Die Begründung der Wissenschaft aus reiner Vernunft: Descartes, Spinoza und Kant 9783495997307, 349547918X, 9783495479186


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Vorwort
Einleitung
Erster Abschnitt Descartes’ Ansatz zu einer methodischen Neubegründung der Wissenschaften
1. Die Idee einer >Mathesis universalisSapientia Universalis< als >MathesisRegulae ad directionem ingenii< zum >Discours de la methodecogito< zur >res cogitansres extensa
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Die Begründung der Wissenschaft aus reiner Vernunft: Descartes, Spinoza und Kant
 9783495997307, 349547918X, 9783495479186

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Andreas Färber

Die Begründung der Wissenschaft aus reiner Vernunft Descartes, Spinoza und Kant

ALBER PHILOSOPHIE

https://doi.org/10.5771/9783495997307

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ALBER PHILOSOPHIE

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Zu diesem Buch: Daß die Prinzipien wissenschaftlichen Erkennens a priori sein, sie also aus reiner Vernunft entspringen müssen, diese Überzeugung ist für Kant ebenso selbstverständlich wie für die Rationalisten. Wie aber diese Prin­ zipien selbst begründet werden können, darüber bestehen höchst unter­ schiedliche Auffassungen. Descartes und Spinoza beabsichtigen, das ma­ thematische Erkenntnisideal der Evidenz zu universalisieren und in einer Substanzlehre metaphysisch zu fundieren. Kant dagegen liefert nicht nur eine scharfe Kritik der dogmatischen Substanzmetaphysik, sondern setzt sich auch eingehend mit dem rationalistischen Programm einer Mathesis universalis auseinander: Ihm zufolge muß der intuitive (mathematischanschauend verfahrende) Vernunftgebrauch aus der Philosophie gänzlich ausgeschlossen werden, so daß in der philosophischen Prinzipienlehre allein diskursiv verfahren werden kann. Dann aber verbleibt einzig das transzendentalphilosophische Verfahren, um dennoch zu einer apriori­ schen Grundlegung der (Natur-)Wissenschaften zu gelangen. Die Arbeit bietet eine detaillierte Analyse der beiden Begründungs­ versuche. Besonderes Gewicht liegt dabei auf dem Zusammenhang der methodischen Grundlegung mit der jeweiligen Metaphysik: Ohne Rekurs auf die letztere muß das Verständnis der ersteren mangelhaft bleiben. About this book: Kant as well as rationalists were convinced, that it was obvious, that the principles of scientific cognizing were a priori, i. e. they must originate from pure reason. However, how these principles themselves could be justified, was a matter of highly differing opinions. Descartes and Spino­ za intended to universalize the ideal of mathematical cognition of evidence and to metaphysically substantiate it in a substance theory. Kant, however, not only sharply criticized the dogmatical substance metaphysics but also examined in detail the rationalistic program of a Mathesis universalis. According to this the intuitive use of reason - using a mathematically visualizing procedure - has to be totally eliminated from philosophy so that the philosophical theory of principles can only use discursive methods. Then, however, only the transcendental philosophy methods remain to then attain an a priori foundation for the sciences. This work offers a detailed analysis of both attempts at justification. Particular weight is given to the relationship of the methodical foundation to the particular metaphysics: Without reference to the latter, the understanding of the first must remain inadequate. Der Autor: Dr. phil. Andreas Färber, geb. 1966, ist wissenschaftlicher Angestellter an der Albert-Ludwigs- Universität Freiburg. Lehraufträge an der Univer­ sität Freiburg und der Pädagogischen Hochschule Freiburg.

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Andreas Färber Die Begründung der Wissenschaft aus reiner Vernunft

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Alber-Re/he Philosophie

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Andreas Färber

Die Begründung der Wissenschaft aus reiner Vernunft Descartes, Spinoza und Kant

Verlag Karl Alber Freiburg/München

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Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein und der Philosophischen Fakultäten der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Färber, Andreas :

Die Begründung der Wissenschaft aus reiner Vernunft: Descartes, Spinoza und Kant / Andreas Färber. - Freiburg (Breisgau); München : Alber, 1999 (Alber-Reihe Philosophie) ISBN 3-495-47918-X Texterfassung: Autor -D25Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Alle Rechte Vorbehalten - Printed in Germany © Verlag Karl Alber GmbH Freiburg/München 1999 Einbandgestaltung: Eberle & Kaiser, Freiburg Einband gesetzt in der Rotis SemiSerif von Otl Aicher Satzherstellung: SatzWeise, Föhren Inhalt gesetzt in der Aldus und Gill Sans Druck und Bindung: Difo-Druck, Bamberg 1999 ISBN 3-495-47918-X

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Inhalt

Vorwort

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Einleitung.....................................................................................

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Erster Abschnitt Descartes’ Ansatz zu einer methodischen Neubegründung der Wissenschaften............................... 1. Die Idee einer >Mathesis universalisSapientia Universalis< als >MathesisRegulae ad directionem ingenii< zum >Discours de la methodecogito< zur >res cogitansres extensa< ............................................................... b) Descartes' Lösung des Vermittlungsproblems................ c) Der Beweis von der Existenz materieller Dinge............ 4. Die Modifikation der methodischen Grundlagen der cartesischen Philosophie durch die Substanzenlehre ................... a) Konsequenzen für die Methode der Physik................... b) Die Bedeutung der Vorurteilslehre und das Verhältnis von Zweifel und Mathesis ...............................................

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Dritter Abschnitt Substanz und Methode bei Spinoza

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1. Die Umbildung des cartesischen Substanzbegriffes zur Einen Substanz ..................................................................... a) Die Festlegung des Substanzbegriffs auf die >causa sui< und das Problem der Besonderung der Substanz .... b) Die Aufhebung des cartesischen Dualismus in die All­ substanz ........................................................................... 8

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Inhalt

2. Die geometrisch-synthetische Methode als Nachvollzug der Ordnung der Substanz ........................................................ a) Anknüpfungspunkte für Spinoza bei Descartes............ b) Die Notwendigkeit eines Anfangs mit Gott................... c) Das Scheitern von Spinozas Begründungsversuch ....

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Vierter Abschnitt Kants Kritik der rationalistischen Konzeption: Transzendentale versus mathematische Synthesis ....

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1. Die Kritik des mathematischen Erkenntnisideals................ a) Die Aufgabe einer Grenzbestimmung von Mathematik und Philosophie als Konsequenz der Frage nach der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori...................... b) Das Apriori der Anschauung als oberste Bedingung der Möglichkeit mathematischer Synthesis......................... c) Die mathematische Synthesis als Erkenntnis aus der Konstruktion der Begriffe ............................................... d) Von der Unmöglichkeit einer more geometrico verfah­ renden Metaphysik: Grenzen des mathematischen Erkennens ...........................................................................

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2. Die transzendentale Synthesis aus bloßen Begriffen .... a) Der Begriff des >Dinges überhaupt als Grundlage einer transzendentalen Synthesis ............................................ b) Die transzendentale Deduktion der reinen Verstandes­ begriffe .............................................................................. c) Resultat: Die Restriktion des Verstandesgebrauchs auf mögliche Erfahrung......................................................... d) Zur Bedeutung der transzendentalphilosophischen Un­ tersuchung für die Mathematik ......................................

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3. Konsequenzen der transzendentalphilosophischen Begrün­ dung für die Substanzenlehre ............................................... a) Cogito, res cogitans und Ich denke: Kants Entsubstantia lisierung des Subjekts..................................................... b) Die Kritik der Gottesbeweise ............................................ c) Zur systematischen Funktion der Vernunftideen als re­ gulativer Prinzipien ........................................................

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Inhalt

Fünfter Abschnitt Kants Grundlegung der modernen Naturwissenschaft . 1. Das Zusammenwirken von Mathematik und Metaphysik hei der Begründung von Naturerkenntnis............................ a) Die Unterscheidung von transzendentalen und >heson deren Metaphysik der Natur............................................ h) Zum Prohlem des Apriori einer hesonderen Metaphysik der körperlichen Natur..................................................... c) Von der Notwendigkeit mathematischer Naturerkennt­ nis: Die reine Physik als Größenlehre............................ 2. Zum Verhältnis von mathematischen und metaphysischen Prinzipien in der reinen Physik............................................ a) Die hesondere Metaphysik der körperlichen Natur als Lehre von den Prinzipien der Konstruktion physika­ lischer Begriffe.................................................................. h) Zum Begründungsprimat der Metaphysik...................... Schlußbetrachtung: Konsequenzen der transzendentalphiloso­ phischen Begründung.........................................................................

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a) Die exakte Wissenschaft als Wissen von Erscheinungen. h) Zur Begründungsfunktion der Philosophie................... c) Ahschluß und Aushlick: Zum Verhältnis von Suhstanz und Suhjekt........................................................................

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Literatur..................................................................................................

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Vorwort

Daß diese Arbeit überhaupt entstehen konnte, erscheint mir rück­ blickend alles andere als selbstverständlich. Um so mehr habe ich denjenigen zu danken, die an ihrer Entstehung Anteil hatten. Das sind zunächst die Eltern, deren Anstrengungen den hinter mir lie­ genden Weg erst ermöglichten, und Fiona, die nicht immer meine ungeteilte Aufmerksamkeit beanspruchen konnte. Mein Dank gilt auch den Professoren Rang und Angehrn dafür, daß sie die Mühe der (Oster-) Lektüre auf sich nahmen, außerdem für ihr Interesse und das mir entgegengebrachte Vertrauen: sie haben mir immer das Gefühl vermittelt, daß ich die Sache zu einem guten Ende bringen würde. Herrn Rang danke ich insbesondere für die Unterstützung, die ich am Freiburger Husserl-Archiv erfahren habe. Sie und ein von der Universität Freiburg gewährtes Stipendium im Rahmen der Landesgraduiertenförderung haben die Fertigstellung dieser Arbeit sehr erleichtert, wenn nicht erst ermöglicht. Der Druck schließlich wurde großzügig durch die Geschwister Boehringer Ingelheim Stif­ tung und durch Spendengelder der Philosophischen Fakultät der Uni­ versität Freiburg gefördert. Zwei Personen verdienen besondere Erwähnung, da sie meine Ar­ beitsweise und somit das vorliegende Buch entscheidend mitgeprägt haben. Zum einen ist dies Stefan Krauss, in dem ich so etwas wie einen verwandten Geist getroffen habe; ohne die intensive Zusam­ menarbeit mit ihm - eine Konkurrenz im positivsten Sinne - wäre ich nicht hier angelangt, und nur durch sie war es mir möglich, mich an Texten abzuarbeiten, vor denen ich wohl sonst in angenehmere Beschäftigungen geflüchtet wäre. Ihn trifft also eine Teilschuld am Folgenden. Die zweite hervorzuhebende Person ist Jann Holl. Er allein mo­ tivierte meinen Wechsel zum Fach Philosophie, indem er demon­ strierte, was ernsthafte geistige Arbeit bedeuten kann. Philosophie ^

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Vorwort

galt ihm als Anleitung zum Selhstdenken, und er kam dieser Aufgabe mit ungeheurem Engagement nach. Bei ihm studiert zu haben, gehört zu meinen eindrücklichsten Erfahrungen. Jann Holl starb am 10. Februar 1995. Ihm ist diese Arbeit gewid­ met.

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Einleitung

Die Frage, was Wissenschaft sei, wird man zumeist mit dem Hinweis auf die Sicherheit einer wissenschaftlichen Erkenntnis beantwortet finden. Dieser wird ein höherer Erkenntniswert eingeräumt, als man ihn einer Alltagserfahrung zuzugestehen bereit ist. Wissen­ schaft gilt als objektiv, und sie blickt mit Stolz auf die subjektiven Grundlagen gewöhnlicher Ansichten herab. Was jedoch die Wissen­ schaftlichkeit einer Aussage begründe, ist nicht ohne weiteres anzu­ geben. Am ehesten noch verfügen die >exakten< Naturwissenschaften in der Meß- und Mathematisierbarkeit über ein taugliches Kriteri­ um, doch wird auch der Naturwissenschaftler, auf den Allgemein­ heitsanspruch seiner Sätze angesprochen, leicht (allzu leicht?) ein­ räumen, alle seine Ergebnisse seien nur vorbehaltlich einer späteren Falsifikation formuliert. Man lebt in der Überzeugung einer gesetz­ mäßigen Ordnung zumindest der Natur, ohne jedoch diese Annahme als objektiv gültig rechtfertigen zu können. Längst ist es ein Gemein­ platz geworden, daß der - zuletzt vielleicht von Husserl aufrecht­ erhaltene - Anspruch auf absolute Sicherheit wissenschaftlicher Er­ kenntnisse vermessen und nicht einlösbar ist. Auf den folgenden Seiten nun kommen zwei der philosophie­ historisch bedeutsamsten Entwürfe zur Darstellung, denen es vor­ nehmlich um eben jene Sicherheit des Erkennens zu tun ist. Deren erster wird vertreten durch die Systeme von Descartes und Spinoza. Er wird der Einfachheit halber im folgenden auch als >rationalistisch< gekennzeichnet, womit aber nicht suggeriert werden soll, daß diese beiden Denker den Rationalismus schlechthin repräsentieren. Im Ge­ genteil bleibt die Leibnizsche Philosophie hier gerade deswegen außer Betracht, weil sie ihrerseits ein zu reichhaltiges Begründungs­ modell vorlegt, um gewissermaßen nebenbei erledigt zu werden. Den zweiten, alternativen Entwurf bildet die Transzendentalphilosophie Kants. All diesen Systemen ist gemein, daß sie in ihrer Gesamtheit auf die Begründung von Wissenschaft ausgehen, daß diese Absicht ^

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Einleitung

sie durchdringt und gewissermaßen in jeder Zeile durchscheint. Sie tun dies jedoch in sehr verschiedener Weise. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, diese Differenzen genauer zu bestimmen. Dabei ist allerdings nicht beabsichtigt, einen simplen Vergleich anzustellen der Art, daß zunächst die verschiedenen Positionen voll­ kommen unabhängig voneinander zur Darstellung kommen und erst hernach zugesehen wird, wo sich etwa Übereinstimmungen und wo sich Unterschiede zeigen mögen. Die langweilige Übung eines bloßen Gegenüberstellens vermag kaum mehr zu enthüllen, als daß der eine eben dies, der andere aber etwas anderes sagt. Es sind daher zuerst die Problemstellungen anzugeben, durch die der Zusammenhang der folgenden fünf Abschnitte gewährleistet ist. Ein erstes Kennzeichen des hier als nationalistisch charakterisierten Begründungsversuchs besteht in der Orientierung an der Erkennt­ nisweise jener Wissenschaft, die sich zur damaligen Zeit gerade anschickt, die Regentschaft in den Naturwissenschaften zu überneh­ men: der Mathematik. Die Neubegründung des gesamten mensch­ lichen Wissens, die Descartes zu seiner Lebensaufgabe machte und die ihn zu einem der Anfangspunkte modernen Denkens bestimmt, nimmt ihren Ausgang von der Überlegung, daß alle Wissenschaft gemäß mathematischen Erkenntniskriterien zu verfahren habe. Auf anderem Wege, so seine feste Überzeugung, ist keine Sicherheit der Urteile zu erreichen. Die Konsequenz hiervon bildet das Erkenntnis­ ideal der Evidenz mit den Kriterien der Klarheit und Deutlichkeit. Diese sind von universeller Geltung, so daß die mathematischen Prinzipien der cartesischen Physik nur einen - wenn auch besonders bedeutsamen - Anwendungsfall darstellen. Sie gelten daher ebenso für die Metaphysik und damit für diejenige Wissenschaft, die die Prinzipien des Erkennens festsetzen und also die Begründung des Wissens selbst leisten soll. Spinoza behält diese Orientierung an ma­ thematischen Prinzipien nicht nur bei, sondern faßt sie noch radika­ ler, indem er sich die geometrische Darstellungsweise Euklids zum Vorbild nimmt. Demgegenüber zeichnet sich Kants transzendentalphilosophi­ sche Begründung dadurch aus, daß er den Bestrebungen zur Universalisierung der mathematischen Erkenntnisweise mit aller Entschie­ denheit entgegentritt. Scharf grenzt Kant den intuitiven vom diskursiven Vernunftgebrauch ab: dieser vollzieht sich rein aus Be­ griffen, wohingegen jener über den Begriff hinaus noch einer reinen 14

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Einleitung

Anschauung bedarf, um zu apriorischen Verknüpfungen zu gelan­ gen. Daraus ergibt sich eine klare Bereichszuweisung; auch wenn die Mathematik zu synthetischen Urteilen a priori in der Lage ist, so hat sie doch in der Metaphysik keinen Platz. Dagegen wird die Über­ tragung der mathematischen Erkenntnisweise auf Naturdinge von Kant ausdrücklich gerechtfertigt. Auch sie bedarf jedoch einer meta­ physischen und also rein diskursiven Begründung. Die Abgrenzung der philosophischen Erkenntnis aus Begriffen gegenüber der mathe­ matischen Erkenntnis aus der Konstruktion der Begriffe ist daher gerade im Hinblick auf Kants Begründung der Naturwissenschaften von Bedeutung. Diese Abgrenzung bildet weit mehr als nur einen Nebenschauplatz der Vernunftkritik. Sie ist vordringlich und unum­ gänglich, da Philosophie und Mathematik die einzigen Weisen dar­ stellen, zu synthetischen Urteilen a priori zu gelangen, und daher im Hinblick auf die Begründung notwendiger Erkenntnis in direkter Konkurrenz zueinander stehen. Kant also gewinnt seine transzendentalphilosophische Methode in direkter Auseinandersetzung mit dem Methodenideal der Ratio­ nalisten. Es ist diese Perspektive, in der die Kantische Philosophie in der vorliegenden Arbeit zur Darstellung kommt. In ihr erweist sich, daß die Transzendentalphilosophie für Kant die einzig verbleibende Alternative darstellt, trotz der Verbannung der mathematischen Er­ kenntnisprinzipien aus der Metaphysik zu einer apriorischen und daher schlechthin notwendigen Begründung von Wissenschaft zu ge­ langen. Der zweite Grundzug in den Begründungsmodellen von Descartes und Spinoza ist dieser: daß die Möglichkeit sicherer Wissenschaft in einer Substanzontologie verankert wird. Festen Halt vermag das Er­ kennen nur zu gewinnen, wenn es in einer übergeordneten, letztlich göttlichen Substanz ein Fundament erhält. Es wird sich zeigen, daß die rationalistische Begründung ohne die Substanz nicht auskommt. Das bloße Vertrauen in die Sicherheit mathematischer Erkenntnis genügt nicht - Gewißheit verschafft erst die Substanzmetaphysik. Diese leistet zweierlei: Zum einen sichert sie das Wahrheitskriterium der Evidenz ab, indem sie beweist, daß klare und deutliche Ideen not­ wendig wahr sind; zweitens begründet sie die Objektivität der Denk­ bestimmungen in dem Sinne, daß erst durch sie dem Denken eine Wesenserkenntnis der körperlichen Welt zugestanden bzw., so die radikale Fassung Spinozas, die Ordnung der Natur für mit der Ord^

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nung des Denkens unmittelbar übereinstimmend erklärt werden kann. Mathematisches Erkenntnisideal und Substanzdenken gehören im Rationalismus untrennbar zusammen. Dem damit angedeuteten Zusammenhang von methodischer Neubegründung und Substanzontologie, von Methode und Sub­ stanz, wird in der folgenden Untersuchung besondere Aufmerksam­ keit zuteil. Bei Descartes läßt er sich enwicklungsgeschichtlich ver­ folgen: Dieser geht aus vom Gedanken einer Neubegründung des menschlichen Wissens gemäß mathematischer Erkenntnisprinzipien, schickt sich dann jedoch an, die Voraussetzungen dieses Projekts ab­ zusichern. Eben hierzu dient die Metaphysik, an deren Anfang der berühmte Zweifelsgang steht. Dieser läßt sich nun einerseits als An­ wendungsfall der allgemeinen, bereits ausgearbeiteten methodischen Prinzipien auffassen, da er auf eine erste Evidenz hin ausgerichtet ist, führt jedoch andererseits - und genau das ist die Absicht Descartes' zum Zweifel an der Evidenzwahrheit selbst. Die eigentümliche Ver­ schränkung von Methode und Substanz, die sich durchaus als ein Problem erweisen wird, erfolgt also im metaphysischen Zweifel der Meditationen. Aus ihm aber wird die Methode in modifizierter, ge­ genüber Descartes' ursprünglichen Überzeugungen in einigen Punk­ ten veränderter Gestalt hervorgehen. In der Philosophie Spinozas zeigt sich dieser Zusammenhang in noch größerer Deutlichkeit. Es ist seine Radikalisierung des cartesischen Substanzbegriffes, die die Orientierung an der Euklidischen Geometrie nach sich zieht. Die Eine Substanz und der mos geometricus bedingen einander. So wenig man daher die Substanzkonzeptio­ nen der Rationalisten angemessen interpretieren kann, ohne deren methodische Prinzipien zu berücksichtigen, so wenig können letztere begriffen werden, ohne daß man auf die Substanzenlehre rekurriert. Kant nun unterzieht die rationalistische Metaphysik einer scharfen Kritik. Insbesondere die in den Systemen der Rationalisten unverzichtbaren Gottesbeweise stellen ihm zufolge ein Ding der Un­ möglichkeit dar. Gott entzieht sich dem Zugriff der theoretischen Vernunft. Die Aufgabe ist damit erschwert: Die transzendental­ philosophische Begründung muß nicht nur ohne Mathematik, sie muß auch ohne Rekurs auf einen ontologisch übergeordneten Garan­ ten für die Richtigkeit der Erkenntnisprinzipien auskommen. Die Substanz also verschwindet aus der Begründung. An ihre Stelle tritt das transzendentale Subjekt: Die Notwendigkeit und Allgemeinheit in Urteilen, die Übereinstimmung von Natur- und Verstandesgeset16

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Einleitung

zen, die Möglichkeit einer Metaphysik als Wissenschaft - all dies hat hei Kant seinen Grund letztlich in der synthetischen Leistung des Erkenntnisvermögens, die ihren Ausgang nimmt von der ursprüngli­ chen Einheit der Apperzeption. Die Suhjektivität wird damit zum eigentlichen Zentrum der Begründung. Diese Ersetzung der Suhstanz durch das Suhjekt erweist sich als hesonders interessant, wenn man ein weiteres Begründungsmodell in den Blick nimmt, das auf Kant folgt: die Philosophie Hegels. Hegel nämlich erheht die Verhindung von Methode und Suhstanz geradezu zum Programm: für ihn ist >Methode< das Ergehnis nicht einer äu­ ßerlichen Zurichtung, sondern einer Selhsthewegung der Suhstanz. Dies aher versucht er dadurch zu erreichen, daß er die Suhstanz selhst zum Suhjekt erheht, daß er also, vereinfacht gesagt, die spinozistische Suhstanz mit Kants transzendentaler Suhjektivität vermittelt. Am Ende meiner Arheit, die sich nicht zuletzt dem Interesse ver­ dankt, eine Basis für die Interpretation der Hegelschen Dialektik zu gewinnen, wird ein Aushlick auf diesen Versuch stehen. Die Kantische Transzendentalphilosophie kommt also im folgenden als ein Versuch zur Darstellung, zu einer Begründung wissenschaft­ lichen Erkennens zu gelangen, ohne sich dahei der Stützen der ratio­ nalistischen Begründung, der Mathematik und der Suhstanzontologie, zu hedienen. Dahei erhält sie den von Descartes und Spinoza erhohenen Anspruch auf absolute Sicherheit der hegründenden Prinzipien aufrecht: führen diese keine Notwendigkeit und All­ gemeinheit mit sich, dann ist es mit der Möglichkeit von Wissen­ schaft vorhei. Beides aher: daß Kant üherhaupt eine Begründung von Wissenschaft anstreht, und daß er dahei auf eine ahsolute Be­ gründung ahzielt, kann man in der Literatur hestritten finden.1 Neu­ erdings ist versucht worden, dies gerade anhand von Kants Ausein­ andersetzung mit der mathematischen Erkenntnisweise zu helegen. So erachtet es Brigitta-Sophie von Wolff-Metternich als ein in der »Inheschlagnahme der kritischen Philosophie durch den Neukantia­ nismus« wurzelndes »Mißverständnis (...), wenn die Kantische1 1 So glauht heispielsweise Bernhard Thöle, man sei sich »heute weitgehend einig in der Ahlehnung der (angehlich) neukantianischen Auffassung, wonach Kant lediglich heahsichtigt, die Geltung der Kategorien und Grundsätze als Bedingungen einer wissen­ schaftlichen Naturerkenntnis herzuleiten« (Thöle, Kant und das Problem der Gesetz­ mäßigkeit der Natur, Berlin - New York 1991, 21). ^

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Position für Kritiker wie für Apologeten zum Paradigma einer letzt­ begründenden Philosophie geworden ist«.2 Ihr zufolge ist es ins­ besondere die »Grenzziehung zwischen mathematischer und phi­ losophischer Denkweise«, mit der Kant sich »gegen eine Auffassung von Philosophie (wendet), die >letzte< Antworten geben zu können meint«.3 Es läßt sich jedoch zeigen, daß Kant mit seiner Kritik des mathematischen Erkenntnisideals die genau entgegengesetzte Inten­ tion verfolgt: Weit entfernt davon, daß »die Philosophie niemals den für die Mathematik eigentümlichen Grad an Gewißheit erreichen kann«,4 handelt es sich für Kant vielmehr darum, denselben Grad an Gewißheit in der Philosophie zu erreichen, obwohl - und dies ist der springende Punkt - diese Gewißheit nicht von der für die Mathe­ matik eigentümlichen Art sein kann. Ja es wird sich sogar ergeben, daß die Sicherheit der Mathematik selbst sich als trügerisch erwiese, wäre es nicht möglich, eine transzendentale, rein begriffliche Be­ gründung der Möglichkeit einer mathematischen Synthesis zu ge­ ben. Von der Sicherheit der diskursiven Erkenntnis der Philosophie hängt die Sicherheit des gesamten Erkennens ab. Mangelt es der phi­ losophischen Begründung an Notwendigkeit, so ist nirgendwo auf eine solche zu hoffen. Als Konsequenz der transzendentalphilosophi­ schen Begründung wird sich zwar eine Beschränkung des Bereichs, nicht aber der Strenge philosophischer und wissenschaftlicher Er­ kenntnis ergeben. Die Fragestellung dieser Arbeit bringt es mit sich, daß die Unter­ suchung nur mit Mühe auf bestimmte Bereiche einzugrenzen war. Wenn es richtig ist, daß die Begründungsproblematik das zentrale Thema der hier analysierten philosophischen Konzeptionen bildet, dann muß zumindest deren theoretischer Teil in seiner Gesamtheit zur Untersuchung herangezogen werden. Die folgende DescartesInterpretation nähert sich daher einer Gesamtdarstellung. Spinozas Philosophie hingegen kommt von vornherein in einer eingrenzenden Perspektive in den Blick: Es wird dargestellt, in welcher Weise Spino­ 2 Wolff-Metternich, Die Überwindung des mathematischen Erkenntnisideals. Kants Grenzbestimmung von Mathematik und Philosophie, Berlin 1995, 3 £.; vgl. 186 ff. Einen Überblick zu den verschiedenen Positionen, die in der neueren Literatur bezüglich der Frage eingenommen werden, ob Kants Philosophie nun den Versuch einer Letzt­ begründung darstellt, verschafft das Schlußkapitel von Wolff-Metternichs Arbeit. 3 Ebd.,3. 4 Ebd., 14; vgl. 106 f. 18

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Einleitung

za die cartesischen Vorgaben in einer bestimmten Richtung kon­ sequent fortführt und sozusagen zu Ende denkt. Zu zeigen ist, wie gerade durch Spinozas radikale Fassung sowohl des Substanzbegriffs als auch der mathematischen Methode die Schwächen des rationali­ stischen Begründungsversuchs deutlich hervortreten. Hinsichtlich der Transzendentalphilosophie Kants wurde die Untersuchung auf die allgemeine Begründung der Gesetzmäßigkeit des Erkennens und die metaphysische Grundlegung einer mathematisch verfahrenden Physik begrenzt. Neben der Kritik der reinen Vernunft gilt daher den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft beson­ deres Interesse. Keineswegs beabsichtigt ist eine Gesamtdarstellung der Kantischen Naturphilosophie. Das in Kants opus postumum dis­ kutierte Problem eines Übergangs von den Metaphysischen An­ fangsgründen zu einer konkreten Physik bleibt demzufolge ebenso ausgeklammert wie die Einführung teleologischer Prinzipien in die Naturbetrachtung, die Kant in der Kritik der Urteilskraft eingehend begründet hat. Was den Forschungsstand anbetrifft, so hat allein schon die For­ schung zu Kants theoretischer Philosophie »eine mittlerweile wegen ihrer Unübersichtlichkeit als geradezu belastend empfundene Menge an literarischen Produktionen als Ergebnis aufzuweisen«.5 Dabei muß erstaunen, wie wenig Aufmerksamkeit der Kritik, die Kant am mathematischen Erkennen geübt hat, in dieser Literatur zuteil wird. Wenn überhaupt, dann wird sie zumeist in Arbeiten zu seiner Be­ gründung der Naturwissenschaft thematisiert, doch beschränken sich auch diese oft auf die Ausführungen in den Metaphysischen An­ fangsgründen der Naturwissenschaft und geben aus der Kritik der 5 So die Einschätzung von Manfred Baum und Rolf Peter Horstmann, Metaphysik und Erfahrungstheorie in Kants theoretischer Philosophie, in: Philos. Rundschau 26 (1979), 62-91. Neben dieser verschaffen folgende Sammelrezensionen einen Überblick: Rudolf Lüthe, Rekonstruktion der Kritik der reinen Vernunft. Neuere Arbeiten zu Kants theo­ retischer Philosophie, in: Philosophischer Literaturanzeiger 32 (1979), 387-399; Georg Mohr, Vergleichende Literaturberichte. Objektivität und Selbstbewußtsein. 1. Teil: Zur neueren Kritik und Rekonstruktion von Kants metaphysischer und transzendentaler Deduktion der Kategorien, in: Philosophischer Literaturanzeiger 38 (1985), 271-287; Rainer Stuhlmann-Laeisz, Neue Monographien zur Argumentationsstruktur von Kants Kritik der reinen Vernunft, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 15 (1990), 39-49. Ein umfassender Forschungsbericht zur Transzendentalen Deduktion findet sich in der Arbeit von Peter Baumanns, Kants Philosophie der Erkenntnis. Durchgehender Kommentar zu den Hauptkapiteln der >Kritik der reinen Vernunfu, Würzburg 1997, 452ff. ^

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Einleitung

reinen Vernunft nur einzelne Sätze wieder.6 Daß sich, wie Henrich einmal eher beiläufig bemerkt, Kants »Methodenbegriff (...) in der Abgrenzung gegen den der Mathematik (bestimmt)«,7 wird entwe­ der übersehen oder gilt als für das Verständnis des Kantischen An­ satzes selbst unerheblich. Erst in der bereits angesprochenen Unter­ suchung Brigitta-Sophie von Wolff-Metternichs wird versucht, ausgehend von Kants Kritik des mathematischen Methodenideals zu einem tieferen Verständnis der Kantischen Transzendendalphilosophie zu gelangen. Wolff-Metternich belegt die erhebliche Bedeu­ tung, die der Grenzziehung zwischen Mathematik und Philosophie bei Kant zukommt, unter anderem entwicklungsgeschichtlich: sie kann zeigen, daß der Übergang von vorkritischer zu kritischer Phi­ losophie direkt mit Kants veränderter Auffassung der Grundlagen der mathematischen Erkenntnisweise gekoppelt ist. Allerdings ab­ strahiert sie vollständig davon, daß die Auseinandersetzung mit der Mathematik zugleich eine Kritik der rationalistischen Begründung darstellt. Es mag dieser unterschiedlichen Perspektive geschuldet sein, daß meine Gesamteinschätzung, trotz einiger Übereinstim­ mung in Detailfragen, ganz und gar anders ausfällt. In einer Arbeit, in der so viel von Methode die Rede sein wird, mag auch eine Bemerkung zu meinem eigenen Verfahren nicht unange­ bracht sein. Ich habe bereits eingangs erwähnt, daß es mir nicht um einen äußerlichen Vergleich zweier unabhängiger Positionen zu tun ist. Beabsichtigt ist vielmehr, aufzuzeigen, daß die hier behandelten Systeme im Hinblick auf eine bestimmte Problemstellung innerlich miteinander verbunden sind. Ebenso war ich bei den Einzelunter­ suchungen darum bemüht, eine äußerliche Einstellung zum Text 6 Wolfgang Bonsiepen, Die Begründung einer Naturphilosophie bei Kant, ScheUing, Fries und Hegel. Mathematische versus spekulative Naturphilosophie, Frankfurt a.M. 1997; Karen Gloy, Die Kantische Theorie der Naturwissenschaft. Eine Strukturanalyse ihrer Möglichkeit, ihres Umfangs und ihrer Grenzen, Berlin - New York 1976; Hansgeorg Hoppe, Kants Theorie der Physik. Eine Untersuchung über das Opus postumum von Kant, Frankfurt a.M. 1969; Vilem Mudroch, Kants Theorie der physikalischen Ge­ setze, Berlin - New York 1987 (Kantstudien, Ergänzungsheft 119); Peter Plaass, Kants Theorie der Naturwissenschaft. Eine Untersuchung zur Vorrede von Kants >Metaphysischen Anfangsgründen der NaturwissenschaftMathesis universalis< Die Philosophie Rene Descartes' ist in ihrer Gesamtheit getragen von der Vorstellung einer prinzipiellen Neuorientierung der Wissen­ schaften, als deren vordringliche Aufgabe er die Erarbeitung einer neuen Methode erachtete. Für einige Jahre lag hier sein vorzügliches Betätigungsfeld, war er ganz mit der Ausarbeitung der Methode be­ schäftigt. Die cartesische Substanzenlehre wurde erst im Anschluß an diese methodische Fundierung entwickelt; sie ist daher allein aus dieser heraus zu verstehen, ja bildet in mancher Hinsicht einen Teil von ihr. Man wird allerdings auch sehen, daß sich im Denken Descartes' eine Entwicklung vollzieht, in der zwar die Metaphysik aus der Methode erwächst, jedoch die Methode nach der ausgebildeten Metaphysik eine veränderte Gestalt erhält. Daß also der Zusammen­ hang von Methode und Substanz nicht nur in einer Richtung besteht, sondern komplizierterer Natur ist, wird im einzelnen dargestellt wer­ den. Nichtsdestoweniger muß die Darstellung der cartesischen Phi­ losophie notwendig mit den methodischen Überlegungen beginnen. a) Die Fundierung der Wissenschaften in der menschlichen Erkenntnis Descartes' Bedürfnis nach einer neuen Methode entspringt zunächst seinem Bedürfnis nach unbedingter Sicherheit des Erkennens. Eben­ dieselbe hatte er, folgt man den autobiographischen Äußerungen des Discours de la methode, während seiner Ausbildung im Jesuiten­ kloster von La Fleche vermißt. Die bisherigen Wissenschaften schie­ nen ihm schlecht gegründet und ihre Ergebnisse daher keinesfalls zwingend; besonders in der Philosophie, so klagt er, gebe es nichts, »worüber nicht gestritten würde und was folglich nicht zweifelhaft wäre« (Discours, Erster Teil, §12). Ausgenommen von dieser Kritik W

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Descartes’ Ansatz zu einer methodischen Neubegründung der Wissenschaften

sind einzig die mathematischen Wissenschaften. Die »Sicherheit und Evidenz ihrer Beweisgründe« (Discours 1, §10) faszinierte Descartes, weshalb er auch in seinen Regulae ad directionem ingenii mit Arith­ metik und Geometrie die beiden rein mathematischen Wissenschaf­ ten im mittelalterlichen Bildungssystem der septem artes liberales als die einzigen bezeichnet, die bisher seinen strengen Ansprüchen an Wissenschaftlichkeit genügten (R 2, 2). Allerdings erschienen sie ihm anfangs noch nutzlos, ohne Relevanz für die übrigen Wissen­ schaften (Discours 1, §10). Was ihn beeindruckte, war zunächst ein­ mal der Grad an Sicherheit, den die Mathematik bereitstellt; diesen gedachte er in allen Wissenschaften zu erreichen. In einem wissenschaftlichen System, so also die Ausgangsüber­ legung von Descartes, haben Meinungen oder auch nur Wahrschein­ lichkeiten keinen Platz, dort wird absolute Gewißheit erfordert. Wissenschaft kann allein »zuverlässige und evidente Erkenntnis (cognitio certa et evidens')« sein (Regulae, R 2, 1) sein. Wie aber zu einer solchen Sicherheit gelangen? Nun könnte man annehmen, daß man jede Wissenschaft geson­ dert untersuchen müsse, um die in ihr angewandte Methode zu ver­ bessern. Descartes' Ansatz ist jedoch grundsätzlicher: nicht diese oder jene Einzelwissenschaft gilt es zu reformieren, sondern die Wis­ senschaften in ihrer Gesamtheit sollen auf einen sicheren Boden ge­ stellt und somit allererst wirkliche Wissenschaft ermöglicht werden. Es war ihm daher um nichts Geringeres als um eine Universalwis­ senschaft zu tun, welche die Kriterien für Wissenschaftlichkeit über­ haupt bereitstellen sollte. Ein solches Vorhaben aber setzt voraus, daß sich alle Wissenschaften unter dieselben Prinzipien befassen lassen. Diese Einheit der Wissenschaften sieht Descartes darin gegeben, daß »alle Wissenschaften nichts anderes sind als die menschliche Weis­ heit (humana scientia), die immer eine und dieselbe bleibt, auf wie­ viele verschiedene Gegenstände sie auch angewendet sein mag« (Regulae, R 1, 1). Aus der Verschiedenheit ihrer Gegenstände läßt sich keineswegs eine prinzipielle Verschiedenheit der Wissenschaften herleiten, weil nicht die Seite der Objekte es ist, die Wissenschaft begründet, sondern das Subjekt, das Erkenntnisvermögen, eben die »menschliche Weisheit«. Diese aber bleibt unberührt von der Ver­ schiedenheit ihrer Objekte - sie »(empfängt) von diesen keinen größeren Unterschied als das Sonnenlicht von der Vielfarbigkeit der von ihm beleuchteten Gegenstände« (ebd.). In diesem harmlosen Bild kommt der gegenüber Aristoteles und der Scholastik radikal ver­ 24

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Die Idee einer >Mathesis universalis
Mathesis universalis
poietischen< Tätigkeiten kör­ perlicher Arbeit geschieden war; befreit von den Zwängen alltäg­ lichen Produzierens, bezieht sie ihre Vornehmheit den handwerk­ lichen Künsten gegenüber daraus, daß »ihr Wissen nicht auf den Nutzen gerichtet«, daß sie Wissenschaft um der Wissenschaft willen ist.9 Dementsprechend widmete sich ein scholastischer Universitäts­ gelehrter den sogenannten >freien< Künsten, den septem artes libera­ les, dazu der Juristerei und der Medizin, von plebejischer Handarbeit hielt er sich fern.10 11 In der Neuzeit vollzog sich die radikale Wandlung hin zu einem neuen Verständnis: der praktische Nutzen, die technische Verwert­ barkeit von Wissen wurde zunehmend zum positiven Wertungskri­ terium. Einer bürgerlichen Weltsicht, die nicht die reine Betrachtung von Welt, sondern deren Umbildung bzw. Erschaffung intendiert, galt Wissenschaft nicht mehr als höchste, den Niederungen des täg­ lichen Lebens und der materiellen Produktion enthobene Äußerung des menschlichen Geistes, sondern sollte als Instrument der Natur­ erkenntnis im Dienste einer Menschheit stehen, die sich dank der mechanischen Technik zunehmend zum Herrn über die Natur ent­ wickelte. In der Philosophie Descartes' kommt dieser Anspruch deut­ lich zum Ausdruck; in ihr ist jene Verbindung von Wissenschaft und Technik, die konstitutiv für die moderne Naturwissenschaft ist, be­ reits weit fortgeschritten.11

9 Metaphysik I 1, 981b; ebenso 982a: »unter den Wissenschaften (ist) die, welche um ihrer selbst willen gesucht wird, eher Weisheit als die um anderweitiger Ergebnisse gesuchte«. 10 So verstand sich zwar ein Gelehrter der Medizin auf die Auslegung überlieferten medizinischen Schrifttums, war jedoch keineswegs praktizierender Arzt; letztere wur­ den den Handwerkern zugerechnet. 11 Zum sozialen Hintergrund der Entstehung der modernen Wissenschaft vgl. Edgar Zilsel, Die sozialen Ursprünge der neuzeitlichen Wissenschaft, in: ders., Die sozialen Ursprünge der neuzeitlichen Wissenschaft, hg. von Wolfgang Krohn, Frankfurt a.M. 1976, 56 ff. Zilsel setzt den Ursprung der modernen Wissenschaft dort an, wo die Tren­ nung zwischen freien und mechanischen Künsten, also zwischen Scholastik und Huma­ nisten einerseits und experimentierenden »Künstler-Ingenieuren« andererseits über­ wunden wird, was er bei Gilbert, Galilei und Francis Bacon erreicht sieht. 30

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Die Idee einer >Mathesis universalis
Mathesis universalis
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exakte< Wissenschaft. Eben hierin liegt der Unterschied zwischen Bacon und Descartes, der somit ein Unterschied ums Ganze ist. d) Die >Sapientia Universalis< als >Mathesis< Wie im ersten Teil dieses Kapitels dargestellt, gehen die metho­ dischen Überlegungen Descartes' mit einer Wendung hin zum Er­ kenntnissubjekt einher. Das cartesische Methodenproblem ist zu­ gleich ein erkenntnistheoretisches, und zwar in einer Weise, die weit über die bei Bacon vorhandenen Ansätze hinausgeht. Wenn dieser den Verstand innerhalb seiner Negativlehre thematisiert, so betont 16 Zum Zusammenhang von Bacons Induktionsverfahren mit der Alchimie vgl. Ernst Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff 203f. Darstellung und Kritik der For­ menlehre in Cassirer, Erkenntnisproblem Bd. 2, 11 ff. 17 Erkenntnisproblem Bd. 2, 29. Beispielhaft für den Versuch, Bacon zum Vater moder­ ner Wissenschaft zu machen, ist die Interpretation von Marie Boas: Um ihre These, Bacon formuliere »die Prämissen dessen, was später unter der allgemeinen Bezeichnung mechanistische Philosophie zu einem fast allgemein anerkannten Prinzip der Naturwis­ senschaften wurde«, zu stützen, unterstellt sie ihm die »stillschweigende (!) Überzeu­ gung (...), daß die allgemeine Methode der Erklärung von Formen in dem Studium der Materie und Bewegung liege« (Boas, Renaissance, 284). Dabei bezieht sie sich auf Ba­ cons Definition der Wärme als »ausdehnende, gehemmte und sich auf die kleineren Teile stützende Bewegung« (II, A20). Über der Ähnlichkeit des Wortlauts mit moder­ nen Bestimmungen vergißt Boas, daß für Bacon die Wärme keineswegs aus der Bewe­ gung von Teilchen resultiert, sondern eine Eigenschaft an diesen Teilchen ausmacht; diese sollen sich jeweils ausdehnen. Zudem sind Bacons Bestimmungen rein der Be­ trachtung entlehnt, fußen auf der Wahrnehmung, daß Wärme stets mit Ausdehnung einhergeht. Beobachtungen aber wie die, »daß bei sehr kaltem Wetter das Feuer im Ofen am besten brennt« (ebd.), machen noch keine mechanistische Erklärung aus. 38

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Die Idee einer >Mathesis universalis
Mathesis Universalis< bezeichnet wird, weil in ihr alles das enthalten ist, um dessentwillen andere Wissenschaften auch Zweige der Mathematik genannt werden.« (Anhang zu R 4, 1; Hvg. A. F.)24 Die Vorbildfunk­ tion der Mathematik ergibt sich aus der Reduktion aller Probleme auf Größenbeziehungen, ihrer Darstellbarkeit als Proportionen.25 der Wissenschaften, der Mathematik, ist besonders eng mit dem Fortschritt der Ratio­ nalität in Technologie und Ökonomie verbunden. (...) Abseits von Einflüssen der pythagoräischen und platonischen Metaphysik behandeln die mathematischen Schriften des 15. und 16. Jhs. erstens detailliert die Probleme der Handelsmathematik und zwei­ tens die technologischen Bedürfnisse der Militäringenieure, Feldmesser, Architekten und Künstler. (...) Die klassische mathematische Tradition konnte im 16. Jh. wiederbe­ lebt werden, weil die neue Gesellschaft in das Bedürfnis nach Kalkulation und Messung hineingewachsen war.« Zilsel, Ursprünge, 52f. Den Zusammenhang des »messende(n), wägende(n), rechnerisch exakte(n) Wesen(s) der Neuzeit« thematisiert auch Georg Sim­ mel, Philosophie des Geldes, 612 ff. 24 Obwohl hier Ordnung und Maß scheinbar gleichberechtigt nebeneinander auf­ geführt werden, ist doch die Ordnung das entscheidende Moment: in R 14, 21f. zeigt Descartes, daß die Erkenntnis eines Maßes »schließlich nur noch von der Einsicht in eine Ordnung abhängt«. 25 »Auch sah ich ja, daß diese (die mathematischen Einzelwissenschaften, A. F.) trotz der Verschiedenheit ihrer Objekte doch alle darin übereinstimmen, daß sie nur die ver­ schiedenen Beziehungen oder Proportionen betrachten, die sich in ihren Objekten fin­ ^

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Descartes’ Ansatz zu einer methodischen Neubegründung der Wissenschaften

Die Mathematisierung des Erkennens, seine Festlegung auf ma­ thematische Grundstrukturen, bildet das eigentliche Programm der cartesischen Methode. Welcher Art diese Grundstrukturen im ein­ zelnen sind und wie die Erkenntnis beschaffen ist, die durch sie ermöglicht werden soll, wird Gegenstand des folgenden Kapitels sein. e) Von den >Regulae ad directionem ingeniu zum >Discours de la methode< Die Idee der Mathesis universalis ist das Ergebnis eines »Studiums in sich«, zu dem sich Descartes in einem warmen Zimmerchen im Win­ ter 1619/20 entschloß. Er war bei seinen Studien im »Buch der Welt«, das er nach der Abkehr vom Studium der traditionellen Wis­ senschaften begonnen hatte, als Offizier im dreißigjährigen Krieg in die Nähe von Ulm geraten; gezwungen, den Winter dort zu verbrin­ gen, fand er die Muße, »mich mit meinen Gedanken zu unterhalten« (Discours 2, §1). Dieses Studium in sich führte endlich zu dem Er­ gebnis, das durch die vorangegangenen Studien nicht zu erreichen gewesen war: die Methode, vermittels deren man zu sicherer Er­ kenntnis gelangen könnte, war gefunden. Es mag dahingestellt blei­ ben, was sich im einzelnen in der warmen Stube zugetragen hat; möglicherweise war es die nüchterne Auseinandersetzung mit astro­ logischen Problemen, die damals Ulmer Stadtgespräch waren, welche Descartes die entscheidenden Impulse gab, vielleicht spielte sich auch tatsächlich eine existentielle »mystische Krise« ab, in deren Verlauf der Katholik Descartes vom lieben Gott die Zustimmung zu seinem unkatholischen Tun erhielt.26 Wie auch immer - das Ulmer Winter­ den, und hielt es daher für besser, wenn ich nur diese Proportionen im allgemeinen betrachtete und als ihre Träger nur solche Gegenstände voraussetzte, die helfen konn­ ten, mir ihre Erkenntnis zu erleichtern, sogar ohne sie überhaupt an diese Gegenstände zu binden, damit ich sie nachher um so besser auf alles andere, worauf sie etwa passen mochten, anwenden könnte.« [Discours 2, §11) 26 Die erstere Version findet sich bei Lüder Gäbe, Descartes' Selbstkritik. Untersuchun­ gen zur Philosophie des jungen Descartes, Hamburg 1972, 12 ff. Gäbe betont den Ein­ fluß Keplers, kann jedoch seine Thesen allenfalls als wahrscheinlich ausweisen. Die »mystische Krise«, eine Serie visionärer Träume, schildert ausführlich Franz Borkenau, Der Übergang vom feudalen zum bürgerlichen Weltbild. Studien zur Geschichte der Philosophie der Manufakturperiode, Darmstadt 1988 (Reprint der Ausgabe Paris 1934), 281 ff. Nun mag natürlich der Entschluß, alle bisherigen Ansichten als unbegründet zu verwerfen, Descartes schwergefallen sein. Meines Erachtens überbetont Borkenau aber diese persönliche Seite. Denn Descartes war auf der Suche nach sicherer Wissenschaft, 44

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Die Idee einer >Mathesis universalis
wahren Philosophie< aufgegeben werden. Doch Descartes fand seinen archimedischen Punkt, mehr noch: mit ihm fand er gleich eine ganze Substanz. Die erste der drei cartesischen Substanzen ist mit der gesuchten Aus­ gangsgewißheit unmittelbar verknüpft.

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Methode und Substanz bei Descartes

aj Vom >cogito< zur >res cogitans< Die erste oder, wenn man so will, letzte Evidenz des Zweifelnden ist ebenso einfach wie überzeugend: denn der Betrügergott mag ihn täu­ schen, wie er will, um eine Gewißheit kann er ihn in all dem Zweifel nicht bringen - das Zweifeln selbst. Damit aber versichert Descartes sich seiner Existenz als eines Zweifelnden bzw, da das Zweifeln von vornherein als Weise des Denkens aufgefaßt wird, als eines Denken­ den. Dies ist die berühmte Gewißheit des cogito, ergo sum: Ich bin, sofern ich denkend bin, und daß ich dies bin, ist unbezweifelbar, da ich mich im Zweifel als denkend erfahre. Sie ist in der Tat eine Kon­ sequenz des Zweifelsganges, der man sich kaum entziehen kann; Descartes nennt sie »die allererste und gewisseste aller Erkenntnisse, die sich jedem ordnungsgemäß Philosophierenden darbietet« (Principia I, §7). Freilich ist auch das cogito, ergo sum in der Literatur vielfach problematisiert worden.1 Meines Erachtens ist es jedoch solange ohne große Schwierigkeit, wie es als das aufgefaßt wird, das es an­ fangs ist: eine elementare, im Akt des Denkens selbst unmittelbar gegebene Selbstgewißheit. Müßig sind insbesondere Interpretatio­ nen, die sich in trockenen Formalisierungen ergehen und den Schluß auf formallogische Korrektheit überprüfen, zumal Descartes solchen1

1 Vgl. Röd, Genese, 79ff., und Bernard Williams (Descartes. Das Vorhaben der reinen philosophischen Untersuchung, Frankfurt a.M. 1988, 51ff.), der langwierige und etwas umständliche Überlegungen anstellt; ebenso Andreas Kemmerling, Ideen des Ichs. Stu­ dien zu Descartes' Philosophie, Frankfurt a.M. 1996, darin insbes. 77ff. u. 100ff. Aus­ führlich auch Monika Hofmann-Riedinger, Das Rätsel des >Cogito ergo sumIch< aller empirischen Be­ sonderheiten entkleidet, es bezeichnet ein grundlegendes Selbst­ bewußtsein, eine Gewißheit seiner selbst, die in allen Bewußtseins­ akten notwendig vorhanden sein muß - also ziemlich genau das, was Kant später als transzendentale Einheit der Apperzeption bezeichnen

2 »Wenn jemand sagt: >ich denke, also bin ich, oder existiere ichdurch sich selbst Bekanntes< durch einen einfachen Einblick des Geistes (mentis intuitus) an, wie sich daraus ergibt, daß, wenn er sie durch einen Syllogismus ableiten sollte, man vorher den Obersatz erkannt haben müßte: >Alles, was denkt, ist oder existiertego sum< artikuliert eine Gewißheit, die mit dem Bewußtseins­ akt als solchem gegeben, nicht aus ihm hergeleitet ist. (...) Das Cogito-Argument ent­ hält nichts anderes als die Affirmation des Subjekts, für welches Vorstellungen gegeben sind, es expliziert den Bewußtseins- und Sprechakt als Äußerung eines Subjekts (...); gesetzt ist nichts anderes als die Subjektfunktion, die Ich-Bezogenheit intentionaler Akte« (275). Für Angehrn allerdings scheint mit der Fassung des Ich als res cogitans keine neue Qualität gegeben zu sein; er nennt sie eine »scheinbar voraussetzungslose Formel, die nur das Faktum des Cogito reformuliert« (ebd.). Die Auffassung des Ich als Substanz aber ist eine erste und ganz entscheidende inhaltliche Bestimmung des Sub­ jekts, die weit über die anfangs vorhandene Gewißheit hinausgeht: mit ihr ist eben jene ontologische Fixierung des Selbst gesetzt, die bei den von Angehrn im weiteren behan­ delten Theoretikern in der verschiedensten Weise kritisiert wird. Die Begründung der Wissenschaft aus reiner Vernunft

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Methode und Substanz bei Descartes

wird.4 Nichts Körperliches haftet ihm mehr an, so daß die alte, über die Sinne vermittelte Vorstellung seiner selbst als einer körperlich­ seelischen Einheit nicht mehr zutreffend sein kann. Das Ich ist also kein Körper, sondern allein Denken, wobei Descartes allerdings einen recht weiten Begriff von >Denken< hat; er befaßt darunter »alles, was derart in uns geschieht, daß wir uns seiner unmittelbar aus uns selbst bewußt sind. Deshalb gehört nicht bloß das Einsehen (intellegere), Wollen (veile), Einbilden (imaginari), sondern auch das Wahrneh­ men (sentire) hier zum Denken (cogitare)« (Principia I, §9). Nicht nur das Zweifeln selbst, auch die übrigen Formen des Denkens als solche werden mithin als unbezweifelbar angesehen, wobei natürlich über den Inhalt dieser Formen keine sicheren Aussagen zu treffen sind; über diesen könnte ein böser Geist das Ich täuschen, nicht aber über das Haben dieser Bestimmungen selbst. Wenn das Ich sich also beispielsweise als gehend empfindet, so kann es seiner selbst zwar nicht als eines Gehenden, wohl aber als Eines gewiß sein, der zu ge­ hen vermeint bzw. die Empfindung des Gehens hat; dessen ist es sich »unmittelbar aus sich selbst bewußt«. Sieht man nun von hier aus auf die Evidenzen zurück, wie sie vor der Radikalisierung des Zweifels für Descartes bestanden, so zeigt sich erstens, daß von den in den Regulae als Evidenzen auf­ geführten einfachen Naturen die rein materiellen, auf Körper be­ zogenen dem Zweifel anheimfallen; zweitens aber hat sich heraus­ gestellt, daß die rein intellektuellen einfachen Naturen (wie cognitio, dubium, ignorantia, voluntatis actio (volitio); R 12, 14) auch durch die Annahme eines Lügengottes nicht zu erschüttern und somit schlechthin unbezweifelbar sind. Was jedoch die allgemeinen ein­ fachen Naturen anbelangt, »die bald dem, was körperlich ist, bald den Geistern ohne Unterschied zugesprochen werden« (existentia, unitas, duratio usw.; ebd.), so ist drittens klar, daß ihre Gültigkeit einstweilen auf Geistiges eingeschränkt bleiben muß. Schließlich aber müssen die zu den allgemeinen einfachen Naturen gezählten Axiome inhaltlich zweifelhaft bleiben, solange die Möglichkeit be­ steht, daß Gott ihre Richtigkeit nur vortäuscht. Dadurch, daß alle Evidenzen, sofern sie auf Körper bezogen sind, selbst zweifelhaft werden, ergibt sich eine ganz entscheidende 4 Auf die Differenz von cartesischem ego cogito und Kantischem Ich denke, die ich hier keineswegs unterschlagen will, wird im Kant-Teil dieser Arbeit ausführlich einzugehen sein. 76

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Die res cogitans als Resultat des radikalen Zweifels

Modifikation auch in Bezug auf das Erkenntnisvermögen: während in den Regulae noch dem lumen naturale als Fähigkeit zu reiner Ver­ standeserkenntnis ein Vermögen zu sinnlich-bildlicher Intuition bei­ geordnet war, das sowohl zur Erkenntnis der rein materiellen als auch, neben dem natürlichen Licht, zur Erkenntnis der allgemeinen einfachen Naturen verwandt werden könnte, ist an der vorliegenden Systemstelle jegliche sinnliche Intuition ausgeschlossen. Das lumen naturale aber ühersteht den radikalen Zweifel, wenn auch nicht un­ versehrt, da sich die Axiome zumindest vorläufig dessen Zugriff ent­ ziehen. Dies ergibt sich meines Erachtens zwingend aus der Annah­ me des täuschenden Gottes; Descartes selbst jedoch war, was diesen Punkt anbelangt, notwendigerweise unentschieden, so daß die Axio­ me insgesamt einen etwas unklaren Status behalten. Es wird sich gleich zeigen, daß darin eines der methodischen Hauptprobleme ge­ rade auch im Hinblick auf die Substanzenlehre liegt. Aus der Gewißheit seiner selbst als eines Denkenden zieht Descartes nun eine höchst folgenreiche Konsequenz: Ich ist Denken und zwar bisher nur Denken, soviel war gewiß; er fährt jedoch fort: »Ich bin also genau nur ein denkendes Wesen (sum igitur praecise tantum res cogitans)« (Med. II, §6). So gelangt Descartes zur Behauptung seiner selbst als einer Denksubstanz. Ich bin denkend - Ich bin etwas Den­ kendes - Ich bin eine Substanz, der Denkbestimmungen inhärieren, welche denkt, eine res cogitans. Diese Wendung ist etwas überra­ schend: wenn bisher alles bezweifelt wurde außer der Tatsache des Denkens selbst, so wird jetzt mit dem Begriff der res eine Bestim­ mung eingeführt, die über den Denkvorgang als solchen hinausgeht. Tatsächlich ist diese Folgerung nicht unproblematisch. Ermöglicht wird sie nur dadurch, daß Descartes das Denken von vornherein als Attribut einer Substanz auffaßt. Zwar gibt der ursprüngliche Text der zweiten Meditation keinerlei Hinweise auf ein solches Verfahren, doch finden sich solche an anderen Stellen. So heißt es in der sechsten Meditation: »Außerdem finde ich Denkvermögen besonderer Art in mir, nämlich die Vermögen der Einbildung und der Empfindung, oh­ ne die ich mein ganzes Ich klar und deutlich denken kann, aber nicht umgekehrt jene ohne mich, d. h. ohne eine denkende Substanz (substantia intelligente), der sie innewohnen. Ihr Wesen schließt nämlich einige Grade denkenden Verstehens ein, woran ich erkenne, daß sie sich von mir wie die Bestimmungen vom Dinge (ut modos a re) un­ terscheiden« (Med. VI, § 10). Nun könnte man berechtigterweise ein­ Die Begründung der Wissenschaft aus reiner Vernunft

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Methode und Substanz bei Descartes

wenden, in der sechsten Meditation sei die Ausgangslage für solche Schlüsse bereits verändert, in der zweiten Meditation aber gehe Des­ cartes anders vor. Der Vergleich mit der französischen Übersetzung der Meditationen macht jedoch deutlich, daß es dieselbe Folgerung ist, die dem Vorgehen in der zweiten Meditation zugrunde liegt; aus­ drücklich heißt es dort, »que la pensee est un attribut qui m'appartient« (Med. II, §6).5 Schließlich schreibt Descartes auch in der Ant­ wort auf die von Hobbes verfaßten dritten Einwände zu den Meditationen, soviel sei doch gewiß, »daß ein Denken nicht möglich ist ohne ein denkendes Ding, wie überhaupt eine Tätigkeit oder ein Accidens nicht möglich ist ohne eine Substanz, der dies einwohnt«; nun gebe es »Accidentien, die man als geistige, gedankliche bezeich­ net, wie erkennen, wollen, sich etwas einbilden, empfinden usw., die alle unter dem gemeinsamen Namen des Denkens oder der Vorstel­ lung oder des Bewußtseins zusammenstimmen. Von der Substanz aber, der sie einwohnen, sagen wir, sie sei ein denkendes Ding oder Geist« (III. Responsiones, 159 f.; vgl. IV. Resp., 203). Was aber ermöglicht Descartes diesen >Schluß< vom Attribut auf die Substanz? Zunächst einmal fällt auf, daß er damit traditionelle Vorgaben übernimmt. Wenn er im Anhang zu den zweiten Erwide­ rungen die Substanz definiert als »jede Sache, der unmittelbar, als in ihrem Subjekte, etwas innewohnt, oder durch die etwas existiert, was wir erfassen, d. h. irgendeine Eigenschaft oder Beschaffenheit oder Attribut, wovon wir in uns die reale Idee haben« (Responsiones, 146), so lehnt er sich an die aristotelische Bestimmung der ousia als hypokeimenon an. Dieser faßt in der Metaphysik die Substanz u. a. als »das letzte Subjekt (hypokeimenon), das nicht weiter von einem anderen ausgesagt wird« (V 8, 1017b), während alles andere, akzi­ dentelle von diesem Subjekt ausgesagt wird (ebd.; vgl. VII 3, 1029 a). In der Kategorienschrift heißt »Substanz im eigentlichsten, ur­ sprünglichsten und vorzüglichsten Sinne« diejenige, »die weder von einem Subjekt ausgesagt wird, noch in einem Subjekt ist« (Kap.V, 2 a).6 Diese »ersten Substanzen« heißen »deshalb in vorzüglichem 5 Zitiert nach der lat.-dt. Ausgabe von Gäbe, Fn. auf S. 46. 6 Dort werden diese >ersten< von den >zweiten Substanzen< unterschieden, was im Ge­ gensatz zur späteren Metaphysik steht, wo das Verhältnis nahezu umgekehrt wird. Die Scholastik bezog sich aber vor allem auf die Kategorienschrift und die dortige Definition der Substanz. Es würde allerdings hier nicht sehr hilfreich sein, auf solche Unterschei­ dungen einzugehen, ebenso wie hier nicht die weiteren Bestimmungen der ousia durch Aristoteles, die sich in der des hypokeimenon keineswegs erschöpfen, behandelt werden 78

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Die res cogitans als Resultat des radikalen Zweifels

Sinne Substanzen, weil sie Subjekt von allem anderen sind und alles andere von ihnen ausgesagt wird« (ebd., 2 b). Dabei wird die aus­ sagenlogische Unterscheidung zugleich als ontologische verstanden: »Alles andere wird entweder von den ersten Substanzen als dem Sub­ jekt ausgesagt, oder ist in ihnen als dem Subjekt. (...) Wenn somit die ersten Substanzen nicht sind, so ist es unmöglich, daß sonst etwas ist« (ebd., 2 a f.).7 Das heißt also: wo sich Bestimmungen finden, da muß auch eine zugrundeliegende Substanz als Subjekt dieser Be­ stimmungen angenommen werden. Genauso argumentiert Descartes: wenn ich der Existenz meiner Denkbestimmungen gewiß bin, so muß notwendig eine Substanz dieser Denkbestimmungen vorhan­ den sein. Nun ist natürlich nicht zu erwarten, daß Descartes sich ausgerechnet in einer so entscheidenden Frage auf die Autorität von Aristoteles und der Scholastik stützt; ein solches Verfahren ist durch seine me­ thodischen Ansprüche gänzlich ausgeschlossen. Der Hinweis auf die Tradition genügt daher zur Erklärung dieses Vorgehens nicht, und es sollte sich ein Grund finden lassen, der mit diesen Ansprüchen ver­ einbar ist. Man braucht sich nicht lange bei der Suche aufzuhalten; denn gleich in der oben zitierten Definition der Substanz fährt Descartes fort: »Und wir haben von der Substanz im strengen Sinne gar keine Idee, als daß sie die Sache (res) ist, in der in formaler oder eminenter Weise eben das existiert, was wir erfassen, d. h. was objektiv in ir­ gendeiner unserer Ideen enthalten ist, da uns das natürliche Licht lehrt, daß das Nichts kein reales Attribut haben kann« (Responsiones, 146; Hvg. A. F.). In den Principia heißt es ebenfalls, es sei »nach natürlichem Licht offenbar, daß das Nichts keine Zustände oder Ei­ genschaften (affectiones sive qualitates) hat. Wo wir mithin solche antreffen, da muß sich auch ein Gegenstand oder eine Substanz (rem sive substantiam), der sie angehören, finden« (I, §11). Und in §52 müssen. Zudem bezieht sich Descartes nicht direkt auf Aristoteles, sondern nur über verschiedene Vermittlungen, in denen auch die aristotelische Begrifflichkeit einige Mo­ difikationen erfahren hat. Dies alles kann hier nicht ausreichend berücksichtigt werden; entscheidend ist zunächst, daß Descartes diese eine traditionelle Bestimmung auf­ nimmt. 7 Auch in der Metaphysik gewinnt Aristoteles seinen Begriff der ousia über die ver­ schiedenen Arten, das Seiende auszusagen und beginnt seine Untersuchung in Buch VII mit eben dieser Feststellung (VII1, 1028a). Die Begründung der Wissenschaft aus reiner Vernunft

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Methode und Substanz bei Descartes

desselben Teils erläutert er, man erkenne eine Substanz »leicht aus jedem beliebigen ihrer Attribute zufolge jenes Gemeinbegriffs (communem illam notionem), daß das Nichts keine Attribute (attributa), keine Beschaffenheiten (proprietates) und keine Eigenschaften (qualitates) hat. Denn daraus, daß wir die Gegenwart eines Attributs wahrnehmen, schließen wir, daß irgend ein existierendes Ding oder eine Substanz, der jenes zugeteilt werden kann, notwendig da sein muß«. Die Möglichkeit der genannten Folgerung ergibt sich demnach durch die Verwendung eines Gemeinbegriffs, einer jener durch das lumen naturale erkennbaren Evidenzen also, die in den Regulae zu den allgemeinen einfachen Naturen gerechnet werden; dort heißt es von ihnen, sie seien »gleichsam die Verbindungsglieder (...), um an­ dere einfache Naturen miteinander zu verbinden«; auf ihrer Evidenz beruhe »alles (...), was wir im folgernden Denken erschließen« (R 12, 14). In den Principia werden sie als »ewige Wahrheiten« ge­ genüber demjenigen spezifiziert, was entweder als Ding oder als Mo­ dus eines Dinges wahrgenommen wird: eine solche ewige Wahrheit hat »keine Existenz außerhalb unseres Denkens« (I, §48), hat »in unserem Geist ihren Sitz« (§49); genannt wird sie eben »ein Ge­ meinbegriff oder ein Axiom (communis notio, sive axioma)« (ebd.). Wenn Descartes sich daher in seiner Antwort auf die zweiten Ein­ wände dagegen verwahrt, er habe bei der Entwicklung der res cogitans einen Schluß gezogen, so will das lediglich heißen, er habe kei­ nen Syllogismus angewandt;8 wohl aber liegt eine Verknüpfung im Sinne der Mathesis universalis vor, indem nämlich ausschließlich evidente Elemente, die Gewißheit des cogito, ergo sum und besagter Gemeinbegriff, miteinander verbunden werden, so daß das Ergebnis intuitiv einsehbar ist.9 8 »Wenn wir aber bemerken, daß wir denkende Dinge sind, so ist das ein gewisser Grundbegriff, der aus keinem Syllogismus geschlossen wird« (Responsiones, 127). 9 Wenn dagegen Johannes Hessen der Ansicht ist, das von ihm so genannte »Substanz­ gesetz« (d. h. das Axiom, von den Akzidentien sei auf eine Substanz zu schließen) sei bei der Erkenntnis der res cogitans nicht notwendigerweise anzuwenden, so daß »die Selbst­ erkenntnis des Ich eine Ausnahme bildet von der allgemeinen Substanzerkenntnis«, und als Grund dafür anführt, daß »es hier keines von einem allgemeinen Prinzip getra­ genen Schlusses, sondern nur einer einfachen geistigen Anschauung (bedarf)« und die Selbsterkenntnis des Ich daher »keine ratiocinatio, sondern eine intuitio« sei (Substanz­ problem, 32); wenn er also die Intuition der Verwendung eines Axioms entgegensetzen will, so liegt dem eine mangelnde Kenntnis der Descartesschen Methode zugrunde. Denn wie im vorigen Abschnitt hinreichend ausgeführt wurde, führt die Verknüpfung 80

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Die res cogitans als Resultat des radikalen Zweifels

Doch eben hierin liegt das Problem: Descartes hatte sich ja ver­ mittels der Annahme eines betrügerischen Gottes dazu entschlossen, gerade auch dasjenige zu bezweifeln, »was wir bisher für das Gewis­ seste gehalten haben«, also neben den mathematischen Beweisen auch »die Sätze, die wir bisher für selbstverständlich angesehen ha­ ben« (Principia I, §5). Damit aber müssen die Axiome so lange als zweifelhaft gelten, wie Gott nicht als ein nicht trügerischer bewiesen ist. Das lumen naturale kann zwar zur Erkenntnis der reinen Denk­ vorgänge bemüht werden, seine Tauglichkeit bezüglich der Gemein­ begriffe ist dagegen noch keinesfalls erwiesen.10 Die Verwendung eines solchen Gemeinbegriffs ist daher bei konsequenter Beachtung des Zweifels an der vorliegenden Systemstelle ausgeschlossen, woge­ gen dasselbe Verfahren später bezüglich der res extensa durchaus unproblematisch ist; dort sind, wie wir sehen werden, die Bedingun­ gen bereits erfüllt. Descartes müßte also entweder beim cogito, ergo sum stehenbleiben, oder er müßte rechtfertigen, was ihm den Ge­ brauch eines Axioms auch vor dem Gottesbeweis erlaubt. Dieselbe Problematik ergibt sich später bei den Gottesbeweisen selbst, und in diesem Zusammenhang hat Descartes dann tatsächlich versucht, eine Rechtfertigung dieses Vorgehens zu geben. Ich halte es daher für

von Elementen vermittels der Axiome gerade zu insgesamt intuitiven Einsichten, was zudem, wenn die Verknüpfung so kurz ist wie beim Übergang von den Denkbestim­ mungen zur Denksubstanz (wo im Grunde nur ein Element und ein Axiom verwendet werden), nicht einmal eigens deutlich gemacht werden muß, sondern unmittelbar ein­ gesehen wird. Auch sprechen die oben angeführten Formulierungen, besonders die der französischen Übersetzung der zweiten Meditation, entschieden gegen die Vorstellung, Descartes habe hier den Gemeinbegriff nicht nötig gehabt. Hessen versucht mit dieser Unterscheidung die gleich noch zu diskutierende Schwierigkeit auszuräumen, daß auf der vorliegenden Stufe des Zweifels die Verwendung von Axiomen höchst problema­ tisch ist. Das Problem liegt jedoch nicht auf der Ebene, auf der Hessen es ansiedelt, sondern auf einer anderen: es betrifft die prinzipielle Bezweifelbarkeit von Axiomen überhaupt. 10 Bezüglich des cogito, ergo sum ergibt sich daher nicht dieselbe Schwierigkeit; dort ist kein Axiom vorausgesetzt, sondern nur die einfachen Naturen des cogitare (als rein intellektueller) und der existentia (als allgemeiner) sind miteinander verbunden. Diese extrem einfache Verbindung ist unmittelbar durch Intuition erfaßbar und muß nicht über einen Syllogismus erschlossen werden. Natürlich kann man sich auch fragen, ob die Verbindung von Denken und Existenz auf der Stufe des radikalen Zweifels zulässig ist; sie ist jedoch unter den Descartesschen Vorgaben weit unproblematischer als die Verwendung von Axiomen. Die Begründung der Wissenschaft aus reiner Vernunft

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sinnvoll, die Diskussion dieser Schwierigkeit solange zurückzustellen und werde sie an gegebenem Ort behandeln. Hier bleibt vorläufig nur festzuhalten, daß Descartes durch die Radikalisierung des Zweifels, die im Grunde dem Nachweis der unbezweifelbaren Gewißheit der Grundsätze der Mathesis universalis gilt, in erhebliche methodische Schwierigkeiten gerät, die er in der Erstausgabe der Meditationen noch zu verbergen versucht; dort findet sich in der zweiten Meditation kein Hinweis auf das proble­ matische Axiom. Der >radikale< Zweifel fällt von vornherein etwas halbherzig aus, da - nach meiner Ansicht - die Beweisabsicht Descartes' schon vorher feststeht: Klarheit und Deutlichkeit als Wahr­ heitskriterien und so seine Methode und Philosophie als einzig rich­ tige auszuweisen. Zwar hat Descartes später diese Schwierigkeiten diskutiert, doch sind, wie wir sehen werden, auch diese Lösungsver­ suche nicht völlig überzeugend. Letztlich kommt er um das Problem nicht herum, daß der Zweifelsgang bei konsequenter Durchführung mit dem cogito, ergo sum sein Ende erreicht hätte, von dem aus die verlorengegangenen Gewißheiten nicht wiederzuerlangen sind. Eines zeigen diese Schwierigkeiten deutlich: Die Mathesis univer­ salis steht in ihren Grundzügen niemals wirklich zur Debatte, sie bildet die Voraussetzung und die Grundlage der metaphysischen Un­ tersuchung, und sie wird keineswegs durch eine Methode des Zweifelns überhaupt ersetzt. Unter Ausblendung der genannten Probleme kann das Ergebnis des Zweifelsganges folgendermaßen gefaßt werden: Als sein Resultat hat sich die Gewißheit des Ich als einer res cogitans als letzte, schlechthin unbezweifelbare Evidenz ergeben. Die erste von Descartes eingeführte Substanz, die des denkenden Ich, stellt insofern die Konsequenz des methodischen Ansatzes, eines Rückzugs auf die reinen, von allem Sinnlichen befreiten Denk­ bestimmungen dar. Allein letztere halten dem Zweifel auch auf der höchsten Stufe stand; so daß einzig die rein intellektuellen und, mit den genannten Einschränkungen, die allgemeinen einfachen Na­ turen als Evidenzen erhalten bleiben. Diese werden nun aufgefaßt als Modi einer Substanz, von der vorläufig keine weiteren Modi be­ kannt sind, der also nur das Attribut >cogitans< beigelegt werden kann. Die res (bzw. substantia; vgl. Meditatio III, §30) cogitans wird daher bestimmt als »dubitans, affirmans, negans, pauca intelligens, multa ignorans, volens, nolens, imaginans, etiam et sentiens« 82

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(Med. III, § 1; cf. Med. II, § 8).11 Es ist allerdings darauf zu achten, daß damit zwar eine distinkte Vorstellung vom Geist gewonnen, jedoch noch nicht über seine substantielle Verschiedenheit vom Körper ent­ schieden ist. Das Ich ist einstweilen eine Substanz, von der zwar klar ist, daß ihr bislang nur das Attribut des Denkens zukommt bzw. daß sie einige Modi des Denkens aufweist; das heißt aber nicht, daß ihr nicht auch körperliche oder sonstige Bestimmungen zukommen könnten. Dies kann, wie Descartes ausdrücklich betont hat, vor der sechsten Meditation nicht entschieden werden (Meditationen, Syn­ opsis, 25 u. 29; III. Resp., 160). Wenn sich nun in dieser Hinsicht die res cogitans als Folge des radikalen methodischen Neuansatzes Descartes', seines durch den Zweifelsgang eher noch verschärften Bruchs mit der Tradition dar­ stellt, so muß sie doch andererseits auch als Ergebnis einer ver­ gleichsweise unkritischen Übernahme einer durchaus traditionellen Vorstellung von Substanz verstanden werden.11 12 Der erste cartesiche Substanzbegriff erhält seinen spezifischen Charakter durch diese ei­ gentümlich Verbindung: weder ist er rein aus dem methodischen An­ satz zu verstehen, sondern ergibt sich nur unter Zuhilfenahme des­ jenigen Axioms, in dem das traditionelle Verhältnis von Substanz und Akzidens als ewige Wahrheit behauptet ist; noch ist er mit dem aristotelisch-scholastischen hypokeimenon identisch; ja er ist diesem in vieler Hinsicht geradezu entgegengesetzt. Bei Aristoteles bezeich­ net das Subjekt die Dinge selbst, während Descartes, eben seines me­ thodischen Ansatzes wegen, das reine, den Dingen gegenüberstehen­ de Denken als Substanz fassen muß. Mit diesem als hypokeimenon, subiectum der Denkakte gefaßten Ich hat Descartes dem neuzeit­ lichen Subjektbegriff in entscheidender Weise vorgearbeitet, der mit dem antiken Verständnis nicht mehr vereinbar ist. Mit der res cogitans ist ein erster Begriff von Substanz gewon­ nen, allerdings auch nicht mehr als das. Im Verlauf der cartesischen 11 Man vergleiche damit die Aufzählung der rein intellektuellen einfachen Naturen in der zwölften Regel: cognitio, dubium, ignorantia, voluntatis actio (volitio), zu denen noch similia hinzukommen. (R 12, 14) 12 Insofern ist Werner Stegmaier zuzustimmen, wenn dieser schreibt, daß »der cartesische Substanzbegriff aus aristotelischen Bestimmungen begriffen werden (kann und muß)« (Substanz, 91). Daß dies allein jedoch nicht genügt, zeigt gerade die Stegmaiersche Interpretation; sie krankt daran, daß in ihr vom Zusammenhang mit der Methode weitgehend abstrahiert wird und daher die Bestimmungen der Substanz in einer Weise entwickelt werden, die derjenigen Descartes' vollkommen äußerlich bleibt. Die Begründung der Wissenschaft aus reiner Vernunft

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Ersten Philosophie werden sich noch weitere und differenziertere Bestimmungen ergehen; vor allem aber wird sich zeigen, daß auch die res cogitans erst im Verhältnis zu den anderen Substanzen voll­ ständig bestimmbar ist.13 b) Konsequenzen für das Methodenproblem Was nun die Methode anhelangt, so ist die res cogitans allein aus der mathematischen Universalmethode, wie sie vor der metaphysischen Untersuchung in ihren Grundzügen entwickelt worden war, nicht zu erklären. Vielmehr bedurfte es zur Entwicklung der denkenden Sub­ stanz einer Radikalisierung des Zweifels über das von der Mathesis universalis her zu erwartende Maß hinaus; einzig dieser Radikalisie­ rung ist es zu verdanken, daß das Ich als rein intellektuell, rein gei­ stig, eben als res cogitans gefaßt werden mußte. Die letzte Stufe des Zweifels erst ermöglicht den für die cartesische Substanzkonzeption entscheidenden Schritt, die Denkbestimmungen rein für sich, los­ getrennt von allem Körperlichen, zu erfassen und sich dadurch einen distinkten Begriff von der Denksubstanz zu bilden; erst durch sie wird der Geist so vollständig von den Sinnen weggeführt, daß das letzte und festeste Vorurteil fällt, welches selbst noch bei Abfassung der Regulae nicht hinterfragt war: das der unmittelbaren Verbun­ denheit von Körper und Geist. Damit aber ist eine gegenüber der Konzeption der Regulae gänzlich neue Einsicht gewonnen.14 13 Jean-Luc Marion (Ego autem substantia. Überlegungen über den metaphysischen Status des ersten Prinzips bei Descartes, in: Philosophisches Jahrbuch 95 (1988), 54-71) hat die Verbindung von Ichbegriff und Substanzbegriff besonderes hervorgehoben. Des­ cartes vollzieht ihm zufolge eine »egologische« Ableitung der Substanz, in der das Ego, da es das selbständig Seiende par excellence ist, das Vorbild für Substantialität über­ haupt abgibt. »La substance, c'est moi«, so läßt Marion das Descartessche Ego sprechen (ebd., 71). Dies scheint mir eine durchaus mögliche Interpretation für die philosophie­ historische Bedeutung Descartes' zu sein. Bei Descartes selbst jedoch kann ich diese Tendenz nicht erkennen. Er leitet seinen Substanzbegriff nicht aus dem Ego her, sondern verknüpft ihn lediglich mit ihm. Auch wird sich später Gott als ausgezeichnete Substanz in einem Sinne ergeben, in der das Ich gerade nicht mehr Substanz ist. 14 Dies war also keineswegs ein bereits vor der Untersuchung feststehendes Vorurteil, wie etwa Franz Borkenau glauben machen will (Der Übergang vom feudalen zum bürgelichen Weltbild, 327), sondern stellt eine neue Einsicht von Descartes dar, die er in den Regulae gerade noch nicht hatte und die ihn dort zur Verwendung sinnlicher Evidenz veranlaßte. Ansichten wie diese offenbaren die grundsätzliche Schwäche von Borkenaus materialistischere Interpretation: Descartes werden einige Klassenstand­ punkte untergeschoben, die dann notwendig in seinem System auftauchen müssen. Da­ 84

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Diese Einsicht bedingt, wie ich bereits angedeutet habe, die methodisch bedeutsamste Änderung gegenüber der ursprünglichen Mathesis universalis. Im Unterschied zu dieser ist nun erstens der Zweifelsgang unverzichtbarer Bestandteil der Methode in der Meta­ physik, da er allein das taugliche Mittel darstellt, um die Abkehr von den Sinnen konsequent zu vollziehen und sich von allen Vorurteilen zu befreien. Die für die Erste Philosophie so zentrale Vorurteilslehre und der radikale Zweifel gehören also unzertrennlich zusammen. Es ist hier allerdings nicht der Ort, die Vorurteilslehre ausführlich dar­ zustellen; zwar ist der entscheidende Schritt mit dem Zweifelsgang getan, es fehlt jedoch der Nachweis der tatsächlichen substantiellen Verschiedenheit von Geist und Körper, der sich erst in der weiteren Untersuchung, genauer: in der sechsten Meditation, ergeben wird. Zweitens aber scheidet jegliche Art von sinnlicher Evidenz als Er­ kenntnismittel vorläufig aus. Die unkritische Verwendung der rein materiellen einfachen Naturen in den Regulae ist nun selbst als Vor­ urteil ausgewiesen. Da sich von den einfachen Naturen, die in den Regulae als die evidenten Bestandteile genannt sind, allein die rein intellektuellen und die allgemeinen, soweit sie sich auf Geistiges be­ ziehen und nicht inhaltlich bestimmt sind, als schlechthin unbezwei­ felbar herausgestellt haben, bleibt von den dort angeführten Vermö­ gen zu intuitiver Erkenntnis einzig das lumen naturale in Kraft; es übersteht den radikalen Zweifel, weil es eben dasjenige Vermögen ist, was die reinen Denkbestimmungen als klar und deutlich erkennt. In dieser Funktion ist es auch durch die Annahme eines Lügengottes nicht zu erschüttern. Das natürliche Licht muß daher folgerichtig in der Ersten Philosophie die Hauptrolle spielen, während in der Physik später möglicherweise auch wieder ein Vermögen zu sinnlicher In­ tuition in den Deduktionen zum Einsatz kommen könnte; eine solche Möglichkeit müßte aber erst in der Metaphysik erwiesen werden was, wie sich zeigen wird, gerade nicht geschieht.15 Allerdings hat bei wäre doch umgekehrt vorzugehen und zuerst dieses System selbst zu entwickeln; daran anschließend kann dann eine materialistische Interpretation nach den Bruchstel­ len und blinden Flecken fragen und untersuchen, inwiefern diese durch die jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse bedingt sind. 15 Es genügt daher nicht, wie Wolfgang Röd darauf hinzuweisen, bei der Ersten Phi­ losophie handle es sich eben um eine »unanschauliche Disziplin« (Erste Philosophie, 73), auch wenn dies natürlich richtig ist. Dadurch entsteht der falsche Eindruck, das sinnliche Erkenntnisvermögen werde nur einstweilen beiseite gesetzt, da man es in der Metaphysik nicht gebrauchen könne; vielmehr ist dieses Vermögen gänzlich außer Die Begründung der Wissenschaft aus reiner Vernunft

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auch das lumen naturale im Zweifelsgang eine Einschränkung erfah­ ren: zumindest, wenn man der Descartesschen Argumentation kon­ sequent folgt (was er selbst, wie gesehen, nicht immer tut), kann es nicht zur Erkenntnis von Axiomen verwandt werden, solange die Möglichkeit eines Trugs durch Gott besteht; es dient daher lediglich zur Erkenntnis der Denkbestimmungen als solcher und erlaubt in keiner Weise, über diese hinauszugehen oder sie mittels der Axiome zu neuen Wahrheiten zu verknüpfen. Insgesamt hat sich damit eine scheinbar aussichtslose Situation er­ geben. Denn zwar ist mit der res cogitans eine erste und ganz ent­ scheidende Grundlage für das System gewonnen; in ihr ist der archimedische Punkt gefunden, auf dem Descartes das gesamte Ab­ leitungsgefüge der wahren Philosophie errichten muß bzw. errichtet hat: »ich (habe) die Existenz dieses denkenden Bewußtseins als erstes Prinzip angenommen, aus welchem ich alles Folgende in der eviden­ testen Weise abgeleitet habe« (Schreiben an Picot; Principia, XXXVIII). So gesehen ist eine zentrale Voraussetzung für den Fort­ gang nach den Prinzipien der Universalmethode erfüllt. Doch scheint ein solcher Fortgang von der reinen Denksubstanz aus zu weiteren Bestimmungen kaum möglich zu sein. Denn zum einen besteht die res cogitans aus nichts anderem als reinen Denkbestimmungen, cogitationes, die Descartes zu Beginn der dritten Meditation als Vor­ stellungen (ideae), Willensakte und Urteile klassifiziert (§5). Nun läßt aber nichts darauf schließen, daß den Ideen auch irgendetwas außerhalb des Denkens in der Wirklichkeit korrespondiert. Klar ist einzig, »daß diese Vorstellungen in mir sind. Etwas anderes aber war es, was ich ehemals behauptete, (...) daß es gewisse Dinge außer mir gebe, von denen jene Vorstellungen herrühren und denen sie voll­ kommen ähnlich seien« (ebd., §3). Dem Ich blieb zwar im Zweifels­ gang das Denken als letzte Gewißheit, aber eben nur das Denken; es steht jetzt vor der Frage, ob es überhaupt ein Sein außerhalb des Denkens gebe oder ob nicht alles Sein ein bloß Gedachtes ist. Es ist zunächst einmal zu untersuchen, wie man nun über das bloße Den­ ken hinaus zu einer im Zweifelsgang verlorenen Welt gelangt. Bis Kraft gesetzt, da es sich als zweifelhaft erwiesen hat. Die Mathesis universalis wird also nicht etwa in einer Form in der Metaphysik angewandt, während sie in anderer Form für die Physik bereitliegt, sondern ihre mögliche Anwendung auf diese hängt gänzlich von den Ergebnissen der Metaphysik ab. 86

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Die res cogitans als Resultat des radikalen Zweifels

dahin ist an eine Physik überhaupt nicht zu denken, da von einer Welt außerhalb des Ich gar nicht gesprochen werden kann. Es ist also einstweilen nicht abzusehen, wie Descartes von der Gewißheit seiner selbst als einer Denksubstanz zu einer Physik und darauf aufbauen­ den weiterführenden Wissenschaften gelangen will. Doch nicht nur das: es ist ja noch nicht einmal geklärt, wie eine evidente Ableitung, die doch unzweifelhaft gefordert ist, sich voll­ ziehen soll. Die Methode der Mathesis universalis, die weiterhin die einzige bildet, mittels deren Descartes seine Wissenschaft zu entwikkeln gedenkt, ist in dieser Hinsicht selbst noch zweifelhaft, und die der Ersten Philosophie im radikalen Zweifel erwachsene Aufgabe einer Absicherung der Methode ist durchaus noch nicht geleistet. Klarheit und Deutlichkeit sind erst noch als Wahrheitskriterien aus­ zuweisen. Denn wenn auch die Vorstellungen als Vorstellungen un­ problematisch sind (vgl. Med. III, §6), so sind doch ihre Verknüpfun­ gen noch durchweg zweifelhaft; die logische Richtigkeit der Urteile ist keineswegs garantiert. Selbst die arithmetischen und geometri­ schen Wahrheiten sind daher noch unsicher: obwohl sie im höchsten Maße klar und deutlich sind, kann keinesfalls ausgeschlossen wer­ den, »daß ich mich selbst in dem irre, was ich ganz klar mit meinem geistigen Auge zu durchschauen glaube« (Med. III, §4).16 Und dies aus dem einfachen Grund, daß weiterhin die Möglichkeit eines Trugs durch Gott nicht ausgeschlossen werden kann. Dadurch ergibt sich mit Notwendigkeit als nächster Schritt die Untersuchung, »ob es einen Gott gibt, und wenn, ob er ein Betrüger sein kann« (ebd., §4). 16 Andreas Kemmerling deutet diese Formulierung dahingehend, daß der Zweifel plötzlich das cogito, ergo sum mit einbegreife und dementsprechend auch die Existenz des Ich als prinzipiell bezweifelbar angesehen werden könne (Ideen des Ichs, 124ff.). Er folgert dies daraus, daß die Gewißheit des Ich denke eine Evidenz sei und Descartes hier den Zweifel an allen Evidenzen ausdrücklich für möglich erklärt. Was Kemmerling übersieht, ist der ausgezeichnete Status eben dieser einen Evidenz, die gerade darin besteht, daß sie dem Zweifel auf seiner höchsten Stufe standhält. Descartes bringt ja zu Beginn dritten Meditation nicht - wie Kemmerling anzunehmen scheint - einen neuen Zweifel ins Spiel, sondern bezieht sich auf den vom Ende der ersten Meditation zurück. Er schickt sich zur Überwindung des radikalen Zweifels an, nachdem er in der Existenz des Ich eben den einen, schlechthin unbezweifelbaren Ausgangspunkt gewonnen hat, der überhaupt erst ein Fortschreiten ermöglicht. Der Clou bestand ja gerade darin: daß man zwar die Evidenzwahrheit in Zweifel setzen kann, niemals jedoch die Existenz des Zweifelnden, da das Zweifeln selbst eine Existenzweise ist. Es handelt sich also jetzt darum, den Status der klaren und deutlichen Vorstellungen des unzweifelhaft existie­ renden Ich zu bestimmen. Die Begründung der Wissenschaft aus reiner Vernunft

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Nur wenn Gott als ein nicht täuschender bewiesen werden kann, ist es möglich, die genannte Beschränkung des lumen naturale auf die krude Faktizität der Bewußtseinsbestimmungen zu überwinden und so überhaupt erst das Instrumentarium der Mathesis universalis zurückzugewinnen. Wenn gezeigt werden kann, daß das natürliche Licht als von Gott verliehenes Vermögen grundsätzlich zu wahren Einsichten führt, ergibt sich wieder die Möglichkeit wissenschaftli­ cher Erkenntnis nach Art der Mathematik. Erst dann ergibt auch die oben genannte Frage nach der Außenwelt, nach der Sachhaltigkeit der Ideen einen Sinn. Descartes hat diese Situation in §13 des ersten Teils der Principia ebenso knapp wie präzise beschrieben: »Wenn nun der Geist, der zwar sich selbst erkannt hat, an allem anderen aber noch zweifelt, rings umherschaut, um seine Kenntnisse auszudehnen, so findet er zwar zunächst in sich die Ideen von vielen Dingen; aber solange er nur diese Ideen betrachtet, ohne zu behaupten oder zu leugnen, daß etwas ihnen ähnliches außerhalb ihrer bestehe, kann er nicht irren. Er findet auch gewisse Gemeinbegriffe (communes notiones) und bildet daraus mancherlei Beweise, die er für wahr hält, solange er darauf achthat. (...) Hiernach hält der Geist dies und ähnliches für wahr, solange er auf die Obersätze achtet, aus denen er es abgeleitet hat. Da man indes nicht immer darauf achthaben kann und man sich später besinnt, daß man ja noch gar nicht sicher ist, ob man nicht mit einer solchen Natur erschaffen worden, daß man selbst in dem an­ scheinend Unzweifelhaftesten sich irrt, so erscheint auch hier der Zweifel als berechtigt und jede sichere Erkenntnis ausgeschlossen, solange man den Urheber seines Daseins nicht kennt (Hvg. A. F.).« Somit aber entsteht der Metaphysik eine Beweispflicht bezüglich des mathematischen Erkennens selbst. Vorläufig bildet die res cogitans den letzten Strohhalm des auf sich gestellten, schiffbrüchigen Ich, dem alle sonstige Gewißheit im Zweifel untergegangen ist. Diesem ergeht es wie Robinson auf seiner Insel: wie dieser hat es einige Utensilien, die reinen Denkbestim­ mungen, vom Wrack retten können, bleibt aber damit auf sich ge­ stellt; und wie diesem schließlich allein die Bibel zunehmend festen Halt in all der Einsamkeit zu geben vermochte, so findet auch das Ich letzlich festen Grund erst in der - freilich keineswegs religiösen Vorstellung Gottes.

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Die Gottesbeweise

2. Die unendliche Substanz als zweite Ausgangsevidenz: Die Gottesbeweise Die Hinwendung zu Gott setzt Descartes natürlich dem Verdacht aus, hier wolle sich einer, der mit der Vernunft nicht weiterkommt, mit der Theologie behelfen. Dies ist jedoch nicht der Fall. Die Gottesheweise stellen vielmehr ein systematisches Erfordernis dar, das mit theologischen Problemen nichts zu tun hat. Auch macht es Descartes sich keineswegs so einfach, daß er etwa anführt, Gott habe ihm diese oder jene Wahrheit, die ihm in seiner Deduktionskette noch fehlt, offenhart. Das hieße das Prinzip der rein rationalen Folgerungen ge­ rade an entscheidender Stelle aussetzen; damit aber wäre der Boden der Wissenschaft verlassen. Als notwendiger Baustein des Systems muß Gott daher allein mit rationalen Mitteln bewiesen werden, wo­ durch dieser Gott selbst einen durch und durch rationalen Charakter erhält. Ein solcher Gott aber hat mit dem Gott der Theologen nur mehr den Namen gemein.17 Descartes hat demgemäß immer streng zwischen theologischen und metaphysischen Fragen unterschieden. So schreibt er beispiels­ weise an Mersenne, zur Theologie rechne er alles »von der Offenba­ rung Abhängige«; die metaphysischen Wahrheiten dagegen müßten sämtlich »durch die menschliche Vernunft geprüft werden« (Brief vom 15. April 1630, Briefe, 48). Letztere also sind eines Beweises fähig, wogegen es, wie Descartes in einem späteren Brief hinzufügte, »den Wahrheiten, die vom Glauben abhängen und nicht durch natürlichen Beweis bewiesen werden können, Unrecht tun heißt, sie mit menschlichen und nur wahrscheinlichen Gründe bekräftigen zu wollen« (27. Mai 1630; Briefe, 54). Man kann deshalb den immer wiederkehrenden Beteuerungen Descartes' durchaus Glauben schen­ ken, »daß das, was Gott uns offenbart hat, als das Gewisseste von allem zu glauben ist. Wenn daher auch das Licht der Vernunft etwas anderes noch so klar und überzeugend uns eingibt, so sollen wir doch lieber der göttlichen Autorität, als unserem eigenen Urteile vertrau­ en« (Principia I, §76; vgl. ebd. IV, §207; auch Regulae, R3,9). Nur muß man immer dessen eingedenk sein, daß diese Offenbarungs­ wahrheiten mit dem System der wahren Philosophie nicht das Ge­ 17 Die von Bernard Williams vorgenommene Kennzeichnung der Gottesbeweise als einer »religiösen Brücke« vom cogito zur Welt (Vorhaben, 131) ist daher gänzlich un­ zutreffend; weder das Ziel noch die Durchführung der Beweise sind religiös eingefärbt. Die Begründung der Wissenschaft aus reiner Vernunft

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Methode und Substanz bei Descartes

ringste zu tun haben: »Aber in Dingen, wo der göttliche Glaube uns nicht belehrt, ziemt es dem Philosophen nicht, etwas für wahr zu halten, was er nicht als wahr erkannt hat und den Sinnen, d. h. dem unbedachten Urteilen seiner Kindheit, mehr zu trauen als der gereif­ ten Vernunft.« (ebd.) Gerade dieser strengen Trennung von Glauben und Philosophie wegen ist aber meiner Ansicht nach die Versiche­ rung Descartes' in der Widmung an die Theologen der Sorbonne (Meditationen, 3 ff.), er habe in seinen Meditationen in erster Linie Gott und die Unsterblichkeit der Seele beweisen wollen, als Vorwand anzusehen. Denn wie ich ausgeführt habe, liegt hier nicht einfach ein beliebiger Anwendungsfall der Methode auf diese Gegenstände vor, obwohl Descartes genau diesen Eindruck zu erwecken versucht: er habe eine »Methode zur Lösung beliebiger Schwierigkeiten in den Wissenschaften entwickelt« (ebd., 7), und nun wolle er versuchen, was sich damit auf metaphysischem Gebiet erreichen lasse. Man hat dagegen gesehen, daß die Gottesbeweise an einer ganz bestimmten Systemstelle innerhalb des Fundaments der wahren Philosophie not­ wendig erfordert sind: Mit ihnen verbindet sich die Beweisabsicht hinsichtlich der Mathesis universalis, von der letztlich das Projekt einer Erneuerung der Philosophie und Wissenschaften in seiner Ge­ samtheit abhängt. Descartes also betreibt nicht Wissenschaft, um Gott zu beweisen, sondern er muß Gott beweisen, um Wissenschaft betreiben zu können. a) Die kausalen Beweise »Wo Vernunft ihr Geschäft durch bloße Begriffe treibt, da ist nur ein einziger Beweis möglich, wenn überall nur irgendeiner möglich ist. Daher, wenn man schon den Dogmatiker mit zehn Beweisen auftre­ ten sieht, da kann man sicher glauben, daß er gar keinen habe. Denn hätte er einen, der (wie es in Sachen der reinen Vernunft sein muß) apodiktisch bewiese, wozu bedürfte er der übrigen?« Was Kant hier in der Methodenlehre der Kritik der reinen Ver­ nunft (B 817) ganz allgemein anmerkt, läßt sich unmittelbar auf die Descartesschen Gottesbeweise anwenden. Denn zwar nicht auf zehn, doch auf drei Wegen hat Descartes seinen Beweis zu erbringen ver­ sucht, was in der Tat den Verdacht nahelegt, keiner dieser Beweise sei für sich genommen von genügender Sicherheit und Überzeugungs­ kraft.

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Die Gottesbeweise

Der erste Beweis der Meditationen läßt sich verkürzt folgenderma­ ßen darstellen: Die Vorstellungen des Ich, wenn auch als Vorstellun­ gen einander gleich, stellen doch höchst verschiedene Dinge vor, d. h. sie haben einen höchst verschiedenen Bedeutungsgehalt (realitas objectiva). Nun weist aber eine dieser Vorstellungen einen Bedeutungs­ gehalt auf, »der so groß ist, daß ich dessen gewiß bin, daß eben dieser Gehalt weder in der gleichen noch in einer vollkommeneren Form in mir enthalten ist, daß folglich auch ich selbst nicht Ursache dieser Vorstellung sein kann« (Med. III, §16) - die Vorstellung Gottes. Denn von allen anderen Ideen, wenn sie auch zum Teil äußerliche Dinge vorzustellen scheinen, kann das Ich selbst der Urheber sein, so daß die Ideen von Menschen, Tieren und Engeln ebenso selbst erzeugt sein können wie die der körperlichen und unbeseelten Dinge (ebd., §§ 17-21). Selbst die Vorstellung letzterer als Substanzen über­ steigt an Bedeutungsgehalt nicht den des Ich, das sich ja selbst als Substanz erfaßt hat (ebd., §21). Die Idee Gottes aber geht an Bedeu­ tungsgehalt darüber hinaus; denn darunter begriffen wird »eine Sub­ stanz, die unendlich, unabhängig, allwissend und allmächtig ist und von der ich selbst geschaffen bin ebenso wie alles andere Existieren­ de, falls es solches gibt« (ebd., §22). Das Ich selbst begreift sich dem­ gegenüber nur als endliche Substanz, da es sich als begrenzt und unvollkommen erfährt. Weil aber »die Vorstellung, durch die ich ei­ nen höchsten Gott erkenne, der ewig, unendlich, allwissend, allmäch­ tig und der Schöpfer aller Dinge außer ihm ist, wahrlich einen größe­ ren Bedeutungsgehalt (besitzt) als die Vorstellungen, in denen sich endliche Substanzen (finitae substantiae) darstellen« (ebd., §13), und das Ich als endliche Substanz eine solche seinen eigenen Bedeu­ tungsgehalt übersteigende Vorstellung nicht aus sich selbst erzeugt haben kann, »muß (man) daher aus dem Zuvorgesagten schließen, daß Gott notwendig existiert« (ebd., §22). Es ist leicht zu sehen, daß dieser Beweis von einer Zusatzbedin­ gung abhängt: Den größeren Bedeutungsgehalt der Idee Gottes mag man Descartes zugeben; doch warum kann eine solche Vorstellung nicht vom Ich selbst erzeugt sein? Nun, es ist das natürliche Licht, was solches klar und deutlich macht. Durch dasselbe ist es »ganz au­ genscheinlich, daß die Vorstellungen in mir gleichsam Bilder sind, die zwar leichtlich hinter der Vollkommenheit der Dinge zurückblei­ ben mögen, denen sie entlehnt sind, die aber nicht irgend etwas Größeres oder Vollkommeneres enthalten können« (ebd., §15). Die­ se Einsicht ruht wiederum auf dem fundamentalen Satz, »daß min­ Die Begründung der Wissenschaft aus reiner Vernunft

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Methode und Substanz bei Descartes

destens ebensoviel Sachgehalt in der gesamten wirkenden Ursache vorhanden sein muß wie in der Wirkung ebendieser Ursache« - was gleichfalls »durch das natürliche Licht offenkundig (lumine naturali manifestum)« ist (ebd., §14).18 Die Argumentation, mittels deren diese beiden Sätze mitein­ ander verbunden sind, ist recht kompliziert ausgefallen. Descartes versucht unter Verwendung scholastischer Termini nachzuweisen, daß die Kausalbeziehung auch in Bezug auf den bloßen Bedeutungs­ gehalt der Ideen Gültigkeit hat, indem nämlich die realitas objectiva auf einen gegenständlichen Sachgehalt, eine realitas actualis siveformalis verweist (ebd., §14). Der Kernpunkt der Argumentation, die Descartes selbst in den Principia auf ein Minimum reduziert hat, ist also der, daß auch die Vorstellungen als Wirkungen interpretiert wer­ den, während zugleich feststeht, daß eine Wirkung ihren Gehalt von der Ursache erhält, weshalb die Idee Gottes, die - im Unterschied zu den übrigen Ideen - den Realitätsgehalt des Ich übersteigt, nicht von diesem verursacht worden sein kann.19 Der gesamte Beweis - und dies ist für seine Durchführbarkeit unter den Descartesschen Voraus­ setzungen entscheidend - basiert also auf dem als Axiom formulier­ ten Kausalgesetz. Dies aber führt in eben die Problematik, die sich bereits bei Behandlung der res cogitans ergeben hat: Ist die Verwen­ dung von Axiomen überhaupt zulässig, solange nicht bewiesen ist, daß Gott kein Betrüger sein kann? Kann man also Gott unter Ver­ wendung von Axiomen beweisen, deren Gültigkeit erst durch seinen Beweis erwiesen werden kann und soll?

18 In den Principia ist das Axiom folgendermaßen formuliert: »es ist nach natürlichem Licht offenbar, daß aus Nichts nicht Etwas werden kann, und daß das Vollkommene nicht von einem Unvollkommeneren als wirkender und vollständiger Ursache (causa efficiente & totali) hervorgebracht werden kann, und daß in uns keine Idee oder kein Bild einer Sache sein kann, von dem nicht irgendwo in uns selbst oder außer uns ein Urbild (archetypus) existiert, das alle seine Vollkommenheiten wirklich enthält« (I, §18). Vgl. auch die Axiome III-V imAnhang zu den zweiten Erwiderungen, Responsiones, 149f. 19 Aufschlußreich ist in dieser Hinsicht die Antwort auf die ersten Einwände, Responsiones, 91 ff., wo Descartes nochmals erläutert, wie er das objektive Vorhandensein der Ideen im Verstand und ihre Abhängigkeit von Ursachen verstanden wissen will. Zur Begrifflichkeit vgl. die Definitionen von realitas objectiva bzw. formalis im Anhang zu den zweiten Erwiderungen, Responsiones, 146. Eine sehr ausführliche Auseinanderset­ zung mit diesem Beweis bietet Bernard Williams, Vorhaben, 104ff. 92

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Die Gottesbeweise

Der hier vorliegende Zirkel ist so offenkundig, daß er auch dem natürlichen Licht der Kritiker Descartes' nicht entgehen konnte. So ist diese Argumentation bereits in den zweiten Einwänden bezweifelt worden, und auch Arnauld hat in den vierten Einwänden in diesem Zusammenhang den Verdacht geäußert, »ob er nicht einen Zirkel­ schluß gemacht hat«, denn »es kann uns nicht feststehen, daß Gott ist, es sei denn, daß es von uns klar und evident erfaßt wird. Also bevor es uns feststeht, daß Gott ist, muß es uns feststehen, daß wahr ist, was immer von uns klar und evident erfaßt wird« (IV. Ob]., 194). Schließlich hat Burman, auf Descartes' Antwort auf Arnauld Bezug nehmend, den Vorwurf im Hinblick auf das fragliche Axiom präzi­ siert: »Offenbar besteht doch ein Zirkel. Denn in der 3. Meditation erweist der Verfasser die Existenz Gottes mit Hilfe von Axiomen, obwohl für ihn noch nicht feststeht, ob er sich in ihnen nicht täu­ sche.« (Gespräch mit Burman, 9) Descartes war also gezwungen, sein Vorgehen zu rechtfertigen. Und wenn auch die zweiten und vierten Einwände diesbezüglich noch etwas undifferenziert waren und daher Ausweichmöglichkeiten ließen, berührt doch Burman genau den wunden Punkt. Descartes antwortet ihm aber in derselben Weise wie den Vorigen: »Er erweist sie (die Existenz Gottes, A. F.) und weiß, daß er sich in jenen (den Axiomen, A. F.) nicht täuscht, weil er ja seine Aufmerksamkeit auf sie richtet; solange er aber dies tut, ist er sicher, daß er sich nicht täuscht, und gezwungen, ihnen zuzustimmen.« (ebd.) Und am Ende des Gesprächs wiederholt er nochmals, »wenn wir nicht wüßten, daß alle Wahrheit in Gott ihren Ursprung hat, würden wir, mögen dann unsere Ideen so klar sein wie sie wollten, nicht wissen, daß sie wahr sind und daß wir uns nicht täuschen; nämlich dann, wenn wir auf sie nicht Acht hätten und uns nur erinnerten, daß sie auf klare und deut­ liche Wahrnehmungen zurückgehen. Ansonsten können wir, auch wenn wir nicht wissen, daß es einen Gott gibt, an diesen Wahrheiten nicht zweifeln, solange wir auf sie Acht haben. Denn anders können wir auch nicht beweisen, daß es Gott gibt« (ebd., 115 f.).20 Man hat im vorigen Kapitel gesehen, daß von der Stichhaltigkeit dieser Rechtfertigung nicht nur der Gottesbeweis, sondern auch die erste Evidenz des Ich als einer res cogitans abhängt. Zwei ganz ent­

20 Vorbereitet ist diese Argumentation z.T. schon in §14 der fünften Meditation, auf den Descartes sich auch zurückbezieht. Besser wird sie dadurch allerdings nicht. Die Begründung der Wissenschaft aus reiner Vernunft

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scheidende Systemstellen wären demnach ahgesichert, sofern man gezwungen ist, der obigen Argumentation zuzustimmen. Indes besteht dazu keinerlei Anlaß. Denn es ist nicht einzuse­ hen, wie der radikale Zweifel mit Hilfe der Unterscheidung von ak­ tueller und nur undeutlich erinnerter Evidenz unterlaufen werden könnte. Descartes erweckt hier den Eindruck, als sei Zweifel an der Wahrheit von Axiomen und mathematischen Sätzen nur solange er­ laubt, wie man sie lediglich aus der Erinnerung nehme, also etwas ehemals Deutliches undeutlich vorstelle; achte man jedoch sorgfältig auf sie, d. h. hat man sie klar und deutlich vor sich, sei jeder Zweifel ausgeschlossen. Nun kann zwar die Schwäche des Gedächtnisses spä­ ter, bei der Ausarbeitung der Wissenschaft, zum Problem werden, doch war dem bereits in den Regulae durch die enumeratio ein Riegel vorgeschoben, während in Bezug auf wirklich einfache Naturen oh­ nehin immer Klarheit und Deutlichkeit der Perzeption besteht. Das Argument des Lügengottes war dagegen viel grundlegender; der Clou dabei war der, daß die Klarheit und Deutlichkeit selbst nur vor­ getäuscht sein könne, betrifft also eben die Situation, für die Descartes hier den Zweifel ausschließen will. Man erinnert sich: in der dritten Meditation wurden ausdrücklich die arithmetischen und geo­ metrischen Wahrheiten bezweifelt, und zwar nicht, sofern man sich ihrer Deutlichkeit nur undeutlich entsinne, sondern hinsichtlich die­ ser Deutlichkeit selbst. Denn »sooft aber diese vorgefaßte Meinung von der Allmacht Gottes mir aufstößt, kann ich nicht umhin zu ge­ stehen, daß es ihm, wenn er nur will, leicht sei zu bewirken, daß ich mich selbst in dem irre, was ich ganz klar mit meinem geistigen Auge zu durchschauen (mentis oculis quam evidentissime intueri) glaube« (Med. III, §4). Dieser Zweifel sei zwar »recht schwach und, sozusa­ gen, metaphysisch«, aber dennoch angebracht (ebd.); weshalb man, wie Descartes dort ausdrücklich betont, über nichts anderes völlig gewiß sein könne, solange nicht bewiesen sei, daß Gott existiert und daß er nicht betrügt. Der bereits zitierte §13 der Principia läßt an Deutlichkeit ebenfalls nichts zu wünschen übrig: dort bezieht sich Descartes direkt auf die Axiome und bezeichnet den Zweifel an ihnen als berechtigt, so daß »jede sichere Erkenntnis unmöglich (erscheint), solange man den Urheber seines Daseins nicht kennt«. Das von Descartes vorgebrachte Argument ist also nicht geeig­ net, den Zweifel an seiner Vorgehensweise zu zerstreuen. Um so in­ teressanter ist es in methodischer Hinsicht, impliziert es doch nichts weniger als die zumindest teilweise Rücknahme des radikalen Zwei­ 94

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fels, womit aber die dogmatische Voraussetzung mathematischer Evidenz als Wahrheitskriterium restauriert wäre. Damit allerdings wäre die mit der Annahme des Lügengottes gesetzte Beweisabsicht aufgegeben und Status weitgehend wiederhergestellt, wie er noch in den Regulae unhinterfragt bestand. Das Dilemma entsteht durch das Argument des Lügengottes selbst: Hätte Descartes eine Möglichkeit gefunden, nur die Evidenz der rein materiellen einfachen Naturen anzuzweifeln, wäre ihm bei Ausschluß sinnlicher Evidenz ein Fort­ kommen in der metaphysischen Untersuchung möglich gewesen; die Konstruktion eines bösen, täuschenden Geistes aber führt notwendig zum Zweifel auch an den Axiomen und damit in die genannten Schwierigkeiten. Hier zeigt sich in aller Deutlichkeit der metho­ dische Zwiespalt, auf den ich bereits hingewiesen habe: Wenn zum einen die Evidenzwahrheit durch den methodischen Zusatzschritt des radikalen Zweifels selbst abgesichert werden soll, bildet sie doch die Voraussetzung, die für die Untersuchung selbst in Teilen ihre Gültig­ keit behält, ebenso wie die Beweisabsicht von vornherein feststeht; der radikale Zweifel, der für sich allein alles andere als eine ausrei­ chende Methode abgibt, soll zu nichts anderem führen als zu mathe­ matischen Wissenschaft; daß er dies von sich aus keineswegs tut, bildet das methodische Hauptproblem der Ersten Philosophie. Auch der zweite Beweis der Meditationen bietet keine Möglichkeit, dem methodischen Zirkel zu entgehen. Gewissermaßen als Ergän­ zung an den ersten angehängt, dient er, so schreibt Descartes in den ersten Erwiderungen, in erster Linie dazu, »den einen Beweisgang noch vollkommener zu veranschaulichen« (I. Resp., 95). Wie der er­ ste nimmt auch dieser Beweis seinen Ausgang von dem Vorhanden­ sein der Idee eines vollkommensten Wesens; Descartes versucht zu zeigen, daß aus der Existenz des Ich, das mit dieser Idee ausgestattet ist, notwendig auch die Existenz des in dieser Idee vorgestellten We­ sens folgt. In Bezug auf die methodische Schwierigkeit bringt auch dieser Beweis nichts Neues, da er wie der vorige die Gültigkeit des Kausalgesetzes voraussetzt (vgl. Med. III, §33; Anhang zu II. Resp., 152; Principia I, §20f.). Was diesen Beweis jedoch besonders interessant macht, ist die in ihm gegebene nähere Bestimmung Gottes. Überhaupt weist ja nach Ansicht Descartes' sein Verfahren, das »Dasein Gottes aus seiner Idee« zu beweisen, den Vorzug auf, »daß wir, soweit die Schwäche unserer Natur es zuläßt, erkennen, wer er ist« (Principia I, §22) Die Begründung der Wissenschaft aus reiner Vernunft

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was nichts anderes heißt als daß »man auch alle seine Attribute (er­ kennt), soweit sie allein durch das natürliche Licht erkannt werden können« (Gliederung der Principia, III).21 Es handelt sich dabei um die Bestimmung Gottes als einer causa sui. Descartes gelangt zu ihr auf folgende Weise: Da das unvollkom­ mene Ich sich nicht selbst mit der Idee des vollkommensten Wesens geschaffen haben kann und sich auch keiner Fähigkeit bewußt ist, sich selbst im Dasein zu erhalten, muß notwendig ein vollkommene­ res Wesen als Ursache seiner Existenz angenommen werden. Gemäß dem Kausalgesetz ergibt sich dann: »Da ich nun ein denkendes We­ sen bin, und ich eine Vorstellung von Gott in mir besitze, so wird man zugeben müssen, daß, was man auch als Ursache meines Daseins angeben mag, diese ebenfalls ein denkendes Wesen sein und eine Vorstellung von allen Vollkommenheiten besitzen muß, die ich Gott zuschreibe. Und so läßt sich nun für sie wiederum die Frage stellen: existiert sie aus eigener Kraft (a se) oder kraft einer anderen Ursache (ab alia)? Wenn aus eigener Kraft, so erhellt aus dem Gesagten, daß sie selbst Gott ist. Denn, hat sie die Kraft, aus eigenem Vermögen zu existieren (per se existendi), so hat sie zweifelsohne auch die Kraft, alle die Vollkommenheiten wirklich zu besitzen, deren Vorstellungen sie in sich hat, d. h. alle die, die ich mir in Gott denke. Existiert sie aber kraft einer anderen Ursache, so wird es sich wiederum von dieser anderen fragen, ob sie aus eigener Kraft oder kraft einer anderen existiert, bis man schließlich zur letzten Ursache (causam ultimam) gelangt, die Gott sein wird.« (Med. III, §33) Das heißt also, Gott ist die letzte Ursache der Existenz des Ich, er selbst aber setzt keine an­ dere Ursache seines Daseins voraus als sich selbst, hat sein Dasein also nicht von einem anderen, sondern rein von sich selbst - ist a se. Daß er damit als causa sui bestimmt ist, hat Descartes in den Erwi­ derungen sowohl auf die ersten als auch auf die vierten Einwände diskutiert; dort hat er auch erläutert, wie er diese Bestimmung ver­ standen wissen will. Ausdrücklich distanziert er sich in den ersten Erwiderungen in höchst aufschlußreicher Weise vom aristotelischthomistischen Beweis Gottes als der ersten Ursache (I. Resp., 96 ff.) und erklärt seinen Begriff von causa sui dahingehend, »daß hier 21 Dies gilt in erster Linie von den beiden ersten, kausalen Beweisen; doch wird auch der gleich noch zu betrachtende ontologische Beweis von der Idee ausgehend geführt, so daß sich dieser Vorzug der Beweisart wohl auf alle und nicht lediglich auf den (die) kausalen im Gegensatz zum ontologischen Beweis bezieht. 96

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nicht die Erhaltung gemeint ist, die durch einen positiven Einfluß einer wirkenden Ursache zustande kommt, sondern nur, daß Gottes Wesenheit von solcher Beschaffenheit ist, daß er eben immer existie­ ren muß« (ehd., 98).22 Das a-se-Sein Gottes wird also nicht als wir­ kende Ursache im strengen Sinn, aber nichtsdestoweniger »so positiv wie nur möglich« (ebd., 100) verstanden. Daher sei es »für uns durchaus statthaft zu denken, daß er (Gott, A. F.) in gewisser Weise mit Bezug auf sich selbst dieselbe Rolle spielt, wie die wirkende Ur­ sache mit Bezug auf ihre Wirkung, und daß er demnach positiv durch sich selbst ist« (ebd.). Da Arnauld an dieser Formulierung einigen Anstoß nahm, hat Descartes in seiner Antwort auf dessen Einwände nochmals des langen und breiten auseinandergesetzt, daß er die Aseität Gottes nur nach Analogie mit der Wirkursache habe fassen wollen (IV Resp., 213 ff.). Streng genommen betreffe das Durch-sich-selbstSein Gottes seine Formalursache bzw. seine positive Wesenheit (ebd., 216 f.); dennoch habe er sich »der Analogie der wirkenden Ursache bedient (...), um das zu erklären, was zur Formalursache, d.h. zur Wesenheit Gottes selbst gehört« (ebd., 218 f.), weil nämlich »alle die­ se Ausdrucksweisen, die von der Analogie mit der wirkenden Ur­ sache entlehnt sind, nichtsdestoweniger sehr notwendig (sind), um das natürliche Licht derart zu lenken, daß wir diese Dinge deutlich bemerken« (ebd., 218). Daher »muß man sagen, daß man dem, der fragt, warum Gott existiert, zwar nicht antworten darf mit der wir­ kenden Ursache im eigentlichen Sinne, sondern nur mit der Wesen­ heit der Sache selbst, oder dem formalen Grund, der eben deswegen, weil sich in Gott die Existenz von der Wesenheit nicht unterscheiden läßt, sehr stark der wirkenden entspricht und deshalb gewissermaßen als wirkende Ursache bezeichnet werden kann« (ebd., 220). Das heißt, für Gott gibt es keine ihm äußerliche causa efficiens, wohl aber gehört es zu seiner seine essentia ausmachenden causa formalis, selbst Ursache seines Daseins zu sein, was in Analogie zur Wirk­ ursache als causa sui zu bezeichnen ist.23 Daß aber die notwendige 22 Diese Bestimmung Gottes als causa sui ist von entscheidender Bedeutung für Spino­ za, der seine Ethik mit der entsprechenden Definition beginnt. 23 Für einen Vergleich von aristotelischem und cartesischem Substanzbegriff ist es in­ teressant, daß Aristoteles in der Metaphysik in Fortbestimmung des hypokeimenon den eidos als protae ousia, also als erste und eigentliche Substanz entwickelt hat (Buch VII ff.; besonders VII 7, 1032 b). Genau auf diese Bestimmung spielt Descartes hier mit der Verbindung von Wesenheit und Formursache (ousia und eidosfmorphae) an, und er selbst verweist in diesem Zusammenhang auf die aristotelische Analytik (IV Resp., Die Begründung der Wissenschaft aus reiner Vernunft

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Existenz im Begriff Gottes eingeschlossen ist, verweist bereits auf den ontologischen Gottesbeweis. b) Der ontologische Beweis und seine Stellung zu den übrigen Beweisen Der dritte, von Kant später so genannte >ontologische< Beweis Gottes erweist sich in inhaltlicher Hinsicht zunächst als wenig interessant. Er bringt keine neuen Bestimmungen der göttlichen Substanz, da er nicht vom gesamten Bedeutungsgehalt deren Idee ausgeht, sondern sich auf die Verbindung von Vollkommenheit und Existenz be­ schränkt. In ihm wird nicht die Idee Gottes bzw. die Existenz des mit dieser Idee ausgestatteten unvollkommenen Ichs als Wirkung ange­ sehen, von der aus auf eine Ursache zu schließen ist, sondern es wird diese Idee rein für sich betrachtet; in diesem Sinne ist der Beweis, im Gegensatz zu den beiden anderen, a priori (vgl. Anhang zu II. Resp., 151 f.). Gerade dies aber läßt ihn prima facie geeignet erscheinen, dem methodischen Zirkel zu entgehen, in den die beiden vorigen Beweise mündeten, da sich hier die Möglichkeit eröffnet, Gottes Existenz ohne Rekurs auf das Kausalgesetz zu beweisen. Allerdings wird dieser Beweis erst in der fünften Meditation geführt, also ge­ wissermaßen nachgereicht, was darauf hindeuten könnte, daß in der dritten Meditation noch nicht alle für ihn erforderlichen Vorausset­ zungen erfüllt sind. Andererseits hat Descartes den ontologischen Beweis im Anhang zu den zweiten Erwiderungen wie auch in den Principia den beiden kausalen vorangestellt. Dies wiederum leistet dem Eindruck Vorschub, Descartes habe, durch die Einwürfe gegen seine ersten beiden Beweise veranlaßt, die Beweise so umgestellt, daß der voraussetzungslosere und daher überzeugendere den Anfang macht.24 219). Allerdings trennt er streng zwischen essentia und substantia, die beide in der aristotelischen ousia enthalten sind, und ich sehe nicht, daß die obige Bestimmung in irgendeiner Weise Eingang in seinen eigenen Substanzbegriff gefunden hätte. Hier nimmt er von Aristoteles, darin durchaus der Tradition folgend, vor allem die Bestim­ mung des hypokeimenon bzw. der ersten Substanz aus der Kategorienschrift auf. 24 Sehr dezidiert vertritt Bernard Williams diese These: »Dieses letztere Argument«, so schreibt er, »wird nicht deshalb bis zur Fünften Meditation hinausgeschoben, weil es sich auf Überlegungen stützt, die in der Dritten Meditation nicht verfügbar waren. Im Gegenteil, es ist sogar sparsamer an Prämissen als das frühere Argument« (Vorhaben, 123). Selbst Wolfgang Röd interpretiert die Umstellung in diese Richtung, obwohl er dann sehr genau die Voraussetzungen aufzeigt, die auch für den ontologischen Beweis 98

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Dagegen ist zunächst einzuwenden, daß Descartes seihst eine andere Erklärung der veränderten Steilung gegehen hat. Im Gespräch mit Burman führt er dieshezüglich aus: »Jener andere (der ontologische, A. F.) Beweis aher der fünften Meditation läuft a priori und geht nicht von der Wirkung aus. Er steht aher in den >Meditationen< an späterer Stelle als dieser Beweis, weil der Autor heide Beweise so fand, daß der zuerst kommt, den er in dieser (der dritten, A. F.) Me­ ditation führt, der andere aher folgt. In den >Prinzipien< dagegen hat er jenen vorangestellt, denn der Weg und die Reihenfolge des Findens sind anders als die des Lehrens. In den >Prinzipien< aher heht der Verfasser auf lehrhafte Darstellung ah und geht synthetisch vor.« (25) Auch wenn der Hinweis auf die synthetische Darstellungsweise der Principia etwas irritierend ist, da dort auf keinen Fall in der Weise des Anhangs zu den zweiten Erwiderungen synthetisch verfahren wird, ist also zu hemerken, daß Descartes der Meinung war, der ontologi­ sche Beweis könne vor dem kausalen zwar dargestellt, nicht aher gefunden werden. Das aher würde hedeuten, daß der ontologische Beweis eine Voraussetzung macht, üher die vor den ersten Gottesheweisen nicht entschieden werden kann. In der Tat läßt sich zeigen, daß genau dies der Fall ist. In seiner Kurzfassung in den Principia lautet der Beweis folgen­ dermaßen: »Wenn der Geist dann unter seinen verschiedenen Ideen die eines allweisen, allmächtigen und höchst vollkommenen Wesens hetrachtet, welche hei weitem die vornehmste ist, so erkennt er darin dessen Dasein nicht hloß als möglich oder zufällig, wie hei den Ideen anderer Dinge, die er distinkt erfaßt, sondern als durchaus notwendig und ewig. So wie z. B. der Geist hei der Idee des Dreiecks es als not­ wendig darin enthalten erkennt, daß seine drei Winkel gleich zwei rechten sind und deshalh üherzeugt, ist, daß ein Dreieck drei Winkel hat, die gleich zwei rechten sind, so muß er lediglich daraus, daß er einsieht, daß in der Idee eines höchst vollkommenen Wesens das gemacht werden (Röd, Der Gott der reinen Vernunft. Die Auseinandersetzung um den ontologischen Gottesbeweis von Anselm bis Hegel, München 1992, 60f.). Mir scheint allerdings, daß Descartes sich dieser Voraussetzungen, anders als hei den ersten Bewei­ sen, sehr wohl hewußt war und daher nicht glauhen konnte, die hei diesen auftretenden Schwierigkeiten durch das Vorziehen des ontologischen Beweises umgehen zu können. Nicht also »das Verhältnis der heiden Gottesheweise« ändert sich (Röd, ehd., 60), son­ dern die Reihenfolge ihrer Darstellung. Möglicherweise hegte Descartesjedoch tatsäch­ lich die Hoffnung, die veränderte Reihenfolge würde seinen Beweisen einen höheren Anschein von Richtigkeit verleihen. Die Begründung der Wissenschaft aus reiner Vernunft

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notwendige und ewige Dasein enthalten ist, folgern, daß das höchst vollkommene Wesen existiert.« (I, §14) Verräterisch sind hier das geometrische Beispiel sowie der Hinweis auf die »Ideen anderer Din­ ge, die er distinkt erfaßt«. Denn was hei der Beweisführung hier vor­ ausgesetzt ist, ist nichts anderes als daß eine Idee, die klar und deut­ lich ist, auch wahr ist. Ich erkenne klar und distinkt, daß zur Vollkommenheit die Existenz gehört - auf die wirkliche Existenz eines solchen vorgestellten Wesens kann ich aher erst dann schließen, wenn diese klare und deutliche Idee auch eine wahre ist. Diese Vor­ aussetzung hat Descartes in den Meditationen recht offen gemacht; letztlich komme der Beweis darauf hinaus, »daß mich allein das üherzeugt, was ich klar und deutlich erfasse« (Med. V, §12). Ja er heginnt dort den ontologischen Gottesheweis sogar mit der Feststellung, er wolle ihn dem Umstand entnehmen, »daß alles, was ich klar und deutlich als zur Sache gehörend erfasse, tatsächlich ihr zugehört« (ehd., §7). Damit aher erweist sich der ontologische Beweis Gottes als gänzlich ungeeignet, die immer noch hestehende Schwierigkeit hezüglich der Methode aufzulösen; er läßt sich nur unter der Voraussetzung führen, daß entweder Gott hereits hewiesen ist (wo­ mit er als Gottesheweis allerdings reichlich üherflüssig wird), oder daß Klarheit und Deutlichkeit dogmatisch als Wahrheitskriterien verwendet werden.25 Insgesamt ergiht sich damit, daß die Gottesheweise entweder einander gegenseitig voraussetzen, indem der ontologische Beweis die Gültigkeit des für die heiden ührigen henötigten Kausalgesetzes garantieren könnte, er aher hereits die Gültigkeit der Evidenzwahr­ heit voraussetzt, was selhst wiederum einen anderen Gottesheweis erheischt;26 oder aher daß sie die ihnen zugewiesene Funktion des Beweises zentraler Sätze der cartesischen Methode nicht erfüllen, da 25 Die These von Williams (vgl. Fn. 24) erweist sich somit als falsch: Weit entfernt davon, »sparsamer als das frühere Argument« zu sein, hat der ontologische Beweis Des­ cartes' dieses Argument selhst zu seiner Voraussetzung. 26 Zu diesem Ergehnis der gegenseitigen Bedingtheit der cartesischen Gottesheweise gelangt auch Wolfgang Röd, Gott der reinen Vernunft, 69ff. Er heschreiht dies als »aporetische Situation: Um den kausalen Gottesheweis führen zu können, ist es nötig, in unahhängiger Weise die ohjektive Gültigkeit des Kausalitätsprinzips zu heweisen; tut man das mit Hilfe des apriorischen (ontologischen) Gottesheweises, dann ist das nur mit Hilfe einer Voraussetzung möglich, die einen Gottesheweis erfordert, der unter den gegehenen Bedingungen nur der kausale (wie die ersten heiden zusammenfassend ge­ nannt werden, A. F.) sein kann. Jeder der heiden Beweise ist somit auf den jeweils ande­ ren angewiesen, und keiner von ihnen ist für sich allein schlüssig. Infolgedessen muß 100

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diese Sätze bei der Beweisführung selbst zumindest implizit Verwen­ dung finden. Nicht viel besser steht es mit der entscheidenden Eigenschaft Gottes, die ja noch zwecks Absicherung der Methode erwiesen wer­ den sollte: kann Gott ein Betrüger sein? Denn dazu heißt es in den Principia schlicht und einfach, es sei das »erste Attribut Gottes, das hier in Betracht kommt (...), daß er im höchsten Grade wahrhaft und Geber allen Lichtes ist. Er kann uns deshalb nicht betrügen noch auch im eigentlichen oder positiven Sinne die Ursache der Irrtümer sein, denen wir uns ausgesetzt sehen« (I, §29). In der dritten Meditation wird ein Beweis zumindest zu geben versucht; da Gott alle Vollkom­ menheiten besitze und demnach »für Schwächen unempfänglich ist«, das natürliche Licht jedoch evident mache, »daß aller Trug und alle Täuschung auf irgendeiner Schwäche beruht«, sei diese Eventualität ausgeschlossen (§38). Nun kann aber doch ganz unabhängig davon, ob man diesen Satz tatsächlich für evident halten muß, über den Wahrheitsgehalt solcher durch das natürliche Licht erkannter Sätze nicht entschieden werden, solange die Möglichkeit besteht, daß Gott eben doch täuscht; dies dann über das natürliche Licht selbst aus­ zuschließen, wie hier geschehen, ist wahrlich kein Verfahren, dem mathematische Sicherheit attestiert werden kann. Man sieht, in welch gekünstelte und fragwürdige Argumentationen Descartes zu flüchten gezwungen ist, nachdem er sich einmal in die methodische Zwickmühle gebracht hat. Die Sichtung der cartesischen Gottesbeweise hat damit zu folgendem Ergebnis geführt: Im Hinblick auf die Beweisabsicht der mathematischen Wahr­ heitskriterien der Klarheit und Deutlichkeit muß das Descartessche Unternehmen als gescheitert angesehen werden. Dies gilt sowohl für die Gottesbeweise selbst als auch für die im vorigen Kapitel behan­ delte Erkenntnis seiner selbst als einer res cogitans, da dort wie beim kausalen Gottesbeweis völlig unzulässigerweise ein Axiom Verwen­ dung findet. Es gelingt Descartes nicht, die methodischen Schwierig­ keiten, in die er sich mit der Annahme des Lügengottes gebracht hat, aufzulösen. Nur konsequent ist es daher, daß er an verschiedenen Stellen (wie in der oben zitierten Antwort auf Burman (vgl. S. 91) Descartes' Versuch, die Existenz Gottes zu beweisen, als gescheitert angesehen werden« (ebd., 71). Die Begründung der Wissenschaft aus reiner Vernunft

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oder in Med. V, § 14) dazu neigt, die Gültigkeit der Evidenzwahrheit auch unabhängig von den Gottesheweisen zu behaupten - womit ihm zwar die Beweise möglich werden, jedoch ihre entscheidende syste­ matische Funktion verlieren, da diese gerade darin bestand, den Zweifel an der Wahrheit von klaren und deutlichen Ideen zu heseitigen. Und doch war es allein diese systematische Funktion, derent­ wegen sich überhaupt in der cartesischen Ersten Philosophie die Not­ wendigkeit eines Gottesheweises ergehen hatte. Dieser Punkt ist es denn auch, den Descartes als Resultat seiner vermeintlich geglückten Beweise herausstellt. Aus ihnen folge, so schreibt er im Paragraphen 30 des ersten Teils der Principia, »daß das natürliche Licht (lumen naturae) oder das von Gott uns verliehene Erkenntnisvermögen, nie­ mals einen Gegenstand erfassen kann, der nicht, soweit er erfaßt wird, d.h. soweit er klar und deutlich erkannt ist, wahr wäre. (...) Damit ist jener äußerste Zweifel beseitigt, wonach wir nicht wüßten, ob wir nicht vielleicht eine Natur hätten, die auch in dem, was am offenbarsten erscheint, getäuscht werde«. Descartes hielt demnach die mit dem radikalen Zweifel gesetzte Beweisabsicht für erfüllt; wo­ mit die erste der beiden Aufgaben der Ersten Philosophie erledigt wäre: »Denn es können uns nunmehr die mathematischen Wahrhei­ ten nicht mehr als verdächtig erscheinen, da sie vollkommen deutlich sind. Und wenn wir auf das, was in den Wahrnehmungen im Wachen wie im Traume klar und deutlich ist, achten und dies von dem Ver­ worrenen und Undeutlichen absondern, werden wir leicht erkennen, was bei jeder Sache für wahr zu halten ist.« (ebd.) Dieses Ergebnis wird auch in den Meditationen hervorgehoben: »jeder klare und deutliche Begriff ist doch zweifellos etwas und kann nicht aus Nichts stammen, sondern er hat notwendig Gott zum Urheber, jenen höchst vollkommenen Gott, sage ich, mit dem Betrug nicht vereinbar ist, und also ist er ohne Zweifel wahr« (Med. IV, §17). Indem der nicht trügerische Gott als Geber des natürlichen Lichts (Principia I, §29) ausgemacht ist, wird dessen oben genannte Beschränkung überwun­ den; nun kann alles durch es Erkannte für unzweifelhaft wahr gelten. Nach den Gottesbeweisen wäre also die Mathesis universalis wieder eingeholt, wie sie als methodische Vorgabe bereits vor der metaphy­ sischen Untersuchung bestand. Nur muß man die wichtige Modifi­ kation berücksichtigen, die die Universalmethode erfahren hat: von einer sinnlichen Evidenz ist weiterhin nicht die Rede. Man kann da­ her durchaus auch autobiographisch verstehen, was Descartes in der 102

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Die Gottesbeweise

fünften Meditation schreibt, daß nämlich nun das bewiesen sei, was er »auch vor dieser Zeit, als ich noch im höchsten Grade den Gegen­ ständen der Sinne verhaftet war« (also noch bei Abfassung der Regulae, A. F.) für das Gewisseste gehalten habe, nämlich »zur Arith­ metik oder Geometrie oder überhaupt zur reinen und abstrakten Mathematik (puram atque abstractam Mathesim) gehörende Wahr­ heiten« (Med. V, §6). Mit den Gottesbeweisen, und erst mit diesen, ist - folgt man Descartes - ein festes Fundament für die Wissenschaft gelegt. Nun endlich kann mit dem Aufbau der wahren Philosophie nach den Grundsätzen der neuen Universalmethode begonnen werden, die, ak­ zeptiert man einmal die Beweise, als die richtige erwiesen ist. Gott oder die unendliche Substanz ist also zusätzlich zur res cogitans als zweite Ausgangsevidenz erfordert, um der cartesischen Wissenschaft die notwendige Sicherheit zu geben. Ich sage Ausgangsevidenz, ob­ wohl natürlich das denkende Ich fraglos die erste Gewißheit der me­ taphysischen Untersuchung bildet. Denn nicht nur ist diese Erkennt­ nis für die geforderte Begründung unzureichend; die res cogitans ist auch selbst, wie sich jetzt gezeigt hat, von einem anderen abhängig. Zumindest in ontologischer Hinsicht bildet daher Gott den Aus­ gangspunkt des Systems, das somit über einen doppelten Anfang verfügt: wenn das denkende Ich das Erste ist, was im Zweifelsgang gefunden werden kann, so ist Gott letzter Grund sowohl der Existenz wie der Erkennbarkeit dieses Ich. In den Principia heißt es dazu: »Da also Gott allein von allem, was ist oder sein kann, die wahre Ursache ist, so folgen wir offenbar dem richtigsten Weg im Philosophieren, wenn wir versuchen, aus der Erkenntnis Gottes selbst die Erklärung der von ihm geschaffenen Dinge (zu denen auch die res cogitans ge­ hört!; A. F.) abzuleiten, da wir so das vollkommenste Wissen (scientiam perfectissimam), nämlich die Kenntnis der Wirkung aus der der Ursachen gewinnen.« (I, §24) Und in den Meditationen wird Gott ebenfalls als das Allerevidenteste, und das hieße doch: evidenter als das Ich selbst, herausgestellt: »Was aber Gott betrifft, so würde ich sicherlich nichts eher und leichter erkennen als ihn, wenn nicht mein Denken mit Vorurteilen überladen wäre und die Bilder körperlicher Dinge mein Bewußtsein ganz einnähmen. Denn - was ist an sich offenkundiger, als daß das höchste Wesen (summum ens) ist oder daß Gott, bei dem allein das Dasein zum Wesen gehört, existiert?« (Med.III, §12) In dieselbe Richtung weist auch die Kennzeichnung der Vorstellung Gottes als »erste und vorzüglichste« der angebore­ Die Begründung der Wissenschaft aus reiner Vernunft

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Methode und Substanz bei Descartes

nen Ideen in der fünften Meditation (§11). Es bietet sich daher fast zwangsläufig an, mit Gott das System zu beginnen und sich so die fragwürdigen Beweise, die beim Anfang mit dem Ich notwendig wer­ den, zu ersparen - Spinoza hat, wie unten zu zeigen sein wird, später genau das getan. Jedenfalls hat Descartes, wie er an Picot schreibt, mit der Exi­ stenz des denkenden Ich (dort ausdrücklich als »erstes Prinzip« be­ zeichnet) und Gottes, der als »Urheber von all dem (...), was sich in der Welt vorfindet« wie als »Urquell aller Wahrheit« erkannt ist, die benötigten metaphysischen Einsichten im engeren Sinne zusammen: »Das sind alle meine Prinzipien, deren ich mich in den immateriellen oder metaphysischen Dingen bediene, und aus ihnen leite ich in der klarsten Weise die körperlichen oder physischen Dinge ab« (Princi­ pia, XXXVIII). c) Die Neufassung des Substanzbegriffs in der Gottesidee Mit Gott hat Descartes nach der Erkenntnis seiner selbst als res cogitans Kenntnis von einer zweiten Substanz erlangt, die von der ersten nicht nur hinsichtlich der Attribute, sondern auch in Bezug auf das Substanz-Sein selbst erheblich unterschieden ist. Schon der Weg ihrer Auffindung war ein anderer: während die res cogitans als Sub­ jekt der im Zweifelsgang übriggebliebenen reinen Denkbestimmun­ gen erschlossen wurde, wird die unendliche Substanz als eingeborene Idee vom Ich vorgefunden und dann von dieser Idee (im ontologi­ schen Beweis) bzw. deren Vorhandensein in der endlichen res cogitans (in den beiden kausalen Beweisen) auf ihre Existenz geschlossen.27 Es sind wohlgemerkt nicht einige Attribute dieser Substanz, die das Ich in sich vorfindet, sondern es ist die Idee der unendlichen Substanz selbst. Zwar hat auch diese Substanz Attribute, diese gehen jedoch ihrer Erkenntnis nicht voran. Von diesen Attributen kann das Ich nur einen Teil erkennen, nämlich »soweit sie allein durch das natürliche Licht erkannt werden können« (Gliederung der Principia, III). Solche Attribute nennt Descartes in der Explikation der Idee der unendlichen Substanz als »unendlich (infinitam), unabhängig (inde­ pendentem), allwissend (summe intelligentem), allmächtig (summe potentem)« (Med. III, §22); außerdem werden in den Principia als 27 Zur Kennzeichnung der Vorstellung Gottes als eingeborene Idee vgl. Med. III, §37 u. V,§11. 104

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Die Gottesbeweise

weitere Attribute angeführt, daß Gott »die Quelle aller Güte und Wahrheit und der Schöpfer aller Dinge (rerum omnium creatorem')« ist (I, §22). Nicht zu vergessen die freilich etwas zweifelhafte Eigen­ schaft Gottes, »im höchsten Grade wahrhaft« und also nicht betrüge­ risch zu sein (ebd., §29). Die zweifellos bedeutsamste Bestimmung der unendlichen Substanz aber ist die einer causa sui oder eines ens a se im positiven Sinn. Denn durch sie ist diese Substanz gegenüber den übrigen (einstwei­ len nur dem Ich als res cogitans, jedoch später in gleicher Weise der res extensa gegenüber) nicht bloß in einer Eigenschaft, sondern als Substanz unterschieden; sie macht die differentia specifica der gött­ lichen Substanz nicht einfach als einer anderen Substanz, sondern als Substanz anderer Art aus. Um diese Differenz genauer zu bestim­ men, sind zunächst diejenigen Punkte zu betrachten, in denen die beiden bisher gewonnenen Substanzen Übereinkommen. Da ist ein­ mal die im vorigen Kapitel bereits erläuterte, an das aristotelische hypokeimenon anschließende Bestimmung der Substanz als Subjekt, als Träger von Akzidentien, die für Gott ebenso Gültigkeit hat wie für die res cogitans. Des weiteren stimmen die beiden überein in einem Merkmal, das eng mit dem ersten zusammenhängt und das vor allem in der Scholastik im Vordergrund stand: ihrem per-(bzw. in-)se-Sein. Damit wird die Substanz nicht so sehr als Träger von Akzidentien betrachtet, sondern vielmehr der Umstand herausgehoben, daß sie selbst nicht Akzidens ist, also keiner Substanz als Träger bedarf und selbständig für sich besteht. So nennt Descartes »alles das, was auf natürliche Weise ohne Subjekt sein kann, Substanz« (VI. Resp., 376 f.) und bezeichnet es als den »Begriff der Substanz, daß sie durch sich selbst, d. h. ohne Hilfe irgendeiner anderen Substanz existieren kann« (IV Resp., 205). Und in der dritten Meditation wird Substanz gekennzeichnet als »Ding, das fähig ist, für sich zu existieren (rem, quae per se apta est existere)« (§21). Soweit also läßt sich Substanz bestimmen als das ontologisch Selbständige, Für-sich-Seiende, das nicht an einem anderen existiert, sondern selbst den Grund der Exi­ stenz für das andere, Akzidentelle abgibt, ens per se und subjectum, hypokeimenon ist. Dies alles ist, wie gesagt, noch weitgehend traditionell. In der Bestimmung des a se aber geht Descartes über die Vorgaben der Scholastik hinaus. Mit dem a se wird im Unterschied zum per oder in se auf die Ursächlichkeit der Substanz angespielt. Nun kennt zwar Die Begründung der Wissenschaft aus reiner Vernunft

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Methode und Substanz bei Descartes

auch die Scholastik diese Bestimmung Gottes gegenüber den übri­ gen, von ihm geschaffenen Substanzen, doch wird sie dort nur nega­ tiv gebraucht; Gott ist das Wesen, für das keine Ursache angegeben werden kann.28 Descartes faßt dagegen das a-se-Sein ausdrücklich positiv, indem er, wie oben dargelegt, Gott als selbstursächlich, als causa sui kennzeichnet.29 Damit ergibt sich zum einen eine Hier­ archie der Substanzen: Gott als unerschaffener Substanz steht die res cogitans als erschaffen gegenüber, deren Existenz, ihrer Bestim­ mung als per se zum Trotz, in gewisser Weise durchaus ab alio, näm­ lich von Gott abhängt; zwar bedarf die geschaffene Substanz keines Trägers, wohl aber eines Schöpfers, der sie fortwährend im Sein er­ hält. Noch bedeutsamer aber ist der Umstand, daß Descartes eine Tendenz entwickelt hat, die Bestimmung von »Substanz« auf die vollkommene Selbständigkeit des a-se-Seins einzuschränken, wenn es in der bekannten Definition aus dem §51 des ersten Teils der Principia heißt: »Unter Substanz können wir nur ein Ding verstehen, das so existiert, daß es zu seiner Existenz keines anderen Dinges bedarf (rem quae ita existit, ut nulla alia re indigeat ad existendum); und eine Substanz, die durchaus keines anderen Dinges bedarf, kann man nur als eine einzige denken, d.h. als Gott.« Mit dieser Betonung des Moments der Aseität der Substanz ist Descartes auf dem Weg zu einer neuen, strengeren Fassung des Substanzbegriffs. So ist also tat­ sächlich mit der Bestimmung der causa sui »der äußerste Begriff der cartesischen Substanz« erreicht, wie Stegmaier es ausgedrückt hat.30 28 Hessen kennzeichnet den Unterschied von per se und a se folgendermaßen: »Die Scholastiker haben beim Ausdruck >per sec nicht das Verhältnis des Seienden, des Ein­ zeldinges zu seiner Ursache im Auge. Perseität besagt ihnen nicht Ausschluß der wir­ kenden Ursache, sondern der ontologischen Unselbständigkeit. Nicht das Wirkungsein, sondern das Akzidenzsein, das Existieren an einem Subjekt soll mit dem per se negiert sein. Fürjenes andere, kausale Moment hatten die Scholastiker einen anderen Terminus. Das Wesen, das durch sich selbst existiert, das keiner Ursache bedarf, um zu existieren, nannten sie nicht ens per se, sondern ens a se. Da alle anderen Wesen in ihm ihren Ursprung haben, erscheinen sie als entia ab alio. Nach Ansicht der Scholastiker ist also die endliche Substanz zwar kein ens in alio - das ist ja das Akzidenz - wohl aber ein ens ab alio. Ihr >Für-sich-seinc (so müssen wir das per se übersetzen) schließt das Verursacht­ sein nicht aus.« (Substanzproblem, 23) 29 Besonders aufschlußreich sind in dieser Hinsicht die ersten Einwände und die Erwi­ derungen Descartes' darauf, Resp. 84f. u. 100ff. 30 Substanz, 131. Auch Hessen sieht »gerade darin das Neue und Grundstürzende des kartesianischen Substanzbegriffs (...), daß hier, wenn auch noch etwas zaghaft und ohne daß die Konsequenzen gezogen werden, an die Stelle des Merkmals der Perseität das Moment der Aseität tritt« (Substanzproblem, 23). 106

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Die Gottesbeweise

Nichtsdestoweniger hat Descartes an der Bestimmung der res cogitans und der res extenso, als Substanzen festgehalten, da dies für seine Gesamtkonzeption unbedingt erforderlich ist, und es bei der etwas unbefriedigenden Konstruktion belassen, Gott sei eigentlicher oder in anderer Weise Substanz als die übrigen: »Deshalb gebührt der Name Substanz Gott und den übrigen Dingen nicht in gleichem Sin­ ne, univoce, wie man in den Schulen sagt, d. h. es gibt keine deutlich einzusehende Bedeutung dieses Wortes, welche Gott und den Ge­ schöpfen gemeinsam wäre.« (ebd.) Wenn aber schon eine solche Un­ terscheidung getroffen wird und manche Substanzen also nur in we­ niger strengem Sinne bzw. eine der Substanzen mehr Substanz als die anderen sein soll, dann liegt es natürlich nahe, das mehr durch ein nur zu ersetzen und Gott als einzige Substanz zu bestimmen auch hier blieb es Spinoza Vorbehalten, die Konsequenz zu ziehen. Die cartesischen Gottesbeweise erweisen sich in drei Hinsichten als bedeutsam: Erstens dienen sie systematisch der Absicherung der Mathesis univeralis und dem Erweis der Evidenzwahrheit - eine An­ forderung, der sie bei näherem Hinsehen nicht gerecht werden; zwei­ tens führen sie zu einer Neubestimmung des Substanzbegriffs, der allerdings nicht konsequent entfaltet wird; drittens schließlich, und für den systematischen Fortgang von besonderer Bedeutung, leisten sie einen entscheidenden Beitrag für den Übergang von den reinen Denkbestimmungen hin zu diesen entsprechenden Gegenständen: Durch die Erkenntnis Gottes ist das Ich aus dem Denken zum Sein gekommen in der Weise, daß etwas zunächst nur im Denken Vor­ gefundenes als notwendig existierend erwiesen wird; es hat sich also, ausgehend von einer bloßen Idee, der Existenz des in dieser Idee Vor­ gestellten vergewissert.31 Das Ich, vor den Gottesbeweisen als reines Ideenwesen auf sich allein gestellt, ist zur Gewißheit eines außer ihm Seienden gekommen; aus dem reinen Denken ist es heraus zu Gott gelangt. Gleichzeitig eröffnet sich ihm damit die Möglichkeit, die im Zweifelsgang verlorengegangene Welt neu zu erschließen. 31 Dieser für alle rationalistische Metaphysik entscheidende Übergang kommt gewiß im ontologischen Beweis am direktesten und klarsten zum Vorschein; dieser ist daher der für den Rationalismus kennzeichnendste. Eine andere Frage aber ist, ob der ontologische Beweis auch für alle rationalistischen Konzeptionen unverzichtbar ist. Gegen diese Auf­ fassung, die beispielsweise Wolfgang Röd (Gott der reinen Vernunft, 15 f.) vertritt, ließe sich einwenden, daß, systematisch gesehen, der ontologische Beweis gerade bei Descartes eine untergeordnete Rolle spielt. Argumentativ wäre er meines Erachtens durch­ aus verzichtbar. Die Begründung der Wissenschaft aus reiner Vernunft

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3. Die res extensa und das Problem der Realdistinktion von Körper und Seele Nach den Gottesheweisen ist die cartesische Metaphysik von der Last befreit, die Methode der klaren und deutlichen Erkenntnis seihst ab­ sichern zu müssen. Das Argument des betrügerischen, bösen Geistes ist überwunden, und so kann es bezüglich des weiteren Vorgehens keine Zweifel mehr geben. Da Gott als Stifter des lumen naturale erwiesen und so dieses Licht als unfehlbar ausgewiesen ist, wird der Meditierende mit absoluter Sicherheit zur »Erkenntnis der Wahr­ heit« gelangen, »wenn ich nur auf all das genügend achte, was ich vollkommen einsehe, und es von dem übrigen scheide, was ich ver­ worren und dunkel begreife« (Med. IV, §17). Wenn also alles das, »was meinem Verstande einleuchtet (quid intellectui meo sit evidens)«, wahr ist (Med. V, §16), so hat man, um die Prinzipien der materiellen Dinge aufzufinden, nichts weiter zu tun, als deren Vor­ stellungen auf Klarheit und Deutlichkeit hin zu untersuchen. a) Die Vervollständigung der Substanzkonzeption durch die >res extensa< Im Verlaufe der bisherigen Untersuchung hat Descartes bereits mehrmals angedeutet, was an den Ideen körperlicher Dinge klar und deutlich ist. Schon in der zweiten Meditation, im berühmten Wachs­ beispiel, stellt er fest, daß zwar etliche der den Körpern zugeschrie­ benen Eigenschaften beständigem Wechsel unterliegen, einige jedoch unveränderlich und von den Körpern selbst gar nicht wegzudenken sind; was dem Wachs als solchem, nach Abzug aller akzidentellen Eigenschaften zukommt, sei »nichts anderes, als etwas Ausgedehn­ tes, Biegsames und Veränderliches« (§ 12), und eben dies werde klar und deutlich erkannt. Auch in der dritten Meditation, bei der Unter­ suchung der Ideen, nennt Descartes klare und deutliche Perzeptionen von Körpern: zum einen Größe oder Ausdehnung, Gestalt, Lage und Bewegung, worin man leicht die rein materiellen einfachen Naturen der Regulae wiedererkennt, des weiteren Substanz, Dauer und Zahl, also allgemeine einfache Naturen aus den Regulae, die nicht nur den Körpern, sondern auch dem Geiste zukommen (Med. III, §19; vgl. Regulae, R 12,14). Stehen diese primären Qualitäten in der zweiten und dritten Meditation noch unter dem Vorbehalt, daß sie trotz ihrer vermeintlichen Klarheit und Deutlichkeit unwahr, weil vorgetäuscht 108

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Die res extensa und das Problem der Realdistinktion von Körper und Seele

sein könnten, kann nach den Gottesheweisen diesbezüglich kein Zweifel mehr bestehen. Es genügt daher, in der fünften Meditation diese Bestimmungen zu wiederholen, um damit das »Wesen (essentia) der materiellen Dinge« zu beschreiben (vgl. Med. V, §3 u. 4). Nun haben wir bereits das für die cartesische Philosophie äu­ ßerst wichtige Substanz-Axiom kennengelernt, daß von Attributen notwendig auf ein Zugrundeliegendes geschlossen werden müsse. So problematisch seine Verwendung bei der Erkenntnis des Ich als einer res cogitans auch war, macht es doch, unter den Descartesschen Vor­ gaben, nach den Gottesbeweisen keinerlei Schwierigkeiten mehr. Man wird daher erwarten können, daß Descartes eine körperliche Substanz als Träger der obigen klar und deutlich perzipierten Bestim­ mungen festsetzt. In der Tat werden bereits in der dritten Meditation Ausdeh­ nung, Gestalt, Lage und Bewegung als »gewisse Bestimmungen einer Substanz (modi quidam substantiae)« bezeichnet (§21). Doch reicht dies nicht hin, um bereits von einer eigenständigen körperlichen Substanz zu sprechen. Denn an diesem Punkt der Untersuchung kann noch nicht darüber entschieden werden, ob diese Bestimmun­ gen nicht eben derselben Substanz zugehören, die bis dahin aus­ schließlich als denkend bestimmt war. Zwar begreift das Ich sich bis­ lang lediglich als cogitans, aber das mag mit seiner begrenzten Auffassung zu tun haben; es besteht daher weiterhin die Möglich­ keit, daß auch ein Körper wesentlich zu ihm gehört, wodurch aus der res cogitans eine res cogitans et extensa würde. Es ist also zualler­ erst über die im ersten Kapitel dieses Abschnitts aufgeworfene Frage zu entscheiden, ob die denkende Substanz auch ausschließlich den­ kend ist. Diesem Problem widmet sich Descartes in der sechsten Meditation. Entscheidend ist auch hier wieder der Gottesbeweis - da das Ich nach ihm die Gewißheit hat, »daß alles, was ich klar und deutlich verstehe, in der Weise von Gott geschaffen werden kann, wie ich es verstehe, so genügt es, eine Sache ohne eine andere klar und deutlich verstehen (clare et distincte intelligere) zu können, um mir die Gewißheit zu geben, daß die eine von der anderen verschieden ist, da wenigstens Gott sie getrennt setzen kann« (§9). Dies zugestanden, ergibt sich das weitere folgerichtig: »Ebendaraus also, daß ich weiß, ich existiere, und einstweilen nur von meinem Denken gewahr werden konnte, daß es zu meiner Natur oder meinem Wesen gehört, ebendaraus Die Begründung der Wissenschaft aus reiner Vernunft

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Methode und Substanz bei Descartes

schließe ich mit Recht, daß mein Wesen auch allein im Denken be­ steht (meam essentiam in hoc uno consistere, quod sim res cogitans').« (ehd.; Hvg. A. F.) Da das Ich nun eine klare und deutliche Vorstellung seiner selbst hat, »sofern ich nur ein denkendes, nicht ausgedehntes Wesen bin, und andererseits eine deutliche Vorstellung vom Körper, sofern er nur ein ausgedehntes, nicht denkendes Wesen ist - so ist, sage ich, soviel gewiß, daß ich von meinem Körper wahr­ haft verschieden bin und ohne ihn existieren kann« (ebd.). Konnte das Ich in der zweiten Meditation nur als cogitans bestimmt werden, so ist jetzt erst erwiesen, daß es nur cogitans ist. Dann aber verweist die klare und deutliche Perzeption körperlicher Attribute auch auf eine vom Denken getrennte körperliche Substanz; denn zum einen können sich diese ebensowenig wie die geistigen Attribute »ohne irgendeine Substanz denken lassen, der sie einwohnen (substantia cui insint)«, zum andern aber müssen sie »einer körperlichen, d. h. ausgedehnten Substanz innewohnen (inesse debere substantiae corporeae sive extensae) (...), nicht aber einer denkenden, da in ihrem klaren und deutlichen Begriffe zwar Ausdehnung, aber durchaus kein Denken enthalten ist« (ebd., §10). Somit ist die res extensa als Zugrundeliegendes, als hypokeimenon der körperlichen Attribute bestimmt. Körper heißt daher »die Substanz, die das unmittelbare Subjekt der örtlichen Ausdehnung und der diese Ausdehnung vor­ aussetzenden Accidentien, wie Figur, Lage, örtliche Bewegung usw. ist« (Definition VI im Anhang zu II. Responsiones, 146).32 Die res extensa ist also zusätzlich zu den beiden bisher erkann­ ten Substanzen notwendig anzunehmen; erst dadurch wird die cartesische Theorie der Substanz komplettiert. Zugleich ist damit über den letzten und vielleicht wichtigsten, weil folgenschwersten Haupt­ punkt dieser Konzeption entschieden - über die substantielle Ver­ schiedenheit von Körper und Geist. Die volle Bedeutung dieser Un­ terscheidung erschließt sich, wenn man die Substanzenlehre als ganze betrachtet. Eine Zusammenfassung der grundlegenden Bestimmungen der Sub­ stanzen gibt Descartes in den Paragraphen 51 ff. des ersten Teils der Principia. Sie beginnt mit einer allgemeinen Definition der Substanz: »Unter Substanz können wir nur ein Ding verstehen, das so existiert, 32 Zur res extensa als hypokeimenon vgl. auch III. Responsiones, 159 u. IV Responsio­ nes, 203. 110

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daß es zu seiner Existenz keines anderen Dinges bedarf (rem quae ita existit, ut nulla alia re indegeat ad existendum); und eine Substanz, die durchaus keines anderen Dinges bedarf (quae nulla plane re indigeat), kann man nur als eine einzige denken, d.h. als Gott.« (§51) Entscheidend ist hier das »durchaus«; denn wenn auch alle Substan­ zen ontologisch selbständig im Sinne des per se sind, so ist doch nur eine einzige durchaus selbständig in dem strengen Sinne, daß sie a se im positiven Sinne, daß sie selbstursächlich, causa sui ist (vgl. oben S. 105). Die übrigen Substanzen dagegen sind zwar nicht in ihrer Existenz von einer Substanz abhängig, der sie in akzidenteller Weise innewohnen, existieren also nicht in alio, sondern in (per) se; sie bedürfen jedoch der beständigen Schöpfung durch Gott, haben ihr Dasein ab alio; sie »können, wie wir einsehen, nur mit Gottes Bei­ stand existieren« (§ 51). Wie im vorigen Kapitel dargelegt, hat Descartes nicht die Kon­ sequenz gezogen, den Substanzbegriff gänzlich mit der Aseität zu verbinden, sondern hat das Merkmal der Perseität als Hauptkriteri­ um für die Bestimmung eines Dinges als Substanz belassen. Daher kennt er neben (oder unter) Gott noch zwei geschaffene Substanzen, die res cogitans und die res extensa, die als Substanz darin Überein­ kommen, daß sie »Dinge sind, die bloß Gottes Beistand zu ihrem Dasein bedürfen« (§52), also bloß vom Schöpfungsakt abhängen, an­ sonsten aber selbständig existieren. Diese Substanzen sind subjectum, hypokeimenon der Attribute bzw. Modi, mittels deren sie, nach dem uns vertrauten Substanz-Axiom, erkannt werden: »Denn dar­ aus, daß wir die Gegenwart eines Attributs wahrnehmen, schließen wir, daß irgend ein existierendes Ding oder eine Substanz, der jenes zugeteilt werden kann, notwendig da sein muß.« (ebd.) Ein Attribut kann auch nach der Schöpfung durch Gott nicht selbständig existie­ ren, sondern bedarf eines Seinsträgers, kann nur in alio ein Dasein haben; wenn Gott also beispielsweise die Bewegung geschaffen hat, so kann diese allein dadurch noch nicht existieren, sondern nur in der res extensa statthaben. Diese Attribute der beiden geschaffenen Substanzen sind nun nichts anderes als das, was daran klar und deutlich erkannt wird. Manches davon, die allgemeinen einfachen Naturen aus den Regulae, kommt beiden Substanzen gleichermaßen zu, anderes dagegen nur jeweils einer: die rein materiellen einfachen Naturen der res ex­ tensa, die rein intellektuellen der res cogitans. Für jede der beiden Substanzen setzt Descartes eine Art Hauptattribut fest, »eine vor­ Die Begründung der Wissenschaft aus reiner Vernunft

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zügliche Eigenschaft, welche ihre Natur und ihr Wesen ausmacht, und auf die sich alle anderen beziehen« (§53); für die res extenso. die Ausdehnung, für die res cogitons das Denken. Alle weiteren Ei­ genschaften oder Attribute setzen das jeweilige Hauptattribut vor­ aus, so z.B. die Bewegung die Ausdehnung. Da nun die Substanzen an ihren Attributen erkannt werden, erkennt man auch ihre Verschiedenheit an der Verschiedenheit der Attribute, was besonders an den Hauptattributen deutlich wird: et­ was Ausgedehntes kann nach Descartes nicht denkend sein und um­ gekehrt. Daraus also, daß das Ich einerseits die klare und deutliche Vorstellung einer denkenden und nicht ausgedehnten Sache, anderer­ seits die einer ausgedehnten und nicht denkenden Sache hat, ergibt sich, daß diese Attribute verschiedenen Substanzen zugeordnet wer­ den, daß eine res cogitons und eine res extenso existieren müssen. Eben das macht die zwischen zwei Substanzen bestehende distinctio realis, den substantiellen Unterschied aus gegenüber der distinctio modolis, dem zwischen zwei Modi der Substanz oder zwischen Sub­ stanz und ihrem Modus bestehenden Unterschied. So kann man die Substanz ohne ihren Modus denken und den einen Modus ohne einen anderen, weder aber den Modus ohne die Substanz oder beide unterschiedene Modi ohne die zugrundeliegende Substanz.33 Dage­ gen ist die Realdistinktion als eine zwischen zwei Substanzen derart, daß man die eine völlig unabhängig von der anderen klar und deut­ lich begreifen kann.34 Bestätigt wird der substantielle Unterschied zwischen res cogitons und res extenso durch das Kriterium der Teilborkeit: während man nach Descartes die denkende Substanz nur als unteilbor, als »durchaus einheitliches und ganzes Ding« denken kann (was soviel heißt wie: sie ist unteilbar), ist dagegen kein ausgedehntes Ding denkbar, »das ich nicht in Gedanken unschwer in Teile teilen

33 Zur Differenz von realer und modaler Distinktion vgl. auch l. Responsiones, 108f. 34 Eine distinctio reolis besteht auch zwischen den einzelnen denkenden Substanzen, woraus sich ergibt, daß die res cogitons individuell zu verstehen ist und nicht etwa als »das Denken«, an dem das Individuum teilhat: »Ebenso ist es daraus allein, daß jeder sich als eine denkende Substanz erkennt und im Denken jede andere denkende oder ausgedehnte Substanz von sich ausschließen kann, gewiß, daß jeder, so aufgefaßt, sich auch wirklich (realiter) von jeder anderen denkenden und körperlichen Substanz unter­ scheidet.« (Principio I, §60) Nicht so leicht zu entscheiden ist dieses Problem hinsicht­ lich der res extenso; da es dazu einer eingehenderen Interpretation der Physik bedürfte, will ich mich diesbezüglich hier nicht festlegen. 112

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und ebendadurch als teilbar erkennen könnte« (Med. VI, §19; vgl. Principia II, §20). Die Realdistinktion von Körper und Geist stellt die vielleicht wich­ tigste Bestimmung der cartesischen Substanzenlehre dar. Ihr gegen­ über tritt die dritte bzw. erste Substanz, Gott, ganz in den Hinter­ grund. Im wesentlichen liegt eine Zwei-Substanzen-Theorie vor, Gott wird lediglich in einer, wenn auch entscheidenden, Systemfunk­ tion benötigt. In erster Linie garantiert er die Wahrheit allgemeiner Sätze und des klar und deutlich an Körpern Erkannten; ansonsten spielt er, ganz anders als dann im spinozistischen System, keine her­ ausragende Rolle mehr. Mit der Festlegung des substantiellen Unterschiedes zwischen Körper und Geist ist nun zum einen ein Aspekt verbunden, den Descartes bezeichnenderweise im Widmungsschreiben der Meditationen an die Sorbonne hervorhebt: der Nachweis der Unsterblichkeit der Seele. Zwar fehlt den Meditationen ein eigentlicher Beweis, so daß sich Descartes, darauf aufmerksam gemacht, zu einer Änderung des Untertitels veranlaßt sah; statt wie in der Erstauflage »in denen die Existenz Gottes und die Unsterblichkeit der Seele beweisen werden« heißt es in der zweiten Auflage nur noch: »in denen (...) die Ver­ schiedenheit der menschlichen Seele vom Körper bewiesen werden«. Dennoch betont er in der Synopsis, daß mit dem Nachweis der Re­ aldistinktion von Körper und Seele die entscheidenden Grundlagen eines solchen Beweises geschaffen seien (Meditationen, Synopsis, 23 ff.). Handelt es sich bei Seele und Körper um zwei verschiedene Substanzen, also selbständig seiende Dinge, so ist in der Tat nicht einzusehen, warum die eine nicht fortdauern soll, wenn der andere zugrunde geht. Das gibt Descartes Gelegenheit, seine Meditationen als Waffe gegen eine Position anzupreisen, wie sie dezidiert von Pomponazzi in dessen 1516 erschienenem Tractatus de immortalitate animae vertreten worden war: wenn auch, so führt dieser aus, die Unsterblichkeit der Seele sicherlich wahr, da durch die Kirche gelehrt sei, so müsse dieser Gedanke, sofern man ihn nur mit reinen Ver­ nunftgründen erwäge, gänzlich verworfen werden.35 Descartes will dagegen zeigen, daß es reine Vernunftgründe sind, die zur Einsicht in die von Pomponazzi bestrittene substantielle Verschiedenheit von Körper und Seele führen, d. h. er kann diesen gerade nicht auf theo­ 35 Zur Substanzenlehre Pomponazzis vgl. Cassirer, Erkenntnisproblem, Bd. 1, 105 ff. Die Begründung der Wissenschaft aus reiner Vernunft

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logischem, sondern einem rein rationalen Wege widerlegen. Der Ver­ such, den Theologen der Sorbonne die Meditationen mit diesem Ar­ gument schmackhaft zu machen (Epistola, 5), mißlang jedoch; wie man weiß, hat Descartes die erhoffte Approbation nicht erhalten. Vor allem aber ist mit der Realdistinktion von Körper und Geist ein Dualismus festgeschrieben, wie er krasser nicht sein könnte. Das Denken ist nicht ausgedehnt und nicht bewegt, alle Beziehungen der (Körper-)Welt geschehen aber über Ausdehnung und Bewegung - wie kann sich dann das Denken auf die Welt beziehen und umge­ kehrt? In diesem Vermittlungsproblem der beiden Substanzen be­ steht ein, wenn nicht das entscheidende Problem der cartesischen Philosophie; und bereits Descartes' eigener, gründlich mißlungener Lösungsversuch macht eher die Schwierigkeiten deutlich, als daß er zu einer befriedigenden Erklärung beitrüge. Um darzustellen, wie Descartes die Beziehung der beiden Substanzen aufeinander kon­ zipiert hat, muß allerdings etwas weiter ausgeholt und zunächst ein­ mal seine Theorie der Wahrnehmung thematisiert werden. b) Descartes' Lösung des Vermittlungsproblems Die bisher behandelte Erkenntnis der Substanzen und ihrer Attribute hält sich ausschließlich im Bereich der einfachen Naturen, die teils schlechthin unbezweifelbar waren, teils in ihrem Bezug auf Körper durch den Gottesbeweis als wahr erwiesen sind. Durch diesen Nach­ weis ist der Zweifel an einen Punkt zurückgeführt, an dem das Argu­ ment des Lügengottes einsetzte, also etwa bis zum Paragraphen 7 der ersten Meditation. Nun machen zwar diese primären Qualitäten die Wesenseigenschaften der Körper aus, doch ist an diesen noch eine Mannigfaltigkeit von Eigenschaften auszumachen, die beständigem Wechsel unterliegen. Woher aber stammen diese akzidentellen, se­ kundären Qualitäten, und wie lassen sich in Bezug auf sie sichere Aussagen treffen? Läßt sich auch der Zweifel bezüglich der Sinnes­ wahrnehmung überwinden? Da diese Eigenschaften gegenüber den einfachen Naturen gera­ de dadurch unterschieden sind, daß ihre Erkenntnis nicht klar und deutlich ist, sondern »dunkel und verworren (obscura et confusa)« sein kann (Med. VI, §10), weil sie nicht rein durch den Verstand geschieht, ergibt sich von vornherein, daß ihre Erkenntnis auch nie­ mals völlig gewiß sein kann. Hier muß man sich bescheiden mit der 114

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»sichere(n) Hoffnung, auch in diesen Dingen die Wahrheit zu fas­ sen«, was auf der Einsicht ruht, daß Gott kein Betrüger ist (Med. VI, §11). Gott sei dank also »(birgt) all das, was mich die Natur lehrt (quae doceor a natura), etwas Wahres in sich« (ehd.).36 Nur kann man hier - anders als bei den primären Qualitäten - nicht davon ausgehen, daß diese Qualitäten jenes Wahre auch adäquat wiederge­ hen. Die Sinneswahrnehmungen körperlicher Dinge sind daher »in meinem Bewußtsein existierende Empfindungen (...), die ebenso verschieden vom Körper sind, wie der Schmerz von der Gestalt und der Bewegung des den Schmerz veranlassenden Geschosses« (VI. Responsiones, 381). Es ist der gewöhnliche Fehler der Wahrnehmung, zu vergessen, »daß der Schmerz, die Farbe und ähnliches nur dann klar und deutlich aufgefaßt werden, wenn man sie bloß als Wahr­ nehmungen oder Gedanken (sensus sive cogitationes) ansieht; sobald man sie aber als außerhalb unserer Seele existierende Dinge an­ nimmt, so kann man sich durchaus nicht vorstellen, welcher Art sie sind« (Principia I, §68). Descartes zielt damit gegen die Vorstellung, bei der sinnlichen Wahrnehmung gelange ein den wahrgenommenen Dingen ähnliches Abbild in unseren Geist. Seiner Ansicht nach wird lediglich ein Zustand eines körperlichen Dinges gemäß den in seiner Physik entwickelten Stoßgesetzen übertragen; die Wahrnehmung ist dann der durch diese Bewegungen im Geist hinterlassene Zustand, der zwar auf den Zustand des äußeren Dinges zurückgeht, mit diesem aber nicht identisch sein muß. Sicher ist also allein, »daß in den Körpern, von denen mir diese verschiedenartigen Wahrnehmun­ gen entgegenkommen, gewisse Verschiedenheiten vorhanden sind, die ihnen entsprechen, wenngleich sie ihnen vielleicht nicht ähnlich sind« (Med. VI, §14). Soviel ist richtig, »daß wir in den Gegen­ ständen etwas wahrnehmen, von dem wir zwar nicht wissen, was es ist, das aber in uns eine sehr klare und bestimmte Empfindung be­ wirkt«, nur muß man sich des Urteils enthalten, das so Empfundene den Körpern selbst zuzuschreiben (Principia I, §70). Der Zweifel an den Sinnesempfindungen läßt sich also nicht völlig beheben. Gewiß­ heit kann es nur hinsichtlich der primären Qualitäten geben, darüber also, daß die Welt so ist, wie sie von uns klar und deutlich, und das heißt: rein durch den Verstand gedacht wird; sie mag so sein, wie wir sie wahrnehmen, doch ist diesbezüglich keine vollkommen sichere 36 Das doceor a natura bildet den Gegenbegriff zum lumen naturale und darf also kei­ neswegs mit diesem verwechselt werden. Zur Unterscheidung vgl. Med. III, § 9. Die Begründung der Wissenschaft aus reiner Vernunft

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Methode und Substanz bei Descartes

Erkenntnis möglich, zudem wir in diesem Bereich beständig Täu­ schungen unterliegen. Unter den Empfindungen nun sind einige dadurch ausgezeich­ net, daß sie dem Ich einen eigenen Körper vorstellen, mit dem es, bei aller realen Verschiedenheit, eine Einheit bildet. Als Körper ist dieser wie alle anderen den mechanischen Gesetzen der cartesischen Physik unterworfen. Der menschliche Körper - der tierische ohnehin - wird daher von Descartes vollkommen als Maschine angesehen und unter­ sucht. Diese Maschine bedarf zu ihrem Dasein nicht der Seele, so daß »auch wenn gar kein Geist in ihr existierte, sie doch genau dieselben Bewegungen ausführte, die mein Körper jetzt unwillkürlich ausführt und die also nicht vom Bewußtsein ausgehen« (Med. VI, §17; vgl. Les Passions de l'ame I, §5 ff.); ihr Lebensprinzip ist ein im Herzen angesiedeltes Feuer (Passions I, §8). Die ganz auf mechanische Wir­ kungszusammenhänge gegründeten anatomischen Darstellungen Descartes' lesen sich heute zum Teil höchst amüsant,37 wobei man allerdings nicht vergessen sollte, daß es sich hierbei um die Anfänge einer naturwissenschaftlichen Medizin handelt; das medizinische Wissen Descartes' ruht auf eingehenden anatomischen Studien, und viele der Absurditäten sind nicht dem Betrachtungsprinzip, sondern dem damaligen Entwicklungsstand dieser Wissenschaft geschuldet. Für Descartes steht also fest, daß die Sinneswahrnehmungen ihren Ausgang von außerhalb des Ich nehmen, d. h. es gilt ihm als sicher, daß »die Seele sie immer von Dingen erhält, die durch sie vorgestellt werden« (Passions I, §17). Es muß daher geklärt werden, auf welche Weise die Eindrücke aus der res extensa in die res cogitans gelangen. Den ersten Schritt hierbei bilden rein mechanische Einwirkungen äußerer Körper auf den mit dem Ich verbundenen, ebenfalls mecha­ nisch konzipierten Körper, genauer auf dessen Nerven, die diese Ein­ drücke ans Gehirn weiterleiten. Dabei darf man freilich nicht an heu­ tige Erkenntnisse über elektrische Reizübertragung denken; für Descartes funktionieren die Nerven nach Art einer Schnur, geben also die mechanischen Eindrücke auch ganz mechanisch weiter (vgl. 37 Beispielsweise die folgende Erklärung des Alkoholrauschs: »So sieht man, wie bei denen, die viel Wein getrunken haben, die Weindünste sofort ins Blut gehen, vom Her­ zen zum Gehirn aufsteigen, wo sie sich in Lebensgeister (kleinste materielle Teilchen des Blutes, die im Gehirn in die Nerven übergehen, A. F.) umwandeln, die, weil sie stärker und zahlreicher als die gewöhnlich dort vorhandenen sind, den Körper in äußerst eigentümlicher Weise sich bewegen lassen.« Passions I, § 15 116

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Die res extensa und das Problem der Realdistinktion von Körper und Seele

Principia IV, §189 u. Passions I, §12), und auch eine Wahrneh­ mungsart wie das Sehen ist nicht von diesen Prinzipien ausgenom­ men. Mag hier manches auch merkwürdig anmuten und von der For­ schung längst überholt sein, so sind diese Wirkungszusammenhänge hinsichtlich der Substanzkonzeption unproblematisch, da sie sich alle innerhalb der res extensa abspielen. Das Vermittlungsproblem redu­ ziert sich daher auf die Frage: Wie wird die an die Nerven weiterge­ gebene Bewegung zu einer Wahrnehmung, also zu einem Gedanken? Nun führen bekanntlich die Nervenstränge letztlich zum Ge­ hirn, und es scheint zwingend, die Vermittlung dort zu lokalisieren. Nichtsdestoweniger ist bereits dies innerhalb der cartesischen Kon­ zeption problematisch, kann man doch einer unkörperlichen Seele schlecht einen bestimmten Sitz innerhalb des Körpers zuweisen. Tat­ sächlich betont Descartes verschiedentlich, daß die Seele mit dem ganzen Körper verbunden sei, sah sich jedoch zur Annahme gezwun­ gen, sie habe »ihren vornehmsten Sitz doch im Gehirn (...), wo sie nicht allein erkennt und bildlich vorstellt, sondern auch empfindet« (Principia IV, §189; vgl. Passions I, §30ff.). Dorthin also leiten die Nerven die empfangenen Bewegungen - dort muß sich die Verwand­ lung vollziehen: »Die so im Gehirn von den Nerven erregten Bewe­ gungen erregen aber die mit dem Gehirn auf das engste verbundene Seele bezw. den Geist verschieden nach ihrer eigenen Verschieden­ heit. Und diese verschiedenen Erregungen der Seele oder die Gedan­ ken, welche aus diesen Bewegungen unmittelbar folgen, heißen sinn­ liche Wahrnehmungen oder, im gewöhnlichen Sprachgebrauch, Sinnesempfindungen« (Principia IV, §189). Die Übersetzung der Be­ wegungen in Gedanken, von Materie in Geist erfolgt also im Gehirn bzw., wie Descartes in seiner ausführlichen Darstellung dieses Vor­ gangs in den Passions schildert, in einem bestimmten Teil desselben, der Zirbeldrüse; diese sei der einzige Bestandteil des Gehirns, der nicht doppelt vorhanden ist, daher müsse sich dort die Vereinigung der Sinneseindrücke zu einem einheitlichen Gedanken vollziehen (Passions I, §32). Diese Drüse, der »Hauptsitz (principal siege)« der Seele (§ 32), ist nach seiner Vorstellung derart im Gehirn angeordnet, daß die kleinsten Bewegungen der Lebensgeister auf sie einwirken und ihre eigenen Bewegungen verändern (§§31 u. 34). Selbst extrem frei beweglich im Gehirn »aufgehängt«, kann sie die sehr verfeiner­ ten Eindrücke an die Seele weitergeben. Ebenso verläuft in ihr die umgekehrte Umwandlung von Gedanken in Bewegungen, womit die Willensakte als Tätigkeiten der Seele ihre Erklärung finden (§ 41). Die Begründung der Wissenschaft aus reiner Vernunft

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Methode und Substanz bei Descartes

Der Clou des Descartesschen Versuchs, das Vermittlungsprohlem von res extenso, und res cogitans zu lösen, besteht also letztlich in nichts weiter als in der Annahme äußerst feiner Teilchen und Be­ wegungen, die dann letztendlich doch von der Seele aufgenommen bzw. von ihr erzeugt werden können. Damit aber ist überhaupt nichts erklärt: eine Bewegung mag noch so fein, ein Teilchen noch so klein gedacht werden, immer gehört es der res extenso an; ein substantiel­ ler Unterschied jedoch ist durch Verfeinerung allein nicht zu über­ winden. Ebensowenig ist begreiflich, wie aus einem Gedanken auch nur die minimalste Bewegung in der res extensa resultieren könne, um dort eine Wirkungskette in Gang zu setzen. Die Einwirkung von Körper und Geist aufeinander muß bei Descartes weiterhin ein My­ sterium bleiben, das dadurch, daß man es in eine Drüse hinein­ verlegt, nicht weniger geheimnisvoll wird. So war denn auch dieser Theorie keine allzu lange Existenz in Philosophie oder gar Naturwis­ senschaft beschieden, und selbst die treuesten Cartesianer ließen sie bald fallen.38 Um so nachhaltiger war die Wirkung der cartesischen Substanzen­ lehre. Sie hat Descartes aller nachfolgenden Philosophie als Vorgabe hinterlassen und damit die Aufgabe, das mit dem Dualismus von Denken und Körperwelt gesetzte Vermittlungsproblem zwischen den beiden bzw. drei Substanzen einer möglichen Lösung zuzufüh­ 38 Dominik Perler hat in seiner detaillierten Untersuchung zur Repräsentation bei Des­ cartes (Frankfurt a.M. 1996) die These entwickelt, im Grunde genommen gebe es ein Vermittlungsproblem zumindest der Art, wie ich es gerade skizziert habe, bei Descartes nicht. Die Frage nach der Übertragung von Materie zu Gedanken stelle sich für Des­ cartes nicht, denn: »Die Modi einer Substanz werden nicht in die Modi der anderen Substanz transformiert, sondern die beiden Arten von Modi koexistieren in der Körper­ Geist-Einheit, einer zusammengesetzten Entität. Daher gibt es keine erklärungsbedürf­ tige Transformation.« (138) In der Interpretation Perlers würde also innerhalb jeder Person (als eines aus Geist und Körper Zusammengesetzten) eine Parallelität von körperlichen und geistigen Abläufen herrschen, wie sie uns im folgenden Abschnitt in der spinozistischen Substanz begegnen wird. Meines Erachtens jedoch liegt Descartes ein solcher Gedanke fern; die Erklärungsversuche in den Passions zeigen deutlich, daß es ihm sehr wohl darum zu tun ist, begreiflich zu machen, wie ein mechanischer Reiz in das Denken gelangen und Anstoß zu einem Gedanken geben könne - dies zwar nicht in dem Sinne, daß die gedankliche Existenz die körperliche einfach abbilde (das liegt ihm, wie Perler zu Recht betont, ganz fern), aber doch so, daß eine Information von der res extensa in die res cogitans übertragen wird. Man kann es drehen und wenden, wie man will: immer muß in irgendeiner Weise der Übergang von einer Substanz zu andern vollzogen werden, und eben das zu erklären, gelingt Descartes nicht. 118

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Die res extensa und das Problem der Realdistinktion von Körper und Seele

ren. Dies ist nicht etwa nur ein theoretisches Problem, sondern im Gegenteil von eminenter praktischer Bedeutung: gerade die substan­ tielle Unterscheidung von res cogitans und res extensa ermöglicht es Descartes, das Ich gegenüber einer vollkommen kausal determinier­ ten Welt als frei zu denken, wenn er auch die freien Wirkungen die­ ses Ich auf die Welt nicht befriedigend erklären konnte. Descartes wird nicht zuletzt dadurch zu einem der Mitbegründer der modernen Physik, daß er alle Teleologie aus der Naturbetrachtung ausschließt; ebenso entschieden hat er andererseits die menschliche Willensfrei­ heit hervorgehoben.39 Ohne die Realdistinktion von Körper und Geist gerät man dagegen sofort in die Schwierigkeit, entweder in der Naturwissenschaft noch andere als reine Wirkursachen zuzulas­ sen, oder aber das Ich ebenfalls als vollkommen den Naturgesetzen unterworfen, damit aber als jeglicher Freiheit beraubt aufzufassen. Auch dies verweist bereits auf Spinoza. c) Der Beweis von der Existenz materieller Dinge Obwohl nun alle wesentlichen Bestimmungen der Substanzkonzep­ tion entwickelt sind, bleibt noch ein weiterer wichtiger Punkt auszu­ führen, der zum einen dieser Konzeption erst volle Geltung über die Prinzipien des Erkennens hinaus verschafft, zum andern aber auch für die methodischen Grundlagen von einiger Bedeutung ist. Ge­ meint ist der Beweis der Existenz materieller Dinge. Bislang war die Erkenntnis der res extensa und ihrer Attribute gewonnen allein aus der Betrachtung der Vorstellungen körperlicher Dinge; sie betrifft daher diese Vorstellungen nur als Vorstellungen, womit jedoch die Existenz körperlicher Dinge keineswegs gesichert ist. Anders als bei Gott ist mit der Idee der materiellen Substanz nicht schon deren Existenz gesetzt. Die klaren und deutlichen Vorstellun­ gen von Körpern, die primären Qualitäten also, sind nun zwar als wahr, weil klar und deutlich erwiesen, doch geben sie allein noch keine Gewißheit darüber, ob diese Körper auch außerhalb des Den­ kens existieren (vgl. Med. VI, §§2-3). Daher taugen sie zwar als Gegenstand der reinen Mathematik (purae Matheseos objectum; vgl. Med. VI, §1; Med.V, §§6 u. 16), d. h. es läßt sich Arithmetik und 39 Zur Absage an jegliche Teleologie vgl. Med. IV, § 6 und Principia I, §28; zur mensch­ lichen Freiheit sehr deutlich Principia I, §37: »es bildet die höchste Vollkommenheit im Menschen, daß er durch seinen Willen, d. h. frei handelt«. Die Begründung der Wissenschaft aus reiner Vernunft

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Methode und Substanz bei Descartes

Geometrie mit ihnen treiben; doch die Grundlage einer Physik ist damit längst noch nicht geschaffen, da überhaupt nicht geklärt ist, ob diese Qualitäten auch Gegenständen außerhalb des Denkens zu­ kommen und also etwas über die Wirklichkeit aussagen. Das wahre Sein der materiellen einfachen Naturen wäre demnach ihr Sein als Idee und nur als Idee; denn zwar betreffen, wie Descartes im Ge­ spräch mit Burman ausführt, »auch alle Beweise der Mathematiker Gegenstände eines wahren Seins (vera entia et objecta), und so ist der Gegenstand der Mathematik, in seiner Totalität und Universali­ tät, und all das, was sie an ihm betrachtet, ein wahres und reales Sein (verum et reale ens) und hat nicht weniger eine wahre und reale Natur als der Gegenstand der Physik. Der Unterschied jedoch besteht allein darin, daß die Physik ihren Gegenstand als wahres und reales Sein betrachtet, aber insofern es aktuell und als solches existiert (actu et qua tale existens), die Mathematik dagegen nur, insofern es ein mögliches ist (qua possibile), das zwar im Raum aktuell nicht exi­ stiert, aber dennoch existieren könnte« (Burman, 53). Arithmetik und Geometrie werden auch in der ersten Meditation als Wissen­ schaften gekennzeichnet, die »sich wenig darum kümmern, ob diese (ihre Gegenstände, A. F.) in der Wirklichkeit vorhanden sind oder nicht« (§8). Es genügt also nicht, allein die Wahrheit der rein mate­ riellen einfachen Naturen erwiesen zu haben, sofern man sich in ihrer Anwendung nicht auf geometrische Konstruktion beschränken will; zur Begründung einer Physik bedarf es daher noch eines Exi­ stenzbeweises. Dieser Beweis findet sich in der sechsten Meditation bzw. zu Beginn des zweiten Teils der Principia, welcher die »Prinzipien der materiellen Dinge« behandelt. In den Meditationen wird er folgen­ dermaßen geführt: Das »passive Vermögen der Wahrnehmung (fa­ cultas sentiendi)« des Ich verweist auf ein aktives Vermögen, »das diese Vorstellungen hervorruft oder bewirkt (facultas istas ideas producendi vel efficiendi)« (Med. VI, §10); dieses Vermögen, da es nicht auf reine Denkbestimmungen zu reduzieren ist, kann nicht im Ich selbst sein, muß also einer anderen Substanz innewohnen. In dieser Substanz, so ergibt sich aus einer uns bereits vom kausalen Gottes­ beweis her bekannten allgemeinen Wahrheitwas es istc, zu erkennen, sondern (es) nur darauf ankommt, sich die Notwendig­ keit der Verknüpfung zwischen den Ursachen und Wirkungen in diesem Phänomen zur Evidenz zu bringen«, wobei es erlaubt sei, »zu diesem Zwecke von der eigentümlichen Natur des Phänomens abzusehen und sich einer Imitation des Originals aus ganz ande­ rem Material (...) zu bedienen« (ebd., 45). So vollständig ich bezüglich der Differenzen mit ihm übereinstimme, so wenig vermag ich doch den Gegensatz zu erkennen, den er zwischen den beiden Konzeptionen aufmacht. Mit der besagten Grenzverschiebung liegt so offensichtlich eine Weiterentwicklung des in den Regulae Entwickelten vor, indem 124

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Die Modifikation der methodischen Grundlagen der cartesischen Philosophie

Die ganz entscheidende Einsicht aber, die in der Metaphysik ge­ genüber der Ausgangsposition gewonnen wird, ist zweifellos die in die Realdistinktion von Körper und Geist. Sie bedingt weitere Unter­ schiede, die in den methodischen Äußerungen deutlich werden. Zur Auffindung der Prinzipien der materiellen Dinge schreibt Descartes in den Principia, sie seien »nicht den Vorurteilen der Sinne, sondern dem Lichte der Vernunft so entnommen (...), daß ihre Wahrheit nicht bezweifelt werden kann« (Principia III, §1). Bei der Wesens­ erkenntnis des Körpers dürfe man sich »nur des Verstandes bedienen (...), weil allein in ihm sich die ersten Begriffe oder Ideen von Natur befinden, die gleichsam die ersten Samenkörner der Wahrheiten sind, die wir zu erkennen vermögen« (Principia II, §3). Wenn auch die Rede von den Samenkörnern deutlich an die Regulae erinnert und die beschriebene Methode soweit mit dem dort Gesagten über­ einstimmt, daß die Wissenschaft mit der Aufsuchung der »ersten Begriffe«, also der einfachen Naturen, beginnt, so wird doch hier hervorgehoben, daß dies allein vermittels des Verstandes zu gesche­ hen habe.41 In geradem Gegensatz hierzu war in den Regulae der Einbildungskraft die entscheidende Rolle bei der Erkenntnis der rein materiellen einfachen Naturen eingeräumt worden, wie ihr dort überhaupt eine den Verstand unterstützende Funktion zukommt.42 Dagegen ist nun durch die Metaphysik die Sinnlichkeit als Quelle von Vorurteilen entlarvt, die bei aller deutlichen Erkenntnis, auch zusätzlich zum grundlegenden methodischen Ansatz in der Metaphysik der für die Physik entscheidende Existenzbeweis erbracht wird, daß durch die Konstruktion eines Gegensatzes das Verständnis dieser Entwicklung nicht erhellt, sondern nur erschwert werden kann. 41 Vgl. auch die Zusammenfassung der Methode in Principia IV, §203: »daß ich zu­ nächst ganz allgemein alle die klaren und deutlichen Begriffe betrachtet habe, die in unserem Verstande (Hvg. A. F.) betreffs der materiellen Dinge vorhanden sein können, und daß ich, da ich keine andren gefunden habe, als die der Gestalten, der Größen und der Bewegungen und Regeln, gemäß denen diese drei Dinge durch einander verändert werden können, welche Regeln die Prinzipien der Geometrie und der Mechanik sind, den Schluß gezogen habe, daß notwendig alle Erkenntnis, die wir von der Natur haben können, allein daraus gezogen werden kann, weil alle andren Begriffe, die wir von den sinnlichen Dingen haben, da sie verworren und dunkel sind, uns nicht dazu dienen können, uns die Erkenntnis irgend einer Sache außer uns zu geben, vielmehr eine solche nur zu hindern vermögen.« 42 Vgl. R 12,11 und R 14: »Das Problem muß dann auf die wirkliche Ausdehnung von Körpern übertragen und der Einbildungskraft ganz durch nackte Figuren vorgelegt wer­ den (tota per nudas figuras imaginationi proponenda); so nämlich wird es vom Verstan­ de weit deutlicher erfaßt werden.« Die Begründung der Wissenschaft aus reiner Vernunft

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Methode und Substanz bei Descartes

der von Körpern, möglichst auszuschalten ist. Der Verstand ist dem­ nach das einzige Instrument zu sicherer Erkenntnis nicht nur in der Metaphysik, wie sich bereits im ersten Kapitel dieses Abschnitts er­ gehen hat, sondern auch ganz allgemein; die imaginatio wird dage­ gen auch für die Physik zurückgewiesen.43 Vielleicht kennzeichnet nichts besser den vollendeten Rationalismus Descartes' als eben der Umstand, daß die Erkenntnis der Wesenseigenschaften der materiel­ len Dinge »eine Einsicht einzig und allein des Verstandes« ist, man sie also »nur denkend begreifen (sola mente percipere)« kann (Med. II, §12), alles über die Sinne Wahrgenommene dagegen unwesent­ lich, akzidentell ist. Daß also Natur- und Verstandesgesetze übereinstimmen, zu die­ ser Gewißheit gelangt Descartes erst vermittels des Durchgangs durch die Metaphysik. In doppelter Hinsicht ruht sie in der Substanz­ ontologie: zum einen, weil es zu ihr der distinkten Erfassung der bei­ den voneinander getrennten Substanzen von Körper und Geist be­ darf, zum andern aber, weil Gott als Garant der Übereinstimmung der Gesetzmäßigkeit der beiden getrennten Seinsbereiche fungiert; er garantiert, daß diese Gesetze nicht bloß gedachte sind, sondern tatsächlich außerhalb des Denkens Gültigkeit haben. So betrachtet, ist der Descartes der Regulae noch nicht als vollständiger Rationalist zu bezeichnen; zu einem solchen wird Descartes letztlich erst durch seine Metaphysik.44 43 Mit Nachdruck ist dies im Gespräch mit Burman ausgesprochen: »Daß es aber Leute gibt, die in der Mathematik begabt, in der Physik dagegen weniger glücklich sind, das rührt nicht her aus einem Mangel der vernünftigen Folgerung, sondern kommt daher, daß sie die Mathematik nicht mit dem folgernden Denken, sondern mit der Einbildungs­ kraft (non ratiocinando, sed imaginando) betrieben und alles vermittels ihrer zustande gebracht haben. Diese hat aber in der Physik keinen Platz, und so kommt es, daß sie in der Physik so wenig Erfolg haben.« (113) 44 Eine ganz andere Einschätzung dieser Entwicklung findet sich sowohl bei Cassirer als auch bei Rombach, allerdings inje sehr verschiedener Weise. Cassirer sieht in der Funk­ tion Gottes eine Einschränkung des rationalistischen Ansatzes Descartes'; das »Grund­ prinzip des Rationalismus« sei damit »aufgeopfert« (Erkenntnisproblem, Bd. 1, 497). Es ist aber doch die Frage, ob man ohne einen solchen Gott überhaupt Rationalist sein kann; gerade für Descartes scheint mir dieser Gott systematisch unerläßlich zu sein. Die Interpretation von Cassirer krankt tatsächlich etwas daran, daß er die Modifikation der in den Regulae beschriebenen Methode durch die Erste Philosophie zu wenig berücksichtigt und beispielsweise die Physik direkt nach Darstellung der Regulae ab­ handelt, noch vor der Metaphysik also. Dies aber verbietet sich, wenn meine Einschät­ zung stimmt, daß die Methode der Physik erst nach der Metaphysik überhaupt voll ausgebildet ist. Rombach hingegen widmet der Differenz der beiden Konzeptionen gro126

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Die Modifikation der methodischen Grundlagen der cartesischen Philosophie

Die Einsicht in die substantielle Trennung von Körper und Geist be­ dingt schließlich noch eine weitere Veränderung, wo zunächst Übe­ reinstimmung zu bestehen scheint. Betrachtet man die methodischen Ausführungen im Paragraphen 64 des zweiten Teils der Principia, so fällt zuallererst die Nähe zu den Regulae auf: »Ich setze auch voraus, daß meine Leser die ersten Elemente der Geometrie entweder schon kennen oder die nötige Fassungskraft für das Verständnis mathema­ tischer Beweise haben. Denn ich gestehe offen, daß ich keine andere Materie der körperlichen Dinge anerkenne, als in jeder Weise (omnimode) teilbare, gestaltbare und bewegliche, welche die Geometer als Größe (quantitatem) bezeichnen und zum Gegenstande ihrer Bewei­ se nehmen, und daß ich in ihr nur diese Teilungen, Gestalten und Bewegungen beachte und nichts an ihnen als wirklich anerkenne, was nicht aus jenen Gemeinbegriffen, an deren Wahrheit man nicht zweifeln kann, so klar abgeleitet wird, daß es als mathematisch be­ wiesen gelten kann. Da nun auf diese Weise alle Naturerscheinungen erklärt werden können, wie das Folgende ergeben wird, so halte ich andere Prinzipien der Naturwissenschaft weder für zulässig noch für wünschenswert.«45 Dies alles stimmt bezüglich der Physik weitße Aufmerksamkeit. Ihm zufolge »geht von den Meditationen ein Rückstoß aus, tief in die Mathesis hinein«, der »dort Veränderungen (bewirkt), die sowohl die Einzelheiten wie auch den Gesamtumfang und den Grundriß betreffen« (Substanz, 487). Allerdings stellt er eine »Verarmung der Mathesis«, »eine geistige Selbstverstümmelung« fest (ebd., 488) und meint, die neue Physik sei »sehr viel gedämpfter und zurückhaltender« (ebd., 494): »Descartes sieht die Physik jetzt unter Beschränkungen, die wesentlich durch die metaphysischen Grundlagen erzwungen werden« (ebd., 495). Gerade aber im Hinblick auf die Physik, wo nach Rombach »die Metaphysik über die Mathesis (siegt)« (ebd., 492), gerade dort also läßt sich feststellen, daß die Metaphysik der Mathesis erst den Anspruch auf Objektivität sichert, so daß man vielmehr sagen könnte, mit Hilfe der Metaphysik siege die Mathesis über die Natur. Bestätigung findet meine Sichtweise u.a. bei Stephan Meier-Oeser (Über Des­ cartes, Einleitung zu: Descartes, München 1997), der das Neuartige der in der Metaphy­ sik erreichten Begründung so faßt: »Nicht also allein unsere Erkenntnis ist zum Zweck der Deutlichkeit auf Größen beschränkt: Die Dinge selbst sind es. Sie sind, wie er (Descartes, A. F.) in den >Regulae< hinsichtlich der Gegenstände der Geometrie und Algebra gesagt hatte, genau so, wie wir sie brauchen (...). Die metaphysischen Prinzipien, die jetzt seiner Physik zugrundeliegen, erweisen sich hinsichtlich der Legitimation mensch­ licher Erkenntnis als wesentlich leistungsfähiger als die mathematischen Prinzipien, an deren Stelle sie getreten sind. Sie eröffnen Descartes neue, offenbar für ihn selbst völlig unerwartete Erkenntnisse auf dem Gebiet der Physik« (ebd., 39 f.). 45 Sehr bündig auch die Kurzfassung dieses Paragraphen in der Gliederungsübersicht: »Ich nehme in der Physik keine anderen Prinzipien an, als in der Geometrie oder in der reinen Mathematik, und halte das auch nicht für angebracht, da auf diese Weise alle Die Begründung der Wissenschaft aus reiner Vernunft

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Methode und Substanz bei Descartes

gehend mit dem in den Regulae ausgearheiteten Verfahren einer Re­ duktion aller Prohleme auf Größenverhältnisse üherein;*46 nur muß man sehen, daß dieses Verfahren seine Gültigkeit ausschließlich für die Körperwelt hehält, wohingegen in der Metaphysik überhaupt kei­ ne Größen betrachtet werden und sich daher eine derartige Anwen­ dung der mathematischen Methode verbietet. Die Änderung besteht also hier darin, daß gewisse Teile der zuvor als universell angesehe­ nen Methode auf bestimmte Seinsbereiche eingeschränkt werden. Im Hinblick auf Natur aber bestätigt die metaphysische Unter­ suchung nicht nur die Gültigkeit der (in den angeführten Punkten modifizierten) Mathesis universalis, sondern erweist darüber hinaus die Objektivität dieser Prinzipien. Die Natur erweist sich als Bereich, der nicht nur zum Zwecke einer wissenschaftlichen Erkenntnis ma­ thematischen Prinzipien unterworfen werden muß, sondern der selbst durchgängig mathematischen Gesetzen untersteht. Bei Descartes ist damit - im Unterschied nicht zuletzt Bacon gegenüber die Abkehr von Aristotelischen Prinzipien konsequent durchgeführt. Nicht mehr substantiellen Formen, sondern quantitativen Gesetzmä­ ßigkeiten gilt die Aufmerksamkeit des Naturforschers. Alle Form­ gebung in der Natur verdankt sich mathematischen Gesetzen und findet allein in der Rückführung auf sie ihre wissenschaftliche Erklä­ rung. So sind in Descartes' eigener, rein mechanistisch konzipierter Physik alle Qualitäten der Körper auf die Bewegungsgesetze von Druck und Stoß zurückzuführen. Dies bezieht die über die Sinne ver­ mittelten Eigenschaften mit ein: auch ihre wissenschaftliche Behand­ lung kann allein darin bestehen, sie als verschiedene Zustände der Körper »in ihrer Größe, Gestalt und Bewegung« zu interpretieren, da sie »als nichts anderes von uns erfaßt werden« (Principia IV, §199). Alle Gestaltungen der Natur resultieren aus der gesetzmäßi­ gen Bewegung von ausgedehnten Materieteilchen, und Aufgabe des Physikers ist es, diese Bewegungsgesetze aufzufinden.

Naturerscheinungen erklärt werden und gewisse Beweise von ihnen gegeben werden können.« (Principia, IX f.) 46 Vgl. Regulae R 13,1 u. R 14,4. Allerdings ist zu berücksichtigen, daß auch die Art der Rückführung auf Größe sich ändert, da ein Unterschied bezüglich der Verwendung der Anschauung besteht. Ich habe bei Darstellung der Methode auf die Behandlung dieses Verfahrens verzichtet, da es für die Metaphysik keine Relevanz besitzt und auch bezüg­ lich der Physik wohl nicht in derselben Form beibehalten werden kann. Zum Teil sind diese Probleme bei Gäbe, Selbstkritik, diskutiert. 128

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Die Modifikation der methodischen Grundlagen der cartesischen Philosophie

Es ist hier nicht der Ort, Descartes' Rolle als Naturwissenschaft­ ler zu würdigen. Seine rein mechanistische Konzeption wurde bald von einer dynamischen Betrachtungsweise abgelöst, und insbesonde­ re Leibniz hat gegen die Bestimmung der Materie als bloß aus­ gedehnter Substanz den Kraftbegriff geltend gemacht.47 Descartes ist jedoch der erste, dem eine philosophische Begründung der moder­ nen, nach mathematischen Prinzipien verfahrenden Naturwissen­ schaft gelingt. Allerdings hat sich gezeigt, daß diese Begründung mit erheblichen Schwierigkeiten behaftet ist. Soll die Naturwissen­ schaft von diesen Problemen befreit werden, sind vor allem die Schwachstellen der cartesischen Metaphysik zu beseitigen. Wir wer­ den in den folgenden Abschnitten verfolgen, wie zunächst Spinoza eine Lösung versuchte, die sich noch weitgehend innerhalb der Descartesschen Vorgaben hält, und wie schließlich Kant mit seiner Tran­ szendentalphilosophie eine Alternative entwickelt, die sich gerade aus der Kritik am mathematischen Methodenideal der Rationalisten ergibt. b) Die Bedeutung der Vorurteilslehre und das Verhältnis von Zweifel und Mathesis Wie man sieht, bildet die deutliche Einsicht in die substantielle Ver­ schiedenheit von Körper und Geist die Grundvoraussetzung nicht nur des metaphysischen Fundaments der cartesischen Philosophie, sondern auch der endgültig rationalistischen Methode. Nun zeigt sich die volle Bedeutung der Vorurteilslehre des späten Descartes; man begreift jetzt, daß gerade in ihr die spezifische Differenz ge­ genüber den Regulae am prononciertesten zum Ausdruck kommt. Der ganze Sinn dieser Lehre besteht im Grunde darin, den Haupt­ fehler der Regulae zu vermeiden. Denn obwohl Descartes auch in jenen schon den Anspruch formuliert, keine Meinungen unter sei­ nen Ansichten zu dulden, die nicht der Prüfung durch die neue Me­ thode unterworfen sind, hat sich doch erst in der Ersten Philosophie gezeigt, daß diese Methode selbst in ihren Grundlagen den Vorurtei­ len der Sinne verhaftet bleibt. Macht man sich nicht zuallererst von dem Hauptvorurteil der unmittelbaren Verbundenheit von Körper und Geist frei, bleibt einem nicht nur die Einsicht in die metaphysi­ 47 Vgl. Bernhard Rang, Kraftbegriff und Weltmaschine. Die Überwindung des Carte­ sianismus durch Leibniz, in: M. Fludernik (Hg.), Das 18. Jahrhundert, Trier 1998. Die Begründung der Wissenschaft aus reiner Vernunft

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Methode und Substanz bei Descartes

sehen Wahrheiten versagt, sondern man wird zu teilweise falschen Ansichten über die Methode gelangen. Die Ursache der Entstehung dieser Vorurteile liegt in der engen Verbundenheit der res cogitans mit dem eigenen Körper: wenn auch ein Geist, der sieh einmal als vom Körper distinkt unterschieden erfaßt hat, aus dieser Verbindung keine falschen Schlüsse ziehen wird, so muß es dagegen der gewöhn­ lichen Wahrnehmung seiner selbst so scheinen, als sei das Ich selber als diese Einheit von Geist und Körper anzusehen. Auch Descartes, so haben wir gesehen, entledigt sich dieses Vorurteils erst im Verlaufe der Untersuchung der Metaphysik und gelangt zu Einsichten, die auch zu Modifikationen der Methode führen. Die vor allem in den Principia immer wiederkehrenden Hinweise auf die Vorurteile müssen also im Hinblick auf dieses Hauptvorurteil und die damit verbundene Differenz zu den methodischen Grundlagen der Mathesis universalis verstanden werden.48 Diese Einschätzung findet ihre Bestätigung in den autobiogra­ phischen Äußerungen Descartes' in den Erwiderungen auf die sech­ sten Einwände. Dort beschreibt er offenbar zunächst die Situation der Jahre 1628/29, in denen er sich der Ausarbeitung der Metaphysik zuwandte: »Als ich zum erstenmal aus den in den obigen Medita­ tionen dargelegten Gründen den Schluß gezogen hatte, daß der menschliche Geist real vom Körper verschieden, daß er leichter zu erkennen ist als dieser und das übrige, da sah ich mich allerdings zur Zustimmung gezwungen, da ich nichts darin bemerkte, was nicht in sich zusammenhängend und aus evidenten Prinzipien gemäß den Regeln der Logik (d.h. der >wahren LogikIch denke< nicht einfach das cartesische cogito reformuliert. Dies zeigt ein kur­ zer Rückblick auf den Descartesschen Zweifelsgang: »Indem wir so alles nur irgend Zweifelhafte zurückweisen und es selbst als falsch gelten lassen, können wir leicht annehmen, daß es keinen Gott, kei­ nen Himmel, keinen Körper gibt; daß wir selbst weder Hände noch Füße, überhaupt keinen Körper haben; aber wir können nicht anneh­ men, daß wir, die wir solches denken, nichts sind; denn es ist ein Widerspruch, daß das, was denkt, zu dem Zeitpunkt, wo es denkt, nicht existiert. Demnach ist der Satz: Ich denke, also bin ich (ego cogito, ergo sum) die allererste und gewisseste aller Erkenntnisse, die sich jedem ordnungsgemäß Philosophierenden darbietet.« (Principia I, § 7) Hier wird deutlich, daß Descartes die Gewißheit seiner selbst daraus gewinnt, daß das Ich sich im Vollzug des Denkens als denkend und somit seiend erfährt. Es ist die bewußte Hinwendung auf den jeweiligen Denkakt selbst, die hier das Entscheidende ausmacht. Descartes formuliert damit ein empirisches Selbstbewußtsein: Immer wenn ich denke, kann ich mir vergegenwärtigen, daß ich denkend bin (und zwar sowohl denkend bin als auch denkend bin). Im Kantischen Ich denke liegt die Betonung dagegen auf etwas anderem: Das Ich, gefaßt als transzendentale Einheit der Apperzeption, ist als Grund der Einheit der Vorstellungen oberste Bedingung der Gegen­ standskonstitution, es ist eine für alle objektive Erkenntnis notwen­ dige Vorstellung, keine subjektive Erfahrung. Kant legt daher großen Wert darauf, diese objektive Einheit des Bewußtseins von einer bloß subjektiven zu unterscheiden: letztere, als »empirische Einheit des Bewußtseins«, ist »eine Bestimmung des inneren Sinnes«, die »selbst eine Erscheinung betrifft, und ganz zufällig ist« (B 139 f.). Durch eine solche aber ist nicht zu erklären, wie das jeweilige empirische Selbst­ bewußtsein als in allem Denken ein und dasselbe, identisches SelbstDie Begründung der Wissenschaft aus reiner Vernunft

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Kants Kritik der rationalistischen Konzeption

Bewußtsein aufgefaßt werden kann: »Denn das empirische Bewußt­ sein, welches verschiedene Vorstellungen Begleitet, ist an sich zer­ streut und ohne Beziehung auf die Identität des SuBjekts. Diese Be­ ziehung geschieht also dadurch noch nicht, daß ich jede Vorstellung mit Bewußtsein Begleite, sondern daß ich eine zu der anderen hin­ zusetze und mir der Synthesis derselben Bewußt Bin. Also nur da­ durch, daß ich ein Mannigfaltiges gegeBener Vorstellungen in einem Bewußtsein verBinden kann, ist es möglich, daß ich mir die Identität des Bewußtseins in diesen Vorstellungen selBst vorstelle, d. i. die ana­ lytische Einheit der Apperzeption ist nur unter der Voraussetzung irgendeiner synthetischen möglich.« (B 133) Cogito und Ich denke können also nicht umstandslos miteinander identifiziert werden.24 Die wichtigste und entscheidende Differenz jedoch Betrifft den ontologischen Status des Ich, genauer: die Frage, oB die transzenden­ tale Einheit der Apperzeption als SuBstanz, als res cogitans gefaßt werden könne. Bereits Bei der Untersuchung der Ersten Philosophie Descartes' hat sich gezeigt, daß der Schluß vom ego cogito auf die res cogitans als eine, wenn nicht die entscheidende Bruchstelle im cartesischen Sy­ stem anzusehen ist. Man erinnert sich: Nachdem Descartes auf dem Höhepunkt des Zweifels auch die Grundlagen der Mathesis universalis angezweifelt und die Gültigkeit von Axiomen in Frage gestellt hatte, war er ganz auf das ego cogito, ego sum zurückgeworfen wor­ den. Um von dort aus üBerhaupt einen Fortgang initiieren zu kön­ nen, war er gezwungen gewesen, doch wieder auf ein Axiom zurück­ zugreifen, auf jenen AllgemeinBegriff nämlich, der Besagt, daß es keine AttriBute ohne eine zugrundeliegende SuBstanz geBen könne. Auch unter Descartes' eigenen Voraussetzungen ist dieser Schritt daher alles andere als unproBlematisch, ja ihn zu tun verBietet sich, 24 Interessanterweise geht die Kritik, die Kant am Argument des cogito, ergo sum selBst üBt, an Descartes' ABsicht vorBei: Der »vermeintliche kartesianische Schluß« sei »in der Tat tautologisch (...), indem das cogito (sum cogitans) die Wirklichkeit unmittelBar aus­ sagt« (A 355). »Daher«, so der gleichlautende Vorwurf in der zweiten Auflage, »meine Existenz auch nicht aus dem Satze: Ich denke, als gefolgert angesehen werden (kann), wie Cartesius dafür hielt (weil sonst der OBersatz: alles, was denkt, existiert, voraus­ gehen müßte), sondern ist mit ihm identisch« (B 422 Anm.). Descartes aBer hätte dies alles sehr wohl zugestanden, und er selBst hatte sich ja ausdrücklich dagegen verwahrt, mit dem cogito, ergo sum einen Schluß formuliert zu haBen (vgl. im Zweiten ABschnitt, Kapitel 1, Fn. 2. 210

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Konsequenzen der transzendentalphilosophischen Begründung

wenn der Zweifel in seiner Radikalität ernst genommen wird (vgl. oben Abschnitt II, Kapitel 1 a). Von Kant her betrachtet, ergeben sich nun weitere Einwände, die die Möglichkeit, das denkende Subjekt auch ontologisch als Sub­ stanz zu fassen, vollends als unmöglich erscheinen lassen. So ver­ steht es sich zunächst, daß - die Gültigkeit von Axiomen einmal zugestanden - der Schluß vom Ich denke auf die Denksubstanz kei­ neswegs auf der Grundlage der mathematischen Erkenntnisweise er­ folgen kann. Denn, erstens, die Vorstellung eines denkenden Ich ist nicht a priori zu veranschaulichen und läßt sich daher auch nicht auf der Basis einer Konstruktion dieses Begriffs in der reinen Anschau­ ung weiter bestimmen. Überdies ist zwar zweitens das Verhältnis von Substanz und Akzidens in Kants erster Analogie der Erfahrung als für alle Erscheinungen verbindlich festgehalten, jedoch ist es als Grundsatz jedweder möglichen Erfahrung vom Status eines Axioms grundlegend unterschieden. Es ist für die Kritik daher ohne jeden Belang, ob an der fraglichen Systemstelle überhaupt Axiome ver­ wendet werden könnten. Die Art und Weise, in der Descartes verfah­ ren ist, scheidet für den fraglichen Schluß ohnehin aus. Dies alles freilich entscheidet noch nicht endgültig über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit, das denkende Ich vielleicht doch in den Stand einer selbständigen Substanz zu erheben. Handelt es sich doch, wie Kant betont, nicht einfach um einen Irrtum Descartes', sondern um einen Schluß, den die Vernunft zu ziehen sich in ihrem Streben nach Einheit immer wieder genötigt sieht, ungeachtet der Schwierigkeiten, in die sie damit gerät. Die Sache verlangt daher nach der endgültigen Entscheidung, die Kant im ersten Hauptstück des zweiten Buchs der Transzendentalen Dialektik zu geben unter­ nommen hat. Um die Kantische Argumentation nachvollziehen zu können, ist es erforderlich, zunächst nochmals das Ergebnis der Transzendentalen Deduktion zu betrachten. Dort hatte sich gezeigt, daß die Kategorien als Funktionen der Einheit des Denkens zwar von objektiver Realität seien, diese ihnen jedoch nur im Hinblick auf Gegenstände möglicher Erfahrung zukomme, wozu aber grundsätzlich eine Anschauung er­ forderlich sei. Die Kategorien wurden bestimmt als »Regeln für ei­ nen Verstand, dessen ganzes Vermögen im Denken besteht, d. i. in der Handlung, die Synthesis des Mannigfaltigen, welches ihm ander­ weitig in der Anschauung gegeben worden, zur Einheit der Apper­ Die Begründung der Wissenschaft aus reiner Vernunft

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zeption zu bringen, der also für sich gar nichts erkennt, sondern nur den Stoff zum Erkenntnis, die Anschauung, die ihm durchs Objekt gegeben werden muß, verbindet und ordnet« (B 145). So ergab sich eine entscheidende Differenz zwischen Denken und Erkennen: »Sich einen Gegenstand denken, und einen Gegenstand erkennen, ist also nicht einerlei. Zum Erkenntnisse gehören nämlich zwei Stücke: erst­ lich der Begriff, dadurch überhaupt ein Gegenstand gedacht wird (die Kategorie), und zweitens die Anschauung, dadurch er gegeben wird; denn könnte dem Begriffe eine korrespondierende Anschauung gar nicht gegeben werden, so wäre er ein Gedanke der Form nach, aber ohne allen Gegenstand, und durch ihn gar keine Erkenntnis von ir­ gendeinem Dinge möglich« (B 146). Als Resultat der Deduktion ließ sich daher festhalten, daß zwar »die Kategorien im Denken durch die Bedingungen unserer sinnlichen Anschauung nicht eingeschränkt sind, sondern ein unbegrenztes Feld haben«, jedoch »das Erkennen dessen, was wir uns denken, das Bestimmen des Objekts, Anschau­ ung bedürfe« (B 166 Anm.), wir also »keinen gedachten Gegenstand erkennen (können), ohne durch Anschauungen« (B 165). Nun hatte Kant jedoch ebenfalls bereits in der Transzendentalen Deduktion festgehalten, daß »ich mir meiner selbst in der transzen­ dentalen Synthesis des Mannigfaltigen der Vorstellungen überhaupt, mithin in der synthetischen ursprünglichen Einheit der Apperzep­ tion, bewußt (bin), nicht wie ich mir erscheine, noch wie ich an mir selbst bin, sondern nur daß ich bin. Diese Vorstellung ist ein Denken, nicht ein Anschauen.« (B 157) Schon dort konnte er daher folgern: »ich habe also demnach keine Erkenntnis von mir wie ich bin, son­ dern bloß wie ich mir selbst erscheine. Das Bewußtsein seiner selbst ist also noch lange nicht ein Erkenntnis seiner selbst (Hvg. A. F.)« (B 158).25

25 »So wie zum Erkenntnisse eines von mir verschiedenen Objekts, außer dem Denken eines Objekts überhaupt (in der Kategorie), ich doch noch einer Anschauung bedarf, dadurch ich jenen allgemeinen Begriff bestimme, so bedarf ich auch zum Erkenntnisse meiner selbst außer dem Bewußtsein, oder außer dem, daß ich mich denke, noch einer Anschauung des Mannigfaltigen in mir, wodurch ich diesen Gedanken bestimme, und ich existiere als Intelligenz, die sich lediglich ihres Verbindungsvermögens bewußt ist, in Ansehung des Mannigfaltigen aber, das sie verbinden soll, einer einschränkenden Bedingung, die sie den inneren Sinn nennt, unterworfen ist« (B 158f.; Hvg. A. F.; vgl. auch B 277). 212

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Es sind diese Gedankengänge, die Kant zu Beginn des Paralogismus­ Kapitels wieder aufgreift. »Nicht dadurch,« so führt er dort aus, »daß ich bloß denke, erkenne ich irgendein Objekt, sondern nur dadurch, daß ich eine gegebene Anschauung in Absicht auf die Einheit des Bewußtseins, darin alles Denken besteht, bestimme, kann ich irgend einen Gegenstand erkennen. Also erkenne ich mich nicht selbst da­ durch, daß ich mir meiner selbst als denkend bewußt bin, sondern wenn ich mir der Anschauung meiner selbst, als in Ansehung der Funktion des Denkens bestimmt, bewußt bin. (...) Nicht das Bewußt­ sein des Bestimmenden, sondern nur die des bestimmbaren Selbst, d.i. meiner inneren Anschauung (...), ist das Objekt.« (B 406f.) Die Konsequenz aus diesen Überlegungen ist leicht zu ziehen: Die transzendentale Vorstellung des Ich denke mag als oberste Be­ dingung der Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt eine notwendige Vorstellung sein, da sie die in den Kategorien vollzogene Synthesis, die zu jeder Erkenntnis erfordert ist, allererst begreiflich macht, sie ist jedoch selbst kein anschauliches Erfahrungsdatum und daher selbst nicht kategorial bestimmbar, kann also nicht ihrerseits Objekt des Erkennens werden: »Das Denken, für sich genommen, ist bloß die logische Funktion, mithin lauter Spontaneität der Verbindung des Mannigfaltigen einer bloß möglichen Anschauung, und stellt das Subjekt des Bewußtseins keineswegs als Erscheinung dar, bloß darum, weil es gar keine Rücksicht auf die Art der Anschauung nimmt, ob sie sinnlich oder intellektuell sei. Dadurch stelle ich mich mir selbst, weder wie ich bin, noch wie ich mir erscheine, vor, sondern ich denke mich nur wie ein jedes Objekt überhaupt, von dessen Art der Anschauung ich abstrahiere. Wenn ich mich hier als Subjekt der Gedanken, oder auch als Grund des Denkens, vorstelle, so bedeuten diese Vorstellungsarten nicht die Kategorien der Substanz, oder der Ursache, denn dies sind jene Funktionen des Denkens (Urteilens) schon auf unsere sinnliche Anschauung angewandt, welche freilich erfordert werden würde, wenn ich mich erkennen wollte.« (B 428 f.) Es ist daher unmöglich, vom bloßen Ich denke auf die Existenz seiner selbst als Substanz zu schließen. Dieses Argument führt Kant in allen vier kategorialen Hinsich­ ten, also bei der Bestimmung des denkenden Ich als Substanz, als einfacher sowie numerisch-identischer Substanz und als im Verhält­ nis zu Körpern befindlicher Substanz, durch. So sei es zwar unzwei­ felhaft, daß »Ich, der ich denke, im Denken immer als Subjekt, und als etwas, was nicht bloß wie ein Prädikat dem Denken anhänge, be­ Die Begründung der Wissenschaft aus reiner Vernunft

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trachtet werden kann«, doch folge hieraus eben nicht, »daß ich, als Objekt, ein, für mich, selbst bestehendes Wesen, oder Substanz sei« (B 407). Ebenso betrifft die »Identität des Subjekts, deren ich mir in allen seinen Vorstellungen bewußt werden kann, (...) nicht die An­ schauung desselben, dadurch es als Objekt gegeben ist« (B 408; Hvg. A. F.). Und auch bezüglich der Existenz als denkendes Wesen im Ver­ hältnis zu diesem äußerlichen, körperlichen Dingen ist festzuhalten, daß »durch die Analysis des Bewußtseins meiner selbst im Denken überhaupt in Ansehung der Erkenntnis meiner selbst als Objekts nicht das mindeste gewonnen (ist)« (B 409; Hvg. A. F.). In all diesen Fällen gilt, was Kant bei Gelegenheit des letzten bemerkt: »Die logi­ sche Erörterung des Denkens wird fälschlich für eine metaphysische Bestimmung des Objekts gehalten.« (B 409). Der Descartessche Schluß vom cogito auf die res cogitans26 er­ weist sich somit als ein Paralogismus, bei welchem die Bedingung der Möglichkeit des Erkennens von Gegenständen überhaupt fälsch­ licherweise als bestimmbarer Gegenstand angesehen wird. Das Feh­ lerhafte ist darin zu suchen, daß »das Denken in beiden Prämissen in ganz verschiedener Bedeutung genommen (wird): im Obersatze, wie es auf ein Objekt überhaupt (mithin wie es in der Anschauung gege­ ben werden mag) geht; im Untersatze aber nur, wie es in der Bezie­ hung aufs Selbstbewußtsein besteht, wobei also an gar kein Objekt gedacht wird, sondern nur die Beziehung auf Sich, als Subjekt, (als die Form des Denkens) vorgestellt wird« (B 411 Anm.). Das heißt, »ich (verwechsle) die mögliche Abstraktion von meiner empirisch bestimmten Existenz mit dem vermeinten Bewußtsein einer abge­ sondert möglichen Existenz meines denkenden Selbst, und glaube das Substantiale in mir als das transzendentale Subjekt zu erkennen, indem ich bloß die Einheit des Bewußtseins, welche allem Bestim­ men, als der bloßen Form der Erkenntnis, zum Grunde liegt, in Ge­ danken habe.« (B 426 f.) Das ganze Argument läuft darauf hinaus, daß das Subjekt des Denkens, das sich im cartesischen Zweifelsgang seiner selbst bewußt wird, sich nicht zugleich Objekt werden kann. Im transzendentalen Paralogismus des Selbstbewußtseins wird also 26 Von Kant selbst wird der Schluß folgendermaßen formuliert: »Was nicht anders als Subjekt gedacht werden kann, existiert auch nicht anders als Subjekt, und ist also Sub­ stanz. -Nun kann ein denkendes Wesen, bloß als ein solches betrachtet, nicht anders als Subjekt gedacht werden. - Also existiert es auch nur als ein solches, d. i. als Substanz.« (B 410 f.) 214

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»die Einheit des Bewußtseins, welche den Kategorien zum Grunde liegt, (...) für die Anschauung des Subjekts als Objekts genommen, und darauf die Kategorie der Substanz angewandt. Sie ist aber nur die Einheit im Denken, wodurch allein kein Objekt gegeben wird, worauf also die Kategorie der Substanz, als die jederzeit gegebene Anschau­ ung voraussetzt, nicht angewandt, mithin dieses Subjekt gar nicht erkannt werden kann. Das Subjekt der Kategorien kann also da­ durch, daß es diese denkt, nicht von sich selbst als einem Objekte der Kategorien einen Begriff bekommen (Hvg. A. F.)« (B 421 f.).27 Mit Blick auf Descartes läßt sich die Kantische Kritik folgenderma­ ßen zusammenfassen: Das Substanz-Axiom, das Descartes für seinen Schluß vom Ich denke auf die Denksubstanz verwendet, ist zwar kein Axiom, d. h. kein mathematisch unmittelbar gewisser Satz, wohl aber läßt er sich als ein für alle Erscheinungen gültiger Grundsatz dedu­ zieren, da er auf einer für alles Erkennen verbindlichen Funktion des reinen Verstandes basiert. Diese transzendentale Rechtfertigung je­ doch macht es unmöglich, diesen Satz auch auf das denkende Subjekt selbst anzuwenden - er ist als gültig ausgewiesen allein im Hinblick auf Erscheinungen, also in der sinnlichen Anschauung Gegebenes. Und eben dies ist beim reinen Ich nicht der Fall: es erfährt sich wohl in der Erkenntnis sinnlich vermittelter Gegenstände als denkend, aber es schaut sich nicht selbst als denkend an. Die Substanz-Akzidens-Relation gilt nur für die vom denkenden Ich präformierte Welt der Erscheinungen, zu der das Ich selbst nicht gehört - der Schluß von diesem Ich auf eine Ich-Substanz ist daher unzulässig. Die transzendentale Methode führt also zu einer Entsubstantialisierung des Denkens, beraubt es seiner ontologischen Selbständig­ keit. Zugleich ist damit die Möglichkeit ausgeschlossen, auf diesem Wege zu einer Restauration der rationalistischen Methode zu gelan­ 27 In der Methodenlehre kommt Kant nochmals auf dieses Problem zurück und faßt die Kritik präzise zusammen: »So scheinbar daher auch der vermeintliche Beweis der ein­ fachen Natur unserer denkenden Substanz aus der Einheit der Apperzeption sein mag, so steht ihm doch die Bedenklichkeit unabweislich entgegen: daß, da die absolute Ein­ fachheit doch kein Begriff ist, der unmittelbar auf eine Wahrnehmung bezogen werden kann, sondern als Idee bloß geschlossen werden muß, gar nicht einzusehen ist, wie mich das bloße Bewußtsein, welches in allem Denken enthalten ist, oder wenigstens sein kann, ob es zwar sofern eine einfache Vorstellung ist, zu dem Bewußtsein und der Kenntnis eines Dinges überführen solle, in welchem das Denken allein enthalten sein kann.« (B 812) Die Begründung der Wissenschaft aus reiner Vernunft

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gen. Der erste Ansatzpunkt der cartesischen Ersten Philosophie, ihre erste Ausgangsevidenz, ist definitiv als haltlos erwiesen. Es verbliebe damit einzig die Möglichkeit, die Begründung von den Gottesbewei­ sen her zu leisten. b) Die Kritik der Gottesbeweise Wie sich bei der Betrachtung der cartesischen Gottesbeweise gezeigt hat, erfüllen diese innerhalb des rationalistischen Begründungs­ modells eine zentrale und unverzichtbare systematische Funktion, und zwar in zweierlei Hinsicht. Zum einen dienen sie der Garantie der Richtigkeit der Evidenzwahrheit selbst, sollen also das Ich aus seiner wahrhaft verzweifelten Situation befreien, in die es sich mit der höchsten Stufe des Zweifels gebracht hat: Nur wenn Gott bewie­ sen werden kann, ist auch sichere Erkenntnis gemäß der Prinzipien der Mathesis universalis möglich. Zum andern ermöglichten sie dem denkenden Subjekt, das einstweilen ganz auf die eigenen Denk­ bestimmungen als solche zurückgeworfen war, eine Brücke zur Welt zu schlagen und diese, die im Zweifel untergegangen war, wieder­ zugewinnen. Die Untersuchung allerdings hatte ergeben, daß die Gottesbeweise von Descartes' eigenen Voraussetzungen her fehler­ haft waren und in dieser Form nicht akzeptiert werden konnten; die Variante Spinozas aber, dogmatisch mit dem ontologischen Argu­ ment einzusetzen, hatte sich als vollends fragwürdig erwiesen. Frei­ lich sind es weniger die jeweiligen innersystematischen Schwierig­ keiten, denen das Interesse Kants gilt. Über was die Kritik zu befinden hat, ist die prinzipielle Möglichkeit oder Unmöglichkeit, überhaupt einen Beweis von der Existenz Gottes zu führen. Nach Kant nun kann ein Gottesbeweis auf genau drei Arten versucht werden: als ontologischer, kosmologischer oder physikotheologischer Beweis. Der physikotheologische braucht hier nicht weiter zu inter­ essieren - er spielt für die rationalistische Begründung keine Rolle und war bereits von Descartes verworfen worden. Zudem ist seine Kritik recht unproblematisch, da es sich von den Kantischen Voraus­ setzungen her von selbst versteht, daß von der Ursachenkette der Erscheinungswelt kein Weg zu einem diese Kette beginnenden tran­ szendenten Wesen führt und »der Schritt zu der absoluten Totalität (...) durch den empirischen Weg ganz und gar unmöglich (ist)« (B 656). Überdies verweist der physikotheologische letztendlich auf 216

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den ontologischen Gottesheweis, hängt also in seiner Gültigkeit von dessen Gültigkeit ah (vgl. B 653 u. B 657 f.). Was für den physikotheologischen Beweis gilt: ein versteckter ontologischer zu sein oder zumindest dessen zu hedürfen, läßt sich auch vom kosmologischen Gottesheweis aufzeigen. Diesem Punkt widmet Kant sein Hauptaugenmerk hei der Kritik dieser Beweisart. Zwar versuche der kosmologische Beweis, den ontologischen zu ver­ meiden, führe jedoch notwendig auf diesen zurück. Er heginnt - sich darin grundlegend vom ontologischen Ansatz unterscheidend - mit einer Erfahrung, nämlich der der eigenen Existenz. Von dieser ausgehend, schließt er auf die Existenz eines notwendigen Wesens: wenn Ich existiere, so muß auch ein notwendiges Wesen existieren, dem das kontingente Ich seine Existenz verdankt.28 Dies ist jedoch nur ein erster Schritt; um daraus wirklich einen Gottesheweis zu ma­ chen, fehlt die - nach Kant für alle Gottesheweise grundlegende Verhindung des Begriffs von einem notwendigen Wesen mit dem eines ens realissimum, eines Wesens also von allumfassender Reali­ tät. Hierzu hedarf es eines zweiten Schrittes: »Nun schließt dieser Beweis weiter: das notwendige Wesen kann nur auf eine einzige Art, d. i. in Ansehung aller möglichen entgegengesetzten Prädikate nur durch eines derselhen, hestimmt werden, folglich muß es durch sei­ nen Begriff durchgängig hestimmt sein. Nun ist nur ein einziger Be­ griff von einem Dinge möglich, der dasselhe a priori durchgängig hestimmt, nämlich der des entis realissimi: Also ist der Begriff des allerrealsten Wesens der einzige, dadurch ein notwendiges Wesen gedacht werden kann, d. i. es existiert ein höchstes Wesen notwendi­ gerweise.« (B 633 f.) Mit diesem Beweisschritt aher ist der anfangs eingeschlagene Weg von der Erfahrung her verlassen, und plötzlich, ohne es zu hemerken, wandelt man auf den Pfaden des ontologischen Beweises: »Nun ist aher klar, daß man hierhei voraussetzt, der Begriff eines Wesens von der höchsten Realität tue dem Begriffe der ahsoluten Notwendigkeit im Dasein völlig genug, d. i. es lasse sich aus jener auf diese schließen; ein Satz, den das ontologische Argument he-

28 Kant formuliert also den kosmologischen Beweis in einer Weise, die Descartes' zwei­ tem, nicht seinem ersten Beweis entspricht, der von der im Ich vorhandenen Vorstellung eines Wesens von höchster Realität auf dessen Existenz schloß (vgl. ohen Ahschnitt II, Kapitel 2 a). Die Kritik Kants läßt sich jedoch auch auf den kausalen Beweis in seiner ersten Fassung ühertragen. Die Begründung der Wissenschaft aus reiner Vernunft

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hauptete, welches man also im kosmologischen Beweise annimmt und zum Grunde legt, da man es doch hatte vermeiden wollen. (...) Es ist also eigentlich nur der ontologische Beweis aus lauter Begrif­ fen, der in dem sogenannten kosmologischen alle Beweiskraft ent­ hält« (B 637). Der kosmologische Beweis bildet somit keine wirkliche Alternative zum ontologischen. Allein an letzterem muß sich daher die Möglichkeit eines Gottesbeweises erweisen. Die Verwiesenheit an den ontologischen macht freilich nicht die einzige Schwäche des kosmologischen Beweises aus. Nach Kants An­ sicht hält sich in ihm vielmehr »ein ganzes Nest von dialektischen Anmaßungen verborgen« (B 637). Eines dieser Probleme, die Kant mehr beiläufig benannt hat, läßt nochmals besonders deutlich das Spezifische der transzendentalphilosophischen Begründung der Ge­ setzmäßigkeit des menschlichen Erkennens hervortreten. Um ein jenseits der Erscheinungswelt gedachtes Wesen zu er­ schließen, bedient sich der kosmologische Beweis der Kategorie der Kausalität: Es müsse, so der Anfangsgedanke, ein notwendiges We­ sen geben, das die Existenz des als Erscheinung vorfindlichen Ich ver­ ursacht hat. Nun war zwar das Prinzip von Ursache und Wirkung in der Transzendentalen Analytik als ein für alles menschliche Denken verbindlicher Grundsatz ausgewiesen worden; seine transzendentale Deduktion jedoch hatte es mit sich gebracht, daß es, als Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung eines endlichen Vernunftwesens, al­ lein im Hinblick auf Erfahrung Gültigkeit beanspruchen konnte. Kausalität ist demnach eine notwendige Form der Synthesis eines in der Anschauung gegebenen Mannigfaltigen, nicht weniger, aber auch nicht mehr. Eine Funktion des endlichen Verstandes aber ist gänzlich ungeeignet, über die Erscheinungswelt hinaus zu einem diese tran­ szendierenden Wesen zu gelangen: »Der Grundsatz, von dem, was geschieht, (dem empirisch Zufälligen,) als Wirkung, auf eine Ursache zu schließen, ist ein Prinzip der Naturerkenntnis, aber nicht der spe­ kulativen. Denn, wenn man von ihm, als einem Grundsatze, der die Bedingung möglicher Erfahrung überhaupt enthält, abstrahiert, und, indem man alles Empirische wegläßt, ihn vom Zufälligen überhaupt aussagen will, so bleibt nicht die mindeste Rechtfertigung eines sol­ chen synthetischen Satzes übrig, um daraus zu ersehen, wie ich von etwas, was da ist, zu etwas davon ganz Verschiedenem (genannt Ur­ sache) übergehen könne; ja der Begriff einer Ursache verliert ebenso, wie der des Zufälligen, in solchem bloß spekulativen Gebrauche, alle Bedeutung, deren objektive Realität sich in concreto begreiflich ma­ 218

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chen lasse.« (B 663). Bereits der erste Beweisschritt des kosmologi­ schen Gottesheweises ist demnach unzulässig: »Denn der bloß intel­ lektuelle Begriff des Zufälligen kann gar keinen synthetischen Satz, wie den der Kausalität, hervorhringen, und der Grundsatz der letzte­ ren hat gar keine Bedeutung und kein Merkmal seines Gebrauchs, als nur in der Sinnenwelt.« (B 637) Innerhalb der drei Möglichkeiten, das Dasein Gottes zu beweisen, nimmt der ontologische Beweis eine Sonderstellung ein. Wie gese­ hen, führen die beiden anderen auf diesen zurück, hängen also in ihrer Gültigkeit ganz und gar von seinem Gelingen ab. In der Kon­ sequenz läßt sich daher sagen, das ontologische Argument beinhalte den »einzig möglichen Beweisgrund« (B 653): »der ontologische Be­ weis, aus lauter reinen Vernunftbegriffen, (ist) der einzige mögliche, wenn überall nur ein Beweis von einem so weit über allen empiri­ schen Verstandesgebrauch erhabenen Satze möglich ist« (B 658). Die Kritik dieses Beweises bildet folglich das eigentliche Zentrum der Kantischen Kritik der Gottesbeweise. So sehr jedoch Kant von der besonderen Bedeutung des ontolo­ gischen Beweises für alle rationale Theologie (wie für den Rationa­ lismus überhaupt) überzeugt war, so sehr galt es ihm andererseits als selbstverständlich, daß dieser Beweisart »etwas ganz Unnatürliches« anhafte; ja man wäre, so Kants Überzeugung, niemals darauf verfal­ len, »aus einer ganz willkürlich entworfenen Idee das Dasein des ihr entsprechenden Gegenstandes selbst ausklauben zu wollen«, wäre man nicht von der kosmologischen Problemstellung her dorthin geführt worden (B 631). Daß überhaupt ein ontologischer Beweis versucht wurde, verdankt sich also allein dem »Bedürfnis unserer Vernunft, zur Existenz überhaupt irgend etwas Notwendiges (...) anzunehmen« (ebd.; vgl. B 612 ff.). So ist es eigentlich erst der Zwang zur Annahme eines notwendigen Wesens, der die Vernunft dazu treibt, die Existenz des im transzendentalen Ideal vorgestellten allerrealsten Wesens anzunehmen bzw. beweisen zu wollen. Nach Kant ist dies der »natürliche Gang der menschlichen Vernunft«: »Zuerst überzeugt sie sich vom Dasein irgendeines notwendigen Wesens. In diesem erkennt sie eine unbedingte Existenz. Nun sucht sie den Begriff des Unabhängigen von aller Bedingung, und findet ihn in dem, was selbst die zureichende Bedingung zu allem anderen ist, d.i. in demjenigen, was alle Realität enthält.« (B 614f.) Der Weg führt also vom Begriff eines ens necessarium zu dem eines ens Die Begründung der Wissenschaft aus reiner Vernunft

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realissimum; dieser verspricht, jenen als sachhaltig ausweisen zu können.29 Der ontologische Beweis geht aus vom Begriff Gottes als eines Wesens von allumfassender Realität. Zu den Realitäten, so der Haupt­ gedanke schon hei Descartes, müsse auch die Existenz gezählt werden; sie gehört demnach zur klaren und deutlichen Idee Gottes. Wird dies zugestanden, läßt sich Gott nicht widerspruchsfrei als nicht-existent denken - folglich existiert er. Der Begriff des allerrealsten Wesens ermöglicht es also, mit dem Begriff eines Möglichen dessen Wirklich­ keit unmittelbar zu verhindern In dieser Behauptung: »das Dasein (liegt) im Begriffe von einem Möglichen« (B 624), liegt jedoch nach Kants Auffassung bereits der Fehler. Im »Begriff eines Dinges, welches ihr lediglich seiner Mög­ lichkeit nach denken wolltet«, hat der Begriff der Existenz keinen

29 Das würde auch gut erklären, warum der ontologische Beweis in der Philosophie­ geschichte erst relativ spät erscheint. Dabei ist es nicht erforderlich, daß dieser Zusam­ menhang auch von Anfang an bewußt ist. Dieter Henrich zufolge, dessen Untersuchung über den ontologischen Beweis ganz auf die Verschränkung der Begriffe von notwendi­ gem und allerrealstem Wesen hin ausgerichtet ist, hat erstmals Descartes die beiden Begriffe in Verbindung gebracht, wohingegen der Beweis in seinem ersten Auftreten bei Anselm noch ganz auf den bloßen Begriff des ens realissimum beschränkt gewesen sei. Nach Henrich sind »seit Descartes zwei Formen des ontologischen Beweises« (von ihm als »erster« und »zweiter« bezeichnet) zu unterscheiden, »deren jede mit einem anderen Begriff von Gott beginnt. Der eine Beweis will das Dasein des höchst vollkom­ menen Wesens demonstrieren, ist also der Beweis des Anselm von Canterbury. Der andere geht vom Begriff Gottes als dem notwendigen Wesen aus« (D. Henrich, Der ontologische Gottesbeweis. Sein Problem und seine Geschichte in der Neuzeit, Tübin­ gen I960, 3). Für ihn besteht das »verborgene Entwicklungsgesetz der neuzeitlichen Ontotheologie« darin, »von der Unterscheidung der Beweise zur Erkenntnis ihrer inne­ ren Einheit« zu gelangen (ebd., 5). Dementsprechend erblickt Henrich die eigentümli­ che Leistung der Kantischen Kritik darin, daß in ihr dieser Zusammenhang erstmals gegen den ontologischen Beweis gewendet werde; ins Zentrum rückt bei ihm der Nach­ weis Kants, daß der Begriff des notwendigen Wesens kein notwendiger Begriff sei (vgl. ebd., 169 f.). Nun ist zwar Henrichs Unterscheidung sehr gut geeignet, die Geschichte des ontologischen Beweises und seiner Kritik zu strukturieren, doch scheint es mir überzogen, den Beweis eines notwendigen Wesens selbst schon als >ontologischen< auf­ zufassen: Gerade Kant betont ja, daß der Zusammenhang der beiden Begriffe für alle Gottesbeweise zentral ist; als >ontologischer< firmiert bei ihm dann jener, der versucht, den Begriff des notwendigen Wesens a priori, ausgehend vom reinen Begriff des ens realissimum zu erweisen. Dies aber ist der von Henrich als »erster« bezeichnete Beweis, der somit, wie Wolfgang Röd (Der Gott der reinen Vernunft, 227, Anm. 61) zu Recht gegen Henrich eingewandt hat, doch als der eigentlich ontologische Beweis anzusehen wäre. Verändert ist also die Zielrichtung, nicht der Ausgangspunkt. 220

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Platz (B 625). Die gesamte Kantische Kritik des ontologischen Argu­ ments ist darauf ausgerichtet, eben dies nachzuweisen. Ihr springender Punkt - auf den ich mich hier beschränke - ist dieser: zu zeigen, daß >Existenz< nicht zu den Realitäten gezählt wer­ den darf, also keineswegs als notwendig mit dem Gedanken eines Wesens, das alle Realitäten beinhaltet, verbunden gedacht werden muß. Vielmehr ist >Existenz< ein Prädikat eigener Art, das zwar lo­ gisch von etwas ausgesagt, jedoch nicht ohne weiteres als Bestim­ mung gebraucht, also real prädiziert werden kann. »Sein«, so der zentrale Satz in diesem Zusammenhang, »ist offenbar kein reales Prädikat« (B 626). Als solches nämlich müßte es »ein Begriff von irgend etwas« sein, »was zu dem Begriffe eines Dinges hinzukom­ men könne« (ebd.). Dies ist aber offensichtlich nicht der Fall: Wenn wir von etwas aussagen, daß es ist, dann kommt zum Inhalt des Be­ griffs absolut nichts hinzu. Wäre es anders, würden Begriff und Da­ seiendes nicht mehr einander entsprechen, d. h. es würde eben nicht das existieren, was zuvor im Begriff gedacht wurde. Eine real existie­ rende Katze ist als Katze von einer gedachten Katze nicht unterschie­ den, oder, um das Beispiel Kants anzuführen: »Hundert wirkliche Taler enthalten nicht das mindeste mehr, als hundert mögliche« (B 627), und obwohl jeder das Geld lieber in der Tasche als in Gedan­ ken haben wird, kann er doch nicht bestreiten, daß die Summe durch das reale Vorhandensein nicht angewachsen ist. Was hier so trivial anmutet, ist tatsächlich ganz entscheidend. Existenz ist keine Bestimmung am Ding, sondern drückt eine Bezie­ hung von Gegenstand und Begriff aus. »Beide (Gegenstand und Be­ griff, A. F.) müssen genau einerlei enthalten, und es kann daher zu dem Begriffe, der bloß die Möglichkeit ausdrückt (Hvg. A. F.), dar­ um, daß ich dessen Gegenstand als schlechthin gegeben (durch den Ausdruck: er ist) denke, nichts weiter hinzukommen. (...) Wenn ich also ein Ding, durch welche und wie viel Prädikate ich will, (...) den­ ke, so kommt dadurch, daß ich noch hinzusetze, dieses Ding ist, nicht das mindeste zu dem Dinge hinzu.« (B 627f.) Dies betrifft ebenso den Begriff eines ens realissimum: »Denke ich mir nun ein Wesen als die höchste Realität (ohne Mangel), so bleibt noch immer die Frage, ob es existiere, oder nicht. Denn, obgleich an meinem Begriffe, von dem möglichen realen Inhalte eines Dinges überhaupt, nichts fehlt, so fehlt doch noch etwas an dem Verhältnisse zu meinem ganzen Zu­ stande des Denkens, nämlich daß die Erkenntnis jenes Objekts auch a posteriori möglich sei.« (B 628; Hvg. A. F.) Die Begründung der Wissenschaft aus reiner Vernunft

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Der hier angesprochene Mangel erklärt sich aus Kants in der Transzendentalen Analytik entwickelten Theorie der Modalhegriffe, genauer: aus der Differenz von rein logischer und realer Möglich­ keit.30 Zur logischen Möglichkeit ist das analytische Merkmal der Widerspruchsfreiheit hinreichend; um jedoch etwas üher die reale Möglichkeit aussagen zu können, hedarf es, wie Kant im ersten der Postulate des empirischen Denkens festgelegt hat, der Übereinstim­ mung »mit den formalen Bedingungen der Erfahrung« (B 265). In diesem Sinne kann etwas »ein leerer Begriff sein, wenn die ohjektive Realität der Synthesis, dadurch der Begriff erzeugt wird, nicht hesonders dargetan wird; welches aher jederzeit (...) auf Prinzipien mög­ licher Erfahrung und nicht auf dem Grundsatze der Analysis (dem Satze des Widerspruchs) heruht« (B 624 Anm.). Der Begriff Gottes als eines ens realissimum aher ist weder ein Erfahrungshegriff, noch ist er erfahrungskonstitutiver Begriff a priori, sondern lediglich Idee; eine solche aher kann die zuletzt aufgestellte Bedingung nicht erfüllen. Auf diese Weise rundet sich Kants Widerlegung des ontolo­ gischen Arguments: »Das analytische Merkmal der Möglichkeit (...) kann ihm (dem Begriff eines höchsten Wesens, A. F.) zwar nicht ge­ stritten werden; da aher die Verknüpfung aller realen Eigenschaften in einem Dinge eine Synthesis ist, üher deren Möglichkeit wir a prio­ ri nicht urteilen können, weil uns die Realitäten spezifisch nicht gegehen sind, und, wenn dieses auch geschähe, überall gar kein Urteil darin stattfindet, weil das Merkmal der Möglichkeit synthetischer Erkenntnisse immer nur in der Erfahrung gesucht werden muß, zu welcher aher der Gegenstand einer Idee nicht gehören kann; so hat der herühmte Leihniz hei weitem das nicht geleistet, wessen er sich schmeichelte, nämlich eines so erhahenen idealischen Wesens Mög­ lichkeit a priori einsehen zu wollen.« (B 630) Die Kritik der Gottesheweise hildet den Schlußstein der Transzen­ dentalen Dialektik und in gewisser Weise des gesamten Unterneh­ 30 Dies ist ein Punkt, der sowohl hei Henrich als auch hei Röd kaum heachtet wird. Henrich hetont zwar, daß »Kants Kritik aller Gottesheweise ihren einheitlichen Grund in seiner Theorie der Modalhegriffe (hat)« (Ontologischer Gottesbeweis, 154), hezieht dies jedoch im Zusammenhang mit seiner Hauptthese von der Bedeutung des Begriffs eines notwendigen Wesens auf den Begriff der Notwendigkeit. Röd versteigt sich gar zu der Behauptung, daß in der Transzendentalen Dialektik »die Gottesheweise unahhängig von den Ergehnissen der Transzendentalen Analytik kritisiert werden«, was er selhst »üherraschend« findet (Gott der reinen Vernunft, 159). 222

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mens einer Kritik der reinen theoretischen Vernunft. Zugleich bildet sie den Höhepunkt der Kantischen Kritik des Rationalismus. Dieser verliert mit Gott den notwendigen Garanten für die Übereinstim­ mung der apriorischen Prinzipien des Denkens mit denen der Welt, und das heißt auch: für die Errichtung eines Systems der Wissen­ schaften auf den Grundsätzen der Mathesis universalis. Schließlich ist mit der Kritik der Gottesbeweise die letzte Möglichkeit ausge­ schlossen, der transzendentalen Kritik mit rationalistischen Grund­ sätzen zu begegnen. Hinsichtlich der Möglichkeit der Begründung von sicherer Wissenschaft steht nun die Transzendentalphilosophie ihrerseits in der Beweispflicht. Bevor jedoch hierauf näher eingegan­ gen wird, ist noch eine Bemerkung zur Bedeutung angebracht, die den Vernunftideen innerhalb des Systems einer reinen theoretischen Vernunft zukommt, da andernfalls die Kantische Kritik in einem ganz falschen Licht erscheinen könnte. c) Zur systematischen Funktion der Vernunftideen als regulativer Prinzipien Bisher konnte der Eindruck entstehen, als sei es Kant in der Tran­ szendentalen Dialektik allein um die Destruktion falscher Beweise aus reiner Vernunft zu tun. Eine solche Auffassung wäre sicherlich verkürzt. Auch hatte Kant keinesfalls im Sinn, einen definitiven Be­ weis von der Nichtexistenz Gottes zu erbringen. Für ihn handelte es sich lediglich darum, das Fundament des Erkennens nicht mit fal­ schen, daher strittigen und bezweifelbaren Sätzen zu errichten. Es könne, so Kants Überlegung, »der guten Sache keineswegs schaden, die dogmatische Sprache eines hohnsprechenden Vernünftlers auf den Ton der Mäßigung und Bescheidenheit, eines zur Beruhigung hinreichenden, obgleich eben nicht unbedingte Unterwerfung gebie­ tenden Glaubens, herabzustimmen« (B 652 f.). Die Zurückweisung der »dreiste(n) Anmaßung einer apodiktischen Gewißheit« (B 640) aber bedeutet noch nicht, daß die Ideen als null und nichtig anzuse­ hen wären. Eine wichtige Bedeutung kommt den Ideen von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit in der praktischen Philosophie zu. Dort zeigt sich ein positiver Nutzen der Kritik der transzendentalen Ideen: Indem sie mit der Unmöglichkeit eines Beweises der Realität des in den Ideen Vorgestellten zugleich die Unmöglichkeit eines Gegenbeweises dar­ legt, läßt sie Raum für den Vernunftglauben, der gefordert wird, Die Begründung der Wissenschaft aus reiner Vernunft

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wenn der Gedanke einer praktischen Autonomie der Vernunft kon­ sequent entfaltet wird. In diesem Sinne kann Kant sagen, er habe das Wissen aufheben müssen, »um zum Glauben Platz zu bekommen« (B XXX). Doch ist das Gebiet des praktischen Vernunftgebrauchs nicht das einzige Refugium der Vernunftideen - auch im System der reinen theoretischen Vernunft behaupten sie einen vornehmen Platz. Es hieße die Absicht und das Ergebnis der transzendentalen Kri­ tik gründlich mißverstehen, wollte man Kant nur als den großen Zerstörer unrechtmäßiger Anmaßungen der Vernunft betrachten. Die Ideen, das ureigenste Produkt der reinen Vernunft selbst, gelten ihm nicht als die bloßen Erdichtungen, die sie gemäß einer solchen Auffassung sein müßten. Sie entstammen nicht einfach einer wahn­ haften Selbstüberschätzung, und sie sind auch nicht als grund- und sinnlos beiseite zu wischen. Denn nicht genug damit, daß die Ver­ nunftbegriffe einem - wie Kant zu betonen nicht müde wird natürlichen Trieb des Erkennens entspringen, der sich auch der schärfsten Kritik gegenüber als resistent erweist - sie erfüllen im Ganzen der Erkenntnis eine wichtige Funktion, die in ihrer Bedeu­ tung kaum überschätzt werden kann. Nicht zufällig spricht Kant vom Ideal des höchsten Wesens als einem »Begriff, welcher die ganze menschliche Erkenntnis schließt und krönt« (B 669); und nicht zufäl­ lig erinnern etliche Formulierungen aus der Transzendentalen Dia­ lektik in verblüffendem Maße an Wendungen, wie sie später von Hegel gebraucht worden sind. Nach Kant ist der menschlichen Vernunft ein Streben nach größtmöglicher Einheit der Erkenntnis eigen. Das ihr eigentümliche Prinzip ist dieses: »zu dem bedingten Erkenntnisse des Verstandes das Unbedingte zu finden, womit die Einheit desselben vollendet wird« (B 364). Verschafft der Verstand dem Wust von Anschauungs­ daten eine erste Einheit, indem er sie vermittels seiner synthetischen Funktionen mit allgemeinen Begriffen und Gesetzen überzieht, so gibt sich Vernunft hiermit nicht zufrieden. Wo der Verstand endet, beginnt sie: »Die Vernunft hat also eigentlich nur den Verstand und dessen zweckmäßige Anstellung zum Gegenstande, und, wie dieser das Mannigfaltige im Objekt durch Begriffe vereinigt, so vereinigt jene ihrerseits das Mannigfaltige der Begriffe durch Ideen, indem sie eine gewisse kollektive Einheit zum Ziele der Verstandeshandlun­ gen setzt, welche sonst nur mit der distributiven Einheit beschäftigt sind« (B 672); auf diese Weise verschafft sie den Verstandesbegriffen 224

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»die größte Einheit neben der größten Ausdehnung« (ehd.). Sieht sie dahei auf die »unbedingte Einheit der subjektiven Bedingungen aller Vorstellungen überhaupt«, so gelangt sie zur Idee eines einheitlichen denkenden Subjekts (B 432 f.). Im Hinblick auf die objektiven Bedin­ gungen sind zwei Fälle möglich: In Bezug auf die Einheit in der Er­ scheinung entstehen die kosmologischen Ideen, hinsichtlich der Ein­ heit von Gegenständen überhaupt aber die Idee Gottes als eines höchsten Wesens (ebd.; vgl. B 391). Das bloße Streben nach Einheit sagt freilich nichts darüber aus, ob dieser Gedanke für das Erkennen irgendeine Relevanz besitzt oder sich gar als sachhaltig ausweisen läßt. Die Einheit des Verstandes hat­ te sich als objektiv gültige deduzieren lassen, indem gezeigt werden konnte, daß ohne die kategoriale Synthesis dem Erkennen überhaupt kein Gegenstand entstehen könne. Bezüglich der reinen Vernunft­ begriffe, der Ideen, ist eine derartige Rechtfertigung als Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung ausgeschlossen. Beruhte doch darauf die Kritik der dialektischen Schlüsse: daß ein Begriff, dem der Bezug zu den Anschauungsdaten mangelt, ohne Gegenstand sei. Die Ideen können daher nicht als konstitutive Prinzipien genommen werden. Ihre Bedeutung ergibt sich auf dem Umweg über die Methode, ge­ nauer: über den Gedanken der Wissenschaft als System. Für Kant nämlich steht es nicht nur fest, daß die Philosophie »das System aller philosophischen Erkenntnis ist« (B 866; Hvg. A. F.), sondern die sy­ stematische Form ist aller Wissenschaft wesentlich: »die systemati­ sche Einheit (ist) dasjenige, was gemeine Erkenntnis allererst zu Wis­ senschaft, d. i. aus einem bloßen Aggregat derselben ein System macht« (B 860). Ein System aber ist »die Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee«, und zwar dem »Vernunftbegriff von der Form eines Ganzen« (ebd.). Systematik, Wissenschaftlichkeit und Vernunft sind also untrennbar miteinander verwoben. Es mag zunächst überraschen, ist jedoch ganz entscheidend, daß sich diese Funktion der Ideen auch und gerade auf das empirische Erken­ nen erstreckt. Der Grundgedanke einer möglichst vollständigen Ein­ heit, dessen Sprößlinge die Ideen sind, ist diesbezüglich von größtem Nutzen: Er erst gibt Orientierungspunkte an die Hand, die es erlau­ ben, aus einer bloßen Ansammlung von Erfahrungssätzen ein nach Prinzipien geordnetes Ganzes, ein System zu bilden. Diese Systema­ tisierung ist bedeutsam nicht als nachträgliche, dem Verstandes­ gebrauch selbst äußerliche Zurichtung seiner Erkenntnisse (etwa zu Die Begründung der Wissenschaft aus reiner Vernunft

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Präsentationszwecken), sondern verschafft der Forschung eine Richt­ schnur. Dahei betont Kant, daß die empirische Erkenntnis sich an den Ideen zu orientieren hat, nicht umgekehrt, daß also »die Vernunft hier nicht bettle, sondern gebiete« (B 681): »Dergleichen Vernunft­ hegriffe werden nicht aus der Natur geschöpft, vielmehr befragen wir die Natur nach diesen Ideen, und halten unsere Erkenntnis für man­ gelhaft, solange sie denselben nicht adäquat ist.« (B 673) In Bezug auf den empirischen Verstandesgebrauch also befördern die Ideen bzw. der durch sie gestiftete systematische Zusammenhang »nicht allein dessen Ausbreitung, sondern bewährt auch zugleich die Richtigkeit desselben« (B 708). Die Ideen bzw. die aus ihnen hervorgehenden Maximen der Ver­ nunft sind also Prinzipien zum methodischen Gebrauch, Verfahrens­ regeln, die Anweisung geben auf eine systematische Ordnung, die nicht der Erfahrung entnommen ist; sie bilden gleichsam Flucht­ linien, an denen das Erkennen ausgerichtet wird. Sie sind regulative Prinzipien, die die Erkenntnis leiten, nicht jedoch für dieselbe kon­ stitutiv sind. So aufgefaßt, »ist die Idee eigentlich nur ein heuristi­ scher und nicht ostensiver Begriff, und zeigt an, nicht wie ein Gegen­ stand beschaffen ist, sondern wie wir, unter der Leitung desselben, die Beschaffenheit und Verknüpfung der Gegenstände der Erfahrung überhaupt suchen sollen« (B 699). Solange die Ideen als regulativ verstanden werden, besteht auch nicht die Gefahr dialektischer Fehl­ schlüsse - »ihr bloßer Mißbrauch muß es allein machen, daß uns von ihnen ein trüglicher Schein entspringt« (B 697). Dieser Mißbrauch besteht darin, den Ideen einen Gegenstand zuzuschreiben und so die regulativen in konstitutive Prinzipien zu verwandeln; solches aber »heißt nur die Vernunft verwirren« (B 721 f.). Werden indes die Ver­ nunftprinzipien als regulative aufgefaßt, ist von ihnen auch eine De­ duktion möglich; ja eine solche ist sogar erforderlich, um ihren Ge­ brauch als gegründet zu rechtfertigen. Diese Deduktion der Ideen bezeichnet Kant - und nichts könnte deren Bedeutung besser unter­ streichen - als »die Vollendung des kritischen Geschäftes der reinen Vernunft« (B 698). Eine solche Deduktion kann freilich keine objek­ tive im Sinne der Deduktion der Kategorien sein (vgl. B 393; B 691 f.; B 697); sie ist eine »transzendentale Deduktion aller Ideen der spe­ kulativen Vernunft, nicht als konstitutiver Prinzipien der Erweite­ rung unserer Erkenntnis über mehr Gegenstände, als Erfahrung ge­ ben kann, sondern als regulativer Prinzipien der systematischen Einheit des Mannigfaltigen der empirischen Erkenntnis überhaupt« 226

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(B 699); diese aber beruht darauf: »daß, obgleich die dreierlei tran­ szendentalen Ideen (psychologische, kosmologische, und theologi­ sche) direkt auf keinen ihnen korrespondierenden Gegenstand und dessen Bestimmung bezogen werden, dennoch als Regeln des empi­ rischen Gebrauchs der Vernunft unter Voraussetzung eines solchen Gegenstandes in der Idee auf systematische Einheit führen und die Erfahrungserkenntnis jederzeit erweitern, niemals aber derselben zuwider sein können« (B 699). Die über die Ideen vermittelte Ver­ nunfteinheit als »Einheit des Systems« also »dient der Vernunft nicht objektiv zu einem Grundsatze, um sie über die Gegenstände, sondern subjektiv als Maxime, um sie über alles mögliche empirische Erkenntnis der Gegenstände zu verbreiten.« (B 708) Der Status und die Bedeutung einer Idee läßt sich an der Gottesidee, die von allen die höchste ist, gut verdeutlichen. An sie knüpft sich die Möglichkeit einer teleologischen Betrachtungsweise der Natur, die sich von den Verstandesprinzipien her geradezu verbietet. Da näm­ lich die »höchste formale Einheit, welche allein auf Vernunftbegrif­ fen beruht, die zweckmäßige Einheit der Dinge (ist)«, macht es »das spekulative Interesse der Vernunft (...) notwendig, alle Anordnung in der Welt so anzusehen, als ob sie aus der Absicht einer allerhöch­ sten Vernunft entsprossen wäre« (B 714). In ihrem Streben nach Ein­ heit gebietet es die Vernunft, »die Verknüpfung der Welt nach Prin­ zipien einer systematischen Einheit zu betrachten, mithin als ob sie insgesamt aus einem einzigen allbefassenden Wesen, als oberster und allgenugsamer Ursache, entsprungen wären« (ebd.). Dabei ist das als ob von der größten Wichtigkeit: es macht nochmals deutlich, daß es sich um ein regulatives Prinzip, eine Betrachtungsweise, nicht um eine gegenständliche Erkenntnis handelt. D. h., es kann der Natur­ wissenschaft von Nutzen sein, wenn sie gewisse Naturdinge so be­ trachtet, als ob sie zweckmäßig entworfen worden seien. Die Frage etwa, wozu ein bestimmtes Organ einer Pflanze gut sei, führt die Forschung auf Wege, die sie bei alleiniger Betrachtung der Wirkursa­ chen überhaupt nicht eingeschlagen hätte, die aber nichtsdestoweni­ ger zu sicheren, dann durchaus auf Wirkursachen gegründeten Er­ gebnissen führen können. Auf keinen Fall darf man jedoch eine allgemeine Zweckmäßigkeit oder gar einen göttlichen Weltplan als wirklich behaupten.31 31 -Auf solche Weise aber können wir doch (so wird man fortfahren zu fragen) einen Die Begründung der Wissenschaft aus reiner Vernunft

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Die Idee eines höchsten Wesens erfüllt also die in der Deduktion aufgestellten Bedingungen: Sie führt zu systematischer Einheit und dient zur Erweiterung der Erfahrungserkenntnisse, und sie ist mit den Prinzipien des empirischen Erkennens durchaus verträglich, vor­ ausgesetzt, man beansprucht nicht, in ihr einen wirklichen Gott er­ kannt zu haben. Sie ist »nichts anderes, als ein regulatives Prinzip der Vernunft, alle Verbindung in der Welt so anzusehen, als ob sie aus einer allgenugsamen notwendigen Ursache entspränge, um darauf die Regel einer systematischen und nach allgemeinen Gesetzen not­ wendigen Einheit in der Erklärung derselben zu gründen, und ist nicht eine Behauptung einer an sich notwendigen Existenz« (B 647). Ebensowenig wird durch sie behauptet, daß die Natur nach teleologi­ schen Prinzipien aufgebaut sei. Mit ihr verbindet sich lediglich der Gedanke einer »formale(n) Zweckmäßigkeit der Natur, die wir an ihr schlechterdings annehmen, wodurch aber weder ein theoretisches Er­ kenntnis der Natur, noch ein praktisches Prinzip der Freiheit gegrün­ det, gleichwohl aber doch für die Beurteilung und Nachforschung der Natur ein Prinzip gegeben wird, um zu besondern Erfahrungen die allgemeinen Gesetze zu suchen, nach welchem wir sie anzustellen haben, um jene systematische Verknüpfung heraus zu bringen, die zu einer zusammenhängenden Erfahrung notwendig ist, und die wir a priori anzunehmen Ursache haben« (Erste Passung der Einleitung in die Kritik der Urteilskraft, H 9; KW V, 181). Die »Vorstellung der Natur als Kunst« ist daher »eine bloße Idee, die unserer Nachfor­ schung derselben, mithin bloß dem Subjekte zum Prinzip dient, um einigen weisen und allgewaltigen Welturheber annehmen? Ohne allen Zweifel; und nicht allein dies, sondern wir müssen einen solchen voraussetzen. Aber alsdann erwei­ tern wir doch unsere Erkenntnis über das Feld möglicher Erfahrung? Keineswegs. Denn wir haben nur ein Etwas vorausgesetzt, wovon wir gar keinen Begriff haben, was es an sich selbst sei (einen bloß transzendentalen Gegenstand), aber, in Beziehung auf die systematische und zweckmäßige Ordnung des Weltbaues, welche wir, wenn wir die Natur studieren, voraussetzen müssen, haben wir jenes uns unbekannte Wesen nur nach der Analogie mit einer Intelligenz (ein empirischer Begriff) gedacht, d.i. es in Ansehung der Zwecke und der Vollkommenheit, die sich auf demselben gründen, gera­ de mit denen Eigenschaften begabt, die nach den Bedingungen unserer Vernunft den Grund einer solchen systematischen Einheit enthalten können. Diese Idee ist also respektiv auf den Weltgebrauch unserer Vernunft ganz gegründet. Wollten wir ihr aber schlechthin objektive Gültigkeit erteilen, so würden wir vergessen, daß es lediglich ein Wesen in der Idee sei, das wir denken, und, indem wir alsdann von einem durch die Weltbetrachtung gar nicht bestimmbaren Grunde anfingen, würden wir dadurch außer­ stand gesetzt, dieses Prinzip dem empirischen Vernunftgebrauch angemessen anzuwen­ den.« (B 725 f.) 228

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in das Aggregat empirischer Gesetze, als solcher, wo möglich einen Zusammenhang, als in einem System, zu bringen, indem wir der Natur eine Beziehung auf dieses unser Bedürfnis beilegen« (ebd., H 9; KW V, 182). Der Gedanke einer zweckmäßigen Einrichtung der Natur mag also zwar als Leitidee dienen, er soll jedoch keinesfalls die allgemeinen, in der Transzendentalen Analytik bestimmten Ge­ setze der Natur (wie des Naturerkennens) in ihrer Geltung herabset­ zen: »Die Naturforschung geht ihren Gang ganz allein an der Kette der Naturursachen nach allgemeinen Gesetzen derselben, zwar nach der Idee eines Urhebers, aber nicht um die Zweckmäßigkeit, der sie allerwärts nachgeht, von demselben abzuleiten, sondern sein Dasein aus dieser Zweckmäßigkeit, die in den Wesen der Naturdinge gesucht wird, womöglich auch in den Wesen aller Dinge überhaupt, mithin als schlechthin notwendig zu erkennen. Das Letztere mag nun gelin­ gen oder nicht, so bleibt die Idee immer richtig, und ebensowohl auch deren Gebrauch, wenn er auf die Bedingungen eines bloß regulativen Prinzips restringiert worden.« (B 722)32 Es ist sicherlich das in theoretischer Hinsicht bedeutsamste Er­ gebnis der Kritik der reinen Vernunft, gezeigt zu haben, wie der Ver­ stand apriorische Gesetze hervorbringt, die nicht nur für das Erken­ nen, sondern ebenso für die Natur als den durch das Erkennen konstituierten Gegenstandsbereich unbedingte Geltung beanspru­ chen können. Dennoch bleibt das Erkennen des Verstandes in einer eigentümlichen Weise kraftlos, wird er der Vernunft beraubt. Es ist das »Geschäft« der letzteren, »die Einheit aller möglichen empiri­ schen Verstandeshandlungen systematisch zu machen« (B 692). Was also Vernunft über die Verstandeserkenntnisse »verfügt« und auch verfügen muß, ist »das Systematische der Erkenntnis (...), d.i. der Zusammenhang derselben aus einem Prinzip« (B 673). Die Ideen sind hierfür notwendige Realisationsmittel; sie sind daher aus der kritischen Philosophie überhaupt nicht wegzudenken.

32 Aus der heutigen Perspektive mutet Kants Verbindung von teleologischer und kau­ saler Erklärung vielleicht etwas umständlich an; Evolutionstheorie und Vererbungslehre legen es nahe, auch die Zweckursachen auf Wirkursachen zurückzuführen. Wichtig ist jedoch, daß Kant mit den teleologischen Prinzipien keine neue Erklärungsweise von Naturgeschehnissen zulassen, also keineswegs die Naturgesetzlichkeit nach Verstandes­ gesetzen unterlaufen wollte. Wie sehr Kant einer streng mathematischen Naturwissen­ schaft das Wort redet, wird sich im nächsten Abschnitt zeigen. Die Begründung der Wissenschaft aus reiner Vernunft

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Fünfter Abschnitt

Kants Grundlegung der modernen Naturwissenschaft

1. Das Zusammenwirken von Mathematik und Metaphysik bei der Begründung von Naturerkenntnis Kants Kritik an der rationalistischen Mathesis universalis, in der er den Vorhildcharakter des mathematischen Erkennens für die Philoso­ phie entschieden hestreitet, dient zuallererst einmal dem Zweck, die Ansprüche der Mathematik auf metaphysische Erkenntnis zurück­ zuweisen. Die Endahsicht der gesamten Vernunftkritik aher liegt wie hereits zu Beginn des vierten Ahschnitts ausgeführt - nicht in diesem negativen Ergehnis als solchem, sondern in der Gewinnung eines festen Fundaments des Wissens, nicht zuletzt also auch in der Begründung einer sicheren Naturwissenschaft. Nichts anderes hatte schon Descartes heahsichtigt, dessen Erste Philosophie weit weniger der Erkenntnis Gottes als vielmehr der Begründung einer neuen Physik diente. Allerdings war Descartes letztlich auch in der Metaphysik gemäß den methodischen Vorgahen seiner Mathesis universalis verfahren, war von der Evidenz des den­ kenden Ich und Gottes ausgegangen. Descartes hatte nicht nur die Naturwissenschaft, sondern alle Wissenschaft mathematischen Er­ kenntniskriterien unterworfen, und letztlich gründen die mathema­ tischen Prinzipien der cartesischen Physik in seiner mathematischen Metaphysik. Indem daher Kant dieser jegliche Berechtigung ahspricht, entzieht er zugleich jener den Boden. Mehr noch: in der Kri­ tik des Paralogismus und der Gottesheweise hat sich gezeigt, daß nicht nur die mathematische Methode für diese Beweise untauglich ist, sondern daß sie schlechthin nicht zu führen sind. Mit der Suhstanzontologie aher zerhricht endgültig die Grundlage für Descartes' Physik, da sie die Richtigkeit der Anwendung der Mathematik auf Natur sicherte. Mit der rationalistischen Metaphysik steht auch die Sicherheit der modernen Naturwissenschaft in Frage. Freilich ließe (und läßt) sich Naturwissenschaft auch hetreihen, Die Begründung der Wissenschaft aus reiner Vernunft

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Kants Grundlegung der modernen Naturwissenschaft

wenn die erforderlichen Voraussetzungen schlicht als Erfahrungstat­ sachen behauptet oder als Hypothesen formuliert werden, deren Gültigkeit immer schon vorbehaltlich einer späteren Falsifikation an­ genommen wird. Vom Kantischen Standpunkt aber wäre ein solches Verfahren gänzlich ungenügend. Denn hierin teilt Kant, wie oben gesehen, uneingeschränkt den rationalistischen Anspruch: daß stren­ ge Wissenschaft mit Notwendigkeit der Erkenntnisse einhergehen müsse, sie also nur aus Urteilen a priori entspringen könne. Für ihn steht es daher außer Frage, daß »alle eigentliche Naturwissenschaft (...) einen reinen Teil (bedarf), auf dem sich die apodiktische Gewiß­ heit, die die Vernunft in ihr sucht, gründen könne« (MA, A VI f.). Nun verfügt die Naturwissenschaft, wie Kant sie vorfindet, über einen solchen reinen Teil, in welchem sie aber gerade mathematisch verfährt, angefangen von Descartes und Galilei bis hin zu Newtons Philosophiae naturalis principia mathematica. Sie gründet ihre Not­ wendigkeit also auf jene Erkenntnisweise, die Kant in ihrem An­ spruch auf universale Erkenntnis gerade beschränkt hatte. Kant steht damit vor einer doppelten Aufgabe. Zum einen gilt es zu zeigen, wie eine reine Naturwissenschaft überhaupt möglich sei. Die­ se Frage ist unmittelbar mit derjenigen nach der Möglichkeit synthe­ tischer Urteile a priori verknüpft, da die reine Naturwissenschaft eben solche wird enthalten müssen. Die Grundlegung der Physik berührt damit das Zentrum der gesamten Vernunftkritik. Zum an­ dern aber muß sich Kant mit dem Problem auseinandersetzen, inwie­ fern sich eine reine Naturlehre ausgerechnet auf Mathematik grün­ den lasse. Nachdem er den Gebrauch mathematischer Prinzipien in der Metaphysik für unzulässig erklärt hat, muß er nun zeigen, wie dennoch die apriorische Erkenntnis von Naturdingen durch Mathe­ matik möglich sei. Er hat also seinerseits den Nachweis zu führen, was denn dazu berechtigt, in der Betrachtung der Naturdinge mathe­ matisch vorzugehen und die philosophia naturalis auf principia mathematica zu gründen. a) Die Unterscheidung von transzendentalen und besonderen Metaphysik der Natur In der Vorrede zu seinen Metaphysischen Anfangsgründen der Na­ turwissenschaft (MA) gibt Kant in gedrängter Form die Begründung dafür, daß der reine Teil, auf dem die Wissenschaftlichkeit jeder Na­ 232

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Das Zusammenwirken von Mathematik und Metaphysik

turlehre basiert, apriorische Urteile mathematischer wie auch meta­ physischer Art enthalten, die Naturwissenschaft also sowohl von mathematischen als auch von metaphysischen Prinzipien ausgehen müsse. Nachdem er die uns bereits bekannte Unterscheidung der auf Konstruktion beruhenden mathematischen Synthesis vom rein begrifflichen philosophischen Erkennen erinnert hat, wendet er sich zuerst jeder dieser beiden Erkenntnisarten gesondert zu, um schließ­ lich den Nachweis zu erbringen, daß die Anwendung mathemati­ scher Prinzipien auf die Physik nur durch Metaphysik gerechtfertigt werden könne. Die Notwendigkeit einer Metaphysik der Natur begründet Kant zu­ nächst ganz allgemein damit, daß »Gesetze, d. i. Prinzipien der Not­ wendigkeit dessen, was zum Dasein eines Dinges gehört, sich mit einem Begriffe (beschäftigen), der sich nicht konstruieren läßt, weil das Dasein in keiner Anschauung a priori dargestellt werden kann« (MA, A VII). Der Begriff des Daseins aber ist mit dem einer Natur unmittelbar verknüpft: »Natur ist das Dasein der Dinge, so fern es nach allgemeinen Gesetzen bestimmt ist« (Prolegomena, §14, A 71); diese »Gesetzmäßigkeit aller Gegenstände der Erfahrung« ist »das Formale der Natur« (ebd., §17, A 75).1 Nun läßt sich das Dasein nicht konstruieren (vgl. auch KrV, B 222), entzieht sich also als sol­ ches dem Zugriff der Mathematik, so daß alle unmittelbar zum Da­ sein eines Dinges gehörige Prinzipien, sofern sie notwendig sein sol­ len, metaphysische sein müssen. Dabei differenziert Kant zwischen einem transzendentalen und einem besonderen Teil dieser Metaphysik der Natur. Deren erster wird nun dahingehend bestimmt, daß er von jenen grundlegenden Gesetzen handelt, »die den Begriff einer Natur überhaupt möglich machen« (MA, A VIII; Hvg. A. F.). Kant nimmt damit eine Unter­ scheidung auf, die er unter dem Titel einer Architektonik der reinen Vernunft in der Methodenlehre der KrV entwickelt hat. Die Meta­ physik der Natur wird dort aufgegliedert in Transzendentalphilo­ sophie und Physiologie der reinen Vernunft (KrV, B 873 ff.), die Tran-1 1 Vgl. auch KrV, B 263: »Unter Natur (im empirischen Verstande) verstehen wir den Zusammenhang der Erscheinungen ihrem Dasein nach, nach notwendigen Regeln, d.i. nach Gesetzen. Es sind also gewisse Gesetze, und zwar a priori, welche allererst eine Natur möglich machen«. Zu Kants Naturbegriff und der Unterscheidung in >formal< und >material< vgl. MA, A III, Prolegomena, §36 und KrV, B 446. Die Begründung der Wissenschaft aus reiner Vernunft

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Kants Grundlegung der modernen Naturwissenschaft

szendentalphilosophie also in ihrer Gesamtheit unter die Metaphysik der Natur subsumiert. Diese Zuordnung erklärt sich daraus, daß die Transzendentalphilosophie nach Kant eine »Weltweisheit der reinen bloß spekulativen Vernunft (ist)« (B 29), weshalb sie der Metaphysik der Natur als dem spekulativen Teil der Metaphysik (im Unterschied zur Metaphysik der Sitten) angehört. Das aber bedeutet, daß unter dem transzendentalen Teil einer Metaphysik der Natur, von der in der Vorrede zu den MA die Rede ist, nichts anderes zu verstehen ist als die Transzendentalphilosophie selbst. Nun hat zwar Kant letztere nicht systematisch, d. h. vollständig ausgearbeitet, doch sind deren grundlegende Bestimmungen alle­ samt in der Kritik der reinen Vernunft enthalten: »Daß diese Kritik nicht schon selbst Transzendental-Philosophie heißt, beruht lediglich darauf, daß sie, um ein vollständiges System zu sein, auch eine aus­ führliche Analysis der ganzen menschlichen Erkenntnis a priori ent­ halten müßte.« (B 27) So sind denn, wie Kant in der Vorrede zur ersten Auflage betont, »alle Prinzipien zu dem System (der Meta­ physik der Natur, A. F.) in der Kritik vorgetragen« (A XXI). Nur die Ausführlichkeit ist es, die der KrV zur vollständigen Transzenden­ talphilosophie fehlt. Man wird daher die transzendentale Analytik der KrV als den Kern des transzendentalen Teils jener Metaphysik der Natur bezeichnen können. Dieser Befund findet seine Bestätigung in der Transzendentalen Deduktion, namentlich der Transzendentalen Deduktion des all­ gemein möglichen Erfahrungsgebrauchs der reinen Verstandes­ begriffe, also im Paragraphen 26 der Ausgabe B. Dort »soll die Möglichkeit, durch Kategorien die Gegenstände, die nur immer un­ seren Sinnen Vorkommen mögen, und zwar nicht der Form ihrer Anschauung, sondern den Gesetzen ihrer Verbindung nach (Hvg. A. F.), a priori zu erkennen, also der Natur gleichsam das Gesetz vor­ zuschreiben und sie sogar möglich zu machen (Hvg. A. F.), erklärt werden« (B 159 f.). Der in der transzendentalen Deduktion zu erbrin­ gende Nachweis von der objektiven Gültigkeit der Kategorien ist also unmittelbar mit dem der allgemeinen Gesetzmäßigkeit der Natur verknüpft: Kann gezeigt werden, daß die Verstandesgesetze für alle Erfahrungsobjekte konstitutiv sind, ist zugleich die Gesetzlichkeit des Naturganzen als der Gesamtheit dieser Objekte garantiert.2 Die 2 Bernhard Thöle unterscheidet daher in der Beweisabsicht der Transzendentalen De­ duktion zwischen »Objektivitätsthese« und »Gesetzesthese« (Problem der Gesetz­ 234

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Das Zusammenwirken von Mathematik und Metaphysik

Kategorien lassen sich somit bestimmen als »Begriffe, welche den Erscheinungen, mithin der Natur, als dem Inbegriffe aller Erschei­ nungen (natura materialiter spectata), Gesetze a priori vorschreiben« (B 163), und zwar nur solche Gesetze, »auf denen eine Natur über­ haupt, als Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen in Raum und Zeit, beruht« (B 165). Die über den Schematismus aus ihnen entwickelten »Grundsätze möglicher Erfahrung« sind daher »zugleich allgemeine Gesetze der Natur, welche a priori erkannt werden können« (Prolegomena, §23, A 90; vgl. §36, A 111).3 So vermag es die Transzen­ dentalphilosophie, »die Gesetze, welche a priori der Natur, als dem Inbegriffe der Gegenstände der Erfahrung, zum Grunde liegen, mit ihren genugtuenden Beweisen (zu) versehen« (B XIX). Die Transzendentalphilosophie als der transzendentale Teil einer Metaphysik der Natur hat also jene ursprünglichen Synthesis­ leistungen des Verstandes zum Gegenstand, die den Begriff einer Natur überhaupt als eines einheitlichen Ganzen der Erscheinungen unter Gesetzen möglich machen. Sie leistet damit die Beantwortung jener grundlegenden Frage, wie eine reine Naturwissenschaft über­ haupt möglich sei. Der besondere Teil nun der Metaphysik der Natur wird in den MA dadurch gekennzeichnet, daß er sich anders als der transzendentale nicht mit Dingen überhaupt, sondern »mit einer besonderen Natur dieser oder jener Art Dinge (beschäftigt), von denen ein empirischer Begriff gegeben ist, doch so, daß außer dem, was in diesem Begriffe liegt, kein anderes empirisches Prinzip zur Erkenntnis derselben ge­ braucht wird« (MA, A VIII). Innerhalb der Architektonik läßt er sich als immanente Physiologie identifizieren. Denn das Unterscheidende der Physiologie der Transzendentalphilosophie gegenüber besteht gemäß den dortigen Ausführungen darin, daß sie Natur als »Inbe­ mäßigkeit, 2). Seiner Ansicht nach werden diese Thesen in verschiedenen Beweisgän­ gen behandelt. Diese Betonung der Differenz in der Begründung der beiden Beweisziele fällt meines Erachtens zu stark aus: Indem (und dies ist der springende Punkt der De­ duktion) gezeigt werden kann, daß die Verstandesgesetze Bedingungen der Möglichkeit der Konstitution der Erfahrungsgegenstände sind, ist beides erwiesen, die objektive Gültigkeit der Kategorien ebenso wie die Naturgesetzlichkeit qua Verstandesgesetzlich­ keit. 3 In emphatischem Sinne gilt dies für die Analogien der Erfahrung, von denen Kant in den Prolegomena sagt, sie seien »die eigentlichen Naturgesetze« (§25, A 93), und die er auch in der KrVals »transzendentale Naturgesetze« bezeichnet (B 263). Die Begründung der Wissenschaft aus reiner Vernunft

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Kants Grundlegung der modernen Naturwissenschaft

griff gegebener Gegenstände« betrachtet (KrV, B 873), während die differentia specifica einer immanenten Physiologie (in Absetzung gegen die sogenannte transzendente Physiologie) sich daraus ergibt, daß ihre Gegenstände empirisch gegeben sind und sie also »Natur als den Inbegriff aller Gegenstände der Sinne (betrachtet)« (B 873 f.; Hvg. A. F.). Dies deckt sich exakt mit der Beschreibung des besonde­ ren Teils der Metaphysik der Natur in den MA, daß dieser sich mit einer solchen Art von Dingen beschäftige, »von denen ein empiri­ scher Begriff gegeben ist« (MA, A VIII; Hvg. A. F.). Die Gegenstände der Sinne aber lassen sich einteilen in solche des äußeren und des inneren Sinnes, woraus sich die weitere Differenzierung der imma­ nenten Physiologie in rationale Physik und rationale Psychologie, in »Metaphysik der körperlichen Natur« und »Metaphysik der denken­ den Natur« ergibt (KrV, B 874). Dem ganz entsprechend wird auch in den MA zwischen einer Metaphysik der körperlichen und der den­ kenden Natur unterschieden, die jeweils »den empirischen Begriff einer Materie, oder eines denkenden Wesens, zum Grunde (legt), und den Umfang der Erkenntnis (sucht), deren die Vernunft über diese Gegenstände a priori fähig ist« (MA, A VIII). Der Unterschied von transzendentalem und besonderem Teil der Metaphysik der Natur wird also in den MA und der Architekto­ nik der KrV vollkommen übereinstimmend dahingehend bestimmt, daß allein die besondere Metaphysik der Natur es mit empirisch Ge­ gebenem zu tun hat. Hiergegen hat Hansgeorg Hoppe eingewandt, daß auch transzendentalphilosophische Urteile sich auf mögliche Er­ fahrung beziehen, was seiner Ansicht nach bedeutet, daß auch in der Transzendentalphilosophie bereits die äußere Natur als Gegenstand vorgegeben sei. Aus diesem Grunde wendet er sich gegen die Identi­ fikation des transzendentalen Teils der Metaphysik der Natur in den MA mit dem, was in der Architektonik als Transzendentalphilo­ sophie firmiert; Kants Kennzeichnung der letzteren, daß sich ihre Begriffe und Grundsätze »auf Gegenstände überhaupt beziehen, ohne Objekte anzunehmen, die gegeben wären« (KrV, B 873), zeige vielmehr, daß man hierunter die vorkantische Ontologie zu verste­ hen habe, also etwas vom kritischen Standpunkt her ganz Unmög­ liches. Dieser >Transzendentalphilosophie< fehle der für Kant ent­ scheidende Rückbezug auf mögliche Erfahrung, den Hoppe erst in der immanenten Physiologie gegeben sieht, wo die Natur als »Inbe­ griff gegebener Gegenstände« (ebd.) betrachtet wird. Für Hoppe er­ gibt sich damit die Zuordnung des transzendentalen Teils der Meta­ 236

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physik der Natur nicht zur uneigentlich so genannten Transzenden­ talphilosophie, sondern zur immanenten Physiologie, welche die ei­ gentlich Kantische Transzendentalphilosophie beinhalte.4 Daß Kant in der Architektonik den Begriff der Transzendentalphilosophie in einem ganz unkantischen Sinne gebraucht, hat nach Hoppe seinen Grund darin, daß hier die Idee einer Metaphysik angegeben wird, »die schon vor Kant bestand«.5 Kant nämlich ordnet in dieses »Sy­ stem der reinen Vernunft« auch die scheinbare philosophische Er­ kenntnis ein (B 869), zu der nach Hoppes Auffassung auf Gegenstän­ de überhaupt bezogene Grundsätze »zweifellos« gehören.6 Gegen Hoppes These läßt sich zunächst einmal einwenden, daß seine Einteilung nur schwerlich mit derjenigen Kants in Überein­ stimmung zu bringen ist. So gliedert sich nach Kant die immanente Physiologie in rationale Physik und rationale Psychologie, ohne daß diesen Teilen noch eine immanente Physiologie im allgemeinen über­ geordnet wäre; eine solche aber ist unbedingt erfordert, wenn man was sicherlich vollkommen richtig ist - mit Hoppe die besondere Metaphysik der körperlichen Natur mit der rationalen Physik iden­ tifiziert und dennoch den transzendentalen Teil innerhalb der imma­ nenten Physiologie unterbringen möchte. Auch stimmt Hoppes Ein­ teilung nicht mit der Aussage Kants überein, daß zu einer rationalen Physiologie überhaupt die Begriffe der Materie bzw. eines denken­ den Wesens gegeben sein müßten (vgl. B 876), was gerade gemäß den Ausführungen der MA erst in der besonderen Metaphysik der Fall ist. Dennoch sind die von Hoppe vorgebrachten Einwände nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen. So scheint sich seine Sicht­ weise zunächst darin zu bestätigen, daß Kant in der Architektonik die Transzendentalphilosophie auch als Ontologie bezeichnet, obwohl es zu den Einsichten der Vernunftkritik gehört, daß, wie Kant in der Analytik ausführt, »der stolze Name einer Ontologie, welche sich anmaßt, von Dingen überhaupt synthetische Erkenntnisse a priori in einer systematischen Doktrin zu geben (...), dem bescheidenen, einer bloßen Analytik des reinen Verstandes, Platz machen (muß)« (B 303). Offenbar enthält also das in der Architektonik vorgelegte 4 Hansgeorg Hoppe, Kants Theorie der Physik. Eine Untersuchung über das Opus postumum von Kant, Frankfurt a.M. 1969, 32. 5 Ebd., 34. 6 Ebd., 32. Die Begründung der Wissenschaft aus reiner Vernunft

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System terminologische Konzessionen an die Tradition; doch berech­ tigt dies nicht dazu, auch eine inhaltliche Übereinstimmung anzu­ nehmen, was bei einem System der Vernunft, das als Resultat der KrV vorgetragen wird, ganz ungereimt wäre. Überdies findet sich in Kants Fortschritte-Schrift von 17917 eine Formulierung, die in der Identifizierung von >Ontologie< und >Transzendentalphilosophie< ex­ akt mit der Ausdrucksweise der Architektonik übereinstimmt. »Die Ontologie«, so heißt es dort, »ist diejenige Wissenschaft (als Teil der Metaphysik), welche ein System aller Verstandesbegriffe und Grund­ sätze, aber nur, so fern sie auf Gegenstände gehen, welche den Sinnen gegeben, und also durch Erfahrung belegt werden können, ausmacht. Sie (...) wird Transzendental-Philosophie genannt, weil sie die Be­ dingungen und ersten Elemente aller unsrer Erkenntnis a priori ent­ hält.« (A 10 f.) Hier kann nun kein Zweifel darüber bestehen, daß es Kants eigene Transzendentalphilosophie ist, die als Ontologie be­ zeichnet wird.8 Schließlich muß auch die Tatsache, daß Kant bei der Kennzeich­ nung der Transzendentalphilosophie in der Architektonik von »Ge­ genstände^) überhaupt« spricht (B 873), keineswegs zwangsläufig als Indiz dafür gewertet werden, daß hiermit auch die Erkenntnis von jenseits der Erfahrung liegenden Dingen an sich angesprochen sei. Im Gegenteil: wie sich bei der Untersuchung der transzenden­ talen Synthesis ergeben hat, gilt Kant der Begriff eines >Gegenstandes< bzw. >Dinges überhaupt< als Inbegriff möglicher Anschauungen, die dem Erkennen gegeben werden können, nicht aber gegeben sind (vgl. oben Abschnitt IV, Kapitel 2 a). In dieser Funktion bildet er die Grundlage einer transzendentalen Synthesis, welche die Bedingun­ gen möglicher Erkenntnis formuliert. Weit entfernt davon, unter Vernachlässigung der Anschauung die Erkenntnis über die Grenzen der Erfahrung hinaus zu erweitern, sichert der so verstandene Begriff des >Dinges< bzw. Gegenstandes überhaupt< vielmehr den Rückbezug auf mögliche Erfahrung. Die scheinbare Erkenntnis, die Hoppe die­ sem Teil zuordnet, ergibt sich erst im transzendentalen Gebrauch der 7 Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibnitzens und Wolf's Zeiten in Deutschland gemacht hat?, in: Werke, Bd. III, 585-652. 8 Hoppe, der dieses Zitat selbst anführt, räumt daher ein, daß hier >Transzendentalphilosophie< mit dem übereinstimme, was Kant in den MA als transzendentalen Teil der Metaphysik bezeichnet, erklärt aber gerade deshalb die Formulierung der Fortschritte für mit derjenigen der Architektonik unvereinbar - was nicht sehr überzeugend ist (Hoppe, 34). 238

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transzendentalen Begriffe und Grundsätze, in ihrer Anwendung auf Bereiche, die die mögliche Erfahrung übersteigen, also in der tran­ szendenten Kosmologie und Theologie.9 Ganz unabhängig aber davon, wie man den Systementwurf der Architektonik letztendlich beurteilen wird: in der Annahme, Kants kritische Transzendentalphilosophie beziehe sich auf die äußere Na­ tur als sinnlich gegebenen Gegenstand, geht Hoppe auf jeden Fall fehl. Zwar geht eine transzendentale Synthesis nur auf mögliche Er­ fahrung, weshalb die Gültigkeit transzendentalphilosophischer Ur­ teile auf solche Gegenstände eingeschränkt ist, die in einer Anschau­ ung gegeben werden können, doch bedeutet das nicht, daß diesen Urteilen bereits ein bestimmter Gegenstand als Grundlage gegeben ist. Denn die Möglichkeit, daß ein Gegenstand gegeben werde, und dessen tatsächliches Gegebensein sind etwas ganz Verschiedenes; erstere bildet die notwendige Bedingung einer transzendentalen Syn­ thesis aus bloßen Begriffen, vom zweiten aber ist eine Transzen­ dentalphilosophie gänzlich freizuhalten. Sie beschäftigt sich »nicht sowohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, insofern diese a priori möglich sein soll« (KrV, B 25). Untersuchungsgegenstand der Transzendentalphilosophie ist das Er­ kenntnisvermögen selbst, nicht äußere Objekte, was im übrigen ge­ nau mit der Kennzeichnung aus der Architektonik übereinstimmt, daß sie nur den Verstand und die Vernunft betrachte (B 873). Die Sätze der Transzendentalphilosophie sind daher nicht als Urteile über bestimmte Dinge anzusehen, sondern nur als solche, die für diejeni­ gen Dinge, die gegeben werden, schlechthin verbindlich sind. Daß die transzendentalen Grundsätze des reinen Verstandes nur im Hinblick auf mögliche Erfahrung von Bedeutung sind und also nur empiri­ sches Wissen begründen, heißt nicht, daß sie auch unter Vorausset­ zung empirischer Gegenstände gewonnen wären. Aus diesem Grun­ de bilden sie noch keine gegenständlichen Erkenntnisse; solche entstehen erst in der Anwendung auf gegebene Gegenstände, d. h. in der besonderen Metaphysik.

9 Zur Kritik an Hoppes Einteilung vgl. auch Wolff-Metternich, Überwindung, Die Begründung der Wissenschaft aus reiner Vernunft

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b) Zum Problem des Apriori einer besonderen Metaphysik der körperlichen Natur Wenn sich, wie gerade gesehen, das empirische Gegehensein des Ge­ genstandes als das Kennzeichnende einer hesonderen Metaphysik der körperlichen Natur der transzendentalen gegenüher erweist, so ergiht sich ein Prohlem ganz anderer Art: wie denn eine Wissenschaft, die ihren Gegenstand aus der Empirie aufnimmt, überhaupt Meta­ physik, also Erkenntnis a priori sein könne. Dies scheint zunächst widersinnig zu sein, welcher Umstand einige Interpreten dazu ver­ anlaßt hat, entgegen den ausdrücklichen Versicherungen Kants den Materiehegriff selbst als a priori anzusehen.10 Derartige Auffassun­ gen aber sind gänzlich unvereinbar mit dem zentralen Lehrstück der Kantischen Erkenntnistheorie, daß das Erkennen aus bloßen Begrif­ fen, um das es in einer Metaphysik allein zu tun ist, niemals einen hestimmten Gegenstand a priori hat. In der Bezugnahme auf alles, was über den gänzlich unbestimmten Begriff eines Dinges überhaupt hinausführt, hleiht es darauf angewiesen, daß ihm ein Gegenstand in der Anschauung gegeben wird; das Dasein nämlich eines bestimmten Dinges ist durch bloße Begriffe ebensowenig zu erweisen wie durch

10 Peter Plaaß versucht eine Lösung, indem er zwischen dem Inhalt des Materiebegriffs und seiner objektiven Realität differenziert; ersterer sei gänzlich a priori, letzterer da­ gegen allein empirisch aufzuweisen (Plaaß, Kants Theorie der Naturwissenschaft. Eine Untersuchungzur Vorrede von Kants >Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschafu, Göttingen 1965). Plaaß' Ausführungen, in denen er den Materiebegriff in die Nähe der reinen Verstandesbegriffe rückt, haben eine gewisse Plausibilität im Hinblick auf den Begriff der Bewegung, der in den MA eine Sonderstellung einnimmt. Sie lassen sich aber nicht halten für die Kennzeichnung der Materie als Raumerfüllendes, die als empirische Voraussetzung in die Dynamik eingeht. Bei Plaaß wird das von Kant be­ schriebene Verhältnis letztlich umgekehrt: die Metaphysik der körperlichen Natur ließe sich gänzlich a priori betreiben und müßte nur hernach in der Anschauung bestätigt werden, wogegen Kant gerade betont, daß die besondere Metaphysik beim empirischen Begriff zu beginnen habe und diesen dann weiter metaphysisch expliziert. Die Be­ mühungen von Plaaß stehen im Zusammenhang damit, daß er fälschlicherweise das Verfahren der MA für eine eigentümliche Art der Begriffserzeugung ansieht, wofür er den Begriff der >metaphysischen Konstruktion«; benutzt. Auf die diesbezüglichen Über­ legungen werde ich unten zurückkommen. Noch einen Schritt weiter als Plaaß geht Karen Gloy, die auch die objektive Realität des Bewegungsbegriffs (und damit des Begriffs der Materie) a priori hergeleitet wissen will (Gloy, Die Kantische Theorie der Naturwissenschaft. Eine Strukturanalyse ihrer Möglichkeit, ihres Umfangs und ihrer Grenzen, Berlin - New York 1976, 11ff.). Da­ durch werden die Kantischen Bestimmungen nun vollends in ihr Gegenteil verkehrt. 240

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Mathematik. Deshalb ist eine besondere Metaphysik, die sich mit der »besonderen Natur dieser oder jener Art Dinge« beschäftigt (MA, AVIII), gar nicht möglich, wenn ihr nicht ein Begriff gegeben ist. Zu verlangen, daß der Begriff der Materie selbst a priori entwickelt werde, hieße in der Tat nichts weniger als Kant zumuten, das Dasein von Materie als vernunftnotwendig aufzuweisen, und ihn aus einem Transzendentalphilosophen in einen vollendeten Idealisten verwan­ deln. Denn dazu bedürfte es eines ontologischen Arguments, wie es die Rationalisten in ihrem Gottesbeweis zu besitzen glaubten. Für Kant dagegen steht fest, daß »Vorstellung an sich selbst (...) ihren Gegenstand dem Dasein nach nicht hervorbringt« (KrV, B 125) bzw. daß »die Anschauung des realen Gegenstandes (...) notwendig empi­ risch sein muß« (B 748). Die Existenz einer materiellen Welt ist da­ her ein empirisches Faktum, das auch in eine apriorische Naturwis­ senschaft als Voraussetzung eingeht. Nur darum also kann es sich handeln, diejenigen Bestimmungen zu geben, die der Materie als solcher notwendig zukommen, sofern es Materie gibt.11 Entscheidend für den apriorischen Charakter einer solchen Me­ taphysik der körperlichen Natur ist daher lediglich, daß über das Ge­ gebensein des Begriffes einer Materie als solchen hinaus »kein ande­ res empirisches Prinzip zur Erkenntnis derselben gebraucht wird« (MA, AVIII). Die Urteile in ihr müssen gänzlich a priori sein, auch wenn sie sich auf einen an sich empirischen Begriff beziehen. Darauf weist Kant auch in der KrV explizit hin: »wir nehmen aus der Erfah­ rung nichts weiter, als was nötig ist, uns ein Objekt (...) des äußeren (...) Sinnes zu geben. Jenes geschieht durch den bloßen Begriff Materie (undurchdringliche leblose Ausdehnung) (...). Übrigens müßten wir in der ganzen Metaphysik dieser Gegenstände, uns aller empirischen Prinzipien gänzlich enthalten, die über den Begriff noch irgendeine Erfahrung hinzusetzen möchten, um etwas über diese Ge­ genstände daraus zu urteilen.« (B 876) Es bleibt daher festzuhalten, daß die besondere Metaphysik nicht etwa dadurch zur Metaphysik wird, daß sie es mit einem metaphysischen Gegenstand zu tun hat, sondern einzig und allein dadurch, daß sie den ihr gegebenen Gegen-11

11 Vgl. auch folgende Stelle aus den Träumen eines Geistersehers: »Alle Materie wider­ stehet in dem Raume ihrer Gegenwart und heißt darum undurchdringlich. Daß dieses geschehe, lehrt die Erfahrung, und die Abstraktion von dieser Erfahrung bringt in uns auch den allgemeinen Begriff der Materie hervor.« (A 14; KW I, 928 f.) Die Begründung der Wissenschaft aus reiner Vernunft

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stand metaphysisch bestimmt, d. h. über ihn aus bloßen Begriffen a priori urteilt.12 Hinsichtlich der Urteile selbst aber steht die besondere Meta­ physik in einem Abhängigkeitsverhältnis zur Transzendentalphilo­ sophie. Denn sie vermag den ihr gegebenen Gegenstand nur dadurch zu bestimmen, daß in ihr »jene transzendentale Prinzipien auf die zwei Gattungen der Gegenstände unserer Sinne (bezüglich der Phy­ sik also: auf die Gattung der Gegenstände des äußeren Sinnes, A. F.) angewandt werden« (MA, A VIII). Möglich wird diese Anwendung dadurch, daß die Materie als Erscheinung notwendig den Gesetzen des Verstandes untersteht, die in der Analytik der KrV als für alle Gegenstände möglicher Erfahrung verbindlich ausgewiesen sind. Eine weitergehende Bestimmung der Materie ist, wie sich noch ge­ nauer zeigen wird, aus bloßen Begriffen nicht möglich. Die Differenz von transzendentalem und besonderem Teil der Metaphysik der Na­

12 Wie sehr man diesen Punkt beachten muß, zeigt sich an der »Rekonstruktion« des Kantischen Materiebegriffs durch Gernot Böhme (Kants Begriff der Materie in seiner Schrift Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaftmathematischen< Grundsätze der transzendentalen Analy­ tik ermöglichen demnach eine Bestimmung der Gegenstände mögli­ cher Erfahrung, ohne daß auf deren empirische Existenz rekurriert werden müßte. Diese Bestimmung erfolgt durch die Mathematik. Deren Sätze, obgleich a priori, gehen daher dennoch auf die reale Möglichkeit der Erfahrungsgegenstände, da sie ausschließlich die rei­ ne Anschauungsform des Raumes und damit die Bedingung der Möglichkeit aller äußeren Erfahrung betreffen. Sie erfüllen damit jene Zusatzbedingung, zusätzlich zur logischen Möglichkeit auch die Anschaulichkeit zu berücksichtigen, und gelten doch notwendig, weil sie nicht ein empirisches Dasein voraussetzen, sondern die Möglichkeit dieses Daseins selbst betreffen: ein Ding, auf das mathe­ matische Sätze nicht anwendbar wären, kann nicht Gegenstand einer möglichen Erfahrung sein.17 Aus all dem ergibt sich, daß eine Physik als exakte Wissenschaft nur dann möglich ist, wenn in ihr mathematisch verfahren werden kann, da empirische Bestimmungen als solche ohne Notwendigkeit und da­ mit unwissenschaftlich sind, eine apriorische Bestimmung über die transzendentalen Grundsätze hinaus aus bloßen Begriffen aber nicht geleistet werden kann. Als Gegenstand der Mathematik hatte Kant jedoch, wie wir oben gesehen haben, ausschließlich Größen zugelas­ sen. Nur solche hält er einer Konstruktion für fähig und damit dem mathematischen Erkennen zugänglich. Die Anwendung der Mathe­ 17 Auf diesen Umstand bezieht sich meines Erachtens auch der Hinweis im Kapitel über die Postulate, daß »wir, ohne eben Erfahrung selbstvoranzuschicken, bloß in Beziehung auf die formalen Bedingungen, unter welchen in ihr überhaupt etwas als Gegenstand bestimmt wird, mithin völlig a priori, aber doch nur in Beziehung auf sie, und innerhalb ihrer Grenzen, die Möglichkeit der Dinge erkennen und charakterisieren können« (B 272). 248

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matik auf Gegenstände der Erfahrung kann an diesen Vorgaben nichts ändern. Tatsächlich kennzeichnet Kant die >mathematischen< Grundsätze der Transzendentalen Analytik dahingehend, daß sie »die Bestimmung der Erscheinung als Größe« erlauben (B 221). Die mathematische Betrachtungsweise der Naturdinge wird sie demnach ausschließlich als extensive oder intensive Größen betreffen. Daraus aber ergibt sich die Konsequenz, daß die Naturlehre nur insoweit Wissenschaft sein kann, als sie die Körper als Größen zu fassen in der Lage ist. Die reine Physik muß eine Größenlehre, eine Mathesis sein.18 Kant befindet sich damit in einem gemeinsamen Gegensatz mit den Rationalisten der aristotelischen Physik gegenüber. Hatte Ari­ stoteles noch gemeint, man könne »die genaue Schärfe der Mathe­ matik« nicht für die Naturwissenschaft fordern,19 ist Kant nun dem­ gegenüber der Auffassung, daß sich gerade in der Naturbetrachtung der Mathematik ein reiches Betätigungsfeld eröffne. Denn was wir wissenschaftlich, d. h.: aufgrund apriorischer Grundsätze, von Natur­ dingen wissen können, betrifft allein ihre Größenbeziehungen. Ob­ wohl also Kant dem mathematischen Erkennen den Universalitäts­ anspruch bestreitet, der ihm in den rationalistischen Systemen zukam, geht er doch mit letzteren insoweit konform, als die mathe­ matische Betrachtungsweise der Natur auch für ihn die einzig wis­ senschaftliche Art der Naturerklärung darstellt. Die Descartessche Konzeption der Körperlehre als Größenlehre wird von ihm grund­ sätzlich bestätigt, da allein sie jene strenge Notwendigkeit beinhaltet, die für jede Wissenschaft unabdingbar ist. Mag daher auch das ma­ thematische Erkennen den Gegenständen der Metaphysik gänzlich unangemessen sein, so bildet es gleichwohl das adäquate Instrument zur wissenschaftlichen Erfassung von Naturgegenständen. Wie man sieht, bedarf es zur Begründung von Naturwissen18 Zugleich ergibt sich daraus, daß sich die Seelenlehre einer streng wissenschaftlichen Behandlung entzieht. Denn da die innere Anschauung nicht räumlich ist, sondern nur die eine Dimension der Zeit kennt, ist die »Mathematik auf die Phänomene des inneren Sinnes und ihre Gesetze nicht anwendbar« (MA, AX). Dann aber ist gemäß dem oben Gesagten kein reiner Teil möglich, der die empirische Seelenlehre in den Rang einer exakten Wissenschaft erheben würde. Die Seelenlehre kann daher nach Kant allenfalls »eine Naturbeschreibung der Seele, aber nicht Seelenwissenschaft (...) werden« (ebd., A XI). Zu den diesbezüglichen Überlegungen Kants, die ich beispielsweise auch im Hin­ blick auf Freuds Bemühungen um eine wissenschaftliche Begründung der Psychoanaly­ se für bedeutsam halte, vgl. auch KrV, B 876 f. 19 Aristoteles, Metaphysik II 3, 995 a. Die Begründung der Wissenschaft aus reiner Vernunft

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Schaft der Vereinigung von Mathematik und Metaphysik; beide Ar­ ten der Vernunfterkenntnis müssen hier Zusammenwirken, um die Notwendigkeit in der Erkenntnis von Naturdingen in einer reinen Physik sowohl durch metaphysische als auch durch mathematische Prinzipien zu fundieren. Der Gegensatz beider Arten apriorischer Synthesis scheint in den Hintergrund zu treten, es scheint vielmehr die Gemeinsamkeit zu sein, die hier das Kennzeichnende ausmacht. Man könnte daher versucht sein, die strikte Unterscheidung von Ma­ thematik und Metaphysik aufzuweichen und die reine Physik als eine Vermischung beider anzusehen. Wie verfehlt dies jedoch wäre, zeigt die nähere Betrachtung des Verhältnisses, in dem die beiden Erkenntnisarten innerhalb der reinen Physik zueinander stehen.

2. Zum Verhältnis von mathematischen und metaphysischen Prinzipien in der reinen Physik Hinsichtlich des reinen, ihre Wissenschaftlichkeit begründenden Teils der Physik hat sich bislang folgendes ergeben: er zerfällt selbst wieder in einen allgemeinen und einen besonderen Teil, deren erster den Begriff einer Natur überhaupt zum Gegenstand hat, wogegen es im zweiten um besondere Naturdinge, um Körper zu tun ist. Der besondere Teil bildet damit die eigentliche reine Physik, deren Möglichkeit im allgemeinen Teil nachgewiesen wird, welcher die transzendentalphilosophischen Bedingungen der Möglichkeit dafür enthält, daß überhaupt Natur als ein gesetzmäßig zusammenhän­ gendes Ganzes gedacht werden kann. In letzterem muß rein meta­ physisch, nach bloßen Begriffen verfahren werden. Umgekehrt ist im besonderen Teil einer reinen Naturlehre Mathematik erfordert, da nur sie es erlaubt, a priori etwas über Gegenstände auszusagen, das über die transzendentalen Grundsätze hinausführt. Daß ihre Sätze auch im Hinblick auf Erfahrungsgegenstände volle Gültigkeit be­ anspruchen können, dies wiederum ist im transzendentalen Teil ausgewiesen, dessen sogenannte >mathematische< Grundsätze die prinzipielle Quantifizierbarkeit des gesamten Erfahrungsbereichs garantieren. Es wäre nun durchaus naheliegend, die Untersuchung des Be­ griffs einer Natur überhaupt der Metaphysik zu überlassen, alle übrige apriorische Erkenntnis der Natur jedoch der Mathematik zu­ zuschlagen, mithin in der besonderen Naturlehre auf alle Metaphy­ 250

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sik zu verzichten. Im Hinblick auf die eigentliche Naturwissenschaft wäre damit Descartes vollauf bestätigt, der ja andere als mathemati­ sche Prinzipien der Naturwissenschaft »weder für zulässig noch für wünschenswert« hielt (Principia II, §64). Eine besondere Metaphy­ sik, wie sie Kant oben eigens unterschieden hatte, scheint gar nicht mehr nötig zu sein, wenn doch bereits der transzendentale Teil der Metaphysik der Natur den Nachweis leistet, daß die mathematische Betrachtung von Naturdingen möglich ist. a) Die besondere Metaphysik der körperlichen Natur als Lehre von den Prinzipien der Konstruktion physikalischer Begriffe Indes bilden die transzendentalphilosophischen Voraussetzungen zwar notwendige Bedingungen einer nach principia mathematica verfahrenden Physik, sie sind jedoch keineswegs hinreichend. Viel­ mehr steht die Lösung des eigentlichen Problems: wie es möglich sei, physikalische Begriffe wie mathematische zu konstruieren, noch aus. Denn dazu genügt nicht, daß sich Körper mathematisch beschreiben lassen. Gefordert ist darüber hinaus, daß die Grundbegriffe der Phy­ sik selber in einer Anschauung a priori gegeben werden können. Auf der Grundlage dieser Konstruktion sollen nicht rein mathematische, sondern physikalische Grundsätze entwickelt werden. Die Anwen­ dung mathematischer Prinzipien auf Naturdinge bedarf daher einer zusätzlichen Rechtfertigung, die über die allgemeinen Grundsätze der transzendentalen Analytik hinausführt. Eben darin besteht die Aufgabe einer besonderen Metaphysik der Natur: »Damit aber die Anwendung der Mathematik auf die Körperlehre, die durch sie allein Naturwissenschaft werden kann, möglich werde, so müssen Prinzipien der Konstruktion der Begriffe, welche zur Möglichkeit der Materie überhaupt gehören, voran­ geschickt werden« (MA, A XII). Es handelt sich wohlgemerkt nicht um die Möglichkeit einer Konstruktion überhaupt; diese hat viel­ mehr im transzendentalen Teil der Metaphysik der Natur bereits ihre Erledigung gefunden. Problematisch ist allein die Möglichkeit der Konstruktion grundlegender Begriffe der Physik. Geklärt werden muß, welche Eigenschaften der Materie als solcher es sind, die dazu berechtigen, materielle Körper wie mathematische Figuren zu be­ handeln und sie in einer Anschauung a priori zur Darstellung zu bringen. Der Aufweis der Möglichkeit einer Konstruktion physikalischer Die Begründung der Wissenschaft aus reiner Vernunft

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Grundbegriffe aber kann nach Kant allein durch »eine vollständige Zergliederung des Begriffs von einer Materie überhaupt« erfolgen (ebd.). Diese ist nun ihrerseits nicht mit Hilfe von Konstruktionen durchführbar; sie ist daher »ein Geschäfte der reinen Philosophie (...), die zu dieser Absicht sich keiner besonderen Erfahrungen, son­ dern nur dessen, was sie im abgesonderten (ob zwar an sich empiri­ schen) Begriffe selbst antrifft, in Beziehung auf die reinen Anschau­ ungen im Raume und der Zeit (...) bedient« (ebd.). Das bedeutet, daß »die Anwendung der Mathematik auf die Körperlehre« nur durch eine »Metaphysik der körperlichen Natur« (ebd.) gerechtfertigt wer­ den kann. Damit schließt sich der Kreis zurück zu den in Kapitel 1 a be­ trachteten Ausführungen Kants. Die Notwendigkeit einer »besonde­ re^) metaphysische(n) Naturwissenschaft« wurde dort damit be­ gründet, daß sich über den Begriff einer Materie überhaupt nicht auf der Basis der Konstruktion von Begriffen urteilen lasse. Denn anders als die Gegenstände der reinen Mathematik ist der Begriff der Materie nicht ohne weiteres konstruierbar, da ihm als Grund­ begriff der Naturwissenschaft die Bestimmung des Daseins anhaftet, von der in der Mathematik gerade abstrahiert wird. Dieser Begriff läßt sich daher nicht im mathematischen Sinne definieren, d. h. durch eine willkürliche Synthesis a priori machen (vgl. KrV, B 755 ff.; vgl auch oben S. 183 f.), weshalb die Existenz von Materie auch in der reinen Naturlehre vorausgesetzt ist. Zwar kann die nähere Bestim­ mung der Materie, wie wir inzwischen wissen, allenfalls durch Ma­ thematik erfolgen; wie dies aber möglich sei, darüber entscheiden die unmittelbar zu ihrem Dasein gehörigen, metaphysischen Bestim­ mungen der Materie überhaupt, die sich aus der kategorialen Be­ stimmtheit der Materie als Erscheinung ergeben. Auch der besondere Teil der reinen Naturwissenschaft kann daher metaphysischer Prin­ zipien nicht entbehren, welche die Möglichkeit einer apriorischen Bestimmung von Naturdingen allererst absichern. Dies sind die me­ taphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft, die den Gegen­ stand von Kants gleichnamiger Abhandlung bilden. Was genau man unter solchen metaphysischen Prinzipien der Physik zu verstehen habe, das läßt sich am besten anhand konkreter Proble­ me der Materietheorie verdeutlichen. So ist es beispielsweise durch den Satz der Geometrie von der unendlichen Teilbarkeit des Raumes gewiß, daß auch jeder empirische Raum, den ein Körper einnimmt, 252

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ins Unendliche teilbar ist und also der betreffende Körper in Gedan­ ken unendlich geteilt werden kann. Doch kann hieraus nicht ohne weiteres ein Satz der Physik abgeleitet werden, der etwa die physi­ sche Teilbarkeit von Körpern ins Unendliche behauptete.20 Ein phy­ sikalischer Grundsatz von der unendlichen Teilbarkeit der Materie läßt sich aus reiner Mathematik nicht begründen: »Durch den Beweis der unendlichen Teilbarkeit des Raums ist die der Materie lange noch nicht bewiesen, wenn nicht vorher dargetan worden: daß in jedem Teile des Raumes materielle Substanz sei, d.i. für sich bewegliche Teile anzutreffen sind.« (MA, A 44) Daher »(kann) die Mathematik zwar in ihrem inneren Gebrauche in Ansehung der Schikane einer verfehlten Metaphysik ganz gleichgültig sein, und im sicheren Besitz ihrer evidenten Behauptungen von der unendlichen Teilbarkeit des Raumes beharren (...); allein in der Anwendung ihrer Sätze, die vom Raume gelten, auf Substanz, die ihn erfüllt, muß sie sich doch auf Prüfung nach bloßen Begriffen, mithin auf Metaphysik einlas­ sen« (ebd., A 47). Erst der metaphysische Lehrsatz liefert das zur Konstruktion erforderte Prinzip. Besonders deutlich läßt sich die Aufgabe einer besonderen Metaphysik der körperlichen Natur aus der zentralen Lehre der Dy­ namik ersehen, der Materiekonstitution durch Repulsions- und Attraktionskraft. Kant nämlich entwickelt seine »metaphysisch-dy­ namische« Theorie der Materie in direkter Absetzung der atomistischen, von ihm als »mechanisch-mathematisch« (MA, A 84) gekenn­ zeichneten Naturauffassung gegenüber. Letztere beansprucht, die Verschiedenheit von Materien mathematisch, d. h. durch Konstruk­ tion, darlegen zu können, und zwar »sowohl ihrer Dichtigkeit, als Wirkungsart nach« (ebd., A 84). Tatsächlich gesteht Kant ihr zu, daß »die Möglichkeit der Gestalten sowohl als der leeren Zwischen­ räume sich mit mathematischer Evidenz dartun (läßt)« (ebd.). Dies gelingt jedoch nur unter der Voraussetzung bestimmter Eigenschaf­ ten der Materie, die durch und durch metaphysische sind. Zu diesen gehört insbesondere die Annahme einer absoluten Undurchdring­ lichkeit der Materie qua Substanz, dazu die absolute Gleichartigkeit des Stoffes und die Unüberwindlichkeit des Zusammenhangs der 20 Ein derartiger Beweis findet sich beispielsweise bei Descartes, der »die Unmöglich­ keit, daß ein Atom oder materielles Teilchen seiner Natur nach unteilbar sei«, allein daraus ableitet, daß, »was in Gedanken geteilt werden kann, auch teilbar (ist)« (Principia 11, §20; vgl. Med. Vl,§19). Die Begründung der Wissenschaft aus reiner Vernunft

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Atome, daneben zum Zwecke der Erklärung der verschiedenen Dich­ tigkeit die Annahme der Existenz leerer Räume (ebd., A 101.; vgl. A 85). Es sind derartige Annahmen, die in der Metaphysik der körperlichen Natur einer Prüfung unterworfen werden. Anders als im obigen Beispiel, wo die Behauptung der unendlichen Teilbarkeit der Materie metaphysisch abgesichert werden konnte, halten die eben genannten Bestimmungen dieser Prüfung nicht stand: die An­ nahme einer absoluten Undurchdringlichkeit erweist sich als bloße Behauptung, als »qualitas occulta« (ebd., A 41), die von Kant, »als ein leerer Begriff, aus der Naturwissenschaft verwiesen (...) wird« (ebd., A 81). Er selbst gelangt bei der Betrachtung des Materiebegriffs unter den Qualitätskategorien der Realität, Negation und Limitation zu einer relativen Undurchdringlichkeit, die auf repulsive Kraft zu­ rückgeführt wird. Diese rein dynamische Konzeption ermöglicht es ihm, die verschiedenen Grade von Raumerfüllung (das Problem der Limitation) ausschließlich als durch das jeweilige Verhältnis von Attraktions- und Repulsionskraft bestimmt zu denken und also in der Erklärung der unterschiedlichen Dichte von Materie auf die Annah­ me leerer Räume zu verzichten. Obwohl im Unterschied zur absolu­ ten Undurchdringlichkeit die Annahme leerer Räume nicht als falsch erwiesen werden kann, da sich »die Möglichkeit derselben nicht streiten (läßt)« (ebd., A 105), so verliert doch »der leere Raum we­ nigstens seine Notwendigkeit (...) und (wird) auf den Wert einer Hypothese zurückgesetzt« (ebd., A 83). Damit wird es Kant möglich, eine Kontinuumstheorie der Materie zu vertreten, wodurch der Naturwissenschaft »die Last abgenommen wird, aus dem Vollen und Leeren eine Welt bloß nach der Phantasie zu zimmern« (ebd., A 82f.). Dieses Beispiel zeigt, daß Kant sich in den MA keineswegs darauf beschränkt, bereits vorhandene Annahmen der Naturtheorie nochmals metaphysisch zu begründen.21 Vielmehr kommt seiner 21 Demgegenüber ist Gerd Buchdahl der Ansicht, »daß Kant nicht beabsichtigt, irgend­ welche physikalischen Gesetze auf a priori Art ableiten zu wollen, sondern daß er, von den Tatsachen und Gesetzen eines gegebenen Wissenschaftszweiges seiner Zeit aus­ gehend, sich das Ziel setzt, in ontologischer Hinsicht die Grundelemente einer solchen mit gewissen a priorischen und/oder Begriffselementen in Einklang zu bringen« (Buch­ dahl, Zum Verhältnis von allgemeiner Metaphysik der Natur und besonderer metaphy­ sischer Naturwissenschaft bei Kant, in: Tuschling (Hg.), Probleme, 115). Für Buchdahl, dem zufolge »nur ein ziemlich lockerer Zusammenhang zwischen der transzendentalen Ebene und der >metaphysischen< Behandlung besteht« (ebd., 123) verfolgt Kant in den 254

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Metaphysik der körperlichen Natur auch eine kritische Funktion zu: so leistet die Dynamik die Kritik der rein mechanischen Erklärungs­ art, indem sie aufzeigt, daß auch diese metaphysische Voraussetzun­ gen enthält, die dann als dogmatische Setzungen desavouiert wer­ den.22 Sie führt also zur »Abstellung gleichfalls metaphysischer, aber nicht auf die Probe der Kritik gebrachter Prinzipien« (ebd., A 83) und ersetzt sie durch neue inhaltliche Vorgaben, die nun durch die metaphysische Untersuchung gerechtfertigt sind. Dies hat weitrei­ chende Folgen für die Physik, gerade auch im Hinblick auf die Kon­ struktionen, zu denen mit den metaphysischen Bestimmungen der Grund gelegt werden soll. Denn die von Kant vorgelegte Erklärung der Materie aus Kräften läßt eine Konstruktion zumindest in der Weise, wie sie unter den Voraussetzungen der Atomistik möglich war, nicht mehr zu. Es wird sogar fraglich, ob sich der dynamische Begriff der Materie überhaupt noch konstruieren lasse. So bemerkt Kant an einer Stelle, daß, »wenn der Stoff selbst in Grundkräfte ver­ wandelt wird, (...) uns alle Mittel abgehen, diesen Begriff der Mate­ rie zu konstruieren, und, was wir allgemein dachten, in der Anschau­ ung als möglich darzustellen« (MA, A 84f.).23 Zwar gibt er selbst in zwei Anmerkungen »eine kleine Vorerinnerung zum Behufe des Versuchs einer solchen vielleicht (!) möglichen Konstruktion« (ebd., A 72), doch läßt sich gerade aus ihnen ersehen, daß unter den KantiMA eine »sprachanalytische Methode« (ebd., 129) mit dem Ziel, »eine Begriffsaus­ legung der Grundideen der Newtonschen Physik« zu geben (ebd., 124). Der Be­ gründungsanspruch der Kantischen Philosophie wird von Buchdahl auf ein Minimum reduziert, womit Kant gegen den von Richard Rorty erhobenen Vorwurf, »Autoritäts­ ansprüche« geltend zu machen, in Schutz genommen werden soll (vgl. ebd., 141). Dazu bedarf es jedoch einer sehr eigenwilligen Interpretation des Kantischen Textes - lassen doch gerade die MA die Autoritätsansprüche der Metaphysik gegenüber Mathematik und Naturwissenschaften besonders deutlich hervortreten. 22 Vgl. auch KrV, B 215 ff., wo Kant dieses Beispiel ebenfalls diskutiert und dazu Folgen­ des bemerkt: »Dieser Voraussetzung, dazu sie (die mathematischen und mechanischen Naturforscher, A. F.) keinen Grund in der Erfahrung haben konnten, und die also bloß metaphysisch ist, setze ich einen transzendentalen Beweis entgegen, der zwar den Un­ terschied in der Erfüllung der Räume nicht erklären soll, aber doch die vermeinte Not­ wendigkeit jener Voraussetzung, gedachten Unterschied nicht anders als durch anzu­ nehmende leere Räume, erklären zu können, völlig aufhebt, und das Verdienst hat, den Verstand wenigstens in Freiheit zu versetzen, sich diese Verschiedenheit auch aufandere Art zu denken, wenn die Naturerklärung hierzu irgendeine Hypothese notwendig ma­ chen sollte.« 23 Dies sagt freilich nichts über mögliche Konstruktionen in Phoronomie und Mechanik aus, die von Kant nicht in Frage gestellt werden. Die Begründung der Wissenschaft aus reiner Vernunft

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sehen Vorgaben die Konstruktion mit weit mehr Schwierigkeiten be­ lastet ist, als dies bei der dogmatischen Annahme einer absoluten Undurchdringlichkeit der Fall wäre.24 Auch stellt Kant seinen Ver­ such unter ausdrücklichen Vorbehalt und weist mehrfach darauf hin, man solle »aus den Schwierigkeiten der Konstruktion eines Begriffs, oder vielmehr aus der Mißdeutung derselben, keinen Einwurf wider den Begriff selber machen« (ebd., A 79). Er legt daher großen Wert auf die Feststellung, daß seine diesbezüglichen Ausführungen nicht »als zur Absicht meiner metaphysischen Behandlung der Materie notwendig gehörig« anzusehen seien (ebd., A 80). Denn mit den Pro­ blemen dieser »reine(n) mathematische(n) Aufgabe« (ebd., A 70) will er seine Metaphysik nicht belasten: diese »verantwortet bloß die Richtigkeit der unserer Vernunfterkenntnis vergönneten Elemente der Konstruktion, die Unzulänglichkeit und die Schranken unserer Vernunft in der Ausführung verantwortet sie nicht« (ebd.). Kant läßt es also letztlich offen, ob es nach seinen metaphysi­ schen Anfangsgründen eine Konstruktion spezifischer Dichtigkeiten noch geben könne. Das bedeutsame Resultat der metaphysischen Anfangsgründe der Dynamik besteht daher nicht darin, daß mit ihnen besonders brauchbare Konstruktionsvorgaben gegeben wären, sondern in der Befreiung der Physik von dogmatischen Vorausset­ zungen, ungeachtet deren Brauchbarkeit für das weitere mathemati­ sche Verfahren.25 24 Vor allem betrifft dies die versuchte »Exposition des Gesetzes einer ursprünglichen Zurückstoßung« (ebd., A 80), bei der Kant vor der Schwierigkeit steht, sein Materie­ kontinuum wieder in getrennte Teile auflösen zu müssen, da sich andernfalls die Kon­ struktion nicht durchführen ließe (vgl. ebd., A 77ff.). 25 »Dies ist nun alles, was Metaphysik zur Konstruktion des Begriffs der Materie, mit­ hin zum Behuf der Anwendung der Mathematik auf Naturwissenschaft, in Ansehung der Eigenschaften, wodurch Materie einen Raum in bestimmtem Maße erfüllet, nur immer leisten kann, nämlich diese Eigenschaften als dynamisch anzusehen und nicht als unbedingte ursprüngliche Positionen, wie sie etwa eine bloß mathematische Behand­ lung postulieren würde.« (MA, A 104f.) Dagegen gelangt Vilem Mudroch zur entgegengesetzten Auffassung: Für ihn ist die Annahme von Grundkräften eine Hypothese, die sich in keiner Weise von der An­ nahme einer absoluten Undurchdringlichkeit unterscheidet, weshalb er glaubt, »daß ihr einziger Vorteil ihre Mathematisierbarkeit ist« (V. Mudroch, Kants Theorie der physi­ kalischen Gesetze, Berlin 1987, 95f.). Er begründet seine Ansicht mit der Bemerkung Kants, daß die repulsive Kraft, »ob diese gleich ihrer Möglichkeit nach auch nicht weiter erklärt werden kann, mithin als Grundkraft gelten muß, (...) doch einen Begriff von einer wirkenden Ursache und ihren Gesetzen (gibt)« (MA, A41f.). Diese Stelle belegt nun das gerade Gegenteil der Mudrochschen These: was Kant hier betont, ist die Über256

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Wie wir gesehen haben, ergibt sich für Kant das Erfordernis einer besonderen Metaphysik der körperlichen Natur daraus, daß zwar ei­ ne wissenschaftliche Physik notwendig mathematisch verfahren muß, die Frage, wie dies möglich sei, jedoch in der Transzendental­ philosophie noch nicht hinreichend geklärt ist. Diese leistet zwar den Nachweis, wie reine Naturwissenschaft überhaupt möglich sei, und sichert zudem die quantitative Betrachtungsweise der Erscheinungen ab. Wie es aber eine Konstruktion physikalischer Begriffe geben könne, das hängt überdies von den Bestimmungen der Materie als solcher ab, die allein in einer besonderen Metaphysik entwickelt wer­ den können - einer Metaphysik, weil jene Bestimmungen sich nicht selbst mathematisch beweisen lassen, doch gleichwohl mit der stren­ gen Notwendigkeit gelten sollen, die nur apriorische Erkenntnis ge­ währt; einer besonderen Metaphysik aber, weil allein eine solche den empirisch gegebenen Begriff der Materie zum Gegenstand haben kann, auf den sich die Transzendentalphilosophie als gänzlich reine Wissenschaft überhaupt noch nicht beziehen konnte. Die reine Na­ turwissenschaft als physica generalis bedarf daher nicht nur einer metaphysischen Begründung ihrer Möglichkeit durch die Transzen­ dentalphilosophie, sondern wird selbst metaphysische Sätze enthal­ ten, die als physica rationalis von den mathematischen abgesondert werden können bzw. müssen. Die Lehrsätze einer derartigen Meta­ physik der körperlichen Natur bilden zugleich die Voraussetzung dafür, daß es in der Naturlehre eine Konstruktion von Begriffen ge­ ben könne. Auch diese besondere Metaphysik hat daher Begrün­ dungscharakter, indem die in ihr enthaltenen Prinzipien eine - wie man sich ausdrücken könnte - Mathematik der körperlichen Natur allererst möglich macht. Zugleich kommt ihr eine kritische Funktion zu dadurch, daß sie die metaphysischen Annahmen bisheriger Natur­ wissenschaft als solche aufdeckt und sie teils als unbegründet zurück­ weist, teils durch andere inhaltliche Vorgaben ersetzt.

legenheit der dynamischen Erklärung im Hinblick auf die metaphysische Absicherung, daß nämlich im Unterschied zur Annahme einer absoluten Undurchdringlichkeit die repulsive Kraft nicht als qualitas occulta angenommen werden muß, sondern die kau­ sale Erklärung der Widerständigkeit der Materie liefert. Genau darauf aber beruht der Beweis von Kants metaphysischem Lehrsatz 1 der Dynamik (MA, A 33). Mit der Mathematisierbarkeit hat der Begriff einer wirkenden Ursache hier nichts zu tun. Daß diese durch die dynamische Konzeption der Materie gerade erschwert wird, sollte hinreichend deutlich geworden sein. Die Begründung der Wissenschaft aus reiner Vernunft

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b) Zum Begründungsprimat der Metaphysik Was sich bereits aus den Ausführungen der Vorrede ersehen ließ, fand in den obigen Beispielen seine Bestätigung: daß das Spezifische der Kantischen Begründung der Naturwissenschaft sich gerade aus der Unterscheidung von philosophischer und mathematischer Er­ kenntnisweise ergibt. Das gesamte Programm metaphysischer An­ fangsgründe beruht darauf, auch innerhalb des besonderen Teils der reinen Naturlehre streng zwischen dem mathematischen Verfahren der Konstruktion und der philosophischen Vernunfterkenntnis, die es lediglich mit dem »abgesonderten (...) Begriffe selbst« (MA, A XII) zu tun hat, zu differenzieren: »Es ist aber von der größten Wichtigkeit, zum Vorteil der Wissenschaften ungleichartige Prinzi­ pien von einander zu scheiden, jede in ein besonderes System zu bringen, damit sie eine Wissenschaft ihrer eigenen Art ausmachen, um dadurch die Ungewißheit zu verhüten, die aus der Vermengung entspringt (...). Um deswillen habe ich für nötig gehalten, von dem reinen Teile der Naturwissenschaft (physica generalis), wo metaphy­ sische und mathematische Konstruktionen durch einander zu laufen pflegen, die erstere, und mit ihnen zugleich die Prinzipien der Kon­ struktion dieser Begriffe, also der Möglichkeit einer mathematischen Naturlehre selbst, in einem System darzustellen.« (MA, A XIII f.) Die Prinzipien der Konstruktion haben allein metaphysischen Cha­ rakter und müssen daher von den eigentlichen Konstruktionen und den auf diesen beruhenden mathematischen Prinzipien unterschie­ den werden. So wendet sich Kant auch in der KrV scharf gegen die Gleichsetzung seiner »Metaphysik der körperlichen Natur« (B 874) als physica rationalis mit der physica generalis, die »mehr Mathe­ matik, als Philosophie der Natur« (B 875 Anm.) sei: »Denn die Me­ taphysik der Natur sondert sich gänzlich von der Mathematik ab, hat auch bei weitem nicht so viel erweiternde Einsichten anzubieten, als diese, ist aber doch sehr wichtig, in Ansehung der Kritik des auf die Natur anzuwendenden reinen Verstandeserkenntnisses überhaupt; in Ermanglung deren selbst Mathematiker, indem sie gewissen ge­ meinen, in der Tat doch metaphysischen Begriffen anhängen, die Naturlehre unvermerkt mit Hypothesen belästigt haben, welche bei einer Kritik dieser Prinzipien verschwinden, ohne dadurch doch dem Gebrauche der Mathematik in diesem Felde (der ganz unentbehrlich) im mindesten Abbruch zu tun.« (ebd.) Hier zeigt sich nochmals in aller Deutlichkeit, daß die mathema­ 258

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tischen Konstruktionen nicht etwa einen Teil der besonderen Meta­ physik der Natur ausmachen, sondern zusammen mit dieser den rei­ nen, hier physica generalis genannten Teil der besonderen Naturleh­ re bilden. Es ergibt sich somit, daß über dem Zusammenwirken von Mathematik und Philosophie bei der Begründung der Naturwissen­ schaften keineswegs die grundlegende Differenz der beiden Arten von Vernunfterkenntnis vergessen werden darf. Vielmehr hat sich bestätigt, daß, obwohl - wie Kant sich ausdrückt - »sie sich zwar in der Naturwissenschaft einander die Hand bieten«, doch »Meßkunst und Philosophie zwei ganz verschiedene Dinge seien, (...) mithin das Verfahren des einen niemals von dem anderen nachgeahmt werden könne« (B 754). Wenn aber für das Verständnis von Kants Begründung der Naturwis­ senschaft die Differenz von Mathematik und Philosophie von derart zentraler Bedeutung ist, so folgt daraus, daß alle Interpretationen, die geeignet sind, diese Differenz zu verwischen, an Kant vorbeigehen müssen. Hierzu ist letztlich auch die Arbeit von Peter Plaaß zu rech­ nen, auf die, da sie sich als fast schon klassische Interpretation eta­ bliert hat, kurz eingegangen werden soll. Zwar hat Plaaß durchaus auf die Verschiedenheit der beiden Erkenntnisarten hingewiesen, doch hat er einen Begriff für das Kantische Verfahren der MA in die Diskussion gebracht, der das Begreifen dieser Verschiedenheit erheb­ lich erschwert, wenn nicht gar unmöglich macht. Plaaß nämlich kennzeichnet die Methode der MA als »metaphysische Konstruk­ tion«, worunter er ein Verfahren versteht, im reinen Denken, ohne Rekurs auf Anschauung, Begriffe a priori zu erzeugen.26 Dies ist zum einen rein terminologisch höchst problematisch, hat doch die Erörte­ rung von Kants Kritik des mathematischen Erkennens klar gezeigt, daß der Terminus der >Konstruktion< bei Kant streng auf das mathe­ matische Verfahren einer apriorischen Veranschaulichung festgelegt ist und gerade zu dessen Unterscheidung von der Metaphysik dient. So gesehen stellt eine >metaphysische Konstruktion< eine contradictio in adjecto dar, und es wäre wohl niemand auf diesen Begriff ver­ fallen, gäbe es da nicht eine Stelle im Kantischen Werk, die ein sol­ ches Mißverständnis befördert. Es handelt sich dabei um das oben angeführte Zitat aus den MA (A XIII f.), wo es heißt, in der reinen Physik pflegten »metaphysische und mathematische Konstruktionen 26 P. Plaaß, Kants Theorie der Naturwissenschaft, 74 ff. Die Begründung der Wissenschaft aus reiner Vernunft

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durch einander zu laufen«. Daß, wie Plaaß seihst konzediert, sich diese Wendung in Kants Werken nur an dieser einzigen Stelle findet, hat ihn nicht davon ahgehalten, sie ins Zentrum seiner Interpretation zu stellen. Nun ist es schon merkwürdig genug, sich auf nur eine Stelle zu stützen, die doch einem ganzen Theoriestück widerspricht und daher nahelegt, sie allenfalls als sprachlichen Lapsus anzusehen. Zudem aher zeigt, wie zuerst Hoppe gegen Plaaß eingewandt hat, die nähere Analyse des Satzes, daß hinter »metaphysisch« wohl »Begrif­ fe« oder »Prinzipien« ausgefallen ist,27 was den Streit zumindest im Hinhlick auf die Terminologie ohsolet macht. Das Prohlem ist jedoch nicht allein terminologischer Art, son­ dern hetrifft ehenso die Inhalte. Plaaß nämlich versucht mit dem Begriff der >metaphysischen Konstruktion^ das Aposteriori des Ma­ teriehegriffs zu unterlaufen: dieser gilt ihm als »metaphysisch kon­ struiert«, d. h. a priori gemacht (vgl. im vorigen Kapitel Fn. 10). Die Annahme aher, die Metaphysik könne im reinen Denken Begriffe erzeugen, ist unvereinhar mit Kants »kritische(r) Einsicht, daß allein die Mathematik durch Darstellung in reiner Anschauung Begriffe a priori definitiv hestimmen kann« (so Wolff-Metternich gegen Plaaß)28. Plaaß ühersieht, daß die Anwendung der Kategorien hzw. der transzendentalen Grundsätze auf den Begriff der Materie nicht zu einer vom Kantischen Standpunkt her ganz unerklärlichen Erzeu­ 27 Hoppe, Kants Theorie der Physik, 57. Daß der Satz tatsächlich verderht ist, zeigt sich, wenn man das Unwort der »metaphysischen Konstruktion« an den entsprechenden Stellen einsetzt, wohei folgendes herauskommt: »ich (hahe) für nötig gehalten, von dem reinen Teile der Naturwissenschaft (physica generalis), wo metaphysische und mathematische Konstruktionen durch einander zu laufen pflegen, die erstere (also die metaphysischen Konstruktionen, A. F.), und mit ihnen (nämlich den metaphysischen Konstruktionen, A. F.) zugleich die Konstruktionen dieser (welcher?, A. F.) Begriffe (...) darzustellen«. Satzstruktur wie Sinn kommen erst in Ordnung, wenn man dem Vor­ schlag Hoppes folgt. Der >metaphysischen Konstruktion^ die immer wieder durch die Forschungslitera­ tur geistert (u.a. hei Buchdahl, Verhältnis, 119), war freilich auch durch Hoppes klären­ de Worte nicht der Garaus zu machen. So wird auch in der gerade erschienenen Unter­ suchung von Wolfgang Bonsiepen - in der sich das Fehlen einer Auseinandersetzung mit Kants Differenzierung von Mathematik und Philosophie deutlich hemerkhar macht - einfach referiert, es sei die Aufgahe einer Metaphysik der körperlichen Natur, »die metaphysische Konstruktion zusammen mit den Prinzipien einer mathematischen Na­ turlehre ahgesondert in einem System darzustellen« (Bonsiepen, Die Begründung einer Naturphilosophie bei Kant, Schelling, Fries und Hegel. Mathematische versus spekula­ tive Naturphilosophie, Frankfurt a.M. 1997, 77). 28 Überwindung, 127. 260

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gung von ursprünglichen Begriffen führt, sondern zu Urteilen a priori. Wollte man nun diese Urteile selbst als Konstruktionen be­ zeichnen, so müßte analog auch der empirische Satz: »Der Baum ist grün« eine >empirische Konstruktion< genannt werden. Das bleibt freilich jedem im privaten Sprachgebrauch unbenommen, hat aber mit Kantischer Terminologie nicht mehr das Geringste zu tun.29 Was aber nun das Verhältnis anbelangt, in dem die beiden Arten der Vernunfterkenntnis in der reinen Physik zueinander stehen, so hat sich eine eindeutige Vorrangstellung der Metaphysik ergeben: bei der Begründung der Naturwissenschaft kommt ihr das Primat zu. Die »schwesterliche Vereinigung« mit der Mathematik, auf die zu hoffen die Philosophie nach Kant »alle Ursache hat« (B 763), ist daher so schwesterlich nicht. Die Metaphysik nämlich nimmt auf die Ma­ thematik keinerlei Rücksicht, sie richtet sich in keiner Weise nach den Erfordernissen einer späteren Konstruktion, sondern setzt deren Ele­ mente in rein begrifflicher Erkenntnis fest, die für jene dann schlecht­ hin verbindlich sind. Es stimmt daher zwar, daß, wie Hoppe schreibt, »auf der Frage nach der Anwendbarkeit der Mathematik auf Natur­ erscheinungen (...) das Hauptgewicht der MAGr (liegt)«; doch folgt daraus keineswegs, daß »die metaphysische Zergliederung des empi­ rischen Begriffs Materie (...) demgegenüber, jedenfalls was Beweis­ fragen angeht, relativ in den Hintergrund (tritt)«.30 Denn wenn die metaphysische Untersuchung erst über die Möglichkeit von Kon­ struktionen und damit der Anwendung von Mathematik entscheidet, ist gar nicht einzusehen, wie sie von vornherein auf irgendwelche Bereiche festgelegt werden könnte, die sich erst als ihr Resultat be­ stimmen lassen.31 Dementsprechend ist es die »vollständige Zerglie­ 29 In die falsche Richtung weist die Kritik, die Karen Gloy in diesem Punkt an Plaaß geübt hat: Die »analoge Entwicklung der metaphysischen Konstruktion zur mathema­ tischen« sei »abwegig«, weil die mathematische Konstruktion nur gegebene Begriffe expliziere und nichts Neues erzeuge, was wohl gerade von dem metaphysischen Ver­ fahren behauptet werden soll (Gloy, Die Kantische Theorie der Naturwissenschaft, 12f.). Dies unterschlägt zum einen die Möglichkeit der Mathematik zu Definitionen, wie andererseits der Metaphysik die von Kant gerade bestrittene apriorische Erzeugung von sachhaltigen Begriffen zugesprochen wird. Bei Gloy also ist, wie Wolff-Metternich richtig anmerkt, »die Kantische Bestimmung von mathematischer und philosophischer Begrifflichkeit geradezu auf den Kopf gestellt« (Überwindung, 128). 30 Hoppe, Kants Theorie der Physik, 53. 31 Hoppe weist selbst an anderer Stelle auf Kants Bemerkung hinsichtlich der Schwie­ rigkeiten einer Konstruktion des dynamischen Materiebegriffs hin, meint aber, dies Die Begründung der Wissenschaft aus reiner Vernunft

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derung des Begriffs von einer Materie überhaupt«, die Kant zur Er­ mittlung der Prinzipien der Konstruktion für erforderlich hält {MA, AXII; Hvg. A. F.). Es dient ihm ausdrücklich zum »Anpreisungsgrun­ de« der Absonderung der metaphysischen von den mathematischen Prinzipien der Naturlehre, »daß in allem, was Metaphysik heißt, die absolute Vollständigkeit der Wissenschaften gehofft werden kann, dergleichen man sich in keiner anderen Art von Erkenntnissen ver­ sprechen darf, mithin eben so, wie in der Metaphysik der Natur über­ haupt, also auch hier die Vollständigkeit der Metaphysik der körper­ lichen Natur zuversichtlich erwartet werden kann; wovon die Ursache ist, daß in der Metaphysik der Gegenstand nur, wie er bloß nach den allgemeinen Gesetzen des Denkens, in andern Wissenschaften aber, wie er nach Datis der Anschauung {der reinen sowohl, als empiri­ schen) vorgestellt werden muß, betrachtet wird, da denn jene, weil der Gegenstand in ihr jederzeit mit allen notwendigen Gesetzen des Denkens verglichen werden muß, eine bestimmte Zahl von Erkennt­ nissen geben muß, die sich völlig erschöpfen läßt« {ebd., A XIV f.). Die MA verfügen in der Tafel der Kategorien über ein »Schema {...) zur Vollständigkeit eines metaphysischen Systems« {ebd., A XV),32 und Kant reklamiert für sich, diese Vollständigkeit auch erreicht, mit­ hin »diese metaphysische Körperlehre so weit, als sie sich immer nur erstreckt, vollständig erschöpft (...) zu haben« {ebd.). In Anbetracht dessen erscheint auch die Bemerkung Wolff-Metternichs als zumindest unpräzise, die metaphysischen Grundlagen der besonderen Naturlehre würden »von allen nicht-konstruierbaren seien »angesichts der Aufgabe, die Möglichkeit einer mathematischen Naturlehre selbst darzustellen, überraschende Äußerungen« {Kants Theorie der Physik, 66). Für ihn »hat die Dynamik letztlich nicht geleistet, was sie hat leisten sollen« {ebd.). Das mag richtig sein vom Standpunkt des mathematischen Naturforschers, der von der Metaphysik gute Konstruktionsgrundlagen erwartet, trifft aber nicht die Metaphysik selbst. Im übrigen ist auch diese negative Funktion der Metaphysik nicht ohne Nutzen für die Naturwis­ senschaft, wird doch, indem sie die Unmöglichkeit bestimmter Konstruktionen aufzeigt, verhindert, daß sich die Physik auf haltlose Annahmen gründet. 32 Vgl. den Hinweis in der KrV, B 109 f.: »Denn daß diese Tafel {der Kategorien, A. F.) im theoretischen Teile der Philosophie ungemein dienlich, ja unentbehrlich sei, den Plan zum Ganzen einer Wissenschaft, sofern sie auf Begriffen a priori beruht, vollständig zu entwerfen, und sie systematisch, nach bestimmten Prinzipien abzuteilen; erhellt schon von selbst daraus, daß gedachte Tafel alle Elementarbegriffe des Verstandes vollständig, ja selbst die Form eines Systems derselben im menschlichen Verstande enthält, folglich auf alle Momente einer vorhabenden spekulativen Wissenschaft, ja sogar ihre Ordnung, Anweisung gibt, wie ich denn auch davon anderwärts {eben in den MA, A. F.) eine Probe gegeben habe.« 262

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Bestimmungen ihrer metaphysischen und an sich empirischen Grundbegriffe ah(sehen)«, so daß es also »im Fall der körperlichen Naturmetaphysik darum (geht), den Begriff der Materie so zu expo­ nieren, daß nur seine konstruierbaren Implikate thematisch in den Blick gelangen«.33 Demgegenüber ist zu betonen, daß die metaphysi­ schen Prinzipien zwar nur im Hinblick auf die mathematische Natur­ wissenschaft relevant sind, die metaphysische Untersuchung aber vollständig und nicht auf »konstruierbare Implikate« eingeschränkt ist, die Metaphysik sich folglich ihre Gegenstände in keiner Weise von der Mathematik vorgeben läßt, sondern im Gegenteil dieser erst ihren Gültigkeitsbereich bestimmt. Innerhalb der reinen Naturlehre herrscht daher kein gleichberechtig­ tes Nebeneinander von Mathematik und Metaphysik, sondern eine eindeutige Hierarchie: Wie insbesondere das Beispiel der Dynamik zeigte, muß sich die Mathematik in ihren Ansprüchen den metaphy­ sischen Vorgaben beugen. Auch in der Naturlehre, die sich doch ge­ wissermaßen als das einheimische Reich des mathematischen Erkennens erwiesen hat, bleibt dieses der Philosophie nachgeordnet. Den mathematischen Prinzipien der Naturlehre, so notwendig sie für ei­ ne wissenschaftliche Physik auch sein mögen, müssen metaphysi­ sche Anfangsgründe vorausgehen. Freilich ist die Metaphysik der körperlichen Natur nur durch die nachfolgende mathematische Be­ handlung der Physik von Bedeutung, sie allein begründet noch keine Naturwissenschaft. Mehr noch: ihre konkrete Aufgabenstellung, Prinzipien für Konstruktionen festzusetzen, verdankt sich in der Tat dem Umstand, daß es eine reine Naturwissenschaft letztlich nur durch Mathematik, durch Konstruktionen geben könne. Insofern be­ steht hier tatsächlich eine »korrelative Bezogenheit« von Mathema­ tik und Philosophie.34 Dieser Ausdruck scheint mir aber doch proble­ matisch, weil er geeignet ist, die Ungleichheit des Verhältnisses zu 33 Wolff-Metternich, Überwindung, 129. 34 So Wolff-Metternich, Überwindung, 138, die damit an Plaaß anschließt. Allerdings spricht auch Wolff-Metternich von der Mathematik als >ancilla philosophiaeNatur< als Produkt des Verstandes: Nicht weil er strukturell mit einer ihm gegenüber selbständigen Objektenwelt übereinstimmt, sondern nur dadurch, daß er den Anschauungs­ daten synthetische Einheit verschafft und damit den Objekten seine Struktur aufprägt, haben die Gesetze des Verstandes objektive Gültigkeit. Daraus folgt jedoch, daß das Denken niemals die Dinge erreicht, wie sie außerhalb des Erkennens, ohne von diesem bereits assimiliert zu sein, existieren mögen. Objektive Gültigkeit kann es allein für die vom Verstand präformierte Welt der Erscheinungen beanspruchen. Die transzendentalphilosophische Rechtfertigung der Objektivität der Denkbestimmungen, auf der die Möglichkeit von Naturwissenschaft ganz und gar beruht, entzieht also zugleich dem Denken die Befugnis, sich als Erkenntnis einer ontologisch selb­ ständigen Dingwelt aufzuspielen. In der Konsequenz bedeutet das, daß es eine Wissenschaft der Natur nur als Wissenschaft der Gesamt­ heit der Erscheinungen unter Gesetzen des Verstandes geben kann. Die exakte Wissenschaft ist und kann nichts anderes sein als Wissen von Erscheinungen. Hatten also die Rationalisten durch ihre dogmatische Metaphy­ sik mit dem zentralen Gottesbeweis die Gewähr dafür, daß die als evident erkannten Bestimmungen auch den Dingen selbst zukämen, so führt dagegen Kants transzendentalphilosophische Begründung zu einem grundlegend anderen Resultat. Die für die moderne Physik erforderliche Mathematisierbarkeit kommt den Naturdingen nur als Gegenständen der menschlichen Verstandeserkenntnis, nicht jedoch als Dingen an sich selbst zu. Diese Restriktion ergibt sich zwingend: die Begriffe und Grundsätze, die sich in einer transzendentalen Deduktion rechtfertigen lassen, können absolute Gültigkeit nur für Gegenstände möglicher Erfahrung beanspruchen. Der ontologische Status dessen, was jeweils >Natur< genannt wird, ist damit vollkom­ men verändert: Anders als die cartesische res extensa ist die Natur für Kant kein substantielles Sein, kein ontologisch selbständiges ens Die Begründung der Wissenschaft aus reiner Vernunft

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Schlußbetrachtung

per se existens, sondern Erscheinung unter den Gesetzen des Ver­ standes. Dies alles braucht nun den Naturwissenschaftler nicht weiter zu bekümmern. Der ontologische Stellenwert seines Untersuchungs­ gegenstandes ist für ihn nicht von Belang - wohl aber der >Erkenntniswert< seiner wissenschaftlichen Aussagen. Diesen aber wird in Kants Philosophie absolute Sicherheit zuerkannt. Der ontologische Vorbehalt ist also keineswegs als ein skeptischer anzusehen. Im Ge­ genteil erlaubt es gerade die Abwertung der Natur zur Erscheinungs­ welt, die Möglichkeit von Naturwissenschaft a priori zu begründen: diese ist möglich, weil sie Erscheinungen beschreibt. Die Gesetze der Natur gelten schlechthin und unbedingt. Es steht daher nicht zu befürchten, daß beispielsweise irgendwelche Naturdinge nicht dem Kausalgesetz unterstünden. Was Kant einschränkt, ist der Geltungs­ bereich der als Verstandesgesetze begriffenen Naturgesetze, nicht aber ihre Gültigkeit. b) Zur Begründungsfunktion der Philosophie Die vorstehenden Untersuchungen haben gezeigt, daß Kants Ver­ nunftkritik nicht zuletzt auf die Fundierung der Wissenschaften ab­ zielt. Besonders deutlich wurde dies an den Metaphysischen An­ fangsgründen der Naturwissenschaft: Diese enthalten inhaltliche Vorgaben für die Physik, die rein diskursiv, unter Bezugnahme allein auf den Begriff einer Materie überhaupt, entwickelt werden. Doch auch der Transzendentalphilosophie im engeren Sinne kommt eine Begründungsfunktion zu. Sie liefert die Deduktion allgemeiner Ge­ setze sowohl des Erkennens als auch der Natur, ohne welche an Wis­ senschaft, verstanden als mit Notwendigkeit und Allgemeinheit verbundene Erkenntnis, überhaupt nicht zu denken wäre. Die Meta­ physik also behält bei Kant jene zentrale Stellung im System der Wissenschaften, die ihr schon bei den Rationalisten zukam. Ihr kommt die fundamentale Funktion für die Begründung absoluter Si­ cherheit des menschlichen Erkennens zu, da sie die Möglichkeit apriorischer Erkenntnisse erst begreiflich macht, auf der eine jede strenge Wissenschaft basiert. Dazu gehört die Beantwortung der Fra­ ge, wie reine Naturwissenschaft möglich sei, ebenso wie selbst die Antwort auf die Frage nach der Möglichkeit einer reinen Mathe­ matik. Zwar bedarf weder der Geometer zur Durchführung seiner De­ 270

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Konsequenzen der transzendentalphilosophischen Begründung

monstrationen der transzendentalen Deduktion des Raumes und der Möglichkeit von Axiomen, noch hat es der Naturwissenschaftler nötig, sich von der Transzendentalphilosophie die Möglichkeit einer reinen Naturwissenschaft begreiflich machen zu lassen. Daß aber die Beantwortung von Begründungsfragen zum Betreiben einer Wissen­ schaft nicht notwendig erfordert ist - und von den Einzelwissen­ schaften auch nicht geleistet werden kann -, bedeutet nicht, daß sie überflüssig wäre. Diese Fragen zu stellen und sie zu beantworten, ist Aufgabe der Philosophie. Die entscheidende Funktion der Metaphy­ sik besteht nach Kant in dieser Hinsicht weniger in einer für das wissenschaftliche Arbeiten selbst notwendigen Begründung denn in der Kritik. Ihr kommt zu, was »der bloß mit seinem empirischen Gebrauche beschäftigte Verstand, der über die Quellen seiner eige­ nen Erkenntnis nicht nachsinnt«, nicht leisten kann, »nämlich, sich selbst die Grenzen seines Gebrauchs zu bestimmen, und zu wissen, was innerhalb oder außerhalb seiner ganzen Sphäre liegen mag« (B 297). Es dürfte in dieser Arbeit deutlich geworden sein, daß dies gerade im Hinblick auf Mathematik vonnöten ist: zwar mag der Ma­ thematiker alle Belehrung durch die Philosophie von sich weisen, solange er reine Mathematik betreibt; doch ist die Beantwortung der Frage, wie reine Mathematik möglich sei, sehr bedeutsam in der Hin­ sicht, daß erst, wenn die Grundlagen der Mathematik genau be­ stimmt sind, der Geltungsbereich mathematischer Urteile klar abge­ steckt werden kann. Ebenso mag sich ein Naturwissenschaftler die Mühe ersparen, »den Ursprung reiner Verstandesbegriffe, und hier­ mit auch den Umfang ihrer Gültigkeit zu erforschen« (B 753). Dann aber wird sich nicht genau bestimmen lassen, welcher Bereich der Naturwissenschaft zukommt, wo also die Gültigkeit der Kategorien und mathematischen Prinzipien, auf die sich ihre Gewißheit gründet, endet. Ein unkritisches, d. h. ohne vorherige Reflexion auf seine Grundlagen durchgeführtes Verfahren verleitet insbesondere in den an der Mathematik orientierten >exakten< Wissenschaften dazu, die ihnen von Kant »angewiesene Grenze, nämlich die Natur«, zu über­ schreiten, somit aber »unvermerkt, von dem Felde der Sinnlichkeit, auf den unsicheren Boden reiner und selbst transzendentaler Begriffe (zu geraten), wo der Grund ihnen weder zu stehen noch zu schwim­ men erlaubt und sich nur flüchtige Schritte tun lassen, von denen die Zeit nicht die mindeste Spur aufbehält« (B 753). Auch dieses kritische Ziel einer Bereichszuweisung dient also letztendlich dazu, dem menschlichen Wissen ein sicheres Fundament Die Begründung der Wissenschaft aus reiner Vernunft

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Schlußbetrachtung

zu verschaffen. Werden dem Erkennen nicht die Grenzen bestimmt, innerhalb deren es zu sicheren Urteilen gelangen kann, wird es un­ vermeidlich zu Grundsätzen fortschreiten, die nur einen trügeri­ schen Anschein von Sicherheit erzeugen, damit aber alle Sicherheit letztlich untergraben. Eine in ihren Grenzen absolut sichere Erkennt­ nisweise wie die Mathematik kann zu den größten Irrtümern und Streitigkeiten Anlaß geben, wenn sie über ihren Geltungsbereich hinaus erweitert wird. Das demzufolge erforderliche »Zensoramt, welches die allgemeine Ordnung und Eintracht, ja den Wohlstand des wissenschaftlichen gemeinen Wesen sichert« (B 879), kommt allein der Metaphysik zu. Gerade um dieser Funktion willen gilt sie Kant als »Vollendung aller Kultur der menschlichen Vernunft« (B 878): »Denn sie betrachtet die Vernunft nach ihren Elementen und obersten Maximen, die selbst der Möglichkeit einiger Wissen­ schaften, und dem Gebrauche aller, zum Grunde liegen müssen« (B 879). Verglichen mit dem von Descartes und Spinoza vorgelegten Modell zeichnet sich der Kantische Begründungsversuch durch zweierlei aus. Zunächst beinhaltet er eine klare Absage an die Vorbildfunktion der Mathematik: In der Metaphysik hat das mathematische Erkennen keinen Platz, in ihr muß rein diskursiv, nach bloßen Begriffen ver­ fahren werden. Zweitens wird es nach Kant unmöglich, die Prinzi­ pien des Erkennens in einer Substanzontologie zu verankern. Kants Begründung der Notwendigkeit und Allgemeinheit wissenschaftli­ cher Erkenntnisse muß ohne Mathematik und ohne Rekurs auf den Substanzbegriff auskommen. Seine Lösung bestand in dem Nach­ weis, daß das Erkennen unmittelbar an der Konstitution der Erfah­ rungsgegenstände beteiligt ist, indem erst die synthetischen Funk­ tionen des Selbstbewußtseins den Anschauungsdaten jene Einheit verschaffen, die einem Gegenstand des Erkennens notwendig zu­ kommt. Diese transzendentalphilosophische Begründung gelang nur um den Preis einer empfindlichen Einschränkung, sie machte es notwendig, die wissenschaftliche Erkenntnis auf den Bereich mögli­ cher Erfahrung zu restringieren. Es ist die unausweichliche Kon­ sequenz des Kantischen Ansatzes: »daß alles, was der Verstand aus sich selbst schöpft, ohne es von der Erfahrung zu borgen, das habe er dennoch zu keinem anderen Behuf, als lediglich zum Erfahrungs­ gebrauch« (B 294). Verbindet sich nun aber mit dieser Restriktion auch eine Ein­ 272

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Konsequenzen der transzendentalphilosophischen Begründung

büße hinsichtlich des Ahsolutheitsanspruchs der philosophischen Er­ kenntnis selbst, kann also eine diskursive Begründung nur auf ver­ minderte Gültigkeit Anspruch erheben? Mitnichten. Vielmehr bean­ sprucht Kant, die menschliche Vernunft zwischen den Klippen der dogmatischen Schwärmerei und des Skeptizismus glücklich hin­ durchgebracht, also eine Begründung vorgelegt zu haben, die die Schwächen der einen vermeidet, ohne in den anderen zu verfallen (vgl. B 128). Er kritisiert die Rationalisten nicht deshalb, weil sie überhaupt den Versuch einer Letztbegründung unternommen haben, sondern im Gegenteil dafür, daß sie bei diesem Versuch mit ihrer mathematisch-substanzontologischen Begründung in unauflösliche Schwierigkeiten geraten. Erst nach der von ihm vorgenommenen »Veränderung der Denkart« gelinge es, »die Möglichkeit einer Er­ kenntnis a priori ganz wohl (zu) erklären, und, was noch mehr ist, die Gesetze, welche a priori der Natur, als dem Inbegriffe der Gegen­ stände der Erfahrung, zum Grunde liegen, mit ihren genugtuenden Beweisen (zu) versehen, welches beides nach der bisherigen Verfahrungsart unmöglich war« (B XIX). Mit der Restriktion auf mögliche Erfahrung verbindet sich keine Absage an den Versuch einer Letzt­ begründung - im Gegenteil: Letztbegründung wird durch diese Re­ striktion erst möglich. Gerade die Differenzierung von mathematischer und philoso­ phischer Erkenntnisweise läßt diese Absicht Kants besonders deutlich hervortreten, steht sie doch mit der Begründung in direktem Zusam­ menhang. Soll die Begründung ihre Funktion erfüllen, so muß sie aus synthetischen Urteilen a priori bestehen. Nachdem aber die ma­ thematische Erkenntnisweise aus der Philosophie ausgeschlossen und gezeigt ist, daß ihre Verwendung zu Irrtümern Anlaß gibt, hängt die Begründung am seidenen Faden. Aber - und dies ist das alles entscheidende Ergebnis der Vernunftkritik - die Begründung gelingt: Synthetische Urteile a priori aus bloßen Begriffen, so zeigt sich, sind möglich. Als synthetische Urteile a priori stehen sie hinsichtlich ihrer Gewißheit den Sätzen der Mathematik in nichts nach. Der Ein­ schätzung Wolff-Metternichs: »daß die Mathematik aufgrund ihrer besonderen Erkenntnisweise einen Grad an Wissenschaftlichkeit be­ sitzt, der weder von der empirischen Erkenntnis noch von der Phi­ losophie je erreicht werden kann«,1 muß daher entschieden wider­ sprochen werden. Der Notwendigkeit und Allgemeinheit der Sätze 1 Wolff-Metternich, Überwindung, 106f. Die Begründung der Wissenschaft aus reiner Vernunft

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Schlußbetrachtung

der Metaphysik tut der Umstand, daß sie nur als Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung deduziert werden können, von ihnen also bloß ein immanenter, kein transzendenter Gebrauch gemacht werden darf, keinerlei Abbruch. Freilich muß die Transzendentalphilosophie eine gegenüber der rationalistischen Metaphysik veränderte Gestalt annehmen. An die Stelle der Ontologie im klassischen Sinne tritt die »bloße Analytik des reinen Verstandes« (B 303), die »bescheidene, aber gründliche Selbsterkenntnis« (B 763); so handelt die Transzendentalphilosophie im Grunde gar nicht mehr von Dingen, sondern von der Konstitution des Erfahrungsgegenstandes, sie beschäftigt sich »nicht sowohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenstän­ den« (B 25). Es besteht jedoch keinerlei Anlaß, dies als »eine Abwei­ sung jeglicher Prätention auf Letztbegründung« zu interpretieren.2 Was Kant zu zeigen versucht, ist vielmehr, daß Letztbegründung nur auf diesem Wege erreicht werden kann. Sein Begriff der Metaphysik, diese sei »das Inventarium aller unserer Besitze durch reine Ver­ nunft, systematisch geordnet« (A XX), zeichnet sich demgemäß durch den Anspruch einer systematischen Vollständigkeit aus. Für die »Nachkommenschaft« bleibt ihm zufolge nichts weiter zu tun, »als in der didaktischen Manier alles nach ihren Absichten einzurich­ ten, ohne darum den Inhalt im mindesten vermehren zu können« (ebd.). Kant taugt somit kaum als Gewährsmann für die »Unabschließbarkeit diskursiver Erkenntnisbemühung«.3 Man mag selbst für eine solche plädieren - sie Kant unterzuschieben hieße jedoch, ihn gründlich mißzuverstehen. c) Abschluß und Ausblick: Zum Verhältnis von Substanz und Subjekt Vergegenwärtigt man sich abschließend nochmals die Differenzen in den Begründungsversuchen von Descartes und Spinoza einerseits und Kant andererseits, so fällt als ein Hauptunterschied auf, daß Kants transzendentalphilosophische Begründung ganz ohne Rekurs auf den Substanzbegriff auskommt. Dies war bei Descartes und Spi­ noza noch ganz anders gewesen - ja es hatte sich geradezu als ein Kennzeichen von deren Systemen ergeben, daß in ihnen die Aus­ 2 Ebd., 187. 3 Ebd., 195. 274

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Konsequenzen der transzendentalphilosophischen Begründung

arbeitung der Prinzipien des Erkennens unmittelbar mit dem Ent­ wurf einer Substanzontologie verbunden ist und die einen ohne die andere nicht angemessen interpretiert werden können. Zwar läßt sich bei Descartes (wie auch bei Spinoza) zunächst eine klare Absage an das traditionelle Substanzdenken konstatieren. Descartes versucht als einer der ersten überhaupt, eine rein funktionalistische Physik zu begründen, die sich in der Erklärung der Naturgegebenheiten allein auf die Untersuchung mathematischer Gesetzmäßigkeiten stützt. Die Abkehr von der tradierten Lehre der substantiellen Formen ist vollständig und bildet einen der wichtig­ sten Motivationspunkte für die Ausarbeitung der neuen Methode. Und doch sah sich Descartes genötigt, die Prinzipien seiner mecha­ nistischen Naturwissenschaft in einer Substanzmetaphysik zu fun­ dieren, in der er wie selbstverständlich auf den aristotelischen Sub­ stanzbegriff rekurriert. Im Hinblick auf die Begründung kommt dabei der Gottessubstanz herausragende Bedeutung zu: Erst dieses allmächtige Vernunftwesen bietet die Gewähr dafür, daß res cogitans und res extensa strukturell übereinstimmen, daß sich also die gesetz­ mäßige Ordnung, die zunächst eine des Verstandes ist, in der Natur wiederfinden läßt. Spinoza gab diesem Gedanken eine radikale Form, indem er Denken und Natur nur noch als verschiedene Ausdrucks­ weisen ein und derselben, vollständig rational durchstrukturierten Allsubstanz auffaßte. In beiden Fällen ist die objektive Gültigkeit der klaren und deut­ lichen Erkenntnisse - um deren Nachweis es der Metaphysik zu tun ist - in der Substanz verankert. Andernfalls bleiben die Verstandes­ erkenntnisse, so gewiß sie als Urteile sein mögen, ohne Halt, d. h. ihr Geltungsanspruch müßte auf das Denken selbst eingeschränkt wer­ den, ohne daß es mit der Außenwelt in Beziehung gesetzt werden könnte. Eine solche Position hatte Descartes selbst ansatzweise in den Regulae vertreten, und es hat sich gezeigt, daß erst die Substan­ zenlehre ihm die Überwindung der entsprechenden Vorbehalte er­ möglicht. Die Begründungsstrategien von Descartes und Spinoza, so läßt sich also feststellen, bedürfen der Substanz; sie haben in ihr die Basis und sind ohne sie überhaupt nicht zu denken. Ganz anders nun Kant. Indem sie die Substanzontologie rationalisti­ scher Prägung destruiert, wird in der Kantischen Philosophie die Ab­ sage an das Substanzdenken einen entscheidenden Schritt weiter­ getrieben. Kant tritt geradezu an, eine Begründung zu leisten, die Die Begründung der Wissenschaft aus reiner Vernunft

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Schlußbetrachtung

ohne Substanz und ohne Gott auskommt. Das bedeutet nicht, daß er diese beiden ganz aus der Welt schaffen möchte - sie leben, als Kate­ gorie und Idee, fort, und als solchen kommt ihnen in der mensch­ lichen Erkenntnis weiterhin eine wichtige Funktion zu. Doch müssen sie in dieser Funktion selbst begründet werden. In der Begründung selbst aber ist für sie kein Platz, sie würden dort nur dogmatische Voraussetzungen bilden, die sich jedoch, wie Kant an den Gottes­ beweisen demonstriert, nicht beweisen lassen. An ihre Stelle tritt das transzendentale Subjekt. Ihm bürdet Kant die ganze Begrün­ dungslast auf, die zuvor nur ein Gott übernehmen konnte. Freilich spielt Subjektivität auch in den Systemen von Descartes und Spinoza eine nicht zu unterschätzende Rolle. Descartes kann gar für sich beanspruchen, gewissermaßen der Entdecker des transzen­ dentalen Ich zu sein, da er eben dieses als letzte Gewißheit im Zwei­ felsgang erfaßte. Er sah sich jedoch nicht nur gezwungen, dieses Ich sofort als eigene Substanz zu fixieren, sondern ordnete es der gött­ lichen Substanz unter, von der der Erkenntnisgehalt des Ich letztlich ganz und gar abhängt. Das Ich vermag den von Gott geschaffenen Gesetzeszusammenhang zwar zu erkennen, es ist jedoch weit davon entfernt, ihn hervorzubringen. Bei Spinoza schließlich ist die Unter­ ordnung, ja Fixierung des Subjekts in der Substanz vollständig, und die res cogitans bildet nur mehr ein Attribut des Einen Gottes. So scheint zwar die Subjektivität in der Substanz selbst enthalten, doch vermochte Spinoza nicht, beides miteinander zu vermitteln. Inner­ halb der Substanz verhält sich das Subjekt gewissermaßen regungs­ los, und sofern es als Erkennendes auftritt, nimmt es einen Stand­ punkt außerhalb der Substanz ein. Erst bei Kant also tritt das Prinzip transzendentaler Subjektivi­ tät rein hervor. Die Unterordnung unter eine allumfassende Ver­ nunft entfällt, und der Subjektgedanke erscheint erstmals völlig los­ gelöst vom Substanzbegriff. Die Transzendentalphilosophie bedarf der göttlichen Substanz nicht mehr; in ihr wird die Objektivität der Denkbestimmungen einzig vom Erkennen selbst her begründet. Ins Zentrum rückt nun die Spontaneität des Selbstbewußtseins. Nicht mehr Gott, sondern »die synthetische Einheit der Apperzeption (ist) der höchste Punkt, an dem man allen Verstandesgebrauch, selbst die ganze Logik, und, nach ihr, die Transzendental-Philosophie heften muß« (KrV, B 134 Anm.). In vorher nicht dagewesener Weise stellt Kant die produktive Leistung des Erkenntnisvermögens heraus. Des­ sen synthetische Funktionen sind direkt konstitutiv für die Erzeu­ 276

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Konsequenzen der transzendentalphilosophischen Begründung

gung der für es existierenden Außenwelt, sie bilden daher notwendi­ ge Eigenschaften der Dinge dieser Welt. Dies ist der genaue Sinn von Kants >kopernikanischer WendeKritik der reinen VernunftMetaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft