war, bevor ich 3. und abschließend das Problem der Theokratie einzugrenzen versuche.
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los. bell. 1,153-158; ant. 14,73 f. Der Begriff .Theokratie' hat sein zeitgenössisches Pendant in der verbreiteten Rede von der .Königsherrschaft Gottes'. E. Zenger, in: TRE 15, 1986, 176-189 (s.v. „Herrschaft Gottes/Reich Gottes", II. Altes Testament), kommt zu dem Schluß, „daß die Vorstellung von der Herrschaft Gottes in der Zeit des Frühjudentums zu einer zentralen theologischen Kategorie wurde, auch wenn dies terminologisch nicht immer durchscheint" (187). Vgl. Marc Z. Brettler, God is King. Understanding an Israelite Metaphor. Sheffield 1989; Martin Hengel/Anna-Maria Schwemer (Hrsg.), Königsherrschaft Gottes und himmlischer Kult im Judentum, Urchristentum und in der hellenistischen Welt. Tübingen 1991, 1-10 (Vorwort der Herausgeber). 6
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I. Die Herrschaftslegitimation der Hasmonäer Das 1. Makkabäerbuch gibt eine offiziöse Darstellung vom Aufstieg der Hasmonäer und darf mangels anderer Quellen als bedeutsamstes Zeugnis für das offizielle Selbstverständnis der Dynastie gelten. Es beschreibt die vierzig Jahre von der Religionsnot unter König Antiochos IV. (175 v.Chr.) bis zur Machtübernahme von Johannes Hyrkanos (135 v. Chr.). In der Art seiner Darstellung orientiert sich das Werk, das ursprünglich am Ende des 2. Jahrhunderts v. Chr. auf hebräisch verfaßt wurde, am Vorbild der deuteronomischen Geschichtsschreibung, insbesondere an dem Richterbuch und an den Büchern Samuel.7 Im Unterschied zum 2. behandelt das 1. Makkabäerbuch die Vorgeschichte des Makkabäeraufstandes relativ kurz. Für die Darstellung der Hellenisierungsbestrebungen der jüdischen Apostaten, der Schändung des Jerusalemer Heiligtums durch Antiochos IV. sowie der sich daran anschließenden Religionsverfolgung reicht dem Verfasser ein Buch. Im Zentrum der verbleibenden 15 Bücher stehen die Taten des Mattathias und seiner Söhne Judas, Jonathan und Simon, die nicht nur die Wiedergewinnung des Tempels und das Ende der Verfolgung bewirken, sondern nach wechselvollen Kämpfen auch die Befreiung Judäas von der Fremdherrschaft herbeiführen. Gemessen an der Zentralität der Hasmonäer scheint sogar die Beteiligung Gottes zurückzustehen. Anders als im 2. Makkabäerbuch greift Gott niemals unmittelbar und wunderbar in das Geschehen ein. Auf der Handlungsebene geht alles natürlich zu. Trotzdem kann der Leser auch ohne explizite Aussagen des Verfassers nicht im Zweifel sein, daß die geschilderten Ereignisse genau nach dem Willen Gottes ablaufen. Tatsächlich zeigt sich immer wieder, wie Gott die Geschichte im Gedenken an „den Bund, den er mit den Vätern geschlossen hat" (4,10), lenkt. Die zahlreichen unwahrscheinlichen Siege der jüdischen Freischärler gegen die vielfache Übermacht heidnischer Berufssoldaten, die schrecklichen Todesarten der Verfolger, die unerwartete Ausrottung der jüdischen Apostaten, die plötzliche Rettung der Juden aus hoffnungsloser Lage durch das plötzliche Auftreten eines seleukidischen Usurpators - all das zeugt 7
Vgl. Grimm, Maccabäer (wie Anm. 3), XV-XXV; Elias Bickermann, Der Gott der Makkabäer. Untersuchungen über Sinn und Ursprung der makkabäischen Erhebung. Berlin 1937, 27-32, 145 f.; Jonathan A. Goldstein, I Maccabees. A New Translation with Introduction and Commentary. Garden City, N.Y. 1976,10f., 21,62-64; K.-D. Schunk, 1. Makkabäerbuch, in: Werner G. Kümmel (Hrsg.), Jüdische Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit. Bd. 1. Gütersloh 1980, 292f.; Otto Kaiser, Die alttestamentlichen Apokryphen. Eine Einleitung in Grundzügen. Gütersloh 2000, 17-20; von Dobbeler, Makkabäer (wie Anm. 1), 42-44; Ulrike Mittmann-Richert, Historische und legendarische Erzählungen. (Jüdische Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit, Bd. 6.) Gütersloh 2000, 20-24. Die Datierung schwankt in der Forschung zwischen ca. 130 und 90: vgl. Bezalel Bar-Kochva, Judas Maccabaeus. The Jewish Struggle Against the Seleucids. Cambridge 1989, 151-168 (Frühdatierung), und Goldstein, Maccabees, 62-89 (Spätdatierung).
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unter anderem von dem unauffälligen, aber unaufhaltsamen Plan Gottes.8 Wie sich die Hasmonäer in diesen Plan einfügen, ist ein wichtiges, wenn nicht das wichtigste Thema des 1. Makkabäerbuches. Aus dem Arsenal biblischer Motive treten vier Themen besonders eindringlich hervor: der Eifer für das Gesetz, der heilige Krieg sowie die Wahl durch Gott zum einen und das Volk zum anderen. Ich gehe sie der Reihe nach durch. 1. Der Eifer für das Gesetz. Buch I des 1. Makkabäerbuches schließt mit dem Satz: „Großer Zorn (Gottes) lag schwer auf Israel" (1,64). Buch II bringt die Wende; es beginnt mit der Vorstellung von Mattathias und seinen Söhnen aus Modein (2,1-5) und führt damit diejenigen Männer ein, denen es gelang, wie später ausdrücklich vermerkt wird, Gottes Zorn von Israel abzuwehren.9 Als Beamte des Königs nach Modei'n kamen und das angeordnete Opfer einforderten, weigerte sich Mattathias, den Befehlen des Königs zu gehorchen und vom väterlichen Gesetz abzufallen. An seiner Stelle trat ein anderer jüdischer Mann heran, um das Opfer gemäß der königlichen Anordnung zu vollziehen. „Als Mattathias das sah, geriet er in (heiligen) Eifer und sein Innerstes erbebte; zu Recht stieg ihm (der) Zorn auf, er lief hinzu und erschlug ihn am Altar. Zugleich tötete er den Mann des Königs, der zum Opfern nötigte, und zerstörte den Altar. So eiferte er für das Gesetz, wie es (einst) Pinhas gegenüber Simri, dem Sohn des Salu, tat" (2,24-26). Der Verfasser interpretiert die Gründungstat der Hasmonäer-Dynastie unter Rückgriff auf Num 25,6-15. Aus dieser Stelle geht hervor, daß das Handeln des Pinhas, der Simri und seine moabitische Frau Kosbi wegen ihrer Teilnahme an moabitischen Opferfesten getötet hatte, Gottes Wohlgefallen erregte: „Der Herr sprach zu Mose: Der Priester Pinhas, der Sohn Eleazars, des Sohnes Aarons, hat meinen Zorn von den Israeliten abgewendet dadurch, daß er sich bei ihnen für mich ereiferte. So mußte ich die Israeliten nicht in meinem leidenschaftlichen Eifer umbringen. Darum sage ich: Hiermit gewähre ich ihm meinen Friedensbund. Ihm und seinen Nachkommen wird der Bund des ewigen Priestertums zuteil, weil er sich für seinen Gott ereifert und die Israeliten entsühnt hat" (Num. 25,10-13). Mit dem Hinweis auf das biblische Vorbild will der Autor des 1. Makkabäerbuches die Hasmonäer offenbar als Retter Israels und als Hohepriester profilieren: Auch Mattathias handelte stellvertretend für Gott und entsühnte durch seinen Eifer gegen die Abtrünnigen und Heiden das Volk. Wie Pinhas' Tat die Plage von Israel abgewendet hat, so leitete Mattathias durch seine Tat die Rettung Israels ein. Der Autor läßt keinen Zweifel daran, daß es ohne das Eingreifen des Mattathias und seiner Söhne gar kein Gesetz mehr in Israel 8
Arenhoevel, Theokratie (wie Anm. 3), 35, 39 f. 1 Makk 3,8: „Er [sc. Judas Makkabäus] durchzog die Städte Judas und rottete die Gottlosen daraus aus, und er wehrte (Gottes) Zom von Israel ab."
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gäbe. Außerdem gibt er zu verstehen, daß Mattathias durch seinen Eifer - dem Vorbild des Pinhas entsprechend - für sich und seine Nachkommen einen Anspruch auf die höchste Priesterwürde erworben hat. 10 Seit Jonathan, der Sohn des Mattathias, 152 das Hohepriesteramt nebst weiterer Ämter und Ehren aus den Händen des Seleukidenkönigs Alexander Balas empfangen hatte (10,21), bildete es die legale Basis für die Hasmonäerherrschaft über die Juden. 2. Der Heilige Krieg. Das 1. Makkabäerbuch erzählt überwiegend Kriegsgeschichte. Der Krieg, der als Aufstand gegen die Religionsverfolgung begann und bald immer weitere Kreise zog, war ein Religionskrieg. Die biblischen Analogien lagen für einen schriftgelehrten Historiker auf der Hand, und tatsächlich läßt der Autor durch seine Darstellung und Wortwahl die glorreiche Epoche der Landnahme, der Richter und des frühen Königtums wieder aufleben. Gott verleiht Hilfe, schenkt den Sieg gegen die Völker, die Israel wie in der Richterzeit bedrängen; als Kampf für Gott, sein Gesetz und sein Volk befreien die Hasmonäer Mattathias, Judas, Jonathan und Simon Judäa, erobern das palästinische Land und kämpfen gegen die „umliegenden Völker" wie weiland die Richter, Saul und David. Bezeichnenderweise nimmt der Autor die Umwelt von Judäa mit den anachronistischen Begriffen der alten Zeit wahr; er spricht vom „Land der Philister" oder von „Kanaan" oder von den „Söhnen Esaus und Ammons". 11 Auch die extreme und unversöhnliche Feindschaft, die das 1. Makkabäerbuch gegenüber den nichtjüdischen Ethnien im palästinisch-syrischen Raum erkennen läßt, folgt bis in einzelne Formulierungen hinein dem deuteronomischen Vorbild.12 Im 1. Makkabäerbuch bezieht sich schon Mattathias, der 168 den Aufstand gegen die seleukidische Religionsverfolgung entfacht und durch dessen Taten die Hasmonäer ins Licht der Geschichte treten, auf die großen exempla. Bevor er vom irdischen Schauplatz abtritt, erhält er vom Geschichtsschreiber nach einem verbreiteten, auf die biblische Tradition zurückgehenden Muster 13 die Gelegenheit, seine Söhne in einer längeren Rede an die gemeinsame Mission zu erinnern und zu segnen (2,49-70). Die Ermahnungen des Archegeten sind ganz offenbar zukunftsweisend.14 An einer Reihe von bekannten biblischen 10
Arenhoevel, Theokratie (wie Anm. 3), 45; von Dobbeler, Makkabäer (wie Anm. 1), 61 f. 11 1 Makk 3,24 (Philister). 5,3. 5,65 (Söhne Esaus). 5,6 (Söhne Ammons). 9,37 (Kanaan). Nicht sicher zu identifizieren sind die „Söhne Bajans" (5,4) und die „Söhne Phasimons" (9,66). Außerdem verwendet der Autor wiederholt den Namen , Jakob" für Israel (1,28. 3,7. 3,45. 5,2). 12 Vgl. Gerhard von Rad, Der Heilige Krieg im alten Israel. 3. Aufl. Göttingen 1958,68f.; Martin Hengel, Die Zeloten. Untersuchungen zur jüdischen Freiheitsbewegung in der Zeit von Herodes I. bis 70 n. Chr. 2. Aufl. Leiden/Köln 1976, 277-279; S. Schwanz, Israel and the Nations Roundabout: 1 Maccabees and the Hasmonean Expansion", in: JJS 42, 1991, 16-38, hier 23 f. ' 3 Vgl. J.J. Collins, Testaments, in: Michel E. Stone (Ed.), Jewish Writings of the Second Temple Period. Philadelphia 1984, 325-355, bes. 325 f. 14 Vgl. Goldstein, Maccabees (wie Anm. 7), 6-12.
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Helden (Abraham, Joseph, Pinhas, Josua, Kaleb, David, Elias, Daniel) führt Mattathias seinen Söhnen vor Augen, daß Gott die Treue zu seinen Geboten
nicht unbelohnt läßt. Die Rede schließt mit einer Aufforderung, die man als Wahlspruch der Hasmonäer verstehen kann: „Übt Vergeltung an den Heiden und haltet fest an der Anordnung des Gesetzes!" (2,68). Mit dem Heiligen Krieg erfüllten Mattathias' Nachkommen beide Forderungen zugleich. Tatsächlich hielten sich die Hasmonäer, wenn wir dem 1. Makkabäerbuch glauben dürfen, zumindest streckenweise an die Kriegsregeln des Deuteronomiums (20,10-18). Insbesondere Judas Makkabäus läßt mehrfach den Bann an den feindlichen Städten vollstrecken. Was das bedeutet, zeigt beispielsweise der Fall von Bosra: „Er eroberte die Stadt, tötete alles, was männlich war, mit dem Schwert, nahm alle Beute von ihnen und steckte die Stadt in Brand" (5,28). 15 Auch Judas' Umgang mit heidnischen Kultstätten entspricht genau den deuteronomischen Vorschriften.16 Sogar das militärische Aufgebot mitsamt seinen die Kampfkraft reduzierenden Einschränkungen (3,56) folgt den Anordnungen des Gesetzes (Dtn 20,5-9). Zum Instrumentarium des Heiligen Krieges, wie ihn die Hasmonäer auffassen, gehören außerdem die ,Heimholung' von Juden ins Kernland, die Aussiedlung der Heiden, die Reinigung der Orte und ihre Wiederbesiedlung durch Juden sowie später wohl auch die Zwangsbeschneidungen.17 Geschrei und Trompetenklang, die der Autor immer wieder vor wichtigen Kämpfen erwähnt18, verweisen ebenfalls auf den Heiligen Krieg; der Schall der Trompete soll nach Num 10,9 die Bündnishilfe Gottes evozieren. 19 15
Ausdrücklich erwähnt wird die „Bann"-Vollstreckung gegen die Feinde in 5,5: x a l
à v E G e f i à t i a e v OHJTOÙÇ xa'i èvEjnjçiae TOÙÇ JIXIÇYOUÇ aÙTfjç èv JTDOÎ ovv
jiàoiv toîç
èvovoiv. Weitere Massentötungen von Nicht-Kombattanten: 5,35-36. 46-51. Vgl. Ch. Batsch, Le Herem de Guerre dans le Judaïsme du Deuxième Temple, in: S. Georgoudi (Ed.), La cuisine et l'autel. Les sacrifices en questions dans les sociétés de la Mediterranée ancienne. Turnhout 2005, 101-111. 16 Ex 23,24. 34,13; Num 33,52; Dtn 7,5. 25.12,2-3; Ri 2,2; 2 Kön 10,24-27. Vgl. 1 Makk 5,68:, Judas aber bog nach Asdod ins Philisterland ab, zerstörte ihre Altäre, verbrannte die Schnitzbilder ihrer Götter, nahm die Beute von den Städten und kehrte ins Land Juda zurück." Zerstörung von Altären: 2,45 (Mattathias); Verbrennung von Heiligtümern mit Flüchtlingen: 5,43 f. (Judas) und 10,83-85 (Jonathan). 17 Heimholung: 5,23.45; Umsiedlung und Reinigung: 11,65 f. 13,11.47 f. 50,14,7. 33-37. 15,33f.; Zwangsbeschneidung: 2,46; Jos. ant. 13,257f. 318f. 397. Vgl. Joshua Efron, Studies in the Hasmonean Period. Leiden u. a. 1987, 50: „Uprooting idolatry from hallowed land, according to biblical precepts [...] involves also the removal of pagan Gentiles or their conversion to Judaism." 18 Vgl. 3,54. 4,13. 4,40. 5,33. 7,45. 9,12. 16,8. 19 Num. 10,9: „Wenn ihr in eurem Land in einen Krieg verwickelt werdet, der euch bedrängt, dann blast mit euren Trompeten Alarm! So werdet ihr euch beim Herrn, eurem Gott, in Erinnerung bringen und vor euren Feinden gerettet werden." Weitere Stellen aus dem deuteronomischen Geschichtswerk: Jos 6,4-20; Ri 3,27. 6,34. 7,18-22; 1 Sam 13,3; 2 Sam 15,10. 18,16. 20,1. 22; 2 Kön 9,13. 11,14; außerdem z.B. Jer 4,5. Vgl. Friedrich Schwally, Semitische Kriegsaltertümer. Der heilige Krieg im alten Israel. Leipzig 1901,
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3. Die Wahl durch Gott. Der Autor des 1. Makkabäerbuches legt seinen hasmonäischen Helden wiederholt, und insbesondere vor größeren Schlachten, Gebete oder Ansprachen an seine Soldaten in den Mund. Alle diese Reden erinnern an die glorreichen Wunder der Vergangenheit (wie die Teilung des Roten Meeres, die heroischen Taten Davids und Jonathans, die Pest im Lager des assyrischen Königs Sanherib bei der Belagerung Jerusalems) und sind dem theokratischen Ideal verpflichtet, dem sie in Variationen huldigen.20 Judas Makkabäus sagt einmal im Angesicht einer vielfachen Überlegenheit der Feinde: „[...] für den Himmel ist es kein Unterschied, durch viele oder durch wenige zu erretten; denn Sieg im Kampf beruht nicht auf der Größe des Heeres, sondern vom Himmel kommt Stärke" (3,18 f.). In diesem Kontext sind Sieg und Erfolg Zeichen göttlicher Erwählung. Daß die Bündnishilfe Gottes für Israel an die hasmonäische Führerschaft gebunden ist, demonstriert der Autor vielleicht noch eindrucksvoller durch die Gegenprobe. Zwei Heerführer der Juden, Joseph und Azarias, hatten gegen den ausdrücklichen Befehl des Judas Makkabäus auf eigene Faust Krieg geführt und wurden schmählich geschlagen. Diese Niederlage erscheint unvermeidlich, denn, so bemerkt der Autor, die beiden Offiziere „waren nicht aus dem Samen jener Männer, durch deren Hand Heil für Israel gegeben wurde".21 Positiv besagt diese Bemerkung, daß die Hasmonäer als Instrument für das Heil Israels fungierten. Die passivische Formulierung umschreibt offenbar den Gottesnamen: Gott hat die Hasmonäer erwählt, um sein Volk aus den Fängen der Heiden zu retten. Als Werkzeuge Gottes stehen sie in einer Reihe mit Gideon, Samson und David, durch deren Hand Gott früher seinem Volk Heil gegeben hatte. Darüber hinaus vermittelt der Verfasser eine unmißverständliche Botschaft: Nur die Hasmonäer sind erwählt; nur unter ihrer Führung können die Juden siegen. Und ein Weiteres geht aus dieser Stelle hervor: Nicht nur Mattathias, Judas, Jonathan und Simon sind berufen, sondern die ganze Familie der Hasmonäer, die dementsprechend stets als Einheit in Erscheinung tritt.22 Insbesondere an dieser Botschaft mußte den Nachkommen Simons zur Abfassungszeit des 1. Makkabäerbuches gelegen sein. Nicht nur für die Herrschaft selbst, sondern auch für ihre voranschreitende Institutionalisierung suchte der Autor nach biblischen Rechtfertigungsmustern. Gerade Jonathan, der in Judäa als Statthalter der Seleukidenkönige am25-28; von Rad, Heiliger Krieg (wie Anm. 12), 6 f. Auch in der Qumraner Kriegsrolle aus herodianischer Zeit haben Kriegslärm und Trompetenschall eine große Bedeutung: 1QM 7,9-10,8 (10,6-8 zitiert Num 10,9). 20 3,18-22. 58-60. 4,8-11. 30-33. 7,40-42. 9,44-46. 21 1 Makk 5,61 f. über die ungehorsamen Offiziere: xcd eY6vr|0r| TQOJIT] FIEYATAL £v TÜ
X.acö, öti oiix fjxouaav Iouöou xai xcäv äöeXr|TT]v maröv. Arenhoevel, Theokratie (wie Anm. 3), 68, charakterisiert die Lage treffend: „Solange die Bestätigung durch den Boten Gottes ausbleibt, solange bleibt die Stellung der Hasmonäer vorläufig und widerrufbar." 30 Vgl. Ps. Sal. 17,4; Test. Jud. 22-24 und - zum reichhaltigen Befund in Qumran -P.W. Flint, s. v. „David", in: Lawrence H. Schiffman/James C. Vanderkam (Eds.), Encyclopedia of the Dead Sea Scrolls. 2 Vols. Oxford 2000, Vol. 1,180; vgl. H. G. Kippenberg, Das Gentilcharisma der Davididen in der jüdischen, frühchristlichen und gnostischen Religionsgeschichte Palästinas, in: Jacob Taubes (Hrsg.), Religionstheorie und Politische Theologie. Bd. 3: Theokratie. München 1987,127-147, bes. 130-136. 31 Die Behauptung, daß mit Johannes Hyrkanos ein hasmonäischer Herrscher selbst mit der Gabe der Prophetie gesegnet sei (Jos. bell. 1,67f.; ant. 13,282. 299-300. 322), sollte vielleicht helfen, diese Grenzen zu überwinden. Die Söhne des Herrschers/Priesters/Propheten zögerten jedenfalls nicht mehr, den Königstitel zu übernehmen.
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scheinen erst vor dem Hintergrund einer zumindest latenten Gefährdung verständlich.32
II. Antihasmonäische Diskursfelder Studiert man die jüdische Literatur der Zeit, so stößt man immer wieder auf Positionen, die sich, obwohl sie ebenfalls biblizistisch begründet werden, mit dem hasmonäischen Konzept nicht vereinbaren lassen. Bei dem anonymen Charakter dieser unter den modernen Bezeichnungen Apokryphen, Pseudepigraphen und Qumran-Rollen rubrizierten Literatur und ihrer ganz überwiegend metaphorischen und indirekten Ausdrucksweise erscheint die Rekonstruktion präziser Kontexte oft unmöglich oder willkürlich. Daher können und sollen hier nur Diskursfelder, auf denen sich zeitgenössische Opposition gegen die Hasmonäerherrschaft sammelte, abgesteckt werden, um sie mit den Argumenten des 1. Makkabäerbuches in Beziehung zu setzen.33 Folgende Einwände lassen sich unterscheiden: 1. Quietistische Einwände. Schon das 1. Makkabäerbuch selbst gibt zu erkennen, daß sich für viele gesetzestreue Juden ein gewaltsamer Widerstand gegen die Religionsedikte Antiochos IV. keineswegs von selbst verstand. „Viele, die Gerechtigkeit und Recht suchten", so heißt es im 1. Makkabäerbuch, flüchteten zu Beginn der Verfolgung mit ihren Familien und ihrem Vieh in die Wüste und ließen sich dort von seleukidischen Truppen lieber widerstandslos abschlachten als den Sabbat zu entweihen (2,29-38). Während die Makkabäer daraufhin die Selbstverteidigung am Sabbat beschlossen (2,3941), hielten besonders gesetzesstrenge Kreise auch weiterhin um jeden Preis am Sabbat-Gebot fest. 34 In der Darstellung des 2. Makkabäerbuches lösen die 32 Vgl. Sievers, The Hasmoneans (wie Anm. 28), 124: „If we ask why Simon wanted these powers officially granted him, and the grants publicly recorded, the evidence suggests this display of support was intended to counter some Opposition." 33 Es wird daher auch auf die Zuweisung bestimmter Positionen an bestimmte aus der Literatur dem Namen nach bekannte, für die hier behandelte Zeit jedoch dem Profil nach weitgehend schemenhafte Gruppen oder Sekten (Hasidäer, Essener, Pharisäer, Sadduzäer) verzichtet. Im übrigen ist keineswegs klar, ob die genannten Gruppen einheitliche politische Positionen, zumal kontinuierlich über einen längeren Zeitraum, vertreten haben. Bereits ein kursorischer Überblick über die Forschungsliteratur zeigt die Vergeblichkeit solcher ,partei- oder sektenzentrierten' Spekulationen für die Hasmonäerzeit auf. 34 Vgl. 2 Makk 6,11. Jub 50,12 f. (entstanden um die Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr.) verbietet kategorisch jegliche Kriegführung am Sabbat; Moses spricht: „Wer jemanden schlägt und tötet, [...] wer am Sabbat fastet und Krieg führt, [...] soll sterben, damit die Kinder Israel Sabbat feiern gemäß den Geboten der Sabbate des Landes, wie in den himmlischen Tafeln geschrieben ist, die er in meine Hände gegeben hat [...]"; vgl. ebd. 2,17-32. Außerordentlich strikt wurden die Sabbat-Regeln auch in Qumran und bei den Essenern gehandhabt: Damaskusschrift 10,4-11,18; Jos. bell. 2,147; dazu L.H. Schiffman, in: ders./ Vanderkam (Eds.), Encyclopedia (wie Anm. 30), Vol. 2, 805-807. Agatharchides von Kni-
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Gebete und Martyrien der Frommen, nicht der gewalttätige Eifer der Makkabäer, den Zorn Gottes aus und bewirken die Rettung Israels.35 Die Bereitschaft zum Martyrium wird auch im Testament des Moses als eine ideale Reaktion auf die Religionsverfolgung beschrieben; ein gewisser Taxo aus dem Stamm Levi sagt zu seinen sieben Söhnen: „Laßt uns drei Tage lang fasten und am vierten in eine Höhle gehen, die auf dem Felde ist, und laßt uns lieber sterben, als die Gebote des Herrn der Herren, des Gottes unserer Väter, übertreten! Denn wenn wir das tun und so sterben, wird unser Blut vor dem Herrn gerächt werden" (Ass. Mos. 9,6-7). 36 Quietistische Positionen kommen außerdem im Buch Daniel zum Ausdruck, das während der Religionsverfolgung (168-165) seine endgültige Form erhielt.37 Der aramäische Teil des Buches (Dan 2-7) ist ein paar Jahrzehnte älter, vermittelt aber gerade mit seinen überaus anschaulichen Geschichten von den „Drei Männern im Feuerofen" (Dan 3) und „Daniel in der Löwengrube" (Dan 6) die Botschaft, der feindlichen Fremdmacht in treuer Bindung an die väterliche Überlieferung entschlossen entgegenzutreten und dabei nötigenfalls das Martyrium nicht zu scheuen. Von gewaltsamem Widerstand ist dagegen nirgends die Rede; vielmehr erwartet der Verfasser die unaufhaltsame Durchsetzung der Königsherrschaft Gottes, die „alle jene Reiche zermalmen und endgültig vernichten" (Dan 2,44) werde. Solchen utopischen Hoffnungen fügt der Autor der hebräischen Daniel-Apokalypse unter dem Eindruck der Religionsverfolgung seine beklemmende Vision hinzu (Dan 1. 8-12). An einer Stelle verkündet er unmittelbar gegenwartsbezogen: „Die Verständigen bringen viele zur Einsicht; aber eine Zeit lang zwingt man sie nieder mit Feuer und Schwert, mit Haft und Plünderung. Doch während man
dos, ein peripatetischer Geograph und Historiker des 2. Jahrhunderts v.Chr., berichtet, daß Ptolemaios I. Jerusalem eroberte, weil die Einwohner am Sabbat keinen militärischen Widerstand leisteten: Jos. c. Ap. 1,205-212; ant. 12,3-7. 35 Auch 2 Makk verherrlicht die Taten des Judas Makkabäus, unterscheidet sich aber durch die Art und Weise, wie dessen Erfolge begründet und erklärt werden, fundamental von 1 Makk: „Als der Makkabäer es aber zu einer Heerschar gebracht hatte, da wurde er schon den fremden Völkern unwiderstehlich, weil der Zorn des Herrn sich in Erbarmen gewendet hatte" (2 Makk 8,5). Gott aber wird durch die Märtyrer mit seinem Volk versöhnt (2 Makk 6,18-7,42; bes.7, 37 f.); vgl. dagegen 1 Makk 3,8. 36 Die kleine Schrift, die auch unter dem Titel „Himmelfahrt des Moses" firmiert, stammt in der vorliegenden Form aus den Jahren um die Zeitenwende, greift aber auf älteres Material zurück: vgl. Emil Schürer, The History of the Jewish People in the Age of Jesus Christ. Rev. and ed. by Geza Vermes and Fergus Miliar. Edinburgh 1986, Vol. 3/1, 2 8 1 283. In gewisser Weise erscheinen Taxo und seine Söhne (Ass. Mos. 9) als Gegenfiguren zu Mattathias und seinen Söhnen in 1 Makk. 37 In meinem Verständnis der Daniel-Problematik und der apokalyptischen Widerstandstheologie folge ich Rainer Albertz, Religionsgeschichte Israels in alttestamentlicher Zeit. Göttingen 1992, 659-672; ders., The Social Setting of the Aramaic and Hebrew Book of Daniel, in: John J. Collins/Peter W. Flint (Eds.), The Book of Daniel. Composition and Reception. Leiden u.a. 2001, 171-204, bes. 193-202.
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sie niederzwingt, erfahren sie eine kleine Hilfe; viele schließen sich ihnen an, freilich nur zum Schein. Aber auch manche von den Verständigen kommen zu Fall; so sollen sie geprüft, geläutert und gereinigt werden bis zur Zeit des Endes; denn es dauert noch eine Weile bis zu der bestimmten Zeit" (11,33-35). Soweit ich sehe, besteht seit Porphyrios (FGrH 260 F52) weitgehender Forschungskonsens, daß die Makkabäer es sind, die an dieser Stelle geringschätzig als „kleine Hilfe" bezeichnet werden und und die sich den „Verständigen" angeblich nur zum Schein anschließen. Wesentlicher als der Kampf der Makkabäer erscheint hier die Lehre der Weisen, die das Volk zur Einsicht bringt. Die Rettung aber wird weniger von einem eigenen politischen Handeln als von Gottes wunderbarem Eingreifen erwartet; Gott allein werde vielmehr zu der bestimmten Zeit das Ende der Drangsal herbeiführen. Gleichzeitig deutet der Autor der zitierten Passage an, daß es „Verständige" gab, die die „kleine Hilfe" der Makkabäer annahmen und sich aktiv am Kampf gegen Antiochos IV. und die Hellenisten beteiligten. Auf diese Fraktion von militanten Frommen, die sich nach Ansicht des Daniel-Autors auf Abwegen befindet und „zu Fall kommt", könnte die ebenfalls in der Verfolgungszeit entstandene Tier-Apokalypse des äthiopischen Henoch-Buches (1 Hen 85-90) zurückzugehen. In martialischen Bildern beschreibt diese Apokalypse den makkabäischen Befreiungskrieg, der nahtlos in den großen Endzeitkampf mündet, bei dem Israel an der Seite seines Gottes alle seine Feinde vernichten oder in die Flucht schlagen werde (1 Hen 90,6-19). 38 Auch das 1. Makkabäerbuch erwähnt unter dem Namen „Hasidäer" militante Schriftgelehrte, charakterisiert das Verhältnis zwischen diesen und den Makkabäern allerdings genau umgekehrt wie in Daniel: Hier schließen sich die Hasidäer den Makkabäern an; „und sie bildeten für sie eine Verstärkung" (2,43). Wer immer das Fanal des Widerstandes entzündet hat - es gab neben konsequent quietistischen Gruppen jedenfalls auch „Fromme", die den Makkabäeraufstand aktiv unterstützt haben. Doch das Zweckbündnis überlebte das Ende der Religionsverfolgung nicht. Nachdem die seleukidische Obrigkeit im Jahre 163/62 die anstößigen Edikte Antiochos' IV. aufgehoben und einen neuen Hohepriester aus dem Stamme Aarons, wie es heißt, eingesetzt hatte, erstrebten die „Hasidäer" einen raschen Friedensschluß (7,12-14). Dieses Vorgehen zeigt, daß selbst die widerstandsbereiten Schriftgelehrten nach dem Ausbleiben des erwarteten Endgerichts vor allem an Ruhe interessiert
38 Albertz, Religionsgeschichte (wie Anm. 37), 664f., nimmt an, „daß es unter dem Druck der Ereignisse zu einer Aufspaltung der frommen Schriftgelehrten kam, wobei sich ein Teil (Träger der ,Tier-Apokalypse') den Makkabäern anschloß (1 Makk 2,42), während ein anderer Teil (Träger des hebräischen Danielbuches) sich hinter solche radikal-religiösen Oppositionsgruppen stellte, von denen 1 Makk 2,29-38 erzählt, daß sie in die Wüste flohen und sich am Sabbat in frommer Selbsthingabe abschlachten ließen".
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waren und keine über die Wiederherstellung des status quo ante hinausgehenden politischen Ziele verfolgten.39 Für Judas, Jonathan und Simon aber war die Fortsetzung des Kampfes zu einer Überlebensfrage geworden. Durch die Wiederbelebung des Heiligen Krieges schufen sich die Hasmonäer eine Aufgabe, die sie über den Aufstand hinaustrug.40 Nachdem sie ihre Stellung konsolidiert hatten, führten sie Offensivkriege, die die kontinuierliche Expansion des jüdischen Staates bewirkten. Spätestens unter Alexander Jannaios erreichte das jüdische Reich Ausmaße, die denen des Höhepunkts der alten Geschichte unter den Königen David und Salomon weitgehend entsprachen. Natürlich hätte sich die hasmonäische Expansion auch mit der hellenistischen Königsideologie begründen lassen, für die militärische Erfolge bekanntlich eine mindestens ebenso zentrale Bedeutung haben.41 Doch nach innen versuchten die Hasmonäer zumindest anfangs den Anschein zu erwecken, daß sie, dem theokratischen Ideal entsprechend, Religionskriege führten. Dieser Anschein ließ sich allerdings um so weniger aufrechterhalten desto mehr sie - beginnend mit Johannes Hyrkanos und verstärkt durch Alexander Jannaios und Alexandra Salome - fremde Söldner beschäftigten und diese gegen das eigene Volk einsetzten 4 2 2. Genealogische Einwände. Die Hasmonäer verfügten in den Augen mancher Juden nicht über die richtige Abstammung, um das Amt des Hohepriesters übernehmen zu können. Obwohl immerhin priesterlicher Herkunft, gehörten sie nicht dem zadokidischen Geschlecht an, das seit Jahrhunderten das Hohepriestertum bekleidete. Vermutlich veranlaßte Jonathans Erhebung (152 v. Chr.), wie die Schriftrollen vom Toten Meer zeigen, eine besonders gesetzestreue, am priesterlichen Ideal orientierte Gruppe, mit dem Tempel in Jerusalem und seinen „Frevelpriestern" zu brechen und eine eigene Gemeinde zu gründen; nach Ausweis des archäologischen Befundes entstand um 100 v. Chr. die Siedlung von Qumran. Führer der Sezessionisten war der in den Qumranschriften sogenannte „Lehrer der Gerechtigkeit", der wohl selbst dem zadokidischen Priesteradel entstammte 4 3 39
Vgl. von Dobbeler, Makkabäer (wie Anm. 1), 25 f. Nach Albertz, Religionsgeschichte (wie Anm. 37), 603 f., war der teilautonome Tempelstaat in den Augen der Frommen „angesichts der massiv herrschaftskritischen Traditionen der eigenen Religion die angemessene Sozialform, um der jüdischen Glaubens- und Lebenspraxis den nötigen Freiraum zu geben". 40 Vgl. Bringmann, Reform (wie Anm. 1), 60-65. Glaubt man Bringmann (ebd. 65), war im Sommer 163 „die Phase der Religionskriege ... endgültig beendet"; der Autor von 1 Makk sah das allerdings anders (s.o.). 41 Vgl. Hans-Joachim Gehrke, Der siegreiche König. Überlegungen zur hellenistischen Monarchie, in: AKG 64,1982, 247-277; Angelos Chaniotis, War in the Hellenistic World. Oxford 2005, 57-62. 42 los. bell. 1,61. ant. 13,249 (Johannes Hyrkanos); bell. 1,88. ant. 13,374 (Alexander Jannaios); bell. 1,112. ant. 13,409 (Alexandra Salome). 43 Vgl. Martin Hengel, Judentum und Hellenismus. Studien zu ihrer Begegnung unter be-
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Ein zweite Sezession, die der Qumranischen noch vorausging, hatte ebenfalls genealogische Gründe: Onias III., der Hohepriester, mit dessen Absetzung die hellenistische Reform in Jerusalem begonnen hatte, oder Onias IV., sein Sohn, erwirkte, nachdem er bei der Besetzung des Hohepriesteramtes durch Antiochos V. nach Ende der Religionsverfolgung übergangen worden war, von dem König Ptolemaios VI. Philometor das Privileg, einen jüdischen Tempel in Leontopolis im heliopolitanischen Gau gründen zu dürfen. Dabei berief er sich auf die Worte des Propheten Jesaja, der den Bau eines Tempels in Ägypten vorhergesagt hatte (Jes 19,19). Wie die Qumran-Gemeinde verstand sich auch der Tempel in Leontopolis als neues, besseres Heiligtum. Der Zadokide Onias strebte nicht nur eine Ähnlichkeit mit Jerusalem in Architektur uncTAusstattung an, sondern gewann für sein Unternehmen auch Priester und Leviten, die für einen gesetzeskonformen Tempeldienst sorgten.44 So kommt Julius Wellhausen zu dem Schluß, daß „sich an illegitimer Stätte das legitime Hohepriestertum fortpflanzte, während an der legitimen Stätte von Jerusalem die späteren Hohepriester samt und sonders illegitim waren". 45 Wellhausens Einschätzung verabsolutiert freilich die Perspektive der Zadokiden, die ihre exklusiven Ansprüche eher auf Gewohnheitsrecht denn auf ein biblisches Fundament stützen konnten. Daher war der Versuch der Hasmonäer, genealogische Ansprüche durch Behauptung spiritueller Nachfolge zu überbieten, nicht von vornherein aussichtslos. Gegenüber den geschlechtsstolzen Kreisen in Leontopolis und Qumran und ihren Anhängern im ganzen Land charakterisiert der Autor des 1. Makkabäerbuches, wie Ulrike Mittmann-Richert treffend formuliert hat, die Hasmonäer als die „wahren Nachkommen des ersten Gesetzeseiferers Pinhas [...], dem vor jedem zadokidischen Anspruch das ewige Priestertum verheißen war. Die hochpriesterliche Legitimation der Hasmonäer zu bezweifeln hieße demnach, die Tora selbst in Frage zu stellen."46 3. Ethisch-rituelle Einwände. In der zeitgenössischen jüdischen Literatur werden die Hasmonäer immer wieder mit den Vorwürfen der Unreinheit, der sonderer Berücksichtigung Palästinas bis zur Mitte des 2.Jh.s v.Chr. 3. Aufl. Tübingen 1988,407-414,457. Siehe auch die Einträge „Qumran. Archaeology" (M. Broshi), „Qumran. Written Material" (D. Dimant), „Qumran Community" (Ch. Hempel), „Teacher of Righteousness" (M. A. Knibb), „Wicked Priest" (T. H. Lim) und „Zadok, Sons o f ' (Ph. R. Davies), in: Schiffman/Vanderkam (Eds.), Encyclopedia (wie Anm. 30), Vol. 2, 733-751, 918-921, 973-976,1005-1007. 44 Erörterungen der widersprüchlichen Angaben des Josephus (bell. 1,33. 7,420-436; ant. 12,387f. 13,62-73. 13,285. 20,236f.) finden sich bei: M. Delcor, Le Temple d'Onias en Egypte, in: RB 7 5 , 1 9 6 8 , 1 8 8 - 2 0 3 ; R. Hayward, The Jewish Temple at Leontopolis: A Reconsideration, in: JJS 33, 1982,429^443; Fausto Parente, Onias III' Death and the Founding of the Temple of Leontopolis, in: ders./Joseph Sievers (Eds.), Josephus and the History of the Graeco-Roman Period. Leiden u.a. 1994, 69-98. 45 Julius Wellhausen, Israelitische und jüdische Geschichte. 7. Aufl. Berlin 1914, 237. 46 Mittmann-Richert, Erzählungen (wie Anm. 7), 32.
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ungehemmten Bereicherung und der Gewalttätigkeit konfrontiert. Die weltlichen, insbesondere die militärischen und diplomatischen Aktivitäten der Hasmonäer widersprachen einem weit verbreiteten Priesterideal und den damit verbundenen Anforderungen an den Lebenswandel und die kultische Reinheit. Im Habakuk-Kommentar aus Qumran heißt es über „den Frevelpriester": „Aber als er zur Herrschaft gelangt war in Israel, erhob sich sein Herz, und er verließ Gott und handelte treulos gegen die Gebote um des Reichtums willen. Und er raubte und sammelte Reichtum von Männern der Gewalt, die sich gegen Gott empört haben. Und Reichtum von Völkern nahm er, so daß er die Sünde der Verschuldung auf sich häufte, und Wege von Greueln machte er in aller schmutzigen Unreinheit." 47 Von welchem „Frevelpriester" der Autor hier und im weiteren Verlauf des Kommentars eigentlich spricht, ist in der Forschung nach wie vor umstritten. Konsens besteht allerdings in der Annahme, daß sich die Bezeichnung „Frevelpriester" auf einen hasmonäischen Hohepriester in Jerusalem beziehen muß. 48 Die Kriege gegen die heidnischen Völker, die die Hasmonäer mit biblischen Vorbildern begründeten, erscheinen dem Autor des Habakuk-Kommentars nicht als heiliges und gottgefälliges Werk, sondern als banale, von niederen Motiven getragene Plünderungszüge. Daher heißt es, daß der „Frevelpriester" durch den Erwerb fremden Reichtums die „Sünde der Verschuldung auf sich häufte". An anderer Stelle charakterisiert der Autor des Kommentars die Hasmonäer als „die letzten Priester in Jerusalem, die Reichtum und Gewinn aus der Beute der Völker sammeln" (9,4-5) und die Armen und Einfältigen Judas berauben und vernichten (12,2-6). Er fügt hinzu: „Und wenn es heißt: Wegen der Bluttaten an der Stadt und der Gewalttat im Lande, so ist seine Deutung: Die Stadt, das ist Jerusalem, wo der gottlose Priester Greueltaten verübte und das Heiligtum Gottes verunreinigte. Und die Gewalttat am Lande, das sind die Städte Judas, wo er den Besitz der Armen raubte" (12,6-10). Die Art und Weise, in der die soziale und moralische Anklage im Vorwurf der Unreinheit kulminiert, ist bezeichnend. Worin die im engeren Sinne rituellen Vergehen der Hasmonäer eigentlich bestanden, bleibt im qumranischen Habakuk-Kommentar ebenso unbestimmt wie in den zahlreichen anderen
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1 QpHab 8,8-13 (Übers, v. E. Lohse). Der Text wird allgemein auf Mitte bis Ende des 1. Jahrhunderts v.Chr. datiert: vgl. Johann Maier, Die Qumran-Essener: Die Texte vom Toten Meer. Bd. 1. München/Basel 1995, 157; M. J. Bernstein, in: EDSS 2000, 647. 48 Vgl. T. H. Lim, in: Schiffman/Vanderkam (Eds.) Encyclopedia (wie Anm. 30), Vol. 2, 973-976. A. S. van der Woude, Wicked Priest or Wicked Priests? Reflections on the Identification of the Wicked Priest in the Habakkuk Commentary, in: JJS 33, 1982,349-359, entwickelt die bedenkenswerte Hypothese, daß der Habakuk-Kommentar unter der Bezeichnung „Frevelpriester" nicht einen, sondern sechs Hohepriester in Folge auflistet und charakterisiert.
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Texten, die mit ähnlichen Vorwürfen operieren.49 Neben der Bereicherung wird vor allem „Unzucht", d. h. sexuelle Transgression, im Zusammenhang mit der Unreinheit Jerusalems, des Tempels und der Hohepriester angeführt. Im übrigen fragt sich, ob nicht schon die militärischen Aktivitäten als solche den hasmonäischen Hohepriestern von frommer Seite den Vorwurf der Unreinheit eintrugen. Schließlich macht nach dem Heiligkeitsgesetz jeder Kontakt mit Leichen unrein. Priestern war es daher verboten, sich Toten zu nähern und an Bestattungszeremonien teilzunehmen. Für Hohepriester galt dieses Verbot absolut, d. h. auch im Hinblick auf die allernächsten Verwandten.50 Vor diesem Hintergrund erscheint die regelmäßige Kriegführung kaum als eine vorteilhafte Beschäftigung für Hohepriester. Obwohl man unvermeidliche Kriegsbefleckungen natürlich rituell reinigte, konnte Blut ,kleben' bleiben. So erzählt der biblische Chronist, daß Gott David die Erlaubnis zum Tempelbau verweigerte, weil dieser sich durch viele Kriege und viel Blutvergießen allzu sehr befleckt habe.51 Manche biblische Geschichte mochte daher die Zweifel an einer Vereinbarkeit ritueller und militärischer Führungspositionen verstärken. Die ethisch-soziale Metaphorisierung der Unreinheit52 eröffnete der innerjüdischen Polemik ungeheure Möglichkeiten, denn als Metapher für einen verworfenen Lebensstil und eine entsprechende Handlungsweise entzieht sich die Unreinheit natürlich jeder Okjektivierung. In der eschatologischen Vision des Jubiläen-Buches (23,11-31) findet sich eine Passage, die sich auf die Gegenwart, d. h. auf die Zeit nach der seleukidischen Religionsverfolgung bezieht und deren Anklage ebenfalls rituelle und ethische Komponenten miteinander verbindet: „Und die sich gerettet haben, werden nicht auf den Weg der Wahrheit von ihrer Bosheit umkehren; sondern sie alle werden sich zu Betrug und Reichtum erheben ..., und das Allerheiligste werden sie durch ihre Unreinheit und durch die Verderbnis ihrer Befleckung beschmutzen."53 49
Nach einigen Qumran-Texten hängt die Befleckung des Heiligtums offensichtlich mit dem kultischen Kalender zusammen, der im Tempel von Jerusalem zu jener Zeit maßgeblich war, der aber nach Ansicht der Qumran-Gemeinde den Anweisungen der heiligen Schrift widersprach; vgl. A. S. van der Woude, Fakten contra Phantasien: die Bedeutung der Rollen vom Toten Meer für die Bibelwissenschaft und die Kunde des Frühjudentums, in: Florentino Garcia Martinez/Ed Noort, Perspectives in the Study of the Old Testament und Early Judaism. Leiden u.a. 1998, 249-271, hier 264. Da sich gerade jüdische Sekten wie die von Qumran durch rigide Reinheitsregeln definierten, markierte die Polemik gegen die .Unreinen' eine Grenze und diente natürlich auch der sozialen Kohäsion der Gruppe. 50
Lev 21; Num 31,19; vgl. Schürer, History (wie Anm. 36), 240-244, bes. 242. 1 Chr 22,8. 28,3; vgl. Eupolemos F 2,5 (Walter); los. ant. 7,92. Auf charakteristische Weise anders: 1 Kön 5,17. 52 Vgl. T. Seidl, s. v. „Rein und unrein", in: Manfred Görg (Hrsg.), Neues Bibel-Lexikon. Bd. 3. Zürich 1991-2001,315-320; Jacob Neusner, The Idea of Purity in Ancient Judaism. Leiden 1973, bes. 118 f. 53 Jub. 23,21 (Übers. E. Littmann). Zur Datierung des Jubiläenbuches in die Mitte des 51
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Da die Verunreinigung des Allerheiligsten nur von den Hohepriestern ausgehen kann, mußte auch diese Invektive auf die Hasmonäer abzielen und ihre hohepriesterliche Legitimität fundamental in Frage stellen. 54 Die Wiederherstellung und Reinigung des Tempels sowie die Reinigung des Landes durch die Zerstörung der paganen Kultstätten und die Vertreibung der heidnischen Bevölkerung, auf die sich die Hasmonäer so viel zugute hielten, galt den apokalyptischen Widerstandstheologen nichts gegen die von ihnen diagnostizierte dauernde Verletzung der sozialethischen Solidarordnung. Besonders massiv kommt die Sozialkritik im sogenannten Henochbrief (1 Hen 92-105) zum Ausdruck; die redundanten Mahnungen und Warnungen beschreiben die soziale Lage mit Albertz wie folgt: „Eine Schicht von Reichen mehrte ihren Besitz rücksichtslos auf Kosten der ärmeren Bevölkerungsschichten, stellte ungehindert ihr Luxusleben zur Schau (1 Hen 96,5f.; 97,8f.; 98,2f.), ohne sich um die Solidaritätsforderungen der Torah zu scheren (99,2). Verschärfend kam nun noch hinzu, daß diese unsolidarischen Reichen sich bereitwillig fremden kulturellen und religiösen Einflüssen öffneten (99,7. 14; 104,9), auch von der eigenen hasmonäischen Dynastie gestützt wurden (103,14f.) und ihren Lebensstil auch noch durch eigene Schriften literarisch propagierten (104,10)." 55 Dieses düstere Bild besitzt sein Gegenstück in dem Loblied auf Simon, das der Autor des 1. Makkabäerbuches in lyrischem Ton unter Verwendung biblischer Formeln singt (14,4-15). Glück, Frieden und Fruchtbarkeit, die Erweiterung der Landesgrenzen, die Rückkehr der Gefangenen, die Versorgung und Befestigung der Städte, die wirtschaftliche Sicherheit, der Schutz der Schwachen, die Bestrafung der Sünder und die prachtvolle Ausstattung des Heiligtums sind Motive, die Simons Regierung als Heilszeit beschreiben. Gleichwohl läßt der Autor an anderer Stelle wiederholt den Reichtum von Jonathan und Simon durchblicken 56 ; im übrigen wirft sein Bericht über die Ermordung Simons und seiner Söhne Mattathias und Judas während eines Trinkgelages ein helles Licht auf die Lebensweise der Hasmonäer 57 . Und Josephus stellt über den von ihm bewunderten Johannes Hyrkanos lapidar fest, daß ihm die seleukidischen Bruderkriege nach dem Tod von Antiochos VII. Sidetes „die
2. Jahrhunderts v.Chr. vgl. Schürer, History (wie Anm. 36), Vol. 3/1, 3 1 1 - 3 1 3 ; zum historischen Bezug der zitierten Stelle vgl. Hengel, Judentum (wie Anm. 43), 411. 54 In der Vision des Jubiläenbuches bereitet die Befleckung des Allerheiligsten, die die alltägliche Kommunikation mit Gott zerstören mußte, den Boden für die von Gott bewirkte große Züchtigung, der die Umkehr und das Heil folgen: 2 0 , 2 2 - 3 1 . 55 Albertz, Religionsgeschichte (wie Anm. 37), 674. 1 Makk 10,60. 11,24. 14,24 (vgl. 15,18). 15,32. 36. 16,11 f.; vgl. 2 Makk 10,20. 57 1 Makk 16,15f.: Simon und seine Söhne waren betrunken (E|ig0ijo9r|), als sie das Schwert ihrer Mörder traf.
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Ruhe gaben, um Judäa nach Belieben auszubeuten, so daß er eine schier unendliche Menge an Geld zusammensammelte".58 So wird man wohl annehmen müssen, daß die sozialen Verhältnisse weite Teile der Bevölkerung ihrer Obrigkeit entfremdeten. Die wiederholte Kritik am Lebensstil und am Repräsentationsaufwand der Hasmonäer, die ständigen Klagen über ihren übermäßigen Reichtum und die Bedrückung der Armen haben hier ihre Wurzeln. Statt das jüdische Gesetz auch in sozialer Hinsicht wieder zur Geltung zu bringen, betrieben die Hasmonäer die herrscherliche Ausbeutung womöglich nicht weniger intensiv als ihre seleukidischen Vorgänger.59 Was aber die Fremdherrscher nur unbeliebt machte, zerstörte die ideellen Grundlagen der Hasmonäerherrschaft. Der fortschreitende Akzeptanzverlust offenbarte sich in einer Serie von Aufständen, die bereits unter Johannes Hyrkanos begannen. Dieser war denn auch der erste, der sich genötigt sah, zu seinem Schutz fremde Söldner zu beschäftigen. Die fremden Söldner blieben bis zum Ende der Hasmonäerherrschaft ein steter Stein des Anstoßes. Der Bruch zwischen der regierenden Dynastie und den Nutznießern ihrer Herrschaft auf der einen Seite und der schriftgelehrten Elite und großen Teilen des Volkes auf der anderen Seite erwies sich als unheilbar. Nicht lange nach dem Verlust der Unabhängigkeit fällte der Autor der Psalmen Salomons mit Bezug auf die Hasmonäer das vernichtende Urteil: „Aber wegen unserer Sünden erhoben sich Gottlose wider uns; es fielen uns an und stießen uns aus Leute, denen du keine Verheißung gegeben. Sie raubten mit Gewalt und gaben nicht deinem herrlichen Namen die Ehre. Prunkend setzten sie sich die Krone auf in ihrem Stolze, verwüsteten Davids Thron in prahlerischem Übermut." 60 4. Politische Einwände. Seit der Entdeckung der Schriftrollen vom Toten Meer kennen wir mit dem sogenannten Königsgesetz aus der Tempelrolle einen Gegenentwurf zur Hasmonäerherrschaft. Die Tempelrolle aus der Höhle 11 von Qumran (11Q19) enthält das utopische (nicht aber apokalyptische) 58
los. ant. 13,273: o yäq jrgög äXXriXoug aiitoig nöXe|iog axoMjv Tfg>cavcp xaQicoüoöai TT]V 'Iouöaiav eri aöeiag J I Ö Q E I X E V , (bg äjieigöv XI XQT)|XATÜ)V jt/tfjBog awayayelv. Nach los. bell. 1,61 (vgl. ant. 13,249) ließ Johannes Hyrkanos auch während der Belagerung Jerusalems durch Antiochos VII. das Grab Davids öffnen „und eignete sich einen Schatz von mehr als dreitausend Talenten an. Er brachte Antiochus dadurch von der Belagerung ab, daß er ihn mit dreihundert Talenten zufriedenstellte; ja, sogar Söldnertruppen zu halten begann er als erster von den Juden mit den restlichen Mitteln". 59 Vgl. Victor Tscherikover, Hellenistic Civilization and the Jews. Philadelphia 1959,257259; Hengel, Judentum (wie Anm. 43), 411-415; Mittmann-Richert, Erzählungen (wie Anm. 7), 27-29. 60 Ps. Sal. 17,5-6 (Übers. R. Kittel); vgl. ebd. 1,4-8. 2,1-13. 8,7-14. 22. Die Psalmen 2, 8 und 17 spielen unzweifelhaft auf die Eroberung Jerusalems durch Pompeius im Jahre 63 v. Chr. an. Ps. Sal. 2,25-29 feiert überdies die Ermordung des römischen Feldherrn, der als „Sünder" und „Drache" bezeichnet wird, in Ägypten (48 v. Chr.). Damit liegt es nahe, die ganze Sammlung in die Zeit kurz danach zu datieren: vgl. Schürer, History (wie Anm. 36), Vol. 3/1, 192-197.
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Konzept eines idealen Israel, das sich gegen die real existierenden Strukturen sowohl des Tempels und seines Kultes als auch des Regierungssystems richtet. Über die Datierung der Endredaktion besteht kein Forschungskonsens; die diesbezüglichen Hypothesen schwanken zwischen vor- und späthasmonäischer Zeit. Die weit überwiegende Mehrheit der Spezialisten geht allerdings davon aus, daß das Königsgesetz (11Q19 col. 56,12-59,21) erst unter dem Eindruck der wiedererrichteten Monarchie verfaßt und dann in das vorhandene Textkorpus der Tempelrolle eingefügt wurde. Selbst wenn es aus vorhasmonäischer Zeit stammen und das spätbiblische Königtum reflektieren sollte, würde es, wie seine intensive Rezeption in Qumran zeigt, eine Norm darstellen, mit der jeder Leser die hasmonäische Herrschaftspraxis kontrastieren mußte. Wahrscheinlicher aber schuf erst die Hasmonäerherrschaft den Anlaß, um über das biblische Königsrecht nachzudenken und es auf die veränderten politischen Verhältnisse zuzuschneiden. Auch ohne direkte und explizite Polemik legt das Königsgesetz der Tempelrolle jedenfalls eindeutige politische Schlußfolgerungen nahe. Es präsentiert sich als Wiederholung, Erweiterung und Deutung von Dtn 17,14-20. Anders als in diesem Buch, in dem Moses die Anweisungen Gottes in der dritten Person übermittelt, spricht in der Tempelrolle allerdings Gott selbst, so daß der Text als direkte Offenbarung Gottes erscheint und damit eine unüberbietbare Autorität in Anspruch nimmt.61 Nach der genannten Passage im Deuteronomium muß der König von Gott ausgewählt sein, darf kein Ausländer sein und nicht zu viele Pferde, Frauen und Reichtümer besitzen. Außerdem soll er diese Weisung (d. h. die Torah) mit sich führen, lesen und achten, sein Herz nicht über die Brüder erheben und von dem Gebot weder rechts noch links abweichen. Nach Max Webers treffender Auslegung richtete sich dieses Programm gegen die Neuerungen, die das Königtum nach Ansicht der Deuteronomisten auf politischem Gebiet gebracht hatte: „des Militarismus mit seinen Rossen und Wagen, dem Kronschatz, des Harems der fremden Prinzessinnen und ihrer Kulte und der königlichen Günstlinge als Beamter, der Bau- und Ackerfronden der Untertanen. 61
Vgl. - auch für das Folgende - Ygael Yadin, The Temple Scroll. 3 Vols. with a Supplement. Jerusalem 1983; Lawrence H. Schiffinan, The King, His Guard, and the Royal Council in the Temple Scroll, in: PAAJR 54,1987,237-259; ders., The Laws of War in the Temple Scroll, in: RQ 13,1988,299-311; Johann Maier, Die Tempelrolle vom Toten Meer und das ,Neue Jerusalem'. 3. Aufl. München/Basel 1997. Maier, der für eine Frühdatierung sowohl der Tempelrolle im allgemeinen als auch des Königsgesetzes im besonderen eintritt, präsentiert neben einer Übersetzung (aus der die unten aufgeführten Zitate entnommen sind) eine übersichtliche Dokumentation des Forschungsstandes: bes. ebd. 43-51, 2 3 6 239. Für die Spätdatierung in die Zeit von Alexander Jannaios (103-76 v.Chr.) treten ein: Martin HengeVJ. H. Charlesworth/D. Mendels, The Polemical Character of ,on kingship' in the Temple Scroll: an attempt at dating 11Q Temple, in: JJS 37,1986,18-38. Außerdem: Florentino Garcia Martinez, in: Schiffman/Vanderkam (Eds.), Encyclopedia (wie Anm. 30), Vol. 2 , 9 2 7 - 9 3 3 (s.v. Temple Scroll); K. E. Pomykala, in: ebd. 468f. (s.v. Kingship).
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Der König soll, verlangt das Deuteronomium, die hochmütigen Sultansallüren der Großkönige abtun und wieder ein charismatischer primus inter pares werden, ohne viele Rosse und Wagen, - also ein auf dem Esel reitender weiser Richter und Schirmer der einfachen Leute." 62 Berücksichtigt man das militärisch generierte Selbstbewußtsein und den Reichtum der Hasmonäer, so konnte schon das bloße Zitat des deuteronomischen Königsgesetzes eine subversive Wirkung entfalten. Dies galt umso mehr für die Zusätze der Tempelrolle, von denen ich nur die wichtigsten aufzähle: (a) Der König soll eine Garde von 12000 gottesfürchtigen und wehrhaften Männern erhalten, je 1000 aus jedem Stamm: „Und sie bleiben beständig bei ihm, Tag und Nacht, damit sie ihn bewahren vor jedem Vergehen und vor einem fremden Volk, damit er nicht durch ihre Hand gefaßt werde" (57,9-11). Die einheimische Garde dient also nicht nur dem Schutz, sondern auch der Kontrolle des Königs. Die Bestimmung läßt sowohl verstehen, daß sich die Hasmonäer lieber auf fremde Söldner verließen, als auch, daß sie gerade dadurch die Erwartungen der Schriftgelehrten und Frommen ganz besonders enttäuschten. (b) Der Kronrat soll sich aus 12 Stammesführern, 12 Priestern und 12 Leviten zusammensetzen und gemeinsam mit dem König für die Rechtsprechung und die Toraherteilung zuständig sein. „Und er [d. h. der König] soll sein Herz nicht über sie erheben und tue keinerlei Sache nach irgendeinem Ratschlag abgesehen von ihren" (57,14f.). Der Kronrat garantiert in diesem Konzept den Gesetzesgehorsam des Königs. Als zu ahndende Verstöße werden im weiteren eigens Bestechung, Rechtsbeugung und die Aneignung von Untertanenbesitz hervorgehoben. Das Gesetz legt fest, daß der König nach innen nicht ohne Konsultation des Rates handeln darf. Da der Rat zu zwei Dritteln aus Priestern und Leviten besteht, wird der König innenpolitisch letztlich durch die religiösen Führer des Volkes kontrolliert. Ein Vergleich mit den Privilegien, die Simon im Jahr 140 von der Volksversammlung eingeräumt wurden, zeigt wiederum fundamentale Gegensätze. Von priesterlicher Mitbestimmung, ja überhaupt von irgendeiner Machtbeschränkung ist dort nicht die Rede. (c) In der Kriegführung unterscheidet das Königsgesetz der Tempelrolle zwischen Verteidigungs- bzw. Pflichtkriegen und Angriffs- bzw. Wahlkriegen. Während der König bei den Verteidigungskriegen bestimmte Regeln der Mobilisierung und Beuteverteilung zu beachten hat, ansonsten aber offenbar freie Hand behält, muß er sich bei Angriffskriegen weitergehende Einschränkungen gefallen lassen. Einen solchen Krieg darf er nämlich nur mit Genehmigung des Hohepriesters, der wiederum die Entscheidung des Urim-TummimOrakel erfragen soll, führen. „Auf dessen [d. h. des Hohepriesters] Anordnung 62
Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. Bd. 3: Das antike Judentum. Tübingen 1921 (= 8. Aufl. 1988), 125.
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ziehe er [d. h. der König] aus und auf dessen Anordnung kehre er heim, er und alle Israeliten, die mit ihm sind" (58,19f.). Diese Vorschrift knüpft militärische Aktivitäten des Monarchen zum einen an Bedingungen, die der hasmonäischen Kriegspraxis völlig fernlagen. Zum anderen setzt sie selbstverständlich voraus, daß König und Hohepriester zwei verschiedene Personen sind, während die hasmonäische Herrschaft gerade auf einer Personalunion beider Funktionen beruhte. In der Tempelrolle wird die jüdische Monarchie einem rigiden, über die deuteronomischen Vorschriften noch hinausgehenden .Beschränkungsgesetz' unterworfen, das insbesondere politische Mitspracherechte der Priester postuliert. Damit bildet es das genaue Gegenstück zu dem ,Ermächtigungsgesetz', mit dem Simon vom versammelten Volk Israels zum Hohepriester, Führer und Strategen ernannt wurde und das auf Bronzetafeln aufgezeichnet und an einer sichtbaren Stelle des Heiligtums aufgestellt wurde. Daher führt das Königsgesetz der Tempelrolle ein weiteres Mal vor Augen, daß die vorwiegend militärischen Leistungen für Volk und Vaterland auf Dauer nicht ausreichten, um die torahtreue Elite von der Rechtmäßigkeit der hasmonäischen Herrschaft zu überzeugen. Die Verbindung des Hohepriesteramtes mit darüber hinausgehenden Herrschaftsfunktionen war offenkundig nicht nur den Frommen in Qumran, sondern auch Schriftgelehrten anderer Gruppenzugehörigkeit ein beständiges Ärgernis.63 Demgegenüber konnten die Hasmonäer wiederum auf die frühe Zeit Israels verweisen, der nach dem Zeugnis der Bibel ein kriegerisches Priestertum durchaus geläufig war. Auch in dieser Tradition erscheint der Rückgriff auf Pinhas besonders aussagekräftig, denn dieser zog als designierter oberster Priester dem Volk voran in den Heiligen Krieg gegen Midian (Num 31,6).64 Außerdem konnten sie sich darauf berufen, daß David und Salomon neben ihrem königlichen Amt gelegentlich auch priesterliche Funktionen ausübten.65 In diesem Sinne verknüpft das 1. Makkabäerbuch kultische und militärische Funktionen des Hohepriestertums wie z. B. bei der Amtsübernahme von Jonathan: .Jonathan legte das heilige Gewand im 7. Monat des Jahres 160 [= Mai 63
Vgl. los. ant. 13,288-296. 372f. (dazu s.u.); Ps.Sal. 8,9-15. 17,5-6; Phil, de virt. 54. Schwartz, Jewish Background (wie Anm. 28), 44-56, identifiziert auf der Basis des frührabbinischen Schrifttums pharisäische Gruppen als Träger der Kritik an einer Verbindung von Priestertum und Monarchie. Allerdings überschätzt Schwartz meines Erachtens die Bedeutung der Übernahme des Königstitels durch die Hasmonäer. Schon die faktische Monarchie und ihre Herrschaftspraxis waren den Frommen ein Stein des Anstoßes. 64 Vgl. Mittmann-Richert, Erzählungen (wie Anm. 7), 32. Arenhoevel, Theokratie (wie Anm. 3), 46f., weist darauf hin, daß auch in anderen Schriften der hasmonäischen Zeit (Test Lev, Jub) ein kriegerisches Priesterbild wieder zum Vorschein kommt - wohl als Reflex der historischen Gegebenheiten. Nach Schwartz, Jewish Background (wie Anm. 28), 47f., beriefen sich die Hasmonäer, vermutlich erst nach Übernahme des Königstitels (d.h. nach Abfassung von 1 Makk) außerdem auf den Priesterkönig Melchizedek (Gen 14,18). 65 Vgl. von Dobbeler, Makkabäer (wie Anm. 1), 45.
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152 v.Chr.] an; er sammelte Streitkräfte und beschaffte viele Waffen" (10,21). Eine eigentlich priesterliche Handlung hat der Autor dagegen über keinen seiner Helden überliefert. So läßt auch das 1. Makkabäerbuch erkennen, daß die Hasmonäer das priesterliche Amt politisch auffaßten und die kultischen Aufgaben nicht hervorkehrten.66 Biblische Rückbezüge der genannten Art kamen jedoch auf die Dauer gegen eine wörtliche, die Reinheit der rituellen Praxis betonende Schriftauslegung nicht an. Als Alexander Jannaios beim Tabernakel-Fest einmal neben dem Altar stand und opfern wollte, bewarfen ihn die Leute spontan mit Zitronen, die sie zu kultischen Zwecken in den Händen hielten; gleichzeitig beschimpften sie ihn und schrien, daß er als Nachkomme von Kriegsgefangenen unwürdig sei, Hohepriester zu sein und zu opfern. Mit dem gleichen Vorwurf konfrontierten pharisäische Kreise schon seinen Vater Johannes Hyrkanos: Johannes' Mutter sei während der Religionsverfolgung unter Antiochos IV. Kriegsgefangene gewesen. Daher solle er das Hohepriestertum aufgeben und sich mit der Regierung des Volkes zufrieden geben. Josephus bezeichnet die Behauptung, die Johannes und seine Söhne gemäß Levitikus 21,14 für das Hohepriesteramt disqualifizieren sollte, als Verleumdung. Wie ernst Johannes und Alexander den Vorwurf nahmen, zeigt ihre empfindliche Reaktion, die jeweils zusätzlich dazu beitrug, die Akzeptanz ihrer Herrschaft zu schwächen: Während Johannes sich zum Bruch mit den einflußreichen Pharisäern verleiten ließ, tötete Alexander etwa 6000 Feinde und errichtete hölzerne Schranken um den Altar und den Tempel, um das Volk von der Opferhandlung fernzuhalten.67 Die Hasmonäer konnten die Forderung der Pharisäer nicht erfüllen, ohne politischen Suizid zu begehen oder in einen Dauerkonflikt einzuwilligen: Unter den Bedingungen der Theokratie ging die höchste Autorität aus dem Hohepriesteramt hervor, das überdies die Staatsfinanzen kontrollierte. Einen Konkurrenten mit dieser Ressource auszustatten, kam daher für die Hasmonäer überhaupt nicht in Frage.68 Das Beispiel der Brüder Hyrkanos II. und Aristobulos II. zeigt, daß noch nicht einmal innerhalb der Familie eine Teilung der Macht in priesterliche und politisch-militärische Befugnisse funktionierte.
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Vgl. Arenhoevel, Theokratie (wie Anm. 3), 45 f. Ios. ant. 13,288-296. 372 f. Vgl. Edouard Will/Claude Orrieux, Ioudaïsmos - Hellènismos. Essai sur le judaïsme judéen à l'époque hellénistique. Nancy 1986, 206-210; Rajak, Jews (wie Anm. 2), 305-307. 68 Vgl. Tscherikover, Civilization (wie Anm. 59), 260: „For what profit would there be in the royal power, if the head of the nation could not appear in the Temple, garbed in the brilliant traditional splendor of the High Priest, as the authoritative and lawful intermediary between the nation and the Divinity? And how could ,the King of the Jews' wage his wars if all the Temple revenues were to be controlled by someone else, or to be more precise, by the Pharisees?" 67
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III. Das Problem der Theokratie Während der Hasmonäerherrschaft war der Biblizismus die einzige legitime ,politische Sprache' im zeitgenössischen Judentum.69 Unter dem Dach dieser Sprache läßt sich, um im Bild zu bleiben, mit der Apokalyptik ein besonderer .Dialekt' identifizieren, der die biblische Offenbarung auf ein bestimmtes Ziel hin interpretierte. Die Sprache prägte alle literarischen Gattungen - die Dichtung (Psalmen, Hymnen und Gebete) ebenso wie die Bibel-Kommentare und Rechtstexte, die Weisheitsliteratur oder die Historiographie, die sich wiederum ihrerseits formal an deuteronomischen oder hellenistisch-dramatischen Vorbildern orientieren konnte. Wie nicht anders zu erwarten, setzte die .Sprache' einen verbindlichen Rahmen, in dem mittels der verschiedenen Gattungen unterschiedliche, ja gegensätzliche politische Botschaften vermittelt werden konnten. Herrschaftssoziologisch läßt sich der jüdische Biblizismus als theokratischer Diskurs charakterisieren. Was in diesem Zusammenhang mit dem Begriff ,Theokratie' gemeint ist, bringt die Definition von Bernhard Lang treffend zum Ausdruck: „Der theokratische Staat besteht um der Religion willen. Mit dem vorrangig religiösen Staatszweck sind zwei weitere typische Kennzeichen verbunden: die religiöse Legitimation der Staatsgewalt und die starke, wenn nicht ausschlaggebende Beteiligung religiöser (kirchlicher) Macht- und Würdenträger an der Leitung des Staates."70 Diese Definition ist eine Soll-Bestimmung, die vom Selbstverständnis der Akteure ausgeht. Bezogen auf unseren Gegenstand formuliert sie einen Anspruch, dessen Berechtigung, wie wir gesehen haben, höchst umstritten war. Ob die Hasmonäer berufene Handlanger der Königsherrschaft Gottes oder,Frevelpriester' und Usurpatoren waren, blieb bis zur Intervention des Pompeius und darüber hinaus eine offene Frage. Gleichzeitig wurde ähnlich kontrovers über das politische Mitspracherecht der Priester und Schriftgelehrten diskutiert. Solche Konflikte, die zwar vor allem mit diskursiven Mitteln ausgetragen wurden, aber leicht in Gewalttaten ausarteten, sind das Problem der Theokratie. Es soll abschließend erörtert werden, indem noch einmal nach dem Verhältnis der Hasmonäerherrschaft in Israel zur übergeordneten Herrschaft Gottes gefragt wird. Die verschiedenen Antworten der zeitgenössischen Autoren erscheinen an-
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Das schließt vielfältige hellenistische Einflüsse formaler und inhaltlicher Art, wie sie zuletzt insbesondere von Gruen, Heritage (wie Anm. 24), 1-40, allerdings in übertriebener Manier, herausgestellt wurden, natürlich nicht aus. Es heißt nur, daß die Bibel für jegliches politisches Argument als unbezweifelbare Bezugsgröße fungierte. 70 B. Lang, s.v. „Theokratie", in: HrwG 5, 2001, 180. Vgl. auch ders., Theokratie: Geschichte und Bedeutung eines Begriffs in Soziologie und Ethnologie, in: Taubes (Hrsg.), Religionstheorie (wie Anm. 30), 11-28.
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schaulicher, wenn man sie mit drei - allerdings eng miteinander verzahnten Aspekten der Theokratiebegründung konfrontiert: 1. Geschichtstheologisch. Unter theokratischem Vorzeichen ist alles historisch-politische Geschehen auf den göttlichen Willen bezogen. Im Hinblick auf die jüdisch-christlichen Verhältnisse heißt das: Die Repräsentanten der Theokratie müssen ihren Platz im Heilsplan Gottes aufweisen und sich als Erfüllung biblischer Verheißungen präsentieren können. Demgemäß beanspruchten die Hasmonäer, wie ihre Selbstdarstellung im 1. Makkabäerbuch zeigt, durch ihren entschlossenen Widerstand gegen die seleukidische Religionsverfolgung und die jüdischen Apostaten den Zorn Gottes von Israel genommen zu haben. Indem sie mit der Waffe in der Hand für die Geltung und Ausbreitung des Gesetzes kämpften, vertraten die Hasmonäer eine aktivistische Deutung der Theokratie. Doch ließen sich die Jahrhunderte der Fremdherrschaft nicht so einfach verleugnen. Die .Frommen' blieben großenteils bei einer quietistischen Haltung, die auf das unmittelbare Eingreifen Gottes vertraute und das Heil mit einer apokalyptisch-eschatologischen Erwartung verband.71 In diesem Vorstellungskreis stand die eigentliche Gottesherrschaft erst noch bevor. Demgegenüber sind dem 1. Makkabäerbuch eschatologische und messianische Erwägungen ebenso fremd wie der deuteronomischen Geschichtsschreibung, die es fortzusetzen beansprucht. Die Verheißungen der Propheten, die das Ende von Schmach und Knechtschaft, eine Rückkehr der Verbannten sowie eine Zeit der Sicherheit, des Friedens und Fruchtbarkeit angekündigt hatten, sah der Verfasser dagegen in der Zeit des Simon in Erfüllung gehen (14,4—15).72 Anders gesagt: Die Theokratie wird hier präsentisch gedacht, und sie muß erkämpft werden. Diesem Konzept stand jedoch die mangelnde genealogische Qualifikation der Hasmonäer ebenso entgegen wie die Tatsache, daß ihnen eine direkte göttliche Berufung durch den Mund eines anerkannten Propheten fehlte. 2. Normativ. In einer Theokratie beruht die Autorität des politischen Handelns auf der Übereinstimmung mit den Normen der göttlichen Offenbarung. In diesem Sinne führt das 1. Makkabäerbuch vor, wie die Hasmonäer durch ihren Einsatz für das Gesetz und ihre Kriege gegen die heidnischen Nachbarvölker die großen Helden der Landnahme- und frühen Königszeit nachahmen und gleichsam wiederholen. Dabei sollte der Erfolg, der ihnen bei den meisten ihrer Unternehmungen beschieden war, als Zeichen göttlicher Erwählung verstanden werden. Diese Deutung mußte vor dem Hintergrund der biblischen 71 Die Tierapokalypse im äthiopischen Henoch-Buch zeigt allerdings, daß es schon zur Zeit der Religionsverfolgung (und nicht erst während der römischen Fremdherrschaft und im jüdischen Krieg) Kreise gab, die die Geschichte mit der Waffe in der Hand beschleunigen und Gottes Eingreifen provozieren wollten; vgl. Hengel, Zeloten (wie Anm. 12), 279f.; Albertz, Religionsgeschichte (wie Anm. 37), 665-668. 72 Vgl. Arenhoevel, Theokratie (wie Anm. 3), 64-66.
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Traditionen mehrere Probleme aufwerfen: Verschiedene Beispiele aus der biblischen Geschichte zeigen, daß militärische Erfolge allein eine positive Beurteilung von Monarchen keineswegs garantierten; Frömmigkeit, ein entsprechender Lebenswandel und soziale Verantwortung der Könige mußten hinzukommen. Der Gesetzesgehorsam, der die Frömmigkeit ausmachte, wurde von zeitgenössischen Schriftgelehrten wortwörtlich und ohne Ansehen der Person eingefordert; typologische und eklektische Deutungen, wie sie der Autor des 1. Makkabäerbuches seiner Darstellung zugrunde legte, besaßen in diesem Milieu kein Gewicht. Buchstabengetreue Einhaltung der Gesetze galt hier mehr als die glänzende Nachahmung heroischer Gründerfiguren. 73 3. Konstitutionell. Trotz paralleler Wortbildung ist Theokratie kein technisch-konstitutioneller Begriff wie Demokratie, Aristokratie oder Monarchie, sondern bezieht sich auf eine transzendente Quelle der politischen Autorität. 74 Dieses Begriffsverständnis liegt schon der ersten überlieferten Verwendung des Begriffes durch Flavius Josephus zugrunde. In der Schrift „contra Apionem" erklärt Josephus seiner nicht-jüdischen Leserschaft, daß die Eigenart der durch Moses gestifteten Ordnung der Juden durch die konventionellen verfassungsrechtlichen Begriffe verfehlt würde. Statt dessen sei es besser von „Theokratie" zu sprechen, weil der Gesetzgeber die Ordnung ganz auf Gott ausgerichtet und ihm die Macht und Herrschaft zugeschrieben habe (2,164f.). Demokratie, Oligarchie oder Monarchie sind demnach ,akzidentielle' Begriffe, die, wie Christine Gerber gezeigt hat, unter ,Theokratie' subsumiert werden können: „In der Verfassung des Judentums geht es nicht um die Herrschaft eines Menschen oder einer Menschengruppe oder eines Staates über andere, sondern um die Herrschaft Gottes." 75 Konkrete Verfassungsformen werden dem theokratischen Anspruch nur dann gerecht, wenn sie dafür sor73
Wenn man so will, kann man das hasmonäische Konzept als Verstoß gegen den - mit und von Max Weber wertneutral gemeinten - „plebejischen" Charakter der jüdischen Religion verstehen. Die Kreise der Thoralehrer und Propheten, die die schließlich siegreiche Konzeption dem Volk zu oktroyieren verstanden, nennt Weber, Religionssoziologie (wie Anm. 62), 238f., „Plebejerschichten mindestens in dem Sinn: daß sie nicht am Besitz der politischen Macht partizipierten und nicht Träger des Militär- und Fronstaats der Könige und der sozialen Machtstellung des Patriziats waren. Das äußert sich deutlich in der Redaktion der Tradition. Nirgends, außer in Resten in den Königsgeschichten, kommt adeliges Heldentum zu Worte. Sondern fast durchweg ist es der friedlich fromme Bauer oder Hirt, der verklärt wird und an dessen Anschauungskreis die Art der Darstellung und Darlegung angepaßt ist." Für die Träger einer solchen Lebenshaltung konnte die Botschaft der Hasmonäer freilich nicht attraktiv sein. 74 Vgl. D. D. Wallace, s.v. „Theocracy", in: ER 14, 1987, 427 : „[...] it does not name a governmental system or structure, parallel to monarchy or democracy, but designates a certain kind of placement of the ultimate source of State authority, regardless of the form of government". 75 Christine Gerber, Ein Bild des Judentums für Nichtjuden von Flavius Josephus. Untersuchungen zu seiner Schrift Contra Apionem. Leiden u. a. 1997, 338-359 (in überzeugender Auseinandersetzung mit der Forschungsliteratur), hier 343.
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gen, daß sich das Leben der Gemeinschaft nach dem Willen Gottes vollziehen kann. Die Hasmonäer hatten es da nicht leicht. Sie mußten sich am Maßstab einer göttlichen Offenbarung messen lassen, die über das Verhältnis von göttlicher und weltlicher Herrschaft widersprüchliche Botschaften enthielt. Die Ambivalenz kommt nicht erst bei der Beurteilung einzelner Könige zum Vorschein, sondern prägt schon das Bild über die Institution der Monarchie. Die biblische Rede von der Königsherrschaft Gottes ließ zu, daß die Monarchie sowohl als Gegensatz wie als Verwirklichung der Theokratie verstanden werden konnte.76 Die jüdischen Erfahrungen des politischen Scheiterns, des Exils und der nachexilischen Zeit verschafften der antimonarchischen Interpretation Auftrieb. Außerdem hatte die jüdische Gesellschaft jahrhundertelang in einer hierokratischen Ordnung gelebt und die Monarchie nur als mehr oder weniger bedrückende Fremdherrschaften erlebt. Die Priesterherrschaft blieb daher auch unter den Hasmonäern ein konstitutionelles Gegenmodell zur Monarchie, was die Qumran-Schriften ebenso zeigen wie die Interventionen der Pharisäer und die eingangs angeführte Gesandtschaft zu Pompeius. Daß die Priester in der Theokratie eine hervorragende Rolle spielen müssen, behauptete noch Flavius Josephus, als er nach der Katastrophe des jüdischen Krieges (66-70 n. Chr.) einem paganen Publikum die ideale jüdische Gesellschaft ausmalte.77 Selbst da, wo man - wie im Königsgesetz der Tempelrolle - die Monarchie umstandslos akzeptierte, unterstellte man sie einer rigiden priesterlichen Kontrolle. Das gleiche Kalkül verbirgt sich hinter der wiederholt geäußerten Forderung, die Hasmonäer sollten auf das Hohepriesteramt verzichten und sich mit der militärischen Führung zufriedengeben. So liegt das Theokratie-Problem vor allem in der Abwesenheit einer verbindlichen politischen Interpretation der heiligen Schriften. Aktivistische und quietistische Haltungen, präsentische und eschatologische Einstellungen zur Theokratie finden sich in der zeitgenössischen jüdischen Gesellschaft in allen möglichen Varianten.78 Gerade diese Vielfalt führt die Vergeblichkeit des has76
Drei Passagen mögen genügen, um das Spektrum abzustecken: Ri 9,7-21; 1 Sam 8; Ps 21. 77 los. c. Ap. 2,185-187. 193 f.; vgl. Gerber, Bild (wie Anm. 75), 333-335. L. H. Feldman, Josephus' Portrayal of the Hasmoneans Compared with 1 Maccabees, in: Parente/Sievers (Eds.), Josephus (wie Anm. 44), 41-68, zeigt, daß Josephus in seinen Geschichtswerken bewußt darauf verzichtete, die Hasmonäer unter dem Gesichtspunkt der Theokratie zu betrachten. 78 Die idealtypische Unterscheidung zwischen ,eschatologischer' und ,theokratischer' Jahwe-Königtums-Theorie, die in der alttestamentlichen Forschung seit Otto Plöger, Theokratie und Eschatologie. Neukirchen 1959, verbreitet ist, erscheint mir terminologisch mißverständlich (weil auch die eschatologische Theorie ,theokratisch' ist, selbst im Hinblick auf die Gegenwart, wenn auch eine neue Qualität der Gottesherrschaft für die - unter Umständen nahe - Zukunft erwartet wird) und unterkomplex (weil sie die gegensätzlichen Handlungsoptionen zwischen Quietismus und Bellizismus nicht berücksichtigt).
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monäischen Anspruchs vor Augen. Dessen Scheitern erscheint - auch abgesehen von den .Sünden' der Hasmonäer - notwendig, weil es den Herrschern unter den jüdischen Bedingungen nicht gelingen konnte, die Deutungshoheit über die heiligen Schriften zu erlangen und den Interpretationsprozeß zu kontrollieren. Die Söhne von Johannes Hyrkanos haben nach und nach Konsequenzen gezogen und verstärkt auf Söldner und hellenistische Repräsentationsformen gesetzt: Aristobulos (104-103) legte sich mit dem Königstitel den Beinamen „Philhellenos" zu, und sein Bruder Alexander Jannaios (103-73) zögerte nicht mehr, seine basileiva auch auf Münzen in griechischer Sprache vor Augen zu führen. 79 Die Adressaten dieser Inszenierung waren 1. die Söldner, die außer einer regelmäßigen Bezahlung das Identifikationsangebot einer hellenistischen Königsherrschaft vermutlich zu schätzen wußten, zumal in dem latent feindseligen Umfeld, 2. die nicht-jüdischen Untertanen, deren Zahl durch die Expansion stetig zunahm und die natürlich längst nicht mehr vertrieben oder vollständig judaisiert werden konnten, sowie 3. die internationale Staaten weit, in der die Hasmonäer ihrer .Leistung' entsprechend anerkannt sein wollten. Man darf nicht vergessen, daß die Hasmonäer in einer Zeit, da die hellenistischen Monarchien immer schwächer wurden und ihren eigenen Ansprüchen immer weniger genügten, ihren Aufstieg vollzogen und fast als einzige der hellenistischen Königsideologie gerecht wurden. Der Sprung auf die internationale Bühne sollte daher wahrscheinlich die theokratischen Defizite im Inneren kompensieren.
79 los. ant. 13,318; Siegfried Ostermann, Die Münzen der Hasmonäer. Ein kritischer Bericht zur Systematik und Chronologie. Freiburg, Schweiz/Göttingen 2005; vgl. Rajak, Jews (wie Anm. 2), 298 f.
,Biblizismus" in der frühchristlichen Apologetik? Bibel und politische Autorität in vorkonstantinischer Zeit Von
Steffen Diefenbach Über ,Biblizismus und politische Autorität' in der christlichen Literatur der ersten drei Jahrhunderte zu schreiben und damit im Rahmen dieser Tagung die Tragfähigkeit des Konzepts für den Zeitraum vor der konstantinischen Wende auszuloten, verlangt - aus arbeitspragmatischen wie inhaltlichen Gründen zunächst eine Auswahl aus dem Bestand der aus diesem Zeitraum überlieferten Literatur.1 Dabei wird im folgenden dafür plädiert, in Anschluß an das dem vorliegenden Sammelband zugrundeliegende Konzept der politischen Sprache das Phänomen des ,Biblizismus' nicht über bestimmte Themenkomplexe oder Motive, sondern über kommunikative Kontexte zu erschließen und das apologetische Schrifttum der vorkonstantinischen Zeit als den Ort einer Kommunikation zu begreifen, in der sich ein spezifisch politisches Denken im frühen Christentum entwickeln konnte. Diese diskursive Ortsbestimmung politischen Denkens wirft jedoch zugleich die grundlegende Frage auf, ob man für die Literatur der vorkonstantinischen Zeit überhaupt von ,Biblizismus' im Sinne einer diskursprägenden politischen Sprache reden kann. Da die biblischen Schriften für den Bildungshorizont, dem die Apologeten entstammten, auf den sie in ihren Schriften rekurrierten und in dem sie sich bewegten, keine formative Bedeutung hatten, fehlt eine Integration der Bibel in das, was Quentin Skinner den intellectual context politischen Denkens genannt und an dessen Bestehen er die Ausbildung politischer Sprachen geknüpft hat2: Die Bibel bildete im apologetischen Diskurs keinen fundierenden Text, auf den man - in Form von impliziten Anspielungen, dem Aufgreifen von kulturellen Model-
1 Einen Eindruck von der Vielgestaltigkeit vermittelt die klassische Darstellung von Berthold Altaner/Alfred Stuiber, Patrologie. Leben, Schriften und Lehre der Kirchenväter. 9. Aufl. Freiburg 1980; vgl. zuletzt Frances Young (Ed.), The Cambridge History of Early Christian Literature. Cambridge 2004. 2 Für die konstitutive Bedeutung des intellectual context und der durch ihn bedingten Diskurse für das politische Denken vgl. Quentin Skinner, The Foundations of Modern Political Thought. Vol. 1. Cambridge 1978, IX-XV; Anthony Pagden, Introduction, in: ders. (Ed.), The Languages of Political Theory in Early-Modem Europe. Cambridge 1987, 1-17, hier 1-3. Zur Cambridge School/Intellectual History und ihrer - in praxi freilich nicht immer eindeutigen - Abgrenzung von einer traditionellen Geistes- und Ideengeschichte vgl. das prägnante Resümee von Achim Landwehr, Die Grenzen des Sagbaren. Einführung in die Historische Diskursanalyse. Tübingen 2001, 40-45.
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len und Argumentationsfiguren - zur Begründung oder Infragestellung politischer Autorität rekurrieren konnte. Trotz dieser negativen Voraussetzungen haben Bezüge auf die Bibel auch in der christlichen Apologetik der vorkonstantinischen Zeit durchaus eine Rolle gespielt. Obwohl aus den genannten Gründen die Bedeutung der Bibel als Referenzquelle für die Ausbildung einer politischen Sprache skeptisch zu beurteilen ist, konnten die Apologeten dennoch gleichsam, von außen' auf die biblischen Schriften als solche verweisen und sie als Argument ins Feld führen: Man argumentierte im apologetischen Kontext weniger aus der Bibel heraus als vielmehr mit ihrer Existenz. Begründete die Bibel auf diese Weise zwar keinen ,Biblizismus' im Sinne einer politischen Sprache, so ist es dennoch erwägenswert, zumindest diese externen Verweise auf die biblischen Schriften als eine Form ,biblizistischer' Argumentation von politischer Tragweite aufzufassen. Denn die Apologeten knüpften an die biblischen Schriften Argumentationsstrategien, die auf deren historische Dimension als Schriften hohen Alters, die gegenwarts- und zukunftsbezogene Weissagungen enthielten, abzielten und die damit im apologetischen Kontext Bezüge zu einer biblisch begründeten christlichen Heilsgeschichte eröffneten - einer Heilsgeschichte, die ihrerseits zur politischen Ordnung des Imperium Romanum und dessen Geschichte in Beziehung gesetzt werden konnte. Wirkungsweise und Bedeutung dieses heilsgeschichtlichen Biblizismus werden anhand dreier Vertreter der lateinischen Apologetik des 3. Jahrhunderts - Tertullian, Cyprian und Lactanz - exemplarisch vorgeführt. Dabei geht es nicht darum, eine Entwicklungslinie der lateinischen Apologetik im 3. Jahrhundert zu entwerfen. Vielmehr soll deutlich werden, daß bei allen Unterschieden im Detail die drei Apologeten übereinstimmend auf der Grundlage eines stark eschatologisch gefärbten Biblizismus argumentierten, der bei ihnen zwar insofern politisch wirkungslos blieb, als das Imperium Romanum von ihnen nicht in Relation zur biblischen historia sacra gesetzt wurde: Beide Geschichten liefen ohne eine innere Verbindung nebeneinander her, da eine solche Verbindung erst unter den Vorzeichen einer eschatologischen Vollendung am Ende der Zeiten erfolgen sollte - bis dahin blieb die Geschichte der politischen Ordnung in Gestalt des römischen Imperiums im wesentlichen unberührt von der historia sacra, die weder als apokalyptische Bedrohung noch als affirmative politische Theologie auf die politische Ordnung einwirkte. Dieser eschatologische Biblizismus, der in der lateinischen Apologetik kein unmittelbares politisches Potential entfaltete, lieferte jedoch seinerseits den entscheidenden Ausgangspunkt für die eminent politische Theologie des Eusebius v. Caesarea, der in konstantinischer Zeit römische Geschichte und historia sacra integrierte und die biblisch bezeugte Geschichte ebenso wie das außerbiblische historische Geschehen als Offenbarungen der Heilsgeschichte deutete.
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I. Zur Apologetik als diskursivem Ort politischen Denkens in der christlichen Literatur und zu den Voraussetzungen für ,Biblizismus' in vorkonstantinischer Zeit Die Frage nach dem Konzept von .Biblizismus' als einer für das politische Denken konstitutiven political language ermöglicht unterschiedliche Herangehensweisen. So ist es einerseits denkbar, in Anlehnung an die bestehenden Studien zum Verhältnis von Kirche und Staat in der Antike3 Themenfelder von politischer Relevanz und Tragweite aufzugreifen und zu untersuchen, inwieweit die Bibel oder bestimmte Bibelstellen von antiken christlichen Autoren herangezogen wurden, um ihre Stellungnahmen zu begründen und argumentativ zu erhärten.4 Gegen eine derartige Vorgehensweise spricht jedoch, daß dieses Verfahren dazu tendiert, unter weitestgehender Absehung von literarischen Gattungen, Adressaten und Kommunikationssituationen Einzelbelege auszuwerten, ohne die weiteren Kontexte einzubeziehen. Abgesehen davon, daß auf diese Weise elementare Bedeutungsebenen von Texten unberücksichtigt bleiben5, lassen sich auf dieser isolierten Grundlage auch keine Aussagen darüber treffen, wie sich ein Text der Bibel in Relation zu anderen Argumentationsstrategien bedient: Das Thema des Biblizismus als einer politischen Sprache im Sinne einer kohärenten Struktur, die den christlichen Autoren ein bestimmtes Vokabular, Begriffe und Konzepte lieferte und im Verein mit anderen Sprachen Artikulations- und Konzeptualisierungsmöglichkeiten bereitstellte, ist durch die Aufarbeitung einzelner biblischer Testimonien nicht adäquat zu erfassen. Hinzu kommt, daß sich politisches Denken nicht allein 3 Die Frage nach dem Verhältnis von Kirche und (römischem) Staat ist vor allem in der älteren Forschung traktiert worden, während in jüngerer Zeit zunehmend das gesellschaftliche und kulturelle Umfeld der christlichen Gemeinden das Interesse der Forschung auf sich gezogen hat. An einschlägigen Publikationen sei verwiesen auf Hugo Rahner, Kirche und Staat im frühen Christentum. Dokumente aus acht Jahrhunderten und ihre Deutung. München 1961 (Quellensammlung); Herbert Nesselhauf, Der Ursprung des Problems „Staat und Kirche". Konstanz 1975; Kurt Aland, Das Verhältnis von Kirche und Staat in der Frühzeit, in: ANRW II 23/1, Berlin/New York 1979, 60-246. Die von Gerhard Ruhbach (Hrsg.), Die Kirche angesichts der konstantinischen Wende. Darmstadt 1976, zusammengestellten Beiträge betreffen die Thematik Kirche und Staat für die Zeit nach der konstantinischen Wende. 4 Ein grundlegendes Hilfsmittel für eine derartige Aufarbeitung bietet die nach antiken Autoren gegliederte Testimoniensammlung von Bibelzitaten in der patristischen Literatur in der Biblia patristica. Index des citations et allusions bibliques dans la littérature patristique. 7 Vols. Paris 1975-2000. 5 Zur Notwendigkeit, bei der Interpretation von Texten des politischen Denkens nicht rein motivgeschichtlich zu verfahren, sondern die literarischen Gattungen einzubeziehen, vgl. die instruktiven Bemerkungen von Matthias Haake, Warum und zu welchem Ende schreibt man peri basileias? Überlegungen zum historischen Kontext einer literarischen Gattung im Hellenismus, in: Karen Piepenbrink (Hrsg.), Philosophie und Lebenswelt in der Antike. Darmstadt 2003, 83-138.
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diskursunabhängig über einzelne Themen und Gegenstände bestimmen läßt. Gerade bei theologischen Schriften stellt sich nicht nur für die Antike das Problem, daß sie nur bedingt als politisch einzustufen sind, da einzelne, politisch relevante Äußerungen auf der Grundlage theologischer Erörterungen erfolgen, ohne systematisch zueinander in Beziehung gesetzt und ohne aus einer politischen Perspektive heraus getroffen zu werden.6 Diese doppelte Schwierigkeit, der eine rein motivorientierte Aufarbeitung des Phänomens ,Biblizismus als politische Sprache' begegnet, legt einen anderen Zugang zur Thematik nahe, der sich primär an den kommunikativen Kontexten orientiert. Ausschlaggebend sind danach nicht einzelne Motive und Themen, sondern der durch literarische Gattungen und Kommunikationssituationen bestimmte diskursive Ort einzelner Texte. Als maßgeblich für diese ,Ortsbestimmung' wird im folgenden deren Ausrichtung auf ein nichtchristliches Publikum zugrunde gelegt, wie sie im apologetischen Schrifttum der vorkonstantinischen Zeit gegeben ist. Da der frühneuzeitliche Kunstbegriff 7 .Apologetik' in den letzten Jahren eine intensive Diskussion um den Gattungscharakter, die Entstehung und das Publikum apologetischer Schriften hervorgerufen hat8, seien die Voraussetzungen, unter denen er im folgenden verwendet wird, kurz erläutert. Die apologetische christliche Literatur bildet zwar weder eine Gattung9, noch umfassen die Schriften, die in der Patri6
Zu der für die Frühe Neuzeit vergleichbaren Problematik, innerhalb theologischer Schriften ein im engeren Sinne politisches Denken zu bestimmen, vgl. Wolfgang Reinhard, Vom italienischen Humanismus bis zum Vorabend der französischen Revolution, in: Hans Fenske u. a. (Hrsg.), Geschichte der politischen Ideen. Von Homer bis zur Gegenwart. Königstein 1981, 201-316, hier 225 f. 7 Der Begriff .Apologetik' entstand in der Frühen Neuzeit und wurde im frühen 17. Jahrhundert auf christliche Autoren des 2. Jahrhunderts wie Justin, Athenagoras, Theophilos, Tatian, Hermias übertragen; vgl. Michael Fiedrowicz, Apologie im frühen Christentum. Die Kontroverse um den christlichen Wahrheitsanspruch in den ersten Jahrhunderten. Paderborn u. a. 2000, 18. 8 Zur kritischen Auseinandersetzung mit der Brauchbarkeit des Begriffs .Apologetik' vgl. den Sammelband von Mark Edwards u. a. (Eds.), Apologetics in the Roman Empire. Pagans, Jews, Christians. Oxford 1999, bes. die Beiträge von Frances Young zur griechischen Apologetik des 2. Jahrhunderts (81-104) und Simon Price zur lateinischen Apologetik von Tertullian bis Cyprian (105-129). 9 Die gegenteilige Auffassung von Wolfram Kinzig, Der „Sitz im Leben" der Apologie in der Alten Kirche, in: ZKiG 100, 1989, 291-317, der die erst bei Eusebius von Caesarea auftauchende Bezeichnung àjtoXoyia als Gattungsbegriff des 2. Jahrhunderts auffaßt und den Ursprung dieser literarischen Gattung in beim Kaiser eingereichten Petitionen (libelli) sucht, in denen die Christen vom Kaiser Prozeßreskripte zu erhalten suchten, ist wenig überzeugend. Die Kritik der Forschung richtet sich vor allem gegen den literarischen Gattungsbegriff der Apologie, der erst in nachkonstantinischer Zeit faßbar wird (vgl. JeanClaude Fredouille, L'apologétique chrétienne antique: naissance d'un genre littéraire, in: REAug 38, 1992, 219-234, bes. 226-228; ders., L'apologétique chrétienne antique: métamorphoses d'un genre polymorphe, in: REAug 41, 1995,201-216, bes. 203f.; Fiedrowicz, Apologie [wie Anm. 7], 19-21). Ergänzend ist hervorzuheben, daß auch rechtsgeschichtliche Erwägungen gegen Kinzigs Deutung als libelli zur Erlangung von Prozeßreskripten
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stik allgemein unter diese Bezeichnung fallen, einen feststehenden Adressatenkreis oder ein bestimmtes Spektrum an Themen und Motiven. Dennoch behält der Begriff seine heuristische Prägnanz, wenn man ihn als Ausfluß einer bestimmten Kommunikationssituation begreift: Der Begriff .Apologetik' trägt d e m Umstand Rechnung, daß eine Vielzahl christlicher Schriften eine nicht interne, sondern an die nicht-christliche Außenwelt gerichtete Kommunikationssituation imaginierten, indem sie sich - wenn auch nicht zwingend, so doch in der R e g e l 1 0 - formal an einen nichtchristlichen Adressaten wandten und das Verhältnis des Christentums zur paganen U m w e l t aus deren Perspektive und auf der Grundlage ihrer Kategorien diskutierten. 11 D i e umstrittene Frage, ob die Apologeten dabei auch wirklich ein paganes Publikum i m Blick hatten oder aber implizit christliche Leser ansprachen, die moralisch gestärkt und mit Argumenten für die Auseinandersetzung mit ihrem paganen U m f e l d .versorgt' werden sollten 1 2 , ist für den hier interessierenden Zusammenhang zweitrangig: Entscheidend ist, daß die apologetische Kommunikationssituation spezifische Darstellungs- und Argumentationsweisen hervorsprechen: Die Verurteilung von Christen ist nie Gegenstand eines Prozesses im eigentlichen Sinne gewesen; das Hadrianreskript an Minucius Fundanus, das diese Rechtsgrundlage zu etablieren scheint, ist als eine christliche Fälschung zu betrachten (vgl. überzeugend Herbert Nesselhauf, Hadrians Reskript an Minicius Fundanus, in: Hermes 104,1976, 348-361). Jean-Claude Fredouille weist zwar darauf hin, daß es weder in vor- noch in nachkonstantinischer Zeit einen ausgeprägten Gattungsbegriff der Apologie gegeben hat, hält aber dennoch an der , Apologetik' als einem polymorphen' literarischen Genre fest, das seinen Ausdruck in vielen Untergattungen der antiken Literatur gefunden habe, die untereinander durch Familienähnlichkeiten verbunden seien. In diesem Gattungsbegriff aber bleiben die für eine literarische Gattung konstitutiven Elemente (Autor, Adressat, Form, Inhalt, impliziter Leser; vgl. Haake, Überlegungen [wie Anm. 5], 84f.) unterdeterminiert; die apologetische Literatur kann über die Kategorie des literarischen Genres nicht adäquat erfaßt werden. 10 Eine Ausnahme bildet z.B. der „Octavius" des Minucius Felix. 11 Ähnlich definiert auch Simon Price, Latin Christian Apologetics: Minucius Felix, Tertullian, and Cyprian, in: Edwards u.a. (Eds.), Apologetics (wie Anm. 8), 105-129, hier 113 f. den Begriff .Apologetik' konsequent über eine Kommunikationssituation (.exoterische' im Unterschied zu .esoterischen' Schriften) und die daraus resultierenden rhetorischen und argumentativen Strategien. 12 Vgl. zuletzt Fiedrowicz, Apologie (wie Anm. 7), 18-23; Henrike M. Zilling, Tertullian. Untertan Gottes und des Kaisers. Paderborn u.a. 2004, hier 93-106, die zu Recht starke Anhaltspunkte für eine Ausrichtung auf ein christliches Publikum geltend machen. In der Diskussion der Problematik müßte jedoch stärker als bisher berücksichtigt werden, daß sich die Grenzen zwischen .innen' und .außen' nicht so scharf ziehen lassen, wie es die apologetischen Texte selbst suggerieren. So lassen die nicht-apologetischen Schriften, die sich mit disziplinären Fragen der christlichen Lebensführung beschäftigen, erhebliche Unterschiede hinsichtlich der moralischen Standards und der rigoristischen Ausrichtung innerhalb der christlichen Gemeinden erkennen. Die im apologetischen Diskurs vorausgesetzten Grenzen zwischen christlich und pagan dürften dementsprechend quer durch die Gemeinden selbst verlaufen sein; damit aber wird auch die in der Forschung diskutierte Alternative zwischen einem ,paganen' und einem .christlichen' Lesepublikum - zumindest partiell - hinfällig.
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brachte - unabhängig von der Frage, ob die Texte selbst Teil dieser Kommunikation waren oder aber ihre Leser sich deren apologetische Argumentationsweisen zu eigen machten. Warum diese Beschränkung auf die apologetische Literatur, um den diskursiven Ort politischer Sprache im christlichen Schrifttum der vorkonstantinischen Zeit zu bestimmen? Sachlich erscheint die Konzentration auf die Apologetik dadurch gerechtfertigt, daß die christlichen Autoren in den apologetischen Schriften nicht nur Themen von politischer Relevanz behandelten, sondern auch deren politische Dimension reflektierten und die damit verbundene politische Konfliktlage zwischen dem Christentum und der staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung in den Blick nahmen. Im Unterschied zu katechetischen oder exegetischen Schriften, die sich an ein ,internes' christliches Publikum wandten, ließ sich in der Apologetik eine Auseinandersetzung mit dem Heidentum nicht auf der Basis religiöser Offenbarung führen. Es galt vielmehr, den paganen Einwänden gegen das Christentum auf der Grundlage der erhobenen Vorwürfe zu begegnen - und diese Grundlage war nicht primär religiös, sondern durch ordnungspolitische Gesichtspunkte bestimmt. Aus christlicher Sicht mochte sich beispielsweise die antike Spiel- und Festkultur als Götzendienst darstellen und aus dieser rein religiösen Begründung heraus Ablehnung erfahren. Aus nichtchristlicher Perspektive hatte diese Spiel- und Festkultur jedoch eine gesellschaftliche Funktion, da sie die Identität der städtischen Gesellschaft vorführte und reproduzierte, und setzten sich die christlichen Gemeinschaften, die sich derartigen Veranstaltungen entzogen, dem Verdacht aus, sich aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen und geheime Schwurgemeinschaften zu bilden, die die sittliche und gesellschaftliche Ordnung untergruben oder sich direkt gegen diese Ordnung verschworen.13 Dies aber erforderte, je nach kommunikativem Kontext, auch unterschiedliche Argumentationsstrategien. Deren verschiedene Blickwinkel lassen sich exemplarisch anhand der Äußerungen verdeutlichen, die Tertullian zu unterschiedlichen Themen wie dem Spielwesen, der Ämterbekleidung und einzelnen Erscheinungsformen der städtischen Festkultur wie dem Bekränzen abgegeben hat. In seinen nicht-apologetischen Schriften wie denen über die Spiele („de spectaculis"), den Götzenkult („de idolatria") oder die Praxis des Bekränzens („de corona") argumentiert Tertullian auf einer rein religiösen Grundlage. Den Angelpunkt der Argumentation bildet der Nachweis, daß es 13 Beide Vorwürfe sind tief in der politischen Kultur der römischen res publica verwurzelt; vgl. Nesselhauf, Ursprung (wie Anm. 3), 8 f., 19 (Verbote orgiastischer Kultvereinigungen); Andreas Bendlin, „Eine Zusammenkunft um der religio willen ist erlaubt..."? Zu den politischen und rechtlichen Konstruktionen von (religiöser) Vergemeinschaftung in der römischen Kaiserzeit, in: Hans G. Kippenberg/Gunnar F. Schuppert (Hrsg.), Die verrechtlichte Religion. Der Öffentlichkeitsstatus von Religionsgemeinschaften. Tübingen 2005, 65-107, hier 88-92 (Verbote politischer collegia in der späten römischen Republik).
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sich bei der Teilnahme an Spielen, der Bekleidung von Ämtern und dem Bekränzen nicht um neutrale, religiös indifferente Praktiken handelt, sondern sie im Kern eine religiöse Bedeutung als paganer Götterkult haben und aus diesem Grund abzulehnen sind.14 Alternative Beurteilungsmaßstäbe, die die diskutierten Phänomene aus einer nicht-christlichen Sicht in den Blick nehmen, werden hingegen nur gestreift und auch dort, wo sie zur Sprache gebracht werden, mit einer religiösen Deutung unterlegt. So weist Tertullian zwar darauf hin, daß die Spiele auch aus nicht-christlicher Sicht einen fragwürdigen Ruf genießen, da die Schauspieler der infamia unterliegen - jedoch nur, um direkt daran die aus seiner Sicht entscheidende Frage anzuschließen, wie denn die göttliche Gerechtigkeit ein Verhalten billigen könne, das selbst nach menschlichen Handlungsmaßstäben zu verurteilen sei.15 Zum Thema innerweltlich begründeter gesellschaftlicher oder politischer Institutionen dringt Tertullian unter diesen Voraussetzungen allenfalls in Ansätzen durch. Den bestimmenden Beurteilungsmaßstab sozialen Handelns bilden nicht soziale Funktionen und Konventionen, sondern allein die göttliche Offenbarung, die vorzugsweise durch die Heilige Schrift oder das Beispiel kirchlicher Autoritäten gesichert ist.16 Diese Haltung läuft konzeptionell konsequent auf eine gesellschaftliche Selbstisolation der Christen hinaus, die nicht an einer Wahrnehmung als Teil der Gesellschaft interessiert sind, sondern im Gegenteil ihre Identität aus der Differenz zum saeculum beziehen und sich als „Bürger des himmlischen Jerusalem" verstehen.17 In seinen apologetischen Schriften, besonders im „Apologeticum"18, löst sich Tertullian von diesen Voraussetzungen, soziales Handeln und politisch-
14 In Tertullians Kritik am Spielwesen nimmt der Nachweis, daß die Spiele ihren Ursprung im Götzendienst haben, breiten Raum ein (Tert., spect. IV-XIV). Die Bekleidung politischer Ämter schließt Tertullian aus einer Reihe von Gründen aus, unter denen die Idolatrie an erster Stelle rangiert (vgl. Tert., idol. XVIIf.; ähnlich spect. XII 5). Tertullians einzelne Ausführungen gegen das Bekränzen resümiert er mit der Bemerkung, daß „sich in allen diesen Dingen Idolatrien" befänden (coron. XIII7). Zum Götzendienst als dem principale crimen generis humani, aus dem alle anderen Verfehlungen erwachsen seien, s. Tert., idol. I; vgl. femer Jean-Claude Fredouille, Tertullien et l'Empire, in: Recherches Augustiniennes 19, 1984, 111-131, hier 129. 15 Tert., spect. XXIII 1: „cum igitur humana recordatio ... damnandos eos censeat... quanto magis divina iustitia in eiusmodi artifices animadvertit?" 16 Tert., coron. VIII f. 17 Tert., coron. XIII4: „sed tu, peregrinus mundi huius et civis civitatis supernae Hierusalem - ,noster', inquit, .municipatus in caelis' - habes tuos census, tuos fastus, nihil tibi cum gaudiis saeculi, immo contrarium debes". In spect. I 5 begegnet Tertullian dem Vorwurf der gezielten gesellschaftlichen Selbstisolation, der den Christen gemacht wird, mit dem Hinweis auf die Weisung Gottes - ohne jedoch bezeichnenderweise die Perspektive selbst, die dem Vorwurf zugrunde liegt, zu korrigieren. 18 Zum „Apologeticum" im Kontext der übrigen apologetischen Schriften Tertullians vgl. Hermann Tränkle, Q. Septimius Hörens Tertullianus, in: Reinhart Herzog/Peter L. Schmidt (Hrsg.), Handbuch der lateinischen Literatur der Antike. Bd. 4: Die Literatur des
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gesellschaftliche Institutionenbildung ausschließlich entlang religiöser Leitlinien zu interpretieren. Er argumentiert vielmehr unter Einbeziehung von Kategorien, die für das Funktionieren und Selbstverständnis der gesellschaftlichen Ordnung grundlegend sind.19 Hatte Tertullian die distanzierte Haltung der Christen zu den mit dem Kaiserkult verbundenen Feierlichkeiten in „de idolatria" allein als eine religiöse Frage behandelt, indem er sie mit dem Verbot des Götzendienstes begründete und die Grenzen zwischen erlaubten Ehrenbezeigungen für die Kaiser und verbotener Idolatrie mit mehreren Hinweisen auf die biblischen Schriften untermauerte20, stellt er im „Apologeticum" die politischen Aspekte des christlichen Verhaltens in den Vordergrund: Zwar nehmen die Christen nicht an den Feiern des Kaiserkults teil, ihre politische Loyalität bleibt davon jedoch unberührt, da sie sich in dieser Hinsicht vorbildlicher verhalten als diejenigen Reichsbewohner, die am Kaiserkult partizipieren.21 In ähnlicher Weise thematisiert Tertullian auch in der Frage der Ämterbekleidung und des Bekränzens die politische Dimension des christlichen Handelns. Die distanzierte Haltung der Christen gegenüber der Übernahme von Ämtern wird nicht mehr unter der Perspektive des religiösen Idolatrieverbots diskutiert, sondern als ein apolitisches Desinteresse am Streben nach Ruhm und Ehre deklariert: Vom Verdacht befreit, eine politischen Zielen verpflichtete/acfio illicita zu bilden, erhebt die christliche Gemeinschaft den Anspruch, als ein collegium und damit als anerkannter Teil des gesellschaftlichen Gefüges betrachtet zu werden.22 Auch das Bekränzen behandelt Tertullian nicht unter religiösen Gesichtspunkten, sondern nimmt die wirtschaftlichen Einbußen und damit die gesellschaftlichen Folgen, die aus dem Verhalten der Christen erwachsen, in den Blick.23 Die aufgeführten Beispiele machen deutlich, daß zwischen den apologetischen und den disziplinaren, an ein internes Publikum gerichteten Schriften Tertullians erhebliche Unterschiede bestehen - und zwar nicht nur, was die inUmbruchs. Von der römischen zur christlichen Literatur, 117-284 n.Chr. Hrsg. v. Klaus Sallmann. München 1997,438-511, hier 443^*57. 19 Zu dieser Strategie vgl. allgemein Carl Becker, Tertullians Apologeticum. Werden und Leistung. München 1954, 279-284. 20 Tert., idol. XV. 21 Tert., apol. XXXV. 22 Ebd. XXXVIII f. Trotz der vergleichsweise restriktiven juristischen Bestimmungen zur Vereinsbildung stellten die collegia eine weit verbreitete und allgemein anerkannte Form der Vergemeinschaftung in der städtischen Kultur der römischen Kaiserzeit dar, vgl. zuletzt Bendlin, Zusammenkunft (wie Anm. 13), bes. 92-105. Diese politische Dimension der christlichen Gemeinden tritt auch dort hervor, wo Tertullian auf deren zahlenmäßige Stärke in den Städten verweist und ihr ordnungspolitisches Unruhepotential hervorkehrt, vgl. Tert., Scap. II 10: „utique ex disciplina patientiae divinae agere nos, satis manifestum esse vobis potest, cum tanta hominum multitudo, pars paene maior civitatis cuiusque, in silentio et modestia agimus ..." 23 Tert., apol. XLII6 u. (analog) 7-9. Zu den wirtschaftlichen Konsequenzen der Ausbreitung des Christentums vgl. bereits die Bemerkungen von Plin., epist. X 96, 10.
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haltlichen Aussagen zu einzelnen Sachverhalten betrifft, die in den apologetischen Schriften zumeist weniger radikal ausfallen.24 Für den hier interessierenden Zusammenhang ist vor allem der Umstand von Bedeutung, daß diese Unterschiede dadurch bedingt sind, daß in Tertullians apologetischen Schriften an die Stelle der rigoristischen Abgrenzung das Bemühen um eine Vermittlung zwischen Christentum und saeculum tritt, in der Tertullian die Einbindung des Christentums in die gesellschaftliche Ordnung in den Blick nimmt und aus deren Perspektive reflektiert. Zwar geht auch das „Apologeticum" von der Prämisse aus, die christliche Gemeinschaft sei eine Fremde in dieser Welt, die ihren Sitz im Himmel habe 25 , doch bleibt es in der Folge nicht dabei, diese Distanz als das identitätsstiftende Merkmal der Christen herauszustellen, auf den unversöhnlichen Widerspruch zur Welt zu verweisen und die Kirche mit Blick auf das nahende Weltende zu befestigen.26 Vielmehr thematisiert Tertullian im „Apologeticum" die Stellung der Kirche in der Welt und bestimmt ihren Standort als Bestandteil der gesellschaftlichen und politischen Ordnung. Tertullians „Apologeticum" nimmt innerhalb der christlichen Apologetik insofern eine Sonderstellung ein, als dort die juristischen Aspekte der Verfolgungen besonders intensiv diskutiert werden.27 Diese Auseinandersetzung mit der rechtlichen Stellung der Christen im Verhältnis zu den römischen Behörden verleiht dem Werk einen ausgeprägt politischen Anstrich, der nicht für alle apologetischen Schriften in gleicher Weise charakteristisch ist. Dennoch lassen sich bei aller Differenzierung innerhalb der apologetischen Literatur der vorkonstantinischen Zeit die im vorigen herausgestellten Grundprinzipien durchaus verallgemeinern. Das apologetische Schrifttum beruhte auf einer 24
Übereinstimmend hervorgehoben von Robert F. Evans, On the Problem of Church and Empire in Tertullian's Apologeticum, in: StudPatr 14,1976, 21-36, und Fredouille, Tertullien (wie Anm. 14), die beide auf die Notwendigkeit hinweisen, in der Beurteilung von Tertullians Haltung gegenüber dem römischen Reich zwischen den apologetischen und den nicht-apologetischen Schriften zu differenzieren - wenn auch mit unterschiedlichen Schlußfolgerungen, da Evans den rigoristischen und eschatologischen Zügen stärkere Bedeutung zumißt, während Fredouille von einer weltbejahenden Grundhaltung Tertullians ausgeht und daher seine Aussagen der politischen Loyalität zum römischen Imperium stärker gewichtet. 25 Tert., apol. I 2: „seit se peregrinam in terris agere, inter extráñeos facile inimicos invenire, ceterum genus, sedem, spem, gratiam, dignitatem in caelis habere". 26 Zu dieser für die nicht-apologetischen Schriften Tertullians charakteristischen Tendenz vgl. Evans, Problem (wie Anm. 24), 35. 27 Vgl. HervéInglebert, Les romains chrétiens face à l'histoire de Rome. Histoire, christianisme et romanités en Occident dans l'Antiquité tardive (IIIe-Ve siècles). Paris 1996, 80. Dies veranlaßte bereits Eusebius von Caesarea zu der Annahme, Tertullian sei Jurist gewesen (Eus., h.e. II 2, 4) - freilich in Verkennung dessen, wie pseudojuristisch Tertullian argumentiert und wie stark er Termini der Rechtssprache seinen rhetorischen Argumentationsstrategien unterworfen hat (vgl. dazu allgemein Remo Martini, Tertulliano giurista e Tertulliano padre della Chiesa, in: Studia et Documenta Historiae et Iuris 41, 1975, 7 9 124).
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Kommunikationssituation, in der sich eine Auseinandersetzung nicht allein auf der Basis religiöser Offenbarung führen ließ - sowohl, was die politischen und gesellschaftlichen Dimensionen der Existenz christlicher Gemeinden in der Welt betraf, als auch was den konkurrierenden Wahrheitsanspruch des Christentums zur paganen Philosophie anging28: In beiden Bereichen bedingte die Berücksichtigung der Perspektive einer ,nicht-christlichen Außenwelt' die Notwendigkeit, innerweltliche Handlungsbegründungen und Rationalisierungen mit einzubeziehen. Damit aber entwickelte sich die Apologetik zu dem Ort in der antiken christlichen Literatur, in der das Christentum nicht nur zu einer Ortsbestimmung im politisch-gesellschaftlichen und intellektuellen Umfeld gezwungen wurde, sondern sich auch mit den Prinzipien politischer Organisation und Autoritätsbildung auseinandersetzen mußte. Dies läßt sich zu der Aussage zuspitzen, daß nur die apologetische Kommunikationssituation eine politische Reflexion ausbildete und Ansätze zu einem im engeren Sinne politischen Denken, das auf nicht-religiösen Prinzipien beruhte, hervorbrachte.29 Aus dieser diskursiven ,Standortbestimmung' politischer Sprache ergeben sich naheliegende Konsequenzen für die Bedingung der Möglichkeit biblizistischer Sprache in der christlichen Literatur der vorkonstantinischen Zeit. Anders als in katechetischen oder exegetischen Schriften, die intensiven Gebrauch von der Bibel machten und regelmäßig auf sie als Quelle der Autorität verwiesen 30 , waren die Voraussetzungen dafür, sich durch Zitate und Anspie28
Trotz der vor allem für die griechische Apologetik des 2. Jahrhunderts charakteristischen Annäherung an die philosophische Reflexion über das göttliche Wesen besteht eine fundamentale Differenz zwischen einer rational-anthropozentrischen Theologie der antiken Philosophenschulen und einer theozentrisch-religiös fundierten Rede von Gott im antiken Christentum (vgl. Andreas Bendlin, Wer braucht „heilige Schriften"? Die Textbezogenheit der Religionsgeschichte und das „Reden über Götter" in der griechisch-römischen Antike, in: Christoph Bultmann u. a. [Hrsg.], Heilige Schriften. Ursprung, Geltung und Gebrauch. Münster 2005, 205-228, 251-254, hier 217-226). 29 Erinnert sei in diesem Zusammenhang daran, daß das ausgereifteste und wirkungsgeschichtlich folgenreichste Werk politischen Denkens, das die christliche Antike hervorgebracht hat, Augustinus' „de civitate Dei", bekanntlich aus einer apologetischen Kommunikationssituation - der Verteidigung gegen den Vorwurf, die Christen seien für die Eroberung Roms im Jahr 410 verantwortlich - heraus entstanden ist. Zum apologetischen Charakter von Augustins Gottesstaat s. Fiedrowicz, Apologie (wie Anm. 7), 138-141; zu den Verbindungslinien zwischen der apologetischen Literatur der vorkonstantinischen und der (nach-)konstantinischen Zeit vgl. Fredouille, Métamorphoses (wie Anm. 9), bes. 206215. 30 Dies gilt etwa für die drei oben erwähnten Schriften Tertullians, die sämtlich auf einer ausgeprägt biblizistischen Grundlage operieren. In „de idolatria", „de spectaculis", und „de corona" setzt sich Tertullian jeweils intensiv mit Einwänden aus der Gemeinde auseinander, daß die Bibel keine Hinweise auf das Verbot des Verfertigens von Götterbildern, der Teilnahme an Spielen und des Bekränzens enthalte: Tertullian antwortet durch Gegenüberstellung von biblischen Schriftstellen (idol. IV f.), führt verborgenen Schriftsinn an (spect. III), operiert mit Umkehrschlüssen (coron. II 4: Die Schrift untersagt das Kranztragen zwar nicht, sie befiehlt es aber auch nicht; die Folge: was nicht befohlen ist, ist gleichfalls ver-
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lungen auf die Heiligen Schriften zu beziehen und damit eine biblizistische Sprache zu entwickeln, für die Verfasser apologetischer Schriften überaus ungünstig. Das hatte zwei eng miteinander verwandte Gründe. Zum einen entwickelte sich aus dem Prinzip, die Position der Christen in der Welt aus der Perspektive des saeculum in den Blick zu nehmen, eine apologetische Argumentationsstrategie, die sich auf die griffige Formel, den Gegner mit seinen eigenen Waffen zu schlagen, bringen läßt: Man richtete sich gegen die Heiden, indem man sich ihrer Schriften bediente und deren Inhalte aus ihren eigenen Voraussetzungen heraus entweder (polemisch) durch den Verweis auf Widersprüche zu widerlegen oder aber (protreptisch) für das Christentum dadurch zu vereinnahmen suchte, daß man auf Übereinstimmungen mit der christlichen Lehre verwies. 31 Beides war mit einer biblizistischen Argumentation nicht zu leisten. Wer die pagane Kultur auf der Grundlage ihrer eigenen Dichter und Philosophen kritisieren wollte, konnte sich nicht auf die Heiligen Schriften berufen. 32 Doch auch für protreptische Zwecke waren Verweise auf die Bibel nicht geeignet. Lactanz, der zu Beginn des 4. Jahrhunderts in seinen „divinae institutiones" erstmals die Abfassung eines apologetischen Werks mit Reflexionen bezüglich apologetischer Methode und Darstellungsweise verband 33 , erhob es zum Prinzip, einem paganen Leser, „da er noch nicht in der Lage ist, die göttlichen Unterweisungen zu verstehen, zunächst die menschlichen Zeugnisse darzulegen, d.h. die der Philosophen und Historiker, damit er möglichst durch seine eigenen Autoritäten widerlegt wird." 34 Die biblischen Schriften erforderten nach Lactanz Vorkenntnisse, wenn sie nicht falsch verstanden werden sollten, und waren als Träger geheimer Offenbarungen den Getauften und bereits in die christliche Lehre Eingeweihten vorbehalten. 35
boten) und verweist auf die Tradition, die die Schrift ergänzen kann (coron. III f.). Die Schriftbezogenheit der Argumentation tritt an zahlreichen weiteren Stellen hervor, vgl. u. a. spect. XVIII 1, XIX 1, XX 1; XXV 3; coron. VIII 1. 5, X 1, XI. 31 Zu Protreptik und Polemik als zwei Polen einer einheitlichen apologetischen Argumentationsstrategie vgl. Wolfram Kinzig, Überlegungen zum Sitz im Leben der Gattung ÜQÖg "mWryvag/Adnationes, in: Raban von Haehling (Hrsg.), Rom und das himmlische Jerusalem. Die frühen Christen zwischen Anpassung und Ablehnung. Darmstadt 2000,152-183, hier 168; anders Becker, Apologeticum (wie Anm. 19), 71-76 („Unausgeglichenheit in der Zielsetzung"). 32 Explizit geäußert von Tat., orat. X X X I 2 (Marcovich); Tert., test. anim. I 1 f. Daß Tertullian in „de testimonio animae" Zweifel an der Überzeugungskraft dieser herkömmlichen Methode äußert und daher einen anderen Weg wählt, indem er sich auf das natürliche Zeugnis der Seele beruft, steht auf einem anderen Blatt. 33 Zu Lactanz' Stellung in der Entwicklung der Apologetik vgl. Fredouille, Naissance (wie Anm. 9), 228. 34 Lact., inst. V 4, 6: „huic oportebat, quia nondum poterat capere divina, prius humana testimonia offerri, id est philosophorum et historicorum, ut suis potissimum refutaretur auctoribus". 35 Vgl. im selben Sinne Lact., inst. V 1, 26; V 2, 15 f.
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Das apologetische Prinzip, interne Widersprüche und Schwachstellen in der nichtchristlichen Literatur in den Vordergrund zu stellen bzw. auf Übereinstimmungen der paganen Literatur mit der christlichen Offenbarung zu verweisen, ist jedoch nicht allein der besonderen argumentativen Wirkung geschuldet, den Gegner aus seinen Voraussetzungen heraus zu kritisieren und anzusprechen, sondern verweist auf eine fundamentalere Schwierigkeit, in ,biblizistischer Sprache' reden zu können. Das Selbstverständnis und die Inszenierung der kaiserzeitlichen Eliten beruhten in elementarer Weise auf dem Ideal einer literarischen, vor allem rhetorisch geprägten Bildung, die auf ausgeprägten Stilkonventionen und Normen fußte. In weiten Teilen des Ostens im römischen Imperium blühte seit dem 1. Jahrhundert n.Chr. die Zweite Sophistik, in der sich der Rückbezug auf klassische griechische Autoren mit dem Sprachideal eines reinen, attischen Griechisch zu einem Konglomerat einer an stilistischen und literarischen Vorbildern orientierten paideia verband, die Sozialprestige vermittelte und statusbildend wirkte.36 Im Westen vollzog sich eine ähnliche Entwicklung: Auf der Grundlage einer im Laufe der Kaiserzeit kanonisierten Schullektüre klassischer Autoren formierte sich eine ausgeprägte Bildungs- und Sprachkompetenz, die soziale Differenzierung signalisierte und eine Verständigungsebene innerhalb der gebildeten Oberschichten schuf.37 In diesem soziokulturellen Kontext entstand seit dem 2. Jahrhundert die apologetische Literatur in dem Bemühen, Anschluß an eine literarische Öffentlichkeit zu gewinnen38 - ein Vorgang, der angesichts der statusvermittelnden Bedeutung von Rhetorik und Literatur schon für sich genommen einen Schritt zur Verortung im politisch-gesellschaftlichen Gefüge darstellt, wie er oben als Voraussetzung für die Ausbildung einer politischen 36 Zur Verbindung von Bildung und Sozialprestige in der Zweiten Sophistik vgl. Thomas A. Schmitz, Bildung und Macht. Zur sozialen und politischen Funktion der zweiten Sophistik in der griechischen Welt der Kaiserzeit. München 1997, bes. 39-66; für die Fortsetzung dieser Entwicklung in der Spätantike vgl. Robert Kaster, Guardians of Language. Berkeley/Los Angeles 1988, bes. 15-31; Peter Brown, Power and Persuasion in Late Antiquity: towards a Christian Empire. Madison 1992, 35-70. Zur zentralen Rolle, die der Sprachstil für dieses sophistische Bildungsideal spielte, und zur Bedeutung des Ideals attizistischer Sprachreinheit für die Selbstinszenierung der Eliten s. Simon Swain, Hellenism and Empire. Language, Classicism, and Power in the Greek World AD 50 - 250. Oxford 1996, 17-42; Schmitz, Bildung, 67-96. 37
Zur Zweiten Sophistik als reichsweiter, den lateinischen wie griechischen Sprachraum erfassender Strömung in der hohen Kaiserzeit vgl. Klaus Sallmann, Die römische Literatur von Hadrian bis zum ausgehenden 3. Jh. n.Chr., in: Herzog/Schmidt (Hrsg.), Handbuch (wie Anm. 18), Bd. 4, 5-8, hier 5 f. Für die formative Bedeutung der Schulbildung und der Klassikerlektüre, die sich im lateinischsprachigen Bereich verstärkt erst in der Spätantike bemerkbar macht, vgl. Ulrich Eigler, Lectiones vetustatis. Römische Literatur und Geschichte in der lateinischen Literatur der Spätantike. München 2003, 29^44. Zur Bedeutung von Bildung im Bereich der bildlichen Selbstdarstellung vgl. Paul Zanker, Die Maske des Sokrates. Das Bild des Intellektuellen in der antiken Kunst. München 1995, bes. 192— 194. 38 Dieter Timpe, Römische Geschichte und Heilsgeschichte. Berlin/New York 2001,64-68.
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Sprache skizziert wurde. Wollten die Verfasser der apologetischen Schriften den erfolgreichen Anspruch darauf erheben, sich innerhalb dieser kaiserzeitlichen Elitenkultur Gehör und Aufmerksamkeit zu verschaffen, mußten sie, die i m übrigen häufig genug selbst eine traditionelle rhetorische Ausbildung durchlaufen hatten, auf Stilkonventionen, rhetorische Strategien und Bildungsvoraussetzungen B e z u g nehmen, die ihnen durch die schulische Bildung vermittelt wurden. 3 9 D i e biblischen Schriften waren jedoch kein Teil eines literarischen Bildungs- und Schulkanons, und ihre einfache Sprache, die allen gängigen Stil- und Sprachnormen widersprach, schloß auch jede M ö g lichkeit aus, sie als Basis einer biblizistischen Sprache im apologetischen Diskurs salonfähig zu machen. Seit d e m paganen Philosophen Celsus, der vermutlich um 177 eine Schrift gegen das Christentum verfaßte und damit als erster namentlich bekannter Kritiker des Christentums hervortrat, wird eine beißende Kritik an der Sprache der Bibel greifbar 4 0 , die - häufig vermittelt durch die Antworten von Christen auf diese Vorwürfe - sich bis weit in die nachkonstantinische Zeit hinein verfolgen läßt. 41 Unter diesen Voraussetzungen blieb die Bibellektüre außerhalb der christlichen Gemeinden auf w e n i g e Spezialisten beschränkt, die sich i m Rahmen der philosophischen Fachschriftstellerei mit dem Christentum und seiner Lehre auseinandersetzten. 4 2 Abgesehen davon, daß sich von derartigen Auseinan39
Zur Verortung der griechischen Apologetik des 2. Jahrhunderts im Kontext der Zweiten Sophistik und der rhetorischen Gattungen vgl. allgemein Robert M. Grant, Forms and Occasions of the Greek Apologists, in: Studi e materiali di Storia delle Religioni 52 (NS. 10), 1986,213-226. Was den konkreten Kommunikationsrahmen und die rednerisch-performativen Aspekte der Kommunikation betrifft, die für die rhetorische Kultur der Kaiserzeit eine wichtige Rolle spielten, bleiben wir für die apologetischen Schriften im wesentlichen auf Vermutungen angewiesen (vgl. Kinzig, Überlegungen [wie Anm. 31]). Unter den lateinischen Apologeten des 3. Jahrhunderts lassen sich besonders für Tertullian Verbindungen zur Sophistik wahrscheinlich machen (s. Timothy D. Barnes, Tertullian the Antiquarian, in: StudPatr 14, 1976, 3-20); Cyprian, Amobius und Lactanz waren als Rhetoriklehrer tätig. 40 Vgl. den Reflex dieser Kritik bei Or., Cels. VI 1 f. Zur stilistisch bedingten Distanz zwischen den .barbarischen Schriften' der Bibel und der griechischen Literatur vgl. auch Tat., orat. XXIX 2 (Marcovich). 41 Einen Überblick über die Reaktionen, mit denen die christlichen Schriftsteller der Kritik am Stil der Bibel begegneten, vermittelt Eduard Norden, Die antike Kunstprosa vom VI. Jahrhundert v.Chr. bis in die Zeit der Renaissance. Bd. 2. 2. Aufl. Leipzig u.a. 1909, Ndr. Darmstadt 1958, 512-528. Vgl. u.a. Arnob., nat. I 59; Lact., inst. V 1, 15; für die Spätantike Aug., conf. III 5,9 und besonders den berühmten Traum des Hieronymus (Hier., epist. XXII 30), der seine Identität als Christianus oder Ciceronianus von der Alternative zwischen der Lektüre der Bibel oder der klassischen lateinischen Autoren abhängig macht und die Vermittlungsprobleme geradezu idealtypisch auf den Punkt bringt: Bei aller zeitspezifischen Zuspitzung basiert der Traum des Hieronymus auf einem Gegensatz, der bereits in vorkonstantinischer Zeit angelegt war, und bei dem literarische Bildung, sozialer Status und religiöse Orientierung eine enge Verbindung eingingen, durch die Identität und Abgrenzung gegenüber dem Anderen vermittelt wurde. 42 Für eine Zusammenstellung und Diskussion der Belege vgl. Giancarlo Rinaldi, Biblia Gentium. Primo contributo per un indice delle citazioni, dei riferimenti e delle allusioni
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dersetzungen bis zum Ende des 3. Jahrhunderts keine nennenswerten Spuren erhalten haben 43 , führte dies jedoch auch im Bereich der Fachschriftstellerei nicht dazu, daß die biblischen Schriften Eingang in einen allgemeinen philosophischen Wissens- und Bildungshorizont gefunden hätten. Bezugnahmen auf die Bibel blieben vielmehr den seltenen Anlässen vorbehalten, in denen man sich direkt mit dem Christentum und seiner Lehre befaßte. 44 Aus der gesamten philosophischen Literatur der Antike ist nur ein einziger Beleg für ein Bibelzitat erhalten geblieben, das seine Entstehung nicht einer unmittelbaren Auseinandersetzung mit dem Christentum verdankt.45 Die biblischen Schriften verblieben außerhalb der traditionellen literarischen Kultur. Erst vergleichsweise spät, zu Beginn der letzten Christenverfolgung unter Diocletian im Jahre 303, wurde erstmalig eine Konfiskation und Verbrennung der Heiligen Schriften durch die römischen Behörden verfügt - und auch hier diente die Maßnahme dazu, die christlichen Gemeinden ihrer exegetischen und pastoralen Textgrundlage zu berauben und nicht dazu, die Verbreitung biblischen Gedankenguts oder gar das Vordringen in den Bildungskanon zu verhindern.46 Dieser Befund hat Auswirkungen für die Anwendbarkeit des Konzepts von Biblizismus als politischer Sprache für die apologetische Literatur der vorkonstantinischen Zeit. Für diesen Zeitraum verspricht das Modell von der Bibel als Grundlage einer den Diskurs prägenden politicai language keinen heuristischen Ertrag. Die von den christlichen Apologeten verwendete ,Sprache' - in der Terminologie von Vertretern der intellectual history wie John Pocock die „idioms, rhetorics, specialised vocabularies and grammar, modes of discourse or ways of talking about politics"47 - zeichnet sich gerade dadurch aus, daß sie durch einen kulturellen Kontext bestimmt war, in dem die biblischen Schriften keine Rolle spielten: Ein .Biblizismus', verstanden als sprachlicher Rahmen (langue), der zu den einzelnen Äußerungen (paroles) in einem wechalla bibbia negli autori Pagani, Greci e Latini, di età imperiale. Rom 1989. Für die Grundzüge paganer Bibelkritik vgl. Fiedrowicz, Apologie (wie Anm. 7), 274-291. 43 Nach Celsus werden erst wieder ab der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts philosophische Kritiker des Christentums und seiner heiligen Schriften in Gestalt von Porphyrios und Hierokles namentlich faßbar. 44 So auch Norden, Kunstprosa (wie Anm. 41), 518. 45 Ps.-Longin., subi. IX 9. (Datierung vermutlich 1. Jahrhundert n. Chr.) Zur Singularität des Zeugnisses s. Jean-Claude Fredouille, Bible et apologétique, in: Jacques Fontaine/ Charles Pietri (Eds.), Le monde latin antique et la Bible. Paris 1985, 479-497. Zur Annahme, daß bei Ps.-Longinus jüdische Vermittlung eine Rolle gespielt habe, besteht kein Anlaß; vgl. Gilles Dorival, La Bible des Septants chez les auteurs païens (jusqu'au PseudoLongin), in: Lectures anciennes de la Bible. (Cahiers de Biblia Patristica, 1.) Straßburg 1987, 9-26, hier 19-21. 46 Eus., h.e. VIII 2, 4; Lact, mort. pers. XII 2. Zur Deutung vgl. Fredouille, Bible (wie Anm. 45), 490. 47 John G. A. Pocock, The Concept of a Language and the métier d'historien: Some Considérations on Practice, in: Pagden (Ed.), Languages (wie Anm. 2), 19-38, hier 21.
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selseitigen Bedingungsverhältnis steht 48 , ist in den apologetischen Schriften, zumindest was die Ebene des apologetischen Diskurses betrifft 49 , nicht gegeben. Das Thema ,Biblizismus' ist dementsprechend zu modifizieren, wenn man es auf die vorkonstantinische Zeit anwenden will. In Ermangelung eines Biblizismus im Sinne einer political language bietet es sich an, der Thematik eine veränderte Ausrichtung zu geben, indem man nicht die implizite Bezugnahme auf die Bibel als fundierenden Text der Argumentation und sprachlichen Rahmen der Darstellung, sondern die expliziten Verweise auf die biblischen Schriften zum Gegenstand der Fragestellung macht. Anders ausgedrückt: Wie argumentierten die Apologeten nicht auf der Grundlage der heiligen Schriften, sondern mit Verweis auf sie? Im Unterschied zum Konzept von Biblizismus als political language sind für diese Frage Ansatzpunkte durchaus gegeben. Denn trotz der Vorbehalte, die aus dem apologetischen Prinzip erwuchsen, den Einwänden gegen das Christentum auf deren eigener Grundlage zu begegnen, waren die biblischen Schriften als solche und einzelne ihrer Ausführungen auch im apologetischen Diskurs gegenwärtig. Die Apologeten zitierten vereinzelt 50 aus den Heiligen Schriften, um die Haltung der Christen in Fragen der Moral, der Gottesvorstellung und der Einstellung gegenüber der gesellschaftlichen und politischen Ordnung zu erläutern, und forderten die heidnischen Adressaten zur Lektüre der Bibel auf, um sich selbst mit ihrem Inhalt vertraut zu machen. 51 Die Wirksamkeit dieser Hinweise als Argumente im Kontext apologetischer Beweis-
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Zu der aus der Linguistik entlehnten Relation langue - parole vgl. Pocock, Concept (wie Anm. 47), der die sprachlichen Äußerungen als einzelne Sprechakte mit performativer Wirkung auffaßt (ebd. 30: „languages" sind definiert als „contexts, in which acts of utterances are performed"). 49 Davon unberührt ist die Tatsache, daß auch in apologetischen Schriften zahlreiche Passagen von der Bibel inspiriert sind und man Parallelen zu biblischen Texten auffinden kann. Für die Verfasser apologetischer Schriften war die Bibel ein fundierender Text, dessen Einflüsse sich auch dort bemerkbar machten, wo sie sich nicht in einer .internen', sondern in einer apologetischen Kommunikationssituation befanden. So ist etwa die Kritik der Apologeten am Götzenkult stark durch Passagen des Alten und Neuen Testaments inspiriert (vgl. Fredouille, Bible [wie Anm. 45], 4 8 1 ^ 8 3 ) ; zu möglichen stilistischen Einflüssen der Bibel auf die lateinischsprachige christliche Literatur vgl. Christine Mohrmann, Problèmes stylistiques dans la littérature latine chrétienne, in: Vigil. Christ. 9, 1955, 2 2 2 246. Diese durch Prägung der christlichen Autoren bedingte Nähe zu biblischen Gedanken ist jedoch nicht als biblizistische Sprache einzustufen, da sie nicht von allen an der apologetischen Kommunikation Beteiligten geteilt wurde und implizite Biblizismen zumindest von den formalen Adressaten unerkannt bleiben mußten. Ähnliches gilt für nicht explizit als solche gekennzeichnete Bibelzitate, von denen insbesondere Aristides in seiner Apologie ausgiebigen Gebrauch macht; ihre Aufnahme beschränkt sich auf diejenigen Rezipienten, die in der Lage waren, diese Anspielungen zu erkennen. 50
Fredouille, Bible (wie Anm. 45), 492 f. Vgl. u.a. Just., 1 apol. XIV 4 - XIX; Thphl. Ant., Autol. II 9-35. Die Aufforderung zur Lektüre der biblischen Schriften begegnet bei Arist., apol. II 4; XVI 3 f. (Pouderon); Just. 1 apol. XLIV 13; Athenag., leg. IX 1. 3 (Pouderon); Tert., apol. XXXI 1. 51
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fiihrung ist aus den oben genannten Gründen allerdings zurückhaltend zu beurteilen. Man mochte auf diese Weise zwar informieren und belehren, dahinter trat jedoch die argumentative Wirkung zurück: Überzeugungskraft als Argument besaßen die biblischen Schriften nur mit Blick auf ein christliches Publikum. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, daß sich die apologetischen Schriften zwar formal eine nach außen gerichtete Kommunikationssituation imaginierten, sich aber faktisch auch an christliche Leser wandten. Sporadische Zitate aus der Bibel in apologetischen Schriften lassen sich dementsprechend nicht im engeren Sinne als Teil einer apologetischen Argumentationsstrategie begreifen: Sie sind eher argumentative Versatzstücke, die aus der internen Kommunikation in den apologetischen Diskurs hineinragen. 52 Anders verhält es sich hingegen mit den Verweisen auf die Existenz der biblischen Schriften als solche, der die Verfasser apologetischer Schriften eine hohe Beweiskraft für die christliche Lehre zumaßen. Hier rekurrierten die Apologeten auf argumentative Strategien, die auch in ihrem nicht-christlichen Umfeld mit Akzeptanz rechnen konnten.53 An die Heiligen Schriften der Christen knüpften Apologeten zwei Argumentationsfiguren, die in der Forschung allgemein als Alters- bzw. Weissagungsbeweis bezeichnet werden. Zum einen galten Moses und die alttestamentlichen Schriften, deren Alter über die Anfänge griechischer Dichtung und Philosophie hinaus zurückreichte, als Garanten für ein altes und wahres Wissen.54 Zum anderen nahm man die prophetischen Weissagungen des Alten Testaments zum Anlaß, das gegenwärtige Geschehen als Erfüllung dieser Prophezeiungen zu deuten und daraus Beweise für die göttliche Inspiration der alttestamentlichen Propheten abzuleiten.55 Beide Argumentationsfiguren - der auf der Gleichsetzung von Alter und Autorität basierende Wahrheitsanspruch und die durch die Erfüllung der Weissagungen erwiesene Glaubwürdigkeit der christlichen Religion - entsprachen kulturellen Voraussetzungen, die auch vom nicht-christlichen Umfeld geteilt wurden: Der Altersbeweis ist bereits griechischen Ursprungs, wurde in der hellenistischen Historiographie der nicht-griechischen Völker 52
In diesem Sinne auch Becker, Apologeticum (wie Anm. 19), 79, 284. Vgl. zum Folgenden Fredouille, Bible (wie Anm. 45), bes. 483-487, der in seinem allgemeinen Überblick über Verwendungsweisen der Bibel in der christlichen Apologetik dem Alters- und dem Prophetiebeweis die größte Bedeutung zumißt. 54 Zum Altersbeweis in der christlichen Apologetik vgl. Peter Pilhofer, Presbyteron kreitton. Der Altersbeweis der jüdischen und christlichen Apologeten und seine Vorgeschichte. Tübingen 1990,221-284; Sonja Ackermann, Christliche Apologetik und heidnische Philosophie im Streit um das Alte Testament. Stuttgart 1997, 31-51. Mit dem Altersbeweis eng verwandt ist die Vorstellung, die griechische Mythologie und Philosophie hätten sich aus dem barbarischen Wissen der Juden heraus entwickelt (Plagiatthese); vgl. ebd. 52-71. 55 Zum Weissagungsbeweis s. Ackermann, Apologetik (wie Anm. 54), 72-85. Der Weissagungsbeweis konnte mit Zitaten aus dem Alten Testament verbunden sein (besonders umfassend ist die Zitierpraxis bei Justin, 1 apol. XXXI-LXIII). 53
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und Kulturen populär und ist von dort an die jüdische und christliche A p o l o getik vermittelt worden. 5 6 Auch die Vorstellung von göttlich inspirierter Prophétie war für Christen w i e Heiden in der hohen Kaiserzeit in gleicher Weise evident. 5 7 Im Unterschied zu den Zitaten einzelner Bibelstellen bildete demnach der unter den Vorzeichen des Alters- und Prophetiebeweises stehende Verweis auf die Heiligen Schriften der Christen ein biblizistisches Argument, das der apologetischen Kommunikationssituation adäquat war. Dieser Biblizismus, der in gleicher Weise das Alter der biblischen Schriften, die gegenwärtige Erfüllung der in ihnen beschlossenen Prophezeiungen und die Erwartung der noch ausstehenden Ankündigungen für die Zukunft propagierte, trug eine historische Dimension in sich 5 8 , die noch deutlicher hervortritt, wenn man die zeitgleiche Ausbildung einer biblisch begründeten Heilsgeschichte mitberücksichtigt. Bereits in apostolischer Zeit hatte man prophetische Weissagungen und Typologien des Alten Testaments auf Christus bezogen; dies bildete die Voraussetzung dafür, daß in der Folge auch die historische Dimension des alttestamentlichen Geschehens - das Handeln Gottes an seinem Volk, das durch die biblischen Schriften dokumentiert wurde in den christlichen Zeithorizont integriert und bis zum Ende des 2. Jahrhunderts zum geschichtstheologischen
Konzept einer christlichen
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schichte weiterentwickelt wurde. 5 9 Alters- und Prophetiebeweis sind dem56
Vgl. Pilhofer, Presbyteron (wie Anm. 54), bes. 65-75; Arthur J. Droge, Homer or Moses? Early Christian Interprétations of the History of Culture. Tübingen 1989, bes. 1-11. Starke Verbreitung fand der Altersbeweis in der griechischen Apologetik des 2. Jahrhunderts; vgl. Frances Young, Greek Apologists of the Second Century, in: Edwards u.a. (Eds.), Apologetics (wie Anm. 8), 81-104, hier 92-99. 57 Zur prophetisch inspirierten Weissagung als umkämpftem Feld, auf das Christen wie Heiden in gleicher Weise Anspruch erhoben, vgl. Robert J. Hauck, The More Divine Proof. Prophecy and Inspiration in Celsus and Origen. Atlanta 1989, bes. 17-76,137-143. Justin, der in seiner ersten Apologie breiten Raum auf den Weissagungsbeweis verwendete, knüpfte daran die einleitende Bemerkung, es handele sich um eine „Beweisführung, die auch euch als die sicherste und richtigste erscheinen wird." (Just., 1 apol. XXX). 58 Vgl. das Resümee von Fredouille, Bible (wie Anm. 45), 497: „Elle (seil, die Apologetik) les (seil, die Apologeten) a conduits à souligner, par opposition aux mythes païens, la .dimension' essentiellement historique de la religion chrétienne, insérée dans un développement continu: déjà réalisé et,passé', pour la période s'étendant de la Création à l'Incarnation, en devenir et à venir pour celle qui sépare l'humanité présente du Jugement [...]. La Bible enseignait [...] aux apologistes à concevoir [...] une histoire sainte, une en même temps qu'unique, vectorielle et porteuse d'espérance, destinée à s'achever par la victoire de la ,Cité de Dieu'." 59 Zu Voraussetzungen, Ausprägungen und Eigenart der christlichen Heilsgeschichte als theologischer Geschichtsdeutung vgl. allgemein Timpe, Geschichte (wie Anm. 38), 1-15. Der entscheidende Schritt zu einer historischen Deutung des alttestamentlichen Geschehens wurde von Irenaus von Lyon gegen Ende des 2. Jahrhunderts vollzogen (vgl. Hans von Campenhausen, Die Entstehung der Heilsgeschichte. Der Aufbau des christlichen Geschichtsbildes in der Theologie des ersten und zweiten Jahrhunderts, in: José M. AlonsoNünez [Hrsg.], Geschichtsbild und Geschichtsdenken im Altertum. Darmstadt 1991, 268309, bes. 298-301).
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nach nicht allein apologetische Strategien, sondern Teil eines komplexeren Deutungshorizonts von Geschichte, der es berechtigt, ihn als .heilsgeschichtlichen Biblizismus' zu bezeichnen. Im folgenden soll exemplarisch untersucht werden, welchen Stellenwert dieser heilsgeschichtliche Biblizismus im Kontext apologetischer Argumentation hatte und ob er eine politische Wirksamkeit entfaltete. Konkret stellt sich die Frage, wie das Konzept einer biblisch begründeten Heilsgeschichte mit der politischen Ordnung des römischen Reichs in Einklang zu bringen war. Anders als im Fall der political language läßt sich von hier aus eine Brücke zum Thema Biblizismus schlagen, bei der zum einen den Anforderungen an die diskursiven Voraussetzungen politischen Denkens - Verweis auf die Heiligen Schriften als apologetische Argumentationsstrategie - Rechnung getragen und zum anderen auch unter inhaltlichen Gesichtspunkten eine politisch brisante Thematik berührt wird. Denn in Anbetracht der Tatsache, daß das römische Imperium seinerseits eine ausgeprägte historische Fundierung in Form der republikanischen exempla hatte und auf einer vergleichbaren geschichtstheologischen Bestimmung basierte, ein auf virtus, pietas und göttliche Providenz gegründetes imperium sine fine zu bilden60, kommt der Frage, in welcher Weise die Apologeten das Verhältnis von biblischer historia sacra und römischer Geschichte zueinander bestimmten, eine große Bedeutung für das Thema der politischen Ordnungsvorstellungen zu. Berücksichtigung finden im folgenden mit Tertullian, Cyprian und Lactanz drei lateinischsprachige Apologeten des 3. Jahrhunderts, die sämtlich aus dem intensiv romanisierten Gebiet des römischen Nordafrika stammen. Diese Beschränkung auf lateinischsprachige Apologeten aus dem westlichen Teil des Imperium Romanum hat vor allem zwei Gründe. Während im griechischen Osten der Bezugspunkt von politischen Ordnungsvorstellungen im wesentlichen die Polis blieb61, wurde in der lateinischsprachigen Apologetik im Westen das römische Reich als die bestimmende politische Ordnungsmacht wahrgenommen. Auch in kultureller Hinsicht konzentrierte sich im romanisierten Westen des Imperiums die Auseinandersetzung mit dem paganen Umfeld auf Rom als Zentrum - anders als bei den griechischen Apologeten des 2. Jahrhunderts, die mit der griechischen Philosophie um die Wahrheit kon-
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Zur identitätsstiftenden Bedeutung der alten römischen Geschichte und ihrer exempla vgl. Eigler, Lectiones (wie Anm. 37), bes. 64-76; zu den geographisch und kulturell unterschiedlichen Ausprägungen der Romideologie in der römischen Kaiserzeit s. Inglebert, Chrétiens (wie Anm. 27), 43-52. 61 Vgl. z.B. Athenag., leg. XIII 1; XIV 1: èjuxaXoùoiv x6 ¡IT) x a i xoùç crôtoùç t a î ç jiôXeai 0EOÙÇ âyeiv („Sie werfen uns vor, daß wir nicht dieselben Götter anerkennen wie die Poleis"). Die BKV-Übersetzung von Poleis mit „Staat" (Eberhard) ist irreführend, da sie auf das Imperium Romanum hindeutet.
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kurrierten, dabei jedoch im wesentlichen ohne Bezug auf Rom und sein Imperium auskamen.62
II. Historia sacra und historia romana: Bibel und römische Geschichte bei Tertullian, Cyprian und Lactanz Das früheste Zeugnis lateinischer Apologetik bildet die unter dem Namen „Apologeticum"63 überlieferte Schrift des nordafrikanischen Schriftstellers Tertullian, die vermutlich gegen Ende des Jahres 197 verfaßt wurde und formal an die Statthalter der römischen Provinzen adressiert ist.64 Bereits der Auftakt der Schrift signalisiert eine intensive Auseinandersetzung mit ordnungspolitischen Aspekten, da Tertullian ausführlich auf die rechtliche Grundlage der Christenprozesse eingeht und die Christen mit anderen Feinden der politisch-gesellschaftlichen Ordnung wie Mördern, Tempelräubern, Staatsfeinden und Majestätsverbrechern vergleicht.65 Diese Tendenz, das Christentum aus der Perspektive des politisch-gesellschaftlichen Umfelds in den Blick zu nehmen und in eine Relation zur politischen Ordnung zu setzen, bestimmt auch den weiteren Verlauf der Darstellung und schlägt sich in einer dezidiert politischen Argumentationsstrategie nieder. Im Zentrum von Tertullians Argumentation steht die Konstruktion eines identitären Gegensatzes zwischen Römern und Christen, der es ihm ermöglicht, in einer paradoxen Umkehr die Christen als die de facto besseren und wahreren Römer darzustellen. Dieser Gegensatz ist für Tertullian kein primär religiöser oder kultureller, sondern wird als ein spezifisch politischer aufgefaßt. Deutlich ersichtlich wird dies darin, daß Tertullian umgangssprachliche Bezeichnungen gezielt in (pseudo-)juristische Kategorien überführt, um auf diese Weise die Christen als „Staatsfeinde" und „Majestätsverbrecher" zu bezeichnen, also spezifisch politischer Vergehen zu bezichtigen. Den allgemein verbreiteten Vorwurf, die Christen seien „Feinde des Menschengeschlechts" bzw. die „Feinde der Allgemeinheit" (im umgangssprachlichen Latein „publici hostes") deutet Tertullian um in eine präzise politische und staatsrechtliche Kategorie, nämlich den 62
Vgl. Inglebert, Chrétiens (wie Anm. 27), 56f.; Price, Apologetics (wie Anm. 11), 126— 129; Mari Edwards, The Flowering of Latin Apologetic: Lactantius and Arnobius, in: Edwards u.a. (Eds.), Apologetics (wie Anm. 8), 197-221, hier 220. 63 Die Handschriften überliefern als Werkbezeichnung apologeticum, der Werktitel war jedoch möglicherweise apologeticus (Price, Apologetics [wie Anm. 11], 115 f.) oder ad praesides (Fredouille, Métamorphoses [wie Anm. 9], 203 f.). 64 Zur Abfassungszeit vgl. Carl Becker, Tertullian, Apologeticum - Verteidigung des Christentums. München 1952, 15 f., 43 f. Die Statthalter sind - gegen Günter Eckert, Orator Christianus. Untersuchungen zur Argumentationskunst in Tertullians Apologeticum. Stuttgart 1993, 251-257 - rein fiktive Adressaten der Schrift. 65 Tert., apol. II.
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„hostis publicus", den Feind des römischen Staates.66 Auf eine ähnliche Weise wird auch die Weigerung der Christen, den paganen Göttern zu opfern, als ein „crimen laesae religionis" bezeichnet - ein Straftatbestand, der im römischen Recht gar nicht existierte, aber sprachlich betont eng an das crimen laesae maiestatis angelehnt war und von Tertullian offensichtlich ganz bewußt konstruiert wurde, um die Christen in die Nähe von Majestätsverbrechern zu rücken.67 Tertullian erzeugte auf diese Weise einen identitären Gegensatz zwischen ,Römern' und .Christen' auf der Grundlage hochsensibler Materien des Staats- und Strafrechts wie ,Staatsfeinde' und ,Majestäts-' und ,Religionsverbrecher' und erzielte damit eine politische Aufladung, die noch weit über das ordnungspolitische Konfliktpotential hinausging, das durch die Tatsache gegeben war, daß das Christsein an sich einen Tatbestand darstellte, der von den römischen Behörden gerichtlich verfolgt wurde. Sein strategisches Ziel - die Konstruktion eines identitären Gegensatzes .Christen - Römer' und seine Inversion - materialisiert sich in den beiden zentralen Vorwürfen, mit denen sich Tertullian im Hauptteil des „Apologeticum" auseinandersetzt: „,Ihr erweist den Göttern keine Ehren', werft ihr uns vor, ,und für die Kaiser bringt ihr keine Opfer dar.'"68 Die Argumentationsstrategie Tertullians tritt in den Parallelen, die seine Diskussion dieser beiden Anschuldigungen bestimmen, deutlich hervor: 1. Beide Male bedient sich Tertullian aufeinander bezogener (pseudo-)juristischer Kategorien, um das Bekenntnis zum Christentum als ein staatsrechtliches Vergehen darzustellen.69 66
Zutreffend bereits Richard Heinze, Tertullians Apologeticum. (Berichte über die Verhandlungen der Königlich Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig, philol.-hist. Kl., Bd. 62, H. 10.) Leipzig 1910, 2 7 9 ^ 9 0 , hier 435 f. 67 Zum Begriff s. Tert., apol. XXIV 1; XXVII 1. Theodor Mommsen, Römisches Strafrecht. Leipzig 1899, 569 Anm. 2, weist zwar auf den ,untechnischen' Charakter der Wendung crimen laesae religionis hin, billigt Tertullian allerdings zu, mit ihr den zugrunde liegenden Sachverhalt - die strafrechtliche Verfolgung der Apostasie von der .nationalen Religion' im römischen Recht - treffend erfaßt zu haben; ebenso Alexander Beck, Römisches Recht bei Tertullian und Cyprian. Eine Studie zur frühen Kirchenrechtsgeschichte. 2. Aufl. Aalen 1967, 52. Die von Mommsen begründete Forschungsposition zu den rechtlichen Grundlagen der Christenverfolgungen ist zwar mittlerweile überholt (vgl. den Forschungsüberblick bei Werner Dahlheim, Geschichte der römischen Kaiserzeit. 3. Aufl. München 2003, 344f.), doch sind die sich daraus ergebenden Konsequenzen für das Zeugnis Tertullians noch nicht adäquat berücksichtigt worden. Tertullian stellt 1. eine juristisch nicht fundierte Verbindung zwischen den Christenverfolgungen und dem politischen Vergehen des Majestätsverbrechens her und konstruiert 2. durch fiktive Analogiebildung den .Tatbestand' eines Religionsverbrechens. Der Ausdruck crimen laesae maiestatis ist demnach nicht ««technisch, sondern rein suggestiver, also pseui/o-technischer Natur. 68
Tert., apol. X 1: „,Deos\ inquitis, ,non Colitis et pro imperatoribus sacrificia non penditis.'" Diese beiden Vorwürfe werden im folgenden in den Kapiteln X-XXVIII 2 und XXVIII 3-XLV behandelt. 69 Die mangelnde Verehrung der Götter bzw. der Kaiser gilt Tertullian als crimen laesae religionis bzw. als crimen laesae maiestatis (apol. X mit XXIV 1, XXVII1). Die unmittel-
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2. In beiden Fällen gelangt Tertullian zum gleichlautenden Ergebnis, das einen identitären Gegensatz zwischen den Christen und der politischen Ordnungsmacht Rom festschreibt: „non Romani habemur" - „wir [Christen] gelten als Nicht-Römer".70 3. Beide der oben erwähnten Vorwürfe werden schließlich von Tertullian zu einer Opposition zwischen „christianitas" auf der einen und einer auf die Stadt Rom bezogenen „romanitas"71 auf der anderen Seite zugespitzt und daraufhin in ihr Gegenteil verkehrt: Den Vorwurf der fehlenden Götterverehrung korrigiert Tertullian dahin gehend, daß die Christen zwar einen Gott verehrten, dieser jedoch in der Stadt Rom unbekannt und demnach ein „Gott der Nichtrömer" („deus non Romanorum") sei. 72 Der Begrenzung der,¿omana religio" auf die in der Stadt Rom selbst verehrten Götter steht auf christlicher Seite ein Gott gegenüber, der überall, nicht nur in Rom, sondern im gesamten römischen Reich verehrt wird: „Gut nur, daß er der Gott aller ist, dem wir - mögen wir wollen oder nicht - alle gehören." Mit Blick auf die Loyalität zum Kaiser argumentiert Tertullian ähnlich. Denn ausgerechnet die Bewohner der Stadt Rom, die Quiriten, zeichnen sich durch eine besondere Treulosigkeit gegenüber dem Kaiser aus, indem sie die herrschenden Kaiser verspotten und Usurpatoren unterstützen.73 Die Christen hingegen verehren den Kaiser „als den, den unser Herr erwählt hat, so daß ich mit Recht sagen könnte: Uns gehört der Kaiser eher an, von unserem Gott ist er eingesetzt."74 bare Bezogenheit der beiden .Straftatbestände' aufeinander wird neben den terminologischen Anklängen auch darin deutlich, daß das religiöse Vergehen des sacrilegium von den Göttern auf die Kaiser ausgedehnt und umgekehrt die Götter in Anlehnung an die Kaiser mit dem Begriff der maiestas belegt werden (vgl. apol. XXVIII3; XXXV 5): Beide Tatbestände sind gegeneinander austauschbar. 70 Tert., apol. XXIV 9: „laedimus Romanos nec Romani habemur"; XXXV 5: „nos nolunt Romanos haben, sed ut hostes principum Romanorum". 71 Der Begriff romanitas erscheint zwar nicht im „Apologeticum", sondern erstmals in pall. 4, 1 (205/211 verfaßt). Bezeichnend ist jedoch, daß es sich bei dieser Prägung ebenso wie bei der romana religio - um einen Neologismus Tertullians handelt: In beiden Fällen konstruiert Tertullian eine römische Identität durch begriffliche Neuschöpfungen. Daß die Vorstellung von einer romanitas bereits im „Apologeticum" gegeben war - auch wenn der Begriff selbst nicht auftaucht - kann demnach als wahrscheinlich gelten. 72 Tert., apol. XXIV 7-10. Das in diesem Zusammenhang vorgebrachte Argument, daß unterschiedliche Provinzen und Städte des römischen Reiches ohne Einschränkungen eigene Gottheiten verehren dürfen, die sich nicht in Rom finden, fußt auf Argumenten, die bereits in der griechischen Apologetik vorgetragen wurden (vgl. Heinze, Apologeticum [wie Anm. 66], 416f.). Tertullian nimmt jedoch eine entscheidende und originelle Wendung vor, indem er auf dieser Grundlage einen identitären Gegensatz konstruiert: Aus dem negativen Umstand, daß der christliche Gott nicht in Rom verehrt werde und kein Gott der Römer sei, zieht er den positiven Umkehrschluß, der christliche Gott sei demnach ein „Gott der Nicht-Römer" (non Romanorum deus). In gleicher Weise werden die Römer als non Christiani bezeichnet (apol. XXXV 9). 73 Tert., apol. XXXV 5-11. 74 Ebd. XXXIII1.
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Damit sind die Weichen für eine paradoxe Umwertung gestellt: „Wenn es sich nun so verhält, daß die als Feinde entlarvt werden, die man Römer nannte, warum werden dann wir, die wir als Feinde gelten, nicht als Römer anerkannt? Wir können nicht zugleich keine Römer sein und doch Feinde, da die als Feinde erfunden werden, die man für Römer ansah." 75 Das Ziel des Arguments ist klar: Die Christen erweisen sich als die wahren Römer - die Bewohner der Tiberstadt haben den Anspruch, sich Römer zu nennen, eingebüßt und an die Christen, deren Gott der Gott aller Bewohner des römischen Imperiums ist, abgegeben. Die Christen fungieren gleichsam als Erben der Römer - und dies ist durchaus wörtlich zu nehmen. Denn den Römern alter Zeit, dem mos maiorum und den exempla der alten römischen Geschichte bringt Tertullian eine erkennbare Wertschätzung entgegen: Er versagt der Opferbereitschaft eines Mucius Scaevola und Regulus seine Anerkennung nicht76, und ein ganzes Kapitel verwendet er darauf, Luxusgesetze, Standesvorschriften und Ehemoral der römischen Vorfahren zu loben und die spätere Vernachlässigung dieser alten Einrichtungen zu beklagen77. Darunter zählt Tertullian ausdrücklich auch den Eifer in der Verehrung der Götter, von dem die Nachfahren der alten Römer später abgewichen seien.78 Indem Tertullian diese vernachlässigte Tugend für die Christen reklamiert, deren Märtyrer den exempla der römischen Geschichte in nichts nachstehen79, stellt er sie in eine Kontinuitätslinie mit den maiores und untermauert auch dadurch ihren Anspruch, als die wahren Römer gelten zu können.80 Diese argumentative Strategie Tertullians kommt nahezu ohne Bezugnahmen auf Stellen aus der Heiligen Schrift aus. Von vereinzelten Ausnahmen abgesehen81, ist Tertullians gesamter Argumentationsgang von nicht-biblischen Voraussetzungen und Anschauungen geprägt. Tertullian argumentiert auf der Basis römischer Rechtsbegriffe und Normvorstellungen: Die Christen sind die besseren Römer und die Fortsetzer römischer Tradition - und gerade 75
Ebd. XXXVI 1. Ebd. L 5 f. und Hervé Inglebert, Les héros romains, les martyrs et les ascètes. Les virtutes et les préférences politiques chez les auteurs chrétiens latins du Ille au Ve siècle, in: REAug 40, 1994, 305-325, hier 308-310. 77 Tert., apol. VI. 78 Ebd. VI10. 79 Tertullian beschließt das „Apologeticum" mit einem Vergleich zwischen paganen exempla für Todesverachtung und den christlichen Märtyrern, die durch ihren Tod keinen geringeren Ruhm beanspruchen können (Tert., apol. L). Die dort von Tertullian angeführten Beispiele entstammen zwar nicht ausschließlich der römischen Geschichte; dennoch ist deutlich, daß Tertullian dem republikanischen Vergangenheitsraum Roms wesentliche Bedeutung für das Hervorbringen tugendhafter Beispiele zumißt. 80 In diesem Sinne auch Inglebert, Chrétiens (wie Anm. 27), 99 f. 81 So untermauert Tertullian die Loyalität der Christen gegenüber dem Kaiser durch das bekannte Zitat aus dem Timotheusbrief - „Betet für die Könige, Fürsten und Gewalten, damit ihr in allem Ruhe habt" (1 Tim 2, 1 f.; vgl. Tert., apol. XXXI 3). 76
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darin liegt die dezidiert politische Aussage, die in Tertullians Entwurf angelegt ist. Man hat dies in der Forschung mitunter dahin gehend gedeutet, daß Tertullian - gleichsam als ein Eusebius von Caesarea avant la lettre - eine Konversion der Kaiser zum Christentum und eine Christianisierung des römischen Reichs als politisches Idealziel vor Augen gehabt habe. 82 Diese Auffassung ist jedoch mit guten Gründen zurückgewiesen worden83, und die Rolle, die Tertullian der heilsgeschichtlichen Dimension der biblischen Schriften im Rahmen seiner Argumentation zuweist, ist geeignet, diese Skepsis zu stützen. Tertullian widmet den biblischen Schriften und deren Autorität einen eigenen Abschnitt innerhalb seines apologetischen Hauptwerks.84 Hier präsentiert er den in der griechischen Apologetik des 2. Jahrhunderts entwickelten Alters- und Prophetiebeweis in enger Anlehnung an die Argumente, die auch schon von den griechischen Apologeten des 2. Jahrhunderts ins Feld geführt wurden 85 : Zum einen können die biblischen Schriften auf ein höheres Alter zurückblicken als die griechische Dichtung, Philosophie und Gesetzgebung86; zum anderen stellen die Christen in Fortsetzung der Juden Gottes auserwähltes Volk dar, da sie die Prophezeiungen des Alten Testaments richtig gedeutet haben 87 . Charakteristisch ist, daß beiden Argumenten ein Bezug auf das römische Imperium und die Geschichte Roms fehlt. Die Bibel mochte immerhin verbürgen, daß die Wurzeln der christlichen Religion älter waren als die griechische Weisheit und daß die Christen in der Tradition des erwählten Volks der Juden standen, sie blieb jedoch ohne Bezug auf Rom und sein Imperium: Die biblische historia sacra und die römische Geschichte laufen im Altersund Prophetiebeweis als zwei getrennte Konzepte unverbunden nebeneinander her, ohne miteinander verzahnt zu sein oder in Beziehung zueinander zu stehen. Bei Tertullian wird diese innere Distanz partiell dadurch aufgehoben, daß er den biblizistischen Weissagungsbeweis auch auf seine eigene Gegenwart ausgedehnt hat. So erweist sich die prophetische Kraft der Heiligen Schriften darin, daß ihre Ankündigungen untrügliche Zeichen im gegenwärtigen Geschehen hinterlassen: Naturkatastrophen, Kriege, Seuchen, soziale Umwälzungen, moralischer und religiöser Verfall, der Verlust jeglicher Ordnung sind 82 So die These von Richard Klein, Tertullian und das römische Reich. Heidelberg 1968, bes. 35-48. Zuletzt erneut vertreten von Zilling, Tertullian (wie Anm. 12), 97 f., 146. 83 Evans, Problem (wie Anm. 24), 33; Fredouille, Tertullien (wie Anm. 14), 115 f. 84 Tert., apol. XVIII-XXI. 85 Zur Abhängigkeit Tertullians von Vorbildern aus der griechischen Apologetik vgl. Heinze, Apologeticum (wie Anm. 66), 378-387; Pilhofer, Presbyteron (wie Anm. 54), 275-278. 86 Tert., apol., XVIIIf. 87 Ebd. XX f. Die ausgedehnte Christologie in XXI ist Teil des Prophetiebeweises, da sich in Christus die prophetischen Weissagungen erfüllt haben.
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durch die Heiligen Schriften vorhergesagt. 8 8 D i e s e Krisenszenarien tragen eine unverkennbar eschatologische Dimension in sich, die aus einer früheren Fassung des Apologeticum,
die im sogenannten „fragmentum Fuldense" er-
halten geblieben ist 8 9 , noch deutlicher hervortritt. Dort bezeichnet Tertullian das krisenhafte biblizistische Geschehen als ein „tägliches Vergehen der ganzen Welt" („dispunctio cotidiana saeculi totius"). 9 0 Der biblizistische Prophetiebeweis erhält auf diese Weise eine spezifisch eschatologische Färbung 9 1 : D i e Erfüllung der biblischen Heilsgeschichte in der geschichtlichen Gegenwart des Imperium
Romanum
vollzieht sich als ein Vergehen der Welt und der
irdischen Geschichte überhaupt, die sich in Form eines „täglichen" Gerichtes Gottes über die Welt äußert. Tertullian geht damit zwar von Berührungspunkten zwischen der Heilsgeschichte und seiner Gegenwart aus, diese sind jedoch rein eschatologischer Natur: Das heilsgeschichtlich vorausgesagte Ende des saeculum,
das mit der ersten, apokalyptischen Ankunft Christi bereits ange-
brochen ist, wird in der Parusie Christi seine endgültige Vollendung finden; der dadurch eröffnete Zeithorizont ist der einer eschatologischen Zeit, in der sich auch Tertullian befindet und die er als ein andauerndes, .tägliches' Vergehen der Welt deutet. 9 2 D i e s e - nicht nur für Tertullian, sondern auch für die im 88
Tert., apol. XX 2-4. Das „fragmentum Fuldense" ist ein längerer Abschnitt, der nur in einer Fuldaer Handschrift des „Apologeticum" überliefert ist. Da der „Fuldensis" an zahlreichen weiteren Stellen von den übrigen Handschriften abweichende Lesarten bietet, wird er als eine erste Fassung des „Apologeticum" betrachtet (vgl. Becker, Apologeticum [wie Anm. 64], 107— 175; zum „fragmentum Fuldense" ebd. 149-162). 90 Tert., apol. XIX 7* („fragm. Fuldense"). Dispunctio - in der ursprünglichen Bedeutung .Überprüfung, Rechnungsbilanz' - wird von Tertullian in übertragenem Sinn verwendet und nimmt die Bedeutung, Abschluß, Schlußstrich, Ende' an. Vgl. die entsprechende Wendung dispunctio vitae in Tert., anim. XXXIII10 und test. anim. IV 1. Dispunctio saeculi ist demnach gleichbedeutend mit consummatio saeculi, das Tertullian in „de oratione" als Ausdruck für das Vergehen der Welt verwendet (vgl. Tert., orat. V 1). 91 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Tert., Scap. I 4 und III 2 f., wo Tertullian in ähnlicher Weise wie im „Apologeticum" gegenwärtige Ereignisse als Vorausverweise auf das göttliche Endgericht deutet und in einen biblizistisch begründeten heilsgeschichtlichen Kontext stellt, indem er sie mit biblischen Ereignissen wie der Sintflut vergleicht. Georg Schöllgen, „Tempus in collecto est". Tertullian, der frühe Montanismus und die Naherwartung ihrer Zeit, in: JbAC 27/28,1984/85,74-96, bes. 82-84, weist zu Recht darauf hin, daß die hier aufgeführten Stellen aus dem „Apologeticum" und „ad Scapulam" nicht als Belege für eine eschatologische Naherwartung Tertullians zu verstehen sind. Dennoch erhalten sie von der eschatologischen Dimension, auf das Ende der Welt zu verweisen, her ihren Sinn und ihre (Be-)Deutung; daß Tertullian dies nicht mit Vorstellung eines unmittelbar bevorstehenden apokalyptischen Weltendes verbunden hat, steht auf einem anderen Blatt. 92 Zu dieser erstmals von Irenäus von Lyon um 200 klar konzeptualisierten Heilsgeschichte vgl. Karl Strobel, Das Imperium Romanum im ,3. Jahrhundert'. Modell einer historischen Krise? Zur Frage mentaler Strukturen breiterer Bevölkerungsschichten in der Zeit von Marc Aurel bis zum Ausgang des 3. Jh. n. Chr. Stuttgart 1993, 109f. u. 88. Die prinzipielle Abgeschlossenheit der Heilsgeschichte mit Christus betont von Campenhausen, Entstehung (wie Anm. 59), 306; für Tertullian selbst vgl. Schöllgen, Tempus (wie Anm. 91), 86 f. Zur hier verwendeten Terminologie (Differenzierung zwischen dem apoka89
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folgenden vorgestellten Apologeten charakteristische - eschatologische Färbung ist demnach die konsequente Folge einer heilsgeschichtlichen Prämisse: Biblizistische, heilsgeschichtliche Verweise auf die zeitgenössische Gegenwart standen unter dem Vorbehalt der bereits begonnenen Vollendung der Zeiten. Die Geschichte des saeculum und die biblische historia sacra fanden nur unter den Vorzeichen ihres gemeinsamen Endes zueinander. Die eschatologische Färbung in Tertullians heilsgeschichtlichem Biblizismus nährt die Skepsis an einer Deutung, wonach Tertullian eine künftige Christianisierung des römischen Reichs vor Augen gehabt habe: Eine derartige innerweltliche Vollendung der Zeiten ist mit Tertullians Prämisse, die Heilsgeschichte habe in Christus bereits ihren Abschluß gefunden, und mit der dadurch bedingten Distanz zum saeculum unvereinbar. 93 Umgekehrt führte diese Voraussetzung jedoch nicht dazu, daß Tertullian eine gewaltsame Auflösung der politischen Ordnung unter apokalyptischen Vorzeichen propagiert hätte. Im Gegenteil: Tertullian hat im „Apologeticum" durch seine Gleichsetzung des römischen Reichs mit dem paulinischen katechon und die Versicherung, die Christen würden für den Bestand des Imperiums beten, um das Weltende herauszuzögern, dem Reich sogar eine Bedeutung innerhalb des göttlichen Heilsplans zugewiesen. 94 Dieses Verhältnis des römischen Reichs zur Heilsgeschichte thematisierte Tertullian jedoch bezeichnenderweise nicht im Kontext seiner Ausführungen zur prophetischen Kraft der biblischen Schriften, sondern erst an einer späteren Stelle des Werks und ohne einen expliziten Hinweis auf die Bibel. 95 Hatte Tertullian demnach die Heiligen Schriften als Garanten für das verkündete Ende der Welt in Anspruch genommen, relativierte er diese Sicht, sobald sich das saeculum politisch in Gestalt des Imperium Romanum konkretisierte: Neben einen eschatologischen Biblilyptischen Moment der Fleischwerdung Christi und der durch sie bedingten Öffnung der eschatologischen Zeit) vgl. - im Anschluß an Erik Peterson - Riccardo Panattoni, Ekklesia und Eschaton. Der Römerbrief und die Politische Theologie. München 2006, 16f. 93 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Tert., apol. XXI24: „et Caesares credidissent super Christo, si aut Caesares non essent necessarii saeculo aut si et Christiani potuissent esse Caesares" - „Auch die Kaiser hätten an Christus geglaubt, wenn die Kaiser nicht für die Welt nötig wären oder die Kaiser auch zugleich Christen hätten sein können." Das saeculum - und mit ihm das römische Imperium - können nicht christlich sein; die Christen sind keine Bürger dieser Welt (apol. I 2). 94 Tert., apol. XXXII 1; Tertullian nimmt damit als erster christlicher Autor eine Gleichsetzung des paulinischen xaxe%o\ aus 2 Thess 2, 6 f. mit dem römischen Reich vor (zuletzt Timpe, Geschichte [wie Anm. 38], 2001,85 f.). Zur affirmativen Haltung Tertullians gegenüber dem Imperium Romanum vgl. Fredouille, Tertullien (wie Anm. 14); Strobel, Krise (wie Anm. 92), 95-98. 95 Die Anspielung auf Rom als das paulinische x a t e x o v in apol. XXXII 1 steht nicht in Verbindung mit Tertullians Ausführungen zur geschichtstheologischen Bedeutung der Heiligen Schriften, die in apol. XVIII-XXI erfolgt; auch ist die biblische Fundierung auf 2 Thess 2 , 6 f. nicht als biblizistisch einzustufen, da sich Tertullian nicht explizit auf die Bibel beruft.
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zismus, der Tertullians Haltung zu Welt bestimmte, trat eine affirmative Haltung zur politischen Ordnung, die zwar biblisch fundiert war, jedoch nicht biblizistisch-heilsgeschichtlich argumentierte.96 Bilanzierend läßt sich festhalten, daß der Biblizismus in Tertullians „Apologeticum" ohne eine politische Dimension blieb. Der von Tertullian konstruierte identitäre Gegensatz zwischen Christen und Römern war zwar in höchstem Maße politisch, beruhte jedoch auf der Grundlage römischer Rechtsbegriffe und Normen. Umgekehrt knüpfte Tertullian an den biblizistischen Alters- und Prophetiebeweis keine Argumente, um eine Beziehung zwischen den biblischen Schriften und dem römischen Reich herzustellen. Dort, wo Tertullian sich an den Vorgaben der griechischen Apologeten orientierte, war eine derartige Verbindung von vornherein nicht gegeben. Doch auch Tertullians Deutung der eigenen Gegenwart als Zeichen einer biblisch vorausgesagten Erfüllung der Zeiten änderte daran wenig. In letzter Konsequenz blieb auch diese eschatologisch gefärbte Interpretation der biblischen Heilsgeschichte ohne eine innere Verbindung zur römischen Geschichte: Die Berufung auf die Bibel verbürgte für Tertullian das Ende der Welt, nicht aber das des römischen Reichs. Von Cyprian, der etwa eine Generation nach Tertullian als Bischof von Karthago die ersten reichsweiten Christenverfolgungen unter Decius und Valerian erlebte, ist nur ein einziges, zudem nicht sehr umfangreiches Werk erhalten, das eine apologetische Kommunikationssituation voraussetzt. Vermutlich zwischen 251 und 253 richtete Cyprian eine Schrift an einen nicht näher bekannten Demetrianus97, um Vorwürfen zu begegnen, die Christen seien für die allgemeine Krisensituation verantwortlich, die zu Beginn der 250er Jahre Nordafrika erschütterte. Der Bischof von Karthago wendete den Vorwurf, die angespannte Lage sei auf die Weigerung der Christen, die paganen Götter zu verehren, zurückzuführen, um, indem er Demetrianus vorhielt, es sei vielmehr der Zorn des christlichen Gottes über das Verhalten der Heiden, der zu der gegenwärtigen Lage geführt habe.
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Unter geschichtstheologischen Vorzeichen lassen sich diese beiden Positionen in der Weise miteinander verbinden, daß die durch die erste Ankunft Christi eingeleiteten letzten Zeiten noch nicht zur Vollendung gelangt sind und bis zur Wiederkehr Christi ein heilsgeschichtliches spatium eröffnen, das es ermöglicht, eine Abwendung vom saeculum zu vollziehen. Indem Tertullian den Bestand der politischen Ordnung und der Welt erhoffte, schwebte ihm demnach zwar keine Christianisierung dieser Welt und des Imperiums, wohl aber eine Ausbreitung des christlichen Glaubens vor, die durch den Fortbestand des römischen Reichs gesichert wurde (in diesem Sinne auch Fredouille, Tertullien [wie Anm. 14]). 97
Über den Adressaten ist nicht mehr bekannt, als daß Cyprian sich bereits vor dem Verfassen seiner Schrift mehrfach mit ihm auseinandergesetzt hat (Cypr., Demetr. I); vgl. die kommentierte Ausgabe von Jean-Claude Fredouille, Cyprien de Carthage, A Démétrien. (Sources chrétiennes, 467.) Paris 2003, 18 mit Anm. 1; zur Datierung s. ebd. 13-15.
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Ähnlich wie Tertullian in seiner Zeit Krisenphänomene diagnostizierte, die er unter Verweis auf die Bibel als ein tägliches Vergehen der Welt deutete, assoziierte auch Cyprian die sich mehrenden Übel und die Strenge des zürnenden Gottes mit den letzten Zeiten, die durch die biblischen Schriften vorhergesagt waren: „Wenn nun aber immer häufiger Krieg auf Krieg folgt, wenn Mißwachs und Hungersnot die Besorgnis erhöhen, wenn die Gesundheit durch grassierende Krankheiten zerstört und wenn das Menschengeschlecht durch die Verheerung der Pest vernichtet wird, so wisse: auch das ist vorausgesagt, daß in den letzten Zeiten die Übel sich mehren und mannigfaches Unheil hereinbricht und daß nunmehr, wo der Tag des Gerichts schon näher kommt, die Strenge des zürnenden Gottes mehr und mehr zu Heimsuchungen des Menschengeschlechts entflammt wird." 98 Die Vorhersage des göttlichen Zorns durch die Heiligen Schriften", das ausgiebige Zitieren aus der Bibel 100 und der wiederholte Verweis auf das bevorstehende Ende der Welt, der das gesamte Werk wie ein Grundton durchzieht, verbinden sich zu einer konsistenten Denkfigur, in der die biblischen Schriften als Garanten des kommenden Weltendes erscheinen. Cyprians Verweise auf die Bibel erschöpften sich in dieser einseitigen Indienstnahme der prophetisch-heilsgeschichtlichen Dimension der Heiligen Schriften: Sein Biblizismus diente dazu, die gegenwärtige Krise des saeculum in eine endzeitliche Perspektive zu stellen. In welchem Maße es sich dabei um eine rhetorische Strategie handelte, die nicht von einer realen Endzeiterwartung Cyprians zeugt 101 , ist für die Frage nach der Argumentationsfigur als solcher nebensächlich. Entscheidend ist vielmehr, daß Cyprian die bereits bei Tertullian erkennbaren Ansätze eines eschatologisch gefärbten Biblizismus aufnahm und weiterentwickelte, indem er ihn zum bestimmenden Gegenstand seiner Argumentation machte 102 : Während in Tertullians „Apologeticum" dieser Biblizismus nur vergleichsweise geringen Raum eingenommen und dem im Kontext der gesamten Schrift untergeordneten Argumentationsziel gedient hatte, die Autorität der biblischen Schriften zu erweisen, bildete der durch die Heiligen Schriften bezeugte Verfall der Welt in „ad Demetrianum" das zentrale Thema. 98
Cypr., Demetr. V 1: „quod autem crebrius bella continuant, quod sterilitas et fames sollicitudinem cumulant, quod saevientibus morbis valitudo frangitur, quod humanuni genus luis populatione vastatur, et hoc scias esse praedictum: in novissimis temporibus multiplicari mala et adversa variari et appropinquante iam iudicii die magis ac magis in piagas generis humani censuram Dei indignantis accendi". 99 Vgl. Cypr., Demetr. III 1; XXI. 100 Zusammenstellung der Testimonien bei Fredouille, Cyprien (wie Anm. 97), 215 f. 101 S o übereinstimmend Strobel, Krise (wie Anm. 92), 151-167; Christof Schuler, Cyprian: Der christliche Blick auf die Zeitgeschichte, in: Martin Zimmermann (Hrsg.), Geschichtsschreibung und politischer Wandel im 3. Jh. n. Chr. Stuttgart 1999, 183-202, hier 194-197. 102 Zur Verbindung zwischen Tert., apol. X X 2 - 4 und Cyprians „ad Demetrianum" s. zuletzt auch Fredouille, Cyprien (wie Anm. 97), 43.
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Diese apologetische Tradition, in der Cyprian stand, erklärt zumindest teilweise auch den auf den ersten Blick befremdlichen Umstand, daß Cyprian in einer apologetischen Schrift wie „ad Demetrianum" die Ankündigung eines göttlichen Strafgerichts über die Welt mit so ausgiebigen Zitaten aus der Bibel belegte. Wie oben ausgeführt, war das Zitieren der biblischen Schriften keine übliche apologetische Strategie, und Lactanz hat genau diesen Umstand ein halbes Jahrhundert später moniert, indem er Cyprian vorhielt, Demetrianus „hätte nicht durch die Zeugnisse der Schrift, die er für nichtig, erdichtet und lügnerisch hielt, sondern durch Argumente und Logik zurückgewiesen werden müssen". 103 Grundsätzlich bediente sich Cyprian damit jedoch derselben Argumentationsstrategie, die auch für Tertullians Verweis auf die biblischen Schriften kennzeichnend war: Das Eintreten der biblischen Prophezeiungen und Weissagungen verbürgte die Autorität und den Offenbarungsgehalt der biblischen Schriften. 104 Der Unterschied besteht darin, daß Cyprian sich nicht mit einem allgemeinen Verweis auf die prophetische Kraft der Heiligen Schriften begnügte, sondern durch konkrete Zitate aus der Bibel unter Beweis stellte, daß die Krise der Gegenwart in den Heiligen Schriften der Christen, die auf das Ende der Welt verwiesen, bereits vorausgesagt war. Damit allein läßt sich der ausgeprägte Biblizismus in Cyprians Schrift an Demetrianus allerdings nicht erklären. Man muß ferner berücksichtigen, daß Cyprian auch in seinen sonstigen Schriften eine konsequente Fundierung auf die biblischen Schriften und exempla und eine dezidierte Abwendung von der klassischen Bildungsliteratur an den Tag legte105 und daß dieser Biblizismus eine stark eschatologische Färbung aufwies: Der biblisch gestützte Verweis auf die letzten Zeiten bildete ein gleichbleibendes Thema, das an den unterschiedlichen Stellen von Cyprians Werk immer wieder bemüht wurde, um die Abwendung vom saeculum zu propagieren.106 Der Biblizismus hatte für Cyprian offenkundig eine so fundierende Bedeutung, daß die üblichen ,Regeln' apologeti103
Lact., inst. V 4, 3f.; vgl. auch V 1 24-27. Aufgegriffen von Hier., epist. LXX 3. 104 vgl. auch Eberhard Heck, MH 0EOMAXEIN oder: Die Bestrafung des Gottesverächters. Untersuchungen zu Bekämpfung und Aneignung römischer religio bei Tertullian, Cyprian und Lactanz. Frankfurt am Main 1987, 183-185; ähnlich Schuler, Cyprian (wie Anm. 101), 199; Fredouille, Cyprien (wie Anm. 97), 39f. 105 Zur Ausblendung klassischer Bildungsautoren im Werk Cyprians vgl. Schuler (wie Anm. 101), 197; zur Verwendung nahezu ausschließlich biblischer exempla vgl. Mary L. Carlson, Pagan Examples of Fortitude in the Latin Christian Apologists, in: CP 43, 1948, 93-104, hier 94. In „ad Demetrianum" nimmt Cyprian zwar mit der senectus mundi auf ein in der Literatur und Populärphilosophie allgemein verbreitetes Dekadenzmodell Bezug, das auch von Nichtchristen geteilt wurde (vgl. Fredouille, Cyprien [wie Anm. 97], 35 f.); dennoch ist signifikant, daß Cyprian sich nicht explizit auf die Autorität paganer Autoren beruft (unterschätzt von Strobel, Krise [wie Anm. 92], 172f.). 106 Zum Alter der Welt vgl. Fredouille, Cyprien (wie Anm. 97), 31-33; Strobel, Krise (wie Anm. 92), 150 f., spricht zutreffend von einer ,,eschatologische[n] Grundorientierung [...], die für Cyprian seit seiner Konversion zum Christentum im Mittelpunkt seines theologischen Denkens und seines Weltverständnisses stand".
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scher Argumentation außer Kraft gesetzt wurden 107 ; die ausführlichen Schriftzitate in „ad Demetrianum" sind demnach Ausdruck einer sehr spezifischen Disposition, die sich nur zum Teil aus den traditionellen Techniken apologetischer Argumentation heraus erklären läßt und Cyprian zu einem Sonderfall innerhalb der lateinischen Apologetik macht. Kennzeichnend für Cyprians biblizistischen Endzeitdiskurs ist, daß er zwar die Gegenwart des römischen Imperiums um die Mitte des 3. Jahrhunderts n. Chr. betraf, eine politische Ausrichtung jedoch vermissen läßt. Anders als Tertullian, der seine apologetische Argumentation politisch aufbaute und sich veranlaßt sah, durch die Gleichsetzung Roms mit dem paulinischen katechon eine heilsgeschichtliche Verortung des römischen Reichs vorzunehmen, hat Cyprian eine derartige Standortbestimmung des Reichs nicht angestrebt: Bezugnahmen auf das Imperium Romanum als politische Ordnung spielen in seinen Schriften insgesamt praktisch keine Rolle. 108 Auch die Abgrenzung einer christlichen Identität innerhalb des gesellschaftlichen Umfelds trat vor dem Bemühen in den Hintergrund, die Grenzen zum saeculum innerhalb der gemeindlichen Institutionen und der Kirchenordnung herauszuarbeiten. Das saeculum war für Cyprian keine primär politisch-gesellschaftlich definierte Größe, sondern wesentlich bestimmt durch seine Aufgabe als bischöflicher Gemeindeleiter: Fragen der kirchlichen Hierarchie und Organisation, der Disziplinierung der Gemeindemitglieder und der innerkirchlichen Auseinandersetzungen mit Schismatikern waren die Materien, zu denen sich Cyprian mit ausgeprägt biblizistischer Diktion äußerte. 109 Aus dieser Position als Bischof heraus hat Cyprian die von ihm propagierte Abwendung vom saeculum nicht in einer politischen Richtung gesucht - weder in seinem singulären apologetischen Werk, noch in den an die Gemeinde und ein christliches Publikum gerichteten Schriften. Tertullian hatte in seinem „Apologeticum" dem römischen Imperium eine positive heilsgeschichtliche Rolle zugewiesen, es jedoch nicht in Beziehung 107 Es ist durchaus bezeichnend, daß „ad Demetrianum" die einzige apologetische Schrift aus der Feder Cyprians geblieben ist (die Frühschrift „ad Donatum", verfaßt unmittelbar nach Cyprians Konversion um 245, richtete sich an einen Mitchristen und ist nicht als apologetische Schrift im engeren Sinne anzusehen; vgl. Henneke Gülzow u.a., Caecilius Cyprianus, in: Herzog/Schmidt [Hrsg.], Handbuch [wie Anm. 18], Bd. 4, 5 3 2 - 5 7 5 , hier 554): Das der apologetischen Argumentation eigentümliche Eingehen auf säkulare, profane Bildungsvoraussetzungen widersprach Cyprians Prinzipien intellektueller Orientierung in grundlegender Weise. 108 v g l . auch Schuler, Cyprian (wie Anm. 101), 191 f. 109 Zur Rolle des eschatologischen Biblizismus im Umgang mit lapsi und Schismatikern vgl. Strobel, Krise (wie Anm. 92), 151-165; auch Cyprians Äußerungen zur Gemeindeorganisation (Trennung Kleriker - Laien; kirchliche Abgaben) sind ausgeprägt biblizistisch, vgl. dazu Emst Dassmann, Die Bedeutung des Alten Testamentes für das Verständnis des kirchlichen Amtes in der friihpatristischen Theologie, in: ders. (Hrsg.), Ämter und Dienste in den frühchristlichen Gemeinden. Bonn 1994, 9 6 - 1 1 3 , hier 108-111.
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zu einem eschatologisch gefärbten Biblizismus gesetzt, der in enger Anlehnung an den biblischen Alters- und Prophetiebeweis als ein eher konventionelles Argument aus der Tradition der griechischen Apologetik .mitgeschleppt' wurde und im Rahmen von Tertullians Argumentation keine wesentliche Rolle spielte. Diesen eschatologischen Biblizismus wiederum hatte Cyprian stark akzentuiert, ohne jedoch die Vorzeichen eines Vergehens dieser Welt auf das Imperium Romanum als politische Ordnung zu beziehen. Eine Verbindung beider Positionen - eines ausgeprägten eschatologischen Biblizismus und der Einbeziehung Roms als politischem Ordnungsfaktor in die Heilsgeschichte - findet sich bei Lactanz, der sein großes apologetisches Werk, die sieben Bücher umfassenden „divinae institutiones", in der Zeit zwischen 305 und 313 verfaßte. Seiner ausdrücklichen Zielsetzung entsprechend, die Darstellung wesentlich auf den Voraussetzungen der antiken Philosophie und Dichtung und ohne Rückgriff auf die Zeugnisse der biblischen Schriften bestreiten zu wollen110, beschränken sich die expliziten Bibelzitate auf das 4. und 7. Buch. In diesen Büchern kam Lactanz nach eigenem Bekunden ohne eine Bezugnahme auf die Heilige Schrift nicht aus, da hier mit der Christologie und der Eschatologie Gegenstände der historia sacra berührt wurden.111 Für das Verhältnis von historia sacra und römischer Geschichte sind vor allem die eschatologischen Ausführungen des 7. Buches von Interesse. Lactanz wußte zwar, daß rechnerisch die Zeit der letzten Tage noch nicht gekommen war: Er richtete sich nach einem üblichen chiliastischen Modell, wonach die Parusie Christi und das Anbrechen der letzten tausend Jahre erst 6000 Jahre nach der Erschaffung der Welt zu erwarten waren, und von diesem Zeitpunkt war Lactanz nach den gängigen Berechnungen der christlichen Chronologie zu seiner Zeit noch etwa 200 Jahre entfernt. 112 Für Lactanz war dies jedoch offensichtlich nicht eine Frage kühler Arithmetik. Ebenso wie Cyprian sah auch Lactanz bereits in der Gegenwart die Vorboten der letzten Zeiten am Werk: Die Welt war alt geworden und die Propheten verkündeten ihr nahes Ende. 113 110
Lact., inst. 15, l f . ; V 4 , 6. Vgl. die entsprechenden Bemerkungen von Lact., inst. IV 5, 3; VII1, 5, leicht modifiziert durch VII14, 5-17. 112 Lact., inst. VII 14, 7-11 (tausendjähriges Reich nach 6000 Jahren), VII 25, 3 - 5 (noch etwa 200 Jahre bis zum Ablauf der 6000 Jahre). Zu den Berechnungen des Lactanz im Kontext der eschatologischer Entwürfe des 4. Jahrhunderts vgl. Bernhard Kötting, Endzeitprognosen zwischen Lactantius und Augustinus, in: Historisches Jahrbuch 77, 1958, 125-139, bes. 129 f. 113 Lact., inst. VII14, 16: „Sed et saecularium prophetarum congruentes cum caelestibus voces finem rerum et occasum post breve tempus adnuntiant, describentes quasi fatigati et dilabentis mundi ultimam senectutem" - „Doch auch die Stimmen der weltlichen Propheten stimmen mit den göttlichen (Propheten) überein: Sie künden an, das Ende und der Untergang der Dinge werde nach kurzer Zeit eintreten, indem sie den äußersten Rand des Alters einer gleichsam erschöpften und vergehenden Welt beschreiben." Das hier ange111
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Wie bei Tertullian und vor allem Cyprian tritt somit auch in Lactanz' Apologetik ein stark ausgeprägter eschatologischer Biblizismus in Erscheinung. Im Unterschied zu Cyprian, für den das römische Imperium als politische Größe faktisch nicht existierte, hat Lactanz jedoch das römische Reich in seine Konzeption der Geschichte des saeculum mit einbezogen. Die romfeindlichen „Oracula Sibyllina", denen Lactanz dieselbe Autorität wie den biblischen Schriften zumaß114, lieferten ihm reiches Material, um den durch die Heiligen Schriften angekündigten Untergang der Welt zugleich auch als den Untergang des römischen Reiches zu deuten.115 Lactanz hat daraus freilich eine andere Schlußfolgerung gezogen als seine sibyllinischen Quellen und deren romfeindliche Tendenz in ihr Gegenteil verkehrt: Obwohl das Weltende unmittelbar bevorstand, war es das römische Imperium, das dieses Ende noch zurückhielt; Rom war die „civitas, quae adhuc sustentat omnia"116. Diese positive Einstellung zum römischen Imperium war bereits bei Tertullian angeklungen. Sie wurde von Lactanz jedoch nun auch in eine unmittelbare Beziehung zur biblizistischen historia sacra gesetzt 117 , während Tertullians Gleichsetzung Roms mit dem paulinischen katechon nicht im Kontext seiner Bemerkungen zur biblizistischen Heilsgeschichte gestanden hatte. Wie bei Tertullian und Cyprian stand auch bei Lactanz der Verweis auf die biblischen Schriften grundlegend unter apologetischen Vorzeichen: Niemand, so Lactanz, solle der christlichen Religion Glauben schenken, wenn es ihm sprochene Zeugnis der heidnischen Propheten bezieht sich auf die Sibyllen. Zur beschworenen Nähe des Weltendes vgl. auch Lact., inst. VII15, 7. 17. 114 Lactanz stellt die Sibyllen auf eine Stufe mit den biblischen Schriften, die ihm beide als göttlich inspirierte testimonia divina gelten, im Unterschied zu den testimonia humana der paganen Dichter und Philosophen, denen er nur einen eingeschränkten Zeugniswert für die Wahrheit zumißt (vgl. Vinzenz Buchheit, Göttlicher Heilsplan in der lateinischen Apologetik, in: Wilhelm Blümer u. a. [Hrsg.], Alvarium. Festschrift für Christian Gnilka. Münster 2002, 109-118, hier 113-116). 1,5 Die gesamten Ausführungen zur Eschatologie in Lact., inst. VII 15-26 sind durchzogen von Anspielungen auf die sibyllinischen Orakel; vgl. den Testimonienapparat der Ausgabe von Brandt (CSEL 19). Explizite Verweise und Zitate finden sich z.B. in Lact., inst. VII16,11 (Orac. Sib. VIII239); 16,13 (Orac. Sib. VII123); 18,6 (Orac. Sib. V 107-110); 18, 7 (Orac. Sib. III 652f.); 18, 8 (Orac. Sib. VIII 326-328) u. ö. 116 Lact., inst. VII 25, 6-8: „etiam res ipsa declarat lapsum ruinamque rerum brevi fore, nisi quod incolumi urbe Roma nihil istius videtur esse metuendum. At vero cum caput illut orbis occiderit et QI3|IT) esse coeperit, quod Sibyllae fore aiunt, quis dubitet venisse iam finem rebus humanis orbique terrarum? illa est civitas quae adhuc sustentat omnia [...]". Zu Lactanz' romfreundlicher Haltung, die hinter dieser Bemerkung steht, vgl. Oliver Nicholson, Civitas quae adhuc sustentat omnia: Lactantius and the City of Rome, in: William E. Klingshirn/Mark Vessey (Eds.), The Limits of Ancient Christianity. Essays on Late Antique Thought and Culture in Honor of R. A. Markus. Ann Arbor 1999, 7-25. 117 Lactanz beruft sich - anders als Tertullian - für diese Deutung Roms als aufhaltende Macht nicht auf ein biblisches Testimonium, sondern auf die sibyllinischen Orakel; da er ihnen jedoch denselben Offenbarungswert zuschreibt wie den biblischen Schriften, ist es konsequent, sie mit Blick auf das Darstellungsziel (Darlegung der Eschatologie aus heilsgeschichtlichen Quellen) ebenfalls als biblizistisch einzustufen.
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nicht zu zeigen gelinge, daß sich erfüllt habe, was die Propheten bereits vor langer Zeit vorhergesagt hatten.118 Bei allen drei Apologeten ist somit eine einheitliche Grundauffassung in der argumentativen Bezugnahme auf die Bibel erkennbar, die entlang der Linie des traditionellen apologetischen Weissagungsbeweises verläuft: Das Eintreten der biblisch angekündigten Heilsgeschichte wurde zum Argument für die Wahrheit der Schriften und damit des christlichen Glaubens. Auf der Basis dieser Argumentationsstrategie ließen sich nur schwer Anhaltspunkte für eine konstruktive Verbindung zwischen biblizistischer Heilsgeschichte und zeitgenössischer politischer Ordnung gewinnen. Biblisch begründete Verweise auf die Gegenwart standen unter dem Vorbehalt, daß in ihr die Zeichen für die Vollendung der letzten Zeiten und das Vergehen der diesseitigen Welt Gestalt gewannen. Wer nicht einer apokalyptischen Naherwartung zuneigte, mußte sich schwer damit tun, diese eschatologische biblizistische Sprache und politische Ordnungsvorstellungen in eine Relation zueinander zu bringen: Tertullian diskutierte das Verhältnis der Christen zum Staat auf rein römischen Voraussetzungen und trug seine Andeutungen zur heilsgeschichtlichen Rolle des Imperium Romanum bezeichnenderweise nicht im Kontext seiner biblizistischen Ausführungen vor; Cyprian verzichtete gänzlich darauf, die Rolle Roms innerhalb des saeculum zu präzisieren; Lactanz gab den romfeindlichen und apokalyptischen Sibyllen eine unerwartete Wendung, um seine affirmative Haltung zum römischen Reich aufrechterhalten zu können. Paradoxerweise ist jedoch ausgerechnet dieser eschatologisch gefärbte Biblizismus zum Ausgangspunkt für eine enge und positive Verknüpfung zwischen biblischer historia sacra und römischer Geschichte geworden. Historisch bedingt wurde diese Entwicklung durch die konstantinische Wende, der die bis dahin schwersten Christenverfolgungen unter der ersten und zweiten Tetrarchie unmittelbar vorausgegangen waren. Offenkundig haben die tetrarchischen Verfolgungen die mentale Disposition, in der eigenen Gegenwart Zeichen für das nahende Weltende zu erkennen, stark beeinflußt.119 Die Ereignisse der Jahre bis zum Sommer 313, als mit dem Tod des Maximinus Daia die Christenverfolgungen ihr Ende gefunden hatten, erzeugten eine Atmosphäre, die für eine religiöse Deutung unter biblizistisch-eschatologischen Gesichtspunkten günstig gewesen sein müssen. Bei Lactanz wird dies darin deutlich, daß er selbst noch aus einer rückschauenden Beurteilung heraus eine biblizistisch-eschatologische Sprache verwendet hat, um die Zeit der Verfol118
Lact., inst. IV 10, 2-4. Zur prinzipiellen Problematik, die in christlichen Quellen des 2. und 3. Jahrhunderts über weite Strecken präsente Endzeiterwartung mit konkreten historischen Krisen zu korrelieren, vgl. Strobel, Krise (wie Anm. 92), bes. 128-133. Dennoch dürfte in umgekehrter Schlußfolgerung unbestreitbar sein, daß zugespitzte krisenhafte Ereignisse wie Verfolgungen in dieser Hinsicht nicht ohne Auswirkungen geblieben sind. 119
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gungen als letzte Zeit zu charakterisieren: In seiner bald nach d e m Ende der Verfolgungen verfaßten Schrift über die Todesarten der Verfolger („de mortibus persecutorum") hat Lactanz die berühmte Vision Konstantins vor der Schlacht an der Milvischen Brücke mit einer auf die Parusie Christi bezogenen Bibelstelle verbunden 1 2 0 ; auf das Jüngste Gericht bezogene biblische Voraussagen über das Ende der Christenverfolger, die Lactanz während der Verfolgungen in den „divinae institutiones" entwickelt hatte, erscheinen unverändert auch in der Schrift über die Todesarten der Verfolger, um Gott für ihren Untergang zu danken. 1 2 1 Lactanz lebte zwar lange genug, um zu erkennen, daß mit den tetrarchischen Verfolgungen das Ende der Welt und der Geschichte nicht g e k o m m e n war; die in der Zeit der Verfolgungen geprägten biblizistischen Verweise auf das Ende der Welt blieben jedoch über das Ende der Verfolgungen hinaus lebendig. Etwa zur selben Zeit, in der Lactanz seine Schrift „de mortibus persecutorum" verfaßte, veröffentlichte Eusebius von Caesarea seine Kirchengeschichte ( 3 1 3 / 1 4 ) 1 2 2 , deren ursprüngliche Konzeption noch unter dem Eindruck der diokletianischen Verfolgung entstanden war 1 2 3 . Es überrascht daher nicht, daß Eusebius in ähnlicher Weise w i e Lactanz die Sprache eines eschatologischen Biblizismus bemüht hat, um den drastischen, endzeitlichen Charakter der Verfolgungen herauszustellen. 1 2 4 Bei Eusebius jedoch ist dieser Bi120
Vgl. Oliver Nicholson, Constantine's Vision of the Cross, in: VigChrist 54, 2000, 309323. 121 Vgl. Lact., inst. V 23, 3 mit mort. pers. LH 2. 122 Zu der vieldiskutierten Frage der unterschiedlichen Editionen von Eusebius' „Kirchengeschichte" vgl. zuletzt Timothy D. Barnes, The Editions of Eusebius' Ecclesiastical History, in: GRBS 21, 1980, 191-201; Andrew Louth, The Date of Eusebius' Historia Ecclesiastica, in: JTS NS. 41,1990, 111-123; Richard W. Burgess, The Dates and Editions of Eusebius' Chronici canones and Historia ecclesiastica, in: JTS NS. 48, 1997, 471-504. Als gesichert kann gelten, daß Eusebius 313/14 eine Fassung der „Kirchengeschichte" veröffentlichte, die bis zum Ende von Buch IX reichte. Das Gros der Forschung faßt diese Version als eine zweite bzw. dritte Ausgabe früherer Fassungen auf, die in die Zeit vor 303 oder in das Jahr 311 datiert werden. Anders mit überzeugenden Argumenten Louth, Date, und Burgess, Dates, bes. 483 f., 497-501, die die Ausgabe von 313/14 für die erste Edition von Eusebius' Kirchengeschichte halten. 123 So Burgess, Dates (wie Anm. 122), bes. 496f. Anders Dieter Timpe, Was ist Kirchengeschichte? Zum Gattungscharakter der Historia Ecclesiastica des Eusebius, in: Werner Dahlheim u.a. (Hrsg.), Festschrift Robert Werner zu seinem 65. Geburtstag. Konstanz 1989, 171-204, hier 173-175, der von der Abfassung einer ersten Ausgabe der „Kirchengeschichte" bereits vor 303 ausgeht und der diokletianischen Verfolgung keine Bedeutung für die Geschichtskonzeption der eusebianischen „Kirchengeschichte" beimißt. 124 Vgl. u.a. Eus., h.e. VIII 1, 8f.; 2, 1. Hinzu kommt, daß Eusebius ab dem 8. Buch der Kirchengeschichte, wo er auf die Zeit seit dem Ausbruch der diokletianischen Verfolgungen zu sprechen kommt, zahlreiche neutestamentliche Schlüsselbegriffe verwendet, die eine eschatologische Dimension haben; zu der dadurch signalisierten „réalisation de l'eschatologie" in Eusebius' Gegenwart vgl. François Bovon, L'Histoire Ecclésiastique d'Eusèbe de Césarée et l'histoire du salut, in: Felix Christ (Hrsg.), Oikonomia. Heilsgeschichte als Thema der Theologie. Hamburg 1967, 129-139, hier 137 f.
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blizismus zum Ausgangspunkt für eine politische Theologie geworden, die eine innerweltliche Verbindung von römischer Geschichte und christlicher Heilsgeschichte begründete. In seiner Darstellung der Schlacht an der Milvischen Brücke stellte Eusebius die Niederlage des als Christenverfolger verunglimpften Maxentius als den Untergang des Pharao im Roten Meer dar und stilisierte Konstantin als einen neuen Moses. 125 Mit dem Zug des Moses durch das Meer griff Eusebius in seiner Kirchengeschichte auf eine biblische praesignificatio zurück, die das Ende der Zeiten und die Befreiung des Gottesvolkes von der Tyrannei der Christenverfolger bezeichnete.126 Bekanntlich ist Eusebius jedoch nicht bei diesem vereinzelten Vergleich in seiner Kirchengeschichte stehengeblieben. Die erstmals im Kontext eines eschatologischen Biblizismus formulierte Mosestypologie entwickelte sich in der weiteren Folge zu einem zentralen Pfeiler der eusebianischen Herrschertheologie127, dem weitere typologische Bezüge zwischen den biblischen Schriften und dem Kaiser Konstantin zur Seite traten. Eusebius entwarf eine politische Theologie, in deren Zentrum der herrschende Kaiser Konstantin als ein Heilsbringer von biblischem Format stand: Konstantins Person und Taten wurden in Analogie zu den göttlichen Heilstaten in der Bibel gesetzt; die konstantinische Zeit tendierte dazu, eine Fortsetzung der biblischen Geschichte mit eigener heilsgeschichtlicher Qualität zu werden. 128 Die Ursprünge und Entwicklung dieser politischen Theologie des Eusebius von Caesarea nachzuzeichnen, wäre eine eigene Aufgabe. In der Frage nach ihren Entstehungsbedingungen und intellektuellen Voraussetzungen wird man jedoch - stärker als bisher üblich - nicht allein auf die Tradition einer wesentlich von Origenes begründeten Konvergenz von römischem Imperium und christlicher Kirche verweisen.129 Vielmehr dürfte auch bei dem Origenisten 12
5 Eus., h.e. IX 9, 5-8. Lact., inst. VII 15,4. 127 Vgl. Claudia Rapp, Comparison, Paradigm and the Case of Moses in Panegyric and Hagiography, in: Mary Whitby (Ed.), The Propaganda of Power. The Role of Panegyric in Late Antiquity. Leiden u.a. 1998, 277-298, hier 292-295, wo allerdings die Genese der Mosestypologie im Werk des Eusebius nicht hinreichend berücksichtigt wird. Zur typologischen Beziehung zwischen Moses und Konstantin vgl. ferner den Beitrag von Bernd lsele in diesem Band. 128 Vgl. Hendrik Berkhof, Die Theologie des Eusebius von Caesarea. Amsterdam 1939, 55 f.; Gerhard Ruhbach, Die politische Theologie Eusebius' von Caesarea, in: Ruhbach (Hrsg.), Kirche (wie Anm. 3), 236-258, hier 249. Zur Tendenz der eusebianischen Theologie, die Reichsgeschichte als eine Fortsetzung der biblischen Geschichte mit heilsgeschichtlichem Offenbarungscharakter aufzufassen und damit in die Nähe einer .heilsgeschichtlichen Häresie' zu geraten, vgl. von Campenhausen, Entstehung (wie Anm. 59), 308 f. 129 Zu dieser Verbindungslinie und der Entwicklung einer politischen Theologie, in der der christliche Monotheismus und die Monarchie des römischen Imperiums unmittelbar aufeinander bezogen sind, vgl. die klassische Studie von Erik Peterson, Der Monotheismus als politisches Problem. Ein Beitrag zur Geschichte der politischen Theologie im Imperium 126
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Eusebius dem eschatologischen Biblizismus eine wichtige Bedeutung zuzumessen sein. 130 Er lieferte nicht nur den Ausgangspunkt für die in Eusebius' Spätschriften charakteristische Tendenz, die Person des Kaisers Konstantin und die biblische Geschichte durch typologische Beziehungen und prophetische Weissagungen miteinander zu verknüpfen.131 Auch die Deutung profangeschichtlicher Entwicklungen als biblisch vorausverkündete Heilsgeschichte wurde bei Eusebius zunächst unter den Vorzeichen eines eschatologischen Biblizismus vollzogen, bevor Eusebius in den Schriften, die nach der Kirchengeschichte entstanden, die heilsgeschichtliche Rolle des Imperium Romanum und den Zusammenfall der augusteischen Reichsbildung mit der Geburt Christi in Beziehung zu biblischen Prophezeiungen und Voraussagen setzte 132 : Auch bei Eusebius fanden historia sacra und römische Geschichte zunächst nur unter den Vorzeichen ihres gemeinsamen Endes zueinander. Die beiden zentralen Charakteristika von Eusebius' politischer Theologie gründeten demnach in einem eschatologischen Biblizismus, der in der Apologetik vor Eusebius nur Zeichen für das Ende des saeculum und seine politische Ordnung lieferte, sich jedoch unter Eusebius' Händen zum wirkungsvollen Ansatz für eine affirmative Verbindung von biblizistischer historia sacra und römischer Geschichte wandelte.
Romanum. Leipzig 1935, 65-82; Timpe, Kirchengeschichte (wie Anm. 123), 180f.; Friedhelm Winkelmann, Eusebius v. Kaisareia. Der Vater der Kirchengeschichte. Berlin 1991, 138-141. 130 Vermittelt wurde er Eusebius über die Tradition der christlichen Chronistik, in der apologetische Geschichtskonzeptionen eine zentrale Rolle spielten. Dazu und zu der im Unterschied dazu tendenziellen Geschichtslosigkeit der origenistischen Emanationstheologie vgl. Berkhof\ Theologie (wie Anm. 128), 31 f.; Timpe, Kirchengeschichte (wie Anm. 123), 175-177, 180. 131 Zu nennen sind hier insbesondere die Tricennalienrede (336), in der Konstantin als Freund des Christus/Logos erscheint und die konstantinische Kaiserherrschaft - unter Rückgriff auf biblische Prophetenworte - zum irdischen Spiegel der Gottesherrschaft stilisiert wird (vgl. u.a. Eus., l.C. III 2); ferner die „Vita Constantini" (abgeschlossen nach 337), in der Eusebius intensiven Gebrauch von der Typologie .Moses - Konstantin' macht (Eus., v.C. 112; 19, 1; 20, 2; 38, 2-5; II 12, 1). 132 Die augusteische Zeit wird erstmals in Eusebius' apologetischem Doppelwerk - der „praeparatio" und „demonstratio evangelica" (ca. 314-ca. 323) - zum Gegenstand biblischer Voraussagen; vgl. Eus., p.e. 14, 4; d.e. VII 2, 21-23; VIII 3, 13-15; ähnlich theoph. III 1 - 3 (nach 324). Diese heilsgeschichtliche Verknüpfung findet sich in Eusebius' kirchengeschichtlichen Werken noch nicht: In seinen „Chronici canones" (1. Fassung vermutlich 308/11; vgl. Burgess, Dates [wie Anm. 122]) hat Eusebius nicht einmal eine Verbindung zwischen der Geburt Christi und der Herrschaft des Augustus hergestellt, sondern nur auf den Synchronismus der Geburt Christi mit dem Zensus des Quirinus verwiesen (Hier., chron. [Helm] 169). In seiner „Kirchengeschichte" hebt Eusebius demgegenüber zwar hervor, daß Christus im 42. Jahr der Regierung des Augustus geboren wurde, doch die biblischen Prophezeiungen, die Eusebius in diesem Ereignis verwirklicht sieht, sind allein auf die Geburt Christi, nicht auch auf die politische Konstellation zu beziehen (vgl. Eus., h.e. 1 5 , 2).
Moses oder Pharao? Die ersten christlichen Kaiser und das Argument der Bibel* Von
Bernd Isele U m das Jahr 3 3 0 n. Chr. erreichte den Bischof der palästinischen Hafenstadt Caesarea ein mit dem Zeichen des römischen Kaisers gesiegelter Brief: „Der siegreiche Konstantin, der große Kaiser, an Eusebius. In der nach uns benannten Stadt hat sich durch die Vorsehung des Erlöser-Gottes eine große Menge Menschen der heiligen Kirche angeschlossen, so daß es angemessen scheint, auch mehrere Kirchengebäude dort zu errichten. So vernimm denn bereitwillig den von uns gefaßten Beschluß. Es scheint uns angebracht, Deiner Weisheit zu eröffnen, Du mögest auf gut zubereitetem Pergament, leicht lesbar und handlich für den Gebrauch, durch Kalligraphen, die in ihrer Kunst erfahren sind, fünfzig Bände von den Göttlichen Schriften herstellen lassen, wie Du sie in Anschaffung und Benutzung für den kirchlichen Gebrauch als notwendig kennst. Es wurde ein Schreiben von unserer Milde an den Finanzverwalter der Provinz abgesandt, er solle fürsorglich alles zur Herstellung Erforderliche beschaffen; daß die Abschrift der Bände möglichst bald vollendet werde, sollte die Angelegenheit Deines Eifers sein. Auch sollst Du kraft dieses Schreibens zwei Wagen der Staatspost zur Verfügung haben, um die Bände hierher bringen zu lassen, die auf diesem Wege wohl am allerleichtesten auch uns selbst möglichst bald zu Gesicht kommen werden; wobei natürlich einer Deiner Diakone dies besorgen wird, der bei seiner Ankunft unsere Güte erfahren soll. Gott behüte Dich, geliebter Bruder."1 Das zitierte Dokument - der sogenannte Bibel-Auftrag Konstantins - ist ein Klassiker moderner Spätantiken-Forschung. Das Interesse richtete sich früh auf den Adressaten w i e auf den Auftraggeber gleichermaßen, auf zwei Zentralgestalten auch des hier zur Rede stehenden Themas: auf Konstantin, den ersten Vertreter, und auf Eusebius, den ersten Interpreten des christlich-römischen Kaisertums. S o konnte oder sollte die Bestellung der Bibelhandschriften Aufschluß geben etwa über die persönliche Religiosität Konstantins, über das Bibliothekswesen in der Bischofsstadt Caesarea, über die Anzahl der Kirchengebäude am Bosporus oder über Eusebius' Anteil an der Genese des bi* Der vorliegende Text verdankt seine Entstehung maßgeblich dem Gespräch mit Tagungsteilnehmern, mit vielen Freunden und mit meinen Münsteraner Kommilitonen. Ihnen allen gilt mein herzlicher Dank. 1 Eus., v. Const. 4,36; der Text ist ediert von Friedhelm Winkelmann, Vita Constantini. (GCS.) Berlin 1975; die Übersetzung ist wie auch im folgenden modifiziert nach Andreas Bigelmair, Des Eusebius Pamphili ausgewählte Schriften 1. Über das Leben des seligen Kaisers Konstantin. (Bibliothek der Kirchenväter, Bd. 9.) Kempten/München 1913, hier 166f.; vgl. auch Hermann Dörries, Das Selbstzeugnis Kaiser Konstantins. (AAWG, Folge 3, Bd.34.) Göttingen 1954, 81 f.
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blischen Kanons.2 Am Beginn der nachfolgenden Ausführungen dagegen sollte eine andere Beobachtung stehen. Denn das Schreiben des Kaisers ist eines von zahlreichen Schriftstücken - Briefen, Erlassen, Reden - , die Eusebius der von ihm verfaßten Konstantinsvita als direkte Zitate eingliedert. Der Vorgang an sich ist außergewöhnlich und hat insbesondere den letzten Büchern der Kaiservita vielfach den Ruf einer nur lose gebündelten Aktensammlung eingebracht.3 Dabei ist nicht nur die Auswahl, sondern auch die textinterne Plazierung der Dokumente hochgradig funktional. Was Eusebius seiner Schrift im Wortlaut einverleibt, trägt nachweislich dokumentarischen Charakter, beglaubigt schwierige und untermauert seine Kernaussagen. Auch die Beweiskraft, die dem eingangs zitierten Brief innerhalb der Herrschervita zukommt, erstreckt sich auf zwei Bereiche, die nicht nur für das Geschichtsverständnis der mit Eusebius sich in ihren Anfängen konstituierenden Reichskirche, sondern auch für die Bibelrezeption der „Vita Constantini" (und für das Verhältnis von frühem christlichen Kaisertum und Heiliger Schrift insgesamt) von erkenntnisleitendem Interesse sind. Auf beide dieser diskursiven Felder lohnt daher einleitend ein kurzer Blick, der nur scheinbar und für einen Moment auf Abwege führt.
I. Vorbemerkung: Was kann ,Bibel'? Bereits einige Jahrzehnte vor der Abfassung seiner Konstantinsvita - diese datiert wohl in weiten Teilen nach dem Tod des Kaisers im Jahr 3374 - hatte Eusebius im Proöm seiner „Kirchengeschichte" ein folgenschweres Modell 2 Zur traditionsreichen und anhaltenden Diskussion rund um den Brief des Kaisers vgl. etwa Jakob Schäfer, Die fünfzig Bibelhandschriften des Eusebius für den Kaiser Konstantin, in: Der Katholik 93/1,1913, 90-104; Carl Wendel, Der Bibel-Auftrag Kaiser Konstantins, in: Zentralblatt für Bibliothekswesen 56, 1939, 165-175; Gregory A. Robbins, „Fifty Copies of the Sacred Writings" (VC 4:36). Entire Bibles or Gospel Books?, in: StudPatr 19, 1989, 91-98, und Averil Cameron!Stuart G. Hall, Eusebius, Life of Constantine. Introduction, Translation and Commentary. Oxford 1999, 327. 3 Vgl. zu den Dokumenten im Text bereits das vernichtende Urteil von Otto Seeck, Die Urkunden der Vita Constantini, in: ZKiG 18,1898,321-345; ferner die Auflistung in Timothy D. Barnes, Panegyric, History and Hagiography in Eusebius's Life of Constantine, in: R. Williams (Ed.), The Making of Orthodoxy. Essays in Honour of Henry Chadwick. Cambridge u.a. 1989, 94-123, hier 110-113. 4 Zu Struktur und Gattung der Konstantinsvita vgl. neben vielen anderen insbesondere Averil Cameron, Eusebius' Vita Constantini and the Construction of Constantine, in: Marc J. Edwards (Ed.), Portraits. Biographical Representation in the Greek and Latin Literature of the Roman Empire. Oxford 1997, 145-174, und ergänzend dies., Form and Meaning. The Vita Constantini and the Vita Antonii, in: Thomas Hägg/Philip Rousseau (Eds.), Greek Biography and Panegyric in Late Antiquity. (The Transformation of the Classical Heritage, Vol. 31.) Berkeley u. a. 2000,72-88; zur Datierung und zum Kontext auch Timothy D. Barnes, Constantine and Eusebius. Cambridge/London 1981, hier 265 f.
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(eben dieser Geschichte) entworfen. Über die Geschichte der Kirche zu sprechen, bedeutete für Eusebius zweierlei: Erstens die Rede über Bischöfe und Kirchenlehrer, die zu allen Zeiten in den Häretikern auf ketzerische Gegenspieler gestoßen waren. Kirchengeschichte manifestierte sich für Eusebius zweitens in Verfolgung und Verfolgern, die wiederum in den Märtyrern ihre rechtgläubigen Meister fanden. Das Feld der Kirchen- und Irrlehrer auf der einen, Verfolgung und Märtyrertum auf der anderen Seite waren für Eusebius die beiden Paradigmen, in denen Kirche historisch wirksam wurde. Wer auf einem dieser beiden Felder zuhause war, konnte Relevanz beanspruchen im Heilsplan der Kirche, ließ ekklesia zu historia
werden. 5
Der Bibel-Auftrag Konstantins bot Eusebius eine doppelte Chance: Denn die knappe Anweisung der kaiserlichen Kanzlei wurde - eingebettet in den Rahmen der Kaiservita - zu einer dezidierten Stellungnahme auf den beiden genannten, für die Geschichte der Kirche konstitutiven Feldern. Dies galt zum einen für den Bereich der Verfolgungen: 1. Sowohl in der „Kirchengeschichte", als auch in der „Vita" selbst hatte Eusebius wiederholt die Zerstörung von Kirchengebäuden und die Verbrennung der Heiligen Schriften zum Grundmotiv der kaiserlichen Christenverfolgungen erhoben. Die zurückliegende Diokletianische Verfolgung etwa war angebrochen, „als allenthalben ein kaiserlicher Erlaß veröffentlicht wurde, welcher befahl, die Kirchen bis auf den Grund niederzureißen und 5
Die Aufzählung in Eus., HE 1,1,1-2 verhält sich dabei wie folgt: Kirchenlehrer Irrlehrer / Juden / Heiden iX6xpioxog und ßaaiX.et>ouoa - „christusliebend" bzw. „von Christus geliebt" und „herrschend".24 3. Dem dritten Punkt schließlich, dem Aspekt der Demut, wurde in der Forschung - abgesehen von einigen Überlegungen Diefenbachs - bisher kaum Beachtung geschenkt.25 Dies ist erstaunlich, denn innerhalb der unter Theodosius fortentwickelten demonstrativen und damit herrschaftsstabilisierenden Frömmigkeitsgesten kommt dem Teilaspekt der Demut ohne Zweifel eine besondere Rolle zu. Im folgenden möchte ich in drei Schritten vorgehen: Zunächst soll an einigen Beispielen aufgezeigt werden, welch hohen Stellenwert demonstrative Demutsgesten des Kaisers gegenüber Gott unter der Herrschaft des Theodosius besessen haben. Zum zweiten ist kurz die Funktion dieser Gesten - insbesondere in Abgrenzung zu der schon seit dem frühen Prinzipat fest etablierten Kaisertugend der civilitas („Bürgernähe") - zu diskutieren, und schließlich wird es um die Frage der Herkunft des neuen Demutsideals gehen, das wie zu zeigen sein wird - Bezug nimmt auf Facetten der biblischen Gestalt König Davids.
II. Die ostentativen und in ihrer Eindringlichkeit meines Erachtens auffälligen Demutsgesten des Theodosius bilden als öffentliche Inszenierungen einen Teil der kaiserlichen Selbstdarstellung. Damit handelt es sich bei ihnen um Reaktionen auf spezifische, sich im Laufe der Zeit partiell verändernde Erwartungshaltungen, die den römischen Kaiser seit dem Beginn des Prinzipats - zunächst aufgrund der mangelnden institutionellen Festlegung des Kaisertums insgesamt26 - zu bestimmten symbolischen (und durch ihre Festlegung 24
Eduard Schwartz (Ed.), Concilium Universale Chalcedonense. Bd. 1 (= ACO 2.1.1). Berlin/Leipzig 1933, S. 100, Z. 4; S. 103, Z. 6; S. 126, Z. 17-18. Weitere Belege für diese Bezeichnungen Konstantinopels, die unter Theodosius II. aufkommen, bietet Erwin Fenster, Laudes Constantinopolitanae. München 1968, 70ff. 25 Vgl. Diefenbach, Zwischen Liturgie und civilitas (wie Anm. 21), 31-39. 26 Dazu vgl. prägnant Martin, Kaisertum (wie Anm. 13), 47: „Die einheitliche Kaisergewalt des Prinzipats, die nicht als ein Bündel von fest umschriebenen Kompetenzen zu definieren, nicht rechtlich umschrieben und auch nicht durch rechtliche Regelungen eingeschränkt ist, blieb grundsätzlich auch in der Spätantike erhalten." Diese Feststellung wäre
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somit auch rituellen) Handlungsmustern zwangen, wie z.B. der Demonstration von civilitas gegenüber den Angehörigen der traditionellen Eliten - ich komme darauf noch zu sprechen. Für die Zeit des Theodosius II. befinden wir uns in der komfortablen Lage, in den Werken der drei sogenannten orthodoxen Kirchenhistoriker Sokrates, Sozomenos und Theodoret auf ein umfangreiches Textcorpus zurückgreifen zu können, aus dem sich die Grundelemente zeitgenössischer Erwartungen an einen ,orthodoxen' Kaiser rekonstruieren lassen. 27 Auffälligerweise gehört Demut aber nicht dazu28, obwohl etwa Theodoret in anderen Zusammenhängen ihre grundlegende Bedeutung durchaus hervorhebt29. Der Grund dafür dürfte in der eher traditionalistischen Haltung dieser Historiker zu suchen sein: Sie reflektieren etablierte und bewährte Kaisertugenden. Dies wiederum bedeutet im Umkehrschluß, daß Theodosius mit seiner Betonung von Demut neue Pfade beschritt und Verhaltensmuster zu institutionalisieren suchte, die für einen römischen Kaiser bis dahin zumindest ungewöhnlich waren. Und in der Tat hatte ja etwa noch Plinius d. J. im Jahr 100 n.Chr. am princeps Trajan unter anderem gelobt, daß er zwar besonders umgänglich sei, dabei aber keineswegs der Gefahr (periculum) der Demut (humilitas) verfalle 30 , während dann etwa für den Panegyriker Corippus (2. Hälfte 6. Jahrhundert) die Demut eine selbstverständliche Eigenschaft des Kaisers ist 31 . Warum seit dem frühen 5. Jahrhundert die kaiserliche Demut eine herausragende Bedeutung einnimmt, wird später noch zu erörtern sein.
freilich noch dahin gehend zu modifizieren, daß im frühen Prinzipat der jeweilige Princeps nicht nur sich selbst, sondern auch das schwierige Konstrukt .Prinzipat' immer wieder zu rechtfertigen und als einzig denkbare Lösung vorzuführen hatte; in der Spätantike hingegen galt - zumal vor dem Hintergrund des sich zunehmend verfestigenden Konzepts der Herrschaft iv. 0eoü - das Kaiser/um als solches als unumstritten; dennoch waren die einzelnen Vertreter allerdings gezwungen, ihre persönliche Eignung permanent zu demonstrieren. 27 Dazu vgl. umfassend Leppin, Christliches Kaisertum (wie Anm. 12). 28 Dies konstatiert auch Leppin, Christliches Kaisertum (wie Anm. 12), 164: „Auffällig ist indessen, daß die xanEivötrig, deren lateinisches Äquivalent humilitas für das Kaiserbild von Autoren wie Ambrosius und vor allem Augustin so wichtig ist, bei den Kirchenhistorikern keine Bedeutung hat". 29 Vgl. etwa Theod. epist. 12,2 (= Jacques-Paul Migne, PG 82, 1859, S. 188A); 12,5-6 S. 192B; epist. 4,2-3 S. 533A. 30 Plin. paneg. 71,5: „Neque enim ab ullo periculo fortuna principum longius abest quam humilitatis." Dazu Diefenbach, Zwischen Liturgie und civilitas (wie Anm. 21), 36 f. Vgl. Albrecht Dihle, Art. „Demut", in: RAC 3,1957,735-778, hier 737; Jörg Ernesti, Princeps christianus und Kaiser aller Römer. Theodosius der Große im Lichte zeitgenössischer Quellen. Paderborn u.a. 1998, 214, 229. 31 Coripp. Laud. Iust. 2,30-33 (= Averil Cameron [Ed.], Flavius Cresconius Corippus. In laudem Augusti Minoris Libri IV. Ed. with Translation and Commentary. London 1976, S. 48): „En ego, parva creaturae pars, subditus adsto/ante oculos, excelse, tuos: tibi servio soli/atque meum submitto caput, cui flectitur uni/omne genu, quem cuncta pavent, elementa tremiscunt".
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Zunächst aber zu der Frage, wie sich die von Theodosius demonstrierte Demut (TCOTeivÖTT]5, Tajteiv0Q00i>VTi, humilitas) nun eigentlich geäußert hat: Werfen wir dafür zunächst einen Blick in die Regierungszeit des Arcadius, des Vaters Theodosius' II.: Zwischen 400 und 402 erfolgte die translatio heute unbekannter Märtyrerreliquien von der Sophienkirche in Konstantinopel zum Martyrium des Hl. Thomas in Drypia. 32 Aus diesem Anlaß hielt der damalige Bischof Johannes Chrysostomos eine Predigt 33 , die signifikante Einzelheiten der feierlichen Lichterprozession erkennen läßt, an der die gesamte Bevölkerung der Stadt beteiligt gewesen sein soll - darunter die christusliebende (c()iXöxeiaxog)34) Kaiserin Eudoxia persönlich: Diese habe sich, obwohl sonst nicht einmal für die Hofeunuchen zugänglich, unter das Volk gemischt (dva|nyvD(xevr] xü jtXfjOei35), auf Hofstaat, Leibwachen und einen Wagen verzichtet 36 und zu Fuß den Schrein während des ganzen nächtlichen Marsches begleitet und dabei permanent berührt. Der Prediger hebt namentlich Eudoxias Demut (Tajreivoc}>Qoai>VT]) hervor: Wie eine Dienerin (coojteQ ÖEQajtaivig) sei sie den Reliquien gefolgt 37 und habe ihr Purpurkleid mit dem Gewand der Demut vertauscht 38 . Ausdrücklich evoziert Johannes im Kontext das Vorbild des biblischen David (translatio der Bundeslade). 39 Auch wenn die Ankunft des Kaisers selbst erst für den folgenden Tag in Aussicht gestellt wird 40 , weisen diese Prozession und - noch deutlicher - einige andere zeitnahe Beispiele deutliche Charakteristika eines kaiserlichen adventus auf und illustrieren damit den Einzug christlicher Frömmigkeitsbezeugungen in das herrscherliche Zeremoniell. 41 Unter Theodosius gewinnen diese Tendenzen dann allerdings eine neue Qualität: Nicht mehr die Kaiserfrau demonstriert nunmehr die Demut (was man ja noch mit geschlechtsspezifischen Rollenerwartungen erklären könnte 42 ), sondern der Kaiser selbst, der Herr des Impe32
Dazu vgl. Holum, Theodosian Empresses (wie Anm. 6), 56-58; Diefenbach, Frömmigkeit (wie Anm. 21), 46; ders., Zwischen Liturgie und civilitas (wie Anm. 21), 31 f.; Kirsten Groß-Albenhausen, Imperator christianissimus. Der christliche Kaiser bei Ambrosius und Johannes Chrysostomos. Frankfurt am Main 1999, 184ff.; Claudia Tiersch, Johannes Chrysostomos in Konstantinopel (398-404). Weltsicht und Wirken eines Bischofs in der Hauptstadt des Oströmischen Reiches. Tübingen 2002, 213-215. 33 loh. Chrys. hom. 2, in: Jacques-Paul Migne, PG 63,1862, S. 468-472. 34 loh. Chrys. hom. 2,1 S. 469, Z. 39-40; 2,3 S. 472, Z. 36. 35 loh. Chrys. hom. 2,2 S. 471, Z. 4; vgl. 2,1 S. 469, Z. 3-13. 36 loh. Chrys. hom. 2,1 S. 469, Z. 3-5. 37 loh. Chrys. hom. 2,1 S. 469, Z. 9. 38 loh. Chrys. hom. 2,2 S. 470, Z. 60-61. » Vgl. loh. Chrys. hom. 2,1 S. 469, Z. 18; 27; 2,3 S. 472, Z. 12; 15. 40 Arcadius erschien, durch die Ankündigung des Johannes unter Zugzwang gesetzt, dann tatsächlich auch am nächsten Tag, er selbst ohne Diadem, seine Begleiter ohne Waffen, vgl. loh. Chrys. hom. 3,1 S. 472, Z. 11-13. 41 Dies erörtert im einzelnen Diefenbach, Frömmigkeit (wie Anm. 21), 46 ff. 42 Johannes Chrysostomos geht durchaus darauf ein, daß Eudoxia als Frau (und damit im Rahmen spezifischer Rollenerwartungen) agiert, vgl. loh. Chrys. hom. 2,3 S. 471, Z. 29 ff.
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rium Romanum, was dem Gestus natürlich eine ungleich größere Wirkkraft verleiht. Zudem verlagert sich der Ort der Demutsbezeugungen allmählich ganz in die Stadt Konstantinopel hinein, ein Aspekt, der insbesondere für die Frage nach der Ausbildung eines spezifisch hauptstädtischen' Kaisertums seit dem frühen 5. Jahrhundert von Bedeutung ist; das eben erwähnte Drypia etwa lag immerhin 9 Meilen (ca. 13,5 km) außerhalb Konstantinopels, und auch die berühmte translatio des Hauptes Johannes' des Täufers unter Theodosius I. im Jahr 392 führte noch zum Hebdomon außerhalb der Stadt.43 Unter Theodosius II. hingegen dienten gerade die in zunehmender Zahl durchgeführten Reliquientranslationen sowie Bitt- und Bußprozessionen der sakralen Aufladung der Stadt selbst als Sitz des Kaisers.44 Und schließlich ein letzter Punkt, der darauf hindeutet, daß unter Theodosius II. eine neue Stufe in der Entwicklung erreicht wurde; er bezieht sich auf die Spontaneität: Einige Demutsgesten des Kaisers erfolgten nämlich ganz kurzentschlossen und evozierten damit um so glaubwürdiger für die Anwesenden die imago des demütigfrommen Imperators.45 Als die Nachricht von der Niederwerfung des weströmischen Usurpators Johannes Konstantinopel erreichte, fanden gerade im Beisein des Theodosius Wagenrennen im Hippodrom statt. Der Kaiser ließ augenblicklich die Veranstaltung abbrechen und formierte mit dem Volk unter Hymnengesang eine Prozession zur Kirche, wo dann eine Dankesmesse zelebriert wurde.46 Der spontane Akt zeigte Wirkung: In der religiös aufgeladenen Atmosphäre manifestierte sich für die Anwesenden in besonderem Maße die Einheit von Stadt, Volk und Kaiser. „Und die ganze Stadt", so hält der Historiker Sokrates fest, „wurde zu einer einzigen Kirche" (xai öXt] [lèv r) jtóXig [xia èxx^riaia èyivETo). 4 7 Als einmal ein schweres Unwetter über Konstantinopel hinwegfegte, unterbrach Theodosius ebenfalls spontan die gerade stattfindenden Spiele, beraumte eine Prozession an und mischte sich hymnensingend ohne Kaiserornat (èv ìòiaruxò) a / r ^ a t i ) unter das Volk. Und einmal mehr war der identitätsstiftende Akt offenbar erfolgreich, so daß Sokrates wiederum festhalten konnte: „Und die ganze Stadt wurde zu einer einzigen Kirche" (xal
43
Dazu s. Hartmut Leppin, Theodosius der Große. Darmstadt 2003, 180f., sowie kurz Diefenbach, Frömmigkeit (wie Anm. 21), 44 f.; ders., Zwischen Liturgie und civilitas (wie Anm. 21), 26f. 44 Einen Überblick über wichtige Reliquientranslationen unter Theodosius LI. gibt Diefenbach, Zwischen Liturgie und civilitas (wie Anm. 21), 24. Zur Zunahme der Prozessionen im 5./6. Jahrhundert s. John F. Baldovin, The Urban Character of Christian Worship. The Origins, Development, and Meaning of Stational Liturgy. Rom 1987, 209 ff. 45 Die Spontaneität einiger von Theodosius anberaumter Prozessionen hebt auch Diefenbach, Frömmigkeit (wie Anm. 21), 52, hervor. 46 Sokr. 7,23,11-12 S. 371 f. Hansen; Theodoras Lector, 320 S. 94 Hansen. « Sokr. 7,23,12 S. 372 Hansen.
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ÖX.T] jièv r| itôkç [lia èxxXî]oia è y é v e T o ) . 4 8 Im Jahr 447 suchte ein verhee-
rendes Erdbeben Konstantinopel heim. 49 Der Kaiser veranstaltete gemeinsam mit Klerus, Senat und Bevölkerung mehrtägige Bußprozessionen. Daß dabei gerade auch (der schon im Säuglingsalter getaufte 50 ) Theodosius sich gezielt in die Rolle des demütigen Büßers versetzte, wird an dem Umstand deutlich, daß er sogar barfüßig - im Januar - an diesen Prozessionen teilnahm.51 Die Barfüßigkeit als sichtbares Zeichen eines demutsvollen Büßergestus hat Schule gemacht: Theodosius' Nachfolger Marcian ist im Jahr 457 sogar an den Folgen einer solchen Barfußprozession gestorben - es handelte sich im übrigen um die jährliche Gedenkprozession in Erinnerung an das Erdbeben 447. 52 Es waren aber nicht nur solche sich unvermittelt bietenden Anlässe, bei denen Theodosius seine tiefe Demut vor Gott demonstrierte. Gerade auch die zahlreichen Reliquientranslationen gaben ihm genügend Gelegenheiten dazu: Indem der Kaiser an der Seite der Stadtbevölkerung (und damit als Teil derselben) feierlich den Reliquien entgegenzog und sich ihnen bzw. ihrer von Gott selbst verliehenen Autorität und Wirkkraft unterwarf, formte er traditionelle arfvenius-Muster um, bei denen zuvor die Bevölkerung einer Stadt dem Kaiser entgegengezogen war, um sich ihm demonstrativ zu unterwerfen.53 Im übrigen hat Theodosius selbst darauf hingewiesen, daß er beim Besuch einer Kirche nicht nur demütig seine Waffen ablege, sondern sogar das Diadem. 54 Seine fromme Demut jedenfalls galt als derartig exzeptionell, daß der Kaiser selbst Eingang in hagiographisches Schrifttum fand. Eine der Geschichten, 48
Sokr. 7,22,15-18 S. 370 Hansen. Brian Croke, Two Early Byzantine Earthquakes and Their Liturgical Commémoration, in: Byzantion 51, 1981, 122-147 mit ausführlicher Diskussion der Quellen, in denen vielfach das Erdbeben 447 mit demjenigen des Jahres 438 vermengt worden ist. 50 Vgl. Lippold, Theodosius (wie Anm. 2), 126. 51 loh. Mal. 14,22 S. 284f. Thum; Chr. Pasch. S. 589, Z. 6 - 1 6 Dindorf (zum Jahr 450, fälschlich getrennt vom Eintrag S. 586, Z. 6 - 1 4 Dindorf, zum Jahr 447); Johannes von Nikiu 84,39 (= Robert H. Charles [Ed.], The Chronicle of John, Bishop of Nikiu. Transi, from Zotenberg's Ethiopie Text. Oxford 1916, S. 95). Noch im 10. Jahrhundert wurde in Konstantinopel jährlich dieser Katastrophe gedacht, vgl. Hippolyt Delehaye (Ed.), Synaxarium Ecclesiae Constantinopolitanae. Brüssel 1902, S. 425 Nr. 2 (zum 26. Januar); Juan Mateos (Ed.), Le Typicon de la Grande Église. Bd. 1. Rom 1962, 212. - Zur Barfüßigkeit als Zeichen für Bußfertigkeit Ph. Oppenheim, Art. „Barfüßigkeit", in: RAC 1, 1950, 1186-1193; Wolfgang Pax, Art. „Bittprozession", in: RAC 2, 1954, 422-429. 52 Brian Croke, The Date and Circumstances of Marcian's Decease, A.D. 457, in: Byzantion 48, 1978, 5-9. Vgl. auch Groß-Albenhausen, Imperator christianissimus (wie Anm. 32), 185 Anm. 5. 53 Sabine MacCormack, Change and Continuity in Late Antiquity. The Ceremony of Adventus, in: Historia 21, 1972, 721-752; Michael McCormick, Eternal Victory. Triumphal Rulership in Late Antiquity. Byzantium and the Early Médiéval West. Cambridge u.a. 1986, Ndr. 1990, bes. 47 ff. 54 Eduard Schwartz (Ed.), Concilium Universale Ephesenum. Bd. 1 (= ACO 1.1.4). Berlin/Leipzig 1928, S. 64, Z. 8-11. 49
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die sich um Theodosius rankten, berichtet davon, daß ein Eremit, der 40 Jahre lang in härtester Askese gelebt hat, Gott fragt, wer ihm darin gleichkomme. Zu seinem Entsetzen wird er auf Theodosius verwiesen. Argwöhnisch und betrübt zieht er nach Konstantinopel, um dort seinen ,Rivalen' kennenzulernen, der ihn in höchster Ehrerbietung und tiefer Demut (o öe ßaoiAeiig eire^ievEV ev xaJteivo(()Qoai)vri) empfängt. Nachdem Theodosius dort seine asketischen Tugenden aufgezählt und dem Eremiten Einblick in seine fromme Lebensweise gegeben hat, erkennt dieser schließlich, daß der Kaiser ihn tatsächlich übertroffen hat, und bittet Theodosius, für ihn zu beten; danach zieht er - nunmehr zufrieden - unter Lobgesängen auf Gott wieder fort in seine Wüste.55 Der Kaiser, so die Botschaft der Episode, hat in der Umsetzung mönchischasketischer Ideale sogar einen herausragenden Eremiten übertroffen. Während letzterer hochfahrend geglaubt hatte, den Inbegriff des Asketentums zu verkörpern, wurden ihm ausgerechnet vom weltlichen Herrscher, insbesondere durch dessen Demut, seine Grenzen aufgezeigt.
III. Man fragt sich jedoch, welchem Zweck diese eindringlichen Inszenierungen von Demut eigentlich gedient haben. Ohne Zweifel wird man - zumindest auf der Basis des erhaltenen Quellenmaterials - Theodosius eine tiefe und wohl auch ehrliche Frömmigkeit attestieren können. Aber diese allein vermag das Phänomen kaum vollständig zu erklären, zumal es dem Kaiser ja offensichtlich auch darum ging, diese Frömmigkeit in einer besonders wirksamen Weise vor der hauptstädtischen Bevölkerung zu demonstrieren - unter anderem eben durch den mehrfachen, geradezu programmatischen Erweis seiner Demut. Hinzu kommt, daß im Umfeld eines spätantiken Kaisers persönliche Haltungen ohnehin nur sehr schwer von politischen Inszenierungen zu trennen sind.56 Selbst der Kirchenhistoriker Sozomenos, der Theodosius und insbesondere seine Schwester Pulcheria in geradezu panegyrischen Zügen preist, deutet ja an, daß Pulcherias Bekenntnis zur Jungfräulichkeit auch der Stabili-
Die Geschichte (BHG3 1445v) ist überliefert in zwei griechischen Handschriften aus dem 10. und dem 14. Jahrhundert. Edition in: Francois Nau (Ed.), Jean Rufus, évêque de Maïouma: Plérophories. Témoignages et revelations contre le concile de Chalcédoine. Version syriaque et traduction française. Paris 1912 (PO 8.1), S. 171-174; s. auch Chrisanf Loparev, in: Vizantijskij vremennik 5,1898,67-76. Dazu vgl. kurz Claudia Rapp, Comparison, Paradigm and the Case of Moses in Panegyric and Hagiography, in: Mary Whitby (Ed.), The Propaganda of Power. The Role of Panegyric in Late Antiquity. Leiden/Boston/ Köln 1998, 277-298, hier 285. 56 Vgl. in diesem Sinne auch Lee, Eastern Empire (wie Anm. 4), 36. 55
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sierung der Herrschaft ihres Bruders gedient habe 57 ; Priscus weiß von dem angeblich so unselbständigen Kaiser zu berichten, daß dieser zwar gerne Verzeihung gewährte, aber wenn es um seinen eigenen Machterhalt ging, keine Gnade kannte58. Wie bereits angedeutet, war die rituelle Selbsterniedrigung dem römischen princeps durchaus nicht fremd - allerdings nicht in Form der Demut (die von einem antiken Aristokraten in der Regel zutiefst abgelehnt wurde), sondern in Gestalt der Kaisertugend der civilitas. Diese verlangte vom Kaiser, durch spezifische Gesten symbolisch auf seine Macht zu verzichten und sich so nahtlos in eine .bürgerliche' Sozialstruktur von Gleichen - nämlich der anderen Aristokraten - einzufügen. 59 Plinius etwa lobt Trajan dafür, daß er persönlich alle candidati (Amtsbewerber) beim Namen nennen konnte und sogar zu ihnen herabgestiegen kam und sie küßte 60 - ein princeps auf gleicher Ebene (princeps aequatus [candidatis]61)! In der frühen und hohen Kaiserzeit gehörte die Demonstration von civilitas zu den wichtigsten symbolischen Akten im Umgang mit der Aristokratie, denn sie hatte herrschaftsstabilisierende Funktion: Das komplizierte Konstrukt des Prinzipats als Fiktion einer wiederhergestellten Republik, bei dem natürlich jedem bewußt war, daß man faktisch unter einer Monarchie lebte, beruhte unter anderem auf einem labilen Einvernehmen zwischen princeps und senatorischer Oberschicht, das sich aus gegenseitigen Verbindungen und Abhängigkeiten konstituierte und bei dem eine funktionierende Kommunikation ein zentrales Grundelement für eine dauerhafte Herrschaft darstellte.62 Dabei war der princeps stets dazu gezwungen, seine faktische Macht symbolisch zu verleugnen, um sich die Zustimmung der Aristokratie zu erhalten. Zugleich aber mußte auch klargestellt sein, daß die so verborgene Machtfülle natürlich trotzdem existierte und die Position des princeps daher (zumindest im Idealfall) unangreifbar war. Es ist wiederum Plinius, der diese Ambivalenzen prägnant auf den Punkt bringt, wenn er Trajan zuruft: „Denn wer seinen Rang nicht mehr anders steigern kann, der kann nur auf eine Weise noch wachsen, wenn er sich selbst erniedrigt, wobei
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Soz. 9,1,3 S. IV 1056 Hansen. Pulcheria habe verhindern wollen, daß durch eine Heirat ihrerseits die Position des Theodosius gefährdet würde. 58 Priscus fr. 16 S. 300 Blockley; vgl. Harries, .Pius princeps' (wie Anm. 4), 36. 59 Andrew Wallace-Hadrill, Civilis Princeps. Between Citizen and King, in: JRS 72, 1982, 32-48, bes. 41 ff.; vgl. ebd. 42: „Civilitas aptly evokes the behaviour of aruler who is still a Citizen in a society of Citizens, where the freedom and Standing of the individual Citizen is protected by the law, not the whim of an autocrat"; Diefenbach, Zwischen Liturgie und civilitas (wie Anm. 21), 32 mit Anm. 41. 60 Plin. paneg. 71,1. 61 Plin. paneg. 71,3. 62 Dazu vgl. die grundlegenden Arbeiten von Aloys Winterling,,Staat', .Gesellschaft' und politische Integration in der römischen Kaiserzeit, in: Klio 83, 2001, 93-112; ders., Caligula. Eine Biographie. München 2003, 13 ff.
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er sich seiner Größe sicher sein kann." 63 D i e symbolische Selbsterniedrigung ist also zugleich auch sichtbare Demonstration äußerster Machtfülle. Denn nur wer im Besitz besonderer Macht ist, kann sich ja überhaupt in der beschriebenen Weise herablassen. 64 Deutlich werden sollte jedenfalls, daß die kaiserliche civilitas eine Option innerhalb eines Kommunikationsgeflechts war, das im Prinzipat vor allem den Kaiser und die senatorische Oberschicht umfaßte, das vom princeps erwartet wurde, in seinem eigenen Interesse auch eingelöst werden sollte und somit rasch zu einer kanonischen Kaisertugend avancierte, die auch in der Spätantike noch gültig war 6 5 - wenngleich sich das Verhältnis zwischen Kaiser und Eliten aufgrund der gewandelten Rahmenbedingungen inzwischen natürlich erheblich zugunsten des ersteren verändert hatte. Jedenfalls ist die civilitas principis ein soziales Phänomen, insofern es das Verhältnis des Kaisers zu Segmenten der Bevölkerung begründet. 66 Anders die Demut: Als spezifischer Teilaspekt der kaiserlichen Frömmigkeit handelt es sich hier unmittelbar um ein religiöses und nur mittelbar um ein soziales Phänomen. 6 7 Wie bereits angedeutet, wurde der spätantike christliche Kaiser als Beauftragter Gottes verstanden, und seine Aufgabe bestand in der Umsetzung des weitreichenden Postulats einer imitatio Christi. Der Theorie zufolge war der Herrscher also in erster Linie Gott verpflichtet, und insbesondere unter Justinian ( 5 2 7 - 5 6 5 ) wird dies dann auch klar artikuliert. 68 D i e Kontinuitäten zum Prinzipat waren aber weiterhin vorhanden und wirkten 63
Plin. paneg. 71,4: „nam cui nihil ad augendum fastigium superest, hic uno modo crescere potest, si se ipse summittat securas magnitudinis suae." 64 Vgl. in diesem Sinne auch Diefenbach, Zwischen Liturgie und civilitas (wie Anm. 21), 33. 65 Besonders deutlich wird dies z.B. im ,3reviarium" des Eutropius (einer knappen römischen Geschichte von der Stadtgründung bis zum Tod Iovians 364), vgl. dazu Diefenbach, Zwischen Liturgie und civilitas (wie Anm. 21), 33; David Rohrbacher, The Historians of Late Antiquity. London/New York 2002,49-56; Giorgio Bonamente, Minor Latin Historians of the Fourth Century A.D., in: Gabriele Marasco (Ed.), Greek and Roman Historiography in Late Antiquity. Fourth to Sixth Century A.D. Leiden/Boston 2003, 85-125, bes. 103-112. Zum Fortleben traditioneller Kaisertugenden des Prinzipats in der spätantiken christlichen Historiographie s. Leppin, Christliches Kaisertum (wie Anm. 12), 160-166. 66 Vgl. Diefenbach, Zwischen Liturgie und civilitas (wie Anm. 21), 36 f. 67 Diefenbach, Zwischen Liturgie und civilitas (wie Anm. 21), 36f., der allerdings die Demut allzu sehr auf ihren außerweltlichen Bezugsrahmen reduziert (s. auch 39), obwohl er angesichts des Auftretens des Theodosius in der erwähnten Prozession während eines Unwetters letztlich doch beide Aspekte hervorhebt, wenn er festhält: „Diese Geste [sc. das Ablegen des Kaiserornats, M.M.] läßt sich sowohl in den klassischen Deutungshorizont der civilitas integrieren als auch [...] als Zeichen von Demut auffassen." 68 Vgl. Agapet, Ekthesis 63 (= Wilhelm Blum [Übers.], Byzantinische Fürstenspiegel. Agapetos, Theophylakt von Ochrid, Thomas Magister. Stuttgart 1981, S. 77): „Gott braucht niemand und nichts, der Kaiser braucht einzig Gott." Dazu vgl. Mischa Meier, Das andere Zeitalter Justinians. Kontingenzerfahrung und Kontingenzbewältigung im 6. Jahrhundert n.Chr. 2. Aufl. Göttingen 2004, 133.
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durchaus noch nach, und dies wiederum führte dazu, daß auch das Heer und vor allem in Konstantinopel - das Volk (inklusive der Eliten) ein Mitspracherecht einforderten69, so daß die Rechtfertigung des Kaisers vor Gott zugleich im Angesicht des Volkes zu erfolgen hatte, welches gleichsam über den Erfolg der Rechtfertigungsakte entschied und durchaus laut vernehmlich kundtat, ob es einen Kaiser akzeptierte oder nicht bzw. ob es ihm seine .orthodoxe' Frömmigkeit abnahm oder nicht. Nicht ohne Grund betont Theodosius II. in einer seiner Novellen mit so großem Nachdruck seinen unermüdlichen Einsatz für die vera religio10, nicht ohne Grund suggeriert Theodoret, daß die Bewahrung der .Orthodoxie' sogar gegenüber der Verteidigung des Reiches Priorität besitze71, und nicht ohne Grund verlangte das Volk seinerseits nach dem Tod Zenos (474-491) nach einem orthodoxen Kaiser72 - und solche Forderungen waren ernstzunehmen, wie z.B. der sogenannte Staurotheis-Aufstand des Jahres 512 belegt, der Anastasius (491-518) beinahe die Herrschaft gekostet hätte und der nur durch eine großartige Demutsgeste des Kaisers besänftigt werden konnte: Anastasius erschien ohne Diadem im Hippodrom vor den revoltierenden Massen.73 Daß der Aufstand dadurch augenblicklich kollabierte, zeigt eindrücklich, welch hohe Bedeutung der kaiserlichen Demut inzwischen zukam. Die Konstruktion des spätantiken Kaisertums als Herrschaft im Auftrag Gottes erforderte also eine außerweltlich begründete (weil auf Gott bezogene) besondere Frömmigkeit des Kaisers; die Kontinuitäten zum Prinzipat bewirkten hingegen, daß diese Frömmigkeit der Bevölkerung vermittelt werden mußte, wodurch sie auch einen innerweltlichen Bezugspunkt erhielt. Für die Kaiser bedeutete dies einen schwierigen Balanceakt, denn sie mußten Strategien finden, mit deren Hilfe die erforderliche Unterwerfung unter Gott in 69
Ioannes Karayannopoulos, Der frühbyzantinische Kaiser, in: Herbert Hunger (Hrsg.), Das byzantinische Herrscherbild. Darmstadt 1975, 235-257, bes. 252f.: „Der Kaiser der frühbyzantinischen Zeit ist der Auserwählte Gottes [...]; seine Macht stammt aber sowohl von Gott wie auch von dem Volk [...]." 70 Novella Theodosii 3 pr. (a. 438) (= Theodor Mommsen/Paul M. Meyer [Hrsg.], Codex Theodosianus. Bd. 2: Leges Novellae ad Theodosianum pertinentes. Hildesheim 1990, S. 7): „Inter ceteras sollicitudines, quas amor publicus pervigili cogitatione nobis induxit, praecipuam imperatoriae maiestatis curam esse perspicimus verae religionis indaginem." 71 Theod., hist. eccl. 4,31 und 5,15 (= Leon Parmentier [Hrsg.], Theodoret. Kirchengeschichte. 3., durchges. Aufl. Berlin 1998, S. 270f. u. 304f.). 72 De caerimoniis 1,92 (= Johann Jacob Reiske [Hrsg.], Constantini Porphyrogeniti Imperatoris De Cerimoniis Aulae Byzantinae Libri Duo. Bd. 1. Bonn 1829, S. 418,19-20; 421,12-13; 425,1). 73 loh. Mal. 16,19 S. 333 f. Thum; Euagrius, hist. eccl. 3,44 (= Joseph Bidez/Leon Parmentier [Eds.], The Ecclesiastical History of Evagrius with the Scholia. London 1898, Ndr. Amsterdam 1964, S. 146); Pseudo-Dionysius of Tel-Mahre: Chronicle, Part III. Transl. with Notes and Introduction by Witold Witakowski. Liverpool 1996, 9; Michael Syrus, Chronik 9,9 (= Jean-Baptiste Chabot, Chronique de Michel le Syrien, Patriarche Jacobite d'Antioche (1166-1199). Vol. 2. Paris 1901, Ndr. Brüssel 1963, S. 162f.).
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Kombination mit der ebenfalls erforderlichen Demonstration dieser Unterwürfigkeit vor der Bevölkerung nicht als Signal von Schwäche gedeutet werden konnte, Strategien also, welche die in der Spätantike - zumal im , orthodoxen' Konstantinopel mit dem spezifischen Selbstverständnis seiner Bevölkerung - zentrale Herrschertugend der Frömmigkeit sowohl in ihrem außerweltlichen wie in ihrem innerweltlichen Bezug umsetzen und vermitteln konnten, ohne dem Kaiser dabei wichtige Handlungsspielräume zu nehmen. Ich vertrete die These, daß Theodosius II. mit der Etablierung der Demut als besonderem Aspekt kaiserlicher Frömmigkeit diese Gratwanderung gelungen ist.
IV. Zur Begründung dieser These muß ich noch einmal zurückgreifen, dieses Mal auf Theodosius I. (379-395), den Großvater Theodosius' II., und seinen bekannten Bußakt von Mailand. Kurz zur Vorgeschichte74: Die Verhaftung eines populären Wagenlenkers in Thessalonike hatte zu Unruhen unter der dortigen Bevölkerung geführt, denen unter anderem der hohe kaiserliche General Butherich zum Opfer gefallen war. Theodosius reagierte darauf mit einem strengen Strafbefehl, den Butherichs Soldaten als Aufforderung zu einem Gemetzel mißverstanden. Zwar nahm der Kaiser seinen Befehl später noch zurück, doch es war bereits zu spät. Theodoret zufolge waren 7000 Menschen dem Blutbad zum Opfer gefallen. 75 Dieser Vorfall führte zum Konflikt zwischen dem Mailänder Bischof Ambrosius und dem Kaiser. Beide befanden sich in einer schwierigen Lage: Der Kaiser hatte schwere Schuld auf sich geladen, weil er emotional reagiert und im Zorn einen Mordbefehl erteilt hatte, den er nicht mehr rechtzeitig hatte korrigieren können; der Bischof seinerseits geriet in die Kritik, weil er dies nicht hatte verhindern können. Die Regierungsfähigkeit des Kaisers und die Autorität des Bischofs einer Kaiserresidenz standen
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Zu den im folgenden skizzierten Ereignissen s. im einzelnen Leppin, Theodosius (wie Anm. 43), 153ff.; vgl. auch Rudolf Schieffer, Von Mailand nach Canossa. Ein Beitrag zur Geschichte der christlichen Herrscherbuße von Theodosius d.Gr. bis zu Heinrich IV., in: DA 28, 1972, 333-370; Frank Kolb, Der Bußakt von Mailand. Zum Verhältnis von Staat und Kirche in der Spätantike, in: Hartmut Boockmann/Kurt Jürgensen/Gerhard Stoltenberg (Hrsg.), Geschichte und Gegenwart. Festschrift für Karl Dietrich Erdmann. Neumünster 1980,41-74; Neil B. McLynn, Ambrose of Milan. Church and Court in a Christian Capital. Berkeley/Los Angeles/London 1994, 315ff.; Ernesti, Princeps christianus (wie Anm. 30), 174ff.; Groß-Albenhausen, Imperator christianissimus (wie Anm. 32), 113 ff.; John Moorhead, Ambrose. Church and Society in the Late Roman World. London/New York 1999, 192-196; Meier, Göttlicher Kaiser (wie Anm. 22), 142ff. 75
Theod. hist. eccl. 5,17,3 S. 307 Parmentier/Hansen.
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zur Diskussion.76 Der weitere Fortgang der Geschehnisse ist bekannt: Ambrosius forderte Theodosius, der als Getaufter der kirchlichen Bußdisziplin unterlag, in einem ausführlichen Brief zur Buße auf 77 und dieser leistete schließlich Folge. Von einem Sieg der Kirche über den Staat oder von einem ersten Canossa-Gang kann hier keine Rede sein, wie die neuere Forschung klar gezeigt hat. 78 Vielmehr handelt es sich um einen zunächst unlösbar erscheinenden Konflikt zweier mächtiger Persönlichkeiten, denen erheblicher Ansehensverlust drohte. Mit dem Bußakt von Mailand (390 oder 39179) konnten beide Beteiligte ihren Ruf wiederherstellen.80 Der Kaiser als getaufter Christ unterwarf sich demütig Gott, und Ambrosius als Vertreter der Kirche akzeptierte dies: Die Demutsgeste verdeutlichte damit allen, daß Theodosius noch immer die Gnade Gottes genoß, sein Beauftragter und damit der legitime Herrscher war - hier kommt vor allem der außerweltliche Bezug der Demut zum Tragen. Ambrosius seinerseits konnte seine eigene Position wieder stärken; der Kaiser hatte sich seinem Willen gebeugt, die Kommunikation zwischen Herrscher und Vertreter der Eliten funktionierte wieder - dies verweist auf den innerweltlichen Bezug der Demut. Damit waren neue Handlungsspielräume für einen Kaiser geschaffen worden. 81 Der Bußakt von Mailand hatte gezeigt, daß es durchaus Möglichkeiten gab, die Unterwerfung unter Gott im Sinne einer funktionierenden Kommunikation mit Segmenten der Reichsbevölkerung zu nutzen. Eine Krise in seiner Herrschaft (deren Gewicht zuweilen überschätzt wird, die aber trotz allem für eine schwierige Situation gesorgt hatte) war gelöst worden, und beide Kontrahenten konnten sich als Sieger fühlen. Theodosius II. ist noch weiter gegangen: Während die Demutsgeste seines Großvaters ein punktueller82, aus einer besonderen Konfliktsituation resultie76
Vgl. Leppin, Theodosius (wie Anm. 43), 155. Ambr. epist. 11 (= Michaela Zelzer [Hrsg.], Sancti Ambrosi Opera. Pars Decima: Epistularum Liber Decimus, Epistulae extra Collectionem, Gesta Concili Aquileiensis. Wien 1982, S. 212-218); dazu s. Emesti, Princeps christianus (wie Anm. 30), 175ff. 78 Vgl. McLynn, Ambrose (wie Anm. 74), 326ff.; Leppin, Theodosius (wie Anm. 43), 158-161. Zur Diskussion der Forschungspositionen, die zum Bußakt von Mailand bisher vertreten worden sind, vgl. Ernesti, Princeps christianus (wie Anm. 30), 187-190. 79 S. dazu Leppin, Theodosius (wie Anm. 43), 158. 80 Ebd. 158f. 81 Vgl. McLynn, Ambrose (wie Anm. 74), 327-330; Groß-Albenhausen, Imperator christianissimus (wie Anm. 32), 118: „[...] doch hätte der Kaiser sich ihr [sc. der Forderung des Ambrosius, M. M.] gebeugt, wenn er darin nicht einen Vorteil für sich erblickt hätte?" 82 Allerdings scheint auch Theodosius I. das Potential demonstrativer Demutsgesten durchaus erkannt zu haben: Vor der entscheidenden Schlacht gegen den Usurpator Eugenius soll er sich in einer ganz spezifischen Weise vorbereitet haben, die bereits auf Gesten seines Enkels Theodosius II. vorausweist; seine angeblichen nächtlichen Gebete, eine gemeinsam mit Priestern und Volk veranstaltete Bittprozession und das Niederwerfen im Bußgewand (cilicio prostratus) sprechen jedenfalls bereits eine deutliche Sprache, vgl. Rufinus, hist. eccl. 11,33 (= Eduard Schwartz/Theodor Mommsen [Hrsg.], Eusebius Werke 2/ 77
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render Akt war (auch wenn Ambrosius sie in seiner Grabrede für Theodosius bereits in besonderer Weise stilisiert 83 ), zeigte er selbst sich permanent als demütig. Zugleich weitete er den Adressatenkreis der Demutsbezeugungen rigoros auf die Gesamtbevölkerung Konstantinopels aus. Damit gelang ihm nicht nur längerfristig die Etablierung einer neuen Kaisertugend, sondern er fand darin vor allem auch ein Handlungsmuster, mit dem er auf die Anforderungen reagieren konnte, die Konstantinopel mit seiner,orthodoxen' Bevölkerung an die Kaiser stellte, die hier allmählich ihre feste Residenz etablierten. 8 4 D i e relativ reibungslose Umwandlung der Stadt am Bosporus zum dauerhaften Kaisersitz, welcher die Kaiser mit ganz anderen Herausforderungen konfrontierte als R o m oder die temporären Residenzen des 3. und 4. Jahrhunderts, beruhte unter anderem auf solchen geschickten Maßnahmen. S o w i e der Aristokrat und Bischof Ambrosius sich durch Theodosius' I. Akt ernstgenommen und bestätigt fühlen konnte, handelte Theodosius II. mit Blick auf die Konstantinopolitaner. 8 5 D a s ist eine Leistung, die bei allen Vorbehalten, die man gegenüber Theodosius II. vorbringen kann, doch nicht unterschätzt werden sollte. 8 6 U m Theodosius I. zu seinem Bußakt zu bewegen, hatte Ambrosius ihm eine goldene Brücke gebaut. Er verwies ihn mehrfach und eindringlich auf das Vorbild des biblischen Königs David (der im Denken des Ambrosius ohnehin
2: Die Kirchengeschichte. 2., unveränd. Aufl. Berlin 1999, S. 1037: „Igitur praeparatur ad bellum non tarn armorum telorumque quam ieiuniorum orationumque subsidiis, nec tarn excubiarum vigiliis quam obsecrationum pernoctatione munitus, circumibat cum sacerdotibus et populo omnia orationum loca, ante martyrum et apostolorum thecas iacebat cilicio prostratus et auxilia sibi fida sanctorum intercessione poscebat." (Den Hinweis auf diese wichtige Parallele verdanke ich Hartmut Leppin.) 83 Vgl. Ambr. obit. Theod. 12 (= Otto Faller [Hrsg.], Sancti Ambrosii Opera. Pars Septima. Wien 1955, S. 377): „[...] cuius imperatoris: imperatoris pii, imperatoris misericordis, imperatoris fidelis [...] quid praestantius fide imperatoris, quem non extollat potential, superbia non erigat, sed pietas inclinet?" 28 S. 385 Faller: „et ideo, quia humilem se praebuit Theodosius imperator et, ubi peccatum obrepsit, veniam postulavit, conversa est anima eius in requiem suam [...]." 33 S. 388 Faller: „et ego [...] ,dilexi' virum misericordem, humilem in imperio, corde puro et pectore mansueto praeditum, qualem dominus amare consuevit dicens: ,supra quem requiescam, nisi supra humilem atque mansuetum?'" 34 S. 388 Faller: „stravit omne, quo utebatur, insigne regium, deflevit in ecclesia publice peccatum suum, quod ei aliorum fraude obrepserat, gemitu et lacrimis oravit veniam. quod privati erubescunt, non erubuit imperator, publicam agere paenitentiam [...]." Dazu Emesti, Princeps christianus (wie Anm. 30), 213 ff. 84 Vgl. ähnlich auch Diefenbach, Zwischen Liturgie und civilitas (wie Anm. 21), der ebenfalls hervorhebt, daß „Demutsgesten im Rahmen liturgischer Interaktionsformen der Integration des Ostkaisers in das städtische Umfeld der neuen Hauptstadt Konstantinopel" gedient hätten (39). 85 Ähnlich Diefenbach, Zwischen Liturgie und civilitas (wie Anm. 21), 43, mit Betonung des Nahverhältnisses zwischen Kaiser und Volk, das durch die Demutsgesten geschaffen wurde. 86 Zur weiteren Bedeutung der kaiserlichen Demut in der späteren byzantinischen Geschichte Otto Treitinger, Die oströmische Kaiser- und Reichsidee nach ihrer Gestaltung im höfischen Zeremoniell. 2. Aufl. Darmstadt 1956, 145-149.
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eine besondere Rolle spielte), und zwar speziell auf den Aspekt des demütigen Büßers.87 Diesen Anknüpfungspunkt griffen Theodosius' Nachfolger und zwar insbesondere Theodosius II. - auf, um sich selbst als demütigfromme Kaiser zu erweisen, wobei nunmehr auch zunehmend andere Züge der facettenreichen David-Figur zum Tragen kommen. 88 Bereits in der erwähnten Predigt des Johannes Chrysostomos anläßlich der Reliquientranslatio von Konstantinopel nach Drypia 400/02 wird - hier noch im Zusammenhang mit der Kaiserin Eudoxia - das Vorbild Davids evoziert. Der Kirchenhistoriker Sokrates vergleicht dann Theodosius II. selbst - aufgrund seiner Frömmigkeit - mit David. 89 Insbesondere unter Theodosius muß sich das David-Exempel in mannigfacher, heute nur noch indirekt nachvollziehbarer Weise etabliert haben: Jedenfalls wird im Jahr nach seinem Tod (45\) sein Nachfolger Marcian beim Konzil von Chalkedon unter anderem als „neuer David" (novus David) akklamiert90; gerade dieser Kaiser, der nicht mehr der Theodosianischen Dynastie entstammte und zu seiner Selbstlegitimation unter anderem Theodosius' Schwester Pulcheria in einer Josephsehe heiraten mußte, dürfte jede sich ihm bietende Gelegenheit ergriffen haben, um an Theodosius anzuknüpfen91. Seine Akklamation als „neuer David" im Jahr 451 besitzt somit auch eine gewisse Aussagekraft für die Selbstdarstellung Theodosius' II. Wie weit dessen Bezugnahme auf David möglicherweise gewirkt hat, veranschaulicht ein Blick in das 7. Jahrhundert: Noch Herakleios (610-641) stellte sich gezielt in eine David-Tradition92 - die sogenannten 87
Ambr. epist. 11,7-11 S. 214-216 Zelzer. Vgl. Emesti, Princeps christianus (wie Anm. 30), 179f., ferner auch 190ff. (zu Ambrosius' „Apologia Prophetae David ad Theodosium Augustum"); Leppin, Theodosius (wie Anm. 43), 156; Meier, Göttlicher Kaiser (wie Anm. 22), 143 f., sowie Heinz Bellen, Christianissimus Imperator. Zur Christianisierung der römischen Kaiserideologie von Constantin bis Theodosius, in: ders., Politik - Recht - Gesellschaft. Studien zur Alten Geschichte. Hrsg. v. Leonhard Schumacher. Stuttgart 1997, 151-166, bes. 162 ff. Zur Bedeutung Davids im Denken des Ambrosius s. etwa Moorhead, Ambrose (wie Anm. 74), 82f., 194f., sowie besonders den Beitrag von Hartmut Leppin in diesem Band. 88 Zur biblischen David-Gestalt, ihren unterschiedlichen Facetten und Anknüpfungspunkten für spätere Rezeption Lawrence A. Sinclair/Clemens Thoma, Art. „David", in: TRE 3, 1981, 378-388; vgl. daneben auch Jean Danidlou, Art. „David", in: RAC 3, 1957, 594603. 89 Sokr. 7,22,19 S. 370 Hansen: In Kriegen halte sich Theodosius wie David an Gott. 90 Eduard Schwartz (Ed.), Concilium Universale Chalcedonense. Bd. 2 (= ACO 2.1.2). Berlin/Leipzig 1933, S. 155 [351], Z. 12-13; Eduard Schwartz (Ed.), Concilium Universale Chalcedonense. Bd. 2 (= ACO 2.2.2). Berlin/Leipzig 1936, S. 9 [101], Z. 9-10: „novo Constantino Marciano, novo Paulo, novo David. Annos David da principi". 91 Vgl. Demandt, Spätantike (wie Anm. 3), 183ff. 92 Jan W. Drijvers, Heraclius and the Restitutio Crucis. Notes on Symbolism and Ideology, in: Gerrit J. Reinink/Bernard H. Stalte (Eds.), The Reign of Heraclius (610-641). Crisis and Confrontation. Löwen/Paris/Dudley 2002, 175-190, bes. 184f.; Claudia Ludwig, David - Christus - Basileus. Erwartungen an eine Herrschergestalt, in: Walter Dietrich/Hubert Herkommer (Hrsg.), König David - biblische Schlüsselfigur und europäische Leitgestalt. Stuttgart u.a. 2003, 367-382, bes. 373ff., sowie - sehr kurz - Walter E. Kaegi,
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„David Plates" könnten in diesen Kontext gehören. 9 3 Auffällig ist dabei, daß diese Programmatik offenbar mit einer Anknüpfung nicht nur an Konstantin I. 9 4 , sondern auch an Theodosius II. einhergeht: Herakleios benannte seine erste Ehefrau Fabia in Eudokia um (nach d e m Vorbild der Gattin des Theodosius), zwei seiner Söhne trugen die N a m e n David und Theodosius. 9 5 In der Forschung wurde mit gutem Grund konstatiert, daß „für die Spätantike eine Zunahme symbolischer Kommunikationsformen zu verzeichnen ist, die intertextuell unter Bezugnahme auf den biblischen Schriftkanon und auf transzendente Urbilder operierten." 96 D i e s läßt sich natürlich besonders leicht am erhaltenen homiletischen (und politischen) Schrifttum der Bischöfe nachweisen, insbesondere deijenigen unter ihnen, die nachhaltige politische A m bitionen besaßen. Theodosius II. hingegen hat es sehr geschickt verstanden, dieses Feld auch im N a m e n der Kaiser zu besetzen und dabei die Bibel als stets präsente Matrix kaiserlichen Handelns zu etablieren. D a ß gerade er dazu beste Voraussetzungen mitbrachte, geht aus der Überlieferung klar hervor: Seine besonderen Bibelkenntnisse werden eigens gelobt 9 7 und seine Frau Eudokia verfaßte sogar Bibeldichtungen, darunter aus Homerversen komponierte Werke über neutestamentliche Themen 9 8 . Heraclius. Emperor of Byzantium. Cambridge 2003, 114, 139. Zum Fortleben des DavidExempels in Byzanz s. Gilbert Dagron, Empereur et prêtre. Étude sur le „césaropapisme" byzantin. Paris 1996. 93 Vgl. Suzanne Spain Alexander, Heraclius, Byzantine Imperial Ideology, and the David Plates, in: Spéculum 52, 1977, 217-237; Marlia Mundell Mango, Imperial Art in the Seventh Century, in: Paul Magdalino (Ed.), New Constantines. The Rhythm of Imperial Renewal in Byzantium, 4th-13th Centuries. Aldershot 1994,109-136. Die Forschung zu den neun im Jahr 1902 auf Zypern entdeckten, kunstvoll gestalteten Silbertellern mit Szenen aus dem Leben Davids ist aufgearbeitet worden von Ruth E. Leader, The David Plates Revisited: Transforming the Secular in Early Byzantium, in: Art Bulletin 82, 2000,407-427, die allerdings einen Zusammenhang der Objekte mit der kaiserlichen Selbstdarstellung (der bisher stets vorausgesetzt wurde) bezweifelt. Kaegi, Heraclius (wie Anm. 92), 198, 220, läßt die Frage offen. 94 Dazu s. Wolfram Brandes, Konstantin der Große in den monotheletischen Streitigkeiten des 7. Jahrhunderts, in: The Dark Centuries of Byzantium (7th-9th c.). Ed. by the National Hellenic Research Foundation, Institute for Byzantine Research. Athen 2001, 89-107, bes. 96-99. 95 Zu Fabia/Eudokia: John R. Martindale, The Prosopography of the Later Roman Empire. Vol. 3a: A.D. 527-641. Cambridge 1992,457 (Eudokia quae et Fabia). Mit ihr hatte Herakleios eine Tochter (geb. 611), die ebenfalls den Namen Eudokia trug. Zu David (geb. 630), einem Sohn des Herakleios und seiner zweiten Frau Martina, s. PLRE 3a, 390 (David 8); Martina war ebenfalls die Mutter des älteren, allerdings tauben Theodosius. 96 Diefenbach, Zwischen Liturgie und civilitas (wie Anm. 21), 43. 97 Sokr. 7,22,5 S. 369 Hansen. 98 Eudokia, die unter dem Namen Athenais als Tochter eines athenischen Sophisten geboren worden war, hatte eine hervorragende Ausbildung genossen und nach ihrer Eheschließung mit Theodosius II. offenbar eine Ausstrahlung entfaltet, die ihrem Leben rasch romanhafte Züge verlieh (vgl. etwa loh. Mal. 14,3-5 S. 272-275 Thum). Dabei trat sie auch als Schriftstellerin hervor: In Antiocheia hielt sie eine gelehrte öffentliche Rede (Euagrius, hist. eccl. 1,20 S. 28f. Bidez/Parmentier; Chr. Pasch. S. 585, Z. 8-12 Dindorf); auf den Per-
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Daß dabei gerade die David-Figur in besonderer Weise hervortrat und allmählich in Konkurrenz zum insbesondere seit Konstantin (vor allem durch Eusebius) etablierten Moses-Exemplum geriet", resultiert aus einer weiteren Facette des biblischen David: Er galt als Ahnherr Christi. 100 Mit der Bezugnahme auf David - vor allem auf seine Demut - konnte sich ein Kaiser somit zugleich auch indirekt in enge Verbindung mit Christus selbst bringen und somit dem Ideal der ô^oicocnç 0eoî), der Angleichung an Gott, in besonderer Weise gerecht werden. (Ähnliches scheint Pulcheria mit ihrer Marien-imitatio intendiert zu haben. 1 0 1 ) Die Demut, die David und insbesondere natürlich
serkrieg ihres Mannes dichtete sie panegyrische Hexameter (um 422: Sokr. 7,21,7-8 S. 368 Hansen). Sie verfaßte zudem eine „Metaphrasis Octateuchi" und eine „Metaphrasis Prophetarum Zachariae et Danielis" (Photius, Bibliothek, 183-184 (= René Henry [Ed.], Photius. Bibliothèque. Vol. 2 („Codices" 84-185). Paris 1960, S. 195-199), ferner die erwähnten Homercentonen über neutestamentliche Themen (Zon. 13,23,38-39 S. 111 Pinder). Ebenfalls in epischen Versen abgefaßt war ihre dreiteilige Bearbeitung der Cyprianuslegende (teilweise erhalten, vgl. Claudio Bevegni, Eudociae Augustae Martyrium S. Cypriani I, 1-99, in: Prometheus 8, 1982, 249-262). Zu Eudokia, der romanhaften Ausgestaltung ihres Lebens und zu ihren Dichtungen s. Hans-Georg Beck, Art. „Eudokia (Kaiserin)", in: RAC 6, 1966, 8'11 847; vgl. ferner Georg Röwekamp, Art. „Eudocia", in: Siegmar Döpp/Wilhelm Geerlings (Hrsg.), Lexikon der antiken christlichen Literatur. 3. Aufl. Freiburg/Basel/Wien 2002, 236. Einen rührenden Niederschlag haben die Nachrichten über Eudokia gefunden bei Ferdinand Gregorovius, Athenais. Geschichte einer byzantinischen Kaiserin. 2. Aufl. Leipzig 1882. Die literarischen Fertigkeiten der Kaiserin stehen allerdings nicht im besten Ruf, vgl. Arthur Ludwich, Eudokia, die Gattin des Kaisers Theodosios II, als Dichterin, in: RhM 37, 1882, 206-225; Cameron, The Empress and the Poet (wie Anm. 16), 279. - Edition der erhaltenen Fragmente: Arthur Ludwich (Hrsg.), Eudociae Augustae - Prodi Lycii - Claudiani Carminum, Graecorum Reliquiae. Leipzig 1897, S. 3-114. - Im einzelnen zu Eudokia auch Holum, Theodosian Empresses (wie Anm. 6), 112 ff. 99 Zu Moses als Vorbild und Bezugspunkt des spätantiken Kaisers (insbesondere Konstantins, der die zuvor verfolgten Christen gerettet hatte so wie Moses das Volk Israel vor den Ägyptern) s. Erich Becker, Konstantin der Große, der „neue Moses". Die Schlacht am Pons Milvius und die Katastrophe am Schilfmeer, in: ZKiG 31, 1910, 161-171; Claudia Rapp, Imperial Ideology in the Making. Eusebius of Caesarea on Constantine as „Bishop", in: JTS 49, 1998, 685-695; Rapp, Comparison (wie Anm. 55), 286 ff.; ferner Bellen, Christianissimus Imperator (wie Anm. 87), 156; vgl. auch Claudia Rapp, Holy Bishops in Late Antiquity. The Nature of Christian Leadership in an Age of Transition. Berkeley/Los Angeles/ London 2005, 125 ff. Rapp, Comparison, 295, weist ausdrücklich darauf hin, daß im 5. Jahrhundert die Vergleiche von Kaisern mit Moses zugunsten von David-Bezügen in den Hintergrund treten. Sie werden allerdings auch bei Theodosius II. durchaus noch präsent gehalten, vgl. etwa Sokr. 7,22,20-21 und 7,42,2 S. 370 u. 390 Hansen. 100 vgl. etwa Ambr. epist. 11,7 S. 214 Zelzer: „[...] rex propheta auctor Christi secundum camem prosapiae [...] David." 'Ol Zu Pulcherias Marien-Zmitafio s. etwa Holum, Theodosian Empresses (wie Anm. 6), 141 f., 174; Vasiliki Limberis, Divine Heiress. The Virgin Mary and the Création of Christian Constantinople. London/New York 1994, bes. 55, 59; Judith Herrin, The Imperial Feminine in Byzantium, in: P & P 169, 2000, 3-35, bes. 13. Dagegen scheint Theodosius' Frau Eudokia ihr Vorbild vor allem in Helena, der Mutter Konstantins I., gesehen zu haben, vgl. Georgius Cedrenus 591 S. 644; Holum, Theodosian Empresses (wie Anm. 6), 188 f.; Leppin, Christliches Kaisertum (wie Anm. 12), 141.
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Christus selbst als verus humilis und humilitatis magister gegenüber Gottvater vorlebten, wurde nun auch vom Kaiser praktiziert102, entsprechend dem Bibelwort: „Denn wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt, und wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden" (Mt 23,12). Die daraus resultierende religiöse Erhöhung des Herrschers spiegelt sich in dessen zunehmender Usurpation einer priesterlichen Rolle, und gerade Theodosius II. forcierte dies auch ganz gezielt: Die strikte Trennung der Bereiche des Priesters (hinter den Altarschranken) und des Kaisers in der Kirche, die Ambrosius noch Theodosius I. hatte abtrotzen können 103 , machte Theodosius II. wieder rückgängig.104 Der Altar der Sophienkirche in Konstantinopel wurde zudem mit einem Gewand Pulcherias bedeckt, deren Bildnis darüber angebracht wurde. 105 Es war nur folgerichtig, daß die Kaiser bei den Konzilien der Jahre 448 (Konstantinopel) und 451 (Chalkedon) als iepeiig und dQ/iegeiig akklamiert wurden. 106 All dies hatte herrschaftsstabilisierende Funktion, denn je erfolgreicher der Kaiser in seiner imitatio Christi erschien, desto deutlicher war für die Zeitgenossen die Legitimität seiner Herrschaft. Gerade die demonstrative Demut trug also immens zur Stärkung der Position des Theodosius bei. Nicht ohne Grund kann daher der Chronist Johannes Malalas im 6. Jahrhundert festhalten, dieser Kaiser sei vom ganzen Volk und vom Senat geliebt worden. 107 Aus dieser Perspektive wird man vorsichtiger über Theodosius II. urteilen müssen: Was uns auch heute noch vor einem mehr oder weniger unwillkürlich aufklärerischen Hintergrund in der Tradition Otto Seecks vorwiegend als schwüle, religiös überfrachtete Eunuchenherrschaft erscheint, könnte auch ein ganz spezifischer Politikstil mit durchaus funktionalen Komponenten gewesen sein.
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Ambr. De Apologia Prophetae David ad Theodosium Augustum 16,81 (= Pierre Hadot [Ed.], Ambroise de Milan. Apologie de David. Paris 1977, S. 182). In seiner Grabrede auf Theodosius I. bringt Ambrosius den Kaiser über die Eigenschaft der Demut direkt mit Christus in Verbindung, vgl. Ambr. obit. Theod. 27 S. 385 Faller: „ipse per humilitatem pervenit ad salutem. humiliavit se Christus, ut omnes elevaret. ipse ad Christi pervenit requiem, qui humilitatem fuerit Christi secutus." Zu Christus als Vorbild demütigen Verhaltens in der Spätantike vgl. auch Dihle, Demut (wie Anm. 30), 762. 103 Theod. hist. eccl., 5,18,20-25 S. 312-313 Parmentier/Hansen; Soz. 9,1,3 S. III 930; vgl. Ernesti, Princeps christianus (wie Anm. 30), 173 f.; Leppin, Christliches Kaisertum (wie Anm. 12), 194-197; ders., Theodosius (wie Anm. 43), 159. 104 vgl. Diefenbach, Frömmigkeit (wie Anm. 21), 58 mit Anm. 112. 105 Francois Nau (Ed.), La seconde partie de l'histoire de Barhadbesabba 'Arbai'a. Paris 1913 (PO 9.5), S. 565; Limberis, Divine Heiress (wie Anm. 101), 49f.; Diefenbach, Frömmigkeit (wie Anm. 21), 58. 106 Diefenbach, Frömmigkeit (wie Anm. 21), 58, mit den Belegen. 107
loh. Mal., 14,9 S. 278 Thum: itapa jiavTÖg xoC Ör||iou iXoi>nevoc; xai xfjg
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Alienígena coniugia Bestrebungen zu einem Verbot auswärtiger Heiraten in der Karolingerzeit Von
Walter Pohl D i e Entwicklung ethnischer Identitäten im Frühmittelalter hat in den letzten Jahren breites Interesse gefunden; seit längerem wird in Wien dazu geforscht, seit 2 0 0 5 auch in einem Wittgenstein-Preis-Projekt. 1 Dennoch sind zu vielen Fragen weitere Untersuchungen nötig. U m nur drei Beispiele für Desiderata in diesem Bereich zu nennen: Erstens sind zwar die ,Ethnogenesen' der Völkerwanderungszeit gut erforscht, doch die Rolle ethnischer Identitäten in der Karolingerzeit ist bisher weniger bekannt. 2 Zweitens wurde lange der geschlechtergeschichtliche Aspekt der Herausbildung ethnischer Zugehörigkeiten vernachlässigt, obwohl es dabei um wesentliche Gesichtspunkte geht, von der (passiven w i e aktiven) Rolle von Frauen in der ethnischen Memoria über die Bedeutung von Mischehen bis hin zur Frage, w i e Identitäten überhaupt gebildet oder konstruiert werden - sowohl bei Geschlechtern w i e bei Völkern spielt nämlich die Vorstellung von naturgegebener Zugehörigkeit eine verhängnisvolle Rolle. 3 Drittens schließlich, und das betrifft das Thema des vor1 Siehe u. a. Herwig Wolfram, Typen der Ethnogenese. Ein Versuch, in: Dieter Geuenich (Hrsg.), Die Franken und die Alemannen bis zur „Schlacht bei Zülpich" (496/97). (RGA, Erg.-Bd. 19.) Berlin/New York 1998, 608-627; Walter Pohl, Aux origines d'une Europe ethnique. Identités en transformation entre antiquité et moyen âge, in: Annales 60, 2005, 183-208; Patrick J. Geary, Europäische Völker im frühen Mittelalter. Zur Legende vom Werden der Nationen. Frankfurt am Main 2001. Für zahlreiche Hinweise zu diesem Aufsatz danke ich herzlich Richard Corradini, Albrecht Diem, Max Diesenberger, Mayke de Jong, Patrick J. Geary, Gerda Heydemann, Rosamond McKitterick, Marianne Pollheimer, Helmut Reimitz, Barbara Rosenwein, Pavlina Rychterovä, Stefan Schima, Herwig Wolfram und Ian Wood. Die Arbeit entstand im Zusammenhang des vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) durch die Verleihung des Wittgenstein-Preises geförderten Projektes „Ethnische Identitäten im frühmittelalterlichen Europa" am Institut für Mittelalterforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften sowie am Institut für Österreichische Geschichtsforschung an der Universität Wien. 2 Einige neuere Beiträge: Stefano Gasparri, Prima delle nazioni. Populi, etnie e regni fra Antichità e Medioevo. Rom 1997; Walter Pohl, Zur Bedeutung ethnischer Unterscheidungen in der frühen Karolingerzeit, in: Hans-Jürgen Häßler (Hrsg.), Sachsen und Franken in Westfalen. Zur Komplexität der ethnischen Deutung und Abgrenzung zweier frühmittelalterlicher Stämme. Oldenburg 1999, 193-208; Matthias Becher, Volksbildung und Herzogtum in Sachsen während des 9. und 10. Jahrhunderts, in: MIÖG 108, 2000, 67-84. 3 Walter Pohl, Gender and Ethnicity in the Early Middle Ages, in: Leslie Brubaker/Julia Smith (Eds.), Gender in the Early Medieval World: East and West, 300-900. Cambridge
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liegenden Bandes, muß gerade für das Frühmittelalter der Zusammenhang zwischen Christianisierung und der Entwicklung ethnisch begründeter regna erforscht werden. D i e Errichtung stabiler überregionaler Herrschaft gelang im Mittelalter in der Regel i m N a m e n einer gens, und zwar ausschließlich christlichen Herrschern. D i e Kirche organisierte das Volk Gottes und ordnete es damit einem König unter, der zugleich Dei gratia und i m Namen eines Volkes herrschte. D i e Integration der regna bedurfte aber auch einer Rechtfertigung für die Rolle der Völker ebenso w i e eines bestimmten Volkes im Rahmen der Heilsgeschichte. Dafür spielten biblische Modelle eine wichtige Rolle. 4 D i e vorliegende Skizze verbindet alle drei Fragenkomplexe, und zwar an Hand eines eigentlich peripheren Beispiels, nämlich einiger Stellungnahmen zu Heiraten mit Frauen fremder Herkunft i m 8. und 9. Jahrhundert. D i e Haltungen zu Exogamie und Endogamie waren seit jeher kulturell sehr unterschiedlich ausgeprägt, auch was das Heiratsverhalten herrschender Dynastien betraf. 5 Im Abendland haben viele Herrscher Ehen mit Frauen aus fremden Fürstenhäusern geschlossen, v o m Ostgotenkönig Theoderich, der Eheverbindungen mit den Königshäusern der Burgunder, Franken, Thüringer und Vandalen einging, bis zu den Habsburgern, die Gemahlinnen von Litauen bis Portugal fanden. Das entsprach den christlichen Ehevorschriften, wie sie sich i m Lauf des Frühmittelalters herausbildeten. S o sehr seit d e m Frühmittelalter die 2004,23-43, sowie viele weitere Beiträge im selben Band; Patrick J. Geary, Women at the Beginning. Origin Myths from the Amazons to the Virgin Mary. Princeton 2006. Die politische und kulturelle Rolle der Exegese des Alten Testaments im Frühmittelalter ist in letzter Zeit zu einem wichtigen Forschungsthema geworden. Siehe u. a. Pierre Riehe/ Guy Lobrichon (Eds.), Le Moyen age et la Bible. Paris 1984, darin bes. Pierre Riche, La Bible et la vie politique dans le haut Moyen age, 385-400; Richard Gameson (Ed.), The Early Medieval Bible. Its Production, Decoration and Use. Cambridge 1994; Giuseppe Cremascoli/Claudio Leonardi (Eds.), La Bibbia nel Medio Evo. Bologna 1996, darin bes. Claudio Leonardi, L'esegesi altomedievale. Da Cassiodoro ad Autperto (secoli VI-VIII), 149-166, sowie Silvia Cantelli Berarducci, L'esegesi délia rinascita Carolingia, 167-198; John J. Contreni, Carolingian Biblical Culture, in: Gerd van Riel u. a. (Ed.), Johannes Scottus Eriugena: The Bible and Hermeneutics. Löwen 1996,1-23; The Bible and Politics, in: Early Medieval Europe 7, 1998, mit den Beiträgen von Mayke de Jong, Ian Wood, Rob Meens und Yitzhak Hen\ Mayke de Jong, The Empire as Ecclesia: Hrabanus Maurus and Biblical Historia for Rulers, in: Yitzhak Hen/Matthew Innes (Eds.), The Uses of the Past in the Early Middle Ages. Cambridge 2000, 191-226; Celia Chazelle/Burton Van Name Edwards (Eds.), The Study of the Bible in the Carolingian Era. Turnhout 2003, bes. dies., Introduction: The Study of the Bible and Carolingian Culture, 1-16; Philippe Depreux/Bruno Judic (Eds.), Alcuin de York à Tours. Écriture, pouvoir et réseaux dans L'Europe du Haut Moyen age. Rennes 2004, bes. 209-318; Claudio Leonardi/Giovanni Orlandi (Eds.), Biblical Studies in the Early Middle Ages. Florenz 2005, darin bes. Thomas F.X. Noble, The Bible in the Codex Carolinus, 61-74. 4
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Grundlegende soziologische Erörterungen bei R. K. Merton, Intermarriage and Social Structure: Fact and Theory, in: Psychiatry 9, 1941,361-374; E. L. Cerroni-Long, Marrying Out: Socio-cultural and Psychological Implications of Intermarriage, in: Journal of Comparative Family Studies 15, 1984, 25^46. Ethnische Fragen spielen dabei freilich kaum eine Rolle.
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alttestamentlichen Inzestverbote (z.B. Lev 18) rezipiert, kommentiert und präzisiert wurden und große politische Wirksamkeit entfalteten, so selten ist vom Verbot der Heirat fremdstämmiger Frauen die Rede. 6 Nur die Dynastie der Karolinger scheint Heiraten mit Frauen, die von außerhalb ihres Machtbereiches stammten, lange Zeit möglichst gemieden zu haben.7 Das ist in der neueren Forschung meist politisch-pragmatisch erklärt worden, etwa durch die Sorge vor ausländischem Einfluß oder möglichen Komplikationen im Erbgang; dabei bleibt die Frage offen, ob dieselben Gründe nicht auch zu anderen Zeiten galten, wo ohne Zögern Eheverbindungen mit Frauen aus fremden Ländern gesucht wurden. Spielte dabei die ,Bibel als politisches Argument' eine Rolle? Immerhin gab es in der Karolingerzeit vereinzelte, aber entschiedene Versuche, Ehen mit Frauen fremder Herkunft zu verhindern. Dabei konnte explizit oder implizit auf alttestamentliche Vorbilder verwiesen werden.
I. Alttestamentliche Vorlagen Der Umgang mit Fremden ist im Alten Testament recht widersprüchlich behandelt; Beispiele finden sich sowohl für Offenheit für die Aufnahme von Fremden und die friedliche Koexistenz mit Nachbarvölkern als auch für xenophobe Tendenzen, bis hin zur wiederholten Forderung nach der völligen Vernichtung besiegter Feinde.8 Widersprüchlich sind auch die alttestamentlichen Aussagen zur Exogamie. Mischehen kommen im Alten Testament immer 6
Paul Mikat, Dotierte Ehe - rechte Ehe. Zur Entwicklung des Eheschließungsrechtes in fränkischer Zeit. Opladen 1978; Jean Gaudemet, Le manage en Occident. Les meurs et le droit. Paris 1987; Jean Imbert, Le temps carolingien. Vol. 2: L'Eglise: la vie des fidèles. (Historie du droit et des institutions de l'Eglise en Occident, Vol. 5/2.) Paris 1996, 15-76. 7 Zur karolingischen Heiratspolitik u. a. Siegfried Hellmann, Die Heiraten der Karolinger, in: ders., Ausgewählte Abhandlungen zur Historiographie und Geistesgeschichte des Mittelalters. Darmstadt 1961, 293-391; Theodor Schieffer, Eheschließungen und Ehescheidungen im Hause der karolingischen Kaiser und Könige, in: Theologisch-praktische Quartalschrift 1968, 37-43; Silvia Konecny, Die Frauen des karolingischen Königshauses. Die politische Bedeutung der Ehe und die Stellung der Frau in der fränkischen Herrscherfamilie vom 7. bis zum 10. Jahrhundert. Wien 1976; dies., Eherecht und Ehepolitik unter Ludwig dem Frommen, in: MIÖG 85, 1977, 1-21; Pauline Stafford, Queens, Concubines and Dowagers. The King's Wife in the Early Middle Ages. London/Washington 1998; JanetL. Nelson, Rulers and Ruling Families in Early Médiéval Europe. Alfred, Charles the Bald and Others. Aldershot 1999, No. XII-XVII; Rosamond McKitterick, Karl der Große. Darmstadt (im Druck); siehe künftig die Habilitationsschrift von Karl Ubl zu Inzestverboten im Frühmittelalter. 8 Siehe etwa C. van Honten, The Alien in Israelite Law. Sheffield 1991; Josef Schreiner/ Rainer Kampling, Der Nächste - der Fremde - der Feind. (Neue Echter Bibel: Themen, Bd. 3.) Würzburg 2000; Theresia Heither, Schriftauslegung - Das Buch Exodus bei den Kirchenvätern. Stuttgart 2002; Mark G. Brett (Eds.), Ethnicity and the Bible. Boston/Leiden 2002, 25-170.
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wieder vor; selbst König David stammte von der Moabiterin Ruth ab, was keineswegs verurteilt oder verschwiegen, sondern im Buch Ruth breit ausgeführt wird. Auf der anderen Seite wird die Heirat mit Frauen aus fremden Völkern mehrfach ausdrücklich verboten oder als unheilbringend kritisiert. In der Bibelforschung wird das vor allem auf Redaktionen der nach-exilischen Zeit zurückgeführt.9 Es mag sein, daß sich darin vor allem jüdische Identitätspolitik nach dem Trauma der Verschleppung oder Rivalitäten zwischen Heimkehrern aus Babylon und Zurückgebliebenen ausdrücken.10 Für einen mittelalterlichen Leser mußte aber die Botschaft deutlich genug sein und ließ sich bereits im Pentateuch finden. Bei der Erneuerung des Bundes am Sinai verkündet der Gott Israels ein Verbot von Mischehen: „Hüte dich, einen Bund mit den Bewohnern des Landes zu schließen [...]. Du wirst von ihren Töchtern für deine Söhne Frauen nehmen; sie werden mit ihren Göttern Unzucht treiben und auch deine Söhne zur Unzucht mit ihren Göttern verführen" (Ex 34,15—16).11 Das Deuteronomium (Dtn 7,1-4) sagt über die überwundenen Völker im Gelobten Land, Amoriter, Kanaaniter und andere: „Wenn der Herr, dein Gott, sie dir ausliefert und du sie schlägst, dann sollst du sie der Vernichtung weihen. Du sollst keinen Vertrag mit ihnen schließen, sie nicht verschonen und dich nicht mit ihnen verschwägern. Deine Tochter gib nicht seinem Sohn und nimm seine Tochter nicht für deinen Sohn!" Dennoch hat sich selbst König Salomon nicht daran gehalten, denn er „liebte neben der Tochter des Pharao noch viele andere ausländische Frauen: Moabiterinnen, Ammoniterinnen, Edomiterinnen, Sidonierinnen, Hethiterinnen. Es waren Frauen aus den Völkern, von denen der Herr zu den Israeliten gesagt hatte: Ihr dürft nicht zu ihnen gehen und sie dürfen nicht zu euch kommen; denn sie würden euer Herz ihren Göttern zuwenden... Sie machten sein Herz abtrünnig" (1 Kön 11,1—4).12 Die Folgen dieser und weiterer Verbindungen mit fremdstämmigen Frauen stellen die beiden Bücher 9
Joseph Blenkinsopp, Ezra - Nehemiah. London 1988; Daniel L. Smith-Christopher, Between Ezra and Isaiah. Exclusion, Transformation and Inclusion of the ,Foreigner' in Post-exilic Biblical Theology, in: Brett (Ed.), Ethnicity and the Bible (wie Anm. 8), 117142, dort 120: „There is a clear aversion to foreign women as marriage partners in later texts". 10 Daniel L. Smith-Christopher, The Mixed Marriage Crisis of Esra 9 - 1 0 and Nehemiah 13. A Study of the Sociology of Post-exilic Judean Community, in: T. Eskenazi/K. Richards (Eds.), Second Temple Studies. Vol. 2: Temple and Community in the Persian Period. Sheffield 1994, 243-265; Jacob L. Wright, Rebuilding Identity. The Nehemiah Memoir and its Earliest Readers. Berlin 2002. 11 Die lateinischen Ausdrücke für die fremden Völker sind unspezifisch: habitatores terrae', homines illarum regionum. Doch enthält 34,11 eine Aufzählung: Amoriter, Kanaaniter, Hethiter, Perisiter, Hiwiter und Jebusiter. 12 Num 36,5-10 sieht sogar vor, daß israelitische Frauen innerhalb ihres Stammes heiraten, damit das Erbe nicht an einen anderen Stamm übergeht. Vgl. Eckhart Otto, Art. „Ehe. II.: Altes Testament", in: RGG 2, 1994, Sp. 1071-1073: „Die Ehe ist familienexogam und sippenendogam."
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der Könige fatal dar; am schlimmsten wird die Ehe des Ahab mit Jesebel beurteilt (1 Kön 16,31-34). Im Frühmittelalter wurden Königinnen mehrfach durch den Vergleich mit Jesebel diffamiert (etwa Judith, die Gemahlin Ludwigs des Frommen), wobei es interessanterweise nicht immer eine Rolle spielte, ob sie ausländischer Herkunft waren oder nicht.13 Nach der Heimkehr von Babylon wurde die Auflösung von Mischehen zum Thema. „Das Volk Israels und die Priester und die Leviten haben sich nicht fern gehalten von der Bevölkerung des Landes und ihren Greueltaten, von den Kanaanitern, Hethitern, Perisitem, Jebusitern, Ammonitern, Moabitern, Ägyptern und Amoritern. Sie haben von deren Töchtern Frauen genommen für sich und ihre Söhne" (Esra 9,1-2). Die Heimkehrer bekennen: „Ja, wir haben unserem Gott die Treue gebrochen; wir haben fremde Frauen aus der Bevölkerung des Landes geheiratet" (Esra 10,2). Daraufhin trennen sich viele von ihren fremden Frauen und ihren Kindern; das Buch Esra schließt mit einer langen Liste aller Betroffenen (Esra 10,18-44). Dieselbe Situation beschreibt das Buch Nehemia (Neh 13,23-31): „Damals sah ich auch Juden, die Frauen von Aschdod, Amraon und Moab geheiratet hatten. Die Hälfte ihrer Kinder redete in der Sprache von Aschdod oder in der Sprache eines der anderen Völker, konnten aber nicht mehr Jüdisch. Ich machte ihnen Vorwürfe und verfluchte sie. Einige von ihnen schlug ich und packte sie bei den Haaren. Ich beschwor sie bei Gott: Ihr dürft eure Töchter nicht ihren Söhnen geben noch ihre Töchter zu Frauen für eure Söhne oder für euch selbst nehmen. Hat sich nicht wegen solcher Frauen Salomo, der König Israels, versündigt?"14 Das Neue Testament und das frühe Christentum setzten meist andere Akzente.15 Nur selten wurde zustimmend auf die alttestamentlichen Modelle einer Zurückweisung von Mischehen zurückgegriffen. Sulpicius Severus, der Verfasser der außerordentlich einflußreichen Vita des heiligen Martin, behandelt in seiner kurz nach 400 geschriebenen und weniger verbreiteten Chronik ausführlich die biblische Geschichte. Mehrfach hebt er die Ablehnung von Ehen mit Frauen fremder Herkunft hervor, etwa am Beispiel Esras oder der Engel, aus deren Ehen mit Sterblichen abscheuliche Monster hervorgingen; 13 Janet Nelson, Queens as Jezebels. Brunhild and Balthild in Merovingian History, in: dies., Politics and Ritual in Early Medieva] Europe. London 1986, 1-48; Brigitte Merta, Helenae conparanda regina - secunda Isebel. Darstellungen von Frauen des merowingischen Hauses in frühmittelalterlichen Quellen, in: MIÖG 96, 1988, 1-32; Mayke de Jong, Bride Shows Revisited. Praise, Slander and Exegesis in the Reign of the Empress Judith, in: Brubaker/Smith (Eds.), Gender in the Early Medieval World (wie Anm. 3), 257-277, hier 269. 14 Smith-Christopher, The Mixed Marriage Crisis (wie Anm. 10), und ders., Between Esra and Isaiah (wie Anm. 9), vermutet, daß es eher um Ehen zwischen Heimkehrern und (als .Kanaananiter' usw. verunglimpften) Zurückgebliebenen geht. Überhaupt besteht in einem Teil der Forschung die Tendenz, die xenophobe Aussage der Stellen zu relativieren oder sich davon zu distanzieren, siehe etwa H. G.M. Williamson, Ezra, Nehemiah. Waco 1985. 15 Schreiner/Kampling, Der Nächste (wie Anm. 8), 55-102.
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seine Schlußfolgerung ist deutlich: „cuncta cum externis societas perniciosa est". 16 Als Gegenbeispiel dient Abrahams Anordnung, Isaak solle eine Frau „ex ea tarnen tribu atque terra" erhalten.17 Sulpicius versteigt sich sogar zur Forderung, die Barbaren seiner Zeit, permixtas barbaras nationes, hätten wie im Alten Testament empfohlen - besser gleich ausgerottet werden sollen. 18 Die patristische Exegese hat Mischehen, soweit ein erster Überblick ergibt, positiver bewertet. Als Beispiel konnte Ruth dienen, die als Stamm-Mutter nicht nur König Davids, sondern auch Christi galt. Ambrosius etwa wendet sich ausführlich gegen die Auffassung, Ruth hätte als Moabiterin gar keinen Juden heiraten dürfen: „Quomodo enim Ruth, cum esset alienigena, Judaeo nupsit? Et qua ratione in Christi generatione eius putavit evangelista copulae commemoratione faciendam, quae legis serie vetabatur? Non ergo ex légitima Salvator generatione manavit?"19 Stammte Christus etwa letztlich aus einer illegitimen Verbindung? Ambrosius argumentiert mit dem Pauluswort, das (mosaische) Gesetz gelte nicht für die Gerechten, sondern nur für die Ungerechten (1 Tim 1,9). Ruth habe durch ihre Heiligkeit das Gesetz überschritten (definitionem legis excessit), sei nicht nur zur Israelitin, sondern auch zur Vorfahrin des Herrn geworden. Dadurch wiederum sei sie geeignet als Vorbild für alle Christen, „quia in illa nostrum omnium qui collecti ex gentibus sumus, ingrediendi in Ecclesiam Domini figura praecessit". Die Mischehe, das erkennt Ambrosius an, war gegen das jüdische Gesetz; aber erst dessen Überschreitung machte die Konversion der Heiden zum Christentum möglich. Im spätantiken Christentum ging es zwar immer wieder um das Problem der Heirat zwischen Christen und Heiden.20 Doch sah die siegreiche Kirche darin weniger eine Gefahr, sondern die Chance, den Glauben noch weiter zu verbreiten gerade christliche Frauen hatten großen Anteil an der Bekehrung ihrer Männer, etwa Chrothechilde beim Frankenkönig Chlodwig oder Berta bei Aethelbert von Kent. Entscheidend war eben, daß nicht wie im Alten Testament fremdstämmige Frauen zum Abfall von Gott drängten, sondern im Gegenteil ihre Männer zum Glauben führten oder darin bestärkten. Dennoch blieben in der Exegese die alttestamentlichen Mahnungen vor Ehen mit Frauen fremder Herkunft problematisch. Isidor von Sevilla kann als Beispiel dienen. Quid dicam, was soll ich über die sonstigen Taten Salomos 16 Sulpicius Severus, Chronik II 10,4; I 2,7-8; I 24,2 (= Ghislaine de Senneville-Grave [Ed.], Sources Chrétiennes 441. Paris 1999). Zum Werk Stefan Weber, Die Chronik des Sulpicius Severus. Charakteristika und Intentionen. Trier 1995. 17 Sulpicius Severus, Chronik I 7,4. Ich danke Veronika Wieser, Wien, für die Hinweise. 18 Sulpicius Severus, Chronik II 3,5-6. Auch in Rom war die Sichtweise bekannt, daß Vermischung zur Dekadenz führte, siehe etwa Livius 38,17,9ff.; Strabo 7,1,3; Tacitus, Germania 46,1 (den Hinweis verdanke ich Herwig Wolfram). 19 Ambrosius, Expositio Evangelii secundum Lucam, Migne, PL 15, 1887, Sp. 1684f. 20 Siehe Anm. 8.
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sagen, so leitet er über zur Diskussion von dessen Vorliebe für Frauen aus fremden Völkern.21 Die Heilige Schrift verurteilt ihn, und nicht einmal von einer Buße ist die Rede. Man könne auch nicht sagen, so fährt Isidor fort, daß diese fremden Frauen die Ecclesia in gentibus verkörperten; denn nicht sie seien zum Glauben geführt worden, sondern umgekehrt Salomo zum Unglauben. Beda hat in seinem Kommentar zu Esra und Nehemia eine schlüssigere Lösung anzubieten; kein Zweifel, so meint er, daß die uxores alienigenae, die sich die Heimkehrer aus Babylon genommen hatten, „Häresien und philosophischen Aberglauben" symbolisierten. Dabei zeigt Beda zunächst durchaus Verständnis dafür, daß die durch lange Gefangenschaft verarmten und geschwächten Israeliten sich mit jüngeren, schöneren und wohlhabenderen Frauen verbinden wollten. Dennoch, solange die Christen sich nicht schämten, alle Sünden der Heiden nachzuahmen, so degenerieren sie gleichsam durch die Ehe mit Frauen aus der Fremde vom heiligen Samen, den Gott in sie gepflanzt hat.22 Die allegorische Deutung entschärfte die alttestamentlichen Vorschriften, hielt sie aber auch präsent. Dennoch ist es überraschend, daß im 8. Jahrhundert ausgerechnet bei einem Papstbrief die alttestamentliche Warnung von Ehen mit ausländischen Frauen massiv wieder aufgegriffen wird. Es handelt sich um das vielleicht schärfste Beispiel xenophober Rhetorik, das aus dem Frühmittelalter überhaupt überliefert ist.
II. Der Brief Papst Stephans III. an Karl und Karlmann Der Brief wurde im Frühjahr oder Sommer 770 im Namen des Papstes Stephan III. an die Frankenkönige Karl (den Großen) und seinen Bruder Karlmann geschrieben und ist in der fränkischen Sammlung des „Codex Carolinus" erhalten.23 Es war eine für die Stellung der Päpste in Italien heikle Situation. 24 Seit zwei Jahrzehnten stützten sich die Päpste immer wieder auf das 21
Isidor, Mysticarum expositiones sacramentorum seu quaestiones in vetus Testamentum 11,6, Migne, PL 83, 1960, 207-424, hier Sp. 400f. Ich verdanke den Hinweis Gerda Heydemann, Wien. Allgemein zu Isidor als Exeget Jacques Fontaine, Isidore de Séville. Genèse et originalité de la culture hispanique au temps des Wisigoths. Turnhout 2000, 183— 198. 22 Beda Venerabilis, In Esra et Nehemiam c. 12, CCSL II 9A, 1969, 235-392. Vgl. die mit Anmerkungen versehene engl. Ûbers. von Scott De Gregorio, Liverpool 2006, 136-153, 225 f. 23 Codex Carolinus ep. 45. Zur Datierung und zum Kontext: Ottorino Bertolini, Roma di fronte a Bisanzio e ai Longobardi. Rom 1942, 644 (Frühjahr); Jörg Jarnut, Ein Bruderkampf und seine Folgen. Die Krise des Frankenreiches, in: ders., Herrschaft und Ethnogenese im Frühmittelalter. Münster 2002, 235-246, hier 240 (Sommer). 24 Bertolini, Roma (wie Anm. 23); Thomas F.X. Noble, The Republic of St. Peter. The Birth of the Papal State 680-825. Philadelphia 1984; Jarnut, Bruderkampf (wie Anm. 23); Janet Nelson, Making a Différence in Eighth-century Politics. The Daughters of Deside-
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Bündnis mit den Frankenkönigen, um das benachbarte Langobardenreich einzudämmen, ja zurückzudrängen.25 Nun verschärften sich jedoch die Spannungen zwischen den beiden Söhnen König Pippins, die 768 jeweils einen Teil des Frankenreiches geerbt hatten. In diesem Zusammenhang erwog Karl, eine Allianz mit dem Langobardenkönig Desiderius durch eine Heirat mit dessen Tochter (vielleicht hieß sie wie die Gemahlin Karlmanns Gerberga26) zu befestigen. Eine andere Langobardenprinzessin, Liutberga, war bereits mit dem Bayernherzog Tassilo III. verheiratet, eine weitere mit dem langobardischen Herzog von Benevent. Damit mußte man im päpstlichen Rom fürchten, den fränkischen Rückhalt gegen die Langobarden zu verlieren. Doch war die Situation in Rom selbst instabil; verschiedene Machtgruppen und politische Konzepte rivalisierten miteinander. Nach dem Tod Papst Pauls I. 767 hatte zunächst eine bewaffnete Adelsfraktion um Toto von Nepi als Nachfolger dessen Bruder, einen Laien, als Constantin II. durchgesetzt.27 Gegen ihn rief der Primicerius Christophorus, einer der führenden päpstlichen Beamten, den Langobardenkönig Desiderius zu Hilfe. Das langobardische Kontingent, das Constantin stürzen half, versuchte zunächst einen gewissen Philipp als Papst durchzusetzen, doch schließlich brachte Christophorus im August 768 seinen Kandidaten Stephan III. durch.28 Der Beauftragte des Desiderius, der Priester Talpert, wurde wohl (gegen die beschönigende Darstellung des „Liber Pontificalis") nicht ohne Zutun des Christophorus geblendet. Das neue Regime hatte nun wieder allen Grund, gegen die düpierten Langobarden fränkische Unterstützung zu suchen. Ein Brief Stephans III. an Karl rius, in: Alexander C. Murray (Ed.), After Rome's Fall. Narratore and Sources of Early Medieval History. Essays Presented to Walter Goffart. Toronto/Buffalo/London 1998, 171190; Johannes Fried, Der Weg in die Geschichte. Frankfurt am Main/Berlin 1994, 247; Rudolf Schieffer, Die Karolinger. 4. Aufl. Stuttgart/Berlin/Köln 2006, 70-74. 25 Walter Pohl, Das Papsttum und die Langobarden, in: Matthias Becher/Jörg Jarnut (Hrsg.), Der Dynastiewechsel von 751. Vorgeschichte, Legitimationsstrategien und Erinnerung. Münster 2004,145-162. 26 Nelson, Making a Difference (wie Anm. 24). Bertolini, Roma 648 (wie Anm. 23), nennt sie Ermengarda, mit dem Namen, den der Dichter Alessandro Manzoni in seinem im 19. Jahrhundert außerordentlich populären Drama .Adelchi" für sie erfand. In der alten MGH-Edition der Vita Adalhards durch Pertz (MGH SS, Bd. 2, 524-532, hier 525) wird ihr Name als Desiderata angegeben: „Carolus Desideratam, Desiderii regis Italorum filiam, repudiaret". In der älteren deutschen Forschung wurde sie daher .Desiderata' genannt. Migne (PL 120, 1960, Sp. 1511) liest dagegen desideratam [...] filiam. Siehe auch E. Delaruelle, Charlemagne, Carloman, Didier et la politique du manage franco-lombard ( 7 7 0 71), in: RH 56, 1932, 213-224, hier 217. Allgemein McKitterick, Karl der Große (wie Anm. 7), die betont, wieviel von der allgemein anerkannten Geschichtserzählung auf viel späteren Berichten und Hypothesen beruht. 27
Enciclopedia dei papi. Vol. 1. Rom 2000, s.v. Costantino antipapa (redazione), 670-675. LP 3-13; Noble, The Republic of St. Peter (wie Anm. 24), 113f.;7. T. Hallenbeck, Pope Stephen III: Why was he elected?, in: AHP 12, 1974, 287-299; Enciclopedia dei papi (wie Anm. 27), Vol. 1, s.v. Filippo, antipapa (Eugenio Susi), 675-677; ebd., s.v. Stefano III (Eugenio Susi), 677-681. 28
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und Karlmann verband das mit der Aufforderung, gemäß einer leider nicht mit überlieferten Liste (capitulare) für eine Restitution der langobardisch besetzten „Besitztümer des Heiligen Petrus" zu sorgen.29 Auf einer römischen Synode mit starker fränkischer Beteiligung im April 769 wurde die Rechtmäßigkeit der Wahl Stephans III. bestätigt, Constantin verurteilt und die Wahl von Laien zum Papst ausdrücklich verboten.30 In den fragmentarisch überlieferten Synodalakten spielt Christopherus eine Hauptrolle.31 Aus dem Bericht des „Liber Pontificalis" über diese Ereignisse wird deutlich, daß Christopherus und sein Sohn Sergius, auch er ein hoher kurialer Beamter, die Politik des päpstlichen Stuhls weitgehend bestimmten. „Dieser gesegnete Pontifex", Stephan nämlich, „bemühte sich sehr, seine Gesandten und seine brieflichen Ratschläge an seine Exzellenz Karl, König der Franken, und an dessen Bruder Karlmann, ebenfalls König, zu senden - Christopherus der Primicerius und Sergius der Secundarius hatte daran großen Anteil - um von Desiderius, dem König der Langobarden, die rechtmäßigen Besitztümer des Heiligen Petrus zu bekommen, deren Rückgabe an Gottes heilige Kirche er mit verhärtetem Herzen verweigerte. Desiderius kochte daher vor Wut gegen Christopherus und Sergius."32 Höchstwahrscheinlich ist der Brief vom Frühjahr oder Sommer 770 an Karl und Karlmann daher im wesentlichen ein Werk des Christopherus. Er ist, wie Janet Nelson gezeigt hat, nicht so sehr ein Produkt einer konsistenten antilangobardischen Politik der Päpste, sondern aus einer besonderen Konstellation und Interessenlage entstanden.33 Wenig später änderte sich die politische Lage wiederum. Karls und Karlmanns Mutter Bertrada kam nach Rom, um die päpstlichen Befürchtungen wegen der Eheverbindung Karls mit der Familie des Desiderius zu zerstreuen, und bot Zugeständnisse des Langobardenkönigs an. 34 Papst Stephan wandte sich von der antilangobardischen Politik ab, während Christopherus an der Allianz mit Karlmann festhielt. Das mußte zum Bruch führen. Mit Unterstützung des De-
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Codex Carolinus ep. 44. Hrsg. mit Kommentar von A. Werminghoff, MGH Conc., Bd. 2,1, 74-92. MGH Conc., Bd. 2, 1, bes. 82f. 32 LP n. 96, c. 28. Seit Duchesne hat es sich eingebürgert, in Christopherus einen wesentlichen Gestalter der päpstlichen Territorialpolitik zu sehen: Louis Duchesne, The Beginnings of the Temporal Sovereignty of the Popes. Transi, by A.H. Mathew. London 1908; Noble, The Republic of St. Peter (wie Anm. 24), 101. 33 Nelson, Making a Différence (wie Anm. 24); Jarnut, Bruderkampf (wie Anm. 23). Gegen die „fausse clarté" der von der modernen Historiographie den Päpsten zugeschriebenen Strategie gegen die Langobarden argumentiert auch Evelyne Patlagean, Variation imperiale sur le thème romain, in: Roma fra Oriente e Occidente. Settimane di studio del Centro di studi sull' Alto Medioevo 49. Spoleto 2002,1-48, hier 33. Etwas anders J. T. Hallenbeck, The Lombard Party in Eighth-century Rome. A Case of Mistaken Identity, in: Studi Medievali III 15, 1974, 950-966. 34 Jamut, Bruderkampf (wie Anm. 23); siehe auch M. V. Ary, The Politics of the FrankishLombard Marriage Alliance, in: AHP 19, 1981, 7-26. 30 31
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siderius und wahrscheinlich in Absprache mit dem Papst gelang es 771 einer rivalisierenden Fraktion unter dem Cubicularius Paulus Afiarta, Christopherus und Sergius trotz der Anwesenheit von Karlmanns Missus Dodo zu stürzen und blenden zu lassen. 35 Mehrere Annalen vermelden zum Jahr 770 in ähnlichen Formulierungen, daß Karls Mutter Bertrada die Tochter des Desiderius ins Frankenreich brachte, Carolo filio suo coniugio sociandam,36 Das muß bei ihrer Rückkehr aus Italien im Herbst des Jahres gewesen sein. Nur spätere Quellen, Einhard und die „Vita Adalhardi", berichten von einer tatsächlichen Heirat.37 Doch das fränkisch-langobardische Bündnis hielt nicht lange. Die Allianz gegen Karlmann, der am 4. Dezember 771 starb, war bald nicht mehr nötig. Einhard schreibt: „Die Tochter des Langobardenkönigs Desiderius, die er auf seiner Mutter Geheiß geheiratet hatte, verstieß er wieder, man weiß nicht aus welcher Ursache, nach einem Jahr, und vermählte sich mit der Hildegard, einer Frau von hohem Adel aus dem Volk der Schwaben, de gente Suaborum".3i Auch sie stammte also aus einem anderen Volk, das allerdings schon lange unter fränkischer Herrschaft stand. Daß es Widerstand gegen den Bruch des Ehebündnisses mit den Langobarden gab, wird gleich zweifach berichtet: Erstens erzählt die von Paschasius Radbertus verfaßte Vita von Karls Vetter Adalhard, dieser habe sich wegen der widerrechtlichen Verstoßung der Tochter des Desiderius, trotz der Eide einiger Franken, von einer weltlichen Karriere abgewandt und als Mönch nach Corbie zurückgezogen.39 Daß auch 35 Louis Halphen, La papauté et le complot Lombard de 771, in: RH 182,1938, 238-244; Ottorino Bertolini, La caduta del primicerio Cristoforo (771) nella versione dei contemporanei, e le correnti anti-longobarde e filolongobarde in Roma alla fine del pontificato di Stefano III (771-772), in: Rivista di Storia della Chiesa in Italia 1, 1947, 227-262, wiederabgedr. in ders., Scritti scelti di storia medioevale. Vol. 2. Livorno 1968, 613-677. Etwas anders J. T. Hallenbeck, Paul Afiarta and the Papacy. An Analysis of Politics in Eighth-century Rome, in: AHP 12,1974, 33-54, der Afiartas Hinwendung zu Desiderius rein machtpolitisch und nicht aus einer pro-langobardischen Haltung interpretiert. 36 Ann. Laureshamenses a. 770, MGH SS, Bd. 1, 30; Ann. Petaviani a. 770, MGH SS, Bd. 1, 13: „hoc anno domna Berta fuit in Italia propter filiam Desiderii regis, et redditae sunt civitates plurimae saneto Petro"; Ann. Nazariani a. 770, Lendi (Ed.), 155: „Berta duxit filiam Desiderii regis Langobardorum in Franciam"; Ann. Mosellani a. 770, MGH SS, Bd. 16,496; Ann. Fuldenses a. 770. Zu Bertrada: Janet Nelson, Bertrada, in: Becher/Jarnut (Hrsg.), Der Dynastiewechsel von 751 (wie Anm. 25), 93-108. 37 Einhard, Vita Karoli c. 18; Paschasius Radbertus, Vita Adalhardi, Migne, PL 120,1879, Sp. 1507-1555, hier 1511. Das ist kaum ein ausreichender Beleg für eine tatsächliche Hochzeit, wie McKitterick, Karl der Große (wie Anm. 7), bemerkt. Doch dürfte die Tochter des Desiderius tatsächlich mit Bertrada ins Frankenreich gekommen sein. 38 Einhard, Vita Karoli c. 18. 39 Paschasius Radbertus, Vita Adalhardi Sp. 1511. Ausführlich zum Kontext Brigitte Kasten, Adalhard von Corbie - die Biographie eines karolingischen Politikers und Klostervorstehers. Düsseldorf 1985, bes. 19-27; sie beschäftigt sich allerdings hauptsächlich mit der Frage, ob Adalhard zunächst Gefolgsmann Karlmanns gewesen war und erst nach dessen Tod zu Karl überging, was die Interpretation der Haltung Adalhards zum langobardischen Ehebündnis aber wesentlich erschwert.
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Adalhard zu denjenigen gehörte, die vor Desiderius den Heiratsbund beschworen hatten, wird öfters angenommen, hier aber nicht gesagt.40 Zweitens war Bertrada ungehalten, wovon Einhard erzählt: „Er [Karl] behandelte sie [Bertrada] immer mit großer Ehrfurcht, und nur als er sich von der Tochter des Königs Desiderius, die er ihr zuliebe geheiratet hatte, scheiden ließ, entstanden Unstimmigkeiten zwischen den beiden."41 Beide Quellen sind etwa ein halbes Jahrhundert später entstanden, und ihre Wertung entspricht kaum mehr deijenigen der Zeitgenossen, die den Fall mit Schweigen übergingen. Daß die Trennung auf Dissens stieß, wird aber sehr deutlich. Wir wissen nicht, welche Rolle der Papstbrief für Karls Entscheidung, Gerberga zurückzuschicken, gespielt hat. Argumente und eine moralische Rechtfertigung dafür bot er allemal. Jedenfalls wurde der Brief am fränkischen Hof aufbewahrt und später in den „Codex Carolinus" aufgenommen. 42 Anfang Februar 772 verschied auch Papst Stephan III., und unter seinem Nachfolger Hadrian I. wurde Paulus Afiarta seinerseits ein Opfer der erbarmungslosen Machtkämpfe im Umkreis der Päpste.43 Die anti-langobardische Linie setzte sich in Rom wieder durch. Der Biograph Stephans III. stand deutlich auf der Seite des Christophorus, dessen Taten er mit detaillierten Erzählungen rechtfertigte und beschönigte. Nun war der Weg frei für Karls Offensive gegen das Langobardenreich, das 773/74 unterworfen wurde. Der Brief Stephans III. gegen die fränkisch-langobardische Heiratsverbindung ist relativ lang, 139 Zeilen in der MGH-Ausgabe.44 Er beginnt mit einem ausführlichem Verweis auf die Nachstellungen des Teufels und auf die Schwäche der weiblichen Natur, die durch „verderbliche Schmeicheleien" den ersten Mann Adam zur Überschreitung des göttlichen Gebots gebracht habe. Dann kommt das Schreiben rasch auf den Punkt: Der Papst habe erfahren, daß König Desiderius einen der beiden Frankenkönige überzeugt habe, seine Tochter zu ehelichen. Später ist auch von einer möglichen Heirat des Desiderius-Sohnes Adelchis mit Karls Schwester Gisela die Rede. Es fallt auf, daß in Rom keine präziseren Informationen zur Verfügung standen; die Nachricht über eine geplante Eheverbindung kam sicherlich aus dem Langobardenreich, und der Brief wurde daraufhin sofort geschrieben, ohne daß genauere Informationen eingeholt werden konnten. Es folgen ausführlich die 40
Jarnut, Bruderkampf (wie Anm. 23), 243. Immerhin wird der Eidbruch gleich zweimal in der Vita unterstrichen. Einhard, Vita Karoli c. 18. 42 Zur Sammlung des „Codex Carolinus": Wilhelm Gundlach, Über den Codex Carolinus, in: Neues Archiv 17, 1892, 525-566; Noble, The Bible in the Codex Carolinus (wie Anm. 4); McKitterick, Karl der Große (wie Anm. 7). 43 Enciclopedia dei papi (wie Anm. 27), Vol. 1, s.v. Adriano I (Ottorino Bertolini), 681— 695, hier 681. 44 Codex Carolinus, ep. 45. Auszugsweise englische Übersetzung bei Paul Dutton, Carolingian Civilization. A Reader. Peterborough 1993, 24. 41
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Argumente des Papstes, warum das keine rechte Ehe sein könne, sondern eine teuflische und frevelhafte Verbindung. Gleich als erstes kommt der Verweis auf die Bibel, „sicut divinae scripturae historia instruimur, per aliene nationis iniustam copulam a mandatis Dei deviare". Die Eheverbindung mit einem fremden Volk ist, wie hier betont wird, nach der Heiligen Schrift gegen die Gebote Gottes. Es fällt auf, daß eine Erklärung nicht weiter für nötig befunden wird; man meinte offenbar auf die Schriftkenntnis der Empfänger vertrauen zu können. Der Text verweist wohl auf die oben genannten Zitate, vor allem auf das Beispiel Salomos. Die Argumentation wird an dieser Stelle um weitere Elemente erweitert. Eine Verbindung mit einem fremden Volk wäre in diesem Fall um so schlimmer, als sie die „praeclara Francorum gens, quae super omnes gentes eminet", durch eine Verbindung mit den Langobarden verunreinigen würde: „perfidae ac foetentissimae Langobardorum genti [...], quae in numero gentium nequaquam conputatur, de cuius natione et leprosorum genus oriri certum est". Abgesehen von der xenophoben Rhetorik, stützt sich das Argument auf die beschränkte Zahl der gentes, die im Alten Testament vorgesehen war. In der christlichen Rezeption wurde diese Vorstellung übernommen, auch wenn die Zahl zwischen 70 und 72 Völkern schwankt - Arno Borst hat zu dieser Frage in seinem „Turmbau von Babel" reiches Material zusammengestellt.45 Immer wieder wurde in Spätantike und Frühmittelalter versucht, aus biblischen, klassischen und zeitgenössischen Namen Listen dieser Völker zu kombinieren. Die offensichtliche Unvollständigkeit der so entstandenen Völkerkataloge blieb meist unproblematisch. Daß ein Volk nicht zu jenen gehörte, die heilsgeschichtlich vorgesehen waren, konnte daher leicht behauptet werden. Zwar hatte schon Isidor in seinen Etymologien die Langobarden in seine Völkerliste in Buch IX aufgenommen. 46 Doch die Franken, die gleich den Römern eine trojanische Abstammung behaupteten, ließen sich viel leichter in spätantik-christliche Völkergenealogien einfügen als die Langobarden, deren Origo gentis ihre Herkunft von dem sonst gänzlich unbekannten skandinavischen Volk der Winniler erzählte.47 Zugleich wird hier auf die Vorstellung von der besonderen Auserwähltheit der Franken verwiesen, wie sie schon früher im „Codex Carolinus" zum Ausdruck kommt. 48
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Arno Borst, Der Turmbau von Babel. Geschichte der Meinungen über Ursprung und Vielfalt der Sprachen und Völker. 4 Bde. Stuttgart 1957-1963. 46 Isidor, Etymologiae IX 2 , 9 5 (Langobarden), 101 (Franken). 47 Origo gentis Langobardorum, c. 1; Paulus Diaconus, Historia Langobardorum I, 7-9, MGH SS rer. Lang.; Walter Pohl, Art. „Origo gentis (Langobarden)", in: RGA 22, 2003 2 , 183-188. 48 Codex Carolinus, ep. 10: die Franken peculiares inter omnes gentes. In den Papstbriefen an Pippin ist der alttestamentliche Bezug stärker als später; siehe Mary Garrison, The Franks as the New Israel? Education for an Identity from Pippin to Charlemagne, in: Hen/
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Das dritte biblische Argument, auf das hier verwiesen wird, stammt aus dem Zweiten Korintherbrief des Paulus und betrifft die Mahnung an die Christen, sich nicht mit den Heiden gemein zu machen. Hier wird zum Unterschied von den Verweisen auf das Alte Testament wörtlich zitiert: „Was haben Licht und Finsternis gemeinsam? [...] Was hat ein Gläubiger mit einem Ungläubigen gemeinsam?"49 Hier werden die Langobarden implizit als Heiden abgetan, so wie einst Papst Gregor der Große vor 600 in seinen Briefen ebenso wie in den „Dialogi" die nefandissimi Longobardi als Heiden und Häretiker abgekanzelt hatte.50 Das war jedoch längst überholt: Spätestens seit der Beendigung des Drei-Kapitel-Schismas unter Cunincpert51, also seit fast einem Jahrhundert, waren die Langobardenkönige Katholiken wie die Karolinger. Doch standen sie immer wieder der päpstlichen Territorialpolitik im Weg, wogegen die päpstliche Propaganda das alte Schreckbild von den heidnischen Barbaren heraufbeschwor. Im Zusammenhang mit den langobardisch-fränkischen Heiratsplänen wird hier ein Bezug zu den Eheverboten zwischen Christen und Heiden hergestellt, die im frühen Christentum ungleich häufiger als die alttestamentlichen Verurteilungen fremdstämmiger Frauen eingeschärft werden. Unter anderem wurde gerade die hier zitierte Passage des 2. Korintherbriefes dazu herangezogen.52 Erst im nächsten Absatz erwähnt der Brief ein Argument, das unter anderen Umständen hätte ausschlaggebend sein können: Die beiden königlichen Brüder sind ja schon verheiratet, und zwar auf Anordnung des Vaters Pippin in legitimer Ehe mit Frauen „de eadem vestra patria, scilicet ex ipsa nobilissima Francorum gente". Wie legitim Karls Verbindung mit Himiltrud war, darüber mochte man freilich am Karolingerhof anderer Meinung sein. Zunächst hatte der Sohn aus dieser Ehe wie der Karlmanns den Vaternamen Pippin erhalten, was einen dynastischen Anspruch formulierte. Paulus Diaconus, der 783 zur Ehre der Karolinger die Gesta der Bischöfe von Metz schrieb, stellt fest, es habe zwischen Karl und Himiltrud kein legale connubium gegeben.53 Auch Innes (Eds.), The Uses of the Past (wie Anm. 4), 114-161, hier 144f.; Patlagean, Variations imperiales (wie Anm. 33), 35. 49 2 Kor 14-15. 50 Gregorius Magnus, Registrum epistolarum, MGH Epp., Bd. 1-2. Walter Pohl, Gregorio Magno e il regno dei longobardi, in: Claudio Azzara (Ed.), Gregorio Magno, l'impero e i regna (im Druck). 51 Walter Pohl, Heresy in Secundus and Paul the Deacon, in: Celia Chazelle/Katie Cubitt (Eds.) The Crisis of the Oikoumene. The Three Chapters and the Failed Quest for Unity in the Sixth-Century Mediterranean. Turnhout (im Druck). 52 Beispiele bei W.M. Plöchl, Geschichte des Kirchenrechtes. Bd. 1. 2. Aufl. Wien 1960, 89; Konzilsbeschlüsse dazu gab es bereits in Iliberis/Elvira (ca. 300), c. 15-17; siehe dazu José Orlandis/Domingo Ramos-Lisson, Die Synoden auf der Iberischen Halbinsel bis zum Einbruch des Islam (711), in: Walter Brandmüller (Hrsg.), Kirchengeschichte. Paderborn/ München/Würzburg 1981, 24f. 53 Paulus Diaconus, Gesta episcoporum Mettensium, MGH SS, Bd. 2, 260-268, hier 265;
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Einhard (c. 20) erwähnt in seiner „Vita Karoli" diese Frau nur als concubina und Mutter Pippins des Buckligen, nicht unter den legitimen Ehefrauen. 54 Mit solcherlei Einwänden rechnete auch der Autor unseres Briefes, deshalb lenkte er gleich wieder zurück auf das in seinen Augen offenbar schlagkräftigere Argument: „Et certae non vobis licet, eis dimissis, alias ducaere uxores vel extraneae nationis consanguinitate immisci". Wenn schon die in den Augen des Papstes legitime Ehefrau weggeschickt wird, dann soll sie jedenfalls nicht durch eine Blutsverbindung mit einem auswärtigen Volk ersetzt werden. Im folgenden Absatz wird dieser Punkt noch weiter vertieft. Keiner der Vorfahren Karls und Karlmanns hat „aus einem anderen Königreich oder einem auswärtigen Volk", „ex alio regno vel extranea natione", seine Ehefrau gewählt; niemand von ihnen hätte sich durch eine Heiratsverbindung mit dem schrecklichen Volk der Langobarden beschmutzt. Man war also in Rom durchaus darüber informiert, daß die karolingischen Hausmeier innerhalb der fränkischen Aristokratie geheiratet hatten.55 Dann geht es wieder ins Grundsätzliche: „Itaque nullus, exterae gentis assumta coniuge, innoxius perseveravit; advertite, queso, quanti qualesque potentes, per alienigena coniugia a praeceptis Dei declinantes et suarum sequentes uxorum aligene gentis voluntatem, validis inrepti excessibus immensa pertulere discrimina". Der direkte Verweis auf die biblische Historia kann hier unterbleiben, der Gedanke an Salomon und manche seiner Nachfolger lag wohl auf der Hand. Geschickt moduliert wird die Sorge der alttestamentlichen Autoren um das Eindringen fremder Kulte, was ja von einer Tochter des Desiderius und Schwester der Äbtissin von San Salvatore in Brescia kaum zu befürchten war. Der König müsse bei einer solchen Hochzeit dem Willen der fremden Frau und damit ihres Volkes folgen, das ist die Gefahr, die hier heraufbeschworen wird. Bevor im Rest des Briefes das Bündnis Pippins III. mit Papst Stephan II. in den Vordergrund rückt, wird noch ein Präzedenzfall zitiert.56 Danach habe der Janet Nelson, La famille de Charlemagne, in: Byzantion 61, 1991, 194-212, wiederabgedruckt in dies., Rulers and Ruling Families in Early Medieval Europe. Aldershot 1999, No. XII, 197. 54 Die ältere rechtsgeschichtlich orientierte Forschung suchte hier nach Definitionen wie Friedelehe, was aber die Flexibilität der Verbindungen merowingischer und frühkarolingischer Könige unterschätzt. Siehe Ruth Mazo Karras, The History of Marriage and the Myth of Friedelehe, in: Early Medieval Europe 14, 2006, 119-152. 55 Ian Wood, Genealogy Defined by Women: the Pippinids, in: Brubaker/Smith (Eds.), Gender in the Early Medieval World (wie Anm. 3), 234-256. 56 „Itaque et hoc, peto, ad vestri referre studete memoriam: eo quod, dum Constantinus imperator nitebatur persuadere sanctae memoriae mitissimum vestrum genitorem ad accipiendum coniugio filii sui germanam vestram nobilissimam Ghisylam [...] neque vos aliae nationi licere copulari, sed nec contra voluntatem apostolicae sedis pontificum quoquo modo vos audere peragere". Schon zuvor wird auf eine Aufforderung Stephans II. an Pippin verwiesen, keinesfalls seine Frau zu verlassen.
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byzantinische Kaiser Konstantin (V.) Pippin II. eine Heirat seines Sohnes (Leon) mit Pippins Tochter Gisela angeboten. Auf die Vorhaltungen des Papstes habe Pippin damals dieses Ansinnen abgelehnt. Leider ist gerade hier eine Lakune im Text, der erst mit der Schlußfolgerung „neque vos aliae nationi licere copulari" wieder einsetzt. Ein Brief in dieser Sache ist leider nicht erhalten, auch die fränkischen Quellen schweigen über den Plan einer byzantinischen Hochzeit Giselas. Fränkische und päpstliche Gesandte waren 763/ 64 in Konstantinopel und kamen 765 mit einer byzantinischen Gegengesandtschaft zu Pippin, was genügend Gelegenheit zu Verhandlungen über eine Heirat bot. Auch bei einer Begegnung in Gentilly im Jahr 767, wo über die Frage der Bilderverehrung diskutiert wurde, könnte darüber gesprochen worden sein.57 Eine fränkische Heiratsverbindung mit dem Bilderstürmer Konstantin lag kaum im Interesse Roms. Auch damals könnte schon der Primicerius Christopherus die Argumente geliefert haben; er war 763 als Leiter der päpstlichen Gesandtschaft nach Konstantinopel gegangen, und nach seiner Rückkehr erhob Konstantin V. schwere Vorwürfe gegen ihn, er habe die päpstlichen Instruktionen mißachtet und an die Byzantiner ebenso wie an die fränkischen Gesandten gezielt Falschinformationen gegeben. Papst Paul fühlte sich veranlaßt, in einem Brief an Pippin die Vorwürfe zurückzuweisen und sein Vertrauen in Christopherus auszudrücken.58 Christopherus hatte also ähnlich wie bei den Langobarden nicht nur politische, sondern auch persönliche Gründe, die fränkisch-byzantinische Heiratsverbindung abzulehnen. Freilich relativiert der Präzedenzfall der Verhandlungen Pippins mit Byzanz die Situationsgebundenheit des Briefes 45. Das biblische Argument der Warnung vor auswärtigen Heiraten könnte damals zum Repertoire päpstlicher Politik gehört haben. Der Brief endet mit der formelhaften Androhung des Anathems, sollte einer der Brüder der päpstlichen Mahnung, exhortatio, keine Folge leisten. Das war eine massive und fast verzweifelte Drohung gegen die Schutzherren der römischen Kirche. Als man in Rom den Hintergrund des Eheprojektes erfuhr, folgte ein schmeichelnder Brief an Karlmann mit dem Angebot, sein Kind zu
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Byzantinische Gesandtschaften: Codex Carolinus, ep. 28, 29, 36, 37. Bertolini, Roma (wie Anm. 23), 606-610, setzt die Hochzeitsverhandlungen auf 764/65 und bezieht den Dank an den „neuen Moses und neuen David" Pippin im Brief 39 auf die Ablehnung des Heiratsangebots. Nelson, Making a Difference (wie Anm. 53), 197, denkt an 767. Gentilly: Michael McCormick, Textes, images et iconoclasme dans le cadre des relations entre Byzance et I'Occident carolingien, in: Testo e immagine nell'alto medioevo. Settimane di studio del Centro italiano di studi sull'Alto Medioevo 41. Spoleto 1994, 95-158, hier 130. Siehe auch Peter Classen, Karl der Große, das Papsttum und Byzanz. Die Begründung des karolingischen Kaisertums. 3. Aufl. Sigmaringen 1985, 26. 58 Codex Carolinus, ep. 36; Bertolini, Roma (wie Anm. 23), 606; Salvatore Cosentino, Prosopografia dell'Italia Bizantina (493-804). 3 Vols. Bologna 2000, Vol. 1, 286.
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taufen. 59 Damit hatte sich der politisch Verantwortliche dieser Briefe, Christopherus, stark exponiert. Das mag zu seinem Sturz, noch vor dem Tod Karlmanns, beigetragen haben. Der Brief ist also eine Hauptquelle für das letztlich gescheiterte Projekt einer Verbindung der Karolinger mit dem langobardischen Königshaus. Als solche ist er immer wieder zitiert worden, allerdings meist ohne näher auf die inhaltliche Argumentation einzugehen. Allenfalls wurde ironisch die Schärfe der Argumentation vermerkt: „One of the most exquisitely intemperate letters ever written", nennt ihn etwa Thomas Noble; „das für unsere Begriffe geschmack- und maßlose Schreiben" Jörg Jarnut; von einem „linguaggio ancor più violente delle lettere più impetuose contro Aistolfo" spricht Bertolini.60 Meist interessiert vor allem der politische Kontext im Rahmen der Vorgeschichte der fränkischen Machtübernahme in Italien. Hier gilt er als einer der Belege dafür, wie sehr man in Rom gegen die expansiven Langobarden auf fränkische Unterstützung angewiesen war. Doch ergibt sich die Schärfe des Briefes nicht notwendig aus einer existenziellen Gefahr für Rom, wie die Mission der Bertrada zeigt. Oft wird in der Forschung das Ausmaß des langobardischen Druckes auf Rom weit überschätzt; die meisten langobardischen Interventionen erfolgten auf Ersuchen aus Rom, nicht zuletzt durch Christophorus selbst. Da uns für die Zeit von 744 (als die „Historia Langobardorum" des Paulus Diaconus endet) bis 774 kein Bericht aus langobardischer oder wenigstens neutraler Sicht zur Verfügung steht, sondern nur die Darstellungen langobardenfeindlicher päpstlicher wie fränkischer Quellen, ist das Geschichtsbild bis heute verzerrt. In Wirklichkeit waren die Langobardenkönige immer wieder kompromißbereit, während die Päpste seit Mitte des 8. Jahrhunderts als Erben der byzantinischen sacra res publica ihre territoriale Kontrolle über weite Teile der Halbinsel auszuweiten suchten. Es waren diese Rekuperationen teils schon länger langobardischer Städte, für die immer wieder fränkische Unterstützung gesucht wurde.61 Auch die Mission der Bertrada erreichte ja wesentliche Zugeständnisse des Desiderius an den Papst.62 Thomas Noble hat in seiner Entstehungsgeschichte der „Republik von St. Peter" zu Recht weniger die langobardische Bedrohung als Movens der Allianz mit den Franken hervorgehoben, sondern Sicherung und Ausbau der päpstlichen Territorialgewalt.63 Auch wenn man die Mahnung von Janet Nelson berücksichtigt, die Konsistenz der päpstlichen Politik gerade in jenen Jahren nicht zu überschätzen, wird man den Brief als Zeugnis einer bestimmten politischen Stra59
Codex Carolinus, ep. 47. Noble, The Republic of St. Peter (wie Anm. 24), 121; Jarnut, Bruderkampf (wie Anm. 23), 240; Bertolini, Roma (wie Anm. 23), 645. 61 Pohl, Das Papsttum (wie Anm. 25). 62 So stellen das ja auch die Annales Petaviani a. 770 dar, siehe Anm. 36. 63 Noble, The Republic of St. Peter (wie Anm. 24). 60
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tegie der päpstlichen Administration lesen können; zu berücksichtigen bleibt, daß es auch andere mögliche Strategien gab, etwa einen Ausgleich mit den Langobarden zu suchen, wie das immer wieder versucht wurde. Der Brief Stephans III. argumentiert jedenfalls sehr unverblümt machtpolitisch. Die Frankenkönige hätten das Bündnis mit Petrus und seinem Vikar, dem Papst, beschworen; seine Freunde hätten daher ihre Freunde zu sein und seine Feinde ihre Feinde.64 Nicht nur die fremdstämmige Ehe, auch der Bruch dieses Bündnisses wird am Ende des Briefes mit dem Anathem bedroht. Das .biblische Argument' gegen die Heirat Karls mit der Tochter des Desiderius stand in einem machtpolitischen Kontext und drückte kaum die Sorge des Papstes um eine Verkirchlichung des Eherechtes aus. Doch sollte man es auch nicht als bloße Propaganda abtun, als rhetorische Figur, die der politischen Ablehnung der Eheverbindung etwas Legitimität verleihen sollte. Immerhin ist in den folgenden Jahrzehnten in sehr unterschiedlichen Kontexten immer wieder von der Problematik einer Heirat mit fremden Frauen die Rede. Daß dieses Element im christlichen Eherecht schließlich bedeutungslos blieb, war in der Karolingerzeit vielleicht noch nicht gänzlich entschieden.
III. Die angelsächsischen Synoden von 786 Ein interessanter Fall ist in einem Brief Bischof Georgs von Ostia an Papst Hadrian aus dem Jahr 786 überliefert.65 Der Brief berichtet über seine Reise als päpstlicher Legat nach England gemeinsam mit dem Bischof Theophylakt von Todi, wo er vor Synoden in Northumbria und Mercia ein Reformprogramm vorlegte, das dort von König und weltlichen Großen ebenso beschworen und unterzeichnet wurde wie von den kirchlichen Amtsträgern. Unter den 20 Kapiteln dreht sich das 15. um die rechte Ehe: „Interdicuntur omnibus iniusta connubia, et incaestuosa, tarn cum ancillis Dei vel aliis illicitis personis, quam cum propinquis et consanguineis vel alienigenis uxoribus: et omnino anathematis mucrone perfoditur, qui talia agit". Hier ist neben den häufig als unrecht bezeichneten Ehen mit Verwandten oder Nonnen auch die mit 64
„Ita vos beato Petro et praefato vicario eius vel eius successoribus spopondisse, se amicis nostris amicos esse et se inimicis inimicos". S. 562, Z. 3-5. 65 In MGH Epp., Bd. 4 unter den Briefen Alkuins veröffentlicht, n. 3 , 2 0 - 2 9 . Vgl. Michael Swanton (Ed.), The Anglo-Saxon Chronicles a. 786. London 2000, 54f. Ausführlich zu den Hintergründen Catherine Cubiti, Anglo-Saxon Church Councils, c.650-c.850. London 1995, 153-191; Joanna Story, Carolingian Connections. Anglo-Saxon England and Carolingian Francia, c. 750-870. Aldershot 2003, 55-92. Siehe auch Frank Stenton, Anglo-Saxon England. 3. Aufl. Oxford 1971, 215-217; Edward James, Britain in the First Millennium. London 2000, 192 f. Zur Beziehung Karls des Großen mit England siehe allgemein Joanna Story, Charlemagne and the Anglo-Saxons, in: dies. (Ed.), Charlemagne Empire and Society. Manchester/New York 2005, 195-210.
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Frauen fremder Herkunft genannt, ohne daß das weiter begründet oder präzisiert würde.66 Georg von Ostia war ein langgedienter Vertreter der päpstlichen Diplomatie, der unter drei verschiedenen Päpsten im „Liber Pontificalis" erwähnt ist und in zahlreichen Briefen des „Codex Carolinus" erscheint; so begleitete er Stephan II. 754 auf der Reise nach Ponthion.67 Während der Sperre des Landweges durch Aistulf 756 wurde er übers Meer mit der dringenden Bitte um Hilfe zu Pippin entsandt. Im Jahr 757 nahm er wiederum als päpstlicher Legat an der Synode von Compiégne teil, wo zu zwei Kapiteln ausdrücklich sein Konsens als Georgias episcopus Romanus erwähnt wird.68 Dabei ging es um Regeln der kanonischen Ehe, das Hauptthema in Compiégne - ein Verbot der Heirat von Frauen fremder Herkunft findet sich allerdings nicht. Unter Papst Paul verbrachte der erfahrene Verbindungsmann zwischen dem Papst und den Franken Jahre im Frankenreich, was möglicherweise mit Spannungen mit dem Papst zusammenhing; zumindest behauptete das Papst Constantin in einem Brief an Pippin, in dem Georg zur Rückkehr eingeladen wurde.69 Georg kehrte offenbar erst unter Stephan III. zurück und nahm an der Römischen Synode von 769 teil. 70 Georgs Mission erfolgte nicht nur im Auftrag des Papstes, sondern auch in dem Karls des Großen; nicht nur sind in der Datierung des Briefes dessen Regierungsjahre neben denen des Papstes genannt, er hatte auch den Abt Wigbod als eigenen Vertreter mitgesandt. Die Legaten überbrachten König Offa 66
Cubitt, Anglo-Saxon Church Councils (wie Anm. 65), 183, übersetzt anders als „wives of others", was aber beim Wort alienígena kaum naheliegt. 67 LP, n. 94, c. 23. An der Reise nahm auch der Regionarius Christopherus teil, höchstwahrscheinlich derselbe, der wenig später zum Primicerius aufrückte (für die Identifizierung Bertolini, Roma, [wie Anm. 23], 628; Cosentino, Prosopografia, [wie Anm. 58], Vol. 1, 285 f.) Zu Georg siehe Wilhelm Levison, England and the Continent in the Eighth Century. Oxford 1946,127-129; Cosentino, Prosopografia, Vol. 2, 48f. 68 Decretum Compendíense, MGH Capit., Bd. 1, n. 15, 37-39, c. 14, 20. Daß Georg hier als Vertreter des Papstes teilnahm, zeigt seine Nennung neben dem Sacellarius Johannes in c. 14. 69 Codex Carolinus, ep. 99. Vgl. Codex Carolinus, epp. 21 und 37 (Papst Paul akzeptiert in Briefen an Pippin sein Verbleiben im Frankenreich). Möglicherweise erhielt Georg zu seinem Sitz in Ostia noch die Diözese von Amiens, wie Bertolini, Roma (wie Anm. 23), 634, aufgrund der Nennung eines Georg von Amiens bei der Synode von 769 vermutet. So auch Story, Carolingian Connections (wie Anm. 65), 55. Dagegen Cosentino, Prosopografia (wie Anm. 58), Vol. 1,49. Das Problem sind die Unterschriften bei der Synode von 769. In der Edition des,,Liber Pontificalis" ist nur ein Georg von Amiens aufgelistet, was aber ausschließlich auf der Variante der (um 830 im Raum von Auxerre entstandenen) Leidener Handschrift beruht. Eine fragmentarische Überlieferung der Synodalakten in einer vermutlich Veroneser Handschrift enthält jedoch auch die Unterschrift eines Georg von Ostia, übrigens als erster der Reihe der Bischöfe: Concilia Aevi Carolini, MGH Conc., Bd. 2,1, 80. Im Brief von 786 nennt er als seinen Titel nur den eines Bischofs von Ostia. 70 LP, n. 96, c. 17 (Stephan III.); Bertolini, Roma (wie Anm. 23), 626. Noch 782 kam er als Gesandter Karls des Großen zu Papst Hadrian (LR n. 96, c. 26; Codex Carolinus, ep. 73).
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von Mercia ein päpstliches Kompendium, Syntagma, das eine Reihe von Ermahnungen enthielt. Doch erfuhr Georg auf dem Weg nach Northumbria weitere Mißstände, so daß er, offenbar gemeinsam mit Wigbod (der durch einen Genesis-Kommentar bekannt geworden ist71), ein eigenes „Capitulare de singulis rebus" verfaßte, das dann auf dem Konzil in Northumbria und später in Mercia vorgelegt wurde und in dem Brief zur Gänze aufgenommen wurde. Viele Materien im „Capitulare" sind übrigens reich mit Bibelstellen begründet (nicht allerdings Kapitel 15 über die rechte Ehe). Teilnehmer beider Konzilien und Reisebegleiter der Legaten auf dem Weg von Northumbria nach Mercia war auch Alkuin, der damals bereits einige Jahre in enger Verbindung mit dem Karolingerhof stand. Auch er hat möglicherweise zum „Capitulare" einiges beigetragen.72 Die im Brief aufgenommenen Kapitel stammen also wohl nicht direkt aus den Instruktionen Hadrians, sondern reagierten auf recht unterschiedliche Mißstände, die an die Legaten herangetragen wurden. Ausführliche und mit Bibelzitaten gespickte Kapitel behandeln etwa das rechte Verhalten des Königs (c. 11) und seine Wahl (c. 12). Das relativ knapp gehaltene Kapitel über die rechte Ehe erlaubt zunächst wenig Rückschlüsse über den Anlaß. Auffällig ist daran nur die Aufnahme der Bestimmung über die Ehe mit Ausländerinnen. Ein Zusammenhang läßt sich mit dem 19. Kapitel herstellen, das sich mit der Ausrottung heidnischer Bräuche beschäftigt. Es ist im Stil einer Mahnpredigt gehalten und enthält eine Reihe von Vorwürfen über die Art und Weise, wie die Bewohner von Northumbria Gebräuche ihrer heidnischen Nachbarn nachahmen oder übernehmen. Wahrscheinlich ging es dabei um die allerdings schon weitgehend christianisierten Pikten. „Vestimenta etiam vestra more gentilium, quos Deo opitulante patres vestri de orbe armis expulerunt, induitis", heißt es. 73 Das Motiv der besiegten Völker, deren Einfluß fernzuhalten ist, erinnert an die Stellen des Alten Testamentes, wo auch die Heiraten mit den Frauen der Besiegten verboten werden. Davon ist freilich an dieser Stelle nicht die Rede, es geht nur um das Loswerfen more gentilium, das Verspeisen von Pferdefleisch und ähnliches. Die Sorgen, die Georgs einheimi71
Michael Gorman, The Encyclopedic Commentary on Genesis Prepared for Charlemagne by Wigbod, in: Recherches Augustiniennes 17,1982,173-201; ders., Wigbod and Biblical Studies under Charlemagne, in: Revue Benedictine 107,1997,40-76, beide wiederabgedr. in: ders., Collected Studies on Biblical Commentaries. Florenz 2004; Donald A. Bullough, Carolingian Renewal. Manchester 1991, 14. 72 Vor allem Cubitt, Anglo-Saxon Church Councils (wie Anm. 65), 166-191, schätzt Alkuins Beitrag hoch ein (besonders zu den Kapiteln 11-14), und verweist auf Parallelen zur karolingischen „Admonitio Generalis" von 789. Vorsichtiger Story, Carolingian Connections (wie Anm. 65), 63; Donald A Bullough, Alcuin - Achievement and Reputation. Leiden/New York 2004, 346-356. Über Alkuin zu dieser Zeit Donald A. Bullough, Alcuin before Frankfurt, in: Rainer Berndt (Hrsg.), Das Frankfurter Konzil von 794. Mainz 1997, 571-585. 7 3 MGH Epp., Bd. 4, n. 3, 27.
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sehe Gewährsleute geäußert hatten, spiegeln sich vermutlich besonders stark in diesem Passus. Alkuin hat daran wohl einigen Anteil gehabt, denn Briefe mit Klagen über den Sittenverfall der Angeln sind von ihm mehrfach bekannt.74 Der Bischof von Ostia mag die Verbindung zum alttestamentlichen Verbot der Heirat von Frauen fremder Herkunft hergestellt haben. Den von Christopherus inspirierten oder verfaßten Brief gegen die Heirat der Töchter des Desiderius kannte der erfahrene Diplomat sicher, er muß auch mit Christopherus gut bekannt gewesen sein. Zwar ist denkbar, daß die Heiratsverbote auf Wunsch aus Northumbria in die Synodalbestimmungen kamen; naheliegender ist, daß Georg die ausländischen Frauen in das Kapitel über die Eheverbote eingebracht hat. Vermutlich war es wenige Jahre später, als eine Ehe zwischen Karls Sohn Karl dem Jüngeren und einer Tochter Offas erörtert wurde. Leider ist die Quellenlage zum gescheiterten Eheplan ähnlich schlecht wie bei vielen anderen derartigen Fällen, so daß sich über den Hergang oder gar die Gründe des Scheiterns wenig sagen läßt. Die Initiative ging angeblich von Karl dem Jüngeren aus, und Offa verlangte daraufhin, daß zugleich sein Sohn Ecgfrith Bertha, eine Tochter Karls des Großen, erhalten sollte. Dieser war offensichtlich beleidigt, ließ das Projekt platzen und sogar die fränkischen Häfen für Händler aus England sperren; Alkuin und Abt Gervold von St. Wandrille mußten für ihre Wiederöffnung längere Verhandlungen führen. 75 Die Synodalakten von 786 sind nur aus Georgs Brief bekannt, der wiederum in einer einzigen Wolfenbütteler Handschrift des 10. Jahrhunderts überliefert ist.76 Das heißt nicht, daß die Synode wirkungslos geblieben ist. Bewahrt wurde die Handschrift jedenfalls im Frankenreich. Doch auch die Einleitung zu den Gesetzen König Alfreds erinnert an „synod-books" unter anderem König Offas; Patrick Wormald nahm daher an, die mercischen Synodalakten von 786 hätten als Vorlage für die Gesetze Alfreds gedient.77 Alkuins Briefe verweisen mehrfach auf die „guten, maßvollen und keuschen Sit74
MGH Epp., Bd. 4, n. 18, 14-51; n. 79, 120f.; n. 101, 147f. Gesta Abbatum Fontanellensium, MGH SS, Bd. 7, 46 f. Stenton, Anglo-Saxon England (wie Anm. 65), 220; Levison, England and the Continent (wie Anm. 67), 111-113; Konecny, Die Frauen (wie Anm. 7), 78f.; Stafford, Queens, Concubines and Dowagers (wie Anm. 7), 47 (im Kontext der karolingischen Heiratspolitik); McKitterick, Karl der Große (wie Anm. 7), weist aber zu Recht darauf hin, daß diese Rekonstruktion hypothetisch und der Zusammenhang mit der Hafensperre problematisch ist. 76 Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel, MS Helmstedt 454, fol. 113v-127v; Cubitt, Anglo-Saxon Church Councils (wie Anm. 65), 270f.; Story, Carolingian Connections (wie Anm. 65), 58, n. 12. 77 The Laws of King Alfred, Introduction 49. Patrick Wormald, The Making of English Law: King Alfred to the Twelfth Century. Vol. 1: Legislation and its Limits. Oxford 1999, 106 f., nimmt an: „The legatine report was known in tenth-century England, and is not a bit likely to have survived there as is now extant, that is as a letter to the pope from his legates. Its English persona is more likely to have been conciliar proeeedings [...]." 75
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ten, die König Offa seligen Angedenkens eingeführt hat", was als Verweis auf das Konzil von 786 verstanden werden kann, an dem Alkuin selbst teilgenommen hatte.78 Ob ein Brief Alkuins an den jungen Pippin von Italien Ende 796 als Warnung vor Verbindungen mit Frauen fremder Herkunft zu interpretieren ist, bleibt ungewiß. Alkuin ermahnt den König, bei seiner Konkubine zu bleiben und sich nicht fremden Frauen zuzuwenden: „Laetare cum muliere adoliscentiae tuae; et non sint alienae participes tui; ut benedictio tibi a Deo data in longam nepotum procedat posteritatem".79 Eine fremde Frau (aliéna) ist in der Terminologie der Zeit in der Regel eine, die bereits verheiratet ist; doch könnte hier auch eine Fremde gemeint sein.80 Im Jahr von Pippins Triumph über das Awarenreich wäre diese Sorge denkbar. Der Rat, bei der ersten Partnerin zu bleiben, erinnert an den Stephans III. an Karl den Großen. Alkuin war selbst als Fremder, alienus, ins Frankenreich gekommen: „si me alienum quidam vobis utilia fundere cognoscitis", schreibt er einmal und verweist auf das Vorbild des Moses, der den Rat eines alienigena nicht gescheut hatte, nämlich seines midianitischen Schwiegervaters Jethro (Ex 18,17—27).81 Dieselbe biblische Parallele, mit einem Zitat aus dem Heptateuch-Kommentar des Augustinus, erscheint wieder in den „Libri Carolini", dem für das Frankfurter Konzil von 794 erstellten Traktat gegen die Bilderverehrung.82
IV. Beispiele aus dem 9. Jahrhundert Politischer Gebrauch wurde vom Verbot einer Heirat mit Frauen fremder Herkunft in der „Ordinatio Imperii" gemacht, der Reichsteilung unter den Söhnen Ludwigs des Frommen im Juli 817.83 Das 13. Kapitel behandelt den Fall, daß 78
Alkuin, ep. 122, 180; ep 123, 180f.; Wormald, The Making of English Law (wie Anm. 77), 107. 79 Alkuin, ep. 119,174. 80 Heinrich Fichtenau, Das Karolingische Imperium. Soziale und geistige Problematik eines Großreiches. Zürich 1949, faßt den Brief als Warnung vor Polygamie („keine Fremde") auf. Gemäß der französischen Übersetzung („aucune étrangère") in: ders., L'Empire Carolingien. Paris 1958, verstehen Jean Devisse, Hincmar, Archevêque de Reims, 845-882. 3 Vols. Genf 1975, hier Vol. 1, 373, und Pierre Riche, La Bible et la vie politique dans le haut Moyen âge, in: Pierre Riché/Guy Lobrichon (Eds.), Le Moyen âge et la Bible. Paris 1984, 385-400, die aliéna als Ausländerin. 81 Alkuin, ep. 69, 113. 82 Opus Caroli régis contra synodum, MGH Conc., Bd. 2, c. I 9, p. 151; nach Augustinus, Quaestiones in Heptateuchum, Exod. 69, CCSL 33, 1958,101. 83 Dieter Hägermann, Reichseinheit und Reichsteilung. Bemerkungen zur Divisio regnorum von 806 und zur Ordinatio Imperii von 817, in: HJb 95,1975, 278-307; Franz-Reiner Erkens, Divisio légitima und unitas imperii. Teilungspraxis und Einheitsstreben bei der Thronfolge im Frankenreich, in: DA 52, 1996, 423-485; Sören Kaschke, Die karolingischen Reichsteilungen bis 831. Herrschaftspraxis und Normvorstellungen in zeitgenössi-
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nach dem Tod Ludwigs seine Enkel heiraten wollen. Dabei soll auch der Rat der Onkel eingeholt werden, damit keine Zwietracht entsteht. Vor allem aber soll keiner von ihnen eine Frau aus einem auswärtigen Volk nehmen: „ut de exteris gentibus nullus illorum uxorem accipere praesumat".84 Doch können sie ihre Frauen durchaus in den anderen Teilreichen suchen. Das Verbot sollte wohl verhindern, daß einer der Brüder auswärtige Unterstützung gegen die anderen suchte. Das in der Präambel genannte Ziel war ja, die „fines regni, qui ad alienígenas extenduntur", gemeinsam verteidigen zu können. Doch erscheint diese Bestimmung in den zu Lebzeiten Karls ausgearbeiteten Teilungsplänen nicht; da ging es nur darum, sicherzustellen, daß weiterhin Eheverbindungen auf allen Ebenen zwischen den Teilreichen möglich blieben, wie in der „Divisio regnorum" von 806.85 Im 9. Jahrhundert erregte die alttestamentliche Kritik an Frauen fremder Herkunft gelegentlich auch Aufmerksamkeit in der Exegese. Im Kommentar des Hrabanus Maurus zum Deuteronomium kommentierte er unter anderem die Stelle Dtn 17,14-20, über die Rolle des Königs.86 Hier spricht der Text des Alten Testaments davon, daß die Juden „keinen Ausländer" über sich zum König einsetzen sollen, „weil er nicht dein Bruder ist". Der König „soll sich auch keine große Zahl von Frauen nehmen, damit sein Sinn nicht vom rechten Weg abweicht". Zur letzten Bestimmung bemerkt Hrabanus, daß Salomon davon abgewichen sei. „Hoc magis videtur praecepisse", so fährt er fort, „ne multiplicando perveniat ad alienígenas feminas, per quas factum est in Salomone, ut discederet cor eius a Deo". Der Kommentar verweist direkt auf die anfangs zitierte Stelle über Salomons fremdstämmige Frauen: „Sie machten sein Herz abtrünnig" (1 Kön 11, 1—4). Das wesentliche Vergehen, so fährt Hrabanus fort, sei aber die multiplicatio, auch wenn es sich dabei ausschließlich um Hebräerinnen handeln sollte. Hier wird das Verbot fremdstämmiger Frauen also zu einem Bibeltext hinzugefügt, in dem es gar nicht erwähnt ist, was beweist, daß Hrabanus über dieses Problem nachgedacht hatte. Es wird, in der Karolingerzeit nicht ganz unaktuell, mit der Vielweiberei in Verbindung gebracht und überdies von den Konsequenzen (dem Abfall von Gott), nicht vom Prinzipiellen her gedacht. Dort, wo im Deuteronomium (Dtn 7,1-26) sehr wohl vom Verbot fremdstämmiger Ehen und von der Ausrottung besiegter Feinde die Rede ist, geht Hrabanus gar nicht darauf ein, sondern stellt eischer Sicht. Hamburg 2006, 324-353, bes. 332; siehe auch Brigitte Kasten, Königssöhne und Königsherrschaft. Untersuchungen zur Teilnahme am Reich in der Merowinger- und Karolingerzeit. Hannover 1997, 254-257. 84 Ordinatio Imperii a. 817, c. 13, MGH Capit., Bd. 1, 270-273, hier 272. 85 Divisio regnorum c. 12, Karoli Magni Capitularía, MGH Capit., Bd. 1,129. 86 Hrabanus Maurus, In Deuteronomium II, 17, Migne, PL 108, 1962. Ich verdanke den Hinweis auf die Stelle meiner Schülerin Gerda Heydemann. Hrabans Kommentar zu Dtn 7,1-26 beruht auf Isidor, Mysticarum expositiones sacramentorum seu quaestiones in vetus Testamentum 11,6, Migne, PL 83, 1960, 207-^24, hier 366ff.
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nen allegorischen Vergleich der sieben besiegten Völker mit den sieben Lastern an. Die Briefe des Hrabanus beschäftigen sich immer wieder mit Fragen der rechten Ehe, mit Inzest und Ehebruch, doch eine Warnung vor fremdstämmigen Ehefrauen kommt darin nicht vor.87 Hinkmar von Reims hat sich außerordentlich viel mit Fragen der rechten Ehe beschäftigt, was sich vor allem in seiner Streitschrift gegen die Scheidung Lothars ausdrückt, wo weit ausgeholt wird, um die Unauflöslichkeit der Fürstenehe zu betonen.88 Auswärtige Frauen spielten auch hier keine Rolle. In seinem Traktat „De cavendis vitis et virtutibus exercendis" findet er für das Begehren nach einer fremden Frau (aliena/extranea uxor/coniunx) das Beispiel von David und Batseba, der Frau seines hethitischen Söldners Urias, mit der er Ehebruch beging.89 Die Fremdheit der Frau des Hethiters schwingt hier allenfalls mit, ein Gedanke, der mit dem folgenden Bild von Davids Begierde nach Wasser aus der Zisterne des Feindes fortgeführt wird. David als häufiges Vorbild christlicher Herrscher hatte Schattenseiten, an denen sich die Exegese abarbeiten mußte. Das Problem der Herrscherehe im beachtlichen Corpus der teils schlecht oder gar nicht edierten karolingerzeitlichen exegetischen Literatur verdient eine nähere Untersuchung, die hier nicht geleistet werden kann. Von den Päpsten griff Johannes VIII. (872-882) noch einmal das Verbot fremdstämmiger Ehepartner auf, und zwar in einem 872/73 geschriebenen Brief an die Witwe Sophonesta.90 Sie strebte, wie dem Papst zugetragen wurde, ad discidium patriae nach einer Verbindung mit alienígenas viros. Damit bräche sie das Vertrauen ihres verstorbenen Mannes, der ihr seinen Besitz hinterlassen hatte, auf dem sie nun „nach fremdstämmigen Verbindungen mit fremden Völkern lechze", „alienarum diceris gentium alienígenas copulas anhelasse". Dabei wäre ihr eigentlich nicht nur eine Verbindung mit einem Fremden, sondern auch mit einem Landsmann nicht mehr erlaubt: „non solum alienigenis, nostratum copulas non permittimus", sondern sie solle den Schleier nehmen. Unter dem Verweis auf kaiserliche, göttliche wie päpstliche Verordnung setzt Johannes VIII. schließlich eine Frist von 20 Tagen, während derer sie mit dem Konsens der Bürger von Urbino mit einem der einheimischen Männer eine legitime Ehe eingehen solle, oder aber sich ins Kloster zurückziehen. Wieder wird hier die Verbindung mit Ausländern als Verschär-
87
Siehe z.B. Hrabanus Maurus, epp. 29, 30, 31, MGH Epp., Bd. 5,447-458. JanetL. Nelson, Charles the Bald. London/New York 1992,215-218; Devisse, Hincmar (wie Anm. 80). 89 Hinkmar von Reims, De cavendis vitiis et virtutibus exercendis II, 1, MGH QQ zur Geistesgesch., Bd. 16, 176; vgl. ders., Vita Remigii episcopi c. 4, MGH SS rer. Merov., Bd. 3, 265. 90 Fragmenta registri Johannis VIII. Papae ep. 10, MGH Epp., Bd. 7, 278; Dorothee Arnold, Johannes VIII. Päpstliche Herrschaft in den karolingischen Teilreichen am Ende des 9. Jahrhunderts. Frankfurt am Main 2005. 88
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fung eines ohnehin verwerflichen Verhaltens angesehen, als Steigerungsstufe einer sündhaften Lust. Die Rhetorik des Papstes mit der Verdoppelung alienarum gentium/alienigenas copulas dient offenbar vor allem dazu, das Ungeheuerliche am Verhalten der Witwe zu unterstreichen. Dabei ging es wohl nicht zuletzt um das Interesse, auf dem vermutlich beträchtlichen ererbten Besitz, eisdem domibus ac prediis, keinen fremden Besitzer zuzulassen. Die Klage kam offenbar von jenen Bürgern von Urbino, deren Konsens Sophonesta nun zu suchen hatte. Der Kreis der auswärtigen Männer ist hier möglicherweise relativ weit gefaßt, da die Bürger von Urbino auf der Heirat mit einem Einheimischen bestanden. Der Fall zeigt, daß Heiratspläne der Frau eines Bürgers ebenso wie die eines Königs ähnlich dramatisierende päpstliche Rhetorik auslösen können. Der Anlaß könnte unterschiedlicher kaum sein als der ein Jahrhundert zuvor; die Reaktion bedient sich ganz ähnlicher Argumentationsmuster.
V. Schlußfolgerungen Die lückenhafte Überlieferung päpstlicher Briefe des 9. Jahrhunderts erschwert die Suche nach weiteren Parallelfällen; dennoch könnte eine systematische Recherche vielleicht noch einige Beispiele mehr für karolingerzeitliche Probleme mit Mischehen ergeben. Bereits die hier skizzierte kleine Sammlung von Beispielen zeigt, wie unterschiedlich die Fälle, ihre Kontexte und die Textsorten sind, die davon berichten. Es geht um Heiratspläne von Königen oder Bürgerinnen, um allgemeine Verbote oder persönliche Warnungen, und das in Briefen, Synodalakten, Erbanordnungen oder exegetischen Traktaten. Das Interesse daran kann politisch, moralisch oder materiell sein, das biblische Argument explizit, implizit oder gar nicht vorkommen. Heidnische oder fremde Sitten der Heiratskandidat(inn)en werden behauptet oder auch nicht. Mischehen werden in die Nähe von Vielehe und Ausschweifungen gerückt oder einfach abgelehnt. Man könnte aus dieser Unterschiedlichkeit schließen, daß sich eben kein allgemeines Muster und kein dahinterliegendes Konzept erkennen läßt. Doch gerade die Vielfalt der Fälle macht es wahrscheinlich, daß der Gedanke, eine Mischehe sei verwerflich, nahelag und bei Bedarf aktiviert wurde. Recht deutlich zeichnet sich nur ab, wo die Ablehnung von Heiraten mit fremden Frauen im 8. Jahrhundert Gestalt annahm. Propagiert wurde sie zunächst von einer Gruppe päpstlicher Diplomaten, die ihre prägenden Erfahrungen in den Auseinandersetzungen mit Aistulf und im Bündnis mit Pippin gemacht hatten. Sowohl Christopherus als auch Georg von Ostia hatten an den harten Verhandlungen mit Aistulf und der Reise nach Ponthion zu Pippin teilgenommen. Dabei hatten sie die Verwundbarkeit der päpstlichen Territori-
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algewalt ebenso kennengelernt wie die Möglichkeiten geistlicher Argumente bei ihrer Verteidigung und Ausweitung. Die Eheprojekte Pippins III. mit Byzanz ca. 766 und Karls des Großen mit der Tochter des Desiderius 770 drohten das Frankenbündnis, an dem sie selbst mitgewirkt hatten, zu entwerten. Bei Christopherus, damals Gestalter der päpstlichen Diplomatie, wurde diese politische Perspektive (zu der es in Rom durchaus Alternativen gab) verschärft durch die Abneigung, die sein politisches Intrigenspiel sowohl bei Konstantin V. als auch bei Desiderius ausgelöst hatte. Er war zudem verstrickt in die Fraktionskämpfe in Rom, denen er schließlich 771 zum Opfer fiel. Georg von Ostia hatte seit dem Pontifikat Pauls I. größere Distanz zum römischen Machtkarussell aufgebaut und statt dessen seine Beziehungen ins Frankenreich verbessert. Der dramatische Appell an das alttestamentlich begründete Verbot einer Heirat mit fremden Frauen im Brief 45 des „Codex Carolinus" geht wohl auf die Interessen und die rhetorischen Fähigkeiten des Christopherus zurück. Die Schwäche dieser Position lag darin, daß weder im kanonischen Recht noch in der patristischen Literatur dafür ausreichende Stützen zu finden waren. Christopherus blieb daher auf das biblische Argument verwiesen, das er nicht ausführte, das er aber deutlich genug ansprach. Ergänzt wurde das durch den Hinweis auf die besondere Stellung der Franken unter den Völkern; unausgesprochen blieb der Gedanke, daß die Franken als .neues Israel' zu besonderer Bündnistreue mit Gott verpflichtet wären und daher auch die Vorschriften des Alten Testamentes in besonderer Weise zu beachten hätten.91 Angedeutet ist auch der Gedanke, daß eine Heirat mit der Tochter des Desiderius die Franken in die gefährliche Nähe von Heidentum und Häresie rücken könnte. Ähnliches galt für die Verbindung mit dem Sohn Konstantins V., der eine ikonoklastische Position vertrat. Außer in diesen beiden Fällen, in denen das im besonderen Interesse der päpstlichen Diplomatie lag, ist die Forderung sonst nicht geäußert und schon gar nicht verallgemeinert worden. Doch schien sie dem päpstlichen Legaten Georg von Ostia so naheliegend, daß er in ganz anderem Zusammenhang, in Northumbria im Jahr 786, wieder darauf zurückkam. Wieder ging es hier implizit um Verbindungen mit als Heiden abgewerteten Feinden. Hier war es wohl auch, daß Alkuin diese Forderung kennenlernte. Trotz seines Einflusses auf die Reformbestrebungen unter Karl dem Großen hat er daraus keine allgemeine Norm abgeleitet. Es blieb bei einer Forderung, die nur in spezifischen Fällen geäußert wurde. Die Überlegungen, im Sinn des Alten Testamentes die Heirat mit Fremdstämmigen zu verbieten, steht im Kontext der Bemühungen um eine durchgreifende Verkirchlichung der Ehe und entsprechen dem .Zeitgeist' einer be91
Franken als Neues Israel: Riehe, La Bible et la vie politique (wie Anm. 4), 391-393; Garrison, The Franks as the New Israel (wie Anm. 48).
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ginnenden Reformepoche im späten 8. Jahrhundert. Besonders stießen sich die Reformer daran, daß gerade die Fürstenehen noch kaum christlichen Vorstellungen folgten; das war nicht nur bei den Merowingern so, sondern noch bei Karl dem Großen, der recht unbekümmert mit Konkubinen umging und auch duldete, daß seine Töchter, deren legitime Verheiratung er unterband, am Hof illegitime Beziehungen pflegten. Das Alte Testament war bei der Entwicklung christlicher Normen aber insofern hinderlich, als es eine beschränkte Polygamie der Könige duldete, was noch Hrabanus in seinem oben zitierten Deuteronomium-Kommentar in heikle Erörterungen um die Problematik der multiplicatio der Frauen eines Fürsten verstrickte. Die Fragen, um die es im 9. Jahrhundert ging, waren daher vor allem die Durchsetzung der Monogamie, das Verbot der Scheidung und die Präzisierung des Inzest-Verbotes. Die Ablehnung der Ehe mit Fremdstämmigen blieb daneben bedeutungslos. Das mag auch damit zusammenhängen, daß die Ausweitung der Verwandtschaftsgrade, die unter das Inzestverbot fielen, den Drang in die Exogamie verstärken mußte. Aber vor 800 war noch keineswegs ausgemacht, wie die Vorstellungen von kanonischer Ehe ein Jahrhundert später aussehen sollten; daß in der Diskussion zeitweise auch ein Verbot ausländischer Eheverbindungen gefordert wurde, braucht nicht zu überraschen. Der Befund macht es verständlich, daß die bisherige Forschung die Forderung nach einem Verzicht auf fremdstämmige Frauen bisher allenfalls als Kuriosität vermerkt oder als .fränkischen Brauch' 92 beiseitegeschoben hat. Immerhin, eine Beobachtung läßt sich leicht machen: Keines der drei Eheprojekte im Umfeld der drei überlieferten Verbote fremdstämmiger Ehen vor 800 ist letztlich geglückt. Pippin entschied sich gegen die Heirat Giselas mit Leon IV., ohne daß wir dafür Gründe hören; Karl der Große verstieß „aus unbekannten Gründen" die Tochter des Desiderius schon nach einem Jahr; und das Heiratsprojekt mit Offa um 789 endete, wieder aus kaum nachvollziehbaren Gründen, mit einem Handelsembargo. Es wäre wohl zu weit gegriffen, hier überall direkte Auswirkungen des biblischen Arguments zu sehen. Die Karolinger zogen aus verschiedensten Gründen (wenn überhaupt) Heiratsbündnisse mit mächtigen Familien innerhalb ihres Reiches vor. Doch scheint es naheliegend, die in all diesen Fällen unergiebige rein realpolitische Interpretation der Entscheidungen Pippins und Karls des Großen zu überschreiten.93 92
Bertolini, Roma (wie Anm. 23), 606, über das Scheitern von Pippins byzantinischem Eheprojekt: „II rifiuto [...] fu probabilmente motivato con gli usi del popolo franco, per i quali non era lecito a Pipino aliae nationi copulari." Bertolini nimmt hier das suggestive Argument im Brief Stephans III. und macht daraus einen alten fränkischen Brauch, an dem Pippin festgehalten habe. 93 Wenn es um die Perspektive eines Langobardenkrieges ging, hätte Karl die Tochter des Desiderius nicht verstoßen brauchen. Im Gegenteil, die Übernahme des Titels eines Rex Langobardorum 774 hätte durch diese Ehe zusätzlich legitimiert werden können.
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Sicherlich sind diese Entscheidungen im Kontext der Heiratspolitik der Karolinger insgesamt zu sehen.94 Daß die Dynastie kaum auswärtige Eheverbindungen einging, ist bekannt. Die Merowinger hatten sich ganz anders verhalten; es genügt, an die Burgunderin Chrotechilde, die Langobardin Walderada, die Westgotin Brunhilde oder die Angelsächsin Balthild zu erinnern; auch Merowingerprinzessinnen wurden ins Ausland verheiratet, etwa an Theoderich den Ostgotenkönig, an den Langobardenkönig Alboin oder an Aethelbert von Kent.95 Balthild ist ein gutes Beispiel, obwohl oder gerade weil die Verbindung mit ihr nicht aus einer Heiratsverbindung mit einer fremden Macht entstand. Die Fortsetzung des Fredegar streicht hervor, daß sie, eine kluge und elegante Frau, de genere alienigenarum kam. 96 Die Vita der Balthild führt es geradezu auf die göttliche Vorsehung zurück, daß sie ihrem Ehemann Chlodwig II. zugeführt wurde. Sie ordnet Balthild ein unter „in Francorum regno nobiles et Dei cultrices reginas" seit Chrotechilde, die Chlodwig I. zum Christentum brachte, die (was aber nicht gesagt wird) aus fremden Völkern stammten, darunter Ultrogotha und die Thüringerin Radegund.97 All das übernimmt die karolingerzeitliche Vita B von der merowingerzeitlichen A-Fassung. Zwischen den beiden Fassungen der Vita ergibt sich aber eine interessante Akzentverschiebung. Die erste Vita bringt Balthilds sächsische Herkunft in direkten Zusammenhang mit ihrer Schönheit: „Et cum esset ex genere Saxonum, forma corporis grata ac subtilissima, et aspectu decora, vultu hilaris et incessu gravis". In der B-Fassung wird der Gedanke getrennt: „Claro namque sanguine, licet alterius gentis serviret obsequiis, progenita Saxonum demonstrabatur" - sie war von edlem Blut, wenn auch aus einem anderen Volk.98 Dann erst folgt die Beschreibung ihres Äußeren. Die konzessive Satzkonstruktion legt nahe, daß der/die Autor/in in Balthildes Herkunft ein Problem sah, das es in der älteren Fassung noch nicht gab. 94
Hellmann, Die Heiraten der Karolinger (wie Anm. 7), 300f.; Schieffer, Eheschließungen und Ehescheidungen (wie Anm. 7); Konecny, Frauen (wie Anm. 7); Stafford, Queens, Concubines and Dowagers (wie Anm. 7); Nelson, La famille (wie Anm. 53). 95 Siehe die Aufstellung in lan Wood, The Merowingian Kingdoms 450-751. London 1994, 350-363. 96 Fredegar, Continuationes c. 1, MGH SS rer. Merov., Bd. 2, 168: „de genere alienigenarum reginam accipiens nomine Balethilde prudentem atque eligantem". Liber Historiae Francorum c. 43: „accepitque uxorem de genere Saxonum nomine Balthilde, pulchra omnique ingenuo strenua". MGH SS rer Mer., Bd. 2, 315. 97 Vita Balthildis B c. 4 und c. 18, MGH SS rer. Merov., Bd. 2, 485 und 505. Ultrogothas Herkunft ist nicht bekannt, doch trägt sie den Gotennamen im Namen. Zu Balthild siehe zuletzt Janet L. Nelson, Gendering Courts in the Early Medieval West, in: Brubaker/Smith (Eds.), Gender in the Early Medieval World (wie Anm. 3), 185-197, bes. 188 f.; sowie Paul Fouracre/Richard Gerberding, Late Merovingian France. History and Hagiography, 640720. Manchester 1996,121. Vgl. auch Rosamond McKitterick, History and Memory in the Carolingian World. Cambridge 2004, 13. 98 Vita Balthildis c.l, 483.
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Daß die Karolinger weniger auswärtige Verbindungen hatten, lag zunächst daran, daß sie bis zu Pippin III. trotz ihrer herausgehobenen Stellung nur eine fränkische Adelsfamilie unter vielen waren, die größtes Interesse an Heiratsbündnissen innerhalb der Reichsaristokratie haben mußte. Insofern ist das Argument im Brief Stephans III., Karls Vorfahren hätten immer fränkische Frauen gehabt, wenig stichhaltig. Die einzige auswärtige Verbindung bestand indirekt mit den bayerischen Agilolfingern, was dennoch Tassilo III. zeitweise zum gefährlichen Konkurrenten machte." Erst Pippins Königtum erschloß die Möglichkeit zur Einheirat in ausländische Dynastien, und das Angebot Konstantins V. hätte das Prestige der Familie sicherlich erhöht. Doch der päpstliche Widerstand gegen diese Verbindung setzte gerade hier an und hätte die legitimierende Wirkung der Verbindung mit dem Kaiserhaus wohl wieder geschmälert. Karl der Große übernahm die zögerliche Haltung des Vaters. Im Fall des Desiderius drängte zunächst der drohende Konflikt mit dem Bruder zu einer Heirat. Hier wird auch sichtbar, daß Bertrada - und mit ihr einflußreiche Kreise des Frankenreiches, darunter Karls Cousin Adalhard - diese Heirat sehr befürworteten und deswegen nach der Verstoßung der Braut in einen schweren Konflikt mit Karl gerieten. Es handelte sich also nicht um eine feste Regel oder eine klare Strategie, sondern immer wieder um eine offene politische wie prinzipielle Frage. Deshalb gab es wiederholt Heiratspläne, zum Beispiel mit Offa von Mercia 789, und jedesmal scheiterten sie unter ungeklärten Umständen. Der byzantinische Chronist Theophanes erwähnte das Heiratsprojekt zwischen Karls Tochter Rotrud mit Irenes Sohn Konstantin VI. im Jahr 781, als ein Eunuch gesandt wurde, „um Erythro/Rotrud die griechischen Buchstaben und die griechische Sprache beizubringen und sie in den Sitten des Römischen Reiches zu erziehen".100 In den Gesta der Äbte von St. Wandrille wird eine Gesandtschaft nach Konstantinopel erwähnt, anläßlich derer Kaiser Konstantin um die Hand Rotruds bat. 101 Doch wieder wurde nichts daraus. Karl hat schließlich keine einzige seiner zahlreichen Töchter verheiratet, sondern sie alle bei sich behalten, was den Zeitgenossen auffiel und zahlreiche mehr oder weniger verständnisvolle Darstellungen der seltsamen Kamerad99
Wood, Genealogy (wie Anm. 55), 247 f. 100 Theophanes, Chronographia AM 6274; Hellmann, Die Heiraten der Karolinger (wie Anm. 7), 303; Michael McCormick, Byzantium and the West, A. D. 700-900, in: The New Cambridge Medieval History. Vol. 2. Cambridge 1995, 349-380; Schieffer, Karolinger (wie Anm. 24), 68 („angeblich mit der Begründung, er dürfe sein Kind nicht ins Ausland verheiraten, tatsächlich eher auf Rücksicht auf den Papst, der jedem fränkisch-byzantinischen Zusammengehen mißtraute"). 101 Gesta abbatum Fontanellensium c. 16, MGH SS rer. Germ., Bd. 28,46; einem der Teilnehmer war das Abbatiat versprochen worden, wegen seiner langen Reise nach Konstantinopel erhielt es aber dann Gerwold. Dieser war wegen seiner guten Beziehungen zu Offa an den Verhandlungen nach dem gescheiterten Heiratsprojekt beteiligt, ebd.
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schaft, contubernium, Karls mit seinen Töchtern hervorrief.102 Seine Söhne heirateten innerhalb des Reiches. Nicht als Hindernis betrachtet wurden offenbar Heiratsverbindungen mit anderen gentes innerhalb des Karolingerreiches. Wie weit etwa Hildegard de gente Suaborumm, die Karl der Große nach der Verstoßung der Desiderius-Tochter heiratete, im Sinn des Briefes Stephans III. als alienigena gelten konnte, ist fraglich; aus einem fremden regnum stammte sie nicht (freilich aus dem zunächst Karlmann zugefallenen Reichsteil, was wohl ihre politische Rolle ausmachte). Die „Ordinatio Imperii" betont beim Verbot der Heirat mit externe gentes, daß Heiraten innerhalb der fränkischen Regna erlaubt bleiben sollten. Viele Karolingerkönige sind dem Beispiel von Karls Ehe mit Hildegard gefolgt und haben ihre Ehen zur Integration des Reiches und zur Ausweitung ihrer Machtbasis in Schlüsselregionen eingesetzt. Fremdheit wurde im Frühmittelalter als graduell empfunden 104 , weshalb etwa die schwierige Nachbarschaft Northumbrias mit den lange Zeit heidnischen Pikten 786 Anlaß dazu gab, das Eheverbot zu aktualisieren. Ebenso war Sündhaftigkeit steigerbar, und einige der Warnungen vor fremdstämmigen Ehen im 9. Jahrhundert sehen die Verbindung mit fremden Männern oder Frauen als besonders verwerfliche Form hemmungslosen Auslebens der Begierden an. Die Tatsache, daß die Karolinger kaum Heiratsverbindungen außerhalb ihres Machtbereiches eingingen, wird man nicht unbedingt auf die Versuche zurückführen, solche zu verbieten. Mit der raschen Ausbreitung des Karolingerreiches gab es nur mehr wenige christliche Fürsten außerhalb des Frankenreiches, mit denen eine Heiratsverbindung überhaupt möglich gewesen wäre.105 Es lassen sich daher sicherlich viele politische Gründe für die reservierte Haltung der Karolinger gegenüber auswärtigen Heiraten finden, wie sie in der Literatur immer wieder zitiert werden, wobei freilich manche Erklärungen (etwa fremde Einflußmöglichkeiten oder gar Erbrechte) auch in anderen Zeiten galten, wo Heiratsbündnisse mit auswärtigen Fürstenfamilien selbstverständlich waren. Die Haltung der Karolinger zu auswärtigen Ehen war offenbar nicht a priori ablehnend, verhandelt wurde immer wieder. In dieser Situation konnte der Gebrauch des biblischen Argumentes durchaus politische 102
Eine schöne und quellenreiche Darstellung bei Nelson, La famille (wie Anm. 53), 2 0 6 210. Siehe auch dies., Women at the Court of Charlemagne: a Case of Monstrous Regiment?, in: dies., The Frankish World, 750-900. London 1996, 223-242; de Jong, Bride Shows (wie Anm. 13), 266; McKitterick, Karl der Große (wie Anm. 7). 103 Einhard, Vita Karoli c. 18. 104 Siehe dazu Hans-Werner Goetz, .Fremdheit' im früheren Mittelalter, in: Peter Aufgebauer/Christine van den Heuvel (Hrsg.), Herrschaftspraxis und soziale Ordnungen im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Ernst Schubert zum Gedenken. Hannover 2006, 2 4 5 265, mit einem Überblick über die Terminologie der Fremdheit. 105 Hellmann, Die Heiraten der Karolinger (wie Anm. 7); McCormick, Textes, images et iconoclasme (wie Anm. 57), 131-133.
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Bedeutung bekommen. Gerade die Karolinger haben sich sehr für die Historia des Alten Testamentes als Leitfaden politischen Handelns interessiert, und Hrabanus Maurus war ein vielbeschäftigter Verfasser exegetischer Kommentare im Dienste Ludwigs des Frommen, seiner Söhne und mancher Mächtiger im Frankenreich.106 Auch wenn man sich von der Drohung Stephans III. mit dem Anathem nicht einschüchtern ließ; der Zorn Gottes, den das Alte Testament so beharrlich verhieß, mochte gerade in unsicheren Fällen abschreckend wirken, wenn sich ein Mahner fand, der daran erinnerte. Wie ,fremd' und daher problematisch ein(e) alienigena empfunden wurde, konnte von Fall zu Fall verschieden sein. Die Abgestuftheit der Vorstellungen von Fremdheit trug dazu bei, daß eine allgemeine Norm, kanonisches Recht nicht entstehen konnte; schon die alttestamentlichen Verbote waren ja widersprüchlich und betrafen in erster Linie bestimmte Völker. Doch in einer Zeit der langsamen Herausbildung der kanonischen Eheformen bot das biblische Vorbild ernstzunehmende Argumente in manchen politischen Konstellationen, in denen es mehrere Optionen gab. Selbst wenn diese Richtung sich letztlich weder im christlichen Eherecht noch bei der Heiratspolitik christlicher Fürsten durchsetzte, zeigt gerade der letztlich erfolglose Versuch die engen Zusammenhänge zwischen Bibelexegese, Reformbemühungen und politischen Bestrebungen in der Karolingerzeit. Darüber hinaus verraten die hier vorgestellten Beispiele manches über die Entwicklung der Vorstellungen von der politischen Rolle der Völker im Frühmittelalter; Vorstellungen, die für das Abendland grundlegende Bedeutung bekommen sollten.
106 De Jong, The Empire as Ecclesia (wie Anm. 4); dies., Exegesis for an Empress, in: Esther Cohen/Mayke de Jong (Eds.), Medieval Transformations. Texts, Power and Gifts in Context. Leiden 2001, 69-100.
Der Mehrwert der päpstlichen Schlüsselgewalt und die Tradition des heiligen Clemens Von
Karl Ubl Am 26. April 2005, einen Tag nach dem offiziellen Beginn seines Pontifikats, empfing Papst Benedikt XVI. Vertreter christlicher Konfessionen, des Islams und anderer Religionen in der Sala Clementina des Apostolischen Palastes im Vatikan. Bei dieser Gelegenheit rief der Papst die christlichen Kirchen dazu auf, „den Weg zur vollen Gemeinschaft weiterzugehen, die Jesus für seine Jünger gewollt hat". Damit signalisierte Benedikt seine Sorge für den Frieden unter den Religionsgemeinschaften der Welt und inszenierte sich zugleich als einheitsstiftende Führungsgestalt. Der Eindruck des römischen Führungsanspruchs mußte sich verstärken, wenn die Repräsentanten der anderen christlichen Konfessionen einen Blick auf das Ausstattungsprogramm der Sala Clementina warfen.1 In keinem anderen Raum des Apostolischen Palastes wird der Universalismus des Papsttums mit einer solchen sinnlichen Prachtentfaltung zur Anschauung gebracht wie hier. Am Gewölbe ist die Schau des hl. Clemens von den Insignien der päpstlichen Macht umrahmt, den Schlüsseln und der Tiara. An der schmalen Seitenwand oberhalb des päpstlichen Throns ist die legendäre Taufe des Konsuls Titus Flavius Clemens durch Papst Clemens dargestellt. Daß mit diesem Ereignis nicht nur die Mission in Rom, sondern im ganzen Erdkreis angestoßen wurde, wird durch die fremdländischen Gestalten herausgestrichen, die sich von beiden Seiten dem Taufgeschehen annähern. Auf der gegenüberliegenden Schmalseite wird das Motiv des Universalismus aufgenommen, indem im Hintergrund des Martyriums die erfolgreiche Mission des Clemens auf der Halbinsel Krim durch Kirchengebäude und Prozessionen anschaulich gemacht wird. Im Zentrum der Sala Clementina steht das Motiv der monumentalen, unter einem Baldachin schwebenden Schlüssel, auf die der Blick des Eintretenden unmittelbar fallen muß. Dieses Motiv wird unterhalb am Kranzgesims in der Hand der personifizierten Religio wieder aufgenommen und erscheint zudem an zahlreichen anderen Stellen als Teil des päpstlichen Wappens. Es ist kein Zufall, daß gerade die Schlüsselgewalt in einem Bildprogramm zu Clemens I. zum Leitthema erhoben wurde. In der Tradition der päpstlichen Geschichtsschreibung galt Clemens als der erste Papst, dem Petrus die ihm von Christus 1 Stefania Macioce, Undique splendent. Aspetti della pittura sacra nella Roma di demente VIII Aldobrandini (1592-1605). Rom 1990.
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in Mt 16,19 verliehene Schlüsselgewalt übertragen hat. 2 Clemens symbolisierte in der Zeit der Gegenreformation den Beginn der apostolischen Tradition, auf die sich die katholische Kirche am Konzil von Trient gegen das protestantische Schriftprinzip berufen hat. Seine Persönlichkeit diente zur Beglaubigung der katholischen Deutung von Mt 16,18-19, nach der nicht nur Petrus als Einzelperson als Empfänger der Schlüsselgewalt benannt wurde, sondern mit ihm alle seine Nachfolger auf dem apostolischen Stuhl. In der Sala Clementina bezeichnen die Schlüssel sowohl den Inbegriff des Glaubens (in der Hand der personifizierten Religio) als auch die Institution des Papsttums (im päpstlichen Wappen und als Emblem des Clemens). Der folgende Aufsatz stellt die Frage, wie es zu dieser Monopolisierung der Schlüsselgewalt durch das Papsttum gekommen ist und welche Inhalte mit dem Konzept der päpstlichen Schlüsselgewalt verbunden waren. Diese Fragestellung führt in das Zentrum des Themas der biblischen Legitimierung politischen Handelns, da die Schlüsselgewalt in der Geschichte des Papsttums als Fundament für die monarchische Stellung in der Kirche sowie für Eingriffe in weltliche Angelegenheiten diente. In der Auseinandersetzung mit den östlichen Patriarchaten, bei der Fingierung der Konstantinischen Schenkung, bei der Absetzung Heinrichs IV. durch Gregor VII. und in der Bulle „Unam sanctam" war die Berufung auf die Schlüsselgewalt eine zentrale Legitimationsquelle. Es ist klar, daß im Rahmen dieses Aufsatzes nur einige wichtige Stationen der Instrumentalisierung von Mt 16,19 eingehend vorgestellt werden können. Die Person des hl. Clemens spielte in der päpstlichen Deutungstradition eine entscheidende Rolle. In der Bibel bezeichnet die Schlüsselgewalt die Vollmacht des Sündennachlasses (solvere) und der Exkommunikation (ligare). Sie wird in Mt 16,15-19 mit folgenden Worten dem Apostel Petrus übertragen: „Da sagte er zu ihnen: Ihr aber, für wen haltet ihr mich? Simon Petrus antwortete: Du bist der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes! Jesus sagte zu ihm: Selig bist du, Simon Baijona; denn nicht Fleisch und Blut haben dir das offenbart, sondern mein Vater im Himmel. Ich aber sage dir: Du bist Petrus und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen und die Mächte der Unterwelt werden sie nicht überwältigen. Ich werde dir die Schlüssel des Himmelreichs geben; was du auf Erden binden wirst, das wird auch im Himmel gebunden sein, und was du auf Erden lösen wirst, das wird auch im Himmel gelöst sein." Diese unmittelbare Abfolge von Erstbekenntnis Petri und Übertragung der Schlüsselgewalt war für das Papsttum der Anknüpfungspunkt, um einen besonderen Mehrwert der päpstlichen Schlüsselgewalt in Anspruch zu nehmen. Die Bevorzugung Petri zieht in dieser Sicht neben der Vollmacht des Sündennachlasses und der Exkommunikation eine besondere richterliche Entscheidungs2
Liber Pontificalis, Vita Petri, hrsg. v. Louis Duchesne. Paris 1886, Bd. 1, 118.
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kompetenz nach sich. Der Vereinnahmung durch das Papsttum steht jedoch die Tatsache entgegen, daß die Schlüsselgewalt in Mt 18,18 und Joh 20,23 allen Aposteln und damit der ganzen Kirche anvertraut wird. Sündennachlaß und Exkommunikation bezeichnen die geistliche Gewalt innerhalb der gesamten Glaubensgemeinschaft. Ein weiteres Problem für die päpstliche Monopolisierung der Schlüsselgewalt bestand darin, daß Sündennachlaß und Exkommunikation als Themen der theologischen Exegese einer eigenen Entwicklung unterworfen waren, die unabhängig von der Genese der Primatsidee verlaufen ist. Diese theologisch-exegetische Deutung der Schlüsselgewalt entfernte sich, wie zu zeigen sein wird, immer mehr von den Fragen der kirchlichen Hierarchie, da sie den Änderungen der Bußpraxis Rechnung tragen mußte. Die Kritiker der päpstlichen Gewalt im Spätmittelalter konfrontierten die päpstlich-politische mit der theologisch-exegetischen Deutung der Schlüsselgewalt und begründeten auf diese Weise ihre Ablehnung der Macht des apostolischen Stuhls. Die hier verfolgte Fragestellung berührt daher den Schnittpunkt zweier Themen: zum einen die auf dem Erstbekenntis in Mt 16,16-18 beruhende Vorstellung einer Vorrangstellung der römischen Kirche3 und zum anderen die theologische Exegese der Petrus und den Aposteln übertragenen Gewalt des Sündennachlasses und der Exkommunikation4.
I.
Die erstmalige Nutzbarmachung von Mt 16,19 im Sinne des päpstlichen Primats fand auf einer von Papst Damasus geleiteten römischen Synode des Jahres 382 statt. Zu dieser Zeit sah sich der Bischof von Rom in einer prekären
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Unentbehrlich ist Erich Caspar, Geschichte des Papsttums von den Anfängen bis zur Höhe der Weltherrschaft. 2 Bde. Tübingen 1930; für die spätere Zeit vgl. Yves M.-J. Congar, Die Lehre von der Kirche. Von Augustinus bis zum Abendländischen Schisma. (Handbuch der Dogmengeschichte, Bd. 3.) Freiburg/Basel/Wien 1971 ; Jürgen Miethke, Depotestate papae. Die päpstliche Amtskompetenz im Widerstreit der politischen Theorie von Thomas von Aquin bis Wilhelm von Ockham. (Spätmittelalter und Reformation, Bd. 16.) Tübingen 2000. Einen gerafften Überblick gibt Klaus Schatz, Der päpstliche Primat. Seine Geschichte von den Ursprüngen bis zur Gegenwart. Würzburg 1990. 4 Für die frühen Jahrhunderte: Bernhard Poschmann, Paenitentia secunda. Die kirchliche Buße im ältesten Christentum bis Cyprian und Origenes. Eine dogmengeschichtliche Untersuchung. (Theophaneia, Bd. 1.) Bonn 1940; Hans Freiherr von Campenhausen, Kirchliches Amt und geistliche Vollmacht in den ersten drei Jahrhunderten. (Beiträge zur historischen Theologie, Bd. 14.) Tübingen 1953. Für das Mittelalter vgl. PaulAnciaux, La théologie du sacrement de pénitence au Xlle siècle. Löwen/Gembloux 1949; Ludwig Hödl, Die Geschichte der scholastischen Literatur und der Theologie der Schlüsselgewalt. 1: Die scholastische Literatur und die Theologie der Schlüsselgewalt von ihren Anfängen bis zur Summa Aurea des Wilhelm von Auxerre. (Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters, Bd. 38/4.) Münster 1960.
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Lage.5 Theodosius I. hatte zwei Jahre zuvor das nikäanische Trinitätsdogma im Osten gegen den bis dahin vorherrschenden Arianismus durchgesetzt und damit den Vorsprung an Orthodoxie wettgemacht, den der Westen und insbesondere Rom genossen hatten. Zugleich stärkte der Kaiser die Position des Bischofs der Reichshauptstadt Konstantinopel, indem er ihm entsprechend der politischen Stellung den Ehrenvorrang im Osten erteilte. Diese Anpassung an die politischen Verhältnisse erfaßte auch die innerkirchliche Kommunikation, da eine Appellation außerhalb der fünf östlichen Reichsdiözesen vom Kaiser untersagt wurde. Ein Ausgreifen über diese Grenzen der Reichsverfassung sollte nicht mehr möglich sein. Damit war indirekt auch der bislang praktizierten Konsultation des römischen Bischofs durch östliche Amtskollegen ein Riegel vorgeschoben. Papst Damasus reagierte auf diese Herausforderung mit einer umfassenden Legitimation des römischen Primats. Erich Caspar sprach von „einem der bedeutsamsten Marksteine in der Geschichte des werdenden römischen Papsttums."6 Die Bestimmungen des Konzils von Rom sind nicht mehr erhalten, doch hat sich die Forschung darauf geeinigt, daß der Bericht des später abgefaßten „Decretum Gelasianum" Autorität beanspruchen kann.7 Demnach ließ Damasus die Erklärung verlesen, der Vorrang der römischen Kirche sei nicht durch eine synodale Entscheidung, sondern durch das Wort des Erlösers fixiert worden.8 Als Beleg folgt das ausführliche Zitat von Mt 16,18-19. Erst danach wird mit dem gleichzeitigen Martyrium der Apostel Petrus und Paulus in Rom die traditionelle Begründung des römischen Vorrangs erwähnt. Der Primat der römischen Kirche soll sich daher weder allein auf die apostolische Tradition noch allein auf den Kanon des Konzils von Nicäa über die drei höherrangigen Bischofssitze stützen, sondern in einzigartiger Weise auf die Heilige Schrift. Bereits im frühen 5. Jahrhundert wurde die Bestimmung des Papstes Damasus zitiert, als man in Rom eine verfälschte Version des Prologs zum Konzil von Nicäa in Umlauf brachte.9 5
Caspar, Geschichte des Papsttums (wie Anm. 3), Bd. 1, 233-251; Myron Wojtowytsch, Papsttum und Konzile von den Anfangen bis zu Leo I. (440-461). Studien zur Entstehung der Überordnung des Papstes über Konzile. (Päpste und Papsttum, Bd. 17.) Stuttgart 1981, 138-141. 6 Caspar, Geschichte des Papsttums (wie Anm. 3), Bd. 1, 247. 7 Ebd. Bd. 1, 247 u. 598; Charles Pietri, Roma Christiana. Recherches sur l'Église de Rome, son organisation, sa politique, son idéologie de Miltiade à Sixte III (311-440). 2 Vols. (Bibliothèque des Écoles françaises d'Athènes et de Rome, Vol. 224.) Rom/Paris 1976, Vol. 1, 881-884; Hubert Mordek, Der römische Primat in den Kirchenrechtssammlungen des Westens vom IV. bis VIII. Jahrhundert, in: Michele Maccarone (Ed.), Il primato del vescovo di Roma nel primo millenio. Ricerche e testimonianze. Vaticanstadt 1991, 523-566. 8 Decretum Gelasianum de libris recipiendis et non recipiendis III/l, hrsg. v. Ernst von Dobschiitz. (Texte und Untersuchungen zur Geschichte der altchristlichen Literatur, Bd. 38/4.) Leipzig 1912, 7. 9 Mordek, Der römische Primat (wie Anm. 7), 535-537.
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Vor dem Hintergrund der nachfolgenden Papstgeschichte erscheint die Legitimation durch Mt 16,18-19 als selbstverständlich. Kein anderes Bibelzitat wurde so oft für die Primatspolitik Roms eingesetzt wie dieses. Daß es für diesen Schritt dennoch einer besonderen Herausforderung bedurfte, zeigt erst ein Blick auf die exegetische Tradition. Bei den frühen Kirchenvätern gab es zwei unterschiedliche Richtungen der Interpretation der Schlüsselübergabe. Die eine geht auf Orígenes zurück und war besonders bei griechischen Theologen geschätzt. Nach Orígenes verfügt jeder Gerechte über die Schlüssel zum Himmelreich, die ihn in die Lage versetzen, die Tür zum Himmel aufzumachen. 10 Die andere Deutung identifiziert die Schlüsselgewalt mit der Bußgewalt des Bischofs.11 Für die entstehende Amtskirche war Mt 16,19 der zentrale Anknüpfungspunkt, um die Herausbildung einer hierarchischen Organisation gegen die gnostische Lehre von der Geistkirche zu rechtfertigen. Diese Stelle wurde dabei mit Mt 18,18 verknüpft, wo allen Aposteln dieselbe Gewalt der Sündenvergebung von Jesus übertragen wird. Die Bischöfe als Nachfolger der Apostel waren demnach befugt, über die Zugehörigkeit zur Gemeinde der Christen zu entscheiden und notorische Sünder von der Kommunion auszuschließen. Als die Bußdisziplin während der Christen Verfolgung im 3. Jahrhundert festen Regeln unterworfen wurde, war die Verankerung der Schlüsselgewalt in der Theologie der Buße abgeschlossen.12 Die exegetische Tradition stand also der Verengung der Schlüsselgewalt auf den Primat des Papstes entgegen. Das römische Konzil von 382 machte einen ersten Schritt in Richtung auf eine Vereinnahmung der Schlüsselgewalt als spezifisch päpstliches Vorrecht. Ob ein bestimmter Mehrwert neben Exkommunikation und Sündennachlaß in der päpstlichen Schlüsselgewalt enthalten ist, wurde nicht ausdrücklich gesagt. Die Verbindung von Mt 16,19 mit der klassischen Primatsstelle Mt 16,18 läßt dies noch im Unklaren. Ein wichtiger Baustein für die Entdeckung eines Mehrwerts der päpstlichen Schlüsselgewalt ist die „Epistola Clementis". Dieser Brief steht dem pseudoclementinischen Roman in den erhaltenen griechischen und lateinischen Fassungen als Einleitung voran.13 Der pseudoclementinische Roman handelt von 10 Joseph Ludwig, Die Primatworte Mt 16,18.19 in der altkirchlichen Exegese. (Neutestamentliche Abhandlungen, Bd. 19/4.) Münster 1952, 37-44. Diese Deutung hat auch im Mittelalter immer wieder Anhänger gefunden: Hödl, Die Geschichte der scholastischen Literatur (wie Anm. 4), 78-86. 11 Ludwig, Die Primatworte (wie Anm. 10). 12 Poschmann, Paenitentia secunda (wie Anm. 4), 404; Campenhausen, Kirchliches Amt (wie Anm. 4), 259-261. 13 Vgl. Johannes Hofinann, Art. „Ps.-Clementinische Literatur", in: Siegmar Döpp u.a. (Hrsg.), Lexikon der antiken christlichen Literatur. 3. Aufl. Freiburg u.a. 2002, 155-157; F. Stanley Jones, Clement of Rome and the Pseudo-Clementines: History and/or Fiction, in: Philippe Luisier (Ed.), Studi su d e m e n t e Romano. (Orientalia Christiana Analecta, Vol. 268.) Rom 2003, 139-161.
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der Bekehrung des Clemens durch Petrus, von einem dreitägigen Streitgespräch Petri mit dem Häretiker Simon Magus und von der Wiederbegegnung des Clemens mit seiner Mutter. Im Einleitungsbrief an Jakobus d.J. erzählt Clemens vom Auftrag Petri, Jakobus als Bischof der Jerusalemer Gemeinde über seine Missionsreisen zu informieren, und schildert seine Einsetzung als Bischof von Rom durch Petrus. Clemens berichtet, Petrus selbst habe ihn kurz vor seinem Tod in einer Ansprache an den römischen Klerus als Nachfolger auserkoren und ihm die Schlüsselgewalt übertragen: „Diesen Clemens weihe ich euch zum Bischof, ihm übergebe ich mein Amt der Predigt und der Lehre ... ihm übergebe ich die mir vom Herrn übertragene Macht zu binden und zu lösen [...]". 14 Die Entstehung des Romans ist bis heute nicht vollständig aufgeklärt. Die gegenwärtige Forschung geht davon aus, daß verschiedene Motive unterschiedlicher Herkunft und unterschiedlicher Zeit in diesem Roman miteinander verbunden wurden. Die Datierung schwankt zwischen dem Beginn und dem Ende des 3. Jahrhunderts. Als Ort der Entstehung wird Syrien angesehen. Wann und wo der Clemensbrief diesem Konvolut vorangestellt wurde, ist eine offene Frage. Entgegen der Mutmaßung von Walter Ullmann15 hat Rom mit der Entstehung des Clemensbriefes nichts zu tun. Dagegen spricht vor allem die Überlieferung in der älteren griechischen Fassung. Ullmanns Hypothese erweist sich zudem als entbehrlich, wenn man einen unvoreingenommenen Blick auf den Brief und auf den Kontext der Pseudoclementinen wirft. Denn am Ende der Pseudoclementinen wird Antiochia und nicht Rom als cathedra Petri bezeichnet16, und im Clemensbrief selbst ist keine gesamtkirchliche Kompetenz des römischen Bischofs vorgesehen. Der Bericht über die Einsetzung des Clemens durch Petrus entbehrt jeder Exklusivität und soll lediglich die apostolische Kontinuität der römischen Kirche unter Beweis stellen. Der Brief selbst diente vermutlich dazu, die Person Clemens' I. und die Tradition der römischen Kirche für die Authentizität des Romans bürgen zu lassen. Nicht der Primat des römischen Bischofs, sondern die im 3. Jahrhundert durchaus anerkannte Autorität römischer Überlieferung kommt darin zum Ausdruck. Diese wog um so mehr, als im Osten der echte Clemensbrief, gerichtet an die Gemeinde von Korinth, in hohem Ansehen stand und zeitweise zum Kanon gerechnet wurde.17 Dieser sogenannte 1. Clemensbrief aus den 14 „[...] dementem hunc episcopum vobis ordino, cui soli meae praedicationis et doctrinae cathedram credo ... ipsi trado a domino mihi datam potestatem ligandi et solvendi [...]"; Epistola Clementis 2, 2-4, hrsg. v. Bernhard Rehm/Franz Paschke, Die PseudokJementinen. 1: Homilien. (Die griechischen christlichen Schriftsteller.) Berlin 1969, 6f. 15 Walter Ullmann, The Significance of the Epistola Clementis in the Pseudo-Clementines, in: JTS 11, 1960, 195-217. 16 Recognitiones X 7, hrsg. v. Bernhard Rehm/Franz Paschke, Die Pseudoklementinen. 2: Rekognitionen. (Die griechischen christlichen Schriftsteller.) Berlin 1965, 371. 17 Vgl. Johannes Hofmann, Unser heiliger Vater Klemens. Ein römischer Bischof im Ka-
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neunziger Jahren des 1. Jahrhunderts war der Ausgangspunkt für eine Reihe von Fälschungen auf den Namen des ersten römischen Bischofs. Dazu zählen die apostolischen Konstitutionen und die apostolischen Kanones, deren Ursprung in der syrischen Kirche des 4. Jahrhunderts gesucht wird.18 Erst als der gefälschte Clemensbrief im lateinischen Westen bekannt wurde, ist er für die Legitimierung des römischen Primats umgestaltet worden. Rufinus von Aquileia, der die Pseudoclementinen kurz nach 400 ins Lateinische übersetzte, brachte dies durch zwei Maßnahmen zustande. Erstens veränderte er durch Interpolationen den Wortlaut der griechischen Fassung. Bereits Ullmann wies darauf hin, daß Rufinus das Wort „allein" in dem Satz: „Ihm allein übergebe ich mein Amt der Predigt und der Lehre [...]" einfügte. 19 Er suggerierte damit, daß nur Clemens (und nicht der Bischof von Antiochia) die Schlüsselgewalt von Petrus und daher die cathedra Petri übertragen bekam. Noch bedeutender erscheint mir eine andere Interpolation. Bei Rufinus erfolgt die Ansprache Petri nicht vor der (römischen) Kirche, sondern vor der ganzen Kirche.20 Die mehrfach wiederholte Anweisung des Apostels an die versammelte Gemeinde, seinem Nachfolger zu gehorchen und seine Befehle anzunehmen, erscheint damit in einem ganz neuen Licht. Als man in Rom Anfang des 6. Jahrhunderts eine offizielle Geschichte des Papsttums zusammenstellte, machte man sich diese Deutung zunutze. In der ersten Vita des „Liber pontificalis" heißt es: Petrus „weihte den seligen Bischof Clemens und übergab ihm den Bischofsstuhl oder die Verwaltung der ganzen Kirche".21 Darauf ließ man das Zitat der Übertragung der Schlüsselgewalt aus der „Epistola Clementis" folgen. Die zweite Maßnahme des Rufinus bestand darin, daß er den Clemensbrief bereits einige Jahre vor den Pseudoclementinen übersetzt hatte und somit für eine eigenständige Rezeption sorgte. Während die Pseudoclementinen trotz ihrer bedeutenden Überlieferung in über 120 Handschriften im Mittelalter einen zweifelhaften Ruf genossen und im „Decretum Gelasianum" als apo-
lender der griechischen Kirche. (Trierer Theol. Stud., Bd. 54.) Trier 1992, 8-22; ders., Art. „Clemens von Rom", in: Döpp u. a. (Hrsg.), Lexikon der antiken christlichen Literatur (wie Anm. 13), 154 f. 18 Bruno Steiner, Art. „Apostolische Konstitutionen", in: Döpp u.a. (Hrsg.), Lexikon der antiken christlichen Literatur (wie Anm. 13), 53 f. Über mittelalterliche Nachahmer vgl. Detlev Jasper, „Inveni in canonibus apostolorum...": Zu einer mittelalterlichen Fälschung auf Papst Clemens I., in: Hubert Mordek (Hrsg.), Papsttum, Kirche und Recht im Mittelalter. Festschrift Horst Fuhrmann. Tübingen 1991, 201-213. 19 Siehe das Zitat oben in Anm. 14; vgl. Ullmann, The Significance (wie Anm. 15), 313. 20 Vgl. „[...] eiti tfjs ewdriaiag [...]" mit „[...] in auribus totius ecclesiae [...]"; Epistola Clementis 2, 1 (wie Anm. 14), 6. 21 „Hic beatum dementem episcopum consecravit, eique cathedram vel ecclesiam omnem disponendam commisit, dicens [...]"; Liber Pontificalis, Vita Petri (wie Anm. 2), Bd. 1, 118.
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kryph gebrandmarkt wurden22, ging der Clemensbrief in das Kirchenrecht ein. Bereits das gallische Konzil von Vaison im Jahre 442 schrieb vor, den Brief mit Ehrfurcht zu lesen und als authentisch anzuerkennen.23 Um 500 findet der Brief Aufnahme in zwei römische Kirchenrechtssammlungen („Collectio Quesnelliana" und „Collectio Vaticana"24) und wird im „Liber Pontificalis" als authentisches Dokument zitiert. Nur in der maßgeblichen und im Umgang mit den Quellen kritischen Sammlung des Dionysius Exiguus fehlt der Clemensbrief. Die Bedeutung der „Epistola Clementis" ist erstmals von Walter Ullmann erkannt worden. Das Besondere dieses Briefes liegt für ihn darin, daß er als „Rechtstitel" für die Nachfolge des römischen Bischofs in die Stellung des Apostelfürsten Petrus angesehen wurde.25 Der Papst konnte durch die präzise Schilderung der Einsetzung des Clemens durch Petrus Anspruch auf eine juristische Nachfolge erheben. Bei Siricius, dem Nachfolger des Damasus, taucht dann auch erstmals der Begriff der Erbschaft ausdrücklich auf. In der ersten erhaltenen Dekretale eines Papstes schreibt Siricius: „Wir tragen die Lasten aller, die bedrängt werden: vielmehr trägt dies in uns der heilige Apostel Petrus, der uns als Erben seiner Leitungsgewalt in allem, wie wir fest vertrauen, beschützt und verteidigt".26 Angesichts dieses Zusammenhangs sah sich Eduard Schwartz zu der Vermutung veranlaßt, Rufinus habe die Übersetzung der „Epistola Clementis" seinem Gönner Siricius gewidmet, um seine gefährdete Stellung im Konflikt um die Rechtgläubigkeit des Origenes abzusichern.27 Diese Hypothese kann sich zwar auf keine Belege stützen, ist jedoch insofern glaubhaft, als die Übersetzung des pseudoclementinischen Romans durch die dort angesprochenen Themen als Beitrag zur origenistischen 22
Horst Fuhrmann, Kritischer Sinn und unkritische Haltung. Vorgratianische Einwände zu Pseudo-Clemens-Briefen, in: Hubert Mordek (Hrsg.), Aus Kirche und Reich. Studien zu Theologie, Politik und Recht im Mittelalter. Festschrift für Friedrich Kempf zu seinem 75. Geburtstag und fünfzigjährigen Doktoijubiläum. Sigmaringen 1983, 81-95. 23 Konzil von Vaison (442) c. 6, ed. Charles Munier. (Corpus Christianorum Series Latina, Vol. 148.) Tumhout 1963, 98. 24 Lotte Kery, Canonical Collections of the Early Middle Ages (ca. 400-1140). A Bibliographical Guide to the Manuscripts and Literature. (History of Medieval Canon Law, Vol. 1.) Washington 1999, 25-27. 25 Ullmann, The Significance (wie Anm. 15), 309. Nach Henry Chadwick, The Church in Ancient Society, from Galilee to Gregory the Great. Oxford 2001, 107, war der Brief „immensely influential". 26 „Portamus onera omnium qui gravantur; quin immo haec portat in nobis beatus apostolus Petrus, qui nos in omnibus, ut confidimus, administrationis suae protegit et tuetur haeredes"; Siricius /., Ep. 1, 1, Migne, PL 13, 1845, 1133. Vgl. Detlev Jasper, The Beginning of the Decretal Tradition, in: Horst Fuhrmann/Detlev Jasper, Papal Letters in the Early Middle Ages. (History of Medieval Canon Law, Vol. 2.) Washington 2001, 3-133, hier 34. 27 Eduard Schwartz, Unzeitgemäße Beobachtungen zu den Clementinen, in: Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft 31, 1932, 151-199, hier 165. Ablehnend dazu Francis X. Murphy, Rufinus of Aquileia. Washington 1945, 115.
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Kontroverse gelten konnte.28 Zugleich beabsichtigte Rufinus mit der Übersetzung, die im Osten verbreitete Verehrung des Clemens im Westen zu verankern und den ersten Bischof von Rom als „Clemens noster et Romanus" zu erweisen.29 Dieser von Ullmann postulierte Einfluß der „Epistola Clementis" wird durch eine leichte Verschiebung in der Bedeutung der Schlüsselgewalt erhärtet. Bei der Einsetzung des Clemens legt der Autor dem Apostel Petrus folgende Worte in den Mund: „Deshalb übergebe ich dir die mir vom Herrn verliehene Macht zu lösen und zu binden, damit worüber auch immer du auf Erden Bestimmungen ergehen läßt, dieser Bescheid auch im Himmel Geltung besitzt. Denn er wird lösen, was es zu lösen gilt, und binden, was zu binden ist, so wie jemand, der die Regel der Kirche bestens kennt."30 Mit den Worten decreverit und decretum wird der bußtheologischen Bedeutung der Schlüsselgewalt eine rechtliche Färbung gegeben. Aus dieser rechtlichen Färbung wird in den Dekretalen der Päpste des 5. Jahrhunderts der Mehrwert der päpstlichen Schlüsselgewalt gewonnen. Zosimus I. und Bonifatius I. haben diesen Gedanken ansatzweise zum Ausdruck gebracht31, bei Leo I. fand er die für lange Zeit gültige Form. In seiner vierten Predigt, einer Schlüsselquelle für die Geschichte der Primatsidee, begründet er seine Vorstellung eines Machtunterschieds zwischen dem Papst und den anderen Bischöfen mit einer Umdeutung von Mt 16,19. Er negiert dabei nicht die Tatsache, daß alle Bischöfe ebenso an der Vollmacht des Sündennachlasses teilhaben. Die Art dieser Teilhabe macht für ihn jedoch den Unterschied: „Das Recht dieser Gewalt ging auch auf die anderen Apostel über, und an alle Führer der Kirche wanderte die Verordnung dieses Dekrets weiter. Aber nicht umsonst wird das einem einzigen übergeben, was allen weitergegeben werden soll. Dem Petrus wird es nämlich deshalb einzeln anvertraut, weil Petrus allen Leitern der Kirche als Modell vorangestellt wird."32 Darauf folgt der entscheidende Satz mit einer deutlich rechtlichen Schlagseite:„Das Vorrecht des Petrus bleibt bestehen [für seine Nachfolger], wann immer ein Urteil ergeht, das von seiner Gerechtigkeit 28
Elizabeth A. Clark, The Origenist Controversy. The Cultural Construction of an Early Christian Debate. Princeton 1992, 187. 29 Meinolf Vielberg, Klemens in den pseudoklementinischen Rekognitionen. Studien zur literarischen Form des spätantiken Romans. (Texte und Untersuchungen zur Geschichte der altchristlichen Literatur, Bd. 145.) Berlin 2000, 26. 30 Epistola Clementis 2 , 4 (wie Anm. 14), 7: „[...] ipsi trado a domino mihi datam potestatem ligandi et solvendi, ut de omnibus quibuscumque decreverit in terris hoc decretum sit et in caelis. Ligabit enim quod oportet ligari, et solvet quod expedit solvi, tamquam qui ad liquidum ecclesiae regulam noverit." 31 Zosimus, Ep. 12, \,Migne, PL 20,1845,676; Bonifatius /., Ep. 15,4, Migne, PL 20,781. 32 Leol., Sermo4, 3, Migne, PL 54, 1846, 151: „Transivit quidem etiam in alios apostolos ius potestatis istius, et ad omnes ecclesiae principes decreti huius constitutio commeavit; sed non frustra uni commendatur, quod omnibus intimetur. Petro enim ideo hoc singulariter creditur, quia cunctis ecclesiae rectoribus Petri forma praeponitur."
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erfüllt ist." 33 Der Mehrwert der päpstlichen Schlüsselgewalt äußert sich also in einer spezifisch richterlichen Vollmacht, in einer gesamtkirchlichen Entscheidungskompetenz. Diese Vorstellung ging auch in den „Liber Pontificalis" ein. Die Übergabe der Schlüsselgewalt von Petras an Clemens wird mit folgenden Worten des Apostels kommentiert: „So übergebe ich dir die Bindeund Lösegewalt, daß du die Ordner der verschiedenen Rechtsfälle, durch die die Tätigkeit der Kirche bedrückt wird, ernennst."34 Seit Leo I. zählte die Berufung auf Mt 16,18-19 zum formelhaften Element der päpstlichen Korrespondenz.35 Welche Bedeutung diese Bibelstelle in der päpstlichen Propaganda einnahm, erweist am eindrücklichsten die Konstantinische Schenkung aus der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts. In einer Zeit der Entfremdung vom oströmischen Reich ließ man in Rom den ersten christlichen Kaiser Konstantin nach einer Predigt des Papstes über die Macht Petri zum christlichen Glauben konvertieren. Nach dem Zitat von Mt 16,19 legen die Fälscher dem Kaiser folgende Worte in den Mund: „Wunderbar ist dies sehr und ruhmvoll, auf Erden zu binden und zu lösen, daß es auch im Himmel gebunden und gelöst sei."36 Von der Macht der Schlüsselgewalt beeindruckt habe Konstantin dem Papst eine noch umfassendere Herrschaft als die des Kaisers übertragen und ihm zusätzlich zu seiner Stellvertretung des Gottessohnes noch kaiserliche Insignien sowie die westlichen Provinzen anvertraut. Von den Fälschern wird also ein direkter Zusammenhang zwischen der Schlüsselgewalt und der Macht des Papstes hergestellt. Der Einsatz der Schlüsselgewalt ist denkbar weit entfernt von der Frage des Sündennachlasses, sie dient allein der päpstlichen Propaganda zur Legitimierung politischer Herrschaft.
II. Der angelsächsischen Mission auf dem Kontinent wird zu Recht das Verdienst zugeschrieben, den päpstlichen Primat im Frankenreich des 8. und 9. Jahrhunderts zur Geltung gebracht zu haben.37 Immer wieder wird der Ausspruch Kö33
Leo /., Sermo 4, 3, Migne, PL 54,1846,151: „Manet ergo Petri Privilegium, ubicumque ex ipsius fertur aequitate iudicium." 34 Liber Pontificalis, Vita Petri (wie Anm. 2), Bd. 1,118: „Sicut mihi gubernandi tradita est a domino meo Iesu Christo potestas ligandi solvendique, ita et ego tibi committo ut ordinans dispositores diversarum causarum, per quos actus ecclesiasticus profligetur." 35 Erich Caspar, Primatus Petri. Eine philologisch-historische Untersuchung über die Ursprünge der Primatslehre. Weimar 1927, 73. 36 Constitutum Constantini c. 10, hrsg. v. Horst Fuhrmann. (MGH Fontes iuris, Bd. 10.) Hannover 1968, 80: „Et tibi dabo claves [...] Mirum est hoc valde et gloriosum, in terra ligare et solvere et in caelo ligatum et solutum esse." 37 Theodor Zwölfer, Sankt Peter, Apostelfürst und Himmelspförtner. Seine Verehrung bei
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nig Oswius von Northumbrien bemüht, als auf der Synode von Whitby im Jahr 664 eine Entscheidung zwischen der irischen und der römischen Observanz getroffen werden sollte. Oswiu entschied auf der Grundlage von Mt 16,19 für die römische Partei: „Petrus ist der Pförtner, dem ich nicht widersprechen will; vielmehr will ich allen seinen Befehlen nach bestem Wissen gehorchen, damit nicht etwa, wenn ich an die Pforte des Himmelreiches komme, niemand da ist, der öffnet, weil derjenige sich abwendet, der erwiesenermaßen die Schlüssel hat."38 Der Missionar Bonifatius war es, der diese enge Anbindung an die römische Tradition auf dem Kontinent heimisch machte. Dabei brachte er sein eigenes Bild der römischen Tradition ein und kam deshalb mit den lebenden Päpsten seiner Zeit durchaus in Konflikt.39 Verbunden fühlte er sich in erster Linie der alten Petrus-Tradition und nicht den zeitgenössischen Päpsten, wenn sie Neuerungen im Kirchenrecht durchsetzen wollten.40 So verstanden auch die fränkischen Bischöfe und allen voran Karl der Große ihre Treue gegenüber dem apostolischen Stuhl nicht als persönliche Gehorsamspflicht, sondern als Verpflichtung auf die römische Petrus-Überlieferung. Der Widerspruch gegen die dogmatischen Entscheidungen lebender Päpste vertrug sich durchaus mit der Anerkennung von Rom als „Hort der authentischen Tradition".41 In Liturgie, Kirchenrecht und Klosterregel wandte man sich nach Rom, um die fränkische Praxis an die maßgeblichen Texte der authentischen Überlieferung anzupassen. Nicht nur die neue Ausrichtung auf das Vorbild der römischen Überlieferung verdankten die Franken dem Einfluß der Angelsachsen, auch eine neue Exegese von Mt 16,19 nahm von dort ihren Ausgang. Erstmals faßbar wird sie in den Predigten des angelsächsischen Gelehrten Beda Venerabiiis. Beda verbindet Mt 16,19 mit Mt 18,18 und schreibt die Schlüsselgewalt als Vollmacht des Sündennachlasses nicht mehr ausschließlich den Bischöfen, sondern in gleichem Maße den Priestern zu: „Dasselbe Amt ist auch heutzutage in den Bischöfen und Priestern der ganzen Kirche anvertraut, damit sie nämlich, nach Erkennen der Motive der Sünder, diejenigen von der Angst des ewigen den Angelsachsen und Franken. Stuttgart 1929. Vgl. auch Wilfried Hartmann, Zur Autorität des Papsttums im karolingischen Frankenreich, in: Dieter R. Bauer (Hrsg.), Mönchtum - Kirche - Herrschaft 750-1000. Festschrift Josef Semmler. Sigmaringen 1998, 113-132. 38 Beda Venerabiiis, Historia ecclesiastica gentis Anglorum III 25, ed. by Bertram Colgrave/Roger A. B. Mynors. Oxford 1969, 306. 39 Theodor Schieffer, Winfrid-Bonifatius und die christliche Grundlegung Europas. Freiburg 1954, 206. 40 Z.B. in der Frage des Inzestverbots, vgl. Jean Fleury, Recherches historiques sur les empêchements de parenté dans le mariage canonique. Des origines aux Fausses Décretales. Paris 1933, 178. 41 Rudolf Schieffer, „Redeamus ad fontem". Rom als Hort authentischer Überlieferung im frühen Mittelalter, in: Arnold Angenendt/Rudolf Schieffer (Hrsg.), Roma - Caput et Fons. Zwei Vorträge über das päpstliche Rom zwischen Altertum und Mittelalter. Opladen 1989, 45-70.
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Todes befreit, die sich demütig und wahrhaft bußfertig zeigen; jenen aber, von denen sie erkennt, daß sie in ihren begangenen Sünden verharren, soll sie mitteilen, daß sie ewigen Qualen verfallen sind."42 Dem Apostel Petrus, so Beda weiter, sei dieses Amt nur deshalb zunächst alleine übertragen worden, um damit zu signalisieren, daß niemand von den Sünden erlöst und in das Himmelreich aufgenommen werden könne, der sich von der Glaubenseinheit und der Gemeinschaft mit Petrus absondere.43 Der Primat des Papstes beschränkt sich demnach auf die Glaubenseinheit und ist mehr der apostolischen Tradition als dem gegenwärtigen Inhaber des Petrusstuhles geschuldet. Reflektiert wird in dieser Auslegung der Wandel der Bußdisziplin im Frühmittelalter.44 Aus Resten der öffentlichen Bußpraxis der Spätantike und aus Elementen der Mönchsbuße entwickelte sich im Irland des 6. Jahrhunderts die sogenannte Tarifbuße. Obwohl man in der gegenwärtigen Forschung mehr dazu neigt, einen gleitenden Übergang von der antiken zur frühmittelalterlichen Buße anzunehmen45, bedeutete die Tarifbuße langfristig gesehen in vielerlei Hinsicht eine Neuerung: Die Buße war nicht mehr auf ein einziges Mal beschränkt, sondern sollte das ganze Leben hindurch regelmäßig praktiziert werden; die Bußzeiten für jedes Vergehen waren durch einen in sogenannten Bußbüchern festgehaltenen Tarif fixiert; die Buße wurde nicht mehr ausschließlich vom Bischof, sondern von jedem Priester auferlegt. Dies hatte zur Folge, daß die Gewalt des Sündennachlasses nicht mehr mit der Gewalt des Bischofs gleichgesetzt werden konnte. Die Autoren der Bußbücher beanspruchen daher ausdrücklich die Ausübung der Schlüsselgewalt für das Amt des Ortspriesters und berufen sich auf Mt 16,19.46 In den Predigten Bedas hat dieser Wandel erstmals Spuren hinterlassen.
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Beda Venerabiiis, Homiliae 120, ed. by David Hurst. (Corpus Christianonim Series Latina, Vol. 122.) Turnhout 1995, 146: „Necnon etiam nunc in episcopis ac presbyteris omni ecclesiae officium idem committitur, ut videlicet agnitis peccantium causis, quoscumque humiles ac vere paenitentes aspexerit, hos iam a timoré perpetuae mortis miserans absolvat, quos vero in peccatis quae egerint persistere cognoverit illos perennibus suppliciis obligandos insinuet." 43 Beda Venerabiiis, Homiliae 120 (wie Anm. 42), 145. 44 Einen Überblick geben Cyrille Vogel, Le Pécheur et la Pénitence au Moyen Age. 2. Aufl. Paris 1982; Allen F. Frantzen, The Literature of Penance in Anglo-Saxon England. New Brunswick 1983. 45 Peter Brown, Vers la naissance du purgatoire. Amnistie et pénitence dans le christianisme occidental de l'Antiquité tardive au Haut Moyen Age, in: Annales 51, 1997, 12471261 ; Mayke de Jong, Transformations of Penance, in: Janet Nelson/Frans Theuws (Eds.), Rituals of Power. From Late Antiquity to the Early Middle Ages. Leiden u.a. 2000, 185— 224. 46 Vgl. den weit verbreiteten Bußordo „Quotiescumque" in Hermann Joseph Schmitz, Die Bußbücher und das kanonische Bußverfahren. Düsseldorf 1898, 200. Zu diesem Text ausführlich Ludger Körnigen, Studien zu den Quellen der frühmittelalterlichen Bußbücher. (Quellen und Forschungen zum Recht im Mittelalter, Bd. 7.) Sigmaringen 1993, 130-138.
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Die Auslegung Bedas wurde in der Karolingerzeit von bedeutenden Theologen wie Claudius von Turin und Hrabanus Maurus wörtlich in ihre Kommentare zum Matthäusevangelium übernommen47 und fand im 12. Jahrhundert Aufnahme in die maßgebliche „Glossa ordinaria" zur Bibel.48 Bei führenden Persönlichkeiten der karolingischen Kirchenreform traf sie aber auf heftigen Widerstand. Die Kirchenreform hatte sich seit 813 dem Kampf gegen die irischen und angelsächsischen Bußbücher verschrieben und dagegen die altkirchliche Tradition der öffentlichen Kirchenbuße vor dem Bischof hochgehalten.49 Am radikalsten sprach sich das Konzil von Paris im Jahr 829 gegen die Verwendung der Bußbücher aus, indem es in einer Zeit der politischen Krisenstimmung deren Verbrennung befahl. Gleichzeitig legte der Autor der Konzilskanones, Bischof Jonas von Orléans, besonderen Wert auf den ausschließlichen Anspruch der Bischöfe auf die Schlüsselgewalt. „Ihnen wurde von Gott im Evangelium eine solche Macht übertragen, daß, was sie auf Erden festlegen, auch im Himmel festgelegt ist und was sie auf Erden lösen, auch im Himmel gelöst ist [...] Denn sie sind unstreitig die Stellvertreter der Apostel und die Lichter der Welt. Durch sie und ihre Lehre waren so große und so fromme Fürsten der Überzeugung, für sich und die Ihren die göttliche Barmherzigkeit geneigt zu machen." 50 Mit Berufung auf Mt 16,19 will Jonas also dem Kaiser die Konsultation der Bischöfe nahelegen. Den Mehrwert der Schlüsselgewalt, der mit den Wort statuere suggeriert wird, überträgt Jonas vom Papst auf die Bischöfe. Das Krisenmanagement des Jahres 829 ist bekanntlich gescheitert.51 Ein Jahr später stellten sich einflußreiche Persönlichkeiten des Hofes gegen die Politik Ludwigs des Frommen und verstanden es, die Söhne des Kaisers auf ihre Seite zu ziehen. Diese erste ,Palastrebellion' mißlang, brach sich jedoch 47
Der Kommentar des Claudius ist ungedruckt. Hrabanus Maurus, Commentaria in Matthaeum V 16, Migne, PL 107,1851,992. Den Sachverhalt der Abhängigkeit Hrabanus' erkannte erstmals Anton E. Schönbach, Über einige Evangelienkommentare des Mittelalters. (Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften in Wien, Philosophisch-Historische Klasse, Bd. 146/6.) Wien 1903, 90f. Eine ähnliche Deutung bei Anonymus in Matthaeum v. 16,19, hrsg. v. Bengt Löfstedt. (Corpus Christianorum Continuatio Mediaevalis, Vol. 159.) Turnhout 2003,145. 48 Biblia latina cum glossa ordinaria ad Mt 16, 19 v. et quodcumque. Strassburg 1480/81, Ndr. Turnhout 1992, Vol. 4, 56. 49 Mayke de Jong, What was public about public penance? Paenitentia publica and Justice in the Carolingian World, in: La giustizia nell' Alto Medioevo (secoli IX-XI). (Settimane di studio del centro italiano di studi sull'alto medioevo, Voi. 43.) Spoleto 1996, 863-902. 50 Konzil von Paris (829) prologus, hrsg. v. Albert Werminghoff. (MGH Conc., Bd. 2.) Hannover/Leipzig 1908, 608: „[...] quibus et in evangelio a Domino tanta confertur potestas, ut quae statuerint in terra statuta sint et in caelo et quae solverint in terra soluta sint et in caelis et quorum remiserint peccata remittantur eis. Hos quippe constai vicarios esse apostolorum et luminaria mundi. Per hos igitur eorumque doctrinam tales tantique piissimi principes sibi suisque fideliter crediderunt misericordiam propitiari posse divinarti." 51 Egon Boshof, Ludwig der Fromme. Darmstadt 1996,182-210.
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drei Jahre später erneut Bahn. Dieses Mal stand der älteste Sohn Lothar an der Spitze des Aufstands. Als Herrscher über Italien gelang es ihm, Papst Gregor IV. für seine Sache zu gewinnen. Der Papst nahm die beschwerliche Reise über die Alpen auf sich und stand in Colmar auf der Seite Lothars, als sich die Heere der beiden Kontrahenten gegenüberstanden. Er forderte die Bischöfe des Frankenreichs auf, ihm Gehorsam entgegenzubringen und im Bürgerkrieg auf die Seite Lothars zu wechseln. Es war sogar das Gerücht im Umlauf, der Papst „sei gekommen, um den Kaiser und seine Bischöfe in die Bande der Exkommunikation zu schlagen, wenn man ihm und den Söhnen des Kaisers nicht zu Willen sein werde." 52 Die Bischöfe im Lager Ludwigs des Frommen reagierten auf den Eingriff des Papstes in innere Angelegenheiten des Frankenreichs, indem sie mit Absetzung und Exkommunikation des Papstes drohten. 53 Daraufhin trug man im Lager Lothars eilig ein Dossier über die Macht des apostolischen Stuhls zusammen. Der genaue Inhalt dieses Dossiers ist nicht bekannt, doch sein Kern dürfte in der Aussage bestanden haben, daß im Papst „die ganze herausragende Autorität und lebende Macht des heiligen Petrus ist, durch die er alle richten darf, aber von niemandem gerichtet werden kann." 54 Der Papst selbst beschwerte sich in einem Brief an die Bischöfe des Frankenreichs, daß ein solcher Angriff auf seine Autorität in der ganzen Geschichte der Christenheit einzigartig dastehe.55 Das Vorgehen der kaisertreuen Bischöfe wird als „absurd, unschicklich und dumm" gebrandmarkt, da der Stellvertreter des heiligen Petrus auf keine Weise entehrt werden dürfe, zumal ihm auch kein Verbrechen zum Vorwurf gemacht werden könne. Die Intervention Gregors IV. verlief nicht erfolgreich. Nachdem der Verrat der kaisertreuen Truppen zur Absetzung des Kaisers geführt hatte, wollte man eine Zuspitzung des innerkirchlichen Konflikts vermeiden, und der Papst reiste „von Reue ergriffen" 56 nach Rom zurück. Die Bedeutung des Konflikts für die Geschichte der Primatsidee liegt in der erstmals nachweisbaren Umprä52 Astronomus, Vita Hludowici imperatoris, hrsg. von Ernst Tremp. (MGH SS rer. Germ., Bd. 64.) Hannover 1995, c. 48,475. 53 Astronomus, Vita Hludowici (wie Anm. 52), 475. 54 Paschasius Radbertus, Epitaphium Arsenii, hrsg. v. Ernst Dümmler. Berlin 1900, 84: „Unde et ei dedimus nonnulla sanctorum patrum auctoritate firmata, predecessorumque suorum conscripta, quibus nullus contradicere possit, quod eius esset potestas, immo dei et beati Petri apostoli, suaque auctoritas ire mittere ad omnes gentes pro fide Christi et pace ecclesiarum pro predicatione evangelii et assertione veritatis et in eo esse omnis auctoritas beati Petri excellens et potestas viva a quo oporteret universos iudicari, ita ut ipse a nemine iudicandus esset." 55 Gregor IV., Epistola, hrsg. v. Ernst Dümmler. (MGH Epp., Bd. 5.) Berlin 1899, 232: „Quod vestrae minae continent, numquam adhuc ab inicio ecclesiae factum est." 56 Nithard, Historiae I 4, hrsg. v. Ernst Müller. (MGH SS rer. Germ., Bd. 44.) Hannover 1907, 5. Vgl. auch Johannes Fried, Ludwig der Fromme, das Papsttum und die fränkische Kirche, in: Peter Godman/Roger Collins (Eds.), Charlemagne's Heir. New Perspectives on the Reign of Louis the Pious (814-840). Oxford 1990, 231-273, hier 266-270.
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gung des Begriffs der plenitudo potestatis.51 Papst Leo I. hatte in einem Brief an Bischof Anastasius von Thessaloniki diesen Begriff verwendet, um den Bischof auf die Grenzen seiner Vollmacht als päpstlicher Vikar für das Illyricum hinzuweisen. Der Papst trage die Verantwortung für die gesamte Kirche, während dem Vikar nur eine Teilhabe an dieser Kompetenz übertragen werde. Gegenübergestellt wird von Leo die volle Gewalt desjenigen, der eine Vollmacht erteilt, gegenüber der beschränkten Zuständigkeit eines bevollmächtigten Vikars. In einem Brief, den Gregor IV. während seines Aufenthalts in Colmar für Bischof Aldrich von Le Mans ausstellte, werden diese Worte aus dem Zusammenhang gerissen und dienen einer Umschreibung der gesamtkirchlichen Kompetenz des Papstes.58 Nicht der Vikar, sondern jeder Bischof befinde sich in der Position eines Bevollmächtigten des apostolischen Stuhls. Wegen dieser und ähnlicher Aussagen zum päpstlichen Primat, die sich der gleichen Methode und der gleichen Quellen wie die pseudoisidorischen Fälschungen bedienen, hat man diesen Brief in der Forschung lange Zeit für eine spätere Fälschung gehalten. Die „kühnste und großartigste Fälschung kirchlicher Rechtsquellen" 59 durch Pseudoisidor datierte man nämlich in die vierziger Jahre des 9. Jahrhunderts und schloß daher aus, daß bereits im Jahr 833 Exzerpte der falschen Dekretalen im Umlauf waren. 60 Die neuesten Forschungen von Klaus Zechiel-Eckes machen jedoch eine Revision der Einschätzung des Gregor-Briefs notwendig. Nach Zechiel-Eckes entstand die Idee der Fälschung von Briefen der Päpste der ersten drei Jahrhunderte genau in jenen Jahren des Bürgerkriegs zwischen Ludwig und seinen Söhnen.61 Nimmt man hinzu, daß das von Zechiel-Eckes identifizierte Haupt der Fälschergruppe, Radbert von Corbie, in Colmar zu den Anhängern Lothars I. zählte und als einziger über das oben genannte und von seinem Abt Wala von Corbie überreichte Dossier zum päpstlichen Primat berichtete, läßt sich durchaus an der Echtheit des Gre57
Vgl. Robert Benson, Plenitudo potestatis. Evolution of a Formula from Gregory IV to Gratian, in: Studia Gratiana 14, 1967,193-218, hier 202. 58 Gregor IV., Epistola (wie Anm. 55), 74: „[...] ut nihil prius de eo qui ad sinum sanctae Romanae confugit ecclesiae eiusque inplorat auxilium decernatur, quam ab eiusdem ecclesiae fuerit praeceptum auctoritate, quae vices suas ita aliis inpertivit ecclesiis, ut in partem sint vocate sollicitudinis, non in plenitudinem potestatis." 59 Emil Seckel, Art. „Pseudoisidor", in: Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche. Bd. 16. 3. Aufl. 1905, 265-307, hier 267. 60 Für die Echtheit trat ein Walter Goffart, Gregory IV for Aldric of Le Mans (833): A Genuine or Spurious Decretal?, in: Med. Stud. 28, 1966, 22-38. Goffart wies zu Unrecht die Abhängigkeit von Pseudoisidor zurück. Seine Beweisführung wurde deshalb abgelehnt von Dietrich Lohrmann, in: QuFiAB 48, 1968, 403f.; Horst Fuhrmann, Einfluß und Verbreitung der pseudoisidorischen Fälschungen. (MGH Schriften, Bd. 24/1-3.) Hannover 1972, 161 u. 241 f.; Jasper, The Beginning (wie Anm. 26), 103. 61 Klaus Zechiel-Eckes, Auf Pseudoisidors Spur. Oder: Versuch, einen dichten Schleier zu lüften, in: Wilfried Hartmann/Gerhard Schmitz (Hrsg.), Fortschritt durch Fälschungen? Ursprung, Gestalt und Wirkungen der pseudoisidorischen Fälschungen. (MGH Studien und Texte, Bd. 31.) Hannover 2 0 0 2 , 1 - 2 8 .
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gor-Briefes festhalten. Diese Frage verdient jedenfalls eine erneute Untersuchung. Wie im Brief Gregors IV. erlangt auch in den falschen Dekretalen der Begriff der plenitudo potestatis eine neue Bedeutung. In einer Pseudo-Dekretale läßt der Fälscher den Papst Vigilius sagen: „Die heilige römische Kirche nimmt - durch das Verdienst Petri von der Stimme des Herren geweiht [d.h. durch Mt 16,18-19] und durch die Autorität der heiligen Väter bekräftigt den Primat über alle anderen Kirchen ein. [...] Diese Kirche ist die erste und vertraut den übrigen Kirchen so viel an, so daß sie an ihrer Stelle teilhaben an der Sorge, aber nicht in die Vollgewalt berufen sind. Daher steht fest, daß alle Urteile über Bischöfe, die an den apostolischen Stuhl appellieren, und die Angelegenheiten aller wichtigeren Fälle demselben heiligen Stuhl vorbehalten sind, besonders weil in allen diesen Dingen immer sein Rat eingeholt werden muß." 62 Anders als bei Gregor IV. wird hier ausdrücklich die Schlüsselgewalt mit der Vollgewalt in Verbindung gesetzt. Der Begriff der Vollgewalt bezeichnet den Mehrwert der päpstlichen Schlüsselgewalt: die gesamtkirchliche Kompetenz in den „wichtigeren Angelegenheiten". So zukunftsweisend diese Gedanken sind, muß man doch einschränken, daß Pseudoisidor in seinen überaus zahlreichen Ausführungen zum Primat des Papstes nur an dieser Stelle den Begriff der Vollgewalt ins Spiel bringt. Sonst genügt ihm für die Begründung der Privilegien des apostolischen Stuhls ein pauschaler Verweis auf Mt 16,18-19, der bevorzugten Stelle seines Fälschungswerkes.63 Man kann auch ausschließen, daß Pseudoisidor mit dem Begriff der Vollgewalt eine direkte Ableitung der bischöflichen Gewalt aus der päpstlichen Vollmacht in Betracht zog. Er betont im Gegenteil mehrfach den vom Papst unabhängigen Ursprung der bischöflichen Gewalt, da den Bischöfen in Mt 18,18 ebenfalls die Schlüsselgewalt verliehen worden sei.64 Die Kühnheit des Werkes kommt in erster Linie darin zum Ausdruck, daß Pseudoisidor sechzig Papstbriefe aus den ersten drei Jahrhunderten fälschte und so ein Idealbild des Urchristentums schuf, das den gegenwärtigen Zuständen als Spiegel vorgehalten werden sollte. Dabei durfte natürlich der erste Bi62
Decretales Pseudo-Isidorianae et Capitula Angilramni, hrsg. v. Paul Hinschius. Leipzig 1863, 712: „Quamobrem sancta Romana ecclesia eius mérito domini voce consecrata et sanctorum patrum auctoritate roborata primatum tenet omnium ecclesiarum ... Ipsa namque ecclesia quae prima est ita reliquis ecclesiis vices suas credidit largiendas, ut in parte sint vocatae sollicitudinis, non in plenitudine potestatis, unde omnium appellantium apostolicam sedem episcoporum iudicia et cunctarum maiorum negotia causarum eidem sanctae sedi reservata esse liquet, praesertim cum in his ómnibus eius Semper sit expectandum consultum." 63 Gotthold Hartmann, Der Primat des römischen Bischofs bei Pseudo-Isidor. Stuttgart 1930, 83-87. 64 Ebd. 74-82; Agostino Marchetto, Episcopato e primato pontificio nelle decretali pseudoisidoriane. Rom 1971,136-144.
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schof nach Petrus, Clemens, nicht fehlen. Pseudoisidor hat die „Epístola Clementis" in seine Sammlung übernommen und dadurch für eine breite Rezeption dieses apokryphen Schreibens gesorgt. 65 Durch die massenhafte Rezeption Pseudoisidors wurde der Clemensbrief aus dem Schattendasein der kleineren Sammlungen herausgeführt und zählte alsbald zum integralen Bestandteil des mittelalterlichen Kirchenrechts. Die „Epístola" steht nach den apostolischen Kanones, die ebenfalls unter dem Namen des Clemens liefen 66 , als erste Dekretale am Anfang der Sammlung. Überdies erweitert Pseudoisidor den Text der „Epístola" um ungefähr die Hälfte seines Umfanges und läßt nach dem apokryphen zweiten Clemensbrief 57 noch drei weitere Dekretalen aus eigener Produktion folgen. In diesem Kontext nahm die „Epistola Clementis" über die Einsetzung des Clemens eine neue Bedeutung an. Durch die apostolischen Kanones und das Corpus von fünf Clemensbriefen erscheint der erste Nachfolger Petri als Initiator des Kirchenrechts überhaupt. Daß der Fälscher die Einsetzung in diesem Sinn auffaßte, beweisen die von ihm produzierten Zusätze. Pseudoisidor läßt Petrus den Befehl an Clemens geben, nach seinem Vorbild in vielen Städten Bischöfe einzusetzen. „Was ich auch begonnen habe zu tun [...] Einige habe ich nach Gallien und Spanien geschickt, andere wollen wir nach Germanien, Italien und an die übrigen Völker schikken." 68 Nicht nur die Einteilung in Bistümer, auch die hierarchische Ordnung in Primaten, Patriarchen und Erzbischöfe wird auf die Initiative des Clemens zurückgeführt. 69 Der erste Bischof von Rom wird zur zentralen Figur der Entfaltung des päpstlichen Primats. Die herausgehobene Stellung des Papstes nahm Ignaz Döllinger zum Anlaß, Pseudoisidor zum Sündenfall der Kirchengeschichte zu stilisieren und ihn für das monarchische Regiment der Päpste späterer Zeiten verantwortlich zu
65
Fuhrmann, Kritischer Sinn (wie Anm. 22), 86-88. Pseudoisidor hat diese von Dionysius Exiguus angezweifelte Zuschreibung durch eine Fälschung bekräftigt: Decretales Pseudo-Isidorianae (wie Anm. 62), 27. 67 Der Ursprung dieser Fälschung ist bislang nicht erforscht. Die Überlieferung in der „Collectio Vaticana" und „Colbertina" bezeugen eine Entstehung im 5. Jahrhundert, vgl. Kéry, Canonical Collections (wie Anm. 24), 25 u. 31; Michael Glatthaar, Bonifatius und das Sakrileg. Zur politischen Dimension eines Rechtsbegriffs. (Freiburger Beiträge zur mittelalterlichen Geschichte, Bd. 17.) Frankfurt u.a. 2004,490. 68 „Quod etiam inchoavimus ... Aliquos vero ad Gallias Spaniasque partes mittimus, et quosdam ad Germaniam et Italiam atque ad reliquas gentes dirigere cupimus [...]"; Decretales Pseudo-Isidorianae (wie Anm. 62), 39. Diese Fiktion beruht auf der echten Dekretale Innocenz' I. an Decentius von Gubbio. Seit dem 6. Jahrhundert haben sich Kirchen in Gallien auf die Mission durch Clemens berufen, im 8. Jahrhundert auch die Königsabtei SaintDenis. Vgl. Eugen Ewig, Die ältesten Mainzer Patrozinien und die Frühgeschichte des Bistums Mainz, in: ders., Spätantikes und fränkisches Gallien. Gesammelte Schriften. Bd. 2. (Beihefte zur Francia, Bd. 3.) München 1979, 154-170, hier 161. 69 Decretales Pseudo-Isidorianae (wie Anm. 62), 39. Vgl. Horst Fuhrmann, Studien zur Geschichte mittelalterlicher Patriarchate II, in: ZRG KA 40, 1954, 1-84, hier 22-24. 66
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machen. 70 In der modernen Forschung ist man einhellig der Meinung, die primäre Stoßrichtung des Fälschers gehe in eine andere Richtung.71 Wenn man die Intention Pseudoisidors in einem Wort zusammenfassen will, so greift man gewöhnlich zum Begriff,Episkopalismus'. Der Fälscher richtet sich gegen die staatskirchliche Tendenz der fränkischen Könige und gegen die wachsende Macht der Erzbischöfe. Dieses Anliegen verfolgt Pseudoisidor auf zweierlei Weise: einerseits, indem er die prozessualen Schranken so hoch schraubt, daß Anklagen gegen Bischöfe schon aufgrund erwartbarer Formfehler keine Aussicht auf Erfolg haben sollten; andererseits, indem er dem Papst in Rom die Vollmacht erteilt, über alle wichtigeren Angelegenheiten und daher auch über Bischofsabsetzungen zu entscheiden. Dieser zweite Weg wird als taktischer Schachzug verstanden, weil das Papsttum in dieser Zeit noch nicht über die Infrastruktur verfügte, um wirksam in die Belange der fränkischen Kirche einzugreifen. Emil Seckel hat diese Einschätzung auf den Punkt gebracht: „Der Hauptzweck des pseudoisidorischen Prozeßrechts war die Befestigung und Erweiterung des päpstlichen Primats gewiß nicht, .. .dies war von Pseudoisidor lediglich gedacht als eines der Mittel, um den Episkopat geDem sonst so klugen Fälscher entging es, welche gen Anklagen zu decken Waffen gegen den Episkopalismus seine Dekretalen dem Papst in die Hände spielten."72 Diese bis heute vorherrschende Auffassung muß aufgrund der bahnbrechenden Entdeckung von Zechiel-Eckes neu überdacht werden. Die Debatte um die Stellung von Papst und Bischöfen, die im Jahr 833 entbrannt ist, hat bei Radbert von Corbie, dem Haupt der Fälscherwerkstatt, nachweislich deutliche Spuren hinterlassen. In seinen anderen Werken theologischen und historischen Charakters schreibt er dem Papsttum eine überragende Stellung zu. 73 Vor diesem Hintergrund sollte nochmals erwogen werden, ob die Stärkung des römischen Primats nicht doch zum Kernanliegen des Fälschers zählte. Man muß sich nur vor den übertriebenen Erwartungen befreien, die das Urteil Ignaz Döllingers schürte, und die Primatsidee des Fälschungswerks vor dem Hintergrund der Zeit betrachten. Die Ausrichtung des Kirchenrechts auf den Papst und insbesondere auf die Figur des Clemens ist bedeutend genug, um als ein nachdrückliches Bekenntnis zum Primat des apostolischen Stuhls gedeutet zu werden. 70
Zitiert bei Hartmann, Der Primat (wie Anm. 63), 3. Seckel, Pseudoisidor (wie Anm. 59); Fuhrmann, Einfluß und Verbreitung (wie Anm. 60), 145-147. 72 Seckel, Pseudoisidor (wie Anm. 59), 281 f.; Schatz, Der päpstliche Primat (wie Anm. 3), 92. 73 Paschasius Radbertus, Expositio in Matheo 6 u. 8, hrsg. v. Beda Paulus. (Corpus Christianorum Continuatio Med., Vol. 56A.) Turnhout 1984, 567 u. 894; siehe auch oben Anm. 54. 71
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III. Entscheidende Veränderungen erfuhr die Konzeption des päpstlichen Primats durch das Reformpapsttum des 11. Jahrhunderts. Heinrich III. brachte die Kirchenreform in Gang, als er 1046 in Sutri drei Päpste absetzen und den Bischof Suidger von Bamberg zum Papst erheben ließ. Dieser wählte in Erinnerung an die Beteiligung des Clemens an dem legendären Streitgespräch mit Simon Magus den Namen des ersten Papstes. 74 Die einzige bedeutsame Handlung Clemens' II. während seines kurzen Pontifikats war ein Dekret gegen die Simonisten, das den Auftakt für den Kampf des Reformpapsttums gegen die simonistische Häresie bildete. 75 In Fragen der Primatspolitik erfolgte die Innovation zunächst weniger durch die Formulierung neuer theoretischer Grundsätze als durch die praktische Umsetzung des traditionellen Anspruchs auf gesamtkirchliche Zuständigkeit. Das Reformpapsttum war vom Glauben getragen, daß die unbedingt notwendige Reform der Kirche nur durch die Initiative des apostolischen Stuhls vorangetrieben werden könnte. Mit bislang nicht gekannter Konsequenz wurde die liturgische und rechtliche Konformität mit Rom im ganzen Abendland eingefordert. Um das neu zur Geltung gebrachte monarchische Kirchenregiment zu legitimieren, mußten Widerstände überwunden und Parteigänger motiviert werden. Welcher Mittel sich diese Propaganda bediente, zeigt eindringlich das Briefregister des umstrittensten Reformpapstes, Gregors VII. „Die Grundstelle, auf die Gregor hier und auch sonst immer wieder zurückkommt, ist die Schlüsselübergabe in Mt 16,1819 "76 Gemeinsam mit Joh 21,17 bildet die Schlüsselübergabe für Gregor die Grundlage für die universale Zuständigkeit des Papsttums in der Kirche: „Der Herr Jesus Christus hat den seligen Petrus als Fürst der Apostel eingesetzt, indem er ihm die Schlüssel des Himmelreichs und die Macht des Lösens und
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Recognitiones II I (wie Anm. 16), 51. Zur Reputation des hl. Clemens als Kämpfer gegen die Simonie vgl. Paul Meyvaert/Paul Devos, Autour de Léon d'Ostie et de sa Translatio s. Clementis, in: Analecta Bollandiana 74, 1956, 189-240, hier 226. Die These, die Namenswahl verdanke sich der Kenntnis Pseudoisidors (Bernd-Ulrich Hergemöller, Die Namen der Reformpäpste [1046-1145], in: A H P 24, 1 9 8 6 , 1 - W , hier 32), hat keinen Anklang gefunden: Stephan Freund, Est nomen omen? Der Pontifikat Gelasius II. (1118-1119) und die päpstliche Namensgebung, in: A H P 40, 2002, 5 3 - 8 3 , hier 62. Zu dem durch den Gegenpapst Wibert von Ravenna ausgelösten Streit um die Clemens-Tradition vgl. Patrizia Carmassi, Die hochmittelalterlichen Fresken der Unterkirche von San d e m e n t e in Rom als programmatische Selbstdarstellung des Reformpapsttums. Neue Einsichten zur Bestimmung des Entstehungskontexts, in: QuFiAB 81, 2001, 1 - 6 6 . 75
Vgl. Rudolf Schieffer, Geistliches Amt und schnöder Mammon. Zur Bewertung der Simonie im hohen Mittelalter, in: Jürgen Petersohn (Hrsg.), Mediaevalia Augiensia. Forschungen zur Geschichte des Mittelalters. (VuF, Bd. 54.) Stuttgart 2001, 3 5 9 - 3 7 4 . 76 Albert Hauck, Der Gedanke der päpstlichen Weltherrschaft bis auf Bonifaz VIII. Leipzig 1904, 25; vgl. auch Herbert E. J. Cowdrey, Pope Gregory VII ( 1 0 7 3 - 1 0 8 5 ) . Oxford 1998, 525.
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Bindens im Himmel und auf Erden übergeben hat." 77 Diese traditionelle Begründung erfährt von Gregor nur insofern eine Steigerung, als er sich nicht bloß als juristischer Erbe Petri, sondern als seine Personifikation begreift. Der Papst war von dem Bewußtsein der Gegenwart Petri erfüllt, er verstand sich als „irdischer Petrus".78 Innovativ ging Gregor VII. mit dem Thema der Schlüsselgewalt um, als er vor der schwierigen Aufgabe stand, sein beispielloses Eingreifen in die Angelegenheiten des römisch-deutschen Reichs zu rechtfertigen. Beide Bannsentenzen gegen Heinrich IV., diejenige von 1076 und diejenige von 1080, nutzen das rhetorische Potential der Schlüsselgewalt, um die Exkommunikation des Königs und die Lösung der Untertanen von den Treueeiden zu begründen. 79 Wie er diesen Zusammenhang zwischen Schlüsselgewalt und Eingriff in weltliche Angelegenheiten herstellte, macht der erste Brief an Hermann von Metz deutlich. Indem Gregor den Schwerpunkt auf das Wort „quodcumque" legt, d.h. auf die Universalität der päpstlichen Zuständigkeit, verleiht er der Schlüsselübergabe eine neue Deutung. „Als Gott dem seligen Petrus als Erstem die Macht gab, im Himmel und auf Erden zu binden und zu lösen, nahm er nichts davon aus, nichts entzog er seiner Macht." 80 Daraus folgert der Papst unmittelbar anschließend auch die Unterordnung der Könige unter seine Hoheit: „Weshalb soll der heilige apostolische Stuhl nicht auch über weltliche Angelegenheiten das Urteil fällen, wenn ihm von Gott die fürstliche Macht übertragen wurde, über geistliche Angelegenheiten Urteile zu fällen?" 81 Dasselbe Argument wiederholt der Papst in dem zweiten Brief an Hermann von Metz, dem gregorianischen Manifest par excellence. Der Text von Mt 16,1819 dient ihm darin als Einstieg in die ausführlichste Rechtfertigung der päpstlichen Politik aus seiner Feder.82 Durch die intensive Rezeption dieses Briefes bereitete Gregor den Weg für eine neue Lesart von Mt 16,19. Das Insistieren auf der Universalität der päpstlichen Schlüsselgewalt gehörte fortan zum Re77
Gregor VII., Registrum IX 35, hrsg. v. Erich Caspar. (MGH Epp. sei., Bd. 2.) Berlin 1923, 622: „Dominus Iesus Christus beatum P. constituit principem apostolorum dans ei claves regni caelorum et potestatem ligandi et solvendi in caelo et in terra." 78 Wilhelm Martens, Gregor VII., sein Leben und Wirken. Bd. 2. Leipzig 1894, 9. Vgl. auch Michele Maccarone, I fondamenti „petrini" del primato romano in Gregorio VII, in: Studi Gregoriani 13,1989, 55-122. TO Gregor VII., Registrum III 6 (wie Anm. 77), 255; III 6*, 254; III 10a, 271; VII 14a, 487. 80 Gregor VII., Registrum IV 2 (wie Anm. 77), 295: ubi deus beato Petro principaliter dedit potestatem ligandi et solvendi in caelo et in terra, nulluni excepit, nichil ab eius potestate subtraxit." Zu diesem Brief vgl. Christian Schneider, Prophetisches Sacerdotium und heilsgeschichtliches Regnum im Dialog 1073-1077. Zur Geschichte Gregors VII. und Heinrichs IV. (Münstersche Mittelalter-Schriften, Bd. 9.) München 1972, 191-214. 81 Gregor VII., Registrum IV 2 (wie Anm. 77), 295: „Quodsi sancta sedes apostolica divinitus sibi collata principali potestate spiritualia decernens diiudicat, cur non et secularia?" 82 Gregor VII., Registrum VIII21 (wie Anm. 77), 548. Vgl. die Analyse von Stephan Beulertz, Gregor VII. als „Publizist". Zur Wirkung des Schreibens Reg. VIII, 21, in: AHP 32, 1994, 7-29.
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servoir der päpstlichen Doktrin und kann als Ausgangpunkt für die spätere Vereinigung des Konzepts der Schlüsselgewalt mit demjenigen der Vollgewalt betrachtet werden. Wenn .nichts' von der Schlüsselgewalt ausgenommen sein sollte, mußte das Konzept der,Fülle' päpstlicher Macht als gerechtfertigt erscheinen. Die beiden Propagatoren der päpstlichen Vollgewalt, Bernhard von Clairvaux und Innocenz III., griffen auf die Lesart Gregors VII. zurück. 83 Das Konzept der päpstlichen Vollgewalt war indes der römischen Kurie zur Zeit des Investiturstreits noch nicht vertraut. Die beiden einzigen Zeugnisse für dieses Konzept, die Dekretalen Gregors IV. und Pseudo-Vigilius', übten zunächst keinen direkten Einfluß aus. Der Brief Gregors IV. zirkulierte nur in Nordostfrankreich und ist erst in der Mitte des 11. Jahrhunderts von den Sammlern des Kirchenrechts entdeckt worden. 84 Wenig später wurde der Brief in einer vermutlich aus Lothringen stammenden systematischen Sammlung mit der Dekretale des Pseudo-Vigilius vereinigt und dem ersten Titel „De primatu Romane ecclesie" einverleibt. 85 Gregor VII., der selbst ein Kompendium aller Prärogativen des apostolischen Stuhls anregte und einen Aufschwung des Kirchenrechts in Rom herbeiführte 86 , kam mit dieser Sammlung in Berührung und trug für ihre Verbreitung nördlich der Alpen Sorge. Durch diese Arbeit der Kirchenrechtler wurde der Begriff der plenitudo potestatis im Bewußtsein der Zeitgenossen verankert. Es sollte jedoch einem Theologen überlassen sein, erstmals den Begriff der Völlgewalt positiv auf das Papsttum anzuwenden. Während in den pseudoisidorischen Dekretalen die Vollgewalt den Bischöfen nur negativ vorenthalten wurde, sah Bernhard von Clairvaux die Völlgewalt als positives Attribut des Papstes an. An Papst Eugen III. schreibt er: „Nach den Kanones sind die anderen zur Teilhabe in der Sorge, du aber zur Fülle der Gewalt berufen." 87
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Bernhard von Clairvaux, De consideratione ad Eugenium papam II 15, ed. Jean Leclercq/Henri M. Rochais. (Opera Omnia, Vol. 3.) Rom 1963, 423; Decretales Gregorii IX 1.33.6, hrsg. v. Emil Friedberg. Leipzig 1881, 198 (Dekretale „Solitae" Innocenz' III.). 84 Und zwar durch den Autor der Reimser Collectio Sinemuriensis: Linda Fowler-Magerl, Clavis Canonum. Selected Canon Law Collections before 1140. (MGH Hilfsmittel, Bd. 21.) Hannover 2005, 104. 85 Collectio in LXXIV titulos digesta 12-16, ed. John T. Gilchrist. (Monumenta Iuris Canonici B, Vol. 1.) Vatikanstadt 1973, 25-28. Zur Entstehung vgl. Fowler-Magerl, Clavis Canonum (wie Anm. 84), 110-119. 86 Horst Fuhrmann, Das Reformpapsttum und die Rechtswissenschaft, in: Josef Fleckenstein (Hrsg.), Investiturstreit und Reichsverfassung. (VuF, Bd. 17.) Sigmaringen 1973, 175-203; ders., Gregor VII. und das Kirchenrecht. Zum Problem des Dictatus Papae, in: Studi Gregoriani 13, 1989, 123-149; Jean Gaudemet, La Primauté pontificale dans les Collections canoniques grégoriennes, in: Cesare Alzati (Ed.), Cristianità ed Europa. Miscellanea di studi in onore di Luigi Prosdocimi. Vol. 1. Rom 1994, 59-90. 87 Bernhard von Clairvaux, De consideratione ad Eugenium papam II 16 (wie Anm. 83), 424. Gerhart B. Ladner, The Concepts of „Ecclesia" and „Christianitas" and their Relation to the Idea of Papal „Plenitudo potestatis" from Gregory VII to Boniface Vili, in: Sacerdo-
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Die weitere Entfaltung der päpstlichen Schlüsselgewalt soll hier nicht im Detail verfolgt werden.88 Es verdient lediglich festgehalten zu werden, daß erst Innocenz III. dem Begriff der plenitudo potestatis nachhaltig Eingang in das Formular der Papstbriefe verschafft hat. 89 An die hundert Belegstellen für diesen Begriff sind in seinem Briefregister zu verzeichnen. In einem Brief an den Patriarchen von Konstantinopel vom Jahr 1199 stellt er klar, daß die Vollgewalt direkt aus der Verleihung der Schlüsselgewalt in Mt 16,19 hervorgeht.90 Petrus habe überdies durch sein Martyrium in Rom deutlich gemacht, daß „er den Primat des Bischofssitzes seinem Nachfolger [Clemens] hinterläßt und ihm die ganze Vollgewalt überträgt."91 Unter Innocenz III. werden auch erstmals die Schlüssel Petri auf den Fahnen der römischen Kirche abgebildet und somit nicht mehr als exklusives Attribut des Apostelfürsten Petrus begriffen. 92 Es dauerte noch einige Jahrzehnte, bis auch der Papst selbst mit diesem Attribut ausgestattet wurde. Der erste Beleg findet sich bei Clemens IV. in einer Darstellung der Übertragung des Königreichs Sizilien an Karl von Anjou. Bonifaz VIII., der schärfste Verfechter des päpstlichen Absolutismus, ließ die Schlüssel in sein amtliches Wappen aufnehmen und begründete damit eine bis heute eingehaltene Tradition. Auf Bonifaz geht bekanntlich auch die Tiara mit drei Kronen zurück, die als Symbol der weltlichen Macht des Papstes über den Besuchern der Sala Clementina schwebt. Unter Innocenz III. sind also alle Elemente zusammengekommen, die den geistigen Hintergrund des Ausstattungsprogramms der Sala Clementina bilzio e Regno da Gregorio VII a Bonifacio Vili. (Miscellanea Historiae Pontificiae, Voi. 18.) Rom 1954,49-77, hier 60. 88 Vgl. Jean Rivière, In partem sollicitudinis: Evolution d'une formule pontificale, in: Revue des sciences religieuses 5, 1925, 210-231; Ladner, The Concepts (wie Anm. 87); Agostino Marchetto, In partem sollicitudinis ... non in plenitudinem potestatis. Evoluzione di una formula di rapporto Primato-Episcopato, in: Rosalio J. Castillo Lara (Ed.), Studia in honorem eminentissimi cardinalis Alphonsi M. Stickler. (Studia et textus historiae iuris canonici, Voi. 7.) Rom 1992, 269-298. 89 Vgl. Klaus Schatz, Papsttum und partikularkirchliche Gewalt bei Innocenz III. (11981216), in: AHP 8, 1970,61-111; Kenneth Pennington, Pope and Bishops. The Papal Monarchy in the Twelfth and Thirteenth Centuries. Philadelphia 1984,56-60; Wilhelm Imkamp, Das Kirchenbild Innocenz' III. (1198-1216). (Päpste und Papsttum, Bd. 22.) Stuttgart 1983, 278-289. 90 Innocenz III., Registrum II 200, hrsg. v. Othmar Hageneder/Werner Maleczek/Alfred A. Stmad. (Publikationen des Österreichischen Kulturinstituts in Rom, Abt. 2, Rh. 1, Bd. 2/1.) Rom/Wien 1979, 384. 91 Innocenz HL, Registrum (wie Anm. 90), 385: „[...] primatum cathedre successori reliquit, totam in eo transferens plenitudinem potestatis [...]". 92 Zum Folgenden Agostino Paravicini Bagliani, Le chiave e la Tiara. Immagini e simboli del papato medievale. Rom 1998, 20-22. Die Bezeichnung claviger wird bereits früher auf den Papst angewandt: Hrabanus Maurus, In honorem sanctae crucis, Carmen dedicatorium ad Gregorium IV papam, ed. Michel Perrin. (Corpus Christianorum Continuatio Med., Vol. 100.) Turnhout 1997, 7; Anastasius Bibliothecarius, Epistolae sive praefationes 1, hrsg. v. Ernst Perels/Gerhard Laehr. (MGH Epp., Bd. 7.) Berlin 1928, 397.
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den. Petrus übergibt Clemens die Schlüsselgewalt und verleiht ihm dadurch ein besonderes Privileg der gesamtkirchlichen Leitung. Dies wird durch den Begriff der Vollgewalt ausgedrückt. Die Vollgewalt bezeichnet den Mehrwert der päpstlichen Schlüsselgewalt und diente im 13. Jahrhundert als Kürzel für die päpstliche Autorität schlechthin: „Die päpstliche plenitudo potestatis wurde seit dem 12./13. Jahrhundert zur Wurzel einer außerordentlichen Gerichtsbarkeit und Dispensgewalt, der generellen Befugnis zur Rechtssetzung, einer umfassenden Organisationshoheit, des Provisionsrechts für Benefizien, der exklusiven Kompetenz für Selig- und Heiligsprechungen und weiterer Prärogativen im Ordensrecht und Finanzwesen."93 Mit der Aufnahme des Begriffs der Vollgewalt in das Glaubensbekenntnis, das unter der Ägide Clemens' IV. formuliert und im Jahr 1274 den Verhandlungen mit der Ostkirche zugrunde gelegt wurde94, war die Entwicklung abgeschlossen.
IV. Auf welcher Grundlage dem Papst die Vollgewalt zusteht, wird sowohl in den theologischen als auch in den juristischen Schriften des 13. Jahrhunderts selten diskutiert. Die Geltung des päpstlichen Anspruchs ist so selbstverständlich, daß man sich in den meisten Fällen mit einem pauschalen Verweis auf Mt 16,18-19 zufrieden gibt.95 Thomas von Aquin äußert sich beispielsweise in seinem umfangreichen Œuvre nur an einer Stelle zu den Grundlagen der päpstlichen Vollgewalt, und zwar in seiner polemischen Schrift „Contra errores Graecorum". Dort beruft er sich in der Frage, ob der römische Papst die Vollgewalt in der Kirche innehat, allein auf Mt 16,19, d.h. auf die Schlüsselgewalt.96 „Eine zusammenhängende Darstellung und Begründung zu geben 93
Rudolf Schieffer, Art. „Primat", in: Lexikon des Mittelalters. Bd. 7. München u. a. 1995, 210f. Auf die Häresie des contemptus clavium, ein Produkt des 13. Jahrhunderts, sei hier nur am Rand hingewiesen: Othmar Hageneder, Die Häresie des Ungehorsams und das Entstehen des hierokratischen Papsttums, in: RömHM 20, 1978, 29-47. 94 Heinrich Denzinger/Peter Hünermann, Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen. 39. Aufl. Freiburg u. a. 2001, 382. Vgl. John A. Watt, The Theory of Papal Monarchy in the Thirteenth Century. The Contribution of the Canonists. New York 1965, 75 f. 95 Vgl. Watt, The Theory of Papal Monarchy (wie Anm. 94), 75-91. Auch der Bettelordensstreit löste keine Diskussion über die plenitudo potestatis aus. Vgl. Yves M.-J. Congar, Aspects ecclésiologiques de la querelle entre mendiants et séculiers dans la seconde moitié du XIIIe siècle et le début du XIV e , in: Archives d'hist. doctrinale et littéraire du Moyen âge 36,1961,35-151. 96 Thomas von Aquin, Contra errores Graecorum II 33. (Opera Omnia, Vol. 40.) Rom 1969, A 102: „Hoc enim trahitur ex auctoritate scripturae, nam Dominus Matth. XVI universaliter Petro dixit: Quodcumque solveris super terram, erit solutum et in caelis." Etwas ausführlicher ist Bonaventura, Quaestiones de perfectione evangelica q. 4 a. 3. (Opera
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hält er nicht für nötig."97 Nicht nur bei Thomas, auch bei anderen Theologen des 13. Jahrhunderts läßt sich eine gewisse Unbekümmertheit im Umgang mit den Grundlagen der päpstlichen Primatsidee feststellen. Vor den großen Kontroversen im 14. Jahrhundert wird die Frage nach der systematischen Begründung der päpstlichen Vollgewalt nicht erörtert. „Die plenitudo potestatis des römischen Bischofs ... ist der Glaube des Jahrhunderts."98 Erst nachdem Bonifaz VIII. die Machtansprüche des Papsttums in einer bislang nie dagewesenen Weise in die Höhe geschraubt und auch über die Fürsten und Könige eine absolute Gewalt für sich in Anspruch genommen hatte, wurde eine fundamentale Diskussion über die Grundlagen der päpstlichen Macht ausgelöst.99 Die Kritiker des Papsttums stimmten mit Thomas und den Kanonisten überein, daß die päpstliche Vollgewalt in der Übertragung der Schlüsselgewalt an Petrus begründet liegt, besonders von diesen Worten", so Marsilius von Padua, „nahm die Meinung und der Anspruch auf Vollgewalt, die sich der römische Bischof zuschreibt, ihren Ursprung." 100 Die Strategie der Kritiker bestand darin, auf die offensichtliche Diskrepanz zwischen den verschiedenen Deutungen von Mt 16,18-19 hinzuweisen.101 Am deutlichsten ist diese Kritik von Marsilius von Padua im „Defensor Paris" (1324) vorgetragen worden. Er konfrontiert die politische Deutung der Schlüsselgewalt in den Äußerungen der Päpste mit der exegetischen Tradition, wie sie sich seit der Karolingerzeit verfestigt hatte. In der Exegese der Theologen war es unbestritten, daß nach Beda die Schlüsselgewalt den Sündennachlaß in der Buße meine und jedem Priester der Kirche übertragen werde. Die Identifikation der Schlüsselgewalt mit dem Sündennachlaß hatte zur Folge, daß die Exkommunikation aus der Schlüsselgewalt herausgedrängt und einer eigenen Sphäre der iurisdictio zugewiesen wurde. 102 Seit dem omnia, Vol. 5.) Quaracchi 1891, 189-198. Auch dort heben die biblischen Argumente für den päpstlichen Primat mit Mt 16, 18-19 an. 97 Johannes Haller, Papsttum und Kirchenreform. Vier Kapitel zur Geschichte des ausgehenden Mittelalters. Berlin 1908, 40. 98 Haller, Papsttum und Kirchenreform (wie Anm. 97), 40. 99 Miethke, De potestate papae (wie Anm. 3), 45-56; Karl Ubl, Die Genese der Bulle Unam sanctam: Anlaß, Vorlagen, Intention, in: Martin Kaufhold (Hrsg.), Politische Reflexion in der Welt des späten Mittelalters. Festschrift Jürgen Miethke. (Studies in Médiéval and Reformation Thought, Vol. 103.) Leiden 2004,129-149. 100 Marsilius von Padua, Defensor pacis II 6, 1, hrsg. v. Richard Scholz. (MGH Fontes iuris, Bd. 7.) Hannover 1933, 198; vgl. auch den anonymen Text bei Richard Scholz, Die Publizistik zur Zeit Philipps des Schönen und Bonifaz' VIII. (Kirchenrechtliche Abhandlungen, Bd. 6-8.) Stuttgart 1903,485. 101 Erstmals bei Johannes Quidort, De regia potestate et papali 12-13, hrsg. v. Fritz Bleienstein. (Frankfurter Studien zur Wissenschaft von der Politik, Bd. 4.) Stuttgart 1969,127142. Vgl. Karl Ubl, Johannes Quidorts Weg zur Sozialphilosophie, in: Francia 30/1, 2003, 43-73. 102 Anciaux, La théologie du sacrament (wie Anm. 4), 36f.; Hödl, Die Geschichte der scholastischen Literatur (wie Anm. 4), 376-387.
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9. Jahrhundert hatte sich diese Deutung allmählich durchgesetzt, weil durch die Dominanz der privaten Tarifbuße die Erteilung des Bußsakraments immer mehr als die spezifische Tätigkeit des Priesters angesehen wurde. Der Priester nahm die Aufgabe wahr, dem Sünder die Beichte abzunehmen und ihn von Schuld freizusprechen. Dies geschah seit dem 13. Jahrhundert nicht mehr mit der deprekativen Formel „Absolutionem tribuat te Dominus", sondern mit einer indikativen Absolutionsformel („Absolvo te"). 103 Damit wurde der Schwerpunkt auf die Lossprechung durch den Priester gelegt. Man bezeichnet diesen Prozeß als ,Sakramentalisierung' der Buße. Die Schlüsselgewalt wird zur charakteristischen Eigenschaft des Priesters und folglich mit der Weihegewalt (potestas ordinis) gleichgesetzt, deijenigen Gewalt, die dem Priester in seiner Weihe verliehen wird und die ihn zum Spenden von Sakramenten befähigt. Thomas von Aquin ist einer der Theologen, der dieses neue sakramentale Verständnis der Buße am klarsten formuliert und am vehementesten gegen Anfeindungen verteidigt. In seinem Sentenzenkommentar stellt er den Priester in der Weihegewalt auf die gleiche Stufe wie den Papst und den Bischof, da er gleich ihnen durch das Spenden der Sakramente die göttliche Gnade vermitteln kann. Die Weihegewalt identifiziert er mit der Schlüsselgewalt. 104 Marsilius mußte nur auf die Diskrepanz zwischen der bußtheologischen und der päpstlichen Deutung von Mt 16,18-19 hinweisen, um den Anspruch auf Vollgewalt in der Kirche zunichte zu machen. Für ihn ist es eine offensichtliche Tatsache, daß der Papst nicht mehr oder nicht weniger von Sünden oder von Schuld lösen kann als irgendein beliebiger Priester. 105 Gegenüber den Theologen des 13. Jahrhunderts macht er sich wieder für das deprekative Verständnis der Buße stark. Nicht der Priester bewirkt demnach den Sündennachlaß, sondern allein Gott selbst. In einem Anflug von Ironie vergleicht Marsilius die Schlüsselgewalt des Priesters mit der Schlüsselgewalt des Kerkermeisters! 106 Beiden ist es nicht anheimgegeben, richterliche Gewalt auszuüben und über die Entlassung zu entscheiden, vielmehr führen sie nur die Befehle der obersten richterlichen Gewalt aus. Priester sind deshalb nicht als Richter anzusehen, sondern als Seelenärzte, die den Gläubigen durch Belehrung und Ermunterung den Weg zum Heil weisen. 107 Diese Kritik an der Völlgewalt des Papstes ergänzt Marsilius durch einen Angriff auf die biblische Grundlage des römischen Primats. Im Unterschied zu anderen Kritikern des Papsttums sieht er das Erstbekenntnis Petri in Mt 103 Martin Ohst, Pflichtbeichte. Untersuchungen zum Bußwesen im Hohen und Späten Mittelalter. (Beiträge zur historischen Theologie, Bd. 89.) Tübingen 1995, 117-138. 104 Thomas von Aquin, Scriptum super IV. Sententiarum, d. 18, q. 1, a. lb ad 1, ed. Maria Fabianus Moos. Paris 1947, 932. 105 Marsilius, Defensor pacis II 6, 8 (wie Anm. 100), 206. 106 Marsilius, Defensor pacis II 7, 3 (wie Anm. 100), 217f. 107 Vgl. Stephen F. Torraco, Priests as Physicians of Souls in Marsilius of Padua's Defensor Pacis. San Francisco 1992.
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16,16 nicht als ausreichenden Beleg für einen Führungsanspruch der römischen Kirche an. Der Primat des römischen Papstes hat sich nach Marsilius vielmehr erst allmählich aus verschiedenen praktischen Gründen durchgesetzt.108 Nach der Herausbildung der Kirche habe man eine letzte Instanz für die Schlichtung von Streitfällen benötigt und dafür Rom als Hauptstadt des Reichs sowie als Stätte des Martyriums von Petrus und Paulus für geeignet angesehen. Durch die Konstantinische Schenkung sei die römische Kirche dann auf Abwege geraten und habe sich immer mehr um die Ausweitung ihrer weltlichen Macht bemüht. Am Papsttum seiner eigenen Zeit läßt Marsilius kein gutes Haar: Die römische Kurie sei „ein Haus der Händler und Wucherer, eine abscheuliche Höhle für Diebe, ein Hort für alle Verbrecher".109 Es ist daher nur konsequent, wenn Marsilius auch das Zeugnis des Clemensbriefes verwirft. Er hält ihn nicht für authentisch, „wegen vieler Dinge, die darin gesagt werden". 110 Vermutlich denkt er bei dieser kryptischen Bemerkung an die chronologische Unmöglichkeit, auf die bereits andere Gelehrte im Mittelalter vereinzelt hingewiesen hatten.111 Nach dem Zeugnis mittelalterlicher Chroniken war Jakobus einige Jahre vor Petrus gestorben, so daß Clemens nach dem Tod Petri unmöglich einen Brief an Jakobus hätte schreiben können. Auch die anderen von Pseudoisidor gefälschten Clemensbriefe verwirft Marsilius, weil Clemens darin dem Herrenbruder Jakobus die Lehre Christi erklärt. „Dies wäre aber eine große Unwissenheit, ja sogar eine Unverschämtheit des Clemens gewesen, wenn er, der dies nur gehört hatte, jenen belehren hätte wollen, der anwesend war und selbst Christus und die Apostel, von denen er einer war, gesehen hatte. Wer hätte besser den Schülern in Jerusalem über das Leben Christi und der Apostel berichten können, wer hätte besser die Gewohnheiten der Kirche kennen müssen, der Apostel (Jakobus) oder der Nachfolger des Apostels (Clemens)? Deswegen sind diese Briefe zu den Apokryphen zu rechnen."112 Erstmals in der Geschichte wies Marsilius auf die Unvereinbarkeit zwischen dem Zeugnis der Bibel und dem Bild der Urkirche des Clemensbriefes hin. Während in der Bibel keine herausragende Stellung des Petrus als Fürst der Apostel bezeugt ist, insinuiert der Clemensbrief eine gesamtkirchliche Kompetenz des römischen Bischofs. Diese Unvereinbarkeit bewog Marsilius, dem ganzen Werk Pseudoisidors, das er erstmals als eigenständige Sammlung wahrnahm, mit Skepsis zu begegnen.
108 109 110 111 112
Marsilius, Defensor pacis II 22, 12-20 (wie Anm. 100), 4 3 1 ^ 4 0 . Marsilius, Defensor pacis II 24, 16 (wie Anm. 100), 463. Marsilius, Defensor pacis II 2 8 , 4 (wie Anm. 100), 531. Fuhrmann, Kritischer Sinn (wie Anm. 22), 87 f. Marsilius, Defensor pacis II 2 8 , 4 (wie Anm. 100), 531 f.
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V. Die mittelalterlichen Einwände gegen den Clemensbrief sind in der Reformation nicht ungehört geblieben. Matthias Flacius und die Magdeburger Centuriatoren schlössen sich dem Urteil des Marsilius an. 113 Flacius, für den der weitschweifige Brief gewissermaßen den ganzen Papstprimat symbolisiert, knüpft an seine Kritik die bissige Bemerkung, Clemens habe seinen Brief dem Jakobus allenfalls ins Fegefeuer oder auf die Elyseischen Felder schicken können. In Rom ist der katholische Theologe Francisco Torres dem Fälschungsverdacht der Protestanten entgegengetreten und hat mit gewundener Argumentation die Echtheit des Clemensbriefes verteidigt. In den folgenden Jahren wurde in Rom ein heftiger Disput um die Echtheit des Clemensbriefes ausgetragen.114 Im Zuge der ersten von Sixtus V. in Auftrag gegebenen Sammlung von Papstbriefen mußte man sich entscheiden, wie die römische Kirche offiziell zum Clemensbrief Stellung nehmen sollte. Einer der engsten Berater und Weggefährten von Clemens VIII., Cesare Baronio, schloß sich der Meinung von Torres im ersten Band seiner „Annales Ecclesiastici" von 1588 an, ohne jedoch den Brief eigens zu verteidigen. Baronio versuchte in erster Linie die Bedeutung des Briefes herunterzuspielen und die Ansicht der Protestanten zurückzuweisen, der gesamte Primat sei von diesem Dokument abhängig. Die gegenteilige Ansicht vertrat der berühmte Theologe Robert Bellarmin, der um ein Gutachten gebeten worden war. Bellarmins Gutachten schloß sich der Kritik der Protestanten an, wurde aber von Seiten der Kurie nicht veröffentlicht. Wie Bellarmin später schrieb, nahm man den Clemensbrief nur „auf Druck einiger Kanonisten" in die Edition der Papstbriefe auf. 115 Ich halte es für eine plausible Vermutung, Clemens VIII. als einen der Fürsprecher des Clemensbriefes zu identifizieren, da er als Kardinal und Kanonist der Kommission zur Edition der Papstbriefe angehörte.116 Ein Jahr nach der Drucklegung der Papstbriefe, 1500 Jahre nach dem Pontifikatsbeginn Clemens' I., wurde er zum Papst gewählt. Seine Namenswahl fiel auf Clemens und sein bedeutendstes Bildprogramm ist dem ersten Clemens gewidmet. Mit der Sala Clementina hat er dem römischen Primat ein prachtvolles Denkmal 113 Martina Hartmann, Spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Kritik an den pseudoisidorischen Dekretalen. Nikolaus von Kues und Heinrich Kalteisen als „Wahrheitszeugen" bei Matthias Flacius Illyricus und den Magdeburger Centuriatoren, in: Hartmann/Schmitz (Hrsg.), Fortschritt durch Fälschungen? (wie Anm. 61), 191-210, hier 199. 114 Zum Folgenden vgl. Horst Fuhrmann, Papstgeschichtsschreibung. Grundlinien und Epochen, in: Arnold Esch/Jens Petersen (Hrsg.), Geschichte und Geschichtswissenschaft in der Kultur Italiens und Deutschlands. (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom, Bd. 71.) Tübingen 1989, 141-183. 115 Ebd. 169. 116 Agostino Borromeo, Art. „demente VIII", in: Enciclopedia dei papi. Vol 3. Rom 2000, 249-269.
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errichtet. Ohne die „Epistola Clementis" im Ausstattungsprogramm direkt zu zitieren, wird der gesamte geistige Hintergrund dieses Dokuments evoziert: die Übertragung der Schlüsselgewalt an Clemens, die Vollgewalt des Papstes, die universalkirchliche Leitung des römischen Bischofs und die zentrale Stellung des Clemens bei der Entfaltung des römischen Primats.117
VI. Die Verse Mt 16,18-19 von der Übertragung der Schlüsselgewalt an Petrus gelten als der zentrale Text für die Herausbildung des päpstlichen Primats. Seit dem 4. Jahrhundert bedienten sich die Päpste in unterschiedlichen Situationen dieses Herrenwortes, um die gesamtkirchliche Entscheidungsgewalt des römischen Bischofs in der Kirche hervorzuheben. In Spätantike und Frühmittelalter ließ man juristisches Vokabular in die Umschreibung der Schlüsselgewalt einfließen und machte sich das rhetorische Potential der „völligen Identität des kirchlichen und göttlichen Urteils"118 zunutze. Nach einer langen Vorgeschichte fixierte man im 13. Jahrhundert den Mehrwert der päpstlichen Schlüsselgewalt durch den Begriff der plenitudo potestatis. Dieser Begriff bot sich deshalb an, weil sich die umfassende Formulierung, alles auf Erden zu binden und zu lösen, im Begriff der Völlgewalt spiegelt. Dies führte zur Identifizierung von Schlüsselgewalt und Vollgewalt, wie sie Thomas von Aquin offen aussprach. Im Gegensatz zu diesem politischen Diskurs steht die theologische Deutung von Mt 16,18-19. Seitdem im frühen Mittelalter nicht nur das Bekenntnis schwerer Sünden vor dem Bischof, sondern auch die Beichte leichter Sünden vor dem Ortspriester zur Verpflichtung gemacht wurde, ging die Schlüsselgewalt allmählich in die Kompetenz des Priesters über. Im Gegensatz zum biblischen Text wurde die Exkommunikation nicht mehr als Bestandteil der Schlüsselgewalt angesehen. Am Ende dieser Entwicklung steht die Identifikation der Schlüsselgewalt mit der priesterlichen Weihegewalt. Auch dies kann man bei Thomas von Aquin nachlesen. Diese Diskrepanz zwischen politischem und theologischem Diskurs erleichterte im frühen 14. Jahrhundert die systematische Demontage des päpstlichen Primats. Gelehrte wie Johannes Quidort und Marsilius von Padua machten auf den Widerspruch aufmerksam, daß Mt 16,19 zugleich die Völlgewalt des Papstes und die priesterliche Befugnis zur Absolution bezeichnet. Auf diese Weise gelangten sie zu einer grundsätzlichen Kritik des päpstlichen Primats. 117 Bei der Ausstattung des Lateran vermied Clemens VIII. ebenfalls ein direktes Zitat der Konstantinischen Schenkung: Jack Freiberg, The Lateran in 1600. Christian Concord in Counteireformation Rome. Cambridge 1995. 118 Campenhausen, Kirchliches Amt (wie Anm. 4), 137.
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Während also im theologischen Diskurs der Papst aus der Exegese von Mt 16,19 schrittweise herausgedrängt wurde, sind im politischen Diskurs immer anspruchsvollere Primatsideen in diese Bibelstelle hineininterpretiert worden. 119 Als Folgerung aus meinen Ausführungen läßt sich die nicht ganz unbekannte Tatsache festhalten, daß politische Texte anderen Gesetzmäßigkeiten gehorchen als .wissenschaftliche' Texte: Wissenschaftliche Texte sind einer Logik der inneren Kohärenz und Glaubwürdigkeit unterworfen, politische Texte sollen Meinungskonformität schaffen, um politisch bindende Entscheidungen durchzusetzen oder zu legitimieren. Biblische Argumente eigneten sich dafür im Mittelalter besonders gut, weil durch die ständige Konfrontation mit der Bibel im Alltag eine einzigartige Vertrautheit mit dem Text erzeugt wurde. Für die Metapher der Schlüsselgewalt trifft diese Eignung in besonderem Maße zu, weil sie einerseits die Identität irdischen und göttlichen Handelns signalisiert, andererseits aber nur undeutlich zu erkennen gibt, was dem Petrusnachfolger zu binden und zu lösen übertragen wurde. Das Papsttum konnte trotz aller exegetischen Differenzierung auf eine so kraftvolle Metapher nicht verzichten.
119 Auf eine ähnliche Diskrepanz bei der Deutung von „super hanc petram" in Mt 16,18 hat Karlfried Fröhlich, Formen der Auslegung von Mt. 16,13-18 im lateinischen Mittelalter. Diss. theol. Tübingen 1963, 117, hingewiesen.
Das Schriftargument zwischen Papstmonarchie und konziliarer Idee Biblische Argumentationsmodelle im Basler Konziliarismus Von
Thomas Prügl I. Einleitung Die Auseinandersetzungen zwischen dem Basler Konzil (1431-1449) und Papst Eugen IV. (1430-1444) stehen am Ende der großen Auseinandersetzungen des Mittelalters, in denen um das Verständnis der geistlichen Gewalt und ihre Ausübung gerungen wurde. Und doch unterscheidet sich dieser Konflikt fundamental von dem jahrhundertealten Ringen zwischen Regnum und Sacerdotium, für das symbolhaft die Ereignisse in Canossa (1077), Anagni (1303) oder Sachsenhausen (1324) angeführt seien, in denen päpstliche und königliche Ansprüche eskalierend aufeinanderprallten. Das Große Abendländische Schisma war eine weithin innerkirchliche Krise, die von den Zeitgenossen als allzu lange vernachlässigte Reform diagnostiziert wurde, die unter nüchternerer Betrachtung aber auch auf ein Verfassungsdefizit zurückgeführt werden kann. Mit dem Erfolg des Konstanzer Konzils (1414-1418), das die Kircheneinheit im Lateinischen Westen wiederhergestellt hatte, versuchten bestimmte intellektuelle Eliten die in Konstanz erfolgreich angewandte konziliare Idee als neue Verfassungsform dauerhaft zu verankern und das regelmäßig tagende Generalkonzil als die höchste und fundamental kollegial strukturierte Autorität in der Kirche zu etablieren. Der Papst wurde in dieser Vorstellung als rechenschaftspflichtiger minister geduldet, dem lediglich die Geschäftsführung, also die kommissarische Leitung der Kirche zwischen den Tagungsperioden des Konzils oblag. Der kompromißlose Widerstand des Papsttums gegen eine solche Revolution - die Zeitgenossen nannten es Reformverweigerung - verhalf aber dem Konziliarismus erst zu seiner durchschlagenden Kraft und beflügelte seine ideologische Durchdringung. In den folgenden Ausführungen soll also jenes Ringen zwischen monarchischer und konziliarer bzw. kollegialer Kirchenverfassung im Mittelpunkt stehen, wie es sich auf dem Konzil von Basel und dem im Umfeld dieser Versammlung entstandenen Schrifttum manifestierte. Dabei soll es nicht um eine allgemeine Charakterisierung der dort zutage tretenden politischen Theorie gehen, die in ihren Grundzügen hinläng-
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lieh bekannt ist1, sondern um die Rolle des Schriftarguments in den dort auftretenden Argumentationsstrategien. Bereits an dieser Stelle erhebt sich allerdings eine Frage, die für die Thematik nicht nur unseres Beitrages, sondern des gesamten Sammelbandes von grundlegender Bedeutung ist. Es ist die Frage nach dem Zusammenhang und der Differenz von Idee und Methode, von Argument und Argumentation, in unserem Fall um die gegenseitige Verwiesenheit von biblischer Exegese und Theologie. Die wichtigsten Vertreter des Konziliarismus haben sich ja nicht als Staatstheoretiker oder Philosophen, sondern als Theologen verstanden, da ja auch ihr Gegenstand, nämlich die Kirche, ihre Autorität und ihre Repräsentation im Allgemeinen Konzil, als genuin theologischer Gegenstand auf dem Spiel stand. Theologie bedeutete im Mittelalter aber soviel wie Schriftauslegung: theologia idest sacra scriptura, definierte man in den Sentenzenkommentaren. Die Autoren, denen wir uns zuwenden, waren als Theologen in erster Linie Schriftausleger, magistri sacrae paginae. Die Trennung der theologischen Disziplinen in biblische Exegese, die sich der Textauslegung annahm, und Dogmatik, die das in den Offenbarungstexten empfangene Gotteswort systematisch durchdringend entfaltete, war dem Mittelalter fremd. Der mittelalterliche Theologe verstand sich als Schriftausleger und Systematiker zugleich, als Lehrer, dem nicht nur die biblische Texterklärung, sondern auch der intellectus fidei oblag.2 Scholastische Theologie und scholastische Methode entstanden aus dem Bemühen, sich widersprechende autoritative Texte, wie Schriftwort, Kirchenväter, kirchliche Gesetzgebung, zu interpretieren, in ihrer Aussageintention zu erfassen und für die theologische Disputation aufzubereiten.3 Die ratio übernimmt kritisch prüfend die auetoritas und gewichtet diese entsprechend. Das Schriftwort galt in diesem Unterfangen als die höchste Autorität; es war für die Theologie unaufgebbar. 1 Anthony Black, Monarchy and Community. Political Ideas in the Later Conciliar Controversy 1430-1450. Cambridge 1970; ders., The Political Ideas of Conciliarism and Papalism, 1430-1450, in: JEcclH 20, 1969, 45-65 (dt. Übers.: Politische Grundgedanken des Konziliarismus und des Papalismus zwischen 1430 und 1450, in: Remigius Bäumer [Hrsg.], Die Entwicklung des Konziliarismus. Werden und Nachwirken der konziliaren Idee. Darmstadt 1976, 295-328); Georg Kreuzer, Die konziliare Idee, in: Rottenburger Jb für KiG 11, 1992, 29-40; Thomas Wünsch, Konziliarismus und Polen. Personen, Politik und Programme aus Polen zur Verfassungsfrage der Kirche in der Zeit der mittelalterlichen Reformkonzilien. Paderborn [u. a.] 1998; ders., Minister, executor, caput civile - Der Papst im Kirchenverständnis der Konziliaristen, in: Frantisek Smahel (Hrsg.), Geist, Gesellschaft, Kirche im 13.-16. Jahrhundert. (Colloquia medievalia Pragensia, Bd. 1.) Prag 1999, 53-79. 2
Vgl. dazu Thomas Prügl, Die Bibel als Lehrbuch. Zum Plan der Theologie nach mittelalterlichen Kanonauslegungen, in: Archa Verbi 1, 2004, 42-66. 3 Das ist die Absicht Abaelards in dem Prolog zu seinem Sentenzenwerk „Sic et non": Petrus Abaelardus, Sic et non. Ed. by Blanche Boyer. Chicago 1976; vgl. dazu Martin Grabmann, Die Geschichte der scholastischen Methode. Bd. 2. Freiburg 1911 (Ndr. Graz 1957), 199-213.
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So gesehen darf die Verwendung biblischer Argumente in den konziliaristischen Debatten des Basler Konzils nicht verwundern, im Gegenteil. Die Theoretiker des Basiiiense waren professionelle Theologen und in den theologischen Disputationstechniken ausgebildet. Manche hatten diese Form des rationalen Diskurses so verinnerlicht, daß ihre Rhetorik von dieser Schulung gar nicht mehr absehen konnte. Als ,Biblizismus' wird man dies nicht bezeichnen. Im Gegensatz zu fundamentalistischen Tendenzen innerhalb der neuzeitlichen Theologie suchte die mittelalterliche Scholastik im Sinne einer Konvergenz aller Wirklichkeit in einem einheitlichen göttlichen Grund einen Konsens aller Erkenntnisebenen herzustellen, seien diese theologisch, philosophisch oder experimentell motiviert, da jegliches Wissen auf Wahrheit basierte und Widersprüche auf Irrtum zurückgeführt wurden. Es wird allerdings zu zeigen sein, in welch unterschiedlichem Maß und in welch unterschiedlicher Intensität die hier untersuchten Autoren das biblische Argument ins Feld führten, so daß trotz des gemeinsamen methodischen Herangehens manche Theoretiker des hier ausgetragenen Verfassungsstreites sich expliziter auf das Schriftargument stützten als andere und dabei auch alternative Erkenntnisquellen bewußt zugunsten des biblischen Befundes vernachlässigten. Wir werden diese Unterschiede in enger Anlehnung an die Texte herausstellen, aber auch nach den Gründen und der Motivation solcher Argumentationsstrategien zu fragen haben. Welche Unterschiede des politischen Diskurses lassen sich vorweg konstatieren? Die Verteidiger des Papsttums ließen mit Blick auf die Vorgänge in Basel keine Gelegenheit verstreichen, unter Berufung auf Aristoteles den Vorzug der Monarchie und die Gefahr der Demokratie herauszustellen. Dabei wollten sie nicht als ,modern' erscheinen. Es galt vielmehr, die alten Privilegien des Papstes ins Gedächtnis zu rufen und die Basier als Neuerer abzustempeln, da diese für ihre Thesen keinen Rückhalt in der Tradition hätten. Während die Papalisten aus dem reichen Schriften- und Ideenarsenal des 14. Jahrhunderts, das die Legitimierung päpstlicher Gewalt in geradezu schwindelerregende Höhen getrieben hatte, schöpfen konnten4, verlegten sich die Konziliaristen darauf, die Tradition des ersten Jahrtausends in Erinnerung zu rufen und die Zeit seit Gregor VII. als Epoche päpstlicher Usurpation und kirchlichen Niedergangs zu brandmarken. Nur die Rückkehr zu einer radikal konziliar verfaßten Kirche, idealtypischerweise projiziert auf die Urkirche 4
Michael Wilks, The Problem of Sovereignty in the Later Middle Ages. Cambridge 1963; Jürgen Miethke, Geschichtsprozeß und zeitgenössisches Bewußtsein. Die Theorie des monarchischen Papats im Hohen und Späten Mittelalter, in: HZ 226,1978, 564-599; ders., De potestate papae. Die päpstliche Amtskompetenz im Widerstreit der politischen Theorie von Thomas von Aquin bis Wilhelm von Ockham. Tübingen 2000; aus der älteren Literatur nach wie vor instruktiv: Karla Eckermann, Studien zur Geschichte des monarchischen Gedankens im 15. Jahrhundert. Berlin 1933.
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(iecclesia primitiva), entspräche der wahren Gestalt von Kirche und wiese die Mißbräuche päpstlicher Willkürherrschaft in ihre Schranken. Mochten diese weithin historischen Argumente auch noch so plausibel klingen, so wußten doch beide Parteien, daß eine überzeugende Ekklesiologie auch und vor allem auf der Heiligen Schrift begründet sein mußte. Zur Illustration sowohl der gegensätzlichen kirchenpolitischen Ansichten als auch der unterschiedlichen Gewichtung und Auslegung zentraler Schriftargumente sollen im folgenden nur drei Autoren stellvertretend herausgegriffen werden, deren Schriften allerdings exemplarischen Wert in Anspruch nehmen dürfen. Johannes von Segovia und Johannes von Ragusa repräsentieren dabei die konziliaristische Partei in Basel, während Johannes Torquemada die päpstliche Seite vertreten soll.
II. Johannes de Segovia Mit dem Spanier Johannes de Segovia stehen wir vor einem der profiliertesten und produktivsten Theologen auf dem Basiiiense. Zeit seines Lebens arbeitete er an einer schlüssigen Theorie von Kirche, die im Allgemeinen Konzil ihre höchste Repräsentationsform findet. Eine seiner wichtigsten Schriften ist diesbezüglich der umfangreiche „Tractatus decem avisamentorum ex sacra scriptura de insuperabili sanctitate ecclesiae et suprema generalis concilii auctoritate".5 Bereits der Titel verweist programmatisch auf die Grundlage der Kirchentheorie Segovias: ex sacra scriptura, was im Mittelalter nicht nur Heilige Schrift, sondern auch Theologie generell bedeutete. Segovia räumte jedoch dem Schriftargument im engeren Sinn und der exegetischen Interpretation eine überragende Stellung ein. Wenn er hervorhob, daß seine Überlegungen (avisamenta) „aus der Heiligen Schrift" entnommen seien, dann stufte er damit Ekklesiologien, die nicht in gleicher Weise auf der Heiligen Schrift aufbauen, von vornherein als theologisch weniger bedeutsam ein. Bezeichnen-
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Zu Segovia: Werner Krämer, Konsens und Rezeption. Verfassungsprinzipien der Kirche im Basler Konziliarismus. Münster 1980, 207-255; Benigno Hemándes Montes, Obras de Juan de Segovia, in: Repertorio de historia de las ciencias eclesiásticas en España. Salamanca 1977, Vol. 6, 267-347; Katharina Utz, Zur Chronologie der kirchenpolitischen Traktate des Johannes von Segovia, in: AHC 9, 1977, 302-314; Jesse D. Mann, Ockham Redivivus or Ockham Confutator? Juan de Segovia's Repetitio de superioritate Reconsidered, in: AHC 24, 1992, 186-208; ders., The Historian and the Truths. Juan de Segovia's ,Explanatio de tribus veritatibus fidei'. Diss. University of Chicago 1993; ders., The Devilish Pope: Eugenius IV as Lucifer in the Later Works of Juan de Segovia, in: ChurchH 65, 1996, 184-196; Santiago Madrigal Terrazas, El proyecto eclesiológico de Juan de Segovia, 1393-1458. Estudio del Liber de substantia ecclesiae. Edición y selección de textos. Madrid 2000.
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derweise findet man in Segovias Argumentation keinen einzigen kanonistischen Verweis.6 Das erste Kapitel des „Tractatus decem avisamentorum" fragt nach dem Wesen von Kirche: „Necesse est de ecclesia quid sit intellegere".7 Segovia wollte von den zahlreichen Bedeutungen von „Kirche" im alltäglichen Sprachgebrauch absehen und wandte sich statt dessen den beiden einzigen Stellen zu, in denen der Begriff in den Evangelien vorkommt: Mt 16,18 und Mt 18,17. Aus beiden Texten gewann Segovia insgesamt sieben Wesensbestimmungen von Kirche (conditiones), die ein Grundgerüst seiner Ekklesiologie lieferten. Die Auslegung von Mt 16 vermied dabei jegliche Anspielung auf das Petrusamt. Segovia entnahm dem Text lediglich, daß die Kirche fest gegründet sei, nicht aber auf den ersten der Apostel, sondern auf Christus selbst: „Petra autem erat Christus" (1 Kor 10,4). Daneben sah er in Mt 16, dem Kronzeugen päpstlicher Autorität, lediglich eine Zusicherung, daß die Kirche von keiner potestas überwunden werden könne, sei sie irdischer oder überirdischer Natur.8 Auch diese Bestimmung muß als Spitze gegen eine ganz bestimmte potestas, nämlich die des Papstes oder der römischen (Teil-)Kirche gelesen werden. Während Segovia Mt 16 gewissermaßen von allem juridischen Ballast, den der Text in der papalistischen Auslegungstradition erfahren hatte, freizuhalten versuchte, verband er mit Mt 18,15-20 durchaus rechtliche Vorstellungen mit erheblichen Konsequenzen für das Kirchenregiment. Aus Mt 18, der Gemeinderegel, in der Jesus den Aposteln eine Agenda für brüderliche Zurechtweisung und die Vergebungsmaxime an die Hand gegeben hatte, folgte für Segovia, daß die Kirche das supremum tribunal bzw. der supremus iudex auf Erden sei. Segovia beschränkte dieses Privileg nicht auf den binnenkirchlichen Raum, sondern verstand es als universales Prärogativ (in terris). Der Spanier unterwarf auch den Papst diesem Kirchentribunal, denn die Rede Christi in Mt 18 sei ja primär an Petrus gerichtet gewesen. Aus der Empfehlung, die Vergehen eines Gemeindemitglieds in letzter Instanz an die Kirche zu verweisen („Si non audierit eos, die ecclesiae!", Mt 18,17), folgerte Segovia weiterhin, daß die Kirche nicht nur höchste Lehrgewalt, sondern auch jegliche Schlüsselgewalt besitze („suprema auetoritas docendi et definiendi neenon auetoritas solvendi et ligandi"). Als weitere ekklesiologische Bestimmung aus Mt 18,20 stellte Segovia den Versammlungscharakter von Kirche heraus („Ubi enim duo vel tres congregati sunt in nomine meo, ibi sum in me6
Auf die exklusive Schriftbezogenheit der Kirchenlehre Segovias wies bereits hin: Anthony Black, Council and Commune. The Conciliar Movement and the Fifteenth-Century Heritage. London 1979, 128-137. 7 Der „Tractatus" harrt noch immer der Edition. Das erste Avisament edierte Krämer, Konsens und Rezeption (wie Anm. 5), 385—415 (Anhang). 8 Johannes de Segovia, Tractatus decem avisamentorum, in: Krämer, Konsens und Rezeption (wie Anm. 5), 388 f. Zur päpstlichen Auslegungstradition von Mt 16,18 vgl. den Beitrag von Karl Ubl in diesem Band.
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dio eorum"): Die Kirche muß prinzipiell als Versammlung (congregatio) konzipiert werden, die sich der Anwesenheit Christi sicher sein darf.9 Daraus leitete Segovia wiederum erhebliche Konsequenzen für die Autorität des Allgemeinen Konzils ab. Ohne die Stellung des Papstes explizit in Frage gestellt zu haben und noch vor einer Erörterung von kirchlicher Gewalt per se, sind mit der knappen Skizzierung von Kirche als eines höchsten Gerichtshofes die Grundsätze ausgesprochen, an denen sich die rechtlichen, politischen und verfassungstheoretischen Strukturen der Kirche zu orientieren haben. Segovias Exegese der biblischen Schlüsseltexte für das Verständnis von Kirche spiegelt nicht nur eine radikale Theologisierung traditionell kanonistischer Sachverhalte, seine Auslegung von Mt 16 und Mt 18 ist auch unverhohlen anti-papalistisch. Was Segovia zu Beginn seines ersten Kirchentraktats (noch) nicht leistete, aber stillschweigend voraussetzen konnte, war das zweite „Dogma" des Konziliarismus, welches im Allgemeinen Konzil nicht nur die höchste kirchliche Autorität und den obersten Gerichtshof lokalisierte, sondern auch die Stellvertretung der Kirche schlechthin erblickte.10 Die Überzeugung, daß sich Kirche und Konzil nicht nur analog, sondern geradezu identisch zueinander verhalten, war opinio communis unter den Basler Konziliaristen. Der früheste und zugleich prägnanteste Ausdruck dieses identifikativen Repräsentationsverständnisses findet sich in der sogenannten „Responsio synodalis ,Cogitanti'", mit der das Konzil im Herbst 1432 auf die Reden der päpstlichen Legaten antwortete, die den Gehorsam des Konzils gegenüber Eugen IV. einforderten. „Cogitanti" stützte sich auf den Kanon „Haec sancta" des Konstanzer Konzils, welcher dekretierte, daß „diese hl. Synode rechtmäßig im hl. Geist versammelt ist, Gewalt unmittelbar von Christus hat und die Kirche repräsentiert".11 „Haec sancta" stellte für die Konziliaristen den Glaubensartikel schlechthin dar. Die darin kanonisierte Formel „ecclesiam catholicam militantem repraesentans" bot die nötige kirchenamtliche Legitimation, Konzil und Kirche als Synonyme zu erachten. In dieser Überzeugung rief „Cogitanti" aus: „Istorum conciliorum et ecclesiae catholicae eadem videtur esse potestas".12 Alles was über die Autorität der Kirche ausgesagt werde, müsse not9
Krämer, Konsens und Rezeption (wie Anm. 5), 388-390. In dem „Tractatus decem avisamentorum" wandte sich Segovia dem Gedanken der Repräsentation im achten und zehnten Avisament zu. Vgl. dazu Hasso Hofinann, Repräsentation. Studien zur Wort- und Begriffsgeschichte von der Antike bis ins 19. Jahrhundert. Berlin 1974. 11 „Et primo declarat, quod ipsa in Spiritu sancto legitime congregata, generale concilium faciens, et ecclesiam catholicam militantem repraesentans, potestatem a Christo immediate habet, cui quilibet... oboedire tenetur." Conciliorum Oecumenicorum Decreta. Ed. Istituto per le Scienze Religiöse. 3. Aufl. Bologna 1973,409. 12 Der Text von „Cogitanti" ist abgedruckt in: Monumenta Conciliorum Generalium seculi XV. (im folgenden zitiert als MCG), Vol. 2. Wien 1873, 234-258, und bei Johannes D. 10
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wendigerweise auch für das Konzil gelten. Wenn nämlich der Repräsentant nicht dieselbe Autorität besäße wie der Repräsentierte, läge keine echte Repräsentation vor, denn: „Ecclesia idest concilium."13 Dieses Verständnis von Repräsentation teilten im Grunde alle Konziliaristen auf dem Basiiiense. Ihnen galt die Identifizierung von Kirche und Konzil ebenso unerschütterlich wie die Gleichsetzung von Petrus und Papst den Antikonziliaristen. Segovia fand in seinen späteren Schriften neben „Haec sancta" ein weiteres Argument, das ihm half, die Identifizierung von Kirche und Konzil zu verteidigen. Er gewann dieses Argument aus seiner wiederholt aufgegriffenen Exegese von Mt 18. Der biblische Befund legte ihm nahe, daß bereits die biblischen Autoren, ja Jesus selbst, zwei Seinsweisen von Kirche mit dem Begriff ecclesia verbanden: zum einen die über den Erdkreis verstreute Universalkirche, zum anderen eine konkrete partikulare Kirchenversammlung. Andernfalls ergäbe der Befehl „Die ecclesiae!" in Mt 18,17 keinen Sinn. In der Apostelgeschichte fand Segovia weitere Belege für die zweifache Bedeutung von ecclesia. Wiederum führte ihn die konsequente Bibelauslegung zu der Einsicht, daß das Allgemeine Konzil eben jene Erscheinungsform von Kirche sei, die deren Autorität innehält und ausübt. Er sah darin durchaus Parallelen zu Repräsentationsformen im säkularen Bereich, wie dem Rat oder der Stadtversammlung; so gesehen sei es auch ein „politicus modus loquendi" den Begriff von Kirche auf das Konzil zu übertragen.14 Für wie politisch relevant Segovia diese Theologie des Konzils und der Kirche hielt, zeigen auch seine Reden, die er zur Verteidigung des Basler Konzils auf verschiedenen Reichstagen hielt, vor allem jene in Mainz 1441. Segovia versuchte, die versammelten Vertreter des Reiches zu Beginn seiner Rede auf seine Argumentation einzustimmen, indem er ihnen die Notwendigkeit von Glauben in einem jeden politischen Gemeinwesen vor Augen führte. 15 Nach diesem Appell an die allgemeine politische Klugheit leitete Segovia zum christlichen Glauben, näherhin zur Bibel über, denn im nächsten Teil legte er aus der Heiligen Schrift („ex doctrina evangelii") dar, daß das Generalkonzil der höchste göttliche Gerichtshof auf Erden sei. Wir sind dem Mansi, Sacrorum conciliorum nova et amplissima collectio. Vol. 29. Paris/Leipzig 1904, 239-267. Das Zitat: MCG 2, 241. 13 „Quaecumque igitur proxime dicta sunt de auetoritate ecclesie, trahi ad generale concilium, quod illam representat neccesse est; alioquin non recta esset representacio, si eadem in representante et representato auetoritas non inesset"; „Responsio synodalis .Cogitanti'", in: MCG 2 (wie Anm. 12), 241. 14 Johannes de Segovia, Amplificatio disputationis de auetoritate suprema ecclesiae, in: MCG 3 (wie Anm. 12), 729. 15 Segovia unterteilte seine Rede in zwölf Abschnitte (parcellae), deren erste er betitelte: „de necessitate fidei in omni recta policia sed in Christiana permaxime." Die Rede ist ediert in: Deutsche Reichstagsakten (= RTA). Bd. 15. Hrsg. v. Hermann Herre. Gotha 1914, 648759. Eine Inhaltsübersicht gab Segovia 649, Z. 3 2 ^ 4 ; die erste parcella erstreckt sich von 651-662.
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Gedanken bereits in Segovias „Tractatus decem avisamentorum" begegnet. Dies mag unsere oben geäußerte Interpretation unterstreichen, daß Segovia die Autorität des Allgemeinen Konzils nicht auf den binnenkirchlichen Raum beschränkt sehen wollte. „Supremum tribunal in terris" muß wörtlich verstanden werden. Ob es besonders klug war, diese Überzeugung auf einem Reichstag herauszustellen, braucht uns hier nicht näher zu interessieren. Wichtiger erscheint mir die biblische Argumentation. Wie schon im „Tractatus" begründete Segovia auch hier den höchstrichterlichen Anspruch des Konzils vor allem mittels einer ausführlichen Exegese von Mt 18,15-20. Die Verheißung Jesu in Mt 18,20, er sei inmitten derer, die sich in seinem Namen versammeln, wird als göttliche Garantie der konziliaren Suprematie gedeutet. Die Anwesenheit Christi im Konzil verleihe diesem sowohl theologische Kompetenz als auch rechtliche Autorität, weshalb - nach dem ausdrücklichen Willen des Herrn - auch Petrus dieser Versammlung zu gehorchen habe. 16 Die Anwesenheit Gottes in der Kirche wurde von Segovia immer wieder als Grund nicht nur für geistgeleiteten Beistand und theologische Einsicht im Konzil herausgestellt, sondern auch und gerade für dessen jurisdiktionelle und legislative Autorität.17 Daher eigne dem Konzil jene plena potestas, die es ermächtige, von jedem Glied der Kirche, auch vom Papst, Gehorsam einzufordern. Es war geradezu ein Charakteristikum konziliaristischer Ekklesiologie, Prärogativen und Formeln, die traditionellerweise von den Päpsten beansprucht wurden, konsequent auf das Konzil hin auszulegen. Nicht dem Papst, sondern dem Konzil stehe die plenitudo potestatis zu, nicht weil kanonistische Quellentexte dies festgehalten hätten, sondern weil die Auslegung von Mt 18 überhaupt keinen anderen Schluß zulasse. Da Christus die Schlüssel in Mt 18 und Joh 20,23 der Gemeinschaft der Apostel und damit der Kirche übertragen habe, müsse die Gewalt des Konzils als immediate a Christo, und nicht mediante papa verstanden werden.18 Angesichts dieser starken Betonung von Mt 18 drängt sich die Frage auf, wie Segovia, aber auch andere Konziliaristen mit der Parallelstelle in Mt 16 umgingen, die doch in aller Deutlichkeit von der Übertragung der Schlüsselgewalt an Petrus berichtet. Die Synodalantwort „Cogitanti" verwies auf die Auslegung der Stelle bei Augustinus, der daraus nicht die Übertragung aller kirchlichen Autorität an Petrus und dessen Nachfolger ableitete, sondern die 16
RTA, Bd. 15 (wie Anm. 15), 665 f. „Quia igitur, ubi Christus est in medio congregatorum in nomine suo, ibi certissime est specialis assistencia divine virtutis illos protegens, ne ab adversaria superentur potestate, illisque sensum aperiens, ut intelligant scripturas, adjuvans insuper, ut non commoveantur sed divina judicia custodiant, profecto de potestate concessa ministris ecclesie in Christi nomine congregatis magna, sed et maxima, ne aberrent a vero, adest securitas, propter quod voluit, ut eciam Petrus acquiesceret judicio ejusmodi congregatorum", in: RTA, Bd. 15 (wie Anm. 15), 665, Z. 32-38. 18 RTA, Bd. 15 (wie Anm. 15), 668. 17
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Stelle symbolisch auf die Einheit der Kirche auslegte: „Petrus quando claves accepit, ecclesiam significavit."19 Mt 16 tauge also nicht dazu, die Monarchie des Papstes zu begründen. Für die Autoren von „Cogitanti" war vielmehr die Kirche selbst der princeps. Sie selbst verfüge über alle Autorität, in ihr seien die Gläubigen bereits zu einer Einheit zusammengefaßt, so daß sie keinen princeps mehr brauche, der die Einheit zu gewährleisten habe. „Cogitanti" begnügte sich aber nicht damit, die Monarchie als angemessene Verfassungsform für die Kirche abzulehnen. Das Dokument verwies auf den gänzlich anderen Charakter der Kirche, deren Gestalt von keiner der geläufigen säkularen Staatsformen adäquat eingefangen werden könne. Ihre göttliche Natur und der unmittelbare Beistand Christi, der in ihrer Mitte weilt, unterschieden sie fundamental von jeglichen politischen Staatsformen, seien diese monarchisch, aristokratisch oder demokratisch strukturiert. Während nämlich alle weltlichen Staaten auf dem Willen ihrer jeweiligen Herrscher beruhen, sei der wahre Regent der Kirche Christus.20 Im Frühjahr 1434 wurde Segovia vom Konzil beauftragt, ein Sammelgutachten über den sogenannten Präsidentschaftsstreit zu verfassen. Der Papst hatte vier Prälaten nach Basel gesandt, die ihn dort vertreten und als Präsidenten dem Konzil vorstehen sollten. Erwartungsgemäß wollten die Konzilsväter die weitgehenden Vollmachten, die der Papst seinen Kandidaten mitgegeben hatte, nicht anerkennen und führten eine intensive Diskussion über das weitere Vorgehen. In seiner „Relatio de materia praesidentium" sammelte Segovia die Stellungnahmen zahlreicher Konzilstheologen, die sich zu der Frage geäußert hatten und verarbeitete sie zu einer Abhandlung, die als eine frühe Gesamtdarstellung konziliaristischer Ekklesiologie angesehen werden darf. Da der Streit, so die „Relatio", prinzipiell um die iudiciaria potestas der Kirche gehe, die sie von Christus erhalten habe, müsse zu ihrer Klärung in erster Linie („principaliter") auf das autenticum testimonium der Heiligen Schrift rekurriert werden.21 Im Klartext hieß dies, die beiden wichtigsten Texte zu 19 „Responsio synodalis .Cogitanti'", in: MCG 2 (wie Anm. 12), 244. Zur augustinischen Exegese von Mt 16 vgl. Anne-Marie Bonnardière, Tu es Petrus. La péricope de Matthieu 16,13-23 dans l'œuvre de saint Augustin, in: Irenikon 34, 1961, 451-499; Werner Marschall, Karthago und Rom. Die Stellung der nordafrikanischen Kirche zum apostolischen Stuhl in Rom. Stuttgart 1971, 42-47; Myron Wojtowytsch, Papsttum und Konzile von den Anfängen bis zu Leo I. (440-461). Studien zur Entstehung der Überordnung des Papstes über Konzile. Stuttgart 1981, 246f.; Franz Gillmann, Zur scholastischen Auslegung von Matth. 16,18, in: Archiv für katholisches Kirchenrecht 104,1924,41-53; Ulrich Horst, Albertus und Thomas zu Mt 16, in: Walter Senner (Hrsg.), Albertus Magnus: Zum Gedenken nach 800 Jahren. Neue Zugänge, Aspekte und Perspektiven. Berlin 2001, 553-571. 20 „Nec comparandum est corpus ecclesie aliis politicis corporibus ciuitatum et vniuersitatum, quia in medio huius corporis est Christus, qui ipsum regit ne erret; alia autem politica corpora humanis et variis voluntatibus gubernantur"; „Cogitanti", in: MCG 2 (wie Anm. 12), 244f. 21 Die „Relatio" wurde ediert von Pascal Ladner, Johannes von Segovias Stellung zur Prä-
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dieser Frage, Mt 16 und Mt 18, auf ihre genaue Bedeutung hin zu untersuchen und in Übereinstimmung zu bringen. Segovia betonte, daß Mt 16 die Schlüsselgewalt nur in Aussicht gestellt habe, während die tatsächliche Verleihung erst in Mt 18 erfolgt sei. Terminologie und Grammatik in beiden Texten („quodcumque ligaveris", Mt 16; „quaecumque ligaveritis", Mt 18) zeige, daß der Umfang der Autorität in Mt 18 mindestens genauso groß wie in Mt 16, wenn nicht sogar größer sei. Segovia wollte aus dem Plural quaecumque und dem Singular quodcumque einen wie auch immer gearteten breiteren Umfang der in Mt 18 angesprochenen Schlüsselgewalt ableiten. Christus habe also gewollt, daß das Urteil der „Kirche" (Mt 18) das höchste sei und daß ihm auch der Papst gehorchen müsse. 22 Die „Relatio" hebt daneben mit teils sehr ausführlichen Zitaten die Auslegung von Mt 16 durch Augustinus hervor. Der Kirchenvater habe klargemacht, daß Petrus, als er die Schlüssel empfing, diese in persona ecclesiae oder in figura ecclesiae erhielt. Petrus sei demzufolge nur der Stellvertreter für die Kirche gewesen. Die starke Betonung des Schrifttextes und der Schriftauslegung als wichtigste Quelle und als angemessene Wissenschaft, die Autorität der Kirche zu erörtern, ging auf konziliaristischer Seite mit einer ebenso offenen Antipathie gegenüber rechtlichen und politischen Argumentationen in der Ekklesiologie einher.23 Segovia ist ein gutes Beispiel dafür. In seiner „Amplificatio", die er als ausführlichen Nachtrag zu der Rede auf dem Mainzer Reichstag von 1441 zusammenstellte, betonte er, daß der Gegenstand der kirchlichen Gewalt („materia de ecclesie auctoritate") in erster Linie von der Theologie zu erörtern sei („ad ius diuinum principaliter spectat"). Da Teile davon gelegentlich im kanonischen Recht abgehandelt würden, fühlten sich Kanonisten und Legisten ermutigt, die Kirche ausschließlich unter rechtlichen Kategorien zu behandeln. Diese Gelehrten stünden so sehr unter dem Einfluß ihrer juristischen Methode, daß sie die Kirche vollständig in das Prokrustesbett der Staatslehre zwängten. Die Kirche entziehe sich aber der weltlichen Betrachtungsweise und müsse primär aus der Heiligen Schrift heraus verstanden werden.24 sidentenfrage auf dem Basler Konzil, in: Zs. für Schweizerische KiG 62,1968, 1-113, hier 39 (§26). 22 Ladner, Johannes von Segovias Stellung (wie Anm. 21), 43-45 (§ 31-37). 23 Siehe oben Anm. 20. „Itaque si auctoritas queritur, quis non preferat vniuersalem ecclesiam et omnes homines dictis vnius doctoris aut decem, aut quorumcumque, cum auctoritas ecclesie et sacre scripture, vt supra dictum est, equiparentur? Sacram autem scripturam quis nesciat preferri omnibus doctoribus, vt plana est xia. di. in decretis? Omnes autem doctores dicta sua ecclesie submittunt. Si racionem queritis, nonne racionabilius est illius, qui errare non potest, preferri sentenciam iudicio illius, qui errare potest?"; „Cogitanti", in: MCG 2 (wie Anm. 12), 254. 24 „Materia autem de qua sermo est, videlicet de ecclesie auctoritate, omnibus eruditis constat viris, quod multipharia racione ad ius diuinum principaliter spectat. Sed et de illa mencio fit in iure canonico, quod vtique, vt glose ordinarie doctoresque illas ac textus exponentes in suis libris demonstrant, ad sui intelligenciam frequenter, ymmo frequentissime, quin-
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Neben den zentralen Texten Mt 18 und Mt 16 rekurrierte Segovia häufig auch auf verschiedene Texte aus der Apostelgeschichte. Theologisch und methodologisch hob er dabei diese Stellen als doctrina apostolica von der (höheren) Autorität der Evangelien als doctrina evangelica ab. Der Zeit der frühen Kirche und des Urchristentums kam zwar eine hohe Bedeutung bei, doch überragte diese nicht die Autorität der in den Evangelien niedergelegten Herrenworte. Was die Autorität der Apostelgeschichte ausmachte, war ihr historischer Charakter. Der Kirche wurden darin Modelle vorgelegt, an denen sie sich zu orientieren, die sie aber nicht notwendigerweise zu kopieren hatte. Vor allem aber konnte der Theologe Strukturen daraus ablesen, die für eine Bestimmung von Kirche in seiner Zeit unabdingbar waren. So ging für Segovia aus diesen Texten hervor, daß Christus vor seiner Aufnahme in den Himmel ein collegium permaxime auctoritatis hinterlassen habe. Dieses Kollegium habe nun nicht allein aus den Aposteln bestanden, sondern aus einer größeren Gruppe von Verantwortlichen, die in Eph 4,17 aufgelistet sind („dedit quidem apostolos, prophetas, evangelistas, pastores, et doctores ..."). Diese Aufzählung von kirchlichen Ämtern in Eph 4,17 erreichte in den Augen der vielen gebildeten Kleriker und Universitätsgelehrten auf dem Basiiiense, die keine Bischöfe, Äbte, Kardinäle oder sonstige Mitglieder der etablierten Hierarchie waren, einen hohen Identifikationswert. Vor allem in den doctores erkannte man sich hier wieder und gewann daraus ein biblisches Argument für die Teilnahme- und Stimmberechtigung des Universitätsklerus auf den Allgemeinen Konzilien. 25
ymo, si fas est dicere, plus quam ex se ipso, ex iure ciuili allegaciones inducunt, multo certe plures, ymmo sine comparacione, quam iuris diuini, in cuius noticia, sicut et iuris ciuilis, non tarn exercitati sunt iuris canonici professores, et quoniam maiorem habent noticiam iuris ciuilis, quam iuris diuini, arbitrantur de auctoritate ecclesie diffinicionem fore habendam, sicut et iura ciuilia de auctoritate loquuntur principum secularium. Hinc igitur quamplurimi tractatus de auctoritate ecclesie non solum différentes, sed contraferentes scripti reperiuntur, auctoribus eorum summe attendentibus, ne verbis suisque determinacionibus contradicere videantur hiis, que scripta sunt in libris iuris ciuilis aut canonici, quorum noticie per totam vitam suam studiosius intenderunt. Verum, quia de nulla scriptura preterquam diuina est illa pertimescenda sentencia,... hinc per semetipsum quique doctus fidelis percipere potest in materia de auctoritate ecclesie, quoniam eius veritas non humani, sed est iuris diuini, attendendum precipue fore ad verba scripture, cuius verbis vtrum apponat vel diminuât posicio aduersans doctrine synodali, cum affirmat nullam, nisi a papa, ecclesie vel generali concilio competere potestatem ..."; Segovia, Amplificatio (wie Anm. 14), MCG 3, 937 f. Die positio adversans wurde von Johannes von Carvajal vorgetragen. Dieser berücksichtigte eben den Vorrang der Heiligen Schrift nicht, als er behauptete, daß der Kirche oder dem Konzil Gewalt nur mittels des Papstes zukäme und daß die übrigen Apostel ihre Gewalt von Petrus erhielten. Solche Schlußfolgerung zeuge nach Segovia lediglich davon, daß die Schrift nicht aufmerksam studiert worden sei. 25 Vgl. dazu Thomas Prügl, Successores Apostolorum. Zur Theologie des Bischofsamtes im Basler Konziliarismus, in: Manfred Weitlauff/Peter Neuner (Hrsg.), Für euch Bischof mit euch Christ. Festschrift Friedrich Kardinal Wetter. St. Ottilien 1998, 195-217, hier 198-200.
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Thomas Prügl
Das Vorbild der Urkirche in der Apostelgeschichte, vor allem die darin eingewobene Petrusvita, lieferte Segovia weitere Argumente für die Superiorität des Allgemeinen Konzils, aber auch dafür, die papalistische Auslegung von Mt 16 zu widerlegen. Nicht nur liege die Kirche - auch in Mt 16 - dem Petrus voraus, das Bekenntnis des Petrus in Mt 16,15 müsse zudem allen Aposteln zugeschrieben werden, da Christus ja allen die Frage stellte, wer er sei, und danach auch allen aufgetragen hatte, darüber zu schweigen. Außerdem hätten auch andere Leute, teils noch bevor Petrus dies in Caesarea Philippi tat, ein Messiasbekenntnis abgelegt, wie etwa Nathanael, Martha, andere Jünger, oder der römische Hauptmann bei der Kreuzigung. Schließlich aber zeige das Verhalten des Petrus in der Apostelgeschichte, daß er die Oberhoheit des Allgemeinen Konzils anerkannt und befolgt habe. 26 Segovia hob auf das sogenannte Apostelkonzil in Apg 15 („illa famosissima synodus") ab, auf welchem Petrus dem Konzil gegenüber Respekt gezeigt und sich dessen Beschlüssen gefügt habe. Aus Apg 8,14 gehe ferner hervor, daß Petrus von einem Jerusalemer Konzil zusammen mit Johannes nach Samarien gesandt wurde. Er war also ein „Gesandter" des Jerusalemer Apostelkonzils, nicht dessen Oberhaupt. Und schließlich mußte er sich auch von einer weiteren Kirchenversammlung Tadel für sein Verhalten in Antiochien gefallen lassen, als er nicht mit den Heiden an einem Tisch sitzen wollte (Apg 11,2).27 In diesem Zusammenhang konnte es sich Segovia nicht versagen, auch auf Gal 2,11 zu verweisen, dem Bericht des Paulus, der dem Petrus „ins Angesicht widerstand". Diese Stelle in Gal 2,11 war freilich auch ein Kronzeuge für die generelle Möglichkeit, den Papst vor einem Konzil zur Verantwortung zu ziehen.28
III. Johannes de Ragusa Mit Johannes von Ragusa begegnen wir einem weiteren theologischen Schwergewicht auf dem Basler Konzil. Der aus Dubrovnik (Ragusa) stammende Dominikaner machte sich schon als Student an der Pariser Universität mit konziliarem Gedankengut vertraut und sammelte erste Konzilserfahrung auf dem von Papst Martin V. schnell beendeten Konzil von Pavia-Siena (1423/24). Ragusa war ein Mann der ersten Stunde in Basel und die rechte 26
„Constare rursus de suprema auctoritate synodi generalis ex hiis que Petrum gesta leguntur in libro actuum apostolorum, reverente eo quam plurimum et obediente generali concilio celebrato apostolorum tempore, reverencia quippe et obediencia in tribus sistente, in exhibicione honoris, mandati suscepcione et submissione judicii." Johannes de Segovia, Rede auf dem Reichstag in Mainz 1441, in: RTA, Bd. 15 (wie Anm. 15), 672, Z. 4 - 8 . Zur Kritik an der papalistischen Auslegung von Mt 16, ebd. 671 f. 27 Siehe die in RTA, Bd. 15 (wie Anm. 15), 672 erläuterten Beispiele. 28 Siehe z.B. das Gutachten der Erfurter Universität (vgl. unten Anm. 38), RTA, Bd. 15 (wie Anm. 15), 446; „Cogitanti", in: MCG 2 (wie Anm. 12), 244.
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Hand des Konzilspräsidenten Cesarini.29 Als offiziell vom Konzil beauftragter Redner hatte er in der Debatte mit den Hussiten den ersten Prager Artikel, der den Kommunionempfang unter beiderlei Gestalten als obligatorisch einforderte, zurückzuweisen. In seinem „Tractatus de Ecclesia", der aus dieser Beschäftigung mit der hussitischen Ekklesiologie erwuchs, versuchte Ragusa, eine konziliante Haltung zum Papsttum einzunehmen, vor allem um den Hussiten gegenüber den Eindruck einer gespaltenen Front innerhalb der Ecclesia Romana zu vermeiden. Dies darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, daß Ragusa zu keinem Zeitpunkt an der Oberhoheit des Allgemeinen Konzils über den Papst zweifelte. Es war nicht hussitischer Einfluß, der auch Ragusa die Heilige Schrift als die vorrangige Quelle für die Kirchen- und Konzilstheorie erblicken ließ, sondern sein Selbstbewußtsein als Theologe. Vertreter des Konzils hatten sich mit den Hussiten im sogenannten „Richter von Eger" auf eine theologische Methodik für die Kontroversgespräche geeinigt, die die Hierarchie der Autoritäten für die theologische Argumentation strikt auf die Bibel und die Praxis der Apostel einschränkte. Den „von der Kirche approbierten Doktoren" kam bereits erheblich geringere Autorität zu, während das kanonische Recht von der Diskussion ganz ausgeschlossen war.30 Ragusa brauchte den hussitischen Nachhilfeunterricht in Sachen Schriftauslegung nicht. Wir finden in seiner theologischen Methode genau jene Elemente wieder, die wir auch bei Segovia beobachten konnten: Die Schriftauslegung genießt absolute Priorität; das kanonische Recht wird für die Ekklesiologie nicht weiter berücksichtigt, und die patristische Tradition sowie die Kirchengeschichte des ersten Jahrtausends genießen exemplarische Autorität für eine Reform der Kirche. Die Basler Verfassungstheoretiker verstanden sich zu allererst als Theologen, da die Gestalt der Kirche, die eine theologische Wirklichkeit darstellt, angemessen nur aus den Offenbarungsdokumenten erhoben werden kann. Der Basler Konziliaris29
Aloysius Krchndk, De vita et operibus Ioannis de Ragusio. Rom 1960; Santiago Madrigal Terrarzas, La eclesiologia de Juan de Ragusa O.P. (1390/95-1443). Estudio e interpretación de su Tractatus de Ecclesia. Madrid 1995; Petar Vrankid, Die Grundzüge der Konzilstheologie des Johannes von Ragusa, in: AHC 30, 1998, 287-310; ders., Johannes von Ragusa im Ringen um die Teilnahme der Griechen am Basler Konzil, in: AHC 27/28, 1995/96,463-486; Zvjezdan Strika, Johannes von Ragusa (t 1443). Kirchen- und Konzilsbegriff in der Auseinandersetzung mit den Hussiten und Eugen IV. Augsburg 2000; Krämer, Konsens und Rezeption (wie Anm. 4), 182-206 („Die sukzessive Hinwendung des Johannes von Ragusa zur Konzilsidee"); Franjo Sanjek (Ed.), Misao i Djelo Ivana Stojkoviéa (1390/95-1443). Zbornik radova s Medunarodnog simpozija u Dubrovniku, 26-28. svibnja 1983. Zagreb 1986; demnächst: Thomas Prügl, Modelle konziliarer Kontroverstheologie. Johannes von Ragusa und Johannes von Torquemada, in: Johannes Helmrath/ Heribert Müller (Hrsg.), Die Reformkonzilien des Spätmittelalters (VuF), im Druck. 30 Zum „Richter von Eger" vgl. Thomas Prügl, Die Ekklesiologie Heinrich Kalteisens in der Auseinandersetzung mit dem Basler Konziliarismus. Paderborn [u.a.] 1995, 65. Der Text des „Richters" findet sich in Mansi, Sacrorum conciliorum (wie Anm. 12), Bd. 30, 145 f.
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mus muß daher eher als eine schultheologisch motivierte Reaktion auf den Legalismus der hoch- und spätmittelalterlichen Papsttheorie verstanden werden als eine Imitation der anti-institutionellen, spiritualistischen Reformbewegungen im Sinne Wyclifs und Hus'. Wie Segovia, so spricht auch Ragusa von einer zweifachen Wirklichkeit von Kirche, einmal als die über den Erdkreis verstreute Gesamtkirche („ecclesia materialiter sumpta"), und zum anderen als die im Allgemein Konzil versammelte universitas fidelium („ecclesia formaliter sumpta").31 In der Begründung der Kirchengewalt offenbarte Ragusa zunächst eine erstaunliche Sympathie für den Petrusprimat, den er mittels einer detaillierten Exegese der einschlägigen Stellen aus den Evangelien (Joh 1,42; Mt 16,18-19; Lk 22,32; Joh 21,15), aber auch aus der praxis apostolorum, die er in der Apostelgeschichte authentisch niedergelegt sah, plausibel zu machen versuchte. Alle diese ekklesiologischen Grundsätze wurden aus einer ernsthaften Bibellektüre und -auslegung gewonnen. Allerdings brachte er diese Verteidigung des Petrusamtes nur gegen die Papst- und Kirchenkritik der Hussiten in Anschlag, nicht gegen den konziliaristischen Anspruch auf Superiorität.32 Im Herbst 1433 verfaßte Ragusa ein Gutachten darüber, ob das Konzil einen förmlichen Prozeß gegen den Papst anstrengen sollte, da dieser sich weigerte, die verfügte Translation und Auflösung Basels rückgängig zu machen. Darin gab der dalmatinische Dominikaner die Zurückhaltung gegenüber dem Papst auf und plädierte auf der Grundlage einer strikt konziliar verstandenen Kirchentheorie für ein Vorantreiben des Häresieprozesses. Die Begründung entnahm er einer sorgfaltigen Auslegung von Mt 18,15-20, das er mit Mt 16,16-19 verglich. Letzterer Text müsse in der Auslegung des Augustinus gelesen werden, wonach Christus dem Petrus die Schlüsselgewalt stellvertretend für die Kirche überreicht habe („ecclesia figuram gessit Petri"). Die Wirklichkeit von Kirche, die in Mt 16 angesprochen ist, ziele daher nicht so sehr auf Petrus, sondern vielmehr auf die Kirche selbst. Die Auslegung von Mt 16 durch den hl. Augustinus biete darüber hinaus einen Verstehensschlüssel für alle Privilegien, die dem Petrus in Schrift und Theologie zugewiesen würden. Diese müßten in erster Linie auf die Kirche bezogen werden, denn Petrus stehe nur als Zeichen oder Symbol („figura") für die Kirche. Die potestas ecclesiae finde sich daher in weit verbindlicherem Maße in der Kirche als in Petrus und seinen Nachfolgern. Aus Mt 16 ließen sich fünf proprietates von Kirche ableiten: 31
Das ekklesiologische Hauptwerk Ragusas ist sein „Tractatus de Ecclesia": Johannis [Stojkovid] de Ragusio, Tractatus de Ecclesia. Ed. Franjo Sanjek. (Croatica christiana, Fontes, Vol. 1.) Zagreb 1983. Die Unterscheidung zwischen formaler und materialer Gestalt von Kirche: ebd. 14. 32 „Quod principatus et plenitudo potestatis Petri multipliciter ex sacris scripturis ostenditur"; Johannes de Ragusa, Tractatus de Ecclesia (wie Anm. 31), II Kap. 27, 131-135.
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1. Die Kirche ist Ziel und Zweck aller kirchlichen Würden und Würdenträger. 2. Sie kann von keinem geschaffenen, d. h. von keinem endlichen Wesen erbaut werden, sondern nur von Christus. 3. Sie ist das alleinige Eigentum Jesu Christi, und keines anderen. 4. Sie ist auf dem festen Fels erbaut, der niemals zugrunde geht. 5. Sie allein kann von keiner Kreatur, keinem Irrtum oder Laster zugrunde gerichtet werden. Die Absicht, die Ragusa mit dieser Auslegung verfolgte, kommt mit jener Segovias überein, der wir oben bereits begegnet sind: Da Mt 16 in erster Linie über die Natur der Kirche und ihre Beziehung zu Christus spreche, dürfe daraus kein Argument für die präsumierte plenitudo potestatis des Papstes abgeleitet werden. Die Frage der Kirchengewalt werde vielmehr erst in Mt 18 geregelt. Aus dieser Perikope jedoch gewann Ragusa die Einsicht, daß die Kirche keinen Oberen unter den Sterblichen habe, daß sie höchste Gewalt unmittelbar von Christus erhalten habe, daß diese Vollmacht sowohl die absolute Entscheidungsbefugnis als auch die höchste Rechtsprechung umfasse („plenitudo potestatis iudiciariae et iurisdictionis ecclesiasticae"), daß schließlich niemandem die Ausübung dieser Vollmacht zustehe, wenn er sie nicht von der Kirche übertragen bekommen habe. Selbst wenn in Mt 16 eine persönliche Machtverleihung an Petrus stattgefunden haben sollte, so übertreffe die Autorität der Kirche, die ihr in Mt 18 zugesagt wurde, jene des Petrus sowohl an Festigkeit als auch an Verbindlichkeit.33 Ragusa wägte also die beiden wichtigsten Evangelientexte gegeneinander ab und erklärte Mt 18 kurzerhand zum wichtigeren Argument. Die Perikope Mt 18,15-20 stand auch im Mittelpunkt einer Rede, die Ragusa auf dem Reichstag in Frankfurt 1440 vortrug.34 Ragusa wollte die Fürsten des Reiches mittels einer streng biblisch-theologischen Beweisführung von der Rechtmäßigkeit des Basler Konzils und der dort gefaßten Beschlüsse und politischen Entscheidungen überzeugen. Anders als Segovia, der seine Rede in Mainz 1441 mit einer allgemein politischen Erörterung begann, ging Ragusa sogleich medias in res. Jeglicher rechtliche und politische Anspruch des Generalkonzils resultiere aus der Repräsentation der Kirche im Allgemeinen Konzil. Das heißt, alle Privilegien, die die Kirche für sich in Anspruch nimmt, gelten ungeschmälert auch für das sie repräsentierende Konzil. Als erste Konsequenz eines solchen Repräsentationsverständnisses reklamierte Ragusa Infallibilität für das Konzil. Aufgrund der konziliaren Unfehlbarkeit und der Identität mit der Kirche stellte Ragusa die Beschlüsse eines rechtmäßigen
33
Das „Votum de processu contra Eugenium papam IV." ist ediert bei Zvjezdan Strika, Ivana Stojkoviia na Baselsko Saboru (1433), in: Croatica Christiana Periodica 45, 2000, 59-89, hier 80-82. 34 RTA, Bd. 15 (wie Anm. 15), 204-220 (Nr. 117).
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Generalkonzils sogar auf eine Ebene mit der Heiligen Schrift.35 Mt 18 verdeutliche, daß im Konzil die suprema potestas ecclesiae liege, denn um ein Rechtssubjekt zu werden und entsprechend handeln zu können, müsse die Kirche im Konzil versammelt sein. Daher verleihe das Konzil der Kirche erst eine ,Form'. Ragusa rekurrierte hier auf eine frühere Unterscheidung, wonach die Kirche formaliter sumpta das Generalkonzil darstelle, als die Kirche nämlich, die sich an einem Ort versammelt hat. Nur als solche könne sie die Gewalt, die ihr verliehen wurde, auch ausüben. Mt 18 zeige aber, daß Christus gerade auch Petrus bewußt unter diese Kirchengewalt gestellt habe, denn das Wort in Mt 18,15, „Si peccaverit in te frater tuus", sei eben an Petrus gerichtet gewesen. Dem Petrus wurde daher von Christus aufgezeigt, wo das supremum tribunal der Kirche zu suchen sei: nicht bei ihm selbst und bei seiner aus Mt 16 präsumierten Gewalt, sondern: „ipsum Petrum remisit ad ecclesiam." 36 Das Konzil ist somit die sichtbare Gestalt der Universalkirche. Es ist auch jene Form, die der Kirche Einheit gibt: „... sed congregacio sua et unicio que fit in concilio generali dat quasi formam ecclesie. ... Unde predicta potestas jurisdiccionis ecclesie fundatur in unitate seu unicione tali."37 Es ist wiederum die Auslegung des Felsenwortes in Mt 16 durch Augustinus, die Ragusa zu solch kühnen Schlußfolgerungen verleitete, denn nach dem Kirchenvater zeige die Stelle in Mt 16, daß „nicht einem die Schlüssel gegeben wurden, sondern der Einheit der Kirche".38 35
So behauptet Ragusa über das Konstanzer Superioritätsdekret „Haec sancta": „veritas declaracionis hujus aliqualiter aperienda est, ut non tarn statutum ecclesiae videatur, ut quidam garriunt, sed ipsius divine et sacre scripture veritas declaracio"; RTA, Bd. 15 (wie Anm. 15), 211, Z. 9-11. 36 Ebd. 210, Z. 14-41. 37 Ebd. Z. 36-39. 38 „... non uni sed unitati ecclesie claves date sunt"; RTA, Bd. 15 (wie Anm. 15), 210. Die Formulierung, die bei Augustinus öfter vorkommt, wurde in Basel zum geläufigen Dictum. Am bekanntesten war ein Text aus Augustinus' Kommentar zum Johannesevangelium (TracL 50 in Evang. Ioannis, n. 12, Corpus Christianorum. Series Latina, Vol. 36,438), der als Canon „Quodcumque" Eingang ins Gratianische Dekret fand (C. 24, q. 1, c. 6, ed. Friedberg 1,968). In den Kontroversschriften wird auch oft auf „De agone Christiano", cap. 30 (CSEL 41, 134f.; PL 40, 308) verwiesen. Vgl. auch „Sermo in festo b. apostolorum Petri et Pauli", PL 38, 1349. In der Traktat- und Gutachtenschlacht nach 1437 avancierte das Argument zu einem der Standardautoritäten, so etwa im Gutachten der Universität Erfurt, die sich gegen die Neutralitätshaltung der deutschen Kurfürsten aussprach: RTA, Bd. 15 (wie Anm. 15), 437^150 (Nr. 246), hier 446 f. Das Erfurter Gutachten wiederholte auch die Interpretation von Mt 16, wonach dieser Text weniger von der Gewaltenverleihung an Petrus als von der Einheit der Kirche spreche, ebd. 446. Johannes de Torquemada wandte sich entschieden gegen die konziliaristische Interpretation des Augustinuswortes; s. hierzu v. a. Johannes de Turrecremata, Oratio synodalis de primatu. Hrsg. v. Emmanuel Candal. (Concilium Florentinum, Vol. 4/2.) Rom 1954, 39f. (§ 46). Vgl. dazu Thomas M. Izbicki, A Papalist Reading of Gratian: Juan de Torquemada on c. Quodcumque (C. 24, q. 1 c. 6), in: Proceedings of the 10th International Congress of Medieval Canon Law. Syracuse (New York) 13-18 August 1996. Ed. by Kenneth Pennington. (Monumenta iuris canonici, Series C, Subsidia, Vol. 11.) Vatikanstaat 2001, 603-634. Innerhalb der papalistischen Partei
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IV. Johannes von Torquemada und die papalistische Antwort auf die konziliaristische Exegese Werfen wir zum Schluß einen Blick auf die literarischen Gegner der Konziliaristen, die ja auf dem Basler Konzil, wenn auch als Minderheit, ebenfalls vertreten waren. Wie haben die Verteidiger des Papsttums auf die theologische Offensive aus Basel geantwortet? Der spanische Dominikaner Juan de Torquemada gehörte zu den entschlossensten Gegnern der neuen Basler Ekklesiologie. Von 1433 bis 1437 war er ein permanentes Mitglied der Synode und konnte sich so ein exzellentes Bild der Vorgänge in Basel und der dort ausgetauschten Ideen machen. 39 Ganz im Unterschied zu den vorher betrachteten Vertretern, spielte das biblische Argument bei ihm eine vergleichsweise untergeordnete Rolle. Obwohl auch er wichtige Jahre seiner theologischen Ausbildung in Paris verbracht hatte, spiegelte sich in seinen Stellungnahmen kaum der Einfluß der Pariser Größen Gerson und d'Ailly, die das Fundament für die Basler Konziliaristen gelegt hatten, wider. 40 Torquemada reagierte auf den Angriff der Konziliaristen auf Autorität und Vorrechte des Papstes mit traditionellen Argumentationsschemata, die einerseits auf die in kanonistischen Quellen festgeschriebenen Privilegien der Apostólica Sedes pochten, andererseits mit theologisch-philosophischen Argumenten die Monarchie als die beste Regierungsform propagierten. Den theologischen Brückenschlag solcher Herrschaftsbegründung versuchte Torquemada mit der Hierarchienlehre des Pseudo-Dionysius Areopagita zu erreichen, dessen Lehren sich seit dem 12. Jahrhundert im lateinischen Westen höchster Beliebtheit erfreuten. Die Hierarchienlehre versuchte ursprünglich, die im Sakramentenempfang ekklesial vermittelte geistliche Kraft adäquat zu beschreiben. Was Torquemada jedoch an ihr faszinierte, war die Analogie zwischen irdischer und himmlischer Kirche, wobei jene das Urbild, diese das Abbild darstellte. Aus dieser Abbildhaftigkeit folgerte der Spanier auf die hierarchische Leitung der Kirche durch setzte sich auch Heinrich Kalteisen intensiv mit dem Augustinuszitat auseinander, so v. a. in seinem „Consilium de auctoritate pape"; Prügl, Heinrich Kalteisen (wie Anm. 30), 3 2 7 330. Kalteisen erinnerte an die „Retractationes" des Augustinus, worin dieser seine Auslegung von Mt. 16 aufgegeben habe. 39 Zu Leben und Werk Torquemadas vgl. Thomas Kaeppeli, Scriptores Ordinis Praedicatorum Medii Aevi. Rom 1980, Vol. 3, 2 4 - 4 2 ; Karl Binder, Wesen und Eigenschaften der Kirche bei Kardinal Juan de Torquemada O.R Innsbruck 1955; ders., Konzilsgedanken bei Kardinal Juan de Torquemada O. P. Wien 1976; Thomas M. Izbicki, Protector of the Faith. Cardinal Johannes de Turrecremata and the Defense of the Institutional Church. Washington 1981; /?. Hernández, El poder en Juan de Torquemada, in: Ciencia Tomista 1 2 1 , 1 9 9 5 , 4 3 - 8 3 ; zuletzt Ulrich Horst, Kardinal Juan Torquemada OP und die Lehrautorität des Papstes, in: A H C 36, 2004, 3 8 9 - 4 2 2 . 40 Vgl. jedoch Ulrich Horst, Grenzen der päpstlichen Autorität. Konziliare Elemente in der Ekklesiologie des Johannes Torquemada, in: Freiburger Zs. für Theol. und Philos. 19, 1972, 3 6 1 - 3 8 8 .
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einen höchsten Hierarchen (princeps hierarchicus). Damit stellte er eine Verbindung zur monarchischen Theorie her, denn die Hierarchienlehre schien den Vorrang der Monarchie vor allen anderen Regierungsformen gleichsam göttlich zu sanktionieren. Ausgehend von seinen Überlegungen zur Monarchie schenkte Torquemada ferner dem Themenkomplex Recht, Gesetz und Gesetzgebung große Aufmerksamkeit. Nach seinem Verständnis ging es bei den konziliaristischen Auseinandersetzungen weniger um ein neues, reformiertes Kirchenbild, wie es in konziliaristischen Schriften propagiert wurde, sondern um die Frage nach der auctoritas ecclesiae und der Gewaltenverteilung (potestas) innerhalb der Kirche. Erst vor diesem Hintergrund lenkte Torquemada sein Augenmerk auf Mt 16 und Mt 18, worin Theologen und Kanonisten im Bild der Schlüsselübergabe und der Übertragung der Binde- und Lösegewalt den Ursprung der kirchlichen Gewalt erkannten. Wenn es freilich um die biblische Begründung des Petrusprimats ging, standen den Papalisten neben Mt 16 auch Joh 21,15 und Lk 22,32 zu Gebote. Letzterer Text erlangte große Bedeutung, als es darum ging, in Erwiderung und Widerlegung der Infallibilitätseuphorie der Konziliaristen das päpstliche Magisterium als unfehlbar und fest im Glauben des Petrus verankert darzustellen. Mit der Einberufung eines Unionskonzils in Ferrara konnte Papst Eugen dem Basler Konzil strategisch einen schweren Schlag versetzen, da ein kleiner, aber bedeutender Teil der Basler Konzilsväter es vorzog, Basel zu verlassen und sich dem päpstlichen Unionskonzil anzuschließen. Der prominenteste Abtrünnling war Kardinal Cesarini, der als Konzilspräsident über Jahre hinweg die Geschicke des Basler Konzils und, mit konziliaristischem Gedankengut sympathisierend, den Basler Widerstand gegen den Papst anführte. Auch er wechselte die Seiten und ging nach Ferrara/Florenz. Dort inszenierte man eine Schaudisputation, bei der Cesarini die Superiorität des Generalkonzils, Torquemada hingegen die Oberhoheit des Papstes verteidigen sollte. Cesarinis Stellungnahme hat sich nicht erhalten, sie und die Argumente, die er ins Feld führte, lassen sich aber leicht an Torquemadas Text, der sogenannten „Oratio synodalis de primatu", wie sie ihr Herausgeber betitelte, ablesen. Diese Rede wurde einer der wichtigsten Texte für die Restauration des Papsttums ab den 1440er Jahren.41 Natürlich bildete Mt 18,15-17 eines der Hauptargumente in Cesarinis Rede, worauf Torquemada ausführlich zu antworten hatte; in seinen Augen war dieser Text das fundamentum der gegnerischen Position.42 Das vielzitierte „Die ecclesiae!" (Mt 18,17) kann nach Torquemada weder auf die Universalkirche noch auf das Generalkonzil bezogen werden, 41
Zur Abfassung und zu den historischen Umständen der „Oratio" vgl. die Einleitung der Edition: Torquemada, Oratio synodalis (wie Anm. 38), xvii-xlii. 42 „Ad istam auetoritatem (in qua maxime adversa pars fundamentum facere videtur) responsurus duo faciam ..."; Torquemada, Oratio synodalis (wie Anm. 38), 29 (§ 36).
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und zwar „ex sensu litterali", d. h. wenn man den Schrifttext wörtlich nimmt und nicht allegorisch oder im übertragenen Sinne argumentieren will. Vielmehr sei in dieser Perikope den Gläubigen auf der einen Seite die correctio fraterna, also die private freundschaftliche Zurechtweisung, als Gebot aufgetragen worden, auf der anderen Seite habe die Kirche daraus die seit Jahrhunderten übliche Beichtpraxis abgeleitet. „Die ecclesiae!" meine daher nicht das Generalkonzil, sondern den Beichtvater oder den praelatus. Torquemada wußte sich darin mit einer langen Auslegungstradition einig („cum omnibus doctoribus sacrae scripturae"), was umgekehrt bedeutete, daß die Basler Konziliaristen ein neues, von der Tradition nicht approbiertes (und damit falsches) Verständnis von Mt 18,17 vorlegten. Als Zeugen dieser Tradition führte Torquemada die geläufigen exegetischen Handbücher und Postillen des Mittelalters an: die „Catena aurea" des Thomas von Aquin, in der er auch Äußerungen des Origenes und des Johannes Chrysostomus zur selben Stelle fand, die Postille des Hugo von St. Cher, den Matthäuskommentar des Albertus Magnus, die Postillen des Nikolaus von Lyra und des Nikolaus Gorran.43 Wenn es also in Mt 18 um die correctio fraterna geht, dann wäre es nicht nur unmöglich, sondern geradezu irrsinnig, jedesmal ein großes Konzil einzuberufen, um ein halsstarriges Kirchenmitglied zu maßregeln. Selbst wenn Christus, so räumte Torquemada ein, mit dem Befehl „Sag es der Kirche!" (Mt 18,17) die Universalkirche oder das Konzil gemeint haben sollte, so unterläge das Konzil dennoch der Gewalt des Papstes und seiner Vollmacht. Torquemada begründete dies mit einem grundlegenden Argument seiner Ekklesiologie: Jegliche Gewalt in der Kirche ist eine persönlich verliehene, d. h. sie kann nur von Einzelpersonen ausgeübt werden. Niemals könne eine Gruppe ein wesentlich individuelles und persönliches Privileg für sich in Anspruch nehmen. Die Gewalt einer Korporation beruhe folglich allein auf den Vollmachten ihrer einzelnen Mitglieder. Die Fülle der kirchlichen Macht aber liege im Papst, der sie unmittelbar von Christus erhalte und an die Bischöfe weiterreiche.44
43
Die Auflistung der mittelalterlichen exegetischen Handbücher findet sich in Torquemada, Oratio synodalis (wie Anm. 38), 30 f. (§ 37). Eine ähnliche Zusammenstellung .traditioneller' Auslegungen von Mt 1 8 , 1 5 - 2 0 besorgte Heinrich Kalteisen in seiner „Allegatio contra auetoritatem et gesta Concilii Basiliensis". Vgl. dazu Prügl, Heinrich Kalteisen (wie Anm. 30), 129-131. Vgl. auch Kalteisens „Consilium de auetoritate pape et concilii generalis", ebd. 308-318. Zur mittelalterlichen Exegese und den exegetischen Handbüchern vgl. Gilbert Dahan, L'exégèse chrétienne de la Bible en Occident médiéval, X l l e XlVe siècle. Paris 1999, v. a. 75-120, sowie unter den oben genannten Namen im Index; nach wie vor wichtig Beryl Smalley, The Study of the Bible in the Middle Ages. 3. Aufl., Oxford 1983; Ceslaus Spicq, Esquisse d'une histoire de l'exégèse latin au moyen âge. Paris 1944. 44 „Dato quod quilibet apostolorum, et nunc quilibet ecclesie prelatus, potestatem iurisdictionis immédiate a Christo habuisset, non tarnen ex hoc habetur, quod tota ecclesie communitas collegialiter talem immediate a Christo potestatem accepisset." Torquemada, Oratio synodalis (wie Anm. 38), 27 (§ 34); vgl. auch Johannes de Torquemada, Summa de Eccle-
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Wie verträgt sich aber diese monarchistische Sichtweise, die sich auf Mt 16 beruft, mit der Parallelstelle Mt 18, jener Perikope, aus der klar hervorgeht, daß auch die Apostel von Christus Binde- und Lösegewalt übertragen bekommen haben? Torquemada war zwar davon überzeugt, daß die Apostel ihre Gewalt von Petrus erhalten hatten, dennoch wollte er die Möglichkeit nicht ausschließen, daß auch die Gewalt der Apostel unmittelbar von Christus stammte. Selbst in diesem Fall folge daraus aber nicht, daß die Universalkirche oder das Generalkonzil gleichermaßen unmittelbare göttliche Vollmacht erhielten, denn auch dann bliebe die geistliche Gewalt eine persönliche; die einzelnen Apostel hätten sie nicht als Gruppe, sondern ebenfalls als einzelne erhalten und an ihre (individuell verstandenen) Nachfolger, die Bischöfe, weitergereicht.45 Mit dem Befehl „Die ecclesiae!" wollte Christus unter keinen Umständen irgendeine richterliche Kompetenz der Universalkirche oder des Konzils anzeigen, sondern damit den Vorsteher der Gemeinschaft bezeichnen. Zur Bekräftigung diente ein Zitat aus der Nikomachischen Ehtik: „quod civitas est id quod principale est in ea". 46 Torquemada hinterfragte auch kritisch die Auslegung der Konziliaristen („quidam professores adverse partis"), wonach das „Die ecclesiae!" in Mt 18,17 zu Petrus gesprochen worden sei. Bei allem Scharfsinn der Auslegung blieb aber Torquemadas Exegese sowohl defensiv als auch minimalistisch. Anders als die Konziliaristen gewann er sein Verständnis von Mt 18,17 nicht - wie etwa Johannes de Segovia - aus einer vorausgehenden detaillierten Exegese, sondern er begnügte sich mit den Kernaussagen der Handbücher und Kommentare, die die Ansicht der „Glossa ordinaria" teilen: „Die ecclesie, idest praelato."47 Torquemadas Strategie in der „Oratio synodalis" war es, die praktischen Schwierigkeiten und die theoretische Fragwürdigkeit der konziliaristischen Auslegung von Mt 18,15-17 herauszustellen. Die totalitas Ecclesiae könne als Ganze niemals zusammentreten, also sei es auch unmöglich, ihr irgendwelche Exekutivgewalt zuzuschreiben. Wenn daher in biblischen oder frühchristlichen Quellen die Rede von der Ecclesia sei, so müsse man darunter entweder das Kardinalskollegium, oder eine Versammlung eines Konvents, sia. Lyon 1496, I, c. 93, fol. 78ra: „Nulla communitas in ecclesia sive universitas per modum universitati habere potest claves has ordinis." Ebd. III, c. 12, fol. 192rb; III, c. 14, fol. 193vb. 45 „Quod etsi aliquando predicta auetoritas ad concilium generale, apostolica auetoritate fultum, applicetur (aut ad concilium generale, sede vacante); non tarnen propter hoc habetur intencio arguentis, videlicet: quod universalis synodus super papam unicum et indubitatum iudicii potestatem habere, aut quod papa extra casum heresis veniret ecclesie denunciandus." Torquemada, Oratio synodalis (wie Anm. 38), 34 (§ 40). 46 Torquemada, Oratio synodalis (wie Anm. 38), 30 (§ 37) und 38 (§ 44) Vgl. femer Aristoteles, Ethica Nicomachea, IX, c. 8 (n. 6). 47 Torquemada, Oratio synodalis (wie Anm. 38), 33f (§ 39). Die Auseinandersetzung mit der konziliaristischen Auslegung von Mt 18,17 erstreckt sich über sieben Seiten in der Edition Candals: Torquemada, Oratio synodalis (wie Anm. 38), 28-35 (§ 36-40).
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oder eines Dom- oder Stiftskapitels, oder eine Provinzialsynode, oder aber einfach eine kleine Hauskirche (familia), wie aus dem Ende des Römerbriefes hervorgeht, verstehen.48 Torquemada ging auch auf zwei Texte aus Apg 15 ein, die Cesarini zugunsten der konziliaristischen Theorie ins Feld führte. Die Konziliaristen sahen in dem sogenannten Jerusalemer Apostelkonzil, auf dem nach einer Lösung in der Legalienfrage gerungen wurde, einen Beweis dafür, daß das Konzil seit frühester apostolischer Zeit das höchste Leitungs- und Entscheidungsgremium in der Kirche darstellte. Torquemada vermied es, in der „Oratio synodalis" eine alternative Exegese der besagten Perikope vorzutragen, sondern ging sogleich auf die kirchenrechtliche Konsequenz der konziliaristischen Exegese ein, die in dem Apostelkonzil ein weiteres Indiz einer Superiorität des Konzils über den Papst erblickte. Torquemada sah keinen Gegensatz zwischen Papst und Konzil, solange die Konzilsväter ihre Beschlüsse einmütig mit dem Papst faßten. Dennoch komme dem Papst in den formalen Akten der Legislative der Vorrang zu: „principatus decretandi sive auctoritas principalis competit Romano pontifici, utpote qui princeps est tocius rei publice Christiane".49 Das Konzil habe lediglich die Rolle eines Beratungsorgans oder eines bekräftigenden Votums, während die Beschlußgewalt allein beim Papst als dem princeps liege. Der zweite Text, ebenfalls eine Passage aus Apg 15, spielte auf die Überzeugung des Basler Konzils an, als Repräsentation der Kirche Unfehlbarkeit zu genießen. Die Anwesenheit und der Beistand des Hl. Geistes auf dem Generalkonzil ergab sich für die Basler geradezu aus institutioneller Notwendigkeit. Nach Meinung der Konziliaristen mußte jeder Beschluß des Generalkonzils als Spruch des Hl. Geistes angesehen werden. Erstaunlicherweise erhob Torquemada hier (noch) keinen Protest. Solange solche Rede nur fromme Rhetorik blieb und keine rechtlichen Kompetenzen oder gar eine Beschränkung der päpstlichen plenitudo potestatis forderte, konnte er damit gut leben. Die Inspiration durch den Hl. Geist erstreckte sich seiner Ansicht nach nur auf die Wahrheitsfindung, nicht auf die rechtliche Verbindlichmachung konziliarer Beschlüsse. Der entsprechende Text in der Apostelgeschichte erwähne lediglich, daß Petrus zusammen mit den Aposteln und Ältesten auf Anregung des Hl. Geistes zusammengekommen sei und eine richtige Lösung des Problems gefunden habe. Die Frage nach dem Vorsitz und Vorrang des Papstes über das Allgemeine Konzil und über die Kirche sei damit in keiner Weise berührt worden.50 48
Torquemada, Oratio synodalis (wie Anm. 38), 33f (§ 39). Die Stelle in Rom 16,23 heißt: „Salutat vos Gyus, hospes meus, et universa Ecclesia", wozu die Glosse ergänzt: „ubi per universam ecclesiam solam provinciam Gayi intelligit, ut ait glossa". 49 Torquemada, Oratio synodalis (wie Anm. 38), 36 (§ 42). 50 Torquemada, Oratio synodalis (wie Anm. 38), 36f.: „... non arguit aliquam iurisdictio-
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V. Schlußbetrachtung Bei den Konziliaristen haben wir eine geradezu radikale Auslegung gewisser Bibelstellen angetroffen, radikal in dem Sinne, daß der Auslegung selbst breitester Raum gegeben und dem Kontext und der Intention des Texts absolute Priorität zugestanden wurde, radikal auch in dem Sinn, daß der Bibeltext sich kritisch gegen jede Auslegungstradition und kanonische Gesetzgebung, die diese exegetischen Ergebnisse nicht teilte, wandte. Bei Torquemada - und er steht stellvertretend für die antikonziliaristische Partei - stießen wir auf eine genau gegenläufige Verwendung biblischer Argumentation. Torquemadas theologisches Argumentieren stellte zwar getreu der scholastischen Methode das Schriftargument an den Anfang, da es als argumentum ex auctoritate höchste Verbindlichkeit beansprucht, im Grunde aber zielte seine Strategie auf eine Abschwächung und Einengung des biblischen Argumentes, das der etablierten Kirchenverfassung und ihrer theologisch-philosophischen Begründung angepaßt wird. Der Kronzeuge für die papalistische Ekklesiologie war Mt 16, und zwar in der Lesart der römischen Kirche seit dem vierten Jahrhundert, aber die Argumentation erfuhr weit mehr Unterstützung aus anderen Quellen und Erkenntnisfeldern. Die Aufgeschlossenheit Torquemadas sowohl für philosophische als auch für legistische Ideen (aristotelische Politik und legistische principatus-Tradition) belegen weniger eine Theologie- und Schriftvergessenheit als vielmehr seine Überzeugung, daß die Begründung kirchlicher Autorität und kirchlicher Herrschaftsformen aus einem Überlieferungskonsens und aus der langen Praxis der Kirche zu erfolgen habe. Die Entdekkung der Ekklesiologie durch die Theologen auf dem Basiiiense, die mit einer radikalen Besinnung auf das biblische Argument einherging, war für Torquemada keine Reform, sondern Revolution, die sich gegen geltendes Recht sowie gegen Vernunft und politische Einsicht, aber auch gegen überkommene Schriftauslegung richtete. Nicht jene ideologische Begründung der kirchlichen Verfassung, die sich die Heilige Schrift auf das Banner schrieb und mit der Inspiration durch den hl. Geist drohte, erschien ihm näher am christlichen
nem datam immediate a Christo, sive a spiritu sancto, toti collegio apostolorum, sed bene arguit datam inspiracionem ad intelligendam veritatem.... Planum est autem quod huiusmodi assistencia, qua spiritus sanctus sanctis congregacionibus assistit, inspirando et docendo quid agendum sit, non abstulit a Petro tunc, nec nunc ab eius successoribus, Romanis pontificibus, superioritatem et presidenciam super synodum." Die Apostelgeschichte lieferte auch für die „frühen" Konziliaristen Heinrich Langenstein und Pierre d'Ailly wichtige Argumente für die Einberufung eines Konzils, wodurch das Schisma beigelegt werden sollte. Siehe dazu: Karlfried Froehlich, New Testament Models of Conflict Resolution. Observations on the Biblical Argument of Paris Conciliarists during the Great Schism, in: Howard P. Louthan/Randall C. Zachman (Eds.), Conflict and Confession. The Struggle for Unity in the Age of Reform, 1415-1648. Notre Dame 2004, 13-36, hier 23 f.
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Auftrag, sondern jene, die einen Konsens zwischen Bibel und Vernunft, Recht und Offenbarung, Erfahrung und Pragmatik aufwies. Durch die Brille Torquemadas gelesen, finden sich somit in den Schriften der Konziliaristen durchaus Ansätze einer biblizistischen Argumentation, auch wenn er diesen Verdacht so nicht aussprach - der Begriff wäre dem Mittelalter zudem völlig fremd gewesen. Wenn die Schriftauslegung jedoch unmittelbare politische Konsequenzen einforderte, wäre seiner Ansicht nach die Balance theologischer Wahrheitsfindung gefährdet und die Grenze zwischen theologischer Exegese und Biblizismus verwischt. In dieser Hinsicht waren sich die Basler Universitätstheologen und die Vertreter der böhmischen Hussiten doch näher, als der erbitterte Kampf beider auf dem Basler Konzil vermuten läßt. Der Unterschied zwischen beiden ist aber ebenfalls nicht zu übersehen. Während die Reformer um Wyclif und Hus mit einer radikalen Exegese ihrer Ansicht nach fehlgelaufene Entwicklungen in der Kirche zurückdrehen wollten, und Kirchenreform vor allem als Enteignung der Orden, Mißachtung der Hierarchie und Neuinterpretation der Sakramentenpraxis praktizierten, verstanden sich die Konziliaristen als Erben und getreue Bewahrer der kirchlichen Tradition. Ihre Kritik zielte nicht auf einen Umsturz des Papsttums, sondern auf eine Wiedergewinnung der konziliaren Kirchenverfassung des ersten Jahrtausends. Kirchenreform meinte daher für sie eine Wiederbesinnung auf eine theologische, nicht legistische Sicht von Kirche, auf die Form der ecclesia apostolica, die von ihrem ersten Augenblick an kollegial verfaßt und strukturiert war. Die Gründe dafür glaubten sie eindeutig aus der Schrift erheben zu können.
Politik im Angesicht des Weltendes Die Verzeitlichung des Politischen im Horizont des lutherischen Schriftprinzips Von
Marcus Sand'l Die Reformation fand im Namen der Bibel statt, genauer im Dienste der Wiedereinsetzung der Heiligen Schrift als einziger und allumfassender Quelle von Theologie und Frömmigkeitspraxis. Sie veränderte gleichzeitig in grundlegender Weise die Praxis politischer Herrschaft und forcierte - mittel- und langfristig - die Entstehung einer staatlichen, institutionell verdichteten Macht. Dies ist von der Forschung immer wieder betont worden und ist wohl unbestrittener Konsens.1 Strittig dagegen ist, wie dieser Sachverhalt historisch zu rekonstruieren ist. Überaus einflußreich erwies sich das Konzept der ,Konfessionalisierung', das eine sozialgeschichtliche Perspektive an den Zusammenhang von Reformation und Politik herantrug.2 Demnach schuf die weltliche Obrigkeit die Voraussetzungen und Bedingungen dafür, daß die Reformation als theologie- und frömmigkeitsgeschichtliche Bewegung erfolgreich wurde. Dies beinhaltete einen Transformationsprozeß der Obrigkeit selbst, führte zu einem Ausbau staatlicher Institutionen, zu einer fortschreitenden herrschaftlichen Durchdringung aller Lebensbereiche und letztlich zur Entstehung einer eigenständigen Logik staatlicher Machtausübung. Die Reformation konvergierte somit mit einem Staatsbildungsprozeß, dem ein hohes Modernisierungspotential unterstellt und dessen Wirkungsgeschichte bis in die Moderne rekonstruiert wurde.3 Religion und Politik schienen unter den 1 Vgl. als Überblick über die Reformationsforschung v. a. Luise Schorn-Schutte, Die Reformation. Vorgeschichte, Verlauf, Wirkung. München 1996; Stefan Ehrenpreis/Ute LotzHeumann, Reformation und konfessionelles Zeitalter. Darmstadt 2002; Thomas Kaufmann, Die Reformation als Epoche?, in: Verkündigung und Forschung 47, 2002, 49-62; Olaf Mörke, Die Reformation. Voraussetzungen und Durchsetzung. (Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 75.) München 2005. 2 Vgl. die programmatischen Aufsätze von Wolfgang Reinhard, Konfession und Konfessionalisierung in Deutschland, in: ders. (Hrsg.), Bekenntnis und Geschichte. Die Confessio Augustana im historischen Zusammenhang. (Schriften der philosophischen Fakultät der Universität Augsburg, Bd. 20.) Augsburg 1981, 165-189; und Heinz Schilling, Die Konfessionalisierung im Reich, in: HZ 257, 1988, 1 —45. 3 Vgl. zur Reichweite des Konfessionalisierungsansatzes im Zusammenhang mit einer Theorie der Modernisierung Heinz Schilling, Die neue Zeit. Vom Christenheitseuropa zum Europa der Staaten 1250-1750. Berlin 1999; Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegen-
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Vorzeichen des Konfessionalisierungsansatzes seit der Reformation eng aufeinander bezogen, ja im Hinblick auf ihr Transformationspotential gar zusammenzufallen. Der Begriff der , Konfessionalisierung' adressierte damit einen Begriff der Religion, der in bezug auf unterschiedliche theologische Anliegen indifferent blieb. Der Prozeß der Staatsbildung und Modernisierung bedurfte der Reformation als Katalysator, umfaßte jedoch letztlich alle Religionsgruppen und unterwarf sie der gleichen säkularen Entwicklungslogik. Die Ubiquität der Transformation ließ theologisch unterschiedliche politisch-theoretische Konzepte als historisch zu vernachlässigende Marginalien erscheinen. Der Zusammenhang zwischen dem reformatorischen Schriftprinzip und den säkularen politischen Umwälzungsprozessen blieb vollends außerhalb des Interesses dieses Ansatzes.4 Gegen diese sozialgeschichtliche Sichtweise wurde und wird von Kirchenund Ideenhistorikern die historische Wirkmächtigkeit politischer Theorien gerade im Kontext der Reformation betont und eine Differenzierung der Geschichte des Politischen im Lichte seiner zeitgenössischen Reflexion angemahnt.5 Ausgangspunkt ist dabei in der Regel der Zusammenhang von reformatorischen Herrschaftslehren und dem konkreten Erfahrungshorizont des 16. Jahrhunderts. Auch hierbei ist die Erkenntnis, daß ohne die Unterstützung territorialer und städtischer Obrigkeiten das reformatorische Unternehmen gescheitert wäre, von zentraler Bedeutung. Allerdings wird diese Erkenntnis als reformatorische Einsicht in die Notwendigkeit politischer Rückendeckung reformuliert und damit ebenfalls die tendenzielle Unabhängigkeit politischtheoretischer Überlegungen von theologischen Anliegen, insbesondere dem Schriftprinzip, unterstellt. Die reformatorische Herrschaftslehre zeichnete sich demnach gerade nicht durch die Entwicklung einer neuen, der Heiligen Schrift verpflichteten politischen Sprache aus, sondern dadurch, daß sie, wenngleich exegetisch begründet, dem weltlichen Regiment eine weitreiwart. 2. Aufl. München 2000; ders., Glaube und Macht. Kirche und Politik im Zeitalter der Konfessionalisierung. Freiburg im Breisgau/Basel/Wien 2004. 4 Kritisch dazu u. a. Hans J. Hillerbrand, Was there a Reformation in the Sixteenth Century?, in: ChurchH 72, 2003, 525-552. 5 Zur ideengeschichtlichen Einordnung der lutherisch-reformatorischen in den Rahmen der vormodernen .politischen Theorie' vgl. Heifried Münkler, Politisches Denken in der Zeit der Reformation, in: ders./Iring Fetscher (Hrsg.), Piper Handbuch der politischen Ideen. Bd. 2: Mittelalter: Von den Anfängen des Islams bis zur Reformation. München/Zürich 1993, 615-664, insbes. 635 ff.; Peter Nitschke, Einführung in die politische Theorie der Prämoderne 1500-1800. Darmstadt 2000, insbes. 15ff.; Horst Dreitzel, Monarchiebegriffe in der Fürstengesellschaft. Semantik und Theorie der Einherrschaft in Deutschland von der Reformation bis zum Vormärz. 2 Bde. Köln/Weimar/Wien 1991, hier insbes. Bd. 2, 465 ff. Zur kirchen- und theologiegeschichtlichen Auseinandersetzung mit der reformatorischen Herrschaftslehre vgl. Bernhard Lohse, Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und ihrem systematischen Zusammenhang. Göttingen 1995, 168ff. und 333ff.; hier auch weiterführende Literaturhinweise bis 1994.
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chende Autonomie einräumte. 6 Zeitgenössische Anschlußmöglichkeiten für diese Deutung fand man in Luthers ,Zwei-Reiche-Lehre', die i m Sinne einer klaren Trennung von theologischem Anliegen und den politischen Formen seiner Durchsetzung interpretiert wurde. 7 A u c h diesem Ansatz liegt damit letztlich eine Säkularisierungsthese zugrunde 8 , derzufolge die Reformation mit d e m Zurücktreten religiöser Begründungsformen für politische Herrschaft konvergierte, das letztlich zur ,,religiöse[n] Marginalisierung der Politik und theologischefn] Sakralisierung des Staates" geführt habe. 9 In der Tat stellte Luther in seiner Schrift an den „Christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung" (1520) explizit die Ver6 So sieht beispielsweise Herfried Münkler in der lutherischen Herrschaftslehre einen Wegbereiter des Staatsräsondenkens und bringt sie damit in die Nähe zu Niccolö Machiavellis „II principe". Vgl. Herfried Münkler, Im Namen des Staates. Die Begründung der Staatsräson in der Frühen Neuzeit. Frankfurt am Main 1987, 99ff.; eine grundsätzliche Differenz zwischen Machiavelli und Luther hatte dagegen noch Friedrich Meinecke angenommen; vgl. Friedrich Meinecke, Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte. 4. Aufl. München 1976,488. 7 Zum Diskussionsstand der Zwei-Reiche-Lehre vgl. Anm. 51. Hier sei nur verwiesen auf die Einordnung der lutherischen Obrigkeitslehre in den historischen Entstehungszusammenhang von Hans-Joachim Gänssler, Evangelium und weltliches Schwert. Hintergrund, Entstehungsgeschichte und Anlaß von Luthers Scheidung zweier Reiche oder Regimente. (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abt. für Abendländische Religionsgeschichte, Bd. 109.) Wiesbaden 1983. 8 Die Diskussion um den komplizierten Zusammenhang von Reformation und Säkularisierung ist zuerst von Ernst Troeltsch angestoßen worden. Vgl. Ernst Troeltsch, Protestantisches Christentum und Kirche der Neuzeit (1906/1909/1922). (Ernst Troeltsch: Kritische Gesamtausgabe, Bd. 7.) Berlin/New York 2004; zur Diskussion des Ansatzes von Troeltsch und des Säkularisierungsproblems vgl. Egbert Stolz, Die Interpretation der modernen Welt bei Ernst Troeltsch. Zur Neuzeit- und Säkularisierungsproblematik. Diss. theol. Hamburg 1979; John M. Headley, Luther and the Problem of Secularization, in: Journal of the American Academy of Religion 55/1, 1987, 21-37; Hermann Fischer, Die Ambivalenz der Moderne. Zu Troeltschs Verhältnisbestimmung von Reformation und Neuzeit, in: Horst Renz/Friedrich Wilhelm Graf (Hrsg.), Troeltsch-Studien. Bd. 3: Protestantismus und Neuzeit. Gütersloh 1984, 54—77; Arno Seifert, Der Rückzug der biblischen Prophetie von der neueren Geschichte. Studien zur Geschichte der Reichstheologie des frühneuzeitlichen deutschen Protestantismus. (Archiv für Kulturgeschichte, Beih. 31.) Köln/Wien 1990. Weiterführend Peter Blickle/Rudolf Schlögl (Hrsg.), Die Säkularisation im Prozess der Säkularisierung Europas. (Oberschwaben - Geschichte und Kultur, Bd. 13.) Epfendorf 2005. 9 Münkler, Im Namen des Staates (wie Anm. 6), 107. Dies hat sich insbesondere wirkungsmächtig im Topos vom obrigkeitsgläubigen Luthertum verdichtet. Als verhängnisvolles Erbe der Reformation schien manchen Forschem die lutherische Obrigkeitsgläubigkeit als Untertanenmentalität bis ins 20. Jahrhundert nachzuwirken. Vgl. u. a. Thomas Buske, Thron und Altar. Die Rolle der Berliner Hofprediger im Zeitalter des Wilhelminismus. Neustadt an der Aisch 1970; Barbro Eberan, Luther? Friedrich „der Grosse"? Wagner? Nietzsche?...?...? Wer war an Hitler schuld? Die Debatte um die Schuldfrage 1945-1949. 2. Aufl. München 1985; Uwe Siemon-Netto, Luther als Wegbereiter Hitlers? Zur Geschichte eines Vorurteils. Gütersloh 1993. Zur geschichtswissenschaftlichen Diskussion vgl. Klaus Große Kracht, Fritz Fischer und der deutsche Protestantismus, in: Zs. für Theologiegeschichte 10, 2003, 224-252.
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treter der weltlichen Macht in die Verantwortung für reformatorische Umgestaltungen und appellierte damit an die Unabhängigkeit weltlicher Herrschaft von der Institution Kirche.10 Im weiteren Verlauf der Reformation formulierte er diese Unabhängigkeit, in engem Zusammenhang mit den Verwerfungen innerhalb der reformatorischen Bewegung, insbesondere der Entstehung eines schwärmerischen' Flügels der Reformation sowie dem Ausbruch des Bauernkrieges, weiter aus. Seit 1523 unterschied er zwischen einem „geistlichen" und einem „weltlichen Regiment" und wandte sich explizit gegen die Vorstellung, man könne die Welt mit dem Evangelium regieren11; das Evangelium wieder herzustellen und sein Wirken in der Welt zu sichern sei jedoch Luther zufolge Aufgabe der Obrigkeit. Auf den ersten Blick deutet somit wenig darauf hin, daß die Reformation die Bibel als politische Sprache in neuer Weise einsetzte. Im Gegenteil scheint es sogar so, daß die reformatorische Herrschaftslehre darauf hinauslief, die politischen Gehalte der Bibel - auf der Basis einer entsprechenden Exegese - weitgehend zu liquidieren, um ihr theologisches, geistliches Monopol dauerhaft zu sichern. Gegen einen derartigen reformatorischen Vorgriff auf den Säkularisierungsprozeß der Moderne sprechen jedoch zahlreiche Befunde, die gerade die jüngere Reformationsgeschichte herausgearbeitet hat. So wurde vor allem auf die Eigenständigkeit einer lutherischen politica christiana im 16. Jahrhundert hingewiesen, die bislang kaum in den Blick der Forschung genommen wurde.12 Das reformatorische Schriftprinzip zeichnete sich demnach dadurch aus, daß es ubiquitär war, also nicht nur alle theologischen Fragen und Antworten beinhaltete, sondern den gesamten Raum möglicher Erfahrungen, des Denk- und Sagbaren umfaßte. 13 Die erfahrungskonstitutive Qualität der Bi10 Vgl. Martin Luther, An den Christlichen Adel deutscher Nation, von des Christlichen Standes Besserung (1520), in: ders., Werke. Kritische Gesamtausgabe. Weimar 1883— 1986, hier Bd. 6, 3 8 1 ^ 6 9 . Im folgenden zitiert als WA mit Bandangabe, Seitenzahl und Zeilennummerierung. 11 Martin Luther, Von weltlicher Oberkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei (1523), WA 11, 229-281, hier 251, 22 ff. 12 Vgl. v. a. Luise Schorn-Schütte, Evangelische Geistlichkeit in der Frühneuzeit. Deren Anteil an der Entfaltung frühmoderner Staatlichkeit und Gesellschaft. Dargestellt am Beispiel des Fürstentums Braunschweig-Wolfenbüttel, der Langrafschaft Hessen-Kassel und der Stadt Braunschweig (16.-18. Jhdt.). (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte, Bd. 62.) Gütersloh 1996; dies., Obrigkeitskritik und Widerstandsrecht. Die politica christiana als Legitimationsgrundlage, in: dies. (Hrsg.), Aspekte der politischen Kommunikation im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts. Politische Theologie - Res PublicaVerständnis - konsensgestützte Herrschaft. (HZ, Beihefte, NF., Bd. 39.) München 2004, 195-232; dies., Kommunikation über Herrschaft. Obrigkeitskritik im 16. Jahrhundert, in: Lutz Raphael/Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.), Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit. (Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit, Bd. 20.) München 2006, 71-108. Hier auch Hinweise auf mögliche Gründe für die Vernachlässigung der politica christiana in der modernisierungstheoretisch ausgerichteten Forschung; vgl. ebd. 73. 13
Vgl. dazu auch Thomas Kaufmann, .Erfahrungsmuster' in der frühen Reformation, in:
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bei, insbesondere die ihrer heilsgeschichtlichen Aussagen, ließ keinen Platz für ein strategisches Kalkül. Die politische Konzeption der Reformatoren war, wie Walther Künneth in bezug auf Luther feststellte, eine „theologische Gesamtschau der Wirklichkeit". 14 Weltliche Herrschaft und geistliches Amt organisierten ein und denselben historischen Raum - und dieser Raum war ein heilsgeschichtlich konnotierter, der seine innere Einheit, seinen Sinn eschatologischen Überzeugungen verdankte. War die Erfahrungswirklichkeit der Reformatoren jedoch biblisch determiniert, so konnte die Unterscheidung zweier Regimenter, so der naheliegende Schluß, nicht mit einer Abgrenzung eines geistlich-transzendenten von einem säkularen Raum zusammenfallen. Vielmehr muß sie dann als Aspekt des Geltungsanspruchs der Heiligen Schrift selbst betrachtet, also nicht im Hinblick auf die Differenz, die sie konstituiert, sondern im Hinblick auf die Gleichzeitigkeit und Gleichursprünglichkeit, die sie epistemologisch ermöglicht, analysiert werden. Im folgenden wird vor diesem Hintergrund die These vertreten, daß die Bibel im Kontext der Reformation als politische Theorie im engeren Sinne in der Tat suspendiert wurde, nicht jedoch, um sie in ihren Gehalten auf einen geistlichen Aspekt zu beschränken, sondern um die Welt in all ihren Facetten als eine biblisch determinierte zu bestimmen. In der Reformation wurde das Politische mit anderen Worten kein Applikationsfeld biblischer Argumentationsstrategien, sondern ein Gegenstand, der sich nur im Kontext eines biblischen Redezusammenhangs überhaupt erst sinnvoll bestimmen ließ, sich nur im Medium der Heiligen Schrift ausbildete, abschloß und seine Eigenständigkeit erhielt. Das reformatorische Schriftprinzip erschuf das Politische gewissermaßen neu, und diese Neuerschaffung hatte einschneidende Folgen für dessen weitere Bestimmung. Daran anschließend kann die Frage des politisch-epistemologischen Gehalts des reformatorischen Schriftprinzips neu gestellt und beantwortet werden, nämlich nicht im Hinblick auf das ,Wie' von Herrschaft und Politik, sondern im Hinblick auf seine gegenstandskonstitutive Dimension, also das ,Was' und das , Warum' des Politischen im Zusammenhang mit der biblischen Heilsgeschichte.
Paul Münch (Hrsg.), „Erfahrung" als Kategorie der Frühneuzeitgeschichte. (HZ, Beihefte, NF., Bd. 31.) München 2001, 2 8 1 - 3 0 6 . 14 Walther Künneth, Politik zwischen Dämon und Gott. Eine christliche Ethik des Politischen. Berlin 1 9 5 4 , 6 5 . Vgl. auch im Anschluß an Künneth Eike Wolgast, Die Wittenberger Theologie und die Politik der evangelischen Stände. Studien zu Luthers Gutachten in politischen Fragen. (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte, Bd. 47.) Gütersloh 1977, 13: ,,[D]er ,Politiker' Luther ist ein Derivat des Theologen, der Zentralbegriffe seiner Theologie auf seine Beurteilung der Politik überträgt und versucht, Lehre und Handeln in Übereinstimmung zu bringen und zu halten".
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I. Die Ubiquität der Heiligen Schrift und die Endlichkeit der Welt D i e Erfahrungswirklichkeit der Reformatoren war, w i e oben betont, eschatologisch überformt. D i e Welt, in die sich die Reformatoren gestellt sahen und welcher sie emphatisch das Schriftprinzip entgegenstellten, stand kurz vor ihrem Untergang. Millenaristische Endzeit-Berechnungen fanden unter den Reformatoren ebenso reges Interesse wie der in der Danielprophezeiung begründete Chiliasmus oder die astrologisch-endzeitliche Semiotik der Himmelskörper. 15 Das gesamte mittelalterliche Arsenal der Naherwartung wurde i m 16. Jahrhundert in reformatorischen Kreisen aufgegriffen 1 6 , und alles deutete, w i e Luther selbst immer wieder betonte, auf eines hin: „Ich aber für mich lasse mir dar an genügen, das der Jüngste tag für der Thür sein mus, D e n n die Zeichen, so Christus verkündigt, vnd die Apostel Petrus vnd Paul, sind nu fast alle geschehen. U n d die B e w m e schlahen aus, die Schlifft grünet vnd blüet. Ob wir den Tag nicht so eben wissen können, ligt nicht dran, Ein ander mache
15 Als Auswahl aus der mittlerweile umfangreichen Literatur zu Ursprung, Bedeutung und Ausprägung des endzeitlichen Horizonts in der Reformation vgl. Will-Erich Peuckert, Die große Wende. Das apokalyptische Saeculum und Luther. 2 Bde. Hamburg 1948 (Ndr. Darmstadt 1966); Robin B. Barnes, Prophecy and Gnosis: Apocalypticism in the Wake of the Lutheran Reformation. Stanford, Cal. 1988; Heribert Smolinsky, Deutungen der Zeit im Streit der Konfessionen. Kontroverstheologie, Apokalyptik und Astrologie im 16. Jahrhundert. (Schriften der philosophisch-historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Bd. 20.) Heidelberg 2000. Zur Rolle der Astrologie im Ubergang zur Frühen Neuzeit und im Kontext der Reformation vgl. Aby Warburg, Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten (1920), in: ders., Ausgewählte Schriften und Würdigungen. Hrsg. v. Dieter Wuttke. Baden-Baden 1979, 198-304; Paola Zambelli (Ed.), .Astrologi hallucinati'. Stars and the End of the World in Luther's Time. Berlin/New York 1986; Jürgen G. H. Hoppmann (Hrsg.), Melanchthons Astrologie. Der Weg der Sternendeutung zur Zeit von Humanismus und Reformation. Wittenberg 1997. Zur weiteren Bedeutung apokalyptischer Vorstellungen im Kontext der Konfessionalisierung vgl. Volker Leppin, Antichrist und Jüngster Tag. Das Profil apokalyptischer Flugschriftenpublizistik im deutschen Luthertum 1548-1618. (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte, Bd. 69.) Gütersloh 1999; Thomas Kaufmann, 1600 - Deutungen der Jahrhundertwende im deutschen Luthertum, in: Manfred Jakubowski-Tiessen [u. a.] (Hrsg.), Jahrhundertwenden. Endzeit- und Zukunftsvorstellungen vom 15. bis zum 20. Jahrhundert. (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 155.) Göttingen 1999,73-128; Robin B. Barnes, Der herabstürzende Himmel. Kosmos und Apokalypse unter Luthers Erben um 1600, in: Manfred Jakubowski-Tiessen/Hartmut Lehmann (Hrsg.), Um Himmels Willen. Religion in Katastrophenzeiten. Göttingen 2003,129-145. 16 Vgl. zum mittelalterlichen apokalyptischen Erbe u. a. Ignaz Rohr, Die Prophetie im letzten Jahrhundert vor der Reformation als Geschichtsquelle und Geschichtsfaktor, in: Historisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft 19, 1898,447-466; Bernard McGinn, Visions of the End. Apocalyptic Traditions in the Middle Ages. New York 1979; Claude Carozzia, Weltuntergang und Seelenheil. Apokalyptische Visionen im Mittelalter. Frankfurt am Main 1996.
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es besser. Es ist gewisslich alles am Ende." 17 Die reformatorische Endzeiterwartung stellte jedoch nicht einfach eine Verlängerung, einen Kulminationspunkt der mittelalterlichen apokalyptischen Überlieferung dar. Sie nahm sie auf, transformierte sie jedoch, indem sie ihr Bezugssystem neu definierte und ein Ereignis in den Mittelpunkt stellte, das allen anderen Dingen ihre Bedeutung, ihren .endgültigen' Sinn gab: Dieses Ereignis war die Reformation selbst. Sie war als Wiederherstellung der Heiligen Schrift - ihres „Grünens" und „Blühens" - das Zentrum, durch das alle Facetten der Naherwartung Aspekte eines biblisch Imaginären, der apokalyptischen Prophezeiungen und Visionen der biblisch geoffenbarten Heilsgeschichte wurden. Die Reformation, daran bestand für ihre Protagonisten kein Zweifel, war in der Heilsgeschichte selbst verankert, als Kampf der Rechtgläubigen gegen den Antichristen kurz vor dem Jüngsten Gericht: „Um des Euangelii Willen, so itzt wieder an das Licht bracht ist und geprediget wird, hat Gott zu dieser letzten Zeit Alles vor dem jüngsten Tage wollen wieder in seinen rechten Stand, darinnen es erstlich ist gewesen und dazu es geschaffen ist, bringen und restituieren wollen [.. ,]."18 Die biblisch prophezeite Entlarvung des Antichristen (2 Thess 2; Dan 8,23-25; Dan 11,36-12,12 u.a.) gehörte deshalb nicht nur zum propagandistischen Repertoire im Kampf gegen die Altgläubigen, sondern war eine die reformatorische Weltwahrnehmung bindende und insofern erfahrungskonstitutive Imagination.19 Luthers Kampf gegen den Papst, den er seit den 1520er Jahren neben den Türken als eben diesen Antichristen identifizierte20,
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Martin Luther, Vorrede über den Propheten Daniel (1541), WA DB (Deutsche Bibel) 11,2, 1-131, hier 124, 15-20. Zu Luthers eigener Endzeiterwartung vgl. Heiko A. Oberman, Luther. Mensch zwischen Gott und Teufel. Berlin 1981; Heike Talkenberger, „Die Bewegung der himlischen schar..." Endzeitliches Denken und astrologische Zukunftsdeutung bei Martin Luther, in: „Wach auf, wach auf, du deutsches Land!" Martin Luther: Angst und Zuversicht in der Zeitenwende. Hrsg. v. Evangelischen Predigerseminar Lutherstadt Wittenberg. Wittenberg 2000, 25-47; Martin Brecht, „Die Historie ist nichts anderes denn eine Anzeigung göttlicher Werke". Martin Luther und das Ende der Geschichte, in: ebd. 10-24; Reinhard Schwarz, Weltzeit - Endzeit im Kontext der reformatorischen Theologie, in: Hellmut Zschoch (Hrsg.), Protestantismus und Kultur. Wirkungen - Spannungen - Perspektiven. (Veröffentlichungen der Kirchlichen Hochschule Wuppertal, Bd. 6.) Neukirchen-Vluyn 2002, 46-62. 18 Martin Luther, Tischreden aus Johannes Aurifabers Sammlung, WA TR (Tischreden) 6, 138, 34-39. 19 Vgl. dazu Hans Preuß, Die Vorstellungen vom Antichrist im späten Mittelalter, bei Luther und in der konfessionellen Polemik. Ein Beitrag zur Theologie Luthers und zur Geschichte der christlichen Frömmigkeit. Leipzig 1906; Volker Leppin, Luthers Antichristvorstellung vor dem Hintergrund der mittelalterlichen Konzeptionen, in: Kerygma und Dogma 45, 1999,48-63; Ingvild Richardsen-Friedrich, Antichrist-Polemik in der Zeit der Reformation und der Glaubenskämpfe bis Anfang des 17. Jahrhunderts. (Europäische Hochschulschriften, Rh. 1: Deutsche Sprache und Literatur, Bd. 1855.) Frankfurt am Main 2003. 20 Zum Hintergrund vgl. auch Scott H. Hendrix, Luther and the Papacy. Stages in a Reformation Conflict. Philadelphia 1981; zum türkischen Antichristen vgl. Marco Frensch-
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verlieh den Reformatoren, allen voran Luther selbst, eine (heils-)geschichtliche Identität. „Und hie sehen wir", so Luther in der Vorrede zum Danielbuch, „das nach dieser zeit, so der Bapst offenbart, nichts zu hoffen noch zu gewarten ist, denn der Welt ende und aufferstehung der Todten".21 Die heilsgeschichtliche Sendung des Wittenberger Reformators verdichtete sich im Bild des .Elias', der vom Propheten Maleachi (Mal 3,23) als endzeitlicher Gegner des Antichristen vorhergesagt worden war.22 Die reformatorische Adaption des Apokalyptisch-Imaginären hatte zur Folge, daß die Instituierung der Reformation sich nach Gesetzmäßigkeiten vollzog, die per definitionem außerhalb des Einflusses der Reformatoren selbst lagen. Das betraf zunächst das eigentliche theologische Anliegen, die Rückkehr zur Heiligen Schrift, zum Evangelium als einziger und allumfassender Quelle des Glaubens. Das Schriftprinzip besagte nämlich nicht, daß das Korpus kanonisierter Schriften zugunsten der ursprünglichen einen Schrift einfach abgeschafft werden sollte, um sie zum Gegenstand einer neuen Interpretation zu machen. Es intendierte vielmehr, alle Schriften, alle Interpretationen abzuschaffen und durch ein Wort, nämlich das Wort Gottes zu ersetzen. Als Wort Gottes zeichnete sich das Evangelium dadurch aus, daß es alle der Schriftlichkeit eigenen Verweisungsstrukturen dementierte, daß es eben nicht auf ein Gesagtes, Bedeutetes hinwies, sondern ein Sagen und Bedeuten war, das sich durch einen wirklichkeitsschaffenden, performativen Gehalt auszeichnete.23 Die reformatorische Schriftauslegung folgte damit einem poetologischen Schriftverständnis, das weniger auf die Aussagen als auf die Äußerungsformen abhob, die Dinge und die Wörter also nicht trennte, sondern als Ereignisse auf derselben materialen Ebene betrachtete. Die Reformation selbst war insofern nichts anderes als eine Inszenierungsform des Gotteswortes, ein heilsgeschichtliches Ereignis, durch das das Gotteswort seine performative Kraft sicherte. Als das göttlich Ausgesprochene betrachtete sich Luther auch selbst in seiner Rolle als Reformator 24 und forderte, daß jeder kowski, Die Reformation und der Islam. Die Wahrnehmung des Islam zwischen Apokalyptik und Politik in der Reformationszeit, in: Blätter für pfälzische Kirchengeschichte 70, 2003,311-332. 21 Vorrede über den Propheten Daniel, Luther, WA DB 11,2, 113, 11-12 (wie Anm. 17). 22 Hans Preuß, Martin Luther. Der Prophet. Gütersloh 1933; Robert Kolb, Martin Luther as Prophet, Teacher, Hero. Images of the Reformer, 1520-1620. Grand Rapids 1999; Wolfgang Sommer, Luther - Prophet der Deutschen und der Endzeit. Zur Aufnahme der Prophezeiungen Luthers in der Theologie des älteren deutschen Luthertums, in: ders., Politik, Theologie und Frömmigkeit im Luthertum der Frühen Neuzeit. (Forschungen zur Kirchenund Dogmengeschichte, Bd. 74.) Göttingen 1999, 155-176. 23 Vgl. zur Performanz des Gotteswortes bei Luther Werner Führer, Das Wort Gottes in Luthers Theologie. (Göttinger theologische Arbeiten, Bd. 30.) Göttingen 1984; Albrecht Beutel, In dem Anfang war das Wort. Studien zu Luthers Sprachverständnis. (Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie, Bd. 27.) Tübingen 1991. 24 Vgl. Ernst Walther Zeeden, Martin Luther und die Reformation im Urteil des deutschen
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Christ sich im Glauben (sola fide) ebenso der performativen Kraft des Gotteswortes überantwortete, die das Apokalyptisch-Imaginäre notwendigerweise in sich einschloß. Nicht, wie spätere Kirchenhistoriker meinten, als spätmittelalterlicher Überhang einer grundsätzlich dem Aspekt der Erneuerung und Bereinigung verpflichteten evangelischen Theologie25, sondern als das, was das Gotteswort als seine historische Wirklichkeit immer und unvermeidlich mit aktualisierte. So gesehen war die reformatorische Bibel-Auslegung immer auch eine Aussage zur Welt, also zum historischen Ort ihres Geltungsanspruchs. Und umgekehrt war jede reformatorische Aussage zur Welt eine Form ihrer Konstitution. Er weissage nicht gern, so faßte Luther diese im reformatorischen Schriftprinzip begründete Einheit der Wörter und Dinge zusammen: „Denn, was ich weissage, sonderlich das böse, kompt gemeiniglich mehr denn mir lieb ist, das ich auch mit S. Michael mir offt wündsche, das ich ein lügener und falscher prophet sein müste. Denn weil ich Gottes wort rede, so mus es geschehen."26 Die reformatorische Wiederentdeckung der Heiligen Schrift veränderte somit die Welt, sie beschleunigte deren Ende. Die Differenz zwischen Immanenz und Transzendenz war aufgehoben; der Wahrheitsanspruch der reformatorischen Schriftauslegung fiel mit der historischen Ereignishaftigkeit des Gotteswortes selbst zusammen. Durch dieses Zusammenfallen ließ sich die drohende Paradoxie einer nicht göttlich, sondern innerweltlich hergestellten Ubiquität des Gotteswortes aufheben. Die Vermeidung dieser Paradoxie wurde jedoch durch das Auftauchen einer anderen bezahlt. Die reformatorischen Aussagen besaßen eben keinen allgemeinen, normativen Geltungsanspruch mehr, wie sie für die scholastische Tradition kennzeichnend war.27 Reformatorische Bibelauslegung ließ sich nicht in eine zeitlose Gestalt bringen; es gab keine Möglichkeit, die Verbindlichkeit von Aussagen dogmatisch festzuschreiben.28 Die exegetisch produzierte Geschlossenheit des heilsgeLuthertums. 2 Bde. Freiburg im Breisgau 1950, hier Bd. 1, 11-20; Bernhard Lohse, Luthers Selbsteinschätzung (1985), in: ders., Evangelium in der Geschichte. Göttingen 1988, 158-175. 25 So z.B. Lohse, Luthers Theologie (wie Anm. 5), 345ff. 26 Martin Luther, Vorrede zu Johann Sütel, Das Evangelion von der grausamen, erschrecklichen Zerstörung Jerusalems (1539), WA 50, 665-667, hier 667, 14-17. 27 Vgl. dazu Rolf Schönberger, Was ist Scholastik? Mit einem Geleitwort von Peter Koslowski. (Philosophie und Religion, Bd. 2.) Hildesheim 1991. 28 Vgl. dazu aus der umfangreichen Forschungsliteratur zum Zusammenhang von reformatorischem Schrift- und Traditionsverständnis u. a. Gerhard Ebeling, „Sola scriptura" und das Problem der Tradition, in: ders., Wort Gottes und Tradition. Studien zu einer Hermeneutik der Konfessionen. Göttingen 1964, 91-143; Bengt Hägglund, Verständnis und Autorität der altkirchlichen Tradition in der lutherischen Theologie der Reformationszeit bis zum Ende des 17. Jahrhunderts, in: Tradition im Luthertum und Anglikanismus. Gütersloh 1972, 34-62, zu Luther 35ff.; Heinz Liebig, Sola scriptura - Die reformatorische Antwort auf das Problem der Tradition, in: Carl-Heinz Ratschow (Hrsg.), Sola scriptura. Ringvorlesung der Theologischen Fakultät der Philipps-Universität Marburg. Marburg
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schichtlichen Horizonts korrespondierte insofern mit einer strukturellen Offenheit und Unendlichkeit der in der Bibelauslegung begründeten reformatorischen Theologie. Reformatorische Bibelauslegung laborierte damit an Übergängen und Verschiebungen. Sie war eine Erkenntnis, die sich nicht endgültig festschreiben ließ, sondern in den Bewegungen, die sie erzeugte und nicht in den Ergebnissen, die sie brachte, ihren Sinn bekam. Diese Zeitlichkeit der. bibelexegetischen Erkenntnis machte Luther in seiner Bestimmung des Glaubens als „proficere, hoc est Semper a novo incipere"29 immer wieder deutlich: „dits leben [ist] nit ein frumkeit, sondern ein frumb werden [...], nit eyn wesßen, sunderen ein werden, nit ein rüge, sondern eyne ubunge." 30 Die in der Bibel begründete Erkenntnis bezog sich also nicht nur auf die Zeitenwende, sondern die Zeitenwende war umgekehrt auch die Form der Erkenntnis selbst - das, was mit dem Wissen geschah und epistemologisch nicht einzuhegen war.31 Darin manifestiert sich ein zweiter Aspekt des Zusammenhangs von Naherwartung und Schriftprinzip im Kontext der Reformation: Im Horizont der apokalyptischen Naherwartung wurde das Wort Gottes in der Exegese nicht einfach erkannt, sondern es wurde immer wieder neu hergestellt und aktualisiert.32 Da sich eine endgültige Wiederherstellung des Wortes Gottes allerdings per definitionem nicht leisten ließ, entwickelte sich die reformatorische Exegese im Raum einer unabgeschlossenen Dialektik zwischen dem biblischen Text und dem unendlichen seiner Wiederholung.
1977, 81-95; John M. Headley, The Reformation as Crisis in the Understanding of Tradition, in: ARG 78, 1987, 5-22; Wolf-Dieter Hauschild, Die Bewertung der Tradition in der lutherischen Reformation, in: Wolfhart Pannenberg (Hrsg.), Verbindliches Zeugnis. Bd. 1: Kanon - Schrift - Tradition. (Dialog der Kirchen, Bd. 7.) Göttingen 1992, 195-231. 29 Martin Luther, Die Vorlesung über den Römerbrief (1515/16), WA 56, 3-528, hier 486, 7. 30 Martin Luther, Grund und Ursach aller Artikel D. Martin Luthers, so durch römische Bulle unrechtlich verdammt sind (1521), WA 1, 299-457, hier 337, 30ff. Vgl. dazu auch Wilfried Joest, Gesetz und Freiheit. Das Problem des tertius usus legis bei Luther und die neutestamentliche Parainese. 3. Aufl. Göttingen 1961, 68 ff. 31 Vgl. Marcus Sandl, Martin Luther und die Zeit der reformatorischen Erkenntnisbildung, in: Arndt Brendecke/Ralf-Peter Fuchs/Winfried Schulze (Hrsg.), Die Autorität der Zeit in der Frühen Neuzeit. (Pluralisierung und Autorität, Bd. 11.) Münster 2007 [im Druck], 32 Vgl. zum Zusammenhang zwischen der apokalyptischen Geschlossenheit des reformatorischen Auslegungshorizonts und der Unendlichkeit der Bibelauslegung Marcus Sandl, Interpretationswelten der Zeitenwende. Protestantische Selbstbeschreibungen im 16. Jahrhundert zwischen Bibelauslegung und Reformationserinnerung, in: ders./Joachim Eibach (Hrsg.), Protestantische Identität und Erinnerung. Von der Reformation bis zur Bürgerrechtsbewegung in der DDR. (Formen der Erinnerung, Bd. 16.) Göttingen 2003, 27-46.
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II. Das weltliche Reich: Heilsgeschichtliche Determination und gute Ordnung Das Heilsgeschichtlich-Imaginäre der Reformation umfaßte alle Aspekte der Welt, auch und vor allem die politischen. Die Aufmerksamkeit der Reformatoren für das Politische war heilsgeschichtlich konnotiert, also immer eine semiotisch geschulte Aufmerksamkeit, eine die die Zeichen deutete.33 Die Hure Babylon, wie sie in der Johannesoffenbarung Offb 18 beschrieben wurde, bildete ein Arsenal von Wahrnehmungs- und Beschreibungsmustern des Verfalls weltlicher Ordnung - eines Verfalls, der den Jüngsten Tag nicht nur beschleunigte, sondern ihn auch in seiner inneren Logik der Abrechnung begründete.34 „Das weltliche reich" war, betrachtete man es im Horizont der heilsgeschichtlich-apokalyptischen Bibelstellen, im Prinzip, grundsätzlich und bedingungslos „eyn rechter vorlaufft der hellen und ewiges Todtes".35 Diese Interpretation weltlicher Ordnung, ja der Welt an sich, ergab sich notwendigerweise aus der heilsgeschichtlichen Emphase der reformatorischen Schriftauslegung. Im Hinblick auf die konkrete Deutung der Welt der Reformation stellte sie ein Postulat der eigenen heilsgeschichtlichen Identität dar. „Der Durchbruch des Evangeliums, das Auftreten des Antichristen und der Jüngste Tag, das alles rückt zu einer einzigen zeitlichen und sachlichen Einheit zusammen."36 Wie konkret das endzeitliche Szenario mit einem Verfall der weltlichen Ordnung gekoppelt war, zeigte sich für die lutherischen Reformatoren im Zusammenhang mit dem Auftreten der .Schwärmer' und den revoltierenden Bauern um die Mitte der 1520er Jahre. 37 Angestachelt von „falschen Propheten" hatten die „räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern" sich ge-
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Vgl. zur Alltäglichkeit und Semiotik der lutherisch-reformatorischen Endzeiterwartung auch Heike Talkenberger, Sintflut. Prophetie und Zeitgeschehen in Texten und Holzschnitten astrologischer Flugschriften 1488-1528. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 26.) Tübingen 1990; Irene Ewinkel, De monstris. Deutung und Funktion von Wundergeburten auf Flugblättern im Deutschland des 16. Jahrhunderts. (Frühe Neuzeit, Bd. 23.) Tübingen 1995. 34 Vgl. dazu mit zahlreichen Belegstellen bei Luther Hans Robert Gerstenkorn, Weltlich Regiment zwischen Gottesreich und Teufelsmacht. Die staatstheoretischen Auffassungen Martin Luthers und ihre politische Bedeutung. (Schriften zur Rechtslehre und Politik, Bd. 7.) Bonn 1956, insbes. 19ff. 35 Martin Luther, Ein Sendbrief von dem harten Büchlein wider die Bauern (1525), WA 18, 375-401, hier 389, 31-33. Weitere Belegstellen dafür fand Luther in Lk 4,5 ff., Mt 4,8 ff. und 2 Kor 4,4. 36 Ulrich Asendorf, Eschatologie bei Luther. Göttingen 1967, 215; vgl. zum theologischen Hintergrund des Folgenden auch Pierre Bühler, Kreuz und Eschatologie. Eine Auseinandersetzung mit der politischen Theologie, im Anschluß an Luthers theologia crucis. (Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie, Bd. 17.) Tübingen 1981. 37 Vgl. dazu grundlegend Karl Holl, Luther und die Schwärmer, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte. Bd. 1: Luther (1921). 6. Aufl. Tübingen 1932, 420-467.
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gen die Obrigkeit erhoben, um eine neue weltliche Ordnung zu errichten.38 Die Tatsache, daß sie die bestehende weltliche Ordnung im Namen des Evangeliums zu beseitigen strebten, verwies auf den eigentlichen Urheber und die apokalyptische Dimension des Bauernkrieges: „Da sihe, wilch eyn mechtiger fürst der teuffei ist, wie er die wellt ynn henden hat und ynneynander mengen kann. Der so bald so viel tausent bawrn fangen, verfüren, verblenden, verstokken und empören kann und mit yhn machen, was seyn aller wütigster grym für nympt." 39 Als Instrument des Teufels verkörperten die Bauern das Böse, und dementsprechend forderte Luther die Obrigkeit auf, vehement gegen sie vorzugehen.40 Im Hinblick auf die apokalyptische Dimension des Bauernkrieges erhielten die Vorgänge jedoch einen anderen, im göttlichen Heilsplan selbst angelegten Charakter. Der endzeitliche Auslegungshorizont der Reformatoren stellte nicht nur die Bauern, sondern alles Weltliche, alle Parteiungen unter den Vorbehalt, Diener des Antichristen zu sein.41 Der Aufruhr der Bauern, so sehr ihn Luther auch verurteilte, war nur eine Antwort auf den Verfall der Obrigkeit, wie der Reformator den „Fürsten und Herren" zu verstehen gab: „Wolan, weyl yhr denn ursach seyt solchs Gottes zorns, wird's on zweiffei auch über euch aufgehen [.. ,]." 42 Die weltliche Ordnung tendierte also nach reformatorischer Überzeugung grundsätzlich dazu, vom Antichristen korrumpiert und für seine eigenen Zwecke nutzbar gemacht zu werden. War die weltliche Ordnung aus den Fugen geraten, so drohte der Antichrist zu triumphieren und damit mußte, wie in Zeiten des Bauernkriegs, das göttliche Strafgericht beginnen: „Kurtz umb beyde, tyrannen und rotten, ist Gott feynd, dar38
Vgl. dazu Siegfried Bräuer, „Die Gewalt soll gegeben werden dem gemeinen Volk". Auf dem Weg zum Reich Gottes, in: „Wach a u f . . . " (wie Anm. 17), 63-85; zur Haltung der Reformatoren vgl. Paul Althaus, Luthers Haltung im Bauernkrieg (1952). 2. Aufl. Darmstadt 1962; Gunter Zimmermann, Die Antwort der Reformatoren auf die Zehntenfrage. Eine Analyse des Zusammenhangs von Reformation und Bauernkrieg. (Europäische Hochschulschriften, Rh. 3: Geschichte und ihre Hilfswissenschaften, Bd. 164.) Frankfurt am Main/Bern 1982; Christian Peters, Das Widerstandsrecht als Problem reformatorischer Theologie. Stimmen lutherischer Theologen aus dem Umfeld des Bauernkrieges, in: Robert von Friedeburg (Hrsg.), Widerstandsrecht in der Frühen Neuzeit. (ZHF, Beih. 26.) Berlin 2001, 113-140. Allgemein zum Bauernkrieg vgl. Peter Blickle, Die Revolution von 1525. 4. Aufl. München 2004. 39
Martin Luther, Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern (1525), WA 18, 344-361, hier 358, 28-32. 40 „Denn Gott sind alle ding müglich, und wyr nicht wissen, ob er vielleicht zum vorlaufft des Jüngsten tags, wilcher nicht ferne seyn will, wolle durch den teuffei alle Ordnung und oberkeyt zustören und die wellt ynn eynen wüsten hauffen werffen - So sterben doch sicher und gehen zu scheittern mit gutem gewissen, die ynn yhrem schwerd ampt funden werden und lassen dem teuffei das welltlich reich und nehmen dafür das ewige reich. Solch wunderliche zeytten sind itzt, das eyn Fürst den hymel mit blutvergissen verdienen kann, das denn andere mit beten." Ebd. 360, 34-361, 6. 41 Vgl. dazu auch Bühler, Kreuz und Eschatologie (wie Anm. 36), 240ff. 42 Martin Luther, Ermahnung zum Frieden auf die zwölf Artikel der Bauernschaft in Schwaben (1525), WA 18, 279-334, hier 294, 26-27.
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umb hetzt er sie aneinander, das sie beydes teyls schendlich umb komen und also seyn zorn und urteyl über die gottlosen volnbracht werde." 43 Der Bauernkrieg trug alle endzeitlichen Zeichen gerade deshalb in sich, weil er „beyde Gottes reich und der wellt reich betriffet" und damit unweigerlich dazu beitrug, daß „beide reich untergehen, das widder welltlich regiment noch Göttlich wort, sondern eine ewige verstörunge gantzes Deutschen landes folgen würde". 44 Ein wesentlicher Aspekt der endzeitlichen Herrschaft des Antichristen war nach reformatorischer Überzeugung, das zeigen nicht nur die reformatorischen Stellungnahmen zum Bauernkrieg, die Vermengung von Evangelium und Politik. „Zorn" in „Gotts reich setzen und barmertzickeyt ynn der wellt reich" war so, als ob man „den teuffei ynn den hymel und Gott ynn die helle setzen" wollte.45 Paulus ließ im zweiten Thessalonicherbrief keinen Zweifel daran, daß der „Endchrist" geistliches Amt und weltliche Herrschaft für sich in Anspruch nehmen würde, um das Himmelreich auf Erden zu versprechen und sich selbst damit an die Stelle Gottes zu setzen (2 Thess 2,3-4: „[...] das er sich setzt jnn den Tempel Gottes / als ein Gott / vnd gibt sich für / er sey Gott").46 So wie es prophezeit war, erklärten immer wieder „falsche Propheten" die Bibel zum Maßstab der weltlichen Ordnung und versuchten sie mit Mitteln der irdischen Gewalt durchzusetzen. Die Verweltlichung der Heilsbotschaft, ihre Übersetzung in politische Handlungsanweisungen und Heilsversprechen, war mithin ein konstitutiver Aspekt des Weltendes selbst. Die Bibel war demnach keine politische Schrift; nur in klarer Distanz zur Politik, zur weltlichen Ordnung von Herrschaft und Macht, entfaltete sich das Erlösungsversprechen des Gotteswortes. Jede Vermengung des Gotteswortes mit der weltlichen Herrschaft führte unweigerlich zu dessen Kontamination. In der Vorrede zur Johannesapokalypse betonte Luther mit Blick auf den Jüngsten Tag diese grundsätzliche Trennung der Heilsbotschaft von der Welt ausdrücklich und forderte ein entsprechendes Verhalten der Rechtgläubigen 43
Ebd. 331, 19-21. Ebd. 292, 31-35. Luthers Rede vom Untergang beider Reiche ist an dieser Stelle etwas irreführend. Im Falle von Gottes Reich dürfte er sich hier wohl auf die innerweltliche Verkündigung des wahren Gotteswortes beziehen und somit auf den drohenden Verlust des Erlösungsversprechens anspielen. 45 Luther, Ein Sendbrief von dem harten Büchlein (wie Anm. 35), WA 18, 390, 6-9. 46 Die Identifizierung des Antichrists konnte somit neben dem Papst und den Türken auch die Schwärmer und Bauern umfassen. Es gab trotz unterschiedlicher Ansätze einen gemeinsamen Grundirrtum hinsichtlich der Trennung von Evangelium und Welt, von Geist und Leib: „Denn alle menschen sind lügener, Der Bapst hat auch so gelogen. Aber seyn geyst hat mehr gehandelt, das er das geystliche leyblich machte, wie er die geystliche Christenheyt eyne leybliche, eusserliche gemeyne macht. Dieser rotten geyst widderumb damit am meysten umbgeht, das er geystlich mache, was Gott leyblich und eusserlich macht." Martin Luther, Wider die himmlischen Propheten, von den Bildern und Sakrament (1525), WA 18, 37-214, hier 181, 30-34. 44
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ein: „Summa, vnser heiligkeit ist im Himel, da Christus ist, vnd nicht in der weit für den äugen, wie ein kram auff dem marckt. Darumb las ergernis, Rotten, Ketzerey, vnd gebrechen sein vnd schaffen, was sie mögen. So allein das wort des Euangelij bey uns rein bleibt [.. ,]."47 Luther diagnostizierte damit einen Mißbrauch des Gotteswortes in der Welt und nahm diesen Mißbrauch gleichzeitig als Ausweis der eigenen Rechtgläubigkeit im Kontext der biblisch begründeten Naherwartung. Was sich innerhalb des heilsgeschichtlichen Narrativs als zwei miteinander im Kampf befindliche Gewalten, als Gut und Böse, zusammenfügte, mußte theologisch genau deshalb klar geschieden werden. Theologisch basierte die Zwei-Reiche-Lehre auf dem Neuen Testament, insbesondere auf Rom 5 und 1 Kor 15,22, wo Paulus den Gegensatz von Adam und Christus behandelte, sowie auf Joh 18,36-37 („[...] meyn reych ist nit von der weit")- Exegetisch ließ sich demnach anhand der gerade für die reformatorische Theologie zentralen Paulusbriefe und des Johannesevangeliums belegen, daß das Reich Gottes in keiner Weise mit dem Reich des „Gottes dieser Welt" (2 Kor 4,4) - dem Teufel - verwechselt werden durfte. Was Luther mit der Zwei-Reiche-Lehre zu lösen trachtete, war aber auch ein epistemologisches Problem, das dadurch entstand, daß die Bibel als Wort Gottes der Welt einerseits vorauslag, ja ihre Möglichkeitsbedingung war, und andererseits aufgrund ihrer konkreten textuellen Materialität doch auch einen Horizont innerweltlicher Auslegungs- und Gestaltungsoptionen absteckte. Diese Auslegungs- und Gestaltungsoptionen mußten notwendigerweise an dem Punkt enden, an dem die Bibel in einen Selbstwiderspruch gebracht wurde: Das Wort Gottes durfte nicht gegen das heilsgeschichtlich Notwendige, das biblisch Determinierte instrumentalisiert werden. Die Strafe für die Erzeugung dieses Paradoxes war die Verdammnis am Jüngsten Tag. Der unbedingte Gehorsam gegenüber der Obrigkeit, den Luther von einem wahren Christen forderte, fand hierin seine Begründung. So sei es im Römerbrief (Rom 13,1) festgeschrieben: „Denn es ist keyn gewallt on von Gott; die gewallt aber, die allenthalben ist, die ist von Gott verordnet. Wer nu der gewalt widderstehet, der widersteht gottis Ordnung; wer aber gottis Ordnung widderstehet, der wirt 47
Martin Luther, Vorrede auf die Offenbarung S. Johannis (1546), WA DB 7, 4 0 7 ^ 2 1 , hier 421, 10-17. Luther war ursprünglich - so in der Vorrede in der ersten Ausgabe des Neuen Testaments von 1522 - keineswegs von der Kanonizität der Johannesoffenbarung überzeugt und teilte die Zweifel, die u. a. auch Erasmus in seinen „Annotationes" (1516) an der Autorschaft von Johannes artikulierte. Diese offenen Zweifel finden sich schon in den 1520er Jahren immer weniger; seitdem spielte die Johannesoffenbarung für Luthers heilsgeschichtliche Deutung der Welt, vor allem für die Identifizierung des päpstlichen Antichristen, eine große Rolle. Vgl. dazu Hans U. Hofmann, Luther und die Johannes-Apokalypse. Dargestellt im Rahmen der Auslegungsgeschichte des letzten Buchs der Bibel und im Zusammenhang der theologischen Entwicklung des Reformators. (Beiträge zur Geschichte der biblischen Exegese, Bd. 24.) Tübingen 1982.
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yhm selb das verdamnis erlangen." 48 Obrigkeit mußte demnach von wahren Christen auch in ihren Verfallsformen erlitten werden, um das Erlösungsgeschehen nicht zu gefährden: „Das die oberkeyt bose und unrecht ist, entschuldigt keyn rotterey noch aufrühr [.. .]." 49 Das weltliche Reich war mithin das andere, das sich als Reich des Bösen der heilsgeschichtlichen Erlösungsbewegung entgegenstellte, gleichzeitig aber insofern mit ihr in Verbindung stand, als es in dieser Antithetik eben nicht jenseits der göttlichen Ordnung stand, sondern als solches von Gott eingesetzt war. 50 Luther trennte auf zwei Ebenen zwischen dem geistlichen und dem weltlichen Reich. 51 Zunächst im Hinblick auf die in Gottes Ordnung jeweils begründete innere Einheit und Funktion der beiden Reiche: „Gotts reich ist eyn reich der gnaden und barmhertzickeyt und nicht eyn reich des zoms odder straffe, denn daselbs ist eytel vergeben, schonen, lieben, dienen, wolthun, frid und freude haben etc. Aber das welltlich reich ist eyn reich des zorns und ernsts, denn da selbst ist eytel straffen, weren, richten und urteylen [.. .]." 52 In dieser Differenz der beiden inneren Einheiten artikulierte sich, und das war Luthers zweite Ebene der Unterscheidung der beiden Reiche, eine epistemologische Differenz, die das Verhältnis der jeweiligen Ordnung zu den Prinzipien ihrer Erkenntnis und Herstellung betraf. Während das geistliche auf der Einsetzung und Wiederholung des Gotteswortes beruhte und damit der Emergenz einer heiligen Zeit - einer Zeitenwende - entsprach, wurde das weltliche durch eine funktionale Logik bestimmt, in welcher einsinnig-lineare Ursache-Wirkungsbeziehungen und klare Hierarchien bestimmend waren. 53 48
Luther, Von weltlicher Oberkeit (wie Anm. 11), 247, 24-27. Weitere Referenzstellen für Luthers Lehre von der göttlichen Einsetzung der weltlichen Gewalt sind 1 Petr 2,13 f., Gen 4,14f„ Gen 9,6, sowie Ex 21,14 u. 23 ff. 49 Luther, Ermahnung zum Frieden (wie Anm. 42), 303, 13-14. 50 Luther, Ein Sendbrief von dem harten Büchlein (wie Anm. 35), 391, 30-32: „Drumb hat die schrifft feyne, reyne äugen und sihet das welltlich schwerd recht an, als das aus grosser barmhertzickeyt mus unbarmehrtzig seyn und für eytel gute zorn und ernst üben [...]." 51 Zur Zwei-Reiche-Lehre gibt es eine umfangreiche Literatur; grundlegend dazu Franz Lau, Luthers Lehre von den beiden Reichen. (Luthertum, Bd. 8.) Berlin 1953; Heinrich Bornkamm, Luthers Lehre von den zwei Reichen im Zusammenhang seiner Theologie (1958). 3. Aufl. Gütersloh 1969; Ulrich Duchrow, Christenheit und Weltverantwortung. Traditionsgeschichte und systematische Struktur der Zweireichelehre (1970). (Forschungen und Berichte der evangelischen Studiengemeinschaft, Bd. 25.) 2. Aufl. Stuttgart 1983. Zur Diskussion um die Lehre von den zwei Reichen vgl. Gunther Wolf(Hrsg.), Luther und die Obrigkeit. (Wege der Forschung, Bd. 85.) Darmstadt 1972. Zur neueren Diskussion, die die Zwei-Reiche-Lehre in einen größeren historischen Zusammenhang stellt, vgl. v. a. Erwin Iserloh/Gerhard Müller (Hrsg.), Luther und die politische Welt. Wissenschaftliches Symposium in Worms vom 27.-29. X. 1983. Stuttgart 1984, sowie Luise Schorn-Schütte, Luther und die Politik, in: Lutherjahrbuch 71, 2004, 103-113. 52 Luther, Ein Sendbrief von dem harten Büchlein (wie Anm. 35), 389, 19-23. 53 Zur fundamentaltheologischen Interpretation der Zwei-Reiche-Lehre im Horizont von Gesetz und Evangelium vgl. Gerhard Ebeling, Die Notwendigkeit der Lehre von den zwei Reichen, in: ders., Wort und Glaube. Bd. 1. 3. Aufl. Tübingen 1967, 407-428.
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Das weltliche Reich folgte den Gesetzen des Zwangs, des Gehorsams und des Befehls, und eben nicht denen des Glaubens und der Erlösung. Es verhielt sich zum Glauben neutral, hatte mit christlichen Grundsätzen also zunächst einmal nichts zu tun und war ein Reich eigener Ordnung, ja eines, in dem das Christsein keine besondere Bedeutung besaß. Ebenso wie „Heyden, Türcken und Juden" mußten auch Christen dem weltlichen Recht gehorchen, „soll anders fride und Ordnung ynn der wellt bleyben". 54 Und auch die Obrigkeit, der man in der Welt unterworfen war, verhielt sich gegenüber dem Glauben indifferent. Sie war nur irdischen Gesetzen verpflichtet. Dementierte das reformatorische Schriftprinzip mithin die politisch-weltliche Dimension der biblischen Heilsbotschaft, so ermöglichte es doch oder gerade deshalb elaborierte Überlegungen zur Praxis weltlicher Ordnung. Die innerweltliche Antithetik war durch die Pole von Ordnung und Chaos, von Sicherheit und Friedlosigkeit abgesteckt. Gemessen an diesen Vorgaben ließen sich durchaus politische Kategorien etablieren, die es erlaubten, zwischen einem guten und einem schlechten Regiment zu unterscheiden und gleichzeitig Maßstäbe der Beschreibung von Herrschaft zu entwickeln, die sich aus dem Kontext ihres konkreten Aufgabengebiets ergaben. Nicht der Glaube, sondern die Vernunft war hierbei das wesentliche Kriterium. Herrschaft sollte „vernunftig" ausgeübt werden, d. h. stets dem Zweck der Herstellung von Recht und Ordnung verpflichtet sein und die entsprechenden Mittel nutzen. Ein gutes Regiment war demnach durch die Herstellung von Ordnung mit den Mitteln weltlicher Gewalt gekennzeichnet - „zu zwingen die bösen und zu schützen die frommen, darumb hat es auch und füret das schwerd, und eyn fürst odder herr heysst Gotts Zorn odder Gottis rate ynn der schlifft Esa. xiiij." 55 In dieser Funktion war es ein Werkzeug Gottes - und dabei „nicht", wie Luther feststellte, „das geringste Stück göttlicher Barmherzigkeit".56 Die Differenz von geistlichem und weltlichem Reich als Postulat des reformatorischen Erlösungsbegriffs produzierte somit eine Differenz in der Erkenntnis des weltlichen Reiches selbst - zwischen guter weltlicher Ordnung und heilsgeschichtlicher Determination zum Bösen.57
54
Luther, Ermahnung zum Frieden (wie Anm. 42), 307, 24-25 Luther, Ein Sendbrief von dem harten Büchlein (wie Anm. 35), 389, 23-26. 56 Ebd. 390, 20-22: „Wie wol aber solcher ernst und zom des welltlichen reichs eyn unbarmhertig ding scheynet, wo mans doch recht ansihet, ists nicht das geringste stück Gottlicher barmhertzickeyt [...]." 57 Vgl. zur theologischen Interpretation dieser Doppeldeutigkeit des weltlichen Reichs Ebeling, Notwendigkeit (wie Anm. 53), 416: ,,[D]as regnum mundi [kommt] gegenüber dem regnum Christi in doppelter Weise in Betracht. Wir können auch sagen: Das regnum mundi als Anspruch der Welt steht zum regnum Christi als Anspruch Christi auf die Welt in einer doppelten Relation, einer kontradiktorischen (der Ausschließlichkeit) und einer konträren (des Nebeneinanders), oder, wie wir lieber sagen wollen: einem Verhältnis des Widersprechens und einem Verhältnis des Entsprechens." 55
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III. Die Herrschaftsökonomie der Apokalypse Die reformatorische Verzeitlichung des Politischen Das weltliche Reich stand damit im Zeichen einer ebenso grundsätzlichen wie ausschließenden Differenz. In dieser Differenz nun entfaltete sich im Laufe des 16. Jahrhunderts eine eigene Logik der Herrschaft, die von den Reformatoren diskursiv eingeholt wurde. Denn wenngleich die Apokalypse nicht aufzuhalten war, so beinhaltete das weltliche Regiment als Gutes doch alle Optionen, die Naherwartung zumindest zu entschleunigen. Die gute weltliche Ordnung zögerte das Ende, dessen Signatur sie immer schon trug, gewissermaßen hinaus. In der Spannung zwischen heilsgeschichtlicher Determination und guter weltlicher Ordnung entstand damit so etwas wie ein Blick für die Zeitlichkeit von Herrschaft.58 Diese Verzeitlichung stand freilich noch nicht unter den Vorzeichen des Utopischen, wie dies seit dem 18. Jahrhundert der Fall war, doch sie nahm diese, wenngleich unter entgegengesetzten Vorzeichen, in gewisser Hinsicht vorweg.59 Denn sie ging einher mit einem neuen Sinn für das Politische, also für die Prozessualisierungsformen von Herrschaft und Macht in bezug auf ihre tatsächlichen, konkreten Voraussetzungen. Dies beinhaltete einerseits eine faktische Ausrichtung auf eine neue, nämlich wesentlich auf Erfahrung abstellende Konzeption von Politik. Andererseits ließ sich auf dieser Basis ein spezifisch reformatorischer Zusammenhang zwischen der Unendlichkeit des Gotteswortes, der die reformatorische Theologie hermeneutisch verpflichtet war, und einem dem Gegenwärtigen und Präsentischen verpflichteten innerweltlichen Handeln des Christen herstellen. Die Verzeitlichung der Politik, die reformatorische Konzeption des Politischen, zeigt sich weniger in grundsätzlichen theologischen Begründungen als vielmehr situativ und in bezug auf konkrete Herausforderungslagen. Ihr Genre ist die Predigt, die Flugschrift und vor allem das politische Gutachten, das von Luther und anderen Wittenberger Reformatoren von Seiten fürstlicher 58
Diese Spannung beruhte damit gerade nicht auf der überkommenen, aus 2 Thess 2 entwickelten politisch-theologischen Gedankenfigur vom Heiligen Römischen Reich als katechon des Antichristen. Es ging nicht darum, die Zeit aufzuhalten. Luther lehnte diese Gedankenfigur folgerichtig ab, ja stellte sogar zwischen der römischen Kirche als Institution des Antichristen und dem Römischen Reich eine enge Verbindung her. Vgl. z.B. Martin Luther, Ad librum eximii Magistri Nostri Magistri Ambrosii Catharini, defenseris Silvestri Prieratis acemmi, responsio (1521), WA 7, 698-778, hier 764, 4 ff. 59 Dazu Reinhart Koselleck, Die Verzeitlichung der Utopie, in: ders., Zeitschichten. Studien zur Historik. Frankfurt am Main 2000,131-149, sowie Hans-Jürgen Goertz, Ende der Welt und Beginn der Neuzeit. Modernes Zeitverständnis im „apokalyptischen Saeculum": Thomas Müntzer und Martin Luther. (Veröffentlichungen der Thomas-Müntzer-Gesellschaft, Bd. 3.) Mühlhausen 2002. Allgemein zu Endzeiterwartung, Verzeitlichung und Moderne auch Johannes Fried, Aufstieg aus dem Untergang. Apokalyptisches Denken und Entstehung der modernen Naturwissenschaft im Mittelalter. München 2001.
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und städtischer Obrigkeiten immer wieder angefordert und auch bereitwillig gegeben wurde. Jenseits der grundsätzlichen Überlegungen zur prinzipiellen Trennung beider Reiche äußerten sich die Reformatoren hier zu Fragen der Handlungsoptionen von Fürsten und reichsstädtischen Obrigkeiten gegenüber Kaiser und Reich, der Umgestaltung des Kirchenwesens oder Fragen der sozialen und wirtschaftlichen Verfassung.60 Sie übernahmen diese Gutachtertätigkeit nicht als Politiker, sondern als Theologen, mithin im Rahmen ihrer seelsorgerischen Verantwortung, die selbstverständlich auch die Obrigkeit umfaßte.61 Eine Kontamination zwischen geistlichem und weltlichem Reich wurde dadurch formal ausgeschlossen; inhaltlich zeichnete sich diese Form reformatorischer ,Politikberatung' natürlich dadurch aus, daß tagespolitische Ereignisse und konkrete Fragen politischen Handelns und Verhaltens im Horizont bibelexegetischer Erkenntnisse reflektiert wurden.62 Die Reformatoren referierten dabei einen kleinen und im wesentlichen klassischen Kanon von Bibelstellen aus dem Alten und Neuen Testament, vor allem die loci classici der biblischen Obrigkeitslehre (Rom 13,1 ff.; 1 Petr 2,13) sowie (meist alttestamentarische) Exempel des Glaubens und Unglaubens als abgeschlossene Narrative konkreter politischer Handlungs- und Verhaltensmuster.63 Blieb die Auswahl biblischer Referenzstellen damit im Rahmen des Überkommenen, so galt dies jedoch nicht für den Modus der Implementierung des Gotteswortes in den tagespolitischen Kontext. Charakteristisch für die reformatorischen Gutachten war, daß der Gegensatz zwischen der Unendlichkeit des Gotteswortes und der letztlich zum Bösen determinierten und damit endlichen Welt nie endgültig gelöst wurde. Das hieß konkret, 60
Vgl. neben Wolgast, Wittenberger Theologie (wie Anm. 14), v. a. Luise Schorn-Schütte, Politikberatung im 16. Jahrhundert, in: Armin Kohnle/Frank Engehausen (Hrsg.), Zwischen Wissenschaft und Politik. Studien zur deutschen Universitätsgeschichte. Festschrift für Eike Wolgast zum 65. Geburtstag. Stuttgart 2001,49-66, sowie dies., Kommunikation über Herrschaft (wie Anm. 12), 77 ff., mit einer fundierten Analyse des institutionellen und biographischen Gesamtzusammenhangs der protestantischen Politikberatung im 16. Jahrhundert. Zu Luthers Gutachtertätigkeit speziell vgl. auch Hermann Kunst, Evangelischer Glaube und politische Verantwortung. Martin Luther als politischer Berater seiner Landesherren und seine Teilnahme an den Fragen des öffentlichen Lebens. Stuttgart 1976. Für die Zeit nach Luthers Tod vgl. Günther Wartenberg, Theologischer Ratschlag in Zeiten politischen Umbruchs. Die Wittenberger Theologen und ihre Landesherren 1546/47, in: Anselm Doering-Manteuffel/Kurt Nowak (Hrsg.), Religionspolitik in Deutschland von der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Martin Greschat zum 65. Geburtstag. Stuttgart 1999, 29-50. 61
Vgl. Wolgast, Wittenberger Theologie (wie Anm. 14), 285 ff. Vgl. dazu die Quellensammlung mit politischen Gutachten verschiedener protestantischer Theologen von Heinz Scheible (Hrsg.), Das Widerstandsrecht als Problem der deutschen Protestanten 1523-1546. (Texte zur Theologie- und Kirchengeschichte, Bd. 10) Gütersloh 1969. 63 Vgl. dazu ausführlich Wolgast, Wittenberger Theologie (wie Anm. 14), 22f.; Gerta Scharffenorth, Römer 13 in der Geschichte des politischen Denkens. Ein Beitrag zur Klärung der politischen Traditionen in Deutschland seit dem 15. Jahrhundert. Diss. phil. Heidelberg 1964; zu Luther und Melanchthon 54 ff.
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daß die Möglichkeit einer endgültigen guten weltlichen Ordnung vehement dementiert wurde und diese somit als metaphysische oder perspektivische Begründungsform politischen Handelns keine Rolle spielte. Das Politische ließ sich aus reformatorischer Sicht weder aus einem transzendenten Regelwerk heraus begründen noch auf allgemeingültige ordnungspolitische Ideale oder sakrale Modelle zurückbeziehen. Die reformatorischen Gutachten zielten vielmehr auf die je konkrete politische Wirklichkeit ab und argumentierten mithin situationsbezogen.64 Das Politische erschien somit als ein Bereich des Punktuellen und Präsentischen; die Gegenwart war der Ort des politischen Handelns, und sie stellte alle Bedingungen seiner Möglichkeit bereit. Denn nur die Absage an eine perspektivisch den Augenblick transzendierende Letztbegründung der Politik sicherte aus reformatorischer Sicht die Omnipotenz des Gotteswortes - seine wirklichkeitskonstitutive Qualität, die sich im Sinne des heilsgeschichtlichen Erlösungsversprechens mit menschlichen Mitteln nicht einholen ließ. 65 Die Differenz von Gotteswort und Welt mußte also erhalten bleiben, ihre Einheit war nur im Sinne eines simul möglich, d. h. als Völlzugsweise der in Christus selbst begründeten Doppelnatur des Menschen (simul iustus et peccator).66 Im Hinblick auf die Praxis politischen Handelns hatte diese Konzeption zum einen die Konsequenz, daß die Reformatoren auf Handlungskonzeptionen des Aufschubs und Abwartens, also auf Strategien des „Temporisie-
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Freilich gab es auch Unterschiede zwischen den Positionen der einzelnen Reformatoren. Insbesondere Melanchthon benutzte immer wieder auch klassisch-antike Begründungsformeln politischer Herrschaft. Umgekehrt hielt er jedoch stets an der heilsgeschichtlichen Determination des weltlichen Reichs fest und blieb damit innerhalb des für die Reformation charakteristischen Horizonts einer situationsbezogenen und aktualistischen Politikkonzeption. Vgl. dazu Eike Wolgast, Melanchthon als politischer Berater, in: Hans Christof Brennecke/Walter Sparn (Hrsg.), Melanchthon. Zehn Vorträge. (Erlanger Forschungen, Bd. 85.) Erlangen 1998,179-208; Martin Petzold, Politisches Handeln bei Luther und Melanchthon, in: Günther Wartenberg/Matthias Zentner (Hrsg.), Philipp Melanchthon als Politiker zwischen Reich, Reichsständen und Konfessionsparteien. Wittenberg 1998, 23-36. Zu den Unterschieden der Wittenberger Theologen am Beispiel der Gutachten und Traktate zum Bauernkrieg vgl. Peters, Widerstandsrecht (wie Anm. 38), 118 ff. 65 „Aus dieser Überzeugung, daß die Zukunft ganz in der Gewalt Gottes und nicht der Menschen steht, folgt bei Luther für die Beurteilung politischer Vorgänge, daß er jede Zwangsläufigkeit auch bei scheinbar eindeutig angelegten Entwicklungen negiert, mit der Folge, daß er nur selten wirkliche Entscheidungssituationen, die nezessitär auf einen bestimmten Punkt hinzielen, anerkannt hat. Gegen die politisch-rationale Beurteilung setzt er die Haltung und das Vertrauen des ,interim fiet aliquid'." Wolgast, Wittenberger Theologie (wie Anm. 14), 35. 66 Vgl. dazu neben ebd. 33ff., auch Kjel Ove Nilsson, Simul. Das Miteinander von Göttlichem und Menschlichem in Luthers Theologie. (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte, Bd. 17.) Göttingen 1966, insbes. 192ff.; Wilfried Joest, Paulus und das Lutherische Simul Iustus et Peccator, in: Kerygma und Dogma 1, 1955, 269-320.
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rens" 67 setzten. Zum anderen forderten sie dazu auf, den Augenblick zu nutzen, d.h. günstige Gelegenheiten zu erkennen und für die Wirksamkeit des Gotteswortes situativ und kontextbezogen einzutreten. Insofern blieb die reformatorische Konzeption des Politischen immer eine der Bewegung, die nicht mit einer kontemplativen Abwendung von der Welt identisch war. Der Entwurf des Politischen aus dem simul führte auch nicht dazu, daß sich Politik ablöste von grundsätzlichen Erwägungen. Luther selbst bezog sich immer wieder auf sein Gewissen als Richtschnur adäquaten und richtigen Verhaltens.68 Damit überformte er die jeweilige situationsbedingte Entscheidung im Hinblick auf eine zeitlose Instanz, die innere Wahrheit und subjektiv definierte Rechtschaffenheit. Und gleichzeitig appellierte er an die Entscheidungsträger, sich demselben Urteil ihres eigenen Gewissens zu unterwerfen und dies zum Maßstab ihres Handelns zu machen. Dies galt in einem doppelten Sinne: Alle Maßnahmen mußten vor der Instanz des eigenen Gewissens standhalten können, und sie konnten dies nur insofern, als das Gewissen selbst als Instanz des rechten Glaubens aller Christen vor herrschaftlichem Eingriff geschützt, also die Freiheit des Gewissens aller Gläubigen sichergestellt wurde.69 Das Gewissen wurde somit in einem umfassenden Sinne zur normativen Instanz des politischen Handelns. Im Gewissen fielen die Zeitdimensionen von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft zusammen, so daß sich politische Entscheidungen jenseits eines auf die Zukunft oder universale Ordnungsmodelle gerichteten Kalküls, aber dennoch in einer prinzipiellen Weise begründen ließen. Für die Bestimmung dessen, was als politischer Kompetenzbereich nun in den Blick rückte, bedeutete die Gewissensorientierung zum einen eine Einschränkung, die mit der strikten Trennung des geistlichen und weltlichen Reiches korrespondierte. Es ging in der reformatorischen Herrschaftslehre nicht mehr um die Regierung von Seelen, denn „über die seele kan und will", wie Luther schon in seiner Obrigkeitsschrift von 1523 unter Rekurs auf Mt 16,18 und Joh 10,4 f. festgestellt hatte, „Gott niemant lassen regirn denn sich selbs alleyne [...]: Darumb wo welltlich gewallt sich vermisset, der seelen gesetz zu geben, do greyfft sie Gott ynn seyn regiment, und verfuret und verderbet nur die seelen".70 Dieses Verschwinden der Seele als Gegenstand weltlichen 67
So der treffende Ausdruck von Eike Wolgast. Vgl. Wolgast, Wittenberger Theologie (wie Anm. 14), 36. Vgl. Yrjoe J. E. Alanen, Das Gewissen bei Luther. Helsinki 1934; allg.: Heinz D. Kittsteiner, Die Entstehung des modernen Gewissens. Frankfurt am Main 1991. 69 Zur Verknüpfung des Freiheitsbegriffs mit der Vorstellung von Gewissensfreiheit vgl. Klaus-Michael Kodalle, Institutionen - Recht - Politik im Denken Martin Luthers, in: Gerhard Göhler (Hrsg.), Politische Institutionen im gesellschaftlichen Umbruch. Ideengeschichtliche Beiträge zur Theorie politischer Institutionen. Opladen 1990, 140-159, und Nitschke, Einführung (wie Anm. 5), 16-21. 70 Luther, Von weltlicher Oberkeit (wie Anm. 11), 262, 9-12. 68
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Regierungshandelns beinhaltete einen grundsätzlichen Vorbehalt der reformatorischen Herrschaftslehre: „Weyl es denn eym iglichen auff seym gewissen ligt, wie er glewbt odder nicht glewbt, und damit der welltlichen gewallt keyn abbrach geschieht, soi sie auch zu friden seyn und yhrs dings wartten und lassen glewben sonst oder so, wie man kann unnd will, und niemant mit gewallt dringen."71 Der Glaubensvorbehalt führte nun allerdings nicht dazu, daß die Reichweite politischer Herrschaft einfach kleiner wurde. Im Gegenteil beinhaltete er zum anderen ein expansives Moment hinsichtlich dessen, was als Feld des Politischen nun in den Blick kam. Das Verschwinden der Seelen als Gegenstand politischen Ordnungs willens gab den Blick frei auf die Menschen in allen Facetten ihrer weltlichen Lebensäußerungen. Zum weltlichen Regiment zählten nach Luther nicht nur „weltliche rechte und gesetze", sondern auch „sitten und gewonheite, geberden, stende, unterscheidene empter, person, kleider etc.".72 Die Gesamtheit aller Lebensbereiche wurde damit als Raum politischer Gestaltung ausgewiesen, was eine im Vergleich zu vorreformatorischen Herrschaftslehren immense Ausweitung bedeutete. Unter den Bedingungen der heilsgeschichtlichen Zeitenwende korrespondierte somit die Abgrenzung und Sicherung eines geistlichen Bereichs des Erlösungsgeschehens mit der Reflexion auf die Voraussetzungen, den Gegenstand und die Ziele des weltlichen Regiments, die die Menschen und Dinge der Welt in eine neue Beziehung zueinander stellte. Die reformatorische Lehre des weltlichen Regiments entkoppelte zwar die politische Reflexion nicht von der Person des Fürsten und der Obrigkeit im allgemeinen, sie bestimmte ihren Gegenstand jedoch auch nicht mehr allein von einem Herrschaftsbegriff bloß ordnungspolitischer Machtausübung her. Wenngleich die Friedenssicherung mithilfe des Schwerts oberste Priorität besaß, postulierten die Reformatoren nun auch einen Gestaltungsauftrag, der die Beziehungen der Menschen untereinander sowie der Menschen und der Dinge, die sie umgaben und mit welchen sie umgingen, umfaßte. 73 Es galt dafür zu sorgen, daß „land und leute wol stehen ym friden und zu nehmen an gütern, haus, hoff,
71
Ebd. 264, 16-19. Martin Luther, Der Prophet Sachaija ausgelegt (1527), WA 23,477-664, hier 514, 1-3. 73 Darin liegt ein entscheidender Unterschied zu Machiavellis „II principe". Im Mittelpunkt von Machiavellis politischer Theorie steht die Geschicklichkeit des Fürsten, die er im Hinblick auf die Erhaltung des Fürstentums entfaltet. Es geht um die Sicherung und Erhaltung der Souveränität. Im Falle Luthers und des reformatorischen Politikverständnisses dagegen steht eine Regierungskunst im Mittelpunkt, die nicht auf die Souveränität des Fürsten (und die bloß machtpolitische Erhaltung des Staates) zielt, sondern das Feld des Politischen in den Beziehungen lokalisiert, die nicht nur zwischen Fürst und Untertanen, sondern auch zwischen den Untertanen selbst und ihrem Verhältnis zu den sie umgebenden Dingen bestehen. Vgl. zu dieser politisch-theoretischen Differenz und ihrer frühneuzeitlichen Geschichte Michel Foucault, Die Gouvernementalität, in: ders., Analytik der Macht. Hrsg. v. Daniel Defer u. François Ewald. Frankfurt am Main 2005, 148-174. 72
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weib, kind, gesind und was mehr weltlich ist". 7 4 Z u m Aufgabengebiet der Obrigkeit gehörte demnach nicht nur die Rechtspflege, sondern das gesamte materielle Leben von der Armenfürsorge über die wirtschaftliche Ordnung, w i e beispielsweise die Abschaffung von Monopolen und das Verbot des Wuchers, bis hin zur Sittenzucht, dem Kleiderluxus und der Kindererziehung. Potentiell fiel jeder Bereich der Welt in die Zuständigkeit des weltlichen Regiments. 7 5 Zwei Tendenzen kennzeichnen also die reformatorische Konzeption des Politischen: Einerseits die Rückbindung an die Instanz des Gewissens, mithin an ein Moment der Individualität, der ,inneren' Wahrheit und subjektiven Wahrhaftigkeit, andererseits die Ausweitung des Feldes politischer Macht auf die Gesamtheit der Beziehungen von Menschen und Dingen. Beides konvergierte in einem Modell, das die Zwei-Reiche-Lehre ergänzte und sie gleichzeitig transzendierte, da es eine Perspektive auf die Ökonomie der Herrschaft, ihre konkreten Voraussetzungen und Möglichkeiten, öffnete und damit ein neues Realitätsniveau etablierte: D i e s war die Lehre von den drei Ständen, in welcher zwischen der weltlichen Obrigkeit, der oeconomia
der Familie mit
dem Hausvater an der Spitze und der Geistlichkeit unterschieden wurde. 7 6 Weit weniger elaboriert als die Zwei-Reiche-Lehre tauchte die Drei-StändeLehre in der Regel im Zusammenhang mit konkreten Fragen weltlicher Ordnung oder i m Rahmen der protestantischen Ratgeber- und Hausväterliteratur
74
Martin Luther, Ein Bericht an einen guten Freund von beider Gestalt des Sakraments aufs Bischof zu Meißen Mandat (1528), WA 26, 555-618, hier 587, 28 ff. 75 Vgl. auch Ebeling, Notwendigkeit (wie Anm. 53), 414f.: „Unter das regnum mundi fällt die ganze Wirklichkeit extra Christum, und das heißt extra fidem; nicht bloß ihr politischer Aspekt, sondern im weitesten Sinne alles, was den Menschen angeht, also alles, was mit seiner ratio, aber auch alles, was mit seinem Willen und seinen Leidenschaften zu tun hat, und darum schlechthin alles von der geringfügigsten menschlichen Tätigkeit bis zu Wissenschaft, Moral und Religion." 76 Luther leitete die Einsetzung von Hausstand und Kirche aus dem Gebot Gen 2,16f. ab. Erst nach dem Sündenfall sei dagegen die Einsetzung einer weltlichen Obrigkeit (politia) notwendig geworden. Vgl. Martin Luther, Genesisvorlesung (1544), WA 42, 1-673, hier 79, 1-19. Die Drei-Stände-Lehre hat in der Forschung lange Zeit weit weniger Aufmerksamkeit als die Zwei-Reiche-Lehre gefunden. Erst in jüngster Zeit trat sie verstärkt in den Mittelpunkt des Interesses, u. a. da sie als ein wichtiges Korrektiv zur These von der lutherischen Obrigkeitsfrömmigkeit erschien. Vgl. dazu Luise Schorn-Schütte, Die DreiStände-Lehre im reformatorischen Umbruch, in: Bernd Moeller (Hrsg.), Die Reformation als Umbruch. (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte, Bd. 199.) Gütersloh 1998, 435^161; dies., Luther und die Politik (wie Anm. 51), 103ff.; dies., Evangelische Geistlichkeit (wie Anm. 12), 390ff.; Reinhard Schwarz, Luthers Lehre von den Drei Ständen und die drei Dimensionen der Ethik, in: Lutheijahrbuch 45,1978,15-34; ders., Ecclesia, oeconomia, politia. Sozialgeschichtliche und fundamentalethische Aspekte der protestantischen Drei-Stände-Theorie, in: Renz/Graf (Hrsg.), Troeltsch-Studien. Bd. 3 (wie Anm. 8), 78-88; Peter Manns, Luthers Zwei-Reiche- und Drei-Stände-Lehre, in: Erwin Iserloh/Gerhard Müller (Hrsg.), Luther und die politische Welt. Wissenschaftliches Symposion in Worms vom 27. bis 29. Oktober 1983. (Historische Forschungen, Bd. 9.) Stuttgart 1984, 3-26
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auf. 7 7 Sie beinhaltete Aspekte der spätmittelalterlichen Ständelehre 7 8 , übersetzte sie jedoch in eine Konzeption der Regierungskunst, die nicht auf Abgrenzungs- und Ordnungskategorien abhob, sondern vielmehr als Beziehungs- und Integrationsmodell entworfen wurde. 7 9 Im Mittelpunkt stand das Hausvateramt, also die Regierung der Familie und der häuslichen Ökonomie. A l s Ursprung aller Herrschaft stellte sie eine Formation des Politischen dar, der alle anderen Regierungsformen „als aus ein e m brunnquel / entspringen und herkommen". 8 0 D i e Familie mit dem Hausvater an der Spitze beinhaltete also ein Prinzip, das die unterschiedlichen Regierungsformen auf eine gemeinsame Logik, nämlich auf eine Logik des Ökonomischen verpflichtete: „Darumb man sich des gentzlich versehen mag / vnd weiset sich auch mit der that auß / das / gleich w i e man in lendern vnd Stetten haußhelt / so sint die Regiment auch." 8 1 Ebensowenig w i e der Hausvater sich auf die Sicherung einer bestehenden Ordnung oder die Anwendung von Gesetzen beschränken konnte 8 2 , konnte die weltliche Obrigkeit sich in der bloßen Erhaltung des weltlichen Regiments erschöpfen. Vielmehr oblag es ihr, dem Hausvater gleich, eine Sorgepflicht zu übernehmen, die die Güter und Reichtümer ebenso umfaßte w i e die Lebensführung der Familienmitglieder,
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Vgl. dazu vor allem die „Oeconomia Christiana" von Justus Menius aus dem Jahr 1529, die mit einem Vorwort Luthers erschien. Die „Oeconomia" von Menius steht am Beginn einer umfangreichen protestantischen Hausväterliteratur, die sich im Laufe des 16. Jahrhunderts ausbreitete und entwickelte. Im folgenden wurde die Nürnberger Ausgabe von 1556 verwendet: Justus Menius, Oeconomia Christiana. Von Christlicher haußhaltung. An die Hochgeborne Fürstin Fraw Sibilla Hertzogin zu Sachsen [...]. Mit einer schönen Vorrede. Nürnberg 1556. Nachweise bei Luther selbst in WA 26, 504, 30-31; WA 50, 652, 18-35; WA 43, 30, 13-17. 78 Dazu vgl. Wilhelm Maurer, Luthers Lehre von den drei Hierarchien und ihr mittelalterlicher Hintergrund. (Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften zu München, Phil.-Hist. Klasse, Bd. 4.) München 1970. 79 Zu Recht betont Thomas A. Brady diesen Aspekt: „Luther came to see the estates not as distinct social groupings but as modes of social relations." Thomas A. Brady, Two Kingdoms or Three Estates? Tradition and Experience in Luther's Social Teaching, in: Lutherjahrbuch 52, 1985, 197-212, hier 203. 80 „Oeconomia / das ist haußhaltung und Policia / das ist / Landregierung. In der Oeconomia oder haußhaltung / ist verfasset / wie ein yegliches hauß Christlich vnnd recht wol sol regieret werden / Wes sich darinnen ein yegliches nach seinem stand vnd gebür / Man / weyb / kinder vnnd gesinde / gegen einander halten sollen / das es allenthalben nach Gotes befelh vnd ordenung / im hause recht und wol zugehe. Denn daran ist kein zweiffei / auß der Oeconomia oder haußhaltung / muß die Policia oder Landregierung / als auß einem brunnquel / entspringen und herkommen." Menius, Oeconomia Christiana (wie Anm. 77), Ciij v -Ciiij r . Menius rekurrierte zur Einordnung seiner Oeconomia sowohl auf Luthers Zwei-Reiche-Lehre als auch auf die apokalyptische Naherwartung - „Denn dieweyl diese weit des teuffels reich ist". Ebd. Bir. 81 Ebd. Ciiijr. 82 Luther kritisierte in der Vorrede zu Menius' „Oeconomia" vehement eine Haushaltung, die sich auf Fragen der materiellen Reproduktion beschränkte und bezeichnete sie als Grund dafür, daß „ein lauter sew stal auß der weit" werde. Ebd. Avir.
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ihre sittliche Integrität und persönliche Entwicklung. Die Kontrolle von Ereignissen, die Entwicklung geeigneter Strategien zur Vervollkommnung und Intensivierung von Austauschprozessen, schließlich die Erziehung von Individuen wurde durch die Analogiebildung von oeconomia und policia zum Aufgabenbereich der Regierung eines Territoriums oder einer Stadt. Umgekehrt wurde jedoch durch diese Analogie auch der Herrschaftsanspruch des obrigkeitlichen Regiments an der Vielzahl und Mannigfaltigkeit tatsächlicher Ökonomien gebrochen. Das Regiment der Obrigkeit war also durch das des Hauses resp. durch die tatsächlich vorhandenen vielen Hausväter, die aus ihrem eigenen Verantwortungsbereich ein Recht der Mitsprache, ja sogar ein Widerstandsrecht ableiten konnten, einer Beschränkung unterworfen. Der mögliche Gegensatz von oeconomia und policia war der DreiStände-Lehre stets immanent und ließ sich gegebenenfalls auch für die Begründung des reichsständischen Widerstandsrechts gegenüber dem Kaiser in den Konflikten um die Jahrhundertmitte in Anspruch nehmen.83 Als entscheidendes Integrationsmoment fungierte hier der dritte Stand, nämlich die Geistlichkeit. Sie garantierte die Einheit von Immanenz und Transzendenz, und zwar dadurch, daß sie den Aspekt der Leitung und Führung anderer, der im weltlichen Reich im Mittelpunkt stand, mit jenem der Selbstführung in Bezug setzte. Die Geistlichkeit besaß demnach ein Wächteramt gegenüber der weltlichen Obrigkeit wie gegenüber dem Stand der Hausväter; sie verkündete das Wort Gottes im Zusammenhang mit dem Aufruf zur Buße und der Mahnung zur je individuellen richtigen Lebensführung angesichts des bevorstehenden Jüngsten Tages.84 Sie verpflichtete „alle Menschen", „rechte erkenntnis und anruffung zu bekennen" und einen jeden „nach seinem Beruff" - für die Wahrheit des Gotteswortes einzutreten.85 Dementsprechend umfaßte der Verkündigungsauftrag der Geistlichkeit ein politisches Interventionsrecht auf der Ebene der konkreten Amtsführung und individuellen Ausgestaltung der Regierungspraxis.86 83 Vgl. zur Drei-Stände-Lehre als Argumentationshorizont des ständischen Widerstandsrechtes gegen den Kaiser Luise Schorn-Schütte, Beanspruchte Freiheit: Die politica christiana, in: Georg Schmidt/Martin van Gelderen/Christopher Snigula (Hrsg.), Kollektive Freiheitsvorstellungen im frühneuzeitlichen Europa (1400-1850). (Jenaer Beiträge zur Geschichte, Bd. 8.) Frankfurt am Main/Berlin 2006, 329-352. 84 Luther hatte in diesem Sinne schon 1522 in Gegenwart von Herzog Johann zwei Predigten zu Mt 3, 2 („Thut busse / Das Himelreich ist nahe herbey komen.") gehalten. Vgl. Martin Luther, Predigt in der Schlosskirche zu Weimar (18. Okt. 1522), WA 19,3, 371-379; ders., Predigt in der Schlosskirche zu Weimar (25. Okt. 1522), ebd. 379-385. 85 Justus Menius, Von der Notwehr vnterricht / Nützlich zu lesen. Wittenberg 1547, Ciiij 1 Djr, zit. nach Schorn-Schütte, Kommunikation über Herrschaft (wie Anm. 12), 102. 86 Dazu allgemein Wolfgang Stein, Das kirchliche Amt bei Luther. (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abt. für Abendländische Religionsgeschichte, Bd. 73.) Wiesbaden 1974; Wolfhart Pannenberg, Das kirchliche Amt in der Sicht der lutherischen Lehre, in: ders. (Hrsg.), Lehrverurteilungen - kirchentrennend? Bd. 3: Materialien
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Die Drei-Stände-Lehre schuf somit den Boden für eine umfassende und alle Lebensbereiche betreffende Interventions- und Regulierungskompetenz der evangelischen Geistlichkeit. Alle Bereiche, Fragen des politischen ebenso wie solche des alltäglichen Lebens, wurden letztlich zu Applikationsfeldern reformatorischer Bibelauslegung. Es gab keinen Bereich der weltlichen Ordnung, der nicht in der protestantischen Ratgeberliteratur, in Predigten, Traktaten und Gutachten zum Thema einer christlichen und d.h. am Primat der Schrift orientierten Lebensführung gemacht wurde. Die weltliche Ordnung, die mit der Drei-Stände-Lehre avisiert wurde, hatte ihren Sitz damit im konkreten Alltagsleben - einem Alltagsleben, das die Individuen in Kategorien einteilte, ihnen ihre je spezifische Stellung zuwies, ihnen eine Identität verlieh und ihnen damit ein je spezifisches Gesetz der Wahrheit auferlegte, das Selbst- und Weltbezug gleichermaßen organisierte.87 In dieser Konfiguration kannte die weltliche Ordnung keine Ausnahmen; ihren Prinzipien der Welt- und Selbsterfahrung waren alle Individuen unterworfen, einschließlich des Fürsten und der Obrigkeit im ganzen. Die weltliche Ordnung wurde damit im Moment der Führung begründet - im doppelten Sinne von Selbst- und Fremdführung. Selbstführung und die Führung von Gesinde, Kindern und Untertanen fielen zusammen und konstituierten ein homogenes Feld des Politischen.88 Der gesamte Bereich des Politischen konnte somit auf den Punkt der Verhaltenssteuerung hin systematisch ausgelegt werden. Die Bedeutung der Drei-Stände-Ordnung reduzierte sich damit nicht auf die eines universalen Modells des Rechts und der Ordnung, sondern betraf auch und vor allem die Entwicklung von Analysemethoden, Reflexions- und Führungstechniken, welche die Kenntnis der ,inneren' Wahrheit der Individuen und ihrer Formierung zu Subjekten sicherstellen sollten. Die Drei-Stände-Lehre stellte also eine Matrix dar, die letztlich auf die Verbindung von politischer zur Lehre von den Sakramenten und vom kirchlichen Amt. (Dialog der Kirchen, Bd. 6.) Freiburg im Breisgau/Göttingen 1990, 286-305. 87 Luther entwickelte in diesem Zusammenhang seine Lehre des Berufs, in der er die je individuelle Stellung in der weltlichen Ordnung zurückband an einen heilsgeschichtlichen Rahmen; vgl. Martin Luther, Genesisvorlesung (1544), WA 4 3 , 1 - 6 9 5 , hier 30,15-17: „In quocunque igitur ordine fueris, sive sis maritus, sive magistratus, sive doctor Ecclesiae, circumspice, an satisfeceris plene vocationi tuae, nec opus sit deprecatione, vel negligentiae, vel fastidii, vel impatientiae." Vgl. dazu auch Brady, Two Kingdoms (wie Anm. 79), 203 f.; allgemein dazu Werner Conze, Art. „Beruf, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hrsg. v. Otto Brunner, Werner Conze u. Reinhart Koselleck. Bd. 1. Stuttgart 1978, 490-507. 88 In diesem Sinne betrachtete Luther die Drei-Stände-Lehre als ein in „Gott und gutem Gewissen" gegründetes Organisationsprinzip des Zusammenlebens: „Erstlich musst du im Hausregiment seyn entweder ein Vater oder Mutter, Kind, Knecht oder Magd. Zum Andern in einer Stadt oder Lande ein Bürger und Unterthan oder ein Oberkeit. [...] Zum Dritten daß du in der Kirchen seyest entweder ein Pfarrherr, Caplan, Kirchener oder sonst derselben Diener, wenn du nur Gotteswort habst und hörests." Martin Luther, Tischreden aus Johannes Aurifabers Sammlung, WA TR 6, 266, 18, und 21-27.
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Gestaltung und Subjektivierung abzielte. Sie beinhaltete eine Art „Individualisierungsmatrix" weltlicher Ordnung.89 In dieser Individualisierungsmatrix weltlicher Ordnung konvergierten eine ganze Reihe von komplexen Unterscheidungen: Die Trennung von weltlichem und geistlichem Reich, das Postulat des Glaubensvorbehalts und die Ausweitung herrschaftlicher Gestaltungskompetenzen, schließlich die eschatologische Jenseitsorientierung und die bedingungslose Unterworfenheit unter die weltliche Ordnung. All das trat nun in eine zirkuläre Beziehung zueinander, in deren Mittelpunkt der einzelne Gläubige stand. Als Christ sah er sich in einen biblisch determinierten Erfahrungsraum gestellt, der die Signatur einer apokalyptischen Zeitenwende besaß und ihn deshalb auf seinen Glauben, und zwar allein auf seinen Glauben, verwies; als Teil der weltlichen Ordnung war er andererseits in einen Zusammenhang involviert, dessen Ende zwar notwendigerweise - da heilsgeschichtlich determiniert - bevorstand, dessen Aufrechterhaltung jedoch eine Möglichkeitsbedingung für ein christliches Leben und damit für die individuelle Erlösungsoption war. In dieser Spannungssituation gab es keine grundsätzlichen Lösungen, keine allgemeine Wahrheit. Es gab nur individuelle Wahrheiten, die sich im Lebensvollzug, und zwar im Lebensvollzug jedes einzelnen und dessen Fortsetzung nach dem Jüngsten Gericht, immer wieder aufs neue einstellten. Das solchermaßen wahrheitsfähige Individuum handelte auf der Basis seines Gewissens. Das individuelle Gewissen war das Relais von Selbstführung und Weltgestaltung. Somit mußte das Gewissen zum einen frei sein - und dies war wie oben betont ein bedingungsloses Postulat der reformatorischen Herrschaftslehre - zum anderen mußte es jedoch auch ausgebildet werden - und im Hinblick auf diese Ausbildung des gewissenhaften Subjekts spielte die Ausgestaltung des Politischen eine herausragende Rolle.90 Die reformatorische Individualisierungsmatrix ermöglichte es letztlich auch, Herrschaftsbeziehungen ohne einen problematischen Vorgriff auf eine Gott anheimgestellte Zukunft zu organisieren. Sie verankerte die weltliche Ordnung in den Individuen selbst, die sich nun so konstituierten, daß sie gleichermaßen das weltliche wie das Seelenheil im Blick behielten: „Also gehets denn beydes feyn mit eynander, das du zu gleych Gottis reych und der wellt reich gnug thuest, eusserlich und ynnerlich [...]. Denn mit dem eynen sihestu auff dich und auff das deyne, mit dem andern auff den nehisten und auff das
89 Vgl. zum Begriff der Individualisierungsmatrix Michel Foucault, Subjekt und Macht, in: ders., Analytik der Macht (wie Anm. 73), 240-263, insbes. 248. 90 In diesem Sinne läßt sich die einfache These von der Obrigkeitsgläubigkeit des Luthertums nicht bestätigen. Tatsächlich handelt es sich um eine „komplexe Verbindung zwischen Techniken der Individualisierung und totalisierenden Verfahren", wie sie Foucault als Kennzeichen der modernen Macht rekonstruiert hat. Vgl. ebd. 247.
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seyne."91 Das Subjekt in seiner Selbst- und Weltverantwortung war also gleichermaßen Teil des weltlichen wie des geistlichen Reiches, und es war damit letztlich imstande, den kategorischen Widerspruch zwischen beiden wenngleich nicht endgültig zu lösen, so doch durch seine angemessene und gewissenhafte Lebensführung - also im Vollzug eines christlichen Lebens - gewissermaßen aufzuschieben.
IV. Zusammenfassung und Ausblick Der reformatorische Rekurs auf die Bibel als einziger und umfassender Quelle des Glaubens hatte für die Definition und Ausgestaltung der zeitgenössischen Politik weitreichende Folgen. Diese bestanden weniger darin, daß die Heilige Schrift nun auch für Fragen nach Herrschaftsausübung und sozialer Ordnung (in neuer Weise) zur normativen Quelle wurde, sondern beinhalteten vielmehr eine grundsätzliche Neubestimmung des Verhältnisses von heilsgeschichtlichem Erlösungsgeschehen und weltlicher Ordnung bzw. eine Neubestimmung dessen, was die Welt und damit auch das Politische im Vergleich zum Eschatologischen kennzeichnete. Charakteristisch hierfür war eine Art Doppelbewegung: Das weltliche Reich erschien im Vergleich zum geistlichen zum einen durch einen fundamentalen Gegensatz gekennzeichnet, ja durch eine ausschließende Differenz, die es zum Ort des Bösen und damit der Anfechtung angesichts des kurz bevorstehenden Weltendes machte. In dieser grundlegenden Antithetik war es gerade kein christlicher Gestaltungsraum und entzog sich notwendigerweise einer bibelexegetischen Aneignung und Überformung. Andererseits gab es jedoch im Hinblick auf das je individuelle Erlösungsgeschehen auch eine Komplementarität zwischen beiden Reichen. Diese Komplementarität bestand darin, daß die Bedingungen für das im Zeichen der reformatorischen Wiederherstellung der Heiligen Schrift stehende Erlösungsgeschehen immer auch eine weltliche Konnotation hatten, insofern sie nämlich die Sicherheit der Gläubigen und ihren Schutz gegen die Angriffe des Antichristen voraussetzten. Damit ergab sich innerhalb der Zwei-ReicheLehre eine Gestaltungsoption für das Politische, die im Rückgriff auf die Heilige Schrift von den Reformatoren sukzessive in Anspruch genommen wurde. Für die Geschichte der politischen Theorie hatte diese Doppelbewegung einschneidende Konsequenzen, denn sie beinhaltete eine neue Epistemologie des Politischen: Während das geistliche Reich die Erlösung der Rechtgläubigen in Anbetracht des Jüngsten Tages sicherte, schuf das weltliche Reich dafür die Voraussetzungen - und zögerte damit dessen Kommen hinaus. Das Politische entfaltete sich also unter den Bedingungen der Zeitenwende, die es gewisser91
Vgl. dazu Luther, Von weltlicher Oberkeit (wie Anm. 11), 255, 12-21.
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maßen auf Dauer stellte. Verzeitlichung und Subjektivierung waren die zwei zentralen Charakteristika der reformatorischen Epistemologie des Politischen. Das Feld des Politischen veränderte sich damit: Es umfaßte alles Weltliche, und es umfaßte dies alles als Zeitliches, d. h. in den Kategorien einer politischen Ö k o n o m i e . 9 2 Daß diese politische Ökonomie eine apokalyptische war, zeigte sich auch in den Auseinandersetzungen um das Widerstandsrecht gegen den Kaiser, das seit der Mitte des 16. Jahrhunderts - insbesondere im Kontext des Kampfes um das Interim - die politischen Diskussionen unter den Reformatoren bestimmte. Hier kollidierte die Zwei-Reiche-Lehre, die einen Widerstand g e g e n die Obrigkeit ausschloß, mit dem bis zu diesem Zeitpunkt insbesondere in der Drei-Stände-Lehre elaborierten politischen Gestaltungsauftrag. 9 3 Ein Widerstandsrecht ergab sich letztlich nur aus d e m Narrativ des endzeitlichen Kampfes gegen den Antichristen, als dessen Handlanger der Kaiser nun mehr und mehr erschien. Und es mußte an das Postulat der Freiheit des Gewissens zurückgebunden werden - als der unabdingbaren Voraussetzung des heilsgeschichtlichen Erlösungsgeschehens kurz vor dem Jüngsten Tag. 9 4 Verzeitli-
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Vgl. dazu noch einmal exemplarisch Luthers „Vermahnung zum Gebet wider den Türken" von 1541: „Wollen wir vns nü lassen helffen vnd raten, So lasst vns busse thun vnd die bösen stucke, so droben erzelet, bessern, fursten und herren sollen Recht ym lande schaffen, dem wucher steuren, dem geitz des Adels, bürger, bäum, wehren, für allen dingen, Gottes wort ehren, schulen kirchen vnd yhre diener, versorgen, schützen vnd fordern Des gleichen auch Adel burger vnd baurn gehorsam hierinnen sein, zücht und erbarkeit, ynn Stedten und landen handhaben, handwercker, Erbeiter, Gesinde nicht gestatten solchen grossen mutwillen zu treiben Sondern frisch straffen Summa man hat den Catechismus deudsch, klar, hell gnug, man weis wol (Gott lob) was ein yder stand vnd person thun und lassen sol, welchs wir zuuor leider nicht gewust, vnd gern gethan hetten, Als denn wird vnser gebet Gott erhören vnd vns gewislich helffen wie alle propheten vnd die gantze schlifft vns verheissen." Marlin Luther, Vermahnung zum Gebet wider den Türken (1541), WA 51, 577-625, hier 594, 12-595, 6. 93
Aus der mittlerweile umfangreichen Literatur zum protestantischen Widerstandsrecht sei hier v.a. verwiesen auf Hermann Dörries, Luther und das Widerstandsrecht, in: ders., Wort und Stunde. Bd. 3. Göttingen 1970, 195-270; Eike Wolgast, Die Religionsfrage als Problem des Widerstandsrechts im 16. Jahrhundert. (Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Klasse, Bd. 9.) Heidelberg 1980; Robert von Friedeburg, Widerstandsrecht und Konfessionskonflikt. Notwehr und gemeiner Mann im deutsch-britischen Vergleich 1530 bis 1669. (Schriften zur Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte, Bd. 27.) Berlin 1999; David M. Whitford, Tyranny and Resistance. The Magdeburg Confession and the Lutheran Tradition. St. Louis 2001; Gabriele HaugMoritz, „Ob wir uns auch mit Gott, Recht und gutem Gewissen, wehren mögen, und Gewalt mit Gewalt vertreiben?" Zur Widerstandsdiskussion des Schmalkaldischen Krieges 1546/47, in: Luise Schörn-Schütte (Hrsg.), Das Interim 1548/50. Herrschaftskrise und Glaubenskonflikt. (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte, Bd. 203.) Gütersloh 2005, 488-509. 94
Vgl. dazu vor allem auch Thomas Kaufmann, Das Ende der Reformation. Magdeburgs .Herrgotts Kanzlei' 1548-1551/2. (Beiträge zur historischen Theologie, Bd. 123.) Tübingen 2003, sowie demnächst ders., Apokalyptische Deutung und politisches Denken im lu-
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chung und Subjektivierung fanden also in der Naherwartung ihre Voraussetzung. Mit dem Zurücktreten dieser Naherwartung bzw. ihrer Transformation in ein Moment der individuellen Lebensgestaltung gegen Ende des 16. Jahrhunderts änderten sich auch die Determinanten des Politischen wieder. Die Rückkehr zu klassischen (aristotelischen) Ordnungsmodellen der Politik stand unter diesen Vorzeichen. 95 Erst im 18. Jahrhundert trat, allerdings unter anderen Prämissen, das Politische wieder als Zeitliches in das Blickfeld der politischen Theoretiker - und mit ihm der Zusammenhang von Macht und Subjekt. 96
therischen Protestantismus in der Mitte des 16. Jahrhunderts, in: Brendecke/Fuchs/Schulze (Hrsg.), Die Autorität der Zeit (wie Anm. 31) [im Druck], 95 Vgl. u. a. Horst Dreitzel, Protestantischer Aristotelismus und absoluter Staat. Die „Politica" des Henning Arnisaeus (ca. 1575-1636). (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abt. Universalgeschichte, Bd. 55.) Wiesbaden 1970; Peter Nitschlce, Zwischen Innovation und Tradition. Der politische Aristotelismus in der deutschen politischen Philosophie der Prämodeme, in: ZfP 42/1, 1995, 27-40. 96 Dazu Michel Foucault, Geschichte der Gouvemementalität I: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Vorlesungen am Collège de France 1977-1978. Hrsg. v. Michel Sennelart. Frankfurt am Main 2004.
Juan de Mariana: Bibelexegese und Tyrannenmord Von
Nicole Reinhardt Die Feststellung, daß Bibelbezüge in politischen Traktaten der Frühen Neuzeit allgegenwärtig sind, daß „die Bibel alle Aktivitäten durchdringt"1, ist weder besonders originell noch aufsehenerregend. Die Allgegenwart verstellt allerdings häufig den Blick dafür, wie auf die Bibel Bezug genommen wird, sowie dafür, daß die politischen und religiösen Umbrüche des 16. Jahrhunderts ihren Interpretationszusammenhang und Textstatus völlig veränderten.2 Diese Veränderungen gehen der konfessionellen Spaltung Europas voraus, und sie erfahren erst im Laufe der religiösen Kontroverse ihre spezifisch konfessionelle Prägung. Dabei ist auch festzuhalten, daß die protestantische Überhöhung des Schriftprinzips keineswegs mit einem vertiefteren Textverständnis einhergeht und daß andererseits gerade Spanien für die frühneuzeitlichen Bibelstudien ein herausragender Platz zukommt. Im folgenden wollen wir uns mit einem der umstrittensten politischen Texte der Frühen Neuzeit, Juan de Marianas „De Rege", befassen, der bis heute die widersprüchlichsten Interpretationen erfahrt.3 Während der Strom der Publikationen zu „De Rege" nicht abreißt, sind andere Schriften Marianas, vor allem seine historischen Arbeiten, weniger intensiv untersucht. Gänzlich unbeachtet blieb aber auch für „De Rege" die Frage des Bibelbezugs. Angesichts der Tatsache, daß Juan de Mariana nicht nur ein politischer Schriftsteller war, sondern von seinen Zeitgenossen auch als ausgesprochen herausragender Bibelexeget angesehen wurde, ist diese Leerstelle bezeichnend für die künstliche wissenschaftliche Trennung zwischen theologischen und historischen Arbeiten.
1
Jean-Robert Armogathe, L'Antéchrist à l'âge classique. Exégèse et politique. Paris 2005, 123. 2 Dabei wird die katholische Sphäre allerdings oft ausgeblendet wie bei Marguerite Soulié, La Bible et la politique au XVIe siècle. Le cas du protestantisme, in: Bernard Roussel/Guy Bedouelle (Eds.), Le temps des Réformes et la Bible. Paris 1989, 545-562; ein entsprechendes Kapitel für den katholischen Bereich findet sich in diesem ansonsten gründlichen Handbuch nicht. 3 Die Geschichte der „De Rege"-Rezeption ist dabei vornehmlich die Geschichte eines Mißverständnisses, vgl. Harald E. Braun, Juan de Mariana and Early Modern Spanish Political Thought. London 2007, 9-11. Ich danke Harald Braun an dieser Stelle herzlich für die Überlassung der Druckfahnen.
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Um die Bedeutung des Bibelbezugs für Mariana besser einzuschätzen, müssen wir daher im folgenden zunächst den Kontext der spanischen Bibelstudien und Marianas Verhältnis zu diesen skizzieren. Anschließend soll dann der Gebrauch und Einsatz des Bibelbezugs in „De Rege" untersucht werden.
I. Die Bibel als Text Das Buch der Bücher wurde erst im 16. Jahrhundert zum Text. Buchdruck und Humanismus machten die Umsetzung des sola-scriptura-Prinzips überhaupt erst möglich, ohne daß sich die Behandlung der Bibel als Text auf dieses lutherische Prinzip reduzieren ließe. Vielmehr florierten schon um 1500 gerade in Spanien die humanistischen Bibelstudien, auf die hier kurz einzugehen ist. Damit die Bibel zum Text werden konnte, mußte sie die Schreibstuben verlassen4 und gedruckt werden, wobei sich sofort die Frage der Textsicherung und Varianten stellte.5 Zugleich ermöglichte die Existenz des gedruckten Textes breitere Lektüre, die die vorwiegend orale Vermittlung ablöste und Kommunikation über den Text über weite Strecken und gewissermaßen auch über Zeitgrenzen hinweg erlaubte.6 Als Teil dieser Kommunikation über die Zeitgrenzen hinweg kann das wachsende Bewußtsein für die Historizität der Manuskripte angesehen werden, die zur Konstitution des .wahren Texts' dienten. Dies warf Fragen bezüglich der Verbindlichkeit des Kanons sowie des Textes selbst auf, die auch und gerade die Vulgata betrafen. Die Sichtung und Sicherung der Manuskripte führte zunächst zur Verunsicherung: Varianten z.B. innerhalb des griechischen Korpus traten zutage, aber auch Abweichungen der Hieronymus zugeschriebenen, gemeinhin als verbindlich geltenden lateinischen Übersetzung vom griechischen Text. Im Kampf um den wahren Text war es unvermeidlich, in der Vergangenheit gemachte Fehler zu erkennen und zu tilgen.
4
Vgl. François Laplanche, La Bible en France entre mythe et critique XVIe-XIXe siècle. Paris 1994, 14; hierzu auch die erhellenden Ausführungen von John Bossy, Christianity in the West 1400-1700. Oxford 1985, 97-104; zu Fragen der Textpräsentation Roussel/Bedouelle (Eds.), Le temps des Réformes (wie Anm. 2), 128-149. 5 Der Buchdruck verschärfte die Frage der Textsicherung durch das erhöhte Risiko, Fehler in Umlauf zu bringen; vgl. Marcel Bataillon, Érasme et l'Espagne. Recherches sur l'histoire spirituelle du XVIe siècle. Paris 1937, 33. 6 Die „Polyglotte Bibel", die unter Kardinal Cisneros' Ägide entstand, lieferte auf einer Seite den lateinischen, griechischen, hebräischen und aramäischen Text. Beigegeben waren überdies ein hebräisch-chaldäisches Wörterbuch, eine hebräische Grammatik und ein Namenregister. Ausdrückliches Ziel war es, die Texte vergleichbar zu machen; zur Entstehung der „Polyglotten Bibel von Alcalá" vgl. Bataillon, Erasme (wie Anm. 5), 1-55.
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Die humanistische Arbeit an den biblischen Texten7 fand in der Edition der „Polyglotten Bibel von Alcalà" (1502-1517), die wohl zu den beeindruckendsten Beispielen frühneuzeitlicher Buchdruckkunst gehört, ihren vollkommensten Ausdruck, und sie belegt zugleich das hohe Niveau der vorreformatorischen spanischen Humanisten und Bibelexegeten. Die Herausgeber der „Polyglotten Bibel" hatten sich bei ihrer Arbeit nach langen Auseinandersetzungen auf ein historisches Prinzip verständigt: Veränderungen bezüglich des gängigen Textes (auch der Vulgata) sollten nur dann gemacht werden, wenn diese aus älteren Texten abgeleitet und gerechtfertigt werden konnten.8 Die Verfügbarkeit der Bibel als Text erleichtert und erweitert den Zugang über den Kreis der Experten hinaus: Man kann den Text lesen und .plündern', ihn mit anderen vergleichen und in Beziehung setzen. Von Anfang an traten dabei Probleme zutage: Neben der Textkonstitution selbst waren dies seine Interpretation und sein Verhältnis zur Tradition. Luthers Vorstellung, daß die „Bibel [...] in ihrem selbstmächtigen Mitteilungsvermögen frei und keiner kirchlichen Bevormundung oder Sicherung bedürftig" 9 sei, also quasi für sich selbst und aus sich selbst spräche, erwies sich schnell als problematisch. In der konfessionellen Auseinandersetzung verwarfen katholische Gelehrte dieses Textverständnis und betonten statt dessen die Schwierigkeit des Textes.10 Auch die Vorstellung, daß man sich nur an den Wortsinn halten müsse, um den Text in seinem , Ursinn' zu verstehen, führte nicht wirklich weiter11, sondern eröffnete allenfalls ein Paradoxon: Der Text mußte mit seiner Interpretation übereinstimmen und zugleich dem Dogma und der Tradition nicht widersprechen, während andererseits Dogmen aus der Schrift abgeleitet wurden.12 Man konnte das Schriftprinzip zwar einfordern, doch machte dies den Sinn 7
Die humanistisch-philologische Herangehensweise war nicht unumstritten, besonders die .Theologen', in der Regel Scholastiker, bezweifelten die Kompetenz der .Grammatiker', sich kompetent mit der Heiligen Schrift auseinanderzusetzen, vgl. Guy Bedouelle, L'humanisme et la Bible, in: Roussel/Bedouelle (Eds.), Le temps des Réformes (wie Anm. 2), 52-121, 53. 8 Vgl. Bedouelle, L'humanisme (wie Anm. 7), 82f. Es ist unklar, mit welchen Manuskripten die Bibelakademie Cisneros' arbeitete. Ihre Textgrundlage scheint jedoch für die Vulgata besser und weiter als jene Erasmus' gewesen zu sein. Im Fall der Vulgata kam es dabei aber auch zu gewissen Inkonsequenzen. So wurde bisweilen der griechische Text aus dem lateinischen Text ergänzt, ein Ausdruck der Skepsis bezüglich der griechischen Tradition; vgl. Bataillon, Érasme (wie Anm. 5), 44—46. 9 Hans-Joachim Kraus, Geschichte der historisch-kritischen Erforschung des Alten Testaments von der Reformation bis zur Gegenwart. Neukirchen 1956, 5. 10 Der Jesuit Juan Maldonado verkörpert diese katholische Einsicht der Dunkelheit der Bibel am deutlichsten. Laut Maldonado ist der protestantische Glauben an die Selbstevidenz des Bibeltextes nicht nur naiv, sondern auch schädlich, wie die Zersplitterung der .Protestanten' beweise, die alle denselben Text zu lesen meinten; vgl. Guy Bedouelle, La Réforme catholique, in: Roussel/Bedouelle (Eds.), Le temps des Réformes (wie Anm. 2), 363 f. 11 Kraus, Geschichte (wie Anm. 9), 9. 12 Vgl. Armogathe, L'Antéchrist (wie Anm. 1), 126.
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und die Bedeutung der biblischen Schriften nicht klarer, es sei denn, man legte von vornherein fest, wer die Interpretationshoheit hatte, wie dies z. B. Cajetan de Vio, der Verfechter des katholischen ,Litteralismus' tat: Die Interpretation im Sinne des sensus litteralis durfte sich weder von der Bibel entfernen, noch von den Lehren der Kirche abweichen, wohl aber von den verschiedenen theologischen Meinungen der Schriftgelehrten differieren. 13 Die humanistischen Bemühungen um den Text bewiesen auch, daß der Text nicht ohne menschliche Einwirkungen übermittelt worden sein konnte, daß die Übertragung über weite Strecken oral erfolgt war, kurzum: Der Text erzählte nicht nur Geschichte, sondern er hatte eine Geschichte, und schon bei ihrer Rekonstruktion erwies es sich als schwierig, ohne Rückgriff auf äußere Faktoren - orale Übermittlung und Tradition - zu arbeiten. Die Parole sola scriptum warf daher zumindest auf protestantischer Seite mehr Probleme auf als sie löste. Daher ist klar, daß die protestantische Konzentration auf die Schrift zwar ebenfalls die Konzentration auf den Schriftsinn (sensus litteralis) beförderte14, jedoch nicht direkt die Entstehung eines historisch-kritischen Bibelverständnisses nach sich zog. Interessanterweise griff die erst im 18. Jahrhundert aufkommende protestantische historisch-kritische Bibelwissenschaft auf den Oratorianer Richard Simon zurück, der schon 1689 seine „Histoire critique du vieux Testament" verfaßt hatte.15 Im Vergleich zu den Positionen Luthers und Calvins wirkt die in Trient festgelegte Position des Verhältnisses von Schrift und Tradition, wie auch schon Richard Simon bemerkte, „historischer".16 Andererseits legte die Autorität der Kirche bzw. des Papstes in Glaubensfragen gleichzeitig die Grenzen der Interpretation fest, innerhalb derer sich die gelehrte Auseinandersetzung abspielen konnte. In diesem Sinne kann das Konzil von Trient auch als erstes Zwischenergebnis der von den Humanisten angestoßenen Debatten bezüglich des Textkorpus, der Textkonstitution und seiner Interpretation gesehen werden. Die Konzilsväter legten die kanonischen Texte fest und bezeichneten die Vulgata ausdrücklich als „authentica", was zugleich ein Ansporn war, diesen authentischen Text bei zukünftigen Editionsprojekten mittels Emendationen
13 Cajetan de Vio war seit seinen Psalmenkommentaren aus den 1530er Jahren der erste konsequente und prononcierte Verfechter des Vorrangs des sensus litteralis (d. h. die Zurückdrängung anagogischer und allegorischer Interpretationen) auf katholischer Seite und nahm die tridentinischen Positionen vorweg, vgl. Bedouelle, L'humanisme (wie Anm. 7), 112 f. 14 Damit war vor allem die Ablehnung der allegorischen Auslegung und des Rückgriffs auf kirchliche und konziliare Tradition und die Kirchenväter gemeint. 15 Kraus, Geschichte (wie Anm. 9), 61 f. 16 Dies ersparte ihm dennoch heftige Angriffe von gallikanischer und jansenistischer Seite nicht.
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zu sichern.17 Die Institution der Kirche selbst, die Existenz nicht-schriftlicher Traditionen „tum fidem, tum ad mores pertinentes" leiteten sich diesem tridentinischen Verständnis zufolge nicht nur aus der Bibel ab. Neben der Verbaltradition existierte die Realtradition, die Glaubenswahrheiten verkörperte, die mündlich, entweder von Christus an die Apostel oder von den vom Heiligen Geist inspirierten Aposteln selbst weitergegeben worden waren. Schrift und Tradition zu trennen, war diesem Verständnis nach unmöglich, da sie sich nicht unabhängig voneinander verstehen ließen.18 Damit war der verbindliche Rahmen des katholischen Bibelverständnisses abgesteckt: Das Ringen um den Text und die Ablehnung des reinen Schriftprinzips der Protestanten hatte auf katholischer Seite zwar ebenfalls eine zunehmend ,litterale' Bibelexegese befördert, doch zugleich auch das Verständnis der Tradition präzisiert.19 Dabei stand die Tradition nicht eigentlich neben der Schrift, sondern sie war gewissermaßen konstitutiv für die Herstellung des Textes und seine Auslegung und damit in die Kirche als Trägerin derselben eingeschrieben. Dieses Traditionsverständnis war auf paradoxe Weise historisch.20 Katholische Bibelexegese und Historie scheinen daher keineswegs gegensätzlich, sondern in sich verwandte Gegenstände. Wie Armogathe jüngst für die Geschichte der Apokalypse-Interpretationen im 17. Jahrhundert nachgewiesen hat, setzte sich auf katholischer Seite eine grundsätzlich historisch argumentierende Exegese durch. Prophetische Auslegungen, wie sie gerade im 17. Jahrhundert auf protestantischer Seite fröhliche Urstände feierten, wurden abgelehnt und galten grundsätzlich als verdächtig.21 Die katholische Skepsis gegenüber einem prophetischen Umgang mit der Schrift konnte nicht ohne Konsequenzen für den Umgang mit Bibelzitaten in einem politischen Argumentationszusammenhang bleiben.
17
Das Verständnis der .Authentizität' geht auf die Definition von Jean Nys (Driedo) aus dem Jahre 1533 zurück; vgl. Bedouelle, L'humanisme (wie Anm. 7), 95 f. 18 Vgl. Franco Buzzi, Il concilio di Trento (1545-1563). Ermeneutica di un modello teologico, in: Giuseppe Angelini/Giuseppe Colombo/Marco Vergottini (Eds.), Storia della teologia. Voi. 4 (età moderna). Casale Monferrato 2001, 17-66, hier 21-29. Die Jesuiten waren diesem tridentinischen Ideal besonders verschrieben, vgl. Harro Höpfl, Jesuit Politicai Thought. The Society of Jesus and the State, c. 1540-1630. Cambridge 2004,43. 19 Vgl. Armogathe, L'Antéchrist (wie Anm. 1), 126. 20 Diese Historizität des katholischen Bibelverständnisses verhielt sich genau umgekehrt zum protestantischen: Während auf protestantischer Seite der Text als wahr galt und die Kirchengeschichte als Verfallsgeschichte, als Abweichung vom Ursprung angesehen wurde, galt auf katholischer Seite die Kirche als Trägerin der Kontinuität der Offenbarung: „Les réformateurs se soucient peu des arguments historiques", so Jesus Martinez de Bujanda, La Censure ecclésiastique sur les oeuvres historiques, in: Massimo Firpo (Ed.), ,Nunc alia tempora, alii mores'. Storici e storia in età postridentina. (Atti del convegno internazionale, Torino 24—27 settembre 2003.) Florenz 2005, 265-277, hier 267. 21 Vgl. Armogathe, L'Antéchrist (wie Anm. 1), 130.
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II. Mariana als Bibelexeget und Historiker, oder: Wahrheit statt Wahrscheinlichkeit Alcalá, das geistige Zentrum des spanischen Humanismus, war auch der Ort, an dem Juan de Mariana seine Studien der Theologie und artes absolvierte, bevor er 1554 im Alter von 18 Jahren in den Jesuitenorden eintrat. Schnell stieg er als Lehrer an den großen Bildungsinstituten des Ordens auf und absolvierte eine internationale Karriere.22 Schon die erste ,Stelle' am Collegio Romano (1561) beweist, daß die Ordenszentrale in ihm einen der führenden Köpfe sah, obwohl er aufgrund seiner Idiosynkrasien auf allen Karrierestationen als schwieriger Charakter galt, der auch die Auseinandersetzung mit seinem eigenen Orden nicht scheute.23 Es kann hier nicht der Ort sein, Marianas Denken und Stellungnahmen auf sämtlichen von ihm bearbeiteten Gebieten nachzuvollziehen; ich möchte vielmehr eine Grunddisposition herausarbeiten, die meines Erachtens bisher nicht genügend gewürdigt wird, die aber für unseren Problemzusammenhang von Bedeutung ist: Marianas vehement anti-spekulative Tendenz. Sie verbindet auf den ersten Blick widersprüchliche Elemente: einen von Alcalá geprägten Humanismus, augustinischen Pessimismus und Skepsis bezüglich der menschlichen Erkenntnisfähigkeit, die sich in antischolastischen Diatriben und einer Abneigung gegenüber der herrschenden theologischen Streitkultur niederschlägt. „Wahrheit statt Wahrscheinlichkeit"24: Wahrheit im Sinne der höheren Wahrheit, die durch die Autorität der Kirche allein gesetzt werden kann, gegen die Wahrscheinlichkeit der individuellen Standpunkte, die allein dem Hochmut, der Sophisterei und der Eitelkeit der Theologen entspringen.25 Statt zu kopieren, zu debattieren, und sich künstliche Probleme auszudenken, sollten Theologiestudenten laut Mariana lieber die Texte lesen (vor allem die Heilige Schrift und die Kirchenväter), Kirchengeschichte studieren und ihr humanistisches Handwerk lernen, das heißt vor allem ihre Sprachkenntnisse 22
Mariana lehrte vornehmlich Theologie, Kasuistik und Bibelexegese. Neben seinen bekannteren politischen und ökonomischen Schriften sind seine 1619 publizierten und Kardinal Bellarmin gewidmeten „Scholia in Vetus et Novum Testamentum" von Bedeutung. 23 Zu den wichtigsten Karrierestationen vgl. Domenico Ferraro, Tradizione e Ragione in Juan de Mariana. Mailand 1989, 58f. Es ist in diesem Zusammenhang auch von Bedeutung, daß Mariana von 1569 bis 1574 am Collège Clermont lehrte, wo er wohl Juan de Maldonado begegnete. Maldonado soll seine ,scholastisch-positive' Methode nach Marianas Ankunft entwickelt haben. In Paris wurde Mariana auch Zeuge der Bartholomäusnacht. Nicht seine politischen Werke, sondern seine ökonomische Schrift zur Münzverschlechterung („De monetae mutatione", 1609) brachte Mariana schwere Scherereien mit der Inquisition ein. Er wurde wegen Hochverrats unter Hausarrest gestellt und seine Papiere wurden 1610 konfisziert. 24
Juan de Mariana, De morte et immortalitate. Köln 1609, zit. nach Ferraro, Tradizione (wie Anm. 23), 58. 25 Vgl. Ferraro, Tradizione (wie Anm. 23), 19-23, 55-69.
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(besonders griechisch und hebräisch) perfektionieren.26 Letztlich ist dieser anti-spekulative Impetus der utopischen Vorstellung verpflichtet, genaue dogmatische Begriffe entwickeln zu können. Ad fontes im Kampf für und im Ringen um die Tradition, die allein .Wahrheit' garantiert.27 Diese Grunddisposition Marianas kommt in zwei Stellungnahmen zu Fragen der Bibelexegese zum Ausdruck, die uns wieder nach Alcalá führen. 1574 kehrt Mariana in seine Heimat zurück, wo er sofort auf Grund seines Renommees von Generalinquisitor Gaspar de Quiroga als Zensor und Rezensent für die Entwicklung des ersten eigenen spanischen Bücherindex rekrutiert wird. In diesem Zusammenhang wird er 1576 um eine Stellungnahme bezüglich der 1572 von Benito Arias Montano abgeschlossenen „Biblia Regia" gebeten. Im Grunde handelte es sich um eine verbesserte Neuauflage der „Polyglotten Bibel" von Cisneros. Für diese Arbeit hatte Arias Montano 28 recht umfangreich auf jüdische und protestantische Arbeiten zurückgegriffen. Während Cisneros Projekt Anfang des Jahrhunderts problemlos von der Gelehrsamkeit verschiedener Conversos, aber auch direkt von rabbinischem Wissen profitiert hatte29, hatte sich das geistige Klima auf der iberischen Halbinsel inzwischen so grundlegend gewandelt, daß gar das Studium der hebräischen Sprache in Spanien ein Opfer der inquisitorial geschürten Verfolgung alles ,Kryptojüdischen' zu werden drohte.30 Mariana hat zwar einiges an Montanos „Biblia Regia", vor allem auch an ihrem kritischen Apparat, auszusetzen, doch sieht er keinen Anlaß für ein Einschreiten oder eine Verurteilung durch die Inquisition.31 Grundsätzlich ist Mariana der Ansicht, daß Arias Montano als Einzelperson von diesem ehrgeizigen Unterfangen der Bibeledition überfordert gewesen sei. Wie Cisneros hätte er sich mit Gelehrten und Experten umgeben sollen. Seine Hauptkritik richtet sich gegen die Vernachlässigung der Vulgata als Autorität. Hier habe 26
Vgl. ebd. 85. Diese Spannung zwischen Humanismus und Autorität im Kampf um die Wahrheit und gegen die Wahrscheinlichkeit erklärt wohl letztlich Marianas .Originalität' und Sperrigkeit. 28 Zum Aufbau und zu den Prinzipien der „Biblia Regia", vgl. Bernard Roussel, Lire la Bible. Des auteurs, in: ders./Bedouelle (Eds.), Le temps des Réformes (wie Anm. 2), 2 6 2 268. Zur Bedeutung von Benito Arias Montano für die spanische Geschichtsschreibung im 16. Jahrhundert vgl. Stefania Pastore, Dalle Fiandre all'Escoriai. Benito Arias Montano, José de Sigüenza e la riscoperta del Quattrocento spagnolo, in: Firpo (Ed.), Nunc alia tempora (wie Anm. 20), 4 5 5 ^ 7 5 . 29 Vgl. Bataillon, Érasme (wie Anm. 5), 24 f. 30 Die Anzeigen gegen Arias Montano (1576) und gegen die Hebraisten von Salamanca (1572) gehen auf León de Castro, Theologieprofessor in Salamanca, zurück; vgl. Bataillon, Érasme (wie Anm. 5), 784f; zum weiteren Kontext vgl. Stefania Pastore, Il Vangelo e la Spada. L'Inquisizione di Castiglia e i suoi critici (1460-1598). Rom 2003, 383-401. 31 Zur Arbeit Marianas als Zensor vgl. Georges Cirot, Mariana historien. Bordeaux 1904, 5-16. Mariana hält eine Verurteilung für inopportun. Man solle die Fehler der Bibel lieber verschweigen! 27
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sich Anas Montano zu stark von rabbinischen Gelehrten anleiten lassen, anstatt auf die bewährten Kirchenväter zurückzugreifen, um die Probleme der Vulgata-Überlieferung, die er als solche anerkennt, in den Griff zu bekommen. Die Textkorrektur kann zwar philologisch-kritisch durchaus notwendig sein (eine Frage der Wahrscheinlichkeit), doch sollte dies nicht dazu führen, daß die von Trient festgelegte Verbindlichkeit der Vulgata in Glaubensfragen (eine Frage der Wahrheit) angegriffen wird. Grundsätzlich ist festzuhalten, daß Mariana sich trotz seiner dogmatischen Bedenken weigert, auf hebräische Studien und jüdische Gelehrsamkeit zu verzichten. Der Gelehrte müsse relativ freien Zugang zu Material haben, das zwar den einfachen Gläubigen verwirren mochte, dem Gelehrten jedoch das notwendige technische und philologische Handwerkszeug vermittelte.32 Lediglich was Glaubensfragen angeht, ist zwischen inspirierten und uninspirierten Quellen zu unterscheiden. Er wehrt sich in seiner Zensur gegen jedes Anliegen, die Hebräischstudien einzuschränken. Korrekte Kenntnisse der Sprache des Alten Testaments lassen sich nur durch das Studium des hebräischen Bibeltextes und durch die Berücksichtigung hebräischer Kommentare erwerben. Das Gegenteil zu behaupten, hieße auch das Studium der klassischen Sprachen und Autoren zu verbieten, nur weil diese nicht dem rechten Glauben entsprächen. Die jüdischen Autoren irrten in Glaubensfragen, doch ihre Kenntnisse des Hebräischen waren unübertroffen und nützlich.33 Wie Domenico Ferraro unterstreicht, ist Marianas Position, die sowohl den ,Hebraistas' als auch deren Kritikern widersprach, in erster Linie einem Festhalten an einem juristisch verstandenen Autoritätsverständnis geschuldet. Die Vulgata war nicht aus sich selbst heraus authentisch, sondern weil die kompetente Autorität, das Konzil von Trient, ergo die Kirche, dies so in Überseinstimmung mit der Tradition festgehalten hatte. Aus dem so begründeten Vorrang der Vulgata folgte keineswegs die Ablehnung der griechischen und hebräischen Texte, die trotz ihrer Mängel (die alle von Menschen behandelten Dinge betraf) zum Erbe der Kirche gehörten. Sie vermittelten auf ihre Weise, etwas vom göttlichen Geheimnis, das sich der menschlichen Anschauung nie vollkommen eröffnete, das aber ohne sie nicht ausgedrückt werden konnte.34 Mariana faßte seine Ansichten zur Bibelexegese 1609 in seiner Schrift „De Vulgata Editione" zusammen. Er hält fest, daß die Bibel ein geheimnisvolles Werk ist und sich selbst der Schriftsinn keineswegs immer leicht und eindeutig rekonstruieren läßt („plures esse sensus ac significationes").35 Darüber
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Vgl. Ferraro, Tradizione (wie Anm. 23), 84 f. Vgl. Cirot, Mariana (wie Anm. 31), 14-16. 34 Ferraro, Tradizione (wie Anm. 23), 76 f. 35 Juan de Mariana, Pro Editione Vulgata, in: [Migne], Scripturae Sacrae Cursus Completus. Paris 1839, 590-699, hier 599. 33
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hinaus sei der Text durch Abschreibfehler vielfach entstellt („aggressus").36 Marianas Überlegungen bezeugen zweierlei: einerseits sein Verständnis des biblischen Textes als historisch gewachsen, weshalb philologische Kritik notwendig ist, andererseits seine grundsätzliche Skepsis gegenüber der menschlichen Fähigkeit, Fehler zu erkennen und wirklich zu verbessern, d.h. die Grenzen der philologischen Kritik. Nicht wenige, so Mariana, hätten im Bestreben, den wahren Text herzustellen, die Sache nur noch schlimmer gemacht: entweder weil ihre philologischen Kenntnisse, wie er meinte, unzureichend waren (Erasmus, Lorenzo Valla), oder weil sie von Passionen angetrieben wurden, die ihre Erkenntnis trübten (Protestanten und andere Ketzer), kurzum weil sie Menschen waren. Resigniert stellt er fest: „nihil esse tam sanctum quo humana pravitas abuti non possit".37 Dieser Pessimismus ist zutiefst historisch und stark augustinisch geprägt. Die Vorstellung, daß nichts bleibt wie es ist, alles ständiger Veränderung, meist zum schlechteren, unterworfen ist, daß „Zeit und menschliche Verderbtheit" die historische Kraft schlechthin darstellen, kann man ohne Übertreibung als Leitmotiv bezeichnen, die sein exegetisches, historisches und politisches Werk durchzieht.38 Dieser Pessimismus leitet in seinem historischen Werk39 einen pragmatischen Empirismus an: Die Geschichte ist Quelle der Erkenntnis, aus der man Prinzipien ableiten kann, die allgemeingültig und damit wahr und nicht nur wahrscheinlich sind 40 - wie zum Beispiel die Tatsache, daß Geschichte immer Verfall heißt und der Mensch schlecht ist.41 Dieses Wahrheitsverständnis ist nicht mit Tatsachenwahrheit, also mit der Wirklichkeit, zu verwechseln. Für seine Geschichte Spaniens bedeutet dies auch, daß Mariana mitunter Elemente aufnimmt, die nicht im Sinne belegbarer Tatsachen, sondern im Sinne der Tradition glaubwürdig sind. So greift er z.B. auch auf Texte Isidors von Sevilla zurück, die von seinen Zeitgenossen als apokryph eingeschätzt wurden 42 , oder leitet den Stammvater Spaniens biblisch von Tubal, einem Sohn 36 Juan de Mariana, Pro Editione Vulgata (wie Anm. 35), 685. Mariana mahnt des weiteren zu mehr Bescheidenheit: „Ego in interprete divinarum Scripturarum modestiam praecipuam cuperem". 37 Juan de Mariana, Pro Editione Vulgata (wie Anm. 35), 698. 38 Dies ruft Harald Braun eindringlich in Erinnerung; vgl. Braun, Juan de Mariana (wie Anm. 3), 18, 25-39. 39 Neuere Arbeiten zu Mariana als Historiker fehlen. Allgemeine Hinweise zur spanischen Historiographie in Richard L. Kagan, Clio and the Crown. Writing History in Habsburg Spain, in: ders./Geoffrey Parker (Eds.), Spain, Europe and the Atlantic World. Essays in Honour of John H. Elliott. Cambridge 1995, 73-99. 40 Vgl. Ferraro, Tradizione (wie Anm. 23), 99. 41 Vgl. Juan de Mariana, De Rege et Regis Institutione Libri III. Toledo (Pedro Rodriguez) 1599, 43: „Verum ignavia maliciaque hominum, tempusque cuncta depravat. Ea est humanae vitae conditionis". 42 Vgl. Ferraro, Tradizione (wie Anm. 23), 23.
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Japhets (Gen 10,2) ab. 43 Diese biblisch verankerte Genealogie ist allerdings nicht Ausdruck eines naiven Glaubens an eine historisch belegbare Quelle, sondern Ausdruck einer pietas storica, die es erlaubte, die spezifischen Geschichten, in diesem Fall jene Spaniens, im Kontext der europäischen Christenheit zu verorten. Dieses Verfahren sollte allerdings mit der Auflösung derselben infolge der religiösen und politischen Auseinandersetzungen sowie auch im Gefolge der historischen Bibelkritik im Laufe des 17. Jahrhunderts endgültig obsolet werden.44 Wohl gerade weil Mariana dem Menschen nicht viel Gutes zutraut, sind seine exegetischen und historischen Werke auf die Begründung und Bestätigung von Autorität und Tradition ausgerichtet. Wie ist es möglich, daß ausgerechnet aus seiner Feder ein Werk stammt, das nach Einschätzung vor allem englischer und französischer Zeitgenossen monarchische Autorität untergrub und an Gefährlichkeit kaum zu überbieten war? Und welche Rolle spielen Bibelbezüge in der Argumentation des Bibelexegeten und Historikers? Dieser Frage wollen wir im folgenden nachgehen.
III. „De Rege" und die Bibel 1. Ursprung und Charakter politischer Herrschaft „De Rege" (1599) war ein Auftragswerk. Der Erzieher des jungen Philipp III., Garcia de Loaysa, forderte es als Anleitung zum guten Regieren für den zukünftigen Herrscher an. Er beauftragte einen guten Freund, einen Mann, dessen Orthodoxie über jeden Zweifel erhaben war, der als Autor der monumentalen Geschichte Spaniens (1592) das nötige Wissen hatte, der zu den stilsichersten neulateinischen Autoren Europas zählte und der vielleicht der letzte große Exponent der spanischen humanistischen Tradition war: Juan de Mariana.45 Allzu häufig werden diese für das Verständnis des Werks fundamen-
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Vgl. Fernando Domínguez, Artikel zu Marianas Spanischer Geschichte, in: Volker Reinhardt (Hrsg.), Hauptwerke der Geschichtsschreibung. Stuttgart 1997, 411-414, hier 412. Die Einschätzung Domínguez' (412) wonach er „sich stärker um guten Stil als um Prüfung des Wahrheitsgehalts seines Materials bemühte", geht daher völlig am Problem vorbei. Er legt auch Marianas Motto, „plura transcribo quam credo" falsch aus (Mariana verlange von den Quellen nicht mehr als eine gewisse „Wahrscheinlichkeit oder Ausgewogenheit"). Gerade um Wahrscheinlichkeit geht es nämlich nicht, sondern um Wahrheit im Sinne von Glaubwürdigkeit im ganz aristotelischen Sinne; vgl. Aristoteles, Poetik. Übersetzt v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1982, Kapitel 25. Daß Mariana sich dabei im Stil an Tacitus und Livius orientiert, ist selbstverständlich. 44
Vgl. Roberto Bizzocchi, La storiografia genealogica nell'età della controriforma, in: Firpo (Ed.), Nunc alia tempora (wie Anm. 20), 415-428, hier 4 1 5 ^ 2 0 . 45 Vgl. Ferraro, Tradizione (wie Anm. 23), 95.
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talen Umstände übersehen46: Es handelt sich weder um ein historisches Werk
noch um einen Beitrag zur politischen Theorie oder ein scholastisch ange-
hauchtes, systematisches Werk im Sinne von „De Iustitia et Iure" (Luis de Molina, 1593) oder „De Legibus" (Francisco Suärez, 1613). Mariana verfaßte keinen Traktat zum Tyrannenmord, womit sich lediglich ein Kapitel befaßt, sondern ein Buch zur Erziehung eines rey prudente. Der Autor ist alles andere als ein Apologet des Tyrannenmords, sondern ein eher konservativ' gesinnter Verfechter starker monarchischer Herrschaft, die freilich nicht legibus solutus sein sollte.47 Es ist wohl vor allem ein pädagogisches Anliegen48, das Mariana veranlaßt, sich mit diesem Thema zu befassen. Im Sinne einer Pädagogik der Angst wird der Tyrannenmord als abschreckendes Beispiel vor Augen geführt. Allerdings fußt die Behandlung dieses Problems auf theoretischen Überzeugungen, wonach politische Herrschaft nicht direkt von Gott abgeleitet, sondern in erster Linie rein innerweltlich und radikal säkular begründet wird.49 Obwohl Mariana „De Rege" im Vergleich zu seiner spanischen Geschichte eher spekulativen Charakter zuschreibt, argumentiert er innerhalb des Werkes zur Veranschaulichung abstrakter Ratschläge immer auch mit historischen Beispielen, ganz im Sinne der Vorstellung, daß die Geschichte ein „stummer Lehrer" sei. 50 Allerdings ist Marianas Umgang mit den Beispielen komplex, bisweilen ausgesprochen paradox. Im folgenden soll nicht die Frage des Einsatzes der Bibel in „De Rege" überhaupt im Zentrum stehen, sondern die Frage, welche Rolle sie für die Begründung politischer Herrschaft und für das Problem des Tyrannenmords spielt. Art und Charakter der Bezüge, ihr Beispielcharakter, aber auch die von Mariana unternommene historische Kontextualisierung sollen dabei im Mittelpunkt stehen.
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Diesen Umstand übergeht auch Quentin Skinner, der Mariana ohne Zögern zu den Verteidigern der Widerstandstheorie und des Tyrannenmords zählt und für den der Erziehungsaspekt des Werkes offensichtlich eher Beiwerk als Fundament ist, vgl. Quentin Skinner, The Foundations of Modern Political Thought. Vol. 2: The Age of Reformation. Cambridge 1978, 345-348. Hiergegen Braun, Juan de Mariana (wie Anm. 3), 3ff., 150f. und öfter, der Mariana überzeugend in sein spanisches Umfeld und die politische Diskussion um die Zukunft der Monarchie am Ende der langen Regierungszeit Philipps II. einordnet. 47 Vgl. Braun, Juan de Mariana (wie Anm. 3), 157. Die Hochschätzung von Gehorsam war überdies ein jesuitisches Erziehungsideal und zugleich in die Statuten des Ordens und seine streng hierarchische Organisation eingeschrieben, vgl. Höpfl, Jesuit Political Thought (wie Anm. 18), 26-44. 48 Dies hat hier Vorrang vor einem weiteren Grund, den Höpfl betont, und zwar daß sich Jesuiten mit Tyrannenmord befassen, weil es sich um ein „Standard topic in text-books on theology and law" handelt, vgl. Höpfl, Jesuit Political Thought (wie Anm. 18), 314. 49 Vgl. Ulrich Dierse, Widerstand gegen den ungerechten Herrscher bei Juan de Mariana und einigen anderen Autoren, in: Frank Grunert/Kurt Seelmann (Hrsg.), Die Ordnung der Praxis. Neue Studien zur spanischen Spätscholastik. Tübingen 2001, 269-280, hier 271. 50 Vgl. Braun, Juan de Mariana (wie Anm. 3), 3.
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Anders als man erwarten könnte, argumentiert der Historiker und Theologe Mariana, wenn es um den Ursprung politischer Herrschaft geht, weder historisch noch theologisch. In seinem ersten Kapitel entwirft er unter dem aristotelisch anmutenden Titel „Homo natura est animal sociabile" einen historisch unverortbaren Zwischenzustand (einen nicht näher lokalisierten „initio" nach dem Sündenfall), in dem die Menschen ohne feste Struktur vereinzelt durch die Natur streifen.51 Mit keinem Wort allerdings erwähnt Mariana den Sündenfall als notwendige Voraussetzung politischer Herrschaft. Seine Beschreibung mischt, fast ein wenig elegisch, verschiedene klassische Topoi (Vergil, Cicero, Machiavelli, Thomas von Aquin) und Anklänge an die Vorstellung eines .Goldenen Zeitalters'. Doch während bei Aristoteles und Thomas von Aquin der gesellschaftliche Zusammenschluß der Menschen positiver Ausdruck ihrer geselligen Natur und Solidarität ist, schiebt sich in Marianas Schilderung rasch die Vorstellung menschlicher Verworfenheit als Begründung in den Vordergrund.52 Nicht der Schutz vor Natur und Umwelt allein, sondern die Feststellung, daß die Mitmenschen sich wie wilde Räuberbanden verhalten53, bringen einige Menschen zur Erkenntnis, ihr Zusammenleben in eine strukturiertere Form („mutuum foedus societatis") zu überführen und sich der Autorität eines rector zu unterstellen. Doch die Herrschaft des rector (auch „quasi multidunis custos"), die noch weitgehend einfach (fast instinktiv) ist und ohne komplizierte Gesetze und Zwangsgewalt auskommt, bezeichnet noch nicht den völligen Übergang zur politischen Herrschaft. Auch hier ist der Motor wieder menschliche Schwäche und Gier, die schließlich auch zur Multiplikation der Gesetze führen: zur Zähmung des einzelnen und der Masse. 54 Zugleich sind die ersten Gründer von Königreichen reichlich skrupellose Usurpatoren oder Tyrannen, die die „gentes liberas" unterdrücken und nur von naiven Zeitgenossen mit legitimen Herrschern verwechselt werden können.55 Dieser Prozeß läßt sich laut Mariana an der antiken Geschichte, aber auch am Alten Testament, das hier wie ein weiteres Geschichtsbuch gebraucht wird, belegen. Es ist bezeichnend, daß auch das alttestamentarische Beispiel nicht als positiver Beweis für die Rechtmäßigkeit der Einzelherrschaft zählt, sondern als historischer Beweis für das von Mariana als universell gültig auf-
51 Mariana, De Rege (wie Anm. 41), 16: „Solivagi initio homines incertis sedibus ferarum ritu pererrabant [...]." 52 Vgl. Braun, Juan de Mariana (wie Anm. 3), 18. Historischer Verfall macht sich auch hier schnell bemerkbar und setzt dem friedlichen Zusammenleben in Familien bei wachsender Bevölkerung ein Ende. 53 Mariana, De Rege (wie Anm. 41), 20: „Ubique latrocinia, direptiones, caedesque impune exercebantur: nullus innocentiae tutus locus, nullus tenuitati". 54 Ebd. 23. 55 Ebd. 24 f.
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gefaßte Verfallsprinzip.56 Wie Braun richtig feststellt, ist diese Beschreibung Marianas meilenweit entfernt von der naturrechtlichen Begründung politischer Herrschaft, die man in der sogenannten zweiten Scholastik der Schule von Salamanca findet.57 ,The world we have lost', so könnte man Marianas Beschreibung des Übergangs von den rectores zu komplexeren Herrschaftsgebilden bezeichnen. Erbliche Königsherrschaft ist trotz alledem noch das kleinste aller Übel, wie seine Analyse der verschiedenen Regierungsformen ergibt. Die in sonstigen Widerstandstheorien übliche Vorstellung, daß etwa eine Versammlung von Magistraten zu besseren Ergebnissen führe, wischt er vom Tisch. Der schlechtere Teil werde sich in einer Masse immer durchsetzen.58 Letztlich kann nur der wohlinstruierte Herrscher verhindern, daß legitime Herrschaft gewaltsam degeneriert. Mäßigung, d. h. auch gesetzgeberische Zurückhaltung, Respektierung der Gesetze und Gewohnheitsrechte unterscheidet den König vom Tyrannen, und diesen Gegensatz führt Mariana in einem eigenen Kapitel (Buch I, Kapitel V: „Discrimen Regis & tyranni") vor. Der Fürst hat seine Macht von freien Menschen, nicht von Sklaven erhalten, weshalb er sie achten und schützen muß. Die Macht ist ihm nicht bedingungslos übertragen.59 Nur Schmeichler wollen den König glauben machen, daß er nicht „custos", sondern (absoluter) Herr des Staates sei.60 Der wahre König ist jedoch ein Exemplum der Mäßigung und der Pädagogik (er legt z.B. die Gründe für Kriege und daher für Steuererhöhungen dar). Deshalb schart er nicht Schmeichler um sich, sondern die besten Männer seines Reichs aus allen Provinzen. Ihr Ratschlag ist ihm eine Quelle der (bitteren) Wahrheit, die allein glückliche und gerechte Herrschaft verspricht: „Et sunt veritatis radices amarae, fructus suavissimi."61 Der gerechte Herrscher respektiert seine Ratgeber und die Gewohnheiten und Gesetze seines Reiches, Neuerungen sind nur im Sinne einer Wiederbelebung der ursprünglichen Prinzipien nützlich und erstrebenswert.62 Der Gegensatz zwischen König und Tyrann ist vornehmlich eine Frage der Herrschaftsausübung, und Mariana illustriert dies an historischen Beispielen, die das Umschlagen von legitimer Herrschaft in Tyrannei belegen. Als erstes 56
Ebd. 24-34. Nach der Einführung der Königsherrschaft verlor das Volk Israel seine Freiheit. Ähnliche Prozesse werden an der antiken und spanischen Geschichte aufgezeigt. 57 Vgl. Braun, Juan de Mariana (wie Anm. 3), 21 f. 58 Mariana, De Rege (wie Anm. 41), 32. 59 Ebd. 57: „Rex quam ä subditis accepit potestatem singulari modestia exercet [...] ut subditis non tanquam servis dominetur, quod faciunt tyranni, sed tanquam liberis praesit: & qui ä populo potestatem accepit, id in primis curae habet, ut per totam vitam volentibus imperet, atque subditorum benevolentiam praecipue bonorum, laudemque bonis artibus factus popularis colligat." 60 Ebd. 59: „Neque enim se Princeps reipublicae & singulorum dominu arbitrabitur, quamvis assentatoribus id in aure insussurantibus, sed rectore mercede ä civibus designata [...]" 61 Ebd. 61. 62 Vgl. Höpft, Jesuit Political Thought (wie Anm. 18), 241-247.
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Beispiel führt er Nero an, der nach einigen Jahren völlig korrekter („commodissimus") Herrschaftsausübung seine wahre Natur zeigt. Er gleicht einem Monstrum („quasi bestia indomita"). Vom Einzelfall leitet Mariana allgemeine Kennzeichen der Tyrannen ab, die, wie die Monster und Chimären aus den Fabeln, sich nur schwer vertreiben lassen. Aber daß sie vertrieben werden müssen wird hier (noch) implizit suggeriert.63 Das Kennzeichen der Tyrannen ist, daß sie zur Absicherung ihrer Herrschaft alle möglichen Konkurrenten oder klugen Berater beseitigen und durch unmäßige finanzielle Forderungen ruinieren. Als Beispiel werden hier Nimrod und der ägyptische Pharao angeführt. Letztlich ist der Tyrann von Furcht angetrieben: Er muß jene fürchten, die ihn fürchten, da sie ihm nach dem Leben trachten („metuat tyrannus necesse est quos terret... ab iis exitium ne comparetur"). Daher verhindert er jede Abstimmung der Untertanen, jede legale Möglichkeit, sein schädliches Handeln zu begrenzen, wie wiederum mit Verweis auf Nero und Tarquinius Superbus illustriert wird. 64 In diesem Kapitel malt Mariana die Allgewalt des Tyrannen in allen Farben und mit historischen Beispielen aus. Daß es schlecht und verwerflich ist, sich als Tyrann zu gerieren, ist mehr als deutlich. Doch wer kann es wirklich verhindern? Könnte nicht gerade die pessimistische Schilderung Marianas den jungen Prinzen dazu verleiten, sich genauso tyrannisch zu verhalten, da er hoffen kann, zumindest auf dieser Welt (die Strafen im Jenseits spielen für Marianas Argumentation keine Rolle) ungestraft davon zu kommen? 2. Der Tyrannenmord als Exempel Es kann kein Zufall sein, daß Mariana nun, nach der Schilderung tyrannischer Herrschaft, zu einem Kapitel übergeht, das den Tyrannenmord selbst untersucht. Er führt dieses Kapitel zwar als Frage ein („An tyrannum opprimere fas sit"), doch besteht kein Zweifel, daß es als pädagogisch nützliches, abschrekkendes Beispiel einer Pädagogik der Angst gedacht ist. Es soll den rational denkenden Prinzen im Interesse seiner Selbsterhaltung davon abhalten, sich tyrannisch aufzuführen. Nach wenigen Zeilen Einführung zum von Himmel und Mensch verfluchten Wesen des Tyrannen („Tale est tyranni ingenium moresque caelo eque ac hominibus invisi...") folgt wie ein Paukenschlag das aktuelle Beispiel, das dem jungen Fürsten zu denken geben soll. In Frankreich hatte sich vor kurzem erst ein besonders eindrücklicher Fall ereignet: Heinrich III. von Frankreich war von einem Mönch erstochen worden. Wehe dem also, der meint, daß Marianas bisherige Beispiele aus der Antike zu weit zu63 64
Mariana, De Rege (wie Anm. 41), 61. Ebd. 64 f.
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rückliegen oder veraltet sein könnten.65 Das tagesaktuelle Beispiel räumt jeden Zweifel aus: Gestern wie heute ist es lebensgefährlich, more tyrannico zu regieren, selbst wenn man einen noch so legitimen Titel trägt. Denn wie wir inzwischen wissen, ist für Mariana nicht notwendigerweise die Art des Herrschaftserwerbs entscheidend für den Unterschied zwischen König und Tyrann, sondern die Art der Herrschaftsausübung. Hat man erst einmal den Respekt seiner Untertanen verloren, setzt das die unberechenbaren Kräfte („torrentius") der „plebs" frei. Vektor dieser „vox plebis" ist hier ein Mönch, ein Dominikaner, der an der Sorbonne angeblich von Theologen über die Lehre vom Tyrannenmord aufgeklärt wurde.66 Die Ermordung Heinrichs III. ist das beherrschende abschreckende Paradebeispiel, das hier an erster Stelle mit Liebe zum Detail und kaum verhohlener Genugtuung auf insgesamt drei Seiten ausbreitet wird.67 Heinrich III. steht für den zweifellos legitimen Fürsten, der trotz bester Voraussetzungen68 im Laufe seiner Herrschaftsausübung zum Tyrann wird. Dies wird dadurch deutlich, daß die Taten, die Mariana Heinrich III. zuschreibt, genau jenen entsprechen, die im vorhergehenden Kapitel schon an anderen Beispielen als für Tyrannen charakteristisch angeführt wurden. Marianas Liste der Untaten, mit denen Heinrich seinen Titel als rechtmäßiger Herrscher de facto verwirkt, ist bedenklich: Ohne Nachkommen habe er sein Königreich einem auch vom Papst als solcher verurteilten Häretiker vermachen wollen69, was zu einer Revolte des französischen Adels und der Stadt Paris geführt habe. Doch anstatt auf seine natürlichen Ratgeber zu hören, habe er deren Exponenten (die Guise) 65 Ebd. 65f: „[...] multis exemplis tum antiquis tum recentibus explicare promptum est. Nuperque in Gallia monimentum nobile est constitutum: quo perspicitur quanti referat popularium animos pacatus esse, quibus non perinde ac corporibus imperatur, insigne ad memoriam atque miserabile Henricus eo nomine tertius Gallie Rex iacet manu monachi peremptus, medicato cultro in viscera adacto [...] sed quo Principes doceantur impios ausus haud impune cadere. Principum potentiam imbecillam esse: si reverentia ab animis subditorum semel abscesserit" [Hervorhebungen N. R.]. 66 Die gängigen Argumente werden nicht hier, sondern weiter unten im einzelnen durchgespielt; wir werden darauf zurückkommen. 67 Mariana, De Rege (wie Anm. 41), 65-69. 68 Ebd. 69: „[...] felix futurus, si cum primis ultima contexuisset, [...] qualis sub Carolo fratre Rege fuisse credebatur adversus perduelliones copiarum bellique dux [...] Sed cesseruntprima postremis, bonaque inventae maior aetas flagitio obliteravit [...]" [Hervorhebung N. R.]. 69 Bellarmins Theorie der Potestas indirecta spielt weder hier noch sonst eine Rolle für Mariana. Im Vordergrund steht, daß Heinrich IV. als Häretiker ipso facto kein legitimer Thronerbe sein kann. Zugleich handelt es sich auch um eine Parteinahme für eine spanische Nachfolge auf dem französischen Thron. Die loi salique war nach spanischer Einschätzung eine arbiträre Einrichtung zur Ausschaltung legitimer Erben. So auch bei Juan Azor, Jesuit und Zeitgenosse Marianas; vgl. Juan Azor, Institutionum Moralium in quibus universae quaestiones ad conscientam recte aut prave factorum pertinentes, breviter tractantur, Pars secunda. Romae (ex Typographia Alfonsi Ciacconi, apud Carolum Vulliettum) 1606, 674 f.
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töten lassen, die zudem von königlichem Geblüt waren. Ohne jede Anklage, ohne Möglichkeit zur Verteidigung wurde das Ganze im Nachhinein als Recht, als Strafe für den nie bewiesenen Hochverrat ausgegeben. Dieser Mord war besonders verwerflich, da der König sich verstellte, um seine Opfer in Sicherheit zu wiegen, die sich überdies anläßlich der Etats Généraux in Blois eingefunden hatten.70 Letzteres scheint auf den im vorhergehenden Kapitel angedeuteten Umstand zu verweisen, daß Tyrannen rechtmäßige Versammlungen der Vertreter des Reiches unterbinden. Hinterhältigkeit, Grausamkeit, Rechtsbruch auf allen Ebenen, Aushebelung der gewohnheitsrechtlichen Institutionen und ihrer Vertreter, Ausschaltung legitimer Thronanwärter (Guise), Mord - all dies sind Elemente, die der Leser im vorhergehenden Kapitel als tyrannisch kennengelernt hat und die hier am Beispiel Heinrichs III. praktisch illustriert werden.71 Die Art, wie das Beispiel nach der Exposition der Charakteristika der Tyrannei eingeführt wird, enthebt den Autor langer Kommentare, auch wenn die Wortwahl seine Sympathien deutlich macht. Das Beispiel erklärt sich so quasi von selbst. Diese Selbstevidenz des Tatbestands macht den Täter nicht zu einem Einzeltäter, sondern zu einem, der ausführt, was viele denken. Doch nachdem er ein glasklares historisches Exempel vorgeführt hat, vollzieht Mariana eine Pirouette, indem er dialektisch das bisher Gesagte anhand anderer Exempel kontrovers untersucht und wieder in Zweifel zieht. Ist es wirklich legitim, als Privatperson einen gesalbten legitimen Herrscher zu beseitigen? Mariana bemerkt, daß keineswegs Einigkeit besteht, wie man die Tat Jacques Cléments beurteilen soll: „De facto monachi non una opinio fuit." 72 Kluge und gelehrte Stimmen verurteilten die Tat einer Einzelperson („privata autoritate"), und sie verweisen dabei auf das Beispiel Sauls. Trotz seiner Laster und privater Verfehlungen, seiner Tyrannei, die allein schon ausgereicht hätten, daß Gott ihn seines Titels beraubte, habe er dennoch nicht aufgehört, rechtmäßiger König der Juden zu sein. Und auch David, der die Verworfenheit Sauls kannte, habe ihm die Krone nicht entrissen, vielmehr habe er Saul verteidigt, da er der von Gott gesalbte König war.73 Dieses Prinzip gelte nicht nur für die Könige des 70
Mariana, De Rege (wie Anm. 41), 66f.: „[...] haud magno intervalle) simulât se ad meliora consilia traduetum publice de communi salute deliberare velle. Blesis, quae urbs Ligen alluitur, cunctis ordinibus eius accitu convenientibus, Guisum & Cardinalem eius fratrem securos per fidem conventus in regia perimit: confiais tarnen post caedem maiestatis criminibus, ut iure factum videretur, accusati nullo defendente, decretumque ut lege maiestatis punirentur, capit alios, in his Borbonium Cardinalem, cui affecta quamvis aetate, proxima imperandi spes post Henricum destinabatur iure sanguinis" [Hervorhebungen N.R.]. 71 Die Sorbonne hatte Heinrich III. daher schon am 4. Januar 1589 exkommuniziert; vgl. Mariana, De Rege (wie Anm. 41), 67. 7 2 Ebd. 69. 73 Ebd. 70.
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Alten Testaments, die zweifelsfrei von Gott eingesetzt waren, sondern auch für die grausamen römischen Kaiser, die sich zum Zeitpunkt der Entstehung der ersten Christengemeinden durch schlimme „carnificia" auszeichneten, die man geduldig ertragen habe, da Paulus unmißverständlich erklärte, daß Widerstand gegen die Träger der politischen Herrschaft mit Widerstand gegen den Willen Gottes gleichzusetzen sei.74 Doch schwerer als die biblischen Standardbeispiele wiegt für Mariana ein historisch überprüfbarer Sachverhalt: Jene, die einen Herrschaftswechsel herbeiführten, provozierten häufig eine Verschlimmerung der Zustände.75 Die Geschichtsbücher seien voll von Beispielen, die diesen Trend zur Verschlechterung bewiesen. Tyrannei müsse also unter Umständen ertragen werden, besonders weil sie nicht nur ,von oben' gemacht werde, sondern sich auch durch den Charakter der Völker erkläre.76 Wohin käme man, wenn man es dem Pöbel anheimstellte, die Könige zu richten? Bürgerkriege und Chaos wären die Folge. Doch auch die Verteidiger des Volkes („populi patroni") hätten sehr gute Argumente.77 Da die „regia potestas" in der „res publica" ihren Sitz und Ausgangspunkt habe, da es sich also um übertragene Macht handle, könne diese wieder entzogen werden. Der Fürst ist demnach an Konsens gebunden, zum Beispiel wenn es um Steuererhebungen und das Erlassen von Gesetzen geht. Diese Konsensgebundenheit wird durch das erbmonarchische Prinzip nicht außer Kraft gesetzt. Auch wer die Krone erbt, wird erst nach der Huldigung und nach der eidlichen Garantie der Rechte seiner Untertanen zum König.78 Nun macht Mariana eine lange Liste getöteter antiker Tyrannen auf, deren Mörder bis heute in Ruhm und Ansehen stehen (Aristogiton und Harmodius, Brutus, Julius Martialis). Man lese nur Rühmliches über sie. Offensichtlich existiere ein von der Natur eingegebener Sinn, fast ein Gesetz, das es dem
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Ebd. 71. Dies scheint ein weiterer Beweis für das Festhalten an der Autorität zu sein, das Mariana auch bei neuen Bibeleditionen bevorzugt. 76 Als Beispiel dient hier Pedro der Grausame von Kastilien, vgl. Mariana, De Rege (wie Anm. 41), 72. Seine grausame Herrschaft sei nicht ihm allein anzulasten („non tarn ipsius culpa"), sondern der Gier und Rachsucht des Adels. Ein weiteres Beispiel für Marianas grundsätzlich anti-aristokratische Disposition. 77 Mariana, De Rege (wie Anm. 41), 72. 78 Auch hier wird wieder deutlich, wie stark Marianas Denken von der spanischen Geschichte geprägt ist. Die spanische Monarchie, in der die Bestätigung der fueros, der Eid des Königs und der Granden den Herrschaftsübergang begleiten, aktualisiert die Vorstellung der Gegenseitigkeit der Verpflichtung und der Übertragung der Macht immer wieder aufs neue. Diese Argumentation ist also nicht revolutionär, sondern traditionell spanisch; vgl. Guenter Lewy, Constitutionalism and Statecraft during the Golden Age of Spain. A Study in the Political Philosophy of Juan de Mariana, S. J. Genf 1960, 72. Das Mißverständnis Marianas in Frankreich beruht wohl darauf, daß in Frankreich die Parlements nicht repräsentative Träger des Reiches sind, sondern die eingeschworensten Paladine des .Absolutismus', was sie allerdings im 18. Jahrhundert gerne vergessen machen möchten. 75
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Menschen erlaube, Gutes von Schlechtem zu unterscheiden.79 Allgemein anerkannt sei auch, daß Tyrannen wilden Bestien glichen und ergo zu beseitigen seien. Nach Gegenüberstellung der Pro- und Contra-Argumente, bei der Mariana gegen den Tyrannenmord biblische Beispiele ins Feld führt und für den Tyrannenmord auf die griechische und römische Antike verweist, rollt er das Problem nun eher systematisch auf. Die klassische Unterscheidung zwischen dem Tyrann, der als solcher erkennbar ist, weil er die Macht gewaltsam an sich gerissen hat, und dem legitimen Herrscher, der seine Macht tyrannisch mißbraucht („ex usus"), hilft bei der Einschätzung des Problems nicht weiter. Der erste Fall ist klar80: Theologen und Philosophen sind sich einig, daß es sich um einen Tyrannen handelt, den man in einem Akt der Selbstverteidigung („vim vi ripellere") auch mit Gewalt beseitigen könne. Als unterstützendes Beispiel verweist Mariana auf Eglon, der von Ehud erstochen wurde (Richter 3,12-31). 81 Das wirkliche Problem ist der durch Erbe oder Wahl legitim ins Amt gelangte Herrscher, der zum Tyrannen degeneriert. Hier ist immer zu bedenken, so schärft Mariana erneut ein, daß durch seine Absetzung Schlimmeres nachkommen könne. Im Zweifel sei es besser, ungerechte Herrschaft noch eine Weile zu ertragen, als den Staat kopflos ins Verderben zu stürzen. Die Absetzung des Herrschers ist die ultima ratio, und sie sollte möglichst einem Stufenplan folgen. 82 Solange Versammlungen möglich sind, müsse der Fürst zunächst ermahnt werden und die Chance erhalten, sein Verhalten zu verbessern und den Forderungen der „res publica" nachzukommen. Falls er aber die „Medizin ausspucke" („medicinam respuat"), müsse er in einem öffentlichen Urteil für abgesetzt erklärt werden. Die Konsequenz sei letztlich ein Krieg gegen den abgesetzten Fürsten, in dem auch eine Privatperson im Sinne der Selbstverteidigung zu den Waffen greifen könne. Nach der rechtmäßig erklärten Absetzung erlischt die legitime Herrschaft, weshalb die Frage, ob eine Privatperson oder eine öffentliche Gewalt die Beseitigung durchführt, letztlich unerheblich ist. Doch das eigentliche Problem stellt sich, wenn öffentliche Versammlungen nicht mehr möglich sind. Dies ist, wie Mariana schon mehrfach festgestellt hat, gemeinhin typisch für tyrannische Herrschaft. Wer hält nun fest, daß es sich um Tyrannei handelt, wie soll man vorgehen? Hier verweist Mariana auf 79
Mariana, De Rege (wie Anm. 41), 74: „Et est comunis sensus quasi quaedam naturae vox mentibus nostris indita, auribus insonans lex, qua a turpi honestum secernimus". 8° Ebd. 74 f. 81 Zum ersten Mal wird ein biblisches Beispiel für den Tyrannenmord angeführt. Die Kategorisierung Eglons als Usurpator ist allerdings eigenartig. Eglon ist eindeutig von Gott zur Bestrafung Israels eingesetzt worden. 82 Mariana, De Rege (wie Anm. 41), 75 f.
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eine Überprüfung entlang dem bisher Gesagten, dem Abwägen der zukünftigen Risiken etc. Tyrannei ist eine Frage der „fama publica" und keinesfalls der privaten Meinung überlassen.83 Mariana argumentiert nun wieder historisch-empirisch. Insgesamt seien in der Antike nur wenige Tyrannen ermordet worden, auch in der spanischen Geschichte seien solche Vorfälle selten. Der Grund sei, daß die spanischen Fürsten offensichtlich wohl verstanden hätten, daß sie nicht über der res publica stehen. Die Pädagogik der Angst, so scheint es, hat Spanien bislang vor diesem Übel bewahrt. Daher sieht Mariana in jenen, die den Fürsten von etwas anderem überzeugen wollen, nämlich daß er über der res publica stehe, gemeingefährliche Schmeichler.84 Nun kommt Mariana nochmals auf die beiden biblischen Bezüge zu sprechen, die er zuvor gegen den Tyrannenmord ins Feld führte. Was folgt, ist eine völlige Dekonstruktion des biblischen Beispiels und damit des Arguments derer, die es zur Unterstützung der absoluten unantastbaren Fürstengewalt benutzen. Dies gelingt durch eine Kontextualisierung und Interpretation des Beispiels: Die Geschichte von Saul und David beweise nichts, denn David habe keinen ausreichenden Grund („satis causa") zur Beseitigung Sauls gehabt; es handelt sich also um ein ungeeignetes Beispiel. Erstens war Saul von Gott eingesetzt. Mariana sagt es nicht ausdrücklich, doch scheint er damit auf den Unterschied zwischen den Königen des Alten Testaments und den aktuellen Fürsten hinzuweisen, die nicht von Gott eingesetzt sind. Zweitens waren Sauls Laster nicht so schlimm, daß man sagen könnte, er habe seine Untertanen tyrannisch unterdrückt. Saul habe - anders als Heinrich III. in Marianas Charakterisierung - weder seine Untertanen ausgeplündert noch gegen göttliches und positives Recht verstoßen. Drittens war von vornherein klar, daß die Krone nach Sauls Tod auf David übergehen würde, weshalb es keinen Grund gab, sie ihm zu Lebzeiten zu entreißen. Auch das Beispiel der römischen Kaiser, die von den ersten Christen geduldig ertragen wurden, ist letztlich wertlos. Unwissentlich legten die Kaiser den Grundstock für die Ausdehnung des Christentums, das Blut der Märtyrer war der Grundstein der zukünftigen Größe der Kirche, sie waren Teil eines göttlichen Heilsplans. Es war nicht notwendig, die Kaiser zu beseitigen, doch wäre es rechtens gewesen.85 Die
83 Ebd. 77. Mariana führt hier das Urteil der „viri eruditi & graves" an, ohne näher darauf einzugehen, um wen es sich hier handelt. Seine französischen Gegner vermuteten, daß er damit seine Ordenskollegen meinte. Für diese Vermutung gibt es keinerlei Anhaltspunkt im Text. 84 Ebd. 78: „Fortassis is metus alique retardabit, ne se penitus vitijs atque adulatororibus corrumpendum tradat: frenos inijciet furori. Quod caput est, sit Prinicipi persuasum totius reipublicae maiorem, quam ipsius unius auctoritatem esse: neque pessimis hominibus credat diversum affirmantibus gratificandi studio: que magna pernicies est" [Hervorhebung N.R.]. 85 Ebd. 79: „Itaque nobilis historicus Sozomenus lib. Sexto, cap.secundo, militem, si quis
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Entwertung der biblischen Beispiele fußt offensichtlich auf ihrer grundsätzlichen Differenz zur Gegenwart. Mariana unterstreicht nun noch einmal, wie wichtig es sei, Volkserhebungen und Gewalt zu vermeiden, um schließlich ein bisher noch nicht behandeltes, aber klassisches Argument gegen den Tyrannenmord aufzugreifen: die Verurteilung Jean Petits durch das Konzil von Konstanz. Auch dieses Argument wird durch historische Kontextualisierung von innen ausgehöhlt: Es ist wertlos, da das Dekret weder von Martin V. noch irgendeinem anderen Papst bestätigt worden sei - damit sei es nicht verbindlich. Zudem sei der historische Kontext des Schismas zu beachten, in dem kein gültiges Urteil zustande kommen konnte. Mariana scheut in diesem Zusammenhang auch nicht davor zurück, das Konstanzer Dekret unvollständig zu zitieren, und er unterschlägt auch, daß das Dekret „generatim" als angenommen galt.86 Abschließend betont Mariana, daß er die Pro- und Contra-Argumente nach bestem Wissen und Gewissen ausgebreitet habe. Wenn man ihm Fehler nachweisen könne, ließe er sich gerne belehren. Dennoch kann er sich ein letztes Tacitus-Zitat nicht verkneifen. Es handelt sich um die Rechtfertigung des Tribunen Flavius und beschreibt, wie Treue in Haß umschlägt, eben in jenen Verlust des Respekts, der jedem Tyrannenmord vorausgeht. Damit rundet Mariana sein eindringliches, furchteinflößendes Tableau ab. 3. Charakter und Einsatz der Beispiele Beispiele sind in der Regel dazu da, allgemeine Sachverhalte zu belegen oder zu erklären.87 Es ist möglich, Beispiele zu erfinden oder historische Beispiele zu verwenden, die den Vorzug haben, sofort einen Gesamtkontext abzurufen, ein rhetorisches Verfahren, das sich gerade im 16. und 17. Jahrhundert großer Beliebtheit erfreute. Aristoteles ging zudem auch davon aus, daß historische Beispiele deswegen besonders beeindruckend seien, da die Vergangenheit der Zukunft gleiche. Daher eignen sie sich besonders gut dazu, Dingen, die es zu beweisen gilt, eine besondere Autorität zu verleihen. Durch Häufung der Beispiele kann der Prozeß auch umgedreht werden. Das Beispiel ist nicht mehr dem Allgemeinen untergeordnet, sondern dient dazu, allgemeingültige Positionen herauszuarbeiten. Doch funktioniert das Beispiel auch hier in erster forte Iulianum Imperatorem occidisset, uti eo tempore quidam accusabant, iure & cum laude fecisse ait." 86 Das Dekret habe sich gegen die Hussiten gerichtet, aber auch gegen die Apologie der Ermordung von Louis d'Orléans. Mariana deutet gar an, daß die Tyrannei Louis' d'Orléans es seinem Mörder (Jean de Bourgogne) unmöglich gemacht habe, den Konsens anderer einzuholen (!); vgl. Braun, Juan de Mariana (wie Anm. 3), 82. Zur Frage der Ratifizierung des Dekrets vgl. Höpfl, Jesuit Political Thought (wie Anm. 18), 320. 87 Vgl. John D. Lyons, The Rhetoric of Example in Early Modern France and Italy. Princeton 1989, 12-33.
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Linie durch das Prinzip der Ähnlichkeit und Kontinuität. Kurzes Evozieren ruft eine ganze Geschichte ab und verleiht der Behauptung Evidenz. Wie läßt sich Marianas Umgang mit biblischen und historischen Zitaten hier einordnen? Zunächst ist festzuhalten, daß biblische Beispiele relativ selten und in erster Linie dem Alten Testament entnommen sind. Sie werden nicht providentiell interpretiert, sondern historisch. Damit wird dem Bibelzitat nicht grundsätzlich eine höhere Beweiskraft zugeschrieben als dem einfachen historischen Beispiel; beide sind historisch. Die Bibelbeispiele, die Mariana heranzieht, sind .Klassiker' zur Delegitimation des Tyrannenmords. Bei Mariana belegen sie allerdings nicht das, wofür sie üblicherweise stehen. Seine Technik besteht auch in diesem Fall gerade darin, diese gewohnten Beispiele kontrastiv oder verfremdend einzusetzen. So vermittelt er ein Gefühl der Ambivalenz. Häufig werden widersprüchliche Beispiele einander gegenübergestellt, und es ist so am Leser, die Sinnbezüge herzustellen, die eben nicht über Ähnlichkeit, sondern durch ihre Gegensätzlichkeit wirken. Mitunter wird ein und dasselbe Beispiel auch gegensätzlichen Argumenten zugeordnet. „De Rege is one of those early modern texts which empower their readers", wie Harald Braun treffend feststellt.88 So wie Mariana überall das Wirken der Zeit und der Schlechtigkeit des Menschen als Motor der Geschichte ausmacht, so sind auch seine Beispiele Zeichen der Veränderung. Entweder das Beispiel berichtet von der Veränderung oder es markiert den Abstand zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit. Damit unterstreicht er wie schon in „De Vulgata Editione" die Polyvalenz des Schriftsinns („plures esse sensus ac significationes"). Durch die Entwertung jener Bibelzitate, die gewöhnlich zur Stützung starker Fürstenherrschaft und gegen den Tyrannenmord herangezogen werden, macht Mariana allerdings seine Skepsis gegenüber allen Versuchen deutlich, absolute Herrschaft biblisch zu legitimieren und zu überhöhen.89 Die Entstehung politischer Herrschaft ist ein innerweltlicher Vorgang wie auch die Absetzung und Beseitigung des Tyrannen. Die Bibel hat hier wenig beizutragen, sie ist daher weder zur Apologetik absoluter Herrschaft noch zur Rechtfertigung der Völksrebellion geeignet. Der Tyrannenmord ist vielmehr ein historisch nach88
Braun, Juan de Mariana (wie Anm. 3), 62. Mariana verwirft alle Versuche, Königsherrschaft thaumaturgisch zu überhöhen, als Aberglauben. Damit reflektiert er das wenig sakralisierte spanische Herrschaftsverständnis, und zieht zugleich die französischen Traditionen in Zweifel; vgl. Mariana, De Rege (wie Anm. 41), 249-260. Mariana insistiert grundsätzlich auf der Unabhängigkeit des Klerus gegenüber der Krone sowie auf dem Vorrang der geistlichen Berater. Letztlich geht es u. a. darum, den Einfluß des spanischen Nationalklerus auf die Gestaltung der spanischen Politik zu sichern; vgl. Harald E. Braun, Conscience, Counsel and Theocracy at the Spanish Habsburg Court, in: ders./Edward Vallance (Eds.), Contexts of Conscience in Early Modern Europe, 1500-1700. London 2004, 56-66. 89
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weisbares Phänomen. Als abschreckendes Beispiel hilft es, wahrscheinliches Verhalten einzuschätzen, um wahre, d. h. immer durch Autorität und Tradition begrenzte Herrschaft zu schützen. Die Vermittler dieser Wahrheit und des Respekts der Tradition und Autorität sind Männer seines Schlages und die Vertreter der spanischen Nationalkirche.
Auf der Suche nach den Ursprüngen des Divine Right of Kings Herrschaftskritik und Herrschaftslegitimation in Schottland unter Jakob VI. Von
Andreas Pecar Daß der englische König Jakob I. seine Königsherrschaft mit dem Divine Right of Kings legitimierte, ist in der historischen Forschung nicht umstritten. Kontrovers ist allerdings die Bedeutung dieser Aussage. Für Johann Sommerville ist die Bezeichnung des Divine Right of Kings der zeitgemäße Begriff für Absolutismus, für die Bindung des Monarchen ausschließlich an Gott, nicht aber an weltliche Instanzen.1 Conrad Russell hingegen sieht in diesem Begriff keinerlei Implikation für eine bestimmte Herrschaftsform. Vielmehr sei die Legitimation der Herrschaft durch Gott gemeinsame Anschauung aller Akteure gewesen, unabhängig von ihrem jeweiligen Standpunkt im Zusammenhang mit den Herrschaftsrechten und -pflichten eines Königs. Daß Könige ihre Herrschaftsgewalt unmittelbar von Gott selbst erlangt hätten, bedeute keineswegs, so Russell, daß sie nicht an Gesetze gebunden seien.2 Diese Positionen markieren die beiden Pole, zwischen denen sich die Debatte um das Divine Right bewegt.3 Sowohl Sommervilles als auch Russells Beitrag lassen jedoch zweierlei vermissen. Zum einen bleibt der religiöse Charakter der Formel vom Divine Right bei beiden Autoren unbestimmt, wird insbesondere der spezifische Umgang mit der Bibel als wichtigstem Fundament von Divine-Right-Theorien nicht hinreichend in den Blick genommen. Zum anderen beschränken sich beide Autoren darauf, das Divine Right und 1
Johann P. Sommerville, Royalists & Patriots. Politics and Ideology in England 16031640. 2. Aufl. London/New York 1999,9-54; ders., James I and the Divine Right of Kings. English Politics and Continental Theory, in: Linda Levy Peck (Ed.), The Mental World of the Jacobean Court. Cambridge 1991, 5 5 - 7 0 u. 283-289. 2 Conrad Russell, Divine Rights in the Early Seventeenth Century, in: John Morill/Paul Slack/Daniel Woolf (Eds.), Public Duty and Private Conscience in Seventeenth-Century England. Essays to G. E. Aylmer. Oxford 1993,101-120. 3 Russell und Sommerville geben gleichsam als Echo wesentlich ältere Positionen wieder. So bestritt bereits Allen, daß Jakob ein klares Verständnis eines Divine Right of Kings gehabt habe; John William Allen, A History of Political Thought in the Sixteenth Century. 4. Aufl. London 1960 [1928], 252-255. Auf der anderen Seite wertet Figgis Jakob VIA. als entschiedenen Verfechter des Divine Right of Kings; John Neville Figgis, The Divine Right of Kings. With an Introduction by G. R. Elton. New York 1965 [1896], 137 f.
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seine Bedeutung für England zu bestimmen. Die Ursprünge des Divine Right of Kings liegen aber, zumindest was die Person des Monarchen Jakob betrifft, in seinen Erfahrungen als schottischer König begründet. Bevor nämlich Jakob als König und Autor das Divine Right für sich in Anspruch nahm, war er damit konfrontiert, wie sich insbesondere presbyterianische Geistliche in Schottland auf die Bibel beriefen, um politisch Einfluß zu nehmen. Dabei stand zunächst die Absicht im Vordergrund, die Reformation auch politisch abzusichern und irreversibel zu machen, später richtete sich das Interesse darüber hinaus auch auf die Durchsetzung einer presbyterianischen Kirchenstruktur. Zunächst wird anhand dreier Wortmeldungen einflußreicher Geistlicher vorgeführt, welches herrschaftskritische Potential eine auf Aktualisierung abzielende Bibelauslegung und der Bezug auf das Divine Right entfalten konnten. Anschließend stehen zwei Beiträge im Mittelpunkt, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, anhand biblischer Maxime und exempla die Unantastbarkeit des Königs darzulegen, das Divine Right also für den König selbst verfügbar zu machen.
I. Im Jahr 1560 wurde die Reformation in Schottland durch das Parlament eingeführt. Nach dem Tod der katholischen Regentin, Maria Guise, und vor der Rückkehr der ebenfalls katholischen Königin des Landes, Maria Stuart, aus Frankreich, schuf das Parlament vollendete Tatsachen, die von Maria Stuart im Laufe ihrer Regierungszeit nicht mehr ernsthaft in Frage gestellt wurden, wenn sie sich auch weigerte, den Parlamentsbeschluß zu ratifizieren. Schottland war zumindest in den Lowlands nunmehr ein reformiertes Land unter einer katholischen Regentin, der zugestanden wurde, in ihrer Hofkapelle weiterhin die katholische Messe zu besuchen, die im Land fortan verboten war.4 Dieses Zugeständnis - obschon ein eher bescheidener Tribut an die Königin des Landes - ging zahlreichen Geistlichen in der schottischen Kirk zu weit. Unter den Kritikern Maria Stuarts tat sich John Knox besonders hervor. Insbesondere nahm er die katholische Messe aufs Korn, die Woche für Woche in der Hofkapelle zelebriert wurde, und die er als Götzendienst brandmarkte, der das ganze Land ins Verderben stürzen sollte.5 Im Jahre 1564 kam es vor der General Assembly - der obersten Kirchenversammlung der schottischen 4
The Acts of the Parliaments of Scotland [A.P.S.]. 12 Vols. Edinburgh 1844-1875, Vol. 2, 534f.; Gordon Donaldson, The Scottish Reformation. Cambridge 1960, 67; Jenny Wormald, Court, Kirk and Community. Scotland 1470-1625. London 1981,109-119. 5 John Knox, The History of the Reformation in Scotland, in: The Works of John Knox. Ed. by David Laing. 6 Vols. Edinburgh 1895, Ndr. New York 1966, Vol. 2, 270 u. 276.
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Kirk - zu einer denkwürdigen Begegnung zwischen William Maitland of Lethington, Sekretär Maria Stuarts, und dem protestantischen Prediger John Knox. 6 Der königliche Sekretär suchte Knox die Zusage abzuringen, sich künftig in Predigten mit Anklagen gegen die Königin zu mäßigen und keinerlei Dinge anzusprechen, die die königliche Herrschaftsgewalt und den schuldigen Gehorsam der Untertanen untergraben könnten. Knox hingegen verteidigte das Recht des Volkes auf Widerstand gegen die Obrigkeit, sofern die Obrigkeit dem falschen Glauben anhänge, Götzendienst im eigenen Land Vorschub leiste und damit gegen die Gesetze Gottes verstoße. Zur Legitimierung seiner Argumentation berief er sich auf die Heilige Schrift. Mit einzelnen Beispielen des Alten Testaments versuchte er, den Willen Gottes aufzuzeigen und aus ihnen Handlungsmaximen für die Zukunft abzuleiten: Das Beispiel des Königs Manasse vom Königreich Juda (2 Kön 21,1-18) dient Knox dazu, Schottlands Schicksal allen Zuhörern der Assembly vor Augen zu führen. Für die Untaten Manasses, der den Baalskult wieder zum Leben erweckte, kündigte Gott über seine Propheten dem ganzen Volk Juda seine Strafe an. Daher habe aufgrund des Katholizismus der schottischen Königin das ganze Volk Gottes Strafe zu fürchten. 7 Das Schicksal der Gemahlin Ahabs, der Königin Isebel, deutet Knox wie eine Prophezeiung der Zukunft Königin Maria Stuarts. Isebel veranlaßte als Phönizierin den König des israelischen Nordreiches Ahab dazu, den Baalskult einzuführen. Als Strafe hierfür wurden sie und die gesamte Königsfamilie von Jehu, einem Hauptmann im Heer des israelitischen Königs, in Gottes Auftrag umgebracht und ihre sterblichen Überreste den Hunden zum Fraß vorgeworfen (2 Kön 9-10). Um sich selbst gegenüber jeder Bestrafung seitens der Krone abzusichern, verweist Knox auf die Worte des Propheten Jeremia. Als Jeremia für seine Prophetie des Untergangs Jerusalems zur Rechenschaft gezogen werden sollte, antwortete er, daß die Hinrichtung eines unschuldigen Propheten Gottes das gesamte Volk mit Schuld beladen würde (Jer 26). Am Beispiel des Königs Amazja (2 Kön 14) verdeutlicht Knox, daß auch das Volk dazu legitimiert sein könne, gegen königliche Herrschaft Widerstand zu leisten. Amazja sei infolge seines Götzendienstes und seiner daraus resultierenden militärischen Sieglosigkeit vom Volk verfolgt und getötet worden. Und schließlich dient Knox das Beispiel des Königs Usia dazu, die Pflicht zum Widerstand gegen eine götzendienerische Obrigkeit darzulegen. Der Priester Asarja und mit ihm 80 weitere Priester kündigten ihm offen den Gehorsam auf (2 Chr 26), ein Beispiel für Knox, daß jedermann im Falle gotteswidriger Befehle den Gehorsam zu verweigern habe. 8 6
Eine Art ausführliches Protokoll des Streitgesprächs findet sich in Knox, History (wie Anm. 5), Vol. 2, 4 2 5 - 4 5 5 . Ebd. 4 2 6 f. 8 Ebd. 450.
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John Knox bedient sich hier wie auch in zahlreichen seiner früheren Schriften bestimmter Texte des Alten Testaments, nämlich der historischen Schriften sowie der Prophetenschriften Jeremia und Ezechiel. Diese Auswahl war keineswegs zufällig. Vielmehr handelt es sich jeweils um Textstellen, in denen der unbedingte Gehorsam des jüdischen Volkes gegenüber Gottes Gesetz eingefordert wird und jede Form der Abweichung, insbesondere aber der Götzendienst als schlimmste Form des Ungehorsams, harte Gottesstrafen nach sich zieht. Diese Texte verkörpern geradezu idealtypisch eine Konstellation, die Jan Assmann als „Mosaische Unterscheidung" bezeichnet hat. Gemeint ist damit die Unterscheidung „zwischen wahr und falsch in der Religion, zwischen dem wahren Gott und den falschen Göttern, der wahren Lehre und den Irrlehren, zwischen Wissen und Unwissenheit, Glaube und Unglaube".9 Assmann deutet diesen Antagonismus als Konsequenz des Monotheismus. Gleichwohl ist die Mosaische Unterscheidung auch in monotheistischen Religionen nicht ständig in gleicher Schärfe präsent. Vielmehr ist sie „eine regulative Idee, die ihre weltverändernde Wirkung über Jahrhunderte und Jahrtausende hin in Schüben entfaltet hat." 10 Als Potential ist sie sowohl dem Judentum als auch dem Christentum (und dem Islam) inhärent. Damit ist allerdings nur die Möglichkeit der Anwendung gegeben. Es bedurfte je besonderer Konstellationen, damit diese Möglichkeit auch genutzt wurde und die „Mosaische Unterscheidung" in jeweils aktualisierter Form Anwendung fand. John Knox hat sich des antagonistischen Potentials der Mosaischen Unterscheidung bedient, um die Reformation sowohl in England als auch (nach 1560) in Schottland gegen - reale oder aber befürchtete - Angriffe der Obrigkeit zu verteidigen. Die Konsequenzen, die sich daraus für seine politische Theologie ergaben, lassen sich an seiner Argumentation ablesen: War die Königin der Idolatrie schuldig, so hatte sie damit gegen das Gesetz Gottes verstoßen. Dem Gebot des Gottesgehorsams aber seien alle unterworfen, die Könige ebenso wie ihre Untertanen. Wer sich daher gegen Gottes Gebote stelle, müsse dafür bestraft werden, wenn nicht die Gemeinschaft als Ganzes von Gott für den Frevel haftbar gemacht werden solle. Und wenn sich die Königin dem Gottesgehorsam verweigere, so habe das Volk sie hierfür zur Rechenschaft zu ziehen. Nur eine Obrigkeit, die in Übereinstimmung mit den Gottesgesetzen regierte, durfte legitimerweise Gefolgschaft einfordern. Indem Knox die Königin des Götzendienstes anklagte, konnte er das asymmetrische Herrschaftsverhältnis zwischen Königin und Untertan neutralisieren und durch das Herrschaftsverhältnis Gottes über die Menschen ersetzen. Ersetzt wurde dabei zweierlei: Das Herrscheramt wird anstelle der Königin von Gott selbst 9
Jan Assmann, Die Mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus. München 2003, 12f. 10 Ebd. 13.
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als oberstem Herrscher und Gesetzgeber eingenommen, und an die Stelle der Königin als Adressat von Gottes Gesetzen tritt das Volk.11 Das Herrschaftsideal, das in dieser Argumentationskette zum Ausdruck kommt, ist das einer direkten Gottesherrschaft, einer Theokratie. Knox gibt sich zwar zu keiner Zeit als prinzipieller Gegner monarchischer Herrschaft zu erkennen. Gleichwohl unterliegt die Zustimmung zur Königsherrschaft einer wesentlichen Grundbedingung: Die Gesetze Gottes müßten vom König ebenso wie vom Volk vollständig befolgt werden. Berücksichtigt man, was dies im einzelnen für den König und seine Herrschaftsausübung bedeutete insbesondere daß er über die Konfession seiner Untertanen nicht zu entscheiden hatte, sondern dazu verpflichtet war, die Reformation der Kirche im Knoxschen Sinne voranzutreiben und zu befördern - so wird schnell deutlich, daß in dieser politischen Theologie dem König zentrale Elemente seiner Herrschaftsgewalt genommen waren. Einer vergleichbaren Argumentation bedienten sich später in Frankreich auch die sogenannten französischen ,Monarchomachen', Theodor Beza in seinem Traktat „De Iure Magistratuum" (1574) und Stephanus Junius Brutus in seinen „Vindiciae contra Tyrannos" (1579), die sich zudem auch auf die gleichen Bibelstellen stützten.12 John Knox legitimierte seine eigene Rolle als Kritiker der Monarchin durch seine Berufung von Gott. Letztlich stilisierte er sich zu einem Nachfahren des Propheten Jeremia, dem es auferlegt sei, den unbedingten Gehorsam gegenüber Gott von jedermann einzufordern, dem Volk ebenso wie der Königin.13 Knox sollte in der schottischen Kirk mit seiner mahnenden Rolle gegenüber der Obrigkeit stilbildend wirken. Was sich allerdings in den folgenden Jahrzehnten bis zum „Second Book of Discipline" ändern sollte, war die Legitimation dieser Wächterrolle: Nicht die eigene außerordentliche Berufung wurde betont, vielmehr wurde die Rolle des Geistlichen generell in dieser Weise definiert. Gemäß dem presbyterianischen Kirchenverständnis wurde dem König jegliche Leitungsgewalt innerhalb der Kirche abgesprochen und die Ausübung der geistlichen Gewalt allein den Mitgliedern der Geistlichkeit
11 Jan Assmann, Herrschaft und Heil. Politische Theologie in Altägypten, Israel und Europa. Darmstadt 2000, 48 f. und 52: „Im Zeichen des gesetzgebenden Gottes hat der irdische Herrscher diese Position zu räumen." 12 Jürgen Dennert (Hrsg.), Beza, Brutus, Hotman. Calvinistische Monarchomachen. (Klassiker der Politik, Bd. 8.) Köln/Opladen 1968, Jehu (Brutus: 106,189); Manasse (Brutus: 92); Amazja (Beza: 25 f.). 13 Vgl. John Knox, A Sermon Preached by John Knox, 19 August 1565, Edinburgh 1566, A2v-A3r: „I decree to containe my seife within the bondes of that vocation whereunto I founde my selfe especially called. I dare not denie [...] but that God hath revealed unto me secretes unknowen to the worlde, and also that he hath made my tong a trumpet to forewarne realmes and nations yea certaine great personages of mutations and chaunges, when no such thinges were feared, nor yet was appearing, a portion whereof can not the world denie (be it ever so blind) to be fulfilled."
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übertragen: Das betraf zum einen das Recht zu predigen, zum anderen die Exkommunikation zur Durchsetzung von Glaubensreinheit und Kirchendisziplin. 14 Als Jakob VI. mit Hilfe eines Parlamentsbeschlusses im Jahr 1584 versuchte, die politischen Predigten schottischer Geistlicher einzudämmen, ausgesprochene Exkommunikationen gegen Vertraute des Königs aufzuheben und zugleich gemäß dem englischen Vorbild eine Bischofskirche unter der nominellen Oberhoheit des Königs an die Stelle der presbyterianischen Kirchenstruktur zu setzen, provozierte er damit ein erneutes Aufbäumen zahlreicher Geistlicher.15 Das vom Parlament erlassene Gesetz, die von den Presbyterianern so genannten .Black Acts', sah vor, dem schottischen Klerus eine Unterschrift abzuverlangen, mit der jeder Geistliche sich mit den Bestimmungen einverstanden erklären sollte. Hiergegen verfaßte James Melville, einer der prominentesten Vorreiter der Presbyterianer in Schottland, einen Brief an seine Pastorenkollegen. Er wetterte gegen die „Popish Supremacie of the King" und drohte allen, die die geforderte Unterschrift bereits geleistet hatten, Strafen innerhalb der Kirche an. 16 Dabei sei das prinzipielle Vergehen der Anspruch des Königs auf Suprematie in der Kirche. Damit „yie haiff nocht onlie sett upe a new Pape, ans sa becom trators to Chryst".17 Der Anspruch auf die Oberhoheit in der Kirche habe keine Grundlage in der Heiligen Schrift, sondern stünde im Gegensatz zur biblischen Überlieferung. Schließlich habe Christus, das einzige Haupt der Kirche, seine Gewalt, zu binden und zu lösen, an die Kirche weitergegeben, wie Melville mit ausdrücklichem Hinweis auf Mt 16,18 versichert, um daran die rhetorische Frage anzuschließen: „War thir keyes giffen to anie king or magistrat?"18 Daß die weltlichen Herrscher sich aber auch zu den Herren in der Kirche aufschwingen wollten, sieht Melville nicht als Vergehen Jakobs allein. Seit den ersten christlichen Kaisern habe
14 James Kirk (Ed.), The Second Book of Discipline. With Introduction and Commentary. Edinburgh 1980, 166: Die geistliche Gewalt „flowis immediatlie frome God and the Mediatour Chryst Jesus, and is spirituall, not having ane temporall heid in eirth bot onlie Chryst, the onlie spirituall king and governour of his kirk". Der König ist „subject to the kirk spirituallie and in ecclesiasticall government" (169). Unter geistlicher Gewalt wird dabei zum einen das Recht zu predigen verstanden (potestas ordinis), zum anderen das Recht auf Exkommunikation. Beide Spielarten der geistlichen Gewalt werden aus der Bibel direkt abgeleitet, die Schlüsselübergabe an Petrus (Mt 16, 19) und der damit verbundene Auftrag an ihn, zu binden und zu lösen, dient dabei als Grundlage der potestas ordinis, die Zurechtweisung innerhalb der Gemeinde (Mt 18, 16-18) als Legitimation der kirchlichen Jurisdiktionsgewalt. 15 Die Bestimmungen sind vollständig abgedruckt in A.P.S. (wie Anm. 4), Vol. 3, 2 9 2 303. 16 James Melville, The Autobiography and Diary of Mr. James Melvill... Ed. by Robert Pitcaim. Edinburgh 1842, 200. 17 Ebd. 208. 18 Ebd. 211.
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sich weltliche Obrigkeit Autorität über die Kirche angemaßt, was sich auch prompt in zahllosen Schismen und Häresien niedergeschlagen habe. 19 Jeder Pastor stehe daher vor der Wahl, so Melville in bester Knoxscher Tradition, entweder Christus zu gehorchen oder aber der weltlichen Autorität. Dabei läßt er keinen Zweifel daran, welche Wahl er für die richtige hält: „Obedience, except it be in God, and according to his command, is na obedience, but sin, rebellion, treasone, and disobedience, the quhilk is as the sin of witchcraft, wickednes, and ydolatrie befor God, as Samuel teached King Saul, in his awin face." 20 Auch der Hinweis darauf, daß man Gott mehr gehorchen müsse als dem Menschen, fehlt in Melvilles Brief nicht.21 Dagegen sei, was Menschen Rebellion, Ungehorsam und Hochverrat zu nennen pflegten, vor den Augen Gottes Pflichterfüllung und Dienst. Zahlreiche exempla des Alten Testaments dienen Melville dazu, diese Aussage zu unterstreichen.22 Diese „examples of God's servantes in thair feir of his grait Majestie [Gott]" dienen Melville dann als Vorbilder, um in ihrem Namen alle Geistlichen der Kirk zu ermahnen, sich den ,Black Acts' zu widersetzen und sich jeder Zustimmung durch Unterschrift zu verweigern.23 Eine Unterschrift hieße dagegen „treasone against Chryst, and disobedience, yea, rebellion to his word and command." 24 Die Gegenüberstellung von Götzendienst und Gottesfurcht bringt Melville nun nicht mehr gegen eine katholische Obrigkeit in Stellung. Vielmehr nutzt er diese Dichotomie zur Kennzeichnung zweier unterschiedlicher protestantischer Kirchenvorstellungen. Es ist überhaupt spannend zu sehen, wie die Presbyterianer in ihrem Pochen auf Unabhängigkeit der Kirche Positionen beziehen, mit denen der Klerus bereits zur Zeit der Kirchenreform seine Unabhängigkeit durchzusetzen suchte. Weniger der konfessionelle Gegensatz war fortan bestimmend für die weiteren Auseinandersetzungen zwischen König und Kirche, sondern der Unterschied zwischen monarchischen und hierokratischen Positionen.25 Die mosaische Unterscheidung nutzt Melville gegen Jakob letztlich in vergleichbarer Weise wie zuvor John Knox gegen Maria Stuart. Dreh- und Angelpunkt der Invektiven gegen den König war dabei die Autonomie der Kirche, in der Jesus Christus die einzige Obrigkeit darstelle, 19
Ebd. 212: „Fra that tyme, as never of befor, miserablie hes the Kirk been cut and devydit be controversies, schismes, and heresies; sa pernitius hes it bein to ley asyde the Word of God". 20 Ebd. 214. 21 Apg 5, 29. 22 Melville, Autobiography (wie Anm. 16), 214. Im einzelnen nennt Melville Schadrach, Meschach, Abed-Nego gegen Nebukadnezar (Dan 3,19); Daniel gegen Dareios, den Meder (Dan 6); die Königsgarde gegen Saul; Jonathan gegen Saul; etc. 23 Ebd. 216. 24 Ebd. 215. 25 Vgl. hierzu auch den Beitrag von Kai Trampedach in diesem Band.
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nicht aber der König. Der ältere Bruder Andrew Melville wirft Jakob gar vor, „to spoile Christ Jesus, the King of kings, of his scepter, and to throw his power out of his hand". 26 Der König, so Andrew Melville, folge leider nicht den in der Bibel genannten Vorbildern wie König David, sondern vergreife sich an der Schrift wie einst Usa, der die Bundeslade fassen wollte und dabei durch Gottes Einwirken erschlagen wurde (2 Sam 6).27 Der König solle sich, bevor er sich zum Oberhaupt über die Kirche erhebe, das Schicksal des von Gott verworfenen Königs Saul ebenso vor Augen führen wie das des Königs Usia, den Gott für seine Usurpation der Stellung des Hohepriesters im Tempel mit fürchterlichem Aussatz strafte (2 Chr 26).28 Tatsächlich gelang es Jakob vorerst nicht, die Beschlüsse der ,Black Acts' umzusetzen und auf diese Weise die königliche Suprematie in der Kirche zu sichern.29 Nicht nur wurde die Einrichtung von Presbyterien in allen Teilen Schottlands zunehmend Wirklichkeit, auch die Agitation zahlreicher Pfarrer von der Kanzel war ein immer wiederkehrendes Phänomen. Dabei waren es zum einen gängige Topoi der Hofkritik, die in den Predigten wiederkehrten, zum anderen wiederholt Ausfälle gegen die Katholiken, die sich in Jakobs Umgebung befanden, gegen die Ausschweifungen' der Königin Anna, der Gemahlin Jakobs, sowie immer wieder auch Attacken gegen England, sei es gegen die dort etablierte Bischofskirche, sei es gegen die Monarchin Elisabeth selbst. Als David Black, Pfarrer in St. Andrews, in einer Predigt im Oktober 1596 Könige allgemein als „devil's bairns" bezeichnete und Elisabeth als Atheistin brandmarkte und dies auch in England bekannt wurde, befahl ihm Jakob, sich vor dem König und dem Geheimen Rat zu verantworten.30 Diese Weisung gab Black die Gelegenheit, den König an den presbyterianischen Standpunkt zu erinnern, daß er als weltliche Obrigkeit keinerlei Autorität über die Kirche, und damit auch über David Black, beanspruchen dürfe, sofern dies seine Amtsausübung als Pfarrer betreffe. 26
David Calderwood, The History of the Kirk of Scotland. 8 Vols. Edinburgh 1842-1849, Vol. 4, 276, der dabei folgende Schrift Andrew Melvilles wiedergibt: „An Answere to the Declaratioun of certan intentions sett out in the King's Name ..." [1585], 274-294. 27 Als Maßstab für den König führt Melville explizit den 101. Psalm Davids sowie das Königsgesetz im 5. Buch Mose (Dtn 17) an. Da David im Psalm verspricht, sich gegen alle „Gottlosen im Lande" zu wenden, ist dies eine indirekte Kritik an Jakob, der in seiner persönlichen Umgebung durchaus auch Katholiken neben sich duldete; Calderwood, History (wie Anm. 26), Vol. 4, 276. 28 Dieses Beispiel steht auch im fingierten Streitgespräch „Zelator, Temporizar, Palemon" im Mittelpunkt, das aus der Feder von James Melville stammen dürfte; abgedruckt in Calderwood, History (wie Anm. 26), Vol. 4, 295-339, hier 300. 29 David George Mullan, Episcopacy in Scotland. The History of an Idea 1560-1638. Edinburgh 1986, 65. 30 Calderwood, History (wie Anm. 26), Vol. 5, 531 f.; David Calderwood, The True History of the Church of Scotland, from the Beginning of the Reformation unto the End of the Reign of King James VI O. O. 1680, 337; vgl. Maurice Lee, Government by Pen. Scotland under James VI and I. Urbana, 111. 1980, 19.
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In zwei „Declinatures of the king and councils judicature, in matters spiritual namely" untermauerte er den Anspruch auf Eigenständigkeit der Kirche biblizistisch.31 Im Vordergrund steht für Black die Trennung von temporalia und spiritualia: Die Kirche, so Black in seiner zweiten „Declinature", sei als corpus spiritualis nur Christus selbst unterworfen (1 Petr 2 / Eph 1 / Kol 2). Die Amtsträger der Kirche bestimme Christus selbst (1 Kor 2). Diese Geistlichen hätten die Aufgabe, die Botschaft mit Hilfe der Predigt zu verbreiten (1 Kor 9). Dabei dürfe die Predigt keinerlei weltlichen Zwängen unterworfen werden (Eph 4). In ihrer Amtsausübung, d. h. auf der Kanzel, seien die Geistlichen Königen und Königreichen übergeordnet (Hes 34 / Ex 32 / Jer 1). Und wer im Glauben ungehorsam sei, müsse von den Geistlichen bestraft werden (2 Kor 10). Ihnen sei außerdem die Sorge um die Reinheit des Wortes auferlegt (2 Tim 4). Aufgabe der Geistlichkeit sei ferner die Erwartung des himmlischen Königreiches (Mt 24 / 2 Tim 2 / 1 Kor 5,1 / 2 Tim 1 / Mt 10 / Joh 20). In diesem Königreich liegt die Macht und Gewalt nur bei Gott (Mt 16). Um seine Ankunft zu erwarten und anzukündigen, sei es der Geistlichkeit daher stets erlaubt, sich zu versammeln (Mt 18 / Apg 1 5 / 1 Kor 14 / Mt 28). Ferner seien sie zu Richtern in geistlichen Fragen bestellt (1 Kor 14). Als Richter hätten sie indes zu urteilen ohne Ansehen der Person (1 Petr 5 / 1 Tim 5,6 / 2 Tim 4/Tit 2).32 David Black zieht daraus die Konsequenz, daß er „cannot be lawfully judged, in spiritual matters, for Preaching and Applying of the word of God, by any Civil Power, Authoritie or Judge, I being an Ambassadour and Messenger of the Lord Jesus (Mai 2), having my messege and commission from the king of kings, as said is, and all my instructions set down and limited in the Book of God, that cannot be extended, abridged or altered by any mortal wight, king or Emperour (2 Tim 3 / Dtn 4 / Spr 30 / Offb 22)."33 Daher sei einzig der „ecclesiastical Senat" dazu befugt, ihn für seine Predigt zur Rechenschaft zu ziehen, also die General Assembly, deren Sitzungen aber gerne königliche Kommissare als Beobachter beiwohnen könnten. Zwar erzielte Black mit seiner Argumentation nicht den gewünschten Erfolg. Jakob und sein Geheimer Rat verurteilten Black wegen Verrat und Verschwörung, also Strafbeständen, die durchaus in den weltlichen Kompetenzbereich fielen, und sandten Black zur Strafe in die Verbannung in die schottische Provinz.34 Damit hatte Jakob unter Beweis gestellt, daß er Angriffe auf seine Herrschaftsweise und allzu politische Ausführungen seitens des Klerus nicht länger zu dulden bereit sei. Die Auftritte von John Knox, den Gebrüdern 31
Beide „Declinatures" finden sich abgedruckt bei Calderwood, History (wie Anm. 26), Vol. 5 , 4 5 7 - 4 5 9 u. 476-480. 32 Calderwood, The True History (wie Anm. 30), 346-348. 33 Ebd. 348. 34 Vgl. James K. Cameron, David Black (c. 1546-1603), in: ODNB 5, 2004, 894-896
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Melville und Predigern wie David Black blieben allerdings im Kollektiven Gedächtnis' des schottischen Klerus, insbesondere der Presbyterianer, haften und fanden beispielsweise Eingang in David Calderwoods Werke zur schottischen Kirchengeschichte. Hier werden sie als leuchtende Vorbilder präsentiert, die um der reinen Verkündigung des Gotteswortes willen keiner Auseinandersetzung aus dem Wege gingen und auch bereit waren, dafür zu leiden. An gleichgesinnten Nachfolgern sollte es daher auch im 17. Jahrhundert in Schottland nicht mangeln.35 Die sich aus der Bibelinterpretation speisende Herrschaftskritik vorwiegend presbyterianischer Geistlicher war bis zum Ausbruch des Bürgerkrieges in Schottland eine ständig wiederkehrende Begleitmusik der Kirchenpolitik Jakobs VI. und Karls I.
II. Im Jahre 1598 erschien anonym der Traktat „The true Law of Free Monarchies". 36 Daß es sich dabei um eine Schrift aus der Feder des Monarchen selbst handelte, ließ sich zunächst vor allem daraus schließen, daß die Schrift vom königlichen Drucker Robert Waidegrave gedruckt wurde.37 Obschon diese Schrift in der Geschichtswissenschaft zu den meistbeachteten Texten Jakobs zählen dürfte, sind weiterhin zahlreiche Fragen, die den Kontext und damit zugleich auch die Intention dieser Schrift betreffen, ungeklärt. In der kurz gehaltenen Einleitung gibt der Autor, also Jakob, zu verstehen, daß er mit diesem Traktat das Volk dazu anleiten wolle, den Sirenenklängen jeglicher Theorien des Widerstandsrechts zu widerstehen.38 Welche Autoren er damit im einzelnen im Blick hat, ist keineswegs eindeutig geklärt. Zu den35 Vgl. nur a) der Protest gegen die „5 Articles of Perth" (1618): David Calderwood, The Altar of Damascus or the Patern of the English Hierarchie, and Church Policie obtruded upon the Church of Scotland. [Amsterdam] 1621; ders., A Dialogue betwixt Cosmophilus and Theophilus anent the urging of new Ceremonies upon the Kirke of Scotland. [Amsterdam 1620]; ders., The Pastor and the Prelate, or Reformation and Conformitie shortly compared by the Word of God [...]. s.l. [1628]; ders., Perth Assembly. [Leiden 1619]; William Scott, The Course of Conformitie as it hath proceeded, is concluded, should be refused. [Amsterdam] 1622; sowie b) der Protest der Kirk gegen die Einführung des „Book of Common Prayer": George Gillespie, A Dispute against the English-Popish Ceremonies, obtruded vpon the Church of Scotland [...]. [Leiden] 1637; ders., Reasons for which the Service Booke, urged upon Scotland ought to bee refused. [Edinburgh] 1638. 36
Ich benutze im folgenden: The Trew Law of Free Monarchies: Or The Reciprock and Mutuall Dutie betwixt A Free King, and his naturall Subiects, in: Johann P. Sommerville (Ed.), King James VI and I. Political Writings. Cambridge 1994, 62-84. 37 Katherine S. Van Eerde, Robert Waldegrave. The Printer as Agent and Link Between Sixteenth-Century England and Scotland, in: Renaissance Quarterly 34, 1981,40-78. William H. Jackson, Robert Waldegrave and the Books he printed or published in 1603, in: The Library, Fifth Series 13, 1958, 225-233. 38 The Trew Law (wie Anm. 36), 62.
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ken wäre sicher an George Buchanan und seinen Traktat „De Jure Regni apud Scotos", die wohl prominenteste schottische Schrift zur Rechtfertigung des Widerstandsrechts eines Volkes gegen den König. Buchanan sieht die letztendliche Verfügungsgewalt über die Herrschaft in Schottland beim Volk angesiedelt, wodurch es in der Lage sei, Könige, die ihren Herrschaftspflichten zuwiderhandelten, zur Rechenschaft zu ziehen und sie von ihrer Herrschaft zu entbinden. Diese Position begründet Buchanan mit naturrechtlichen Erwägungen ebenso wie mit antiken staatsphilosophischen Schriften sowie mit zahlreichen Beispielen aus der schottischen Geschichte. In biblischen exempla sieht Buchanan hingegen keine geeignete Grundlage, um die Reichweite königlicher Herrschaftsgewalt zu bestimmen. Vielmehr deutet er die Aussagen der Heiligen Schrift, sowohl des Alten als auch des Neuen Testaments (1 Sam 8 ebenso wie Rom 13) - sofern sie politische Herrschaft betreffen - , als rein zeitgebunden und daher auf die Situation in Schottland nicht übertragbar^ Sollte Jakobs Text wesentlich als Widerlegung von Buchanans Traktat gedacht gewesen sein, bleibt zumindest fraglich, weshalb Jakob diese Entgegnung erst 1598 verfaßt hatte, neunzehn Jahre nach dem Erscheinen von Buchanans Traktat, nachdem bereits 1584 der Besitz des Buches vom Parlament unter Strafe gestellt und die Schrift öffentlich verbrannt worden war.40 Peter Lake hat kürzlich erneut darauf hingewiesen, daß ein anderer Anlaß für die Entstehung von Jakobs Streitschrift weit wahrscheinlicher ist.41 1595 kam 39
George Buchanan, A Dialogue on the Law of Kingship among the Scots. A Critical Edition and Translation of George Buchanan's De lure Regni apud Scotos Dialogus. Ed. by Roger A. Mason/Martin S. Smith. Aldershot 2004, 116f„ 122-125, sowie Roger Masons Kommentar in der Einleitung hierzu (xlvii—xlviii); ferner allgemein Roger A. Mason, People Power? George Buchanan on Resistance and the Common Man, in: Robert von Friedeburg (Hrsg.), Widerstandsrecht in der frühen Neuzeit. Erträge und Perspektiven der Forschung im deutsch-britischen Vergleich. (ZHF, Beih. 26). Berlin 2001, 163-184. Es ist insbesondere in der schottischen Geschichtsforschung gängige Praxis, Jakobs Traktat „The Trew Law" als Antwort auf Buchanans „De Iure Regni" zu verstehen; vgl. nur Jenny Wormald, James VI and I, Basilikon Doron and The Trew Law of Free Monarchies. The Scottish Context and the English Translation, in: Peck (Ed.), The Mental World (wie Anm. 1), 36-54 u. 278-283; Jenny Wormald, ,Tis True I am a Cradle King'. The View from the Throne, in: Julian Goodare/Michael Lynch (Eds.), The Reign of James VI. East Lothian 2000, 241-256, hier 251; Roger A. Mason, James VI, George Buchanan, and „The True Lawe of Free Monarchies", in: ders. (Ed.), Kingship and the Commonweal. Political Thought in Renaissance and Reformation Scotland. East Linton 1998, 215-241. 40 Vgl. James Craigie (Ed.), Minor Prose Works of King James VI and I. Edinburgh 1982, 193 f. Vgl. zum Prinzip der Bücherverbrennung Cyndia Susan Clegg, Burning Books as Propaganda in Jacobean England, in: Andrew Hadfield (Ed.), Literature and Censorship in Renaissance England. Basingstoke 2001, 165-186; David Cressy, Book Burning in Tudor and Stuart England, in: Sixteenth Century Journal 36, 2005, 359-374. 41 Peter Lake, The King (the Queen) and the Jesuit. James Stuart's Trew Law of Free Monarchies in Context/s', in: Transactions of the Royal Historical Society, 6 th Series 14, 2004, 243-260.
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von Antwerpen aus „A Conference about the next succession to the crowne of Ingland" in Umlauf. 42 Deren Autorschaft ist nicht vollständig geklärt, hinter dem fiktiven Autornamen R. Doleman verbirgt sich aber wahrscheinlich Robert Parsons, ein im Exil lebender englischer Jesuit.43 Parsons verknüpfte in seinem Traktat zweierlei: Zum einen stellte er prinzipiell den Gedanken der Erbmonarchie in Frage und betonte, daß letztlich jede Herrschaft vom Volk delegiert sei. Das Volk habe dabei auch das Recht, stets neu über die Delegation der Herrschaft zu entscheiden, sei es durch Absetzung eines regierenden Monarchen, sei es bei einem Herrschaftswechsel zugunsten anderer als den durch Erbfolge zur Herrschaft bestimmten Kandidaten. Nicht nur Parsons' Vorstellung der Königsherrschaft war mit derjenigen George Buchanans vergleichbar. Beide Autoren griffen ebenso auch auf dieselben politischen Sprachen zurück, bezogen sich auf das Naturrecht, antike Staatsphilosophie und historische Beispiele. Parsons wandte diese Ideen ferner auf den konkreten Fall der anstehenden Nachfolge Königin Elisabeths an, wodurch seine theoretischen Ausführungen eine für Jakobs zukünftige Herrschaftsperspektiven besonders wichtige und empfindliche Stelle berührten. Insbesondere suchte Parsons die Ansprüche Jakobs zu konterkarieren und statt dessen einen Anspruch der spanischen Infantin Isabella Clara Eugenia auf den englischen Thron zu begründen. Jakob stellte mit seinem Traktat der Idee eines Königs als jederzeit rechenschaftspflichtigem Beauftragten des Volkes, wie sie sowohl von Buchanan als auch von Parsons vertreten wurde, die Idee eines Königs entgegen, der aufgrund des Divine Right zur Herrschaft legitimiert und nur gegenüber Gott rechenschaftspflichtig sei. Auch wenn der Kontext von Jakobs Schrift ein anderer ist als in seiner Auseinandersetzung mit den Presbyterianern und der schottischen General Assembly, so läßt sich gleichwohl vergleichen, auf welche Weise sich Jakob die Bibel zur Untermauerung seines Herrschaftsverständnisses zunutze macht. Ferner läßt sich Jakobs Aussage, seine Schrift richte sich gegen „seditious preachers in these daies of whatsoever religion either in this countrey or in France [...] that busied themselves most to stir up
42
R. Doleman [Robert Parsons], A Conference about the next Succession to the Crowne of Ingland. [Antwerpen] 1594. Die Schrift ist auch nach der Drucklegung von 2000 Exemplaren zunächst nicht in Umlauf gebracht worden, da offenbar auch innerhalb des Jesuitenordens keine Einigkeit darüber bestand, ob es opportun sei, sich zur Frage der englischen Thronfolge auf diese Weise im prospanischen Sinn zu äußern. Die Befürworter der Veröffentlichung setzten sich aber letztlich durch, weshalb die Schrift dann mit ungefähr einjähriger Verzögerung an die Öffentlichkeit gelangte; Peter Holmes, The Authorship and Early Reception of A Conference about the Next Succession to the Crown of England, in: Historical Journal 23, 1 9 8 0 , 4 1 5 ^ 2 9 , hier 421 f. 43 Zur Frage der Autorschaft ausführlich, auch mit Nennung der anderen möglichen Autoren, Holmes, The Authorship (wie Anm. 42), 415-420.
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rebellion under the cloake of religion" durchaus auch als Grußadresse an manche hitzigen schottischen Presbyterianer verstehen.44 War es die Absicht aller hier präsentierten Wortmeldungen schottischer Geistlicher, den König letztlich der Aufsicht der Kirche zu unterwerfen und in seiner Amtsführung auf das Kirchen- und Gesellschaftsverständnis der Presbyterianer zu verpflichten, so verfolgte Jakob in seinem Traktat die entgegengesetzte Strategie: eine Immunisierung des Königs und der Monarchie gegen alle denkbaren Einflußversuche. Ursprung der Königsherrschaft sei der an Samuel gerichtete Wunsch des Volkes Israel nach einem König. Dieser sei dann auch in Gestalt von Saul von Gott, nicht etwa vom Volk, ernannt worden: „the election of that King [Saul] lay absolutely and immediatly in Gods hand" 45 Dreh- und Angelpunkt der Schrift ist dabei die Rede Samuels an das Volk Israel, in der er das Recht des Königs dem Volk offenbart (1 Sam 8, 9 20). Jakob mißt ihr entscheidende Bedeutung zu, weshalb er sie in voller Länge in seiner Schrift zitiert. Seine Ausführungen über die Herrschaftsgewalt des schottischen Königs sind zugleich das Ergebnis einer von ihm vorgenommenen Textinterpretation dieser Samuelrede sowie weiterer Textstellen. Die Bibel ist bei ihm - neben den fundamental laws (insbesondere dem Krönungseid) und dem natural law (bei dem Jakob die Analogie des Königs zur Rolle des Hausvaters hervorhebt) - die dritte legitimierende Säule der Königsherrschaft46, und in seiner Argumentation zweifelsohne die bedeutsamste. Im einzelnen leitet James folgende Aussagen direkt aus der Samuelstelle ab: - Die Monarchie ist die beste Staatsform, da sie direkt von Gott und nur von Gott eingesetzt wurde. - Die Könige sitzen auf Gottes Thron auf Erden.47 - Nur Gott selbst kommt es zu, Könige zu entthronen, „since he [God] that hath the only power to make him, hath the onely power to unmake him". 48 Einer Entbindung der Untertanen von ihrem Gehorsamseid sei daher erst dann gerechtfertigt, wenn Gott selbst die Königsherrschaft aufgehoben hatte: „God must first give sentence upon the king that breaketh, before the people can thinke themselves freed of their oath". 49 - Das Volk schulde dem Monarch Gehorsam in allen Fragen: „the very Wördes of the text in order, as they are set downe, it shall plainely declare the obedience that the people owe to their King in all respects".50 - Um seine zentrale Aussage, daß niemand ein Recht auf Widerstand gegen 44
The Trew Law (wie Anm. 36), 71. Ebd. 67. « Ebd. 64 u. 73-78. 47 Ebd. 64. 48 Ebd. 68. 49 Ebd. 81. 50 Ebd. 68. 45
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den König geltend machen könne, zu untermauern, zieht James auch weitere Bibelstellen und Analogien heran. Dabei gelangt er zu folgender Schlußfolgerung: „we never reade, that ever the Prophets perswaded the people to rebell against the Prince, how wicked souever he was". 51 Beispiele, die das Gegenteil nahelegen könnten - man denke nur an die zahlreichen Belege, die John Knox für seine Argumentation hat anbringen können - erklärt Jakob kurzerhand zu „extraordinarie examples", die den Menschen nicht zum Vorbild dienen dürften, sollten nicht Staat und Gesellschaft mutwillig untergraben werden.52 - Samuel verkündet mit seiner Rede an das Volk Israels nicht nur die Rechte des Königs Saul, sondern zugleich auch die Rechte des schottischen Monarchen, so Jakobs Interpretation. Die christlichen Königreiche stehen dabei in der unmittelbaren Nachfolge der Könige von Israel und Juda und sind gleichermaßen von Gott unmittelbar selbst gegründet worden: „the leneall succession of crowns being amoung the people of God, and happily continued in divers Christian common-wealths".53 Jakob bedient sich hier einer bestimmten Lesart von 1 Sam 8, die Samuels Rede als Darlegung der königlichen Herrschaftsrechte über das Volk interpretiert und infolgedessen jeglichen Widerstand des Volkes auch gegen tyrannische Herrscher ausschließt.54 Ihm dürfte dabei wohl bewußt gewesen sein, daß eine alternative Interpretation der Samuelrede vor dem Volk gleichfalls über eine prominente Tradition verfügte. Wenn George Buchanan in seiner Schrift „De Iure Regni apud Scotos" betonte, daß Samuel keineswegs die legitimen Rechte eines Königs benenne, sondern die Herrschaftspraxis eines Tyrannen - das Königsrecht sei vielmehr im 17. Kapitel des Deuteronomium enthalten, in dem die Könige darauf verpflichtet werden, das Gesetz Gottes zu achten55 - so hatte er für diese Deutung bereits eine ganze Reihe prominenter Vorläufer, angefangen von Thomas von Aquin bis zu Erasmus und Melanchthon.56 Einige der in Frankreich erschienenen Schriften der sogenannten ,Monarchomachen' deuten die Samuelrede gleichfalls als Illustration einer Tyrannenherrschaft durch den Propheten, nicht als Auflistung der Herr51
Ebd. 70. « Ebd. 71. 53 Ebd. 82. 54 In vergleichbarer Weise wird die Stelle auch bei Jean Calvin gedeutet: „Certe non id iure facturi erant Reges, quos optime ad omnem continentiam Lex instituebat [i.e. Dtn 17, 16ff.]: sed ius in populum vocabatur, cui parere ipsi necesse esset, nec obsistere liceret"; Jean Calvin, Institutionis Christianae Religionis 1559, in: Joannis Calvini Opera Selecta. Hrsg. v. Petrus Barth. 5 Bde. München 1926-1952, hier Bd. 5, München 1936, Lib. IV, Kap. 20, 26. 55 Buchanan, A Dialogue (wie Anm. 39), 108. 56 Vgl. Hans-Dieter Metzger, David und Saul in Staat- und Widerstandslehren der Frühen Neuzeit, in: Walter Dietrich/Hubert Herkommer (Hrsg.), König David - biblische Schlüsselfigur und europäische Leitgestalt. Freiburg, Schweiz 2003,437-485.
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schaftsrechte des Königs.57 Auch wenn Jakob auf diese Interpretation nur summarisch und auf ihre Verfechter gar nicht eingeht, sucht er diese Lesart gleichwohl als illegitim auszuschließen, da er seine eigene Deutung als einzig mögliche Lesart präsentiert mit den Worten: „it is plaine and evident, that this speech of Samuel to the people, was to prepare their hearts before the hand to the due obedience of thyat King, which God was to give unto them". 58 Inwiefern läßt sich Jakobs Traktat „Trew Law of Free Monarchies" als ein Bekenntnis zum Divine Right of Kings verstehen? Um dies zu demonstrieren, hat man die Funktion zu bestimmen, die Jakobs Samuelinterpretation in seinem Traktat zukommt. Anders gewendet, stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Samuels Rede über die Königsgewalt einerseits und den möglichen Grenzen der Königsgewalt andererseits, die Jakob gleichfalls thematisiert. In Jakobs Traktat ist von zwei unterschiedlichen Herrschaftsverträgen die Rede. Mit der Krönung und dem damit einhergehenden Eid des Königs trat ein Herrschaftsvertrag zwischen König und Untertanen in Kraft, der beiden Seiten Pflichten auferlegte; der Krönungseid war Bestandteil der Fundamentalgesetze des Landes. 1 Sam 8 deutet Jakob ebenfalls als Herrschaftsvertrag. Dieser Vertrag wurde nicht zwischen dem König und seinen Untertanen geschlossen, sondern zwischen Gott und dem Volk und war Teil des Divine Law. Jakob paraphrasiert Samuel mit folgenden Worten: „it shal not be lawful to you to cast it off, in respect it is not only the ordinance of God, but also your selves have chosen him [den König] unto you, thereby renouncing for ever all priviledges, by your willing consent out of your hands, whereby in any time hereafter ye would claime, and call backe unto your selves againe that power, which God shall not permit you to doe". 59 Dieser Herrschaftsvertrag sei auch in den verschiedenen christlichen Königreichen Europas weiterhin in Kraft. Damit bestehen in allen freien Monarchien zwei Herrschaftsverträge gleichzeitig; Teil der Fundamentalgesetze der eine, Teil des Divine Right der andere. Nach 1 Sam 8 sind dem König keinerlei Pflichten auferlegt. Sollte sich der König daher gleichwohl, z.B. durch seinen Krönungseid, auf Verpflichtungen gegenüber den Untertanen einlassen, so handele es sich hierbei um einen Gnadenerweis gegenüber den Untertanen, nicht aber um eine einklagbare Verpflichtung des Königs: „a good king will frame all his actions to be according to the Law; yet is hee not bound thereto but of his good will". 60 Damit ist der Krönungseid als Herrschaftsvertrag entwertet. Aus einer rechtlichen Verpflichtung macht Jakob eine rechtlich folgenlose Absichtserklärung. 57
So Theodor Beza in „De Iure Magistratuum" und ,Stephanus Junius Brutus' in den „Vindiciae contra Tyrannos"; vgl. hierzu Dennert, Beza, Brutus, Hotman (wie Anm. 12), 23-25 (Beza) und 157-159 (Brutus). 58 The Trew Law (wie Anm. 36), 67. 59 Ebd. 69. 60 Ebd. 75.
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Das Divine Right of Kings hingegen erlaubt dem König in Jakobs Deutung ebenso grenzenlose Herrschaft wie eine Herrschaft durch Eroberung.61 Es dient Jakob insbesondere dazu, seine Königsherrschaft von jeglichen Bindungen an die Zustimmung anderer - z.B. der Stände, des Parlaments, der Kirche etc. - zu befreien, und damit jeder Form von Kritik oder gar Widerstand den Boden zu entziehen. Der König war nicht gebunden an die Gesetze des Landes, nicht an Herrschaftsverträge, die er oder seine Vorfahren unterzeichnet hatten, schon gar nicht abhängig vom Konsens, sei es mit dem Adel, sei es mit Ständeversammlungen, sei es mit den Repräsentanten der Kirche. Seine Herrschaft verdanke sich allein Gottes direkter und unmittelbarer Einsetzung des Königsamtes mit Saul als erstem König und den Prinzipien der Erbfolge. Mit dieser Argumentation entlarvt Jakob mit Hilfe des Divine Right of Kings den Untertitel seines Traktats als leeren Schein: von „reciprock and mutuall duetie betwixt a free king, and his naturall subjects" kann kaum mehr die Rede sein. Die einzige Instanz, die Jakob zufolge regierende Könige zur Rechenschaft ziehen dürfe, sei Gott selbst. Auf Erden könne jedoch niemand für sich in Anspruch nehmen, neben dem König ein Repräsentant Gottes zu sein. Dies betrifft insbesondere den Papst und dessen Anspruch darauf, vicarius Christi auf Erden zu sein und in dieser Funktion auch über regierende Monarchen eine Kontrollgewalt innezuhaben, die auch die Exkommunikation nach sich ziehen könne. Dieser Anspruch verstoße aber ebenso gegen das Divine Right of Kings wie die Forderung der schottischen Presbyterianer, daß die General Assembly über den König als Christ und einfaches Mitglied der Kirche ebenfalls eine kontrollierende Instanz sei, der gleichfalls das Recht zukomme, den König zu exkommunizieren. All diesen Ansprüchen, mit denen sich Jakob Ende des 16. Jahrhunderts konfrontiert sah, suchte sich Jakob mit der Lehre vom Divine Right of Kings zu entziehen. Es bleibt allerdings festzuhalten, daß von allen hier aufgezählten Eigenschaften einer Free Monarchy kaum ein Land in der täglichen Regierungspraxis so weit entfernt war wie Schottland. Es mochte gerade diese Erfahrung gewesen sein, die Jakob zum Verfechter des Divine Right werden ließ. Daß er in seiner Regierungspraxis sowohl in Schottland als auch in England keine Anstalten machte, sich der ihm laut seiner Interpretation von 1 Sam 8 zustehenden Herrschaftsgewalt voll zu bedienen und die Rechte des Landes sowie die bestehenden Entscheidungsgremien, sei es das Parlament oder die General Assembly, zu übergehen, und daß er darüber hinaus in seinem politischen Testament „Basilicon Doron" seinen präsumptiven Nachfolger Prinz Henry auf eindringliche Weise dazu ermahnte, die bestehenden Einrichtungen und Gesetze seines Landes zu respektieren, macht deutlich, daß sich Jakob des Un61
Vgl. Johann P. Sommerville, History and Theory. The Norman Conquest in Early Stuart Political Thought, in: Political Studies 34, 1986, 249-261.
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terschieds zwischen Diskurs und Praxis sehr wohl bewußt war.62 Gleichwohl führte er in seinen Reden vor dem englischen Parlament seine im „Trew Law of Free Monarchies" entfaltete politische Theologie in Auszügen mehrfach auch den Abgeordneten vor, was hinreichend Anlaß zu Irritation bot und die Kompromißbereitschaft der Abgeordneten nicht eben erhöhte.63
III. Nur wenige Jahre nach der Thronbesteigung Jakobs als englischer König kam es zu einem Wiedersehen zwischen ihm und seinen stärksten Widersachern in der schottischen Kirche. Acht Wortführer der Presbyterianer wurden nach Hampton Court einbestellt, unter ihnen auch Andrew und James Melville.64 Dort durften sie einer Inszenierung beiwohnen, die die königliche Obergewalt über die Kirche eindrucksvoll zum Ausdruck brachte. Kern dieser Inszenierung war eine Abfolge von insgesamt vier Predigten, alle gehalten von Hofkaplänen Jakobs VI./I. in Anwesenheit des Königs. Die Predigten waren augenscheinlich aufeinander abgestimmt und sollten die Anliegen der Presbyterianer mit dem Mittel der Schriftauslegung widerlegen, sie also mit ihren eigenen Waffen schlagen. Die Stellung des Königs als oberste Entscheidungsinstanz der Kirche war ebenso Thema wie die Verteidigung der in England etablierten Gestalt der Kirche. Beides wurde mit jure-divino-Argumenten legitimiert. Da der König selbst die vier Theologen bestimmte, die die schottischen Presbyterianer Mores lehren sollten, und da alle vier Predigten noch im selben Jahr auf Anweisung Jakobs gedruckt wurden, darf wohl unterstellt werden, daß die Predigten das Kirchenverständnis des Königs sowie seine eigene Herrschaftsauffassung adäquat widerspiegeln.65 62
James VI, BAZIAIKON AQPON: or His Maiesties Instructions to his Dearest Sonne, Henry the Prince, in: Sommerville (Ed.), James Political Writings (Anm. 36), 1-61, hier 20-23. 63 James /, A Speech, as it was delivered in the Upper House to the Lords Spirituall and Temporall, and to the Knights, Citizens and Burgesses there assembled, on Munday the XIX. Day of March 1604, in: Sommerville (Ed.), James Political Writings (wie Anm. 36), 132-146. 64 Es mußten in Hampton Court erscheinen James und Andrew Melville, ferner James Balfour, William Watson, William Scot, John Carmichael, Robert Wallace und Adam Colt; Melville, Autobiography (wie Anm. 16), 637. Insgesamt zu dem Treffen in Hampton Court auch Mullan, Episcopacy (wie Anm. 29), 98-102. 65 Vgl. Kenneth Fincham/Peter Lake, The Ecclesiastical Policy of King James I, in: Journal of British Studies 24,1985,169-207, hier 169. Daß die Veröffentlichung der Predigten vom König selbst angeordnet wurde, betont William Barlow, One of the foure Sermons preached before the Kings Maiestie, at Hampton Court in September last, this concerning the Antiquitie and Superioritie of Bishops, Sept. 21 1606. London 1606, Air. Die Predigten von Lancelot Andrewes und John Buckeridge wurden vom königlichen Drucker Robert Barker gedruckt.
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John Buckeridge suchte in seiner Predigt die Oberhoheit des Königs über die Kirche zu legitimieren.66 Diese königliche Obergewalt sei Buckeridge zufolge schlichte Notwendigkeit, da nur so Friede, Eintracht und Religion gewahrt bleiben könnten.67 Andererseits folgert er dies auch aus der Schrift: In der Zeit ante legem, als nur das Naturrecht galt, habe sowohl die weltliche als auch die geistliche Gewalt stets in einer Hand gelegen: „order of superioritie and subiection is the instinct of purest nature".68 Nach der Verkündigung der Gesetzestafeln habe Moses als weltliche Obrigkeit die höchste Gewalt innegehabt, auch über seinen Bruder Aaron, den Hohepriester. Dies lasse sich an einer ganzen Reihe von israelischen Königen ablesen. Daß beispielsweise David den Hohepriester Abiathar absetzen und durch Zadok ersetzen ließ, gilt Buckeridge als eindeutiges Zeichen der königlichen Oberhoheit in der Kirche. Jehosaphats und schließlich Hosias Strafgerichte gegen götzendienerische Priester wertet Buckeridge als generellen Beleg dafür, daß Königen in Religionsfragen Jurisdiktionsgewalt über alle Vertreter der Kirche zukomme.69 Zwar findet Buckeridge im Zeitalter der Gnade keine neue Legitimationsgrundlage für die königliche Suprematie in der Kirche. Doch weiß Buckeridge sich auch hier zu helfen. Da das Evangelium das Gesetz des Alten Testamentes vollende, nicht aber aufhebe, sei die im Gottesgesetz festgeschriebene königliche Obergewalt über die Kirche weiterhin in Kraft, seien die Könige weiterhin die „nursing fathers" (Jes 49,23) der Kirche. Die Weisung des Matthäusevangeliums (Mt 22,21), man möge dem Kaiser geben, was des Kaisers ist, bedeute daher: „The commission of Kings granted in the Law, standeth good to the worlds end". 70 Für diese Deutung spreche schließlich auch die Kirchengeschichte seit Konstantin, die in Buckeridges Augen weit größere Verbindlichkeit für sich beanspruchen kann als das von den Presbyterianern angeführte Ideal der Urkirche, das er mit Hinweis auf Augustinus als nicht zeitgemäß ablehnt.71 Buckeridge bedient sich zur Beschreibung der königlichen Herrschaftsrechte nicht nur der im Alten Testament erwähnten Könige, sondern erweitert den Personenkreis auf alle Führungsgestalten über Israel, die er, angefangen bei Moses selbst, als Vorläufer der heutigen Könige darstellt. Moses' Führungsrolle über das Volk Israel war ein gerne verwendeter Typus zur Legitimation weltlicher Herrschaft, wie bereits Eusebius' Charakterisierung der 66
John Buckeridge, A Sermon preached at Hampton Court before the Kings Maiestie, on Tuesday, the 23 of September. London 1606. 67 Ebd. Clv. 68 Ebd. C3r. 69 Ebd. C4v-Dlv. 70 Ebd. D3r-D3v. 71 Ebd. D4v-Elr. Augustinus zitiert er mit den Worten: „The times were different, and all things have their time."
Auf der Suche nach den Ursprüngen des Divine Right of Kings
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Herrschaft Konstantins deutlich macht. 72 Moses als Vorläufer der Könige zu sehen war allerdings alles andere als unumstritten.73 Insbesondere sein Verhältnis zu Aaron, gerne als Verhältnis zwischen weltlicher und geistlicher Herrschaft gedeutet, war dabei ein strittiger Punkt. Verdankt Moses seine Spitzenstellung über Israel und auch über Aaron seiner Vorläuferstellung als König oder aber seiner Rolle als gottgesandter Prophet? Und waren nicht auch die prominenten Könige des Alten Testaments, David, Salomon und Hosia, allesamt nicht nur Könige, sondern zugleich auch Propheten? Andrew Melville zog bereits in der Diskussion um die sogenannten ,Black Acts' den Schluß, daß die Könige sich keineswegs auf Befugnisse berufen dürften, die die Könige des Alten Testaments in ihrer Rolle als Propheten ausgeübt hätten. 74 Auch von Apologeten des Papsttums wurde diese Argumentation verfochten. 75 Buckeridge hingegen verwirft diese Unterscheidung zwischen der Königs- und der Prophetenrolle völlig76 und verbucht damit alle Weisungsbefugnisse der israelitischen Führungsgestalten auf das Konto königlicher Herrschaftsgewalt.
IV. Die ,biblizistische' Rede über Königsherrschaft, über Rechte und Aufgaben des Monarchen und die Pflicht zu Gehorsam oder Ungehorsam, war in Schottland zunächst ein Monopol des protestantischen Klerus. Zahlreiche Geistliche nutzten ihre Interpretationshoheit der Heiligen Schrift, um in Predigten wiederholt Mahnungen bzw. Forderungen an die Obrigkeit zu richten. Jakob sah sich als schottischer König mehrfach auf diese Weise unter Druck gesetzt, hatte aber wenig Möglichkeiten, diese politische Auslegung des Predigtamtes zu beschneiden, wollte er größere Konflikte mit der schottischen Kirk vermeiden. Erst in den späten neunziger Jahren riskierte Jakob diese Auseinandersetzung. Zugleich trat er den Presbyterianern als Autor entgegen und stützte sich gleichfalls auf die Bibel als wichtigsten Bezugspunkt seiner Argumentation. Seine Interpretation unterschied sich allerdings deutlich von Deutungen, wie 72
Vgl. hierzu den Beitrag von Bernd Isele in diesem Band. Innerhalb der conformists war diese Deutung der Propheten als Vorläufer der Könige allerdings communis opinio, sowohl in ihrer Auseinandersetzung mit den puritans als auch mit den Verteidigern der Papstgewalt; vgl. nur Lancelot Andrewes, Tortura Torti: Sive ad Matthaei [i. e. Bellarmin] Torti librum responsio, qui nuper editus contra Apologiam serenissimi potentissimique Principis, Iacobi... London 1609, 91. 74 Calderwood, The True History (wie Anm. 30), 180. 75 Vgl. nur Martino Becano, Refutatio Tortura Torti seu contra Sacellanum Regis Angliae, quod causam sui Regis negligenter egerit. Mainz 1610, 11 f., der sich seinerseits auf eine ganze Reihe katholischer Theologen beruft, insbesondere auf Robert Bellarmin. 76 Buckeridge, A Sermon (wie Anm. 66), Dlv-D2r. 73
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sie beispielsweise John Knox etabliert hatte. Der König sah sich in direkter Nachfolge des von Gott eingesetzten Königs Saul aller weltlichen Bindungen enthoben und nur Gott selbst zur Rechenschaft verpflichtet. Weder dem Volk noch der Kirche komme dabei eine Kontroll- oder Wächterfunktion zu. Der König habe sich allein vor Gott zu verantworten. Eine kritische Position zum Biblizismus im Diskurs über die Königsherrschaft wurde nur selten eingenommen, beispielsweise vom Humanisten George Buchanan, dessen prinzipielle Kritik am Biblizismus indes in Schottland auf ein weit geringeres Echo stieß als seine Kritik an einer auf Souveränität pochenden Krongewalt. Jakob fand nach seinem Amtsantritt als englischer König mit den Verteidigern der etablierten Kirchenstruktur in England, den sogenannten conformists, ein Sprachrohr zur Propagierung seines eigenen Kirchenideals. Buckeridge war für diese Gruppe ein besonders entschiedener Vertreter.77 Ob nun Jakob selbst seine unangefochtene Herrschaftsstellung mit der Nachfolge Sauls begründete oder Buckeridge Moses als Anknüpfungspunkt ins Feld führte, um Jakobs Rolle als oberster Kirchenherr zu untermauern: Beide Lesarten hatten bereits prominente Vorläufer, beide Interpretationen konkurrierten aber auch mit abweichenden Deutungen, die gleichfalls bereits als Lesart der in der Diskussion stehenden Bibelstellen etabliert waren. Ungeachtet der jeweiligen Unterschiede in der Auslegung dieser Stellen hatten die Protagonisten in der Debatte um die Königsherrschaft in Schottland eines gemeinsam: Sie führten die Auseinandersetzung allesamt auf Grundlage der Auslegung der Heiligen Schrift. Auch nahmen alle Akteure, die in diesem Beitrag zu Wort gekommen sind, das Divine Right für ihre Vorstellung von Königsherrschaft für sich in Anspruch. Die jeweils verfochtenen Herrschaftsideale trugen entgegen der von Conrad Russell vertretenen Auffassung sehr wohl spezifische Züge und waren auch keineswegs Konsens bei allen Beteiligten, sondern schlössen sich gegenseitig aus. Zwischen Buckeridges und Jakobs Auffassung königlicher Superiorität in der Kirche und dem Pochen der Presbyterianer auf Unabhängigkeit der Kirche, zwischen der Vorstellung vom König als weisungsbefugtem und unantastbarem Kirchenoberhaupt oder aber als notfalls von der Kirche zu exkommunizierendem einfachen Gläubigen war ein Konsens nicht zu erzielen. Die Bibel war nicht nur für die Presbyterianer, sondern auch für König Jakob und zunehmend auch für die englischen conformists die geeignete Textgrundlage, um über Reichweiten und Grenzen königlicher Amtsgewalt zu debattieren. Damit teilten alle ein und dieselbe politische Sprache. Daß die damit gewonnenen Aussagen gleichwohl völlig unterschiedlich ausfallen konnten, dies, so hoffe ich, hat dieser Beitrag gezeigt.
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Peter Lake, Lancelot Andrewes, John Buckeridge, and avant-garde Conformity at the Court of James I., in: Peck (Ed.), The Mental World (wie Anm. 1), 113-133 u. 303-308.
The Revelation of the Revelation Die Bedeutung der Offenbarung des Johannes für das politische Denken in England im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert Von
Ronald G. Asch I. Wenige Bücher der Bibel, namentlich aber des Neuen Testaments, haben im konfessionellen Zeitalter eine so starke politische Wirkung entfaltet wie die Offenbarung des Johannes. Das gilt jedenfalls für die protestantischen Länder Europas, wenn auch weniger für das lutherische Deutschland, wo man nur in Extremsituationen wie um 1629/30 geneigt war, die politische Lage unter unmittelbarem Bezug auf die Apokalypse zu deuten, wie Thomas Kaufmann gezeigt hat.1 Anders war es allerdings in England und in gewisser Weise auch in Schottland. Die Erfahrung der Verfolgung - in England unter Maria der Katholischen, in Schottland unter Marie de Guise - sollte hier das Selbstverständnis des Protestantismus dauerhaft prägen, und in welchem Buch der Bibel hätte diese Erfahrung einen adäquateren Ausdruck finden können als in der Offenbarung des Johannes von Patmos, die ja die Hoffnung der verfolgten Christen auf den Untergang und die Bestrafung ihrer römischen Verfolger mehr als deutlich zum Ausdruck bringt. Dabei wandelte sich die vorherrschende Interpretation der Offenbarung im Lauf der Jahrzehnte merklich - sie wurde, namentlich seit den 1580er Jahren, immer stärker auf konkrete politische Ereignisse bezogen, und immer deutlicher diente sie als Legitimation eines Heiligen Krieges gegen die Mächte der Finsternis, der nicht nur mit den Waffen des Wortes, sondern durchaus auch mit dem Schwert ausgefochten werden sollte. Diese eschatologische Militanz sollte kulminieren in den Hoffnungen der radikalen Puritaner auf eine fünfte Monarchie und die Herrschaft Christi auf Erden in den 1640er und 1650er Jahren. Freilich stand dem spätestens seit den 1620er Jahren auch eine Gegenrichtung gegenüber, die sich weigerte, das katholische Rom vorbehaltlos mit der ,Hure Babylon' und den Papst mit dem Antichrist zu identifizieren. Für die Legitimation monarchischer Herrschaft oder auch ihre Delegitimation war 1 Siehe dazu Thomas Kaufmann, Dreißigjähriger Krieg und Westfälischer Friede. Kirchengeschichtliche Studien zur lutherischen Konfessionskultur. Tübingen 1998.
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die Offenbarung in jedem Fall ein besonders bedeutsames Buch der Bibel; der gottesfürchtige Herrscher konnte als Werkzeug der Vorsehung im Kampf gegen Babylon erscheinen, aber der Monarch, der es an Glaubenseifer fehlen ließ, konnte auch leicht selbst den Kräften der Finsternis, über welche die Schalen des Zorns ausgegossen wurden, zugerechnet werden. Diese Vieldeutigkeit der Offenbarung des Johannes und ihre politische Brisanz werden deutlich an einem Vorfall aus dem Jahr 1606 am Hofe Jakobs I. von England, eines Monarchen, der sich auch persönlich als theologischer Autor intensiv mit der Apokalypse auseinandersetzte. Dieser Vorfall demonstriert, daß das Denken in den eschatologischen Begriffen nicht gelehrten theologischen Diskussionen vorbehalten, sondern durchaus auch im Alltag präsent war. Im Herbst 1606 lud Jakob I. einige prominente schottische Theologen vor, darunter den militanten Presbyterianer Andrew Melville, um ihnen durch seine englischen Bischöfe und Hofkapläne eine Ekklesiologie und Theologie nahebringen zu lassen, die ihnen auf immer ihre theokratischen Ideale und ihre Abneigung gegen die Episkopalverfassung und gegen ein königliches Kirchenregiment austreiben sollte. Allerdings sah Melville diese Einladung eher als eine Chance, seine Beschwerden gegen die Amtsträger des Königs in Schottland vorzubringen. Vehement griff er vor allem den königlichen Lord Advocate in Edinburgh, Thomas Hamilton, an, der gegen aufrührerische Geistliche kurz zuvor ein Verfahren wegen Hochverrats eingeleitet hatte.2 Melville legte sich in seiner Kritik keine Zurückhaltung auf, er nannte Hamilton unter anderem den „accuser of the brethren", und die Reaktion des Königs fiel entsprechend aus. Er schleuderte Melville, mit dem er auch in Schottland immer wieder zusammengestoßen war, entgegen: „Quhat? Me thinkis he makis him the Antichryst! [...] Be God! It is the divelis name in the Revelatioune! He hes maid the divel of him, wel-belovit Bretherine, brother Johne! [...] God be with yow, Siris!" Damit verabschiedete er sich.3 Aus „Tarn o' the Cowgate", wie Jakob seinen Kronanwalt und Fiskal nannte, war der Antichrist geworden, der Teufel und Widersacher Christi in Person, wie er in der Offenbarung beschrieben worden war. Eine bemerkenswerte Karriere für einen Juristen. Daß Melville, was immer er Hamilton im einzelnen vorgeworfen haben mag, in der Tat in eschatologischen Kategorien dachte, wenn er es mit Gegnern zu tun hatte, die aus seiner Sicht konfessionell unzuverlässig waren, zeigte freilich auch sein Zusammenstoß mit dem Erzbischof von Canterbury, Richard Bancroft, einige Wochen später. Anläßlich 2
David H. Willson, King James VI and I. London 1956, 315-317. James Melville, The Autobiography and Diary of Mr James Melville,... with a Continuation of the Diary. Ed. by Robert Pitcairn. Edinburgh 1842,661. Zum kirchenpolitischen Hintergrund der Kontroverse siehe Alan R. MacDonald, The Jacobean Kirk, 1567-1625. Sovereignty, Polity and Liturgy. Aldershot 1998, Kap. 5. 3
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einer Sitzung des Privy Council, vor dem sich Melville für einige lateinische Verse, die er als Satire auf die Church of England und ihre Bischöfe geschrieben hatte, verantworten sollte, griff er Bancroft an den weißen Spitzenärmeln seines Chorhemdes, schüttelte sie und schleuderte ihm entgegen, diese Kleidungstücke seien „Romishe ragis, and a pairt of the Beastes mark!", also ein Zeichen des Untiers aus der Offenbarung. Bancroft sei „capitall enemie of all Reformed Churches in Europe."4 Für Melville war der Antichrist, der Teufel, offenbar wahrhaft omnipräsent und das nicht nur in Gestalt katholischer Geistlicher, sondern im Herzen einer protestantischen, wenn auch konfessionell unzuverlässigen Kirche wie der englischen. Er erhielt freilich vom König die Gelegenheit, über diese Auslegung der Offenbarung noch etwas gründlicher nachzudenken, denn er wurde für drei Jahre im Tower inhaftiert, durfte nicht nach Schottland zurückkehren und ging 1611 schließlich ins Exil an die reformierte Akademie in Sedan.5 Was dieser Vorfall auch zeigt, ist die Tatsache, daß die Apokalypse ihre Bedeutung nicht zuletzt dadurch erhielt, daß sie es erlaubte, den Papst oder doch das Papsttum mit der ,Hure Babylon', von der Johannes geschrieben hatte, und mit dem Antichrist der letzten Tage zu identifizieren. Damit ließ sich nicht nur ein klares Feindbild konstruieren, man konnte auf diese Weise auch erklären, warum in der Vergangenheit das Papsttum den rechten Glauben so erfolgreich unterdrückt hatte und ihm dies auch noch in der Gegenwart immer wieder gelang, ohne daß man deshalb an der Fürsorge Gottes für seine wahre Kirche zweifeln mußte. Zugleich nährte das eschatologische Weltbild die Hoffnung auf eine radikale Wende und einen baldigen Sieg des Lichtes über die Finsternis. Namentlich seit dem Erstarken der Gegenreformation und seit Ereignissen wie der Bartholomäusnacht 1572 erhielt eine solche Deutung der Geschichte eine besondere Relevanz. Daß sie in England spätestens seit den 1580er Jahren weithin Konsens war, zeigt eine Schrift, die 1589 in London erschien; es handelte sich um „An Historical Dialogue Touching Antichrist and Poperie" von Thomas Rogers. Der Autor Rogers hatte zwar einst dem Puritanismus nahegestanden, wandte sich aber Ende der 1580er Jahre, also zu dem Zeitpunkt, als diese Schrift erschien, der theologischen via media, den conformists, zu. Bezeichnenderweise widmete er sie dem Lordkanzler Hatton, der in Fragen der Kirchenpolitik als Freund einer starken bischöflichen Amtsgewalt galt und als Gegner derjenigen, welche die englische Reformation als unvollendet betrachteten. Dennoch konnte Rogers in seiner Widmung in knappen Worten klar feststellen: „That Whore of Babylon in the holie boke of Revelations decyphered by Saint John, 4
Melville, Diary (wie Anm. 3), 679. Siehe James Kirk, Art. „Andrew Melville", in: Oxford Dictionary of Naüonal Biography. Vol. 37. Oxford 2004, 766-771. 5
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hath bin long since through the goodness of th'almightie in manie waies, and by sundrie meanes in this last age of the world most notablie prooved to bee the church of Rome." 6 Wie viele andere Autoren auch bezog sich Rogers hier im übrigen in besonderer Weise auf das 17. Kapitel der Offenbarung.7 Welche praktische Relevanz diese Auslegung der Offenbarung hatte, macht ein Kommentar der Apokalypse deutlich, der rund zwanzig Jahre später erschien; es handelt sich um Richard Bernards „A Key of Knowledge for the Opening of the Secret Mysteries of St. Johns Mysticall Revelation" von 1617. Richard Bernard war unter denjenigen Theologen, die sich in England zu Anfang des 17. Jahrhunderts mit der Offenbarung beschäftigten, wohl nicht untypisch; geboren 1568, kann er im weitesten Sinne des Wortes zu den Puritanern innerhalb der Church of England gerechnet werden und hatte zeitweilig sogar erwogen, die etablierte Kirche ganz zu verlassen. Er fand jedoch in einer Reihe von einflußreichen Geistlichen und Bischöfen der Kirche Jakobs I., die ja durchaus calvinistisch geprägt war, Gesprächspartner, die ihn davon überzeugten, seinen Frieden mit der offiziellen kirchlichen Ordnung zu machen und geriet erst nach 1630 wieder unter Druck, als auch gemäßigte Puritaner zunehmend marginalisiert und ausgeschlossen wurden und der Glaube an die eschatologische Bedrohung durch Rom nicht mehr wirklich als einigendes Band der Church of England fungierte. Um 1615 gehörte Bernard aber durchaus zum .mainstream' der englischen Kirche.8 Bernards Schrift gehörte zu einer Flut von Auslegungen der Apokalypse, die sich auf den Nachweis konzentrierten, daß Rom Babylon sei, und auf die Frage, welche theologischen und politischen Konsequenzen daraus zu ziehen seien. Eine neuere Schätzung geht davon aus, daß in England zwischen 1588 und 1628 etwa 100 Schriften dieser Art erschienen, die sich um eine systematisch begründete theologische Position bemühten, also nicht nur Alltagspamphlete waren.9 Dazu gehörte auch die Abhandlung von Bernard, die freilich auffällt durch eine besonders große Fülle von Vorreden; so wandte sich Bernard an den Bischof von Bath and Wells, an die Richter der Londoner Gerichtshöfe, an die Friedensrichter, an die Soldaten, die er „our worthies of our 6
Thomas Rogers, An Historical Dialogue Touching Antichrist and Poperie Dialogue. London 1589, The Epistle Dedicatorie, sign. Aii; zu Rogers siehe den Artikel in: Oxford Dictionary of National Biography. Vol. 47. Oxford 2004, 584-585, und Richard Bauckham, Tudor Apocalypse. Sixteenth Century Apocalypticism, Millenarianism and the English Reformation; from John Bale to John Foxe and Thomas Brightman. Oxford 1978,177, der darauf hinweist, daß Rogers England eine besondere Rolle im Endkampf zuwies. 7 Zum Konsens über Rom als Babylon siehe Anthony Milton, Catholic and Reformed. The Roman and Protestant Churches in English Protestant Thought, 1600-1640. Cambridge 1995, 93 ff. 8 Siehe Richard L. Greaves, Art. „Richard Bernard", in: Oxford Dictionary of National Biography. Vol. 5. Oxford 2004, 437-440. 9 Milton, Catholic and Reformed (wie Anm. 7), 93.
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David" nannte, und, weniger überraschend, ganz allgemein an den christlichen Leser. Für Bernard standen Richter und Friedensrichter ebenso wie die englischen Soldaten oder „martial men" alle gleichermaßen im Heiligen Krieg gegen die Bestie aus der Offenbarung. Die einen fochten mit den Waffen des Rechtes, die anderen mit dem Schwert. Bezeichnend war, daß Bernard den Vers 16 aus dem 17. Kapitel der Apokalypse („Und die zehn Hörner, die du gesehen hast, und das Tier, die werden die Buhlerin hassen und sie vereinsamt und nackt machen und ihr Fleisch verzehren und sie mit Feuer verbrennen." 10 ) nicht bloß als Prophezeiung deutete, sondern als ein Gebot, das die Könige der Welt - denn sie waren mit den zehn Hörnern gemeint - dazu aufforderte, sich von Babylon, dem sie gedient hatten, abzuwenden und es zu vernichten. Wie dieser Endkampf aussehen würde, daran ließ Bernard keinen Zweifel, denn an Elisabeth I., die für ihn die große Heldin des Heiligen Krieges war, hob er hervor, daß sie den Vers 16 aus Kapitel 16 der Offenbarung erfüllt habe („und Blut hast du ihnen zu trinken gegeben"), indem sie in England alle katholischen Priester und Jesuiten habe hinrichten lassen, für Bernard ein wahrhaft gottgefälliges Werk.11 Aber ähnlich wie für viele andere Autoren, die sich von der Offenbarung inspirieren ließen, war der Kampf gegen die ,Hure Babylon' für Bernard immer auch ein Kampf gegen die fünfte Kolonne in den eigenen Reihen, denn wie er den Friedensrichtern, die ja für die Durchsetzung der antikatholischen Gesetzgebung auf der lokalen Ebene zuständig waren, darlegte, waren die church papists, also diejenigen Katholiken, die sich äußerlich anpaßten und so taten, als seien sie Protestanten, viel schlimmer, als die offenen Anhänger Roms. So schrieb er: „And assuredly if the times should turne, (which god forbid) wee should finde the Church-Papist and the politicke conformable Pseudo-Catholicke, more mercilesse and blood-thirstie against us, then the Recusant. Though the best of theme, no doubt at that day, would bee [...] sharper then a thornie hedge, nay even as a woolfe in the evening".12 10
Zitiert nach der reformierten Zürcher Bibel, Stuttgart 1966. Richard Bernard, A Key of Knowledge for the Opening of the Secret Mysteries of St. Johns Mysticall Revelation. 2nd Ed. London 1617, „Preface to the justices of the peace", keine Paginierung, und „To the Worthies of our David", keine Paginierung. 12 Ebd., To the Justices, vor sign. B 4; dort auch Hinweis darauf, daß es die „politicke conformable papists" seien, welche die sogenannten „Puritans" anschwärzten, wenn sie auch nur im kleinsten „obnoxious to the rigour of the law" seien (vor B 4), obwohl sie selber Verräter seien. Eine radikalprotestantische Auslegung der Offenbarung war nicht nur in England, sondern auch in Schottland oft mit dem Aufruf zum Kampf gegen die .Verräter' in den eigenen Reihen verbunden. Siehe John Napier, A Plaine Discovery of the Whole Revelation of St. John. 2nd Ed. Edinburgh 1645 [ursprgl. 1593/94], Preface, Widmung an Jakob VI., sign. A v: „Sir, let it be your Majestie's continuall Studie ... to reform the universall enormities of your Countrey, and first, (taking the example of the Princely Prophet David) to begin at your Majestie's own House, Family and Court, and purge the same of all suspition of Papists, and Atheists or Neutrals, whereof this Revelation foretelleth, that the 11
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II. Der Gedanke, das Untier der Offenbarung oder dessen Agenten könnten die eigene Kirche infiziert haben, wurde für viele radikale englische Protestanten wie Bernard fast zu einer Obsession und verband sich mit der Vorstellung eines Popish Plot, einer katholischen Verschwörung. Bevor wir jedoch auf dieses Phänomen eingehen, müssen wir den Blick zurückwenden und uns fragen, wie eine Interpretation der Offenbarung, die diese unmittelbar auf politische und konfessionelle Konflikte der Gegenwart anwandte und aus der Apokalypse die Legitimationsschrift für einen Heiligen Krieg machte, überhaupt entstehen konnte. Es ließe sich argumentieren, daß aus protestantischer Sicht eine solche Interpretation nahe liegen mußte und sich daher fast von selbst ergab. Ganz so einfach lagen die Dinge jedoch nicht. Wie schon eingangs betont, waren die deutschen Lutheraner nach 1555, selbst noch während des Dreißigjährigen Krieges, in ihrer Anwendung der Prophezeiungen der Apokalypse auf die Gegenwart - mit Ausnahme einiger Krisenjahre - deutlich zurückhaltender, und Ähnliches galt grundsätzlich auch für die Schweizer Reformierten Kirchen. Die „Confessio Helvetica posterior" von 1562/66, die von Bullinger entworfen worden war, hatte zumindest ausdrücklich betont, daß der Endkampf zwischen Licht und Finsternis am Ende der Tage kein militärischer, sondern ein geistiger respektive geistlicher Kampf sein würde, und daß am Ende auch kein irdischer Triumph der Heiligen stehen würde. In Kapitel XI der „Confessio" hieß es: „Wir verwerfen außerdem die jüdischen Träume, daß dem Gerichtstag ein goldenes Zeitalter auf Erden vorausgehe, wobei die Frommen nach Niederwerfung ihrer gottlosen Feinde die Reiche der Welt erlangen werden." 13 Es war für die Rezeption dieser Position auf den Britischen Inseln bezeichnend, daß die schottische Kirche, als sie 1567 und erneut 1581 die „Confessio Helvetica" als gültiges Glaubensbekenntnis anerkannte, diesen Artikel der „Confessio" wegfallen ließ.14 In Schottland - und gleiches sollte zumindest seit den 1580er Jahren auch für England gelten herrschte eine Auffassung vor, die, gestützt auf die Offenbarung, den Sieg der Gläubigen über ihre Feinde durchaus auch als einen Sieg in einem gewaltsamen Kampf interpretierte und nicht nur als den moralischen Sieg der Märtyrer über ihre Verfolger. Diese Auffassung wurde besonders deutlich in den number shall greatly encrease in these later days. For shall any Princes be able to be one of the destroyers of that great Seat and a puiger of the world from Antichristianism, who purgeth not his own Countrey?" 13 Heinrich Bullinger, Das Zweite Helvetische Bekenntnis = Confessio Helvetica posterior, ins Deutsche übertr. u. hrsg. v. Rudolf Zimmermann. (Quellen und Studien zur Geschichte der helvetischen Kirche, Bd. 3.) Zürich 1936, 41. 14 Katherine R. Firth, The Apocalyptic Tradition in Reformation Britain 1530-1645. Oxford 1979, 124.
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Schriften und Predigten des schottischen Reformators John Knox. Was bei Knox freilich fehlte, war der Gedanke, daß sein eigenes Land in diesem Endkampf eine besonders herausragende Rolle spielen könne, daß es auf eine gewisse Weise das auserwählte Volk Gottes sein könne, denn für Knox war Schottland einfach Teil der universalen allumfassenden Kirche, vielleicht ein Land, dessen Reformation besonders konsequent und rein war, aber kein Land, das hoffen konnte, im Kampf gegen das Papsttum zu bestehen, wenn es allein war.15 Dies sah in England zumindest in der Tendenz anders aus. Es war John Foxe, der in seinen „Acts and Monuments", einer monumentalen Heilsgeschichte, die vom Tode Christi bis zur Herrschaft Elisabeths I. führte, seinen Lesern suggeriert hatte, England könne, wenn schon nicht das auserwählte Volk Gottes, so doch zumindest ein auserwähltes Volk sein, dem im bevorstehenden Endkampf daher eine besondere Rolle zufalle. Foxe hatte sich in seiner Auslegung der Offenbarung unter anderem von John Bales „Image of Both Churches" von 1548 inspirieren lassen. Bale war der erste englische Protestant, der die Offenbarung des Johannes in systematischer Weise als Anklage gegen das Papsttum interpretierte. Für Bale trat der Kampf der beiden Kirchen, der wahren Kirche und der falschen, an deren Spitze der Papst stand, an die Stelle des Kampfes zwischen den beiden civitates, von dem Augustinus geschrieben hatte.16 Er sah dabei im Pontifikat Silvesters II. den Wendepunkt, mit dem die 1000 Jahre, in denen der Satan gebunden gewesen war, endeten und die Zeit der Verfolgung der wahren Christen wieder begonnen hatte. Foxe übernahm in vielem die exegetische Perspektive Bales, maß aber dabei den gottesfürchtigen Herrschern, zu denen Konstantin der Große ebenso gehörte wie Heinrich VIII. oder Elisabeth I., eine besondere Rolle zu, denn sie waren die eigentlichen Widersacher des Papsttums. Im eschatologischen Endkampf fiel den Königen in England, aber auch den einfachen Gläubigen potentiell eine besonders wichtige Rolle zu. Als auserwähltes Volk Gottes zu handeln, war für die protestantischen Engländer ein Auftrag; die Gewißheit, daß sie dieser Rolle gerecht werden würden, gab es nie, im Gegenteil, gerade wegen der herausgehobenen Position Englands war es besonders stark den Angriffen des Teufels und seinen Verführungskünsten ausgesetzt.17 15 Arthur H. Williamson, Scottish National Consciousness in the Age of James VI. The Apocalypse, the Union and the Shaping of Scotland's Public Culture. Edinburgh 1 9 7 9 , 1 6 38. 16 Bauckham, Apocalypse (wie Anm. 6), 21-29; zu Foxe vgl. Paul Christiansen, Reformers and Babylon. English Apocalyptic Visions from the Reformation to the Eve of Civil War. Toronto 1978,14-23 u. 40. Siehe dazu auch William M. Lamont, Godly Rule. Politics and Religion, 1603-60. London 1969. 17 Dies hat sehr zu Recht betont Patrick Collinson, The Birthpangs of Protestant England. Religious and Cultural Change in the Sixteenth and Seventeenth Centuries. Basingstoke 1988, 1-27. Neben Foxes „Book of Martyrs" übte auch die Genfer Bibelübersetzung, die
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Diese Ambivalenz in der Deutung der endzeitlichen Rolle Englands wird übrigens auch in späteren Kommentaren recht deutlich. So heißt es bei Richard Bernard, der schon erwähnt wurde, England werde sicher im „last act of the tragicall end of Rome" eine besondere Rolle spielen. Aber was ist der Grund dafür? Sicherlich, die Taten der englischen Herrscher Konstantin, Lucius, Heinrichs VIII., Eduards VI., Elisabeths I. und der Sieg über die Armada werden alle angeführt, aber es heißt auch zur Begründung der besonderen Rolle Englands: „Are not we one of the ten homes, that gave our kingdome once to the Beast?" Wie kaum ein anderes Land habe England vor der Reformation Rom gedient: „What King yeelded up his crowne to the popes legate, but ours? Thus were wee for him, and so shall wee be against him. And as the Whore made our Kings to love her, and to commit fornication with her so have they begunn to hate her [...] and make her desolate and naked." Da lag die Frage nahe, ob nicht Englands Könige eines Tages doch wieder beginnen würden, die ,Hure Babylon' zu lieben, mit der sie so lange Unzucht getrieben hatten.18 In der Tat war die englische Auslegung der Offenbarung durch eine tiefe Ambivalenz gekennzeichnet: Auf der einen Seite stand eine klare Tendenz zur konfessionellen Militanz, die sich in Schüben verstärkte; 1588, 1618/20 und erneut 1640-1642 waren hier verständlicherweise wichtige Daten. Auf der anderen Seite stand aber ein tiefer Zweifel daran, ob England der ihm zugedachten Rolle im apokalyptischen Endkampf wirklich gerecht werden könne. Man kann nicht behaupten, daß die apokalyptische Literatur vor 1630 grundsätzlich subversiv oder obrigkeitskritisch war, aber sie konnte diese Tendenz sehr leicht entfalten, wenn der Eindruck entstand, daß König und Dynastie selber auf der falschen Seite standen und sich von der ,Hure Babylon' verführen ließen. Was die Militanz betrifft, so mag dies an einem Beispiel aus den späten 1590er Jahren deutlich werden. So veröffentlichte 1596 der Pastor George Gyffard seine Predigten über die Offenbarung, die er bezeichnenderweise dem zweiten Earl of Essex widmete, der in diesen Jahren als Advokat einer aggressiven Außenpolitik auftrat. Gyffard betonte, wie sehr man gottesfürchtige Krieger wie Essex brauche, um Rom zu bekämpfen. Am Ende des Vorworts hieß es, an den Earl of Essex, den vollkommenen christlichen Ritter, gewandt: „Put on that fine white linnen and pure, ride upon that white horse among this blessed company, and follow this high captaine: and then shall your H[ighnesse] performe right worthy things to the glory of
englische Theologen nach 1553 im Exil angefertigt hatten, einen großen Einfluß aus, denn ihre Kommentare - und kein Buch der Bibel war so ausgiebig glossiert wie die Apokalypse - bestätigten auch in vielen Punkten die Gleichsetzung der ,Hure Babylon' mit dem päpstlichen Rom; Christiansen, Reformers (wie Anm. 16), 38 f. 18 Bernard, Key (wie Anm. 11), „Preface to the Worthies of our David", keine Paginierung.
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God, to the good of his people, and to your owne eternall praise and felicitie." 19 In seiner Predigt über das in diesem Kontext besonders wichtige 17. Kapitel der Offenbarung betonte Gyfford, daß die Pflicht der Gottesfürchtigen nicht nur sei, sich von Rom zu trennen, sondern auch, an der ,Hure Babylon' aktiv Rache zu nehmen. Die einzige Frage blieb, ob auch der einzelne Gläubige an Rom Rache nehmen müsse oder nur die Obrigkeit, eine wahrhaft ominöse Frage. Gyffard kam zu dem Schluß, dies sei an sich die Pflicht der Fürsten und Magistrate, aber der einzelne Gläubige müsse sich diesem Kampf doch auf Befehl der Obrigkeit anschließen und auch aus eigenem Antrieb mit Worten und Argumenten die ,Hure Babylon' angreifen. 20 War hiermit der Respekt vor der bestehenden politischen Ordnung noch gewahrt, so lagen die Dinge spätestens in den 1620er Jahren doch nicht mehr ganz so klar. Henry Burtons „Seven Vials" - die „Sieben Schalen des Zorns" von 1628 etwa, das ohne offizielle Genehmigung erschien, wie der Autor selbst betonte, verband den Aufruf zum Heiligen Krieg gegen Rom schon mit einer heftigen Polemik gegen die englischen Arminianer, die sich diesem Krieg entgegenstellten. Allerdings stützte sich Burton, wohl auch um sich abzusichern, immer wieder auf einen besonders prominenten Interpreten der Offenbarung, nämlich Jakob I., den „royal paraphrast", wie Burton ihn nannte, der sich, da 1625 verstorben, gegen Burtons Auslegung nicht mehr wehren konnte.21 Es verwundert aber nicht, daß Burton, der in den 1630er Jahren als Aufrührer und Gegner des königlichen Kirchenregiments inhaftiert wurde, am Ende die Offenbarung als Anweisung zum Kampf gegen eine gottlose Königsherrschaft interpretierte. 1641 wurde seine Schrift „The Sounding of the Two Last Trumpets" veröffentlicht, die er während seiner Verbannung auf der Insel Guernsey geschrieben hatte, und hier war nun recht deutlich davon die Rede, daß der Endkampf gegen Rom nicht mehr eine Sache der Könige sei, sondern ihrer Völker und Untertanen, die ihre eigene Obrigkeit geradezu zwingen müßten, sich gegen die ,Hure Babylon' zu wenden. Burton ging sogar so weit zu schreiben, die Stimme des House of Commons, die ihn aus dem Exil in die Heimat zurückgerufen habe, sei wie die Stimme aus Offb 11,12, welche die beiden Zeugen wieder zum Leben erweckte.22 Burton war nicht der einzige, der den Zusammentritt des Langen Parlamentes in dieser 19
George Gyffard, Sermons upon the Whole Book of Revelation. London 1596, Preface, sign. A 3v. 20 Ebd. 346f.; vgl. Preface, sign. A 2 und A 3. 21 Henry Burton, The Seven Vials or a Briefe and Plaine Exposition upon the 15 and 16 Chapters of the Revelation very Pertinent and Profitable for the Church of God in these last Times. London 1628, 76-78. 22 Henry Burton, The Sounding of the Two Last Trumpets, the Sixth and Seventh or Meditations by Way of Paraphrase upon the 9 th , 10th and 11 Chapters of the Revelation, as containing a Prophecie of these Last Times. 2. Aufl. London 1641, Preface, keine Paginierung.
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eschatologischen Perspektive sah. Relativ bekannt ist die Predigt von Jeremiah Burroughes und Thomas Goodwin, „A Glimpse of Sion's Glory", ebenfalls von 1641, die mit Bezug auf Offb 19,6 behauptete, die Stimme des Parlaments verkünde nun das Ende Babylons, und in drastischer Weise betonte: „Blessed is hee that dasheth the brats of Babylon against the stones", glücklich sei der, der die Brut Babylons mit dem Kopf gegen die Steine schlage, um sie zu töten.23 Diese konfessionelle Militanz, die sich in dem Maße, wie radikale Protestanten ihrer eigenen Obrigkeit mißtrauten, auch gegen eben diese Obrigkeit richtete, war jedoch nur ein Aspekt der Auslegung der Offenbarung, denn wenn England zum Endkampf gegen Rom berufen war, dann stellte sich die Frage, ob England diesem Endkampf überhaupt gewachsen war. Diese Frage hatte sich auch der Autor einer der einflußreichsten Interpretationen der Offenbarung des Johannes in England, Thomas Brightman, in seiner „Revelation of the Revelation" gestellt, die 1609 in Frankfurt am Main als „Apocalypsis Apocalypseos" in Latein und 1615 auch in Amsterdam auf Englisch erschien. Brigthman, der 1607 starb, war ein scharfer Kritiker der gegenwärtigen Verfassung der englischen Kirche, die er als unzureichend reformiert ansah. Auch nach 1590, als diese immer schwieriger wurde, hielt er an einer presbyterianischen Glaubensauffassung fest. Seine monumentale Auslegung der Offenbarung entstand gegen Ende der elisabethanischen Zeit, auch wenn sie erst einige Jahre später veröffentlicht wurde. Sie gehörte noch in den 1640er und 1650er Jahren zu den am häufigsten zitierten Kommentaren der Apokalypse. Brightman ist vor allem aus zwei Gründen wichtig24: Erstens sagte er eine unmittelbare Herrschaft der Heiligen auf Erden nach dem Endkampf gegen das Papsttum, aber vor dem Jüngsten Gericht, voraus. Auch wenn für ihn die 1000 Jahre der Bindung des Satans um 300 begonnen und um 1300 geendet hatten, also in der Vergangenheit lagen, bekannte er sich damit zumindest implizit zu einer Auffassung, die mit der Hoffnung auf eine Herrschaft Christi auf Erden verbunden war. Damit wurde er zusammen mit anderen Autoren wie Joseph Mede, dessen „Clavis Apocalyptica" 1627 auf Latein publiziert wurde, und auch die 1000 Jahre selber in die Zukunft verlegte, zur Inspiration für die „Fifth Monarchy Men", die eben diese politische Vision in den 1650er Jahren in die Tat umsetzen wollten.25 23
Thomas Goodwin, A Glimpse of Sion's Glory, or the Churches Beautie Specified. Published for the Good and Benefit of all Those whose Hearts are raised up in the Expectation of the glorious Liberties of the Saints. 2. Aufl. London 1641. 24 Christiansen, Reformers (wie Anm. 16), 100; vgl. Theodore D. Bozeman, Art. „Thomas Brightman", in: Oxford Dictionary of National Biography. Vol. 7. Oxford 2004, 645 f. 25 Bernard S. Capp, The Fifth Monarchy Men. A Study in Seventeenth-Century English Millenarism. London 1972, und ders., The Political Dimension of Apocalyptic Thought, in: Constantinos A. Patrides/Joseph A. Wittreich (Eds.), The Apocalypse in English Ren-
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Zum zweiten identifizierte er als erster die englische Kirche mit einer der sieben Gemeinden aus Kapitel 2 und 3 der Offenbarung, und zwar mit Laodicea, während die deutschen Lutheraner der Gemeinde von Sardis entsprachen. Diese Deutung wurde in späteren Auslegungen, wie etwa auch bei Bernard, in unterschiedlichen Schriften immer wieder diskutiert und war überaus einflußreich.26 Von Laodicea heißt es (Offb 3,15): „Ich weiß deine Werke, daß du weder kalt noch warm bist!" In der Tat war England für Brightman .lauwarm', weil es sich nicht von den Traditionen des Papismus zu trennen bereit war. Seine Kirche war gekennzeichnet durch einen „mingle-mangle of the Popish Governement with pure doctrine". An diese Kirche richtete Brightman seine Ermahnung: „Wee hange as yet by Geometrie, as it were, betweene heaven and hell, the contagious steaminge of the Romisch foggie lake doth in a deadly manner annoy us: our silver is as yet defiled with drosse, our wine is mingled with water, Christ will no longer endure such middlinge Angells as ours are. What wilt thou say if this admonition of mine be the last watchword and waminge-peece that ever thou shalt have?" 27 Auf der anderen Seite, auch daran ließ Brightman eigentlich kaum einen Zweifel, war England eine besondere Rolle im Endkampf zugedacht, denn die letzte Phase im Kampf gegen Babylon, der um 1690 mit der Zerstörung von Papsttum und Osmanenreich enden würde, hatte 1558 mit der Thronbesteigung Elisabeths I. von England begonnen, die für ihn trotz ihrer zurückhaltenden konfessionellen Politik das Idealbild des gottesfürchtigen Herrschers schlechthin war und immer wieder durch Gottes unmittelbares Eingreifen vor den Angriffen der Papisten gerettet worden sei.28 Diese zentrale Rolle im Kampf gegen Rom würde England aber nur wahrnehmen können, wenn es seine eigene Kirche von dem Einfluß der Prälaten und der church papists reinigte. Am Ende freilich überwog eigentlich doch die Hoffnung, so wie bei aissance Thought and Literature. Patterns, Antecedents and Repercussions. Ithaca, N.Y. 1984,93-124; sowie Christopher Hill, Antichrist in Seventeenth-Century England. Oxford 1971. 26 Siehe etwa zu Richard Bernard, The Seaven Golden Candlesticks. Englands Honour. The Great Mysterie of Gods Mercie yet to come. With Peace to the pure Heart Aduising to Unitie among Our Selves. 2. Aufl. London 1621, bes. sgn E 2 - F 3, über Laodicea und die Schlußbetrachtung „The Honour of England"; vgl. ders., A Key of Knowledge (wie Anm. 11). Bei Bernard sind die Gemeinden aber eher Phasen in der kirchlichen Entwicklung, keine regionalen oder nationalen Kirchen. Vgl. zu Laodicea auch Robert Surridge, „An English Laodicea". The Influence of Revelation 3, 14-22 on Mid-Seventeenth-Century England, in: David J. B. Trim/Peter J. Balderstone (Eds.), Cross, Crown and Community. Religion, Government and Culture in Early Modern England, 1400-1800. Oxford/Berlin/ Frankfurt am Main 2004,143-176. 27 Thomas Brightman, Revelation of the Revelation that is, the Revelation of St. John opened clearly with a logicall Resulution and Exposition. Wherein the Sense is Cleared, out of the Scripture, the Event also of Thinges Foretold is Discussed out of the Church-Historyes. 2. Aufl. Amsterdam 1615, 137 und 165. 28 Christianson, Reformers (wie Anm. 16), 102f.
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einem Zeitgenossen von Brightman, Arthur Dent, einem Pastoren in Essex, der 1603 seine Auslegung der Offenbarung, „The Ruine of Rome" veröffentlichte. Hier hieß es zwar einerseits: „God has a just controversie against us, as sometimes he had against Israel", aber Dent sagte auch: „Popery shall never bee established againe in this kingdome", denn wie könne das geschehen, „if the true faith were not to survive in England how could Rome be runied [...] how shall fire come down from heaven and devour both God and Magog?" 29
III. Daß Schriften von puritanischen Theologen wie Brightman und Dent trotz ihrer Lobeshymnen auf Elisabeth I. politisch explosiv waren oder zumindest in dem Moment werden konnten, in dem England keine Kriegspolitik mehr verfolgte, sondern seinen Frieden mit den katholischen Mächten des Kontinents schloß, muß kaum betont werden. Um so erstaunlicher ist es, daß gerade derjenige englische Monarch, der am stärksten in diesen Jahrzehnten als rex pacificus, als Friedensherrscher, auftrat und auch einen Ausgleich mit den gemäßigten Kräften in der katholischen Kirche suchte, nämlich Jakob I., sich zugleich als politischer Theoretiker, der er ja auch war, stark an der Offenbarung des Johannes und an dem Bild des Endkampfes gegen Babylon orientierte.30 Wer die Werke Jakobs I. in der Ausgabe von 1616 in die Hand nimmt, der findet in ihr als erstes ein Jugendwerk des Königs, die Paraphrase der Offenbarung des Johannes aus den 1580er Jahren.31 Dies ist bemerkenswert, denn die Apokalypse war ja, wie wir gesehen haben, eine Lieblingsschrift jener radikalen Protestanten, die im Papst den Antichrist sahen und in den Königen, die der römischen Kirche dienten, die Werkzeuge des Teufels, und das galt nicht nur für England, sondern auch für Jakobs heimisches Schottland. Die Interpretation der Offenbarung durch den König weicht dann auch von dieser 29
Arthur Dent, The Ruine of Rome or an Exposition upon the Whole Revelation Wherein is plainly shewed and proved, that the Popish Religion, together with all the Power and Authoritie of Rome, shall ebbe and decay still more and more throughout all the Churches of Europe, and come to an utter Overthrow even in this Life before the End of the World. Written especially for the Comfort of Protestants, and the Daunting of Papists, Seminary Priests, Iesuites, and all that cursed Rabble. 2nd Ed. London 1603, 243 f. 30 Zu Jakob VI. und I. als Autor und als Staatstheoretiker siehe Daniel Fischlin/Mark Fortier (Eds.), Royal Subjects. Essays on the Writings of James VI and I. Detroit 2002, und Ronald G. Asch, Jakob I. (1566-1625), König von England und Schottland. Herrscher des Friedens im Zeitalter der Religionskriege. Stuttgart 2005,114-132. 31 Der König verfaßte die Schrift wohl um 1585, als er kaum 20 war, sie wurde jedoch erstmals 1616 veröffentlicht; vgl. Willson, James VI and I (wie Anm. 2), 81 f. Zu den Apokalypse* Auslegungen des Königs siehe auch Daniel Fischlin, „To Eate the Flesh of Kings". James VI and I. Apocalypse, Nation and Sovereignty, in: Fischlin/Fortier (Eds.), Royal Subjects (wie Anm. 30), 3 8 8 ^ 2 0 .
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Auslegung nicht ab. Der Papst ist für ihn eindeutig zu identifizieren mit der ,Hure Babylon', er ist der Antichrist, der teuflische Widersacher Christi. Die „Kings of the Earth" aber, die dem römischen Papsttum dienen, werden sich erst zuletzt gegen die ,Hure Babylon' wenden, „and shall make her desolate and naked, and shall eat her flesh and burn her with fire" (Offb 17,16). Der König kommentiert dies mit den Worten: „for the hearts of the greatest kings, as well as of the smallest subiects are in the hands of the lord, to be his instruments and to turne them as it shall please him to employ them." 32 Erscheinen hier die Monarchen der Erde, wenn Gott sie lenkt, als Widersacher des Teufels, so können sie doch auch seine Diener sein, eine Möglichkeit, die die radikalen Calvinisten Schottlands nicht genug betonen konnten, und die für ihre Widerstandslehren von zentraler Bedeutung war. Man mag sagen, die Paraphrase der Offenbarung sei ein Jugendwerk aus einer Zeit, als der König noch keine klare eigene Position gefunden hatte. Dies mag in gewissem Umfang richtig sein, es ist dann aber um so bemerkenswerter, daß Jakob I. diese bislang ungedruckte Schrift 1616 zusammen mit einer weiteren Auslegung der Offenbarung, der „Fruitfull Meditation, Containing a Plaine and Easie Exposition or Laying Open of the 7th, 8th, 9th and 10th Verses of the 20 Chapter of the Revelation in Form and Manner of a Sermon", die 1588 im Jahr der Armada erstmals gedruckt worden war, publizieren ließ. In der Meditation hieß es, es sei die Absicht des Papstes „to stirre up the princes of the earth his slaves, to gather and league themselves together for his defence and rooting out of all them that professe Christ truly". 33 Damit nahm Jakob I. 1588 auch Bezug auf den Angriff der Armada auf England, auf die französischen Religionskriege, die Kämpfe in den Niederlanden und den sogenannten Kölnischen Krieg in Deutschland, bei dem ein dem Protestantismus zuneigender Kölner Kurfürst in den 1580er Jahren abgesetzt worden war. Zwar hatte der König in seinen späteren Jahren Vorbehalte gegen den radikalen Antikatholizismus und seine Deutung der Offenbarung des Johannes. In seiner Auslegung des Vater Unser, die 1619 erstmals gedruckt wurde und die er 1620 in die zweite Auflage seiner Gesammelten Werke aufnahm, hieß es, die Apokalypse sei mit Vorsicht zu interpretieren, sonst falle man ähnlichen Häresien wie die zahlreichen Sekten in Amsterdam - stets ein Schreckbild für alle rechtgläubigen Protestanten - zum Opfer, und auf keinen Fall dürfe man sich der törichten Hoffnung auf ein tausendjähriges Reich Gottes auf Erden 32
A Paraphrase upon the Revelation of the apostle S. lohn, in: James Montagu (Ed.), The Workes of the most high and mightie prince, lames by the grace of God, King of Great Britaine, France and Ireland, defender of the faith, London 1616, Ndr. Hildesheim 1971,7-72, hier 55. 33 A Fruitfull Meditation, Containing a Plaine and Easie Exposition or Laying Open of the 7th, 8th, 9th and 10th Verses of the 20 Chapter of the Revelation in Form and Manner of a Sermon, in: Montagu (Ed.), The Workes (wie Anm. 32), 73-80, hier 78. Zu Jakob VI. als Ausleger der Offenbarung siehe auch Williamson, Consciousness (wie Anm. 15), 40f.
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überlassen.34 Dies ändert jedoch nichts an der Tatsache, daß der König den Papst mit dem Antichrist identifizierte, wie er vor allem in seiner sogenannten „Premonition to all Most Mightie Monarches, Kings, Free Princes and States of Christendom" von 1609 darlegte, die er Kaiser Rudolf II. und allen anderen Fürsten der Christenheit widmete. Bis zum Überdruß suchte er hier zu beweisen, daß der Bischof von Rom mit dem Untier aus der Apokalypse zu identifizieren sei.35 Das eschatologische Denken, wie es für den radikalen Calvinismus generell charakteristisch war, prägte also auch die Vorstellungen Jakobs I. und war für seine politische Theologie von größter Bedeutung. Allerdings setzte er die Akzente anders als die puritanischen Theologen Englands oder die strikten Presbyterianer in Schottland. Für Jakob I. war der Papst der Antichrist gerade deshalb oder in dem Maße, wie er die Autonomie der weltlichen Obrigkeiten angriff und untergrub, auch durch den Appell an das Prinzip der Völkssouveränität - ein Gedanke, wie er etwa bei Kardinal Bellarmin, aber auch bei anderen katholischen Theoretikern auftrat, mit denen sich Jakob I. in der sogenannten Oath-of-Allegiance-Kontroverse in den Jahren nach 1606 auseinandersetzte.36 Das Königtum von Gottes Gnaden und das Prinzip, daß Monarchen nur Gott allein, nicht dem Papst oder einer anderen kirchlichen Autorität oder aber dem Volk Rechenschaft schuldeten, besaß somit für Jakob I. eine geradezu heilsgeschichtliche Bedeutung. Es waren die Könige und die Fürsten der Christenheit, die sich der geistlichen Tyrannis des Papstes oder auch einer protestantischen Theokratie widersetzten, die den Sieg des Bösen in dieser Welt verhinderten, denn keine weltliche Tyrannis konnte so schlimm sein wie die geistliche Tyrannis, die im Namen Gottes seine Herrschaftsordnungen untergrub, ein Gedanke, der übrigens auch dem deutschen Luthertum nicht fremd war. Auch Puritaner oder Presbyterianer kannten durchaus die Gestalt des godly ruler, des gottesfürchtigen Herrschers, als Widersacher des Papstes, aber für Jakob I. konnte - dies waren zumindest die impliziten Konsequenzen seiner Argumente - selbst ein katholischer Fürst in gewisser Weise ein solcher godly ruler sein, wenn er sich weigerte, sich der Autorität des Papstes in poli-
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A Meditation upon the Lords prayer, in: Montagu (Ed.), The Workes (wie Anm. 32), 2nd Ed. London 1620, 571-599, hier 571 u. 576; Williamson, Consciousness (wie Anm. 15), 32. 35 Charles H. Mcllwain (Ed.), Political Works of James I. Cambridge, Mass. 1918, Ndr. New York 1965, 110-168, hier bes. 129-150. 36 A Premonition to all Christian Monarchs, Free Princes and States, in: Mcllwain (Ed.), Political Works (wie Anm. 35), 110-168, hier 152f. Zur Oath-of-Allegiance-Konttoversc siehe auch Johann P. Sommerville, Papalist Political Thought and the Controversy over the Jacobean Oath of Allegiance, in: Ethan H. Shagan (Ed.), Catholics and the „Protestant Nation". Religious Politics and Identity in Early Modern England. Manchester 2005, 162-84; Marcy L. North, Anonymity's Subject. James I and the Debate over the Oath of Allegiance, in: New Literary History 33/2, 2002, 215-232.
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tischen Fragen zu unterwerfen. Diese Perspektive erklärt, warum der König seine „Premonition" von 1609 an alle Monarchen und Fürsten der Christenheit richtete, also auch und gerade an die katholischen Herrscher, und warum er 1615 mit einer langen - wenn auch vielleicht nicht ausschließlich selbst verfaßten - Abhandlung in eine innerfranzösische Kontroverse über das Verhältnis des Papsttums zur französischen Krone eingriff, die anläßlich der Verhandlungen der französischen Generalstände im Jahre 1614 zwischen dem Ersten Stand, dem Klerus, und dem Dritten Stand, den nichtadligen Vertretern der Städte und Ämter, ausgebrochen war.37 Ein katholischer Herrscher, der die Autonomie des Königtums von Gottes Gnaden verteidigte, stand für Jakob I. dann in eschatologischer Perspektive letztlich doch auf der Seite der wahren Kirche, mochte er auch in dogmatischen Fragen nicht rechtgläubig sein, während umgekehrt protestantische Fanatiker, die wie John Knox den sakralen Charakter der Monarchie nicht anerkannten, auf der Seite des Teufels standen, selbst dann, wenn der Glaube, den sie praktizierten, sonst der richtige war. Auf diese Weise entwickelte Jakob I. somit seine ganz eigene politische Eschatologie, die mit einer starken monarchischen Herrschaftsgewalt vereinbar war, ja diese sogar voraussetzte. Fraglicher war schon, ob dieses eschatologische Weltbild auch vereinbar war mit einer Ausgleichspolitik gegenüber den katholischen Mächten Europas, namentlich dann, wenn sich die außenpolitische Lage, die sich nach dem Waffenstillstand zwischen Spanien und den Niederlanden 1609 und der Beilegung der Krise um Jülich, Kleve und Berg nach 1610 etwas entspannt hatte, wieder zuspitzte, wie dies 1618 ja geschah.38 Hier sah sich Jakob I. nun mit dem Problem konfrontiert, daß manche seiner eigenen Bischöfe geneigt waren, aus der anti-römischen Auslegung der Apokalypse ganz praktische Konsequenzen zu ziehen. So erklärte der allerdings in der Tat streng calvinistisch gesinnte Erzbischof Abbott von Canterbury 1619 während der Krise in Böhmen: „I am satisfied in my conscience that the cause is just, wherefore they have rejected that Proud and Bloudy Man [gemeint war Ferdinand II.]; [...] and methinks I do in this, and that of Hungary, foresee the work of God, that by piece and piece, the Kings of the Earth, that gave their power unto the Beast (all the word of God must be fulfilled) shall now tear the , Whore and make her desolate', as St. John in his Revelation hath foretold." 39 37
A Remonstrance for the Right of Kings, in: Mcllwain (Ed.), Political Works (wie Anm. 35), 169-268. 38 Zur außenpolitischen Lage siehe Simon Adams, England und die protestantischen Reichsfürsten 1599-1621, in: Friedrich Beiderbeck [u.a.] (Hrsg.), Dimensionen der europäischen Außenpolitik zur Zeit der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert. Berlin 2003, 6 1 84; Brennan C. Pursell, The Winter King. Frederick V of the Palatinate and the Coming of the Thirty Years' War. Aldershot 2003, und Glyn Redworth, The Prince and the Infanta. The Cultural Politics of the Spanish Match. New Haven, Conn. 2003. 39 Erzbischof Abbot an Naunton, ohne Datum, [1619], in: Cabala sive scrinia sacra: Mys-
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Mit dieser und ähnlichen Äußerungen scheint Abbott den Kurfürsten von der Pfalz, Friedrich V., der ja der Schwiegersohn Jakobs I. war, tatsächlich ermutigt zu haben, die ihm angebotene böhmische Krone anzunehmen. Jakob I. mußte eine derartige eschatologisch motivierte Außenpolitik als heller Wahnsinn erscheinen, und sie widersprach in allem der von ihm weiterhin verfolgten Friedenspolitik. Es ist daher nicht erstaunlich, daß er sich seit 1619/20 zunehmend von der vorherrschenden calvinistischen Deutung der Offenbarung abwandte und jene konfessionellen Gruppierungen in der Church of England unterstützte, die den Papst nicht mehr ohne weiteres mit dem Antichrist identifizierten, und dies waren die sogenannten Arminianer, korrekter vielleicht Zeremonialisten, die an das vorreformatorische Erbe in Fragen der Liturgie und Kirchenverfassung bewußt anknüpfen wollten. Kurz nach dem Tode Jakobs I., aber noch im Besitz einer Druckgenehmigung, die ihm der König vor seinem Ableben verschaffte hatte, veröffentlichte Richard Montagu, einer der Wortführer der Anti-Calvinisten in der englischen Kirche, 1625 seine Schrift „Appello Caesarem", in der er sich auch dezidiert mit der Behauptung auseinandersetzte, das katholische Rom sei das Babylon der Offenbarung und der Papst der Antichrist. Insbesondere das fünfte Kapitel seiner Schrift war dieser Frage gewidmet, und Montagu stellte schon in der Überschrift zu diesem Kapitel fest, „that he [the Pope] is magnus ille Antichristus is neyther proved by publick doctrine of the church nor proved by any good argument of private men"; der Papst sei zwar ein Antichrist, weil er sich dem Wort Christi widersetze, aber eben nicht jener „egregious, eminent and transcendent Antichrist", von dem in der Offenbarung die Rede sei, der auch als „Man of Sinne and Son of Perdition" bezeichnet werde. Diese Attribute würden sogar eher auf die Türken oder ihren Sultan passen als auf den Papst.40 Wenn jedoch die Türken der wirkliche Antichrist waren, dann erschien eine Zusammenarbeit mit dem Hause Habsburg, das ja immerhin das Bollwerk gegen das Osmanische Reich schlechthin war, sogar unter bestimmten Umständen denkbar, jedenfalls gab es für England keinen zwingenden Grund, im Krieg zwischen den Habsburgern und ihren Gegnern seine Neutralität aufzugeben - wie es denen erscheinen mußte, die in diesem Kampf den apokalyptischen Endkampf sahen. So rechtfertigte indirekt Montagu die Neutralitätspolitik Jakobs I. Auf die Dauer war der Streit um das Verhältnis zu Rom und zur vorreformatorischen Kirche, das Theologen wie Montagu eher pragmatisch sahen, strenge Calvinisten in England hingegen in eschatologischer Perspektive, teries of State and Government in Letters of ... Great Ministers of State. London 1691, 102 f. 40 Richard Montagu, Appello Caesarem. London 1625, 140, 147 u. 149; vgl. Milton, Catholic and Reformed (wie Anm. 7), 112-117. Zum Hintergrund der Schrift siehe auch Peter White, Predestination, Policy and Polemic. Conflict and Consensus in the English Church from the Reformation to the Civil War. Cambridge 1992, 223 f.
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mehr als viele anderen Kontroversen der Spaltpilz, der die Church of England zerfallen ließ und damit den Bürgerkrieg vorbereitete. Auch hier kann man erneut die unmittelbare politische Wirkung der Deutung der Apokalypse erkennen. Ihre gewissermaßen subversiven Tendenzen hatte namentlich Jakob I., der mit theokratischen Politikentwürfen in Schottland seine Erfahrungen gemacht hatte, einzudämmen versucht, indem er den sakralen Charakter des monarchischen Amtes gerade auch mit Blick auf den apokalyptischen Endkampf betont hatte. Diese Strategie war bis 1618 keineswegs aussichtslos, mußte sich jedoch nach dem Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges, als die Schriften des Königs, die den Papst als Antichrist angriffen, nun gegen ihn selber ins Feld geführt wurden, tendenziell gegen ihn und seine Neutralitätspolitik kehren.41 Damit trat eine eschatologische Deutung der politischen Konflikte der Gegenwart hervor, die als Aufforderung an die einfachen Untertanen oder doch zumindest die niederen Magistrate verstanden werden konnte, den Kampf gegen die ,Hure Babylon' selber in die Hand zu nehmen, wenn die Obrigkeit versagte. Dagegen erwies sich am Ende der Versuch einer sakralen Legitimation des Königtums als machtlos.
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Dazu Joseph Marshall, Reading and Misreading King James 1622-42. Responses to the Letter and Directions touching Preaching and Preachers, in: Fischlin/Fortier (Eds.), Royal Subjects (wie Anm. 30), 476-511 ; vgl. Curtis Perry, „If Proclamations Will not Serve". The Late Manuscript Poetry of James I and the Culture of Libel, in: Fischlin/Fortier (Eds.), Royal Subjects (wie Anm. 30), 205-234.
Zwischen Gottesebenbildlichkeit und Höllensturz Das Bild des französischen Königs in Zeiten der Fronde Von
Andreas Pietsch Das Bild des Herrschers zu beschreiben ist in einer Monarchie kein ungewöhnliches Thema. Auch die französische Literatur des 17. Jahrhunderts ist voller Beispiele dafür. So war es neben der bildenden Kunst etwa das Theater, das sich in Königsdramen mit diesem Thema befaßte; aber auch Fürstenspiegel oder politische Traktate bis hin zur Flugschriftenpublizistik geben zahlreich Zeugnis davon.1 Fast alle diese Gattungen kennen eine christlich-theologische Legitimierung der temporalen Macht, jedoch ist diese nicht unbedingt eine explizit biblische. Denn wie sehr eine biblische Argumentation der Herrschaftslegitimation Gefahr läuft, nicht das halten zu können, was sie verspricht, da in ihr immer auch schon die Kehrseite der Herrscherkritik eingeschrieben ist, sollen die folgenden Überlegungen exemplarisch veranschaulichen an einem kurzen Pamphlet mit dem sprechenden Titel „L'image du souuerain ou l'illustre portraict des diuinitez mortelles" aus dem Jahr 1649, das einem gewissen Paul Boyer zugeschrieben wird.
I. ,Exemplum sine exemplo in orbe christiano' Das Jahr 1649 hatte turbulent begonnen. Nicht nur war in einer wahren Nachtund Nebelaktion der französische Hof aus Furcht vor den Unruhen der sogenannten ,Fronde parlementaire' aus dem Louvre nach Saint-Germain geflüchtet; jenseits des Kanals ereignete sich kurz darauf ein - zumindest aus royalistischer Sicht - wahres ,worst-case-Szenario': Am 30. Januar 1649 bestieg der englische König Karl I. das Schafott. Die Hinrichtung des Monarchen rief auch auf dem Kontinent ein breites Echo hervor. So schrieb etwa der in Leiden lehrende Hugenotte Claude Saumaise am 1. März 1649 bestürzt nach Paris: , J e serais bien aise aussy d'apprendre de quelle façon vostre Cour aura receu et pris la Tragédie qui a esté joûée sur le théâtre d'Angleterre. C'est une grande leçon pour les Roys, quoy qu'elle soit montrée par de meschants mai1 Die Breite der Gattungen spiegelt der Sammelband Noemi Hepp/Madeleine Bertaud (Eds.), L'image du souverain dans les lettres françaises. Des guerres de religion à la révocation de l'édit de Nantes. (Actes et colloques, Vol. 24.) Paris 1985.
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très. Depuis l'origine des siècles, je ne croy pas qu'un acte si horrible et si détestable ayt jamais esté fait. Ceux qui l'ont fait doivent passer pour des monstres d'hommes." 2 Mit dieser Bewertung des Régicide als einem verachtungswürdigen Werk gottloser Kreaturen war Saumaise nicht allein. Die durchweg entsetzt zu nennende Reaktion in Frankreich hing nicht nur mit den engen familiären Banden zwischen beiden Königshäusern zusammen, war doch die englische Königin und nunmehrige Königswitwe Henriette Maria eine Tochter des französischen Königs Heinrich IV. und somit Tante von Ludwig XIV., welche schon 1644 in ihre Heimat Frankreich ins Exil gegangen war. Die Hinrichtung in London weckte zudem ungute Erinnerungen an das unrühmliche Ende französischer Könige aus der jüngsten Vergangenheit. Denn sowohl Heinrich III. (1589) als auch Heinrich IV. (1610) waren Attentaten zum Opfer gefallen, die jeweils auch eine breite theoretische Debatte nach sich gezogen hatten. Zwar war diese unter Ludwig XIII. weitestgehend abgeflaut, doch mit dem Aufkommen der Fronde brach die Diskussion um das Widerstandsrecht gegenüber dem Monarchen wieder los, und die Hinrichtung in London bescherte eine neue Notwendigkeit, über die Pflichten zwischen dem Monarchen und seinen Untertanen nachzudenken. In Frankreich stand dabei nicht so sehr der König, wohl aber seine Politik in der Kritik, woran die Minderjährigkeit des Königs eine entscheidende Rolle gespielt haben mag. Aller Unmut über die Steuern oder die Behandlung der Pariser Bevölkerung während der Blockade in den ersten Monaten des Jahres 1649 richtete sich nicht direkt gegen den jungen Ludwig XIV., sondern vielmehr gegen die Regentin Anna von Österreich und in noch größerem Maße gegen deren ersten Minister Mazarin, welcher der stark anschwellenden Flugschriftenliteratur ihren Namen gab: die Mazarinades? Seinem Henker soll Karl I. eine Verteidigungsschrift überreicht haben, die kurze Zeit später auch gedruckt vorlag mit dem Titel „Eikon basilike".4 Dieses „Herrscher-Bild" hat für einiges Aufsehen gesorgt und wurde kurz darauf auch ins Französische übersetzt.5 Eine erbitterte Debatte um die Recht- bzw. 2
So zitiert in einem Brief von Isaac de Lapeyrère an Philibert de la Mare vom 15. Juni 1660, ediert in: Jean-Paul Oddos, Recherches sur la vie et l'œuvre d'Isaac de Lapeyrère (15967-1676). Thèse de 3e cycle. Grenoble 1971-1974, 284f. 3 Vgl. allgemein Christian Jouhaud, Mazarinades. La Fronde des mots. Paris 1985, sowie Hubert Carrier, La presse de la Fronde (1648-1653). Les Mazarinades. 2 Vols. (Histoire et civilisation du livre, Vol. 19/20.) Paris 1989/91. 4 Philip A. Knachel (Ed.), Eikon basilike. The Portraiture of His Sacred Majesty in His Solitudes and Sufferings. Ithaca, N.Y. 1966. Vgl. zu Autorschaft und Verbreitung des Werks das Vorwort von Knachel. 5 Vgl. Philip A. Knachel, England and the Fronde. The Impact of the English Civil War and Revolution on France. Ithaca, N.Y. 1967, bes. 65-77; Hubert Carrier, Le labyrinthe de l'état. Essai sur le débat politique en France au temps de la Fronde (1648-1653). (Bibliothèque d'histoire moderne et contemporaine, Vol. 14.) Paris 2004, 78-92.
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Unrechtmäßigkeit der Hinrichtung des englischen Königs und somit über die Abschaffung der englischen Monarchie war die Folge. So verfaßte niemand Geringerer als John Milton umgehend als Antwort eine polemische Kontrafaktur mit dem Titel „Ikonokiastes", die „Bilderstürmer". In seinem Vorwort erinnert Milton seine Leser daran, daß ,Ikonokiast' ein Ehrentitel all jener byzantinischen Kaiser gewesen sei, die sich auf Gottes Geheiß daran gemacht hätten, der falschen Bildverehrung ein Ende zu setzen.6 Scharfe Kritik erhielt Milton dafür vor allem von französischer Seite; in erster Linie von Claude Saumaise mit seiner „Defensio regia pro Carolo I" von 1649, aber auch von Moïse Amyraut, dem Kopf der hugenottischen Akademie von Saumur, mit seinem „Discours de la Souueraineté des Roys" aus dem Folgejahr 1650. Noch im selben Jahr 1649 erschien in Paris ein anonymes Pamphlet mit dem Titel „L'image du souuerain ou l'illustre portraict des diuinitez mortelles" 7 , das allein mit seinem Titel auf das .königliche Buch' König Karls I. anspielt. Auch sonst gibt das Titelblatt erste Indizien, wie sich der Text verortet und wie er verstanden werden möchte. Er ist dem König gewidmet und versteht sich als Argumentation gegen die „Libertins du Siecle".8 Ohne den Text aufgeschlagen zu haben, kann angesichts der englischen Ereignisse vermutet werden, daß sich hinter diesen „derzeitigen Libertinern" nicht zuletzt John Milton und die englischen Independenten verbergen. Eine nähere Einordnung gestaltet sich schon deshalb schwierig, weil der Text, obwohl das Titelblatt klar Gegner benennt und die Nähe zum Herrscher intendiert, im Verlauf keine weiteren, klaren Bezugspunkte bietet. Der Terminus „Libertins" fällt kein zweites Mal, und auch sonst bleibt die Gruppe der Gegner recht diffus. Auch fehlt jeglicher expliziter Rekurs auf die aktuelle politische Situation, wie man 6
John Milton, EIKONOKAA2TH2, in Answer to a Book Intitl'd ,EIKQN BA2IAIKH', The Portrature of his sacred Majesty in his Solitudes and Sufferings. London 1650, Preface: „In one thing I must commend his op'nness who gave the title to this Book, Eucœv BaaiXixT), that is to say , The Kings Image; and by the Shrine he dresses out for him, certainly would have people come and worship him. For which reason this answer also is intitl'd Iconoclastes, the famous Surname of many Greek Emperors, who in thir zeal to the command of God, after long tradition of Idolatry in the Church, took courage, and broke all superstitious Images to peeces." 7 P.B.E., L'image du souuerain ou l'illustre portraict des diuinitez mortelles: ov il est traité De la dignité Royale, de l'ancienne institution des Roys, par qui est-ce qu'ils ont esté eleus, à quelle fin Dieu les a créez, iusques où se peut estendre le legitime pouuoir qu'ils ont sur nous, s'il est permis aux Sujets de iuger des actions de leur Prince, & de quelle reuerence il nous faut vser en parlant de leur personne. Contre l'opinion des Libertins du Siecle. Dédié à sa Majesté. Paris 1649. 8 Kaum ein Begriff des 17. Jahrhunderts ist derart schwer zu fassen wie der des libertin. Von Calvin Uber Garasse und Mersenne pejorativ aufgeladen, führt der Libertin als Forschungsterminus bis in die neueste Sekundärliteratur hinein zu immer neuen, heiß umkämpften Kontroversen. Man siehe nur die Pasquillen zur Deutungshoheit der Messieurs Jacques Prévôt, Jean-Pierre Cavaille' und Marc Fumaroli, etwa auf URL: www.ehess.fr/ centres/grihl.
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es wiederum in dieser Pamphletliteratur häufig findet. Denn abgesehen vom Titel des Werkes findet sich nicht die kleinste Anspielung auf die englischen Ereignisse, wiewohl die Mazarinades sonst nur selten an reißerischen Titeln sparten: Ebenfalls 1649 erschienen als Reflex auf die Hinrichtung Karls I. etwa „Exemplum sine exemplo in orbe christiano" oder „Les Lärmes et complaintes de la reine d'Angleterre sur la mort du roi son mari". 9 Der französischen Situation wird der Text ebenfalls nur seltsam gerecht, weil er an den König gerichtet ist, obgleich der junge Ludwig zehnjährig ist und die Staatsgeschäfte von seiner Mutter Anna von Österreich und Kardinal Mazarin geführt werden. Da der Traktat jedoch in Paris und auf Französisch erschien, war er für das französische Publikum gedacht und kommentiert - trotz aller Nähe zur englischen Diskussion - in erster Linie die französische Monarchie, um die es 1649 in den Wirren der Fronde, wie eingangs angedeutet, nicht gerade zum besten stand. Anders als die Replik von Milton weist er auch keine formale Nähe zur „Eikon basilike" auf, wo in 28 Abschnitten, die jeweils mit einem Gebet abschließen, der Leidensweg Karls I. nachgezeichnet wird. Bereits eine flüchtige Lektüre von „L'image du souuerain" bestätigt die Ankündigung des Autors aus seiner Widmung an den König, er habe in diesem Traktat alle wichtigen Bibelstellen in bezug auf den Herrscher zusammengetragen.10 Rund 180 Bibelverweise säumen die Marge des zwanzigseitigen Textes. Der lateinische Vers 12 aus Psalm 62 auf dem Titelblatt11, der im übrigen das einzige wörtliche Bibelzitat des Textes ist, unterstreicht die hier in Abgrenzung zu den „Libertins du Siecle" postulierte theologische wie politische .orthodoxe' Position, die quasi sola scriptum für den König streite. Das ist an sich schon auffällig, weil in den zeitgenössischen Texten, die für die Rechte des französischen Königs streiten, sonst weniger mit biblischen Zitaten als vielmehr auf der Ebene der Ehrentitel des Monarchen argumentiert wird. Das gilt sowohl für den Präzedenzstreit mit Spanien als auch für die erbitterte Debatte, die der aus dem jansenistischen Lager stammende „Mars gallicus" 1635 angestoßen hatte.12 Das Ausbleiben aller Rekurse auf die Titel ,fils aîné de l'Eglise' und ,roi très chrétien' oder auf das salische Gesetz, wie es eben für diese Gattung üblich wäre, spricht in unserem Beispiel für eine weitgehend allgemeine Behandlung der Thematik. Augenfälliger ist jedoch 9
Vgl. Carrier, Le labyrinthe de l'état (wie Anm. 5), 87. P.B.E., L'image du souuerain (wie Anm. 7), 4: „Ouy, SIRE, c'est vn Recueil que j'ay fait de tout ce que l'Histoire Saincte a de plus excellent en faueur des Princes." 11 „Rex vero laetabitur in Deo, laudabuntur omnes qui iurant in eo: quia obstructum est os loquentium iniquia". 12 Im selben Jahr erschien etwa Antoine Aubery, De la preeminence de nos Roys. Paris 1649. So sehr der „Mars gallicus" dem König angesichts seiner Ehrentitel das Recht absprach, auch nur eine strategische Koalition mit den protestantischen Schweden einzugehen, so sehr argumentierte der „Mercure espagnol" gerade damit, eben weil der französische König roi très chrétien und fils aîné de l'Eglise sei, dürfe er selbst das. 10
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ein Spannungsverhältnis, das sich schon auf dem Titelblatt zeigt und alle Prätention einer royalistischen Gesinnung gleichsam unterminiert. Denn weder der Autor noch der Drucker werden genannt, und ein ,Privilege du Roy' fehlt erst recht.13 Das ist um so erstaunlicher, als der Text sich als Herrscherverteidigung präsentiert und klandestine Veröffentlichungen als Vorsichtsmaßnahme etwa vor einer obrigkeitlichen Zensur zu werten sind. Wen und was hätten also Autor und Drucker hier zu fürchten? Diese Diskrepanz kann in einer ersten Annäherung mit den Veröffentlichungsstrategien der Mazarinades erklärt werden. Denn es ist alles andere als ungewöhnlich, daß auch diese Flugschrift quasi anonym publiziert wurde: Sowohl auf dem Titelblatt als auch am Ende der Dedikation an den König stehen nur die drei Initialen „P.B.E.".14 Allerdings gab der Autor durch dieses Kryptonym wiederum schon seinen Zeitgenossen einen Hinweis auf seine Identität und somit auf die Verortung des Textes in einem Lager der Fronde. Bereits die ältere Forschung hatte vermutet, daß sich dahinter Paul Boyer, écuyer, sieur du Petit-Puy, verberge.15 Die Initialen können dann als P[aul] B[oyer] é[cuyer] aufgelöst werden. Über diesen Paul Boyer du Petit-Puy ist wenig bekannt. Zeitnahe Biographen wie Moréri, Bayle oder Niceron nennen ihn überhaupt nicht16, die „Biographie universelle" aus der Mitte des 19. Jahrhunderts widmet ihm einen kurzen Eintrag von wenigen Zeilen, und selbst in der noch im Entstehen begriffenen neuesten französischen Nationalbiographie, dem „Dictionnaire de biographie française", ist der Eintrag kaum angewachsen. 1615 geboren - so kann man dort lesen - habe er ab 1644 an einer Amerikaexpedition teilgenommen, von der er um 1649 nach Paris zurückkehrt sei. Einige kleinere Traktate, der hier behandelte wird in diesem Zusammenhang nicht eigens genannt, hätten seine Treue zum Hofe ausgewiesen, was auch der Grund dafür sei, wieso ihn Mazarin 1660 in seinem Testament bedacht habe. Colbert habe sich zudem für seine Beschreibung der Amerikareise interessiert. Die Mehrzahl der Mazarinades, die Boyer zugesprochen werden, sind unter einem Kryptonym veröffentlicht, lediglich zwei tragen seinen vollen Namen und Titel, ein weiterer ist ebenfalls nur „P.B.E." gezeichnet, zwei mit
13 Man vergleiche nur das Titelblatt von Aubery, De la preeminence (wie Anm. 12), der sein Werk unter Nennung seines sowie des Druckers Namens und mit Privileg des Königs publizierte. 14 Vgl. zu Ausmaß und Funktion von Anonymität Carrier, La presse de la Fronde (wie Anm. 3), Vol. 2,77-92. 15 Vgl. Celestin Moreau, Bibliographie des Mazarinades. 3 Vols. Paris 1850-1851, Ndr. 1965. Es ist dort die Nr. 1684 in Vol. 2, 66. 16 Lediglich Zedier verwendet auf ihn ganze vier Zeilen, vgl. Art. „Paullus Boyer", in: Johann Heinrich Zedier, Grosses vollständiges Universal-Lexicon. Bd. 4. Halle/Leipzig 1733,487.
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dem längeren „B.E.S.D.P.P." und einmal mit „P.B.S.D.P.P.".17 Dennoch sind diese Zuschreibungen in der Forschung nicht unumstritten. So hat Hubert Carrier als einer der besten Kenner der Mazarinades seine Einschätzung revidiert. Hatte er ursprünglich noch geurteilt, „L'image du souuerain" sei „incontestablement" von Paul Boyer, lehnt er dieses Urteil in seiner neuesten Publikation mit der erstaunlichen Begründung ab, Boyer habe grundsätzlich seinen Titel, Sieur du Petit-Puy, hinzugesetzt.18 1991 hatte Carrier nicht zuletzt mit der inhaltlichen Nähe argumentiert zwischen dem ebenfalls mit „P.B.E." unterzeichneten „Discours prophetique sur la naissance de monseigneur le Prince" von 1650 und dem „L'Horoscope du roy" von 1652, das „P.B.S.D.P.P." signiert ist.19 Folgt man der gängigen Zuschreibung der Autorschaft, so bleibt eine politische Disparatheit im Pamphletceuvre des Boyer zu konstatieren, da er sich nicht eindeutig einer Partei der Fronde zuordnen läßt.20 Carrier interpretiert dies als eine typische wechselhafte Karriere eines Autors der Mazarinades und kommt zu dem Schluß: „La seule originalité de ce parcours exemplaire dans la sinuosité, c'est qu'à aucun moment Paul Boyer n'a attaqué Mazarin: au contraire, il lui dédié en 1649 son Dictionnaire servant de bibliothèque universelle, il composera encore son panégyrique en 1658 et rédigera en 1660 une histoire du cardinal dont le manuscrit autographe se trouve toujours à la Bibliothèque Mazarine."21 Allerdings schlägt auch Carrier eine andere Mazarinade aus den Zeiten der,Fronde des Princes' dem Autor Boyer zu, deren erster Satz bereits der Regentin Anna von Österreich den politischen Ratschlag erteilt: „Madame, Le verkable secret de la Paix consiste en deux choses; l'vne est en l'esloignement Du Cardinal Mazarin, l'autre est en l'eslargissement des Princes."22 17
Ich folge hier Moreau, Bibliographie (wie Anm. 15), Vol. 3, 391. Carrier, Le labyrinthe de l'état (wie Anm. 5), 230 Anm. 260: „Je ne crois pas que ces initiales désignent Paul Boyer [...], car sur toutes ses autres mazarinades Paul Boyer a fait suivre son nom du titre, en toutes lettres ou en initiales, de sieur du Petit-Puy." 19 Vgl. Carrier, La presse de la Fronde (wie Anm. 3), Vol. 2, 17-19, bes. 18 Anm. 60. 20 Carrier hat am Beispiel von Claude Joly einen ähnlich wechselhaften beziehungsweise unabhängigen Autor beschrieben, vgl. Hubert Carrier, Un manifeste anti-absolutiste à la fin de la Fronde. L'idéal du souverain chrétien dans le Recueil de maximes véritables et importantes pour l'institution du Roi de Claude Joly, in: Hepp/Bertaud (Eds.), L'image du souverain (wie Anm. 1), 211-226. Vgl. zu Joly auch Klaus Malettke, Opposition und Konspiration unter Ludwig XIV. Studien zu Kritik und Widerstand gegen System und Politik des französischen Königs während der ersten Hälfte seiner persönlichen Regierung. (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 49.) Göttingen 1976. 21 Carrier, La presse de la Fronde (wie Anm. 3), Vol. 2, 18. 22 B.E.S.D.P.P., Le véritable secret de la paix. A la Reyne. Paris 1651, 3. Man wird deshalb auch nicht Roman d'Amat zustimmen können, vgl. Dictionnaire de Biographie française, Vol. 7 (1956), 105: „Pendant la Fronde, il semble bien, quoi qu'on en ait dit, avoir tenu le parti de la regente et de Mazarin, comme en font foi Le véritable secret de la paix, 1651 et L'Horoscope du roy, 1652." 18
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Der Arbeit von Carrier ist zudem zu entnehmen, daß im Februar 1650 ausgerechnet Mazarin die Verurteilung und Verbannung Boyers vorantrieb, nachdem dieser die Autorschaft zweier Pamphlete gestanden hatte, die sich scharf gegen den Prinzen Condé gewandt hätten. Den Akten, die sich zu diesem Prozeß erhalten haben, ist zu entnehmen, daß Boyer trotz seiner Appellation an das Parlement zu einer Geldstrafe und drei Jahren Entfernung von Paris verurteilt wurde.23 Es mag verwundern, wieso Mazarin einen Monat, nachdem er die Prinzen Condé, Conti und deren Schwager, den Herzog von Longueville, verhaften ließ, derart rigoros gegen jemanden vorging, der seinen politischen Rivalen Condé verunglimpfte. Mazarin selbst äußerte sich dazu: „Je croy qu'il est bon d'en faire exemple, et parce que la justice le [Boyer] requiert, et afin qu'on ne croye pas qu'on veuille lascher la bride à ceux qui voudraient escrire contre l'honneur et la réputation d'un prince du sang."24 In das Jahr der Verhaftung fällt die Publikation des Textes, der ebenfalls nur mit „P.B.E." signiert ist.25 Es handelt sich um eine Panegyrik auf den jüngst geborenen Herzog von Valois, den Sohn von Gaston d'Orléans. Auch Carrier sieht die Schwierigkeit, die Verbannung einerseits und die weitere Publikationstätigkeit andererseits in Einklang zu bringen: „Paul Boyer était-il toujours éloigné de Paris quand il composa et fit imprimer quelques mois plus tard un Discours prophétique sur la naissance du duc de Valois? Peut-être avait-il déjà obtenu une réduction de peine; à moins que le Discours prophétique ne soit un moyen habile de la solliciter.. ." 26 In einem Punkt schweigen die modernen Biographien gänzlich: nämlich in Boyers konfessioneller Zuordnung. Das wäre für die Einordnung des Traktates um so interessanter, als die Forschung immer wieder betont hat, wie sehr gerade die Hugenotten in der Zeit des Ediktes von Nantes ihre Loyalität gegenüber dem König bezeugt haben.27 So sehr man auch für die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts an die monarchomachischen Ideen aus dem reformierten Lager denken mag 28 , so deutlich ist die monarchiefreundliche Haltung Jean 23
Vgl. Carrier, La presse de la Fronde (wie Anm. 3), Vol. 2, 350. Carrier konnte die zwei anonym publizierten „La Généalogie du Prince, et comme tous ceux de cette maison ont été funestes au Roi et au peuple" und „Les Frondeurs victorieux et triomphants" aufgrund des Verhörprotokolls erstmals Boyer zuordnen. 24 Mazarin an Michel Le Tellier vom 21. Februar 1650, zitiert nach Carrier, La presse de la Fronde (wie Anm. 3), Vol. 2, 350. 25 P.B.E., Discours prophétique sur la naissance de monseigneur le Prince. Paris 1650. 26 Carrier, La presse de la Fronde (wie Anm. 3), Vol. 2, 350 Anm. 248. 27 Vgl. Wladyslaw J. Stankiewicz, Politics and Religion in Seventeenth-Century France. A Study of Political Ideas from the Monarchomachs to Bayle, as Reflected in the Toleration Controversy. Berkeley/Los Angeles 1960; Hartmut Kretzer, Calvinismus und französische Monarchie im 17. Jahrhundert. Die politische Lehre der Akademien Sedan und Saumur, mit besonderer Berücksichtigung von Pierre Du Moulin, Moyse Amyraut und Pierre Jurieu. (Historische Forschungen, Bd. 8.) Berlin 1975. 28 Vgl. Jürgen Dennert (Hrsg.), Beza, Brutus, Hotman. Calvinistische Monarchomachen.
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Calvins, trotz aller Einschränkungen durch seine Ephorenlehre. Nicht von ungefähr läßt der Jurist Calvin seine König Franz I. gewidmete „Institutio religionis christianae" mit dem Kapitel über den Magistrat enden. Die Obrigkeit ist für ihn „vicaires de Dieu" und „une image de la providence, sauve-garde, bonté, douceur et iustice de Dieu". 29 Ebenfalls nicht zufällig engagierten sich in der Diskussion um die Rechtmäßigkeit der Verurteilung und Hinrichtung Karls I. vor allem Hugenotten. Neben so prominenten Anwälten der Monarchie wie Saumaise und Amyraut war es mit einem gewissen Jean-Baptiste Porree ein Hugenotte, der „Eikon basilike" erstmals ins Französische übertrug. 30 Sie taten dies sicher nicht nur aus rein politischer Apologetik, weil Mazarin die Frondeure mit den englischen Revolutionären verglich oder die Königsmörder reformierte Glaubensbrüder waren.31 Gerade der letzte Punkt spricht hier für eine eminent innerreformierte theologische Diskussion, die mit Saumaise und Amyraut zudem ein recht breites Spektrum kontinental-calvinistischer Theologie gegen Milton und die Independenten ins Felde führen konnte. Allein die oben skizzierte Kurzbiographie könnte als Indiz dafür genommen werden, Paul Boyer ebenfalls im Lager der Hugenotten zu verorten. Denn seine Amerikaexpedition spricht für reformierte Wurzeln, sind doch bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts die französischen Kolonisationsbestrebungen vor allem ein Geschäft der Hugenotten, bevor sie unter Colbert einen größeren Aufschwung nehmen.32 Biographisch wird man ansonsten nur e silentio über Paul Boyers Konfessionalität spekulieren können aufgrund des Umstandes, daß diese nicht eigens thematisiert und er in den entsprechenden bibliographischen Werken nicht erwähnt wird.33 Zwar könnte man textimmanent (Klassiker der Politik, Bd. 8.) Köln/Opladen 1968; Günter Stricker, Das politische Denken der Monarchomachen. Ein Beitrag zur Geschichte der politischen Ideen im 16. Jahrhundert. Diss. Heidelberg 1967. 29 Jean Calvin, Institution de la religion chrestienne. Genf 1564, IV, 20,6. 30 Vgl. Knachel, England and the Fronde (wie Anm. 5), 66 f. 31 Kretzer, Calvinismus und französische Monarchie (wie Anm. 27), 427, betont m. E. zu sehr den Aspekt der Angst, so sehr er auch mit der häufig unterstellten theologischen Unvereinbarkeit von Calvinismus und Monarchie aufräumt, wenn er urteilt: „Bei allem biblischen und biblizistischen Argumentieren der Professoren ist doch nicht zu verkennen, daß sie aus einer Situation menschlicher Angst heraus gedacht und gelehrt haben und daß sie politischer Verblendung erlegen sind." Sein Buch endet mit den bezeichnenden Worten, ebd. 429: „Politische Überanpassung aus vermeintlicher christlicher Grundhaltung heraus zahlt sich nicht aus, blasphemische Kreaturvergötzung erst recht nicht. Christliche und calvinistische Staatslehre kann nur ständig von der Gloria Dei ausgehen und diesen Primat unablässig im Hier und Heute vertreten." 32
Man denke etwa an Samuel de Champlain; vgl. Horst Gründer, Eine Geschichte der europäischen Expansion. Von Entdeckern und Eroberern zum Kolonialismus. Leipzig/Mannheim 1999, 62-72. 33 Vgl. Eugène Haag/Emile Haag, La France protestante. Ndr. Genf 1966, Vol. 2, 493: „D'un autre côté, quelques biographes attribuent, sans raison valable, la Grammaire d'Abel
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daran erinnern, daß auf dem Titelblatt der lateinische Vers aus Psalm 62 zitiert wird. Er folgt damit der Psalmzählung der Vulgata, die von der hebräischen Psalmzählung differiert, wo er als Psalm 63 geführt wird, wie ihn in Folge auch die reformierten Bibeln bezeichnen würden. Innerhalb des Textes wird allerdings einmal in der Marge Psalm 76 ausgewiesen. Dies entspricht wiederum der hebräischen und somit reformierten Zählung, während katholische Bibeln ihn mit der griechischen und lateinischen Zählung Psalm 75 nennen würden. Schon auf der Ebene des Textes bleibt also eine gewisse Uneindeutigkeit festzuhalten. Gegen seine reformierte Verortung spricht, daß Paul Boyer ebenfalls Autor eines Mariensonetts ist mit dem Titel „En l'honneur de la vierge. Contre les hérétiques".34 Die politische wie konfessionelle Unzurechenbarkeit des Autors bestätigt mehr die Ambiguität, die sich bereits auf dem Titelblatt von „L'image du souuerain" manifestiert, als daß sie durch eine solche Kontextualisierung aufgelöst werden kann, und nötigt im folgenden zu einer eingehenden Analyse des Textes.
II. ,Les monstres d'hommes' Der kaum zwanzigseitige Text entfaltet seine Argumentation auf verschiedenen Ebenen. Ganz im Stile eines Fürstenspiegels wendet er sich an den König. Verflochten damit ist die Behandlung der traditionellen Entstehungsmodelle der Monarchien, wie sie die Historiographen bieten.35 Im Verlauf des Textes nimmt dann der Strang immer stärkeren Raum ein, der sich mit der Frage nach der Gehorsamspflicht der Untertanen gegenüber ihrem Herrscher beschäftigt. Schon der erste Satz der Widmung an den König interpretiert den Titel des Werkes: „Voicy l'Image d'vn Souuerain, que Dieu a pris plaisir de tracer luymesme à sa fantaisie." 36 „L'image du souverain" bedeutet hier also nicht „le portrait du roi"37, also „das Bild, das der irdische Souverän sich schafft", sondern es geht um ein himmlisches Herrscherideal, einen göttlichen Herrscherarchetypus. Dieses himmlische Herrscherideal sei es, an dem sich der König orientieren solle, „pour se former au gré de son Sauueur, & pour se maintenir
Boyer à un Paul Boyer qui nous est connu par un Voyage dans l'Amérique occidentale (Paris, 1654), mais que nous n'osions revendiquer pour la France Protestante." 34 Es handelt sich um einen Einblattdruck, der als Autor „Boyer escuyer Sieur du PetitPuy" nennt. Jedoch fehlt jede Jahresangabe. 35 Das sind die wenigen Stellen, an denen nicht ausschließlich biblisch argumentiert wird. Explizit werden Berosus, Eusebius und Isidor neben Piaton und Aristoteles in der Marge genannt. 36 P.B.E., L'image du souuerain (wie Anm. 7), 3. 37 Vgl. dazu Louis Marin, Le portrait du roi. Paris 1981. Das Buch ist jüngst ins Deutsche übertragen worden.
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en ses grâces".38 Der gute Monarch sei das Abbild eines himmlischen Königs. Der Titel des Traktates könnte also besser lauten:,L'image de l'image du souverain', das Abbild des himmlischen Herrscherbildes. In wenigen Zeilen gelingt es dem Traktat, diese These weiter zuzuspitzen. Die Herausgehobenheit des Herrschers über alle übrigen Menschen zeige sich schon allein daran, daß es Gott gefallen habe, seinen eigenen Sohn als König einzusetzen, wie man dem „Prophete Royal David" entnehmen könne (Ps 2,6). Neben dieser alttestamentlichen Bibelstelle kann er zudem auch neutestamentliche Schriftbeweise hinzunehmen: Jesus Christus selbst bestätige Pilatus, er sei der „Roy des Juifs" (Mt 27,11). Die auf Christus gemünzten Titel wie König der Könige und Herr der Herren aus der Apokalypse krönen diesen Argumentationsgang.39 Der himmlische König ist also niemand anderes als Christus. Der irdische König ist hier folglich Bild dieses himmlischen Königs, er ist Abbild Christi. Der Autor des Traktats profitiert von der theologischen Rede des Menschen als imago Dei (Gen 1,27), so daß hier der Herrscher eine , imago filii DeV, ein Abbild des Gottessohnes, genannt werden kann. Der König ist Stellvertreter Christi auf Erden und somit in besonderer Weise imitator Christi. Seine Ähnlichkeit mit dem Gottmenschen Jesus Christus hebt ihn weit über die Ebenbildlichkeit eines jeden Menschen mit seinem Schöpfer hinaus. 40 Die Rede vom Monarchen als Repräsentant Gottes auf Erden hat eine lange Tradition. Selbst für eine recht weitgehende Assimilation des Königs mit Christus ließen sich verschiedene französische Beispiele anführen 41 , was den Engländer John Evelyn 1652 dazu veranlaßte, die französische Königsverehrung als Blasphemie zu brandmarken.42 Die Könige werden „lieutenans de Dieu en terre" genannt, sie sind also Mittler und Vermittler der Befehle Gottes auf Erden. Schon aus diesem Grunde hätten die Untertanen zu gehorchen. In besonderer Weise unterstreiche das die Geburt Christi just zum Zeitpunkt der Volkszählung: „Et ce fut la raison pour laquelle Iesus-Christ voulut naistre, lors que la computation vniuerselle du monde fut faite par Auguste, afin que 38
P.B.E., L'image du souuerain (wie Anm. 7), 3. Ebd. 5: „Ce que sainct Iean confirme encore dans son Apocalypse, quand il dit, que ce Souuerain Monarque auoit escrit sur son vestement & sur sa cuisse, ce nom de Roy des Roys, de Seigneur des Seigneurs, & de Dominateur eternel de Ciel & de la terre." 40 Es ist eine besondere Blüte der alten theologischen Diskussion über das Verständnis des Menschen als imago Dei, also um das Verhältnis von Bild und Abgebildetem und damit um die similitudo zwischen Mensch und Gott. 41 Besonders eindrücklich ist die anonyme Panegyrik auf die lang ersehnte Geburt des Dauphin im Jahr 1638 mit dem Titel: „Imitation, et Amplification de l'Eglogue faite en Latin par le Pere Campanelle, sur la Naissance de Monseigneur le Dauphin". Anna von Österreich sei mariengleich, und über Ludwig wird ausgesagt: „II est fils d'vne Vierge, il est fils de Marie, Fils de Dieu par qui seul nostre playe est guerie." 42 Vgl. Carrier, Le labyrinthe de l'état (wie Anm. 5), 3, der Evelyn wie folgt zitiert: „Les françois sont la seule nation d'Europe qui idolâtre son souverain". 39
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ses parens luy payassent le tribut qui luy estoit deub, & qu'ils reconussent le Prince terrien, comme celuy qui représentait sa personne." 43 Die absolute Souveränität des Königs leitet sich nicht von der Unabhängigkeit von anderen Monarchen ab, sie ist vielmehr einer - wenn auch der direktesten - Abhängigkeit von einer .absoluteren' Macht, nämlich Gott, geschuldet: „Dieu est le Seigneur absolu de tout l'estre crée, & les Roys sont les Seigneurs absolus de tout ce qui respire l'air dans l'estenduë de leur Empire. Dieu est vn Monarque independent, & les Roys sont des Monarques qui ne releuent que de cette authorité independente."44 Diese geradezu vorbildhafte biblisch-theologische Legitimation der Monarchie absolue, wie sie das französische Königtum präferiert45, zeigt das Dilemma einer solchen Argumentation. Der Untertan gehorcht nicht, weil er dem Monarchen um seiner selbst willen gehorchen muß, sondern nur weil er ihm gehorchen soll, nämlich um Gottes Willen. Gott ist der eigentliche Souverain, er ist „souuerain Seigneur de l'Vniuers" oder „Souuerain Eternel".46 Bei aller Herausgehobenheit unter den Menschen ist der König eben nicht mehr als ein Handlanger, fast ein Spielball Gottes, von ihm durch seine Providenz in das Amt gerufen und von dessen Gnade abhängig. Überhaupt ist die Betonung der Auserwählung des Königs in diesem Traktat auffällig. Diese Gnade sei dabei grundsätzlich gefährdet, sei es durch die Verfehlungen des Königs selbst oder aber auch durch die Sünden seines Volkes. Das Alte Testament wie auch die Geschichte etwa Roms und Assyriens gäben davon reichlich Beispiele.47 Hier deutet sich ein Problem an, das die Argumentation des Textes nach und nach aushöhlen wird. Denn so sehr auch Gott aufgrund seiner Güte die schlechten Könige verabscheue, so sehr entspreche es seiner Gerechtigkeit, daß er auch in Form von schlechten Königen strafe. Schon aus diesem Grunde stehe es dem Untertanen nicht zu, über den König zu urteilen. Hat er einen guten König, so wird es an der Unbescholtenheit dieses Herrschers oder seines Volkes liegen; hat er aber einen schlechten König, so werde das ebenfalls seinen Grund haben, da Gott auch die Tyrannen so lange im Amt belasse, wie es ihm gefällt. Denn alle Könige, ob gut oder schlecht, werden von der göttlichen Providenz erwählt und erhalten.48 43
P.B.E., L'image du souuerain (wie Anm. 7), 9f. Ebd. 6. 45 Vgl. Jean Bodin, Les six Livres de la République. Paris 1583, Ndr. Aalen 1961, Buch 1/ 8,124, auch wenn dort Bodin von der Seite des Herrschers her argumentiert: „celuy est absoluement souuerain, qui ne recongnoist rien plus grand que soy après Dieu." 46 P.B.E., L'image du souuerain (wie Anm. 7), 22. 47 Vgl. ebd. 17, wo es z.B. summarisch über das Südreich heißt: „De vingt-deux Roys de Iuda il ne trouua que David, Asa, Iosaphat, Ioatan, Ezechias, & Iosias, qui ayant persisté dans vne vertu tres-exellente." 48 Ebd. 19: „Ce que ¡'ordonne aussi bien en faueur des Tyrans, qu'en faueur des meilleurs 44
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Immer mehr steht im Mittelpunkt, wie die Untertanen sich ihrem Herrscher gegenüber verhalten sollen, und dabei besonders die Frage, warum sie keinen Widerstand leisten dürfen. Gleich fünfmal wird mit einer Stelle aus Baruch argumentiert, die den Gehorsam selbst gegenüber einem Ungläubigen fordern: „les Juifs qui estaient sous la captiuité de Babylone, escriuirent à leurs Confrères qui estaient en Ierusalem, qu'ils eussent à prier pour Nabuchodonosor, & pour la vie de son fils, encore qu'ils fussent idolâtres".49 Das Gebet für Nebukadnezar ist ein locus classicus gegen das Widerstandsrecht, auch wenn für gewöhnlich nicht mit dem deuterokanonischen Baruch, sondern mit den entsprechenden Stellen bei Jeremia und Ezechiel argumentiert wird. Nicht zuletzt Calvin etwa hatte damit argumentiert, Beza die Stelle kritischer verarbeitet. 50 Interessanterweise wird das Thema in „Le veritable secret de la Paix", das 1651 in den Zeiten der ,Fronde des Princes' veröffentlicht wurde und ebenfalls Boyer zugesprochen wird, in einem moderateren Tonfall und ohne jeglichen expliziten Bibelbezug verhandelt. Die Könige werden dort ebenfalls „viuantes images de Dieu, & le Lieutenant de sa diuine maiesté ici bas sur la terre" genannt. Allein deshalb sei es ihnen gestattet, gottgleich zu regieren. Diese weitgehende Einräumung von uneingeschränkter Macht wird jedoch sofort wieder zurückgenommen zugunsten einer Regierungsform, die gottgemäß sei, nämlich in der tätigen Umsetzung der Herrschertugend der Milde als Abbild der göttlichen Barmherzigkeit: „Ainsi il n'est point de Prince qui face estât d'estre grand Politique, qui ne doiue régir ses peuples auec plus de mansuétude que de iustice: car par la mansuetude les souuerains remettent facilement le tort qu'on leur a fait, & par la iustice ils rendent aux hommes ce qui leur appartient selon leurs bonnes actions, ou selon leurs demente." 51 Auch in dieser Flugschrift, die ebenfalls unter Kryptonym erschien und der Regentin Anna von Österreich gewidmet ist, gibt es eine zweideutige biblische Argumentation, die den Königen Rechte einräumt, diese jedoch sofort wieder einschränkt. In unserem Beispiel jedoch geht die Argumentation weit darüber hinaus, und es heißt hingegen unmißverständlich: „Si Dieu nous les [die KöPrinces de la terre; Parce qu'ils sont également ordonnez de moy, & parce qu'estans mes Lieutenans, ils me doiuent conseruer ma Souueraineté, en Testât qu'ils l'ont receuë de ma propre main, & maintenir enuers tous, & contre tous, l'authorité que ie leur ay donnée, & pour mon honneur & pour mon gloire." 49 Ebd. lOf. 50 Vgl. Calvin, Institution (wie Anm. 29), IV, 20,26 f.; Theodor Beza, Das Recht der Obrigkeiten gegenüber den Untertanen und die Pflicht der Untertanen gegenüber den Obrigkeiten, in: Dennert (Hrsg.), Beza, Brutus, Hotman (wie Anm. 28), 50. 51 B.E.S.D.P.P., Le véritable secret de la paix (wie Anm. 22), 14: „Les Rois sont des viuantes images de Dieu, & le Lieutenant de sa diuine maiesté ici bas sur la terre, c'est pourquoy comme tels ils doiuent imiter dans le gouuernement de leurs estats, la conduite dont ce Souuerain Seigneur se sert pour gouuerner le monde, & tascher de traiter leurs subiets de la mesme sorte qu'il traite ses créatures."
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nige] a voulu donner pour nous punir du crime que nous auons commis, d'auoir abandonné sa domination pour nous mettre sous la protection des hommes, s'ils peuuent faire tout ce qu'il leur plaira, & qu'ils ayent droit de nous traitter comme si nous estions des esclaues, auec quel respect ne deuonsnous pas discourir de ces Princes du Monde?" 52 Die Frage ist nurmehr rhetorischer Art, es steht dem Untertan nicht zu, über den Herrscher zu urteilen, da er sich anmaßen würde, zugleich über Gott zu richten - wollte der König ihn auch wie einen Sklaven behandeln. Die Zweischneidigkeit der biblischen Legitimation des Königs tritt hier immer deutlicher zutage. In der Marge wird, wie schon kurz zuvor, auf 1 Sam 8 verwiesen, wo Samuel das Volk vor der Unbill der Könige warnt, da diese uneingeschränkte Macht über ihre Untertanen haben werden. Es wird in einem derart biblisch gesättigten Text wohl auch nicht ganz unschuldig sein, daß die Könige an dieser Stelle und nur hier „Princes du Monde" genannt werden, läßt es doch an den „prince du monde" - hier im Singular - also an den Satan aus Johannes 12,31 und 14,30 denken. Die Könige sind weltliche und nicht himmlische Herrscher, sie sind eben doch nicht Christus, sondern nur Abbilder Christi, geradezu ein Abklatsch dieses „roy des roys" - um nicht zu sagen der Teufel selbst. Sie erinnern den Untertan an die Vorläufigkeit der Welt, an die Minderwertigkeit der temporalen Macht vor den Vorzügen des spirituellen Lohns. Geradezu als Kulminationspunkt der ganzen Argumentation steht der paraphrasierte Vers aus der Bergpredigt (Mt 6,33): „Cherchez mon Royaume auant toutes choses, & vous obtiendrez facilement tout le reste." Auch er steht im Dienste, die Unangreifbarkeit des Königs zu unterstreichen, denn es heißt weiter: „Le Roy est vn milieu entre vous et moy, & comme il n'est pas permis aux Roys d'entreprendre sur ma personne; il n'est pas permis aux sujets d'entreprendre sur le Prince." 53 Zur Steigerung der suggestiven Argumentationskraft läßt der Autor Gott auf den letzten Seiten zudem in der ersten Person Singular direkt zu den Lesern sprechen. Diese Betonung der vollständigen Unantastbarkeit des Königs hat zur Folge, daß die Unterscheidung zwischen rechtmäßiger und entarteter Monarchie, wie sie bei Bodin und auch im royalistischen Lager zu Zeiten der Fronde beschworen wurde, verschwimmt. „Le Lettre d'Auis à Messievrs dv Parlement de Paris, escrite par un Prouincal", der zu den umkämpftesten Mazarinades von 1649 zählt und in dessen Umfeld bereits Moreau „L'image du souuerain" verortet hatte, faßt die Unterscheidung wie folgt: „il y a bien de la différence entre ces deux propositions: le Prince peut prendre et disposer de nos vies et de nos biens à sa fantaisie; et nous deuons employer vies et biens pour le Prince. La première suppose vne puissance despotique et seigneuriale; 52 53
P.B.E., L'image du souuerain (wie Anm. 7), 23. Ebd. 21.
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et la seconde une suggestion dans les subiets qui l'oblige à seruir son Prince aux dépens de son sang et de ses biens, quand la nécessité est grande." Die Macht der Könige ist also durchaus beschränkt und findet ihre Grenzen im göttlichen Recht. Ansonsten befände man sich in der Despotie, wo die Untertanen wie Sklaven behandelt werden. Geradezu beschwörend wird für Frankreich festgehalten: „la France est vne pure Monarchie Royale, où le Prince est obligé de se confirmer aux loix de Dieu, et ou son people obéissant aux siennes demeure dans la liberté naturelle et dans la propriété de ses biens; au lieu que la Despotique gouuerne des subiets comme vn père de famille ses esclaues." 54 Die Fallhöhe ist schon bemerkenswert, wie auf den wenigen Seiten von „L'image du souuerain" der König von einer anfänglichen quasi ChristusEbenbildlichkeit bis hin zu diesem wahren Höllensturz getrieben wird. Im Gegenzug ist die Begründung für die Duldsamkeit der Untertanen nicht minder eindrucksvoll: „L'obe'issance est plus agreable à Dieu, que tous les Sacrifices du Monde. Enfin c'est vne vertu qui nous doit consacrer à sa diuine Majesté & à ses viuantes Image, de tout nostre cœur & de toute nostre ame" - so endet der Traktat.55 Gehorsam gegenüber dem König wird zu einem Glaubensakt, zu einem Beweis der fides gegenüber Gott. Damit vollzieht sich innerhalb des Textes die Akzentverschiebung vom König hin zum Untertan nicht nur auf der Ebene der angesprochenen Personen. Letztlich ist es am Ende der Untertan, der durch seine Treue gegenüber Gott sich in der imitatio Christi übt. Zwar bleiben die Könige herausgehoben und, da von der Providenz Gottes getragen, absolut unangreifbar, doch sind es die Untertanen, die ihre wahre Christlichkeit darin zeigen, daß sie ihrem König, und sollte er sich noch so satanisch gerieren, gehorchen. Die vor dem Hintergrund der Hinrichtung des englischen Königs konzipierte Abhandlung über Rechte und Pflichten des Herrschers und seiner Untertanen entpuppt sich somit als eine doppelte Kritik an den Londoner Ereignissen, die sich nicht nur gegen das aktive Vorgehen gegen den Monarchen wendet. Hatte sich Karl I. schon auf dem berühmten Frontispiz von „Eikon basilike" als der leidende Gerechte präsentiert, der im Diesseits sein Kreuz als König eines gegen alle göttliche Ordnung rebellierenden, vom Teufel heimgesuchten Volkes auf sich nimmt, um seinem Gott getreu zu bleiben, und sei es bis zum Tod auf dem Schafott, ist es hier mehr der Untertan, der mit Blick auf den himmlischen Lohn das Kreuz des selbst gott54
Célestirt Moreau, Choix de Mazarinades. 2 Vols. Paris 1853, Ndr. New York/London 1965, Vol. 1, 387f.; vgl. Stankiewicz, Politics and Religion (wie Anm. 27), 152-161; Bodin, Les six Livre de la République (wie Anm. 45), Buch II/2, 273: „La Monarchique Seigneuriale est celle où le Prince est faict seigneur des biens & des personnes par le droit des armes, & de bonne guerre, gouuernant ses subiects comme le pere de famille ses esclaues. La Monarchie lyrannique est où le Monarque mesprisant les loix de nature, abuse des personnes libres comme d'esclaues & des biens des subiects comme des siens." 55 P.B.E., L'image du souuerain (wie Anm. 7), 24.
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losesten Tyrannen in der Nachfolge Christi erduldet und somit zur eigentlichen imago Christi avanciert.
III. ,Une grande leçon pour les Roys' Die biblische Argumentation des Traktates ist schon frappant in ihrer Konventionalität. Das zeigt sich nicht nur daran, daß der Autor mit den üblichen Bibelstellen agiert, sieht man von einer gewissen Vorliebe für deuterokanonische Verse des Alten Testaments einmal ab. Die Verselbständigung zu einer wahren political language wird vor allem an den Stellen deutlich, wo in diesem politischen Diskurs ein expliziter Rekurs auf Bibelstellen wegfällt. Etwa die „divinitez mortelles" des Titels scheinen so selbsterklärend, daß die entsprechenden Stellen Psalm 82,6-7 oder Exodus 22,8 nicht mehr herangezogen werden. Überhaupt haben hier theologische und politische Rede ein fast untrennbares Amalgam gebildet. Die Bibel wird nicht mehr zitiert, d. h. die biblische Sprache wird nicht etwa durch Kursivierung kenntlich gemacht; die Bibel bildet vielmehr den Wortschatz für das politische Sprechen. Die zahlreichen Verweise in der Marge geben lediglich grobe biblische Bezugspunkte an die Hand, zumal hier, wie so häufig bei Texten dieser Zeit, nur Kapitel-, nicht aber Versangaben gemacht werden. Nun sagt der Gebrauch von bestimmten Bibelstellen wenig über ihren argumentativen Nutzen aus, liegt doch die Kunst der Polemik im 17. Jahrhundert nicht zuletzt darin, gerade mit der Argumentation des Gegners dessen Position auszuhöhlen. Um so heikler ist die Einordnung auch dieses Traktates. Man mag vermuten, daß hier jemand aus dem hugenottischen Lager versucht, die Loyalität gegenüber dem König nochmalig unter Beweis zu stellen, wie es etwa auch Saumaise oder Amyraut taten. Wahrscheinlicher ist jedoch, daß hier jemand die reformierte Argumentation, die sola scriptum den König gegen die „Libertins" zu verteidigen sucht, in all ihrer Brüchigkeit aufzeigt, indem diese bis in ihre Schwächen hinein mitvollzogen wird, um sie aus sich heraus bloßzustellen. Treibt man die Immunisierung des Herrschers gegen jegliche Anmutung von Widerstand derart weit, so gelingt dies nur zu dem Preis, auch den größten Tyrannen als imago Dei hinzustellen. Damit vollzieht sich aber eine Akzentverschiebung von einer Gottesebenbildlichkeit des Herrschers hin zu einem Zerrbild Gottes mit geradezu teuflischen Zügen. Wie auch immer man sich in der Frage der Verortung des Traktates entscheiden wird, macht der Text - ob freiwillig oder nicht - die Grenzen einer ausschließlich biblischen Begründung politischer Macht sichtbar. Zwar darf die religiöse Überhöhung des Monarchen zu den exzellentesten Argumentationshilfen zählen, die der politische Diskurs im frühneuzeitlichen Frankreich zur Verfügung stellte, doch wird die Zweischneidigkeit einer solchen Argu-
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mentation überdeutlich. Das liegt nicht so sehr daran, daß hier für die Verteidigung der temporalen Monarchie überwiegend Anleihen an das Alte Testament gemacht werden, so sehr auch der Römerbrief und weitere Stellen des Neuen Testaments eine Obrigkeitsliebe vorschreiben.56 Gravierender ist der Umstand, daß das Christentum eine Religion ist, die das Heil nicht im Diesseits, sondern vielmehr im Jenseits vorstellt. Als solche ist sie nur bedingt geeignet, Schützenhilfe im politischen Diskurs zu bieten. Es sei denn, man präferiert ein Verschmelzen von Diesseits und Jenseits in einem baldigen Neuen Himmel auf Erden. Derartige eschatologische Szenarien bedienen sich ebenfalls einer biblischen Argumentation im Rekurs auf die Prophezeiungen der Offenbarung und des Danielbuches, wie es die Münsterischen Täufer des 16. Jahrhunderts oder aber die britischen Theologen des Interregnums taten.57 Die Lösung der französischen Theologen des 17. Jahrhunderts - ganz gleich welcher Konfession - war das allerdings nicht.58
56 Insgesamt gibt es mehr als doppelt so viele Schriftverweise auf das Alte als auf das Neue Testament. 57 Vgl. dazu den Beitrag von Ronald G. Asch in diesem Band. 58 Vgl. die harsche Kritik etwa auch von hugenottischer Seite von Moïse Amyraut, Du règne de mille ans ou de la prospérité de l'Eglise. Saumur 1654. Selbst der meist millenaristisch gedeutete Traktat eines Lapeyrère enthält keinerlei endzeitliche Anwandlung; vgl. lsaac de Lapeyrère, Du rappel des Juifs, s.l. 1643.
Bossuet, die Bibel und der,Absolutismus' Von
Lothar Schilling Es bedarf keines besonderen Gespürs für aktuelle Tendenzen der Geschichtswissenschaft, um zu vermuten, daß das Thema „Bossuet, die Bibel und der .Absolutismus'" derzeit bei vielen Historikern kaum auf spontanes Interesse stoßen dürfte. Dies liegt zunächst an Jacques Bénigne Bossuet. In Frankreich ist der Hofprediger, Prinzenerzieher und Bischof aus dem Umkreis Ludwigs XIV. dem gebildeten Publikum in der Regel noch heute ein Begriff 1 - und sei es nur deshalb, weil seine Totenreden und Predigten ob ihrer stilistischen Eleganz als „modèles de la langue et du style classique"2 im gymnasialen Unterricht noch immer häufig gelesen werden. Was die Inhalte seiner religiösen, historiographischen und politischen Schriften angeht, war das Urteil in Frankreich lange gespalten. Für die Vertreter des laizistischen und liberalen Frankreich stellte der Bischof von Meaux stets eine bête noire dar - Lamartine etwa bescheinigte ihm „langue d'or [et] âme adulatrice, rassemblant en lui [...], le despotisme d'un théocrate et les complaisances d'un courtisan".3 Für viele katholische Historiker des 19. und 20. Jahrhunderts hingegen war Bossuet eine der großen Identifikationsfiguren. Obschon einzelne Aspekte von Leben und Werk wie sein Gallikanismus4 und seine Auseinandersetzung mit Fénélon5 in diesen Kreisen kontrovers diskutiert wurden, dominierte doch die Bewunderung für seine religiöse Prinzipienfestigkeit, seine breite Bildung, seine rhetorische Begabung und seine Vorstellungen der sozialen Ordnung, von denen es noch 1964 in einer Anthologie hieß: „Les leçons qu'il distribua au dauphin et
1 Dies ist nicht zuletzt daran ablesbar, daß Bossuet auch in jüngerer Zeit noch regelmäßig Gegenstand routiniert geschriebener Biographien ist; vgl. Jean Meyer, Bossuet. Paris 1993; Georges Minois, Bossuet. Entre Dieu et le Soleil. Paris 2003. Selbst eine bande dessinée über Bossuets Leben und Wirken ist jüngst erschienen: Daniel Bardet/Annabel Vergue, Bossuet. L'aigle de Meaux. Paris 2004. 2 So Jacques Le Brun auf einer aus Anlaß des 300. Todestages (12. 04. 2004) gestalteten webpage des französischen Kulturministeriums (http://www.culture.gouv.fr/culture/actualites/celebrations2004/bossuet.htm, 9. 9. 2005). 3 Zitiert nach Jacques Truchet, Politique de Bossuet. Paris 1966, 9. 4 Vgl. etwa Aimé-Georges Martimont, Le Gallicanisme de Bossuet. Paris 1953. 5 Kritisch zu Bossuet insbesondere Raymond Schmittlein, L'aspect politique du différend Bossuet-Fénelon. Mainz 1954; vgl. zu Schmittlein jüngst Corine Defrance, Raymond Schmittlein (1904-1974): Ein Kulturmittler zwischen Deutschland und Frankreich, in: François Beilecke/Katja Mametschke (Hrsg.), Der Intellektuelle und der Mandarin. Für Hans Manfred Bock. Kassel 2005, 481-502.
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à son temps restent valables, ô combien!"6 Inzwischen ist diese rückwärtsgewandte Begeisterung abgeebbt; die Auseinandersetzung mit Bossuets Werk erfolgt heute vorrangig - dies hat jüngst der tricentenaire seines Todes gezeigt7 - im Geiste der Traditionspflege. In Deutschland ist dieser Zugang verstellt. Entsprechend begrenzt ist das Interesse an Bossuet - auch an seinen politischen Schriften, die traditionell als ,,definitive[r] Ausdruck"8 des französischen Absolutismus gelten. In dieser Perspektive werden sie auch in jüngeren Überblicksdarstellungen erwähnt9, eine eingehende Auseinandersetzung mit diesen Texten erfolgt indes nicht. Dies mag auch damit zusammenhängen, daß das Konzept des Absolutismus inzwischen in der deutschen Geschichtswissenschaft mehr als umstritten ist. Tatsächlich ist in der Debatte der letzten Jahre deutlich geworden, daß die Vorstellung des Absolutismus als einer auf unumschränkte monarchische Herrschaft angelegten Staats- oder Herrschaftsform, die tiefgreifend auf die entsprechend regierten Gesellschaften eingewirkt und der gesamten Epoche ihr Gepräge gegeben habe, der Herrschaftspraxis selbst in starken Monarchien wie dem Frankreich Ludwigs XIV. nur unzureichend gerecht wird. 10 Was Historiker traditionell als Absolutismus zu erfassen suchen, ist vielmehr wegen des Konstruktcharakters der von ihnen benutzten Quellen - dies gilt fraglos auch für die politischen Schriften Bossuets - in starkem Maße Postulat, Ideal, ja Mythos. Die von der traditionellen Absolutismusforschung bevorzugt herangezogenen Quellen dienten großenteils nicht der (im Sinne heutiger Historiker),getreuen' Abbildung der Herrschaftspraxis, sondern der sozialen Konstruktion einer vom Fürsten und auf ihn hin geordneten Wirklichkeit. Deshalb möchte ich vorschlagen, Absolutismus als gegenüber der Herrschaftspraxis bis zu einem erheblichen Grade autonome, aber gleichwohl auf sie bezogene Konstruktion zu verstehen, ohne die Differenzen zwischen beiden teleologisch aufzulösen. Die .absolutistischen' Hervorbringungen waren 6
Hubert Mœuvres, Introduction, in: Maximes et réflexions de Bossuet sur la politique. Paris 1964, 13. 7 Vgl. etwa den Katalog der aus Anlaß des 300. Todestags veranstalteten Ausstellung: Bossuet - miroir du Grand Siècle. Exposition du 3 avril au 1er août 2004, Musée Bossuet de Meaux. Ed. par Agnès Cuchet. Paris 2004. 8 So Erich Haase, Einführung in die Literatur des Refuge. Der Beitrag der französischen Protestanten zur Entwicklung analytischer Denkformen am Ende des 17. Jahrhunderts. Berlin 1959, 304; ähnlich Marcel Prélot, Histoire des idées politiques. 2. Aufl. Paris 1961, 308: Bossuets Werk als Widerspiegelung des „point culminant de l'absolutisme". 9 Vgl. etwa Heinz Duchhardt, Europa am Vorabend der Moderne 1650-1800. (Handbuch der Geschichte Europas, Bd. 6.) Stuttgart 2003,180 u. 191 ; Martin Wrede, Art. „Absolutismus", in: Enzyklopädie der Neuzeit. Bd. 1. Stuttgart/Weimar 2005, Sp. 24-34, hier Sp. 27. 10 Vgl. zur Diskussion um das Absolutismuskonzept nun Lothar Schilling (Hrsg.), Der Absolutismus - ein unersetzliches Forschungskonzept. L'absolutisme - un concept irremplaçable. München 2007, im Druck.
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nicht Pläne, die wegen retardierender Einflüsse nur teilweise umgesetzt wurden, sondern Konstituenten des politischen Raumes, die zur Herrschaftspraxis in einem (von Fall zu Fall unterschiedlichen) Spannungsverhältnis standen; sie legitimierten und/oder überflöhten; sie dienten aber auch dazu, Schwächen der monarchischen Herrschaft zu bemänteln. Sie sind freilich auch dann nicht falsch, unwahr oder für den Historiker unbrauchbar. Vielmehr erscheint es kaum möglich, die Herrschaftspraxis ohne die auf sie bezogenen symbolischen Repräsentationen zu verstehen. Ausgehend von diesem Ansatz sollen im folgenden die politischen Schriften Bossuets nicht als definitiver Ausdruck des Absolutismus, sondern als ein spezifischer Versuch der Überhöhung des monarchischen Regiments analysiert werden. Dabei wird es vor allem um die Frage gehen, wie Bossuet auf die Bibel Bezug nahm, in welchem Verhältnis der Bibelbezug zu anderen Referenzen und Argumentationstraditionen stand und welche spezifische Funktion ihm bei der Begründung und Überhöhung der monarchischen Herrschaft zukam. Bossuets Aussagen sollen dabei auch dort als nicht selbstverständlich und damit deutungsbedürftig behandelt werden, wo sie von der älteren Forschung bislang als typisch absolutistisch plausibilisiert wurden. Zunächst wird Bossuets Argumentation knapp skizziert, um sodann nach der Rolle der Bibel für diese Argumentation und schließlich nach Bossuets Stellung im französischen Monarchiediskurs zu fragen.
I. Die „Politique tirée des propres paroles de l'Écriture Sainte" als zentrales politisches Werk Bossuets - Aufbau, zentrale Thesen und Charakteristika der Argumentation Obwohl sich Bossuet auch in Totenreden, Predigten, historischen Schriften, kontroverstheologischen Traktaten und anderen Texten zu den Grundlagen der politischen Ordnung geäußert hat, bildet die 1709 fünf Jahre nach seinem Tod veröffentlichte „Politique tirée des propres paroles de l'Écriture Sainte"11 fraglos seinen wichtigsten Text zur Politik; sie soll deshalb im folgenden im Mittelpunkt stehen. Die als Summe konzipierte „Politique", deren auf den Autor zurückgehender Titel den Anspruch, aus der Bibel geschöpft zu sein, unmißverständlich deutlich macht, ist allerdings weniger geschlossen, als es den Anschein hat. Dies mag auch mit der Entstehungsgeschichte der „Politique" zusammenhän-
11 Zur Entstehungsgeschichte vgl. Jacques-Bénigne Bossuet, Politique tirée des propres paroles de l'Ecriture sainte. Edition critique avec introduction et notes par Jacques Le Brun. Genf 1967, VII-XXXI.
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gen. Die ersten sechs der zehn Bücher, in denen Bossuet von den Grundlagen der menschlichen Gesellschaft (I), der monarchischen Autorität, ihren Eigenschaften und Spielarten (II bis V) und schließlich knapp von den Pflichten der Untertanen (VI) handelt, sind um 1680 als unmittelbarer Niederschlag von Bossuets Tätigkeit als Erzieher des Grand Dauphin entstanden. Dieses Textfragment hat der Autor etwa zwanzig Jahre später aufgegriffen, überarbeitet und um vier Bücher ergänzt, womöglich unter dem Eindruck des von Fénélon veröffentlichten und dem ältesten Sohn des Grand Dauphin gewidmeten ,,Télémaque" (1699). Diese vier Bücher, die mehr als die Hälfte der „Politique" ausmachen, behandeln ausschließlich die mit dem Amt des Königs verknüpften Pflichten (VII und VIII) sowie dessen Machtgrundlagen. Bossuet hat bis zu seinem Tod 1704 an diesem Text gearbeitet, ohne ihn abzuschließen. Ungeachtet ihrer Unfertigkeit bietet die „Politique" einen relativ klaren Argumentationsgang.12 Bossuet geht von der natürlichen Soziabilität des Menschen aus. Er leitet sie her aus der Gotteskindschaft des Menschen, die diesen zur Nächstenliebe befähige und verpflichte. Auf dieser Grundlage sei eine ursprüngliche société humaine entstanden, die freilich rasch durch Leidenschaften und Sünde zerstört worden sei. Weiter zur Auflösung der Urgesellschaft habe wenig später die Spaltung der Menschheit in verschiedene Nationen beigetragen, die Bossuet freilich nicht aus Leidenschaften und Sünde, sondern aus der „multiplication du genre humain" erklärt.13 Die einzige Chance, die zerrissene Menschheit zu ordnen, bildete Bossuet zufolge die Einrichtung von Regierungen und Gesetzen, durch die sociétés civiles und Staaten konstituiert wurden, die Ruhe und Sicherheit garantierten. Jeder einzelne ist demnach verpflichtet, seine jeweilige patrie zu lieben und zu unterstützen - andernfalls wird er zum Feind des Menschengeschlechts.14 Die Regierungsgewalt leitet Bossuet von Gott her. Seine Weltherrschaft bilde Voraussetzung und Grundlage jeglichen weltlichen Regiments15, dessen Urmodell Bossuet im väterlichen Regiment über die Familie erblickt16. Aus dem Regiment einzelner Familienväter hat sich ihm zufolge - sei es auf Initiative des Volkes oder durch Eroberung - monarchische Herrschaft entwickelt17, die er als verbreitetste, älteste und natürlichste Regierungsform darstellt18. Anderen Regierungsformen spricht Bossuet die Legitimität nicht 12 Einen Überblick der Argumentation bietet René de La Broise, Bossuet et la bible. Étude d'après les documents originaux. Paris 1890, Ndr. Genf 1971, 216-234. 13 Livre Premier, Article II, 2 e Proposition; Bossuet, Politique (wie Anm. 11), 13 (I/II/2, 13 - im folgenden wird nach dieser Kurzform zitiert). 14 I, Conclusion, 43: „Quiconque donc n'aime pas la société civile dont il fait partie, c'està-dire l'Etat où il est né, est ennemi de lui-même et de tout le genre humain." •5 II/I/1-2,44-46. 16 II/I/3, 46-48. " 11/1/4-5,48-51. 18 II/I/7, 52 f.
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ab 19 - dies wäre angesichts der Präsenz antiker politischer Texte im politischen Diskurs der Zeit auch schwierig gewesen - , doch läßt er keinen Zweifel daran, daß die Monarchie, und zumal die im Wege des männlichen Erstgeburtsrechts übertragene Erbmonarchie, die beste Regierungsform darstellt.20 Nur mit ihr - und zumal mit ihrer französischen Ausprägung - setzt die „Politique" sich näher auseinander. Welches Bild entwirft Bossuet von der Monarchie? Einen Eindruck gibt er zu Beginn des dritten Buches, in dem er sich dieser Regierungsform zuwendet. Hier nennt er vier Hauptcharakteristika der monarchischen Gewalt: „Premièrement l'autorité royale est sacrée; Secondement elle est paternelle; Troisièmement elle est absolue; Quatrièmement elle est soumise à la raison."21 Die vier Aussagen stehen offensichtlich in einem Spannungsverhältnis zueinander. Einerseits wird die königliche Autorität in weltlicher wie in geistlicher Hinsicht extrem überhöht. Die Könige sind von Gott eingesetzt, sie sind seine „ministres", durch die er selbst regiert, sie sind Abbilder Gottes 22 , weshalb ihr Amt ebenso geheiligt ist wie ihre Person23; sie sind sogar - so ein Bild, auf das noch einzugehen sein wird - sterbliche Götter24 kurz: „l'autorité royale est sacrée". Die Monarchen stehen über allen Menschen, sind niemandem gegenüber Rechenschaft schuldig25, ihre Entscheidungen und Urteile sind inappellabel, und keine geistliche oder weltliche Gewalt kann gegen sie vorgehen26. Obwohl Bossuet bei der Einrichtung der Monarchien ein „consentement des peuples" nicht ausschließt27, leitet er daraus keinerlei vertragsrechtliche Bindung der Monarchen ab 28 ; jedermann hat ihnen bedingungslos zu gehorchen29 - selbst bei Verstößen des Monarchen gegen das göttliche Recht ist für Bossuet - anders als etwa für Bellarmin, dessen Schriften in Frankreich nach 1610 von den meisten royalistischen Autoren scharf verurteilt und vom parlement de Paris verboten wur-
19 II/I/6, 51 f.; vgl. auch II/I/12, 59f., wo Bossuet ausdrücklich die Verpflichtung betont, die jeweils bestehende Regierungsform zu wahren. Mit der Einführung von Republiken bei den Griechen setzt sich Bossuet im „Discours sur l'histoire universelle" auseinander (3 e partie, chap. 5); Druck u. a. in: [Jacques Benigne] Bossuet, Œuvres. Textes établis et annotés par l'Abbé Velat et Yvonne Champailler. (Bibliothèque de la Pléiade.) Paris 1961, 982 f. 20 II/I/8-11, 54-59. 21 III/I/l, 64. 22 V/IV/1, 178 f. 23 III/II/1-2, 64-67. 24 Siehe unten Anm. 84-86. 25 IV/I/1, 92 f. 26 IV/I/2-3, 93-96. 27 II/I/4,48-50. 28 Vgl. Truchet, Politique de Bossuet (wie Anm. 3), 34f.; Bossuet, Politique (wie Anm. 11), 49 Anm. 26, und 268. 29 III/II/3, 67-69.
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den 30 - lediglich passiver Widerstand nach Art der christlichen Märtyrer legitim.31 Kurz: „l'autorité royale est absolue". Auf der anderen Seite betont Bossuet mit ebenso großem Nachdruck die moralische Gebundenheit des monarchischen Regiments. Die königliche Gewalt ist für ihn nicht nur aus der väterlichen Gewalt hervorgegangen, sondern bleibt ihrer Natur nach „paternelle" - ihr hervorstechendstes Merkmal ist demnach die Güte. 32 So ist der Fürst verpflichtet, die Bedürfnisse und das Wohl seiner Untertanen zum obersten Leitprinzip seiner Regierung zu machen 33 , selbst wenn das Volk sich undankbar zeigt.34 Bossuet zufolge wird ein Monarch, der ohne böse Absicht nichts zum Wohl des Volkes beiträgt, von der göttlichen Vorsehung ebenso bestraft wie ein bösartiger Tyrann.35 Gebunden ist die „autorité royale" aber auch durch die Unterwerfung des Monarchen unter die raison. Daraus ergibt sich unter anderem die Verpflichtung, die Rechtsordnung und deren Grundlagen („la loi") zu kennen36, die zur Entscheidung anstehenden Sachverhalte („affaires") genau zu ergründen37, sich über die Lage inner- und außerhalb seines Königreichs auf dem laufenden zu halten38, die jeweilige politische Konjunktur („les occasions & les temps") genau zu erfassen 39 sowie über Menschenkenntnis und eine genaue Kenntnis seiner selbst zu verfügen 40 . Der Fürst muß sich der Sprache und der Rede zu bedienen wissen („savoir parler")41, aufmerksam sein42, zuhören43, Rat annehmen44 usw. Die Liste dieser die Klugheitsregeln von Fürstenspiegeln und Regimentstraktaten aufgreifenden Empfehlungen für ein am Gemeinwohl orientiertes Regiment ließe sich noch lange fortsetzen. Mit der Unterwerfung unter die raison eng verknüpft ist die Verpflichtung auf die justice, der Bossuet das gesamte achte Buch der „Politique" widmet. 30
Vgl. etwa die gegen Bellarmin gerichteten Traktate in dem 1612 erschienenen recueil: La maintenance des rois, et autres Puissances Séculières sur les Ecclésiastiques. Ou Traités divers contenans un narré des déportmens des Jésuites, leurs dogmes contre les Princes, et réprobation d'iceux tant par la Parlement de Paris, et faculté en Théologie de la Sorbonne, que par autres excellens personnages. Coligny 1612. 31 VI/II/1—6, 192-204. Bereits 1668 hatte Bossuet Thomas Becket als Vorbild eines solchen passiven Widerstands verherrlicht: „Panégyrique de saint Thomas Cantorbéry"; Druck in: Bossuet, Œuvres (wie Anm. 19), 579-597. 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44
ni/III/1-15, 71-91.
III/III/3, 74 f. III/III/7, 79 f. III/III/6, 78 f. V/I/9,127 f. V/I/10, 128 f. V/I/14, 136-138. V / M l , 129-131. V/M2-13,131-136. V/I/15,138 f. V/II/2,145-149. V/II/5,154 f. V/II/3, 149-151.
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Die justice ist nicht nur die zentrale Herrschertugend, die den „vray caractère d'un roy" ausmacht 45 , sondern auch die wichtigste, weite Bereiche der inneren Politik einschließlich der Gesetzgebung 46 einbegreifende Aufgabe des Monarchen, derer er sich nicht entledigen kann, da die Aufrechterhaltung einer gerechten inneren Ordnung eine Bringschuld gegenüber den Untertanen ist: „le prince doit la justice". 47 Mit der Verpflichtung auf die Gerechtigkeit und die weitgehend damit identifizierte überkommene Ordnung hängt zusammen, daß Bossuet der Auffassung entgegentritt, der absolute Fürst stehe über den Gesetzen; zwar könne niemand ihn zu deren Einhaltung zwingen, doch unterliege er ihnen wie alle anderen Menschen, denn er müsse gerecht und dem Volk ein Vorbild sein. 48 Der extremen Überhöhung und Verabsolutierung der monarchischen Gewalt stellt Bossuet also eine Reihe fundamentaler Verpflichtungen und Bindungen gegenüber, die ein vernünftiges, dem Gemeinwohl dienendes und selbstverständlich, auch davon handelt ein ganzes Buch (VII) - gottgefälliges Regiment sicherstellen sollen, wobei letztere in der „Politique", angesichts des Entstehungszusammenhangs und der die Tradition der Fürstenspiegel aufgreifenden Gattung nicht überraschend, weit ausführlicher behandelt werden als erstere. Die gesamte „Politique" durchzieht ein antithetischer Argumentationsduktus. Der Fürst soll bei der Handhabung der justice größte Strenge 49 , aber auch Milde 50 walten lassen. Der französische König erkennt - ganz im Sinne der spätmittelalterlich-legistischen Formeln ,/ex est imperator in regno suo" und „rex superiorem non recognoscit" 51 - niemanden als ihm übergeord-
45
VIII/I/3, 289 f., hier 289. VIII/III/1-6, 297-302. 47 VIII/III/4, 299 f., hier 299. Vgl. zu den mittelalterlichen Wurzeln der Vorstellung des Königs als oberstem Richter Ernest Désiré Glasson, Le Roi, grand justicier, in: Nouvelle revue historique du droit français et étranger, Série 3,26, 1902, 711 - 7 3 7 ; 27, 1903,76-94; femer Ernst H. Kantorowicz, The King's Two Bodies. A Study in Médiéval Political Theology. 6. Aufl. Princeton 1981 [1957], 97-143; Claude Gauvard, L'image du roi justicier en France à la fin du Moyen âge d'après les lettres de rémission, in: La Faute, la répression et le pardon. Actes du 107e Congrès national des sociétés savantes, Brest, 1982, Section de philologie et d'histoire jusqu'à 1610. Vol. 1. Paris 1984, 165-192; zum Fortleben der Vorstellung im 16. und 17. Jahrhundert Emmanuel Le Roy Ladurie, Réflexions sur l'essence et le fonctionnement de la monarchie classique (XVI e -XVIII e siècles), in: Henry Méchoulan (Ed.), L'État baroque. Regards sur la pensée politique de la France du premier XVII e siècle. Paris 1985, VII-XXXV, hier Xf.; Lothar Schilling, Normsetzung in der Krise. Zum Gesetzgebungsverständnis im Frankreich der Religionskriege. Frankfurt am Main 2005,43-52. 48 IV/I/4, 96 f.; vgl. dazu unten bei Anm. 121. 49 VIII/IV/2-3, 303-305. 50 VIII/IV/5-8, 307-309. 51 Vgl. zum spätmittelalterlichen Gebrauch dieser Formeln etwa Robert Feenstra, Jean de Blanot et la formule ,Rex Franciae in regno suo princeps est', in: Études d'histoire canonique dédiées à Gabriel Le Bras. Vol. 2. Paris 1965, 17—45. 46
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nete Instanz an 52 , soll sich aber dem Heiligen Stuhl verbunden zeigen53. Der Monarch ist verpflichtet, seiner Stellung gemäß Pracht zu entfalten, obwohl Prachtentfaltung Bossuet zufolge meist ins Verderben führt. 54 Die Untertanen sind auch gegenüber Tyrannen zu unbedingtem Gehorsam verpflichtet55, doch ist deren Sturz durch Revolten gottgewollt56. Jacques Truchet hat die Tendenz zur „affirmation des contraires" als Ausdruck einer spezifisch theologischen Argumentationslogik zu erklären versucht.57 Als Theologe sehe Bossuet sich geoffenbarten Wahrheiten gegenüber, die der menschliche Verstand nur schwer miteinander vereinbaren könne, die aber dennoch nicht in Frage gestellt werden dürften. Seine Aufgabe sehe er nicht darin, den offenbaren Widerspruch völlig aufzuklären, sondern das Mysterium der doppelten Wahrheit zu evozieren. Truchet weist in diesem Zusammenhang auf eine Schrift Bossuets hin, in der dieser das klassische Problem der Vereinbarkeit des freien menschlichen Willens mit der Vorsehung und Allmacht Gottes mit dem Bild einer Kette zu erhellen sucht, deren beide Enden man unbeirrt festhalten müsse, auch wenn man das sie verbindende Mittelstück der Kette nicht erkennen könne.58 Tatsächlich kennzeichnet Bossuets „Politique" ein weitgehendes Desinteresse an der praktischen Vermittlung zwischen den postulierten antithetischen .Wahrheiten'. Institutionen, Regeln und Verfahren, die festlegen, wie Prinzipien gegeneinander abgewogen bzw. miteinander vereinbart und wie vor allem im Falle ihrer Kollision tragfähige Entscheidungen zustande gebracht werden können, sucht man in der „Politique" vergebens. Es ist fast ausschließlich den göttergleichen Monarchen anheimgestellt, die Vereinbarkeit der skizzierten Prinzipien sicherzustellen bzw. zwischen ihnen abzuwägen. Truchets Analyse arbeitet demnach ein wichtiges Charakteristikum der „Politique" prägnant heraus. Freilich ist (im dritten Teil) näher zu untersuchen, ob die Gegenüberstellung gegenläufiger Prinzipien ein Spezifikum der politischen Schriften des Theologen Bossuet ist oder nicht vielmehr weite Teile des französischen Monarchiediskurses seit dem Spätmittelalter kennzeichnet. 52
IV/I/3. VIL/Vl/14, 283-286 („Les rois de France ont une obligation particulière à aimer l'Eglise, et à s'attacher au Saint-Siège"). 54 Vgl. V/IV/2, 180-184; zur widersprüchlichen Behandlung des Themas etwa die Notiz des Herausgebers in Bossuet, Politique tirée (wie Anm. 11), 180 Anm. 10; ferner Thérèse Goyet, Bossuet, Piaton et Aristote. Notes de lecture. Paris 1964, 202-204 u.ö. 55 IV/II/5—6, 198-204. 56 Bossuet verdeutlicht an zahlreichen exempla, daß Gott schlechte Herrscher nicht nur im Jenseits straft, sondern bereits im Diesseits zuschanden werden läßt; ihr Sturz durch Aufstände erscheint hier als Gottes Werk; siehe unten Anm. 95; ferner Truchet, Politique de Bossuet (wie Anm. 3), 12f. 57 Truchet, Politique de Bossuet (wie Anm. 3), 13 f. 58 „Traité du libre arbitre"; er liegt nun in einer Neuedition vor: [Jacques Bénigne] Bossuet, Traité du libre arbitre. Texte présenté et annoté par Aurélien Hupé. Houilles 2006. 53
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II. Die Bibelnutzung in Bossuets „Politique" Zuvor soll skizziert werden, in welcher Weise die „Politique" den im Titel erhobenen Anspruch einlöst, aus der Bibel geschöpft zu sein. Betrachtet man den Text der „Politique", ist sofort sinnfällig, welch ungeheure quantitative Bedeutung darin Bezugnahmen auf die Bibel zukommt. Kaum eine Aussage wird nicht durch eine - jeweils durch eine Randnotiz ausgewiesene, in der Regel ausführlich zitierte - Bibelstelle belegt. Insgesamt enthält der in der Erstausgabe 614 Druckseiten umfassende Text der „Politique" Referenzen auf ca. 1800 Bibelstellen, auf die - dank Mehrfachnennungen - insgesamt ca. 2400 mal verwiesen wird. Auf andere Texte wird im Vergleich dazu nur selten verwiesen. Gewiß wird relativ häufig Augustinus zitiert 59 , hinzu kommen einige weitere Kirchenväter der Spätantike 60 , Gregor von Tours 61 , Hincmar von Reims 62 und Thomas von Aquin 63 , ferner Homer 64 , Piaton 65 , Aristoteles 66 , Herodot 67 , Thukydides 68 und Cicero 69 , doch sie fallen im Verhältnis zu den Bibelstellen kaum ins Gewicht. So stellt sich unwillkürlich der Eindruck ein, Bossuets „Politique" sei fast ausschließlich aus der Bibel geschöpft. Dabei ist freilich ein massives Übergewicht des Alten Testaments festzustellen. Nur etwa ein Zehntel (237) der Bibelreferenzen bezieht sich auf das Neue Testament, davon wiederum weniger als die Hälfte (103) auf die Evangelien - zum Vergleich: allein das erste Buch Samuel wird 173 mal angeführt. Auf die Hintergründe dieser Gewichtung wird noch einzugehen sein. Welche Funktion kommt nun den zahllosen Bibelreferenzen in einem Handbuch der Politik zu? Bossuet selbst hat diese Frage bereits 1679 in einem Brief an Papst Innozenz XI. erörtert, in dem er den Aufbau seines Unterrichts für den Dauphin skizzierte. In diesem in der Erstausgabe von 1709 abgedruckten Schreiben 70 nennt Bossuet drei Grundlagen seines Unterrichts: die Weltgeschichte, die Bibel und die konkreten Gesetze und das Gewohnheits59
Vgl. I/II/l, 13f.; I/V/l, 32; IV/II/4, 3, 112; X/VI/Conclusion, 450. Vgl. IV/I/3, 95; IV/I/4,97; VII/VI/14, 285; VIII/V/5, 315. 61 Vgl. IV/I/2, 93. 62 Vgl. VII/VI/14, 283. 63 Vgl. IV/I/4. M Vgl. IM/7, 53; III/III/3, 74. 65 Vgl. IV/I/Einleitung, 92. 66 Vgl. II/I/6, 51; III/III/5, 77; vgl. zur Auseinandersetzung mit Piaton und Aristoteles Goyet, Bossuet, Piaton et Aristote (wie Anm. 54). 67 Vgl. II/I/4,49. 68 Vgl. II/II/3, 16. 69 Vgl. II/II/3, 15; VII/I/1, 214; VIII/III/V, 301. 70 Jacques Bénigne Bossuet, Politique tirée des propres paroles de l'écriture sainte, à Monseigneur le Dauphin. Ouvrage posthume [...). Paris 1709, erste arabische Paginierung, 1 20. 60
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recht des Königreichs wie auch anderer Reiche Europas. Anhand der Bibel will Bossuet die Grundlagen der Politik, der Regierungskunst und des Rechts unterrichten. Denn aus ihr gehe nicht nur hervor, wie Könige Gott dienen und ihn besänftigen, den Glauben der Kirche schützen, ihre Rechte verteidigen und ihre Hirten bestellen sollten, sondern auch, wie die Gesellschaft entstanden sei, wie man Menschen leite, Pläne fasse, Kriege führe, Frieden schließe, Gesetze heilige, worauf man Autorität stütze und wie man Gemeinwesen errichte. Kurzum: die Heilige Schrift übertreffe alle anderen der vita civilis gewidmeten Texte an Autorität und Weisheit wie hinsichtlich ihrer Nützlichkeit für das Regierungsgeschäft.71 Bossuet will also aus der Bibel nicht nur die religiösen und moralischen Grundlagen eines guten christlichen Regiments herleiten, sondern versteht die Schrift in umfassendem Sinne als Quelle jeglicher Art politischen Wissens als Textcorpus, das alle juristischen Werke, Politiken und Regimentstraktate zu ersetzen vermag, weil es deren Inhalte reichhaltiger, verständlicher und zutreffender darstellt - und weil es geoffenbarte Wahrheit ist. Damit ist ein zentraler Punkt des Bossuetschen Biblizismus angesprochen. Für Bossuet ist unmittelbar wahr, was in der Bibel steht. Jeder Versuch, zwischen der geoffenbarten religiösen Botschaft der Bibeltexte und den historischen und kulturellen Rahmenbedingen ihrer Entstehung zu unterscheiden, ist Bossuet fremd. Dies ist insofern bemerkenswert, als viele Theologen der Zeit in dieser Frage wesentlich differenzierter argumentierten. So etwa Claude Fleury, der 1681 eine - Bossuet bekannte - Schrift über die ,,Mœurs des Israélites" vorlegte72, und erst recht der Oratorianer Richard Simon, der Begründer der historischkritischen Bibelwissenschaft, dessen bis auf Titel und Zueignung an den König bereits gedruckte „Histoire critique du Vieuz Testament" 1678 vernichtet wurde - und zwar auf Betreiben Bossuets.73 Bossuet vertritt also einen entschiedenen, zugleich aber methodisch kaum reflektierten Literalismus. Dies bedeutet einerseits, daß für ihn die Bibel nicht 71 Ebd. 18f.:,Alterum opus nostrum, instituta politica, civilemque prudentiam, ipsosque juris fontes, ex Sacrae Scripturae decretis & exemplis reserat: neque tantùm, quâ pietate colendus Regibus, ac placandus Deus; quâ sollicitudine ac reverentiâ tutanda Ecclesiae fides, servanda jura, pastores designandi, verum etiam undè ipsa civilitas, quibusque initiis coetus humani coaluerint, quâ arte tractandi animi, ineunda consilia, bella administranda, componenda pax, sanciendae leges, vindicanda autoritas, constituenda respublica. Planumque omninö fit, scripturas divinas aliis omnibus libris qui vitam civilem instituunt, quantum autoritate, tantùm prudentiâ, ac rerum gerendarum ratione praestare." 72 Claude Fleury, Les Mœurs des Israélites. Paris 1681; das Werk wurde noch im 17. Jahrhundert dreimal neu aufgelegt und erfuhr auch im 18. Jahrhundert zahlreiche Neuauflagen; vgl. auch die Einleitung des Herausgebers in Bossuet, Politique (wie Anm. 11), XXVI. 73 Vgl. zu ihm nun Sascha Müller, Kritik und Theologie. Christliche Glaubens- und Schrifthermeneutik nach Richard Simon (1638-1712). St. Ottilien 2004; ders., Richard Simon (1638-1712). Exeget, Theologe, Philosoph und Historiker. Eine Biographie. Würzburg 2005.
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nur eine Quelle religiöser Wahrheit darstellt, sondern ebenso eine Quelle unbestreitbarer Wahrheiten auf dem Gebiet der Wissenschaft, der Geschichte und der Politik. Dies bedeutet auch, daß er die Texte der Bibel, die er im übrigen weitgehend nach der Vulgata benutzt74, nicht auf ihren jeweiligen literarischen Status hin analysiert. Schließlich weist Bossuet der historischen Entwicklung keine große Bedeutung zu. Von wenigen evidenten Fällen abgesehen - wenn er etwa die Polygamie der Patriarchen als von Gott lediglich zeitweilig erlaubte historische Ausnahme darstellt75 - hält er die unmittelbare Übertragung der in der Bibel dargestellten Gegebenheiten auf seine Gegenwart für unproblematisch - ebenso übrigens, wie die Aktualisierung von Beispielen aus der Kirchengeschichte76. Bossuets „Politique" ist somit ein typisches Beispiel jener die europäische Historiographie bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts dominierenden Konzeption der ,Exempel- und Variationsgeschichte', die davon ausging, daß die Grundbedingungen und -probleme menschlichen Zusammenlebens in der Geschichte im wesentlichen konstant blieben.77 Welche Erkenntnisse zieht nun Bossuet aus den „Wahrheiten" der Bibel?78 Auffällig ist zunächst, daß die „Politique" nur an wenigen Stellen längere Darstellungen oder gar Argumentationsketten ein und demselben biblischen Text entlehnt. Am ehesten ist dies noch in jenen Passagen des ersten und zweiten Buches der Fall, in denen Bossuet die Entstehung von Gesellschaften und die Ursprünge von Herrschaft behandelt. So schildert er etwa die Zerstörung der paradiesischen Urgesellschaft durch Sünde und Leidenschaften 79 und die Entstehung des väterlichen Regiments als Urform der Herrschaft 80 74
Vgl. die Einleitung des Herausgebers in Bossuet, Politique (wie Anm. 11), XXVI: „il se contente d'éclairer et éventuellement de corriger la version de saint Jérôme pour les Psaumes, et par la Septante pour les livres de sagesse; ce sont les seules préoccupations exégétiques qui se manifestent dans la .Politique', mais jusqu'à une date assez récente cette faiblesse passa inaperçue: les théoriciens traditionalistes du XIXe et XX e siècles s'en souciaient peu." 75 Vgl. Truchet, Politique de Bossuet (wie Anm. 3), 29. 76 Vgl. die Einleitung des Herausgebers Le Brun in Bossuet, Politique (wie Anm. 11), XVII: „[Pour Bossuet,] les hérésies modernes ont été combattues par Tertullien ou saint Augustin; les libertins du XVIIe siècle ne sont autres que [...] les épicuriens ou les stoïciens; les prophètes que consultaient les rois juifs, sont plus ou moins M. de Meaux auprès du roi, et les peuples qui se révoltent en 1688 ou 1700 ne sont autres que les tribus rebelles d'Israël [...]; les remèdes sont donc semblables à ceux qui furent appliqués jadis et les conseils de l'Écriture sont éternellement valables". 77 Vgl. Johannes Burkhardt, Strukturelemente der neuen historischen Wissenschaften, in: August Nitschke (Hrsg.), Verhaltenswandel in der Industriellen Revolution. Beiträge zur Sozialgeschichte. Stuttgart [u.a.] 1975,73-91; ferner Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft der frühen Neuzeit, zuletzt in: ders., Vergangene Zukunft - Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt am Main 1979,17-37, insbesondere 31 f. 78 Vgl. La Broise, Bossuet et la bible (wie Anm. 12), 234-241. 79 Ml/1, 11-13. 80 II/I/3,46-48.
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fast durchgängig nach dem Buch Genesis. Doch selbst in den ersten beiden Büchern überwiegen Passagen, in denen Bossuet ganz unterschiedliche Schriftstellen relativ frei montiert. Häufiger ist ein zweiter Typ der Bibelnutzung, bei dem Bossuet aus der Bibel ethisch-moralische Gebote, allgemeine politische Regeln oder Lehren über Natur und Bestimmung des Menschen ableitet - er selbst spricht mehrfach von den „préceptes", die der Bibel zu entnehmen seien.81 So beruft er sich auf Mk 12,31 („Du sollst Deinen Nächsten lieben wie Dich selbst") und Mt 22,40 („An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten"), wo er die Nächstenliebe als fundamentale Bestimmung des Menschen einführt. 82 Mehrfach zitiert werden auch Mt 22,21 („So gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist") und Lk 6,31 („Und wie ihr wollt, daß euch die Leute tun, so sollt auch ihr ihnen tun"). Wo es um den Gehorsam gegen Gott und seine Gebote geht, beruft er sich auf Prediger 12,13 („Fürchte Gott und halte seine Gebote! Denn das ist die Pflicht jedes Menschen"), und beim Gehorsam der Untertanen gegen ihren Monarchen wird mehrfach Rom 13 bemüht. Wo Bossuet aus der Bibel politische Regeln ableitet, geht er nicht selten dies ist die Kehrseite seines Literalismus - sehr frei mit dem Bibeltext um. Typisch ist etwa seine Verwendung des 82. Psalms, in dem der Psalmist Gott zu Gericht sitzen läßt über einen Personenkreis, dessen Zusammensetzung unklar bleibt, da abwechselnd von Göttern, Richtern und Fürsten die Rede ist; ihnen wird vorgeworfen, ihrer Aufgabe, die Unterdrückten und Notleidenden zu befreien, nicht gerecht geworden zu sein. In diesem Zusammenhang heißt es: „(5) Sie aber haben weder Einsicht noch Verstand, / sie tappen dahin im Finstern. / Alle Grundfesten der Erde wanken. [Und nun spricht Gott:] (6) ,Wohl habe ich gesagt: Ihr seid Götter, / ihr alle seid Söhne des Höchsten. (7) Doch nun sollt ihr sterben wie Menschen, / sollt stürzen wie jeder der Fürsten.' (8) Erheb dich, Gott, und richte die Erde! / Denn alle Völker werden dein Erbteil sein." Wie diese Stelle auch immer zu deuten sein mag, sei es als Abrechnung mit dem Polytheismus oder mit jenen, die weltliche Macht ausüben - es kann kein Zweifel bestehen, daß der angesprochene Personenkreis verurteilt und dem Verderben anheimgegeben wird. Bossuet hingegen erblickt darin wie manche anderen Zeitgenossen einen Beleg für das droit divin des rois und seine bereits angesprochene These, wonach die Könige sterbliche Götter seien83, über die
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Vgl. Bossuet, Politique (wie Anm. 11), XXVI (Einleitung des Herausgebers). 1/1/2,5 f. 83 III/1I/3, 68 f.: ,Aussi Dieu a-t-il mis dans les princes quelque chose de divin. ,J'ai dit: Vous êtes des dieux, et vous êtes tous enfants du Très-Haut'. C'est Dieu même que David fait parler ainsi". 82
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allein Gott urteilen könne 84 , und daß die göttliche Provenienz ihres Richteramts ihnen eine besondere Verantwortung für die justice auferlege.85 Zudem dient der Psalm ihm zur Mahnung an die Adresse der Monarchen, sich ungeachtet ihres „caractère divin" stets ihrer Vergänglichkeit bewußt zu sein - einer Mahnung, die in die typisch Bossuetsche Aufforderung mündet, das Königsamt zugleich kühn und bescheiden auszuüben.86 Bossuet setzt also den genannten Personenkreis mit den absoluten Fürsten gleich und verlegt den Akzent von der Verfluchung der sterblichen ,Götter' auf ihre Einsetzung durch den Allerhöchsten. Zugleich macht er aus der Feststellung ihres Versagens eine Mahnung für ihr künftiges Verhalten und deutet - damit verknüpft den im Psalm als imminent dargestellten Sturz als Hinweis auf ihre Sterblichkeit. Damit wird aus einer Vision des die falschen Götter bzw. die falsche Ordnung hinwegfegenden Gottesgerichts die Grundlegung einer gottgewollten Ordnung unter der Regierung gottgleicher Monarchen. Ähnlich verfährt Bossuet bei der Interpretation einer Passage des ersten Buchs Samuel, in der geschildert wird, wie Samuel das die Einsetzung eines Königs fordernde Volk Israel vor diesem Schritt warnt - einem Schritt übrigens, den Gott dem Bibeltext zufolge mit dem Abfall von ihm gleichsetzt.87 Samuels eindringliche Warnung, der zufolge der künftige König den Angehörigen des Volkes Söhne und Töchter, Knechte und Mägde, Felder und Weinberge wegnehmen und schließlich alle zu Sklaven machen werde88, wird von Bossuet als Beschreibung der verfassungsrechtlichen Stellung des künftigen Königs interpretiert: „Samuel leur déclare [...] que la puissance de leur prince
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IV/I/2, 91: „II n'y a que Dieu qui puisse juger de leurs jugements, et de leurs personnes. ,Dieu a pris place sa séance dans l'assemblée des dieux, et assis au milieu il juge les dieux'." 85 VIII/I/1, 287 f. Die Buch 8 über die justice eröffnende Passage stellt die ausführlichste Interpretation des 82. Psalms dar. Hier werden auch die beiden vorgenannten Argumente emeut aufgegriffen. 86 V/IV/1,179f.: „Je ne sais pas quoi de divin s'attache au prince, et inspire la crainte aux peuples. Que le roi ne s'oublie pas pour cela lui-même. ,Je l'ai dit, c'est Dieu qui parle; Je l'ai dit: Vous êtes des dieux, et vous êtes tous enfants du Très-Haut; mais vous mourrez comme des hommes, et vous tomberez comme les grands.' Je l'ai dit: Vous êtes des dieux: c'est-à-dire: Vous avez dans votre autorité, vous portez sur votre front un caractère divin. Vous êtes les enfants du Très-Haut: c'est lui qui a établi votre puissance pour le bien du genre humain. Mais, ô dieux de chair et de sang: ô dieux de boue et de poussière, vous mourrez comme des hommes, vous tomberez comme les grands. La grandeur sépare les hommes pour un peu de temps; une chute commune à la fin les égale tous. O rois„exercez donc hardiment votre puissance; car elle est divine et salutaire au genre humain; mais exercez-la avec humilité. Elle vous est appliquée par le dehors. Au fond elle vous laisse faibles; elle vous laisse mortels; elle vous laisse pêcheurs et vous charge devant Dieu d'un plus grand compte." 87 „[...] nicht dich haben sie verworfen, sondern mich haben sie verworfen. Ich soll nicht mehr ihr König sein", 1 Sam 8,7. 88 1 Sam 8, 11-17.
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sera absolue, sans pouvoir être restreinte par aucune autre puissance".89 Zwar betont Bossuet im Anschluß daran, die von Samuel geschilderten königlichen Übergriffe seien gegenüber Gott nicht statthaft, doch unterstreicht er auch, keine menschliche Gewalt sei befugt, Könige an solchen Übergriffen zu hindern. Bossuet bietet also eine dezidiert .absolutistische' Lesart zumal des Alten Testaments - was im übrigen auch die Auseinandersetzung mit gegenläufigen zeitgenössischen Interpretationen einzelner Passagen einschließt.90 Neben diesen beiden Formen begegnet in Bossuets „Politique" ein dritter, quantitativ über weite Strecken vorherrschender Typus der Bezugnahme auf die Bibel: ihre Verwendung als Sammlung von Exempeln, anhand derer - oftmals ihrerseits nicht aus der Bibel hergeleitete - Regeln und Prinzipien, aber auch Falltypen und Charaktere illustriert werden - auch dies übrigens eine Nutzung, zu der Bossuet sich ausdrücklich bekennt. So stellt Bossuet im zehnten Buch im Zusammenhang mit der klassischen Frage der Auswahl der Räte fünf im Alten Testament begegnende Berater und Minister vor, die jeweils einen spezifischen Typus repräsentieren.91 Zumal in den später verfaßten letzten Büchern der „Politique" findet man unzählige alttestamentarische Beispiele, an denen Charakter und Verhalten von Menschen in unterschiedlichen Situationen illustriert werden. Begründet wird das Ausbreiten dieser Beispiele, das den Einfluß der zeitgenössischen Moralistik erkennen läßt92, mit der Notwendigkeit, dem Monarchen gute Menschenkenntnis zu vermitteln einem Argument, das man auch bei zahlreichen Pädagogen der Zeit findet. Neben diese moralistische Nutzung biblischer exempla, mit der Bossuet in seiner Zeit keineswegs allein steht93, tritt deren Nutzung zur Veranschaulichung der politischen Thesen seines Werks. Dabei versucht Bossuet immer wieder zu zeigen, daß Gott die Geschicke der Völker und zumal der Regierenden lenkt, auch wenn die jeweiligen Zeitgenossen dies nicht erkennen können. „Dieu a voulu tout décider, c'est-à-dire donner des décisions à tous les états, à plus forte raison à celui dont dépendent tous les autres"94, heißt es im Widmungsschreiben an den Dauphin. So illustriert er am grausamen Ende König Sauls (der von seiner eigenen Hand stirbt, um nicht in die Hände der siegreichen Philister zu fallen), am Sturz des babylonischen Königs Belsazer 89
IV/I/3, 94 f. Vgl. etwa VI/III/1-2, 204-210; in diesen beiden Abschnitten versucht er in Auseinandersetzung mit Grotius und dem reformierten Theologen Pierre Jurieu (1637-1713) zu zeigen, daß sich auch aus dem Kampf Davids gegen Saul (1 Sam 22,1-2) und den Makkabäerkriegen kein Widerstandsrecht herleiten läßt. In seinen kontroverstheologischen Schriften behandelt Bossuet vielfach analoge Fragen. 91 X/III/1-5,409-421. 92 Vgl. die Einleitung des Herausgebers in Bossuet, Politique (wie Anm. 11), XXX. 93 Vgl. etwa Anort., Caractères tirés de l'Écriture Sainte et appliqués aux mœurs de ce siècle. Paris 1698, erneut 1701, 1709, 1723. 94 Widmung an den Dauphin; Bossuet, Politique (wie Anm. 11), 2. 90
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(der den Tempelschatz profaniert und Jahwe herausfordert, um in Schrecken zu enden) und an den letzten Tagen des syrischen Königs Antiochus (der von Gott für seine Grausamkeit mit einem qualvollen Tod bestraft wird)95, daß Gott ungerechte Könige nicht nur im Jenseits straft, sondern sie gelegentlich vor den Augen der Menschen zu Schanden werden läßt. Das Übergewicht alttestamentarischer Bibelreferenzen hat entscheidend damit zu tun, daß die Bücher des Alten Testaments weit mehr historische und zumal Könige betreffende Stoffe beinhaltet und somit weit eher im Sinne der skizzierten Konzeption für politische „préceptes et exemples" nutzbar ist als das in nur wenigen Jahren entstandene und über weite Strecken ,politikferne' Neue Testament. Andererseits hat die Präponderanz dieser Form der Bibelnutzung zur Folge, daß die „Politique" nicht allzu ,christlich' erscheint - französischerseits hat man treffend von einem „ouvrage peu évangélique de ton" gesprochen96. Bossuet ist dies offenbar bewußt, doch geht er in der „Politique" nur an wenigen Stellen auf die Vereinbarkeit der alttestamentarischen Beispiele mit der christlichen Lehre ein. 97 Tatsächlich geht es ihm weniger um eine christliche Politik als darum, historisch-politische Erfahrung und göttliche Providenz in einer auf die Legitimation eines absoluten Regiments abzielenden Perspektive aufeinander zu beziehen. Dies vor allem anhand der Geschichte des auserwählten Volkes Israel zu tun, liegt für ihn um so näher, als er wie viele Franzosen seiner Zeit unterstellt, auch die französische Monarchie sei in besonderem Maße von Gott auserwählt und stehe unter der „protection particulière de Dieu". 98 Dies freilich ändert nichts daran, daß die grundlegenden Thesen, der Aufbau und die Argumentationsführung der „Politique" alles andere sind als „tirés des propres paroles de l'Écriture Sainte". Während Bossuet in seiner „Histoire universelle" tatsächlich über weite Strecken versucht, ein den biblischen Texten entsprechendes Bild der Geschichte zu entwerfen, kann davon in der „Politique" (abgesehen von einigen Passagen in den der Entstehung der Gesellschaft gewidmeten Anfangskapiteln) nicht die Rede sein - und dies ist angesichts der Vielfalt der in den Bibeltexten widergespiegelten politischen 95
Die Beispiele in X/VI/5-8,439-444. Truchet, Politique de Bossuet (wie Anm. 3), 29. 97 Vgl. etwa IX/VI/10, 375 f., wo er sich mit den „moyens de s'assurer des peuples vaincus" befaßt und in diesem Zusammenhang überaus grausame Maßnahmen anfühlt, die das jüdische Volk gegen besiegte Gegner gebraucht hat (2 Sam 8, 4-5, 13-14; 2 Sam 12, 31; 2 Kön 3, 4-5, 25). Dazu bemerkt er: „On peut rabattre de cette rigueur ce que l'esprit de douceur et de clémence inspire dans la loi nouvelle: de peur qu'il ne nous soit dit, comme à ces disciples qui voulaient tout foudroyer: ,Vous ne songez pas de quel esprit vous êtes.' Un vainqueur chrétien doit épargner le sang; et l'esprit de l'Evangile est là-dessus bien différent de la loi." Bossuet beantwortet allerdings nicht, weshalb er diese Beispiele überhaupt anfuhrt. Das Zitat im Zitat entstammt Lk 9, 55. 98 So in 11/1/11,59. 96
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Rahmenbedingungen wie angesichts der unterschiedlichen politischen Deutbarkeit vieler Bibelstellen auch nicht überraschend. Umso mehr stellt sich die Frage, in welchen Kontext die Grundthesen der „Politique" eingeordnet werden können. Sie soll im dritten Teil im Mittelpunkt stehen.
III. Bossuets „Politique" und der absolutistische' französische Monarchiediskurs Tatsächlich sind Bossuets Bezugnahmen auf die Bibel nicht zu verstehen ohne den französischen Monarchiediskurs seit dem Spätmittelalter, an den die „Politique" in vielfacher Weise anknüpft, auch wenn dies in der Regel nicht eigens in Randnotizen vermerkt ist. Kaum eine zentrale Aussage der „Politique" ist in dieser Perspektive wirklich neu. Die ist freilich insofern nicht überraschend, als nicht nur die Theologen des Mittelalters und der Frühneuzeit, sondern auch die gelehrten Juristen einer dogmatischen Methode folgten, die darauf gründete, überlieferte Texte so zu kommentieren, daß immer neue Kommentare einander überlagerten. Der Erfolg ihrer Texte hing entscheidend von ihrer Fähigkeit ab, eigene Aussagen in ein - oft durch zahllose Zitate ausdrücklich präsent gemachtes - Geflecht früherer Aussagen zu verweben." Nun kann es hier nicht darum gehen, im einzelnen nachzuweisen, wo Bossuet an ältere Argumentationsstränge anknüpft; vielmehr soll an drei Beispielen gezeigt werden, welche Positionen Bossuet übernimmt und wie er sie akzentuiert, um seine spezifische Stellung im - in sich ja keineswegs einheitlichen französischen Monarchiediskurs wenigstens etwas genauer zu umreißen. Beginnen wir mit der Überlegenheit der Monarchie über andere Regierungsformen. Sie zu betonen, hat in Frankreich eine lange, nur während der Religionskriege vorübergehend in Frage gestellte Tradition. Dies gilt auch für Bossuets Behauptung, die Monarchie sei die „natürlichste" Regierungsform. 100 Wie Jacques Krynen gezeigt hat, bildete der Rekurs auf die Natur bereits im Monarchiediskurs der französischen Legisten des Spätmittelalters ein zentrales Argument.101 Während der Religionskriege wurde dieses Argument seitens der Politiques erneut in den Vordergrund gerückt. So argumentierte der als Übersetzer der aristotelischen Politik berühmt gewordene Louis Le 99
Vgl. in diesem Sinne mit Blick auf die zeitgenössischen Debatten um die absolute Gewalt des Monarchen Fanny Cosandey/Robert Descimon, L'absolutisme en France. Histoire et historiographie. Paris 2002, 28. 100 In den dieser Frage gewidmeten Abschnitten begegnen auf sechs Seiten zwanzigmal die Begriffe „nature" und „naturel"; vgl. die Einleitung des Herausgebers in Bossuet, Politique (wie Anm. 11), XXVII. 101 Jacques Krynen, Naturel. Essai sur l'argument de nature dans la pensée politique française à la fin du moyen âge, in: Journal des Savants, avril-juin 1982, 169-190.
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Roy 1575 in einem der excellence du gouvernement royal gewidmeten Traktat, wie zahlreiche Beispiele aus dem Bereich der Gestirne und der Tierwelt zeigten, wolle die Natur, daß auch unter den Menschen eine Person gute Ordnung („police") stifte. 102 Bossuet greift diese auch bei zahlreichen anderen Politiques begegnende und im französischen Monarchiediskurs des 17. Jahrhunderts fortwirkende kosmologisch-neoplatonische Akzentuierung des ,Natur-Arguments' auf. 103 Nicht zufällig finden sich in der „Politique" zahlreiche Passagen, in denen jegliche Kontingenz geleugnet und - ungeachtet der Erkenntnisprobleme des Menschen - die Ordnung der Welt betont wird. 104 Wie viele Theoretiker der Monarchie des 16. und 17. Jahrhunderts gibt Bossuet der platonischen Konzeption der Welt als Einheit, mit der er sich eingehend auseinandergesetzt hat, 105 , eine politische Deutung und rückt die göttliche Providenz in ihr Zentrum. 106 In der natürlichen, gottgewollten Ordnung der Welt erscheinen die Monarchen als natürliche Stifter von Kohärenz innerhalb der von ihnen regierten Gesellschaften; sie sind darin (so Bossuets eine lange Argumentationstradition aufgreifendes Bild) Abbilder Gottes: „Considérez le prince dans son cabinet, de là, partent les ordres qui font aller de concert les magistrats et les capitaines, les citoyens et les soldats, les provinces et les armées par mer et par terre. C'est l'image de Dieu qui, assis dans son trône au plus haut des cieux fait aller toute la nature." 107 Die von Bossuet propagierte Vorstellung von der natürlichen Überlegenheit der Monarchie stellt im französischen juridisch-politischen Diskurs der Zeit einen Gemeinplatz dar, den Bossuet offenbar keiner kritischen Überprüfung unterziehen zu müssen glaubt. So begnügt er sich damit, an biblischen und an-
102
Louis Le Roy, De l'excellence du gouvernement royal: avec exhortation aux François de persévérer en iceluy. Paris 1575, 5r: „Le Soleil luit entre les astres comme Roy, la Lune comme Royne. Les aveilles en leurs ruches obeïssent à un Roy. [...] Ce qu'il fault tenir pour ouvrage trescertain de nature, qui veult par mesme raison, en toute multitude de personnes assemblees à fin d'establir police [...]." 103 v g l Bossuet, Politique (wie Anm. 11), XXIV (Einleitung des Herausgebers). 104 Am deutlichsten wird dies in einem Abschnitt, den Bossuet programmatisch wie folgt überschreibt: „II n'y a point de hasard dans le gouvernement des choses humaines; et la fortune n'est qu'un mot, qui n'a aucun sens" (VII/VI/5, 276f.). 105 Vgl. Goyet, Bossuet, Platon (wie Anm. 54), insbesondere 116 f. 106 Zu Bossuets Konzept der Vorsehung vgl. (etwas unkritisch) Sister Georgina Terstegge, Providence as ,Idée-Maîtresse' in the Works of Bossuet (Theme and Stylistic Motif). Washington 1948. 107 v/IV/1, 178; vgl. zur - ihrerseits auf Augustinus zurückgehenden - Verwendung der /mago-Dei'-Metapher bei Thomas Jaroslav Pelikan, , Imago Dei': An Explication of ,Summa Theologiae', Part I, Question 93, in: Anthony Parel (Ed.), Calgary Aquinas Studies. Toronto 1978, 27-48; zur Bedeutung der Analogie im Rahmen des französischen Königsmythos etwa Marc Bloch, Les rois thaumaturges. Paris 1961, 351-354; zur Verwendung bei Budé, Bodin und französischen Juristen des frühen 17. Jahrhunderts Schilling, Normsetzung (wie Anm. 47), 261 u. ö.
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deren historischen exempla zu illustrieren, was ihm wie den meisten sich politisch artikulierenden Franzosen seiner Zeit evident erscheint. Als zweites Beispiel sei hier die Sakralisierung der Monarchie herangezogen. Im einzelnen den Nachweis führen zu wollen, daß Bossuets Versuche der religiös-providentiellen Überhöhung zumal der französischen Monarchie auf einer langen Tradition aufruhen, würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Wesentliche Elemente dieser Tradition dürften ohnehin bekannt sein: auf der einen Seite die bereits im Hochmittelalter entwickelte Ideologie des roi très chrétien, die Mythifizierung des Königtums als Garant der Einheit und Unteilbarkeit Frankreichs während des Hundertjährigen Kriegs, schließlich die neuerliche Steigerung der auch während der Religionskriege fortwirkenden „sur-sacralisation du roi"108 unter Heinrich IV. und seinen Nachfolgern109; auf der anderen Seite die geringe Autonomie der gallikanischen Kirche gegenüber der Krone, die dazu beitrug, daß sie als das göttliche Recht vermittelnde und sich gegenüber der Krone kritisch darauf berufende Instanz nur eine sehr begrenzte Rolle spielte. Doch nicht nur die allgemeine Tendenz einer Überhöhung der französischen Monarchie war im französischen Monarchiediskurs weit verbreitet und wurde von einzelnen zeitgenössischen Autoren noch weiter getrieben als von Bossuet. 110 Zentrale Argumente, die Bossuet in diesem Zusammenhang anführt, waren denn auch alles andere als neu. Dies gilt etwa für die bereits skizzierte absolutistische Interpretation des 82. Psalms, der zufolge Könige als sterbliche 108
So treffend Denis Crouzet, La foi, la politique, la parole. Une problématique de l'Édit de janvier 1562, in: Serge Berstein/Pierre Milza (Eds.), Axes et méthodes de l'histoire politique. Paris 1998,13^*0, hier 21. 109 Vgl. zu dieser Entwicklung William Church, Constitutional Thought in Sixteenth-Century France. A Study in the Evolution of Ideas. Ndr. New York 1969 [1941], 243-271; Jean-François Courtine, L'héritage scolastique dans la problématique théologico-politique de l'âge classique, in: Méchoulan (Ed.), L'État baroque (wie Anm. 47), 96f.; Hermann Weber, Sakralkönigtum und Herrscherlegitimation unter Heinrich IV., in: Rolf Gundlach/Hermann Weber (Hrsg.), Legitimation und Funktion des Herrschers. Vom ägyptischen Pharao zum neuzeitlichen Diktator. Stuttgart 1992, 233-258; Alain Guéry, Le roi est Dieu. Le roi et Dieu, in: Neithard Bulst/Robert Descimon/Alain Guerreau (Eds.), L'État ou le roi. Les fondations de la modernité monarchique en France (XIV e -XVII e siècles). Paris 1996, 2747, hier 44f.; Marie-France Renoux-Zagamé, Du juge-prêtre au roi-idole. Droit divin et constitution de l'État dans la pensée juridique française à l'aube des temps modernes, in: Jean-Louis Thireau (Ed.), Le droit entre laïcisation et néo-sacralisation. Paris 1997, 143186. Der inflationäre Rekurs auf das Konzept der .Sakralität' des Königtums ist zu Recht kritisiert worden. Wenn hier von Sakralisierung die Rede ist, bezeichnet dies lediglich jene „fiction discursive, qui permet d'exprimer, de penser, d'argumenter", die auch Kritiker des Konzepts wie Alain Boureau, Le simple corps du roi. L'impossible sacralité des souverains français. Paris 1988, 62f., nicht leugnen. Wie weit dieser diskursiven Fiktion ein verbreiteter Glaube entsprach, bleibt offen; skeptisch beurteilt die letztere Frage Jens Ivo Engels, Das „Wesen" der Monarchie. Kritische Anmerkungen zum „Sakralkönigtum" in der Geschichtswissenschaft, in: Majestas 7, 1999, 3-39. 110
Vgl. etwa die Hinweise des Herausgebers in Bossuet, Politique (wie Anm. 11), 68 Anm. 27 u. 177 Anm. 1.
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Götter zu betrachten seien. Diese Deutung hatte bereits 1625 in eine von Richelieu erwirkte Stellungnahme des französischen Klerus Eingang gefunden, in der es heißt: „Eux-mêmes [les rois] sont dieux, chose qu'on ne peut pas dire avoir été inventée par la servile flatterie et complaisance des païens. Mais la vérité même le montre si clairement en l'Écriture sainte que personne ne peut le nier sans blasphème ni en douter sans sacrilège."111 Im Vergleich dazu erscheint Bossuets Interpretation nachgerade vorsichtig - originell ist sie freilich mitnichten. Als drittes Beispiel sei die bereits angesprochene antithetische Grundstruktur der Bossuetschen ,.Politique" in den Blick genommen. Wie bereits angedeutet, ist die Tendenz, der Überhöhung und Verabsolutierung der monarchischen Gewalt eine ganze Reihe fundamentaler Verpflichtungen gegenüberzustellen, nicht spezifisch für Bossuet. Tatsächlich verknüpften bereits spätmittelalterliche Theologen und Juristen wie etwa Jean Gerson 112 und Jean Juvénal des Ursins 113 die Anerkennung der absoluten Gewalt des französischen Königs mit nachdrücklichen Ermahnungen hinsichtlich ihres Gebrauchs und der Mahnung, die ,Gesetze', also die überkommene Rechtsordnung, zu achten. Ganz ähnlich wurde die absolute Gewalt auch bei der Krone nahestehenden Autoren des 16. Jahrhunderts wie Kanzler L'Hospital konzeptualisiert, zu dem Denis Crouzet jüngst treffend bemerkte: „Pour Michel de L'Hospital [...] le pouvoir du prince est absolu dans l'exercice même de sa modération, dans une sorte d'auto-contrôle de soi". 114 Doch auch im 17. Jahrhundert gab es kaum eine die französische Monarchie behandelnde Schrift, die neben der absoluten Stellung des Monarchen nicht auch die fundamentale Bedeutung grundlegender Prinzipien der politischen Ethik wie raison, justice und Beförderung des bien commun für die französische Monarchie betonte. Hinter dieser Gegenüberstellung stand das Bestreben, die französische Monarchie klar von einer Tyrannis abzugrenzen. Das Königreich Frankreich war weder Willkürherrschaft noch monarchie seigneuriale; sie war eine legitime monarchie royale115, und dies schloß die Achtung der skizzierten Prinzipien des guten Regiments durch den König zwingend ein. Hier liegt die Ursa111
Zitiert nach Truchet, Politique de Bossuet (wie Anm. 3), 81. Vgl. etwa Jacques Krynen, „De nostre certaine science ...". Remarques sur l'absolutisme législatif de la monarchie médiévale française, in: André Gouron/Albert Rigaudière (Eds.), Renaissance du pouvoir législatif et Genèse de l'État. Montpellier 1988, 131-144, hier 143; vgl. ferner Bossuet, Politique (wie Anm. 11), 114 Anm. 1. 113 Vgl. jetzt Albert Rigaudière, Jean Juvénal des Ursins précurseur de l'absolutisme, in: Schilling (Hrsg.), Der Absolutismus (wie Anm. 10); ferner Jacques Krynen, Les legistes ,tyrans de la France'? Le témoignage de Jean Juvénal des Ursins, docteur ,in utroque', in: ders./Albert Rigaudière (Eds.), Droits savants et pratiques françaises du pouvoir (XI e -XV e siècles). Bordeaux 1992, 279-299, hier 289-292. 114 Denis Crouzet, Langages de l'absoluité royale (1560-1576), in: Schilling (Hrsg.), Der Absolutismus (wie Anm. 10). 115 Vgl. die Belege bei Schilling, Normsetzung (wie Anm. 47), 206f„ 222, 292 u. 405. 112
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che für jene weite Teile des französischen Monarchiediskurses seit dem Spätmittelalter kennzeichnende Bekräftigung gegenläufiger Prinzipien, deren genaues Verhältnis zueinander stets in der Schwebe gelassen wurde, weil jede exakte Festlegung entweder den absoluten Charakter oder die ethische Gebundenheit der französischen Monarchie in Frage gestellt hätte. Ungeachtet dieses Dilemmas wurde freilich immer wieder versucht, das Verhältnis von Absolutheit und ethischer Bindung des Monarchen näher zu bestimmen - die Art und Weise, wie dies versucht wurde, ist letztlich für die Bewertung und Einordnung der verschiedenen Konzeptionen der Monarchie aussagekräftiger als die Tendenz zur affirmation des contraires an sich. Hier seien nur zwei für den französischen Monarchiediskurs des 17. Jahrhunderts prägende Ansätze der Neubestimmung dieses Verhältnisses genannt. Rege debattiert wurde zum einen das erstmals im Gefolge der Bartholomäusnacht begegnende Argument, der Monarch könne über gewisse Notwendigkeiten und Sachzwänge politischen Handelns nicht öffentlich nach moralischen Kriterien entscheiden, sondern müsse dies im Geheimen nach an der Erhaltung des estât ausgerichteten Effizienzkriterien tun. 116 Mit diesem im 17. Jahrhundert von libertins wie Guez de Balzac und Naudé im Rahmen der Debatte um machiavélisme und raison d'Etat aufgegriffenen Argument wurde das bis dahin weitgehend unangefochtene, mit der Vorstellung des regimen verknüpfte Ideal der Sichtbarkeit politischen Handelns117 relativiert und der Versuch unternommen, einen nicht öffentlichen Bereich politischen Handelns zu definieren, in dem der Monarch von den allgemeinen religiösen und ethischen Normen entbunden war.118 Nicht minder einflußreich war bekanntlich Bodins Versuch, der absoluten Gewalt des Monarchen den ihr bis dahin anhaftenden außerordentlichen, auf Notfälle beschränkten Charakter zu nehmen und gerade die legibus solutio, die Entbindung von der überkommenen Rechtsordnung, zur Grundlage der neu definierten Souveränität zu machen.119 116 Vgl. dazu nun Crouzet, Langages (wie Anm. 114). 117
Vgl. grundlegend Michel Senellart, Les arts de gouverner. Du ,regimen' médiéval au concept de gouvernement. Paris 1995. 118 Die Forschung über die Entwicklung des Konzepts der Staatsräson in Frankreich kann hier nicht im einzelnen vorgestellt werden; einen reflektierten Überblick über die divergierenden Ansätze der Forschung bietet Michel Senellart, La raison d'Etat antimachiavélienne. Essai de problematisation, in: Christian Lazzari/Dominique Reynié (Eds.), La Raison d'État. Politique et rationalité. Paris 1992, 15-42; vgl. auch die materialreiche Studie von Étienne Thuau, Raison d'État et pensée politique à l'époque de Richelieu. Paris 1966, sowie jetzt Laurie Catteeuw, L'État et l'écrit. De la censure à la publication de la raison d'État, thèse philosophie. Paris 2005; ferner noch immer Friedrich Meinecke, Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte [zuerst 1924]. Hrsg. u. eingel. v. Walther Hofer. (Werke, Bd. 1.) 4. Aufl. MünchenAVien 1976; William F. Church, Richelieu and Reason of State. Princeton, N. J 1972. 119 Vgl. aus der uferlosen Literatur über Bodin und seine Souveränitätslehre etwa Beatrice J. Reynolds, Proponents of Limited Monarchy in Sixteenth-Century France: François Hotman and Jean Bodin. (Studies in History, Economies and Public Law, Vol. 334.) New York/
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Bossuet lehnte bezeichnenderweise beide Ansätze entschieden ab. Nach seinem Verständnis widerlegt seine „Politique" all jene, die glauben, die Frömmigkeit bedeute eine Schwächung der Politik: „Ceux qui croient que la piété est un affaiblissement de la politique seront confondus". 120 Die Unterscheidung zwischen individueller Ethik und politischen Handlungsmaximen ist für Bossuet unannehmbar. Vielmehr soll gerade der absolute Monarch in seinem Regierungshandeln den von Gott herrührenden ethisch-religiösen Normen folgen, die er als image de Dieu seinen Untertanen vermittelt. Vor demselben Hintergrund ist auch zu sehen, daß Bossuet die legibus solutio des Monarchen ablehnt und sich auf das bereits von Thomas von Aquin gebrauchte Argument zurückzieht, der Monarch könne nicht zur Einhaltung der Gesetze gezwungen werden, zugleich aber nachdrücklich auf die Konstitution digna vox des römischen Rechts verweist, der zufolge der Fürst sich den Gesetzen unterwerfen solle, da seine Autorität von der Autorität des Rechts abhänge.121 Die Ablehnung der legibus solutio war gerade angesichts der von Bossuet verfochtenen sakral-providentiellen Überhöhung des französischen Königtums konsequent. Denn in dem Maße, wie Bossuet die französischen Könige zu Repräsentanten der natürlichen, gottgewollten Ordnung der französischen Monarchie erklärte, war schwer vorstellbar, ihnen gleichzeitig die Entbindung von dieser als legitim vorausgesetzten Ordnung zuzubilligen. So ist es kein Zufall, daß im späten 16. und 17. Jahrhundert auch andere ansonsten sehr,abLondon 1931 ; Helmut Quaritsch, Staat und Souveränität. Bd. 1 : Grundlagen. Frankfurt am Main 1970; ders., Staatsräson in Bodins République', in: Roman Schnur (Hrsg.), Staatsräson. Studien zur Geschichte eines politischen Begriffs. Berlin 1975,43-63; ders., Souveränität. Entstehung und Entwicklung des Begriffs in Frankreich und Deutschland vom 13. Jahrhundert bis 1806. (Schriften zur Verfassungsgeschichte, Bd. 38.) Berlin 1986; Horst Denzer (Hrsg.), Jean Bodin. Verhandlungen der internationalen Bodin-Tagung in München. München 1973; Julian H. Franklin, Jean Bodin and the Rise of Absolutist Theory. Cambridge 1973; Simone Goyard-Fabre, Jean Bodin et le droit de la république. Paris 1989; Diego Quaglioni, I limiti della sovranità. Il pensiero di Jean Bodin nella cultura politica e giuridica dell'età moderna. Padua 1992; Yves Charles Zarka (Ed.), Jean Bodin. Nature, histoire, droit et politique. Paris 1996; Jacques Krynen, Note sur Bodin, la souveraineté, les juristes médiévaux, in: Pouvoir et liberté. Études offertes à Jacques Mourgeon. Brüssel 1998, 53-66. Auch Bodin griff im übrigen die tradierten Vorstellungen der ethischen Bindung politischen Handelns auf, machte daran aber lediglich di e forme de gouvernement fest, ohne die souveräne Herrschaftsgewalt davon abzuleiten. 120 Widmung an den Dauphin; Bossuet, Politique (wie Anm. 11), 3. 121 IV/I/4, 97: „De là cette belle loi d'un empereur romain: .C'est une parole digne de la majesté du prince, de se reconnaître soumis aux lois ' "; Bossuet gibt die Konstitution digna vox der Kaiser Theodosius II. und Valentinian III. aus dem Jahr 429 wieder: Codex Iustinianus, 1.14.4: „Digna vox maiestate regnantis legibus alligatum se principem profiteri: adeo de auctoritate iuris nostra pendet auctoritas. Et re vera maius imperio est submittere legibus principatum". Vgl. auch Codex Iustinianus, 6.23.3 (Alexander Severus): „nihil [...] tarn proprium imperii est, ut legibus vivere". Vgl. zur (auch von zeitgenössischen Theologen wie Mariana, Suarez und Escobar aufgegriffenen) Argumentation des Aquinaten und zur französischen Diskussion über die legibus solutio des Königs Schilling, Normsetzung (wie Anm. 47), 300-341.
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solutistisch' argumentierende Autoren der legibus solutio skeptisch gegenüberstanden. Der vorgestellte Befund läßt sich meines Erachtens nicht damit erklären, daß Bossuets „Politique" weniger .absolutistisch' gewesen wäre als Bodins „Six livres de la République", gilt doch die Sakralisierung des Monarchen in der Regel als Steigerung des .absolutistischen' Moments. 122 Er scheint mir vielmehr einerseits die inneren Spannungen und latenten Widersprüche des .absolutistischen' Diskurses und andererseits die Problematik einer eindimensionalen Betrachtungsweise vor Augen zu führen, die sich, ausgehend von der Fiktion eines in sich geschlossenen und widerspruchsfreien Konzepts .Absolutismus', darauf verlegt, den jeweiligen Grad der Annäherung an dieses Konzept zu bewerten. Im Unterschied dazu möchte ich vorschlagen, Bossuets „Politique" als einen in vielen Details an den französischen Monarchiediskurs seit dem Spätmittelalter anknüpfenden, aber gleichwohl spezifischen Versuch der Überhöhung der Monarchie zu verstehen, in dessen Mittelpunkt die - ihrerseits nicht kritisch hinterfragte - Überzeugung steht, die bestehende Verfassungsordnung Frankreichs und zumal das bourbonische Königtum entsprächen trotz der von Bossuet keineswegs geleugneten Mißstände in ihrem Kern dem göttlichen Heilsplan. Dabei ist Bossuet weit davon entfernt, jegliches Detail des politischen Lebens aus diesem Heilsplan zu erklären, denn er ist überzeugt, daß die göttliche Providenz (wie alle Äußerungsformen Gottes) im Detail für den Menschen nicht ergründbar ist - Bossuets Tendenz, sich auf die Bekräftigung antithetischer Prinzipien der politischen Ordnung zu konzentrieren, ohne ihr Verhältnis zueinander genau zu klären, dürfte hier ihre Ursache haben. Vor dem Hintergrund von Bossuets unerschütterlichem Vertrauen in eine im einzelnen der menschlichen Erkenntnis nicht zugängliche providentielle Ordnung und in die Providentialität des royaume de France muß auch seine Nutzung der Bibel und zumal des Alten Testaments verstanden werden. Ihm geht es dabei nicht darum, im einzelnen das Wirken der göttlichen Vorsehung zu rekonstruieren. Vielmehr versucht er im Wege der Analogie und der Übertragung anhand der Bibel entnommener préceptes und exemples beispielhaft zu zeigen, wovon er a priori überzeugt ist: die Natürlichkeit und Gottgewolltheit einer patriarchalischen, wertgebundenen Monarchie - und zumal des unter der „protection particulière de Dieu" stehenden französischen Königtums.
122 So etwa in der ansonsten noch immer sehr nützlichen Arbeit von Church, Constitutional Thought (wie Anm. 109), 312 u. ö. Da Church die Aussagen der Zeitgenossen primär an einer eindimensionalen , Absolutismus-Skala' mißt, erscheint die Akzentuierung des Gottesgnadentums selbstverständlich als Steigerung des absolutistischen Moments; daß sie zugleich in einem inneren Widerspruch zur .absolutistischen' Vorstellung der legibus solutio stand, kommt bei Church indes nicht ausdrücklich zur Sprache, obschon die von ihm zitierten Beispiele diesen Schluß nahelegen.
Bibelkritik im Schatten des „Leviathan" Thomas Hobbes' Rekonstruktion biblischer,Wahrheit' Von
Hans-Dieter
Metzger
Die Herausgeber haben einen Beitrag über Thomas Hobbes' Bibelkritik an das Ende dieses Tagungsbandes gestellt - und dies aus gutem Grund. Thomas Hobbes ist vielleicht nicht der Begründer der modernen politischen Wissenschaft, obwohl er das selbst für sich in Anspruch nimmt. Er ist aber gewiß der erste Denker, der einen Staat von zwei rein innerweltlichen Zielsetzungen her - Frieden und die Ermöglichung einer lebenswerten Existenz - zu begründen versucht. Deshalb haben nicht nur Hobbes-Forscher das Werk des .Weisen von Malmesbury' als Beginn der modernen säkularen Staatstheorie gefeiert, sondern auch Zeitgenossen wie Marchamond Nedham, John Aubrey oder Samuel Sorbiere als Anleitung für die Errichtung eines Gemeinwesens jenseits von Religionsstreitigkeiten gelesen. Sie konnten sich dabei auf Hobbes selbst berufen, der gegen Ende des zweiten Teils von den insgesamt vier Teilen seines Hauptwerks „Leviathan" stolz herausstreicht, es sei ihm als erstem Theoretiker gelungen, Verfassung, Natur und Rechte der Herrscher sowie die Pflichten der Untertanen vollständig aus den Prinzipien der natürlichen Vernunft („natural reason") herzuleiten.1 Man kann in Hobbes' Staatstheorie also eine säkulare Auffassung hineinlesen, aber nur wenn man es verantwortet, einen gewichtigen Teil seines Werkes zu negieren. Will man dies nicht, will man Hobbes, den Theoretiker, vor dem Hintergrund seines Gesamtwerks würdigen, dann darf dieses .jenseits von Religionsstreitigkeiten' nicht vorschnell mit jenseits von Religion' gleichgesetzt werden. Auch dafür gibt es gute Gründe. Bereits in seiner Kritik an Thomas Whites „De Mundo" finden sich immer wieder deutliche Warnungen, diese oder jene Position des Autors lasse sich nicht mit dem christlichen Glauben vereinbaren.2 Wesentlich schwerer wiegt, daß Hobbes im Laufe seiner Beschäftigung den allgemeinen Darlegungen theologische Ausführungen in zunehmender Länge hinzufügt. Während er sich in „Elements of Law" von 1640 noch mit einem Kapitel begnügt, füllt die Diskussion der Religion im „De Cive" von 1642 bereits mehr als ein Drittel des Buches. Im voluminösen „Leviathan" 1
Thomas Hobbes, Leviathan. Ed. by Michael Oakeshott. Oxford 1946, Kap. 31, 241. Thomas Hobbes, Thomas White's De Mundo Examined. The Latin Translated by Harold Whitmore Jones. London 1976, Kap. 3 3 - 3 4 , 4 0 6 - 4 2 0 . 2
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von 1651 widmet Hobbes nahezu die Hälfte dés Raums der theologischen Diskussion. Noch ein weiterer Umstand spricht dafür, Hobbes' theologischen Diskussionsbeiträgen gebührende Aufmerksamkeit zukommen zu lassen: Mit der Seitenzahl seiner einschlägigen Bücher steigert er die Radikalität der Aussagen. Dies läßt sich unter anderem an der von Carl Schmitt in das Zentrum seines Hobbeskristalls gestellten Frage „Quis interpretabitur?" belegen.3 Während Hobbes in „Elements of Law" argumentiert, das Recht zur Bibelauslegung liege bei den Nachfolgern der Apostel, d. h. „in the church"4, hebt er in „De Cive" „Jesus ist Christus" als Ursprung und Inhalt des heilbringenden Glaubens heraus, so daß sich im Grunde jede weitere Interpretation des Alten Testaments, das nur allgemein auf Jesu kommendes Königreich hinweist, und des Neuen Testaments, das zu Jesu Lebzeiten noch nicht niedergeschrieben war, erübrigt.5 In seinem konsequentesten Werk, „Leviathan", verweist er die Interpretation ausschließlich an den rechtmäßigen Souverän und, von ihm abgeleitet, die von ihm bestellten Lehrer.6 Damit ändert er die Funktion des Souveräns. Sowohl in „Elements of Law" als auch „De Cive" heißt es, „the holder of sovereign power in the commonwealth is obliged to interpret holy scripture, when it is a question about the mysteries of faith, by means of duly ordained Ecclesiastics."7 Im „Leviathan" spricht Hobbes dem Souverän eine sacerdotale Rolle zu. Richtig ist, daß sich Hobbes nach 1660 mit theologischen Zuspitzungen zurückhält. Inhaltlich nimmt er aber auch in seinem Spätwerk nichts zurück. Hobbes' „Leviathan" von 1651 kann also als sein unverstelltes Wort in Religionsangelegenheiten gelten und muß deshalb auch als wichtigste Quelle für eine Deutung seiner Ansichten zum Verhältnis von Religion und Staat angesehen werden.8
3 Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien. Berlin 1963, S. 122. 4 Thomas Hobbes, The Elements of Law. Ed. by Ferdinand Tönnies. 2. Aufl. London 1969, Kap. 11, 59. Das Auflegen der Hand zur Bestätigung der apostolischen Sukzession ist laut Hobbes nicht von sakramentalem Rang - da mit dem Sakrament der Bischofsweihe verbunden - , sondern nur eine „Art Siegel", ein Zeichen. 5 Thomas Hobbes, On the Citizen. Ed. by Richard Tuck/Michael Silverthorne. Cambridge 1998, Kap. 18, 242f.: „It cannot be denied that all who are Christians today learned from Teachers, that there was a Jesus, who did all things by which he was recognized as; but it does not follow that they are relying on teachers or on a Church for that article; rather they are relying on Jesus himself. For that Article came before the Christian Church, even if all the rest came later." 6 Hobbes, Leviathan (wie Anm. 1), Kap. 33, 322. 7 Hobbes, On the Citizen (wie Anm. 5), Kap. 17, 233. 8 Es ist also nur konsequent, wenn Strauß in Anlehnung an den Titel des Hauptwerks von Spinoza empfiehlt, Hobbes' politische Schriften als „theologisch-politische Traktate" zu begreifen. Vgl. Leo Strauß, Gesammelte Schriften. Bd. 3: Hobbes' politische Wissenschaft und zugehörige Schriften. Hrsg. v. Heinrich u. Wiebke Meier. Stuttgart 2001,89,268 (Hervorhebung von Strauß).
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Es kann an dieser Stelle nicht tiefer auf die umfangreiche Rezeptionsgeschichte von Hobbes eingegangen werden. Eine Bemerkung dazu muß genügen. Die hier in groben Zügen angedeutete werkimmanente Entwicklung ist zum großen Teil verantwortlich für die unterschiedlichen Deutungen. Wenn etwa Henning Graf Reventlow im Einklang mit dem Zeitgenossen John Aubrey in Hobbes einen Vertreter der liberalen Anglikanischen Kirche in der Tradition William Chillingworths erkennt, kann er sich mit Recht auf „Elements of Law" und ,,De Cive" berufen. 9 Howard Warrenders viel diskutierte Argumentation, wonach die staatliche Ordnung über die Beachtung der .Naturgesetze' die Seins-Ordnung beinhaltet, speist er vor allem aus „De Cive". 10 Martinichs Urteil wiederum, Hobbes sei ein orthodox argumentierender Calvinist gewesen, beruht im wesentlichen auf seiner Lesart des „Leviathan".11 Für diese Sicht könnte Martinich übrigens auch einen Zeitgenossen als Zeugen anrufen: Edward Bagshaw, der Hobbes als Sekundanten im Kampf gegen die Gegner der Prädestination und Befürworter der Willensfreiheit gewinnen wollte.12 Es stellt sich indes die Frage, ob Hobbes - angesichts der oftmals auch gewaltsam anmutenden Versuche, die Interpretation von Bibelstellen mit seinem Materialismus in Einklang zu bringen - bestehenden kirchlichen Richtungen überhaupt sinnvoll zugeordnet werden kann. Auch wenn - um ein Beispiel herauszugreifen - die Lehre vom Zwischenzustand der Seele nach dem Tod besonders in schwärmerischen Kreisen Anhänger fand, gibt das noch lange nicht Anlaß, Hobbes den von ihm bekämpften Enthusiasts zuzuordnen. Tatsächlich verstieg sich ein Zeitgenosse Hobbes', der Schulmeister und Vielschreiber Alexander Ross, zu solchen pauschalierenden und ungerechten Anschuldigungen, als er seinem Gegner an den Kopf warf: „In holding life eternal to be onely on earth, he is a Cerinthian and Muhametan; in giving God corporiety he is an Anthropomorphism Manichean, Tertullianist and Audaean; in holding the three Persons to be distinct names and essences represented by Moses, Christ and the Apostles, he is a Sabelian, Montanist, Aetian, and Priscellianist; in saying, that Christ personated God the son, he is a Nestorian giving him two personalities, for no persona can personate himself; in denying spiritis he is a Saducean; in making the soul to rest with the
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Henning Graf Reventlow, The Authority of the Bible and the Rise of the Modern World. Übers, v. John Bowden. Philadelphia 1985, 205-207. Allerdings hege ich starke Zweifel, ob man Hobbes in die Nähe Erzbischof William Lauds rücken darf. Was Laud präferierte, Hobbes aber um alles in der Welt scheut, war ein divine right der Bischöfe, das den Souverän aus den kirchlichen Angelegenheiten weitestgehend heraushält. Dieses .göttliche Recht' hat dann auch die nach 1660 restaurierte Staatskirche nicht mehr beansprucht. 10 Howard Warrender, The Political Philosophy of Hobbes. His Theory of Obligation. Oxford 1957. 11 Aloysius P. Martinich, The Two Gods of Leviathan. Cambridge 1992, 34, 63 f. 12 Noel Malcolm (Ed.), The Correspondence of Thomas Hobbes. 2 Vols. Oxford 1997, 497 f.
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body till the resurrection, he is an Arabian; in making the Soul of man corporal he is a Luciferan; by putting a period to hell torments he is an Originist; by teaching dissimulation in religion he is a Tacian or Encrati; in making God the cause of sin, he is a Manichee; in slighting Christ's miracles, he is a Jew; and in making our natural reason the word of God, he is Socinian."13 Ein weitsichtigerer Denker, Ralph Cudworth, erkannte den Unsinn solcher auf Einzelheiten setzenden Zurückweisung. Er hielt anderen Wortführern vor, es helfe gar nichts, Hobbes' System an einzelnen Punkten zu bekritteln und Häresien zu sammeln so wie andere Altertümer anhäuften. Wichtig sei vielmehr die Widerlegung im Kern, d.h. der materialistischen Hypothese, oder, im Umkehrschluß, die erfolgreiche Verteidigung eines theistischen Atomismus, der im Reich der Materie körperlosen und unsterblichen Substanzen etwa den Engeln - ihren Raum beläßt.14 Henry More, Ralph Cudworth und Robert Boyle, allesamt Cambridger ,Platoniker', prägten mit ihrem systemischen Ansatz die Debatte in der Restaurationsepoche.15 Tatsächlich vermittelt die Lektüre des „Leviathan" den Eindruck, als ob Hobbes sich alle Freiräume nahm, um eine hypothetisch angenommene Vereinbarkeit von Theologie und naturwissenschaftlich basierter Politik nachzuweisen. Daß man auch in der republique de lettres davon überzeugt war, der Philosoph würde sich frei von Rücksichtnahme auf theologische Dogmen auch noch dem kniffligsten Problem stellen, demonstriert ein Schreiben aus dem Jahr 1657. Darin bittet François Peleau Hobbes um Überprüfung der These, Gott könne keine zwei Körper schaffen, die zu gleicher Zeit den gleichen Raum einnehmen. Peleau schließt sein Anliegen mit den Worten: „Je crains de vous l'enuoyer, parceque c'est sur vne Matiere vn peu chatouilleuse, telle quo la Nullité de l'existence d'vn Dieu, distinct, et different, du Monde." 16 Eine Annäherung an Hobbes' Theorie setzt seine resolutiv-kompositorische Methode voraus: die gedankliche Reduktion aller vorfindbaren Strukturen und Bezüge auf die Elemente als Voraussetzung für eine konsequente Rekonstruktion der physischen Welt einerseits und die Vernichtung der Tradition
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Alexander Ross, Leviathan, drawn out with a Hook. London 1653, To the Reader. Ralph Cudworth, The True Intellectual System of the Universe: the first part; wherein, all the reason and philosophy of atheism is confuted: and its impossibility demonstrated. London 1678, To the Reader. 15 Siehe dazu John G. A. Pocock, Thomas Hobbes: Atheist or Enthusiast? His Place in a Restoration Debate, in: History of Political Thought 11, 1990, 717-749; Steven ShapinJ Simon Schaffer, Leviathan and the Airpump. Hobbes, Boyle, and the Experimental Life. Princeton 1985; Perez Zagorin, Cudworth and Hobbes on is and ought, in: Richard Knoll/ Richard Ashcraft/Perez Zagorin (Eds.), Philosophy, Science and Religion in England, 1640-1700. Cambridge 1992. 16 Malcolm, Correspondence (wie Anm. 12), 450. 14
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und die vernünftige Bewertung der Heiligen Schrift als Voraussetzung für eine nicht-ideologische Bestandsaufnahme des Offenbarungswissens andererseits.
I. Zum Verhältnis von Vernunft und Schrift Hobbes' Mißtrauen gegenüber allen Spielarten des Trugs ist der Ausgangspunkt für seine theologisch-politischen Ausführungen. Es führt ihn so weit, nur die materialistische Hypothese und einen extremen Nominalismus als Grundlage des Philosophierens übrig zu lassen. Auf diese Weise verschafft er sich ein festes Fundament, während er den anderen Gedankengebäuden, die nicht auf dieser Basis stehen, eine Absage erteilen kann. Hobbes denkt sich die Welt als vollständig mit bewegten materiellen Körpern gefüllten Raum, bestimmt durch Bewegung. Ein Vakuum kann es in dieser Welt nicht geben. Diese Vorannahme hat wesentliche Auswirkungen auf die Erkenntnistheorie. Im vierten der sechzehn Einwände, die er Descartes „Meditationes" entgegenhält, verwirft Hobbes in aller Deutlichkeit den Dualismus und die cartesianischen Beweise der denkenden Substanz.17 Dies heißt nun aber nicht, daß die materielle Welt außerhalb des denkenden Menschen für Hobbes nicht existiert oder daß die Sinne nichts nutzen, um sich ein Bild von dieser Welt zu verschaffen. Vielmehr geht es darum, äußere Eindrücke durch vernünftiges Bedenken auch belastbar zu machen. Sinneseindrücke bedürfen der kritischen Reflexion, sagt Hobbes: „And this is the great deception of sense, which also is by sense to be corrected. For as sense telleth me, when I see directly, that the colour semmeth to be in the object; so also sense telleth me, when I see by reflection [i.e. by reasoning], that colour is not in the object." 18 Es lohnt sich, auch in unserem Zusammenhang die erkenntnistheoretische Grundlage genauer zu betrachten. Menschliche Empfindung wird von Hobbes als eine körperinterne Reaktion auf einen materiellen Eindruck auf ein empfindendes Sinnesorgan verstanden. Das affizierte Organ produziert einen Impuls, der im Gehirn ein .Hirngespinst' („mind-picture") hervorbringt, das wiederum nach den Regeln vernünftigen Schließens bearbeitet und in eine Vorstellung - d. h. eine durch Erfahrung als triftig fundierte Einordnung in das bestehende Sprachsystem - überführt wird.19 Das „wirklich Gute" („real 17 Leo Strauß, Gesammelte Schriften. Bd. 2: Philosophie und Gesetz. Hrsg. v. Heinrich Meier. Stuttgart 1997, 349ff. 18 Thomas Hobbes, Elements of Philosophy. The First Section Concerning Body, zit. nach: Perez Zagorin, Hobbes's Early Philosophical Development, in: Journal of the History of Ideas 31, 1993, 505-518, hier 515. 19 Hobbes, White's De Mundo Examined (wie Anm. 2), Kap. 30, 375. Siehe auch Strauß,
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good") ist das von der Vernunft als langfristig lebenserhaltend Erkannte.20 Vernunft zeichnet den Menschen aus, denn nur mit ihrer Hilfe ist er imstande, seine auf kurzfristige Befriedigung hin angelegten Leidenschaften zu zügeln und das „wirklich Gute", d. h. „Leben, Gesundheit und [...] Sicherheit für die Zukunft", zu verfolgen.21 Die Umkehrung der natürlichen Verhältnisse, die Abkehr von vernunftloser Begierde, macht den Menschen aus: „the natural State hath the same proportion to the civil (I mean liberty to subjection) which passion hath to reason, or a beast to a man." 22 Hobbes' durchgängiger Materialismus ist auch für seine Theologie von grundlegender Bedeutung. Religion ist für ihn in Symbole oder Handlungen übersetzte Verarbeitung von unerklärlichen Affekten oder geistigen Zuständen, vor allem von irrationaler Angst und bedrückendem Traum. Naturreligion wird von Hobbes funktional gesehen; es geht um die von Bewältigung von psychischen Formen der Bedrängnis, die das Lebensgefühl beeinträchtigen, Ängste und angstbesetzte Kurzschlußreaktionen zeitigen. Dieser „natürliche Samen der Religion" führt bei tiefem Nachdenken freilich über die Ursachen zur Anerkennung der Existenz eines omnipotenten Schöpfergottes und zu dem Bedürfnis, dem Allmächtigen Referenz zu erweisen.23 Eine durch Vernunft kultivierte, in ihren Zwecken effiziente Religion schließlich findet ihren probaten Ausdruck in der Ausbildung einer Zivilreligion. Sie hat den Zweck, die Menschen zu Gehorsam, Frieden, Liebe und bürgerlicher Zielstrebigkeit zu erziehen und damit auch den Menschen zur Verehrung Gottes anzuhalten. Der von selbstischen Klerikern inszenierte faule Zauber mißbraucht den natürlichen Samen, indem er Ängste auf der affektiven Ebene beläßt und verstärkt. Hobbes wirft den Klerikern vor, sie würden dies tun, um sich mit einer von ihnen beanspruchten heilsvermittelnden Rolle aufspielen zu können. Hätte es Hobbes bei diesen Ausführungen bewenden lassen, hätte er - ähnlich wie Machiavelli - die christliche Lehre auf ihre Funktionalität als Zivilreligion hin befragen können. Vielleicht wäre er dann, wie sein Verehrer Henry Stubbe, zu dem Urteil gelangt, daß sich der Islam wesentlich besser als staatstragende Religion eigne.24 Einige Kritiker haben dem Verfasser des „Leviathan" eine solche Schlußfolgerung unterstellt. Es gibt indes überhaupt keinen Beleg dafür, daß Hobbes in diese Richtung gedacht hat. Ausdrücklich hält Philosophie und Gesetz (wie Anm. 17), Bd. 2, 348-364, und Jean Starobinski, Aktion und Reaktion. Leben und Abenteuer eines Begriffspaars. Übers, v. Horst Günter. München 2001, 102-106. 20 Hobbes, On the Citizen (wie Anm. 5), 21-31. 21 Thomas Hobbes, Vom Menschen. Vom Bürger. Hrsg. v. Günter Gawlick. Hamburg 1959, Kap. 2, 8-11. 22 Hobbes, On the Citizen (wie Anm. 5), Kap. 7,118 f. 2 3 Hobbes, Leviathan (wie Anm. 1), Kap. 11 u. 12, 63-80. 24 James R. Jacob, Henry Stubbe. Radical Protestantism and the Early Englightenment. Cambridge 1983.
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er an der Verbindlichkeit des christlichen Gottes fest, wenn er unterstreicht, daß Wissen über Gott auch durch göttliche Offenbarungen in die Welt gebracht wurde und in der Bibel überliefert ist. Methodische Vorsicht erscheint Hobbes bei der Auslegung der Heiligen Schrift jedoch angebracht. Denn die Bibel biete im Grunde nichts anderes als historische Berichte von Geschehnissen, die sich vor langer Zeit ereignet haben sollen. Damit diesen Nachrichten als Mitteilungen Gottes an die Menschen Glauben geschenkt werden dürfe, bedürfe es zweierlei: zum ersten die Bestätigung des Mittlers durch ein begleitendes Wunder25, zum zweiten Beglaubigung der Überlieferung durch die Autorität des Souveräns (und damit der natürlichen Vernunft). Ist beides nicht vorhanden - wie etwa in der Situation 1650 - , dann dürfe man bei der Prüfung dieser Quelle weder auf die Sinne noch auf die Erfahrung, vor allem aber nicht auf die „natürliche Vernunft, welche das unbezweifelbare Wort Gottes ist", verzichten.26 Zur Abstützung seines Arguments bemüht Hobbes einen (indirekt geführten) Schriftbeleg. Die natürliche Vernunft, die Sinne und die Erinnerung - schreibt er - „are the talents which he hath put into our hands to negotiate, tili the coming again of our blessed Saviour; and therefore not to be folded up in the napkin of an implicit faith, but employed in the purchase of justice, peace, and true religion".27 Diese Form der Parallelführung ist kennzeichnend für Hobbes: Sowohl die natürliche Vernunft' als auch das Offenbarungswissen verlangen die rationale Prüfung der Heiligen Schrift. Wie im naturwissenschaftlich-politischen Teil verlangt Hobbes auch im theologischen Diskurs methodische Sicherheit. Die Interpretation der Heiligen Schrift bedürfe einer versierten Hermeneutik, die den Wortsinn sowie die allegorische Rede richtig zu deuten und typologische Vergleiche zu ziehen vermag.28 Für dunkle Passagen empfiehlt Hobbes das traditionelle Aus25
Es gibt, genau genommen, zwei Klassen von Mittlern: den souveränen Propheten mit dauernder Berufung (Moses, die frommen Könige des Alten Bunds, Christus im neuen Bund) und die außerordentlichen Propheten, die Gott durch Träume und Visionen ins Bild gesetzt hat. Vgl. Strauß, Gesammelte Schriften (wie Anm. 8), Bd. 2, 335. 26 Zur politischen Lage in England als Hintergrund für den Leviathan siehe Hans-Dieter Metzger, Thomas Hobbes und die Englische Revolution, 1640-1660. Stuttgart/Bad Cannstatt 1991, 131-171. 27 Hobbes, Leviathan (wie Anm. 1), Kap. 32, 242. Die Anspielung bezieht sich auf ein Jesuswort, mitgeteilt in Mt 25,14-30 und Lk 19,11-27. Hobbes' Rechtfertigung des Vernunftgebrauchs mit der Schrift ist insofern typisch, als er immer wieder Schriftzitate zur Illustration auch außerreligiöser Probleme verwendet. So erläutert er etwa den Unterschied von Rat und Befehl anhand von Bibelstellen und die Notwendigkeit der Bekanntmachung der bürgerlichen Gesetze am Beispiel Moses' und Salomons. Ein solches Vorgehen erscheint im Kontext zeitgenössischer Erbauungsliteratur und Theologie vollständig konventionell und entspricht der gängigen Praxis einer tropologischen Übersetzung von normativ verstandenen Bibeltexten auf die Verhältnisse der Gegenwart. 28 Zur Methode des typologischen Vergleichs Hans-Dieter Metzger, David, der Musterkönig, in: Barbara Bauer/Wolfgang G. Müller (Hrsg.), Staatstheoretische Diskurse im Spiegel der Nationalliteraturen von 1500-1800. Wiesbaden 1998, 402-439.
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gleichsverfahren. Sich der Vernunft nicht erschließende Textstellen dürfe man getrost links liegen lassen.29 Manche Aussagen blieben den Menschen aufgrund ihres noch beschränkten geistigen Horizonts im Dunkeln. Wissenschaftlicher Fortschritt aber werde zusätzliches Licht auf solche Passagen werfen, so daß sie sich dereinst erschlössen.30 Immer aber ist der praktischmoralische Sinn mit den Händen zu greifen: Es gilt, Frieden zu suchen und Gehorsam zu praktizieren. Am Beitrag zur Friedenssicherung läßt sich die angemessene Interpretation von Passagen der Heiligen Schrift messen.31
II. Hobbes und die Schriftauslegung An keiner Stelle verneint Hobbes also den eigentümlichen Charakter der Heiligen Schrift als Gottes Wort. Ganz im Gegenteil preist er sie als einzige besondere Quelle des christlichen Glaubens, die den Menschen zur Verfügung steht.32 Diese Singularität impliziert, daß sich ihr Sinn nur aus dem Text selbst herauspräparieren läßt, wenn man die Widersprüche, Abstrusitäten und Ungereimtheiten entweder auf ihre Ursachen zurückführt oder negiert. Ein solcher Interpretationsvorgang erfordert ein Höchstmaß an Umsicht und textkritischer Sensibilität, denn - so Hobbes - im Falle von geschichtlichen Zeugnissen gäbe es „nur ein mehr oder weniger an Sicherheit, aber niemals vollständige Evidenz". 33 Der wissenschaftliche Charakter der Auseinandersetzung wird durch qualifizierende Zusätze oder Einschränkungen wie: „wahrscheinlich", „es scheint mir nahe liegend", „es mag in diesem Punkt zugestanden werden", „es ist hinreichend", „es mag geschlossen werden", „verläßlich genug" und „so weit wie ich sehe", noch einmal unterstrichen.34
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Sommerville regt an, Hobbes habe es sich vielleicht mit der Interpretation der Schrift nicht allzu schwer gemacht, weil er davon ausgegangen ist, daß alle Aussagen, die mit der Vernunft nicht zu durchdringen sind, beiseite gelegt werden könnten; Johann P. Sommerville, Thomas Hobbes. Political Ideas in Historical Context. Basingstoke 1993, 160. 30 Hobbes, Leviathan (wie Anm. 1), Kap. 32, 242: „For though there be many things in God's word above reason; that is to say, which cannot by natural reason be either demonstrated, or confuted: yet there is nothing contrary to it; but when it seemeth to, the fault is either in our unskilful interpretation, or erroneous interpretation." 31 Ebd. Kap. 36, 274. 32 Ebd. Kap. 32, 246: „Seeing therefore miracles now cease, we have no sign left, whereby to acknowledge the pretended revelations or inspirations of any private men; nor obligation to give ear to any doctrine, farther than it is conformable to the Holy Scriptures,... from which, by wise and learned interpretation, and careful ratiocination, all rules and precepts necessary to the knowledge of our duty both to God and man, without enthusiasm or supernatural inspiration, may easily be deduced." 33 Ebd. Kap. 34, 264. 34 Vgl. Metzger, Thomas Hobbes (wie Anm. 26), 227.
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Man kann mit Fug und Recht behaupten, daß die historische Textkritik mit Hobbes beginnt. Er setzt nämlich als erster Analytiker der Neuzeit stillschweigend voraus, daß die Bücher der Heiligen Schrift in grundsätzlich derselben Weise wie beliebige andere literarische Zeugnisse kritisiert werden müssen. Noel Malcolm hat in einem eindringlichen Artikel vorgeführt, wie Hobbes mit der kniffligen Frage, ob Moses wirklich Verfasser des Pentateuchs ist, umgeht. 35 Malcolm kommt zunächst auf die Radikalisierung im Zuge der Veröffentlichungen zwischen 1640 und 1651 zu sprechen. Während sich Hobbes in „Elements of Law" noch ganz beiläufig mit der Frage befaßt und in „De Cive" auf die Frage nach der Kanonizität beschränkt, erweitert der .Weise von Malmesbury' seinen Fragekreis im „Leviathan" dramatisch und forscht nun explizit nach den Verfassern des Pentateuch und des Buches Josua. 36 Ingesamt präsentiert er dem Leser drei Einwände gegen Moses als Autor: Erstens konnte Moses nicht über sein eigenes Begräbnis schreiben; zweitens spreche der Verfasser von den Kanaanitern, die im Lande Kanaan wohnen, folglich können dies nicht die Worte Moses' sein, der starb, bevor sein Volk in dieses Land gelangte; und drittens schließlich zitiere die Heilige Schrift ein älteres Buch mit dem Titel „Das Buch von den Kriegen des Herrn", in denen von den Taten Moses' am Roten Meer und an den Bächen des Arnon berichtet wird. Es handele sich also eindeutig um eine Rückschau. Moses lebte zum Zeitpunkt der Niederschrift ganz offenbar schon längst nicht mehr. 37 Mit Sicherheit will Hobbes Moses nur noch als Verfasser von Deuteronomium 11 bis 18 gelten lassen, also als Autor des Gesetzes - eines Gesetzes, dessen Durchsetzung die Aufgabe des weltlichen Souveräns und Friedensgaranten ist. Die Gestalt Moses wird mit der Rolle des Gesetzgebers gleichgesetzt. Dahinter verschwindet die Rolle von Moses, dem Propheten. Hobbes kann Moses in dieses Licht stellen, weil er den Staatsvertrag am Sinai in den Mittelpunkt rückt. Durchgängig also ist die Beschäftigung mit dem Politischen. Trotz dieser kritischen Abwägungen stellt Hobbes die Bibel nicht unter einen grundsätzlichen Ideologieverdacht. Dies unterscheidet ihn von Tom Payne, der mit den gleichen Einwänden gegen Moses das Vertrauen in die Bibel als Ganzes umstoßen will. Hobbes' Kritiker George Lawson hat durchaus Recht, wenn er dessen Argumentationsstrategie gegenüber Moses so beschreibt: „Believe him as a prophet they might, obey him as their King they must." 38 35
Noel Malcolm, Aspects of Hobbes. Oxford 2004, 383^131. Vgl. Leo Strauß, Die Religionskritik Spinozas als Grundlage seiner Bibelwissenschaft. Untersuchungen zu Spinozas Theologisch-Politischem Traktat. Ndr. Darmstadt 1981,82 f.; Paul D. Cooke, Hobbes and Christianity. Reassessing the Bible in Leviathan. London 1996, 163. 37 Hobbes, Leviathan (wie Anm. 1), Kap. 33, 248 f. 38 George Lawson, An Examination of the Political Part of Mr. Hobbs His Leviathan 36
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Aber auch andere Schriften büßen im Schlaglicht der Kritik einiges an Glanz ein. Wie die häufige Verwendung der Phrase „bis zu diesem Tag" beweise, wurden Hobbes zufolge auch die historischen Bücher des Alten Testaments erst lange Zeit nach den Ereignissen niedergeschrieben. Das gelte auch für verschiedene Psalmen und die Sprüche Salomons.39 Entscheidend ist freilich weniger diese an Einzelinterpretationen festgemachte Kritik als vielmehr die von Hobbes aufgeworfene Frage: Welche Textteile können überhaupt als authentisch angesehen werden? Anders gesagt: Wenn Moses nicht als Autor des gesamten Pentateuchs in Frage kommt, wer dann? Hobbes nennt den Schriftgelehrten Esra, der nach der Rückkehr aus der babylonischen Gefangenschaft „set forth [the Bible] in the form we have it in. 40 . Noch vor Isaac La Peyreres „Prae Adamitae" (1656), Benedict de Spinozas „Tractatus theologico-politicus" (1670) und Richard Simons „Histoire critique du Vieux Testament" (1678) rüttelt Hobbes an der Autorität des Propheten Moses. Zwar ist es richtig, daß einige Rabbiner und islamische Kontroversalisten die Annahme, Moses habe den Pentateuch vollständig verfaßt, schon seit dem hohen Mittelalter angezweifelt haben. Auch trifft es zu, daß nach der Reformation katholische Pamphletisten, die das protestantische sola scriptum anfechten wollten, sich diese Widersprüchlichkeiten zugunsten des Traditionsarguments zunutze machten.41 Einer von ihnen, der Rekusant Thomas Stapleton, lehrte übrigens als Professor bis 1590 am englischen Priesterseminar in Douai. Er war demnach ein Vorgänger Thomas Whites, den Hobbes wiederum persönlich kannte. Er mag als Brücke zwischen Stapletons Überlegungen und Hobbes' expliziter Kritik fungiert haben. Neu aber war der referentielle Rahmen, in den Hobbes die Heilige Schrift stellt - die Verbindung der Esra-These mit der analogen These zum Neuen Testament. Hobbes sagt „the Old Testaments [are] made canonical by Esras. And of the New Testament, That ,it was not the Apostles which made their own writings canonical, but every convert made them so to himself'" 42 , murrt Bischof Bramhall in „The Catching of Leviathan or the Great Whale" (1658). Auch wenn Hobbes aus Vernunftgründen die generelle Authentizität der kanonischen Schriften ausdrücklich nicht anzweifeln will43, entzieht er der Heiligen Schrift ein ge(1657), in: Graham A. J. Rogers (Ed.), Leviathan. Contemporary Responses to the Political Theory of Thomas Hobbes. Bristol 1995,48. 39 Hobbes, Leviathan (wie Anm. 1), Kap. 33, 252. 40 Ebd. 251. 41 Malcolm, Aspects (wie Anm. 35), 398-415. 42 John Bramhall, The Catching of Leviathan or the Great Whale, in: Rogers (Ed.), Leviathan (wie Anm. 38), 128. Im ersten Teil des Zitats paraphrasiert Bramhall Thomas Hobbes, im zweiten Teil zitiert er ihn wörtlich. 43 Hobbes, Leviathan (wie Anm. 1), Kap. 43,264: „I see not therefore any reason to doubt but that the Old and New Testament, as we have them now, are the true registers of those things which were done and said by prophets and apostles" (Hervorhebung H.-D. M.).
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rüttelt Maß an Glaubwürdigkeit.44 In Abwesenheit eines Souveräns billigt er zugleich, wenn auch widerstrebend, der individuellen Vernunft zu, die Sätze der Heiligen Schrift zu prüfen und die Weisungen Gottes herauszufiltern. Dieses Zurückfallen auf die individuelle Vernunft ist der Kern des oft zitierten Satzes, den Hobbes angesichts des völligen Zusammenbruchs der staatlichen Ordnung im Jahr 1650 in die Debatte schleudert: „And so we are reduced to the independency of the primitive Christians, to follow Paul, or Cephas, or Apollos, every man as he liketh best". 45 Allerdings handelt es sich dabei immer nur um die zweitbeste Lösung. Denn das „real good" des Individuums wird innerhalb der staatlichen Ordnung effizienter verfolgt, als es ein einzelner für sich könnte. ,,[I]n a commonwealth, a subject that has no certain and assured revelation to himself concerning the will of God" (eine Möglichkeit, die Hobbes durch die Entaktualisierung des einen Propheten bestätigenden Wunders für die Gegenwart prinzipiell verneint), „is to obey as such, the command of the commonwealth, for if men were at liberty, to take for God's commandments, their own dreams and fancies, or the dreams and fancies of private men; scarce two men would agree upon what is God's commandment."46
III. Hobbes' Version der Heilsgeschichte Wäre Hobbes ein solch unverfrorener Atheist gewesen, wie ihm nachgesagt wird, hätte er wie Thomas Paine die Bibel als Buch der Irrtümer und Ungeheuerlichkeiten abfertigen können. Er tut dies aber nicht, sondern entwickelt mit Hilfe der typologischen Methode seine Version der Heilsgeschichte. Pocock steigert die Bedeutung dieses heilsgeschichtlichen Aspekts, wenn er sagt, für die Menschen sei Hobbes' christlicher Gott überhaupt nur im Modus der Zeit existent.47 Aufgrund der Schöpfung ist Gott Herrscher über die Welt in einem allgemeinen Sinne. Er regiert durch die Naturgesetze, die jedem Wesen erkennbar sind und das Gewissen verpflichten. Gott ist aber auch Herrscher in einem konkreten, personalen Sinne: Er hat sich ein Volk erwählt, das als Staatsvolk seiner Herrschaft unterworfen ist. Da er mit den Menschen insgesamt nicht in Verbindung tritt, hat er - um sich mitzuteilen - Mittler gesucht und diesen seinen Willen durch Worte mitgeteilt. Damit die Menschen wissen können, daß diese Mittler wirklich die Sprachrohre Gottes sind, gibt es zwei 44
Vgl. auch Martinich, Two Gods (wie Anm. 11), 208, der einräumt, daß „Hobbes's view does contribute to an erosion of the credibility of religion". 45 Hobbes, Leviathan (wie Anm. 1), Kap. 47,435. 46 Ebd. Kap. 26, 188. 47 John G. A. Pocock, Time, History and Eschatology in the Thought of Thomas Hobbes, in: ders., Politics, Language and Time. Essays on Political Thought and History. New York 1973,193.
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Kennzeichen: Die Prophetie muß von Wundern begleitet sein, und der Prophet darf keine andere Religion als diejenige lehren, die Gottes Statthalter eingeführt hat. 48 Wunder gebe es indes seit den Tagen der Apostel nicht mehr. Diese zeitliche Eingrenzung und Entaktualisierung des Wundergeschehens durch die Verweisung in eine längst vergangene Epoche ist ein wichtiger Aspekt der umfassenden Historisierung, die Hobbes vornimmt. Hobbes entnimmt der Schrift eine Lehre von den drei Zeitaltern. Im ersten Zeitalter - so Hobbes - herrscht Gott direkt über von ihm erwählte Menschen. Da ist zunächst Adam, der Gehorsam üben soll und dafür im Paradies leben darf. Dann vereinbart Gott mit Abraham einen Bund, aus dem eine gegenseitige Verpflichtung erwächst: Gott verspricht, Abraham und seinen Nachkommen das Land Kanaan als Besitz zu geben. Abraham gelobt für sich und sein Volk Gehorsam zu leisten. Zu beachten ist: Abraham ist bei Vertragschluß bereits souveräner Herr seiner Familie. Er verdankt seine weltliche Herrschaft also nicht dem Bund mit Gott. Sie ist vielmehr das Resultat eines rein-menschlichen Verhältnisses. Diese Souveränität wird durch den Bund mit Gott auch nicht modifiziert. Der Alte Bund hat allerdings zur Folge, daß mit Abraham auch dessen Volk Gott unterworfen wird. Darüber hinaus lehre die Heilige Schrift zweierlei über das Verhältnis zwischen Gott und Abraham sowie zwischen Abraham und seinem Volk: Erstens, daß Gott Abraham abgesehen von den Naturgesetzen keine besonderen Gesetze gab und nur „worship enjoined by reason" verlangte; und zweitens, „that the subjects of Abraham, if they obeyed him, could not sin, provided that Abraham did not command them to deny the existence of the providence of God or to do something that would expressly have infringed the glory of God". 49 Solche Bünde schloß Gott Hobbes zufolge auch mit Isaak und Jakob. Ein qualitativ neues Verhältnis leitete erst der Bundesschluß zwischen Gott und Moses ein. Auch Moses' weltliche Souveränität leitet sich von einem horizontalen - Gesellschaftsvertrag her, den die Israeliten mit ihrem Führer am Berg Sinai geschlossen hatten. Dieser Vertrag müsse unabhängig vom vertikalen - Vertrag gesehen werden, den Moses mit Gott abschloss. Mit diesem Bund habe Gott mit Moses das besondere Verhältnis zu Moses und dessen Volk vereinbart. Hätte der Gesellschaftsvertrag nicht gegolten, dann wäre Moses nur Gottes Prophet gewesen. Da die Israeliten aber bereits seine Untertanen waren, mußten sie Gottes Befehle - vermittelt durch ihren Souverän Moses - als Befehle ihres Staatsoberhaupts akzeptieren. Neu an diesem Bund war auch, daß er die Nachfolgefrage regelte. Nach dem Tod von Moses sollten die Priesterkönige herrschen. Erstmals war das Herrschaftsverhältnis Gottes über Israel auf Dauer geregelt. 48 49
Hobbes, Leviathan (wie Anm. 1), Kap. 32, 244. Hobbes, On the Citizen (wie Anm. 5), Kap. 16, 189f.
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Der Alte Bund hätte eigentlich Gottes ewige Herrschaft über sein Volk begründen sollen. Der eingefleischte Ungehorsam der Kinder Adams zehrte jedoch an diesem Herrschaftsverhältnis. Die Menschen begehrten auf und die Priesterkönige erwiesen sich als unfähig, die Stelle Moses' auszufüllen. Was Calvin mit seinen republikanischen Sympathien als einen Zustand der Freiheit bezeichnete50 - nämlich die theokratische Herrschaft der Hohenpriester und Richter - war in Hobbes' Augen nichts anderes als eine zerfallende Königsherrschaft. Das laxe Regime der Priesterkönige ließ der Selbstsucht der Untertanen Spielraum. Anarchie und Chaos breiteten sich aus. Der Grund für dieses Abgleiten lag nach Hobbes darin begründet, daß - einerseits und wie in der Gegenwart - bestätigende Wunder ausblieben und andererseits die Menschen nicht richtig in ihren Vertragspflichten unterrichtet wurden. Letzteres war ein heftiger Wink mit dem Zaunpfahl in die Richtung seiner Zeitgenossen. Die Israeliten litten unter diesen erbärmlichen Zuständen und verlangten von Samuel - dem letzten Stellvertreter Gottes - einen König, so wie ihn alle anderen Völker hätten, einen König wie Nimrod, den Jäger. Gott willigte ein. Der Alte Bund wurde also im beidseitigen Einverständnis aufgekündigt. Gott dankte als Herrscher über Israel ab. In diametralem Gegensatz zu anderen frühneuzeitlichen Interpretationen erscheint das Ansinnen des Volkes bei Hobbes also nicht einfach unverschämt und frech, sondern angesichts der Nichterfüllung des Staatszweckes als verständlich, wenngleich nicht legitim. Man darf hier abermals eine Anspielung auf die Lage im Jahr 1651 - den Niedergang der Stuarts und die Gründung einer neuen Staatsmacht - vermuten. Gott gab dem Anliegen statt und dem Volk einen König nach Art der Heiden. In der großen Rede über das „Königsrecht" (1 Sam 8) beschreibt Samuel ungeschminkt die Kompetenzen eines Herrschers. Während Thomas von Aquin, John Fortesque oder Melanchthon Samuels Rede als ironische Rede interpretieren, die deutlich machen solle, daß ein Gewalthaber eben nicht pro bono publico regiert, sondern pro bono suo herrscht, deutet Hobbes - wie Bodin und Jakob I. - die Rede wörtlich als exakte Beschreibung legitimer Souveränität.51 Samuel beschreibt die Machtfülle des Königs, die der des Monsters „Leviathan" gleicht (Hiob 41,25): „Auf Erden ist seinesgleichen niemand; er ist gemacht, ohne Furcht zu sein. Er verachtet alles, was hoch ist, er ist ein König über alles stolze Wild." 52 Mit dieser Unterwerfung hebt das zweite Zeitalter an. In dieser Epoche haben die Könige alle Rechte, „including the 50
Vgl. Hans-Dieter Metzger, David und Saul in Staat- und Widerstandslehren der Frühen Neuzeit, in: Walter Dietrich/Hubert Herkommer (Hrsg.), König David - biblische Schlüsselfigur und europäische Leitgestalt. Freiburg, Schweiz 2003, 437-485, hier 449. 51 Metzger, David und Saul (wie Anm. 50), 444 ff. Vgl. dazu auch den Beitrag von Andreas Peöar in diesem Band. 52 Maßgeblich für die Deutung des Symbols Leviathan ist Horst Bredekamp, Thomas Hobbes. Der Leviathan. Das Urbild des modernen Staates und seine Gegenbilder (1651— 2001). Berlin 2003.
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right to interpret God's word" sowie das Recht „to issue books as God's word". 53 Im dritten Zeitalter herrscht Jesus Christus direkt als Stellvertreter Gottes über die auferstandenen Erwählten in materieller Gestalt auf der Erde, während die Reprobierten in ihrer ursprünglichen, sterblichen Hülle und ohne den Genuß einer Herrschaft bis zu ihrem zweiten Tod eine erbärmliche Existenz fristen. 54 Dieses Zeitalter wurde mit der Menschwerdung Jesu Christi angekündigt. Die Schuld der Erwählten wurde durch seinen Kreuzestod gesühnt, der Neue Bund durch sein Blut besiegelt. Für diese dritte Epoche ist entscheidend, daß dieses Königtum des körperlich wiederauferstandenen Christus, der über die wiedererweckten Menschen auf einer gereinigten Erde herrscht, für einen unbestimmten und unbestimmbaren Zeitpunkt angekündigt wird, aber noch nicht Wirklichkeit ist. Jede Form der friedens- und existenzsichernden Staatsmacht ist in diesem historischem Zeitalter darum nötig und möglich, wobei ein christlicher Souverän ein besonderes Geschenk Gottes ist.
IV. Schlußbemerkung Hobbes' Bibelkritik ist also nicht nur methodische Kritik, sondern auch Baustein für eine politisch motivierte Rekonstruktion der biblischen Wahrheit. Er mißt die Schrift textkritisch aus, um nach der Reduktion der Aussagen auf einen rational verstehbaren Komplex eine normative Heilsgeschichte zu konstruieren, die seine Staatstheorie bestätigt und vervollständigt. Ironischerweise erzielt Hobbes mit seiner Historisierung eine Entaktualisierung des Heilsgeschehens. Er zerstört die Bibelautorität nicht, macht sie aber abhängig von der Allmacht des Repräsentanten Gottes. Hobbes' sterblicher Gott herrscht im Auftrag des ewigen Gottes, und zwar in einem zeitlichen Zwischenabschnitt, in dem Gott selbst nicht aktiv in das Geschehen der Welt eingreift, in dem es keine Wunder gibt und in dem keine Propheten auftreten. Daß Hobbes mit seinem Versuch, eine konsistente Theorie des Menschen in der Welt zu entwickeln, die gegenwärtig ohne Gottes aktives Handeln auskommen muß, provozierte, ist unbestritten. Wer aber wegen dieser Konstruktion Hobbes des Atheismus zeiht, muß sich die Gegenfrage gefallen lassen, mit der Hobbes seinen Erzfeind John Wallis verspottete: „Do you think I can be an Atheist and not know it?" 55
53
Zit. nach Reventlow, Authority (wie Anm. 9), 211. Hobbes, Leviathan (wie Anm. 1), Kap. 40, 316ff. 55 Thomas Hobbes, Six Lessons, in: The English Works of Thomas Hobbes of Malmesbury. Ed. by William Molesworth. 11 Vols. London 1839-1845, Ndr. Aalen 1961-1963, Vol. 7, 350. 54
Abkürzungen = Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen = Acta Conciliorum Oecumenicorum ACO = Annuarium Historiae Conciliorum AHC AHP = Archivium Historiae Pontificae = Archiv für Kulturgeschichte AKG Annales (HSS) = Annales: Histoire, Sciences sociales ANRW = Aufstieg und Niedergang der Römischen Welt CCSL = Corpus Christianorum. Series Latina = Classical Philology CP CSEL = Corpus scriptorum ecclesiasticorum Latinorum = Der Neue Pauly DNP DOP = Dumberton Oaks Papers ER = Encyclopedia of Religion FAB = Frankfurter althistorische Beiträge = Die griechischen christlichen Schriftsteller der ersten JahrGCS hunderte GRBS = Greek, Roman, and Byzantine Studies HJb = Historisches Jahrbuch = Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe HrwG HZ = Historische Zeitschrift = Jahrbuch für Antike und Christentum JbAC JJS = Journal of Jewish Studies JRS = Journal of Roman Studies JTS = The Journal of Theological Studies LP = Liber Pontificalis = Mediaeval Studies Med. Stud. MGHAA = Monumenta Germaniae Histórica. Auctores Antiquissimi MGH Capit. = Monumanta Germaniae Histórica. Capitularía regum Francorum MGH Epp. = Monumenta Germaniae Histórica. Epistolae MGH QQ zur = Monumenta Germaniae Histórica. Quellen zur GeistesGeistesgesch. geschichte MGH SS = Monumenta Germaniae Histórica. Scriptores MIÖG = Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung ODNB = Oxford Dictionary of National Biography PAAJR = Proceedings of the American Academy for Jewish Research P&P = Past & Present AAWG
386
Abkürzungen
PG PL PO PLRE QuFiAB
= = = = =
RAC RB RE
= = =
ReAug RGA RGG RhM RömHM RSPhTh SBAW
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StudPatr ThWNT TRE VigChrist VuF YC1S ZAC ZHF ZKiG ZRG KA
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Patrologia Graecae Patrologia Latinae Patrologia Orientalis Prosopography of the Later Roman Empire Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken Reallexikon für Antike und Christentum Revue Biblique Paulys Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaft Revue des etudes augustiniennes Reallexikon der germanischen Altertumskunde Religion in Geschichte und Gegenwart Rheinisches Museum Römische Historische Mitteilungen Revue des sciences philosophiques et theologiques Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften Studia Patristica Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament Theologische Realenzyklopädie Vigiliae Christianae Vorträge und Forschungen Yale Classical Studies Zeitschrift für Antikes Christentum Zeitschrift für historische Forschung Zeitschrift für Kirchengeschichte Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abteilung
Antike Autoren werden abgekürzt nach: Der neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Hrsg. v. Hubert Cancik u. Helmuth Schneider. Stuttgart/Weimar 1996-2003, Bd. 1, XXXIX-XLVII.
Register 1. Bibelstellen 1 2 4 9 10 14 26 ff. 32
342 264 257 257 17, 282 59 23 23
9 15 18 20 21 22 23 32 34
109 108 f. 179 24 257 347 43 303 43, 162
Lev
18 21 21
161 54 59
Num
10 23 25 31 33 36
43 23 23,41 54, 59 43 162
4 5 7 11-18 12 17 20
303 24 43, 162,180 379 43 57, 302, 308 43
Gen
Ex
Dtn
Jos
6
43
Ri
2 3 6 7 9
43 43, 290 43 43 64
1 Sam
8 13
17,64,305, 307345, 361, 383 43
2 Sam
5 6 7 8 12 15 16 18 20 24
46 302 47 363 363 43 124 43 43 124
1 Kön
5 11 16 21
54 162, 180 163 22
2 Kön
3 9 10 11 14 21 24-25
1 Chr
22 28
54 54
2 Chr
26
297, 302
363 43, 297 43, 297 43 297 297 32
* Die Apokryphen und Pseudepigraphen (z.B. die Makkabäerbücher) wurden in den untersuchten Zusammenhängen nicht als Autorisierungsinstanzen gebraucht, sondern geben selbst hervorragende Beispiele für Bibelrezeption (s. den Beitrag über die Hasmonäer); sie wurden daher in den Indices nicht berücksichtigt.
388
Register
Esr
9 10
163 163
Am
Ne
13
163
Mi
Hio
41
383
Mai
2 3
Ps
2 7 21 50 63 82 101 118
Mt
3 4 6 10 16
21,342 108 64 120,124 336, 340 f. 347, 360f., 366 302 124
Spr
30
303
Pre
12
360
Jes
8 19 49
29 52 312
Jer
1 4 26 36 51
303 43 9, 28, 297 30 f. 31,33
2 3 1-3
2-3 24 33
33 f. 34 34
Hes
34
303
Dan
1 2 3 6 8 9 11
49 49 49, 301 49, 301 249 114 49, 249
Hos
1 8 9 11 12 13
25 24 23 22 f. 23 24
26-28 303 250
22 23 24 25 27 28
266 253 345 303 11, 190-193,197202, 204, 207 f., 210214, 216f., 223-230, 232-234, 236-238, 240, 262, 300, 303 191, 193, 199, 204, 223-230, 232-234, 236-238, 300, 303 312, 360 158 303 377 342 303
Mk
12
360
Lk
4 6 9 19 22
253 360 363 377 232, 236
Joh
1 10 12 14 18 20 21
232 262 345 345 256 191,226, 303 207, 232, 236
Apg
2 8 11 15
108 230 230 230, 239, 303
Rom
5 13
256 17, 256,260, 305, 360
18
Ez
25 25
389
Personenregister 2 5 9 10 14 15
1 Kor
2 Kor
4 10 14-15
303 303 303 223 303 256 253, 256 303 171
Gal
2
230
Eph
1 4
302 229, 303
Kol
2
303
2 Thess
2
91,114,249,255,259
1 Tim
1 2
164 88
5
303
2 Tim
1 2 3 4
303 303 303 303
Tit
2
303
1 Petr
2 5
257, 260, 303 303
Offb
2 3 11 16 17 18 19 21 22
325 325 323 319 318 f., 323, 227 253 324 108 303
2. Biblische Personen Aaron 312 f. Abraham 43,282 Absalom 124 Adam 169,256,382 Ahab 22,111,163,297 Amos 22 Antichrist 111, 113f„ 115f„ 118, 253255,315-317, 326-328, 330 Asaija 297
Gad 124, 128,130 Gideon 44
Barrabas 112 Baruch 30,35 Bathseba 119,122,131,181 Belsazar 111,362
Jakob 23 f. Jeremía 26-35, 297 f., 344 Jesaja 22 Jethro 179 Jojachin 31 Jojakim 30, 35 Jonathan 44 Joseph 43 Josua 43 Judas Iskariot 111, 115 f.
Daniel Darius David 130, 288,
43,49,301 111 42-44, 46f„ 51, 115, 119-128, 132,143, 154-157,162,164, 181, 291, 302,312f.,343
Elia 22,43 Esaù 23 Esra 163, 165 Ezechiel 25, 33 f., 35, 298, 344
Herodes 111, 115f. Herodias 111 Hiskia 28 Hosea 22-26,31,35 Isebel 22,111,162,297
Kain 111 Kajaphas 111 Kaleb 43 Kosbi 41
390
Register
Manasse 297 Melchisedek 59 Micha 22, 25-29, 31 f. Miijam 109 Moses 57,63,82,100,108-110,112,114, 117f. 157, 179, 312f., 379, 382f. Nabot 22 Nathan 22, 121, 128, 130 Nebukadnezzar 301, 344 Nehemia 165 Nimrod 286,383 Paulus 214,248,255,289 Petrus 189 f., 194-200, 205, 208, 210212,214, 230, 236,248, 300 Pharao 100, 108, 111 f., 115 f., 286 Pilatus 111, 115 f.
Pinhas 41 f., 43, 59 Ruth
162,164
Salomo 46, 51, 162-165, 170,172, 180, 313 Samuel 22, 301, 308f„ 345, 361, 383 Samson 44 Sanherib 27 f., 44 Saul 42, 111, 288, 291, 301 f., 307, 313, 362 Simei 124, 127 Simon Magus 194 Simri 41 Uria 29, 131,181 Usia 297
Die Autoren Ronald G. Asch, geb. 1953, studierte in Kiel, Tübingen und Cambridge und wurde 1982 in Tübingen mit einer Arbeit über die Grafen von Fürstenberg promoviert. Nach einer Ausbildung zum Archivar und einem Forschungsaufenthalt am Deutschen Historischen Institut London wurde er 1991/92 in Münster mit einer Arbeit über den Hof des englischen Königs Karl I. habilitiert. Er wurde 1996 nach Osnabrück berufen und nahm 2003 einen Ruf nach Freiburg im Breisgau auf den Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit an. Steffen Diefenbach, geb. 1968, studierte von 1989-1998 Geschichte und Latein in Bochum, Oxford und Freiburg im Breisgau und wurde in Münster 2004 promoviert. 2002/03 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Seminar der Universität Erfurt, seit 2003 ist er wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Alte Geschichte der Universität Augsburg. Bernd Isele, geb. 1976, studierte Geschichte, Germanistik und Kunstgeschichte, zunächst in Konstanz, später in Münster. Seit März 2003 war er Mitarbeiter im Münsteraner SFB 493, ab 2004 war er Teil des DFG-geförderten Nachfolgeprojektes „Kampf um Kultstätten. Sakraler Ort und religiöser Konflikt in der Spätantike". Seine im Frühjahr 2006 abgeschlossene Dissertation über das Wechselverhältnis zwischen religiösem Konflikt und christlicher Topographie im 4. Jh. n. Chr. wird unter dem Titel „Kampf um Kirchen" in der Reihe der Ergänzungsbände zum Jahrbuch für Antike und Christentum erscheinen. Hartmut Leppin, geb. 1963, studierte Geschichte, Latein und Griechisch in Marburg, Heidelberg, Pavia und Rom. In Marburg wurde er 1990 mit einer Untersuchung über den Status von Bühnenkünstlern im Römischen Reich promoviert und habilitierte sich 1995 an der FU Berlin mit einer Arbeit über das frühchristliche Kaisertum. Er vertrat den Lehrstuhl für Alte Geschichte in Greifswald, war Feodor-Lynen Stipendiat in Nottingham und Heisenberg-Stipendiat in Göttingen und bekleidet seit 2001 eine Professor für Alte Geschichte in Frankfurt am Main. Mischa Meier, geb. 1971, studierte Klassische Philologie, Geschichte und Pädagogik in Bochum und wurde dort 1998 mit einer Arbeit über das frühe Sparta promoviert. Von 1999-2004 war er wissenschaftlicher Assistent an der Universität Bielefeld, wo er sich 2002 mit einer Untersuchung zum Thema „Das andere Zeitalter Justinians. Kontingenzerfahrung und Kontingenzbewältigung im 6. Jahrhundert n. Chr." habilitierte. Seit 2004 ist er Professor für Alte Geschichte an der Universität Tübingen.
392
Die Autoren
Hans-Dieter Metzger, geb. 1952, studierte nach dualer Ausbildung und zweitem Bildungsweg Fotoingenieurwesen (Dipl.Ing. FH), Graphisches Gewerbe für das Lehramt für berufliche Schulen (Staatsexamen) sowie Neuere und Neueste Geschichte (M.A.) an der TU Darmstadt, wo er 1991 mit einer Studie über „Thomas Hobbes und die englische Revolution" promoviert wurde und sich 1997 auch habilitierte. Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter, Assistent und Privatdozent an der Technischen Universität Darmstadt und Dozent für Britische Studien an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Seit 2003 arbeitet er im Schulreferat der Stadt Nürnberg, zuständig für Grundsatzfragen und Schulentwicklung. Andreas Pecar, geb. 1972, studierte von 1992-1997 Geschichte und Germanistik in Freiburg im Breisgau und Köln, wo er im Jahr 2002 mit einer Arbeit über den höfischen Adel am Kaiserhof Karls VI. promoviert wurde. Von 1999-2001 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Seminar der Universität zu Köln und ist seit 2001 wissenschaftlicher Assistent am Historischen Institut der Universität Rostock. 2005/06 war er Feodor-Lynen Stipendiat der Alexander von Humboldt Stiftung an der Queen Mary University of London. Andreas Pietsch, geb. 1972, studierte Katholische Theologie, Germanistik und Geschichte in Tübingen, Leiden und Münster. Er war Stipendiat der Bischöflichen Studienförderung Cusanuswerk sowie wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG-Projekt „Römische Inquisition und Indexkongregation in der Neuzeit" (Prof. Dr. Hubert Wolf) und im Leibniz-Projekt „Vormoderne Verfahren" (Prof. Dr. Barbara Stollberg-Rilinger). Seine Dissertation zur politischen Theologie des Isaac de La Peyrere steht vor dem Abschluß. Walter Pohl, geb. 1953, ist Professor für mittelalterliche Geschichte und historische Hilfswissenschaften an der Universität Wien sowie Direktor des Instituts für Mittelalterforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und wirkliches Mitglied dieser Akademie. Er wurde 2004 als erster Historiker mit dem Wittgenstein-Preis ausgezeichnet. Er hat als Gastprofessor bereits in Los Angeles (UCLA), Leiden (Rijksuniversiteit), Budapest (CEU) und Ischevsk (Rußland) gelehrt. Thomas Prügl, geb. 1963, studierte Katholische Theologie in München und Rom. 1993 erfolgte die Promotion in Katholischer Theologie an der Universität München. Von 1994-2000 war er wissenschaftlicher Assistent am Grabmann-Institut der Universität München. Seit 2001 ist er zunächst Assistant Professor, seit 2004 dann Tisch Family Associate Professor für Historische
Die Autoren
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Theologie sowie Mitglied des Medieval Institute an der University of Notre Dame (Indiana). Nicole Reinhardt, geb. 1966, wurde 1997 am Europäischen Hochschulinstitut mit einer Arbeit zu Klientel und Mikropolitik in Bologna unter Papst Paul V. promoviert. Von 1999-2001 war sie wissenschaftliche Assistentin für Europäische Geistesgeschichte an der Universität Rostock und von 2001-2005 DAAD-Fachlektorin an der Maison des sciences de l'homme (Paris). Seit 2005 ist sie Dozentin für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Université Lumière Lyon 2. Marcus Sandl, geb. 1967, studierte von 1989-1994 Geschichte, Politikwissenschaft und Philosophie in Regensburg und Gießen und war 1994-1997 Stipendiat des Gießener Graduiertenkollegs „Staat und Staatlichkeit in der neueren Geschichte". 1997 wurde er mit einer Arbeit zur Wissenschaftsgeschichte des 18. Jahrhunderts promoviert. 1997-2000 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter des Gießener SFB „Erinnerungskulturen", seit 2000 ist er am Lehrstuhl für Neuere Geschichte der Universität Konstanz zunächst als wissenschaftlicher Mitarbeiter, seit 2004 dann als wissenschaftlicher Assistent tätig. Markus Saur, geb. 1974, studierte Evangelische Theologie von 1993-1999 in Erlangen, Montpellier, Kiel und Heidelberg, war 2000-2002 Stipendiat der DFG im Graduiertenkolleg „Religion und Normativität" an der Universität Heidelberg und wurde 2003 in Erlangen mit einer Arbeit über die alttestamentlichen Königspsalmen promoviert. Von 2002-2007 war er wissenschaftlicher Assistent für Altes Testament an der Universität Basel. Seit Juli 2007 ist er Akademischer Rat für Althebräisch und Altes Testament an der Universität Erlangen-Nürnberg. Lothar Schilling, geb. 1960, war 1990-1994 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität zu Köln und wurde dort 1993 mit einer Arbeit über die mächtepolitische Konzeption Wenzel Antons von Kaunitz promoviert. 19951999 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt am Main, wo er insbesondere am Policeyordnungsprojekt mitarbeitete. 2000/01 war er Forschungsstipendiat an der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel, 2002-2004 Referendar an einem Gymnasium in Frankfurt am Main. Er habilitierte sich 2003 in Köln mit einer Arbeit zum Gesetzgebungsverständnis im Frankreich der Religionskriege. 2004-2006 war er Gastdozent am Deutschen Historischen Institut Paris, seit Februar 2006 ist er Gymnasiallehrer in Frankfurt am Main.
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Die Autoren
Kai Trampedach, geb. 1962, studierte von 1983-1993 Geschichte und Philosophie an den Universitäten Würzburg, Berlin (FU) und Freiburg im Breisgau. 1993 wurde er in Freiburg in Alter Geschichte mit einer Arbeit über „Piaton, die Akademie und die zeitgenössische Politik" promoviert, 2003 erfolgte dann die Habilitation an der Universität Konstanz mit einer Arbeit über die griechische Mantik. Seit 2004 ist er Hochschuldozent in Konstanz. Karl Ubl, geb. 1973, studierte Geschichte und Philosophie in Wien und wurde 1999 in Heidelberg mit einer Untersuchung über Engelbert von Admont promoviert. Er ist Mitglied des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung und seit 2001 wissenschaftlicher Assistent an der Universität Tübingen.