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German Pages 344 [345] Year 1984
REINER DINKEL
Die Auswirkungen eines Geburten- und Bevölkerungsrückgangs auf Entwicklung und Ausgestaltung von gesetzlicher Alterssicherung und Familienlastenausgleich
Sozialpolitische Schriften Heft 49
Die Auswirkungen eines Geburten- und Bevölkerungsrückgangs auf Entwicklung und Ausgestaltung von gesetzlicher Alterssicherung und Familienlastenausgleich
Von
Dr. Reiner Dinkel
DUNCKER
&
HUMBLOT
I
BERLIN
Als Habilitationsschrift auf Empfehlung der Fakultät 05-Volkswirtschaft der Ludwig-Maximilians-Universität zu München gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Dinkel, Reiner: Die Auswirkungen eines Geburten- und Bevölkerungsrückgangs auf Entwicklung und Ausgestaltung von gesetzlicher Alterssicherung und Familienlastenausgleich / von Reiner Dinkel. - Berlin: Duncker und Humblot, 1984. (Sozialpolitische Schriften; H.49) ISBN 3-428-05546-2 NE: GT
Alle Rechte vorbehalten
© 1984 Duncker
& Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1984 bei Zippel-Druck, Berlin 36 Printed in Germany
ISBN 3-428-05546-2
Inhalt Einführung und Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
Erstes Kapitel Demographische und demoökonomische Grundlagen
15
1.
Die Bevölkerungsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland: Ein analytischer Ausgangspunkt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15
1.1.
Perioden- versus Kohortenbetrachtung von Geburten- und Sterbevorgängen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . .
16
1.2.
Eine Kohortenanalyse der deutschen Nachkriegsgeburtenentwicklung .............................................
25
1.3.
Eine Abschätzung der Kohortenfertilität der aktiven Frauenjahrgänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
40
1.4.
Die Fertilität ethnischer Minderheiten: Ein Exkurs. . . . . . . . .
50
1.5.
Methoden und Möglichkeiten der langfristigen Bevölkerungsprognose, dargestellt am Beispiel der deutschen Bevölkerung
51
1.6.
Zusammenfassung... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
58
2.
Die ökonomische Analyse der Fruchtbarkeit ..............
61
2.1. 2.1.1. 2.1.2. 2.1.3.
Familienbildung in der ökonomischen Analyse. . . . . . . . . . . . Ansatzpunkte einer ökonomischen Theorie der Geburtenrate Die Familienplanung im theoretischen ökonomischen Modell Die Analyse von Abtreibungen: Ein Exkurs. . . . . . . . . . . . . . .
61 61 67 71
2.2. 2.2.1. 2.2.2. 2.2.3.
Die Bestimmungsgründe für die Nachfrage nach Kindern . . . Haushaltsproduktionsfunktion und Theorie der Zeitallokation Die direkten Kosten der Kinder ......................... Die üpportunitätskosten der veränderten Erwerbsbeteiligung der Mütter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
74 74 80 85
6
Inhalt
2.2.4. Die Zeitkosten innerhalb der Familie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
91
2.2.5. Eine Gesamtbewertung der Kosten von Kindern für ihre Eltern ............................. , .. . ..... . ..... . .... .
96
2.3.
Der Entscheidungsprozeß der Eltern in ökonomischer Interpretation. . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . .. . . . . . . . . .. .. .
101
2.3.1. Die Präferenzstruktur für Kinder ........................
101
2.3.2. Die Haushaltsoptimierung in vereinfachter Darstellung .....
106
2.4.
Die empirische Relation zwischen Fruchtbarkeit und Einkommen der Eltern .............. '.' . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
111
2.5.
Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
117
Zweites Kapitel Bevölkerungs- und Familienpolitik mit finanzpolitischen Instrumenten
120
1.
Ansatzpunkte einer Bevölkerungspolitik im liberalen Rechtsstaat. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
120
1.1.
Bevölkerungs- oder Familienpolitik: Die Schwierigkeiten einer problemgeladenen Abgrenzung. . .
120
1.2.
Eine Systematisierung von Interventionsargumenten . . . . . . .
122
2.
Makroökonomische Konsequenzen eines Bevölkerungsrückgangs ................................................
128
2.1.
Das Arbeitskräfteangebot im Bevölkerungsrückgang . . . . . . . .
129
2.2.
Die volkswirtschaftliche Gesamtnachfrage im Bevölkerungsrückgang .............................................
131
2.2.1. Die Auswirkungen des Bevölkerungsrückgangs auf Konsum und Ersparnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
131
2.2.2. Die Investitionsgüternachfrage im Bevölkerungsschwund ...
135
2.3.
Das volkswirtschaftliche Gleichgewicht bei schrumpfender Bevölkerung ............................................ 2.3.1. Die neoklassische Analyse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . 2.3.2. Die "Stagnationstheorie". Eine keynesianische Analyse. . . . .
136 136 139
Inhalt
2.3.3. Wirtschaftspolitische Empfehlungen für die Situation des Bevölkerungsrückgangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
141
3.
Nicht-makroökonomische Auswirkungen eines Bevölkerungsrückgangs ............................................
142
3.1.
Konsequenzen einer Veränderung der absoluten Bevölkerungszahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
142
3.2.
Bevölkerungspolitische Ansatzpunkte durch die relative Verschiebung in der Besetzung von Bevölkerungsgruppen . . . . . .
144
3.2.1. Soziale Konsequenzen der "Überalterung" ................ 3.2.2. Alters und Kinderlast in Folge eines Geburtenrückgangs. . .
144 147
4.
Bevölkerungs- und familienpolitische Zielformulierungen
150
4.1.
Die "optimale" Bevölkerung: Eine Antwort im Rahmen der ökonomischen Theorie? .....
151
4.2.
Bevölkerungspolitik als Ausgleich positiver Konsumexternalitäten .'. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
154
4.3.
Eine "stabile" Bevölkerung als Ziel einer Rahmensteuerung?
157
4.4.
Eine bevölkerungs- und familienpolitische Position: Der Bevölkerungsrückgang als Ansatzpunkt für distributive Maßnahmen .................................................
159
Drittes Kapitel
Alterssicherung im langfristigen Bevölkerungsrückgang
162
1.
Der ökonomische Gutscharakter einer kollektiven Alterssicherung ............... '" .,. ........................... .
162
2.
Kapitaldeckung versus Umlageverfahren in der gesetzlichen Sozialversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
165
2.1.
Organisationsprinzipien der Sozialversicherung ............
165
2.2.
Die Wirkungsweise von Kapitaldeckungs- und Umlageverfahren in einem elementaren Modell .......... .' . . . . . . . . . . . . .
167
2.3.
Bevölkerungsveränderung und Zinssatz: Ein Vergleich der Organisationsformen im Modell der stabilen Bevölkerung .....
175
8
Inhalt
2.4.
Die Organisationsform in realwirtschaftlicher Betrachtung. . .
181
3.
Bevölkerungsentwicklung und kollektive Alterssicherung ...
184
3.1.
Die Ausgestaltung der gesetzlichen Alterssicherung in Deutschland und ihre Finanzierungslage im Bevölkerungsrückgang .............................................
184
3.2.
Der "Generationenvertrag" der umlagefinanzierten Alterssicherung ..............................................
192
3.3.
Die Auswirkungen von Kindern auf die Rentenhöhe im geltenden Recht ............................................
195
4.
Reformvorschläge im Bereich der gesetzlichen Alterssicherung
201
4.1.
Vorschläge zur finanziellen Bewältigung der Zukunftslasten .
201
4.2.
Reformvorschläge zur Verbesserung der Alterssicherung von Müttern bzw. der Berücksichtigung der Kindererziehung . . . . 4.2.1. Die Anrechnung von Erziehungsjahren als Beitragsjahre der Mütter............................................... 4.2.2. Die Rente nach Mindesteinkommen und ihre Auswirkungen auf die Rentenhöhe der Mütter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
207 207 211
5.
Ein Vorschlag zur langfristigen Neugestaltung der gesetzlichen Alterssicherung .......................................
214
5.1.
Ziele und Anforderungen an eine langfristige Neuregelung ..
214
5.2.
Die Berücksichtigung der Generationenabfolge in der Rentengestaltung ............................................ 5.2.1. Die Rentenhöhe in Abhängigkeit von der Kinderzahl .... " . 5.2.2. Die Beitragsdifferenzierung in verschiedenen Ausgestaltungsformen . .. . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
215 215 216
5.3.
Die Beitragsdifferenzierung als Stärkung oder Schwächung des Äquivalenzprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
222
5.4.
Auswirkungen der Beitragsdifferenzierung auf das generative Verhalten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
224
5.5.
Die Beitragsdifferenzierung und der intergenerationale Transfer . . . . . . . . . . . . .. . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
225
Inhalt
9
5.6.
Die Beitragsdifferenzierung in ihren ökonomischen Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
229
6.
Hinterbliebenenversorgung und Rentenkumulierungen in langfristiger Perspektive ................................
231
6.1.
Grundsätze und Alternativen der Hinterbliebenenversorgung
231
6.2.
Ein Vorschlag zur zukunftsgerechten Ausgestaltung der Hinterbliebenenversorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
235
Viertes Kapitel
Der Ausgleich von Kinder- und Familienlasten
242
1.
Arten und Zielsetzung von Familienlastenausgleichsleistungen ..................................................
242
1.1.
Begriff und Geschichte des Familienlastenausgleichs in Deutschland ..........................................
242
1.2.
Die Auswirkungen monetärer Transfers auf die Entscheidung über die Familienbildung und -erweiterung ...............
246
1.3.
Umverteilungsziele und -wirkungen des Familienlastenausgleichs ...............................................
250
2.
Die steuerliche Behandlung von Ehe und Familie. . . . . . . . . .
254
2.1.
Die Ehegattenbesteuerung im deutschen Steuerrecht. . . . . . .
254
2.2.
Die steuerliche Berücksichtigung von Kindern. . . . . . . . . . . . .
260
3.
Das Kindergeld in der familienpolitischen Diskussion ......
264
3.1.
Sozialpolitische Begründungen für die Gewährung von Kindergeld ............. , .. .... . .... ... .. ... .. ... . ..... ......
264
3.2.
Familieneinkommen und -wohlfahrt in Abhängigkeit von der Familiengröße . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
266
3.3.
Die Aufwendungen für Kinder durch Eltern und Staat .....
270
3.4.
Die Festlegung eines "richtigen" staatlichen Transfersatzes . .
273
10 4.
Inhalt
Kritische Erörterung familien politischer Reformvorschläge
275
4.1. Neue familienpolitische Instrumente: Eine Auswahl. . . . . . . . 4.1.1. Familien- oder Erziehungsgeld ..........................
275 275
4.1.2. Heirats- oder Familiengründungsdarlehen . . . . . . . . . . . . . . . ..
278
4.1.3. Das Kindergeld in kapitalisierter Form ...................
280
4.2.
Erhöhung der Transfers oder verstärktes Angebot öffentlicher Güter: Versuch einer Bewertung. . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . .
281
5.
Ein Vorschlag zur Reform des Familienlastenausgleichs ....
286
5.1.
Zur Neugestaltung der Ehegatten- und FamiIienbesteuerung
286
5.2.
Grundsätze einer Neuorientierung"der direkten Familientransfers .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. .
289
6.
Zusammenfassung ........ '.' . . . . . . . . . . . . . . . . . . ... . . . . . . .
293
Anhang I: Ein Überblick über die moderne ökonomische Theorie der Geburtenentwicklung ..............................
295
Literaturverzeichnis .........................................
321
Einführung und Problemstellung "Zu meiner Zeit litt ganz Griechenland an Kinderlosigkeit und überhaupt an Menschenmangel, denn die Menschen hatten sich dem Übermut, der Geldgier und Trägheit ergeben; sie wollten nicht mehr heiraten, oder, wenn sie es taten, doch nicht alle ihre Kinder aufziehen, sondern höchstens eins oder zwei, um diese reich zu hinterlassen und üppig groß zu ziehen. So mehrte sich unvermerkt das Übel schnell. Denn wenn nur eins oder zwei vorhanden waren, so konnten diese leicht durch Krieg und Krankheit hingerafft werden, und natürlich mußten dann die Häuser leer bleiben." Polybius, Geschichten, XXXVII, zitiert nach: L. Brentano, Die Bevölkerungslehre, in: Konkrete Bedingungen der Volkswirtschaft, Leipzig 1924, S. 333.
Seit etwa 1975 ist die Bundesrepublik Deutschland der Staat mit der absolut niedrigsten Geburtenrate der Welt, alle bekannten Prognosen sagen für die nächsten Jahrzehnte einen Bevölkerungsrückgang vorher. Angesichts solcher Zukunftsperspektiven darf es nicht verwundern, wenn die aus den traumatischen Erfahrungen mit der Politik des lll. Reichs entsprungene Zurückhaltung gegenüber Bevölkerungsfragen umgeschlagen ist in eine emotionsgelandene öffentliche Diskussion. Wie stets, wenn Entwicklungen nicht ideal (nach irgendwelchen Normvorstellungen) laufen, wird auch hier schnell der Ruf laut nach staatlichen Interventionen. Fast alle vorgetragenen Argumente und geforderten Maßnahmen sind ökonomischer, meist finanzpolitischer Natur. An dieser Stelle liegt der Ansatzpunkt der vorliegenden Arbeit, die sich zum Ziel setzt, den Einsatz finanzpolitischer Instrumente im Gefolge eines Bevölkerungsrückgangs zu diskutieren. Daß aus der Fülle möglicher Aspekte dieses Themenbereichs einige wenige im Zentrum des finanzpolitischen Instrumentariums stehende Faktoren (Besteuerung, Familienlastenausgleich, gesetzliche Alterssicherung etc.) herausgegriffen werden, soll nicht bedeuten, daß mit dieser Arbeit einer ausschließlich an der finanziellen Sphäre ausgerichteten Sichtweise von Bevölkerungsfragen das Wort geredet werden soll. Alleine die öffentliche Aufmerksamkeit, die gerade finanzpolitische Instrumente beanspruchen, berechtigt aber eine wissenschaftliche Beschäftigung mit und eine Be-
12
Einführung und Problemstellung
schränkung auf diesen Ausschnitt des komplexen Wirkungszusammenhangs. Im Zentrum der Arbeit steht die Frage, ob der Bevölkerungsrückgang Anlaß für spezifische finanzpolitische Reaktionen sein kann. Dabei muß geklärt werden, ob finanzpolitische Instrumente dazu genutzt werden können oder sollten, die Bevölkerungsentwicklung selbst zu beeinflussen oder ob sie nur dazu dienen sollten, die Konsequenzen eines Rückgangs auszugleichen oder zu mildern, ohne die Bevölkerungsentwicklung selbst im Auge zu haben. Ein besonders umstrittener Punkt ist die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen dem liberalen Rechtsstaat aktive Bevölkerungspolitik überhaupt erlaubt sein kann. Auch wenn hier der Rahmen einer ökonomischen Analyse schnell gesprengt wird, müssen wir eine Antwort finden, um den Einsatz finanzpolitischer Instrumente überhaupt diskutieren zu können. Dabei stellt sich heraus, daß schon die Bevölkerungsstrukturverschiebungen zwischen den Generationen staatliche Reaktionen begründen können, deren Ziel aber nicht eine (allokative) Veränderung der Geburtenentwicklung selbst sein muß. Aus dem großen Bereich möglicher Politikfelder werden in dieser Arbeit die beiden aus finanzwissenschaftlicher Sicht zentralen Aspekte herausgegriffen und diskutiert, die gesetzliche Alterssicherung und der sogenannte Fami/ienlastenausgleich, d. h. vor allem die Familienbesteuerung und die monetären Transfers an Familien. Neben einer im Bevölkerungsrückgang evtl. notwendigen Neu- und Umgestaltung dieser bereits vorhandenen Institutionen wird auch behandelt, ob die Einführung neuer Instrumente (wie beispielsweise dem Erziehungsgeld) sinnvoll sein kann. Um die Relevanz der hier behandelten Fragestellung zu beleuchten, muß angemerkt werden, daß die Erfahrung eines Bevölkerungsrückgangs weder historisch einmalig (mindestens für die französische Bevölkerung im 19. Jahrhundert galt dies für viele Jahre) noch notwendigerweise auf Deutschland beschränkt ist: Eine nähere Betrachtung zeigt, daß Deutschland in diesem Punkt nur der Vorreiter einer Entwicklung ist, die früher oder später alle Industrieländer erfassen dürfte. Eine Reihe anderer Staaten, für die stellvertretend Schweden, Frankreich und Großbritannien genannt werden können, stehen kurz vor oder bereits inmitten der gleichen Situation I. Selbst in Deutschland ist die Furcht vor dem Aussterben keine Erfindung unserer Tage. Vor allem zwischen 1925 und 1935 fand eine Diskussion statt, 1 Siehe dazu die Zahlenangaben bei H. Wander, Zero Population Growth Now: The Lesson from Europe, in: The Economic Consequences of Siowing Population Growth, hrsg. von T. J. Espenshade und W. J. Serow, New York 1978, bes. S. 41 ff.
Einführung und Problemstellung
13
die mit der heutigen nahezu identisch ist 2. Besonders dieser Umstand mahnt zur Vorsicht, denn nur zu oft in der Geschichte wurden pessimistische Zukunftsvisionen vorgetragen, die sich im Nachhinein als unbegründet erwiesen. Aus diesem Grund wollen wir uns im einleitenden Kapitel detailliert fragen, was nach dem Stand der Erkenntnis über die zukünftige Bevölkerungsentwicklungin Deutschland konkret auszusagen ist. Nur wenn ein Bevölkerungsrückgang ein plausibles Zukunftszenario ist, rechtfertigt sich eine wissenschaftliche Auseinandersetzung und die Maßgabe politischer Handlungsalternativen. Bevölkerungsvorgänge sind im Rahmen der wissenschaftlichen Arbeitsteilung Gegenstand eines eigenen Gebiets, der Demographie 3,·einer relativ alten, aber nach vielen Seiten offenen Forschungsrichtung 4. Ein ökonomischer Ansatz muß nicht von vornherein anmaßendes Eindringen in fremdes Terrain sein, auch wenn sich hier - wie in ähnlichen Anwendungsfällen auf den ersten Blick der Eindruck einer zu vordergründigen Ökonomisierung aufdrängt. Im Rahmen der Ökonomie ist die Beschäftigung mit Bevölkerungsfragen (die im Zentrum der klassischen "politischen Ökonomie" standen) stark zurückgegangen und wurde erst in allerjüngster Zeit neu belebt. In einem kritischen und ergänzenden Überblick wollen wir die neuere Entwicklung der ökonomischen Theorie der Fruchtbarkeit 5 diskutieren. Dieser Abschnitt kann einerseits die vorangehende demographische Analyse ergänzen und wesentliche Grundlagen für die anschließenden Kapitel liefern. Wirtschafts- und Bevölkerungsentwicklung sind Teil eines interdependenten Wirkungsgeflechts: Nicht nur die Geburten, Wanderungen und Sterbefälle hängen von der wirtschaftlichen Entwicklung ab, auch der umgekehrte Zusammenhang gilt. Auf lange Sicht bleibt beispielsweise ein säkularer Bevölkerungsschwund kaum ohne makroökonomische Folgen, was das neuerwachsende ökonomische Interesse an Bevölkerungsfragen schnell 2 Ein typisches Beispiel für die weitgehende Übereinstimmung zwischen aktuellen Befürchtungen und solchen, die vor etwa 50 Jahren vorgetragen wurden, bietet F. Burgdörfer, Sterben die weißen Völker?, München 1934. 3 " ... demographie theory is an organized synthesis of inferences and principles extrated from economics, sociology, psychiatry, political science, antropology and geography" (D. J. Bogue, Principles of Demography, New York, London, Sydney, Toronto 1969, S. 5). 4 Der Beginn der wissenschaftlichen Analyse von Bevölkerungsvorgängen wird im allgemeinen mit den Werken von J. Graunt (1662) und W. Petty (1676) angenommen, allerdings lassen sich manche noch wesentlich ältere Vorgänger für demographische Analysen finden. 5 Der Terminus "Fruchtbarkeit" (fertility) meint in der wissenschaftlichen Sprache das tatsächliche Fortpflanzungsverhalten, während darunter umgangssprachlich oft die Fähigkeit dazu verstanden wird.
14
Einführung und Problemstellung
begründen kann. Auch wenn die beiden Seiten dieses Wirkungsgeflechts nur willkürlich zu trennen sind, wollen wir uns im Rahmen dieser Arbeit mit den zuletzt angesprochenen Zusammenhängen nur im unmittelbar notwendigen Ausmaß beschäftigen. Die Konsequenzen eines Bevölkerungsrückgangs sind ein ungeklärtes Terrain der ökonomischen Forschung und würden eine eigene Arbeit nötig machen, so daß hier nur ein kurzer Überblick über kontroverse theoretische Grundpositionen geboten werden kann.
Erstes Kapitel
Demographische und demo-ökonomische Grundlagen "Es ist also gewiß, daß die Menge der Einwohner allemal einen Staat glücklich macht, wenn sonst seine Beschaffenheit und Regierungsverfassung gut und weislich ist". H. G. v. Justi, Staatswirthschaft, 1. Teil, Erstes Buch, Leipzig 1758, § 136.
1. Die Bevölkerungsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland:
Ein analytischer Ausgangspunkt
Die folgende Arbeit versucht, die Notwendigkeit und die Ausrichtung staatlicher Politik im Bevölkerungsrückgang zu diskutieren. Um dafür einen Ausgangspunkt zu erhalten, muß zuerst erklärt werden, wie relevant das Zukunftsbild Bevölkerungsrückgang für die Bundesrepublik überhaupt ist. Natürlich kann es bei Aussagen über die Zukunft sicheres Wissen nicht geben. Durch Ansammeln und Interpretieren aller verfügbaren Informationen über die jüngere Bevölkerungsgeschichte und Gegenwart kann aber ein Bild über die Plausibilität von Zukunftsbildern gewonnen werden, das eine wissenschaftliche Beschäftigung rechtfertigt. Die folgende Argumentation weicht in einigen Aspekten von der vorherrschenden Interpretation der demographischen Ausgangslage ab, so daß eine relativ eingehende Begründung der eigenen Interpretation nötig ist. Es kann nicht Gegenstand der Arbeit sein, die Grundlagen der Demographie l systematisch darzustellen, so daß die Behandlung grundlegender Fragen auf ein Minimum beschränkt ist. Bevölkerungen verändern sich im Zeitverlauf durch Geburten, Sterbefälle sowie durch Wanderungen. Die Wanderungen machen zwar numerisch oft 1 Für eine deutschsprachige Einführung in die Grundlagen der Demographie siehe P. Flaskämper, Bevölkerungsstatistik, Hamburg 1962; W. Winkler, Demometrie, Berlin 1969; G. Feichtinger, Bevölkerungsstatistik, Berlin u. a. 1973 oder K. M. Bolte, D. Kappe und J. Schmid, Bevölkerung, 4. Aufl., Opladen 1980. Als Beispiel für die auf mindestens gleich hohem Stand stehende DDR-Demographie siehe E. Förster und P. Giersdorf, Grundlagen der Demographie, Berlin 1976.
16
1. Kapitel: Demographische und demo-ökonomische Grundlagen
einen bedeutsamen Teil der Bevölkerungsveränderungen aus (auch oder gerade in der Bundesrepublik Deutschland), können aber nur in Ausnahmefällen zum Bestandteil staatlicher Planung gemacht werden. Um Konsequenzen und Alternativen der langfristigen bundesdeutschen Bevölkerungsentwicklung zu diskutieren, erscheint es deshalb zulässig, auf einer ersten Stufe der Analyse von Wanderungen zu abstrahieren, auch wenn gerade mit den ausländischen Arbeitnehmern und ihren Familien ein beträchtliches Wanderungspotential vorhanden ist. Sieht man von den Wanderungen ab, wird die Bevölkerungsentwicklung in hochindustrialisierten Ländern wie der Bundesrepublik vor allem durch die Geburtenentwicklung bestimmt. Die Sterblichkeit verändert sich angesichts der gegebenen medizinischen Verhältnisse nur noch relativ langsam. Auch wenn die Sterbeentwicklung für Fragen wie die Alterssicherung kurzfristig sogar relevanter ist als die Geburtenentwicklung, soll sie im Rahmen dieser Arbeit aus diesem Grund nur relativ kurz behandelt werden. 1.1. Perioden- versus Kohortenbetrachtung von Geburten- und Sterbevorgängen
Demographisch relevante Ereignisse im Verlaufe eines Lebens (Geburt, Heirat, Elternschaft oder Tod) vollziehen sich in zwei Ebenen, dem Alter und der Zeit. Die Einordnung eines einzelnen Lebens in diese Ordnung veranschaulicht das sogenannte Lexis-Diagramm 2 (Abb. 1). Werden Alter und Zeit im gleichen Maßstab gemessen, kann das Leben der Individuen a, b oder c als Gerade mit festem Anfangs- und Endpunkt verdeutlicht werden, die im Winkel von 45° zu beiden Achsen verlaufen.
2 Siehe dazu erstmals W. Lexis, Einleitung in die Theorie der Bevölkerungsstatistik, Strassburg, 1875.
1. Die Bevölkerungsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland
17
AL TZlISAlJnA1J DER WaiNIIEVÖt.URUNG AM 31. 12. 1979
70
70
60
50
JO
30
20
20
10
10
IlEIIiLlCH
in Tau •• nd 500
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Quelle,
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100
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500
JahrQuch 1981. Abb. S.61
Abb.2
Aussagen über Geburten oder Sterbeentwicklungen werden in der Statistik in der Regel in einem bestimmten Zeitintervall (zwischen tx und ty in Abb. 1) oder - was fast nie zu bewerkstelligen ist - zu einem bestimmten Zeitpunkt vorgenommen. Gewonnen werden dabei Periodendaten, die Aussagen über Bevölkerungen zu einem bestimmten Zeitpunkt erlauben. Ein senkrechter Schnitt (im Zeitabschnitt t in Abb. 1) durch alle Lebenslinien einer Bevölkerungsgesamtheit ergibt, nach Geschlechtern getrennt, die sogenannte Alterspyramide. Die bundesdeutsche Alterspyramide des Jahres 1980 (Abb. 2) zeigt, verglichen mit der anderer Länder, einige Besonderheiten, mit denen wir uns im Verlauf der Arbeit beschäftigen müssen. 2 Dinkel
18
I. Kapitel: Demographische und demo-ökonomische Grundlagen
Beschränkt man den Längsschnitt auf alle Personen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt (dem 31. Dezember eines Jahres)jünger als 12 Monate sind, erhält man die Geburtenzahlen eines Jahres und, in Relation zur Gesamtbevölkerung, die Geburtenrate Ge 1000 Personen der Gesamtbevölkerung). Analog können alle Sterbefälle gezählt und die Sterberate gebildet werden. Geburtenraten sind zwar selbst in Entwicklungsländern statistisch relativ einfach zu ermitteln, ein Blick auf die Alterspyramide zeigt aber schnell, daß sie auch innerhalb eines Landes nur bedingt miteinander vergleichbar sind. Ist der Anteil der Frauen im reproduktionsfähigen Alter von 15 bis 45 Jahren relativ groß, muß eine Zahl von 15 Geburten je Tausend der Gesamtbevölkerung anders beurteilt werden als in einer relativ "überalterten" Bevölkerung. Die für die Geburtenhäufigkeit relevante Bevölkerungszusammensetzung kann durch die Bildung der alterspezijischen Fruchtbarkeitsratenj~ und deren Summe FI vergleichbar gemacht werden. Im Lexis-Diagramm werden dazu jeweils genau 1000 Frauen aller Altersstufen von 15 bis 45 Jahren herausgezogen und deren Geburtenzahlen im Zeitraum t addiert: FI = 45, I: Ja I ; adS •
Aus einer Ausgangsgesamtheit von Frauengeburten eines Jahrgangs erreicht jeweils nur ein (variabler) Teil das reproduktionsfähige Alter. In der' englischsprachlichen Statistik wird deshalb oft die sogenannte" net maternity jimction" (Nettogeburtenkurve) NI betrachtet:
N gewichtet die altersspezifischen Fruchtbarkeitswerte mit der Überlebenswahrscheinlichkeit la der Mütter, wie sie im Jahr t gemessen wird. Die Geburten werden somit nicht zu der jetzigen Zusammensetzung der Frauenjahrgänge d2 in Beziehung gesetzt, sondern der Zusammensetzung zum Zeitpunkt der Geburt der Mütter d, (Abb. 3). Aus den bisherigen Überlegungen läßt sich unmittelbar eine besonders häufig verwendete Größe entwickeln, die sogenannte Nettoreproduktionsrate Ra' Hierbei werden nur die weiblichen Geburtenanteile ba an den altersspezifischen Raten j~ betrachtet, um ein Maß dafür zu erhalten, in welchem Umfang eine Mädchengeneration ihre Müttergeneration ersetzt.
1. Die Bevölkerungsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland
19
Alter
Abb.3
Soll eine Bevölkerung sich genau im Bestand erhalten, müßte R o langfristig den Wert 1 annehmen. IstR o ~ 1, spricht man von einer biologisch wachsenden (oder schrumpfenden) Bevölkerung im Gegensatz zu einer statistisch wachsenden Bevölkerung, die über die Differenz von Geburten- und Sterbezahlen ermittelt wird. 3 Alle bislang behandelten Fertilitätsmaße, auch die Nettoreproduktionsrate, sind Periodenmaße, d. h. geben einen zeitpunktbezogenen (senkrechten) Schnitt im Lexis-Diagramm wieder. In den Abb. 4a-c ist die Entwicklung der jeweiligen Größen in der Nachkriegszeit für die Bundesrepublik dargestellt. Der Vergleich von Geburten- und Sterberaten (Abb. 4a) zeigt, daß - ohne Berücksichtigung von Wanderungen - in der Bundesrepublik seit 1972 die Bevölkerung schrumpft. Die Nettoreproduktionsrate (Abb. 4c) liegt bereits seit 1970 unterhalb von 1, was darauf hindeutet, daß Altersstruktureffekte für einige Jahre ein verschobenes Bild erscheinen ließen. Zur Vergleichbarkeit und wegen ihrer Verwendung für die spätere Argumentation sind in Abb. 4b die Summe der altersspezifischen Fruchtbarkeitsraten sowohl für die Bundesrepublik als auch die DDR angegeben. In der Nettoreproduktionsrate (Abb 4c) drückt sich ähnlich wie in den anderen Maßen vor allem die Geburtenentwicklung aus. Daneben wirken aber, wenn auch in geringerem Ausmaß, die Entwicklung der Sterblichkeit, und - mittelbar - auch die Altersverteilung der Geburten. 4 Die Fruchtbarkeitswerte des Jahres 1981 beispielsweise ergeben mit den Sterblichkeitswerten von 1948/51 den WertR o = 0,644, mit den Sterbeverhältnissen von 1970172 den Wert 0,674, und mit den Werten von 1978/80 errechnet sich ein R o = 3 Selbst wenn jede Frau genau wieder eine Mädchengeburt hätte, müssen die statistische und die biologische Bevölkerungsentwicklung in einem bestimmten Jahr nicht stets übereinstimmen. 4 Je jünger die Mütter bei Geburt ihrer Kinder, desto weniger Mädchengeburten sind notwendig, die Müttergeneration zu ersetzen, da mit zunehmendem Alter immer weniger Frauen überleben und Kinder gebären können. 2*
20
I. Kapitel: Demographische und demo-ökonomische Grundlagen GEBURTEN- UND STERBERATEN IN DEUTSCHLAND 1870-1981
log. Massstab 40
30
~
'",- -,
\,A.",,
Sterberate \""",
''''','-, ,,
20
Vo";
14
10
Sterberilte
1870
80
90
1900
10
20
30
50
40
60
70
80
Quelle: Bundestagsdrucksache 8/4437
Abb. 4 a
Summe der altersapezifiachen Fruchtbarkeitsraten
2500
2000
1500 Bundesrepublik
1950
55
60
65
Abb. 4 b
7~
1. Die Bevölkerungsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland
1.2
21
Nettoreproduktionsrate , Bundesrepublik Deutschland 1950-1981
1.1
0.9 0.8 0.7 0.6
Abb. 4 c
0,681. Angesichts der sinkenden Sterblichkeit der Frauen bis zum 45. Lebensjahr würden immer weniger Mädchengeburten ausreichen, ihre Müttergeneration zu ersetzen. Auch die in der offiziellen Statistik gebräuchlichen Maße der Sterbe- bzw. Überlebensverteilung sind fast ausschließlich Periodenmaße. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Bevölkerungsfragen wurde in den vergangenen Jahrhunderten vor allem von der Frage bestimmt, die Sterbe- oder Überlebenswahrscheinlichkeit einer Person oder Personengesamtheit ermitteln zu können, was in der Versicherungsmathematik ihre unmittelbare Anwendung fand. Die frühzeitige Antwort darauf war die Halleysche Sterbetafel mit Daten der Stadt Breslau aus den Jahren 1687 bis 1691, deren Grundkonzept bis zum heutigen Tage unverändert blieb: Im senkrechten Schnitt werden innerhalb eines Jahres alle SterbeHille nach Alter und Geschlecht registriert und je 100000 Personen dieses Geschlechts und dieser Altersgruppe angegeben (Spalte 2 in Tabelle 1). Verglichen mit der Gesamtbesetzung dieses Jahrgangs am Jahresbeginn ergibt sich die Sterbewahrscheinlichkeit (Spalte 3), umgerechnet auf je 100 000 vor x Jahren Geborenen dieses Geschlechts die Zahl der Überlebenden (Spalte 1). Aus der Kurve der Überlebenden je 100000 Personen im Alter x im Jahr 1980 (Abb. 5) kann unmittelbar die Lebenserwartung aller Altersgruppen abgelesen werden: Von jedem Zeitpunkt ab (z. B. dem 20. Lebensjahr) ist das Integral der Kurve vom 20. Lebensjahr bis zu dem Punkt, in dem die letzte Person stirbt, die Summe der von allen Zwanzigjährigen noch zu erlebenden Jahre. Geteilt durch die Anzahl der Personen ergibt sich die Lebenserwartung [4] einer zwanzigjährigen Frau unter den Sterblichkeitsverhältnissen von
22
1. Kapitel: Demographische und demo-ökonomische Grundlagen Überlebende
F,'-'-'
looooOi------~~~==~_____
80000
/
1/ I ./ I
60000
/
40000
zu erwartende Lebensjahre der Zwanzigjiihrigen
./
20000
10
~O
30
40
SO
60
70
GO
90
Abb.5
Tabelle 1: Ausschnitte aus der Sterbetafel der weiblichen Bevölkerung in Deutschland 1978/80
Alter
0 2 5 10 15 20 30 35 40 45
Überlebende im Alter x
Gestorbene von x bis
Sterbewahrscheinlichkeit
Lebenserwartung
III
l2]
l31
l4]
100000 98811 98716 98578 98445 98336 98093 97538 97146 96 588 95740
1189 95 138 133 109 243 261 392 558 848 1398
.01189 .00096 .00140 .00135 .00 III .00247 .00266 .00402 .00574 .00878 .01460
76,36 76,28 75,36 72,45 67,55 62,62 57,77 48,07 43,25 38,48 33,80
QuellederDaten: Statistisches Bundesamt, Fachserie 1, Bevölkerung und Erwerbstätigkeil, Rei-
he 2, Bevölkerungsbewegungen, 1980, S. 62.
1. Die Bevölkerungsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland
23
1980. In der Sterbeta/el (Tabelle 1) sind alle diese Informationen zusammengefaßt. Bereits in dieser verkürzten Darstellung wird das Grundproblem der obigen Interpretation schnell erkennbar: Es werden Aussagen der Art gemacht, wieviele Jahre ein heute 20jähriger Mann im Durchschnitt noch zu leben haben wird. Bekannt ist allerdings nur die Sterbewahrscheinlichkeit der heute 50-, 70- oder 80jährigen Männer. Wollen wir über die Lebenserwartung der heute Zwanzigjährigen aussagen, müßten wir die Sterbewahrscheinlichkeit der 50jährigen Männer in 30 Jahren kennen. Wieviele Männer im 50. Lebensjahr an einer bestimmten Krankheit (z. B. an Krebs) sterben, hängt aber unter anderem von ihrer bisherigen Lebensgeschichte ab. Man darf nicht erwarten, daß heute Zwanzigjährige mit 50 Jahren den gleichen Gesundheitszustand aufweisen werden, wie heute Fünfzigjährige, die u. a. in den 2. Weltkrieg und dessen Auswirkungen einbezogen waren. Wir wissen bereits, daß beide Altersgruppen in ihren ersten 20 Lebensjahren unterschiedliche Sterblichkeit hatten, so daß wir auch für die Zukunft Unterschiede annehmen dürfen. Das unausgesprochene Ziel bereits der bisherigen Fragestellungen war, Aussagen entlang der Lebenslinien zu gewinnen. Betrachtungen in dieser Ebene (z. B. entlang der Lebenslinie b in Abb. 6) nennt man Kohortenanalyse, wo der Lebenslauf einer Personengesamtheit (100 000 Männer oder Frauen bei der Sterbetafel, 1000 Frauen bei den Fruchtbarkeitsuntersuchungen) des gleichen Geburtsjahres 5 verfolgt wird. Es ist offenkundig, daß eine auf Kohorten daten beruhende Sterbetafel sich umso stärker von einer Periodentafel unterscheiden muß,je unterschiedlicher das Lebensschicksal der Generationen verläuft. 6 Für Länder wie Deutschland oder die Sowjetunion, deren Bevölkerung in bestimmten Altersgruppen von einem Krieg schwerwiegend betroffen wurde, muß es solche Unterschiede zwangsläufig geben. Weder die offizielle Statistik noch die wissenschaftliche Analyse in Deutschland sind auf diesen Unterschied bislang eingegangen. 1m engli5 Neben Kohorten von Geburtenjahrgängen werden in der Demographie häufig auch Heiratskohorten untersucht. Da im folgenden ausschließlich Geburtenkohorten betrachtet werden, kann der Zusatz (Geburten-)Kohorte entfallen. 6 Die Aussage Feichtingers (Bevölkerungsstatistik ... , S. 71), die praktisch unverändert von J. Schmid, Einführung in die Bevölkerungssoziologie, Hamburg 1976, S. 37 übernommen wurde, daß die Kohortensterbetafeln für prognostische Zwecke ungeeignet seien (im Vergleich zu Periodentafeln?), dürfte auf einem Mißverständnis beruhen. In neueren Veröffentlichungen Feichtingers (Demographische Analyse und populationsdynamische Modelle, Wien und New York 1979) wird der Kohortenapproach positiv gewertet und weitaus stärker betont.
24
1. Kapitel: Demographische und demo-ökonomische Grundlagen
Abb.6
schen Sprachraum wurde diese Trennung frühzeitig betont 7 und vergleichende Daten ermittelt 8,9. Ein beträchtlicher Teil der Veränderungen in den Sterbetafeln zwischen 1950 und 1980 in Deutschland dürfte auf die Unterschiede zwischen Kohorten- und Perioden daten zurückgehen 10. Auch wenn die Anforderungen an das Datenmaterial relativ groß sind, sollte es auch für Deutschland möglich sein, die der Fragestellung besser entsprechenden Kohortensterbetafeln wenigstens retrospektiv zu berechnen 11. Das Prinzip der Kohortenanalyse, die in vielen Bereichen der Sozialwissenschaften verbreitet ist l2 , ist für die Analyse der Fertilität noch wichtiger als im Fall der Sterbetafeln, wo die Differenz zur Periodenbetrachtung zwar einleuchtend, empirisch aber vergleichsweise unbedeutend ist. Kohortenanalysen der Fruchtbarkeitsentwicklung wurden in den USA besonders 7 Ein Überblick über die englischsprachige Literatur findet sich bei J. Hobcraft, J. Menken und S. Preston, Age, Period, and Cohort Effects in Demography: A Review, in: Population Index, Vol. 48, 1982, S. 4-43. 8 Siehe dazu beispielsweise L. 1. Dublin und M. Spiegelman, Current Versus Generation Life Tables, in: Human Biology, Vol. 13, 1941, S. 439-458. 9 Die Abweichung zwischen Perioden- und Kohortendaten kann über Jahrhunderte hinweg anhand historischer Aufzeichnungen über englische Adlige demonstriert werden. Zur illustrativen Darstellung siehe beispielsweise E. Hutchinson, Introduction to Population Ecology, New Haven und London, 1978, bes. S. 47 ff. 10 Bei der Berechnung von Versicherungsprämien muß naturgemäß die Differenz zwischen Kohorten- und Periodenbetrachtung wichtig werden, so daß in der Versicherungswirtschaft Kohortentafeln errechnet werden. Siehe dazu beispielsweise F. Rueff, Ableitungen von Sterbetafeln für die Rentenversicherung und sonstige Versicherungen mit Erlebensfallcharakter, Würzburg 1955. II Unter bestimmten Voraussetzungen können Kohortensterbetafeln aus Periodentafeln gewonnen werden. Siehe dazu J. P. Eng, A Mathematical Model Relating Co hort and Period Mortality, in: Demography, Vol. 17, 1980, S. 115-127 oder F. Rueff, Ableitungen ... , S. 18 f. 12 Als Überblick über verschiedene Anwendungsformen siehe D. W. Hastings und L. G. Berry, Hrsg., Co hort Analysis: A. Collection ofInterdisciplinary Readings, Oxford/Ohio, 1979.
1. Die Bevölkerungsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland
25
durch Ryder 13 und Whelpton 14 propagiert und haben sich in der Zwischenzeit soweit durchgesetzt, daß für die USA weit zurückreichende Kohortendaten für die einzelnen Paritätsstufen (1., 2.,3. und weitere Kinder) gesammelt wurden 15, die als Datenbasen für fast alle wissenschaftlichen Fertilitätsstudien dienen. In Deutschland wurde die Kohortenanalyse zwar von Jacoby 16 diskutiert, für konkrete Fragestellungen aber bislang nur von Glaab 17 eingesetzt. 1m folgenden Abschnitt werden - soweit dies möglich ist - Kohortendaten für die einzelnen Altersjahrgänge in der Bundesrepublik Deutschland konstruiert und die jüngere Bevölkerungsgeschichte unter diesem Blickwinkel interpretiert. Die Ergebnisse dieser Überlegungen stehen mindestens zum Teil im Widerspruch zur "herrschenden" Lehrmeinung in Deutschland und vermitteln zugleich ein Bild über die Plausibilität verschiedener Zukunftsbilder, was das eigentliche Anliegen dieses Kapitels ist. 1.2. Eine Kohortenanalyse der deutschen Nachkriegsgeburtenentwicklung
Die deutsche Bevölkerung durchlief während der lezten Jahrzehnte zwei scheinbar völlig unterschiedliche Phasen, den sogenannten "Babyboom" zwischen 1960 und 1968 und den seither eingetretenen Geburtenrückgang. Beide Entwicklungen haben das öffentliche Bewußtsein stark und unterschiedlich geprägt, obwohl sie - wie wir im folgenden zu zeigen versuchen - allzu leicht ein falsches Bild vermitteln. In den Geburtenraten (Abb. 4a), den altersspezifischen Fruchtbarkeitsraten (Abb. 4b) und in der Nettoreproduktionsrate (Abb. 4c) sind die zyklischen Schwankungen deutlich erkennbar. Mit Blick auf die über Eins liegende Nettoreproduktionsrate wurde in der Zeit um und nach 1960 übereinstimmend eine biologisch wachsende Bevöl13 N. B. Ryder, The Cohort Approach, Diss. 1951, reprinted New York 1980; ders., The Cohort as a Concept ofSocial Change, in: American Sociological Review, Vol. 30, 1965, S. 843-861 oder ders., Components of Temporal Variations in American Fertility, in: R. W. Hiorns, Hrsg., Demographie Pattern in Developed Societies, London, S. 15-54. 14 P. K. Whelpton, Cohort Fertility: Native White Women in the US, Princeton
1954.
15 National Center for Health Statistics, Fertility Tables for Birth Cohorts by Color: United States 1917-1973, Rockville, Md., 1976. 16 E. G. Jacoby, Kohortenanalyse, insbesondere als Mittel zur Messung der Fruchtbarkeit, in: Allgemeines Statistisches Archiv, Jg. 42, 1958, S. 21-28. 17 P. Glaab, Die Vorausschätzung der Fruchtbarkeit anhand von Kohortenextrapolationen, in: Allgemeines Statistisches Archiv, Bd. 60, 1976, S. 415-433.
26
1. Kapitel: Demographische und demo-ökonomische Grundlagen
kerung angenommen 18. In analoger Weise wird der seit 1968 eingetretene Geburtenrückgang als "Umbruch enormen Ausmaßes im generativen Verhalten" 19 interpretiert und ein biologisches Schrumpfen der Bevölkerung konstatiert. Anzunehmen, das generative Verhalten habe sich innerhalb weniger Jahre so entscheidend verändert, heißt immerhin, zwei grundverschiedene Aussagen zu machen über doch weitgehend übereinstimmende Grundgesamtheiten. Die im Jahr 1968 25jährigen Frauen beispielsweise waren 1975 erst 33 Jahre alt, und die in der Zwischenzeit neu eingetretenen Jahrgänge können den Rückgang der Fertilität alleine nicht verursacht haben. Fragestellungen dieser Art lassen sich mit der Kohortenanalyse sinnvoll untersuchen. Der einzige Nachteil dieser Methode ist, daß endgültige Aussagen nur für solche Jahrgänge möglich sind, die ihre aktiv reproduktive Lebensphase bereits abgeschlossen haben und deshalb oft nicht mehr interessant sind. Die Diskrepanz zwischen Perioden- und Kohortenfertilität wird vor allem durch Ryder 20 seit langem betont. Die unveränderte Konzentration gerade der deutschen offiziellen Bevölkerungsstatistik (bespielsweise bei langfristigen Vorausschätzungen der Bevölkerung) auf Querschnittsdaten ist aus diesem Grund überraschend, führt aber dazu, daß exakte Kohortendaten für Deutschland bis heute nicht existieren. Um die Fertilität der aktiven Kohorten in Deutschland zu messen, wird eine Hilfsmethode gewählt: In der offiziellen Statistik werden jährlich die altersspezifischen Fruchtbarkeitsraten j~, t gemessen, das heißt, wir wissen, wieviele Kinder 1000 Frauen des Jahrgangs 1940 im Jahr 1970 hatten. Wir kennen auch die entsprechenden Zahlen dieses Jahrgangs in den Jahren vorher und nachher. Durch eine Umstellung der Querschnitts- auf Längsschnittsdaten werden einer Kohorte sehr nahe verwandte Reihen gewonnen, die sich von einer "echten" Kohortenanalyse durch zwei Faktoren unterscheiden: Eine echte Kohorte beginnt mit einem Ausgangsbestand von 1000 Frauen (geboren im Jahr x), der sich durch Sterbefalle und Abwanderungen bis zum 45. Lebensjahr auf vielleicht 900 bis 950 Frauen verringert. Die 18 Als Beispiel für damals vorherrschende optimistische Prognosen siehe D. Freudenberg, Quantitative Betrachtung des generativen Prozesses, in: Die ökonomischen Grundlagen der Familie in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung. Schriften der Gesellschaft für Sozialen Fortschritt e.V., Bd. 12, Berlin 1960, S. 104-127. 19 So etwa G. R. Rückert, Gesellschaftliche Ursachen des Bevölkerungsrückgangs, in: Bevölkerungsentwicklung und Kommunalpolitik, hrsg. von M. Buse, Baden-Baden 1979, S. 63 oder K. M. Bolte, D. Kappe und J. Schmid, Bevölkerung ... , S. 57 ff. 20 Siehe besonders N. Ryder, The Process ofDemographic Translation, in: Demography, Vol. 1,1964, S. 74-82.
1. Die Bevölkerungsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland
27
Querschnittsdaten messen jeweils 1000 Frauen einer Altersstufe, womit die Kohortenfertilität leicht überschätzt wird. Stünden Kohortensterbetafeln zur Verfügung, könnte diese Überschätzung bereinigt werden, soweit sie auf der Sterblichkeit beruht. Schwerwiegender ist ein zweiter Punkt: Die Bundesrepublik war in der Nachkriegszeit faktisch ein Einwanderungsland, da zuerst mehrere Millionen Menschen aus dem Osten und seit 1960 mehrere Millionen ausländischer Arbeitnehmer zugewandert sind. Dies wirkt sich darin aus, daß z. B. der Bestand an Frauen des Jahrgangs 1951 im Jahr 1981 nicht wie der Sterbetafel entsprechend 97,538 Prozent der weiblichen Geburten des Jahres 1951 ist, sondern deutlich darüber liegt. Es fand eine über die Abwanderungen hinausgehende Nettozuwanderung statt. Für unsere Analyse ist dies deshalb relativ schwerwiegend, weil die (schwergewichtig in den Jahrgängen 1948-1960) zugewanderten Frauen aus Italien, Spanien, Portugal, Jugoslawien, Griechenland und der Türkei ein deutlich unterschiedliches Fertilitätsverhalten hatten und haben. Auch wenn gesonderte Kohortendaten für zugewanderte Frauen (jedenfalls nach den veröffentlichten Daten) nicht zu ermitteln sind, wollen wir diesen Aspekt wenigstens insoweit einbeziehen, als wir in einem eigenen kurzen Abschnitt die Fertilität der ausländischen Frauen in Deutschland betrachten. In Tabelle 2 sind alle verfügbaren Daten nach Kohorten zusammengestellt. Dabei wurden die Werte für 1948 und 1949 durch eigene Berechnungen eingefügt: 21 Die Werte von Tabelle 2 erbringen kumuliert in Abb. 7 ein vollständiges Bild des endgültigen Geburtenertrags der Kohorten bis 1936 und ein fast vollständiges Bild bis etwa der Kohorte 1941 (40jährig in 1981). Ergänzend zu den selbst errechneten Werten wurden die in der Bundestagsdrucksache 8/4437 (Tabelle 10, S. 66) aufgelisteten Durchschnittswerte der Kohortenfertilität früherer Altersjahrgänge aufgenommen. Die dort (ohne Angabe der Quellen oder Berechnungsgrundlage) angegebenen Werte erscheinen allerdings außerordentlich niedrig, verglichen etwa mit den vom Statistischen Bundesamt für frühere Ehen gemessenen Zahlen 22 . Danach hatten Ehen, die 1950 insgesamt 26 (oder mehr) Jahre bestanden, durchschnittlich 2,61 Kinder, was deutlich höher liegt als die obigen Werte für die Geburtenko21 Für diese Jahre sind zwar die Kinderzahlen aller Altersstufen bekannt, nicht aber die genauere Besetzung der Frauenjahrgänge, die erst 1950 in einer Volkszählung ermittelt wurden. Dabei wurden die in der offiziellen Statistik verfügbaren Zahlen über die Altersstruktur der Flüchtlinge benutzt, um die Besetzung der Altersgruppen 1948 und 1949 aus der Volkszählung 1950 zurückzurechnen. 22 Statistisches Bundesamt, Statistik der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 35, o. J.
1927
1928
1929
1932
1933
.2 2.2 9.6 26.1 51.1 76.0 102.2 130.9 147.8 163.6 170.1 170.0 161.7 155.1 143.6 127.6 112.6 95.6 79.0 65.3
1934 1935
.2* .3* 2.1* 2.0* 2.3 8.4* 9.4* 10.2 10.1 22.5* 24.8* 27.5 28.8 27.6 47.7* 50.4 54.4 54.3 51.6 74.6 79.9 80.6 80.0 78.8 96.6 99.4 98.7 101.7 98.4 113.9 115.2 118.7 119.3 124.3 125.4 129.8 130.7 139.4 147.5 135.3 138.2 146.3 158.1 158.8 140.1 150.0 160.9 163.1 168.3 146.8 160.3 159.0 168.2 167.4 151.2 156.1 160.2 161.4 165.0 143.7 151.6 150.5 155.4 152.9 138.4 141.1 142.4 140.8 143.9 125.8 128.1 127.8 131.8 131J 113.6 114.1 117.4 118.2 113.7 98.9 103.8 104.8 101.7 99.8 89.5 92.2 89.3 89.1 85.0 78.9 77.1 76.6 75.2 70.9
1930 1931 .3 2.1 9.4 25.3 52.5 82.0 105.5 134.7 152.0 168.5 170.8 174.4 167.7 153.0 140.0 122.7 103.6 85.5 65.5 53.3
.3
1.9 9.1 26.0 49.8 78.7 106.6 129.6 151.2 162.8 171.6 169.8 166.5 155.4 138.9 126.2 108.7 91.1 75.1 57.6
1937
1936 2.1 8.8 26.5 53.5 79.6 109.9 132.8 158.7 168.9 176.8 175.0 163.2 152.9 135.8 116.4 96.4 75.0 61J 46.7
.3
1938 .4 .4 2.0 2.3 9.3 10.8 27.9 28.1 52.3 57.0 84.2 8.6.7 110.2120.0 141.6143.3 159.6 163.3 172.8 1737 176.8171.7 170.7 169.0 163.0 156.0 147.5 138.4 129.0 166.9 107.8 94.1 85.3 78.2 69.1 61.2 54.2 46.8 41.2 38.8
.5 2.4 10.2 30.5 58.8 92.9 117.5 146.5 163.2 167.4 170.9 162.2 146.3 125.0 103.4 88.5 69.8 54.6 45.1 36.8
1939 1940 1941 .5 2.7 12.0 32.5 618 93.1 122.7 147.4 158.3 167.8 164.1 151.9 131.2 110.9 97.2 79.3 63.6 5J7 45.0 37.3
1942 .5 2.9 13.7 36.9 66.4 99.4 126.1 148.6 162.5 164.3 153.7 137.1 118.1 106.3 89.0 72.9 63.1 52.5 45.1 36.0
1943 .7 3.8 16.8 39.7 74.0 106.1 131.5 155.2 163.0 155.0 139.2 122.7 112.2 96.0 80.4 71.5 61.9 53.5 43.0 35.2
1944 .8 5.0 18.9 46.6 82.6 113.1 141.0 159.8 156.3 138.6 125.3 118.9 102.8 88.5 80.9 72.8 63.5 53.1 45.1 37.6
1945
58.4 49.6 39.4 31.0 23.4 16.9 11.2 6.8 3.8
58.3 47.3 38.7 29.8 22.8 16.1 10.5 6.7 3.2
56.8 46.9 37.4 29.3 21.0 14.9 9.9 5.8 3.0
56.4 45.0 36.2 27.6 19.7 14.1 8.5 5.1 2.7
55.3 44.6 35.2 25.5 18.8 12.6 7.7 4.7 2.4
53.6 32.3 32.5 24.5 17.0 11.1 7.1 4.1 2.4
2.0
17
50.4 39.0 29.9 21.7 14.9 9.9 6.3
5.2 3.1 1.5
8.3
44.5 35.0 25.1 18.4 12.8
40.4 29.9 21.2 15.5 10.7 7.3 4.4 2.6 IJ
34.6 26.0 19.1 14.0 9.6 6.3 3.9 2.2 I.J 2.2
J4
30.5 23.3 16.8 13.0 8.7 5.4 3.5
5.3
27.7 21.0 16.2 11.4 7.8
25.5 24.2 19.6 18.4 14.4 115 IOJ 10.2 7.3 7.5 5.0
22.5 17.2 13.2 10.1 14.7
IRO
22.9
22.8 19.1
24.7
.9 5.0 20.3 49.8 86.2 124.2 149.0 158.3 144.9 130.9 126.0 110.2 97.7 92.3 82.0 75.4 64.2 53.9 45.6 39.4
1946 1.0 5.2 21.0 50.9 91.0 125.3 145.7 142.9 132.5 127.0 115.0 103.9 1(0.1 92.3 86.9 75.3 65.1 65.2 48.9
1947 .9 5.2 20.8 52.5 91.9 1213 133.8 130.3 127.0 116.6 107.6 106.9 100.4 96.0 87.2 78.0 68.5 60.8
1948 .9 5.3 22.8 56.8 91.0 118.0 122.7 125.2 115.5 107.3 110.1 107.5 105.2 96.3 89.1 80.9 72.7
1949 .9 5.5 21.8 54.0 90.5 109.8 115.5 110.2 105.9 110.3 110.3 111.2 105.0 98.0 91J 85.8
.9 5.3 22.8 56.8 89.7 102.6 99.8 96.5 1038 104.7 109.2 107.4 102.9 99.2 94.7
1950 1951 .9 5.5 24.5 56.6 84.5 88.8 87.1 94.7 99.3 107.2 106.7 107.5 104.9 105.0
1952
1954 1.4 7.8 22.8 39.8 52.0 65.7 74.5 82.5 91.2 104.7
1955 1956
1.0 1.0 1.2 5.9 6.8 7.8 26.2 28.0 26.9 57.7 51.0 43.7 73.3 61.7 58.6 75.8 71.6 67.1 84.7 77.3 79.1 90.7 89.1 86.1 99.6 93.3 93.6 102.5 99.1 99.5 105.2 105.0 111.1 107.2 112.5 109.8
1953 7.2 20.8 33.6 49.8 59.7 69.0 78.6 93.6
1.5
1957
1.5 6.5 16.9 30.6 45.3 56.6 66.5 81.7
1958
Quelle: div. Statistische Jahrbücher. Die mit * versehenen Werte wurden errechnet aus den im Stal. Jahrbuch 1952 angegebenen Geburtenzahlen 1948 und 1949 unter Berücksichtigung der 1950 gemessenen Alterszusammensetzung sowie Annahmen über die Zuwanderung von Flüchllingsjahrgängen.
36 37 38 39 40 41 42 43 44 45
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15 16 17 18 19 44.7* 20 69.0* 72.5* 21 90.8* 91.8* 92.2 22 108.5*106.3 110.2 23 115.9 120.0 123.0 24 125.6 129.0 129.3 25 131.2 133.7 137.8 26 132.6 137.4 139.2 27 133.3 135.9 143.8 28 130.8 137.2 144.4 29 130.2 134.8 135.8 30 124.8 123.5 125.9 31 112.8 114.5 115.9 32 103.2 102.6 101.9 33 90.6 89.2 88.3 34 78.9 76.6 78.5
Alter
Tabelle 2 Fruchtbarkeit der Alterskohorten
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Abb. 24 b
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Abb. 24 c
Einkommen und Fruchtbarkeit ergeben 194,195, die über längere Zeit von exogenen Einflüssen überlagert war. Nach allem, was bislang vorgetragen wurde, sollte die Bundesrepublik einer der wenigen geeigneten Fälle für eine Untersuchung sein: Die tatsächliche Geburtenrate hat sich weitgehend an die gewünschte angepaßt und der Mangel an sozialen Schichtungskriterien insgesamt zeigt, welch hohes Maß an Homogenität im Sozialverhalten erreicht wurde. Die Bundesrepublik dürfte einer der ersten Staaten sein, die praktisch die demographischen Übergänge endgültig durchlaufen haben. Bei der Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Familieneinkommen 196 und Kinderzahl ergibt sich für die letzten Jahrzehnte in Deutschland eine Veränderung des lange gewohnten Bildes: Die höchsten und die niedrigsten Einkommen haben im Durchschnitt höhere Kinderzahlen, so daß häufig von U-förmigen Beziehungen 197 oder von einer "Umkehrung früherer Verhältnisse"198 gesprochen wird. In Wirklichkeit ist damit allerdings noch nicht die in Abb. 24c dargestellte These bestätigt. Eine Korrelation zwi194 In einem prognostischen Sinn äuBerte sich so vor etwa zwanzig Jahren G. Makkenroth, Bevölkerungslehre ... , S. 278 f. 195 Eine - wenn auch vorsichtige - Unterstützung der These, daB sich nach Abschluß der demographischen Übergänge eine positive Beziehung zwischen Einkommen und Geburtenrate ergeben könnte, bietet R. Freedman, Artikel: Fertility, in: International Encyclopedia of the Social Sciences, Bd. 5, S. 379. 196 Da das Familieneinkommen seinerseits von der Kinderzahl abhängt (die Erwerbstätigkeit der Mutter wird von der Kinderzahl beeinflu13t), ist im Grunde eine Beschränkung nur auf das Einkommen des Vaters nötig. So etwa J. L. Simon, The Economics of Population Growth, Princeton 1977, S. 314. 197 Siehe U. Roppel, Die Geburtenentwicklung ... , S. 112. 198 Dritter Familienbericht ... , S. 110.
2. Die ökonomische Analyse der Fruchtbarkeit
115
sehen Einkommen und Kinderzahl in dieser einfachen Form ist irreführend: Kinderlos sind in der Regel junge· Einkommensbezieher mit (noch) relativ niedrigem Einkommen. Das Durchschnittsalter von Eltern mit drei Kindern ist höher als das Durchschnittsalter von Eltern mit einem Kind, da die Geburt von zweiten und dritten Kindern Zeit braucht. Sobald die Einkommen wie in Deutschland mit dem Lebensalter korreliert sind, wird in der Beziehung zwischen Kinderzahl und Familieneinkommen nur der Einfluß einer nicht kontrollierten dritten Größe (des Alters) gemessen. Selbst bei einer Kontrolle des Alters haben Monats- oder Jahreseinkommen 199 entscheidende Schwächen: Es ist für die uns interessierende Frage ein wichtiger Unterschied, ob man als Referendar ein Einkommen von 1.000,- DM erhält oder als gleichaltriger ungelernter Arbeiter, der auch für alle Zukunft ein nicht wesentlich höheres Einkommen erwarten darf. Die Einkommen im Geburtsjahr eines Kindes sind im Durchschnitt weniger differenziert als die späteren Lebensverhältnisse und die zu erwartenden Lebenseinkommen. Solange die Eltern bei der Entscheidung über die Kinderzahl sehr langfristig planen (müssen), sollte als Einkommensgröße nur das zum Zeitpunkt der Entscheidung erwartete Lebenseinkommen verwendet werden. Diese einzig relevante Einkommensgröße kann überhaupt nur dann statistisch angenähert werden, wenn die Erwartungen der Eltern nicht zu sehr von dem abweichen, was sie zum Beobachtungszeitpunkt tatsächlich erhalten. Auch dann bleibt allerdings noch die gesamte Problematik der statistischen Lebenseinkommensberechnung 2oo . Ein Ersatz für nicht vorhandene Lebenseinkommensdaten könnten die "relativen" Einkommen sein, wie sie von Freedman verwendet wurden. Dabei wird das individuelle Einkommen verglichen mit dem anderer Einkommensbezieher gleichen Alters, Wohnorts und Ausbildung. Ist das "relative" Einkommen unterdurchschnittlich, kann auch ein unterdurchschnittliches 199 Wie wenig die statistisch gemessenen Einkommen (vielleicht gar auf dem steuerlichen Einkommensbegriffbasierend) für die tatsächlichen Lebensverhältnisse aussagen, kann an der für unsere Frage so wichtigen Gruppe der Landwirte ermessen werden. Landwirte haben auch heute noch als Gruppe die höchste Fruchtbarkeit. Verwendet man bei ihnen das steuerliche Einkommen, fallen sie unter die niedrigen Einkommen. Unter Berücksichtigung der tatsächlichen Vermögens- oder Lebensverhältnisse müßten sie weitaus höher eingestuft werden und würden die Ergebnisse stark verändern. 200 Für die Bundesrepublik liegen Lebenseinkommensberechnungen von G. Weißhuhn (Sozioökonomische Analysen von Bildung- und Ausbildungsaktivitäten, Berlin 1977) vor: Er ordnet die Jahreseinkommen nach Ausbildungsniveau und Durchschnittseinkommen, setzt die durchschnittliche Dauer der Erwerbstätigkeit und das durchschnittliche Eintrittsalter in das Erwerbsleben ein und ermittelt daraus "statische" und "dynamische" Lebenseinkommen. 8*
116
1. Kapitel: Demographische und demo-ökonomische Grundlagen
Lebenseinkommen erwartet werden 20I . Bei Verwendung des so ermittelten relativen Einkommens erhält Freedman 202 eine positive Korrelation mit der Fruchtbarkeit. Bei einem Vergleich der zahlreichen empirischen Testversuche 203 wird schnell deutlich, daß die Ergebnisse stark davon abhängen, welcher Einkommensbegriffverwendet und welche Fruchtbarkeit (Geburtenrate, Fruchtbarkeitsraten oder Kohortenfertilität) gemessen wurde. Wichtig für die Ergebnisse ist auch, welche zusätzlichen Erklärungsfaktoren in die Bestimmungsgleichung mit aufgenommen werden. Dabei erweist sich aus statistischer Sicht die Variable Bildung (meistens gemessen mit der Anzahl der Schuljahre für Mann oder Frau) als am deutlichsten signifikant. Faßt man die Ergebnisse der Meßversuche zusammen 204 , so läßt sich schlußfolgern: Unter Einbeziehung der Variable "Bildung", die durchwegs negativ mit der wie auch immer gemessenen Fruchtbarkeit korreliert ist, nimmt die Variable "Einkommen" im Normalfall ein positives Vorzeichen an. Dem theoretischen ökonomischen Modell entspricht es, zusätzlich zur Variable Einkommen noch den Lohnsatz für Frauen als Element des Schattenpreises von Kindern in die Bestimmungsgleichung aufzunehmen. Der Lohnsatz für Frauen ist (wie die Bildung, mit der er sehr eng verknüpft ist) durchwegs negativ korreliert mit der Kinderzahl, so daß sich die Ergebnisse des theoretischen Modells (ein negativer Preiseffekt und ein positiver Einkommenseffekt) in den empirischen Tests durchaus wiederfinden. Unabhängig davon, daß die statistischen Prüfmaße im Normalfall schwach und der Anteil der erklärten Varianz gering ist, müssen die empirischen Tests insgesamt vorsichtig beurteilt werden. Variablen wie Bildung oder Lohnsatz können zwar im theoretischen Modell als Element des Schat201 Gleichzeitig wird bei der Verwendung dieser GröBe ein Aspekt betont, der in der Konsumtheorie groBes Gewicht hat: Ein Arbeiter vergleicht seine Lage nicht etwa mit einem Facharzt, mit dem er in aller Regel keinen Kontakt hat. Er vergleicht sein Einkommen im Normalfall mit dem seiner Kollegen; bezieht er in Relation dazu ein hohes Einkommen, wird dies seine Entscheidung stärker beeinflussen als es seine absolute Einkommenshöhe ausdrückt. 202 D. Freedman, The Relation of Economic Status to Fertility, in: AER, Vol. 53, 1963, S. 417 ff. Die Größe "relatives Einkommen" erweist sich dabei dem nominellen Einkommen als Erklärungsfaktor deutlich überlegen. 203 Als Überblick siehe etwa 1. L. Simon, The Economics ... , S. 329 Ir.; F. Fulop, The Empirical Evidence from the Fertility Demand Functions: A Review ol'the Literature, in: American Economist, Vol. 21,1977, S. 12-22 oder P. Schultz, Determinants of Fertility: A Micro-Economic Model 01' Choice, in: A. J. eoale, Hrsg., Economic Factors in Population Growth, London 1976, S. 89-124, bes. S. 116 ff. 204 Siehe P. Schultz, Determinants ... , Tabelle 40, S. 122.
2. Die ökonomische Analyse der Fruchtbarkeit
117
tenpreises begründet werden. In der Realität aber ist die Gefahr groß, daß sie ganz andere Zusammenhänge reflektieren, wie die Zugehörigkeit zu sozialen Schichten oder die vorne betonte Einstellung gegenüber der Kontrazeption. Insgesamt ist ein Großteil der Untersuchungen unter Verwendung von Daten durchgeführt worden 205 , bei denen (aus der Sicht des ökonomischen Modells) exogene Einflüsse nicht kontrolliert wurden. Deshalb kann manche der vorgenommenen empirischen Überprüfungen in Wirklichkeit eher das soziologische Modell mit seiner Betonung von Schichtungsfaktoren wie Bildung, Rasse, Größe des Wohnorts etc. bestätigt haben. Wir hatten vorne betont, daß in der Momentaufnahme sicherlich viele Abweichungen vom Rationalmodell zu erwarten sind. Das ökonomische Modell der Fertilitätserklärung erhält sein eigentliches Gewicht deshalb in längerfristiger Betrachtung, da Normen oder soziale Bildungen zwar kurzfristig dominieren, langfristig aber mit rationalen Elementen interagieren. Aus diesem Grund müssen die Ergebnisse der Querschnittsanalysen bei genauer Betrachtung weder für noch gegen das Rationalmodell der Geburtenentscheidung sprechen.
2.5. Zusammenfassung
Im Verlauf der bisherigen Argumentation hatten wir bereits betont, daß der ökonomische Ansatz der Fruchtbarkeitserklärung sich nicht durch eine Beschränkung auf finanzielle Bestimmungsfaktoren auszeichnet. Die entscheidende intervenierende Variable ist die knappe und unvermehrbare Zeit. Soll die Entwicklung der Fruchtbarkeit erklärt werden, muß auf eine Theorie der Zeitallokation aufgebaut werden. Da nicht nur die Einkommenserzielung, sondern auch der Konsum und die Kinder Zeitaufwand benötigen, kann man vereinfacht von einer Dichotomie zwischen Einkommen und Zeit ausgehen: Je höher das Einkommen, desto knapper und teurer ist in aller Regel der Input Zeit. Dies gilt auch dann, wenn man einem Haushalt finanzielle Transferleistungen (etwa einen Familienlastenausgleich) zukommen läßt. Das erhöhte Einkommen beschneidet, wenn es in Form von Konsum verwendet werden soll, die verfügbare Zeit und verteuert die Beschäftigung mit Kindern. Da Kinder zeitintensiv sind, steigt ihr Schattenpreis mit der Verbesserung der finanziellen Ausstattung 205 Für eine sinnvolle empirische Überprüfung des Zusammenhangs zwischen Einkommen und Fruchtbarkeit in der Bundesrepublik fehlen bislang sowohl die Daten für die Fruchtbarkeits-, aber auch für die Einkommensentwicklung in der benötigten Ausführlichkeit.
118
1. Kapitel: Demographische und demo-ökonomische Grundlagen
und die Eltern versuchen zeitintensive durch andere Nutzenbestandteile zu ersetzen 206. Für das Zeitkalkül im Zusammenhang mit der Kinderpflege gelten kurzund langfristig grundsätzlich verschiedene Überlegungen. Kurzfristig, d. h. in der Entscheidung eines jung verheirateten Paares sind vor allem Kleinkinder bis zur Schulreife extrem zeitintensiv. Sie verlangen mindestens von einem der Ehepartner intensive Beschäftigung und erzwingen eine Neuallokation aller Tätigkeiten im Haushalt. Dabei hatten wir erkannt, daß als Konsequenz davon der Konsum von Marktgütern sogar kurzzeitig absolut sinken kann und daß der Preis eines zweiten und weiteren Kindes wesentlich davon abhängt, wie alt die bereits vorhandenen Kinder sind. Ihr langfristiger, d. h. lebenslanger Sicht, zu der auch die Periode des Alters gehört, wird die kurzfristig so extreme Zeitknappheit gelockert und im Alter tendenziell durch einen Überschuß an Zeit abgelöst. Die Beschäftigung mit Kindern (oder Enkeln), die auch im Alter für die Eltern noch nutzenspendend ist, stellt sich aus dieser Perspektive völlig anders dar: Im Rückblick könnte man nicht viel genug Kinder haben, die im Lebensabend oft genug die einzige oder eine der ganz wenigen nutzenspendenden Elemente sind. Folglich ist das Gewicht, das Kinder in der Nutzenfunktion der Eltern haben, auch eine Frage der Zeitpräjerenzrate. Je kürzer die einbezogene Zeit, desto weniger Gewicht dürften Kinder in der Nutzenfunktion potentieller Eltern haben und desto höher ist ihr impliziter Preis. Im Hinblick auf das Einkommen oder die Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen Schichten unterscheidet sich systematisch die Bedeutung von Zeitund Einkommensrestriktion. Bei niedrigen Einkommen ist im Normalfall die Einkommensrestriktion wirksam, d. h. die Zeit ist weniger knapp und der Schattenpreis nahe Null. Je höher die Einkommen, und dies gilt unter den sozialen Bedingungen in der Bundesrepublik bereits für die durchschnittlichen Einkommen, desto wirksamer wird die Zeitrestriktion. Da die Restriktionen limitational wirken, verliert das Einkommen für die Bestimmung der Familiengröße stark an Bedeutung. Der säkulare Geburtenrückgang, der sich in Deutschland seit 1914 zeigt, kann auch mit der Veränderung in der Zeitallokation der Haushalte erklärt werden: Die Zeit der Hausfrauen um die Jahrhundertwende war durch Tätigkeit innerhalb des Hauses fast vollständig gebunden und Kinder kosteten folglich, da der direkte Zeitaufwand als Kuppelprodukt 207 relativ gering war, 206 Kinder kann man zwar nicht verkaufen, aber man kann mit einem vorhandenen Kind darauf verzichten, ein zweites ursprünglich geplantes Kind zu realisieren. 207 Dies könnte ein Grund dafür sein, warum in landwirtschaftlichen Familien die Fruchtbarkeit relativ hoch ist: Der Arbeitsplatz der Mutter ist gleichzeitig ein Ort, wo
2. Die ökonomische Analyse der Fruchtbarkeit
119
praktisch keine Zeit und waren damit im "Preis" auf die direkten Kostenelemente wie Ernährung etc. beschränkt. Gleichzeitig stand der Mutter keine oder nur schlecht entlohnte Beschäftigungsmöglichkeit zur Verfügung. Mit der Reduktion und Mechanisierung der Hausarbeit wurde die Zeit auch im Haushalt ein knappes Gut und die Frau zur vollwertigen Konsumeinheit. Dieser Umstand ist ein Aspekt dessen, was man umgangssprachlich als Emanzipation bezeichnet. Die ökonomische Konsequenz ist, daß auch die Zeit der Frau einen Preis erhielt und Kinder jetzt wesentlich "teurer" wurden 208 , da immer weniger Überschußzeit verfügbar war. Die vorgetragenen ökonomischen Überlegungen zum "Preis" von Kindern stellen eine Grundlage dar für die Behandlung der Frage, ob und wie der Staat mittels Transfers (dem sogenannten Familienlastenausgleich) die Eltern unterstützen soll. Bevor diese Frage in Angriff genommen werden kann, muß allerdings zuerst geklärt werden, welche Ziele staatlichen Handelns es im Hinblick auf den Bevölkerungsrückgang überhaupt geben kann oder soll.
sie Kinder aufziehen kann, so daß ihr keine Neuallokation der Zeit aufgezwungen wird. Zudem ist die landwirtschaftliche Erwerbstätigkeit überdurchschnittlich zeitintensiv und das Konsumelement unterentwickelt. 208 Der Umstand, daß auch eine Frau erwerbstätig sein und Freizeit oder Urlaub wie ihr Mann genießen will und eine Aufteilung der Aufgaben im Haushalt erwartet, ging natürlich insoweit zulasten der Kinderzahl, als unter den neuen Umständen eine angemessen erscheinende Betreuung von Kindern nur mehr bei einer geringen Zahl von Kindern möglich erscheint. Man kann dabei, obwohl eine Messung kaum möglich sein dürfte, davon ausgehen, daß sich der Betreuungsaufwand und die -qualität stark erhöht haben dürften. Dies war ja auch der Ausgangspunkt des Chicago-Approach, Kinderquantität durch -qualität zu ersetzen.
Zweites Kapitel
Bevölkerungs- oder Familienpolitik mit finanz politischen Instrumenten "Die Herren Parlamentarier haben allerdings nicht viel Zeit, über volkswirtschaftliche Zusammenhänge nachzudenken. Ihre Sorgen gehören Tag und Nacht der einen Frage: Wie sagen wir es unseren Kindern, den Herren Wählern? Wir müssen uns aber klar darüber sein, daß dann, wenn das Parlament, dessen Wille sich bei uns identifiziert mit dem Staatswillen, nichts anderes ist als ein Haufen von Interessenvertretern und Phantasten, es zwar in der Lage sein mag, eine noch so groBe Fülle von sozialpolitischen Paragraphen hervorzuzaubern; aber eine soziale Tat kann daraus nicht werden, es sei denn, daB sich das Parlament Verständnis dafür erhält, daß volkswirtschaftliches Durchdenken der Zusammenhänge, was man gerne wegwerfend "Theorie" nennt, unerläßliche Vorbedingung ist für jede erfolgversprechende sozialpolitische Arbeit". A. Weber, Sozialpolitik und Wissenschaft, in: Hauptfragen der Wirtschaftspolitik, Berlin 1950, S. 251.
1. Ansatzpunkte einer Bevölkerungspolitik im liberalen Rechtsstaat 1.1. Bevölkerungs- oder Familienpolitik: Die Schwierigkeiten einer problemgeladenen Abgrenzung
Das vorangegangene Kapitel zeigte, daß die Bevölkerung in Deutschland in den nächsten Jahrzehnten mit großer Wahrscheinlichkeit schrumpfen wird und daß dieser Rückgang bereits seit Jahrzehnten angelegt ist. Gleichzeitig wurde ermittelt, daß ökonomische Faktoren die Geburtenentscheidung tatsächlich beeinflussen können, wobei es allerdings eher auf die Opportunitätskosten der Kindererziehung ankommt als auf die "direkten" Kinderkosten. Damit ist der Grundstein gelegt für die Frage, ob aus dem konkreten Geburten- und Bevölkerungsrückgang Anlaß und Berechtigung für staatliche Interventionen abgeleitet werden können. Sobald diese Frage po-
1. Ansatzpunkte einer Bevölkerungspolitik im liberalen Rechtsstaat
121
sitiv beantwortet wäre, müßte zusätzlich geklärt werden, ob zu einem solchen Zweck auch finanzpolitische Instrumente geeignet sind und in welcher Form sie eingesetzt werden sollten. Die Beschränkung mit Bevölkerungsfragen wurde in Deutschland besonders durch die Erfahrungen mit der Politik des nationalsozialisitischen Regimes diskreditiert und noch heute besteht selbst im wissenschaftlichen Bereich ein starker Drang zur Abstinenz. Dabei praktizieren nahezu alle demokratischen Staaten viele der in Deutschland vorher eingeführten Instrumente und taten dies übrigens oft schon vor der Erfahrung mit dem Nationalsozialismus. Gleichwohl haben sich in Deutschland zwei mit unterschiedlichen Inhalten besetzte Begriffe herausgebildet, "Bevölkerungspolitik" und "Familienpolitik", an denen das Dilemma einer öffentlichen Behandlung von Bevölkerungsfragen offenkundig wird. Während die Familienpolitik 1 "auf die Sicherung einer optimalen Funktionsfähigkeit der Familie mit einer Optimierung gerade auch der Entwicklungschancen des Kindes abzielt, nicht aber auf eine bestimmte zahlenmäßige Bevölkerungsentwicklung, sei es nun im Sinne einer Verstärkung, Verminderung oder bewußten Stabilisierung gegebener Wachtumsraten" 2,3, ist Bevölkerungspolitik "die Gesamtheit aller bewußten Einwirkungen auf die quantitative und qualitative Entwicklung einer Bevölkerung"4. Diese an den Absichten einer Handlung ansetzende Definition von Bevölkerungspolitik findet sich praktisch wörtlich wieder in wichtigen sozialwissenschaftIichen Nachschlagewerken 5. Nach Meinung von Feichtinger sollte man Maßnahmen, "die indirekt Auswirkungen auf die demographische Landschaft haben, nicht zur Bevölkerungspolitik rechnen"6. 1 Familienpolitik ist die "Gesamtheit aller Maßnahmen, die sich in einer objektiv entscheid baren Weise auf die Familie als Familie und auf Familienmitglieder als Familienmitglieder beziehen". F. Neidhard, Entwicklungen und Probleme der westdeutschen Familienpolitik, in: Gegenwartskunde, 211978, S. 141-156, bes. S. 148 f. 2 M. Wingen, Zum Verhältnis von Familienpolitik und Bevölkerungspolitik, in: Civitas, Jahrbuch für Sozialwissenschaften, 11. Band, 1972, S. 114-138, bes. S. 122. 3 Kennzeichnend ist, daß die amerikanische politische wie wissenschaftliche Diskussion den Terminus "family policy" erst seit wenigen Jahren kennt. Siehe dazu S. B. Kamerman und A. J. Kahn, Family and the IdeaofFamily Policy, in: diess., Hrsg., Family Policy, New York 1978, S. 1 ff. 4 W. Schreiber, Artikel: Bevölkerungspolitik, in: Staatslexikon, Erster Band, Freiburg 1957, S. 1230. 5 So etwa K. M. Bolte, Artikel; Bevölkerung, Politik, in: HdSW, Zweiter Band, Tübingen 1959, S. 159; oder G. Feichtinger, Artikel: Bevölkerung, in: HdWW, Erster Band, Stuttgart, New York, Tübingen, Göttingen und Zürich 1977, S. 610-631. 6 G. Feichtinger, Artikel: Bevölkerung ... , S. 628.
122
2. Kapitel: Bevölkerungs- oder Familienpolitik
Auch wenn Bevölkerungs- und Familienpolitik als eigenständige Begriffe behandelt werden, ergeben sich Überschneidungen, so daß die Familienpolitik oft genug wenigstens implizit als Untermenge der Bevölkerungspolitik erscheint 7,8. Bei einer genauen Sichtung der verschiedenen Definitionsversuche erweist sich, daß die Unterscheidung zwischen beiden Begriffen letztlich davon abhängt, ob dabei die Bevölkerungsentwicklung mit voller Absicht angesteuert wirtJ9. Würde man als Bevölkerungspolitik alle bevölkerungsrelevanten Maßnahmen 10 bezeichnen, wären alle von uns im weiteren behandelten familienpolitischen Instrumente zugleich Bevölkerungspolitik. Bereits aus den Überlegungen im ersten Kapitel dieser Arbeit wurde deutlich, daß ein großer Teil aller staatlichen Maßnahmen im Sozialbereich Auswirkungen auf die Bevölkerungsentwicklung haben kann. Dies macht umso deutlicher, daß die Wirtschafts- und Sozialpolitik sich dessen bewußt werden und einen Einsatz von Instrumenten unvoreingenommen diskutieren muß. Ob man Bevölkerungspolitik für zulässig hält oder nicht, muß die Relevanz staatlichen Handeins für die tatsächlichen Entscheidungen akzeptiert und in die Überlegungen einbezogen werden. Dabei wird sich im folgenden herausstellen, daß auch bewußtes staatliches Handeln in diesem Bereich nicht automatisch schon Bevölkerungspolitik sein muß. 1.2. Eine Systematisierung von Interventionsargumenten
Die Zurückhaltung, die sich ein demokratischer Staat in der Regel gegenüber Bevölkerungsfragen auferlegt, beruht auf einem Grundsatz, wie er in Deutschland in der Verfassung an hervorgehobener Stelle (Artikel 1) formuliert ist: Das oberste Schutzgut und damit das letzte Ziel staatlichen Handeins ist der Schutz des Einzelnen und seiner persönlichen Lebenssphäre. Damit 7 Genau dies beklagt beispielsweise Wingen (Zum Verständnis ... , S. 123) bei L. Preller, Praxis und Probleme der Sozialpolitik, 11. Halbband, Tübingen 1970. 8 Daß eine solche Sprachregelung in der Zeit vor 1933 durchaus üblich war, mag etwa die Namensgebung einer familienpolitischen Veröffentlichung von F. Zahn geben, der sein Werk titulierte: Familie und Familienpolitik. Ein bevölkerungspolitischer Vortrag, Berlin 1918. 9 Damit steht dem Gesetzgeber stets der Weg offen, bei familienpolitischen Maßnahmen seine Absichten nicht offenzulegen, auch wenn damit in Wahrheit bevölkerungspolitisehe Ziele verfolgt werden sollten. 10 Wir kämen damit einer Begriffsdefinition nahe, wie sie vor 1933 durchaus üblich war: "Demgegenüber hat es die Bevölkerungspolitik . .. mit all denjenigen Maßnahmen zu tun, die geeignet sind, den Stand und die Entwicklung der Bevölkerung in einem gewissen Sinne zu beeinflussen" (P. Mombert, Bevölkerungslehre, Jena 1929, S. 3).
1. Ansatzpunkte einer Bevölkerungspolitik im liberalen Rechtsstaat
123
werden die Kollektivvorstellungen (wie z. B. die-Macht eines Staates) hinter die Individualrechte zurückverwiesen. Dies heißt für unsere Fragestellung, die zum intimsten Bereich der menschlichen Persönlichkeit gehört, daß die Entscheidung der Familien über ihre Kinderzahl zu akzeptieren ist. Das Primat der Individualrechte erzwingt nicht unter allen Umständen staatliche Abstinenz. Auch im Rechtsstaat sind Eingriffe möglich, deren Begründung an zwei Tatbeständen anknüpfen kann, an Fehler im Entscheidungsverhalten der Individuen oder an den nicht bzw. nicht ausreichend bedachten gesamtgesellschaftlichen Konsequenzen der Individualentscheidungen. Eine mögliche Gruppe von Interventionsargumenten ist in der Finanzwissenschaft unter dem Stichwort der "meritorischen Bedürfnisse" Gegenstand umfangreicher Kontroversen 11: Individuen können uninformiert, zu kurzsichtig oder in irgend einer anderen Form entgegen ihrer eigenen Zielsetzung handeln. Seit einigen Jahren beruht, erstmals in der Geschichte der Menschheit, die Geburtenentwicklung nahezu vollständig auf einem freien Willensentscheid der Eltern. Für diese Entscheidung könnte unter Umständen eine "Minderschätzung zukünftiger Bedürfnisse" gelten: Individuen ziehen Gegenwartserträge in der Regel Zukunftserträgen vor. Ein Großteil der "Kosten" von Kindern für die Eltern entsteht während der Schwangerschaft (gesundheitliche Gefahrdung, mangelnde Mobilität, Verzicht auf materielle Güter, Zeitrestriktionen etc.), bei der Geburt und in den ersten besonders pflegebedürftigen Lebensjahren, wo Kinder nachhaltig in die Lebensumstände der Familien eingreifen. Die "Nutzen" von Kindern entstehen über einen sehr langen Zeitraum verteilt, im Prinzip über das gesamte restliche Leben der Eltern. Anders als bei vielen für den wirtschaftlichen Bereich typischen Entscheidungen kann aber eine Fehleinschätzung der potentiellen Eltern bei Kindern nicht beliebig revidiert werden: Die Fruchtbarkeit der Frau ist auf einen bestimmten Lebensabschnitt beschränkt, wobei das medizinische Risiko bereits bei einem Alter von etwa 35 Jahren bedenklich anwächst. Der Entschei11 Zu dieser von Musgrave (Theory ofPublic Finance, New York, 1959) eingeführten Kategorie siehe etwa J. G. Head, On Merit Goods, in: FA, N. F. Bd. 25, 1966, S. 1-29; ders., Merit Goods Revisited, in: FA, N. F. Bd. 28, 1969, S. 214-225; eh. E. McLure, Merit Wants: A Nomatively Empty Box, in: FA, N. F. Bd. 27, 1968, S. 474-482; N. Andel, Zur Diskussion über Musgraves Begriff der "merit wants", in: FA, N. F. Bd. 28,1969, S. 209-213; W. Weber, Bemerkungen zur neueren Diskussion der meritorischen Güter, in: W. Geiger, u. a. (Hrsg.), Der wirtschaftende Staat. Theorie und Praxis. Festschrift für Theo Keller, Bem und Stuttgart 1971, S. 49-59; D. A. L. Auld und P. C. Bird, Merit Wants: A Further Analysis, in: FA, N. F. Bd. 30,1971, S. 257-265 oder A. G. Pulshipher, The Properties and Relevance of Merit Wants, in: FA, N. F. Bd. 30, 1971, S. 266-286.
124
2. Kapitel: Bevölkerungs- oder Familienpolitik
dungszeitraum für eine lebenslang wirksame Entscheidung ist somit relativ kurz. Zusätzlich kommt hinzu, daß gleichzeitig das Einkommen (während oder kurz nach der Ausbildung) besonders gering und die Unsicherheit über die Zukunft groß ist l2 . Potentielle Eltern handeln aufgrund kurzfristiger Aspekte l3 (dem nächsten Urlaub oder bestimmten Anschaffungen) möglicherweise entgegen ihren eigenen langfristigen Interessen und sind damit bei der biologischen Grundentscheidung über zukünftiges Leben im Grunde überfordert. Diese Entscheidung wurde, solange es Lebewesen gibt, der Ratio entzogen und von Trieben gesteuert. Die typische Erfahrung von Eltern war, daß Kinder zwar ungeplant (und in diesem Sinne vielleicht auch momentan unpassend) geboren wurden, daß sich die Eltern darauf aber einstellten und diese nachträglich meist akzeptierten, wenn nicht sogar begrüßten. Die jetzige Elterngeneration erkennt zwar die Vorteile der Kontrazeption, es wird aber nahezu eine weitere Generation dauern, bis die Konsequenzen der Entscheidung sichtbar werden, die damit in jeweils kleinen Schritten (zum großen Teil unbewußt) getroffen wurde. Denjenigen, die sich im Bewußtsein aller Konsequenzen entschließen, keine Kinder haben zu wollen, darf nicht apriori der Vorwurf gemacht werden, "falsch" zu handeln. Sie handeln aus subjektiver Sicht; gleiches müßte aber für den "wohlwollenden Diktator" gelten, der ihnen seinen besserwissenden Willen aufzwingt. Im Hinblick auf das Konstatieren von "Entscheidungsfehler" im Verhalten anderer Bürger sollte deshalb äußerste Vorsicht geübt werden. Sehr viel mehr als eine InformationspOicht des Staates kann daraus kaum abgeleitet werden, das Meritorisierungsargument erweist sich insgesamt als wenig stichhaltig. Eine Begründung für staatliche Eingriffe sollte deshalb nicht bei der individuellen Motivation der Bürger anknüpfen, sondern muß - wenn überhaupt - bei den gesamtgesellschaftlichen Konsequenzen eines Bevölkerungsrückgangs ansetzen. Um die Konsequenzen eines Bevölkerungsrückgangs zu systematisieren, wollen wir uns die Auswirkungen schematisch (unabhängig von der bisher behandelten ganz spezifischen deutschen Bevölkerungsgeschichte) verdeut12 In Deutschland wird der Beginn der "reproduktiven Phase" im Leben einer Frau durch verstärkte schulische und berufliche Ausbildung noch zusätzlich nach oben verschoben. 13 Die Diskrepanz zwischen materiellen Ansprüchen und der tatsächlichen Verfügbarkeit ist in der Jugend weit größer als im höheren Alter (siehe etwa A. Thornton, Fertility and Income, bes. S. 162 ff.). Dies bewirkt eine zusätzliche Überbewertung materieller Güter zu dem Zeitpunkt, an dem die Entscheidung über Kinder fallen muß.
1. Ansatzpunkte einer Bevölkerungspolitik im liberalen Rechtsstaat
125
lichen. In der mathematischen Demographie werden Bevölkerungen betrachtet, bei denen Geburtenhäufigkeit und Sterbewahrscheinlichkeit über lange Zeit unverändert bleiben 14. Solche "stabilen" Bevölkerungen können stabil wachsen, schrumpfen oder als "stationäre" Bevölkerungen genau im Bestand erhalten bleiben, wenn die (gleichbleibenden) jährlichen Geburtenzahlen immer genau ausreichen, die in den darüberliegenden Altersgruppen ausscheidenden Mitglieder der Bevölkerung zu ersetzen. Wir wollen nun annehmen, daß in einer vorher stationären Bevölkerung vom Jahre 0 ab nur noch jeweils die halbe Kinderzahl pro Frau geboren wird. Die Bevölkerung verliert nun mindestens für einige Jahrzehnte ihre "Stabilität": Bleibt die Kohortenfertilität für immer auf dem reduzierten Niveau, ergibt sich nach etwa 70 bis 80 Jahren eine neue "stabil schrumpfende" Bevölkerung, kehrt die Fertilität nach einigen Jahrzehnten zum alten Niveau zurück, folgt nach noch längerer Zeit (80-120 Jahre) eine neue stationäre Bevölkerung, allerdings auf einem niedrigeren Niveau als zum Ausgangspunkt
O.
Hat der angenommene Geburtenrückgang vom Zeitpunkt 0 ab wenigstens einige Jahrzehnte Bestand, können die Auswirkungen auf die Bevölkerungsstruktur in Abb. 25 verfolgt werden. Wir wollen dazu die Gesamtbevölkerung in drei Gruppen unterteilen, die Kinder (0-15jährig), die Erwerbstätigen (15-65jährig) und die Senioren (über 65 Jahre). Waren vor Eintritt des Geburtenrückgangs die Geburten- und Sterbe raten stabil, bleibt die Zahl der Senioren noch 65 Jahre lang unverändert. Würden wir annehmen, daß die Lebenserwartung wie in der Realität ansteigt, müßte die absolute Zahl der Senioren sogar zunehmen. Die Bevölkerung im Erwerbstätigenalter (von 15-65 Jahren) bleibt bis 15 Jahre nach Eintritt des Geburtenrückgangs absolut unverändert; von dann ab geht sie langsam zurück, da jeweils ein geringer besetzter Jahrgang neu hinzutritt als er oben ausscheidet. Für die darauffolgenden 25 Jahre nimmt aber ausschließlich die Gruppe der 15-40jährigen (die potentiellen Eltern) ab. Erst dann sinkt auch die ältere Erwerbsbevölkerung der Zahl nach. Bei den Kindern wirkt der Geburtenrückgang (die Halbierung der Jahrgangsstärke) sich sofort und von Jahr zu Jahr stärker aus, da nach einem Jahr nicht mehr 15, sondern nur noch 14,5 frühere Jahrgangsstärken, nach zwei Jahren noch 14 etc. vorhanden sind. Nach 15 Jahren ändert sich das Bild, da 14 Zur Analyse "stabiler" Bevölkerungen siehe beispielsweise G. Feichtinger, Demographische Analyse und populationsdynamische Modelle, Wien und New York
1979.
2. Kapitel: Bevölkerungs- oder Familienpolitik
126
sich von jetzt ab auch die Gruppe der potentiellen Eltern im Bestand reduziert; von nun an verstärkt sich der Geburtenrückgang (bei unverändertem generativen Verhalten) kumulativ. Die Gruppe der Kinder wird zwar von Anfang an geringer besetzt, aber der Rückgang verläuft stark diskontinuierlich und verschärft sich etwa zwanzig Jahre nach Eintritt der generativen Veränderung.
Bevölkerungszahl
Gesamtzahl
o - 15
15 - 40
....-
--- ----- - -- 40 - 65
-.--. ----
-
65 +
.'+I----------~~----------~------------+-~. t
o
+15
+30
+45
Abb.25
Als Gesamtergebnis der Modelldarstellung entsteht die bereits aus dem ersten Teil der Arbeit bekannte "Bevölkerungsimplosion" : Ein Geburtenrückgang bleibt in den ersten Jahren ohne nennenswerte Wirkung auf die absolute Bevölkerungszahl. Die ursprüngliche Veränderung des generativen Verhaltens wird erst nach Jahrzehnten, dann aber schnell kumulierend und kaum mehr reparabel spürbar. Gesamtgesellschaftliche Konsequenzen und daraus abzuleitende mögliche Ansatzpunkte für eine staatliche Intervention entstehen bei der in Abb. 25 dargestellten Entwicklung aus zwei deutlich zu trennenden Motiven: Zum einen gibt es den Anknüpfungspunkt der absoluten Zahl, worin alle Argumente einzuschließen sind, die für oder gegen
I. Ansatzpunkte einer Bevölkerungspolitik im liberalen Rechtsstaat
127
einen bestimmten Bevölkerungsstand oder -veränderung anzubringen sind. Dabei kann noch unterteilt werden in Argumente, die für oder gegen die diskutierte kumulierte Veränderung vorzubringen sind und solche, die für oder gegen die Beibehaltung einer bestimmten Zahl (des Status Quo oder einer anderen Situation) als "Gleichgewicht" sprechen. Von den Argumenten der absoluten Zahl zu trennen sind Interventionsargumente, die aus der relativen Verschiebung zwischen den Altersgruppen abzuleiten sind. In einem Bevölkerungsrückstand ist vor allem ein Anstieg des Anteils der Senioren mit allen daraus abzuleitenden Konsequenzen unvermeidlich. Gleichzeitig verschiebt sich der Anteil der Erwerbstätigen, der erst zunimmt (in Abb. 25 mindestens bis zum Jahr +15 = 15), später dann aber deutlich zurückgeht 15. Auswirkungen dieser zweiten Art sind in Deutschland aufgrund der unsymmetrischen Altersverteilung bereits eingetreten, müssen sich aber in den nächsten Jahrzehnten verstärken, selbst wenn die Geburtenzahlen vielleicht in einigen Jahren wieder zunehmen sollten l6 . Der konkreten Ausgangssituation in Deutschland folgend wurde bislang stets von einem Bevölkerungsrückgang gesprochen, der auf eine Reduktion der Kohortenfertilität basiert. Im Prinzip kann ein Bevölkerungsrückgang auch andere Ursachen haben, z. B. eine Erhöhung der Sterblichkeit oder (was realitätsnäher ist) eine verstärkte Auswanderung. Wenn von Konsequenzen eines Bevölkerungsrückgangs die Rede ist, muß stets im Auge behalten werden, daß jede konkrete Ursache eines Bevölkerungsrückgangs ihre spezifischen Konsequenzen hat. Da es uns in dieser Arbeit in erster Linie um die (im ersten Abschnitt behandelte) Bevölkerungsentwicklung in Deutschland und deren Konsequenz geht, wollen wir im weiteren einen Bevölkerungsrückgang behandeln, der auf einen Geburtenrückgang zurückgeht. Aus dem hier gesteckten Rahmen ergibt sich quasi selbstverständlich, daß in dieser Arbeit aus der Vielfalt von Konsequenzen eines Bevölkerungsrückgangs die sozialen und ganz besonders die ökonomischen herausgegriffen werden. Da für einen Ökonomen die Auswirkungen des Bevölkerungsschwunds auf das volkswirtschaftliche Gleichgewicht sicherlich den interessantesten (und kontroversesten) Aspekt darstellen, wollen wir diese Frage in einem eigenen Abschnitt behandeln. 15 Solche Altersstrukturverschiebungen können selbst in einer Situation auftreten, in der die absolute Bevölkerungszahl unverändert bleibt. 16 Erhöhen sich in unserem obigen Beispiel nach einigen Jahrzehnten die Kinderzahlen pro Familie wieder deutlich, dann müßte sowohl der Anteil der Alten als auch der der Kinder zu Lasten der Erwerbstätigen zunehmen.
128
2. Kapitel: Bevölkerungs- oder Familienpolitik
2. Makroökonomische Konsequenzen eines Bevölkerungsrückgangs
Bei der Beurteilung der Frage, wie ein Bevölkerungsrückgang auf die Wirtschaftslage wirkt 17,18, stehen sich wie oft in der Theoriegeschichte "optimistische" und "pessimistische" Ansätze gegenüber. Unter professionellen Ökonomen bildete sich eine gewisse Abneigung gegenüber pessimistischen Theorien heraus, denn zu oft schon haben sich scheinbar unvermeidliche wirtschaftliche Katastrophen als unzutreffend herausgestellt. Nach langer "demo-ökonomischer Abstinenz" ist zudem für viele Ökonomen nur die pessimistische Malthusianische Theorie 19 in Erinnerung geblieben, die sich jedenfalls für Industriestaaten offenkundig als falsch (oder doch zumindest als überholt) erwiesen hat. Die "optimistische" Variante wird im wesentlichen von der neoklassischen Theorie verkörpert 20, auch wenn es bislang nur sehr wenige Versuche gibt, eine schrumpfende Bevölkerung in die logische Welt des neoklassischen Wachstumsmodells unmittelbar einzuführen. Die "pessimistische" Variante wird durch die Keynesianische Theorie vertreten, wobei Keynes selbst frühzeitig die negativen Auswirkungen des Bevölkerungsrückgangs betonte 2l . Die daran anschließenden Überlegungen wurden als "Stagnationstheorie" bekannt und einige Jahre intensiv diskutiert. Das rasche Bevölkerungswachstum in allen westlichen Industrieländern ab etwa 1950 machte diese Theorie (mindestens zeitweise) obsolut und sie geriet in Ver17 Eine schrumpfende Bevölkerung erschien in den letzten Jahrzehnten so wenig relevant, daß es zu diesem Problemkreis, verglichen mit den vielen Beiträgen zur Wachstumstheorie, kaum Literatur jüngeren Datums gibt. Als positive Ausnahme können gelten: The Economic Consequences of Slowing Population Growth, hrsg. von Th. J. Espenshade und W. J. Serow, New York, San Francisco, London 1978, oder R. L. Clark und J. J. Spengler, The Economics of Individual and Population Aging, Cambridge 1980. 18 Die zu behandelnde Frage gehört zu den kontroversesten der Wirtschaftstheorie und -politik, so daß hier keine eindeutige Lösung, sondern bestenfalls eine Verdeutlichung der konkurrierenden Grundideen möglich ist. 19 Siehe beispielsweise T. R. Malthus, An Essay on the Principle ofPopulation, 6. Ausgabe, London 1926, ins Deutsche übertragen in: K. Diehl und P. Mombert, Ausgewählte Lesestücke zum Studium der Politischen Ökonomie, Freiburg 1912, S.47-73. 20 In der Vorkriegsdiskussion gab es allerdings gerade auch in Deutschland Beiträge zur ökonomischen Diskussion, die den Bevölkerungsrückgang eher optimistisch beurteilten. Siehe etwa P. Mombert, Bevölkerungsentwicklung und Wirtschaftsgestaltung, Leipzig 1932. 21 J. M. Keynes, Some Economic Consequences of Declining Population Growth, Eugenics Review, Vol. 29, 1937, S. 13-17.
2. Makroökonomische Konsequenzen eines Bevölkerungsrückgangs
129
gessenheit. Die aktuelle Entwicklung könnte eine Renaissance begünstigen, noch dazu, weil sie zugleich das einzige geschlossene Denkschema ist, das bislang zur Beantwortung dieser Frage angeboten wurde. Wir wollen im folgenden fragen, wie ein Bevölkerungsrückgang, der (wie in der konkreten Ausgangssituation in Deutschland) auf einem Geburtenrückgang basiert,jiir sich gesehen auf das volkswirtschaftliche Gleichgewicht einwirkt. Dazu trennen wir vorab in die Einwirkungen auf die Angebotsund auf die Nachfrageseite. Wenn wir konstatieren, der Bevölkerungsrückgang wirkte "stagnierend" oder "stimulierend", muß dies stets bedeuten, stagnierend oder stimulierend im Vergleich zu einer Situation mit stationärer (oder wachsender) Bevölkerung. Die Bevölkerungsentwicklung ist nur einer (und noch dazu ein nur sehr langfristig wirkender) der möglichen Einflußfaktoren auf das volkswirtschaftliche Gleichgewicht, so daß stets nur partiell argumentiert werden kann. Es kann an dieser Stelle nicht um die Erklärung gehen, ob in Zukunft ein volkswirtschaftliches Wachstum möglich ist, sondern allein darum, ob das Wachstum im Bevölkerungsschwund geringer oder stärker ist als in einer Situation der Bevölkerungsstationarität. 2.1. Das Arbeitskräfteangebot im Bevölkerungsrückgang
Die Auswirkungen eines auf einen abrupten Geburtenrückgang basierenden Bevölkerungsrückgangs auf die Entwicklung des Erwerbspersonenpotentials kann anhand von Abb. 25 verdeutlicht werden: Noch 20 bis 25 Jahre nach Eintritt eines Geburten- und Bevölkerungsrückgangs wachsen unverändert starke Jahrgänge neu in das Erwerbsalter 22 . Erst danach reduziert sich (bei den neu eintretenden Jahrgängen langsam beginnend und erst Jahrzehnte später kumuliert) die Zahl der Erwerbsfähigen. Ein Geburtenrückgang hat allerdings einen zusätzlichen sofort auftretenden Effekt: In Abb. 13 wurde gezeigt, daß die Erwerbsquote von Müttern deutlich niedriger liegt als die der kinderlosen Frauen. Der Geburtenrückgang vergrößert folglich das Erwerbspersonenpotential unmittelbar nach Eintritt des Geburtenrückgangs durch eine Reduktion der Anzahl von Frauen, die kinderbedingt aus dem Erwerbsprozeß ausscheiden. Da auch im Bevölkerungsrückgang die Arbeitsproduktivität (durch exogenen oder endogenen technischen Fortschritt) weiter wächst, wird das ge22 Auch die Veränderung in der Besetzung älterer Jahrgänge hängt von den früheren Geburtenzahlen und der Sterblichkeitsentwickung ab. Unterstellt man eine im Zeitablauf sinkende Sterblichkeit und ein früheres Bevölkerungswachstum, so steigt auch die Besetzung der älteren Jahrgänge gegenüber den Vorjahren. 9 Dinkel
130
2. Kapitel: Bevölkerungs- oder Familienpolitik
samte Arbeitsangebot gemessen in Effizienzeinheiten (Abb. 26) noch mehr als 30 Jahre nach Eintritt des Geburtenrückgangs gegenüber dem Zeitpunkt oanwachsen. Zu diesem Zeitpunkt geht die Gesamtbevölkerung bereits relativ stark zurück und die Relation zwischen Erwerbsbevölkerung und Gesamtbevölkerung liegt für einige Jahrzehnte deutlich über derjenigen, die zum Zeitpunkt 0 gemessen wurde 23 ,24.
Veränderung des Arbeitsangebots veränderte Jahrgangsstärken + Erhöhung der weible
Erwerbsquote
Jahre 10
20
"
Abb.26
""
"
Für den konkreten Fall der Bundesrepublik wird das beschriebene Muster noch verschärft durch die Tatsache, daß dem Geburtenrückgang ein Babyboom voranging und aufgrund der relativ langen Ausbildungszeiten in Deutschland die besonders starken Jahrgänge erst nach 20 bis 30 Jahren ins Erwerbsleben eintreten. Bis zum Jahr 2000 besteht folglich kein Mangel auf der Angebotsseite. Die Frage stellt sich eher umgekehrt, ob und wie für das 23 Eine sehr frühzeitige und weitgehend unbeachtet gebliebene Analyse der unterschiedlichen Entwicklung von Erwerbspersonen und Konsumenten im Bevölkerungsrückgang und den ökonomischen Konsequenzen wurde vorgenommen von E. Günther, Der Geburtenrückgang als Ursache der Arbeitslosigkeit?, Untersuchung einiger Zusammenhänge zwischen Wirtschaft und Bevölkerungsbewegung, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Bd. 134, 1931, S. 921-973. Siehe dazu auch A. Wagner, Der Geburtenrückgang als Ursache von Arbeitslosigkeit?, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Bd. 195, 1980, S. 261-269. 24 Die "Konsumenten-Arbeitskräfterelation" steht besonders bei A. Wagner (Demographische Ursachen langfristiger Wachstumszyklen? Fragen zur Konzeption ökonomischer Zyklustheorie, in: Historische Konjunkturforschung, hrsg. von W. H. Schröder und R. Spree, Stuttgart 1981, S. 339-358) im Mittelpunkt der Analyse.
2. Makroökonomische Konsequenzen eines Bevölkerungsrückgangs
131
wachsende Erwerbspersonenpotential Beschäftigungsmöglichkeiten vorhanden sind. 2.2. Die volkswirtschaftliche Gesamtnachfrage im Bevölkerungsrückgang
Bevor wir in eine detailliertere Analyse der Nachfragewirkungen eines Bevölkerungsrückgangs eintreten, muß erneut der partielle Charakter möglicher Aussagen betont werden. Gerade auf der Nachfrageseite werden häufig Argumente der folgenden Art vorgetragen: Der Ausfall an quantitativer Nachfrage im Bevölkerungsrückgang wird ausgeglichen durch eine Erhöhung der Nachfrage nach neuen und qualitativ höheren Gütern, oder, der allgemeine Einkommensanstieg gleiche den Rückgang der Konsumentenzahl mehr als aus 25 . Diese und weitere Argumente ähnlicher Art sind allerdings für unsere Fragestellung irrelevant: Sobald das Auftauchen neuer Güter oder der allgemeine Einkommensanstieg nicht kausal auf den Bevölkerungsrückgang zurückgeht, müssen wir annehmen, daß diese Nachfragekomponenten auch im Falle einer gleichbleibenden oder wachsenden Bevölkerung gewirkt hätten und somit nichts mit den Wirkungen eines Bevölkerungsrückgangs zu tun haben. Nur ein Einkommensanstieg, der auf den Bevölkerungsrückgang basiert, darf und muß in einer Analyse berücksichtigt werden, die sich um die differenziellen Auswirkungen eines Bevölkerungsrückgangs bemüht.
2.2.1. Die Auswirkungen des Bevölkerungsrückgangs auf Konsum und Ersparnisse Um mögliche Einflußfaktoren des Bevölkerungsrückgangs auf den Konsum zu systematisieren, wollen wir von einer stark vereinfachten Konsumfunktion eines Haushalts ausgehen:
mit:
cfi = Konsum des Haushalts i von Haushaltstyp H (Ein-, Zwei-, Dreipersonenhaushalt etc. mit n Erwachsenen und m Kindern)
Gi
= einkommensunabhängiger Konsum des Haushalts i
25 So schlußfolgert im Prinzip auch die jüngste bekannte Analyse mit deutschen Daten. Siehe W. Müller, Der Einfluß demographischer Faktoren auf die Struktur des privaten Verbrauchs, in: DIW-Vierteljahrsheft, 4,1981, S. 335-350, bes. S. 345. 9*
132
2. Kapitel: Bevölkerungs- oder Familienpolitik
cf = Yf/
Konsumquote des Haushalts i vom Typ H
= Einkommen des Haushalts i vom Typ H
Die volkswirtschaftliche Konsumnachfrage ist dann: H c=r.c i I
Differenzielle Konsumeffekte bei einem Bevölkerungsrückgang müssen nun auf einen von vier möglichen Einflußfaktoren zurückgehen:
1. Eine Veränderung in der Zahl der Haushalte. 2. Eine Veränderung in der Zusammensetzung der Haushaltstypen, d. h. eine Veränderung in der Altersstruktur der Bevölkerung bei gegebener Konsumquote der Haushaltstypen. 3. Eine Veränderung der Konsumquote, die auf zwei Entwicklungen zurückgehen kann: a) Bei unveränderter haushaltstypspezifischer Konsumneigung beeinflußtjede Veränderung in der Zusammensetzung der Haushaltsstruktur die gesamtwirtschaftliche Konsumneigung, was auf Einflußfaktor 2.zufÜckverweist. b) Der Bevölkerungsrückgang kann zugleich bei einigen oder allen Haushaltstypen eine Verhaltensänderung bewirken in dem Sinn, daß von einem gegebenen Einkommen relativ mehr konsumiert oder gespart wird als im Fall einer alternativen Bevölkerungsentwicklung. 4. Eine auf den Bevölkerungsrückgang basierende Veränderung der Haushaltseinkommen. Von diesen vier Einflüssen ist am schwersten der zuletzt genannte Faktor zu untersuchen, denn über mögliche Einkommenswirkungen kann erst entschieden werden, wenn die Gesamtwirkungen auf das volkswirtschaftliche Gleichgewicht ermittelt sind. Um einen circulus vitiosus zu vermeiden, wollen wir an dieser Stelle davon ausgehen, daß die Haushaltseinkommen vom Bevölkerungsrückgang weder positiv noch negativ beeinflußt werden, so daß der Einflußfaktor 4.aus der Analyse vorerst ausscheidet. Wenn über die Gesamtwirkungen des Bevölkerungsrückgangs entschieden ist, müßte dieser Aspekt allerdings erneut einbezogen werden. Der interdependente Zusammenhang zwischen Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung fordert beispielsweise bei Zukunftsprognosen von Konsum und Einkommen, daß man für den Bevölkerungsrückgang nicht für alle Zukunft mit Einkommenssteigerungen rechnet, wie sie im Fall des Bevölkerungswachstums gel-
2. Makroökonomische Konsequenzen eines Bevölkerungsrückgangs
133
ten würden. In diesem Fall würde man die Auswirkungen des Bevölkerungsrückgangs auf den Konsum gewissermaßen unter der Prämisse schätzen, daß der Bevölkerungsrückgang keine makroökonomischen Konsequenzen hat 26. Der Einfluß einer Reduktion in der absoluten Zahl der Haushalte auf die Gesamtnachfrage ist zweifellos negativ. Der Bevölkerungsrückgang reduziert die Zahl der Haushalte allerdings nur sehr langsam und wirkt für einige Jahrzehnte vor allem über die Haushaltszusammensetzung, d. h. er verringert fast ausschließlich die durchschnittliche Kinderzahl. Wenn, wie in Deutschland, vor dem Geburtenrückgang ein Bevölkerungswachstum stand, kann sich zeitweise die absolute Zahl der Haushalte sogar noch erhöhen. Insgesamt dürften deshalb die Auswirkungen der Veränderung in der Zahl der Haushalte am Beginn eines Bevölkerungsrückgangs nur marginal sein und erst mit fortschreitendem Rückgang an Bedeutung gewinnen. Offenkundig und im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehend 27 sind die Auswirkungen einer Verschiebung in der Altersstruktur: Eine "Überalterung" im Gefolge des Geburtenrückgangs verschiebt die Gesamtnachfrage hin zu Gütern und Diensten, wie sie von älteren Menschen nachgefragt werden und reduziert die Nachfrage nach Gütern, die von und für Kinder oder Jugendliche nachgefragt werden 28 . Die Strukturverschiebung in der Nachfrage muß - vor allem in längerfristiger Sicht - für sich gesehen keine (negativen) Auswirkungen haben, da man auf die Funktionsfähigkeit marktwirtschaftlicher Lenkungsmechanismen für den notwendigen Strukturwandei vertrauen kann. Eine Veränderung von Konsum- und Sparneigung und damit eine langfristig wirksame Verschiebung des volkswirtschaftlichen Gleichgewichts kann unter zwei Bedingungen abgeleitet werden: Sie ergibt sich zum einen, 26 Genau diesem Prinzip folgt beispielsweise Th. 1. Espenshade (How the Trend Towards A Stationary Population Affects Consumer Demand, in: Population Studies, Vol. 32, 1978, S. 147-158), wenn er seinen empirischen Berechnungen der Auswirkungen einer Bevölkerungsstationarität auf die Konsumnachfrage Einkommensdaten des U. S. Bureau of Economic Analysis zugrundegelegt, die 1972 bis zur Jahrtausendwende vorgerechnet wurden. Bei diesen Daten konnte eine zukünftige Bevölkerungsstationarität nicht berücksichtigt werden. Aus diesem Grund ist auch das Ergebnis von Espenshade ohne Nutzen, daß die negativen Auswirkungen den Bevölkerungsstrukturverschiebung durch den allgemeinen Einkommensanstieg mehr als aufgewogen würden. 27 Siehe dazu beispielsweise H. Wander, Demographie Aspects of the Active Population, Paper presented at the Council of Europe Seminar on the lmplications of a Stationary or Declining Population in Europe, Straßburg, 1976. 28 So wird beispielsweise für Nahrungs- und Genußmittel eine negative Verschiebung erwartet. Siehe W. Müller, Der Einfluß demographischer ... , S. 345.
134
2. Kapitel: Bevölkerungs- oder Familienpolitik
wenn die verschiedenen Haushaltstypen eine unterschiedliche Konsum(Spar)neigung haben und diese Differenzierung im Bevölkerungsrückgang erhalten bleibt. Eine zweite mögliche Ursache wären systematische Verhaltensänderungen, die durch die Bevölkerungsentwicklung ausgelöst würden. Die Differenzierung von Konsum- und Sparneigung in Abhängigkeit von der Familiengröße gehört zu den relativ ausführlich untersuchten Fragen unseres Problembereichs 29 . Jedenfalls für die Erfahrung der letzten Jahrzehnte (d. h. für die Situation des Bevölkerungswachstums) kann geschlußfolgert werden, daß bei gegebenem Einkommen umso weniger gespart (umso mehr konsumiert) wird,je größer die Familie, d. h. je mehr Personen zu versorgen sind. Sollte diese Erfahrung, die ihre Plausibilität aus der Erfahrung gewinnt, daß für den Haushalt die Ersparnis ein Residualfaktor zum notwendigen Konsum ist, auch im Bevölkerungsrückgang gelten, so müßte von Anbeginn des Bevölkerungsrückgangs an eine steigende makroökonomische Sparquote resultieren. Die endgültigen Auswirkungen können erst festgemacht werden, wenn untersucht wurde, ob der Bevölkerungsrückgang Anlaß für Verhaltensänderungen sein könnte. Eine solche Reaktion ist besonders dann plausibel, wenn man die Ersparnisse nicht mehr als Residualfaktor, sondern als Plangröße wie den Konsum betrachtet. Nach der "Lebenszyklustheorie der Ersparnis" dient der momentane Konsumverzicht vor allem dazu, einen Konsumstrom für die Zeit zu sichern, wo kein Einkommen mehr erzielt wird. Das Motiv der Altersvorsorge muß im Bevölkerungsrückgang notwendigerweise an Gewicht gewinnen. Die Ausführungen der nachfolgenden Kapitel werden zeigen, daß die schwerwiegendste Konsequenz eines Bevölkerungsrückgangs die Erschwernis im Bereich der Alterslasten sein wird. Die Zukunftsunsicherheit nimmt, verglichen mit der Situation einer wachsenden Bevölkerung, deutlich zu, was unvermeidlich dazu führen dürfte, daß das Vorsichtsmotiv an Bedeutung insgesamt gewinnt und die Individuen mit verstärktem privaten Vorsorgesparen reagieren. 29 Aus der zahlreich vorhandenen Literatur siehe beispielsweise W. Eizenga, Demographie Factors and Saving, Contribution of Economic Analysis, Bd. 22, Amsterdam, 1961 ; J. Spengler, Declining Population Growth: Economic Effects, in: Economic Aspects ofPopulation Change, hrsg. von E. R. Morss und R. H. Reed, Washington 1972; R. W. Resek und F. Siegel, Consumption Demand and Population Growth Rates, in: Eastern Economic Journal, Vol. 1, 1974, S. 282-290; Th. Espenshade, How the Trend ... , S. 147 ff. oder B. Görzig, Der Einfluß der Altersstruktur der Bevölkerung auf die Nachfragestruktur, in: Materialien zur Bevölkerungsforschung, Heft 9, Wiesbaden 1978. Einen deutschsprachigen Überblick über ältere empirische Untersuchungen bietet K. Jaeger, Ersparnis und wirtschaftliches Wachstum, Berlin 1971, S. 163ff.
2. Makroökonomische Konsequenzen eines Bevölkerungsrückgangs
135
Wenn die Zahl der Konsumenten nicht steigt, die Konsumneigung sowohl aufgrund des Haushaltskompositionseffektes als auch wegen zu erwartender Verhaltensänderungen sinkt, muß insgesamt der Konsum im Vergleich zur Situation der Bevölkerungsstationarität zurückgehen. Dies könnte bestenfalls durch zusätzliche Gedenfalls an dieser Stelle nicht ableitbare) bevölkerungsinduzierte Einkommenssteigerung abgemildert werden.
2.2.2. Die Investitionsgüternachfrage im Bevölkerungsschwund Als Konsequenz eines anhaltenden Bevölkerungsrückgangs wurde eine Tendenz zur Erhöhung der Sparneigung ermittelt. Das Zustandekommen eines volkswirtschaftlichen Gleichgewichts hängt nun vor allem davon ab, ob und wie diese Entwicklung von den korrespondierenden Effekten bei der Investitionsgüternachfrage ausgeglichen werden. Um die Auswirkungen auf die Investitionsgüternachfrage zu systematisieren, wollen wir nach Investitionsmotiven unterscheiden: Man kann Investitionen grob unterscheiden in Ersatz-, Rationalisierungs- und Erweiterunginvestitionen. Ein Bevölkerungsrückgang hat vor allem die folgende Konsequenz: Der Anteil der Erweiterungsinvestitionen geht zugunsten von Ersatz- und Rationalisierungsinvestitionen zurück. In immer weniger Wirtschaftsbereichen erweisen sich die existierenden Kapazitäten als zu klein 3o , vor allem wenn die Exporte sich im Bevölkerungsrückgang nicht anders entwickeln, als sie es bei einer anderen Bevölkerungsentwicklung auch tun würden. Vom Rückgang der Erweiterungsinvestitionen kann nicht unbedingt auf einen entsprechend starken Rückgang der Gesamtinvestitionen geschlossen werden. Da einerseits die über Abschreibungen in den Unternehmen selbst verfügbaren Finanzmittel nicht zurückgehen, andererseits steigende Ersparnisse die Fremdfinanzierung eher erleichtern, dürften Ersatz- und Rationalisierungsinvestitionen insgesamt kaum beeinflußt werden. Für einen Anstieg der Gesamtinvestitionen im Vergleich etwa zur Situation der Bevölkerungsstationalität gibt es allerdings keine Argumente und der Rückgang der Erweiterungsinvestitionen bleibt als mutmaßliche Konsequenz erhalten. Die nur wenig beeinflußten Ersatz- und Rationalisierungsinvestitionen haben die Konsequenz, daß Kapitalstock und Arbeitsproduktivität weiter 30 Typisch dafür können die öffentlichen Infrastrukturinvestitionen sein, die (abgesehen von einem bestehenden Nachholbedarf in einzelnen Bereichen) für die Zukunft kaum mehr positive Zuwächse erwarten lassen dürfen (Bildung, Verkehr etc.).
136
2. Kapitel: Bevölkerungs- oder Familienpolitik
wachsen, da die neuen Anlagen in der Regel effizienter arbeiten als jene, an deren Stelle sie treten. Die technische Fortschrittsrate (auch die Erhöhung der Arbeitsproduktivität) kann deshalb auch bei insgesamt sinkender Investitionsquote unverändert positiv bleiben bzw. wird von einem Rückgang erst später und schwächer erfaßt als die Investitionen insgesamt. Die angesprochenen Zusammenhänge, dies wird bei den Investitionen besonders deutlich, bedürften unbedingt einer empirischen Überprüfung. Obwohl die Gesamtbevölkerung in Deutschland bereits seit einigen Jahren schrumpft, ist der Bevölkerungsrückgang aber als empirisches Phänomen bislang noch zu jungen Datums, um ausreichend viele Daten bereitzustellen. Die bisherigen Ausführungen haben jedenfalls gezeigt, daß man die Fragestellungen und das Szenario einer schrumpfenden Bevölkerung nicht etwa spiegelbildlich aus den Erfahrungen ablesen kann, wie sie bei wachsender Bevölkerung gewonnen werden. Gerade aus diesem Grund auch muß eine endgültige (auch empirische) Klärung der Zusammenhänge der Zukunft überlassen bleiben. 2.3. Das volkswirtschaftliche Gleichgewicht bei schrumpfender Bevölkerung
2.3.1. Die neoklassische Analyse
In neo klassischen Wachstumsmodellen wird in der Regel unterstellt, daß die Bevölkerung "stabil" mit einer Rate n wächst, d. h. alle Altersgruppen nehmen von Jahr zu Jahr um einen gleichen Betrag zu31. Bereits Solow deutete in seinem grundlegenden Beitrag an, daß diese Vorgehensweise erweiterungsfähig und -bedürftig sei, was in der Folgezeit auch in zwei Richtungen geschah: In einer Reihe von Beiträgen wurde die Wachstumsrate n "endogeni-
siert", d. h. durch andere Modellparameter erklärt. So könnte die Bevölkerungsentwicklung beispielsweise von der Kapitalintensität, dem Pro-KopfEinkommen, dem Lohnsatz oder einer Differenz zu einem fixen oder variablen Subsistenzlohn abhängig sein 32 . Durchaus plausible Annahmen (kon31 Die Altersstruktur und das Konsumenten-Arbeitskräfteverhältnis bleiben unverändert. 32 Siehe dazu M. Beckmann, Wirtschaftliches Wachstum bei abnehmenden Skalenerträgen, in: Theorien des einzel wirtschaftlichen und gesamtwirtschaftlichen Wachstums, S. d. V. f. Soc. pol., N. F. Bd. 34, hrsg. von W. Krelle, Berlin 1965, S. 99-112; J. Niehans, Economic Growth with two Endogenous Factors, in: QJE, Vol. 77, 1963, S. 349-371; oder W. Krelle, Bevölkerungsentwicklung und W irtschaftswachstum, in: Theorien des einzelwirtschaftlichen ... , S. 131-148.
2. Makroökonomische Konsequenzen eines Bevölkerungsrückgangs
137
stante Skalenerträge etc.) über ökonomische Parameter führen hier allerdings zu unendlich wachsenden Bevölkerungen! Nur mit Malthusianischen Annahmen können in diesem Ansatz sinnvolle Ergebnisse in bezug auf die Bevölkerungsentwicklung gewonnen werden 33 . Eine zweite Erweiterung ist die explizite Berücksichtigung der Altersstruktur der Bevölkerung 34 . Auch bei diesem erfolgversprechenden Ansatz wurden bislang allerdings ausschließlich wachsende Bevölkerungen untersucht, d. h. steigende Fruchtbarkeit oder sinkende Sterblichkeit unterstellt. Eine Reduktion der weiterhin exogenen "stabilen" positiven Wachtumsrate n der Bevölkerung auf Null innerhalb des neoklassischen Wachstumsmodell wurde explizit von Brems 35 diskutiert. Am Beispiel dieser Analyse kann gezeigt werden, welche Annahmen nötig sind, um eine solche Fragestellung überhaupt im Rahmen des neoklassischen Modells behandeln zu können. Die Grundannahmen von Brems sind 36 :
x = TF ·L a ·Kß mit a LD =Ls W = wLD y = W+Z C X I
=cX
=C+l = dK/dt
Aus: X = C
+I
+b=
1; mit: X = LD = Ls = W, Z = w = y = C = c = I = K =
physischer Output Arbeitsnachfrage Arbeitsangebot Lohnsumme, Gewinne Lohnsatz Volkseinkommen Konsum Konsumneigung Investitionen Kapitalstock
und C = cX folgt stets:
I = (1 - c) X = S.
Die beiden aus unserer Sicht wichtigsten Elemente des Modells sind die automatische Identität von Arbeitsangebot und -nachfrage sowie die Abhängigkeit des Konsums nicht vom Einkommen sondern vom realen Pro33 Als Zusammenfassung verschiedener Endogenisierungsversuche siehe G. Steinmann, Bevölkerungswachstum und Wirtschaftsentwicklung, Neoklassische Wachstumsmodelle mit endogenem Bevölkerungswachstum, Berlin, 1974. 34 Siehe dazu J. E. Meade, The Growing Economy, Kapitel X, oder K. Jaeger, AItersstrukturveränderungen ... , Kapitel 5. 35 H. Brems, Labor, Capital and Growth, Lexington 1973, bes. S. 67 ff. 36 Ebenda, S. 55 ff.
138
2. Kapitel: Bevölkerungs- oder Familienpolitik
duktionsvolumen 37 . Die Wachstumsrate des realen Produktionsvolumens bestimmt sich aus der Produktionsfunktion als:
gx
Nullwachstum der Bevölkerung wird nun eingeführt durch die Annahme, daß gL zu Null wird 38 , 39. Dann wächst das Produktionsvolumen nur mehr mit:
Sobald gTF größer ist als agK' wächst der Output schneller als der Kapitalstock und der Reallohn kann ebenso zunehmen 40 wie der Konsum (absolut und pro Kopf), denn der reale Output wächst wegen des positiven technischen Fortschritts und des Wachstums des Kapitalstocks mit Sicherheit. Auch die Lohnbezieher stellen sich bei Bevölkerungstationarität besser als in der Situation des Wachstums. Selbst eine negative Wachstumsrate der Bevölkerung kann Einkommen und Konsum in absoluten Größen erhöhen, solange gTF undßgK größer sind als ein negatives gL. In pro-Kopf-Betrachtung ist sogar jede beliebige negative Wachstumsrate der Bevölkerung mit steigendem Wohlstand (pro-Kopf-Konsum und -einkommen) vereinbar. Neben den bereits behandelten Voraussetzungen (des definitionsgemäßen Arbeitsmarktgleichgewichts und der Abhängigkeit des Konsums vom Produktionsvolumen) ist eine implizite Annahme besonders wichtig: Ging das elementare Wachstumsmodell von einer stabil wachsenden Bevölkerung aus (alle Altersgruppen wachsen mit gleicher Rate), so wird nun eine stationäre oder stabil schrumpfende Bevölkerung unterstellt, bei der alle Altersgruppen zeitlich unverändert bleiben oder sich mit fester Rate verkleinern. Ein derartiger Übergang in der Besetzung aller Altersgruppen ist aber 37 So könnte eine von uns vorne abgeleitete Erhöhung des Arbeitsangebots zwar unter diesen Annahmen zu einem Sinken der Reallöhne führen, nicht aber zu Reduktionen im Konsum. 38 H. Brems, Labor, Capital ... , S. 67. 39 Da vorher alle Altersgruppen mit konstanter Rate wuchsen und nur die Geburten veränderbar sind, kann dieses Nullwachstum frühestens nach zwanzig Jahren eintreten. Da auch dann noch alle älteren Jahrgänge gegenüber dem Vorjahr weiterwachsen, kann von einer vorher stabil wachsenden Bevölkerung aus ein gL = 0 u. U. nur erreicht werden, wenn ganz unten überhaupt keine Erwerbspersonen eintreten (d. h., die Geburtenrate müßte zeitweise auf Null zurückgehen!). 40 Die Wachstumsrate des Reallohns (gw - gp) mit p = Preisniveau ist nach der Grenzproduktivitätstheorie gx - gL . Je kleiner gL' desto gröBer die Lohnsteigerungen.
2. Makroökonomische Konsequenzen eines Bevölkerungsrückgangs
139
erst möglich, wenn die angenommene Stationarität oder die negative Wachtumsrate bereits zum Zeitpunkt der Geburt des ältesten noch lebenden Altersjahrgangs (d. h. seit mindestens 80 Jahren) herrschte. Vorher wuchsen ältere Jahrgänge noch 41 , während jüngere Altersklassen stagnierten oder schon schrumpften und die Bevölkerung ihre Stabilitätseigenschaft verlor. Das neoklassische Modell beschreibt folglich nur jeweils die Endzustände von Bevölkerungsveränderungen und schließt gerade in unserem Zusammen-
hang sehr lange Zeiträume ein.
Der für Deutschland (und andere europäische Länder) relevante Fall einer Bevölkerung, die innerhalb weniger Jahrzehnte von positiven zu negativen Wachstumsraten wechselte, ist in diesen Rahmen praktisch nicht integrierbar. Wir hatten ermittelt, daß im Bevölkerungsrückgang das Arbeitsangebot steigt, während die Konsumentenzahl und die Gesamtnachfrage zurückbleiben. Dies allein zeigt, daß der neoklassische Approach für die uns besonders interessierenden Fragen des Übergangs vom positiven zum negativen Wachstum kaum geeignet ist.
2.3.2. Die "Stagnationstheorie". Eine keynesianische Analyse In der keynesianischen Analyse sind Angebot und Nachfrage nicht automatisch identisch, so daß die vom Bevölkerungsrückgang ausgelösten Strukturverschiebungen zu strukturellen Veränderungen des Marktgleichgewichts führen können. Die zentrale These der keynesianischen Stag nationstheorie kann folgendermaßen zusammengefaßt werden 42 : Wegen des vom Bevölkerungsrückgang ausgelösten Nachfragerückgangs reduziert sich die Auslastung des volkswirtschaftlichen Produktions potentials und führt zu längerfristigen Wachstumsschwächen. Ein Bevölkerungsrückgang dämpft für sich gesehen einige Jahrhunderte lang die Wachstumsrate der volkswirtschaftlichen Gesamtnachfrage stärker als die Wachtumsrate des Produktionspotentials. Auch bei Stagnation darf es eine positive Wachstumsrate des Sozialprodukts geben, aber die Lücke zwischen tatsächlichem Sie sind ja geboren zu Zeiten stabilen Bevölkerungswachstums. Hautvertreter dieser Theorie war neben Keynes vor allem A. H. Hansen. Siehe hierzu: Economic Progress and Declining Population Growth, in: AER, Vol. 29, 1939, S. 1-15; oder ders., Fiscal Policy and Business Cycle, New York, 1941. Eine ausführliche Monographie zum Themenkreis bietet W. B. Reddaway, The Economics of a Declining Population, London 1939. 41
42
140
2. Kapitel: Bevölkerungs- oder Familienpolitik
BSP BSP po t . BSP t a t s.
t
Abb.27
und potentiellem Sozialprodukt vergrößert sich im Bevölkerungsrückgang mindestens zeitweise 43 (Abb. 27). Sobald wir zum Produktionspotential sowohl den Faktor Kapital als auch den Faktor Arbeit 44 zählen, können unsere vorigen Ausführungen hier unmittelbar integriert werden: Das Arbeitskräftepotential wächst noch einige Jahrzehnte nach Eintritt des Geburtenrückgangs. Auch der Produktionsfaktor Kapital nimmt vor allem über Ersatz- und Rationalisierungsinvestitionen zu, so daß auch der technische Fortschritt nahezu ungehemmt weiterwirkt. Erst relativ spät reduziert sich das absolute Wachstum des Produktionspotentials sowohl beim Faktor Arbeit als auch beim Kapital oder kommt sogar zum Stillstand. Auf der Nachfrageseite, wo in der Keynesianischen Betrachtungsweise die Höhe des tatsächlichen Sozialprodukts festgelegt wird, können bereits relativ kurze Zeit nach Eintritt des Geburtenrückgangs auftretende Stagnationstendenzen nur vermieden werden, wenn die sinkende Investitionsneigung durch eine sinkende Sparneigung (d. h. eine Erhöhung der Konsumneigung) 43 So explizit B. Higgins, The Concept of Secular Stagnation, in: AER, Vol. 40, 1950, S. 160-166. 44 In manchen Berechnungen des Produktionspotentials wird nur der Faktor Kapital berücksichtigt (so in Deutschland durch den Sachverständigenrat), was aber wegen der hier gewählten längerfristigen Betrachtungsweise nicht angemessen ist. Makroökonomisch darf bestenfalls in der Momentaufnahme strenge Limitationalität unterstellt werden.
2. Makroökonomische Konsequenzen eines Bevölkerungsrückgangs
141
kompensiert wird 4s . Gerade dies ist nach den vorangegangenen Ausführungen kaum zu erwarten, wo eine automatische Stimulation der Konsumgüternachfrage nirgendwo zu ersehen war. Die Reduktion in der Auslastung des Produktionspotentials führt unvermeidlich zu verstärkter Arbeitslosigkeit 46 . Gleichzeitig sind für diejenigen, die tatsächlich Beschäftigung finden, durchaus steigende Reallöhne möglich. Das Sozialprodukt kann absolut (und noch wahrscheinlicher in proKopf-Betrachtung) wachsen, ohne im Widerspruch zur vorhergehenden Aussage zu stehen, solange die Märkte (vor allem der Arbeitsmarkt) wegen zahlreicher Rigiditäten und Unvollkommenheiten keinen schnellen und automatischen Ausgleich der vom Bevölkerungsrückgang ausgelösten Strukturverschiebungen herbeiführen.
2.3.3. Wirtschajispolitische Empfehlungen für die Situation des Bevölkerungsrückgangs Obwohl es im strengen Sinn nicht zu unserer Fragestellung gehört, können wir an dieser Stelle kurz zu den verschiedenen Empfehlungen Stellung nehmen, die im Hinblick auf die makroökonomischen Auswirkungen eines Bevölkerungsschwunds vorgetragen wurden. Da Stagnationstendenzen von der Nachfrageseite ausgehend vermutet werden, setzen die wirtschaftspolitischen Empfehlungen von Keynesianern auch bei der Stimulierung der Gesamtnachfrage ein. Keynes selbst schlug beispielsweise eine Kaufkraftumverteilung von Familien mit relativ niedriger Konsumneigung (Ein- oder Zweipersonenhaushalte ohne Kinder) zu solchen mit relativ hoher Konsumneigung (kinderreiche Familien) vor 47 • 48 . Die jüngere deutsche wirtschaftspolitische Diskussion 49 folgt eher der Logik des neoklassischen Grundmodells : Als Ursache aller möglichen Übel 4S So etwa die Argumentation von G. Terborgh, The Bogey ofEconomic Maturity, Chicago 1945, der einer der schärfsten und frühesten Kritiker der Stagnations theorie war. 46 Spätestens an dieser Stelle erkennt man die Ähnlichkeit in der Argumentation der Stagnationstheorie mit jener des früher formulierten Günther-Paradoxons. 47 J. M. Keynes, Some Economic Consequences ofDeclining Population Growth, in: Eugenics Review, Vol. 29, 1937, S. 13-17. 48 Der im vierten Kapitel diskutierte Familienlastenausgleich wäre dafür ein geeignetes Instrument. 49 Siehe dazu: Wirtschaftspolitische Implikationen eines Bevölkerungsrückgangs, Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Wirtschaft, Bonn, 1980. In gleicher Weise argumentiert die Konferenz der Wirtschaftsminister
142
2. Kapitel: Bevölkerungs- oder Familienpolitik
(wobei insgesamt die möglichen Auswirkungen weit weniger negativ gesehen werden) werden zu geringe Produktionskapazitäten angesehen. Sobald das Arbeitsangebot langfristig schrumpft, müssen als Ausgleich vor allem steigende Investitionen gefordert werden. Auch ein eventuell konstatiertes Ausbleiben der Konsumgüternachfrage kann in kurzfristiger Sicht durch eine steigende Investitionsgüternachfrage ausgeglichen werden, vor allem, wenn die Investitionsgüterindustrie einen derart hohen Stellenwert hat wie in Deutschland. Mittelfristig allerdings vergrößert jede Investition das Produktionspotential und verstärkt damit (aus keynesianischer Sicht) das bestehende Ungleichgewicht weiter. Zum anderen ist zu fragen, wie private Investoren angesichts sinkender Auslastungen und gedämpfter Zukunftserwartungen angereizt werden könnten, zusätzliche neue Kapazitäten zu schaffen. Insgesamt erweist sich, daß bereits auf der Stufe der theoretischen Durchdringung die Auswirkungen eines Bevölkerungsrückgangs nicht hinreichend durchleuchtet sind. Noch viel weniger gilt dies für die daraus abzuleitenden wirtschaftspolitischen Empfehlungen.
3. Nicht-makroökonomische Auswirkungen eines Bevölkerungsrückgangs 3.1. Konsequenzen einer Veränderung der absoluten Bevölkerungszahl
Die absolute Bevölkerungszahl war seit jeher Gegenstand staatlicher Politik und jedenfalls zeitweise auch der ökonomischen Theorie. Dabei wurde das Wachstum der jeweils eigenen Bevölkerung mit Stolz begrüßt, während gleiches bei anderen Staaten als negativ kritisiert wurde 50 . Ein Beispiel für eine solche Sichtweise stellt wie in den hochindustrialisierten Staaten weitverbreitete Haltung gegenüber dem Bevölkerungswachstum in Entwicklungsländern dar. Eine Beurteilung von Gründen, die für eine größere oder kleinere Bevölkerung sprechen, sollte deshalb von der eigenen aktuellen Situation so weit als möglich abstrahieren, weil sich auch in der Bevölkerungsgeschichte hochindustrialisierter Staaten ganz unterschiedliche Entwicklungen abspielten und vermutlich auch in Zukunft ergeben werden. und -senatoren der Länder der Bundesrepublik Deutschland (Bericht über die Auswirkungen des Geburten- und Bevölkerungsrückgangs auf die Wirtschaftsentwicklung, Kiel, 27. und 28. August 1980). 50 So J. Overbeek, History of Population Theories, Rotterdam, 1974, S. 7.
3. Nicht-makroökonomische Auswirkungen eines Bevölkerungsrückgangs 143
Wenn das Bevölkerungswachstum anderer Staaten als zu groß kritisiert wird, steht zumeist ein Argument im Vordergrund: Eine größere Zahl an Menschen benötigt eine größere Menge an knappen Ressourcen. Während aus der Sicht eines Staates vielleicht die territoriale Expansion noch vorhandene Beschränkungen auflösen kann, wird bei der übergreifenden Betrachtung des "Raumschiffs" Erde klar, daß ein Großteil der Ressourcen absolut beschränkt sind, auch wenn der technische Fortschritt diese Grenze über eine verbesserte Nutzung verschieben kann. Um aus diesem Argument eine aktive Politik zur Reduktion der Kopfzahl einer Bevölkerung abzuleiten 51 , bedarf es einer massiven Knappheit der erschöpfbaren Ressourcen, die das Leben aller, also auch und nicht nur der potentiellen Eltern, wesentlich und direkt beschränkt. Dieses Argument mag bei einer Ausgangslage von extremer räumlicher Beschränktheit und knapper Versorgung mit notwendigen Ressourcen verwendet werden 52 . Im Normalfall kann der Umstand, daß mit neuem Leben die Bedingungen für bereits existierendes Leben verändert werden, das Recht auf freie Entscheidung über neu es Leben nicht außer Kraft setzen. Unter den Lebensbedingungen hochindustrialisierter Staaten 53 kann nicht argumentiert werden, Eltern würden durch die Geburt von Kindern ähnlich wie Mörder oder Diebe 54 in die Freiheit anderer eingreifen und deren Entscheidung müsse folglich reguliert werden. Auch wenn die Bundesrepublik eines der dichtestbesiedelten Länder der Welt ist, kann daraus nicht die Forderung abgeleitet werden, die Bevölkerung dürfe oder solle nicht wachsen 55 . Falls Kinder Ag51 Einige Staaten, vor allem Taiwan und Hongkong, seit kurzem auch die Volksrepublik China, betreiben eine bewußt geburtenmindernde Politik. Familien mit nur einem oder zwei Kindern werden auch mit ökonomischen Mitteln (Ausbildungshilfen, Wohnungsversorgung, Entlohnung etc.) aktiv bevorzugt, während Familien mit vielen Kindern solche Mittel nicht erhalten und teilweise sogar absolut und nicht nur relativ schlechter gestellt werden. Forderungen nach Durchführung einer derartigen Form von "Familienpolitik" sind selbst unter theoretischen Ökonomen verbreitet. Als Beispiel siehe etwa J. A. Mirrless, Population Policy and the Taxation of Family Size, in: Journal of Public Economics, Vol. 1, 1972, S. 169-198. 52 Ohne daß hier auch nur ein vorläufiges Urteil möglich ist, könnte sich eine solche Ausgangslage den Verantwortlichen z. B. in Hongkong stellen. 53 Für die USA siehe den Sammelband: The No-Growth-Society, hrsg. von M. 01son und H. Landsberg, New York 1973, wo Nullwachstum als aktuelle gesellschaftspolitische Aufgabe propagiert wird. 54 Dies schwebt K. Davis (Zero Population Growth: The Goal and the Mean, in: No-Growth Society ... , S. 15-30) explizit vor " ... a person having four or more children would be regarded as violating the freedom of those other citizens who must help pay for rearing, educating, and feeding the excess children" (S. 28). 55 Anders im Prinzip P. Leyhausen, Bevölkerungsdichte und Ökologie, in: Sterbendes Volk?, hrsg. von J. Gründel, Düsseldorf 1973, S. 79-114.
144
2. Kapitel: Bevölkerungs- oder Familienpolitik
glomerationskosten verursachen, kann man bestenfalls fordern, daß diese Kosten von den Verursachern (stärker) getragen werden müßten. Die Forderung nach einer wachsenden eigenen Kopfzahl wurde in der Geschichte fast stets aus Machtgesichtspunkten abgeleitet, wobei Kopfzahl mit militärischer Stärke gleichgesetzt wurde. Aus der Sicht eines kleinen Landes steht oft nicht so sehr die eigene mangelnde Veteidigungsfahigkeit im Mittelpunkt, sondern das mit wachsender Bevölkerung und sinkenden Ressourcen anderer Staaten erzeugte Aggressionspotentiat5 6 . Aus weltweiter Sicht waren viele der Argumente der absoluten Zahl im Grunde relative Argumente, die auf Verteilungsargumenten beruhen. Die Situation entspricht derjenigen des N-Personen-Prisoners' Dilemma der Spieltheorie 57 : Obwohl die "kooperative" Strategie für alle Staaten eine Beschränkung des Wachstums nahelegt, kann doch jeder einzelne Staat durch Wahl der "kompetitiven" Strategie Vorteile gewinnen. Unter den heutigen technischen Bedingungen ist die Beziehung zwischen militärischer Macht und absoluter Kopfzahl stark gelockert, wenn nicht ganz aufgehoben. Die absolute Bevölkerungszahl und ihre Veränderung wirkt aber auch bei hochtechnisierten Rüstungspotentialen auf die Verteidigungsfahigkeit. In Deutschland wird dies angesichts der Erfahrung erkennbar, daß die Zahl der Wehrpflichtigen in den nächsten Jahren stark zurückgeht und andere - kostspieligere - Methoden der Landesverteidigung gefunden werden müssen. 3.2. Bevölkerungspolitische Ansatzpunkte durch die relative Verschiebung in der Besetzung von Bevölkerungsgruppen
3.2 .1. Soziale Konsequenzen der" Überalterung" Eine Reduktion der Geburtenrate führt (wie in Abb. 25 zu ersehen ist) vor allem zu einer Verschiebung im Verhältnis der Generationen. Im Verlauf der demographischen Übergänge stieg der Anteil der Senioren in allen Industrie56 Die Argumente der eigenen Macht und der Knappheit von Ressourcen gehören faktisch zusammen: Ein räumlich großes und reich mit Ressourcen ausgestattetes Land beurteilt das Bevölkerungswachstum eines benachbarten Staates (ohne eigene Ressourcen in räumlicher Enge) vor allem deshalb negativ, weil es damit langfristig verstärkte Forderungen nach einer veränderten internationalen Allokation der knappen Ressourcen vermutet. 57 In einer einführenden Darstellung dieser Entscheidungssituation siehe D. Luce und H. Raiffa, Games and Decisions, New York 1957.
3. Nicht-makroökonomische Auswirkungen eines Bevölkerungsrückgangs 145 ländern bereits kontinuierlich an. Das inzwischen eingetretene Sinken der Kohortenfruchtbarkeit unter das Reproduktionsniveau wird nun in Deutschland vom bereits hohen Niveau aus noch einmal den Anteil der Senioren erhöhen. Diese Verschiebung hat eine Reihe von Konsequenzen in vielen Lebensbereichen. Im Rahmen dieser Arbeit kann davon nur ein kleiner Ausschnitt behandelt werden; Konsequenzen, die einerseits im Umfeld einer ökonomisch-sozialen Betrachtungsweise relevant sind und die andererseits wenigstens potentiell als Interventionsargument in Frage kommen 58 : Aus den bisherigen Ausführungen drängt sich ein Argument in den Vordergrund, das auch einen Schwerpunkt der weiteren Arbeit ausmacht: Die mit dem Bevölkerungsrückgang einhergehende Steigerung im Anteil der Alten führt (in einem gesellschaftlichen System wie der Bundesrepublik) zu einer Erhöhung der Belastung für die erwerbstätige Generation, die kollektiv für die Versorgung der Seniorengeneration aufkommen muß. Eine wahrscheinliche Konsequenz der Bevölkerungsalterung, die allerdings keinen Ansatzpunkt bevölkerungspolitischer Reaktion bietet, ist eine entstehende Tendenz zum verstärkten Konservativismus in Gesellschaft und Politik. Dies mag für politische Parteien unmittelbar relevant sein, kann sich aber auch auf die wirtschaftliche Motivationsstruktur auswirken. Eng mit der geistigen Mobilität zusammen hängt auch die räumliche Mobilität der Bevölkerung. Eine alternde Gesellschaft wird der Tendenz nach räumlich zunehmend immobiler. Relevant wird eine solche Entwicklung vor allem dort, wo sie auch das Arbeitskräftepotential erfaßt. In einer Marktwirtschaft mit hohen Anpassungsanforderungen muß sich dies langfristig vor allem in internationaler Betrachtung als Effizienzverlust erweisen. Eine weitere in der deutschen Geschichte bereits mehrfach beobachtete Konsequenz der Überalterung ist eine rasche Verschlechterung der Karriereund Lebenschancen der jeweils jungen Generation 59 . In der wachsenden 58 Als Überblick über den hier nur sporadisch behandelten Themenkreis siehe F.X. Kaufmann, Die Überalterung, Zürich und St. Gallen, 1960, ders., Makro-soziologische Überlegungen zu den Folgen eines Bevölkerungsrückgangs, in: ders., Hrsg., Bevölkerungsbewegung zwischen ... , S. 45-71; R. Clark, J. Kreps und J. Spengler, Economics of Aging: A Survey, in: JEL, Vol. XVI, 1978, S. 919-962 oder R. Clark und J. Spengler, The Economics of Individual and Population Aging, Cambridge, 1980. 59 "Auch alle liberalen Professionen leiden an dieser Überfüllung. Juristen und Verwaltungskandidaten, Ingenieure, Baumeister, Chemiker, Maschinisten warten zu Hunderten auf Verwendung. Zum öffentlichen Dienst ist ein hoch gesteigerter Zudrang. Die Frequenz der Universitäten hat eine unnatürliche Höhe erreicht. Selbst der Mangel an evangelischen Theologen und an Volksschullehrern hat aufgehört. Es 10
Dinkel
146
2. Kapitel: Bevölkerungs- oder Familienpolitik
(sich verjüngenden) Gesellschaft werden viele Karrierepositionen neu geschaffen, die nicht alle von den relativ wenigen älteren Führungskräften besetzt werden. Für die neu eintretende Generation öffnet sich ein Karriereund Berufsspektrum, das die gesamte Lebenssicht dieser Generation positiv erscheinen läßt. In der alternden Gesellschaft verharren die vielen älteren Führungskräfte in den nicht mehr numerisch wachsenden Führungspositionen und führen zu einem Stillstand innerhalb der Hierarchien und einer Verschlechterung der Zukunftsaussicht einer ganzen Generation 6o . In ökonomischer Sicht bewirkt eine Überalterung unabhängig von den makroökonomischen Konsequenzen eines Bevölkerungsrückgangs vor allem eine qualitative Veränderung des Arbeitsangebots, das nun zu einem weit größeren Anteil aus älteren Erwerbstätigen besteht. Eine wichtige Frage ist nun, ob davon der Output pro Beschäftigtenstunde beeinflußt wird. Sieht man von der Reduktion in der Mobilität ab, sind die Zusammenhänge zwischen Lebensalter und Berufsleistung wenig eindeutig: Nur in einem eng begrenzten und immer kleiner werdenden Anteil der Berufe sind die Körperkräfte das wichtigste Kriterium der Leistungsfähigkeit. Von mindestens gleicher Bedeutung sind Arbeitserfahrung, Konzentrations- oder Lernfähigkeit und ähnliche Faktoren, die mit den physischen Fähigkeiten nicht korreliert sein müssen. Der Zusammenhang zwischen Alter und Leistungsfähigkeit dürfte stark von der jeweiligen Beschäftigungsart abhängen, aber Uedenfalls bis zu einem Alter von 55 oder 60 Jahren) nicht grundsätzlich negativ sein 61 . Mit dem bereits angesprochenen zunehmenden Konservatismus geht eine Reduktion unternehmerischer Initiative und der Bereitschaft zur Risikoübernahme einher. Dabei reduziert sich (verglichen mit einer relativ jüngeren Bevölkerung) nicht nur das Ausmaß der volkswirtschaftlichen Investitionen. Auch die Struktur verschiebt sich - wie aus anderen Gründen diskutiert - zusätzlich weg von der Einführung technischer Neuerungen hin zu Ersatz- und Rationalisierungsinvestitionen. Ohne im Detail auf weitere Konsequenzen der Überalterung einzugehen, kann die für unsere Argumentation wichtigste Schlußfolgerung bereits gewird jetzt fast keine Stelle in öffentlichen Blättern ausgeschrieben, um die sich nicht eine Unzahl Aspiranten meldet". (G. Rümelin, Die Übervölkerungsfrage, Freiburg 1881, wiederabgedruckt in: K. Diehl und P. Mombert, Hrsg. Ausgewählte Lesestükke zum Studium der Politischen Ökonomie, Karlsruhe, 1912, S. 93.) 60 Mit den endgültigen Ausscheiden der stark besetzten Jahrgänge kann sich die Entwicklung dann wieder in ihr Gegenteil verkehren und eine dauerhaft zyklische Entwicklung bewirken. 61 Als Überblick siehe etwa R. McFarland und B. ü'Doherty, Work and üccupational Skills, in: J. Birren, Hrsg., Handbook on Aging and the Individual, Chicago 1959, S. 452-500.
3. Nicht-makroökonomische Auswirkungen eines Bevölkerungsrückgangs 147
zogen werden: Auch wenn die Konsequenzen einer zunehmenden Alterung als gewichtig erkannt werden, dürfte keines der vorgetragenen (und der vielen noch möglichen) Argumente von der Qualität sein, daß damit eine bevölkerungspolitische Intervention zu begründen wäre. Ähnlich wie bei den Argumenten der absoluten Zahl ist die Gesellschafts-, Sozial- und Wirtschaftspolitik aufgefordert, auf die Überalterung zu reagieren. Anders als etwa Kaufmann 62 können wir daraus allerdings nicht schlußfolgern, die Überalterung wäre für sich genommen schon Grund genug, in die Entscheidungen der potentiellen Eltern einzugreifen. 3.2.2. Alters- und Kinder/ast in Folge eines Geburtenrückgangs Für die gesamtgesellschaftliche Beurteilung einer Überalterung ist vor allem bedeutsam, daß von den verschiedenen gleichzeitig lebenden Generationen nur die Generation der Erwerbstätigen produktiv ist, daß sowohl Senioren als auch Kinder von ihr mitversorgt werden (müssen). Mit der Verschiebung der relativen Anteile der Generationen verschiebt sich deshalb auch die Belastung der erwerbstätigen Generation. Dies gilt sowohl global als auch - noch wichtiger - für die einzelnen Familien, wobei sich die individuellen Ent- oder Belastungen ganz unterschiedlich zur allgemeinen Generationenerfahrung entwickeln können. Bei einer Beurteilung der Auswirkungen von Altersstrukturverschiebungen aus gesamtgesellschaftlicher Sicht hat es sich eingebürgert, von der sogenannten "Alterslastquote" zu sprechen, dem Anteil der über 60 oder 65jährigen an der Gesamtbevölkerung. Ähnlich wird die "Jugendlastquote" gebildet, der Anteil der unter 15jährigen, in manchen Fällen wird auch mit der "Bildungslastquote" argumentiert, dem Anteil aller in Ausbildung befindlichen Personen an der Gesamtbevölkerung. Die Auswirkungen eines Geburtenrückgangs, wie er beispielsweise in Tabelle 4 für die Bundesrepublik prognostiziert wurde, auch die obigen Größen können in Tabelle 8 abgelesen werden: Während die "Kinderlastquote" sofort sinkt (und die Bildungslastquote vielleicht noch einige Zeit unverändert bleibt), steigt die Alterslastquote nach einem kurzzeitigen Rückgang ab etwa 1990 mit zunehmendem Tempo Ge nach Annahme über die Bevölkerungsentwicklung). Die Gesaintlastquote als Summe dieser beiden Anteile kann für einige Jahrzehnte durchaus unverändert bleiben, sie könnte sich für einen Teil des Betrachtungszeitraums 62 10*
F.-X. Kaufmann, Die Überalterung ... , S. 526 ff.
148
2. Kapitel: Bevölkerungs- oder Familienpolitik
sogar beträchtlich reduzieren. Wie sie sich ab etwa 2030 entwickeln wird, hängt vor allem von den Annahmen über die dann resultierende Bevölkerungsentwicklung ab. Je niedriger deren Geburtenrate, desto geringer die Jugendlast, und je höher die Lebenserwartung, desto größer die zukünftige Alterslast. Tabelle 8 Kinderlastquote
(Anteil der Personen unter 15 Jahren an der Gesamtbevölkerung unter den Annahmen von Tabelle 4 dieser Arbeit) 1975
1985
Alterslastquote
(Anteil der Personen im Alter von 60 und mehr Jahren an der Gesamtbevölkerung)
2000
2030
1975
1985
2000
2030
Variante 1
21,7
15,3
15,5
12,7
21,2
20,7
23,1
32,9
Variante 2
21,7
17,0
21,1
19,9
21,2
20,2
21,1
23,5
Variante 3
21,7
13,8
12,0
8,4
21,2
20,9
24,5
40,6
Verhältnis aus der Summe von Kinder- und Alterslastquote zum Anteil der 15-59jährigen 1975
1985
2000
2030
Variante 1
56
44
50
72
Variante 2
56
46
55
59
Variante 3
56
43
48
88
Bei den Begriffen Alters- und Kinderlastquote handelt es sich um reine Bevölkerungsanteile, so daß die Formulierung "Last" im Grunde irreführend ist. Sie impliziert einen dahinterstehenden Kostenbegriff, der nicht existiert. Wenn festgestellt wird, Alters- und Jugendlastquote würden sich gegenläufig entwickeln und die Summe bliebe gleich, ist damit nichts über Kosten oder "gesellschaftliche Belastungen", sondern nur über zwei Bevölkerungsanteile ausgesagt. Die unreflektierte Hinzufügung 63 des Zusatzes "Last" hat allerdings dazu geführt, daß in der öffentlichen Diskussion die Gleichsetzung von Bevölkerungsanteilen und finanzieller Last stillschweigend vorausgesetzt wird. So entsteht für das Beispiel der deutschen Diskussion allzu leicht der Eindruck, mit der gleichbleibenden Gesamtlastquote 63 Im englischen Sprachraum wird ähnlich verwirrend von "dependency ratios" gesprochen.
3. Nicht-makroökonomische Auswirkungen eines Bevölkerungsrückgangs 149
wäre die Tatsache verbunden, daß sich die Strukturverschiebungen der Bevölkerungsanteile auch kosten mäßig gegenseitig kompensieren würden 64 . An der automatischen Gleichsetzung beider Begriffsinhalte kritisieren Clark und Spengler 65 , daß vor allem die Gleichsetzung der Altersstufe 15-59 mit "Erwerbs bevölkerung" oberflächlich sei, da die Erwerbsquote historisch starken Schwankungen unterlegen habe. Wie wir zudem bereits in vorangehenden Abschnitten diskutierten, ist vor allem die Erwerbsquote der potentiellen Mütter zugleich von der "Kinderlastquote" abhängig. Ähnlich vergröbert wie im Fall der Erwerbsbevölkerung ist auch die Gleichsetzung aller über 60- oder 65jährigen mit "Invaliden". Will man Jugend- und Alterslasten als gegenrechenbare finanzielle Begriffe behandeln, muß zudem geklärt werden, ob alle oder nur die jeweils von der Gesellschaft getragenen Kosten verglichen werden sollen. Wollte man alle (also auch die in den Familien getragenen) Kosten einschließen, dürften beide Quoten schon deshalb nicht addiert werden, weil es sich jeweils um ganz andere Personen handelt, die mehr von der Alters- und weniger von der Jugendlast zu tragen haben. Faßt man den Staat (die Gesellschaft) als unabhängige Person auf, können wenigstens seine Kosten zusammengefaßt und verglichen werden. Um die Entwicklung der "Last" für die Gesellschaft zu errechnen, müßte geklärt werden, ob für die erwerbstätige Generation die Erziehung eines Jugendlichen die gleichen (oder doch wenigstens vergleichbaren) Kosten verursacht wie die Versorgung eines Senioren. Wird diese Frage überhaupt beantwortet (wir werden sie im weiteren Verlauf der Arbeit von einem anderen Blickwinkel her ausführlicher aufgreifen), so hat sich die Ansicht durchgesetzt, ein Jugendlicher würde geringere Kosten verursachen als ein Senior66 . Die Vorstellung, aus der Sicht der Gesamtgesellschaft könnten sich A1ters- und Kinderlasten gegenrechnen lassen und zum großen Teil kompensieren, ist allerdings aus mehreren Gründen oberflächlich: 64 Als typisches Beispiel dafür siehe G. Bäcker, Finanzierungsprobleme der Rentenversicherung zwischen Verharmlosung und Dramatisierung, in: WSi-Mitteilungen, Heft 10, 1980, S. 591-604, bes. S. 599. 65 R. L. Clark und J. J. Spengler, Dependency Ratios: Their Use in Economic Analysis, in: Research in Population Economics, Vol. 2, 1980, S. 63-76. 66 Siehe etwa A. Sauvy, General Theory ofPopulation, New York, 1969, S. 310 f.; F.-X. Kaufmann (Makrosoziologische Überlegungen zu den Folgen eines Bevölkerungsrückgangs, in: ders., Hrsg., Bevölkerungsbewegung zwischen ... , a. a. 0., S. 45-71, bes. S. 52) nimmt an, die durchschnittlichen Versorgungsansprüche der Kinder und Jugendlichen lägen zwischen 70 und 90 % derjenigen eines Alten. Anderer Meinung ist G. Bäcker, Finanzierungsproblem ... , S. 599 f.
150
2. Kapitel: Bevölkerungs- oder Familienpolitik
Während bei der Alterslast, die überwiegend aus Transfers besteht, eine lineare Abhängigkeit der Gesamtkosten von der Kopfzahl plausibel erscheint, kann eine solche Relation bei der Jugendlast nicht gebildet werden. Die von der Allgemeinheit getragenen Jugendlasten konzentrieren sich zu einem Großteil auf die Bereiche Ausbildung und Gesundheit. Dort allerdings treten nur zu einem geringen Anteil variable Kosten auf. Das Bildungssystem von den Lehrkräften bis zu den Immobilien verursacht bei einer Reduzierung der Schülerzahl ähnliche Gesamtkosten wie vorher 67 . Bei steigenden Schülerzahlen gegründete Universitäten können zwar im weiteren Ausbau gehindert, kaum aber wieder im Bestand abgebaut werden. Der Bevölkerungsrückgang, der sich nach einigen Jahrzehnten auch im Arbeitsangebot und in einer generellen "Überalterung" der Gesellschaft niederschlägt, macht bei einer Reduktion der Schülzerzahl eine qualitative Verbesserung der Ausbildung notwendig. Nur so kann einerseits der technische Fortschritt oder auf der anderen Seite eine Sicherung der relativen ökonomischen Position (z. B. für den erschwerten Aufstieg in Karrierepositionen) gegenüber früheren zahlenmäßig stärkeren Jahrgängen gesichert werden. Damit werden alle wenigstens im Ansatz vorhandenen Sparmöglichkeiten bei einer Reduktion der Kopfzahl wieder beschränkt. Die Konsequenz ist, daß die Jugendlast im Bevölkerungsrückgangjaktisch nicht sinkt, was auch für die privaten "Kosten der Kindererziehung" gilt 68 .
4. Bevölkerungs- oder familienpolitische Zielformulierungen Aus den bisherigen Überlegungen scheint recht eindeutig zu folgen, weiche bevölkerungs- bzw. familienpolitischen Handlungsanweisungen im liberalen Rechtsstaat zulässig sind. Im Abschnitt 4.4. wollen wir eine solche Position auch formulieren. Vorher allerdings ist eine Auseinandersetzung not67 Da Bildungs- und Gesundheitsbereich wegen der hohen Personalintensität zu den volkswirtschaftlichen Bereichen mit den niedrigsten Produktivitätssteigerungen zählen, erhöhen sich dort wie bisher die Gesamtkosten (vor allem in pro-Kopf-Betrachtung) unabhängig von der sinkenden Auslastung weiter. 68 Wir hatten aus ökonomischer Sicht als die wichtigsten auftretenden Kostenfaktoren den Verzicht auf Erwerbseinkommen und die Zeitkosten der Eltern erkannt. Wenn nun innerhalb der Familien die durchschnittliche Kinderzahl beispielsweise von zwei auf eines zurückgeht, tritt nicht gleichzeitig eine Halbierung dieser Kosten ein. Wir werden im Verlauf der weiteren Argumentation die bereits im ersten Kapitel der Arbeit gewonnene Erkenntnis vertiefen können, daß in der privaten Kindererziehung Skalenerträge auftreten, die zu höheren pro-Kopf-Kosten bei einer Reduzierung der Kinderzahl führen.
4. Bevölkerungs- oder familienpolitische Zielformulierungen
151
wendig mit den verschiedenen in der Literatur gegenwärtig vertretenen Zielformulierungen, die von unserer eigenen Position teilweise beträchtlich abweichen.
4.1. Die "optimale" Bevölkerung: Eine Antwort im Rahmen der ökonomischen Theorie?
Von Anbeginn ökonomischer Analyse wurde erkannt, daß zwischen Wirtschafts- und Bevölkerungsentwicklung enge Wechselbeziehungen bestehen. Die Fragestellung der klassischen Nationalökonomie unter dem Eindruck der Auseinandersetzung mit dem Malthusianismus war stets, wieviele Menschen ein bestimmtes Land (meist konzentriert auf den Faktor Boden) ernähren könne 69 . Am Ende des 19. Jahrhunderts entstand zusammen mit der allgemeinen Durchsetzung des Marginalismus eine veränderte Betrachtungsweise, erstmals vorgetragen von Cannan 70 und Wickse1l 71 , die seither in immer wieder neuen Beiträgen belebt wird 72 • Gefragt wird nicht mehr nach der maximalen, sondern nach der "optimalen" Bevölkerung: Gesucht wird diejenige Bevölkerungszahl, die bei gegebener Ausstattung einer Volkswirtschaft mit Ressourcen "optimal" im Hinblick auf eine Zielfunktion ist, d. h. in aller Regel das pro-KopF-Einkommen oder den pro-KopfKonsum maximiert. Die Wahl des pro-KopF-Konsums als Zielgröße basiert auf der Schlußfolgerung, letzter Zweck jeder Einkommenserzielung sei der Konsum. In einem solchen Kalkül müssen natürlich Annahmen über den technischen Fortschritt und die (mindestens implizite) Zeitpräferenzrate großen Einfluß auf das Ergebnis haben. 1m Rahmen der neoklassischen Ökonomie ist die Frage nach der konsumoptimierenden Bevölkerungszahl technisch elegant zu lösen: Der Kapitalbestand ist gegeben, so daß zur Optimierung der Zielfunktion eine Anpassung der (variablen) Wachstumsrate der Bevölke69 Da im allgemeinen im Hinblick auf den möglichen technischen Fortschritt relativ pessimistische Annahmen gemacht wurden, waren die Antworten in bezug auf den gerade noch tragbaren Bevölkerungsstand aus heutiger Sicht klare Fehleinschätzungen. 70 E. Cannan, Elementary Political Economy, London 1888. 71 K. Wicksell, Die Lehre der Bevölkerung, ihrer Zusammensetzung und Veränderung, in: K. Wicksell, Vorlesungen über Nationalökonomie, Theoretischer Teil, Erster Band, Jena 1913, S. 14-58 oder K. Wicksell, Das Optimum der Bevölkerung, in: Die neue Generation, Oktober 1910, S. 383-391. 72 Als Überblick siehe J. D. Pitchford, Population in Economic Growth, Amsterdam 1974, Part. Il.
152
2. Kapitel: Bevölkerungs- oder Familienpolitik
rung an die technisch effizientesten Kapitalintensitäten zu suchen ist 73 . Wie bereits von Wicksell formuliert, ist die "optimale" Bevölkerung kleiner als die "maximale". Da in der vorgestellten Theorie nur die Wohlfahrt der jeweils lebenden Konsumenten maximiert wird, ging es einigen neueren Beiträgen, vor allem Meade 74 und Dasgupta 75 darum, die Zielfunktion zu erweitern. Aus der Nutzenfunktion u = u(c) wurde nun: U
= U(c,
N).
Neben dem pro-Kopf-Konsum (c) ist auch der Bevölkerungsstand (N) selbst Gegenstand des Kalküls. Zwischen beiden Elementen der Nutzenfunktion ist dann eine Gewichtung nötig. Je nach existierendem Stand der Technik folgen Anweisungen für die Bevölkerungsentwicklung, die nun nur durch Zufall auf Bevölkerungsstationarität herauslaufen und durchaus einmal negativ und (nach einem exogenen technischen Fortschritt) anschließend positiv sein können 76. Man kann auch, wie dies vor allem Sauvy 77 vorträgt, das Konzept der optimalen Bevölkerung als Analogie zur optimalen Ausbringungsmenge im ökonomischen Angebotsmonopol entwickeln. "Optimal" ist dann derjenige Bevölkerungsstand bzw. diejenige Veränderungsrate der Bevölkerung, bei der die Differenz zwischen Bevölkerungslasten (notwendige Investitionen, Agglomerationskosten etc.) und -erträgen ("economics of scale" etc.) maximal ist. In ähnlicher Weise kann auch diejenige Reproduktionsrate der Bevölkerung gesucht werden, bei der die Summe aus Kinder- und Altenlast minimiert wird 78 . Dabei ist zu berücksichtigen, daß die Altenlast sich umgekehrt proportional zur Reproduktionsrate entwickelt Oe geringer die Reproduk73 Dieses Optimum kann analog zum allgemeinen neoklassischen Modell durch Außenhandel oder die Annahme (nicht) erneuerbarer Ressourcen etc. verändert werden. 74 J. Meade, Trade and Welfare, Oxford, 1955. 75 P. S. Dasgupta, On the Concept ofOptimal Population, in: RES, Vol. 36, 1969,
S. 295-318.
76 Obwohl nie ausgesprochen, kann man sich vorstellen, was Entwicklungsländer in Punkto Bevölkerungsentwicklung (etwa im Gegensatz zu hochindustrialisierten Staaten) aus einer solchen Theorie zu schlußfolgern hätten. 77 A. Sauvy, The Optimal Change of a Population, in: Economic Factors in Popu~ lation Growth, hrsg. von A. J. Coale, London 1976, S. 63-73. 78 Siehe dazu 1. Bourgeois-Pichat, Charges de la population active, in: Journal de la Societe de Statistique de Paris, 1950, S. 94-114; oder F.-X. Kaufmann, Die Überalterung ... , S. 309 ff.
4. Bevölkerungs- oder familienpolitische Zielformulierungen
153
tionsrate, desto größer muß langfristig der Anteil der Senioren werden), während der Anteil der Kinder umso größer wird, je größer die Reproduktionsrate ist. Die "optimale" Reproduktionsrate der Bevölkerung hängt in diesem Fall von den konkret eingesetzten Werten an Jugend- oder Alterslasten bzw. -kosten ab. Sind die Jugendlasten kleiner, sollte die Bevölkerung möglichst wachsen und vice versa. Bei variabler Wachstumsrate der Bevölkerung läßt sich im neoklassischen Modell eine etwas veränderte "goldene Regel der Akkumulation"79 (der langfristig konsum maximierende Wachstumspfad) formulieren: Konsummaximierend ist unter neoklassischen Bedingungen jene Schrumpfungsrate der Bevölkerung, die genau der Abnutzungsrate des Kapitalstocks entspricht 8o . In diesem Fall muß überhaupt nicht mehr investiert werden und das ganze (pro Kopf steigende) Sozialprodukt kann für Konsumzwecke verwendet werden. Bezieht man die Annahme ein, daß im Bevölkerungsrückgang die Alterslasten steigen und daß der technische Fortschritt in einer überalterten geringer als in einer wachsenden Gesellschaft ist, könnte das Ergebnis von Samuelson auch unter neo klassischen Annahmen relativiert werden 81 . An den verschiedenen ökonomischen üptimierungsansätzen 82 muß nun nicht etwa kritisiert werden, daß die Bevölkerungsentwicklung als steuerbar unterstellt wird. Der entscheidende Einwand gegen diese Analysen liegt auf einer grundsätzlichen Ebene: In den hier zitierten Beiträgen wird die Kapitalausstattung oder ähnliche ökonomische Faktoren als gegeben angesehen und die Bevölkerung der wirtschaftlichen Ausstattung angepaßt. Nicht nur nach den Grundsätzen der Verfassung muß das letzte Ziel wirtschaftlichen HandeIns aber der Mensch sein und nicht umgekehrt. Aus diesem Grund kann die Aufgabe einer theoretischen Betrachtung nur die Ermittlung der "optimalen" Kapitalbildung bei gegebener Bevölkerungsentwicklung sein. Auch wenn ein Bevölkerungsrückgang wie in der Stagnationstheorie auslösender Faktor einer Investitionsschwäche und daraus abgeleiteter Arbeits79 Siehe dazu E. S. Phelps, The Golden Rule of Accumulation, A Fable for Growthmen, in: AER, Vol. 51, 1961, S. 638-643. 80 Siehe dazu ansatzweise P. A. Samuelson, The Optimum Growth Rate for Population, in: International Economic Review, Vol. 16, 1975, S. 531-537. 81 Siehe dazu M. Deistier, G. Feichtinger, M. Luptacik und A. Wörgötter, Optimales Wachstum stabiler Bevölkerungen in einem neoklassischen Modell, in: Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft, 4. Jg. 1978, S. 63-73. 82 Als Überblick über Modelle der optimalen Bevölkerung siehe auch H. Adebahr, Die Lehre von der optimalen Bevölkerung, Berlin 1965. Adebahr betont zwar die praktischen Probleme der Ermittlung eines Optimums, akzeptiert aber die damit verbundene Grundlogik.
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2. Kapitel: Bevölkerungs- oder Familienpolitik
losigkeit sein sollte, kann diese noch keine Begründung für eine geburtenfördernde Politik sein 83 . Damit würde die Bevölkerung (die menschliche Existenz) zu einer wirtschaftspolitischen Instrumentvariablen 84 , untergeordnet der makroökonomischen Stabilisierung. Die Wirtschaftspolitik hat sich vielmehr umgekehrt dem Ziel unterzuordnen, die ihr vorgegebene Bevölkerung "optimal" zu versorgen. So könnte wohl - wie betont - die existenzbedrohende Knappheit lebenswichtiger Ressourcen ein bevölkerungspolitischer Interventionsgrund sein, nicht aber die Tatsache, daß bei einem gegebenen (aber im Prinzip vermehrbaren) Kapitalstock unter einer anderen Bevölkerungszahl eine größere Wachtumsrate des Konsums möglich wäre. 4.2. Bevölkerungspolitik als Ausgleich positiver Konsumexternalitäten
Ein Aspekt wurde im Rahmen dieser Arbeit bereits betont: Eltern tragen mit der Erziehung von Kindern und den damit verbundenen Lasten auch zum Wohlbefinden der Kinderlosen bei. Sobald, wie gegenwärtig, zu wenige Kinder geboren werden, ist in ökonomischer Formulierung zu konstatieren, daß externe Effekte auftreten, die nicht ausgeglichen worden sind. Für den Wirtschaftspolitiker klingt deshalb die Vorstellung plausibel, Bevölkerungsoder Familienpolitik als eine Politik des Ausgleichs externer Eifekte zu verstehen und zu begründen, bei der so weit als möglich die Verursacher belastet werden 85 sollten. Wir hatten argumentiert, Kinder seien wie materielle Güter ein Bestandteil der elterlichen Nutzenfunktion und Eltern würden ihr Budget zwischen diesen beiden Verwendungsformen aufteilen. Aber auch in der Nutzenfunktion der Kinderlosen tauchen diese Kinder auf, selbst wenn bei ihnen das Nutzenelement "Nutzen aus eigenen Kindern" ganz fehlen sollte. Der Lebenskonsum auch der Kinderlosen hängt von der Kinderzahl der Familien ab, da diese Kinder eine Generation später das gesamte Sozialprodukt erstellen müssen 86 . 83 Für eine solche pronatale Politik durch Geldanreize setzt sich beispielsweise R. Harrod ein (R. Harrod, Modern Population Trends, in: The Manchester School, Vol. X, 1939, S. 1-20, wiederabgedruckt in: J. Overbeek, Hrsg., The Evolution ofPopulation Theory, Westport, Conn. u. a., 1977, S. 113-124). 84 Genau in diesem Sinne argumentiert G. Feichtinger, Artikel: Bevölkerung ... , S. 628: Bevölkerungspolitik ist nicht Selbstzweck, sondern dient zur Erreichung wirtschaftlicher und anderer Ziele". 85 In einem solchen Sinne äußert sich G. Kirsch, Bevölkerungspolitik: Schwierigkeiten und Möglichkeiten ihrer langfristigen Ausrichtung, in: Schrumpfende Bevölkerung - Wachsende Probleme, hrsg. von W. Dettling, München 1978, bes. S. 197.
4. Bevölkerungs- oder familien politische Zielformulierungen
155
Unterteilt man den Lebenskonsum in den Konsum der Aktivenphase und der Seniorenphase, dann wird der Konsum Kinderloser in der Aktivenphase nur marginal, in der Seniorenphase aber stark von der Entscheidung der Eltern über die Familiengröße (die eine Generation früher getroffen wurde) beeinflußt. Wie gezeigt haben Veränderungen der Geburtenrate erst etwa eine Generation später spürbare Konsequenzen. Für die unabhängige Budgetoptimierung der Kinderlosen gilt nun: Die Rückwirkung der momentanen Externentscheidungen auf das eigene lebenslange Wohlergehen ist kaum erkennbar und noch schwerer meßbar. Zum einen dauert es Jahrzehnte, bis tatsächlich Reaktionen spürbar werden, zum anderen müßte jede zukünftige Änderung im Fertilitätsverhalten der Gesamtbevölkerung die individuell und momentan geschätzten Wirkungen verändern und vielleicht wieder in ihr Gegenteil verkehren. Selbst wenn rationale Individuen die Auswirkungen der von anderen auf den eigenen Konsum ausgehenden Externalitäten erkennen würden, müßte daraus noch nicht folgen, daß sie bereit oder in der Lage wäre, diese Vorteile quantitativ abzuschätzen. Die individuelle Optimierung für Kinderlose (bei denen der "Nutzen aus Kindern" nicht in der Nutzenfunktion explizit auftaucht) dürfte in aller Regel bedeuten, den eigenen materiellen Konsum zu maximieren und darauf zu vertrauen, daß der externe Effekt von den Eltern weiterhin bereitgestellt wird. Eltern treffen ihre Entscheidung für Kinder unter Gesichtspunkten, die allein auf sie selbst bezogen sind, was auch weder geändert werden könnte noch sollte. Angesichts der Konsuminterdependenzen realisieren die Familien bei unabhängiger Budgetoptimierung eine geringere Kinderzahl als sie aus "gesamtgesellschaftlicher" Sicht wünschenswert wäre 87 ,88. In der Theorie der externen Effekte wird in solchen Fällen entweder ein staatlicher Eingriff in Form eines Steuer- bzw. Subventionsmechanismus oder freie Verhandlungen zwischen Verursachern und Begünstigten empfohlen. Theoretisch muß zwischen beiden Allokationsmethoden kein Unterschied bestehen 89, aber eine Verhandlungslösung scheidet aus, da - wie betont - bei den Begünstigten weder Art noch Ausmaß dieses Vorteils in dem Moment (in der Erziehungsphase von Kindern) klar sein werden, wo der externe Effekt auftritt bzw. noch korrigierbar wäre. 86 Ein besonders wichtiges, aber keinesfalls das einzige Element ist dabei die kollektive Alterssicherung. 87 Als Überblick über die Behandlung externer Effekte im Konsumbereich siehe E. Sohmen, Allokationstheorie und Wirtschaftspolitik, Tübingen 1976, bes. S. 253 ff. 88 "Gesamtgesellschaftliche Sicht" meint hier, daß der Lebenskonsum sowohl der Eltern als auch der Kinderlosen einbezogen wird. 89 So die Aussagen des vielstrapazierten "Coase-Theorems". Siehe R. Coase, The Problem of Social Cost, in: Journal of Law and Economics, Vol. 3, 1960, S. 1-44.
156
2. Kapitel: Bevölkerungs- oder Familienpolitik
Eine familien politische Maßnahme als Pigousche Subvention könnte nun je nach Annahme über Nutzenfunktion, Budgetrestriktion und Güter- bzw. "Kinderpreise" bestimmt werden. Würde allerdings beispielsweise die Kindergeldhöhe nach diesem Prinzip bestimmt, hätte dies u. a. die Konsequenz, daß die Höhe der Familientransfers von der Gesamtzahl der zu diesem Zeitpunkt gerade lebenden Kinder abhinge. Gibt es in der Mehrzahl der Familien nur wenige Kinder, errechnen sich hohe Sätze und vice versa. Schwanken die Geburtenzahlen in einer Weise, wie sie es in Deutschland in den letzten Jahrzehnten taten, kann innerhalb weniger Jahre aus einem hohen positiven Subventionssatz ein negativer werden 9o . Eltern, denen man bei Geburt eines Kindes einen positiven Transfer in Aussicht stellte, weil sich positive externe Effekte errechneten, sollten wenige Jahre später für diesen nicht mehr reversiblen Tatbestand nicht mit einer Steuer belegt werden, selbst dann nicht, wenn sich die positiven tatsächlich in negative Externalitäten gewandelt haben sollten. Auch für die Externalitätenbegründung gilt der Einwand, der bei den Modellen von der "optimalen" Bevölkerung vorgebracht wurde. Der richtige Pigousche Subventionssatz führt im Erfolgsfall dazu, daß die Anbieter positiver externer Effekte (die Eltern) ihren Konsum (ihre Kinderzahl) über das individuelle Optimum hinaus erhöhen, um die Kinderlosigkeit anderer auszugleichen. Dies würde zwar u. U. sehr hohe Transfersätze verlangen, wäre aber im Prinzip durchaus denkbar. Eine generelle Akzeptierung der Externalitätenbegründung würde gen au auf den vorne abgelehnten Zusammenhang hinauslaufen: Eine Arbeitslosigkeit im Gefolge einer möglichen wirtschaftlichen Stagnation wäre ja genau ein solcher externer Effekt und eine daraus abgeleitete Rechtfertigung von Korrekturen würde die Bevölkerung wiederum zum Instrument der Wirtschaftspolitik machen. Die Betonung der menschlichen Würde zwingt uns, die Tatsache hinzunehmen (und nicht etwa mit einem "optimalen" Steuers atz zu reagieren), daß zu irgend einem Zeitpunkt bei korrekter ökonomischer Wirkungsanalyse "zu viele" Kinder vorhanden sind. Auch im umgekehrten Fall gibt es deshalb keinen Grund, die Gesamtheit aller auftretenden Externalitäten stets und unmittelbar auszugleichen, noch dazu, wo sich die Gesamtbeurteilung so schnell wandeln kann.
In unserer eigenen Argumentation werden wir im folgenden die Externalitätenbegründung in einer abgewandelten Form übernehmen: Es gibt einige 90 Von einer gewissen Kinderzahl ab können Kinder für die Gesellschaft nämlich (in ökonomischer Sicht) durchaus eine Last sein, wenn sie mit den anderen Mitgliedern um freie Ressourcen konkurrieren oder Agglomerationskosten verursachen. So etwa J. A. Mirrlees, Population Policy ... , S. 169 ff.
4. Bevölkerungs- oder familienpolitische Zielformulierungen
157
wichtige Konsequenzen von Kindern, die stets in gleicher Weise zu beurteilen sind, wieviele Kinder konkret auch immer in einer Gesellschaft vorhanden sein mögen. Die wichtigste Form ist die Bedeutung der Kinder für die Alterssicherung. Jedes geborene Kind trägt zur Sicherung der nächsten Generation positiv bei und eine Erhöhung der Kinderzahl schafft nur umso mehr positivere Wirkungen, da dann die Problemlösung immer einfacher wird. Aus der Sicht der Alterssicherung kann eine Gesellschaft gar nicht genug Kinder haben. Ein zweiter Bereich solcher eindeutig in ihrer Richtung festlegbarer Externalitäten ist die schulische und berufliche Ausbildung. In aller Regel führt bessere Ausbildung zu höheren volkswirtschaftlichen Erträgen auch für Kinderlose. Aus diesem Grund ist auch die Entscheidung rational, Bildung und Ausbildung nicht dem Marktmechanismus zu überlassen. Die in diesem Zusammenhang auftretenden "Transfers" in Form kostenloser und in der Menge vorgeschriebener Benutzung durch Kinder werden an geeigneter Stelle erneut behandelt. Nimmt man diese beiden Teilbereiche (Alterssicherung, Weiterführung von Wissen und Produktivität) aus dem Gesamtkomplex "externer Effekte durch Kinder" heraus, ist für den Rest nicht mehr gesichert, daß er stets und unter allen Gesichtspunkten positiv (d. h. für andere Wirtschaftssubjekte wohlfahrtssteigernd) sein wird. Je nach gesellschaftlicher Ausgangslage und Wertung der politischen Entscheidungen könnten die Restexternalitäten ebenso schnell negativ wie positiv sein. Eine auf dem Externalitätenargument aufgebaute Familienpolitik müßte somit die Bereitschaft implizieren, innerhalb relativ kurzer Zeit (der Erziehungszeit eines einzigen Kindes) von hohen positiven Transfers zu ebenso hohen Strafsteuern überzugehen. Dies allen zeigt, daß das Externalitätenargument insgesamt und verallgemeinert nicht zu einer Begründung der Familienpolitik herangezogen werden kann.
4.3. Die "stabile" Bevölkerung als Ziel einer Rahmensteuerung?
Unter dem Verfassungsprimat der Individualrechte wird erkennbar, daß die Tatsache, daß die Bevölkerungsentwicklung Konsequenzen irgendwelcher Art hat, noch nicht automatisch Berechtigung zu Interventionen in die Bevölkerungsentwicklung gibt. Von den vorgetragenen Argumenten für eine steigende Kopfzahl konnte kein einziges soweit überzeugen, daß daraus öffentliche Eingriffe abgeleitet werden könnten. Von den Argumenten für eine sinkende Zahl wurde erkannt, daß allenfalls eine extreme Beschränkung der Ressourcen einen Interventionsgrund darstellen kann.
158
2. Kapitel: Bevölkerungs- oder Familienpolitik
Wenn es weder für eine steigende noch für eine sinkende Kopfzahl Argumente gibt, darf daraus nicht etwa der Umkehrschluß gezogen werden, Ziel staatlicher Politik sollte oder müßte eine stationäre Bevölkerung sein. Relativ viele wissenschaftliche Veröffentlichungen der jüngsten Zeit verwenden oft sogar explizit eine "auf mittlere Sicht stabilisierte Entwicklung der Bevölkerung"91 als Ziel 92 • Konnte eine steigende oder sinkende Kopfzahl nicht begründet werden, kann es natürlich auch keine überzeugenden Argumente für das noch weit restriktivere Ziel geben, die Bevölkerung solle weder wachsen noch schrumpfen. Wer sich die Ziel marke einer stationären Bevölkerung setzt, wenn auch nur für eine unkonkrete "Rahmensteuerung"93, muß sich insgesamt darüber klar sein, daß er eiA einzelnes in einer Familie geborenes Kind damit im Prinzip unterschiedlich beurteilt,je nachdem, zu welcher Gesamtsumme sich die Kinderzahlen aller anderen Familien gerade addieren. Selbst eine Erweiterung der obigen Zieldefinition, daß die Reproduktionsrate nicht allzusehr von Eins (nach unten) abweichen sollte, läßt sich aber nicht einer exakten Marke verteidigen, solange wir Geburt und Erziehung als Privatentscheidung respektieren. Die Forderung nach Bevölkerungsstabilität spaltet sich stets auf in eine Veränderung oder Beeinflussung der Mortalität und der Fertilität. 1m Fall der Mortalität sind wohlfahrtstheoretische Aussagen eindeutig: Jede Steigerung der Lebenserwartung ist, aus welcher Sicht auch immer, positiv zu bewerten. Eine steigende Lebenserwartung spiegelt sich aber nicht unmittelbar in der Sterberate einer Bevölkerung wider. In "alternden" Gesellschaften wie etwa in Deutschland kann die Lebenserwartung anwachsen und die Sterberate gleichzeitig zunehmen. Bevölkerungsstationarität zu fordern, heißt nun in Abhängigkeit von der teilweise exogenen Sterblichkeitsentwicklung wachsende oder sinkende Kinderzahlen zu fordern. Ein solcher Gedanke ist in seiner Rigidität nicht mit dem Verfassungsgrundsatz der Menschenwürde vereinbar. Daß eine auf freien Willensentscheid der potentiellen Eltern basierende Bevölkerung im Bestand zurückgeht, kann sich für sich gesehen kein Argu91 M. Wingen (Bevölkerungspolitische Leitvorstellungen in der gegenwärtigen wissenschaftlichen und politischen Diskussion, in: Soziale Probleme der modernen Industriegesellschaft, S. d. V. f. Soc. Pol., N. F., Bd. 921, hrsg. von B. Külp und H. D. Haas, Berlin 1977, bes. S. 448) zitiert eine Vielzahl von Autoren, die mindestens implizit eine solche Zielvorstellung haben. 92 Weltweit ist die Forderung nach "zero population growth" eines der am meisten propagierten Ziele, das vor allem aus Industrieländern kommend den Staaten der Dritten Welt gegenüber angeführt wird. 93 So etwa M. Wingen, Bevölkerungspolitische ... , bes. S. 448.
4. Bevölkerungs- oder familienpolitische Zielformulierungen
159
ment für einen Eingriff sein. Etwas überspitzt könnte man auch formulieren: Ein freiheitlicher Staat wird nicht dagegen intervenieren können, wenn seine Bürger (die in ihrer Summe den Staat bilden) sich entschließen, auszusterben. Dies gilt etwa in gleicher Weise, wie dieser Staat seine Bürger nicht daran hindern dürfte, auszuwandern. Im zweiten Beispiel (anders als im ersten) würde sicherlich jedermann zustimmen, weil mit der menschenunwürdigen Politik der DDR hier ein deutliches Beispiel vorhanden ist. 4.4. Eine bevölkerungs- und familienpolitische Position: Der Bevölkerungsrückgang als Ansatzpunkt für distributive Maßnahmen
Von den Argumenten für oder gegen die eine oder andere Bevölkerungszahl oder -struktur konnte gegenüber dem Verfassungsprimat des Persönlichkeitsschutzes kein einziges überzeugen. Aus diesem Grund ist im liberalen Rechtsstaat eine an der Geburtenzahl selbst anknüpfende (allokative) Politik nicht zu rechtfertigen 94 . Sie soll folglich im weiteren auch nicht mehr diskutiert werden 95 . Anders sind jene diskutierten Argumente zu beurteilen, die auf der Grundtatsache basieren, daß im langfristigen Bevölkerungsrückgang (wenn pro Familie im Durchschnitt weniger als zwei Kinder geboren werden) denjenigen Familien, die tatsächlich noch Kinder haben, in der intergenerationalen Sichtweise ein ungleich größerer Lastenanteil auferlegt wird, als es eine stationäre oder gar eine wachsende Bevölkerung tun würde. Solche distributiven Konsequenzen eines Bevölkerungsrückgangs treten zu zwei unterschiedlichen Zeitpunkten bei zwei verschiedenen Gruppen der Bevölkerung auf: Zum Zeitpunkt des Geburtenrückgangs selbst reduziert sich die Gruppe der Eltern und die Kinderlasten einer Bevölkerung konzentrieren sich auf einen immer kleiner werdenden Personenkreis. Eine Generation später steht die ohne eigenes Zutun kleinere Generation der nun Erwerbstätigen vor der Aufgabe, eine große Zahl von Senioren zu versorgen. Von dieser großen Seniorenzahl hat sich dabei ein Teil, die vorher Kinderlosen, weitgehend den Erziehungslasten entzogen 96 . 94 Zum gleichen Schluß kommt der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft in seinem Gutachten über die wirtschaftspolitischen Konsequenzen eines Bevölkerungsrückgangs. 95 Dies gilt auch für das scheinbar so neutrale Kriterium einer stationären Bevölkerung, für das so wenig Argumente anzuführen sind, wie für das Anstreben irgend einer anderen Bevölkerungszahl. 96 A. Rollinger, Die Leistungen der Familie werden enteignet, in: Arbeit und Sozialpolitik, 6/1978, S. 212-216, spricht aus diesem Grund sogar von einem "Enteig-
160
2. Kapitel: Bevölkerungs- oder Familienpolitik
Eltern tragen sowohl Alters- und als auch Jugendlasten voll, während kinderlose Erwerbstätige zwar die jetzigen Alterslasten in gleicher Weise, die Jugendlasten (oder anders formuliert: ihre eigenen späteren Alterslasten) aber nur in sehr viel geringerem Umfang tragen, nämlich insoweit, als diese Lasten über die Besteuerung von der Allgemeinheit finanziert werden. Während sich die Lastenverteilung zwischen Eltern und ihren Kindern als "fairer" Akt der Generationssolidarität ausgleicht, verschiebt der im Geburtenrückgang stark anwachsende Anteil der Kinderlosen mindestens seine eigenen Alterslasten auf die damit zusätzlich belasteten Eltern und deren Kinder. Die angesprochenen intergenerationalen und interpersonellen Verschiebungen der Lastverteilung begründen keinen allokativen Eingrijfin die Geburtenentscheidung, aber es besteht Anlaß für eine Neu- bzw. Um verteilung der Lasten dort, wo solche Verschiebungen nachweislich entstehen. Sobald die individuellen Geburtenentscheidungen auf solche Lastveränderungen reagieren, was jedenfalls nicht unplausibel ist, könnten daraus in einem sekundären Schritt auch "allokative" Reaktionen erfolgen. Es ist allerdings ein wesentlicher Unterschied, ob man die Erreichung dieser oder jener Geburtenzahl fordert (und eine entsprechende Pigou-Subvention gewährt) oder ob man für die Eltern und den Rest der Gesellschaft eine möglichst gerechte Aufteilung der Lasten sucht und daraus dann sekundär diese oder jene Reaktion in den Geburtenzahlen folgt. Im weiteren Verlauf der Arbeit wollen wir uns auf die distributiven Umschichtungen im Gefolge des Geburtenrückgangs konzentrieren. Die beiden zentralen Bereiche der Altenlast und der Kinderlasten müssen dabei getrennt voneinander analysiert werden, da sie einerseits zu unterschiedlichen Zeitpunkten Umverteilungswirkungen haben und da zudem ganz verschiedene Personengruppen betroffen sind. Die den Geburtenrückgang auslösende Gruppe der jetzt Kinderlosen ist zwar heute von den Alterslasten betroffen und muß später selbst versorgt werden, hat aber mit den Jugendlasten nur indirekt zu tun. Gerade bei den Jugendlasten wird eine detaillierte Untersuchung ergeben, daß ein Geburtenrückgang nicht unbedingt eine quantitative, sondern eine qualitative Veränderung von Maßnahmen erfordert. Auch wenn wir in dieser Arbeit praktisch ausschließlich finanzpolitische Instrumente diskutieren, dürfen wir nicht aus den Augen verlieren, daß zentrale Bereiche einer "Sonungseffekt zu Lasten der Eltern mit Kindern ... " (S. 212). Ebenso R. Zeppernick, Kritische Bemerkungen zum Zusammenhang zwischen Alterslastenausgleich und Kinderlastenausgleich, in: FA, N. F. Bd. 37, 1979, S. 293-306.
4. Bevölkerungs- oder familienpolitische Zielformulierungen
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zialpolitik für das Kind"97 im nichtökonomischen Bereich liegen. Es ist deshalb gefährlich, sich allein auf monetäre Instrumente zu konzentrieren. Zwar kann eine derartige Vorgehensweise wissenschaftlich gerechtfertigt werden und stellt aus der Sicht der Finanzwissenschaft auch eine sinnvolle Eingrenzung dar. Aber gerade diese Beschränkung hat dem Gegenstand Familienpolitik viele Feinde selbst innerhalb der ökonomischen Profession eingebracht.
97 Zur Formulierung dieses Schlagworts siehe K. Lüscher, Sozialpolitik für das Kind: Ein allgemeiner Bezugsrahmen, in: Sozialpolitik für das Kind, hrsg. von K. Lüscher, Stuttgart 1979, S. 13-48. 11
Dinkel
Drittes Kapitel
Alterssicherung im langfristigen Bevölkerungsrückgang " ... wir haben die Renten in bezug auf die Lohnentwicklung dynamisiert. Was noch fehlt, ist ihre Dynamisierung in bezug auf die Bevölkerungsentwicklung. Diese Konsequenz ist zwingend, wenn wir nicht nach der trivialen Formel "Alles, was fehlt, zahlt der Bund" einen neuen kräftigen Schritt in den Versorgungsstaat tun wollen. Die Politiker werden sich sperren. Für die Wähler günstige Veränderungen beschließen sie allzu gern. So: die Rentengesetze von 1957, durch die die Rentenversicherten für die nicht mehr mögliche Verzinslichkeit ihrer Beitragsleistungen durch die Lohndynamik der Renten entschädigt wurden. Jetzt geht es um die Berücksichtigung der Bevölkerungsdynamik, und die ist für 20-25 Jahre für die Wählermassen ungünstig." W. Schreiber, Zur "Reform der Rentenreform", in: Zeitschrift für Sozialreform, 12. Jg., 1966, S. 7
1. Der ökonomische Gutscharakter einer kollektiven Alterssicherung
Um einen Ausgangspunkt für eine Analyse der Auswirkungen eines Bevölkerungsrückgangs auf die gesetzliche Altersicherung in Deutschland zu erhalten, sollte vorab die ökonomische Logik des in der Bundesrepublik Deutschland praktizierten Systeme der gesetzlichen Altersversorgung und die Unterschiede zum Prinzip einer Privatversicherung verdeutlicht werden. Wir betrachten zuerst eine Gesellschaft, bei der es keinerlei staatliche Intervention gibt und die Bürger privat für das Alter vorsorgen. Die privaten Alterersparnisse (SF in Abb. 28) werden vermutlich stark progressiv mit den Lebenseinkommen verknüpft sein: Während bei hohen Lebenseinkommen die Altersersparnisse ausreichend groß sein dürften, werden Personen mit Einkommen in der Nähe des Existenzminimums nur wenig oder keine Altersvorsorge treffen.
I. Der ökonomische Gutscharakter einer kollektiven Alterssicherung
163
s
Einkommen Abb.28
Die Verteilung von SFentspricht der historischen Realität vor Einführung einer Sozialversicherung unter dem Zusatz, daß fast alle Vorgänge innerhalb der Familien abliefen und der Kapitalmarkt nur selten berührt wurde. "Alterssparen" bestand in der Regel darin, Humankapital bereitzustellen, d. h. Kinder zu erziehen, auszubilden, ihnen einen Beruf, Vermögen etc. weiterzugeben. Der "Kapitalverzehr" im Alter bestand dann wie im heutigen System der gesetzlichen Altersversorgung aus Transfers der jeweils erwerbstätigen Generation an die Alten. Da die Alterersparnisse SF ungleich verteilt wären und das individuelle Schicksal im Alter stark von Unsicherheiten abhinge, hat der Staat daraus eine Zwangsversicherung mit einer Verteilung der Altersersparnisse in Höhe von Sv gemacht 1. Damit erweist sich die gesetzliche Alterssicherung als Beispiel der bereits im vorigen Abschnitt angesprochenen "meritorischen" Güter: Im Prinzip ist die Alterssicherung jederzeit privat organisierbar. Würde der Staat seinen Bürgern die Alterssicherung aber als private Aufgabe "mündiger Bürger" überlassen, müßte er mit zwei Verhaltensweisen rechnen: Ein Teil der Bevölkerung ist (verschuldet oder unverschuldet) überhaupt nicht in der Lage, für das Alter freiwillig zu sparen; ein anderer erkennt zwar das Problem und kann sparen, tut dies aber wegen Minderschätzung künftiger Bedürfnisse nicht oder nicht in ausreichendem Maße. 1 Der Verlauf von Sv bei Existenz einer gesetzlichen Alterssicherung wie in Deutschland wird vor allem durch die sogenannte "persönliche Bemessungsgrundlage" und die Beitragszeit in der Rentenformel bestimmt. Private Ersparnisse würden - wie diskutiert - weitaus stärker differenzieren. 11*
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3. Kapitel: Alterssicherung im langfristigen Bevölkerungsrückgang
In der finanztheoretischen Literatur ist zwar die Einführung einer Kategorie der meritorischen Güter im Spektrum zwischen "öffentlichen" und "privaten" Gütern umstritten, nicht aber die historische Tatsache, daß die Altersvorsorge eine zentrale Aufgabe staatlicher Sozialpolitik ist und bleiben sollte 2• Sobald (bei Existenz einer Zwangsversicherung) Personen mit höherem Lebenseinkommen einen größeren Altersverbrauch wünschen, sparen sie zusätzlich (im schraffierten Bereich) durch privates Alterssparen, das nicht Gegenstand staatlicher Dispositionen ist und nicht sein sollte 3. 4. Ist die gesetzliche Altersversicherung wie in Deutschland fast unmerklich (weil sie implizit Lohnbestandteil ist), können die zusätzlichen privaten Altersersparnisse sogar fast ebenso groß5 sein wie die vorherigen SF' Aus der bisherigen Argumentation folgt bereits, daß die Einführung einer gesetzlichen Alterssicherung naturgemäß Umverteilungswirkungen haben muß6. Diese Umverteilungswirkungen bestehen aus zwei voneinander getrennten Tatbeständen: Umverteilung entsteht einerseits durch den Beitrittszwang, der einen anderen Kreis an Versicherten (damit auch veränderte Versicherungsleistungen und sonstige Staatsaufgaben) erbringt. Eine zweite Form der Umverteilung entsteht dort, wo man vergleicht, welche Unterschiede in Beiträgen und Leistungen sich ergeben, wenn ein ansonsten privat Versicherter in die gesetzliche Alterssicherung übertritt. Bei der Privat2 Zu einem anderen Urteil kommt der Tendenz nach E. M. Claassen, Rentenversicherung und volkswirtschaftliche Kapitalbildung, Mannheimer Vorträge zur Versicherungswissenschaft, Karlsruhe 1981. 3 Der immer größer werdende Anteil der betrieblichen Altersversorgungssysteme könnte früher oder später dazu führen, sie in das System der gesetzlichen Regelung einzubringen. Hierbei sollte ein Grundsatz bedacht werden: Solange der Staat die betriebliche Altersversorgung nicht alimentiert, sollte ihm auch kein Zugriff zustehen . . Hat er allerdings vorher die betriebliche Versorgung begünstigt (z. B. durch Steuervergünstigungen), kann auch die Einbeziehung in seine Disposition nicht mehr so leicht von der Hand gewiesen werden. 4 Man könnte allerdings das Argument vertreten, diese Ersparnisse (wie alle anderen Ersparnisse auch) dürften nicht der Besteuerung unterliegen, was auf die generelle Problematik der Einkommensteuer etwa im Gegensatz zu einer allgemeinen Konsumsteuer hindeutet. 5 Die Kurve SF wird dann nach oben verschoben und wenigstens teilweise zu Sv addiert. 6 Siehe dazu W. Schmähl, Intergenerationale Verteilungswirkungen der Rentenversicherung, in: M. Pfaff, Hrsg., Problembereiche der Verteilungs- und Sozialpolitik, Berlin 1978, S. 139-164; oder l. Metze, Soziale Sicherung und Einkommensverteilung, Berlin 1974, S. 124 ff.; oder H. D. v. Loeffelholz, Die personale Inzidenz des Sozial haushalts, Göttingen 1979. Für das Beispiel der schweizerischen Sozialversicherung siehe auch W. Hess, Ökonomische Aspekte der Sozialen Sicherung, Bern und Stuttgart 1975, S. 39 ff.
2. Kapitaldeckung versus Umlageverfahren
165
versicherung gilt im Grundsatz das individuelle Äquivalenzprinzip, "daß die von dem Versicherten zu leistenden Beiträge der mathematischen Erwartung der von ihm eventuell zu empfangenden Zahlungen" 7 entsprechen. Sobald sich in der gesetzlichen Alterssicherung Abweichungen von diesem Prinzip ergeben, wie sie im deutschen Rentenrecht an vielen Stellen vorkommen, wirkt die zweite Umverteilung, vielfach als "die" Umverteilung schlechthin bezeichnet 8. Für diese zweite Art der Umverteilung wird häufig gefordert, sie aus der gesetzlichen Alterssicherung herauszuhalten und der Umverteilung über Steuern vorzubehalten 9 • was aber nur dann überhaupt Sinn haben könnte, wenn mindestens die beiden oben angesprochenen Formen der Umverteilung klar getrennt werden könnten. Ein Staat, dem ein solch stark reduziertes Bild seiner Aufgaben vorschweben würde, müßte nichts tun, außer seine Bürger auf die Existenz privater Alterssicherungssysteme hinzuweisen und u. U. die Gründung solcher Einrichtungen fördern und vielleicht noch kontrollieren. 2. Kapitaldeckung versus Umlageverfahren in der gesetzlichen Sozialversicherung 2.1. Organisationsprinzipien der Sozialversicherung
Während jede private Versicherung stets aus angesammelten Fonds besteht, die anschließend aufgelöst werden, scheint es für eine gesetzliche Altersversorgung zwei Alternativen zu geben: Eine Akkumulation von Fonds wie bei der Privatversicherung im sogenannten Anwartsschaftsdeckungs- IO oder dem Kapitaldeckungsverfahren und das sogenannte Umlageverfahren. Wurde bei der Einführung der gesetzlichen Altersversorgung am Ende des vorigen Jahrhunderts das Fondsprinzip gewählt, so kam mit der gesetzlichen 7 K. Kressmann, Das versicherungstechnische Äquivalenzprinzip in der gesetzlichen Altersversicherung der BRD, Diss., Frankfurt 1971, S. 25. 8 So etwa K.-P. Koppelmann, Intertemporale Einkommensumverteilungen in der gesetzlichen Rentenversicherung der Bundesrepublik Deutschland, Göttingen 1979. 9 So etwa H. Meinhold, Fiskalpolitik durch sozialpolitische Parafisci, Tübingen 1976, S. 48. 10 Während bei der Kapitaldeckung alle Ansprüche durch angesammelte Kapitalien gedeckt sein müssen, findet in Anwartschaftsdeckungsverfahren nur eine auf zeitliche Abschnitte (z. B. die nächsten flinf Jahre) begrenzte Deckung statt. Dieses Verfahren ist folglich eine Teilvariante des Kapitaldeckungsverfahrens und braucht hier nicht weiter behandelt zu werden.
166
3. Kapitel: Alterssicherung im langfristigen Bevölkerungsrückgang
Neuregelung von 1957 zuerst das Prinzip der "Abschnittsdeckung", inzwischen durch Gesetzesänderungen aber praktisch das reine Umlageverfahren zur Anwendung: Die jeweils erwerbstätige Generation bezahlt mit ihren Beiträgen die im Moment fälligen Renten der Senioren und erhält als Gegenleistung ihrerseits den "Anspruch", von der nachfolgenden Generation im eigenen Alter versorgt zu werden. Dieser Anspruch ist stets an das Wohlwollen und die Bereitschaft der jeweils nächsten Generation gebunden. Eine "Bestandsgarantie" kann es nicht geben, auch wenn solche Formulierungen im juristischen Sprachgebrauch üblich sind 11. Die Einführung einer anderen Regelung als dem Umlageverfahren wäre unabhängig von dem, was wir anschließend diskutieren wollen, nach dem Ende des Weltkriegs, wo eine große Masse von Versorgungsansprüchen bestand, die sofort zu befriedigen waren, gar nicht möglich gewesen 12. Vielen Beobachtern galt und gilt noch heute (obwohl die wissenschaftliche Diskussion dies geklärt haben sollte) das Umlageverfahren als "unseriös", weil nicht kaufmännischen Grundsätzen entsprechend. In der amerikanischen Diskussion werden ihm zudem wachstumshemmende Wirkungen nachgesagt, eben weil dabei kein Kapitalstock gebildet würde l3 . Das Argument von den wachstumshemmenden Wirkungen des Umlageverfahrens wird begründet mit der Lebenszyklustheorie des Sparens l4 : Danach ist das 11 Noch in Urteilen allerjüngster Zeit bewertet das Bundesverfassungsgericht Rentenanwartschaften als "Eigentum" (damit als verfassungsrechtlich geschützten Anspruch) des Versicherten (Urteil des BVerfGE vom 28. 2.80, in: BVerfGE, 53, S. 290). Die Eigentumsgarantie wird allerdings beschränkt auf den eigenerworbenen Anteil und die Notwendigkeit zu eventuellen Korrekturen des Rentenrechts wird anerkannt, solange damit die Funktionsfähigkeit des Ganzen gesichert wird. 12 Hinzu kommt, daß im Gegensatz zu anderen Schuldnern der öffentlichen Hand die Reichsmarkguthaben von 17 Mrd. bei der Währungsumstellung nicht erstattet wurden. 13 Siehe M. Feldstein, Social Security, Induced Retirement and Aggregate Capital Accumulation, in: JPE, Vol. 82, 1974, S. 905-926; ders. Social Security and Saving: The Extented Life Cycle Theory, in: AER, PaP, Vol. 66,1976, S. 77-86 oder ders., Social Security and Savings: Internationale Evidence in the Extented Lire Cycle Model, in: The Economics of Public Services, hrsg. von M. Feldstein und R. lnman, London 1977, S. 174-205. Eine Zusammenfassung der internationalen Diskussion findet sich bei D. Kessler, A. Masson und D. Strauss-Kahn, Social Security and Saving: A Tentative Survey, in: The Geneva Papers on Risk and lnsurance, Vol. 18, 1981, S. 3-50. Für die englischsprachige Diskussion siehe auch G. Kopitz und P. Godur, The lnfluence of Social Security on Household Savings: A Cross-Country Investition, in: IMF Staff Papers, Vol. 27, 1980, S. 161-190; oder G. M. v. Fürstenberg, Hrsg., Social Security versus Private Savings, Cambridge, Mass., 1979, Chapter I. 14 Zu einem neueren deutschsprachigen Überblick über die Theorie siehe H. J. Ramser, Lebenszyklustheorie des Sparens. Zum Stand der Theorie, in: Neuere Entwicklungen in der Theorie des Konsumentenverhaltens, Tübingen 1978, S. 373-431.
2. Kapitaldeckung versus Umlageverfahren
167
wichtigste Sparmotiv die Vorsorge für die Zeit, in der man nicht mehr selbst erwerbstätig sein kann. Wenn nun eine Alterssicherung nach dem Umlageverfahren eingeführt wird, entfällt das wichtigste Sparmotiv und wegen der gesunkenen Sparneigung wird ein geringerer Kapitalstock aufgebaut und damit langfristig ein geringeres Wachstum bewirkt. Gerade aber die Wachtumswirkungen des Umlageverfahrens waren bereits vor mehr als zwanzig Jahren ein Zentralthema der öffentlichen Diskussion 15 in Deutschland. Feldstein glaubt seine Thesen empirisch nachweisen zu können 16, während entsprechende Untersuchungen für Deutschland keinen Zusammenhang erbringen l7 . Dabei wird in den empirischen Überprüfungsversuchen ein wichtiger Punkt übersehen: In vielen Untersuchungen wird ermittelt, daß gerade Rentner relativ große Teile ihrer Renten "sparen". Diese zurückgelegten Beiträge dürfen allerdings nur bei umlagefinanzierten Renteneinkommen als Ersparnis bezeichnet werden. Im Fall von Alterseinkommen, die aus angesammelten Kapitalbeständen bestehen, stellt jede Entnahme ein Entsparen dar und das "Sparen" eines Teils dieser Einkünfte ist zwar eine Reduktion des Entsparens, aber nach wie vor keine positive Ersparnis. Mit einer aus der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung stammenden "Ersparnis" darf folglich die Lebenszyklustheorie des Sparens gar nicht getestet werden, denn in der VGR wird auch der Nichtkonsum des Rentners als Ersparnis gewertet. 2.2. Die Wirkungsweise von Kapitaldeckungs- und Umlageverfahren in einem elementaren Modell
Die Beurteilung unterschiedlicher Finanzierungsverfahren ist Gegenstand der Versicherungswissenschaft bzw. Versicherungsmathematik, wo unter Einschluß aller relevanten Faktoren wie Absterbeordnung, Risikover15 Siehe dazu beispielsweise H. lecht, Rentenreform und wirtschaftliche Entwicklung, Nürnberg o. l.; oder ders., Ökonomische Probleme der Produktivitätsrente, Stuttgart 1956. Als Zusammenfassung der Argumentation siehe auch H. Allekote, Ansätze zur Fortführung der Reform der gesetzlichen Rentenversicherung, Berlin 1970, S. 149 ff. 16 Zu einer kritischen Diskussion der Feldstein 'sehen Thesen siehe auch W. Schmähl, Vermögensansammlung für das Alter im Interesse wirtschafts- und sozialpolitischer Ziele, in: Alterssicherung als Aufgabe für Wissenschaft und Politik, Helmut Meinhold zum 65. Geburtstag, hrsg. von K. Schenke und W. Schmähl, Stuttgart u. a., 1980, S. 379-406. 17 Siehe dazu W. Schmäh!. System änderung in der Altersvorsorge, Opladen 1974, S. 92 ff. oder M. Pfaff, A. Hurler, R. Dennerlein, Old-Age Security and Saving in the Federal Republik of Germany, in: G. M. v. Fürstenberg, Hrsg., Social Security versus ... , S. 277-312.
168
3. Kapitel: Alterssicherung im langfristigen Bevölkerungsrückgang
teilung etc. die notwendigen Beiträge und adäquaten Leistungen errechnet werden l8 . Um nun die makroökonomischen Zentralfragen unseres Themas (Wachstumswirkungen, Realwertsicherung, Abhängigkeit von der Bevölkerungsentwicklung etc.) diskutieren zu können, müssen wir die versicherungsmathematischen Komplikationen in einem extrem vereinfachten Beispiel ausschließen. Das Beispiel behält dabei aber alle für unsere Analyse wichtigen Elemente und erlaubt, Umlage- und Kapitaldeckungsverfahren aus finanzwissenschaftlicher Sicht zu vergleichen. In einer stationären Bevölkerung wird Jahr für Jahr ein Mitglied geboren und scheidet am Ende der Alterspyramide bei gleichbleibender Lebenserwartung zu einem festen Alter (oberhalb von 65 Jahren) aus. Während seines Erwerbslebens von 45 Jahren (vom 21. bis zum 65. Lebensjahr) erhält es in inflationsfreier Wirtschaft ohne Wachstum stets den gleichen Lohn. Zu irgend einem Zeitpunkt wird eine Alterssicherung gegründet 19, in die alle Bürger eintreten, die mit Kapitaldeckung arbeitet und bei der die angesammelten Beiträge nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben als einmaliger Betrag gezahlt werden. Da wir auch von Verwaltungskosten und Gewinnen des Versicherungsunternehmens absehen, haben wir alle versicherungsmathematischen Details, die im übrigen unsere Ergebnisse dem Grundsatz nach nicht verändern, außer Betracht gelassen 2o . Das erste Mitglied der Versicherung hat nach 45 Jahren einen Kapitalstock Zangesammelt: 44
Z=b+b(l+i)+ ... +b(l+i)44= 1:b(l+i)" 1l=Ü
Dabei ist b sein jährlicher Beitrag und i der gleichbleibende Marktzinssatz, mit dem sich die Beiträge während des Erwerbslebens verzinst haben mögen 21 . Zu diesem Zeitpunkt steht der Versicherung insgesamt einschließlich Zins und Zinseszins das Kapital K zur Verfügung, das sich zusammenge18 Ein deutschsprachiges Standardwerk zu diesem Themenbereich, indem die von uns angesprochenen Zusammenhänge versicherungsmathematisch sauber und ausführlich behandelt werden, ist P. Thullen, Mathematische Methoden der Sozialen Sicherheit, Karlsruhe 1977. 19 Wir vernachlässigen für den Moment die Frage, wie die bereits lebenden Alten versorgt werden. 20 Die versicherungswissenschaftlich exakte Darstellung kann bei Thullen (Mathematische Methoden) nachvollzogen werden. 21 Da er 45 Jahre lang Zahlungen in Höhe von b leistete, ist sein letzter Beitrag (im 65. Lebensjahr) genau b und sein Beitrag des Vorjahres b(1 + i) wert, weil sich der letztjährige Beitrag genau einmal verzinst hat. Entsprechendes gilt für die weiter zurückliegenden Beiträge.
2. Kapitaldeckung versus Umlageverfahren
169
setzt aus dem Kapitalstock Z des ältesten Mitglieds und den entsprechenden Kapitalanteilen der jüngeren Versicherungsmitglieder: K
44
43
1
= 1/=0 k b (I + i)// + l b (I + i)// + ... + l b (I + i)" + b. 1/=0 //=0
Im gleichen Jahr, in dem die erste Zahlung in Höhe von Z fallig wird, geht (von den 45 Mitgliedern der Versicherung) an Einnahmen die Summe E ein: E = b + b (I
+ i) + ... + b (I + i)44
Das jüngste (einundzwanzigjährige) Mitglied leistet b, das ein Jahr ältere Mitglied b(l + i), weil es aus dem Vorjahr bereits den Betrag b zinslos zur Verfügung stellte und zusätzliche Zinseinkommen möglich macht 22 . Die jährlichen Einnahmen E der Versicherung entsprechend genau den jährlichen Ausgaben Z. Der Gesamtkapitalbestand erneuert sich in der Höhe K, solange Mitgliederzahl und Beiträge unverändert bleiben. Eine die Gesamtbevölkerung umfassende Versicherung mit Kapitaldekkung arbeitet bei Bevölkerungsstationarität automatisch wie ein Umlageverfahren, d. h. jährlich Ausgaben und Einnahmen stimmen überein. Steigt die Bevölkerung, übersteigen die Einnahmen die Ausgaben und der Kapitalstock wächst. Sinkt die Bevölkerung, muß der bestehende Kapitalstock von dem Moment an schrittweise aufgelöst werden, wo weniger Beitragseinnahmen junger Erwerbstätiger eingehen als Renten an Senioren auszuzahlen sind. Bei weiterhin stationärer Bevölkerung denken wir uns nun zu einem beliebigen Zeitpunkt das Umlageverfahren in Reinform eingeführt. Um aus den jährlichen Beiträgen die bereits im ersten Jahr anfallenden Renten in Höhe von Z voll decken zu können, muß nun für alle Altersgruppen ein Beitrag z (z = Z/45) erhoben werden. Der jährliche Beitrag z im Umlageverfahren muß somit deutlich höher sein als der Beitrag b im Kapitaldeckungsverfahren, da keine Verzinsung stattfindet. Genau dieses Ergebnis erhält man auch bei einer exakt versicherungswissenschaftlichen Analyse unter Einschluß von Absterbeordnungen etc. 23 , 24. 22 Die älteren Mitglieder haben nicht nur eine einmalige Verzinsung, sondern eine mehrfache (erneute) Verzinsung der Zinseinkommen ermöglicht. 23 Siehe dazu P. Thullen, Mathematische Methoden ... , S. 213, wo im Modell des "absoluten Beharrungszustandes" (unserer Annahme der Bevölkerungsstationarität unq des wirtschaftlichen Nullwachstums) der Umlagebeitrag nahezu das Vierfache des Beitrags im reinen Kapitaldeckungsverfahren ist. 24 Ähnlich auch G. Heubeck, Die dreistufige Altersversorgung, in: Ordo, Bd. 31, 1980, S. 177-192, bes. S. 183.
170
3. Kapitel: Alterssicherung im langfristigen Bevölkerungsrückgang
Der Unterschied beider Verfahren in einer Welt stationärer Bevölkerung und Wirtschaft läßt sich folgendermaßen zusammenfassen: Eine Generation (in unserem Beispiel 45 Jahre) nachdem das Kapitaldeckungsverfahren eingeführt wurde, arbeitet es wie ein Umlagevefjahren. Es unterscheiden sich
aber die jährlichen Beiträge, die im Umlagevefjahren wesentlich höher sind.
Daraus darf allerdings noch nicht auf irgendwe1che makroökonomische Konsequenzen werden, wie wir noch ausführlich demonstrieren wollen.
Während der Gründungsphase von 45 Jahren gibt es allerdings Unterschiede: Im Umlageverfahren können sofort Renten an die Senioren gezahlt werden, die zu Konsumausgaben oder Ersparnissen führen. In der Aufbauphase einer kapitalgedeckten Versicherung sparen die Erwerbstätigen 45 Jahre lang und reduzieren damit ihren Konsum gegenüber einer Situation ohne Versicherung. Gleichzeitig erfahren die auch hier existierenden Senioren keine Versorgung aus einer Versicherung; ihr Konsum ist Null. Spielen wir diese - unrealistische - Situation weiter, kann auch geschlußfolgert werden, was mit dem sich ansammelnden Kapital der Versicherung geschieht. Eine Situation, in der die aktive Generation 45 Jahre lang weniger konsumiert als sie Einkommen erzielt, die Alten kein Einkommen beziehen und folglich nicht konsumieren, kann volkswirtschaftlich kein Gleichgewicht sein. Das Gleichgewicht wird hergestellt durch die Annahme, die Altersversorgung der bei Neueinführung der Kapitaldeckung bereits lebenden Seniorengeneration wäre durch deren eine Generation vorher angesammelte individuelle Vorsorge über einen im Privatbesitz befindlichen Kapitalstock und daraus fließende Zinseinkommen gesichert. Eine nach dem Kapitaldeckungsverfahren neu gegründete Rentenversicherung baut nun nicht selbst zusätzliche Fabriken, sondern tritt als Anleger auf dem Kapitalmarkt auf. Sie erwirbt Immobilien, Aktien etc. aus dem Besitz der Seniorengeneration, die ihre Anlagen um der eigenen Altersversorgung wegen auflösen bzw. verkaufen muß. Der Kapitalaufbauwunsch der jungen (zusammengefaßt in der Versicherung) und der Abbauwunsch der alten Generation entsprechen sich bei der von uns angenommenen stationären Wirtschaft und Bevölkerung. Der gesamtwirtschaftliche Kapitalstock bleibt mehr oder weniger unverändert 25. 25 Die Organisationsform der Alterssicherung kann niemals direkt den Kapitalstock beeinflussen, da sie nur zu einem geringen Prozentsatz selbst investiert bzw. produktiv tätig wird. Zusammen mit anderen Elementen des Kreditangebots wirkt sie auf eine Seite des Marktgleichgewichts ein. Kapitalimport und -export beispielsweise haben kurzfristig weit mehr Auswirkungen auf die Verhältnisse am Kapitalmarkt und das volkswirtschaftliche Wachstum, als die sich nur wenig verändernden Versicherungskapitalien.
2. Kapitaldeckung versus Umlageverfahren
171
Im Vergleich von Umlage- und Kapitaldeckungsverfahren hatten wir ermittelt, daß das Umlageverfahren für gleiche Renten höhere Beiträge erfordert. Gleichzeitig gibt es im Umlageverfahren aber einen nicht angetasteten privaten Kapitalstock, der Zinseinkünjie abwilji. Aus diesen Zinseinkünften wird (re)investiert und konsumiert wie aus den sonstigen privaten Einkommen. Im Kapitaldeckungsverfahren gibt es zwar niedrigere jährliche Beiträge und folglich größere private Ersparnisse. Esfehlen hier allerdings die privaten Zinseinkommen, da der volkswirtschaftliche Kapitalstock schrittweise von der Rentenversicherung übernommen wurde. Durch den Systemwechsel fand in erster Linie eine Um verteilung statt: Der im Umlageverfahren nicht angetastete private Kapitalstock ist jetzt Teil der Rentenversicherung, gehört über die dahinterstehenden Rentenansprüche wieder denselben Personen 26 . Ergebnis der Kapitalbildung in einer neu gegründeten Sozialversicherung ist eine riesige Sozialisierungswelle .und Konzentration des Kapitalbesitzes in der Hand einer einzigen anonymen Organisation. Wir wollen nun weiterhin stationärer Bevölkerung steigendes Preisniveau und steigende Einkommen einführen. Im Umlageverfahren sollen bei Löhnen, die mit der Rate p + rr wachsen (mit p als Preissteigerungsrate und rr als Produktivitätssteigerung) vom Bruttolohn w konstante Beiträge Zu erhoben werden:
Der erste Rentner unserer Modellbevölkerung erhält im Umlageverfahren nach n = 45 Jahren den in diesem Jahr an Beiträgen eingehenden Betrag: 45 . Zu = ZtU . Die Rente Z~ ist realwertgesichert, da sie stets einen bestimmten An-
teil der realen Aktiveneinkommen des gleichen Jahres ausmacht. Ein entscheidender Vorteil des Umlageve~fahrens wird erkennbar: Umlagejinanzierte Renten sind stets und automatisch realwertgesichert, da sie aus den gleichzeitig eingehenden Beiträgen der Erwerbstätigen erhoben werden.
Wurde stets der Beitrag b bezahlt, entsteht (wie demonstriert) im Kapitaldeckungsverfahren nach 45 Jahren nur die Rente Z. Diese Rente, dieje nach Entwicklung von w, p undrr nur ein Bruchteil der umlagefinanzierten Rente Z~ ist, wurde von Jahr zu Jahr durch (real betrachtet) immer kleiner werden26 Da sich bei stationärer Bevölkerung und Wirtschaft im Kapitaldeckungsverfahren Sparen der jungen Generation und Entsparen der Senioren in gleicher Größenordnung gegenüberstehen, kann nicht automatisch geschlossen werden, das Aggregat (die volkswirtschaftliche Ersparnis) sei größer als im Umlageverfahren der gesetzlichen Alterssicherung, wo es ja gleichzeitig noch die Ersparnis aus Kapitaleinkünften (!) gibt.
172
3. Kapitel: Alterssicherung im langfristigen Bevölkerungsrückgang
de Beiträge angesammelt. Versuchen wir, die privatversicherte Rente im Realwert zu "sichern", indem wir von Jahr zu Jahr steigende nominelle und gleich reale Beiträge br = b (1 + p + rr)n zahlen, entsteht der Kapitalstock Zv: Zv
= b (p + rr)44 + b (1 + i) (p + rr)43 + ... + b (1 + i)44
Für den Fall, daß (1 + i) = (1 + rr +p), würden sich beide Renten bei gleichen nominellen Beiträgen zum Ausgangszeitpunkt auch im Alter gen au gleichen. Für den realistischen Fall, daß die Nettorendite des Anlagevermögens einer Privatversicherung langfristig unterhalb der Bruttolohnsteigerung liegt 27 , verkompliziert sich der Vergleich beider Systeme. Nur der jeweils ,jüngste" Beitrag der Privatversicherung ist als bV = b(p + rr)44 voll realwertgesichert. Aus dem Jahr vorher verzinst sich ein b' in Höhe von b (p + rr)43 mit der Rate (1 + i). Entsprechendes gilt zurück bis zum ersten Beitrag vor 45 Jahren, der nur b ausmachte, sich aber mit (1 + i)44 verzinste. Betrachten wir die b (1 + i)f als Gewichte, so erkennen wir, daß sich mit zunehmendem Gewicht im Kapitalstock ZV immer weniger realwertgesicherte Bestandteile befinden 28. Der Vorteil niedriger nomineller Jahresbeiträge im Kapitaldeckungsverfahren gegenüber dem Umlageverfahren verschwindet unter Einbeziehung der eben beschriebenen Faktoren. Will man im Kapitaldeckungsverfahren tatsächlich voll realwertgesicherte Renten ZV = Z~ installieren, müssen Ge nach Höhe von p und rr) die realen Jahresbeiträge von Anbeginn der Versicherung an völlig anders gestaltet werden. Im letzten Jahr mag ein Beitrag in Höhe von b(p + rr)44 erhoben werden, der geringer ist als der entsprechende Beitrag im Umlageverfahren Zu = z(p + rr)44. Von Jahr zu Jahr rückwärts hätten nun allerdings (aus damaliger Sicht) steigende reale Beiträge gezahlt werden müssen 29 . 27 Fürdie Schweiz stellen diese beispielsweise M. Janssen und H. Müller (Der Einfluß der Demographie auf die Aktivitäten des Staates: die Finanzierung der 1. und 2. Säule der Altersvorsorge, in: Schweiz. Zeitschrift für Volkswirtschaft und Statistik, Bd. 117, 1981, S. 297-314, bes. S. 305) fest. 28 Nur die jüngsten (wenig wertigen) Beträge sind voll realwertgesichert. Je höher p und rr, desto niedriger muß ZV im Vergleich zu Zu und desto unterschiedlicher müssen folglich die beiden (einmalig gezahlten) Renten sein. 29 Je nach der tatsächlichen Größe von p und rr (im Vergleich zur Kapitalrendite der alternativen Versicherungsform) können sich für die rückwärts schnell steigenden realen Beiträge Größenordnungen errechnen, die einen Großteil der damaligen Realeinkommen ausmachen.
2. Kapitaldeckung versus Umlageverfahren
173
Sobald der "Zinsvorteil" des Kapitaldeckungsverfahrens gen au den Lohnsteigerungen entspricht, können beide Renten bei identischen Jahresbeiträgen und stationärer Bevölkerung zum Ausgangszeitpunkt auch gleich hoch sein. Da zu Beginn der Vertragsdauer eines privaten Vertrags allerdings nicht erkennbar ist, welche Produktivitätssteigerungen und Inflationsraten in den nächsten Jahrzehnten eintreten werden, kann eine volle Realwertversicherung praktisch nur durch das Umlageverfahren erreicht werden 30. 31 . Bleiben wir innerhalb dieses Modells und gehen von der stationären zur
wachsenden Bevölkerung über, stehen im Umlageverfahren zur Finanzierung der gegebenen Rente Zu nicht mehr 45, sondern 48 oder 50 Beitragszahler
zur Verfügung, so daß der Beitragssatz sinken kann. Bei gleichbleibendem Beitrag der Versicherten kann in diesem Fall die Versorgung der Senioren besser als im Kapitaldeckungsverfahren sein, die bei stationärer Bevölkerung eine identische Höhe 32 hatte. Die Erfahrung "that social insurance can increase the welfare of each person if the sum of the rates of growth of population and real wages exceeds the rate of interest"33 wird in der englischsprachigen Diskussion als "Sozialversicherungsparadoxon" behandelt.
Aus dem Paradoxon folgt offensichtlich: " ... for the nation as a whole, the present expected value of the sum of real net life time receipts is greater when reserves are not accumulated then when they are ... 34. Daran schließt sich die Frage an, wer die Last dieser Besserstellung zu tragen hat. In der literatur wird dazu eine Antwort gegeben, wie sie als "interne Schuld" in der Staatsverschuldungsdiskussion bekannt ist: Die "Last" der Besserstellung im Umlageverfahren wird von einer zur nächsten Generation weitergewälzt und von der "letzten" Generation dann endgültig getragen 35 . Versteht man 30 Ausgeklammert können Fragen bleiben wie zwischenzeitliehe Geldentwertungen, Kriege etc., die einen Kapitalstock vernichten oder entwerten können. 31 Die Rentner der deutschen gesetzlichen Sozialversicherung genießen einen weiteren wichtigen Vorteil. Sie zahlten selbst im Lebensdurchschnitt 4 oder 5 Prozent Beitrag, erhalten aber eine Rente aus den 9 oder 9,5 Prozent Arbeitnehmerbeiträgen der Gegenwart. 32 Dieser Zusammenhang ging als "biologische Zinstheorie" in die Literatur ein: Ein Wohlfahrtsmaximum entsteht dann, wenn die Wachstumsrate der Bevölkerung der internen Verzinsung des Kapitals entspricht. Siehe dazu P. A. Samuelson, Optimal Social Security in a Life Cycle Growth Model, in: Internationale Economic Review, Vol. 16, 1975, S. 539-544. 33 H. Aaron, The Sociallnsurance Paradoxon, in: Canadian Journal 01' Economics, Vol. 32, 1966, S. 372. 34 Ebenda, S. 372. 35 Siehe dazu beispielsweise T. Ihori, The Golden Rule and the Role of Government in a Life Cycle Growth Model, in: AER, Vol. 68, 1978, S. 389-369; oder R. Famulla und K. Spremann, Generationenverträge und Rentenversicherung als Ponzi GmbH, in: ZögU, Bd. 3, 1980, S. 379-403.
174
3. Kapitel: Alterssicherung im langfristigen Bevölkerungsrückgang
eine positive Wachstumsrate der Bevölkerung nicht als gegeben und kostenlos an, kommt für diesen Tatbestand zu einem einfacheren Ergebnis, das nicht des Rückgriffs auf infinite Zeiträume bedarf: Die "Verbesserung" der Wohlfahrt bei umlagefinanzierten Renten und steigender Bevölkerung haben diejenigen ermöglicht, die die Kosten des Bevölkerungswachstums trugen, worauf wir im weiteren Verlauf unserer Argumentation noch ausführlich zurückkommen wollen. Im Kapitaldeckungsverfahren hat die Zahl der anderen Versicherten unmittelbar keinen Einfluß auf die individuelle Rentenhöhe. Ein Anstieg der Versichertenzahl bewirkt dort ein Anwachsen des Deckungskapitalstocks. Im Bevölkerungs(mitglieds)rückgang würde dieser Stock schrumpfen, was aus volkswirtschaftlicher Sicht allerdings nur schwer möglich ist. Die umlage finanzierten Renten müßten im Bevölkerungsrückgang sinken, solange die Beiträge unverändert bleiben. Die Gesamtwirkungen des Systemwechsels zwischen Kapitaldeckungund Umlageverfahren sind auch bei stationärer Bevölkerung nur sehr viel schwerer zu beurteilen, als in der Literatur vorgetragen. Bei Kapitaldeckung sparen die Individuen für ihre Alterssicherung ; die jeweils Alten entsparen entsprechend und nach der Lebenszyklushypothese müßten sich beide Größen entsprechen. Im Umlageverfahren reduziert sich diese Form des Alterssparens und -entsparens auf die in Abb. 28 schraffierten Bereiche. Gleichzeitig aber gibt es relativ mehr private Zinseinkommen aus dem in Privatbesitz befindlichen Kapitalstock. Die Zinseinkommen werden gespart bzw. reinvestiert. Solange die volkswirtschaftliche Gesamtnachfrage bei einem Übergang zum Umlageverfahren nicht verändert wird (ob sie dies wird, hängt wie angesprochen von der jeweiligen Beitragshöhe und den Gesamteinkommen einschließlich Zinseinkommen ab), gibt es keinen Grund anzunehmen, ein Übergang zum Umlageverfahren in der stationären Wirtschaft würde zu einem Abbau des volkswirtschaftlichen Kapitalstocks führen. Während die Einführung einer Versicherung mit Kapitaldeckung zu einer weitgehenden Übernahme des vorher privaten Kapitalstocks führt, wird das Umlageverfahren ergänzend zum weiterbestehenden Kapitalstock installiert. Die Gesamtwirkungen hängen davon ab, wie mikroökonomisch die Motivation der Individuen (z. B. die Sparneigung) verschoben wird, wenn einmal im Kapitaldeckungsverfahren Beiträge gezahlt werden oder im anderen Fall die u. U. höheren Beiträge zum Umlageverfahren (die, verglichen mit den Rentenleistungen bei bestimmten Preis- und Lohnentwicklungen sogar geringer sein können) bei gleichzeitig höheren alternativen privaten Zinseinkommen.
2. Kapitaldeckung versus Umlageverfahren
175
2.3. Bevölkerungsveränderung und Zinssatz: Ein Vergleich der Organisationsformen im Modell der stabilen Bevölkerung
Die Unterschiede zwischen dem Umlage- und dem Kapitaldeckungsverfahren machen den Kern jeder Diskussion um die Ausgestaltung einer Rentenversicherung aus. Aus diesem Grund soll zusätzlich von einer veränderten Darstellungsweise her die Bedeutung des Bevölkerungswachstums oder -schrumpfens untersucht werden. Wir gehen dazu zu einer kontinuierlichen Beschreibung von Veränderungen über und beschränken uns auf stabile Bevölkerungen: In stabilen Bevölkerungen herrschen langfristig unveränderte altersspezifische Sterbe- und Fruchtbarkeitsraten vor. Die Geburtenentwicklung einer stabilen Bevölkerung folgt der Gleichung:
wobei: B( = aktuelle Geburtenzahl
Bo = Geburtenzahl zum Ausgangspunkt 0
,. = Wachstumsrate (Schrumpfungsrate) der Bevölkerung in kontinuierli-
cher Schreibweise
Um die bei stabilen Bevölkerungen zustandekommenden Belastungen einer umlagejinanzierten Rentenversicherung beschreiben zu können, greifen wir auf die in Abb. 5 und Tabelle 1 dargestellte Verteilung der Überlebenswahrscheinlichkeiten zurück. Die in Tabelle 1 nach den Sterbeverhältnissen von 1978/80 gebildete Sterbetafel sagt beispielsweise aus, daß von 100000 geborenen Personen 98 093 das Alter von 20 Jahren erreichen, d. h. die Überlebenswahrscheinlichkeit (die wir 1 (x) nennen wollen) von der Geburt bis zum 20. Lebensjahr 98 Prozent beträgt. Wie bereits in Abb. 5 dargestellt, beträgt die Summe aller zu einem bestimmten Zeitpunkt alebenden Mitglieder der Sterbetafelbevölkerung noch zu erlebende Anzahl an Jahren Tinsgesamt: w T = f I(x)dx a
wobei: w = höchstes erreichbares Alter. Setzt man das betrachtete Alter a gleich dem Renteneintrittsalter, mißt T die Anzahl der "Rentnerjahre" in der Sterbetafelbevölkerung. Da in der Sterbetafel jeweils 100000 Personen eines Jahrgangs verfolgt werden, wird automatisch B~völkerungsstationarität unterstellt. Die Zahl der Überlebenden in einer mit der konstanten Rate r wachsenden oder schrumpfenden Bevölkerung kann errechnet werden durch Berücksichtigung der jeweiligen Jahrgangsstärken. Bezeichnet man als b die aktuelle Geburtenrate, dann hat in
176
3. Kapitel: Alterssicherung im langfristigen Bevölkerungsrückgang
einer stabilen Bevölkerung jeder frühere Jahrgang die Stärke b . e-rx l(x)dx. Es wurden jeweils b . e-1x Personen geboren, die den unveränderten Sterbewahrscheinlichkeiten unterworfen waren. Die Zahl der "Rentnerjahre" R in einer stabilen Bevölkerung (zugleich auch der Anteil der Rentner an der Gesamtbevölkerung) bei einem Renteneintrittsalter von s Jahren ist: R
w
= J b . e-rx/(x)dx; s
Mit dem gleichen Kalkül kann die Zahl bzw. der Anteil der Personen im erwerbsfähigen Alter L(von 20 bis 65 Jahren) zwischen u und s ermittelt werden: L
s
= J be-IX /(x) dx; u
Wenn in einer umlagefinanzierten Rentenversicherung alle Personen über 65 Jahre eine gleichhohe reale Rente wie die Einkommen der Erwerbstätigen erhalten sollen und wenn der Beitragssatz Zu ein konstanter Anteil des Lohns ist, so muß für Zu gelten 36 : w
f
e-,x/(x)dx
zu =---"-,---s f e-,x/(x)dx u
Daß Renten in Deutschland dem Gesetz nach im Durchschnitt nur 60 Prozent der Bruttoeinkommen der Erwerbstätigen ausmachen sollen (und auch dies nie ganz genau erreicht wird, wie im folgenden Abschnitt ausführlich behandelt wird), ändert das Kalkül nicht. Wir müßten stattdessen mit einem Bruchteil des in der obigen Formel errechneten Wertes weiterrechnen, was wir der Anschaulichkeit halber vernachlässigen wollen. Die zentrale Variable zur Bestimmung der Beitragshöhe im Umlageverfahren ist die Bevölkerungsveränderungsrate. Im Modell der stabilen Bevölkerung dürfen wir strenggenommen nicht Veränderungen der Rate r diskutieren, weil damit logischerweise zumindest für einen Zeitraum von 100 Jahren das Modell der stabilen Bevölkerung verlassen werden muß37. Komparativ-statisch, d. h. im Vergleich zweier Bevölkerungen mit unterschiedli36 Der gleiche Zusammenhang wird ausführlich und von einem etwas veränderten Ansatzpunkt her diskutiert bei J. Bourgois-Pichat, Le Financement des Retraites Par Capitalisation, in: Population, 33° annee, 1978, S. 1115-1136. 37 Die gleichbleibenden Sterbewahrscheinlichkeiten können Änderungen in der Wachstumsrate der Bevölkerung immer nur durch Reduktion der jeweils jüngsten Jahrgänge (der Geburten) stattfinden, während alle älteren Altersgruppen mit der alten Rate weiterwachsen.
2. Kapitaldeckung versus Umlageverfahren
177
cher Wachstumsrate, können wir die Belastungsveränderungen bei unterschiedlichen Raten r ermitteln. Die Ableitung des Beitragssatzes nach der Wachstumsrate 38 r, die wir strenggenommen nicht bilden dürften, erbringt:
wobei:
mE mR
= Durchschnittsalter aller Erwerbstätigen = Durchschnittsalter der Rentner
Nach Rückintegration erhalten wir:
wobei:
z~
=
Beitragssatz in der stationären Bevölkerung
Da das Durchschnittsalter der Erwerbsbevölkerung etwa bei 35 und das der Rentner etwa bei 70 Jahren liegen dürfte, bedeutet ein Unterschied in der Bevölkerungswachstumsrate von einem Prozent eine Veränderung der Alterslast von etwa 35 Prozent. Eine zweite, in ihren Auswirkungen allerdings weniger eindeutig bestimmbare Einflußgröße auf die Höhe des Beitragssatzes ist die in der Realität ständig stattfindende Variation der Sterbewahrscheinlichkeiten. Bislang stets (und vermutlich auch in der Zukunft) stieg die Lebenserwartung, wenn auch mit sinkenden Wachstumsraten. Wie hoch der Beitrag in einer anderen Bevölkerung mit gleichen Fertilitäts- aber veränderten Sterbe raten sein müßte, kann nur in Abhängigkeit von der jeweils spezifischen Veränderung bestimmt werden. Erhöht sich die Lebenserwartung (sinken die Sterbewahrscheinlichkeiten) vor allem oder ausschließlich in den oberen Altersstufen, steigt die Beitragslast überproportional. Erhöht sich die Überlebenswahrscheinlichkeit in jüngeren Altersstufen, ist das Resultat weniger eindeutig, da in diesem Fall sowohl die Zahl der Erwerbstätigen als auch der Rentner wächst. Für die Prämie einer privaten Rentenversicherung mit Kapitaldeckung ist - jedenfalls in der gedanklichen Abstraktion - die Bevölkerungsentwicklung unwichtig. Aus Vergleichsgründen behandeln wir weiterhin eine Versicherung, die ohne Überschüsse beitragsäquivalent versichert. Der Gegenwartswert aller zukünftigen Rentenerträge (in Höhe von genau einer Deutschen Mark), die zwischen dem Alter bund w anfallen wird, ist: 38 Siehe dazu N. Keyfitz, Applied Mathematical Demography, New York u. a., 1977, bes. S. 104f. 12 Dinkel
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3. Kapitel: Alterssicherung im langfristigen Bevölkerungsrückgang w
.
E = Je-Ix I(x)dx; b
wobei: i = interne Verzinsungsrate des Kapitals Der Betrag e-ix ist die Annuität, der Gegenwartswert einer in x Jahren fcilligen Rente, die mit der Wahrscheinlichkeit I(x)dx bezogen wird. Wird während der Zeit der Erwerbsbeteiligung (zwischen u und b) ein gleichbleibender Teil des Erwerbseinkommens zur Kapitalbildung einbezahlt, entsteht für diesen spezifischen Beitragszahler ein Kapitalstock mit dem Gegenwartswert: l\
b
.
= J e-Ix/(x)dx; u
Die beitragsäquivalente Prämie der Privatversicherung p ist folglich: w . Je-Ix I(x )dx p=----";b _ _ __ b
.
Je-Ix /(x )dx
u
Die errechneten Formeln machen deutlich, daß sich Umlage- und Kapitaldeckungsverfahren genau darin unterscheiden, daß beim Umlageveljahren die Bevölkerungsänderungsrate genaujene Rolle spielt, die im Kapitaldeckungsverfahren der Zins hat. In der deutschsprachigen öffentlichen Diskussion wird immer wieder das Argument vorgetragen, das logische Äquivalent zum Zins im Kapitaldeckungsverfahren und damit der eigentliche Wachstumsmotor der umlagefinanzierten Rentenversicherung sei die (reale) Einkommenssteigerung der Erwerbstätigen. Dies ist unzutreffend, da in der deutschen Ausgestaltung des Umlageverfahrens, anders als etwa in den USA, die Rentner jeweils sofort an den Einkommenssteigerungen der Erwerbstätigen partizipieren (sollen). Nur insoweit, als den Rentnern dies über eine verzögerte Anpassung vorenthalten wird, kann eine Einkommenserhöhung die Beitragslast auf Dauer reduzieren. Das obige Ergebnis muß ergänzt werden durch die Möglichkeit unterschiedlicher Erwerbs- oder Invaliditätsquoten und ähnliche zusätzliche Faktoren. Dabei bleibt jedoch die Logik erhalten, daß im Umlageverfahren die Bevölkerungsentwicklung, d. h. das numerische Verhältnis der aufeinanderfolgenden Generationen die entscheidende Rolle spielt und das Gewicht hat, das in der Privatversicherung Zins und Zinseszins zukommt. Für kurze Zeit kann sich eine Generation im Umlageverfahren einen Vorteil gegenüber der nachfolgenden Generation verschaffen, was beispielswei-
2. Kapitaldeckung versus Umlageverfahren
179
se für die gegenwärtige deutsche Situation gilt: Nehmen wir eine langfristig stationäre Bevölkerung an, so kann die Generation der jetzigen Beitragszahler ihre eigene Last dadurch senken, daß die Erwerbsquote der Frauen ansteigt. Die Erhöhung der Erwerbsquote der Frauen wirkt momentan wie ein früheres Bevölkerungswachstum. Die Last dieser Maßnahme fällt auf die nächste Generation, die dann später umso höhere Ansprüche der jetzigen Erwerbstätigen erfüllen muß (soll), ohne tatsächlich einen größeren Umfang zu haben. Die Paradoxie wird verstärkt durch die Tatsache, daß die momentan steigende Erwerbsquote der Frauen mindestens zum Teil auf die sinkenden Kinderzahlen der jetzigen Elterngenerationen zurückgeht. Damit bringt die heutige Beitragszahlergeneration die nächste Generation, von der sie selbst später einmal leben muß, in einen doppelten Nachteil.
Im Kapitaldeckungsverfahren hängt die Höhe des individuell angesammelten Kapitalstocks vom Zinssatz ab: Je höher die interne Verzinsung, desto weniger Kapital muß angespart werden, da die höheren Zinserträge einen Ausgleich schaffen. In Modellrechnungen läßt sich zeigen 39 , daß je nach Annahme über den Zinssatz und die Lebenserwartung das 5- bis 10fache der Lohnsumme als Kapitalstock gebildet werden muß, um ein Alterseinkommen entsprechend den Markteinkommen (das allerdings, wie wir im vorangegangenen Abschnitt zeigen konnten, dann immer noch nicht inflationsgesichert ist) zu ermöglichen. Im Fall einer stabilen Bevölkerung läßt sich auch errechnen, welcher Kapitalstock für die gesamte Volkswirtschaft nötig wäre bzw. automatisch gebildet würde, wenn alle Bürger sich konsequent nach dem Kapitaldeckungsverfahren versichern würden (müßten). In diesem Fall wird wiederum die Wachstumsrate der Bevölkerung wichtig: Je höher die Wachstumsrate der Bevölkerung, desto jünger ist die Gesamtbevölkerung im Durchschnitt, desto geringer der Kapitalstock zu einem gegebenen Zeitpunkt. In "alternden" Bevölkerungen ist der Anteil jener Personen hoch, die kurz vor der Verrentung sehr viel Kapital akkumulierten und kurz nach der Verrentung immer noch relativ viel Kapital besitzen. Daß es auch relativ mehr ganz alte Personen gibt, ist weniger wichtig, daja auch sie einen wenn auch sinkenden positiven Kapitalstock besitzen. Für alternative stabile Bevölkerungen und alternative interne Verzinsungsraten gibt Abb. 29 das zur konsequenten Kapitaldeckung nötige Verhältnis zwischen Kapital der Rentenversicherung und dem Volkseinkommep bei einer unveränderten Lebenserwartung von 77 Jahren (die ziemlich genau der momentanen weiblichen Lebenserwartung in Deutschland entspricht) an: 39 Siehe dazu J. Bourgeois-Pichat, Le Financement ... , S. 1124. 12*
180
3. Kapitel: Altersskherung im langfristigen Bevölkerungsrückgang Kapita1stock als Vielfaches des Volkseinkommens 15
10
----
Zinssatz in %
o
1
3
4
Quelle: J. Bourgois-Pichar, Le Financemelll ... , Ausschnille aus Graphique 2, S. 1129. Abb.29
Unter Verhältnissen, wie sie in Deutschland vorherrschen (eine Reproduktionsrate der Bevölkerung zwischen 0,8 und 1,0 sowie eine interne Nettoverzinsung von ungefähr 3 Prozent), ergeben sich für den notwendigen Deckungsstock völlig unrealistische Werte. Soll die Versicherung alle Bürger umfassen, müßte der Kapitalstock das 7-9fache des Volkseinkommens ausmachen. Selbst wenn die Renten auf 60-70 Prozent der Erwerbstätigeneinkommen beschränkt würden, müßte immer noch das 5-7fache des Sozialprodukts als Kapitalstock gebildet werden. Zusätzlich muß bedacht werden, daß Abb. 29 nur für stabile Bevölkerungen gilt und die (Veränderung der) Kapitalansammlung in einer Bevölkerung, die vormals wuchs und nun zu negativen Raten übergeht, innerhalb kurzer Zeit weit extremere Werte annehmen müßte. Ein Kapitaldeckungsverfahren für die gesamte Volkswirtschaft (d. h. für alle Bürger) entlarvt sich damit als logische Unmöglichkeit. Die gesamte Volkswirtschaft nutzt einschließlich der innerhalb der Unternehmen gebildeten Kapitalanteile einen Kapitalstock, der etwa das zwei- bis dreifache des Sozialprodukts ausmacht. In relativ kurzer Zeit einen derarti-
2. Kapitaldeckung versus Umlageverfahren
181
gen Kapitalstock (zusätzlich zum schon vorhandenen?) anzusparen, ist von jeder möglichen Sichtweise aus undenkbar. 2.4. Die Organisationsform in realwirtschaftlicher Betrachtung
In realwirtschaftlicher Sicht ist jedes Versicherungsverfahren in einer geschlossenen Wirtschaft insoweit stets ein Umlageverfahren, da von den Erwerbstätigen (= Beitragszahlern) erstellte Güter und Dienstleistungen in die Hände der Rentenempfänger der gleichen Einkommensperiode umverteilt werden müssen. Alle lebenden Generationen müssen jeweils das aktuelle Sozialprodukt "verzehren". Dieser Umstand ist als Mackenrothscher Satz der Sozialpolitik 40 • 41 seit Jahrzehnten Bestandteil der wissenschaftlichen Diskussion des deutschen Sprachraums und hat die Einführung des formellen Umlageverfahrens durch die Rentenreform von 1957 wesentlich erleichtert. Im reinen Umlageverfahren findet ein sofortiger Transfer von den Beitragszahlern zu den Rentnern statt, alles An- und Entsparen ist ein Vorgang der Verrechnungssphäre. Ist eine kollektive Alterssicherung notwendigerweise ein Transfersystem, stellt sich die Frage, ob man überhaupt von einer Versicherung sprechen sollte: Während diese Frage in der versicherungswissenschaftlichen Literatur eindeutig beantwortet wird, nimmt die juristische Literatur 42 eine eher differenzierte Position ein 43 . Aus finanzwissenschaftlicher Sicht ist auf der Einnahmeseite der Unterschied zwischen Beitrag und zweckgebundener Steuer nicht viel mehr als ein Sprachproblem 44 • 45 , Dies 40 Siehe dazu bereits J. D. Brown, The Old Age Reserve Account, in: QJE, Vol. 51, 1937, S. 716-719; oder S. Harris, Economics of Social Security, New York 1941, bes. S. 66 ff. 41 G. Mackenroth, Die Reform der Sozialpolitik durch einen deutschen Sozialplan, in: Schriften des Vereins für Socialpolitik, N. F. Bd. 4, hrsg. von G. Albrecht, Verhandlungen auf der Sondertagung in Berlin 1952, wiederabgedruckt in: Soziale Sicherheit, NWB, Bd. 40, hrsg. B. Külp und W. Schreiber, Köln, Berlin 1971, S. 265-275. 42 Siehe dazu etwa J. Krohn, Zur Rechtsnatur der Sozialversicherung, in: Beiträge zur Versicherungswissenschaft, Festgabe für Walter Rohrbeck, hrsg. von H. Möller, Berlin 1955, S. 175-191; oder W. Leisner, Sozialversicherung und Privatversicherung, Berlin 1974, S. 70 ff. 43 So schlußfolgert beispielsweise H. Bogs (Die Sozialversicherung im Staat der Gegenwart, Berlin 1973, S. 360), daß der Versicherungsgedanke zumeist überbetont wird. 44 Siehe dazu G. Hedtkamp, FinanzwissenschaftIiche Aspekte der Sozialversicherung, in: Die Rolle des Beitrags in der sozialen Sicherung, hrsg. von H. Zacher, Berlin 1980, S. 437-452.
182
3. Kapitel: Alterssicherung im langfristigen Bevölkerungsrückgang
kann beispielsweise am Vergleich des deutschen und des US-amerikanischen Systems der Alterssicherung deutlich gemacht werden. Neben der unterschiedlichen Beitragshöhe (die in den USA niedriger ist) unterscheiden sich beide Systeme fast nur darin, daß einmal von Versicherung und im anderen Fall von Steuer gesprochen wird. In beiden Fällen werden nach dem Umlageverfahren realwertgesicherte Renten über Arbeitgeber- und -nehmerbeiträge (Steuern) mit lohngebundenen Sätzen bei festen Obergrenzen finanziert 46 . Ein Argument, das für unsere weitere Argumentation wichtig ist, könnte gegen die von Mackenroth behauptete Unterschiedslosigkeit der Versicherungsverfahren angeführt werden: Eine Privatversicherung unterscheide sich vom Umlageverfahren wenigstens in dem Punkt, daß private Versicherungsrenten unabhängig von der Bevölkerungsentwicklung seien. Auch für den Rentner der privaten Versicherung ist allerdings stets ein zweiter Transaktionspartner nötig. Die vorher angesammelten Kapitalbeträge können nicht selbst verzehrt werden, sondern müssen in Geld bzw. Kaufkraft umgewandelt werden, in dem die Immobilien und Kapitalanteile der Versicherung an jemanden verkauft werden. Dieser ,jemand" muß aus der nächsten Generation stammen, da alle Mitglieder der eigenen (alten) Generation das gleiche Interesse haben, ihren Kapitalstock aufzulösen. Sobald es (wie bisher stets) ausreichend viele Mitglieder der nächsten Generation gibt, wird innerhalb der Privatversicherung die intergenerationale Transaktion gar nicht erkennbar. Hätte aber - als extremes Beispiel- eine Generation überhaupt keine Kinder mehr, verschwände damit selbst bei scheinbar "perfekter" Kapitaldeckung die private Alterssicherung. Unabhängig davon, daß dann niemand mehr das Sozialprodukt (Nahrungsmittel etc.) erstellen würde, müßte auch der angehäufte Kapitalstock wertlos und unverkäuflich werden 47 . 45 Eine dezidierte Position formuliert beispielsweise A. Peacock als Kritik am sogenannten "Beveridge Report", der eine stärkere Betonung der Beitragsfinanzierung für die Sozialversicherung in Großbritannien empfohlen hatte: " ... there is no reason to suppose that any "insurance" system partly financed by contributions is any more an insurance system than one financed by general taxation, provided the latter is, like present income taxation, paid by most of the working members of the community" (A. Peacock, The Economics of National Insurance, Edinburgh, London, Glasgow, 1952, S. 101). 46 Für eine Kurzdarstellung der Ausgestaltung und der Zukunftsprobleme der USamerikanischen Alterssicherung siehe J. O'Neill, Social Security-Fundamental Economic Problems and Alternative Financing Methods, in: National Tax Journal, Vol. 33, 1980, S. 350-369. 47 Auch jede Form der Privatversicherung durch Kapitalansammlung ist folglich wie die umlagefinanzierte Rentenversicherung darauf angewiesen, daß es eine nächste Generation in einem ausreichenden Umfang gibt, die durch Konsumverzicht (Erwerb des vorhandenen Kapitals) die Last der Alterssicherung trägt.
2. Kapitaldeckung versus Umlageverfahren
183
Sobald ein Versicherungssystem, wie es heute in der Bundesrepublik installiert ist, als reines Transfersystem erkannt ist, können wir daraus abgeleitet kurz zu einer Frage Stellung nehmen, die ansonsten im Rahmen der in dieser Arbeit gewählten langfristigen Betrachtungsweise nur am Rande relevant ist, die Frage der sinnvollen Einkommensbesteuerung von Einkünften aus Sozialversicherungsrenten 48 . Wir wollen dabei aus diesem außerordentlich komplexen Problemkreis, der im Rahmen des geltenden Steuerrechts kaum vollkommen sachlogisch zu lösen ist, nur den Aspekt herauszugreifen, der unmittelbar aus dem System wechsel des Sicherungsprinzips folgt: Im Jahr 1955 wurde in Deutschland die früher übliche Vollbesteuerung der Renten abgeschafft und durch die sogenannte "Ertragsanteilsbesteuerung" ersetzt. Während alles, was im Laufe der Vertragsdauer angespart wurde, steuerfrei bleiben soll (um eine Mehrfachbesteuerung zu vermeiden) wird der über Zins und Zinseszins entstandene Rentenanteil (der sogenannte Ertragsanteil) besteuert. Bei den Renten der gesetzlichen Rentenversicherung wird ein Ertragsanteil von 20 % der Rente unterstellt, wenn die Rente erstmals nach dem 65. Lebensjahr anfällt 49 . Zusammen mit den vielen vorgesehenen Freibeträgen (z. B. dem Altersfreibetrag) führt dies dazu, daß gesetzliche Altersrenten im Normalfall steuerfrei bleiben, während gleichhohe Beamtenpensionen oder Erwerbstätigeneinkommen längst der Besteuerung unterliegen. Diese "Bevorzugung" der gesetzlichen Altersrenten wird fast einhellig kritisiert und eine stärkere Besteuerung gefordert. Gestützt auf verschiedene Berechnungsversuche wird argumentiert, der Kapitalanteil der gegenwärtig gezahlten gesetzlichen Altersrenten sei sehr gering, was bedeutet, daß mit den tatsächlich in der Vergangenheit gezahlten Beiträgen in einem privaten Versicherungsvertrag nur ein Bruchteil der heutigen Versorgung hätte er48 Siehe dazu einführend N. Andel, Die einkommenssteuerliche Behandlung der Beiträge und der Leistungen von Altersversicherungen, in: Theorie und Praxis des finanzpolitischen Interventionismus, Fritz Neumark zum 70. Geburtstag, hrsg. von H. Haller, L. Kullmer, C. S. Shoup und H. Timm, Tübingen 1970, S. 327-344; ders., Nettoanpassung und Besteuerung der Renten im Lichte der Gleichmäßigkeit der Besteuerung, der Verteilungsgerechtigkeit und des Sanierungsbedarfs der Rentenversicherung, in: Wirtschaftswissenschaft als Grundlage staatlichen HandeIns, Heinz Haller zum 65. Geburtstag, hrsg. von P. Bohley und G. Tolkemitt, Tübingen 1979, s. 165-176; oder H. Weise, Rentenfinanzierung und Rentenbesteuerung, in: FA, N. F. Bd. 37, 1979, S. 396-436. 49 Da im Jahr 1955 wenigstens formal noch das Kapitaldeckungsverfahren bestand, ist eine solche Regelung (die bei privaten Rentengeschäften ihre volle Logik hat) verständlich gewesen.
184
3. Kapitel: Alterssicherung im langfristigen Bevölkerungsrückgang
reicht werden können. Dieser Tatbestand bestätigt unsere bisherigen Ausführungen. Wenn der Kapitalanteil niedrig ist, darf daraus aber nicht etwa geschlossen werden, der Ertragsanteil sei entsprechend höher. Die heutige Rentenversorgung geht auf die automatische Realwertsicherung des Umlageverfahrens zurück. Der Ertragsanteil im praktizierten Verfahren ist Null 50 , da keinerlei verzinsliche Rücklagen existieren. Im Rahmen einer konsequenten Ertragsanteilbesteuerung dürften folglich die gesetzlichen Altersrenten (auch wenn sich aus anderen Gründen manche Argumente für eine Besteuerung anführen lassen) überhaupt nicht besteuert werden.
3. Bevölkerungsentwicklung und kollektive Alterssicherung 3.1. Die Ausgestaltung der gesetzlichen Alterssicherung in Deutschland und ihre Finanzierungslage im Bevölkerungsrückgang
Mit der Rentenreform von 1957 und den seitherigen Gesetzesänderungen wurde zwar einerseits das Umlageverfahren immer konsequenter eingeführt, andererseits aber versucht, den aus der Gründungsphase überkommenen Versicherungs- oder Äquivalenzgedanken aufrecht zu erhalten. Die Höhe einer individuellen Rente wird in der sogenannten "Rentenformel" festgelegt. Danach berechnet sich die jährliche Neurente 51 R eines im Jahr t aus dem Erwerbsleben ausscheidenden Beitragszahlers als: R mit:
= pB .j
. s . aBt
pB
= persönliche Bemessungsgrundlage in Prozent (mit einer Obergrenze
j
= Anzahl der berücksichtigungsfähigen Beitragsjahre
s aBt
von 200 %).
= Steigerungssatz (für Altersrenten 1,5 %)
= allgemeine Bemessungsgrundlage im Jahr t
In den Faktoren persönliche Bemessungsgrundlage und Beitragszeit drückt sich die relative Position eines Versicherten aus. Die persönliche Be50 Der einzige uns bekannte Diskussionsbeitrag, der diesen Zusammenhang betont, ist W. Albers, Transferzahlungen an Haushalte, in: HdF, 3. Auflage, Bd.l, Tübingen 1977, S. 861-957, bes. S. 909. 51 Die sogenannten Bestandsrenten werden jährlich neu durch Gesetz (den sogenannten Rentenanspassungsgesetzen) angehoben. Die Steigerungssätze entsprechend aber im Normalfall den Werten, die sich für Neurenten in der Rentenformel errechnen.
3. Bevölkerungsentwicklung und kollektive Alterssicherung
185
messungsgrundlage, die im weiteren Verlauf der Arbeit noch intensiver diskutiert wird, bemißt sich danach, wie sich das individuelle Bruttoeinkommen eines Versicherten im Verlauf seiner Beitragszeit zum jeweiligen Durchschnittseinkommen aller Versicherten E entwickelt hat: 1 t
E
pB=-L~;
mit:
Ei
Ei
= individuelle Einkommen im Jahr i
Ei =
Durchschnittseinkommen im Jahr i
Ein Versicherungsnehmer wird in der Regel zu Beginn seines Erwerbslebens deutlich weniger als der Durchschnitt aller Erwerbstätigen verdienen 52 . Je länger sein Erwerbsleben dauert, desto besser wird unter den sozialen Verhältnissen in Deutschland die relative Position eines Versicherten in der Einkommenspyramide. Die insgesamt erreichte persönliche Bemessungsgrundlage eines Versicherten ist im Durchschnitt umso größer, je länger er insgesamt im Erwerbsleben steht und je größer damit gleichzeitig die Zahl seiner anrechnungsfähigen Beitragsjahre ist 53 . Die multiplikativ verknüpften Faktoren persönlichen Bemessungsgrundlage und Beitragszeit (wobei es nicht darauf ankommt, wann ein Beitrag gezahlt wurde) stellen die (nicht sehr enge) Beziehung zum Versicherungsoder Äquivalenzprinzip in der gesetzlichen Altersversorgung her. Die allgemeine Bemessungsgrundlage aBt sichert die dynamische Anpassung der Renten an die Entwicklung der Erwerbstätigeneinkommen 54 und ist dem Privatversicherungsgedanken fremd. Die allgemeine Bemessungsgrundlage errechnet sich als 55 : 52 Obwohl eine Ermittlung von pB nach dem vorgestellten Prinzip logisch wäre, wurden tatsächlich die ersten fünf Versicherungsjahre, weil die Einkommen in diesem Zeitabschnitt besonders niedrig sind. bei Männern mit 100 und bei Frauen mit 75 (!) Prozent angesetzt. 53 Zur empirischen Bestätigung dieses Zusammenhangs siehe H. Hensen, Das Rentenniveau in den Rentenversicherungen der Arbeiter und der Angestellten, in: Bundesarbeitsblatt, Heft 5,1971, S. 327-331, bes. S. 328 f. oder E. Kirner, Ursachen für die Unterschiede in der Höhe der Vesichertenrenten an Frauen und an Männern in der gesetzlichen Rentenversicherung, DIW -Beiträge zur Strukturforschung, Heft 57, Berlin 1980, S. 122. 54 In vielen Ländern werden die Renten gemäß der Veränderung der Lebenshaltungskosten angepaßt. Zu einem Überblick verschiedener Methoden siehe X. B. Scheil, Dynamisierung gesetzlicher Altersrenten, München 1979, bes. S. 46 ff. 55 Bis zum 20. Rentenanpassungsgesetz galt eine andere Berechnungsformel. Zu den Details der Umformulierung siehe H. Grohmann, Bevölkerungsmodelle und Sozialpolitische Entscheidungen in: Allgern. Stat. Archiv, Bd. 61, 1977, S. 349-370, bes. S.352.
186
3. Kapitel: Alterssicherung im langfristigen Bevölkerungsrückgang
wobei die Konstante C seit 1978 den Wert 0,9231 hat. Die allgemeine Bemessungsgrundlage folgt zeitverzögert der Entwicklung der Bruttoeinkommen, wobei die Einkommensschwankungen leicht abgemildert werden 56 . Auch wenn in der Rentenformel keinerlei Berücksichtigung der Einnahmeseite stattfindet, müssen in einer Versicherung nach dem Umlageverfahren die Ausgaben A und Einnahmen Binjedem Jahr gleich sein, sobald von externen Zuschüssen (wie dem sogenannten Bundeszuschuß) abstrahiert wird. Nehmen wir vereinfachend an, die Rentenausgaben eines Jahres seien das Produkt aus Durchschnittsrente Rund Rentnerzahl N, die Einnahmen das Produkt aus den durchschnittlichen Beiträgen (b .E) und der Zahl der Erwerbstätigen L, so ergibt sich über:
und
A = R ·N; B= b·E ·L; A
=B
für den variablen Beitragssatz b:
R N b=-·-· E L' Dem Prinzip der dynamischen Rente in Deutschland liegt die Absicht zugrunde, den Bruch R/E (das Rentenniveau, als Verhältnis von Durchschnittsrente und durchschnittlichem Bruttoeinkommen der Erwerbstätigen) konstant zu halten 57 , was direkt aus der Rentenformel abgelesen werden kann: Ein Erwerbstätiger mit 40 Beitragsjahren und einer persönlichen Bemessungsgrundlage von 100 Prozent erhält bei einem Steigerungssatz von 1,5 genau 40.1,5· aBI als Neurente. Entspräche die allgemeine Bemessungsgrundlage dem aktuellen Durchschnittsbruttoeinkommen, würde dieser Rentner, der als "Eckrentner" bezeichnet wird, genau 60 Prozent der Bruttoeinkommen der Erwerbstätigen als Rente erhalten. Der "Eckrentner" dient in der öffentlichen Diskussion dazu, jeweils die erreichte Verteilungsposition der Rentner im Verhältnis zu den Erwerbstä56 Die Alterssicherung wird damit zum konjunkturpolitischen Instrument, was wir wegen der gewählten langfristigen Perspektive hier nicht näher behandeln wollen. Siehe dazu beispielsweise W. Schmähl, Zur konjunkturpolitischen Beurteilung von Rentenanpassungsverfahren - Methodische und theoretische Gesichtspunkte sowie ein empirischer Versuch, in: ZfgSt., Bd. 134, 1978, S. 73-125. 57 Dieses Ziel ist allerdings in seiner strengen Form nicht erreichbar, da die Rentenformel stetige Abweichungen von diesem Grundsatz erzwingt. Siehe dazu ausführlich H. Grohmann, Ist die Rentenformel reformbedürfitg?, in: Alterssicherung als Aufgabe ... , S. 413-439.
3. Bevölkerungsentwicklung und kollektive Alterssicherung
187
tigeneinkommen festzulegen 58, 59 ist allerdings nicht mit dem Durchschnittsrentner gleichzusetzen: Tatsächlich liegen die anrechnungsfahigen Beitragsjahre seit Jahrzehnten oberhalb von 40 Jahren, wobei beachtet werden muß, daß alleine die hypothetischen Zurechnungen (für Ausbildung, Wehrdienst, Arbeitslosigkeit etc.) beträchtliche Zuwächse erbringen 6o . Auch die erreichte persönliche Bemessungsgrundlage liegt (besonders bei Angestellten) weit oberhalb von 100 Prozent 61 . Da viele Rentner mehrere Renten oder Versorgungsansprüche beziehen (Witwenrente, Kriegsopferversorgung, Pensionen, Lastenausgleichsbezüge, Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst, Betriebsrenten etc.), ist die durchschnittliche Nettoversorgung (angesichts der faktischen Steuerfreiheit der meisten Alterseinkommen) weitaus günstiger als dies ein unterhalb von 60 Prozent liegendes Bruttorentenniveau im Moment erscheinen läßt. Soll das Rentenniveau konstant bleiben, hängt der zur Finanzierung der jeweils fälligen Renten notwendige Beitragssatz in erster Linie vom Zahlenverhältnis zwischen Rentnern und Erwerbstätigen ab, oder noch stärker vereinfacht, von der Aufteilung einer Bevölkerung zwischen den beiden Gruppen der Erwerbstätigen und der Senioren. Im Bevölkerungsrückgang m~ß sich für einige Generationen 62 dieses Verhältnis verschieben (siehe dazu Abb. 25): Da der Anteil der Alten erst 60 Jahre nach Eintritt des Geburtenrückgangs sinkt, die Zahl der Erwerbstätigen dagegen bereits nach 20 Jahren, entsteht für etwa 70 bis 80 Jahre ein Ungleichgewicht, das frühestens dann beendet ist, wenn der letzte Jahrgang vor der ursprünglichen Geburtenreduktion gestorben ist. Frühestens dann könnte sich wieder eine Bevölke58 Zu einer kritischen Diskussion dieser Vorgehensweise siehe auch W. Schmähl, Alterssicherung und Einkommensverteilung, Tübingen 1977, S. 361 ff. 59 Da wegen des Nachhinkens von aBI hinter die aktuellen Einkommen der Eckrentner oft einen geringeren Satz erhält, wird regelmäßig auf eine verschlechterte Position der Rentner geschlossen. 60 Siehe dazu Fußnote 88, S. 196 dieser Arbeit. 61 Neben der Rente nach Mindesteinkommen, der Höherstufung der ersten fünf Beitragsjahre sowie den relativ hoch angesetzten Werten für die Ausbildungszeiten sind dafür auch andere Faktoren verantwortlich: Die Arbeitnehmer als Gesamtheit beziehen definitionsgemäß das Durchschnittseinkommen. Gerade die niedrigen Einkommen führen allerdings oft nicht zu einer späteren Rente. Dazu gehören neben den während des Erwerbslebens Verstorbenen z. B. die Hausfrauen, die vorzeitig aus dem Erwerbsleben ausscheiden oder die in ihre Heimatländer zurückkehrenden Gastarbeiter. Solange vorwiegend geringe Anwartschaften vorher ausscheiden, werden am Ende nur überdurchschnittlich große Ansprüche relevant. 62 Darauf nimmt die 1957 gewählte Ausgestaltung der Rentenberechnung in Deutschland keinerlei Rücksicht, ganz im Gegensatz etwa zu den ursprünglichen Vorschlägen W. Schreibers, dessen Veröffentlichungen die Rentenreform wesentlich beeinflußten.
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3. Kapitel: Alterssil:herung im langfristigen Bevölkerungsrückgang
rungsstruktur (und eine Beitragsbelastung) ergeben, wie sie vor dem Bevölkerungsrückgang bestand. Die Frage, ob und wie das in Deutschland installierte System der staatlichen Altersversorgung angesichts der demographischen Entwicklung langfristig aufrechterhalten werden kann, ist nicht nur eine Konsequenz der Geburtenzahlen, sondern hängt von einer ganzen Reihe von Faktoren ab, z. B. wie sich die durchschnittliche Lebenserwartung verändert, mit welchem Alter die Erwerbstätigen in den Erwerbsprozeß eintreten und wieder ausscheiden oder wie sich die Beschäftigungslage und Produktivität der Erwerbstätigen entwickeln 63. Fragen im Zusammenhang mit einer Vorausberechnung der Haushaltslage der gesetzlichen Rentenversicherung sind nicht neu, da die Reichsversicherungsordnung auch gegenwärtig jährliche Vorausschätzungen mit einem Zeitraum von jeweils 15 bevorstehenden Jahren fordert 64 . Obwohl bereits hier die möglichen Fehlerquellen beträchtlich sind, muß der Prognosezeitraum für unsere Fragestellung noch wesentlich weiter gesteckt werden. In den ersten 15 Jahren nach Eintritt eines Geburtenrückgangs sind die Auswirkungen auf die Rentenversicherung vernachlässigbar klein; selbst die Zahl der Erwerbsfähigen bleibt gegenüber einer anderen Geburtenentwicklung im wesentlichen unverändert. Wie bereits mehrfach betont, bewegen sich die Strukturverschiebungen langsam (aber unvermeidlich) durch die Alterspyramide hindurch. Aus diesem Grund darf bei aller Zurückhaltung im Hinblick auf die statistische Aussagefähigkeit für unsere Fragestellungen der einbezogene Zeitraum nicht geringer sein als 40 oder 50 Jahre; d. h. Modellrechnungen müssen etwa bis zum Jahr 2030 durchgeführt werden. Unter dem Ausgangspunkt der 5. Koordinierten Bevölkerungsprognose des Statistischen Bundesamts ist sofort ersichtlich, daß etwa vom Jahr 2000 ab entweder massive Beitragserhöhungen oder starke reale Kürzungen der Altersrenten folgen müssen. Die in der öffentlichen Diskussion der jüngsten Zeit verwendeten Zahlen über die Zukunft der deutschen Alterssicherung 63 Eine für unsere AufgabensteIlung typische Veränderung in der zukünftigen Ausgabenstruktur der Rentenversicherung ergibt sich beispielsweise aus der vorne behandelten steigenden Erwerbsquote der verheirateten Frauen im Geburtenrückgang: Kurzfristig wird damit die Finanzierung der momentanen Alterslasten erleichtert. In Zukunft allerdings werden Frauen viel stärker als heute eigenerworbene neben den abgeleiteten Rentenansprüchen (aus der Witwenrente) haben und die Lasten für die nächsten Generationen von Beitragszahlen werden zusätzlich steigen. 64 Die Probleme und Methoden solcher Rechnungen werden ausführlich diskutiert von H. Grohmann, Rentenversicherung und Bevölkerungsprognosen, Frankfurt-New York 1980. Siehe dazu auch G. Buttler und A. Seffen, Modellrechnungen zur Rentenfinanzierung, Köln 1975.
3. Bevölkerungsentwit:klung und kollektive Alterssicherung
189
basieren auf einigen zwar in den Details verschiedenen, im Grundsatz aber recht ähnlichen Modellrechnungen 65 . Ohne auf die Details einzugehen, sollten einige grundsätzliche Probleme solcher Analysen diskutiert werden: Mehr noch als eine Bevölkerungsprognose, auf die eine Vorausberechnung der Rentenversicherungseinnahmen und -ausgaben stets aufbauen muß, ist jede Rentenprognose unter extremen ceteris paribus Bedingungen zu verstehen: Jede neue gesetzliche Maßnahme (von einer Reduktion der Arbeitszeit bis hin zu Veränderungen der Anrechnungsbedingungen und zeiten, Öffnen und Schließen der gesetzlichen Versicherung gegenüber sozialen Gruppen oder ähnlichem) muß alle langfristigen Berechnungen im Ergebnis verändern. Dem Prognostiker verbleibt an dieser Stelle kein anderer Weg, als die gegenwärtigen institutionellen Regelungen auch für die Zukunft zu unterstellen. Die zukünftigen Ausgaben der gesetzlichen Sozialversicherung (bei Gültigkeit eines Leistungssystems, wie es dem Status quo entspricht) hängen vor allem davon ab, in welchem Umfang und welcher Verteilung die jetzt erwerbstätigen Jahrgänge das Rentenalter erreichen und wie lange sie im Durchschnitt leben werden. Da es neben den Versichertenrenten auch Hinterbliebenenrenten gibt, muß auch die Familienstruktur eine wichtige Determinante der Zukunftslasten sein 66 . Weit schwerer noch als eine Vorausberechnung der Ausgaben muß eine langfristige Prognose der Beitragsannahmen fallen, die direkt von der zukünftigen wirtschaftlichen Entwicklung abhängen. Angesichts des Bevölkerungsrückgangs dürfte das Erwerbspersonenpotential, dessen Prognose noch verhältnismäßig gut möglich ist 67 , nicht unbedingt der Nachfrage nach 65 Siehe dazu P. Glaab, Eine Modellrechnung zur langfristigen Entwicklung der finanziellen Situation in der gesetzlichen Rentenversicherung, Frankfurt, Bern, Las Vegas, 1977; H. Hautzinger und W. Konanz, Langfristige Perspektiven für die finanzielle Entwicklung der gesetzlichen Rentenversicherung unter Berücksichtigung des 20. Rentenanpassungsgesetzes, Studie der Prognos AG im Auftrag des Verbandes der Lebensversicherungsunternehmen, Basel 1977; oder H. Kaltenbach, Bevölkerungsentwicklung und Rentenlast, Presseseminar der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte am 12. Februar 1979 in Berlin, Manuskript. 66 Der Gesetzgeber muß bis 1984 eine Neuordnung der Hinterbliebenenversorgung durchführen, was wir an anderer Stelle ausführlicher behandeln wollen. Allein diese Neuregelung wird allerdings alle Zukunftslasten notwendigerweise verändern, ohne daß man dies gegenwärtig schon berücksichtigen könnte. 67 Zu den Problemen bei einer Vorausrechnung des Erwerbspersonenpotentials siehe beispielsweise G. Kühlewind und M. Thon, Projektion des deutschen Erwerbspersonenpotentials für die Jahre 1977, 1980, 1985 und 1990, in: Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, 6. Jg., 1973, S. 237f.; oder A. Blüm und U. Frensel, Quantitative und qualitative Vorausschau auf den Arbeitsmarkt der Bun-
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3. Kapitel: Alterssicherung im langfristigen Bevölkerungsrückgang
dem Faktor Arbeit entsprechen 68 . Bei der Behandlung der makroökonomischen Konsequenzen des Bevölkerungsrückgangs im zweiten Kapitel dieser Arbeit wurde ermittelt, daß gerade der Bevölkerungsrückgang Arbeitslosigkeit hervorrufen könnte, da das Angebot schneller wächst als die Gesamtnachfrage. Die vorhandenen längerfristigen Modellrechnungen 69 berücksichtigen die demo-ökonomische Interdependenz nicht, was angesichts der beschriebenen theoretischen Unsicherheiten nicht verwundern darf. Sie unterstellen für die Zukunft konstante Zuwachsraten von Einkommen, Arbeitsproduktivität etc. sowie eine unveränderte (meist sehr niedrige) Arbeitslosenquote 70 . In manchen Projektionen wird sogar mit einer Reduktion der Arbeitslosigkeit aufgrund der Annahme gerechnet, daß ausländische Arbeitnehmer verstärkt in ihre Heimatländer rückwandern 71. Sollte tatsächlich die Arbeitslosenquote für einige Jahrzehnte aufgrund des Bevölkerungsschwunds ansteigen, müßte sich die Zukunft der Alterssicherung noch weit kritischer entwickeln, als sie ohnehin schon erscheint 72. Bis etwa 1985 schafft allerdings die bestehende Altersstruktur und die steigende Erwerbsquote der Frauen günstige Voraussetzungen für die Finanzierung der momentanen Rentenlasten. Aus diesem Blickwinkel muß das aktuelle Defizit der Rentenhaushalte besonders negativ erscheinen, das sich zwischen 1978 und 1982 auf etwa 5 % des gesamten Leistungsvolumens 73 beläuft. Die Reserven der Rentenhaushalte gingen von etwa acht (1975) auf weniger als zwei Monatsausgaben (1979) zurück. Über lange Jahre standen vorher den Ausgaben jährliche Überschüsse in etwa gleicher Größenordnung gegenüber 74 , 75. Läßt man heute Defizite zu, werden der relativ umdesrepublik Deutschland, in: Beiträge zur Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Nürnberg 1975. 68 Siehe beispielsweise P. Schnur, Projektionen des Arbeitskräftebedarfs für die Jahre 1980, 1985, 1990, in: Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, 7. Jg., 1974, S. 252 f.; oder G. Buttler und B. Hof, Bevölkerung und Arbeitsmarkt bis zum Jahr 2000, Köln 1977, S. 86 ff. 69 Zu den auftretenden Problemen siehe auch R. Glöckle, Die Bedeutung der Bevölkerungsentwicklung für die deutsche Rentenversicherung, Diss. München, 1981. 70 H. Hautzinger und W. Konanz, Langfristige Projektionen ... , S. 27. 71 So H. Grohmann, Rentenversicherung und Bevölkerungsprognosen ... , S. 163. 72 Bereits unter den Bedingungen des Jahres 1977 führt aber eine Arbeitslosigkeit von 1 Mio. zu Einnahmeverlusten von jährlich 4,5 Mrd. DM. Siehe H. Lampert, Sozialpolitik, Berlin, Heidelberg, New York, 1980, S. 251. Gleichzeitig entstehen weitere Zukunftslasten, weil die Zeit der Erwerbslosigkeit als Beitragszeit angerechnet wird. 73 So B. Rürup, Zum Problem der langfristigen Alterssicherung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, Bd. 27,1979, S. 25.
3. Bevölkerungsentwil:klung und kollektive Alterssicherung
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fangreichen Generation der jetzigen potentiellen Eltern und Beitragszahler, die sowieso schon weniger Kinder hat, zusätzlich Lasten auf Kosten der kleineren zukünftigen Generationen abgenommen. Von 1990 ab wird sich (bei unverändertem Rentenrecht) die Finanzierungslage selbst unter optimistischen Annahmen über die Wirtschaftsentwicklung schnell verschlechtern. Für die Zeit um etwa 2030 (wo die jetzt ins Erwerbsleben tretenden Jahrgänge zu Rentnern werden) errechnet sich eine Verdoppelung der Beiträge und für die darauffolgenden Jahre (falls man bereit ist, in solch langfristigen Zeiträumen überhaupt zu denken) ergibt sich eine weitere Verschärfung der Ungleichgewichte 76 , 77. Den in Legislaturperioden denkenden Politikern wird oft vorgeworfen 78, vor allem bei sozialpolitischen Fragen einen zu geringen Zeithorizont zu haben. Eine solche Strategie mag konfliktvermeidend und jedenfalls kurzfristig machterhaltend sein. Typisch dafür ist der Standpunkt der Bundesregierung des Jahres 1980 zum angesprochenen Problemkreis: "Die Bundesregierung ist der Meinung, daß aktueller politischer Handlungsbedarf wegen modellhaft errechneter, möglicher Entwicklungen jenseits der Jahrtausendwende nicht besteht"79.
In vielen Politikbereichen ist solches Verhalten zulässig und sinnvoll, denn viele scheinbar unlösbare Probleme lösen sich tatsächlich von selbst. Die Frage der langfristigen Alterslast ist allerdings ein Thema, das bereits heute diskutiert werden sollte. Alle Rentner des Jahres 2030 stehen bereits 74 So beliefen sich beispielsweise 1960 die Überschüsse der Arbeiterrentenversicherung bei 12,2 Mrd. Ausgaben auf etwa 800 Mio. DM, bei der Angestellten-Rentenversicherung wurden bei 5,7 Mrd. Ausgaben ÜberschUsse von über 500 Mio. erzielt. 75 Diese Entwicklung ist das Spiegelbild von Umverteilungsmaßnahmen zugunsten der Rentner besonders seit dem Jahr 1972, deren Einführung in der politischen Auseinandersetzung sicherlich nicht unter Beachtung der langfristigen Auswirkungen vorgenommen wurde. 76 So auch H. Meinhold, Ökonomische Probleme der sozialen Sicherheit, Kieler Vorträge, N. F., Bd. 86, Tübingen 1978. 77 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, daß die von der Bundesregierung eingesetzte Sozialenquetekommission bereits während des Höhepunkts des Babybooms 1966 die langfristige Finanzierbarkeit skeptisch beurteilte ("Es stellt sich die Frage, ob diese Zunahme (der finanziellen Belastung) sozial und ökonomisch tragbar ist". Sozialenquete, S. 164. 78 Ph. Herder-Dorneich, Bevölkerungspolitik als Ordnungspolitik ... , S. 183. 79 Staatssekretärin A. Fuchs, Bevölkerungsentwicklung und Generationenvertrag aus der Sicht der Bundesregierung, in: Bevölkerungsentwicklung und Generationenvertrag, Gespräche der List Gesellschaft e. V., N. F., Bd. 5, hrsg. von H. Besters, Baden-Baden, 1980, S. 142-155, bes. S. 152.
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3. Kapitel: Alterssicherung im langfristigen Bevölkerungsrückgang
mindestens am Beginn des Erwerbslebens und können folglich ohne grobe Fehlschätzungen ermittelt werden (solange keine außergewöhnlichen Ereignisse wie Kriege die Entwicklung verändern). Während eine ökonomische Prognose bei einem solchen Zeitraum eine reine Spekulation wäre, müssen Fragen der Alterslast und der Bevölkerung grundsätzlich in längerfristigen Zeiträumen betrachtet werden. 3.2. Der "Generationenvertrag" der umlagefmanzierten Alterssicherung
Privatversicherung und umlagefinanzierte Altersversorgung unterscheiden sich aus individueller Sicht in einem Punkt, auf den unsere weitere Argumentation aufbauen wird: Bei der Privatversicherung besteht die eigene Leistung nur aus der akkumulierten Beitragszahlung. 1m gesetzlichen Umlageverfahren, das die individuelle Sicherung durch die kolive Sicherung ersetzt, muß die Sichtweise von Anfang an verändert sein. Jedes Mitglied hat im Rahmen des sogenannten "Generationenvertrags" der Alterssicherung tatsächlich zwei Leistungen zu erbringen: Während des Erwerbslebens müssen Geldbeiträge gezahlt werden, um die jetzt Alten zu versorgen. Diese Zahlungen reichen allerdings zur Aufrechterhaltung einer Sozialversicherung nicht aus. Die heutigen Senioren verdanken ihre Renten nicht ihren eigenen früheren Beiträgen (mit denen, wie behandelt, auch nur ein Bruchteil der heutigen realen Leistungen möglich gewesen wäre). Die früheren Beiträge dieser Generation wären auch ohne Krieg und Geldentwertung längst dazu verwendet worden, die damalige Rentnergeneration zu versorgen. Die Sicherung der Senioren bestand darin, daß sie als Generation insgesamt ausreichend viele Kinder hatten, die heute bereit sind, sie zu versorgen. Die gesetzliche Alterssicherung basiert neben deli Geldbeiträgen auf einer zweiten "Beitragsleistung" , der individuellen Reproduktion bzw. der Aufrechterhaltung der Generationenabfolge. Dabei kommt es auch nicht darauf an, aus welchen individuellen Motiven jemand Kinder hat oder nicht. Nur auf einen ersten Blick hat die Reproduktion nichts mit einer Versicherung zu tun. In Wahrheit ist sie für das Funktionieren des Ganzen ebenso unverzichtbar wie die Geldbeiträge 8o . Beide Vertragsbestandteile sind von 80 "Zuweilen geht man von der Fiktion aus, daB eine Rückstellung von etwa 10 vH des Einkommens für die Alterssicherung ausreichend sei. Dabei wird übersehen, daß nur die Kindergeneration den alten Menschen der vorhergehenden Generation einen sorgenfreien Lebensabend verschafTen kann. So ergibt sich, daB die EItern mit Kindern die Rentenansprüche derjenigen sicherstellen, die unverheiratet
3. Bevölkerungsentwicklung und kollektive Alterssicherung
193
der erwerbstätigen Generation zu erbringen und müssen als langfristig gleichgewichtig angesehen werden, auch wenn eine direkte gegenseitige Aufrechnung weder möglich und notwendig ist. Liegt die biologische Reproduktionsrate weit über Eins, kann die größere Zahl zukünftiger Beitragszahler ihre (zukünftigen) Alterslasten umso leichter tragen und den Alten relativ höhere Renten zahlen und vice versa. Der Anspruch auf eigene Rente setzt folglich beide Leistungen voraus, die gleichzeitig zu erbringen sind. Kinderlose entziehen sich, auch wenn sie voll erwerbstätig sind, einem der beiden Vertragsbestandteile und leisten nicht ihren vollen "Beitrag"81 zum Generationenvertrag. Als Gegenleistung dafür, daß sie von der vorherigen Generation aufgezogen wurden, sichern sie zwar die Rente der jetzigen Senioren, ihre eigene Renten kann allerdings nur wieder die nächste Generation sichern. Bei der kollektiven Alterssicherung sind es nicht mehr die eigenen Kinder, sondern genau gesehen die Kinder aller anderen Eltern, die bereit und in der Lage sein müssen, die Versorgung der Senioren zu übernehmen. Wenn heute zu wenig Kinder geboren werden, geht dies nicht zu Lasten der jetzt Alten oder der Kinder. Verursacher der in einigen Jahrzehnten auftretenden Lasten ist die heutige Erwerbstätigengeneration. Bei jeder Form des später diskutierten Ausgleichs dieser Lasten sollten so weit als irgend möglich die Verursacher belastet werden. Eine solche Schlußfolgerung könnte auch bei einer stationären und selbst bei einer wachsenden Bevölkerung gezogen werden, je kleiner der Teil der Bevölkerung ist, der tatsächlich die Kinder in dieser Gemeinschaft aufzieht. Falls die Reproduktionsrate der Alterskohorten langfristig deutlich unterhalb von Eins verbleibt (wie dies in Deutschland seit vielen Jahren der Fall ist), wird dieser Zusammenhang allerdings unausweichlich sichtbar. Unsere Sicht des Problems besteht gleichzeitig aus zwei Aspekten, einem interpersonellen Verteilungsargument (zwischen Kinderlosen und Kinderreichen innerhalb einer Generation) und einem intergen~rationalen Argument, das allerdings nur in einer extremen Situation der interpersonellen Ungleichheit entsteht. Strenggenommen kann das intergenerationale Argument gelöst sein (wenn die Bevölkerung stationär ist) und die interpersonelle Ungleichheit kann unverändert bestehen. Das öffentliche Problembewußtsein ist sicherlich hauptsächlich gegenüber dem intertemporalen Argument bleiben oder deren Ehe kinderlos bleibt." (H. Troeger (Hrsg.), Diskussionsbeiträge des Arbeitsausschusses für die Große Steuerreform, Stuttgart 1954, S. 22.) 81 Dieser Gedanke tauchte bereits im sog. "Schreiberplan" (Existenzsicherung ... , bes. S. 34 f.) auf. 13 Dinkel
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3. Kapitel: Alterssicherung im langfristigen Bevölkerungsrückgang
aufgeschlossen, das wir allerdings nur als eine besondere Qualität des interpersonellen Problems erkennen müssen. Bei jedem Lösungsvorschlag, den wir im folgenden diskutieren, wollen wir deshalb auch diese Blickrichtung betonen. In der Entstehungszeit des deutschen Rentenrechts bestand weder ein intergenerationales (die Nettoreproduktionsrate lag bis zum ersten Weltkrieg in der Höhe von 1,4) noch ein interfamiliäres Verteilungsproblem: Im Jahr 1900 waren nur 8,7 Prozent der Ehen kinderlos, so daß damals mangels Notwendigkeit und nicht etwa wegen wohldurchdachter Argumente weder intergenerationale noch interpersonelle Verteilungsfragen berücksichtigt wurden 82 . Noch zum Zeitpunkt der Neuregelung der Rentenversicherung nach dem Krieg (Rentenversicherungs-Neuregelungsgesetz von 1957) konnte eine wachsende deutsche Bevölkerung prognostiziert und den Überlegungen zugrunde gelegt werden. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes 83 kann man davon ausgehen, daß bis zu 10 Prozent der Ehen wegen natürlicher Unfruchtbarkeit ohne Kinder bleiben müssen. Gleichzeitig wird festgestellt, daß die bis zum Jahr 1905 geschlossenen Ehen zu 10 oder noch weniger Prozent kinderlos waren, so daß freiwillige Kinderlosigkeit praktisch nicht existierte. Selbst die 13 Prozent der Ehen mit nur einem Kind des Ehejahrgangs 1905 (im Ehejahr 1899 nur 9 Prozent) sind wenigstens teilweise aus medizinischen Gründen kinderarm gewesen. Abstrahiert man von den (ebenfalls relativ seltenen) Unverheirateten, haben etwa 10 Prozent der Ehen den Generationenvertrag im Reproduktionsaspekt nicht erfüllt, was durch Übererfüllung der anderen Ehen (etwa 60 Prozent der Ehejahrgänge vor 1900 hatten vier und mehr Kinder) mehr als ausgeglichen wurde. Vom Ehejahrgang 1945 blieben nach 20 Ehejahren 23 Prozent ganz ohne Kinder und 24 Prozent hatten ein Kind, so daß bereits mehr als ein Drittel der Ehen den Generationenvertrag wegen freiwilliger Kinderlosigkeit nicht erfüllte 84 . Im Jahr 1975 hatten nurmehr 8 Prozent der Ehen vier und mehr Kinder, so daß der Belastungsanteil dieser relativ wenigen Familien für die Aufrechterhaltung des gesamten Vertragsgebäudes weit überproportional wuchs. Bezieht man die Ledigen ein und bedenkt die seitherige Entwicklung, kann man ohne Übertreibung konstatieren, daß rund eine Hälfte der
Bevölkerung heute den Generationenvertrag in diesem Punkt nicht eljüllt.
82 Zudem macht das früher formal praktizierte System des Anwartschaftsdekkungsverfahrens diese Logik auch weniger offenkundig. 83 Siehe Wirtschaft und Statistik, Heft 10, 1962, bes. S. 593. 84 Ebenda, Tabelle 3, S. 593.
· 3. Bevölkerungsentwicklung und kollektive Alterssicherung
195
Der Geburtenrückgang wird in den nächsten Jahrzehnten dazu führen, daß der Anteil kinderloser Ehen und vor allem der Ehen mit einem Kind weiter steigt, der Anteil der Familien mit mehreren Kindern dagegen deutlich sinkt. Der Anteil der Eltern mit vier und mehr Kindern sinkt bis zum Jahr 1995 vermutlich auf etwa 2 Prozent 85 . Diese Entwicklung zeigt, daß der Generationenvertrag in seiner ursprünglichen Form praktisch außer Kraft gesetzt wurde. Eine numerisch immer kleiner werdende Minderheit der Vertragstreuen muß deshalb absolut immer größer werdende Lasten tragen 86 .
3.3. Die Auswirkung von Kindern auf die Rentenhöhe im geltenden Recht
Wer behauptet, die Geburten- und Bevölkerungsentwicklung hätten mit einer Sozialversicherung nichts zu tun, hängt entweder der unangemessenen Privatversicherungsillusion nach oder unterstellt, die Bereitstellung der nächsten Beitragszahlengeneration falle gewissermaßen exogen vom Himmel. Im deutschen Rentenrecht wird die notwendige Vertragsleistung der Kindererziehung nicht nur nicht beachtet, sondern aktiv diskriminiert. Wir wollen diese Aussage prüfen, indem wir die Renten von Müttern mit denen kinderloser Frauen vergleichen. Ein grundsätzlich anderer Vergleich kann zwischen rentenversicherten Männern und Frauen gezogen werden, der hier allerdings nicht relevant ist. Bislang erhalten Männer im Durchschnitt weit höhere Monatsrenten als Frauen, was oft als Diskriminierung kritisiert wird und darauf zurückgeht, daß Frauen kürzere Zeit und in schlechter bezahlten Positionen erwerbstätig waren. Für zwei gleichverdienende Personen unterschiedlichen Geschlechts hält die Rentenversicherung kaum beachtete Differenzierungen bereit: Erreichen je ein Mann und eine Frau eine gleiche Beitragszeit und gleiche persönliche Bemessungsgrundlage, belastet die Frau die Rentenversicherung für den Rest des Lebens um etwa das Doppelte des Mannes. Eine Frau hat momentan im 60. Lebensjahr (ihrem Renteneintrittsalter) eine weitere Lebenserwartung von 20,6 Jahren, ein Mann dagegen 12,9 Jahre im 65. Lebens85 A. Steger, Haushalte und Familien bis zum Jahr 2000, Frankfurt, New York, 1980, bes. S. 276 ff. 86 In einem internationalen Vergleich (nicht notwendigerweise innerhalb eines Landes) sind Fruchtbarkeit und LeistungsmaB der Alterssicherung negativ korreliert. Siehe eh. F. Hohm, Social Security and Fertility: An International Perspective, in: Demography, Vol. 12, 1975, S. 629-644. Es gilt allerdings zu bedenken, daB Korrelation nicht mit Kausalität gleichzusetzen ist. \3*
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3. Kapitel: Alterssicherung im langfristigen Bevölkerungsrückgang
jahr87 . Für die Versichertengemeinschaft kommt eine Frauenrente damit wesentlich teuerer. Berücksichtigt man, daß Männer im geltenden Recht umfangreichere Ersatz-, Ausfall- und Anrechnungszeiten erhalten 88 und daß - bislang noch - nur Männer (oder doch fast nur Männer) ihren Frauen abgeleitete Ansprüche übertragen können 89 , wird die angesprochene Differenz gemildert 90 . Im Sinne unserer Fragestellung geht es aber nicht um die Differenzen zwischen Männern und Frauen, sondern zwischen jenen Beitragszahlern, die beide Leistungsbestandteile des Generationenvertrags erfüllten und jenen, die dies nur zum Teil taten, d. h. Müttern versus kinderlosen Frauen. Kinder gehen in die Rente der Mütter an zwei Stellen ein: Wenn in Rentnerhaushalten Kinder zu versorgen sind, erhalten sie einen dem Kindergeld ähnlichen Zu schuß zu ihrer Rente. Diese zum Familienlastenausgleich zählende Maßnahme kann jedenfalls an dieser Stelle außer Betracht bleiben. Wichtiger ist ein zweiter Aspekt: Da Geburt und Erziehung von Kindern die Erwerbsbeteiligung der Mutter verändern, verändert sich damit auch ihr Rentenanspruch im Alter. Die Auswirkung von Kindern auf die Rentenhöhe der Mutter wollen wir untersuchen, indem wir zwei Frauen gleichen Alters, gleicher Ausbildung und gleicher Fähigkeiten vergleichen, die beide lebenslang berufstätig sind. Eine der beiden Frauen soll nach der Verheiratung für einige Jahre aus dem Berufsleben ausscheiden, um mehrere Kinder zu gebären und zu erziehen. Die Rente der beiden Frauen errechnet sich aus der Rentenformel : Während Steigerungssatz und allgemeine Bemessungsgrundlage für beide Frauen gleich sind, unterscheiden sie sich sowohl in der Zahl der Beitragsjahre als auch in der erreichten persönlichen Bemessungsgrundlage. Bis zum Ausscheiden wegen der Geburt des ersten Kindes soll die Mutter annahmege87 Zur Gründungszeit der deutschen Rentenversicherung gab es zwischen Männern und Frauen nur geringe Sterblichkeitsunterschiede. Die Lebenserwartung in 65. (60.) Lebensjahr lag für Männer bei 9.55 (12.11) und für Frauen bei 9.96 (12.71) Jahren. 88 E. Kirner, Ursachen für ... , Tabelle 12, S. 32 führt beispielsweise für die Neurenten des Jahres 1972 für Männer 7,7 Jahre bei der Arbeiterrenten- und 6,8 Jahre bei der Angestelltenrentenversicherung als angerechneten beitragslosen Zeiten auf. Für Frauen gelten mit 2,5 bzw. 3,1 Jahren deutlich geringere Werte. 89 Die bislang noch geltende Regelung der Hinterbliebenenversorgung ist aus diesem Grund für Thullen ein Faktor zur Herstellung der Beitragsäquivalenz zwischen Männern und Frauen, der mit einer Reform verloren ginge. Siehe dazu P. Thullen, Der Begriff der Beitragsäquivalenz aus der Sicht der Versicherungsmathematik, In: Deutsche Rentenversicherung, Heft 8, 1981, S. 497-513, bes. S. 499. 90 Siehe dazu ausführlich R. Dinkel, Werden Frauen durch die gesetzliche Rentenversicherung benachteiligt?, in Finanzarchiv, N. F. Bd. 41,1983, S. 60-72.
3. Bevölkerungsentwicklung und kollektive Alterssicherung
197
mäß das gleiche Einkommen erzielen wie die kinderlose Frau, deren (relatives) Lebenseinkommen als E] in Abb. 30 dargestellt ist. Während der Zeit der kinderbedingten Nichterwerbstätigkeit (zwischen (] und (2) erzielt die Mutter kein Einkommen.
Einkommen
,...-
-- -- ---
~----~----a-~~-----------+t
Für ihr Lebenseinkommen E2 ist nun entscheidend, zu welchem (relativen) Einkommen sie anschließend wieder ins Erwerbsleben zurückkehrt. Gegenüber der stets erwerbstätigen Frau entstehen für die Mutter mindestens zwei einkommensmindernde Faktoren, selbst wenn sie die gleiche Tätigkeit bei gleicher Fähigkeit ausübt: Sie hat alle zwischenzeitlichen Karriereverbesserungen der kinderlosen Frau nicht erfahren und es fehlt ihr objektiv zumindest zeitweise an Berufspraxis. Eine ins Berufsleben zurückkehrende Frau kann deshalb im Normalfall nicht erwarten, beim Wiedereintritt das gleiche Einkommen wie die kinderlose Frau zu erhalten. Selbst wenn beide Frauen von diesem Zeitpunkt ab gleiche Einkommenszuwächse erhalten sollten, muß das Lebenseinkommen der Mutter deutlich hinter dem der kinderlosen Frau zurückbleiben und sie muß deshalb eine stark reduzierte persönliche Bemessungsgrundlage in Kauf nehmen. Nach den hier vorgestellten Überlegungen darf auch ein weiterer Zusammenhang vermutet werden: Die Lebensperiode (] bis (2 ist umso größer, je mehr Kinder eine Frau geboren und aufgezogen hat. Mag bei nur einem Kind das Erreichen des Kindergarten- oder Schulalters einen Wiedereintritt ins Erwerbsleben ermöglichen oder erleichtern, so wird dieser Zeitpunkt bei einer größeren Kinderzahl automatisch nach hinten verschoben. Gleichzei-
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3. Kapitel: Alterssil:herung illl langfristigen Bevölkerungsrückgang
tig dürfte das relative Einkommen, zu dem eine Frau in das Erwerbsleben zurückkehrt, von der Dauer der zwischenzeitlichen Nichterwerbstätigkeit abhängen. Je länger eine Frau nicht erwerbstätig war, desto länger liegen Ausbildung und Berufspraxis zurück, desto niedriger dürfte auch das neue relative Einkommen sein und damit auch das endgültige Lebenseinkommen bzw. die erreichte persönliche Bemessungsgrundlage der gesetzlichen Altersversicherung. Aufgrund einer Längsschnittuntersuchung von Pfaff'91 kann gezeigt werden, welchen Einfluß Kinder tatsächlich auf die Beitragszeit und die persönliche Bemessungsgrundlage nehmen. Nach einer Stichprobe der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte ergibt sich für die ausgewählten Geburtsjahrgänge 1910 und 1920 (für jüngere Frauen, die in der Reproduktionsphase stehen, ist noch kein abschließendes Bild möglich) bis zum Jahr 1978 folgender Einfluß der Kinderzahl (Tabelle 9a und b): Tabelle 9a
Jahrgang Beitragszeit in Jahren
1910
1920
ohne Kinder
29,3 22,4 18,9 19,7
31,5 22,0 18,8 18,1
1 Kind 2 Kinder 3 und mehr Kinder
Tabelle 9b
Jahrgang Pers. Bemessungsgrundlage (%)
1910
1920
ohne Kinder
93,5 78,6 76,1 76,5
102,8 77,5 70,3 66,7
1 Kind 2 Kinder 3 und mehr Kinder
Quelle: A. Pfaff, Typische Lebensläufe ... , a. a. 0., Ausschnitte aus Tabelle 3.8, S. 159. 91 A. Pfaff, Typische Lebensläufe von Frauen der Geburtsjahrgänge 1910-1975, in: Sachverständigenkommission für die soziale Sicherung der Frau und der Hinterbliebenen, Anlageband 2, Stuttgart 1979, S. 125-203, bes. S. 157 ff.
3. Bevölkerungsentwicklung und kollektive Alterssicherung
199
Es erweist sich, daß unsere obige Argumentation die tatsächliche Erfahrung von Müttern wiedergab: Bei Geburt und Erziehung zweier Kinder reduziert sich die Beitragszeit für den Altersjahrgang 1920 um 12,7 Jahre, bei drei Kindern um 13,4 Jahre. Die reduzierte Beitragszeit geht praktisch vollständig auf die Zeit der Kindererziehung zurück: Die Erwerbsquote verheirateter und (noch) kinderloser Frauen ist gleich groß wie diejenige lediger Frauen 92 . Nach mehr als zwanzig Ehejahren liegt sie dann für Mütter mehrerer Kinder oberhalb derjenigen der kinderlosen Frauen 93 , so daß die fehlenden Jahre in der Zwischenzeit liegen müssen. Die persönliche Bemessungsgrundlage der Mutter zweier Kinder sank um durchschnittlich 31,5 Prozent, bei drei Kindern entsprechend stärker um 36,1 Prozent. Daß die Reduktion auf die zwischenzeitliche Nichterwerbstätigkeit zurückgeht, kann am Jahrgang 1910 gezeigt werden. Bei drei und mehr Kindern steigt die Beitragszeit (entsprechend unserer vorherigen Argumentation) wieder leicht an, so daß auch die persönliche Bemessungsgrundlage in diesem Fall oberhalb derjenigen der Mütter von zwei Kindern liegen sollte. Dies ist ebenso der Fall wie man errechnen kann, daß insgesamt pro Jahr an Nichterwerbstätigkeit etwa 2,6 Prozentpunkte an persönlicher Bemessungsgrundlage verloren werden. Der Verlust an Rente, den eine Frau wegen des zeitweisen kinderbedingten Ausscheidens aus dem Erwerbslebens hinnehmen muß, kann nun errechnet werden, wobei aus der Rentenformel die allgemeine Bemessungsgrundlage und der Steigerungssatz als irrelevant ausgeklammert werden können. Die relative Rente R o der kinderlosen Frau errechnet sich dann als:
Dabei ist:
pBo to
= persönliche Bemessungsgrundlage der kinderlosen Frau = Lebensarbeits-(Beitrags-)zeitder kinderlosen Frau
Die Rente der Mutter R K ergibt sich demgegenüber als:
Die Faktoren der Rentenformel sind multiplikativ miteinander verknüpft, d. h. verstärken sich in ihrem Einfluß gegenseitig. Durch die Klammerbildung wird angedeutet, daß die Zeit in der Rentenformel ein besonderes Gewicht erhält, über die alle Differenzierungen zwischen den verglichenen 92 E. Kirner, Ursachen für die Unterschiede ... , S. 41. 93
Siehe dazu Abb. 16, S. 86 dieser Arbeit.
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3. Kapitel: Alterssicherung im langfristigen Bevölkerungsrückgang
Frauen stets vervielfacht werden 94 . An sich ist es durchaus mit dem Äquivalenzgedanken vereinbar, wenn der Gesetzgeber in der Rentenformel "der Dauerhaftigkeit der stetigen Anstrengung im Arbeitsleben einen Einfluß neben der Höhe des Arbeitsdienstes ... "95 geben wollte. Im Fall der Mütter allerdings muß sich diese multiplikative Betonung der Beitragszeit aber notwendigerweise als diskriminierend auswirken, weil ihnen als Folge der Kindererziehung in erster Linie Beitragsjahre fehlen. Wie sich dieser Zusammenhang auf die Rentenhöhe auswirkt, kann der Rentenformel entnommen werden, sobald die allgemeine Bemessungsgrundlage bekannt ist 96 . Für eine Neurente des Jahres 1979 gilt beispielsweise die Gleichung 97 : R
= pB . t . 3,53
Eine kinderlose Frau, deren Versicherungsdaten den Durchschnittswerten des Jahrgangs 1920 von Tabelle 9a genau entsprechen, darf danach eine Monatsrente von 953,- DM erwarten 98 , die Mutter zweier Kinder 389,- DM und die dreifache Mutter 355,- DM. Die Mütter mehrerer Kinder erhalten
ein Drittel der Rente der kinderlosen Frau, gerade weil sie den Generationenvertrag erfüllten, und zwar in beiden Vertragsbestandteilen, soweit dies aus
biologischen und sozialen Gründen möglich war 99 . Kinderlose Frauen haben zwar insgesamt höhere Geldbeträge gezahlt 100, den zweiten Beitragsaspekt
94 Dies führt dazu, daß nach D. Schewe (Die Zeit als Rentenfaktor, in: Alterssicherung als Aufgabe ... , S. 322) "die Unterschiede im Arbeitsleben zwischen den verschiedenen Gruppen der Arbeitnehmer sich in der Rente, also im Alter, noch stärker ausprägen als im Arbeitsleben selbst." 95 D. Schewe, Die Zeit ... , S. 318. 96 Siehe dazu auch W. Schmähl, Graphische Darstellung und Interpretation der "Rentenformel" in der Bundesrepublik Deutschland, in: FA, N. F. Bd. 35,1976/77, S. 310-321. 97 Die angegebenen Werte wurden entnommen bei D. Schewe u. a., Übersicht über die Soziale Sicherung, 10. Auflage, Bonn 1977, S. 85. 98 Um das Prinzip besser darstellen zu können, abstrahieren wir an dieser Stelle von der "Rente nach Mindesteinkommen", die anschließend ausführlich diskutiert wird. 99 Daß sie während der Zeit der Kindererziehung nicht auch noch erwerbstätig waren, hängt damit zusammen, daß sie den zweiten Leistungsbestandteil des Generationenvertrags in einer Form erfüllten, wie er im Rahmen unserer Gesellschafts- und Rechtsordnung angemessen ist. 100 Selbst aus rein versicherungswissenschaftlicher Sicht können die 10 Jahre, die eine kinderlose Frau mehr an Beiträgen gezahlt hat, die große Differenz in der Rentenleistung nicht annähernd begründen. Erinnert sie daran, daß über Beitragszahlungen insgesamt nur ein Bruchteil der tatsächlichen Versorgung "eigenverdient" ist.
4. Reformvorschläge im Bereich der gesetzlichen Alterssicherung
201
aber überhaupt nicht erfüllt. Die "Gesamtleistung" für die umlagefinanzierte gesetzliche Alterssicherung kann ohne akribistische Gegenrechnung durchaus als ausgeglichen gelten, keinesfalls sind dies aber die im Alter gewährten Renten. Das geltende Rentenrecht diskriminiert aktiv Frauen mit Kindern und damit Familien, obwohl es gerade auf diese Kinder angewiesen ist. Während in vielen ökonomischen und soziologischen Analysen bei der Frage, ob und wann Kinder eine sinnvolle "Investition" für eine Familie darstellen, besonders die Rolle der Alterssicherung betont wird, erweist sich die deutsche Regelung als direkter Anreiz zur Kinderlosigkeit. Unabhängig davon, inwieweit der Geburtenrückgang mit dieser Diskriminierung zusammenhängt, tritt eine Verschärfung der Ungleichbehandlung auf, wenn die Lasten einer immer größer werdenden (bei den Rentenleistungen noch bevorzugten) Mehrheit von der immer kleiner werdenden Minderheit unter immer größeren Opfern getragen werden müssen. Dabei müssen zwei Aspekte bedacht werden: Gerechtigkeit zwischen den beiden Vertragsbestandteilen (Reproduktion und Geldleistung) kann und soll sowohl auf der Beitragsseite als auch bei den Rentenleistungen hergestellt werden.
4. Reformvorschläge im Bereich der gesetzlichen Alterssicherung Die beiden behandelten Problemkreise, die finanziellen Zukunftslasten und die Berücksichtigung der Kindererziehung haben je für sich eine lebhafte Diskussion ausgelöst. Wir wollen die vorgetragenen Argumente kurz zusammenfassen und vor allem dort detaillierter argumentieren, wo wichtige Aspekte für unseren eigenen - im Anschluß daran vorgetragenen - Reformvorschlag behandelt werden, der sich um eine simultane Lösung beider angesprochener Fragen bemüht. 4.1. Vorschläge zur finanziellen Bewältigung der Zukunftslasten
Treten die (bereits akuten) Finanzierungsnöte der gesetzlichen Alterssicherung ins Blickfeld, werden Lösungsmöglichkeiten auf unterschiedlichen Ebenen gesuch t: Einerseits kann man nach Verbesserungen im Rahmen des geltenden Rechts suchen und zum anderen können Veränderungen des Rahmens selbst diskutiert werden.
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3. Kapitel: Alterssicherung im langfristigen Bevölkerungsrückgang
Im Rahmen des geltenden Rechts stehen vor allem zwei Maßnahmen im Blickpunkt der Diskussion, die aber aus langfristiger Sicht keine Problemlösung darstellen, die Rentenbesteuerung und der Übergang zum sogenannten Nettoprinzip. Eine Vollbesteuerung der Renten würde, da die Bruttorenten dann entsprechend angehoben werden müßten, die Lage der Versicherungshaushalte eher verschlechtern. Eine solche Maßnahme liefe in der Gesamtbetrachtung letztlich auf eine Umverteilung innerhalb der öffentlichen Haushalte zu Lasten der Beitragszahler und zugunsten der Steuerzahler hinaus. Nur wenn über einen entsprechend erhöhten Bundeszuschuß die vermehrten Steuereinnahmen rücktransferiert würden, wäre die Situation aus der Sicht der Versicherung unverändert. Auch ein Übergang zum Nettoprinzip (eine Berechnung der allgemeinen Bemessungsgrundlage mit Netto- statt mit Bruttoeinkommen) würde in der Form, wie er zur Diskussion steht, keine Entlastung erbringen: Wählt man für die Rentenbemessung die Steigerungssätze der Nettoeinkommen, können (wie in der Vergangenheit mehrfach) genausogut auch höhere Steigerungsraten als bei Bruttoeinkommen entstehen. Die Zuwächse (nicht die Niveaus) von Brutto- und Nettolohnsteigerungen müssen nicht systematisch voneinander abweichen. Ein Niveauwechsel (Senkung der Eckrente auf 60 % der Nettoeinkommen) wäre eine beträchtliche Dimensionsverschiebung, steht aber nicht zur Diskussion.
Im wissenschaftlichen Bereich wird häufig argumentiert, die beste Rentenpolitik sei eine Politik der allgemeinen Wachstumsförderung. Dies ist kurzfristig immer richtig, weil eine gegebene Zahl von Renten mit höheren Einnahmen leichter zu finanzieren ist. Langfristig steigen allerdings im gleichen Ausmaß die Rentenansprüche. Es mag bestenfalls das Argument zutreffen, daß ein Kuchen umso leichter zu verteilen ist, je größer er ist. Da man sich in der Ökonomie oft genug mit der Orientierung des Menschen an relativen Versorgungslagen beschäftigen muß, erscheint selbst dieses Argument wenig stichhaltig. Die dynamische Rente will dem Rentner die relative Position erhalten; steigen Löhne und Arbeitsproduktivität, steigen auch die Renten. Die relative Last der Erwerbstätigen, vor allem wenn ihr Bevölkerungsanteil sinkt, wird damit nicht gemildert. Wachstumspolitik ist nicht negativ zu beurteilen, kann aber zur Problemlösung nicht soviel beitragen, daß deshalb auf andere Maßnahmen verzichtet werden könnte. Eine andere Möglichkeit zur Lösung der langfristigen Finanzierungsprobleme der Alterssicherung wäre eine Erhöhung des Renteneintritts101 Dieses Instrument wird vor allem in der amerikanischen Literatur vorgeschlagen, wenn eine Reduzierung der Zukunftslasten diskutiert wird. Siehe dazu etwa J.
4. Rcformvors\.:hläge im Ikrei\.:h der gesetzli\.:hen Alterssi\.:herung
203
alters lOl , 102, mit der die Alterslast gewissermaßen definitorisch gemildert würde: "Alt" zu sein und von der Jugend abzuhängen, ist natürlich ein relativer Begriff, aber bei steigender Lebenserwartung, verbesserter medizinischer Betreuung und einem "arbeitserleichternden" technischen Fortschritt wäre jedenfalls grundsätzlich auch eine langsame Erhöhung des Renteneintrittsalters denkbar. Die aktuelle öffentliche Diskussion in Deutschland konzentriert sich angesichts der Erfahrung mit der 1972 eingeführten "flexiblen Altersgrenze" in die Rentenversicherung auf die entgegengesetzte Frage: Kann und soll das Renteneintrittsalter gesenkt werden? Die logische Klammer um die einander widersprechenden Argumente ist die Frage, ob und wie aufgrund der ökonomischen Bedingungen der nächsten Jahrzehnte das unzweifelhafte vorhandene Arbeitspotential der 60-70jährigen eingesetzt werden kann. Falls eine starke Nachfrage nach einer solchen Art von Arbeitsangebot bestünde, würden sich sicherlich die angesprochenen Altersgruppen mindestens zu einem relevanten Teil zur Erwerbstätigkeit bereitfinden. Bei der Behandlung der ökonomischen Konsequenzen eines Bevölkerungsschwunds wurde erkannt, daß mindestens für die nächsten Jahrzehnte das Arbeitsangebot größer sein dürfte als die -nachfrage. Insoweit entspricht die Diskussion um die Senkung des Renteneintrittsalters den aktuellen Verhältnissen am Arbeitsmarkt besser, auch wenn dadurch eine weitere Belastung für die Rentenversicherung entsteht: Selbst bei entsprechenden Rentenabschlägen bei einem vorgezogenen Rentenbezug (da nun die Rente nicht mehr beispielsweise 10, sondern entsprechend 11 oder 12 Jahre lang gezahlt werden muß) verringert sich gleichzeitig die Zahl der Beitragszahler um einen oder mehrere Jahrgänge lO3 . Ob vom Jahr 2010 ab (von wo an die Alterslasten schnell steigen) eine Umkehrung dieses Trends möglich ist, hängt von der bislang unbekannten ökonomischen Lage zu diesem Zeitpunkt ab. Sobald man positiverweise unterstellt, das Überangebot an Arbeit würde sich umkehren in eine Übernachfrage und die entsprechenden Altersgruppen wären bereit, wieder länger erwerbstätig zu werden, kann eine solche Maßnahme durchaus hilfreich sein. Kreps, Age, Work, and 1ncome, in: Southern Economic Journal, Vol. 44, 1977, S. 1438-1452 oder J. J. Spengler, Population Aging and Security of the Aged, in: Atlantic Economic Journal, Vol. 6,1978, S. 1-7. 102 Siehe dazu bereits W. Schreiber, Existenzsicherung in der industriellen Gesellschaft. Vorschläge zur Sozialreform, Köln 1955, S. 25. 103 Fraglich allerdings ist, ob nicht ohne vorherigen Eintritt in den Ruhestand eben eine entsprechende Anzahl vor allem jugendlicher Arbeitnehmer erwerbslos geworden wären, die ebenfalls keine Beiträge gezahlt hätten.
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3. Kapitel: Alterssicherung im langfristigen Bevölkerungsrückgang
Wir dürfen allerdings nicht erwarten, daß damit Reaktionen und Maßnahmen überflüssig werden, wie wir sie anschließend diskutieren wollen. Gleichzeitig mit solchen (langfristig eher marginalen) Argumenten wird auch über eine Veränderung des Gesamtautbaus der Sozialversicherung nachgedacht, wobei das Spektrum der Vorschläge von einer Rückkehr zur Privatversicherung bis hin zur Finanzierung aus dem allgemeinen Staatshaushalt reicht: Ein Übergang zum Prinzip der Privatversicherung als Reaktion auf die Finanzierungsprobleme der Alterssicherung erscheint nicht nur aus Verteilungsgründen als wenig praktikabel. Um den bei schrumpfender Bevölkerung größer werdenden Überschuß der Auszahlungen über die Beitragseinnahmen finanzieren zu können, hätte der in kaum vorstellbaren Größenordnungen nötige Kapitalstock 104,105 bereits vorher angesammelt sein müssen. Beginnt man erst heute (an der Schwelle des Bevölkerungsrückgangs), kann dieser Kapitalstock nicht mehr aufgebaut werden. Zu viele aktuelle Rentenansprüche müssen befriedigt werden, um Ersparnisse zuzulassen. Aus volkswirtschaftlicher Sicht ist zudem klar, daß ein Kapitalstock in dieser Größenordnung nicht einfach auf- oder abgebaut werden kann. Mit größerer Wahrscheinlichkeit scheint die gegenteilige Methode "zukunftsträchtig" 106. Man kann den Versicherungsgedanken ganz aufgeben und die Finanzierung über eine allgemeine lO7 oder eine zweckgebundene Steuer durchführen. Mit einer Finanzierung über allgemeine Steuern würden die Zukunftsprobleme der Alterssicherung im Staatsbudget "versteckt". Alle diskutierten Fragen müßten weiterhin gelten 108, nur die zu stellenden Siehe dazu auch G. Heubeck, Die dreistufige Alterssicherung ... , S. 184. Die privaten Lebensversicherungen leisten 1979 bei einem Vermögen von 155 Mrd. DM Altersrenten in Höhe von 6,3 Mrd. DM. Daraus kann abgelesen werden, welcher Kapitalstock nötig wäre, um nach ähnlichen wirtschaftlichen Grundsätzen die etwa 130 Mrd. gesetzlicher Altersrenten zu finanzieren, die 1978 fällig wurden. Zu den Zahlenangaben siehe Th. Ruf, Alterssicherung, Heute und Morgen, Bonn 104 105
1980, S. 44.
106 Eine langfristige Erhöhung der Zuweisungen durch den Bund, folglich eine wenigstens teilweise Steuerfinanzierung, ist angesichts der diskutierten Zukunftsprobleme unvermeidbar. 107 Dies hätte neben anderem vor allem auch Verteilungskonsequenzen. Siehe dazu beispielsweise H. J. Krupp, Verteilungswirkungen der Steuerfinanzierung der sozialen Altersversicherungssysteme, in: Beiträge zu einer Theorie der Sozialpolitik, Festschrift für E. Liefmann-Keil, hrsg. von B. Külp und W. Stützei, Berlin 1973, S.
253-272.
108 Nach der bisherigen Argumentation ist es selbstverständlich, daß beispielsweise auch die US-amerikanische Sozialversicherung mit ihrer Steuerfinanzierung gleiche Zukunftsprobleme hat. Siehe dazu J. O'Neill, Social Security ... , bes. S. 363 ff.;
4. Relormvom:hläge im Bereil:h der gesetzlil:hen Alterssicherung
205
Fragen wären verändert. Wir müßten jetzt untersuchen, auf welche Erfüllung anderer staatlicher Aufgaben verzichtet werden müßte, um den verstärkten Mittelbedarf der budgetfinanzierten Rentenversicherung auszugleichen. In einem internationalen Vergleich ist der Steueranteil an den Gesamteinnahmen in Deutschland relativ gering lO9 . Die Frage, ob die Beiträge stärker über Arbeitgeber- oder -nehmeranteile erhoben werden, ist im Hinblick auf die faktische Traglast eher untergeordnet. Falls die "Beiträge" aber über allgemeine Steuern beigebracht werden, ergibt sich im Hinblick auf unsere Fragestellung allerdings ein wesentlicher Unterschied: Immer dann, wenn bei der Besteuerung der Familienstand Berücksichtigung findet, was praktisch stets der Fall ist, entsteht bei überwiegender Steuerfinanzierung eine automatische Berücksichtigung der Reproduktion d. h. der Kinderzahl. Die ständige Betonung des Begriffs "Versicherung" in der bundesdeutschen Diskussion verdeckt zum Teil ein Faktum, das wir bereits mehrfach betonten: Eine die gesamte Bevölkerung umfassende Alterssicherung, die notwendigerweise nach dem Umlageverfahren arbeiten muß, kann nicht nach einem Äquivalenzprinzip arbeiten, wie es für private Versicherungen formuliert wurde llO • Die einzig mögliche "Sicherung" einer Sozialversicherung muß stets die sich erneuernde Summe der Erwerbstätigen sein; keine andere Absicherung ist möglich, als die über die finanzielle Kraft und Bereitschaft der jeweils erwerbstätigen Generation. Die Aufrechterhaltung des Beitrags- oder Versicherungscharakters (auf der Beitrags- und Leistungsseite) wird vor allem mit dem folgenden Argument verteidigt: Die eigene "Beitragsleistung" vollständig von den später erhaltenen Leistungen loszulösen (wie dies für viele Sozialausgaben typisch ist) wäre langfristig gerade für die Alterssicherung gefährlich, da in diesem Fall oder J. W. van Gorkum, Social Security - The Long-Term Deficit, American Enterprise Institute, Washington D. c., 1976. 109 Siehe dazu J. H. Richardson, Economicand Financial Aspects ofSocial Security, London 1960, Table 1, S. 67. 110 Das Beispiel der Kriegsfolgelasten mag diesen Umstand verdeutlichen: Eine (kleine) Privatversicherung, die nach Kriegsende ihre ersten Mitglieder rekrutiert, ist von solchen Fragen automatisch verschont. Eine Versicherung, die alle Bürger eines Landes umfaßt, muß davon erfaßt werden: Alle im Krieg gestorbenen oder gefallenen Beitragszahler fehlen, alle Invaliden und Witwen müssen versorgt werden. Auch die oben angesprochene Privatversicherung hätte die gleichen Probleme, würde man ihr nach Kriegsende die gesamte Bevölkerung als Mitglieder übergeben. Natürlich hat die Organisation Sozialversicherung den Krieg nicht zu verantworten, aber wie der Staat als Ganzes ist sie stets mit allen Konsequenzen verknüpft, wie es eben auch (und ganz besonders) für die Bevölkerungsentwicklung gilt.
206
3. Kapitel: Alterssil:herung im langfristigen Bevölkerungsrückgang
die Bedeutung der nachwachsenden Generation für die Funktionsfahigkeit des Ganzen endgültig aus den Augen verloren würde. In einem Teilbereich der Alterssicherung wird in Form der sogenannten "Maschinensteuer" ein Übergang zur Steuerfinanzierung auch in Deutschland diskutiert 111. Die Arbeitgeberbeiträge sind in jüngster Zeit mit dem Argument in die Diskussion geraten, damit würden kapitalintensive Betriebe bevorzugt 112, da bei ihnen weniger Sozialaufwand anfiele. Sobald man auch den Arbeitgeberanteil als Lohnbestandteil (wie beispielsweise den Pensionsanspruch des Beamten) ansieht, kommt man zur trivialen Erkenntnis, daß durch steigende Löhne kapitalintensive Produktion angereizt wird. Solange Löhne Kostenfaktoren sind, wird jeder Unternehmer stets versuchen, diesen Produktionsfaktor (wie alle andern) kostenminimierend einzusetzen. Die Arbeitgeberanteile zur Rentenversicherung spielen bei der Substitution sicher nur eine untergeordnete Rolle. Mit einer Orientierung der Arbeitgeberanteile an der Wertschöpfung als Variante einer Mehrwertbesteuerung 113 wird der Generationenvertrag endgültig verlassen und es gibt dann eigentlich auch keinen Grund mehr, nicht auch für den Arbeitnehmerbeitrag eine allgemeine Steuerfinanzierung zu fordern l14 . Solange auch der Arbeitgeberanteil Lohn darstellt (dem Rentner steht später ja auch die gesamte und nicht etwa nur die halbe Rente zu) wird durch den Generationenvertrag das Maß an Eigenverantwortung der Mitglieder erhalten, dessen Verlust bei anderen Sozialleistungen in gleichem Atemzug (unter dem Stichwort des "free-rider"-Verhaltens) beklagt wird.
111 Zur aktuellen politischen Diskussion dieses Vorschlags siehe Th. Ruf, Alterssicherung ... , S. 78 ff. 112 Siehe dazu B. Rürup, Reform der Arbeitgeberbeiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung, in: Wirtschaftsdienst, Heft 11, 1979; oder das Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Wirtschaft. Wirtschaftspolitische Implikationen eines Bevölkerungsrückgangs, Bonn 1980. 113 Würde sich die Mehrwertbesteuerung langfristig als Methode der Beitragsgewinnung allgemein durchsetzen, entstünde angesichts der regressiven Steuertraglast nicht nur eine Nichtbeachtung von Kindern (wie im Status Quo), sondern eine zusätzliche Belastung. 114 Wie auf der Kapitalseite könnte das Argument verwendet werden, damit würden Beschäftigungsschwankungen in ihren Auswirkungen reduziert, freilich ohne der Gefahr einer zyklischen Schwankung in Wirklichkeit zu entgehen.
4. Reformvorsl:hlüge im Bereil:h der gesetzlichen Alterssil:herung
207
4.2. Reformvorschläge zur Verbesserung der Alterssicherung von Müttern bzw. der Berücksichtigung der Kindererziehung
4.2.1. Die Anrechnung von Erziehungsjahren als Beitragsjahre der Mütter
In der öffentlichen Diskussion ist inzwischen grundsätzlich anerkannt, daß die Zeit der Kindererziehung wenigstens keine mutwillige Beitragsverweigerung der Mütter darstellt. Verwiesen wird dabei oft auf die Analogie zum Wehrdienst. Insoweit wird eine positive Berücksichtigung befürwortet, auch wenn der Standpunkt weitverbreitet ist, eine Versicherung dürfe nicht "mit bevölkerungspolitischen Elementen" vermischt werden. Als Lösung der vorne beschriebenen Ungleichbehandlung von Müttern gegenüber kinderlosen Frauen wird einhellig 115 die Anrechnung von Erziehungsjahren als Beitragszeit gefordert, wobei die Forderungen zwischen einem und drei Jahren je Kind in Abhängigkeit von den Annahmen über die Finanzierbarkeit schwanken. Gleichzeitig wird betont, daß bei einer solchen Regelung der Alterssicherung langfristig starke Mehrbelastungen zugemutet würden, da auf der Gegenseite keinerlei Mehreinnahmen entstehen. Wir wollen zuerst fragen, wie in der gesetzlichen Alterssicherung diejenigen Zeiten behandelt werden, die ein Beitragszahler schuldlos (durch Invalidität, Wehrdienst, Arbeitslosigkeit etc.) ohne eigene Beitragszahlung verbringt. Als Beispiel greifen wir eine zeitweise Arbeitslosigkeit heraus. Dem Versicherten mögen zwischen ta und tb (in Abb. 31) wegen Erwerbslosigkeit eigene Beiträge fehlen. Der Gesetzgeber hat für diesen Fall vorgesehen, daß der Versicherte deswegen keinen Schaden nehmen solle und rechnet ihm diese Zeit als hypothetische Beitragszeit an. Für die verschiedenen Ausfall-, Ersatz- und Anrechnungszeiten hat der Gesetzgeber unterschiedliche Verfahren der Bewertung solcher Zeiten vorgesehen: a) Fortschreibung des jeweils letzten relativen Einkommens, b) Ansatz mit dem Durchschnitt des endgültigen individuellen relativen Lebenseinkommens 116, c) Berücksichtigung des bis zum Eintritt der Ausfallzeit erreichten Durchschnitts an persönlicher Bemessungsgrundlage. Für Zeiten 115 Diese Forderung reicht von den politischen Parteien bis hin zu sozialpolitischen Gremien und Gutachtern. Als jüngstes Beispiel siehe dazu etwa: Bevölkerungsentwicklung und nachwachsende Generation, Bericht eines Arbeitskreises der Gesellschaft für Sozialen Fortschritt, in: Sozialer Fortschritt, Jg. 29, 1980, S. 150. 116 In diesem Fall wird die ohne Ausfallzeit erreichte persönliche Bemessungsgrundlage durch die Anrechnung nicht verändert.
208
3. Kapitel: Alterssicherung im langfristigen Bevölkerungsrückgang
der Arbeitslosigkeit sieht das geltende Recht Methode c) vor ll7 . Sobald das individuelle Lebenseinkommen nicht völlig untypisch verläuft, erbringt diese Methode niedrigere Werte als die alternativen Anrechnungsverfahren 118. E
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a Abb.31
Für die Auswirkungen einer Anrechnung von Erziehungsjahren für Mütter kommt es neben der Zahl der angerechneten Jahre vor allem darauf an, mit welcher persönlichen Bemessungsgrundlage diese Jahre bewertet werden. Besonders niedrige Werte würde eine Anrechnung nach Methode c) erbringen (Abb. 32): Die Geburt von Kindern nillt in einen Lebensabschnitt, wo der bisher erreichte Durchschnitt des relativen Lebenseinkommens besonders niedrig liegt. Methode a) wäre zwar im allgemeinen etwas günstiger, aber es gelten im Prinzip die gleichen Argumente. Selbst die Verwendung der lebenslang erreichten persönlichen Bemessungsgrundlage hätte den Nachteil, daß damit ein Wert gewählt wird, der gerade wegen der Existenz von Kindern schon systematisch reduziert worden ist. Unter der Annahme, daß pro Kind zwei Jahre als Beitragszeit angerechnet werden, erhöht sich die Rente der Mutter zweier Kinder bei Verwendung der im Durchschnitt günstigsten Methode (Methode b), wo die lebensdurchschnittliche persönliche Bemessungsgrundlage angesetzt wird, unter den Bell7 Siehe dazu H. Eichler, W. Haase und F. Rauschenbach, Die Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten, 5. Aufl., München 1973, S. 178. 118 Das Ergebnis hängt stark vom individuellen Verlauf der Lebenseinkommenskurve und dem Zeitpunkt ab, zu dem eine solche unfreiwillig beitragsfreie Zeit eintritt.
4. Reformvorschläge im Bereich der gesetzlichen Alterssicherung
209
dingungen von Tabelle 9 von 389,- auf 471,- DM. Die Rentendifferenz zur kinderlosen Frau wird damit um etwa 15 Prozent reduziert. Wie dieses Ergebnis zu bewerten ist, kann erst ermessen werden, wenn Klarheit über das Ziel einer Anrechnung von Beitragsjahren besteht.
Einkorrunen
Die Anrechnung kann zwei unterschiedlich anspruchsvolle Ziele haben: Der Logik einer zeitlichen begrenzten Anrechnung entspricht am ehesten die Zielsetzung, die Mutter genau für diese Jahre der erwerbstätigen Frau gleichzustellen 119. Alle restlichen Jahre der Nichterwerbstätigkeit, so ist zu schließen, sind keine "Leistungen" der Müttet mehr l20 und gehen zu ihren Lasten. Eine zweite weitergehende Zielsetzung wäre, die Mutter in Lebensbetrachtung der nichterwerbstätigen Frau gleichzusetzen. Das zweite Ziel wäre mit der im Zahlenbeispiel erfaßten Methode der Anrechnung fast vollständig verfehlt worden. Aber auch das eingeschränkte Ziel wird damit nicht erreicht: Während der vier Jahre der Kindererziehung erfuhr die erwerbstätige Frau Einkommenssteigerungen, was jährlich steigende Werte an angerechneter Bemessungsgrundlage nötig machen würde. Pro Jahr kinderbedingten Ausscheidens wird die lebenslang erreichte per119 Eine Mutter, die in unserem Beispiel tatsächlich nur vier Jahre lang aus dem Erwerbsleben ausgeschieden war, müßte demnach die gleiche Rente wie die kinderlose Frau erhalten. 120 Besonders in der Argumentation der Sachverständigenkommission für die soziale Sicherung ... , S. 72 ff. wird erkennbar, daß die Kindererziehung explizit nicht als Beitrag zur Aufrechterhaltung der Alterssicherung, sondern als Maßnahme des "sozialen Ausgleichs" gesehen wird. Aus diesem Grund schlägt die Kommission beispielsweise auch vor, erwerbstätigen Müttern nur die Differenz zwischen eigenerworbenem und Normsatz (75-1009'0) anzurechnen. 14
Dinkel
210
3. Kapitel: Altl!rssi.:herung im langfristigen lkvölkerungsrü.:kgang
sönliche Bemessungsgrundlage um 2,6 Prozentpunkte reduziert, so daß ein vollkommener Ausgleich für die von uns angenommenen vier Anrechnungsjahre die lebenslange persönliche Bemessungsgrundlage der Mutter um 10,4 Prozent anheben müßte l21 . Um wenigstens dieses Ziel zu erreichen, müßte für die (angenommenen) vier Jahre eine relativ hohe persönliche Bemessungsgrundlage angesetzt werden, unabhängig davon, daß die zum Vergleich stehende stets erwerbstätige Frau zu diesem Zeitpunkt ein niedrigeres Einkommen bezieht. Für die Funktionsfähigkeit der AIterssicherung ist apriorijedes Kind (als potentieller späterer Beitragszahlen) gleich wichtig: Gewährt man den Müttern Anrechnungen entsprechend ihrem (relativen) Einkommen, differenziert man an einer unangemessenen Stelle. U mverteilung ist hier nicht notwendig und sinnvoll zwischen Einkommensgruppen, sondern zwischen kinderlosen Mitgliedern der Rentenversicherung und Eltern. Aus diesem Grund sollte für alle Kinder eine gleichmäßige Anrechnung folgen, auch wenn sich die Einkommen (und die Rente) der Mütter ansonsten unterscheiden. Jedenfalls mit der Geburt und Erziehung und der "Bereitstellung zukünftiger Beitragszahler" wurde eine gleiche "Versicherungsleistung" erbracht. Um quasi im Vorgriff einen Teil der lebenslangen Einkommensreduzierung für Mütter auszugleichen, könnte deshalb eine Anrechnung von 100 Prozent (Methode d in Abb. 32) vorgenommen werden. Auch die Sachverständigenkommission für die soziale Sicherung der Frau schlägt eine Anrechnung zwischen 75 und 100 Prozent vor: Während für die Bewertung mit 100 Prozent die Analogie zum Wehr- oder Ersatzdienst sprechen (wo Werte in dieser Höhe gewählt werden), wird die Wahl von 75 Prozent explizit damit begründet, daß die Durchschnittsverdienste der Frauen ohnehin nur bei 75 Prozent der Einkommen aller Vesicherten lägen 122 (!). Nach den Werten von Tabelle 9 würde sich bei der Verwendung von pB = 100 Prozent für die Mutter zweier Kinder mit nun 22,8 Beitragsjahren und einer auf75,5 Prozent verbesserten persönlichen Bemessungsgrundlage eine Rente von 503,- DM errechnen. Das Beispiel zeigt, daß ein sehr hoher Wert an pB für die angerechneten Beitragsjahre gewählt werden müßte, nur um das eingeschränkte Ziel ganz zu erreichen 123. 121 Eine diesem Ziel entsprechende Anhebung für die Mutter zweier Kinder nach den Werten von Tabelle 6 (Jahrgang 1920) müHte für nun 18,8 + 4 Jahre und die persönliche Bemessungsgrundlage von 70,3 + 10,4 Prozent eine Monatsrente von 541,DM ergeben. 122 Siehe dazu A. Kohleiss, Die Arbeit und das Gutachten der Kommission für die soziale Sicherung der Frau und der Hinterbliebenen, Bericht eines Kommissionsmitglieds, in: ZgS, Bd. 136, 1980, S. 687-693, bes. S. 693.
4. Reformvorsl:hlägc im Ikreidl der gesetzlil:hen Alterssil:herung
211
Als Fazit der verschiedenen Anrechnungsmöglichkeiten und deren Auswirkung auf die Rente von Müttern kann festgestellt werden, daß insgesamt die Rentendifferenz zwischen Kinderlosen und Müttern nur zu einem geringen Teil beseitigt wird. Gleichzeitig müßte eine solche Anrechnung von Beitragsjahren beträchtliche finanzielle Zusatzlasten erbringen, da den gestiegenen Rentenansprüchen keinerlei Mehreinnahmen gegenüberstünden. Auch wenn in diesem Fall ein Teil der Zusatzlasten an die eigenen Mütter gezahlt würde, müßte gleichwohl die Belastung der relativ wenigen Beitragszahler in der nächsten Generation weiter ansteigen. Auch dies wurde von der Sachverständigenkommission erkannt und sogar explizit für gut befunden: Diese Anrechnungsform trägt danach " ... der Tatsache Rechnung, daß die Ausgaben für Erziehungszeiten wirtschaftlich jeweils von der Generation zu tragen seien, die erzogen worden sei und nicht zusätzlich von der, die erzogen habe" 124. Für die Belastungen der Zukunft ist allerdings nicht die relativ zu kleine Generation der heutigen Kinder verantwortlich, sondern diejenigen Mitglieder der jetzigen Elterngeneration, die sich heute einem Teil ihrer Leistungen entziehen. Die Verursacher der zukünftigen Zusatzbelastung bleiben allerdings bei einer Anrechnung von Beitragsjahren ohne jede Belastung. 4.2.2. Die Rente nach Mindesteinkommen und ihre Auswirkungen auf die Rentenhöhe der Mütter
Im Jahre 1972 wurde zusammen mit anderen Reformmaßnahmen die sogenannte "Rente nach Mindesteinkommen" eingeführt: Rückwirkend für alle Versicherten, die mindestens 25 Jahre lang versichert waren, wurde die persönliche Bemessungsgrundlage auf 75 Prozent für diejenigen Jahre angehoben, in denen sie ansonsten darunter lag. Diese Anhebung erfolgte nur in den Fällen, wo die endgültige (lebenslange) persönliche Bemessungsgrundlage unterhalb von 75 Prozent geblieben wäre. Als einer der Faktoren, mit denen Mütter bei der Rentengewährung gegenüber kinderlosen Frauen benachteiligt werden, wurde die aufgrund des kinderbedingten Ausscheidens 123 Am Beispiel einer 100prozentigen Anrechnung kann übrigens auch gezeigt werden, wie wichtig die Zeit als Rentenfaktor tatsächlich ist. Anstatt einer Anrechnung von 100 Prozent für vier Jahre könnte man analog fordern, für 10 Jahre eine persönliche Bemessungsgrundlage von 40 Prozent anzurechnen, was ebenfalls 400 Prozent ausmacht. Erbrächte die vierjährige Anrechnung von 100 Prozent eine Rente von 503,- DM, würde eine zehnjährige Anrechnung von 40 Prozent die Rente auf 618,- DM erhöhen. 124 A. Kohleiss, Die Arbeit und das Gutachten ... , S. 692. 14*
212
3. Kapitel: Alterssicherung im langfristigen Bevölkerungsrückgang
aus dem Erwerbsleben niedrige persönliche Bemessungsgrundlage erkannt. Insofern könnte die Verbesserung der Lage von erwerbstätigen Müttern ein Ziel oder mindestens ein nützlicher Nebeneffekt sein und die Forderung nach einer Weiterführung dieser Regelung 125 über das Jahr 1972 hinaus könnte somit auch mit diesem Argument gerechtfertigt werden. In Lebenszeitbetrachtung bleiben neben Hausangestellten und landwirtschaftlich Beschäftigten vor allem die Teilzeitbeschäftigten und die Heimarbeiter unterhalb der Grenze von 75 Prozent. Insofern darf es nicht verwundern, wenn die Mehrzahl der angehobenen Versichertenrenten Frauen zugute kommt l26 . Hebt man die persönliche Bemessungsgrundlage wie beschrieben an, wird beispielsweise (Abb. 33) eine (kinderlose) Frau begünstigt, die von tz an nur noch halbtags beschäftigt ist und deren Einkommen E [ sich deshalb von diesem Zeitpunkt ab gegenüber EI halbiert. Eine Mutter, die vor und nach dem kinderbedingten Ausscheiden voll erwerbstätig war, erfahrt keinerlei Höherbewertung, wenn sie entweder keine 25 Beitragsjahre oder wie in Tabelle 9 für den Altersjahrgang 1910 ermittelt - eine persönliche Bemessungsgrundlage von 76 % erreicht.
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Abb.33
Die Verteilungspositionen werden umgekippt, wenn für diejenigen, die insgesamt unter 75 % geblieben wären, alle darunterliegenden Jahre aufge125 Siehe etwa E. Glombig, Gedanken über die Zukunft des Sozialstaats aus sozialdemokratischer Sicht, in: Alterssicherung als Aufgabe ... , S. 37. 126 Siehe dazu die statistischen Angaben bei W. Schmähl, Alterssicherung und Einkommensverteilung ... , S. 338 ff.
4. Reformvorsl:hläge im Bereil:h der gesetzlil:hen Alterssicherung
213
stuft werden, die übrigen Vesicherten aber für die Jahre, in denen auch sie darunter lagen, keine Höherstufung erfahren. Durch die Anhebung kann im Grenzfall durchaus eine persönliche Bemessungsgrundlage von 80 oder mehr Prozent resultieren, während ein Beitragszahler mit einer von ihm selbst erreichten pB von 76 Prozent unverändert belassen wird 127. Im Hinblick auf die Rente von Müttern muß sich die Kritik allerdings noch verstärken: Selbst wenn in Tabelle 9 ermittelt wurde, daß Mütter von zwei Kindern des Altersjahrgangs 1910 im Durchschnitt 76 % erreichen, muß doch ein relativ großer Prozentsatz von ihnen unter 75 % bleiben. Im Jahrgang 1920 gilt dies sogar für einen weit überwiegenden Teil der Mütter mehrerer Kinder. In Tabelle 9 kann gleichzeitig abgelesen werden, daß Mütter mehrerer Kinder gerade wegen der Kindererziehung die erforderlichen 25 Beitragsjahre nicht nachweisen können, so daß ihnen die Vorteile der Mindestrente vorenthalten bleiben 128. Um die Auswirkungen der Mindestrente zu erhalten, betrachten wir eine kinderlose Frau mit 25 Beitragsjahren und einer lebenslangen persönlichen Bemessungsgrundlage von 65 Prozent: Vor Einführung der Rente nach Mindesteinkommen ergibt sich eine Rente von 478,- DM, was bereits deutlich höher ist als die Rente einer Mutter von zwei Kindern (entsprechend den Werten von Tabelle 9), trotz deren höherer persönlichen Bemessungsgrundlage. Die Rente nach Mindesteinkommen hebt nun die persönliche Bemessungsgrundlage auf mindestens 76 Prozent an (da alle oberhalb von 75 Prozent gelegenen Jahreswerte erhalten bleiben). Dem Beispiel folgend ergibt sich nun eine Rente von 559,- DM. Unseren bisherigen Überlegungen folgend kann die Rente nach Mindesteinkommen eindeutig beurteilt werden: Da Voraussetzung für die Gewährung der Mindestrente eine Mindestbeitragszeit von 25 Jahren ist, da gleichzeitig eine ungleichmäßige l29 Höherstufung erfolgt, die vor allem Müttern verwehrt ist, kann diese Regelung als ein weiteres Beispiel für die Diskriminierung von Müttern im geltenden Rentenrecht stehen 130. l27 Es konnte sich somit für die eigene Rente in manchen Fällen durchaus als positiv erweisen, zeitweise nur halbtags zu arbeiten und damit die endgültige persönliche Bemessungsgrundlage unter 75 Prozent zu drücken. 128 Die Neuregelung von 1972 hat alleine zwischen 1973 und 1975 für die Rentenversicherung rund 4 Mrd. DM Mehrausgaben verursacht und dürfte seither Kosten in ähnlicher Größenordnung verursacht haben. 129 Eine Mutter mehrerer Kinder mit einer Tätigkeit im Haus (z. B. einer Heimarbeit) kann ihre Beschäftigung relativ leicht mit der Kindererziehung verbinden und kommt verhältnismäßig leicht zu einer deutlichen Verbesserung der Versorgung. Eine am Fließband beschäftigte Mutter, die keine Teilzeitarbeit finden kann, muß notwendigerweise diskriminiert werden.
214
3. Kapitel: Altcrssichcrung im langfristigcn Bevölkcrungsrückgang
5. Ein Vorschlag zur langfristigen Neugestaltung der gesetzlichen Alterssicherung 5.1. Ziele und Anforderungen an eine langfristige Neuregelung
Die bislang diskutierten Reformvorschläge hatten die Schwäche, daß sie von den beiden bisher diskutierten Problemkreisen, der Verbesserung der Finanzierungslage und der Berücksichtigung der Reproduktion entweder nur im Hinblick auf ein Ziel wirken (oft nicht einmal das) oder sogar direkt zu widersprüchlichen Ergebnissen fUhren. Aus diesem Grund wollen wir im folgenden einen eigenen Neuordnungsvorschlag vorstellen und in seinen Konsequenzen diskutieren, der wie jede alternative langfristige Regelung einigen Mindestansprüchen genügen sollte: a) Die in den nächsten Jahrzehnten in Deutschland auftretenden Finanzierungsprobleme hängen ursächlich mit der gestörten Generationsabfolge zusammen. Aus diesem Grund sollten die beiden oben angesprochenen Ziele gleichzeitig und in einer sich nicht widersprechenden Form beachtet werden. b) Das Prinzip der Eigenverantwortung und Selbstorganisation der Versicherten durch den Generationenvertrag sollte soweit als möglich erhalten bleiben l31 . Dabei muß das sogenannte Versicherungsprinzip unter Einschluß der Generationenabfolge betrachtet werden. Jede Ausgestaltungsvariante sollte sichern, daß die notwendigen Renten auch bei stagnierender oder schrumpfender Bevölkerung finanziert werden können. c) Bei einer notwendigen Umverteilung von Alterslasten sollten die Verursacher der Ungleichgewichte (die Generation der heutigen Kinderlosen) belastet werden, nicht etwa die ohne eigenes Zutun zu kleine Generation der heutigen Kinder oder deren Eltern. 130 Selbst eine vorherige Anrechnung von Beitragsjahren für die Kindererziehung würde diesen Tatbestand nicht ändern. Die Rente nach Mindesteinkommen schafft für die wenigen Kinder der nächsten Generation zusätzliche Lasten, die sie jedenfalls nicht an ihre eigenen Eltern der von uns untersuchten Fragen bei, sondern ist ein Schritt in die falsche Richtung. 131 Zu diesem Punkt siehe besonders nachdrücklich den Appell des oft als "Vater der dynamischen Rente" bezeichneten W. Schreiber beispielsweise in: Kindergeld im sozio-ökonomischen Prozeß, Köln 1965, bes. S. 63 ff. oder ders., Die Einrichtungen der sozialen Sicherheit und ihre gesellschaftliche Funktion, in: Systeme und Methoden in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Erwin von Beckerath zum 75. Geburtstag, hrsg. von N. Klooten, W. Krelle, H. Müller und F. Neumark, Tübingen 1964, S. 655-672, bes. S. 672.
5. Vorschlag zur Neugestaltung der gcsctLlichcn Alterssicherung
215
d) Wegen des großen Gewichts der Sozialversicherung für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung sollten die Rückwirkungen auf die Wirtschaftsentwicklung beachtet werden. Die Sozialversicherung sollte möglichst "stabilisierend" (oder wenigstens nicht destabilisierend) wirken, wobei die genaue Bedeutung dieser Begriffe noch zu klären ist.
5.2. Die Berücksichtigung der Generationsabfolge in der Rentengestaltung
5.2.1. Die Rentenhähe in Abhängigkeit von der Kinderzahl
Den Reproduktionsaspekt neben den Geldbeiträgen zu berücksichtigen, wäre im Prinzip in mehreren Ausgestaltungsformen möglich. Die in der Rentenformel errechnete individuelle Rente nimmt weder auf die allgemeine Bevölkerungsentwicklung noch auf die individuelle Kinderzahl eines Rentners Rücksicht. Beide Faktoren könnten ergänzend aufgenommen werden: Bei seinem ursprünglichen Plädoyer für das Umlageverfahren betonte W. Schreiber, daß bei der Rentenberechnung stets auf das Verhältnis zwischen Rentnern und Beitragszahlern geachtet werden müsse 132 . In der Rentenformel (bzw. in der von ihm vorgeschlagenen Form) sollten nur "Renten anspruchspunkte" ermittelt werden, die erst im Vergleich zum jeweiligen Beitragsaufkommen die tatsächliche Rentenhöhe bestimmen 133. Sinkt der Anteil der Beitragszahler bei gegebenem Beitragssatz, werden alle Renten gekürzt, wobei die in den Rentenanspruchspunkten ausgedrückte relative Verteilung erhalten bleibt. Bei wachsender Bevölkerung (steigendem Anteil der Beitragszahler) steigen alle Renten entsprechend. Mit Schreibers Vorschlag wird anders als in der später realisierten Ausgestaltung die Funktionsfähigkeit der umlagefinanzierten Altersversorgung gesichert. Allerdings würden im Bevölkerungsrückgang auch die Renten derjenigen gekürzt, die den Generationenvertrag voll erfüllten. Sie werden mit den Verursachern der externen Effekte gleichgestellt und ihre Versorgung noch zusätzlich verschlechtert, da ihre individuellen Renten (wie dargestellt) ohnehin schon geringer als diejenigen der Kinderlosen sind .. W. Schreiber, Existenzsicherung ... , S. 24 ff. Ein solches System der Rentenbemessung findet in Frankreich Anwendung, wo das Umlageverfahren eher und konsequenter als in Deutschland eingeführt wurde. Siehe dazu auch P. Thullen, Mathematische Methoden ... , S. 16 ff. 132 133
216
3. Kapitel: Alterssicherung im langfristigen Bevölkerungsrückgang
Den vorne formulierten Zielen würde es weit eher entsprechen, wenn bei der Berechnung der individuellen Rente die eigene Kinderzahl berücksichtigt würde 134, 135. Auch eine solche Vorgehensweise ist allerdings aus mehreren Gründen nicht opportun: Durch eine gegenüber Kinderlosen verbesserte Rente wird die Kaufkraft der Eltern zu einem Zeitpunkt erhöht, wo sie gar nicht mehr benötigt wird. Während der Zeit der Kindererziehung fehlte diese Kaufkraft; im Rentenalter haben in der Regel die Kinder den Haushalt der Eltern längst verlassen 136. Gleichzeitig würden die Verursacher nicht betroffen, sobald ihre eigene Rente durch die "Bestandsgarantie" nicht angetastet wird, während eine insgesamt kostenneutrale Ausgestaltung eines solchen Vorschlags Abschläge bei der Rente von Kinderlosen nötig machen würde. Soweit dies nicht geschähe, entstünde für die wenigen Beitragszahler der nächsten Generation wiederum eine Zusatzlast, auch wenn sie an die eigenen Eltern gezahlt würde 137 .
5.2.2. Die Beitragsdifferenzierung in verschiedenen Ausgestaltungvormen Die Schwächen der einen Berücksichtigungsform sind gleichzeitig die Stärken ihrer Alternative: Als sinnvolle und - wie noch zu zeigen sein wird - in mehrfacher Hinsicht "eigenstabilisierende" Berücksichtigung des Reproduktionsaspekts in der Sozialversicherung bietet sich die Beitragsdifferenzierung nach der Kinderzahl an. Dieses Prinzip ist wohl seit Jahrzehnten bekannt 138, hat aber bisher nie Eingang in die politische Diskussion gefunden und ist selbst im wissenschaftlichen Bereich 139 wenig beachtet worden. 134 Im Prinzip ist auch diese Ausgestaltung im System der französischen Alterssicherung enthalten, wo die Rente um 10 % erhöht wird, wenn mindestens drei Kinder erzogen werden. 135 Dieser Vorschlag wurde erstmals von J. Höffner, Ausgleich der Familienlasten, Schriftenreihe der Arbeitsgemeinschaft katholisch sozialer Bildungswerke in der Bundesrepublik Deutschland, Reihe I, Heft 3, Paderborn o. J., (S. 13) vorgetragen. 136 Da viele Eltern das Rentenalter nicht erreichen, würden sie zudem nie eine Berücksichtigung ihrer Kinder erfahren. 137 Die Kinderlosen könnten zudem (selbst wenn sie es wollten) auf die Rentenreduktion nicht mehr mit einer Erhöhung der eigenen Kinderzahl reagieren, wie es im Sinne des Generationenvertrags wäre. 138 Dieses Argument wurde in der Bundesrepublik m. W. erstmals von H. Tröger (Allgemeines zur Steuerreform, in: Zur großen Steuerreform, zwei Vorträge von H. Tröger und F. Neumark, Hamburg 1953, S. 12) in Anlehnung an ein Argument von Metzger betont, ohne daß es eine Resonanz in der Diskussion gefunden hat. In der Zeit zwischen den Weltkriegen gab es aber in der Diskussion um die sogenannte "EIternschaftsversicherung", in die Ledige und Kinderlose einzuzahlen und Eltern mit vier und mehr Kindern Leistungen zu erhalten hätten, einen Vorläufer, der aber nicht
5. Vorschlag zur Neugestaltung der gesetzlichen Alterssicherung
217
Die Beitragsdifferenzierung geht vom Prinzip aus, daß derjenige Beitragszahler, der den einen Leistungsaspekt des Generationenvertrags unter- oder übererfüllt hat, dafür bei seiner zweiten Leistung (den Geldbeiträgen) beoder entlastet werden sollte. Auch bei dieser Form der Berücksichtigung der Kinderzahl ist eine akribische Gegenrechnung beider Vertragsbestandteile weder möglich noch notwendig. Das Ausmaß der Differenzierung steht ebenso wie die bisherige Beitragsgestaltung zur Disposition des Gesetzgebers und kann durchaus Praktibilitätserwägungen folgen, ohne den Lösungsansatz grundsätzlich außer Kraft zu setzen. Insofern stellen die im weiteren genannten Zahlen nur einige aus einer ganzen Reihe möglicher Varianten dar. Tabelle 10 Kinderzahl
0
2
3
4
5
6 und mehr
Arbeitnehmeranteil Variante a
12
10,5
9
7,5
6
4,5
3
Variante b
11
10
9
8
7
6
5
9,5
9,5
9,5
9,5
9,5
9,5
9,5
Arbeitgeberanteil :
Den "Normal fall" (einer Erfüllung beider Vertragsaspekte) stellen Eltern mit zwei Kindern dar, deren Beiträge folglich unverändert bei 9 Prozent liegen könnten. Eltern mit nur einem Kind hätten einen geringfügig höheren Beitrag zu zahlen 00 oder 10,5 Prozent in den in Tabelle 10 aufgeführten Varianten). Entsprechend höher müßte dann der Beitrag Kinderloser sein (11 bzw. 12 Prozent), während für Eltern mit mehr als zwei Kindern entsprechende Abschläge vorgenommen würden. Ein Versicherter beginnt danach das Erwerbsleben mit Beiträgen von 11 oder 12 Prozent und erfährt vom Zeitpunkt der Geburt seines ersten und weiterer Kinder Reduktionen seines Geldbeitrags. Wir gehen davon aus, daß der Arbeitgeberanteil nicht gestafunmittelbar mit dem Generationenvertrag zu tun hat. Siehe dazu besonders A. Grotjahn, Die Hygiene der menschlichen Fortpflanzung, Berlin 1926, S. 215 ff. 139 In jüngster Zeit hat besonders Th. Schmidt-Kaler, Rentengesetzgebung als Instrument zur rationalen Steuerung und Rückkopplung des Bevölkerungsprozesses, in: Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft, 4. Jahrgang, 1978, S. 75-88 oder ders., Wie sicher sind unsere Renten?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, Bd. 27, 1979, S. 3-21 für einen solchen Vorschlag (allerdings in besonders extremer Ausgestaltung) plädiert.
218
3. Kapitel: Alterssi\:herung im langfristigen Ikvölkerungsrückgang
feit wird, um unnötige Differenzierungen auf dem Arbeitsmarkt zu vermeiden l40 . Haben alle Beitragszahler im Durchschnitt weniger als zwei Kinder (wie dies im Moment der Fall ist), führt die Beitragsdifferenzierung zu Mehreinnahmen gegenüber dem Status Quo. Die dabei angesammelten Überschüsse können natürlich nicht Größenordnungen annehmen, die eine Rückk~hr zum Kapitaldeckungsverfahren möglich machen würden. Dies wäre weder sinnvoll noch ökonomisch durchführbar. Angesichts der ab etwa 1995 auftretenden Rentenlasten würde eine Beitragsdifferenzierung in der obigen Form nicht einmal zur Überschußbildung ausreichen, sondern bestenfalls nötige Beitragserhöhungen mildern helfen. Unterstellt man, der durchschnittliche Beitragszahler habe (wie gegenwärtig) statt zweier etwa 1,5 Kinder, dann führt unser Vorschlag dazu, daß der Rentenversicherung auf der Arbeitnehmerseite statt 9 etwa 10 Prozent der Einkommen zufließen, was für sich gesehen zu 5 bis 10 Prozent an jährlichen Mehreinnahmen führen würde l41 . In der gewiß momentan unwahrscheinlichen Situation, daß im Durchschnitt deutlich mehr als zwei Kinder geboren würden, stünden den kurzfristig unveränderten Ausgaben sinkende Einnahmen gegenüber l42 . In intergenerationaler Sicht sind die beiden diskutierten Situationen durchaus vergleichbar: Gibt es nur wenige Kinder, entstehen aktuelle Einnahmeüberschüsse, aber eine Generation später zu wenige Beitragszahler. Werden mehr als ausreichend viele Kinder geboren, steht bei aktuellen Defiziten eine größere Zahl späterer Beitragszahler zur Verfügung. In beiden Fällen ist nun entscheidend, ob und wie ein intergenerationaler Ausgleich der Lasten möglich ist; eine Frage, die wir im weiteren noch ausführlicher diskutieren wollen. Wie betont hat Schreiber in seinem für die Einführung der dynamischen Altersrente so bedeutsamen Gutachten von 1955 das Gewicht des Reproduktionsaspekts für die Altersversorgung durchaus erkannt. Dies führte ihn 140 Um die bereits erkannten und in den Rentenanpassungsgesetzen diskutierten Zukunftsprobleme der Rentenversicherung zu erleichtern, sollte der Arbeitgeberanteil allerdings bereits in den nächsten Jahren (wie vorgesehen) von 9 auf mindestens 9,5 Prozent erhöht werden. 141 Da auch Eltern vor der Geburt ihrer Kinder höhere Beiträge zahlen müßten, würden die Gesamteinnahmen um einen weiteren (hier nicht abzuschätzenden) Prozentbetrag ansteigen. 142 Dies allein wäre ein Grund, die Differenzierung der Beitragssätze nicht so stark zu betreiben, daB wegen kurzfristiger Ausschläge im Fertilitätsverhalten die Finanzierung in Gefahr käme.
5. Vorsl:hlag zur Neugestaltung dcr gcsctzlidlcn Altcrssil:hcrung
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allerdings nicht etwa dazu, eine individuelle Berücksichtigung dieses Faktors in der Rentenversicherung vorzusehen. Schreiber schlug damals eine zwischenzeitlich kaum mehr diskutierte ergänzende Maßnahme vor, eine sogenannte Kindheits- oder Jugendrente l43 , 144, die an Kinder bis zum 20. Lebensjahr auszuzahlen wäre. Diese Rente wäre im Erwachsenenalter zurückzuzahlen, wobei deren Beiträge einer extremen Beitragsdifferenzierung nach Kinderzahl unterliegen sollten 145. Die Kinderrente wäre, auch wenn sie den Namen Rente trägt, eine Maßnahme des Familienlastenausgleichs, der nach anderen Prinzipien und mit einem veränderten Kreis der Betroffenen auszugestalten ist. Unser Anliegen ist eine Betonung beider Aspekte des Generationenvertrags innerhalb der Alterssicherung. Im Sinne des Vertrags sollte versucht werden, die Verursacher (die jetzt kinderlosen Erwachsenen) der Defekte zu belasten. In Schreibers Vorschlag würde man dies bestenfalls dadurch erreichen, daß man sofort mit den nach Kinderzahl differenzierten Abgaben begänne. Damit würde allerdings nur der allgemeine Steuersäckel gefüllt und nicht (wie als logisch richtig erkannt) die Zukunftslage der Institution Rentenversicherung verbessert 146. Ohne Schreiber fehlzuinterpretieren, könnte man allerdings vermuten, daß er sich für eine Beitragsdifferenzierung innerhalb der Rentenversicherung ausgesprochen hätte, wenn ihm die Kinder- oder Jugendrente als Instrument nicht zur Verfügung gestanden hätte l47 . Auch die von ihm selbst so bezeichnete "bevölkerungsdynamische Sozialrente" von Schmidt-Kaler l48 berücksichtigt beide Aspekte des Generationenvertrags. Ähnlich wie Schreiber für die Jugendrente, forderte er allerdings eine extreme Beitragsdifferenzierung, die von sich heraus erklären 143
W. Schreiber, Existenzsicherung ... , S. 32 ff.
144 In vielen Punkten entsprechen die Vorschläge Schreibers denen von R. Harrod
in einem Memorandum aus dem Jahr 1944. Siehe dazu R. Harrod, The Population Problem, in: R. Harrod, Economic Essays, 2nd Ed., London 1972, S. 3-41. 145 Eine solche Maßnahme wird von ihm noch dazu als "ausgesprochenes bewußtes Element der Bevölkerungspolitik" (W. Schreiber, Existenzsicherung ... , S. 33) verstanden. 146 Die Frage, ob und wie Kinder über den Familienlastenausgleich verstärkt zu unterstützen wären, wollen wir in einem getrennten Kapitel behandeln, wo wir diesen Vorschlag erneut aufgreifen können. 147 Besonders der von ihm heftig attackierte staatliche Zuschuß einerseits und die bei sinkender Bevölkerung (die er nicht bedenken konnte) notwendige Überschußbildung andererseits dürften ihn veranlaßt haben, eine zweite Art von Rente vorzuschlagen, anstatt das Prinzip konsequent in der Altersversorgung selbst zu berücksichtigen. 148 Th. Schmidt-Kaler, Rentengesetzgebung ... , S. 75 f.
220
3. Kapitel: Alterssicherung im langfristigen Bevölkerungsrückgang
Tabelle 11 Beitragssätze in Prozent Kinderlose
31
1 Kind
26
2 Kinder
21
3 Kinder
16
4 Kinder 11
5 Kinder 6 u. m. Ki. 6 0
Quelle: Th. Schmidt-Kaler, Wie sicher sind ... , S. 13.
dürfte, warum dieser Vorschlag in der Öffentlichkeit kaum Zustimmung finden konnte (siehe Tabelle 11). Wenn Ledige zusätzlich zu einer höheren Steuerlast gegenüber den Verheirateten auch noch eine verdoppelte Alterslast tragen sollten, müssen die gewählten Sätze von mehr als 30 Prozent (der Bruttoeinkommen) als bei weitem zu hoch erkannt werden 149. Löst man das Prinzip der Beitragsdifferenzierung von dem bei Schmidt-Kaler unüberhörbaren pronatalen Grundton, der ebenso sachfremd ist wie er in seiner Wirkung überschätzt sein dürfte l50 , erfüllt bereits eine wesentlich geringere Differenzierung der Beiträge das gleiche Zie1 151 • Die Argumentation Schmidt-Kalers sieht vor, Paaren mit nur einem erwerbstätigen Partner die doppelte Entlastung zuteil werden zu lassen i52 , da die finanzielle Hauptlast von Kindern dort getragen würde, wo ein Partner (in der Regel die Frau) wegen der Kinder auf Berufstätigkeit verzichten müsse und später keine eigene Rente beziehe. Die doppelte Entlastung bei nur einem erwerbstätigen Partner ist aus zwei Gründen wenig gerecht: a) Erwerbstätige Mütter, die u. U. zusätzlichen Aufwand für die Betreuung des Kindes haben, würden nun wegen ihrer Berufstätigkeit "bestraft". b) Die . doppelte Entlastung wirkt gerade da nicht oder nur wenig, wo sie besonders nötig wäre, bei den relativ niedrigeren Einkommen und relativ großer Kinderzahl.
Keines/alls darf man, wie dies Schmidt-Kaler ebenfalls vorschlägt 153, bei über das Reproduktionsniveau hinausgehenden Geburtenzahlen die Kin149 Die Gesamtbelastung Lediger würde bereits bei durchschnittlichem Einkommen weit mehr als die Hälfte der Bruttoeinkommen erreichen. 150 Als Beispiel für die dadurch provozierte Gegnerschaft siehe etwa B. Rürup, Zum Problem der langfristigen Alterssicherung ... , S. 22 ff. 151 Es kann nicht etwa Aufgabe der Rentenversicherung sein, durch materielle Eingriffe die Bürger dazu zu bringen, an sich unerwünschte Kinder zu gebären. 152 Th. Schmidt-Kaler, Rentengesetzgebung ... , S. 84. Mit einer solchen Regelung wäre dann nach seinem Vorschlag bereits ein Paar mit vier Kindern beitragsfrei. 153 Ders., Einige Anmerkungen zu der Stellungnahme von B. Rürup, in: Aus Politik und Zeitgeschichte ... , S. 47.
5. Vorschlag zur Neugestaltung der gesetzlichen Alterssicherung
221
derentlastung umkehren in eine Belastung! Ein solcher Vorschlag widerspricht nicht nur ethischen Grundpositionen, sondern auch der Logik des Generationenvertrags l54 . Wenn wir argumentierten, daß die Eltern von drei Kindern für den Generationenvertrag positive Leistungen erbrachten, dann darf sich ein solches Ergebnis nicht deshalb umkehren, weil in anderen Familien ebenfalls Kinder geboren wurden. Um die Belastung der (noch) Ledigen zu reduzieren und die finanzielle Ausstattung der jungen Ehen zu verbessern, könnte der Vorschlag gemacht werden, bei Geburt eines Kindes vorher zuviel gezahlte Rente (bei der Geburt des ersten Kindes die bisher bezahlte Differenz zwischen dem Satz für Ledige und Eltern eines Kindes) zurückzuzahlen, da nunmehr auch der zweite Teil der erforderlichen Leistungen des Generationenvertrags nachträglich erfüllt wurde. Bei der Analyse dieses Vorschlags zeigen sich allerdings schnell bedenkliche Wirkungen. Während das biologische und medizinische Geburtenrisiko mit zunehmendem Alter steigt, würde der ökonomische "Wert" eines spät geborenen Kindes sehr viel höher sein: Ein Vater, der bereits 30 Jahre in die Rentenversicherung einbezahlt hat, würde für sein Kind große Geldbeträge erhalten, während die Eltern, die kurz nach Beendigung der Ausbildung Kinder bekommen, dafür keinerlei monetäre Leistungen erhielten. Die Tatsache, daß die Beitragszahlung in der gesetzlichen Altersversicherung nicht eine der Privatversicherung gleiche Leistung ist, macht eine solche Rückzahlung weder notwendig noch sinnvoll 155 . Darüber hinaus würden diese (wie andere) direkten Geldzahlungen bei Geburt von Kindern nur die bereits diskutierten "allokativen" Fehlwirkungen haben. Dieses Argument wie die gesamte Ausgestaltung der kinderabhängigen Rentenbeiträge macht auf die Gruppe der unfreiwillig Kinderlosen aufmerksam, die nun auf jeden Fall stärker belastet werden, da sie ja der auferlegten Last nicht (wie andere Beitragszahler) ausweichen können. Die unausweichbare Mehrbelastung darf aber nicht als Strafe interpretiert werden, da dieser Zusatzbelastung der Anspruch gegenübersteht, auch ohne eigene Reproduktion später einmal von der nächsten Generation versorgt zu werden. Das Äquivalent für den erhöhten Beitrag des Kinderlosen ist, daß ihm - freiwillig oder unfreiwillig - keine Kosten der Kindererziehung entstehen, auch wenn unfreiwillig Kinderlose die Kindererziehung gerne auf sich genommen hätten. 154 Dieses Argument zeigt einmal mehr, daß es Schmidt-Kaler nicht um eine sinnvolle Erfüllung des Generationenvertrags geht (im Grunde genommen überhaupt nicht um die Sozialversicherung), sondern um die wo auch immer herstammende Zielsetzung, die Bevölkerung zu stabilisieren. 155 Auch dies ist allerdings ein Argument, Ledige vorher nicht mit extremen Beitragssätzen zu belasten.
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3. Kapitel: Alterssicherung im langfristigen Bevölkerungsrückgang 5.3. Die Beitragsdifferenzierung als Stärkung oder Schwächung des Äquivalenzprinzips?
Eine zentrale Frage für die Bewertung unseres Vorschlags ist die Überlegung, ob mit der Beitragsdifferenzierung der Äquivalenzgedanke der Versicherung verlassen oder ganz im Gegenteil bestärkt wird 156. Die Beitragsdifferenzierung wird oft als bevölkerungspolitisches Instrument oder als Element des Familienlastenausgleichs verstanden, das der Sozialversicherung wesensfremd sei 157 wie alles, was nicht aus früheren eigenen (Geld-) Beiträgen inklusive Zins und Zinseszins stammt: Diese "systemfremde Umverteilung" müsse aus dem Versicherungsgebäude hinausgewiesen werden 158 und die Beitragsdifferenzierung sei folglich abzulehnen. Schon bei der Anrechnung von Erziehungszeiten als Beitragsjahre der Mütter (wie vorne diskutiert) schlußfolgert Albeck : "Das (eine solche Anrechnung) ist für sich genommen, ein klarer Verstoß gegen das Äquivalenzprinzip, wie immer man es definieren mag" 159. Gerade in der deutschen wissenschaftlichen Diskussion wird häufig etwas verteidigt, was es im Grunde gar nicht gibt: Die bloße Tatsache, daß in die Rentenbestimmung neben anderen Faktoren auch die relative Einkommensposition (nicht die geleisteten Beiträge) und die anrechnungsfahigen (nicht die tatsächlichen) Versicherungsjahre eingehen, wird regelmäßig als ausreichend dafür erachtet, daß die privatwirtschaftliche Äquivalenz auch in der gesetzlichen Altersversicherung gelten würde oder könnte. In keiner Pri156 Siehe dazu auch R. Dinkel, Alterssicherung bei stagnierender und schrumpfender Bevölkerung als Zukunftsaufgabe der sozialen Marktwirtschaft, in: Zukunftsprobleme der sozialen Marktwirtschaft, hrsg. von O. Issing, SdVfSocpol., N. F., Bd. 116, Berlin, 1981, S. 101-12l. 157 "Der Vorschlag, die Beitragssätze nach der Kinderzahl zu differenzieren, erscheint mir allerdings kein geeigneter Weg zu sein, nicht nur hinsichtlich seiner Wirkung auf das generative Verhalten, sondern vor allem auch im Hinblick auf seine verteilungspolitischen Aspekte. Unter verteilungspolitischen Gesichtspunkten würde ich eine Entlastung von Familien mit mehreren Kindern durch solche Familienlastenausgleichsma13nahmen für günstiger halten, die aus dem allgemeinen Staatshaushalt finanziert werden und nicht von Beitragszahlern oder Versicherten." (W. Schmähl, Alterssicherung von Frauen und die langfristige finanzielle Entwicklung der Rentenversicherung, in: Zeitschrift für Sozialreform, 26. Jg. Heft 5, 1980, S 327). 158 Ein dezidierter Vertreter dieser Vorstellung ist der Vorsitzende des Sozialbeirats, H. Meinhold. Siehe dazu etwa H. Meinhold, Grenzen und Konsequenzen für das Wachstum des Staatsbudgets, in: Arbeit und Sozialpolitik, 29. Jg., 1975, S. 303. 159H. Albeck, Reform der Alterssicherung -leistungsorientiert oder bedarfsorientiert? Anmerkungen zu einem Kommissionsgutachten, in: ZfgSt, Bd. 136,1980, S. 705-711, bes. S. 710.
5. Vorschlag zur Neugestaltung der gesctllidlen Alterssicherung
223
vatversicherung findet allerdings eine multiplikative Verknüpfung l60 mit der Beitragszeit statt und der eigentliche Kernpunkt der umlagefinanzierten Rente, die allgemeine Bemessungsgrundlage, hat keine Entsprechung in der Privatversicherung. Eine Versicherung, die alle (oder fast alle) Bürger eines Landes umfaßt, kann automatisch nicht mehr nach dem einzelwirtschaftlichen Versicherungsprinzip arbeiten. Dies wird bereits darin manifestiert, daß es für eine gesetzliche Sozialversicherung automatisch nur ein Umlageverfahren geben kann und der einzelwirtschaftlich plausible Gedanke einer Zukunftssicherung durch Kapitaldeckung nicht praktikabel ist. Bereits bei der Privatversicherung wurde es als eine nur für die Mikroebene zulässige Illusion erkannt, die eigene Alterssicherung sei ohne die Mitwirkung zukünftiger Generationen möglich. Eine allgemeine Sozialversicherung muß auf den Generationenvertrag aufbauen, der die Entsprechung des einzelwirtschaftlichen Äquivalenzgedankens auf der Makroebene ist. Für die Aufrechterhaltung des Generationenvertrags haben Kinder mindestens die gleiche Bedeutung wie Geldbeiträge: Mit den Geldbeiträgen wird die Rente der jetzigen Senioren gesichert, mit der Geburt und Erziehung von Kindern die eigene Rente. Durch Geldbeiträge kann für die eigene Rente nur ein verrechnungstechnischer "Anspruch" erworben werden, der stets dann wertlos bleiben muß, wenn er nicht von der nächsten Generation eingelöst wird. Aus diesem Grund ist eine explizite Berücksichtigung des Reproduktionsaspekts eine Verstärkung des notwendigerweise auf die Makroebene übertragenen Äquivalenzgedankens und nicht etwa eine versicherungsfremde Maßnahme. Dies zu konstatieren, hat nichts mit Bevölkerungspolitik zu tun. Ein Argument ist nicht schon dann "pronatal" , wenn festgestellt wird, daß die Bevölkerungsentwicklung die zentrale Variable in einem Ursache-Wirkungs-Komplex ist. Bevölkerungspolitik würden wir dann betreiben, wenn wir verlangen würden, wegen der Renten aktiv Geburten zu fOrdern. Damit hat unser Vorschlag aber nichts zu tun: Wir schlußfolgern, daß im Generationenvertrag der Alterssicherung der wichtigste Vertragsbestandteil die Aufrechterhaltung der Generationenabfolge ist. Wir haben nun weder das Recht noch die Pflicht, diese oder jene Bevölkerungsentwicklung zu erzwingen. Wenn aber der Generationenvertrag verlassen wird, so müssen wir darauf reagieren und entweder die Rentenleistungen kürzen oder die Beiträge erhöhen. 160 Es werden bestenfalls Jahresanwartschaften gewichtet addiert, wie dies beispielsweise auch Beusparkassen tun.
224
3. Kapitel: Alterssicherung im langfristigen Bevölkerungsrückgang
Eine entscheidende Schwäche unseres deutschen Sozialversicherungssystems ist die Tatsache, daß Vertragsverletzungen belohnt und nicht bestraft werden. Eine nach dem Umlageverfahren arbeitende kollektive Versicherung kann niemals nach dem einzelwirtschaftlichen, sondern nur nach dem kollektiven Äquivalenzprinzip, dem Generationenvertrag, arbeiten, was mit der Beitragsdifferenzierung (als einer von mehreren Möglichkeiten) erreicht werden kann. 5.4. Auswirkungen einer Beitragsdifferenzierung auf das generative Verhalten
Im Rahmen unserer Argumentation, nicht unbedingt für den behandelten Vorschlag an sich, ist die Frage untersuchenswert, ob und welche Reaktionen einer solchen Regelung auf das Geburtenverhalten zu erwarten wären. Wir wollen die möglichen Einwirkungen auf die Fertilität nach zwei Aspekten hin untersuchen: 1. Eine unbestreitbare Wirkung dürfte diese Maßnahme auf den Zeitpunkt haben, zu dem geplante Kinder in den Familien realisiert werden. Wir hatten im ersten Teil der Arbeit gezeigt, daß in der Bundesrepublik das Durchschnittsalter der Mütter sehr hoch ist und momentan eine weitere Verschiebung der Geburten im Gang ist. Eine Beitragsdifferenzierung vom Zeitpunkt der Geburt eines Kindes ab würde dieser Entwicklung tendenziell entgegenwirken. Die Konsequenzen müssen sich dabei allerdings nicht auf eine einmalige Verkürzung der Reproduktionsperiode und einen kurzfristigen Anstieg der Geburtenrate beschränken: Stellen wir uns vor, daß an sich gleichmäßig verteilt der Wunsch nach zwei oder drei Kinder bestünde. Wenn nun Mütter ihre ersten Kinder nicht mit 30, sondern bereits mit 24 Jahren gebären, steigt insgesamt die Wahrscheinlichkeit, daß Kinder höherer Parität tatsächlich noch geboren werden. Eine Vorverschiebung der ersten Geburt verlängert den Zeitraum, in dem die Eltern bei akzeptablen medizinischen Risiken über Kinder höherer Parität entscheiden können, wenn sie mit dem ersten Kind positive oder negative Erfahrungen machten.
2. Nach unseren Überlegungen im ersten Teil der Arbeit kann man aber auch die Auswirkungen auf die endgültige Kohortenfertilität diskutieren, die sich unabhängig von den Anreizen zur zeitlichen Vorverschiebung der Geburten ergeben. Die Betragsreduktion von beispielsweise 1,5 Prozentpunkten verändert vermutlich die finanzielle Lage der Familie nicht so sehr, daß man sich davon Reaktionen versprechen dürfte. Die ökonomische Theorie der Geburtenrate zeigte aber, daß es im Rationalkalkül auf andere
5. Vorschlag zur Neugestaltung der gesetzlichen Alterssicherung
225
Faktoren, in erster Linie die Opportunitätskosten und die Zeitallokation ankommt. Wenn nun in langfristiger Betrachtungsweise durch die Beitragsdifferenzierung sowie eine (anschließend zu behandelnde) Gleichstellung des Reproduktionsaspekts mit dem Beitragsaspekt bei der Hinterbliebenenversorgung erfolgt, reduzieren sich langfristig die Opportunitätskosten von Kindern. Falls ein zeitweises Ausscheiden aus dem Erwerbsleben nicht zusätzlich durch reduzierte Altersversorgungsansprüche bestraft wird, erhöht sich tendenziell auch die verfügbare Zeit der Mütter für die Kinder durch verstärktes (weil jetzt nicht mehr diskriminiertes) temporäres Ausscheiden aus dem Berufsleben. Eine positive Reaktion der Fruchtbarkeit der Kohorten wird - wenn überhaupt - nur in langfristiger Sicht zu erwarten sein 161. Wenn aufgrund der Betonung des Reproduktionsaspektes in der Altersversorgung die endgültige Fertilität der Kohorten von vielleicht 1,8 auf 1,9 Kinder steigen sollte, würde für die langfristigen Bevölkerungsentwicklung und damit die Zukunft der Alterssicherung eine beachtliche Veränderung der Ausgangslage entstehen, denn die Abweichung von der stationären Bevölkerung würde um etwa ein Viertel abgemildert. Sollten tatsächlich mehr Kinder geboren werden, so verringern sich wie betont die monetären Überschüsse der Rentenversicherung, die dann allerdings auch nicht mehr in dem Umfang benötigt würden. Die hier vorgeschlagene Ausgestaltungsform hätte allerdings selbst dann ihr Ziel erreicht, wenn von ihr nicht der geringste Einjh{/3 auf die Geburtenentwicklung ausginge. Sollte diese Rentenformel in der oben beschriebenen Form tatsächlich die Reproduktionsrate verändern, wäre dies jedenfalls nicht negativ zu beurteilen, auch wenn wir dem Staat das Recht zur aktiven Bevölkerungspolitik absprechen. Die Rentenversicherung hätte in diesem Fall nicht mehr bewirkt als viele andere Maßnahmen im Bereich der Sozialund Wirtschaftspolitik auch. 5.5. Die Beitragsdifferenzierung und der intergenerationale Transfer
Eine zentrale Frage für die Beurteilung der Beitragsdifferenzierung klang bereits mehrfach an: Ist es möglich, in der Gegenwart gebildete Überschüsse in die Zukunft zu transferieren, um damit der nächsten Generation einen Teil ihrer Zusatzlasten abzunehmen? Diese Frage bildet einen Kernbereich der ökonomischen Beurteilung und hat (in umgekehrter Formulierung) in 161 Die einzig sofort erkennbare Wirkung dürfte ein psychologischer Effekt sein, daß der Wert von Kindern für die Gesellschaft durch eine solche Beitragsdifferenzierung deutlicher spürbar wird. 15 Dinkel
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3. Kapitel: Alterssil:herung im langfristigen lkvölkerungsrül:kgang
. der Theorie der Staatsverschuldung eine lange und kontroverse Geschichte 162 . Wir hatten bereits an mehreren Stellen auf den "Mackenrothschen Satz der Sozialpolitik" verwiesen, daß in makroökonomischer Sicht kein anderes als das Umlageverfahren möglich sei, da stets alle Generationen das momentan erzeugte Sozialprodukt verzehren müßten. Bei schrumpfender Bevölkerung muß in einem kaum mehr wachsenden Sozialprodukt der immer größer werdende Kapitalabbauwunsch der Alten entweder die Neuinvestitionen verdrängen oder den Konsum stärker einschränken, was auch für das Kapitaldeckungsverfahren gelten müßte. Liegen die Unterschiede zwischen beiden Verfahren tatsächlich alleine in der Verrechnungssphäre, kann es folglich auch keinen intergenerationalen Transfer geben und alle Lasten müssen unweigerlich auf die nächste Generation fallen. Der Mackenrothsche Satz gilt allerdings nur in der geschlossenen Volkswirtschaft: Sobald Kredit- und Güterbeziehungen zum Ausland bestehen, löst sich die angesprochene Mechanik auf: Man kann sich gedanklich jederzeit einen im Ausland angelegten Kapitalstock vorstellen, der nach Jahren kaufkrafterhöhend ins Inland rücktransferiert wird 163. Dabei treten zwei Fragen auf, ob es einmal überhaupt Länder gibt, die man sich als Adressaten vorstellen könnte, und, wie der ursprüngliche Kaufkraftentzug und die spätere -vermehrung auf die wirtschaftliche Entwicklung im Inland wirken. Wenn alle anderen Länder vor der gleichen Ausgangsposition eines Bevölkerungsrückgangs stünden, würde auch die Existenz offener Volkswirtschaften zur Problem lösung faktisch nicht beitragen. Aber selbst unter den Industrienationen gibt es Länder mit (noch) wachsender (USA, Frankreich, Niederlande) und andere l64 mit stagnierender oder bereits schrumpfender Bevölkerung (Schweden, Großbritannien, Österreich, Schweiz). Dieser Argumentation könnte entgegengehalten werden, eine Auslandsanlage des Versicherungsvermögens sei angesichts der politischen und ökonomischen Risiken gerade in Entwicklungsländern viel zu unsicher. Einem 162 Siehe dazu als Kurzzusammenfassung O. Gandenberger, Artikel: Öffentliche Verschuldung II, Theoretische Grundlagen, in: HdWW, Bd. 5, Stuttgart u. a., 1980,
S.480-504.
163 In diesem Fall befindet sich der Staat (das Inland) in der Position des vorher betrachteten Individuums, da der Rücktransfer zu Lasten des ausländischen Sozialprodukts gehen muß. 164 Die Ungleichheit in der Bevölkerungsentwicklung wird auf lange Sicht ohnehin internationale Finanzierungsströme umlenken, bedenkt man etwa die aus der Bevölkerungsexplosion der Entwicklungsländer folgenden langfristigen Umleitungen von Kapitalbewegungen.
5. Vorst:hlag zur Neugestaltung der gesetzlit:hen Alterssit:herung
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solchen Einwand kann auf zwei Stufen begegnet werden: Der Auslandstransfer der angesammelten Fonds müßte einerseits bei freiem internationalen Kapitalverkehr nur hypothetisch stattfinden 165. Der gesamte Einwand gegen Auslandsinvestitionen ist aber auf einer grundsätzlicheren Ebene sinnlos: Die Vermutung, eine Inlandsanlage sei sicherer als eine Anlage im Ausland, ist in einer weltwirtschaftlich integrierten Volkswirtschaft ohnehin eine Illusion. Auch im Jahr 1980 müßte die Sozialversicherung (wie die gesamte Volkswirtschaft) zusammenbrechen, falls es keinerlei wirtschaftlichen Verkehr mehr mit dem Ausland gäbe. Eine Wirtschaft, die je ein Drittel des Sozialprodukts ex- bzw. importiert, hängt stets mit von der Lage im Ausland ab, nicht nur im Hinblick auf Rohstoffe oder Energie. Wären alle für den Export bestimmten Arbeitsplätze schlagartig ohne Beschäftigung, würde innerhalb weniger Wochen auch eine Sozialversicherung ohne jede Auslandsanlage illiquide. Die Frage, ob und wie ein intergenerationaler Ausgleich der Lasten möglich ist, kann auch von einem veränderten Gesichtspunkt her diskutiert werden: In der Theorie der Staatsverschuldung ist es üblich, eine intergenerationale Lastverschiebung dann als möglich zu bezeichnen 166, wenn zukünftigen Generationen ein veränderter Kapitalstock überlassen wird. Ist dieser Kapitalstock kleiner als er es ohne Staatsverschuldung wäre, hat eine Lastverschiebung in die Zukunft stattgefunden, weil nun mit dem reduzierten Kapitalstock nur mehr ein geringeres Sozialprodukt erstellt werden kann. Eine analoge Übertragung dieses Arguments auf unsere Fragestellung müßte nun bedeuten: Unser Vorschlag einer zusätzlichen Kapitalbildung durch zusätzlichen Konsumverzicht wäre gerade dann eine Lösung unseres Problems (einer Rückverschiebung der Zukunftslast in die Gegenwart I67 ), 165 Stellen wir uns ein Land D vor, dessen Wirtschaftssubjekte im Inland 20.0. und im Ausland B 100. Einheiten investieren. Gleichzeitig fließen von B ins Inland 90. Einheiten an Kapital. Es entsteht eine Gesamtinvestition von 290. Einheiten im Inland und ein Kapitalexportüberschuß von 10 Einheiten. Wenn nun in D die Sozialversicherung zusätzlich 20. Einheiten anlegen will, kann sie dies, wenn gleichzeitig die Wirtschaftssubjekte statt 20.0. nur 180. Einheiten im Inland anlegen und 120. statt 100. im Ausland. Es erhöht sich der Kapitalexportüberschuß auf 30. Einheiten und volkswirtschaftlich gesehen fand eine Mehrersparnis um 20. Einheiten statt, ohne daB die Sozialversicherungsmittel selbst ins Ausland geflossen sind. 166 Als Überblick über die Diskussion siehe O. Gandenberger, Ist es möglich, durch die Aufnahme von öffentlichem Kredit die Last einer öffentlichen Ausgabe in die Zukunft zu verschieben?, in: Jahrbuch für Sozialwissenschaften, Jg. 21, 1970., S.
87-98.
167 O. Roloff, Die gesetzlichen Rentenversicherungen in der Bundesrepublik Deutschland, Diss. Basel, 1970., S. 24 ff. diskutiert im Zusammenhang mit dem sogenannten "Rentenberg" die intergenerationale Lastverschiebung in Richtung auf 15*
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3. Kapitel: Alterssicherung im langfristigen Bevölkerungsrückgang
wenn der zusätzliche Kapitalstock im Inland gebildet würde l68 . Mit der Forderung, die angesparten Beiträge im Inland wachstumsfördernd anzulegen, fänden wir uns zudem im Einklang mit der im Moment vorherrschenden wissenschaftlichen Lehrmeinung 169. Diese Argumentation baut auf der Voraussetzung ~uf, daß der Kapitalstock bei der Erzeugung des Sozialprodukts stets voll ausgelastet und limitierender Faktor ist. In der Verschuldungsdiskussion konnte nur dann eine Last für die nächste Generation abgeleitet werden, wenn dieser Generation dann tatsächlich ein geringeres Sozialprodukt zur Verfügung gestellt wird. Sobald aber das aktuelle Sozialprodukt ohnehin geringer als das potentielle ist, muß die Reduktion des Kapitalstocks die tatsächliche Versorgung (das realisierte Wohlstandsniveau) nicht beeinflussen. Von diesem Moment an könnte auch im "Wachstumsansatz" nicht mehr von einer Lastverschiebung die Rede sein. Der Wachstumsansatz der Staatsverschuldungsdiskussion geht implizit auch von einer wachsenden Bevölkerung und einer konstanten Relation zwischen Arbeitskräften und Konsumenten aus. Wenn über den Rückgang der Kohortenfertilität die Gesamtnachfrage sinkt und das Arbeitskräftepotential steigt, kann eine (über den Status Quo hinausgehende) Kapitalbildung unter Umständen nur zu einer Verschärfung der bestehenden säkularen Ungleichgewichte führen, sobald der ohnehin vorhandene Kapitalstock nicht ausreichend ausgelastet ist. Ein Auslandstransfer würde, sobald er vorwiegend zu Lasten des Konsums ginge, die inländische Kapitalbildung kaum verändern und der spätere Rücktransfer aus dem Ausland dann zusätzliche Nachfrage schaffen. Die daraus folgende Erhöhung der Auslastung der volkswirtschaftlichen Produktionskapazitäten erbrächte die im Umlageverfahren nötigen Beitragseinnahmen, um die dann fälligen Renten zu bezahlen. Die Last einer solchen Maßnahme ruht in der Gegenwart, zum Zeitpunkt des aktuellen Konsumverzichts und Auslandstransfers. Hier werden das verfügbare Einkommen und der Konsum gegenüber dem Status Quo reduziert und die Belastung der jetzt Erwerbstätigen über die Aufgabe hinaus erzukünftige Generationen, d. h. in die unseren Überlegungen entgegengesetzte Richtung. 168 Die Rückverschiebung der Last bestünde nun darin, daß der nächsten Generation ein größerer Kapitalstock und damit ein größeres potentielles Sozialprodukt hinterlassen wird. 169 Ein Ansparen in Form verstärkter Kapitalbildung empfiehlt beispielsweise der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft (Wirtschaftspolitische lmplikationen ... , Ziffer 76 ff.).
5. Vorschlag zur Neugestaltung der gesetzlichen Alterssicherung
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höht, die aktuellen Renten zu zahlen. Genau dies war allerdings die ursprünglich angezielte Forderung 170. 5.6. Die Beitragsdifferenzierung in ihren ökonomischen Konsequenzen
Wie die vorangegangenen Überlegungen bewiesen, hängt die Beurteilung von Neuordnungsvorschlägen stark davon ab, welche ökonomischen Auswirkungen ein Bevölkerungsrückgang insgesamt hat. Im zweiten Kapitel der Arbeit wurde behandelt, daß im Hinblick auf diese Frage zwischen den konkurrierenden Hypothesen noch nicht entschieden werden kann. In einem neoklassischen Szenario mit steigendem Pro-Kopf-Einkommen kann die bei der Beitragsdifferenzierung steigende Belastung mit Sozialabgaben relativ leicht getragen werden und es ergeben sich kaum Zukunftsprobleme. Sollte die keynesianische Stagnationstheorie die Situation zutreffender beschreiben, müßten die ökonomischen Auswirkungen einer Beitragsdifferenzierung sogar durchwegs positiv beurteilt werden: Die Beitragsdifferenzierung erhöht nicht nur die Beitragsbelastung Kinderloser, sondern reduziert zugleich die Belastung Kinderreicher und stellt folglich einen sofortigen Kaufkrafttransfer von Familien mit relativ niedriger zu solchen mit relativ hoher Konsumneigung dar. Daraus ergibt sich unter jeder denkbaren wirtschaftlichen Ausgangsposition ein nachfragesteigender und expansiver Effekt, der die Auswirkungen der gleichzeitigen Kapitalbildung (und des Auslandstransfers) mindestens teilweise kompensiert. Unter der nicht unrealistischen Annahme, daß die Nachfrage kinderreicher Familien tendenziell eher dem inländischen Güterangebot (Ernährung, Kleidung etc.) gilt, während bei den Kinderlosen stärker auslandswirksame (Urlaubsreisen etc.) Nachfragebereiche getroffen (d. h. reduziert) werden, könnten die expansiven Wirkungen des Kaufkrafttransfers sogar größer sein als üblicherweise errechnete Umverteilungsmultiplikatoren. Dort hängt das Ausmaß der Redistribution von den Unterschieden in den Konsumquoten der Bezieher und der Zahler ab. Für die in unserem Beispiel relevante Umverteilung gilt allerdings nicht die von Johnson 171 vorgebrachte Kritik gegen die üblichen Umverteilungs170 Unsere Argumentation hier basiert allerdings auf speziellen Annahmen über die wirtschaftlichen Auswirkungen eines Bevölkerungsrückgangs, die nicht unbe· dingt als gesichertes Wissen angesehen werden dürfen. 171 H. G. 10hnson, The Macro-Economics of Income Redistribution, in: Income Redistribution and Social Policy, hrsg. von A. Peacock, London 1954, S. 19-40.
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3. Kapitel: Alterssil:herung im langfristigen Uevölkerungsrül:kgang
multiplikatoren. Johnson argumentiert, daß bei unterschiedlichen schichtenspezifischen Konsumneigungen (dem sogenannten "ratchet effect") im Grenzfall auch von einer höheren schichten spezifischen Konsumneigung zu einer niedrigeren umverteilt werden kann und damit das Gegenteil erreicht wird. In unserem Fall wird innerhalb der Schichten zwischen Haushalten mit unterschiedlicher Kopfzahl umverteilt, so daß die expansive Wirkung unumstritten ist. Unter einer wirtschaftlichen Ausgangsposition, wie sie in der Stagnationstheorie beschrieben wird, kann auch der umstrittene intergenerationale Transfer funktionieren. Zum Zeitpunkt des Kaufkraftentzugs (der ins Ausland transferierten Zusatzersparnis) steht einem gegebenen inländischen Güterangebot eine geringere monetäre Nachfrage gegenüber, was (sobald die Wechselkurse nicht für einen Ausgleich sorgen) deflationierende Tendenzen auslöst. Angesichts aktueller wirtschaftlicher Entwicklungen, vor allem der inhärenten Inflationstendenzen, muß dies nicht unbedingt negativ beurteilt werden. Zum Zeitpunkt des (gedanklichen) Rücktransfers wird inflationierende Zusatznachfrage ausgelöst. Ob diese Zusatznachfrage tatsächlich inflationierend wirkt, hängt entscheidend von der Auslastung der Produktionskapazitäten zu diesem Zeitpunkt ab. Sobald diese Nachfrage aufunterausgelastete Kapazitäten trifft, wirkt sie beschäftigungssteigernd und weniger inflationierend als zu dem Zeitpunkt, wo sie dem Wirtschaftskreislauf entzogen wurde. Erneut muß betont werden, daß der intergenerationale Transfer bestenfalls einen Teil des Gesamtproblems lösen kann, was angesichts der von uns vorgeschlagenen milden Beitragsdifferenzierung auch gar nicht anders möglich wäre. Was unsere eigene Argumentationvon der in der politischen Tagespraxis üblichen unterscheidet, ist u. a. auch der veränderte Zeithorizont, der in die Überlegungen eingeht. Eine momentan höhere Belastung erscheint uns sinnvoll, um die in der Zukunft unvermeidbaren Lasterhöhungen zu mildern, da an eine perfekte Gegensteuerung im Sinne einer absoluten Vermeidung dieser Entwicklung nicht zu denken ist.
6. Hinterbliebenenversorgung und Rentenkul1lulierungen
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6. Hinterbliebenenversorgung und Rentenkumulierungen in langfristiger Perspektive 6.1. Grundsätze und Alternativen der Hinterbliebenenversorgung
Bereits in den vorangegangenen Abschnitten wurde ein Problemkreis angeschnitten, dessen aktuelle Bedeutung durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts 172 aus dem Jahr 1975 ausgelöst wurde. Wir wollen in den Fragenkreis der "abgeleiteten" (nicht selbst erworbenen) Rentenansprüche durch ein einfaches Beispiel einführen: Zwei gleichverdienende Männer mögen im Alter von 65 Jahren einen monatlichen Rentenanspruch von je 1000,- DM erworben haben. Beide seien verheiratet und eine der beiden Familien hatte im Abstand von jeweils mehreren Jahren drei Kinder, so daß die Mutter nach abgeschlossener Ausbildung und Beitragszahlung von weniger als 15 Jahren keinen eigenen Anspruch auf Altersrente erwerben konnte. In der kinderlosen Ehe hingegen möge die Ehefrau einen Rentenanspruch von ebenfalls 1000,- DM erworben haben. Überleben jeweils beide Ehepartner, ergibt sich ein Verhältnis der Renten von 200:100 zugunsten des kinderlosen Ehepaares. Überleben jeweils nur die Frauen, verschiebt sich das Bild: Die Mutter der drei Kinder erhält nach dem Tod des Ehemannes eine Witwenrente (wobei wir hier nicht zwischen den sogenannten "kleinen" und "großen" Witwenrenten unterscheiden wollen) von 60 % der Rente des Ehemannes (600,DM). Die kinderlose Frau erhält zusätzlich zur vollen eigenen Rente die Witwenrente (Gesamtversorgung 1600,- DM). Bei der Altersversorgung der betrachteten Witwen entsteht nunmehr ein Verhältnis von fast 3: 1. Die drei Kinder zahlen somit an ihre eigene Mutter wesentlich weniger als an die kinderlose Frau, obwohl sich die vorherigen Gesamtleistungen im Rahmen des Generationenvertrags in etwa die Waage hielten. Dem Verfassungsgericht stand nicht etwa die ungleiche Behandlung von Müttern und kinderlosen Frauen zur Entscheidung an, sondern die Praxis, daß zwar der Ehemann seine Frau, nicht (oder nur erschwert) umgekehrt die Frau ihren Mann mit Rentenansprüchen versorgen kann. Das geltende Recht wurde zwar als verfassungsgemäß erkannt, dem Gesetzgeber aber auf172 Zu den Details des "Witwenrentenurteils" siehe: Grundlagen des Gutachtens der Sachverständigenkommission für die Soziale Sicherung der Frau und der Hinterbliebenen, Anlageband 1, S. 7-36, veröffentlicht durch die Bundesregierung, Stuttgart et al., 1979.
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3. Kapitel: Alterssicherung im langfristigen Bevölkerungsrückgang
grund der sich wandelnden Lebensverhältnisse bis 1984 eine Neuordnung aufgetragen 173.
Im Verlauf unserer bisherigen Argumentation klangen Fragen dieser Art verschiedentlich an, die hier einmal unter dem Gesichtspunkt der generellen Rechtfertigung von Mehrfachrenten, zum anderen unter dem Aspekt der Gerechtigkeit im Hinblick auf die beiden Bestandteile des Generationenvertrags behandelt werden sollen. Das geltende Recht kennt ein kumuliertes Auftreten von Rentenansprüchen nicht nur bei allen Frauen, die selbst über längere Zeit erwerbstätig waren. Als Folge des Krieges, von Unfällen oder bei Beamten mit vorheriger Erwerbstätigkeit als Arbeiter oder Angestellter treten weitere Mehrfachleistungen auf. Das ungeordnete Nebeneinander mehrerer Versorgungsformen führt vor allem für die Witwen zu außerordentlich unterschiedlichen Versorgungsniveaus im Alter, auch wenn vorher die Lebensverhältnisse identisch waren. Während die eine Witwe mit 60 Prozent eines ohnehin vielleicht geringen Rentenanspruchs ihres Mannes in der Nähe des Existenzminimums leben muß, sind andere Witwen im Alter möglicherweise besser gestellt als während des Erwerbslebens 174, 175. Obwohl das Verfassungsgericht nur die Neuregelung der Hinterbliebenenrente aufgab, wollen wir im Zusammenhang damit auch die Frage der Mehrfachrenten generell behandeln. Die Hinterbliebenenrente wird juristisch begründet durch ihre U nterhaltsersatzfunktion 176: Der Versicherungsträger gewährt der Frau bei Tod des Ehemannes an dessen Stelle Unterhalt. Dem Rentenrecht (bestätigt durch ein Verfassungsgerichtsurteil aus dem Jahr 1963) fehlt dabei jeder Gedanke 173 Im Urteil selbst wird allerdings nicht eine analoge Übertragung des Witwenrechts gefordert; unter anderem wird auch die Möglichkeit diskutiert, die bestehende Bevorzugung der Frauen abzuschaffen. 174 Ein Beispiel mag die Witwe eines im Krieg gefallenen Beamten der Reichsbahn sein, der vorher als Arbeiter Beiträge zur Invalidenversicherung zahlte. Mit ihrer dreifachen Altersversorgung erhält die Witwe ein Mehrfaches dessen, was sowohl ihrer eigenen Familie zu Lebzeiten des Mannes als auch in gleichen Umständen lebenden anderen Personen zur Verfügung steht oder stand. Zu einer Zusammenfassung möglicher Kumulationen siehe W. Bogs, Grundfragen des Rechts der sozialen Sicherheit und seiner Reform, Berlin 1955, S. 76 ff.; oder Institut Finanzen und Steuern, Die überhöhte Belastung der Volkswirtschaft mit Sozialausgaben - Entwicklung und Möglichkeiten der Lastensenkung, Bonn 1978, S. 62 ff. 175 Eine statistische Bestandsaufnahme des geltenden Rechts findet sich bei R. Meyer-Harter, Die Stellung der Frau in der Sozialversicherung, Sozialpolitische Schriften, Heft 35, Berlin 1974. 176 Siehe dazu ausführlich W. Bogs, Zur Rechtsstellung der nicht berufstätigen geschiedenen Frau (Hausfrau) in der gesetzlichen Rentenversicherung, in: Der Mensch im sozioökonomischen Prozeß ... , S. 287-299.
6. Hinterbliebenenversorgung und Rentenkumulierungen
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daran, daß die betroffene Frau als Mutter eine eigene Leistung erbrachte und aus sich selbst begründete Ansprüche hat. Dies wird etwa daran erkennbar, wie die Rente der geschiedenen Witwe behandelt wird: Sobald sie erneut heiratet, verliert sie den Anspruch auf Hinterbliebenenrente gemäß der Vorstellung, daß nun der neue Ehemann den Unterhalt zu gewähren hat. Die Witwenrente ist vordergründig eine nicht angemessene Alimentation der Ehe, da sie allein an den Tatbestand der Ehe anknüpft. Sie erhält erst ihren Sinn, wenn wir sie vor dem sozialen Hintergrund ihrer Entstehungszeit, dem Jahr 1911, betrachten. Wie wir bereits behandelten, bestand zu dieser Zeit eine weitgehende Gleichheit der Begriffe "Ehe" und "Familie" und Kinderlosigkeit war praktisch auf die biologische Unfruchtbarkeit beschränkt. Für die allein überlebende Mutter war die Hinterbliebenenrente die einzige Versorgungschance, so daß zur Entstehungszeit die Hinterb/iebenenrentejür die Frau (= Mutter) faktisch der von uns geforderten expliziten Berücksichtigung der Kindererziehung entsprach. Der Satz von 60 Prozent schien gerechtfertigt, weil nun nicht zwei (wie bei der auf den erwerbstätigen Mann beschränkten Versichertenrente), sondern nurmehr eine Person zu versorgen war. Daß in der (damaligen) Ausnahmesituation, wo eine Frau einen eigenen vollwertigen Anspruch erworben hatte, der überlebende Mann mit ebenfalls vollwertigem Rentenanspruch nicht zusätzlich eine übertragene Rente erhielt, ist an sich nicht kritisierenswert. Er darf immerhin die volle Rente behalten, die im Normalfall für eine ganze Familie (nicht für ihn als Einzelperson) gedacht war. Kritisierenswert ist vielmehr, daß die Unterhaltsersatzfunktion der Versichertengemeinschaft für die Ehefrau auch dort automatisch bejaht wurde, wo diese selbst einen vollwertigen Rentenanspruch erworben hatte. In den vorangegangenen Kapitel wurde ausführlich behandelt, daß sich die sozialen Verhältnisse wesentlich veränderten, daß vor allem die Begriffe Ehe und Familie längst auch nicht mehr annähernd deckungsgleich sind. Für die erwerbsfähige nicht kindererziehende Frau allein auf den formalen Akt der Eheschließung beruhende Versorgungsansprüche zu Lasten der Solidargemeinschaft zu schaffen, stellt nun eine Bevorzugung ohne Gegenleistung dar l77 . Dies umso mehr, wo die Erwerbsquote kinderloser Ehefrauen unter die der Mütter (nach 20 Ehejahren) sinkt und die kinderlose Nurhausfrau, die vor allem in den oberen Einkommensgruppen anzutreffen ist, imputierte Einkommen schafft. 177 Ähnlich H. Lampert, Anmerkungen zu dem Gutachten der Sachverständigenkommission für die soziale Sicherung der Frau und der Hinterbliebenen, in: ZgS, Bd. 136,1980, S. 727-736, bes. S. 732 f.
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3. Kapitel: Alterssicherung im langfristigen Bevölkerungsrückgang
Der Auftrag zur Neuordung der Hinterbliebenenrenten führte in der öffentlichen Diskussion zu einer ganzen Palette von Reformvorschlägen 178, die wir (in ihren Grundformen) nach den bereits vorne angewandten Kriterien diskutieren wollen: 1. Jeder Vorschlag sollte im intergenerationalen und interpersonellen Vergleich gerecht sein, d. h. auch den Reproduktionsaspekt beachten l79 . 2. Jeder Vorschlag ist angesichts der beschriebenen Zukunftsprobleme besonders auf seine langfristige Finanzierbarkeit zu prüfen und eine Minimierung der Zusatzlasten anzustreben 180. 1 Das geltende Hinterbliebenenrecht verläßt, wie wir es grundsätzlich für eine allgemeine gesetzliche Alterssicherung konstatierten, das individuelle Äquivalenzprinzip der Versicherung. Aus diesem Grund sollten auch mögliche Neuvorschläge nicht vorwiegend unter diesem Gesichtspunkt diskutiert werden. Die Sachverständigenkommission für die soziale Sicherung der Frau und der Hinterbliebenen 181 unterscheidet vier Grundformen einer Neuordnung, in die sich (mit gewissen Variationen im Detail) alle vorgetragenen Vorschläge einordnen oder daraus kombinieren lassen: I. Übertragung des Witwenrechts : Bei Lebzeiten beider Partner bleibt es beim geltenden Recht. Stirbt ein Partner, erhält der überlebende Partner 75 % des Anspruchs des oder der Verstorbenen. Dabei sind zwei Varianten denkbar. a) Der Überlebende erhält entweder die eigenen oder die abgeleitete Rente seines Partners, bzw. die eine wird auf die andere angerechnet. b) der Ehemann erwirbt wie die Frau bereits bisher zusätzlich den abgeleiteten Anspruch.
II. Teilhaberrente : Solange beide Partner leben, soll weiterhin der Status Quo gelten. Der überlebende Partner erhält im Bedarfsfall einen Teil der von beiden Partnern erworbenen Ansprüche, wobei zumeist ein Satz von 70 % genannt wird l82 . Die Teilhabe an den gemeinsamen Ansprüchen muß dabei 178 Zu einer Kurzzusammenfassung aller bis 1979 vorgetragenen Reformvorschläge siehe: Grundlagen des Gutachtens ... , a. a. 0., S. 56-63. 179 Wie der bisherigen Argumentation zu entnehmen ist, muß daraus nicht etwa folgen, daß Eltern eine höhere Rente erhalten müßten als Kinderlose. 180 Die gleiche Forderung wird im Jahresgutachten 1980/81 des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (Ziffer 354 ff.) formuliert. 181 Vorschläge zur sozialen Sicherung der Frau und der Hinterbliebenen, Gutachten der Sachverständigenkommission vom 21. Mai 1979, S. 34 ff. 182 Diesem Grundprinzip entspricht u. a. der Vorschlag der Sachverständigenkommission (Vorschläge zur ... , S. 47 ff.).
6. Hinterbliebenenversorgung und Rentenkumulierungen
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weiter nach zwei relativ wichtigen Details unterschieden werden: Soll die Teilhabe nur auf die in der Ehe erworbenen oder die gesamten Ansprüche ausgedehnt werden und soll es eine Bestandsgarantie in der Weise geben, daß jeder Partner mindestens seine eigene Rente voll erhalten soll. 1lI. Rentensplitting : Bereits zu Lebezeiten beider Partner werden alle in der Ehe erworbenen Ansprüche gesplittet, so daß beide Ehepartner einen eigenen gleich hohen Anspruch erhalten 183. Stirbt ein Partner, erhält der überlebende Teil einen Zuschlag oder einen Anteil der Rentenansprüche des verstorbenen Partners. IV. Mitversicherung der haushaltsführenden Partner: Grundsätzlich wird jeder Partner auf eigene Ansprüche verwiesen, aber der nicht-erwerbstätige Partner wird vom erwerbstätigen Partner (pflicht)versichert 184. In allen Grundformen soll jeweils eine gewisse Berücksichtigung von Kindern stattfinden und zwar fast stets in der Form, daß für jedes Kind zwischen einem und drei Jahren als Beitragszeit angerechnet werden. 6.2. Ein Vorschlag zur zukunftsgerechnten Ausgestaltung der Hinterbliebenenversorgung
Nach dem aktuellen Stand der wissenschaftlichen und politischen Diskussion hat die sogenannte Teilhaberrente die größte Aussicht, bis 1984 zum geltenden Recht zu werden. Aus diesem Grund sollte vor allem diese Neuordnungsvariante aus der Sicht der von uns formulierten Prinzipie diskutiert werden. Daran anschließend wollen wir einen eigenen Vorschlag diskutieren, der auf der Linie unserer bisherigen Argumentation liegt. Wir gehen dabei davon aus, daß die vorne vorgeschlagene Beitragsdifferenzierung tatsächlich realisiert ist. Bevor man in die konkrete Detaildiskussion tritt, sollte bedacht werden, daß der Geburtenrückgang und die im Zusammenhang damit gestiegene Frauenerwerbsquote in Zukunft zu einem deutlichen Anstieg an Mehrfachrenten führen werden. Im Moment beziehen etwa 21 Prozent der Frauen 183 Erstmals wurde die Splittingrente vorgeschlagen von H. Planken, Die soziale Sicherung der nichterwerbstätigen Frau, Sozialpolitische Schriften, Heft 14, Berlin 1961, S. 89 ff. 184 Diesem Prinzip folgten beispielsweise die Vorschläge von H. Albers (Überlegungen zur Sozialen Sicherung der Frau, in: Sozialer Fortschritt, 20. Jg., 1971, S. 265-272) und des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Wirtschaft und Finanzen (Gutachten zur Neugestaltung und Finanzierung von Alterssicherung und Familienlastenausgleich, Bonn 1971).
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3. Kapitel: Alterssicherung im langfristigen Bevölkerungsrückgang
eine Witwenrente und eine eigene Versicherungsrente l85 (hinzu kommt ein unbekannter Anteil an Frauen, die zusätzlich eine Beamtenversorgung, Kriegsopfer- oder Unfallrente etc. beziehen). Im Hinblick auf die Minimierung der Zukunftslasten müssen alle Vorschläge abgelehnt werden, die ein Weiterbestehen oder ein verstärktes Auftreten von Mehrfachversorgungen vorsehen, d. h. einen abgeleiteten neben dem eigenen Anspruch. Wer selbst für seine Alterssicherung aufkommen kann, bedarf nicht des zusätzlichen Unterhaltsersatzes, was für die Mutter, für die kinderlose Frau oder den Mann in gleicher Weise gilt. Das Argument, daß im einen Fall eigene Beiträge entstanden seien, im anderen nicht, muß aber dazu führen, daß im Überlebensfall beider Partner auch zwei Renten gezahlt werden. Damit wird ein kinderloses Paar im Alter u. U. bessergestellt als die Eltern, was aber angesichts lebenslanger Beitragsdifferenzierung nun nicht mehr negativ beurteilt werden kann. Der konkrete Vorschlag der Teilhaberrente hält grundsätzlich am Prinzip der Mehrfachrente fest bzw. verstärkt es sogar l86 . Falls man den Satz von 70 Prozent der gemeinsamen Rentenansprüche als Versorgung für einen überlebenden Partner wählt, ergibt sich folgende Situation: Die überlebende Witwe ohne eigenen Rentenanspruch erhält nun 70 statt 60 Prozent an abgeleiteter Rente. Ohne zusätzliche Einnahmen entstehen folglich zusätzliche Ausgaben in einer Größenordnung von mehreren Prozenten (etwa 2-3 Prozent) der Gesamtausgaben der Rentenversicherung. Im Falle des überlebenden Witwers ergibt sich eine noch stärkere Belastungserhöhung. Der Witwer, dessen Frau wegen Kindererziehung ohne eigenen Anspruch geblieben war, erhält die gleiche Rente wie im Status Quo, der Ehemann einer kinderlosen vollerwerbstätigen Frau erhält in der Regel zusätzliche Ansprüche. War wenigstens der Vater im Status Quo dem kinderlosen Ehemann gleichgestellt, ergibt sich nun selbst bei den überlebenden Männern eine Diskriminierung der Elternschaft mit massiven Erhöhungen der Zukunftslasten. Relativ schwierig ist die Beurteilung der Versorgung der Witwe mit eigenen Rentenanspruch. Erhielt sie bisher 60 Prozent der Rente des Mannes und die eigene Rente voll, soll sie nun 70 Prozent der beiden Renten erhalten, was gegenüber dem Status Quo zu Verbesserungen oder Kürzungen der 185 Zu den Zahlenangaben siehe DIW -Wochen bericht 20/1980, Verteil ungs- und familienpolitische Aspekte der Pläne zur Rentenreform 1984, bes. S. 215. 186 Auch den geänderten Lebensverhältnissen (und der daraus folgenden veränderten Bedeutung der Hinterbliebenenrente) entspricht gerade dieser Vorschlag nicht. Siehe dazu H. Lampert, Anmerkungen zu ... , S. 730 ff.
6. Hinterbliebenenversorgung und Rentenkumulierungen
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Versorgung führen kann. Die Neuordnung bleibe genau dann ohne Konsequenz, wenn der Ehemann den dreifachen Anspruch der Frau erworben hätte 187 ; bei geringeren Eigenrenten der Frau verbessert sich die Versorgung, bei höheren Eigenrenten reduziert sie sich geringfügig l88 . Insgesamt zeigt sich, daß der Reproduktionsaspekt in der Teilhaberrente noch stärker diskriminiert wird als im Status Quo. Die Mehrfachrenten blieben erhalten, wenn auch veränderte Gesamtversorgungen resultieren würden. Die Gesamtbelastungen für die Zukunft würden beträchtlich steigen und die Verursacher der Zukunftslasten eher belohnt als "bestraft". Um Eltern und Kinderlose nicht nur während des Erwerbslebens, sondern auch im Alter gleichzustellen, um andererseits keine Zusatzlasten ohne (Zusatz)Leistungen zu schaffen, sollte eine Lösung gewählt werden, die im wesentlichen dem Grundprinzip IV folgt: Die Versorgung der Mütter muß durch einen eigenständigen Anspruch (und Leistungen) gesichert werden 189. Eine wichtige Konsequenz müßte dann allerdings sein, allen Versicherten genau eine (ihre selbsterworbene Rente) zu zahlen. Überleben beide Partner, sollten sie beide Renten voll erhalten. Sollte dabei für Eltern eine geringere Versorgung als für Kinderlose resultieren, darf dies angesichts vorheriger lebenslanger Beitragsdifferenzierung nicht negativ beurteilt werden. Um der erziehenden Mutter oder einer kinderlosen nichterwerbstätigen Frau freiwillig oder in einer Zwangsversicherung einen eigenen Anspruch zu verschaffen, müssen, wie bei anderen Rentenanwartschaften auch, Beitragszahlungen stattfinden. Während unserem Grundprinzip folgend für die kinderlose Frau der Beitragssatz Kinderloser (11 oder 12 Prozent nach dem vorne formulierten Vorschlag) gälte, könnten dies im Fall der Mutter von drei Kindern gemäß der vorne vorgetragenen Differenzierungsregel 7,5 oder 8 Prozent sein. Der Vater von drei Kindern, der selbst nur 7,5 Prozent seines Lohnes als Beitrag zahlt, kann damit insgesamt zu deutlich geringeren Gesamtlasten als Kinderlose (die zweimal je 11 oder 12 Prozent zahlen) seiner 187 In diesem Fall müßte gelten: 0,6 RM + R F = 0,7 (R M + R F). Dies ergibt umgeformt 0,3 R F = 0,1 R M . Siehe dazu auch DIW-Wochenbericht 20/1980, Verteilungs- und familienpolitische ... , S. 210. 188 Die Be- und Entlastungen gleichen sich in etwa in der Größenordnung aus', so daß für die Witwenversorgung insgesamt eine Mehrbelastung von 2 bis 3 Prozentpunkten entstünde. 189 Eine eigenständige Mitversicherung entspricht auch der Position des DIW, entwickelt als Kritik an der Teilhaberrente. Siehe dazu H. J. Krupp und V. Meinhardt, Die eigenständige soziale Sicherung der Frau - Eine Alternative zur Teilhaberrente, in: WSI-Mitteilungen, 32. Jg., Heft 12, 1979, S. 669-681.
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3. Kapitel: Alterssicherung im langfristigen Ikvölkcrungsrückgang
Frau einen eigenen Anspruch verschaffen, falls die Ehepartner dies wünschen 190, 191.
Bei der über freiwillige Beiträge finanzierten Hausfrauenrente l92 muß gedacht werden, daß bei Erwerbstätigen zusätzlich ein Arbeitgeberanteil anfällt. Die Arbeitgeberbeiträge der Mütter sollten aber nicht grundsätzlich vom Staat übernommen werden. Dies käme einer Erhöhung des Staatszuschusses gleich, der von den Steuerzahlern übernommen werden müßte und langfristig die Selbstorganisation aushöhlen würde. Eine Beitragsübernahme (in Höhe des Arbeitgeberanteils) kann folglich nur für die Erziehungsjahre von Kindern begründet werden l93 . Überlebt nur ein Ehepartner, soll ihm jeweils nur eine Rente gezahlt werden: Dies könnte entweder die eigene oder eine vom Ehepartner abgeleitete Rente sein. Die freiwillige Versicherung der Ehefrau und Mutter hat (ebenso wie die Beitragszahlung der erwerbstätigen Frau) nur dann ihren vollen Sinn, wenn beide Ehepartner überleben. Stirbt ein Ehepartner, sollte der überlebende Teil einen großen Prozentsatz (von mindestens 75 und höchstens 100 Prozent) dessen Rente als Unterhaltsersatz erhalten, wobei es nicht darauf ankommen darf, ob dies der Mann oder die Frau war. Ist der eigene Anspruch des überlebenden Partners größer als der abgeleitete Anspruch, so wird allein der eigene Anspruch gezahlt. Im Fall der erziehenden Mutter findet der Unterhaltsersatz seine Begründung in der Berücksichtigung der eigenen Leistungen zum Generationenvertrag. Auch die kinderlose Frau muß allerdings diese Leistung gemäß dem Prinzip erhalten, daß im Alter nicht mehr nach Umständen differenziert werden sollte, die jetzt nicht mehr geändert werden können. Kinderlose hatten, dies muß erneut betont werden, ob freiwillig oder unfreiwillig lebenslang höhere Beiträge gezahlt, so daß auch aus dieser Sicht der Unterhaltsersatz nicht kritisiert werden kann. 190 Dies ist zu rechtfertigen, weil die Eltern beide, die Kinderlosen nur einen Vertragsbestandteil erfüllten. 191 Für Mütter, die entweder drei Kinder oder ein Kind unter drei Jahren haben, gibt es in Frankreich seit 1978 eine obligatorische Altersversicherung, deren Beiträge von den Familienkassen übernommen werden. 192 Auch bisher schon ist eine freiwillige Versicherung möglich. Erst über die Entlastung durch die Beitragsdifferenzierung allerdings erhält ein junges Ehepaar, das Kinder erzieht und seine gesamte Kaufkraft dringend braucht, die Möglichkeit, ein solches Angebot zu nutzen. 193 Der Terminus "Erziehungsjahre" meint den Zeitraum, den ein Kind bis zum Ende der eigenen Ausbildung innerhalb der Familie lebt. Die Übernahme des Arbeitgeberanteils wäre damit eine Familienlastenausgleichsleistung, wie wir sie im nächsten Abschnitt grundsätzlich diskutieren.
6. Hinterbliebenenversorgung uno Rentenkumulierungen
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Eine Möglichkeit, kinderlose Ehen mit nur einem erwerbstätigen Partner gegenüber allen anderen Beitragszahlern gleichzustellen und gleichzeitig die Zukunftslasten nicht zu erhöhen, ergäbe sich aus der Logik der Beitragsdifferenzierung : Haben Kinderlose an sich schon beispielsweise 11 statt 9 Prozent zu zahlen, könnte man den Mehrbetrag (die 2 Prozent) verdoppeln, falls nur ein Partner erwerbstätig ist l94 . Entsprechends könnte bei Existenz von Kindern praktiziert werden, wo durch die Anreize zu einer freiwilligen Mitversicherung der Mutter wesentlich erhöht würden. Der allein erwerbstätige Vater dreier Kinder müßte statt 7,5 nur 6 Prozent Beitrag zahlen, so daß er seine Frau umso leichter freiwillig mitversichern könnte. Diese Verdoppelung der Beitragsdifferenzierung bei nur einem erwerbstätigen Elternteil ist aber nicht notwendig, um das Prinzip als ganzes zu begründen. In einer solchen Regelung könnte eine Ungerechtigkeit gegenüber der vorher erwerbstätigen kinderlosen Frau gesehen werden, die nun ihre Mehrfachrente verliert. Die Beschränkung auf eine Rente kann aber nicht kritisiert werden, wenn es als Ziel staatlicher Eingriffe erkannt wird, der kinderlosen Frau wie der Mutter im Lebensabend die Aufrechterhaltung eines angemessenen Lebensstandards zu sichern. Die stets erwerbstätige Frau hatte wegen früher nicht aufgetretener Haushaltsbelastungen größere private Altersersparnisse ansammeln können. Während eine der beiden Frauen den Generationenvertrag durch Beitragszahlung unterstützte, tat dies die andere durch Reproduktion. In beiden Fällen ist genau eine Rente angemessen, da jeweils auch nur eine Person versorgt werden muß. Letztes und relativ kompliziertestes Problem ist die Rentenbemessung lediger und verheirateter Mütter, die vor und nach der Geburt der Kinder erwerbstätig sind. Auch in diesen beiden Fällen muß nach unserer Logik eine Berücksichtigung der Kinder stattfinden. Der unverheirateten Mutter beispielsweise darf aus dem Generationenvertrag heraus keine Diskriminierung gegenüber Ehefrauen widerfahren, wie dies im gegenwärtigen Recht geschieht: Auch die ledige Mutter von Kindern leistet durch die Erziehung der Kinder einen Beitrag für den Generationenvertrag, der keine moralischen Kriterien kennen darf. Ist die ledige Mutter vorher und nachher erwerbstätig, widerfährt ihrem eigenen Rentenanspruch das gleiche, was für die verheiratete Mutter vorne ausführlich beschrieben wurde. Die verheiratete Mutter erwirbt allerdings wenigstens als teilweisen Ausgleich die abgeleiteten Ansprüche ihres Ehemannes. Deshalb ist es im Fall der ledigen Mutter unumgänglich, die Kinder nicht nur bei den Geldbeiträgen (was selbstverständlich 194 Damit würde für den nichterwerbstätigen Partner ein Anreiz zur Erwerbstätigkeit geschaffen.
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3. Kapitel: Alterssicherung im langfristigen Bevölkerungsrückgang
ist), sondern auch in den Rentenleistungen zu berücksichtigen. Grundsatz unseres Neuregelungsvorschlags war ja, die beiden Beitragsaspekte gleichzeitig zu beachten und ein Gleichgewicht in den Rentenleistungen herzustellen. Im Fall der ledigen Mutter ist es unumgänglich, die Erziehungszeit für Kinder im eigenen Rentenanspruch zu berücksichtigen. Dabei muß, wie ausführlich diskutiert, nicht nur die Zahl der berücksichtigungsfähigen Jahre, sondern auch die persönliche Bemessungsgrundlage beachtet werden. Sowohl was die Anzahl der für die Zeit der Kindererziehung anzurechnenden Jahre als auch die dabei zu wählende Höhe der persönlichen Bemessungsgrundlage angeht, darf im Grunde nicht von den tatsächlichen Verhältnissen ausgegangen werden. Sollte aus finanzieller Not - gerade wegen der Geburt eines Kindes- eine ledige Mutter praktisch nur für die ihre gesetzlich zustehende Zeit tatsächlich aus dem Erwerbsleben ausscheiden, werden von ihr oder anderen Familienangehörigen die Lasten der Kindererziehung gleichwohl getragen 195. Um auch für die ledige Mutter einen Ausgleich bei der Rentenleistung zu schaffen, müßte für diesen Fall auf das in Abschnitt 2.3. behandelte und als grundsätzlich weniger geeignete Prinzip der Anrechnung von Beitragsjahren zurückgegriffen werden. In der vorangegangenen Diskussion wurde eine dreijährige Anrechnung als massive Zukunftsbelastung bezeichnet, was nun, wo es statistisch um eine kleine Minderheit geht, nicht gleichermaßen gelten muß. Im Hinblick auf die Zahl der anzurechnenden Jahre und die dabei zu wählende persönliche Bemessungsgrundlage kann auf die Argumentation in Abschnitt 2.3. verwiesen werden. Die ungleiche Behandlung der nicht verheirateten Mütter kann gerechtfertigt werden durch das Argument, daß diesem Fall die Anrechnung von Beitragsjahren der Möglichkeit der verheirateten Frau gegenübersteht, durch ihren Mann abgeleitete Rentenansprüche zu erwerben. Das Gesamtbündel der Maßnahmen, mit denen nicht nur eine Beitragssondern auch eine Leistungsgleichheit erreicht werden soll, läßt sich vermutlich nicht vollkommen kostenneutral finanzieren. Da nun aber das Verfassungsgericht den Gesetzgeber zu einer Gesetzesänderung bis 1984 zwingt, ist ein Vergleich mit dem Status Quo selbst aus Kostengründen grundsätzlich nicht mehr relevant. Verglichen mit anderen Vorschlägen, die eine weit stärkere Erhöhung der Zukunftslasten implizieren, stellt unser aus distribu195 Gerade, um es möglich zu machen, daß eine unverheiratete Mutter sich um die Erziehung ihrer Kinder ähnlich sorgfältig kümmern kanrl wie eine verheiratete Frau, dürfte sie nicht (als praktisch einzige Gruppe) ohne jegliche Berücksichtigung des Reproduktionsaspekts bei den eigenen Altersversorgungsansprüchen bleiben.
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tiven Argumenten aufgebauter Vorschlag insgesamt gesehen eine Entlastung dar, vor allem durch die Beseitigung der ansonsten verstärkt auftretenden Mehrfachrenten.
Viertes Kapitel
Der Ausgleich von Kinder- und Familienlasten "Jeder Mensch ist von Kindheit an auf Kosten vieler Arbeit einer oder mehrerer Personen erzogen worden, und wenn diese Arbeit oder ein Teil der Arbeit nicht aufgewendet wäre, würde das Kind niemals das Alter und die Kräfte erreicht haben, die es befahigen, seinerseits ein Arbeiter zu werden. Für die Gesellschaft im ganzen sind Arbeit und Kosten der Erziehung der Kinderwelt ein Teil der Auslagen, ohne die keine Produktion besteht, und welche mit einem Plus von dem künftigen Ertrag ihrer Arbeit ersetzt werden müssen". J. St. Mill, Principles of Political Economy, Vol. 1. Nach der 7. Aufl., 1871, übersetzt von W. Gehrig, Jena 1913, S. 60
1. Arten und Zielsetzung von Familienausgleichsleistungen 1.1. Begriff und Geschichte des Familienlastenausgleichs in Deutschland
Die erwerbstätige Generation muß (und mußte stets) nicht nur die Senioren, sondern auch die nachwachsende Generation versorgen. Beiträge des Staates zur Unterstützung der Kindererziehung werden als "Familienlastenausgleich"] bezeichnet, wobei diese Formulierung inhaltlich einer Präzisierung bedarf2. Es muß unterschieden werden zwischen Leistungen an die Institution der Ehe und an die Familie, wobei als Familie der Verband zwischen Eltern und Kind(ern) zu verstehen ist. Daß Ehe und Familie vor allem im Gefolge des Geburtenrückgangs zwei immer weniger deckungsgleiche Tatbestände geworden sind, wurde bereits mehrmals in dieser Arbeit betont. ] Zu den verschiedenen inhaltlichen Abgrenzungen des Begriffs siehe A. Oberhauser, Artikel: Familienlastenausgleich, in: HdWW, 24. Lieferung, Stuttgart u. a. 1980, S. 583-589. 2 Daß sich für den Gegenstand nicht der Begriff Kinderlastenausgleich durchsetzte, ist insoweit gerechtfertigt, als sich solche Leistungen stets an die Eltern richten müssen und das Familienbudget verändern, nie direkt an die meist noch unmündigen Kinder.
1. Arten und Zielsetzung von Familienausgleichsleistungen
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Längst nicht mehr kann man davon ausgehen, daß eine an die Ehe anknüpfende Maßnahme zugleich zugunsten von Kindern wirkt. Staatliche Leistungen an Ehe oder Familie treten in drei Ausgestaltungsformen auf, die in der öffentlichen Diskussion unterschiedlich stark beachtet werden: Zu den direkten Transfers, oft schlechthin mit "Familienlastenausgleich" gleichgesetzt, gehört beispielsweise das sogenannte Kindergeld. Von mindestens gleicher Bedeutung sind indirekte Transfers wie Steuervorteile oder kostenlose Mitversicherung für Familienangehörige. Kaum beachtet werden hingegen die staatlichen Leistungen in Form öffentlicher Güter wie Schulen oder öffentliche Gesundheitsmaßnahmen. Während die bevölkerungspolitische Begründung von Familientransfers eine lange Geschichte hat, entstand die sozialpolitische Komponente in Deutschland erst im 19. Jahrhundert. In den letzten Jahrzehnten 3 wurde der Familienlastenausgleich vor allem unter zwei Gesichtspunkten diskutiert, als Faktor der steuerlichen Leistungsfähigkeit und im Hinblick auf die Ausgestaltung als direkte Familienhilfen, dem sogenannten "Kindergeld"4. War im Fall der steuerlichen Berücksichtigung stets nur das "wie" umstritten, gab es noch in den letzten Jahrzehnten eine langanhaltende Diskussion darüber, ob direkte Transfers wie das Kindergeld überhaupt gewährt werden sollten. Die Diskussion, seit etwa 1920 unter dem Schlagwort "Leistungsversus-Familienlohn" rubriziert, wurde dabei vor allem mit weltanschaulichen Argumenten geführt. Die Gegner sahen in solchen Zahlungen den Beginn von Kollektivierungstendenzen 5 und betonten, der Staat müsse sich aus der privatesten aller Gemeinschaften, der Familie, tunlichst heraushalten 6. Die Gegenposition, von Anfang an mindestens ebenso zahlreich vertreten (oft mit bevölkerungspolitischen Untertönen), stellte besonders die materiellen Erschwernisse für kinderreiche Familien in den Mittelpunkt, was in aller Regel über Kostenberechnungen und -vergleiche zu begründen versucht wurde. 3 Die Weimarer Verfassung enthielt in § 119 das Prinzip des Familienlastenausgleichs: "Kinderreiche Familien haben Anspruch auf ausgleichende Fürsorge". 4 Die direkten staatlichen Transfers zugunsten von Kindern sind allerdings weitaus umfangreicher und umfassen Leistungen vom Wohngeld bis zu Fahrtkostenzuschüssen. Zu einer ausführlichen Behandlung der einzelnen monetären familienrelevanten Transfers siehe R. Zeppernick, Untersuchungen zum Familienlastenausgleich, Köln 1974, bes. S. 4 ff. 5 Siehe dazu beispielhaft die Beiträge des Bandes: Der Einbruch des Staates in die Familie, hrsg. von M. T. Vaertling und E. EImerich, Darmstadt 1956. 6 H. Willgerodt, Der Familienlastenausgleich im Rahmen der Sozialreform, in: Ordo, Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft, Bd. 8, 1956, S. 122 ff. W illgerodt befürchtet, daß die Familie in ihrem Inhalt geschwächt würde, falls ihr die Aufgaben und Belastungen der Kindererziehung genommen würden. 16*
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4. Kapitel: Der Ausgleich von Kinder- und Familienlasten
Die steuerliche Berücksichtigung von Kindern begann in Deutschland wenige Monate nach der Ausdehnung der Einkommensbesteuerung auf die niedrigen Einkommen in der Steuerreform von 1920, wurde in den folgenden Jahren ständig verändert und war besonders ausgeprägt in der bewußt bevölkerungspolitisch angelegten Politik des IIl. Reiches. Verglichen mit der Ausgestaltung in der Weimarer Demokratie bestanden die nationalsozialistischen Maßnahmen (sieht man von dem rassehygienischen Bereich ab) weniger in der Neueinführung familienpolitischer Instrumente, als in einer Intensivierung bereits vorhandener Differenzierungsfaktoren 7. Kindergeld oder Familienbeihilfen entstanden etwa um 1920 zuerst bei berufsständischen Organisationen (Ärzten, Apothekern etc.), seit 1927 im Staatsdienst und mehr und mehr auch durch tarifvertragliehe Regelungen in einzelnen Industriezweigen 8. Nach Kriegsende wurden durch alliierte Auflagen alle familienpolitischen Regelungen als Teil nationalsozialistischer Politik beseitigt. Bereits mit dem Zusammentreten des ersten Bundestags wurden erneute gesetzliche Initiativen ergriffen 9, aber erst 1954 wurde ein Kindergeld in Höhe von DM 25,- für dritte und Kinder höherer Ordnung von . Arbeitnehmern beschlossen 10. Die Berücksichtigung von Kindern bei der Besteuerung und die Transferleistung Kindergeld II wurden bis vor wenigen Jahren als duales System nach unterschiedlichen Kriterien durchgeführt, was von vielen Seiten Kritik hervorrief l2 und 1975 durch eine einheitliche Maßnahme ersetzt wurde. Die Kindergeldhöhe seit 1955 kann aus Tabelle 12 entnommen werden: 7 Siehe dazu etwa W. Groß, Der bevölkerungspolitische Gedanke in der Deutschen Finanzpolitik, Diss., München 1936. 8 Als Überblick über die unmittelbar nach dem Ende des 2. Weltkriegs bestehenden tarifvertraglichen Regelungen siehe H. Achinger, S. Archinal und W. Bangert, Reicht der Lohn für Kinder, Frankfurt 1952, Tabelle 10 im Anhang. 9 Zur konkreten Ausgestaltung der damaligen Vorschläge siehe H. Beckendorff, Ausgleich der Familienlasten ?, Berlin 1953, bes. S. 29 ff. 10 Daneben bestehen bzw. bestanden kindergeldähnliche Regelungen bei den Sozialhilfezahlungen, den Zahlungen nach dem Lastenausgleichsgesetz, bei der Arbeitslosen- und Rentenversicherung und in schwacher Form auch in der Krankenversicherung. Siehe dazu ausführlich: Soziale Sicherung in der Bundesrepublik Deutschland (Sozialenquete) ... , S. 303 ff. II Dies geschah für einige Jahre in Form sogenannter Familienausgleichkassen, die als Umlage von allen Unternehmen zu tragen und damit quasi Lohnbestandteil waren. 12 Siehe dazu ausführlich das Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats für Fami~ lienfragen beim Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit, Reform des Familienlastenausgleichs, Bonn-Bad Godesberg 1971; oder W. Albers, Zur Reform des Familienlastenausgleichs in der Bundesrepublik Deutschland, in: Sozialer Fortschritt, 16. Jg., 1967, S. 199-204, bes. S. 202 f.
245
1. Arten und Zielsetzung von Familienausgleichsleistungen
Tabelle 12 Kindergeld in DM pro Jahr
Kinder: 1.1.55 1.10.57 1.3.59 1.4.61 1.7.64 1.9.70 1.1.75 1.1.78 1.1.79 1.7.79
1.
600 600 600 600
2.
3.
300* 300* 300* 840 960 960 1200
300 360 480 480 600 720 1440 1800 2400 2400
* Das Kindergeld für 2. Kinder war (für Antragsteller mit zwei Kindern) an Einkommensobergrenzen gebunden (DM 7.200 ab 1961,7.800 ab 1965, 13.200 ab 1970, 15.000 ab 1972, 16.800 ab 1973 und 18.300 ab 1974).
Trotz dieser faktischen Zusammenlegung wollen wir uns im nächsten Abschnitt mit der Frage einer sinnvollen Familienbesteuerung unabhängig von den direkten Geldtransfers an Familien auseinandersetzen. Zwar ist das momentan in Deutschland praktizierte Verfahren genau besehen eine steuerliche Maßnahme, aber es hat doch die vorher bereits existierenden Transfers eingeschlossen und ersetzt, so daß eine Analyse auch außerhalb der rein steuerlichen Sphäre unumgänglich scheint. Eine zusätzliche Verwirrung im Bereich der Sozialleistungen tritt dadurch ein, daß in vielen Fällen neben dem Kindergeld oder steuerlichen Vergünstigungen noch andere staatliche Kinderleistungen gewährt werden, die an feste Einkommensgrenzen der Eltern gebunden sind, wie etwa die staatliche Ausbildungsförderung 13 , 14. Viele Sozialleistungen sind sowohl an Einkommen als auch an den Familienstand geknüpft, so daß eine Beurteilung der Gesamtwirkungen nur außerordentlich schwer möglich ist l5 . Bei einem ku13 In diesem Zusammenhang auftretende Kumulierungen werden diskutiert in R. Hagemann, Zur Neuordnung von Familienlastenausgleich und Ausbildungsfcirderung, in: FA, N. F. Bd. 35,1976, S. 121-127. 14 Mit guten Argumenten kann die Ausbildungsfcirderung als Sonderform der allgemeinen Familientransfers verstanden werden. 15 Siehe dazu R. Zeppernick, Die Bedeutung der Finanz- und Sozialpolitik für die Einkommensverteilung, in: FA, N. F. Bd 32, 1973, S. 425-463 sowie Th. Sarrazin,
246
4. Kapitel: Der Ausgleich von Kinder- und Familienlasten
mulierten Auftreten verschiedener Maßnahmen, die an jeweils unterschiedliche Kriterien geknüpft sind, sind Umkehrwirkungen auf die Einkommensverteilung in der Form möglich, daß Familien mit höheren Markteinkommen nach der staatlichen Umverteilung absolut schlechter gestellt sind als Familien mit niedrigeren Markteinkommen. Auch wenn das Sozialsystem als Ganzes nicht Gegenstand dieser Arbeit ist, sollen derartige Effekte bei familienbedingten Leistungen im weiteren nicht aus dem Auge verloren werden. In der öffentlichen Diskussion wird häufig die Forderung vorgetragen, der Staat solle oder müsse sich mit einem festen Prozentsatz an den Kosten von Kindern beteiligen. Die Kosten (in ökonomischen Termini der Preis) von Kindern wurden bereits im ersten Teil dieser Arbeit behandelt und sollen im folgenden im Hinblick auf die oben gestellte Forderung systematisiert werden. Den Abschluß des Kapitals soll ein Vorschlag zur Neuorientierung des Familienlastenausgleichs im Sinne der in dieser Arbeit formulierten Zielsetzungen bilden. Ähnlich wie bei der Analyse der Alterssicherung kommt es uns dabei vor allem darauf an, die zunehmende Diskrepanz zwischen Ehe- und Familienjörderung erkennbar zu machen: Während gegenwärtig das Gros der öffentlichen Leistungen an den Tatbestand Ehe anknüpft, erscheint uns im Gefolge des Geburtenrückgangs eine ausschließlich oder doch wesentliche Betonung der Familie angebracht. 1.2. Die Auswirkung monetärer Transfers auf die Entscheidung über die Familienbildung und -erweiterung
Auf der einen Seite wurde und wird teilweise noch heute eine staatliche Unterstützung zugunsten von Kindern als Instrument verstanden, die Elternentscheidung in Richtung auf eine Erhöhung der Kinderzahl zu verändern, auf der anderen Seite haben wir in unserem eigenen Zielsystem gefordert, die Kinderzahl selbst dürfe nicht zum Gegenstand staatlicher Politik sein. Um über eine für die eine oder andere Zielsetzung geeignete Instrumentenwahl Klarheit zu erhalten, müssen wir vorab die Frage untersuchen, ob und wie staatliche Transfers auf die Entscheidung der Eltern über ihre Kinderzahl einwirken können. Wir wollen dazu das von uns im 1. Kapitel bereitgestellte Entscheidungsmodell benutzen. Ein bestenfalls auf den ersten Blick überraschendes Ergebnis im vereinfachten Entscheidungsmodell war, daß Haushalte in aller Regel weniger als Kumulative Effekte der Finanz- und Sozialpolitik auf die Einkommensverteilung, in: FA, N. F. Bd. 34, 1975, S. 424-455.
I. Arten und Zielsetzung von Familienausgleichsleistungen
mat. Güter
247
M
Kinderzahl
Abb.34
die von ihnen als ideal angesehene Zahl von Kindern realisieren. An dieser Stelle könnte sich eine Kongruenz der Ziele ergeben, einerseits die Geburtenzahl aktiv zu fördern und andererseits die individuelle Präferenzordnung der Eltern (wie wir es als notwendig betonten) zu akzeptieren. Der Bereich zwischen dem individuellen Maximum der Entscheidung unter Restriktionen (PI in Abb. 34) und dem absoluten Maximum der Präferenzfunktion für Kinder (der LinieM in Abb. 34 könnte gewissermaßen eine Manövriermasse für wirtschaftspolitische Interventionen darstellen, die mit beiden Zielen vereinbart ist: Solange ein ökonomischer Anreiz durch den Staat die Gesamtwohlfahrt erhöht (die Entscheidungen der Haushalte werden nur in Richtung der vorher als ideal erkannten Kinderzahl verändert), so könnte jedenfalls argumentiert werden, solange könnten Interventionen nicht nur nicht schädlich sein, sondern müßten auch zum Wohle der Familien begrüßt werden. Bei einer solchen Argumentation wird allerdings übersehen, daß das individuelle Haushaltsoptimum in PI und nicht auf M liegt. Das Gleichgewicht in PI ist in keiner Weise ökonomisch "suboptimal" und führt jeweils zu einem individuellen Haushaltsgleichgewicht. Eine Veränderung der Restriktionen (eine Umverteilung der Ressourcen durch den Staat) kann sicherlich die Entscheidung eines Haushalts in Richtung P2 verändern, wobei es im Einzelfall natürlich darauf ankommt, wie groß der zugewendete Betrag ist. Mit der Besserversorgung der einen muß sich gleichzeitig allerdings die
248
4. Kapitel: Der Ausgleich von Kinder- und Familienlasten
Lage anderer Haushalte verschlechtern. Jede staatliche Maßnahme im Sozialbereich muß von irgend jemandem (oft sogar von den Betroffenen selbst) finanziert werden. Fragt man Eltern, ob ihre Entscheidung über die Kinderzahl auch eine Konsequenz der wirtschaftlichen Versorgungslage sei, stimmen vermutlich nicht nur Haushalte in einer Position wie PI zu, sondern auch jene, die sich bereits in P2 befinden. Jede finanzielle Besserstellung Uede Verschiebung der Budgetgeraden BB nach oben) bedeutet eine Verbesserung der erreichten Versorgungslage und wird folglich präferiert. Durch die geäußerten Präferenzen der Haushalte können wir somit nichts über unser Problem erfahren. Finanzielle Zuwendungen an Familien in Form direkter oder impliziter Transfers haben grundsätzlich die Wirkung, daß die Budgetrestriktion gelokkert, die Zeitrestriktion aber verengt wird. Durch die Erhöhung des Einkommens steigt zugleich die benötigte Konsumzeit. Deshalb wird die Reaktion des Haushalts auf die Gewährung von Transfers für Kinder in der von uns dargestellten vereinfachten Entscheidungssituation davon abhängen, welche der beiden Restriktionen vorher wirksam war: War bereits vor Zuwendung der Transfers die Zeit der limitierende Faktor, wird der Haushalt auf die Transfers nicht mit einer Erhöhung der Kinderzahl reagieren. War vorher das Einkommen knapp, sind zwei Reaktionen möglich: Ist nun nach der Transfergewährung die Zeitrestriktion (wegen des erhöhten Konsumzeitbedarfs) bindend, gilt obige Argumentation analog. Ist vor und nach Einführung der Transfers die Budgetrestriktion eng, können wir fragen, ob die ökonomischen Anreize diese Haushalte veranlassen, die Kinderzahl in Abb. 34 zu verändern. Dabei muß zwischen zwei Arten finanzieller Maßnahmen unterschieden werden, Transfers mit fester Anbindung an (zusätzliche) Geburten (wie z. B. ein sogenanntes Babyjahr, ein Kinderdarlehen etc.) oder eine Maßnahme, die für alle (auch die bereits lebenden) Kinder gewährt wird. Da vor und nach Einführung der Transfers allein die Budgetrestriktion relevant sein soll, können wir uns in der Argumentation (und graphischen Darstellung) auch allein auf sie beschränken. Zur Beurteilung der Wirkung von Transfers wollen wir eine Familie betrachten, die bei Einführung der Transfers bereits ein Kind hat. Eine Geldzahlung für alle (auch für das bereits vorhandene) Kinder verschiebt die Budgetrestriktion BI hin zu B2 in Abb. 34, wobei das Ausmaß der Veränderung v·on der Transferhöhe abhängt. Damit kann in neuem Gleichgewicht entweder wiederum PI oder M als Optimum entstehen. Unter Restriktion B2 würde (selbst bei Familien mit niedrigem Einkommen) nur bei extremer Transferhöhe ein über M hinausgehendes neues Gleichgewicht entstehen.
I. Arten und Zielsetzung von familienausgleichsleistungen
249
Wird der gleiche Gesamtbetrag mit fester Bindung an zusätzliche Geburten verausgabt, entsteht Restriktion B3 , die jeweils bei einer größeren als der realisierten Kinderzahl nach oben abknickt. Wenn nun statt 12 Mio. Kindern etwa 500.000 Geburten zu fördern sind, können zugleich im Einzelfall wesentlich höhere Transferbeträge gewährt werden. In diesem Fall kann schnell eine größere Kinderzahl (P3 in Abb. 34) als M realisiert werden. Dem in Kategorien der Wohlfahrtsökonomie Denkenden wäre wohler, wenn die Haushalte nicht zu einer Verhaltensänderung über M hinaus bewegt würden. Diese Haushalte würden ansonsten angereizt, ihr eigenes W ohlfahrtsoptimum zu verlassen und zusätzliche (an sich weniger präferierte) Kinder zu gebären. Ein Blick auf Abb. 34 zeigt allerdings, daß genau dies möglich (wenn auch nicht sicher) ist l6 . Beachtung verdienen auch diejenigen Haushalte, die bereits mehr als die von ihnen gewünschte Kinderzahl haben, weil ihnen eine Kontrazeption oder Abtreibung moralisch nicht zulässig erschien oder nicht verfügbar war. Selbst wenn zusätzliche Kinder der Familie negativen Nutzen bringen und die Verfügbarkeit und Aufteilung aller anderen Ressourcen verändern, kann die Familie dieser veränderten Belastung nicht ausweichen l7 . Auch in einem solchen Fall sollten staatliche Transfers nicht in Form von Anreizen für Geburten gegeben werden: Familien, die bereits "zu viele" Kinder haben, müßten noch mehr Kinder gebären, um überhaupt in den Genuß der auch von ihnen gewünschten staatlichen Transfers zu kommen und würden damit in ein zusätzliches Dilemma verstrickt. Im Hinblick auf die Ausgestaltung der für Kinder gewährten Transfers kann daraus geschlußfolgert werden: Sobald mit solchen Transfers keine pronatalen Absichten verfolgt werden, sollen Familientransfers nicht an den Tatbestand der Geburt anknüpfen. Auch im anderen Fall ist eine Erhöhung der Kinderzahl denkbar (wobei es natürlich vor allem auf den Umfang der Transfermaßnahme ankäme), Distorsionen der individuellen Präferenzen werden dabei aber vermieden bzw. gering gehalten. Auch das grundsätzlich nicht an zusätzliche Geburten anknüpfende Kindergeld kann in bestimmten Ausgestaltungsformen Wirkungen haben, wie wir sie als negativ kennzeichneten: In früheren Jahrzehnten wurde beispielsweise Kindergeld erst vom dritten Kind ab gewährt, was Eltern von zwei Kindern vor eine Situation 16 Die feste Anbindung der Maßnahme an Geburten führt dazu, daß besonders bei relativ niedrigen Einkommen eine Bewegung über M hinaus möglich wird. Haushalte mit höherem Einkommen sind im gleichen Fall noch nicht einmal bereit, von PI in Richtung M zu wechseln, unabhängig davon, daß dort vermutlich die Zeitrestriktion bindend ist. 17 Ein ökonomisches Gut, von dem man mehr besitzt als man wünscht, tauscht man gegen andere ein. Daß dies bei Kindern nicht möglich ist, zeigt, daß Kinder keine Güter sind.
250
4. Kapitel: Der Ausgleich von Kinder- und Familienlasten
stellte, die einem Geburtenanreiz nahekam. Ähnlich müßte ein Kindergeld wirken, das sehr stark und positiv an die Parität anknüpft l8 . Den Eltern stellt sich ein so ausgestaltetes Transfersystem nicht sehr viel anders dar als ein an jeweils zusätzliche Geburten anknüpfendes Maßnahmesystem. Die Wirkung von direkten Transfers auf die realisierte Kinderzahl bei gemeinsamer Beachtung von Zeit- und Einkommensrestriktion läßt sich zusammenfassen. Wir hatten geschlußfolgert, daß das relative Gewicht der beiden von uns betrachteten Restriktionen vom Einkommen der Familie abhängt. Damit ergibt sich für alle Arten finanzieller Unterstützung eine unsymmetrische Wirkung: Familien mit niedrigem Einkommen reagieren darauf - wenn überhaupt - relativ stärker als Familien mit durchschnittlichen oder höheren Einkommen. Dort nämlich ist tendenziell die Zeitrestriktion enger, die bei Zahlung von kinderbedingten Transfers nicht gelockert, sondern eher geringfügig verschärft wird. 1.3. Umverteilungsziele und -wirkungen des Familienlastenausgleichs
Bevor man das Für und Wider der einen oder anderen Ausgestaltungsform von Familienlastenausgleichsmaßnahmen sinnvoll beurteilen kann, muß Klarheit darüber hergestellt werden, welches verteilungspolitische Ziel eine solche Maßnahme haben soll. Von der Natur der Sache her erscheint eine Antwort recht einfach: Mit dem Familienlastenausgleich soll von Bürgern ohne K:inder zu Familien mit Kindern um verteilt werden 19. Wenngleich sachlich einleuchtend, unterscheidet sich eine solche Formulierung von herkömmlichen Formulierungen. Die "klassische" Zielsetzung der Sozialpolitik war stets, von hohen zu niedrigen Einkommen umzuverteilen 2o . Was aus der Akzeptierung der "neuen" Ziel formulierung im Hinblick auf Ausgestaltung und Beurteilung konkreter Maßnahmen des Familienlastenausgleichs folgt, wollen wir am Gedankenexperiment einer Budgeterweiterung demonstrieren: In einem System, das keinerlei Berücksichtigung von Kindern kennt, soll der Familienlastenausgleich in Form eines festen Trans18 Solche Maßnahmen werden jedoch in der Regel anders begründet, womit wir uns an anderer Stelle auseinandersetzen wollen. 19 So bereits G. Mackenroth, Die Reform ... , S. 59. 20 Eine Veränderung der Zielsetzung, wie sie hier am konkreten Fall des Familienlastenausgleichs beschrieben wurde, wird auch als Übergang von der "alten" zur "neuen" Sozialpolitik beschrieben. Siehe dazu H. G. Krüsselberg, Vitalvermögenspolitik und die Einheit des Sozialbudgets: Die ökonomische Perspektive der Sozialpolitik für das Kind, in: K. Lüscher, Hrsg., Sozialpolitik für das ... , S. 143-179, bes. S. 153ff.
1. Arten und Zielsetzung
VOll,
familienausgleichsleistungen
251
ferbetrags neu eingeführt werden, wobei die Transfers zugunsten von Kindern durch eine progressive Steuer finanziert werden. Bei dieser Steuer soll keinerlei Rücksicht auf die Kinderzahl genommen werden (Abb. 35). +
DM
Transfer
" "'DM
Eink.
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J\>~t
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....:/:0
~
-----
Abb.35
In Abb. 35 wird erkennbar, daß Eltern mit hohem Einkommen durch die Eir!führung des Familienlastenausgleichs einen Nettoverlust erleiden. Sie steI-
len sich schlechter als in einer Situation, wo es keinerlei Familienlastenausgleich gab, was der obigen Forderung eindeutig widerspricht. Tatsächlich ist das deutsche Steuersystem in seiner Gesamtheit nicht so durchgängig progressiv wie in Abb. 35 angenommen, so daß bei einkommensunabhängigen Transferleistungen mit steigendem Einkommen nicht unbedingt ein Nettoverlust entstehen muß. Allerdings bleibt offenkundig, daß der Nettovorteil von einer bestimmten Einkommenshöhe ab gegen Null geht. Soll die obige Umverteilungszielsetzung erfüllt werden, kann eine zielgerechte Ausgestaltung auf eine von mehreren Arten gesichert werden: (a) Die Transfers steigen dem Betrag nach mit dem Einkommen; (b)es findet gleichzeitig eine steuerliche Entlastung von Eltern statt (z. B. durch einen Freibetrag); (c) der Familienlastenausgleich wird über eine spezifische Abgabe für Kinderlose finanziert 21 . Diese Forderungen laufen der aktuellen sozialpolitischen Diskussion entgegen und haben keine Realisierungschance. Nichtsdestoweniger entsprechen sie bei einer progressiven Finanzierung dem Ziel, ausschließlich von Kinderlosen zu Eltern umzuverteilen.
21 Nach diesem Prinzip sollten Familienlastenausgleichsmaßnahmen zum Beispiel im "Albers-Plan" finanziert werden. Siehe dazu W. Albers, Zur Reform ... , S. 200 f.
252
o
4. Kapitel: Der Ausgleich von Kinder- und Familienlasten
Überblickt man die aktuelle politische Diskussion, wird erkennbar, daß dort regelmäßig beide sozialpolitischen Ziele vermengt werden. Gleichzeitig mit der Familienförderung wird beabsichtigt, personelle Umverteilung von hohen zu niedrigen Einkommen zu betreiben. Dabei wird regelmäßig argumentiert, die Bezieher hoher Einkommen könnten die Kinderlasten selbst tragen und bedürften folglich nicht der Zuweisung ohnehin knapper Mittel. Deshalb wurde und wird neben der Abschaffung des dualen Systems zugleich eine degressive Ausgestaltung der Transfers gefordert oder ein konstanter Transferbetrag bis zu einer festen Einkommensgrenze. Wer dies fordert, muß aber akzeptieren, daß die Einführung eines Familienlastungsausgleichs für sich gesehen einen Teil der Familien mit Kindern absolut schlechter
stellt.
An sich ist das Recht des Staates unbestritten, personelle Einkommenumverteilung zu betreiben, wofür ein ganzes Spektrum von Maßnahmen bereitsteht. Es ist u. E. aber nicht sinnvoll, den Familienlastenausgleich stillschweigend zu einem Instrument der personellen Einkommensverteilung aus- oder umzugestalten. Beide gleichermaßen anerkannte staatliche Aufgaben sollten klar getrennt werden und einer jeweils in sich begründeten Ratio folgen. Soll der Familienlastenausgleich nicht als interpersonelles Verteilungsinstrument ausgestaltet werden, dürfen die Transfermaßnahmen des Familienlastenausgleichs nicht an Einkommensgrenzen gebunden sein 22 ,23. In seinem Vorschlag zur Reform des Familienlastenausgleichs 24 erkennt beispielsweise der Wissenschaftliche Beirat für Familienfragen diesen Zusammenhang, fordert aber gleichwohl einerseits die Abschaffung (damals noch bestehender) steuerlicher Vergünstigungen und ein degressives (mit steigendem Elterneinkommen abnehmendes) Kindergeld. Bei einer solchen Ausgestaltung ist allerdings eine Nettobelastung für Eltern mit überdurchschnittlichen Einkommen unvermeidbar. Gewährt man ein nominell gleiches Kindergeld für alle Kinder unabhängig vom Einkommen der Eltern, dürfte unter realistischen Steuerbelastungen wenigstens der Nettoeffekt nicht oder nur in Grenzbereichen negativ werden. In der nachfolgenden Diskussion der einzelnen Instrumente und Reformvorschläge des Familienlastenausgleichs wollen wir als Ziel solcher Maßnah22 So auch J. Hackmann, Soziale Leistungen außerhalb des Versicherungsprinzips, in: Fortentwicklung der sozialen Sicherheit ... , S. 147-170, bes. S. 150. 23 In unserer Argumentation bleiben Fragen, wie die Erhebungs- und Kontrollprobleme und -kosten ganz außer Acht. Erinnert sie an die Willkürlichkeit der über das Einkommensteuerrecht entstehenden Einkommensfestlegung bei Selbständigen (Gestaltungsprivileg). 24 Wissenschaftlicher Beirat für Familienfragen, Reform des ... , S. 43 ff.
1. Arten und Zielsetzung von ramilienausglei\:hsleistungen
253
men stets die Umverteilung zwischen Eltern und Kinderlosen verstehen. Die Forderung nach einer strikten Trennung der beiden Umverteilungsintentionen hat allerdings auch im umgekehrten Fall seine Konsequenzen: Oft werden Maßnahmen der personellen Umverteilung familienpolitisch differenziert, wofür die Sparförderung ein ideales Beispiel ist. Eltern erhalten höhere Sparprämien und dürfen mehr verdienen als Kinderlose. Auch diese Vermischung ist systemwidrig und nur vordergründig für die Familien positiv: Ein Familienvater mehrerer Kinder hat bei gegebenem Einkommen (wie behandelt) im Durchschnitt eine weit größere Konsumpräferenz als der gleichverdienende Kinderlose. Gerade ihm aber wird ein verstärkter Anreiz zum Sparen geboten, was zu Präferenzdistortionen führen muß. Wir hatten die Familienbildung als bewußten Prozeß verstanden, wo Eltern eine Einkommensverwendung mit relativ mehr Konsum und Kindern einer anderen mit größerer Ersparnis aber ohne Kinder vorziehen. Eine Sparprämie in Abhängigkeit von der Kinderzahl veranlaßt gerade Kinderreiche mit größerer Konsumneigung zu Konsumverzicht und damit zum Handeln entgegen ihrer eigenen Präferenzen. Dem Familienvater mit hohem Konsumbedarf wäre weit besser geholfen, wenn er vorher (d. h. bevor er Kinder hatte) eine Prämie erhalten hätte, die er jetzt verausgaben könnte. Dem Staat steht das Recht der Sparförderung ebenso zu wie eine Erhöhung der Transfers an Familien; erst die Vermischung schafft die Präferenzverzerrungen. Die über den Familienlastenausgleich bewirkte Umverteilung läßt sich auch aus intergenerationaler Sicht beurteilen. Sobald die Familientransfers real gleich bleiben, können sie als "Investitionskredit" verstanden werden, der von den Kindern selbst in der nächsten Generation (in Form von Steuern) zurückgezahlt wird. Aus diesem Grund forderte W. Schreiber auch statt des Kindergelds eine als Analogie zur Altersrente gestaltete "Kinderrente" 25, die als Vorgriff auf spätere Erwerbseinkommen auszugestalten wäre. Die Kindergeldempfänger zahlen die ihnen gewährten Leistungen als Steuer aber nur dann selbst zurück, wenn die Bevölkerung langfristig stationär ist und die Kinderzahlen über alle Steuerzahler gleichverteilt sind. Auch dieser intergenerationale Transfer wird im Geburtenrückgang verschoben. Die Generation, die absolut weniger Kinder hat, muß geringere Transfers als alle vorangegangenen Generationen leisten. Tritt die nächste 25 W. Schreiber, Kindergeld im sozio-ökonomischen ... S. 12 ff. So auch J. H. Müller, Ökonomische Probleme des Familienlastenausgleichs, in: Normen der Gesellschaft, Festgabe für Oswald v. Nell-Breuning SJ zu seinem 75. Geburtstag, hrsg. von H. Achinger, L. Preller und H. J. Wallraff, Mannheim 1965, S. 254-267, bes. S. 260 f.
254
4. Kapitel: Der Ausgleich von Kinder- und Familienlasten
Generation ins Erwerbsleben, steigt dann deren Last wieder an, falls sie selbst wieder Kinderzahlen hat, wie sie für Bevölkerungsstationarität (auf niedrigerem Niveau) nötig sind.
2. Die steuerliche Behandlung von Ehe und Familie Ein wichtiger Aspekt jeder Ausgestaltungsform des Familienlastenausgleichs muß stets die Art und Weise sein, wie bei der Besteuerung auf die Familienbildung Rücksicht genommen wird. In unserer weiteren Argumentation hat die Ehe- und Familienbesteuerung ein besonders starkes Gewicht, mit ihrer Hilfe scheint eine insgesamt kostenneutrale Neugestaltung des Familienlastenausgleichs möglich. Bereits mehrfach wurde betont, daß Ehe und Familie zwei sich immer weiter auseinanderentwickelnde soziale Erscheinungsformen sind. Aus diesem Grund wird im folgenden verhältnismäßig ausführlich die Logik und Ausgestaltung von Ehegatten- und Familienbesteuerung behandelt, um daraus Grundsätze für eine Neuorientierung im von uns gesteckten Rahmen zu finden.
2.1. Die Ehegattenbesteuerung im deutschen Steuerrecht
Der progressiven deutschen Einkommensteuer liegt das sogenannte "Leistungsfähigkeitsprinzip" zugrunde, das zwar konkret relativ wenig aussagt 26 , für die Besteuerung von Ehegatten aber doch einige Anhaltspunkte liefern kann 27 . Grundsätzlich sind drei Möglichkeiten der steuerlichen Behandlung der Einkommen von Ehegatten denkbar, die getrennte Veranlagung, die gemeinsame Veranlagung und das sogenannte Splittingsverfahren in verschiedenen Erscheinungsformen. 26 Wie sehr der Begriff der "steuerlichen Leistungsfähigkeit" inhaltsleer ist, diskutiert ausführlich K. Littmann, Ein Valet dem Leistungsfähigkeitsprinzip, in: H. Haller, L. Kullmer, C. S. Shoup und H. Timm (Hrsg.): Theorie und Praxis des finanzpolitischen Interventionismus, Festschrift für F. Neumark, Tübingen 1970, S. 113-134. 27 Zur Geschichte der Ehegattenbesteuerung in Deutschland von ihren Anfängen im frühen 19. Jahrhundert an sowie den materiell recht ähnlichen Regelungen der USA siehe L. Kullmer, Die Ehegattenbesteuerung, Frankfurt 1960, bes. S. 7 ff. Eine ausführliche steuerrechtliche Behandlung der Ehegattenbesteuerung - unter bewußter Abstraktion von Kindern - findet sich bei V. G. v. Obstfelder, Individualbesteuerung oder Haushaltsbesteuerung unter besonderer Berücksichtigung des EhegattenSplittings, Frankfurt und Bern, 1976.
2. Die steuerliche Behandlung von Ehe und Familie
255
Dem Grundsatz der Ehe als Lebens- und Risikogemeinschaft am nächsten kommt die gemeinsame Veranlagung,in der die Einkommen beider Partner zusammengelegt und gemeinsam versteuert werden. Der Leistungsfähigkeitsgedanke verlangt hier vor allem die Berücksichtigung der Tatsache, daß aus diesem Einkommen zwei statt nur einer Person leben müssen. Soll das Existenzminimum nicht von der Steuer erfaßt werden, muß bei Hinzukommen einer zweiten Person auch ein zweites Existenzminimum berücksichtigt werden. Sachlogische Konsequenz dieser in vielen Ländern und auch in Deutschland lange Zeit üblichen Besteuerungspraxis ist allerdings, daß durch die steuerliche Progression die Steuerlast von Eheleuten selbst unter Berücksichtigung der Freibeträge größer werden kann als bei zwei gleichverdienenden Unverheirateten. Dies wird in aller Regel mit dem Argument begründet, daß durch die Ehe Haushaltsersparnisse entstünden und die höhere Besteuerung somit der Leistungsfähigkeit entspräche 28 . Man könnte zusätzlich hinzufügen, die geringfügig höhere Besteuerung stelle ein Äquivalent für die zusätzlichen staatlichen Leistungen (kostenlose Übernahme in die Krankenversicherung, Anspruch auf Witwenrente etc.) dar. Das alternative Verfahren, die getrennte Veranlagung, ist in Deutschland zulässig, wenn auch nicht üblich. Sie behandelt Eheleute so, als wäre deren Verheiratung steuerlich irrelevant. Bedenkt man, daß auch hier durch Freibeträge zwei Existenzminima freibleiben können, ist diese Form aus Leistungsfähigkeitsargumenten ebenso zu verteidigen wie die gemeinsame Veranlagung. Faktisch basiert das gesamte System der deutschen Einkommensbesteuerung auf dem Individualprinzip und die Zusammenveranlagung von Ehegatten ist ein systemwidriger Fremdkörper, wie selbst das Bundesverfassungsgericht einräumt 29. Das früher praktizierte Verfahren der gemeinsamen Veranlagung wurde in Deutschland durch ein VerfassungsgerichtsurteiPO aufgehoben. Das Gericht befand, daß die u. U. mögliche höhere Besteuerung für Eheleute durch den damaligen § 26 EStG dem in der Verfassung festgelegten Schutz von 28 Die Argumentation mit den Haushaltsersparnissen an dieser Stelle kann allerdings allein deshalb nicht voll überzeugen, weil das Steuerrecht ansonsten alle anderen Arten imputierter Einkommen vernachlässigt. Siehe dazu J. Hackmann, Ein Vorschlag zur Ehegattenbesteuerung, in: FA, N. F. Bd. 31, 1972173, S. 495-518, bes. S.500. 29 Siehe dazu ausführlicher (mit Quellenangaben) R. Charlier, Familienbesteuerung - wachsende Probleme, in: Steuerjahrbuch 1979/80, Köln 1980, hrsg. von F. Hör:;;tmann, U. Niemann und G. Rose, S. 479-509, bes. S. 486. 30 BVerfG 6,55, S. 77.
256
4. Kapitel: Der Ausgleich von Kinder- und Familienlasten
Ehe und Familie widerspräche. Dem oben zitierten Urteil kann allerdings nicht der verfassungsrechtliche Auftrag entnommen werden, die Ehe schlechthin steuerlich zu begünstigen: Das Urteil sieht alleine eine Mehrbelastung bisher lediger Personen durch die Veheiratung 31 , 32 als unvereinbar mit dem Schutz der Ehe an. Es gibt also keine verfassungsrechtlichen Zwänge, wenn wir anschließend die Ausgestaltung der Familienbesteuerung im Hinblick auf einen gerechteren Familienlastenausgleich diskutieren. Die einkommensteuerliche Behandlung der Ehe wurde nun nicht durch Übergang zur getrennten Veranlagung ersetzt, sondern durch Einführung des sogenannten Ehegattensplittings, das in der Urteilsbegründung des Verfassungsgerichts als eines von mehreren möglichen Besteuerungsmodellen erwähnt wurde 33 . Das Ehegattensplitting 34 war von Anfang an in der wissenschaftlichen Diskussion umstritten. Seine Logik besteht darin, daß ein mehrverdienender Ehegatte seinem Partner beliebige Einkommensanteile übertragen kann, die als Einkommen des Ehepartners versteuert werden 35 . Verdient ein Ehemann 100.000 DM, kann er seiner Frau 50.000 DM (hypothetisch) übertragen, so daß zweimal 50.000 DM zu versteuern sind und eine deutlich geringere Gesamtsteuerlast entsteht als in der Sitation, wo der Mann die 100.000 DM zu versteuern hätte. Die günstigste Gesamtsteuerlast entsteht bei progressivem Steuertarif stets dort, wo das Gesamteinkommen der Eheleute in zwei gleiche Hälften geteilt wird. In der Splittingtabelle der Einkommensteuer wird unabhängig von der tatsächlichen Einkommensentstehung bei der Partner eine solche Halbierung automatisch unterstellt 36 . Falls die Partner am Markt jeweils gen au 50.000 DM verdienen, bringt ihnen eine gegensei31 Zu diesem Punkt siehe ausführlicher F. Ruland, Familiärer Unterhalt und Leistungen der sozialen Sicherung, Sozialpolitische Schriften, Heft 33, Berlin 1973, bes. S. 346 ff. 32 Auch im seither üblichen (und nicht kritisierten) Splittingverfahren werden viele Ehepaare so versteuert wie bei getrennter Veranlagung (wenn beide Partner mit eigenen Einkommen in der unteren oder oberen Proportionalzone sind) und erfahren keine Bevorzugung. Dies allein zeigt, daß nicht eine Bevorzugung der Ehe vorgeschrieben sein kann, sondern alleine eine Diskriminierung verboten wurde. 33 BVerfG 6,55, S. 80. 34 Mit den verschiedenen Aspekten des Splittingverfahrens setzte sich ausführlich die Steuerreformkommission 1971 auseinander (Gutachten der Steuerreformkommission 1971, Bonn 1971, S. 188 ff.), ohne allerdings eine Änderung des bestehenden Verfahrens für notwendig zu halten. 35 J. Hackmann, Ein Vorschlag ... , S. 504. 36 Kinder sind, auch mit deren eigenem Einkommen, von solchen Regelungen allerdings ausgeschlossen.
2. Die steuerliche Behandlung von Ehe und familie
257
tige Übertragung keinen Vorteil und die Steuerlast im Splittingverfahren hat die gleiche Höhe wie bei getrennter Veranlagung. Der Splittingsvorteil (gegenüber einer getrennten Veranlagung) hängt ab von der Höhe und der Aufteilung der Einkommen zwischen den Eheleuten. Erzielt ein Partner 100 % des gemeinsamen Einkommens, kann die (stark progressive) Entwicklung des Splittingsvorteils in Abb. 36 abgelesen werden 3? Der maximale Vorteil entsteht mit 14.838 DM bei einem zu versteu- · emden Einkommen von mehr als 260.000 DM. In den hohen Einkommensgruppen "spart" ein Ehemann durch den Verzicht seiner Ehefrau auf eigene Erwerbstätigkeit monatlich etwa das Einkommen einer Fabrikarbeiterin, die u. U. mehrere Kinder erzielen muß. Splittingvorteil in DM
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Quelle: V. Lietmeyer
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Einkommen
Abb.36
Verdient ein Vater relativ wenig und hat die Familie Kinder, so muß die Mutter (siehe Abb. 16) verstärkt erwerbstätig werden. Bleibt das gemeinsam zu versteuernde Einkommen unter 40-50.000 DM (was für 54 % aller Ehepaare zutrifft 38), dann reduziert sich der Splittingsvorteil sogar auf Null (oder nahe Null), eben weil die Mutter zusätzlich erwerbstätig sein muß. Das Ehe3? Siehe dazu V. Lietmeyer, Auswirkungen des Ehegattensplittings - Modellrechnungen nach dem Einkommenssteuertarif 1981, in: DStZ, Heft 6,1982, S. 126-129. 38 Siehe dazu V. Lietmeyer, Auswirkungen . .. , S. 128. 17
Dinkel
258
4. Kapitel: Der Ausgleich von Kinder- und Familienlasten
gattensplitting ist ein Einkommensvorteil zugunsten von Einverdienerhaushalten mit hohem Einkommen und zu Lasten von Doppelverdienerhaushalten mit niedrigem (und hohem 39) Einkommen. In Abb. 36 wurden zusätzlich zwei Fälle eingetragen, wo beide Partner erwerbstätig sind und sich deren zu versteuerndes Einkommen einmal im Verhältnis 80:20, im anderen Fall 70:30 entwickelt. Dabei zeigt sich, daß in vielen Fällen (z. B. wenn ein Partner 18.000 DM, der andere 12.000 DM verdient) auch im geltenden Recht die Steuer gleich hoch ist wie bei getrennter Veranlagung.
In einem internationein Vergleich der OECD-Länder4o erweist sich, daß in der Bundesrepublik kinderlose Ehepaare mit gleichem Pro-Kopf-Einkommen gegenüber Ledigen durch Steuern und Sozialabgaben von allen Ländern am stärksten begünstigt werden (Tabelle 13). Zum überwiegenden Teil werden kinderlose Ehepaare in anderen Ländern stärker belastet als Unverheiratete. Selbst Frankreich, das für eine extensive Familienpolitik bekannt ist, hält für die Ehe ohne Kinder weitaus geringere Vergünstigungen bereit 41 • Tabelle 13
Durchschnittssteuer- und Sozialversicherungssätze für einen Ledigen und einen alleinverdienenden kinderlosen Ehemann mit doppeltem Einkommen Schweden
ltalien
Belgien
Däne- Schweiz Japan Österrmark reich
Ledige
37,8
12,2
23,0
43,3
21,9
13,8
Verheiratete
49,2
21,3
29,9
49,5
27,7
Differenz -11,4 -9,1 in %
-6,9
-6,2 -5,8
UK
USA
Frankreich
BRD
30,8
25,6
16,1
32,7
18,0 25,8
31,0 24,3
14,1
28,3
-4,2 -0,4
-0,2 +1,3 +2,0 +4,4
25,4
Grundlage der Berechnungen: The Treatment ... , chart. 2 (b), S. 44.
39 Das Splittingsverfahren muß bei Doppelverdienern, bei denen der geringer verdienende Partner mehr als 130000 DM zu versteuern hat, notwendigerweise den Gesamtvorteil auf Null reduzieren. Der besser verdienende Partner kann nun dem anderen nicht mehr steuersparend fiktive Einkommensanteile übertragen, da dieser Einkommensbezieher bereits selbst in der höchsten Progressionszone ist. 40 Siehe dazu: The Treatment ofFamily Units in OECD MemberCountries Under Tax and Transfer Systems, OECD 1977, bes. S. 44. 41 Zu einem internationalen Überblick siehe auch A. Mennel, Die Einkommensbesteuerung von Ehe und Familie im internationalen Vergleich, in: Deutsche Steuerzeitung, 66. Jahrgang, 1978, S. 323-329. Auch A. Mennel (bes. S. 329) betont dabei die Sonderstellung des deutschen Rechts mit seiner einseitigen "Ehefreundlichkeit".
2. Die steuerliche Behandlung
VOll
Ehe und Familie
259
Die Ehe kann aus der Sicht des Staates, dem keine moralischen Wertungen zustehen, nur zwei Funktionen haben, die eine steuerliche Bevorzugung rechtfertigen können: Sie ist Grundlage der Familie, d. h. Basis für die Geburt und Erziehung von Kindern und sie sichert die gegenseitige Betreuung und Fürsorge von Ehepartnern in Fällen, bei denen sonst staatliches Handeln notwendig würde. Mit der Möglichkeit der Ehescheidung ist aber die Fürsorge im Prinzip nicht mehr sehr viel anders ausgestaltet als bei einem unverheiratet lebenden Paar, bei dem keine gesetzliche und nur eine moralische, vielleicht auch eine vertragliche Fürsorgepflicht besteht 42 . Auch im moralisch völlig unbedenklichen Fall, wo eine Frau mit ihrer pflegebedürftigen Mutter in Lebens- und Fürsorgegemeinschaft lebt, hat der Gesetzgeber kein Splittingsverfahren vorgesehen, so daß das Fürsorgeargument die Einführung der Splittings bevorzugung nicht bewirkt haben kann. Eine nähere Analyse zeigt aber auch, daß im geltenden Recht der Splittingsvorteil nicht wegen der Existenz von Kindern eingeräumt worden sein kann: Falls einer der beiden Ehepartner stirbt oder durch Scheidung 43 aus der Familie ausscheidet, erhöht sich die tatsächliche Belastung des alleinerziehenden Elternteils wesentlich, da neben der Kindererziehung auch die Einkommenserzielung von einer einzigen Person übernommen werden muß. Gleichwohl verweigert der Gesetzgeber dem verwitweten Vater dreier Kinder mit weit höheren Aufwendungen für seine Kinder den Splittingsvorteil und gewährt ihm stattdessen einen geringfügigen Freibetrag. Die aufgeführten Beispiele zeigen, daß mit dem Ehegattensplitting eine unspezifische und unsystematische Bevorzugung der Ehe schlechthin gewährt wurde, die auf den Tatbestand der Familie, der im Mittelpunkt unserer eigenen Überlegungen steht, keinerlei Bezug nimmt 44 . Neben einer Begünstigung der Eheschließung dürfte die einzig nachweisbare Wirkung ein 42 Eine unsystematische rechtliche Behandlung zeigt sich bei den eheähnlichen Gemeinschaften im Steuer- und im Sozialhilferecht: Während im Steuerrecht (wo die Ehe bevorzugt ist) diese Gemeinschaften als irrelevant abgetan werden, sind sie im Sozialhilferecht (wo die alleinerziehende Mutter bessergestellt wird) zu berücksichtigen. 43 Im Fall der Unterhaltsverpflichtung hat der Gesetzgeber aufgrund eines Verfassungsgerichtsurteils ein "Realsplitting" geschaffen, wie es in fast allen anderen Ländern auch besteht. Dabei werden die Unterhaltsleistungen an den geschiedenen Partner (bis zu einer gewissen Grenze) von der Besteuerung freigelassen und vom Empranger versteuert. Zu den Wirkungen siehe R. Charlier, Familienbesteuerung ... , S. 497 ff. 44 Dies wurde auch in der Vergangenheit schon - ohne irgendeine Reaktion - kritisiert. Siehe etwa D. Pohmer, Einige Gesichtspunkte zur Familienbesteuerung, in: FA, N. F. Bd. 27, 1968, bes. S. 160. 17*
260
4. Kapitel: Der Ausgleich von Kinder- und Familienlasten
negativer Anreiz sein, bei hohem Einkommen des einen das Arbeitsangebot des anderen Ehepartners zu reduzieren 45 ,46. Eine Aufteilung des Sozial budgets nach Leistungskategorien (Tabelle 14) zeigt, daß die Familienleistungen in Deutschland zum überwiegenden Teil aus der steuerlichen Bevorzugung von Ehegatten bestehen. Bereits 1978 wurde für Ehegatten mehr als für Kinder aufgewendet und diese Entwicklung dürfte sich in der Zukunft eher verschärfen 47 . Die Vorteile des Ehegattensplittings wachsen mit der Bruttoeinkommensentwicklung gemäß der Aufkommenselastizität, während die sinkende Kinderzahl die Kinderleistungen selbst dann reduziert, wenn die Transfers pro Kind leicht steigen sollten. Damit ist ein Rahmen gesteckt für mögliche Reformen, wie wir sie im weiteren diskutieren wollen. Tabelle 14 Sozialbudget (in Mio. DM) 1970
1975
1978
1982
Kinder
16057
24965
27496
29222
Ehegatten
14737
22467
30551
46012
1480
2162
2447
2999
Leistungen für:
Mutterschaft
Quelle: Sozialbericht 1978, Tabelle 1-3, S. 167.
2.2. Die steuerliche Berücksichtigung von Kindern
Die Beachtung der steuerlichen Leistungsfähigkeit des Zensiten verlangt natürlich auch eine Berücksichtigung von zu versorgenden Kindern 48 . Bei der getrennten wie bei der gemeinsamen Veranlagung müßte wie im Fall der 45 Solange kein Kind in der Argumentation auftaucht, ist sogar das P. Musgrave vorgetragene Argument der Notwendigkeit einer Besteuerung der Hausfrauentätigkeit (P. Musgrave, Women and Taxation, Paper presented to the Congress of International Inst. of Public Finance, Taormina 1979) plausibel. 46 Zur Abschätzung Quantitativer Effekte des Splittings siehe J. A. Hausman, Labor Supply, in: How Taxes Affect Economic Behavior, hrsg. von H. J. Aaron und J. A. Pechman, Washington 1981, S. 27-72, bes. S. 55 ff. 47 V. Lietmeyer nennt für den Gesamtumfang des Splittingsvorteils geringere Zahlen als der Sozialbericht (22 Mrd. für 1981), allerdings beschränkt auf Arbeitnehmerhaushalte. 48 Neben der Einkommensteuer gibt es eine steuerliche Berücksichtigung von Kindern in der Vermögens- und der Erbschaftsteuer.
2. Die steuerliche Behandlung von Ehe und Familie
261
Ehefrau ein oder mehrere weitere Existenzminima von der Besteuerung freibleiben. Die folgenden Betrachtungen handeln deshalb nicht von einem Transfer an Kinder oder Familien, sondern vom Versuch, eine sinngemäße Formulierung der steuerlichen Leistungsfähigkeit von Eltern mit Kindern zu finden 49 . . Wählt man für die Ehegatten das Ehegattensplitting, sollte der Logik folgend bei Existenz von Kindern zum sogenannten "Familiensplitting" übergangen werden 50 : Danach sollte zur Ermittlung des zu versteuernden Einkommens das Gesamteinkommen einer Familie (unabhängig von wievielen Personen erzielt) durch die Anzahl der Köpfe geteilt und anschließend versteuert werden. Konsequenz einer solchen Regelung wäre eine noch stärkere Umverteilung zugunsten der oberen Einkommensklassen, da die Vervielfachung des bestehenden Splittingsvorteils sich nur (oder doch nahezu ausschließlich) bei hohen Einkommen auswirken kann 51 . Was gegen das Ehegattensplitting angeführt wurde. muß gegen das "Familiensplittung" in umso stärkerem Umfang sprechen. Gerade mit Leistungsfähigkeitsargumenten ist ein solches Vorgehen nicht zu begründen 52 , der Kontakt der Einkommensbesteuerung zur Einkommenserzielung geht bei diesem Vorgehen vollständig verloren. Es werden nicht mehr die Einkommensbezieher, sondern die Anzahl der Köpfe in einer Versorgungsgemeinschaft besteuert (die "Bedürfnisbefriedigungseinheiten" nach Haller), was mit dem Einkommensentstehungsprozeß nichts zu tun hat. Es wird implizit unterstellt, daß einem Neugeborenen der gleiche Einkommens- (und Verbrauchs-)anteil zusteht wie den Eltern, was nach dem Verlauf der bisherigen Argumentation als irreführend zu bezeichnen ist.
49 So auch der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Finanzen, Gutachten zur Neugestaltung ... , S. 523. 50 Ein Verfechter dieser Lösung ist H. Haller, Die Steuern, 2. Aufl., Tübingen 1971, bes. S. 67 f., oder ders., Die Berücksichtigung des Lebensunterhalts der Kinder und der Vorsorgeaufwendungen im Rahmen der Steuerreform - Zielsetzungen und Implikationen, in: ZfgSt, Bd. 129,1973, S. 504-534. Auch der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Finanzen hat sich für dieses Besteuerungsmodell ausgesprochen, was allerdings eine Umkehrung seiner früheren Empfehlungen zur Familienbesteuerung bedeutet. Siehe dazu ausführlich D. Pohmer, Einige Gesichts. punkte ... , S. 139 ff. 51 Praktisch eingeführt ist ein solches System innerhalb der OEeD nur in Frankreich und Luxemburg, wo Kinder einen halben Splittingfaktor erhalten. 52 Siehe dazu K. Littmann, Kritische Marginalien zur Kontroverse "Individuelle Veranlagung oder Haushaltsbesteuerung", in: FA, N. F. Bd. 27, 1968, S. 174-186.
262
4. Kapitel: Der Ausgleich von Kinder- und Familienlasten
Wir hatten uns im ersten Abschnitt der Arbeit auf die Argumentation verständigt, Kinder als Bestandteil der elterlichen Nutzenfunktion anzusehen: Eltern entscheiden, ob sie ein Kind wünschen oder glauben sich leisten zu können. Das Kind hat dabei noch keine Entscheidungsbefugnis und in diesem Sinn auch noch keine Rechtspersönlichkeit. Kinder werden dem elterlichen Haushalt hinzugefügt und verlassen ihn früher oder später. Um in Hallersehen Termini zu sprechen: Kinder stellen eine Bedürfnisbefriedigung der Eltern dar. Es ist ein wesentlicher Unterschied, ob man formuliert, daß bei Geburt eines Kindes die steuerliche Belastung des elterlichen Einkommens zu reduzieren sei, weil ein Kind mitversorgt werden muß, oder ob man formuliert, daß nun aus einem Einkommen die Bedürfnisbefriedigung weiterer Personen zu decken sei 53. Besonders aus Verteilungsgesichtspunkten hat das obige Verfahren anders als das gleichartige Ehegattensplitting keine ernsthafte Verwirklichungschance in Deutschland, was auch nicht bedauert werden sollte. Die öffentliche Diskussion hat sich in den letzten Jahren ganz im Gegenteil auf die unsozialen Wirkungen der damals praktizierten Kinderfreibetragsregelungen konzentriert: Bei progressivem Steuertarif "sparen" Bezieher höherer Einkommen bei einem Freibetrag mehr als Bezieher niedriger Einkommen, da sich die Entlastung gemäß dem Grenzsteuertarif auswirkt. Faktisch allerdings ergaben sich zu keiner Zeit Entlastungen, die nach irgend einem Kriterium gerechtfertigt hätten werden können 54. Die größere nominelle Entlastung bei höheren Einkommen an sich ist keineswegs Folge einer "pervertierten Progression", sondern die logische Konsequenz der Tatsache, daß der Grenzsteuersatz mit dem Einkommen zunimmt. Wer in positiver Richtung die Progression rechtfertigt, sollte als Äquivalent auch die Entlastungswirkung in umgekehrter Richtung akzeptieren 55 . So gesehen ist allein aus dem Aspekt der steuerlichen Leistungsfahigkeit eine Freibetragsregelung nicht unbedingt zu kritisieren. Der Gesetzgeber hat 1975 aus sozialpolitischen Gründen den progressiv wirkenden Frei53 Auch wenn sich dies im Lauf des Lebens schnell ändert, ist es nicht angemessen, ein Neugeborenes als eigenständige "Bedürfnisbefriedigungseinheit" zu verstehen. 54 So wurden in der Einkommensteuer des Jahres 1936 besonders dritte Kinder, allerdings nur bei sehr hohen Einkommen, begünstigt, während beispielsweise in der Regelung von 1954 durchgängig dritte Kinder am günstigsten abschnitten. Zu den Entlastungswirkungen 1932, 1936 und 1954 siehe die aufschlul3reichen Graphiken bei A. Jessen, Der Aufwand für Kinder ... , bes. S. 135 ff. 55 So auch die Mehrheitsmeinung des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Finanzen, Gutachten zur Reform der direkten Steuern, S. 38.
2. Die steuerliche Behandlung von Ehe und Familie
263
betrag durch einen für alle Einkommensbezieher gleichen Betrag ersetzt 56 und diesen unter dem Namen "Kindergeld" an die Stelle der vorherigen Regelung gesetzt. Das heutige Kindergeld ist eine steuerliche Maßnahme 57 , deren Ursprung aber so wenig sichtbar ist, daß es nicht verwundern darf, wenn in der steuerpolitischen Diskussion kurze Zeit nach ihrer Einführung bereits wieder ergänzende Steuerfreibetragsregelungen gefordert wurden. Die steuerliche Neuorientierung des Freibetrags (unter dem Namen Kindergeld) trat an die Stelle 58 des vorherigen "echten" Kindergelds, das eine Transfermaßnahme neben der steuerlichen Berücksichtigung der Kinder war. Konsequenz der Neuorientierung war folglich, daß nicht in jedem Fall eine Erhöhung der Transfers an Familien stattfand 59. Die kurze Geschichte des "Kindergelds neuer Art" ist ein Idealbeispiel partei- und steuerpolitischer Irrationalitäten: Unter anderem wegen des unklaren Charakters dieser Leistung (vielleicht auch wegen der Verschlechterung der Lage gut verdienender Eltern) wurde bereits nach wenigen Jahren eine zusätzliche Neueinführung des progressiven Kinderfreibetrags durch die Opposition über den Bundesrat initiiert 60 und in Form des sogenannten Kinderbetreuungsfreibetrags ab 1980 tatsächlich wieder eingeführt. Zur Neutralisierung dieser unlogischen Renovierung beschloß die Bundesregierung im Steuerentlastungsgesetz 1981 nun ihrerseits eine weitere Neuerung, den sogenannten Kindergrundfreibetrag 61 . Damit übernimmt zusätzlich 56 Eine solche Zusammenfassung von Freibetrag und Kindergeld zu einer einheitlichen Maßnahme wurde 1966 besonders von der Sozialenquetekommission gefordert. 57 Aus dieser Sicht könnte man auch schlußfolgern, wie sich das Kindergeld zeitlich zu entwickeln hätte: Die durchschnittliche Steuerbefreiung (an deren Stelle es trat) stiege mit den Einkommenszuwächsen, da die Steuerprogression verstärkt zugreift. Aus diesem Grund müßte ein steuerlich begründetes Kindergeld mit dem Grenzsteuersatz steigen, den der jeweils durchschnittliche Steuerzahler zu entrichten hat. 58 Mit der Aufhebung der "dualen Lösung" wurde allerdings nicht erreicht, daß nun in der Steuerveranlagung selbst die Kinderzahl irrelevant wurde. Die Kinderzahl bleibt nach wie vor relevant für die Höhe der sogenannten Vorsorgepauschale, den Haushaltsfreibetrag, die zumutbare Belastung nach § 33 EStG, den besonderen Pauschbetrag nach § 33a, Abs. I, EStG, Ausbildungsfreibeträge, Kirchensteuer, Sparförderung und Vermögensbildung. 59 Zu den Umverteilungswirkungen des Systemswechsels siehe R. Zeppernick, Die geplante Reform des Familienlastenausgleichs - Darstellung und kritische Würdigung, in: FA, N. F. Bd. 31, 1972/73, S. 266-285, bes. S. 269. 60 Siehe dazu Bundestagsdrucksache 8/3456. 61 Siehe dazu ausführlich BMF-Finanznachrichten 5/80, S. 2 f. Im Einkommensteuertarifwird für jedes Kind zusätzlich ein Freibetrag von 1600,- DMprogressions-
264
4. Kapitel: Der Ausgleich von Kinder- und familienlasten
zum Arbeitsamt das Finanzamt die Funktion des "Kindergeldzahlers", wobei die Absicht des Gesetzgebers ist, das Finanzamt aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung später vollständig mit dieser Regelung zu befassen 62 ,63. 3. Das Kindergeld in der familien politischen Diskussion 3. L Sozialpolitische Begründungen für die Gewährung von Kindergeld
Zur Rechtfertigung direkten Familientransfers werden in der wissenschaftlichen und politischen Diskussion in erster Linie sozialpolitische Begründungen herangezogen. Bei genauer Betrachtung lassen sich dabei zwei unterschiedliche Argumentationslinien erkennen, die wir im folgenden deshalb ausführlicher behandeln wollen. Die Sozialpolitik hat in erster Linie die Aufgabe, in Not geratene Bürger zu unterstützen. Neben Krankheit oder Invalidität kann man auch der Meinung sein, daß Geburt und Kindererziehung ein solches Ereignis sind, bei dem die Familien d. h. die Eltern "in Bedrängnis" geraten. So wird in unzähligen Veröffentlichungen argumentiert, daß sich durch die Geburt von Kindern das Lebensniveau der Eltern verringert und ein Vergleich der Pro-KopfEinkommen zeigt, daß selbst die Familien mit einem Nettoeinkommen des Vaters von 3.000,- DM mit einigen Kindern unter die "Alarmgrenze" des Sozialhilfeniveaus sinken 64 . Implizit oder explizit werden in dieser Argumentationsrichtung die Kinder als Kosten für Eltern 65 verstanden, mit denen sie "belastet" wurden. Folglich wird gefordert, die Familieneinkommen durch staatliche Unterstützung so weit anzuheben, daß im Vergleich zu gleichverdienenden Kinderlosen keine Benachteiligungentsteht 66 .• neutral (und auf beide Elternteile halbiert) mit einem Steuersatz von 22 % bei der Steuerschuld berücksichtigt. Konkret vermindert sich für alle Steuerzahler die monatliche Steuerlast um zweimal 15,- DM oder einmal 30,- DM. 62 Zu den praktischen Problemen eines solchen Übergangs siehe J. Giloy, Zur sogenannten Finanzamtslösung beim Kindergeld, in: Deutsche Steuerzeitung, 69. Jg., Nr. 11, 1981, S. 223-226. 63 Aufdiese Weise müßten auch die Länder über ihre Anteile am Aufkommen der Einkommensteuer zur Finanzierung des Familienlastenausgleichs mit beitragen. 64 Beispielhaft für viele Beiträge siehe A. Rollinger, Die Leistungen ... , S. 212 ff. 65 "Der Tatbestand, daß Kinder ein Kosten- und damit einzelwirtschaftlich gesehen ein ökonomischer Belastungsfaktor sind, gilt als statistisch erwiesen ... " (P. Diehl, Umverteilungswirkungen im Familienlastenausgleich, Meisenheim, 1971, S.
21).
66
"Hauptopfer des Systems sind demgegenüber die Familien mit gehobenem
3. Das Kindergeld in der familienpolitischen Diskussion
265
In einer solchen' Argumentation wird praktisch die intakte und wirtschaftlich gesunde Familie zur (unverschuldeten) Notsituation und zum Gegenstand staatlicher Unterstützung. Ein im Stil der klassischen Sozialpolitik als Hilfe für Notfälle gewährtes Kindergeld sollte sich allerdings in die bestehenden Regelungen der Sozialhilfe einpassen, wo die Bedürftigkeit eindeutig festgelegt ist. Konsequent durchdacht gäbe es dann gar keine Begründung mehr für ein eigenständiges Kindergeld neben der Sozialhilfe 67 , 68. Kindergeld wäre in diesem Fall eine Familienhilfe, die fällig wird, wenn das Markteinkommen einer Familie unter die Armutsgrenze sinkt 69 . Die Kennzeichnung einer derart normalen Situation wie der Geburt eines Kindes als "Sozialfall" kann und darf allerdings nicht befriedigen. Aus der Sicht unserer eigenen Argumentation wollen wir deshalb zeigen, warum pro-Kopf-Berechnungen des Familieneinkommens in der oben angesprochenen Form unwissenschaftlich sind und wie man stattdessen mikroökonomisch fundiert vorgehen sollte. Eine zweite Begründungsrichtung setzt deshalb auch nicht bei der wirtschaftlichen Lage der Eltern an, sondern bei der Situation der Kinder selbst. Direkte Familientransfers können als Mittel verstanden werden, die Startchancen der Kinder so weit wie möglich einander anzugleichen. Kein Kind ist für die konkreten Lebensverhältnisse verantwortlich, in denen es aufwachsen muß. Folglich sollte es auch nicht durch eine mangelnde finanzielle Basis in der Familie benachteiligt und in den Entwicklungsmöglichkeiten behindert werden. Dies kann umso eher begründet werden, als man die späteren Leistungen des jetzigen Kindes für die Allgemeinheit, oder negativ formuliert, die damit verbundene Reduktion späterer Schäden (falls die Sozialisation des Kindes ungenügend bliebe) bedenkt. Erkennt man das Primat der freien Elternentscheidung an, dann muß all das, was Eltern selbst ihren Kindern materiell und ideell zuwenden oder verHaushaltseinkommen, aber unterdurchschnittlichem Pro-Kopf-Einkommen. Ihr Lebenshaltungsniveau ist niedrig, aber die Steuerprogression erfaßt sie wie hochverdienende Kinderlose". (F. Oeter, Grenznutzen von Kindern ist zu gering, in: Arbeit und Sozialpolitik, Heft 2, 1979, S. 51). 67 So auch W. Schreiber, Kindergeld ... , S. 10. 68 Würde man das Kindergeld direkt in die Sozialhilfe einbauen, würden auch nicht die vorher beklagten Umstände eintreten können, daß Arbeitnehmer mit Kindern unter Zuschlag und Abzug bestimmter Kosten und Transfers (Wohngeld etc.) unter die Sozialhilfegrenze fallen und damit auf ihnen an sich zustehende Leistungen verzichten. 69 Der Logik folgend müßten alle auftretenden Kosten voll übernommen werden, jedenfalls was die Differenz zu dem in der Sozialhilfe festgelegten Mindestversorgungsniveau angeht.
266
4. Kapitel: Der Ausgleich von Kinder- und FamilienlasteIl
sagen, aktzeptiert werden. In der zweiten weit stärker als in der ersten Begründungsrichtung wird erkennbar, daß es bei den öffentlichen Leistungen für Kinder vor allem auf die Form und Qualität ankommt und daß mit Sozialisationshilfe für Kinder nicht automatisch Geldtransfers gemeint sein müssen. Um klären zu können, ob im Bevölkerungsrückgang Umfang und Struktur der staatlichen Leistungen für Kinder verändert werden müßten, sollte vorab darüber Klarheit bestehen, was denn konkret an Leistungen für Kinder bereitgestellt wird. Erst dann kann über ein "mehr" oder "weniger" sinnvoll entschieden werden.
3.2. Familieneinkommen und -wohlfahrt in Abhängigkeit von der Familiengröße
Ein Ansatzpunkt zur Begründung staatlicher Transfers ist der Verweis auf die Pro-Kopf-Einkommen von Familien und die daraus abzuleitende Bedürftigkeit. Eine solche Argumentation ist in der wissenschaftlichen Literatur weit verbreitet: Das Markteinkommen einer Familie erhöht sich mit zunehmender Kinderzahl nur geringfügig. Sieht man von staatlichen Umverteilungsmaßnahmen ab, führt allein die Tatsache, daß Eltern von drei Kindern im Durchschnitt etwa älter sind als Eltern eines Kindes (da die Geburt eines zweiten und dritten Kindes in einem höheren Lebensalter erfolgt), zu einem leicht ansteigenden Einkommen mit der KinderzahPo. Pro Kopf ergibt sich folglich mit steigender Kopfzahl in den Familien schnell eine Halbierung, Drittelung etc. des Einkommens bzw. Wohlstands. Die Absicht von Pro-Kopf-Berechnungen kann nur sein, den Wohlstand eines Familienvaters (und seiner Familie) zu ermessen an der Versorgung mit Marktgütern eines gleichverdienenden Ledigen. Eine Wohlstandsreduktion wird nur dann verneint, wenn jedes Familienmitglied das absolut gleiche Bündel an Marktgütern nachfragen könnte. Unabhängig davon, daß Eltern in der Regel einen anderen Warenkorb als Ledige bzw. Kinderlose präferieren, könnte ihr "Gesamtnutzen" nie dem der Kinderlosen entsprechen, solange sie als wesentlichen Bestandteil ihrer Nutzenfunktion die Kinder verwirklichen konnten. Der Ledige muß auf Erfüllung dieser Nutzenquelle verzichten und sie durch eine Urlaubsreise und andere finale Konsumgüter kompensieren 71. 70 Unklar muß (nach dem Stand des Wissens) bleiben, ob in Deutschland "Reiche" mehr oder weniger Kinder haben als "Arme". 71 Falls nun aber Kinder im Nutzenkalkül der Ledigen gar keinen (positiven) Stellenwert haben, ist ein Vergleich von Anfang an sinnlos.
3. Das Kindergeld in der familienpolitischen Diskussion
267
Über die tatsächliche Wohlfahrtsentwicklung eines Familienvaters können wir recht eindeutig schlußfolgern, wobei wir zur Verdeutlichung zuerst die Eheschließung und anschließend die Geburt von Kindern behandeln. Da die Eheschließung Konsequenz eines freiwilligen Wahlaktes ist, muß sie logischerweise eine Wohlfahrtserhöhung sein. Wir dürfen annehmen, der von uns betrachtete Bürger hätte ansonsten sein Einkommen anderen Verwendungszwecken zugeführt als der Versorgung einer zusätzlichen Person. Die Eheschließung stellt einen Fall offenbarter Präferenzen dar und wir dürfen nicht mehr konstatieren, daß der Wohlstand eines frisch verheirateten Arbeitnehmers nur mehr die Hälfte seines ledigen Kollegen sei 72 . In diesem Fall würde er sich sicherlich so schnell wie möglich wieder in den vorherigen Stand zurückversetzen. Diese Sichtweise ändert sich auch dann nicht, wenn Kinder in die Betrachtung einbezogen werden. Wer ein Kind zur Welt bringt, weil ihm dies als Lebensverwirklichung höher steht als ein alternatives Eigenheim, hat damit auch seine Einkommensverwendung festgelegt und zwar nicht nur im Hinblick auf die Kinderkosten. Viel wichtiger ist - wie ausführlich diskutiert die erzwungene Neuaufteilung auch des Elternkonsums, der Arbeits- oder Freizeit etc. Selbstverständlich würden sich die Eltern auch ein Kind und alle anderen ökonomischen Güter wünschen. Aber sobald wir von den Externalitäten durch die Kinder absehen, ist die Neuaufteilung der Ressourcen aufgrund der Wirksamkeit der verschiedenen Restriktionen nicht anders zu beurteilen als bei einem Eigenheim oder einem teuren Sportwagen. Ein Kind zu wählen heißt natürlich auch, die Güterkombination mit Kindern, zu der die höheren Mietaufwendungen oder Nahrungsausgaben gehören, gegenüber alternativen Güterkombinationen ohne Kinder zu präferieren. Entscheidend für eine solche Begründung ist, das Kind als Ergebnis einer bewußten und positiven Entscheidung der Eltern zu verstehen. Spätestens seitdem Familienplanung nahezu perfekt möglich ist, sollte eine andere Sichtweise im Normalfall nicht mehr möglich sein. Wer ein Kind aus weichen Gründen auch immer gewählt hat, darf nun nicht etwa beklagen, daß er sein Einkommen anders verwenden "muß" als ein Lediger. Wenn die Verfassung dazu zwingt, den Eltern die freie Wahl über die Familienbildung zu überlassen, ist damit gleichzeitig die Verantwortung impliziert, daß sich diese Eltern genau überlegen, ob sie die Belastungen der Kindererziehung tragen wollen und können, wobei die Lasten zum überwiegen72 Alleinstehende mögen entweder keine adäquaten Partner gefunden haben oder die "Nutzen" einer Ehe niedriger einschätzen als die "Kosten". Von den Personen, die eine Ehe schlossen, wissen wir aber, daß sie diese Entscheidung auch im Hinblick auf die Einkommensverwendung alternativer Verwendungen gegenüber präferieren.
268
4. Kapitel: Der Ausgleich von Kinder- und Familienlasten
den Teil außerhalb der finanziellen Sphäre liegen und durch Geld nicht auszugleichen sind. Daß ein Eigenheim einem Kind vorgezogen wird, ist nicht an sich unmoralisch, ebenso wie Kinderreichturn nicht immer eine Freude für die betroffenen Familien oder die Gesellschaft sein muß. Mit den hier gewählten Beispielen sollte keinesfalls die materielle Gleichheit von Kindern mit ökonomischen Gütern betont werden, die m. E. ganz im Gegenteil gerade über eine ausschließlich an rechen haften Exempeln der Kinderkosten orientierte Argumentationen viel zu stark die schwergewichtig außerökonomische Entscheidung von Eltern zugunsten oder ungunsten von Kindern beurteilt. Das Heranziehen von Pro-Kopf-Einkommen ist in der Sozialpolitik so weitverbreitet, daß wir sie noch von einer anderen Seite her betrachten wollen. Aus den im ersten Kapitel ausführlich behandelten Überlegungen der "neuen" Mikroökonomie stellt sich die Ermittlung von Pro-Kopf-Einkommen völlig anders dar: Wir hatten argumentiert, daß der Verzicht auf eigene Erwerbstätigkeit der Frau die monetären Ressourcen verringert, aber die verfügbare Zeit erhöht. Die im Haushalt nachgefragten Elemente des finalen Konsums werden nun in neuer Kombination auch in veränderter Technik der Haushaltsproduktion erzeugt. Gleichzeitig schafft die Familienbildung wie bereits betont - zahlreiche "economies of scale", z. B. die gemeinsame Benutzung aller Haushaltsgegenstände, wofür etwa das Telefon typisch sein mag. Ein ökonomisch "richtiges" neues Pro-Kopf-Einkommen nach der Eheschließung zweier vorher getrennt lebender Partner müßte alle diese Faktoren berücksichtigen und zum Geldeinkommen addieren. Es entsteht ein reales Pro-Kopf-Einkommen, wie es für die USA von Lazear und Michael unter Einbeziehung auch von Kindern berechnet wurde 73 . Im Fall der Eheschließung werden die realen Pro-Kopf-Einkommen folgendermaßen ermittelt: Ausgangspunkt sind die Ausgaben eines Erwachsenen in einem Einpersonenhaushalt, die ebenso gemessen werden können wie die Ausgaben für die gleichen Güterkategorien im Zweipersonenhaushalt. Vergleicht man die Ausgaben des Zweipersonenhaushalts mit denen zweier Alleinstehender in gleichen Lebensumständen (Alter, Wohnort, Ausbildung etc.), ergeben sich fast stets Differenzen. Da die Marktpreise für die betrachteten Marktgüter für die Ledigen gleich sind wie für das Ehepaar, ist für Lazear und Michael der veränderte Verbrauch Kennzeichen eines veränderten "Schatten"preises des mit diesen Marktgütern erzeugten finalen Konsums 74. In dieser Schattenpreisänderung drücken sich nun alle ange73 E. P. Lazear und R. T. Michael, Family Size and the Distribution of Real Per Capitallncomes, in: AER, Vol. 70, 1980, S. 91-107. 74 E. P. Lazear und R. T. Michael, Family Size ... , S. 92.
269
3. Das Kindergeld in der familienpolitischen Diskussion
sprochenen Skalenerträge, Veränderung der Haushaltsproduktionstechnologie etc. aus. Wird dieses Verfahren für alle Gütergruppen durchgeführt 75, kann man einen Deflator bilden, der das Nominal- in Realeinkommen übersetzt 76. In gleicher Weise können Kinder berücksichtigt werden, wobei in Abhängigkeit vom Alter der Kinder Untergruppen gebildet werden müssen, so daß detaillierte Verbrauchsstatistiken nötig sind, um die Elastizitäten der "Schattenpreise" zu messen. Die Autoren berechnen beträchtliche Veränderungen der Real- gegenüber den nominalen Pro-Kopf-Einkommen, wobei es hier nicht notwendig ist, die technischen Details der Schätzungen zu behandeln. Für ein Ehepaar mit einem Nominaleinkommen von insgesamt 10.000 Dollar errechnen sie das gleiche Pro-Kopf-Realeinkommen wie für einen Ledigen mit 9.430 Dollar 77 , was die "Erträge" der Eheschließung deutlich macht. Da für unsere Überlegungen besonders die Auswirkungen von Kindern wichtig sind, wollen wir unter Angabe der Medianwerte der US-amerikanischen Daten die Entwicklung des nominellen und "realen" Pro-Kopf-Einkommens vergleichen. Die Verhältnisse in Deutschland dürften sich etwa anders darstellen, so daß weniger die absoluten Daten interessant sind als die Größenordnungen (Tabelle 15): Tabelle 15
Nominelle und reale Pro-Kopf-Einkommen (Medianwerte) Einpers. Haushalt
Ehepaar
Ehep. 1 Kind
Ehep. 2 Kind
Ehep. 3 Kinder
Familieneinkommen
3324
4369
5566
6381
6576
Nom. Eink. pro Kopf
3324
2184
1855
1595
1315
3324
4119
4324
4348
3888
~ealeink.
pro Kopf
Quelle: E. P. Lazear und R. T. Michael, Family Size ... , a. a. 0., S. 100, Tabelle 3.
Die in Tabelle 15 vorgestellten Berechnungen führen zu einer völlig veränderten Beurteilung. Im Gegensatz zum nominellen Pro-Kopf-Einkommen (3.324 gegenüber 1.315 Dollars) sind die Realeinkommen selbst mit drei 75 So wird ermittelt, daß ein Ehepaar etwa 35 9'0 weniger für Ernährung (incl. Restaurants) ausgibt als zwei Alleinstehende gleichen Alters, Wohnorts, Rasse etc. 76 Da ein Ehepaar seine Zeit neu aufteilt und die Arbeitszeit und damit auch die Markteinkommen verändert, wird das tatsächliche Markteinkommen des Ehepaars verglichen mit einem Einkommen, das zwei Ledige bei für sie typischer Zeitallokation (und Arbeitszeit) bezogen hätten. 77 E. P. Lazear und R. T. Michael, Family Size ... , S. 99.
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4. Kapitel: Der Ausgleich von Kinder- und ramilienlasten
Kindern höher als bei Ledigen. Die Berücksichtigung der Arbeitsteilung innerhalb der Familie und der Ersparnisse bei Familienzuwachs erbringt im Gegensatz zu den "naiven" Pro-Kopf-Rechnungen das Ergebnis, daß Familien mit Kindern in gleicher (oder sogar besserer) Situation wie Ledige leben. 3.3. Die Aufwendungen für Kinder durch Eltern und Staat
Stellt man die Kinder selbst und ihre Sozialisationsbedingungen in den Mittelpunkt einer Begründung für direkte Familientransfers, so muß vor der Maßgabe eines "mehr" oder "weniger" an Kindergeld zuerst eine Bestandsaufnahme dessen stattfinden, was auch gegenwärtig von Staat und Familien für Kinder "aufgewendet" wird. Die Elternaufwendungen wurden ausführlich bereits im ersten Kapitel behandelt, wobei die Zahlenangaben des W issenschaftlichen Beirats als Anhaltspunkt dienten. Für eine Gesamtbetrachtung fehlen noch die staatlichen Aufwendungen für Kinder; auch hier kann die Beiratsargumentation zur Verdeutlichung der auftretenden Fragen herangezogen werden. Versucht man den Aufwendungen der Eltern diejenigen entgegenzustellen, die von der Allgemeinheit getragen werden, muß wie bei den privaten Kosten zuerst nach einem Meßkonzept der staatlichen Leistungen für die nachwachsende Generation gesucht werden. Dem vorher verwendeten Opportunitätskostenkonzept entspräche es, die Leistungen des Staates so hoch zu bewerten, wie den Eltern alternative private Kosten entstünden, hätten sie am Markt jene Leistungen nachfragen müssen, die jetzt der Staat diesen Kindern kostenlos gewährt. Dabei müßte unterstellt werden, daß das aktuelle Angebot zugleich dem gewünschten entspricht 78. Für die direkten und indirekten Transfers (wie Kindergeld oder Steuervorteile) sind die Meßprobleme gering. Weitaus schwerer fällt die Bewertung öffentlicher Leistungen für Kinder in Form öffentlicher bzw. meritorischer Güter. Die für Kinder wichtigsten und in vielen Bestandteilen ausschließlich für sie bestimmten Bereiche der meritorischen Güter sind der Bildungs- und der Gesundheitsbereich, aber auch die klassischen öffentlichen Güter (wie Verteidigung oder Rechtsschutz) kommen den Kindern mindestens anteilig zugute. Entsprechend der bei der Berechnung der Elternkosten folgenden Logik hätte der Beirat hier das gesamte Staatsbudget aller Gebietskörperschaften als Grundlage wählen müssen, um dann einzelne Ausgabekategorien wie die 78 Damit erweist sich unsere Frage gewissermaBen als Variante der finanzwissenschaftlichen lnzidenzanalyse.
3. Das Kindergeld in der familienpolitischen Diskussion
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Bildung ganz, die anderen Kategorien anteilig den Kindern zuzuordnen, wie er dies für Haushaltsausgaben und Zeitaufteilungen auch tat: Da Kinder genauso wie Erwachsene vom Rechtsschutz und von der Landesverteidigung profitieren, lassen sich für diese Vorgehensweise eher Begründungen finden als im Fall des Sportwagens bei den Elternaufwendungen. Der Beirat hingegen berücksichtigt nur die unmittelbar auf die Erziehung bezogenen Budgetposten wie Jugendhilfe, Schul- und Hochschulausgaben etc. und ermittelt als kollektive Leistungen für die heranwachsende Generation den Betrag von 45 Mrd. für alle Gebietskörperschaften ind. Sozialversicherung und Wohlfahrtsverbände 79. Als Fazit seiner Berechnungen kann er dann feststellen, daß der Staat zusammen mit den 37 Mrd. an Transfers (Kindergeld, Wohngeld, Steuervergünstigungen etc.) insgesamt 24 Prozent der gesamten Aufwendungen für die nachwachsende Generation trägt 80 . Selbst wenn wir von den praktisch unlösbaren Problemen einer Zuordnung der reinen öffentlichen Güter wie Rechtsschutz oder äußere Sicherheit absehen, genügt es nicht, die jährlichen Budgetausgaben z. B. für Bildung mit "den" staatlichen Leistungen gleichzusetzen. Wie es der Beirat am Beispiel der Zeitkosten für die Eltern selbst demonstrierte, muß nach den Preisen gefragt werden, die bei einem alternativen privaten Angebot dieser Leistungen entstanden wären. An den beiden besonders wichtigen Beispielen der Bildungsaufwendungen und dem Gesundheitsbereich (am ausgewählten Detail der kostenlosen Mitversicherung von Kindern in der gesetzlichen Krankenkasse) wollen wir kurz zeigen, daß ein Versuch einer marktgemäßen Bewertung zu völlig anderen Ergebnissen führen müßte. Versuchen wir, die kostenlose Mitversicherung von Kindern in der gesetzlichen Krankenkasse zu bewerten, stehen wir vor noch recht günstigen Ausgangsbedingungen. Im teilweise privaten Gesundheitssystem gibt es Preise, die wenigstens einigermaßen sinnvoll die relevanten Größenordnungen verdeutlichen können. Der kostenlose Versicherungsschutz für Kinder ist in einer vereinfachten Rechnung so viel wert, wie die Eltern ansonsten in einer Privatversicherung für diese Kinder zahlen müßten. Wir erkennen sofort, daß bereits diese Leistung das Kindergeld und ähnliche Transfers im Wert übersteigt. Dabei haben wir insofern die wahren Kosten noch weit unterschätzt, als wir von einem existierenden öffentlichen Gesundheitssystem (von den medizinischen Hochschulen über allgemeine Impfpflicht bis hin zu den Krankenhäusern) ausgingen. Müßte jede Gesundheitsmaßnahme auf 79
80
Zu den Details siehe: Leistungen für ... , Tabelle 13, S. 65. Ebenda, Tabelle 30, S. 102.
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4. Kapitel: Der Ausgleich von Kinder- und Familienlasten
einem privaten Markt finanziert werden, müßten auch die Kosten einer Privatversicherung deutlich ansteigen 8i . Wesentlich schwieriger und nach dem Stand der wissenschaftlichen Diskussion nicht zu beantworten ist die Frage, was das im wesentlichen für die Benutzer kostenlose öffentliche Bildungswesen wert ist. Die richtige Vergleichsgröße sind wiederum die Kosten, die ein privates und freiwilliges 82 Schul- und Hochschulsystem gleicher Qualität den Eltern auferlegen würde. Wollte man privat ein dem in Jahrzehnten gewachsenen Bildungssystem (von Kindergärten bis zu den Universitäten) gleichwertiges Angebot schaffen, müßten Kosten anfallen, die einen beträchtlichen Teil des Sozialprodukts ausmachen würden. Hinzu kämen vielfältige Konsequenzen auf die Verteilung der Lebenseinkommen, die zeigen, daß der Wert der existierenden Hochschulausbildung kaum mit den 10 Mrd. DM jährlicher Ausgaben für die Hochschulen gleichzusetzen ist. Bildung ist ein Bereich, dessen wichtigstes Charakteristikum die dabei auftretenden externen Effekte sind, da nicht zwischen den privaten und den gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen der Bildung zu trennen ist. Genau dies war ja der Grund, das Bildungssystem in Deutschland öffentlich zu gestalten. Es hat aber wenig Sinn, den Wert der Schulbildung (22 Mrd. DM Budgetausgaben) mit etwa 1.500 DM pro Jahr und Kind (bei 15 Mio. Kindern), d. h. monatlich mit etwa 100,- DM anzusetzen 83. Insgesamt zeigt sich, daß der Beirat - in diesem Punkt symptomatisch für viele ähnliche Beiträge - die Elternkosten zu hoch angesetzt und die Leistungen des Staates, beschränkt auf die unmittelbar evidenten Budgetausgaben, bei weitem unterschätzt. Dahinter könnte sich das Anliegen verbergen, dem Staat vorzurechnen, er möge doch seine Leistungen für Familien erhöhen, um zu einer "ausgewogeneren" Verteilung der Lasten zu kommen. Dies führt uns unmittelbar zu der Frage, welchen Anteil der gesamten Lasten die Allgemeinheit tragen sollte. 8i Dieses Argument zeigt, wie angemessenes ist, dem Kind als staatliche Gegenleistung die gesamte Staatstätigkeit und nicht etwa die jährlichen Ausgaben für Vorsorge und Behandlung (in Höhe von 200 Mio. DM) entgegenzuhalten, wie dies der Beirat tut. 82 Die alles dominierende Leistung des Staates ist in Wirklichkeit die Einflihrung der allgemeinen Schulpflicht gewesen, deren Bedeutung für Kinder nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. 83 Bevor man Werte auf dieser Basis verwendet, sollte man ganz auf Rechenexempel verzichten, denn in der öffentlichen Diskussion werden meist nur die Ergebnisse von Berechnungen diskutiert .und die Schwäche der implizierten Annahmen nicht mehr deutlich.
3. Das Kindergeld in der familienpolitischen Diskussion
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3.4. Die Festlegung eines "richtigen" staatlichen Transfersatzes
Auf der Suche nach der "richtigen" Transferhöhe können die bisher angestellten Kostenberechnungen, selbst wenn sie vollkommen wären, nur ein erster Schritt sein. Anschließend muß sich zwangsläufig die Frage stellen, zu welchem Prozentsatz und in welcher Form sich der Staat an den angenommenerweise richtig ermittelten Gesamtkosten beteiligen sollte. Hinzu kommt die Frage, ob es im Bevölkerungsrückgang einen besonderen Anlaß gibt, den staatlichen Anteil zu verändern. Die zweite Frage ist leichter und unabhängig von der ersten zu behandeln: Sowohl die direkten Kosten als auch die Opportunitätskosten eines Kindes in der Familie sind praktisch unabhängig von der Zahl der Kinder, die es gleichzeitig in allen anderen Familien gibt. Für ein sozialpolitisch motiviertes Kindergeld ist folglich eine Ausrichtung an der Geburtenrate nicht angemessen. Eine Familienhilfe, die bei der Planung und Geburt eines Kindes in Aussicht gestellt wurde, sollte in der relativ langen Erziehungsphase von fast zwei Jahrzehnten umso weniger Schwankungen unterliegen,je wichtiger sie (d. h. je größer ihr Kostenanteil) für die tatsächliche Versorgung eines bestimmten Kindes ist. Das unbedingte Primat der Elternentscheidung zu bejahen und nach einer staatlichen Unterstützung für das Ergebnis dieser Entscheidung zu rufen, muß sich nicht gegenseitig ausschließen. Sobald allerdings zusätzlich in Betracht gezogen wird, daß gegenwärtig eine Geburt in der Regel kein unbeeinflußbares Naturereignis, sondern Ergebnis von Handlungen und Plänen der Eltern ist, schließt sich die Forderung von selbst aus, der Staat sollten alle auftretenden Kosten (soweit sie monetär faßbar sind) übernehmen. Eine solch extreme Forderung wird in der familien politischen Diskussion auch einhellig abgelehnt. In der Mitte zwischen den als ungeeignet erkannten Extremen der totalen staatlichen Abstinenz und der vollen "Sozialisierung" der Kosten liegt der Anteilsatz von 50 Prozent, für den sich in den wissenschaftlichen Beiträgen, in denen ein bestimmter Satz überhaupt explizit gemacht wird, ein gewisser Schwerpunkt herausgebildet hat 84 : In manchen Veröffentlichungen wird statt eines Anteilsatzes ein bestimmter "richtiger" Transferbetrag (aufgespalten noch nach Alter und Parität der Kinder) genannt 85 , was über die 84 Siehe dazu etwa die Gesellschaft für Sozialen Fortschritt e. V., Die ökonomischen Grundlagen der Familie in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung, Berlin 1959, bes. S. 34 oder W. Albers, Transferzahlungen ... , S. 944. 85 So W. Albers, Zur Reform ... , S. 203. 18
Dinkel
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4. Kapitel: Der Ausgleich von Kinder- und Familienlasten
Nennung des Anteilsatzes hinaus die Schwäche in sich birgt, daß eine solche Zahlenangabe stets nur eine Momentaufnahme sein könnte und zusätzliche Aussagen über die zeitliche Entwicklung gemacht werden müßten. Ein Satz von durchschnittlich 50 Prozent ist auch dort, wo er erstmals auftauchte, nicht begründet worden, was für beliebige alternative Werte gleichermaßen gelten müßte. Aus der bisherigen Argumentation wurde klar, daß sich weder ein über Belastungsrechnungen objektivierbarer noch aus Erfahrungswerten plausibel zu machender Satz finden läßt. Selbst wenn in der Vergangenheit der Staat im Durchschnitt 50 Prozent der Kosten getragen haben sollte, hat dies für jeden Einzelfall ganz unterschiedliche Erfahrungen bedeutet. Da in jeder Familie andere Wertungen im Hinblick auf ihre privaten Kosten (und Nutzen) bestehen und da gleichzeitig ein korrektes Maß für den Gegenwert der staatlichen Leistungen auch nicht annähernd fühlbar zu machen ist, konnte und kann sich zudem auch nicht ein über Erfahrungsoder Gewöhnungswerte gewonnener Satz herausbilden. Die Vorstellung, daß es einen objektivierbaren staatlichen Belastungsanteil geben könnte, kann auf einer grundsätzlicheren Ebene kritisiert werden: Das Primat der Elternentscheidung betonen bedeutet zugleich, all das als gegeben zu akzeptieren, was die Eltern für ihre Kinder "aufwenden". Sobald aber die Gesamtkosten nicht fest sind, ist auch ein Bruchteil nicht festzumachen, es sei denn, man wäre bereit, die staatlichen Aufwendungen stets dann zu erhöhen, wenn auch die Elternaufwendungen steigen und vice versa. An dieser Stelle sollte erneut darauf hingewiesen werden, daß gerade für die Festlegung des Kindergelds auch eine Externalitätenbegründung nicht hilfreich sein kann, unabhängig davon, daß eine konkrete Ermittlung der Konsumexternalitäten vermutlich scheitern müßte. Da auch die Normkostenberechnungen der Sozialhilfe wegen der veränderten Ausgangslage nicht auf die Normalfamilie übertragbar sind, muß konstatiert werden, daß für ein Kindergeld kein objektivierbarer Tranfi/ersatz zu ermitteln ist 86 . Die Entscheidung muß folglich auf der politischen Ebene bleiben und an Fragen wie der Rangordnung alternativer staatlicher Ziele und der Verfügbarkeit knapper Mittel gemessen werden.
86 Dieser Tatbestand ist in wissenschaftlichen Beiträgen frühzeitig erkannt worden. Siehe dazu etwa H. Beckendorff, Der Ausgleich der Familienlasten?, Berlin 1953, S. 91 ff.
4. Kritische Erörterung familienpolitischer Reformvorschläge
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4. Kritische Erörterung familienpolitischer Reformvorschläge 4.1. Neue familienpolitische Instrumente: Eine Auswahl
Als Reaktion auf den Geburtenrückgang kam in letzten Jahren die familienpolitische Reformdiskussion (die mehrere Jahrzehnte lang fast ganz verstummt war) neu in Gang und eine ganze Reihe neuer - auch finanzpolitischer - Instrumente wurde in die öffentliche Diskussion eingeführt. Viele dieser neuen Instrumente laufen auf Variationen längst bekannter oder bereits bestehender (oder bestandener) Regelungen hinaus, so daß wir uns an dieser Stelle auf einige wenige Neuvorschläge beschränken, die auch in der tagespolitischen Diskussion eine gewisse Relevanz haben.
4.1.1. Familien- oder Erziehungsgeld Der im ersten Abschnitt der Arbeit vorgenommene Blick auf die Familienpolitik der DDR macht auf ein offensichtlich sehr erfolgreiches Instrument aufmerksam, die bezahlte Freistellung der Frauen von der Arbeit. In der DDR wurde sogar ohne eine Bezahlung des oder der Freistellungsjahre ein erstaunlicher "Erfolg" erzielt 87 , wenn - jedenfalls für die DDR - als Ziel dieser Maßnahmen ein Anstieg der Geburtenzahlen verstanden wird. Auf die Bundesrepublik übertragen könnte eine solche Maßnahme zwei Ziele haben: Zum einen könnte damit der Umstieg von Müttern bereits geborener Kinder von der Erwerbstätigen- auf die Mutterrolle gefördert werden, zum anderen könnte es wie in der DDR als Geburtenanreiz verstanden werden 88 • Bevor man allerdings die Einführung einer solchen Maßnahme auch für die Bundesrepublik diskutiert, sollte man sich im Klaren darüber sein, daß sich die Erfahrungen der DDR nicht in unsere gesellschafts- und sozialpolitische Ausgangssituation übertragen lassen. Aufgrund des Arbeitskräftemangels besteht dort ein ausgedehntes Verpflichtungssystem zur Er87 Mit gleichem Erfolg (90 '10 Wahrnehmung und Steigerung der Geburtenrate von 15,5 im Jahr 1959 auf 18,8 im Jahr 1973) wurde u. a. in der CSSR eine bezahlte Freistellung der Mütter von der Arbeit eingeführt. Symptomatisch ist, daß die Ausnutzung dieses Vorteils mit der Ausbildung der Mutter korreliert: Je höher die eigene Ausbildung, desto weniger wird von der Freistellungsmöglichkeit Gebrauch gemacht. Siehe dazu A. Heitlinger, Pro-Natalist Population Policies in Czechoslovakia, in: Population Studies, Vol. 30, 1976, S. 123-135, bes. S. 131 f. 88 Wenn auch nie expliziert, darf man dort, wo solche Maßnahmen propagiert werden, neben dem ersten auch das zweite Ziel mit am Werk sehen. 18*
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4. Kapitel: Der Ausgleich von Kinder- und Familienlasten
werbstätigkeit auch für Mütter, was sich in einer mehr als 80 %igen Erwerbsquote der Frauen niederschlägt. Während des Höhepunkts des Babybooms 1965 lag die Erwerbsquote der verheirateten Frauen in den relevanten Altersgruppen in der Bundesrepublik unterhalb von 40 Prozent, obwohl gerade zu dieser Zeit das Arbeitsplatzangebot auch für Frauen mindestens quantitativ groß war. Man kann also davon ausgehen, daß Frauen, die Kinder erziehen und in der Berufstätigkeit eine Belastung neben ihrer Hausfrauentätigkeit sehen, in der Bundesrepublik von Anfang an nicht erwerbstätig sind oder freiwillig ausscheiden 89. Wenn man nun den Übergang vom Berufs- zum Hausfrauenleben dadurch fördern will, daß über eine gewisse Zeit hinweg (bis zu mehreren Jahren) eine Transferzahlung als Lohnersatz gewährt wird, kann dies nur dort die beabsichtigte(n) Wirkung(en) haben, wo eine Frau nur oder hauptsächlich wegen finanzieller Engpässe ein gewünschtes Kind nicht gebar und erwerbstätig blieb. Diese Konstellation wird immer seltener, wie insgesamt die finanziellen Restriktionen relativ untergeordnet sind. Aus diesem Grund würde in der Bundesrepublik eine Erhöhung der Geburtenrate von Anfang an sehr viel weniger zu erwarten sein. Ein wichtiger Aspekt bei der DDR-Regelung ist, daß die Frauen durch ihr zeitweises Ausscheiden jedenfalls theoretisch in der beruflichen Hierarchie nicht zurückgestuft werden. Gerade dies ist unter den Bedingungen westlicher Arbeitsmärkte nicht realisierbar, denn kein Arbeitgeber kann gezwungen werden, betriebsfremde oder hindernde Abläufe zu akzeptieren. Man würde im Gegenteil mit der Reaktion rechnen müssen, daß sich Qualität und Entlohnung weiblicher Arbeitskräfte weiter verschlechtern. Es wäre für einen Arbeitgeber ein zu großes Risiko, wichtige Aufgaben Mitarbeitern anzuvertrauen, über deren zukünftige Anwesenheit zusätzliche Zweifel bestünden. Ein weiteres Argument zeigt, wie fremd der hier diskutierte Vorschlag unserem Sozialsystem sein muß: Die Tatsache, daß eine Mutter von drei Kindern eine solche Zahlung nicht erhalten sollte, gerade weil sie wegen Kindererziehung bei Geburt des dritten Kindes schon vorher nicht erwerbstätig war, muß nachgerade unsozial wirken. Wird das Erziehungsgeld an alle Mütter gezahlt, würde im Grunde nur ein neuer Name für das bereits bestehende Kindergeld speziell für Kleinstkinder gefunden. Es entstünde ein al89 Mit der verbesserten schulischen und beruflichen Ausbildung der Frauen steigt der Anteil der Frauen weiter, die in der Berufstätigkeit einen eigenständigen positiven Wert sehen. Man kann deshalb - wie diskutiert - nicht mehr unterscheiden, ob sie wegen des Berufs keine Kinder haben oder umgekehrt.
4. Kritische Erörterung familienpolitischer Relormvorschläge
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tersdifferenziertes Kindergeld mit höheren Leistungen dort, wo die traditionelle Familienpolitik niedrigere "Kosten" konstatiert. Von einer "Übertrittsprämie" in die Mutterrolle sollte ganz abgesehen werden, unabhängig davon, daß - wenn überhaupt - nur die relativ schlecht bezahlten und ausgebildeten Frauen angesprochen werden könnten. Auf eine positive Wirkung dieser Maßnahmen darf nicht etwa schon deshalb geschlossen werden, weil sich Eltern bei einer Befragung dafür aussprechen 9o . Selbst bei solchen Befragungen zeigt sich allerdings, daß die positive Bewertung finanzieller Maßnahmen vom Elterneinkommen abhängig ist und Wirkungen am ehesten noch bei Familien mit niedrigem Einkommen zu erwarten sind 91 . Man könnte natürlich auch das Blatt ganz umdrehen und eine Belohnung für "Nur-Mütter" in Form eines staatlichen Müttergehalts zahlen, das dann auf Nur-Mütter beschränkt sein müßte, um nicht wieder mit dem allgemeinen Kindergeld identisch zu sein. In diesem Fall würden alle Frauen diskriminiert, die neben der Kindererziehung noch berufstätig sein wollten oder müssen 92 • In Abb. 13 wurde erkennbar, daß gerade bei niedrigem Familieneinkommen die Mütter mit steigenden Kinderzahlen verstärkt erwerbstätig sind. Daß eine Mutter erwerbstätig wird oder bleibt, entspringt oft materiellen Zwängen und ist nicht schlechthin gleichzusetzen mit einer "Vernachlässigung der Pflichterfüllung" gegenüber Kindern. Die Beschränkung der Zahlung auf nichterwerbstätige Mütter (früher oft Einverdienerzulage oder Herdgeld genannt) würde dazu beitragen, ein überkommenes Bild der gesellschaftlichen und ökonomischen Rolle der Frau wiederherzustellen 93 . Ein Erziehungsgeld als Anreiz zum Verzicht auf Erwerbstätigkeit außer Hauses 94 müßte die Größenordnung der alternativen Markteinkommen ha90 So etwa argumentiert O. Hatzold, Bevölkerungsentwicklung als Ergebnis der W irtschafts- und Sozialpolitik, in: Probleme der Bevölkerungsökonomie ... , S. 145-166, bes. S. 165 f. 91 Ebenda, S. 166. 92 Eine Beschränkung des Familiengeldes aufnichterwerbstätige Frauen steht beispielsweise im Mittelpunkt des familienpolitischen Programms des Bundesverbandes der katholischen Arbeitnehmer-Bewegung Deutschlands. 93 Eine solche Sichtweise findet sich selbst bei sonst durchwegs "progressiven" Autoren: " ... daß der Sozialpolitiker Anlaß hat, Anreizmittel herbei zu wünschen, die (verheiratete, verwitwete, geschiedene und ledige) Mutter aufsichtsbedürftiger Kinder von der ganztätigen außerhäuslichen Erwerbsarbeit fernzuhalten." (W. Schreiber, Kindergeld ... , S. 75). 94 Nach der ausführlichen Diskussion des ersten Kapitals muß klar sein, daß eine Frau auch im Haushalt Einkommen schafft und mit der erwerbstätigen Frau auch ohne Transfers vergleichbar ist.
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ben, sollte es die vorher erzwungenermaßen erwerbstätigen Frauen nicht benachteiligen. Auch unter Hinzuziehen aller möglichen Quellen sind Leistungen in solchen Größenordnungen kaum finanzierbar. Die gleichzeitigen Reaktionen auf dem Arbeitsmarkt würde zudem ganze Industriezweige in der Existenzgrundlage gefahrden. Um in einem Wirtschafts- und Sozialsystem wie in der Bundesrepublik das zeitweise Ausscheiden von Müttern aus dem Erwerbsleben zugunsten der Kindererziehung zu fördern, sollte besser die spätere Rückintegration der Mütter in den Erwerbsprozeß unterstützt und die wegen mangelnder Berufspraxis entstandenen Nachteile durch Aus- und Weiterbildung beseitigt werden. An dieser Stelle muß allerdings ein Punkt betont werden, der bei vielen wohlgemeinten Vorschlägen außer Betracht bleibt: In den nächsten Jahrzehnten wird nicht das Arbeitsangebot limitierender Faktor der wirtschaftlichen Entwicklung sein. Sollten die Überlegungen der im Zusammenhang mit den Auswirkungen der Bevölkerungs- auf die Wirtschaftsentwicklung behandelten Stagnationstheorie wenigstens ansatzweise richtig sein, dürften in den nächsten Jahrzehnten eher die Arbeitsplätze als die Arbeitskräfte knapp werden. In einer solchen Lage könnten Anstrengungen zur Rückintegration allgemeinen arbeitsmarktpolitischen Zielen zuwiderlaufen.
4.1.2 Heirats- und Familiengründungsdarlehen Vor einigen Jahren wurde in verschiedenen Bundesländern eine Maß nah me aus der Vorkriegszeit wiederentdeckt, die sogenannten Heirats- oder Familiengründungsdarlehen. Zum Jahresbeginn 1979 bestanden solche Regelungen in sechs Bundesländern, wobei sich überraschenderweise die Details der Regelungen von Land zu Land beträchtlich unterscheiden 95 . Gemeinsames Kriterium ist allein, daß dieses Darlehen bei Heirat und/oder Geburt von Kindern gewährt werden, daß sie zinsgünstig oder wie in Berlin zinslos sind und daß bei Geburt von Kindern Teile des vorherigen Kredits in unterschiedlicher Höhe durch Tilgungszuschüsse der Länder ersetzt werden. Die Höhe der Darlehen schwankt zwischen 3.000,- und 10.000,- DM, die Inanspruchnahme ist teilweise an Einkommensgrenzen gebunden und jeweils unterschiedliche Personengruppen (Höchstalter, Erstheirat, Wohnsitzregelungen) sind anspruchsberechtigt. In Bayern müssen durch die Antrag95 Als Überblick über die Detailfragen siehe D. B. Rein und R. Schulz,tamiliengründungsdarlehen - Eine vergleichende Analyse, in: Zeitschrift für Bevblkerungswissenschaft, 4. Jg., 1978, S. 115-148.
4. Kritische Erörterung familienpolitischer Reformvorschläge
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steiler die banküblichen Sicherheiten beigebracht werden und die staatliche Leistung besteht aus einer dreiprozentigen Zinsreduktion. Während in Berlin mit dem dritten Kind das gesamte Darlehen von DM 5.000,- nachgelassen wird, beginnt in Rheinland-Pfalz mit dem dritten Kind überhaupt erst eine Reduktion. Ohne die Regelungen im Detail zu bewerten, kann - wenn überhaupt - nur eine bundeseinheitliche Ausgestaltung mit überschaubaren und unbürokratischen Detailregelungen angemessen sein. Ein solches Darlehen kann zwei Ziele haben: Es kann die bei Eheschließung oder Geburt von Kindern auftretenden besonderen Lasten (Anschaffung von Gegenständen etc.) mildern oder es kann, was bei den Tilgungserlaßregelungen deutlich erkennbar wird, pronatalen Charakter haben. Sollte das erstgenannte Ziel im Mittelpunkt stehen, so wird ein Kredit von DM 5.000,- mit banküblichen Sicherheiten (!) und Tilgungsregelungen wie in Bayern kaum eine sinnvolle Hilfe sein. Die dreiprozentige Zinsersparnis in Höhe von DM 150,- pro Jahr rechtfertigt kaum den Verwaltungsaufwand. Insgesamt gilt zu bedenken, daß bei Eintritt in die Ehe in aller Regel beide Partner erwerbstätig sind (oft auch noch bis zur Geburt des ersten Kindes), so daß ein monetärer Zusatzbedarf der potentiellen Eltern nicht zu diesem Zeitpunkt, sondern erst sehr viel später entsteht. Bereits in einer Untersuchung von Schmucker 96 aus dem Jahr 1961 (in der Zwischenzeit dürften sich die Einkommensrelationen zugunsten junger Erwerbstätiger noch verbessert haben) wurde gezeigt, daß die Lebensphase bis etwa zum 30. Lebensjahr gekennzeichnet ist von einer deutlichen Überschuß- und Ersparnisbildung. Von der sozialpolitischen Seite her erweisen sich die Darlehen jedenfalls in der existierenden Form faktisch als unnötig. Sie reizen u. U. zum falschen Zeitpunkt den Kaufvon langlebigen Konsumgütern (wie z. B. von Automobilen) an, so daß die Inanspruchnahme der Darlehen noch kein Kriterium für deren Erfolg ist. Die Ratio solcher Regelungen dürfte somit in einer pronatalen Begründung liegen. Selbstverständlich reicht ein Kreditnachlaß und damit ein "Geschenk" von DM 2.000,- nicht aus, eine Familie zu veranlassen, sich für ein an sich nicht gewünschtes Kind zu entscheiden. Wie wir ausführlich behandelten, sollten Eltern besser nicht auf solche kurzfristigen Anreize reagieren. Wird die Entscheidung zugunsten von Kindern wirklich nur wegen des finanziellen Vorteils getroffen, müßten sie in den folgenden zwanzig Jahren bei den vielfaltigen Aufgaben, Sorgen und Aufwendungen erkennen, daß jedenfalls dieses Kalkül sich als "Fehlinvestition" erwiesen hat. Ist die Leistung nur einmal insgesamt akzeptiert, kann aus einem bereits eingeführten 96
H. Schmucker, Die ökonomische Lage ... , S. 30.
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Vorteil von DM 2.000,- recht schnell ein Beitrag von DM 10.000,- und mehr gemacht werden. Aus diesem Grund müssen selbst gegen die "harmlose" Gewährung von geringen Vorteilen Einwände erhoben werden, da dies nur allzu leicht ein Einstieg in andere Größenordnungen sein könnte. Insgesamt besteht für eine Maßnahme, wie sie hier geschildert wurde, weder eine Notwendigkeit auf der Seite der Empfanger , noch eine sinnvolle Begründung auf der Vergabeseite und solche Zahlungen sollten deshalb unterbleiben.
4.1.3. Das Kindergeld in kapitalisierter Form Bei der Entscheidung über ein (weiteres) Kind kann ein vorausschauendes Elternpaar den zukünftigen Strom an Kindergeld kapitalisieren, wenn es einen Marktzinssatz zugrundelegt und Annahmen über die zukünftige Kindergeldhöhe einbezieht. Insofern erscheint ein Vorschlag, das Kindergeld alternativ bereits bei der Geburt in kapitalisierter Form auszuzahlen 97, nicht unbedingt als eine wesentliche Veränderung. Faktisch allerdings würde die Kapitalisierung des Kindergelds ein ganz neues Instrument entstehen lassen. Allein in seinem monetären Rahmen könnte dieses Instrument fast alles übertreffen, was selbst in Staaten mit absolut pronataler Einstellung in diesem Bereich getan wird. Wir wollen dies an einem einfachen Beispiel zeigen: Setzen wir ein monatliches Kindergeld von DM 50,- an, errechnet sich ein jährlicher Gegenwert von DM 600,-. Rechnet man mit einer 5 %igen Steigerung analog zu allgemeinen Kostensteigerungen und wird auf eine Abzinsung verzichtet (wofür Befürworter solcher Vorschläge sicher gute Gründe fanden), ergibt sich für ein erstes Kind je nach Dauer der Zahlung ein Beitrag von DM 15.000,- bis DM 20.000,-, der sich für Kinder höherer Parität auf ein Vielfaches steigern würde. Bei einer Kapitalisierung geht viel stärker als bei einer monatlichen Zahlung die Erkenntnis verloren, daß es sich bei Kindergeld um eine Leistung für das betreffende Kind handelt. Es gibt kaum eine sinnvolle sofortige Verwendung eines solch großen Geldbetrages zugunsten eines Kindes, es sei denn, die Eltern sparen den Betrag und verwenden ihn Schritt für Schritt. Dann aber würde man besser bei der gegenwärtigen Regelung des monatlichen Kindergeldes bleiben, die diesem Verfahren ja gen au entspricht. Jeder gleichzeitige moralische Appell an die Eltern, wie sie mit dem Vermögen umzugehen hätten, müßte wirkungslos bleiben oder die rechtsstaat97 Ein solcher Vorschlag wurde beispielsweise durch ein Programm der CSU zur Familienförderung 1979 zur Diskussion gestellt.
4. Kritische Erörterung familienpolitischer Reformvorschläge
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lichen Grenzen (Eigentumsgarantie etc.) überschreiten, was man für diesen Vorschlag zur Gänze befürchten muß. Da eine zweckmäßige Verwendung dieser relativ großen Geldbeträge nicht gesichert wäre 98 , müßten neue permanente Familienhilfen an die Stelle des alten Kindergeldes treten 99 . Für Familien, bei denen die Einkommensrestriktion knapper als die Zeitrestriktion ist, haben einmalig gezahlte große Geldbeträge für Geburten mit großer Wahrscheinlichkeit geburtenfördernde Wirkungen. Besonders wenn die Staffelung erhalten bliebe, für Kinder höherer Ordnung ein noch höheres Kindergeld zu zahlen, wäre leicht der Punkt erreicht, wo die DM 40.000,- bis 50.000,- für das vierte Kind einen ertragreicheren "Ressourceneinsatz" darstellen als beispielsweise der Einsatz des Faktors Arbeit. Da dieses Kindergeld nicht etwa gegen Sozialhilfezahlungen gegengerechnet werden dürfte (es ergäben sich negative Verteilungswirkungen !) könnte die Optimierung der "Haushaltsproduktionsfunktion" schnell an einen Punkt führen, wo sich eine Familie ganz auf die Kindererzeugung bei gleichzeitiger Minimierung der "Aufzuchtskosten" konzentriert. Angesichts weitverbreiteter Minderschätzungen zukünftiger Bedürfnisse könnte auch das Argument nicht zählen, daß ja in Wahrheit das kapitalisierte Kindergeld den jetzt bestehenden Leistungen äquivalent ist. Stärker als für alle anderen diskutierten und schon bestehenden Instrumente muß im Fall des kapitalisierten Kindergeldes konstatiert werden, daß es zu den in Abb. 33 als wohlfahrtsökonomisch bedenklich eingestuften Maßnahmen gehört und abzulehnen ist. 4.2. Erhöhung der Transfers oder verstärktes Angebot öffentlicher Güter: Versuch einer Bewertung
Eine Grundschwäche auch der wissenschaftlichen Behandlung von Familienfragen ist der Umstand, daß fast ausschließlich die monetären Transfers (Kindergeld u. ä. Maßnahmen) betont werden, wenn es darum geht, den staatlichen Beitrag für die Erziehung der heranwachsenden Generation zu 98 Für den Fall etwa, daß ein unverantwortlicher Vater das kapitalisierte Kindergeld durch eine sofortige Weltreise "monetarisieren" würde, darf ein Sozialstaat dem betroffenen unterversorgten Kind nicht mit dem Hinweis Hilfe verweigern, der vielleicht inzwischen geschiedene Vater habe die notwendigen Mittel bereits verbraucht und das Kind möge sich mit seinen Ansprüchen dem Vater gegenüber rechtlich durchsetzen. 99 Würde den potentiellen Eltern stattdessen ein Eigenheim oder eine Eigentumswohnung als Anreiz gewährt, wäre im Vergleich zum kapitalisierten Kindergeld nur die eine positive Konsequenz entstanden, daß eine "kinderfeindliche" Verwendung dieses Vermögens erschwert wäre.
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bewerten 100. Bei unvoreingenommener Betrachtung erweist sich, daß in Wahrheit das Schwergewicht der staatlichen Leistungen im Bereich der öffentlichen Güter (unter Einschluß dessen, was in der Finanzwissenschaft als meritorische Güter klassifiziert wird) liegt, jedenfalls wenn man versuchen wollte, dafür ein marktmäßiges Äquivalent zu bestimmen. Sobald die staatliche Förderung der Kindererziehung in erster Linie das Wohl der Kinder selbst anzielt, kann die Alternative nicht mehr nur lauten, ob mehr oder weniger Kindergeld bezahlt werden sollte. Es ist vielmehr zu fragen, wieviele Leistungen in Form von öffentlichen Gütern und wieviele in Form monetärer Transfers an die Familien erbracht werden sollten. Was die Gesamthöhe aller staatlichen Leistungen angeht, für die sich wie bereits bei den Transfers keine eindeutige Marke finden läßt, sollte der Grundsatz gelten, daß der Staat jedes einzelne Kind in dem Sinne gleich behandelt, daß es nicht darauf ankommen darf, wieviele andere Kinder zur gleichen Zeit noch leben. Der grundrechtliche Schutz des Lebens und die Sorge um das Wohl der nachwachsenden Generation müssen unabhängig davon Bestand haben, ob die Reproduktionsrate eines bestimmten Jahres bei 0,8 oder bei 1,2 liegt. Direkte Familientransfers wie das Kindergeld wirken stets als Veränderung des Familienbudgets und haben keinen unmittelbaren Bezug zur konkreten Versorgungslage eines bestimmten Kindes. Wer Kindergeld zahlt, meint damit stets Familienhilfe, was allerdings keinesfalls negativ oder ablehnend verstanden werden sollte, da ja auch die Eltern die Kosten und Belastungen der Erziehung von Kindern tragen müssen. Kindergeld kommt dem Kind selbst nur zu dem Anteil zu, den es an den gesamten Haushaltsausgaben hat. Die Budgeterweiterung aufgrund der direkten Familientransfers muß nun nicht einmal im Normalfall den Budgetanteil des Kindes erhöhen. In der Regel haben Eltern bestimmte Vorstellungen über die gemäße Form der Kinderaufwendungen, die von der konkreten Kindergeldhöhe weitgehend unabhängig sind. Daraus folgt, daß von einer Erhöhung der Familientransfers auch nicht einmal schwergewichtig der finale Konsum der Kinder beeinflußt wird. In Grenzfällen kann selbst oder vor allem (?) eine beträchtliche Erhöhung (von DM 50,- auf beispielsweise DM 300,-) die konkrete Versorgung des Kindes verschlechtern, wenn nun aufgrund des Einkommensanstiegs neue Konsumaktivitäten eröffnet werden (z. B. der Kauf eines PKW), die vorher nicht möglich waren und wo deshalb auch absolut 100 Einer der wenigen Beiträge zur Familienpolitik, in dem die Dualität der Leistungen von Einkommensübertragungen und öffentlichen Gütern erkannt und verteidigt wird, ist M. Wingen, Familienpolitik - Konzession oder Konzeption?, Bachern 1966, S. 87ff.
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mehr für die Kinder aufgewandt wurde. Dieser Tatbestand ist weder an sich negativ noch unter realistischen Bedingungen zu verändern, denn jede Form der Verwendungsauflage muß aus vielfaltigen Gründen ausscheiden. Weitaus direkter auf das Wohl der Kinder selbst gerichtet sind die staatlichen Leistungen, die in Form öffentlicher (bzw. meritorischer) Güter gewährt werden. Die wichtigsten Bereiche sind der Rechtsschutz, der Bildungs- und der Gesundheitsbereich. Oft genug handelt es sich dabei um Zwangsentscheidungen. Sowohl Bildung als auch Gesundheitsfür- und -vorsorge wären privat organisierbar, aber der Staat erzwingt (Beispiel: Impfpflicht oder Schulzwang) zum Wohle der Kinder Leistungen, die privat nicht in ausreichendem Maß nachgefragt würden, sei es z. B., daß Eltern sich eine Schulausbildung all ihrer Kinder nicht leisten könnten oder dies nicht wollten. Auch im Bereich des Rechtsschutzes gibt es weite Bereiche, die zugunsten der schutzlosen Kinder gegen die Allgemeinheit und an mancher Stelle auch gegen die Eltern installiert wurden. Die Leistungen für Kinder in Form kostenlosen öffentlichen Angebots schlagen sich oft nicht einmal im Staats budget nieder und entziehen sich damit endgültig jeder "Kostenschätzung". Ein gutes Beispiel für eine und kinder- und familienfreundliche Gesetzgebung ist das sogenannte Unterhaltskosten-Vorschußgesetz : Danach wird alleinerziehenden Elternteilen, die ledig, geschieden oder verwitwet sind, ein sofortiger und ständiger U nterhaltskostenvorschuß gezahlt, wenn ein gegenüber Dritten bestehender Unterhaltsanspruch für Kinder bis zu sechs Jahren nicht zur Verfügung steht. In Fällen, wo es dem Staat gelingt, einen Großteil der Unterhaltsansprüche an den Stellen (bei den Vätern, Versicherungen etc.) einzutreiben, bei denen die Verpflichtung rechtlich besteht, wurde mit nur geringen Kosten sehr wirksam Hilfe geleistet 101. Der über Generationen entstandene öffentliche Kapitalstock zugunsten von Kindern verändert sich nur relativ langsam und reagiert kaum auf einen Bevölkerungs- oder Geburtenrückgang. In allen angesprochenen Bereichen der öffentlichen Leistungen liegen sowohl die benötigten Einrichtungen (Gebäude etc.) als auch das in der Regel beamtete Personal für lange Zeit fest. Selbst wenn die Nettoinvestitionen stark sinken sollten, steigt das Gesamtangebot öffentlicher Leistungen weiter oder bleibt wenigstens in seinem Umfang erhalten. Sinken die Kinderzahlen, so ergibt sich automatisch eine Verbesserung vieler Leistungen pro Kind, was besonders im Bildungsbereich (mit sinkenden Klassenstärken etc.) offenkundig wird lO2 • 101 Dieses Beispiel mag dafür stehen, daß eine rein rechenhafte Analyse vielfach an den wahren Fragen der Familien und Kinder vorbeigeht.
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4. Kapitel: Der Ausgleich von Kinder- und Familienlasten
Fordert man bei schrumpfender Bevölkerung gleichzeitig noch real steigende Geldtransfers, werden einzelne Kinder in diesen Altersjahrgängen gegenüber denjenigen, die gleichzeitig relativ viele Altersgenossen hatten, individuell unbegründet bevorzugt. Dies gilt vor allem, wenn beispielsweise Fragen der Zusatzlasten der Alterssicherung (die man als Argument auch hier hätte vorbringen können) im Sinne unseres vorangegangenen Vorschlags bereits internalisiert wurden. Auch aus diesem Grund sollte die Forderung nach den richtigen (höheren?) Transfers unabhängig von der aktuellen Geburtenrate begründet und auch unter jeder finanziellen Ausgangssituation gewährt werden können. Eine Begründung für - vielleicht noch im Umgang gestiegene - direkte staatliche Transfers muß mehr oder weniger unabhängig von der Erfahrung des Geburtenrückgangs gefunden werden, vor allem dann, wenn solche Mittel nicht als geburtenfördernde Anreize verstanden werden sollen. Auch hier wie bei der Alterssicherung könnte man allerdings argumentieren, daß dieses Ziel zwar nicht angesteuert werden muß, aber als Nebenwirkung durchaus zu akzeptieren seP03. Dabei sollte allerdings (wie bereits betont) vermieden werden, Transfers nur für zusätzliche Geburten zu gewähren. Auch wenn öffentliche Güter in vielen Aspekten direkter die Kinder erreichen, kann nun nicht geschlußfolgert werden, monetäre Transfers zugunsten eines verstärkten Angebots an öffentlichen Gütern zu reduzieren. Dies widerspräche nicht nur weitverbreiteten öffentlichen Forderungen diametral 104 , sondern auch der Erfahrung, daß Kinder letztlich eben doch innerhalb der Familie leben und c;laß folglich die Familie als ganzes eines Mindestschutzes bedarf. Wer die Sozialisationschancen für Kinder verbessern will, muß deshalb auch das unmittelbare Lebensumfeld der Kinder fördern. Dies gilt ganz besonders in Fällen, wo bei der Familienplanung nicht vorhergesehene oder vorhersehbare Umstände wie Tod eines Ehepartners oder Schei102 Wie bereits betont kann die resultierende qualitative Verbesserung der Bildung auch gerechtfertigt werden mit den zusätzlichen Aufgaben, vor denen die relativ kleinen Alterskohorten später stehen. 103 Die Tatsache, daß die Kinderzahlen heute (zu einem Zeitpunkt eines bisher unbekannten materiellen Wohlstandes) besonders niedrig sind, widerspricht nicht grundSätzlich der Aussage, daß eine solche Wirkung denkbar ist. Zum einen sind erstmals die Kinderzahlen wirklich durch die Eltern lenkbar und zum anderen muß materieller Wohlstand nicht bedeuten, daß nun materielle Gesichtspunkte weniger wichtig sein sollten. 104 Im Sinne des "allgemeinen Tenors" muß man wohl auch die Ausführung des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium der Finanzen (Gutachten zur ... , S. 520 f.) verstanden werden, der vor einer "Ausweitung in Form unentgeltlicher öffentlicher Leistungen" warnt.
4. Kritische Erörterung familienpolitischer Reformvorschläge
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dung eintreten. In der nicht (mehr) vollständigen Familie werden Einkommenserzielung und Kindererziehung nur sehr viel schwerer miteinander vereinbar. Auch die Situation alleinerziehender Mütter oder Väter sollte nicht automatisch mit dem Eintritt eines Sozialfalls gleichgesetzt und Familienhilfe auf die Sozialhilfe beschränkt bzw. mit ihr gleichgesetzt werden. Die Abwägung aller Argumente zeigt, daß unabhängig von allen von den Eltern selbst für Kinder aufgewendeten Geldbeträgen nicht etwa zwingend abzuleiten ist, daß der Staat tatsächlich monetäre Transfers in dieser oder jener exakten Höhe leisten muß. In der öffentlichen und selbst der wissenschaftlichen Beurteilung dieser Frage dominiert in Wirklichkeit die jeweilige subjektive Sichtweise des Betrachters. Dies zeigte sich vor allem bei den wenig überzeugenden Kostenberechnungen für Kinder, mit denen wir uns ausführlich auseinandersetzten, wobei gerade die an scheinbaren ökonomischen Sachzwängen anknüpfende Begründung zurückgewiesen werden mußte. Die Höhe der direkten Familientransfers muß auch im Bevölkerungsrückgang Gegenstand der politischen Willensbildung sein und eine ökonomische Analyse kann hier nur relativ wenig konkrete Anhaltspunkte liefern. Der Bevölkerungsrückgang erzwingt für sich gesehen keine Erhöhung der staatlichen Leistungen in ihrer Gesamtheit. Durch Umstrukturierungen der bereits existierenden Leistungen kann gleichwohl für die direkte Transfermaßnahme Kindergeld eine Verbesserung entstehen. Ein solches Kindergeld müßte dann aber alle vielfach verstreuten und völlig unkoordinierten Familiendifferenzierungen staatlicher Transfers von der Sparförderung bis zum Heizkostenzuschuß ersetzen. Zwar darf und wird es weiterhin den staatlichen Wunsch geben, dieses oder jenes Tun seiner Bürger zu unterstützen oder zu behindern; alles was die Familie und deren Situation angeht, sollte aber davon abgetrennt und so weit als möglich zusammengefaßt werden, womit der Übergang zu der Frage geschaffen ist, wie denn ein Familienlastenausgleich nach den bisher formulierten Zielen aussehen könnte bzw. sollte. Auch im Rahmen unserer Grundposition kann eine Erhöhung der Familien transfers positiv bewertet werden, selbst wenn sich ein konkreter Satz nicht ableiten läßt. Da wir eine konsequent gemeinsame Sicht aller Familienleistungen bereits an mehreren Stellen forderten, sollte eine Neuorientierung sowohl die Besteuerung als auch die direkten Transfers umfassen. In diesem Rahmen wollen wir eine kostenneutrale Lösung vorschlagen, die vom Grundsatz ausgeht, daß die staatliche Familienpolitik im Gefolge eines Geburtenrückgangs stärker von einer Förderung der Institution Ehe auf die der Familie verlagert werden sollte.
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4. Kapitel: Der Ausgleich von Kinder- und Familienlasten
5. Ein Vorschlag zur Reform des Familienlastenausgleichs In den vorangegangenen Abschnitten wurden sowohl mögliche Ziele als auch konkrete Ausgestaltungsformen des Familienlastenausgleichs dargestellt. Besonders bei der Besteuerung von Ehe und Familie wurden dabei Inkonsequenzen festgestellt, die eine Neugestaltung aus familienpolitischer Sicht erforderlich erscheinen lassen. Bei einer Diskussion von Wirkungsweise und Zielen der direkten Familientransfers wurde erkannt, daß es keinen (objektiven) Transfersatz gibt, der sich wissenschaftlich begründen ließe. Vor allem die Argumentation mit den "Kosten" von Kindern ergab, daß sich diese Kosten einerseits kaum messen lassen und daß es andererseits keinen "richtigen" Transfersatz gibt. Gleichwohl folgen fast alle Beiträge zu diesem Themenkomplex dem Tenor, daß vor allem auch im Hinblick auf die Auswirkungen des Geburtenrückgangs eine starke Erhöhung vor allem des Kindergelds nötig sei. Zusätzlich wird (oft selbst von Politikern) betont, daß nur die generelle Knappheit an Mitteln einer solchen (als richtig erkannten) Handlungsweise im Wege stehe.
5.1. Zur Neugestaltung der Ehegatten- und Familienbesteuerung
Anders als für die im Grundprinzip akzeptable Zusammenführung des vorher dualen Systems der Kindervergünstigungen kann die steuerliche Behandlung von Ehegatten nicht zufriedenstelIen. Für die Institution "Ehe" 'werden Vorteile in einer Größenordnung von rund 30 Mrd. DM pro Jahr bereitgehalten. Bei genauer Betrachtung zeigt sich, daß gerade die Familien mit besonderer Bedürftigkeit (bei niedrigem Einkommen, verwitweten Ernährern etc.) dabei diskriminiert werden. Je relativ stärker sich in einer Gesellschaft die Funktion der Eltern auf immer weniger Personen konzentriert, desto dringender erscheint folglich eine Neugestaltung der bestehenden Ehegattenbesteuerung. Nach den bisherigen Ausführungen kann diese Neugestaltung nur in einer AbschajJimg der unspezijischen Ehegattenalimentierung und im Übergang zu einer verstärkten Berücksichtigung des Tatbestands Familie liegen. Die Verringerung der steuerlichen Leistungsfähigkeit liegt ja vor allem in der Existenz der Kinder begründet, durch erzwungenen Verzicht auf Erwerbstätigkeit, erhöhte materielle Aufwendungen etc. Die Ehe an sich verdient keine steuerliche Bevorzugung, denn die einzige gesellschaftliche relevante Leistung der Ehepartner, die gegenseitige Versorgungspflicht, wird meist bereits da-
5. Ein Vorschlag zur Reform des Familienlastenausgleichs
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durch ausgeglichen, daß sich beide Partner kostenlos gegenseitig mit Versicherungsansprüchen versorgen können. Folgen wir der Ratio des Gesetzgebers bei der Neugestaltung der steuerlichen Berücksichtigung von Kindern, muß auch die Ehegattenbesteuerung in einem neuen Licht erscheinen. Wir hatten festgestellt, daß es für die steuerliche Bevorzugung der Ehe ohne die daraus erwachsenden Kinder keine Rechtfertigung gibt und gleichzeitig ermittelt, daß im praktizierten Ehegattensplitting auf Kinder keine Rücksicht genommen und stärker noch als beim Kinderfreibetrag mit dem Einkommen progressiv wachsende Vorteile geschaffen werden. Was im Fall des Kinderfreibetrags angeführt wurde, muß im Grunde auch für den noch wesentlich umfangreicheren Splittingvorteil gelten. Konsequenterweise sollte folglich die steuerliche Eljassung der Ehe injedem Fall durch getrennte Veranlagung erfolgen, bzw. durch ein Verfahren, das den Splittingsvorteil beseitigt. Das Argument, bei getrennter Veranlagung könnten einige Selbständige ihre Steuerlast vermindern, ist nicht unbedingt überzeugend. Auch gegenwärtig ist die getrennte Veranlagung zulässig, wenn auch von geringem Vorteil. Zudem sollte man eine steuerliche Regelung nicht allein danach beurteilen, ob einige Personen Mißbrauch treiben könnten 105. Wer ernsthaft daran interessiert ist, die Steuerlast der unselbständigen Einkommen im Vergleich zu solchen Einkunftsarten, bei denen durch das Gestaltungsprivileg eine verstärkte Steuerausweisung denkbar ist, nicht zu stark anwachsen zu lassen, könnte zusammen mit der Einführung der getrennten Veranlagung die Arbeitnehmer-Freibeträge erhöhen. Der wichtigste Einwand gegen eine Kritik an der getrennten Veranlagung muß aber sein, daß auch das geltende Steuerrecht getrennte Veranlagungjür eigene Einkommen der Kinder vorsieht. Dieses scheinbar sinnvolle und gerechte Instrument muß nun aber im Rahmen des geltenden Rechts umverteilend zugunsten hoher Einkommen wirken: Die Verlagerung von Einkommen auf Kinder ist fast ausschließlich bei Vermögenseinkünften möglich. Wenn die Eheleute für sich den Splittingvorteil nutzen und Teile ihrer Vermögenseinkommen auf die Kinder übertragen, sparen sie nach geltenden Gesetzen auf mehrfache Weise Steuer. Beschränkt auf Vermögenseinkünjte ist damit praktisch das als negativ kritisierte Familiensplitting möglich. Wenn die Rechtsprechung im Falle der Kinder steuerliche Prüfungen über 105 Daß im Handwerk Umgehungen der Mehrwertsteuer üblich sind, kann kein Argument für Abschaffung der Mehrwertsteuer sein, sondern muH vielmehr - wie auch in unserem Fall - mit einer verstärkten Aufmerksamkeit der Finanzbehörden beantwortet werden.
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4. Kapitel: Der Ausgleich von Kinder- und Familienlasten
die tatsächlichen wirtschaftlichen Verhältnisse 106 durchführt, sollte dies in gleicher Weise für die Ehefrau möglich sein, da auch hier die gleichen Einkommensarten betroffen sind. Der Splittingvorteil ist in der wissenschaftlichen Diskussion oft kritisiert worden. Zur Vermeidung der negativen Verteilungswirkungen wurden u. a. vorgeschlagen: a) eine Reduktion des Splittingsfaktors, d. h. eine proportionale Reduktion der in Abb. 35 dargestellten Beträge; b) das sogenannte "modifizierte Splitting" 107, wo der Betrag beschränkt wird, den ein Partner auf den anderen übertragen darfl o8 (z. B. auf 20.000,- DM); c) eine Begrenzung des Einkommens, bis zu dem ein Splitting stattfindet (z. B. auf die ersten 50.000,- DM Einkommen je eines oder beider Einkommensbezieher gemeinsam); d) eine Kappung des Splittingsvorteils von einem bestimmten Betrag ab (z. B. auf 1.000.- DM Splittingsvorteil). Auch wenn gegen eine konsequente getrennte Veranlagung einschließlich möglicher Freibeträge, die eine Mehrbelastung der Ehe verhindern könnten, keine rechtlichen Einwände bestehen dürften, macht die Nähe zu früheren Regelungen die politischen Durchsetzungschancen sehr gering. Neben der getrennten Veranlagung gibt es noch andere Möglichkeiten, die negative Auswirkungen des Ehegattensplittings zu beseitigen. Technisch besonders einfach,juristisch nicht angreifbar und politisch vor allem für eine stufenweise Einführung geeignet wäre folgendes Verfahren: Das Ehegattensplitting bleibt im Prinzip bestehen, der Splittingvorteil wird aber auf einen geringen Betrag (z. B. 500.- DM) beschränkt und anschließend gekappt. In Abb. 35 wird erkennbar, daß bei diesem Verfahren u. a. Mehrverdienerhaushalte bis auf ganz geringe Differenzen bei niedrigen Einkommen den Einverdienerhaushalten gleichgestellt würden 109. Eine Diskriminierung der Ehe, wie sie das Verfassungsgericht verbietet, wäre ausgeschlossen, und die negativen Verteilungswirkungen praktisch beseitigt. Die bei Verwirklichung einer solchen Regelung in der Größenordnung von 15-20 Mrd. DM auftretenden Steuermehreinnahmen stünden bereit für einen Einsatz zugunsten der Institution Familie. Die Abschaffung des Splitting106 Siehe dazu ausführlich G. Söffing, Möglichkeiten und Grenzen einer Verlagerung von Einkünften auf die folgende Generation, in: Steuerberaterjahrbuch 1978/79, S. 301-374. 107 Siehe dazu J. Hackmann, Ein Vorschlag ... , S. 512 ff. 108 Die Varianten a) und b) unterscheiden sich vor allem bei höheren Einkommen, wo nach Methode b) der Vorteil stark zurückgeht. 109 Bei anderen Verfahren, etwa der Einführung eines modifizierten Splittings oder einer Reduktion des Splittingsfaktors werden diese Unterschiede nicht oder nur geringfügig begradigt.
5. Ein Vorschlag zur Reform des Familienlastenausgleichs
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vorteils trifft alle Ehen, also auch die Familien mit Kindern. Um das eigentliche Ziel zu erreichen, eine steuerliche Entlastung der Familie, müßten alle entstehenden Steuermehreinnahmen für eine Erhöhung des Familienausgleichs in einer Form wiederverwendet werden, die nicht mit steigendem Einkommen zunehmende Vorteile erbringt. Wird den Familien an Stelle des entfallenden Splittingsvorteils ein erhöhter Familienlastenausgleich gewährt, bleibt wegen der Abschaffung der Steuervorteile für Kinderlose unter. gegenwärtigen Bedingungen ein Nettovorteil von mindestens 10 Mrd. DM. Ohne das Sozialbudget auszuweiten, kann dieser Betrag für eine Erhöhung der direkten Familientransfers verwendet werden 110. Es zeigt sich, daß die finanzpolitische Manövriermasse der Familienpolitik in Wirklichkeit recht groß ist und Argumente der Art, daß ein verstärkter Familienlastenausgleich zwar notwendig aber nicht finanzierbar sei, können als unzutreffend zurückgewiesen werden. 5.2. Grundsätze einer Neuorientierung der direkten Familientransfers
Aus den bisherigen Ausführungen wurde klar, daß es nicht der Gegenstand einer wissenschaftlichen Analyse sein kann, einen "richtigen" monatlichen Transfersatz zugunsten von Kindern zu bestimmen und den schon vorhandenen "Berechnungen" eine neue hinzuzufügen. Aus diesem Grund wollen wir im folgenden auch keinen Vorschlag unter Vorgabe bestimmter nomineller Werte machen, sondern uns auf einige grundsätzliche Gestaltungsprinzipien beschränken. Wir hatten ermittelt, daß mit der Aufhebung des sinnwidrigen Ehegattensplittings eine große Finanzmasse für die Erhöhung des Familienlastenausgleichs bereitstände, ohne das Sozialbudget im Gesamtumfang verändern zu müssen. Angesichts des Geburtenrückgangs werden vielfach entweder die Gewährung neuer oder die Erhöhung vorhandener Familientransfers gefordert. Unabhängig vom Gesamtumfang solcher Maßnahmen können wir aus der Entwicklung der vorangegangenen Argumentation einige Grundsätze formulieren, denen eine Neugestaltung dieser Transfers folgen sollte: 1. Die bestehende Vielfalt staatlicher Leistungen für Familien bzw. Kinder sollte, vielleicht mit Ausnahme des Wohnungsbereichs, den wir aus unserer Argumentation ganz ausklammerten und bei dem eine spezifische Förde110 Damit zeigt sich, daß unser eigener Neuordnungsvorschlag (mit Ausnahme der Ledigen) zu ähnlichen Ergebnissen führt wie der "Albers-Plan", bei dem allerdings eine (m. E. politisch nicht durchsetzbare) spezifische Abgabe für die Mittel des Familienlastenausgleichs sorgen sollte. 19
Dinkel
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4. Kapitel: Der Ausgleich von Kinder- und Familienlasten
rung weiterhin sinnvoll sein mag, zu einer einzigen Maßnahme zusammengefaßt werden. Diese Transfermaßnahme, die man weiterhin Kindergeld nennen kann, ersetzt alle indirekten und direkten Vergünstigungen von den höheren Sparprämien bis hin zum geplanten Erziehungsgeld. Außerhalb des Kindergeldes kann und soll es zwar weiterhin wirtschaftslenkende staatliche Transfers geben, die aber bewußt ohne Differenzierung nach Familienstand gestaltet sind. Um die Transparenz zu erhöhen und den Verwaltungsaufwand zu reduzieren, könnten die Familientransfers mit der Steuerentrichtung gekoppelt werden, bei der selbst nunmehr ebenfalls keinerlei Rücksicht auf die Kinder mehr genommen wird. Die Lastenausgleichsargumente zwischen Bund, Ländern und Gemeinden sind ein innerstaatliches Problem und dürfen nicht eine sinnvolle Ausgestaltung behindern 111. Für steuerfreie oder sehr niedrig besteuerte Familien würde in einem solchen Fall eine negative Steuer als Transfer anfallen. Der Familienlastenausgleich steht den Eltern zu, da die Kinder in diesem Alter weder eine eigene Rechtspersönlichkeit haben noch für ihre eigene oder die Versorgung der Familie verantwortlich sein könnten. 2. Das Kindergeld neuer Art kann in seiner Größenordnung ein Mehrfaches der bisherigen Höhe betragen, wobei die absolute Höhe ein Gegenstand der politischen Prioritäten sein muß. Finanzierungsprobleme entstehen solange nicht, wie diese Maßnahme das vorherige Ehegattensplitting und die verstreute Vielfalt von Familienvergünstigungen ersetzt und die dort freiwerdenden Mittel für das Kindergeld auch tatsächlich eingesetzt werden. Durch Abbau des Splittingvorteils und Beseitigung indirekter (und direkter) Transfers in einer finanziellen Größenordnung von insgesamt 20-25 Mrd. DM können für rund 10 Mio. Kinder unter Einbeziehung des gegenwärtigen Kindergelds kostenneutral 250-300 DM pro Kind und Monat gezahlt werden. Diese Transfermaßnahme sollte wegen des langen Planungshorizonts für Eltern keinen kurzfristigen Schwankungen unterliegen und sich nicht an der jährlichen Geburtenrate orientieren. Daraus folgt u. a., daß es auch bei einer eventuellen zukünftigen Steigerung der Geburtenraten noch finanzierbar sein muß. 3. Kindergeld als Unterstützung für die (im Normalfall) intakte Familie darf und soll sich weiterhin von Regelungen unterscheiden, wie sie im Sozialhilferecht üblich und notwendig sind. Auch eine veränderte absolute Höhe für das Kindergeld bei Rentenempfängern könnte gerechtfertigt wer111 Bislang wird das Kindergeld vom Bund getragen, während bei einer Verrechnung mit der Steuerschuld die Gebietskörperschaften entsprechend ihren Aufkommensanteilen herangezogen würden.
5. Ein Vorschlag zur Reform des Familienlastenausgleichs
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den, da in Haushalten, die von Unfall-, Erwerbsunfähigkeits- oder Altersrenten leben müssen, die finanzielle Leistungsfähigkeit der Eltern im Durchschnitt geringer ist als bei vergleichbaren Erwerbstätigenhaushalten. Dieses Argument darf allerdings nicht überbetont werden, da wir ansonsten eine Einkommensdifferenzierung ablehnten. Nicht zu verteidigen ist auf jeden Fall die Tatsache, daß für das Kindergeld der Rentnerhaushalte die Versichertengemeinschaft und nicht wie sonst die Gebietskörperschaften die Lasten tragen sollen. 4. Das Kindergeld sollte mindestens bis zum Ende der allgemeinen Schulpflicht gewährt werden. Von diesem Zeitpunkt an verändert sich der Charakter der unspezifischen Transfermaßnahmen hin zu einer Ausbildungsförderung. Diese begriffliche Unterscheidung ist insofern relevant, weil eine Ausbildungsförderung stärker auf Ausbildungsart und persönliche Lebensumstände (z. B. die Unterbringungsart am Wohnort der Eltern oder an einer entfernten Ausbildungsstätte etc.) Rücksicht nehmen kann und soll. Die Ausbildungsförderung zum Teil erwachsener Kinder kollidiert mit anderen Rechtsgrundsätzen (z. B. dem Unterhaltsanspruch gegenüber den Eltern) und hat andere Ziele als ein Kindergeld, mit dem die Sozialisiationsbedingungen der kindlichen Entwicklung auf ein Mindestniveau angehoben werden sollen. Die in dieser Arbeit vorgetragenen Überlegungen gelten deshalb nicht mehr für die (in ihrer Berechtigung keinesfalls bestrittenen) staatlichen Maßnahmen zur Ausbildungsförderung. 5. Das Kindergeld wird unabhängig vom Einkommen der Eltern gewährt. Daß auch Kinder besser verdienender Eltern die gleichen Leistungen erhalten, sollte aus zwei Gründen selbstverständlich sein 112: a) Alle Kinder tragen später in gleicher Weise zum Sozialprodukt bei. b) Der Familienlastenausgleich sollte für sich gesehen kein Instrument der personellen Umverteilung sein: Die geringere Bedürftigkeit besser verdienender Eltern ist bereits dadurch berücksichtigt, daß diese Familien unter Berücksichtigung der Finanzierung geringere Nettoleistungen erhalten und gegenüber dem Status Quo bereits durch die Abschaffung des Splittingsvorteils und ähnlicher Vergünstigungen relativ stärker belastet werden. 6. Das Kindergeld sollte nicht nach der Parität der Kinder differenziert werden. Einerseits sind erste Kinder für die Aufrechterhaltung der Generationenabfolge genauso zu bewerten wie vierte Kinder, während eine Diffe112 Ein weiteres Argument könnte an dieser Stelle angeführt werden. Das steuerliche Einkommen, das alleine als Ma13stab zur Verfügung steht, ist nur eine unvollkommene Richtschnur der elterlichen Lebensverhältnisse (Beispiel Landwirtschaft). Ein an Einkommensgrenzen geknüpftes Kindergeld mü13te unweigerlich Ungerechtigkeiten hervorrufen. 19*
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4. Kapitel: Der Ausgleich von Kinder- und Familienlasten
renzierung (vor allem bei der jetzt zur Diskussion stehenden Größenordnung) leicht zu einer "Spezialisierung" in wenigen Vielkinderfamilien führen könnte und damit zu einem pronatalen Instrument würde l13 , 114. Auf der anderen Seite besteht unter Einbeziehung aller ökonomischer "Kostenfaktoren" kein höherer Bedarf pro Kind bei steigenden Kinderzahlen. Die in dieser Arbeit als besonders wichtig erkannten Alternativkosten (Veränderung der Zeitaufteilung, Verzicht auf Erwerbstätigkeit, Lebensverwirklichung etc.), werden bereits beim ersten, spätestens aber beim zweiten Kind voll wirksam. Außerdem dürfen die positiven Skalenerträge innerhalb der Familie nicht außer Betracht bleiben, so daß insgesamt die Kosten von Kindern mit der Parität nicht steigen. 7. Außerhalb der Abgrenzung zur AusbildungsfOrderung sollte es keine Altersdifferenzierung für das Kindergeld geben. Zwar kosten Ernährung oder Bekleidung eines Fünfzehnjährigen u. U. mehr als die eines Dreijährige, aber das Kleinkind verursacht weit höhere Alternativkosten, da es die Mutter (oder den Vater) beispielsweise zwingt, auf eigene Einkommenserzielung zu verzichten oder höhere außerhäusliche Aufwendungen auf sich zu nehmen. Erhöhen die Eltern eines Fünfzehnjährigen ihr Arbeitsangebot, wieder l15 , bedeutet dies in ökonomischen Termini eine "Kostensenkung" des Kindes. Bei einer Umschichtung der verfügbaren Finanzmittel und einer Gewährung in voller Höhe auch für Kleinkinder wäre zugleich die Forderung nach einem Erziehungsgeld für Mütter in der einzig sinnvollen Weise erfüllt: Erziehungsgeld darf weder für nur erwerbstätige Mütter gezahlt werden (dann bestraft es Frauen, die bereits Kinder erziehen) noch darf es sich an ausschließlich nicht-erwerbstätige Frauen wenden (hier würde es Frauen diskriminieren, die erwerbstätig sein müssen). Ein an alle Mütter gezahltes "Erziehungsgeld" ist folglich nichts anderes als ein Kindergeld mit veränderter Begründung für Kleinkinder. Die individuellen Kosten und Lebensverhältnisse sind viel zu verschieden, um mit erträglichem Aufwand gewürdigt werden zu können, so daß 113 Gerade in Vielpersonenhaushalten mit niedrigem Einkommen (deren Position vom "neuen" Kindergeld am stärksten verändert würde), bestehen für die Kinder nicht immer die besten Sozialisationsbedingungen, so daß besondere Anreize in diese Richtung vermieden werden sollten. 114 Erinnert sei vor allem an die Nähe einer solchen Maßnahme zu den geburtenfördernden Instrumenten und deren Wirkung aus wohlfahrtsökonomischer Sicht. 115 Daß Mütter von erwachsenen Kindern (oder kinderlose Frauen) wie im ersten Kapitel ausführlich gezeigt, ihr Arbeitsangebot im allgemeinen reduzieren, muß als private Entscheidung hier irrelavent sein, solange die Kindererziehung dafür nicht ursächlich war.
6. Zusammenfassung
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eine einheitliche Regelung angemessen erscheint. Dies mag für eine Familie bedeuten, daß in den ersten Jahren für ein Kind relativ viele monetäre Transfers gewährt werden, später dafür aber umso größere Aufwendungen anfallen. Da der Grundsatz gilt, der Staat solle sich so wenig wie möglich in Konsumentenpräferenzen einmischen, muß auch eine solche Regelung in ihrer (relativ milden) Eingriffsintensität in die Lebensverhältnisse angemessen erscheinen. 8. Eine automatische Dynamisierung 116 des Kindergeldes ist gefährlich und zementierend für das gesamte Sozialsystem l17 . Wir konnten aus den verschiedenen angebotenen Berechnungen keine sinnvolle Messung für "die" Kosten von Kindern akzeptieren. Eine wichtige Erkenntnis war zudem, daß die Kosten (der "Preis") von Kindern mit dem allgemeinen Lebenshaltungskostenindex im Prinzip nur wenig zu tun haben. Nicht einmal der Index für die Lebenshaltung eines Kindes, der ebenfalls berechnet werden kann, gibt aufgrund seiner AufgabensteIlung eine sinnvolle Antwort. Sinken beispielsweise in einer tiefen Rezession die Beschäftigungschancen und Löhne für Frauen, so sinken die Kinderkosten, auch wenn die Preise für Marktgüter gleichzeitig steigen. Berechnungen eines Kinder-Warenkorbs haben relativ wenig zu tun mit den tatsächlichen Opportunitätskosten von Kindern, wie wir im Verlauf der Arbeit mehrfach ausführlich begründeten. 6. Zusammenfassung
Während bei den Alterslasten der Geburtenrückgang zu einer auch quantitativen Verschärfung der Zukunftslasten führt, wurde im Bereich der Kinder- und Familienlasten in erster Linie eine qualitative Veränderung der Lasten analysiert. Die historisch gerechtfertigte begriffliche Identität zwischen Ehe und Familie führte in Deutschland dazu, daß staatliche Leistungen schwergewichtig der Institution Ehe zugewendet wurden. Der säkulare Geburtenrückgang führt innerhalb der momentanen Elterngeneration vor allem dazu, daß kinderlose Verheiratete den gleichen, oft sogar einen nume116 Eine Anpassung des Kindergeldes an die steigenden Lebenshaltungskosten wird unter anderem in den "Leitsätzen zur Familienpolitik" der CDU gefordert. Siehe dazu D. B. Rein, Aussagen der Bundesregierung und der Parteien zur demographischen Lage. Eine Dokumentation, in: Ursachen des Geburtenrückgangs ... , S. 189-205, bes. S. 195. 117 So auch B. Molitor, Konzept einer rationalen Familienpolitik, in: Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, Jg. 13, 1968, S. 170-190, bes. S.
185.
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4. Kapitel: Der Ausgleich von Kinder- und Familienlasten
risch größeren monetären Vorteil erfahren wie die immer kleiner werdende Gruppe der Eltern. Eine wissenschaftliche Analyse ist nicht in der Lage, eine "richtige" Höhe von Familienlastenausgleichsleistungen festzulegen. Unser eigener Lösungsvorschlag bestand deshalb darin, die Gesamthöhe der staatlichen Förderung als (durch staatliches Werturteil) gegeben zu akzeptieren, aber von der Ehe auf die Familienförderung überzugehen. Im Bereich der Besteuerung bedeutet dies in erster Linie die Abschaffung des Ehegattensplittings, das als ungerechtfertigte Alimentierung der kinderlosen Einverdienerehe mit hohem Markteinkommen erkannt wurde. Die freiwerdenden Mittel müßten a\1erdings vo\1ständig auf den Familienlastenausgleich übertragen werden. Diese Maßnahmen, die wie bisher Kindergeld heißen könnte, so\1te in einheitlicher Höhe ohne Einkommens-, Paritäts- oder Altersdifferenzierung gestaltet werden. In diesem Kindergeld so\1ten aber a\1e verstreut existierenden staatlichen direkten und indirekten Kindervergünstigungen zusammengefaßt werden und damit einen wesentlichen Beitrag leisten zur besseren Übersichtlichkeit des gesamten Sozia\1eistungssystems.
Anhang I Ein Überblick über die moderne ökonomische Theorie der Geburtenentwicklung Der ökonomische Beitrag zur Erklärung der Fruchtbarkeit wird vielfach auch heute noch mit der Theorie von Malthus und der daran anschließenden Diskussion gleichgesetztl. Der Hintergrund dieser Theorie war die im 19. Jahrhundert in Europa ausgeprägt erkennbare Bevölkerungsexplosion mit den von ihr vielfältig ausgelösten sozialen Konsequenzen. Aber ebenso sehr, wie etwa um die Jahrhundertwende mit dem schnellen Rückgang der Geburtenzahlen die nächste Stufe der "demographischen Übergänge" einsetzte, mußten sich auch die zur Erklärung herangezogenen Theorien wandeln. Ohne eine eindeutige zeitliche Grenze festlegen zu können (auch heute ist die Diskussion um den Malthusianismus noch nicht völlig abgeklungen), wollen wir im folgenden als "moderne" Theorien jene zusammenfassen, deren Gegenstand die Erklärung der niedrigen Fruchtbarkeit hochindustrialisierter Staaten ist. Im Zentrum jeder ökonomischen Theorie der Fruchtbarkeit steht verständlicherweise die Frage, ob und wie Fruchtbarkeit und Einkommen oder Wohlstand der Eltern miteinander verknüpft sind. Vor einigen Jahrhunderten, so weit es dafür überhaupt verläßliche Daten gibt, dürfte der Zusammenhang so bestanden haben, wie ihn eine ökonomische Erklärung auch erwarten läßt: mit steigendem Einkommen stieg die Kinderzahl. Die magere Datenbasis ist aber für diese Zeit keineswegs einheitlich. Vielfach bestanden beispielsweise Heiratsschranken durch Mindestalterregeln oder Vermögensbeschränkungen. In der agrarischen Hausgemeinschaft bekam in aller Regel nur der besitzende "Hausvater" Kinder und die in der Hausgemeinschaft abhängig Lebenden waren erzwungenermaßen kinderlos. 1 Ein extensiver Überblick über die internationale wissenschaftliche Diskussion bis zum Stand des Jahres 1920 findet sich bei H. Elster, Artikel Bevölkerungslehre und Bevölkerungspolitik, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Jena, 1924, S. 735-812. Ein knapper deutschsprachiger Überblick über "neuere" Theorien findet sich bei H. Wander, Ökonomische Theorien des generativen Verhaltens, in: Ursachen des Geburtenrückgangs - Aussagen, Theorien und Forschungsansätze zum generativen Verhalten, Stuttgart, 1979, S. 61-76.
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Anhang I
Mit der Auflösung mittelalterlicher oder agrarischer Lebensformen seit Beginn der Industrialisierung kehrten sich die Verhältnisse offenkundig um. Ein industrieller Arbeitsplatz war von Anfang an gleichbedeutend mit der Möglichkeit, eine Familie zu gründen und damit "generativ vollwertig"2. Mindestens seit dieser Zeit ist eine soziale Erfahrung zu beobachten, die oft sogar als Gesetz formuliert wurde: Fruchtbarkeit und Familienkeinkommen verhalten sich zueinander umgekehrt proportional, wobei oft nicht zu unterscheiden ist, ob die Vielzahl der zu ernährenden Kinder die materielle Lage der Eltern bedingt oder umgekehrt. Praktisch alle modernen Theorien der Fruchtbarkeitserklärung haben deshalb auch diese inverse Beziehung zum Gegenstand. Im Rationalkalkül der Familienplanung können ökonomische Faktoren an zwei Stellen Gewicht erhalten: Sie können die Entstehung und Veränderung von Präferenzen für Kinder lenken oder sie können als Restriktionen wirken, mit denen die Realisierung des Kinderwunsches beeinflußt wird. Zwar tauchen in ökonomischen Modellen beide Varianten auf, die zweite herrscht aber weitgehend vor. Die Entstehung von Präferenzen wird von Ökonomen traditionell der Psychologie zugewiesen und Präferenzen werden als gegeben und invariant unterstellt 3 . Ein ökonomischer Ansatz könnte im Grunde sowohl die generative Komponente als auch die Jahrgangsverschiebungen zu erklären versuchen, wobei die erste Frage nicht nur aus wirtschaftspolitischer Sicht weitaus gewichtiger ist. In früheren Jahrzehnten wurde vor allem im Zusammenhang mit den Konjunkturerklärungen oft nach der Beziehung zwischen Wirtschaftslage und Geburten gefragt und in aller Regel eine positive Korrelation als erwiesen angesehen 4 : In der Hochkonjunktur wurden mehr Kinder geboren als in konjunkturell schlechten Zeiten. Diese Erfahrung galt nach Lösch vor allem für die vorindustrielle Zeit, wo die Ertragsschwankungen inder Landwirtschaft die Lebensverhältnisse stark beeinflußten. Wir müssen dabei allerdings bedenken, daß die Eheschließungen einen entscheidenden intervenierenden Einfluß hatten. In wirtschaftlich guten Zeiten häuften sich die 2 G. Mackenroth, Bevölkerungslehre ... , a.a. 0., S. 439.
G. J. Stigler und G. S. Becker, De Gustibus Non Est Disputandum, in: AER, Vol. 67,1977, S. 76-90 verteidigen ausführlich dieses ökonomische Prinzip, von gegebenen und stabilen Präferenzen auszugehen, was nicht bedeuten muB, daB sich nicht das tatsächliche Verhalten (bei veränderten Restriktionen und Ausgangsbedingungen) ändern dürfe. 4 Siehe dazu für Deutschland und Schweden die statistischen Angaben von A. Lösch, Bevölkerungswellen und Wechsellagen, Jena 1936, für die USA etwa M. Silver, Birth, Marriages and Business Cycles in the United States, in: JPE, Vol. 73, 1965, S. 237-255. 3
Überblick über moderne ökonomische Theorie der Geburtenentwicklung
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Eheschließungen und da in aller Regel die Kinder in den ersten Ehejahren geboren wurden, entstanden gleichlaufende Schwankungen in den Geburtenzahlen. Sobald aber zwischen Eheschließung und Geburt des ersten Kindes kein zeitlicher Zusammenhang mehr besteht (wie wir es für die Gegenwart erkannten), existiert auch die scheinbare Kausalität zwischen Kinderzahl und Konjunkturiage nicht mehr. Ein zweiter Faktor ist in diesem Zusammenhang zu beachten: Sobald Kinder das Ergebnis geplanter ("rationaler") Handlungen sind, sollte ein kurzlebiger Einfluß wie die Konjunktur kaum mehr wirksam sein. Die Eltern wissen, daß ein Kind 15 bis 20 Jahre in der Familie leben wird, so daß die "Kosten" von der konjunkturellen Lage im Moment der Geburtenplanung relativ unabhängig sind. Bei perfekter Voraussicht dürfte die konjunkturelle Lage keinen Einfluß mehr neben dem erwarteten Lebenseinkommen habens. 1. Die "Wohlstandstheorie" der Geburtenrate
Zwei Erfahrungen prägten die Bevölkerungsentwicklung kurz nach der Jahrhundertwende, ein schnelles Absinken der "rohen" Geburtenziffern l und die bereits betonte negative Korrelation zwischen Einkommen (oder Vermögen) und individueller Kinderzahl. Auf der Grundlage der damals allgemein verbreiteten Grenznutzentheorie bot damr die als" W ohlstandstheorie" in die Literatur eingegangene und vor allem durch P. Mombert 2 und den in München lehrenden L. Brentan0 3 vertretene Schule einen Erklärungsansatz. Unsere folgende kurze Darstellung soll vor allem deutlich machen, daß hier in den entscheidenden Teilen (wenn auch technisch weniger elegant) die aktuelle Mikrotheorie der Geburtenrate vorweggenommen wurde. Basierend auf der Unterscheidung zwischen Zeugungsfähigkeit und tatsächlichem Zeugungswillen kann diese Theorie in einem einzigen Kernsatz 5 G. Becker (An Economic Analysis 01' Fertility ... , a. a. 0., S. 227) erwähnt ein zusätzliches plausibles Argument: Da es im Durchschnitt etwa zwei Jahre dauert, aus dem Entschluß eine tatsächliche Geburt werden zu lassen, sollte der Zusammenhang mit kurzfristigen Konjunkturschwankungen variabler Länge endgültig verlorengehen. 1 Diese Reduktion hing sicherlich ursächlich zusammen mit der Reduktion der Kindersterblichkeit, für die ebenfalls ein ökonomischer Erklärungsansatz denkbar wäre. 2 P, Mombert, Bevölkerungsbewegung in Deutschland, Karlsruhe 1907. 3 L. Brentano, Die Bevölkerungslehre, in: Konkrete Grundbedingungen der Volkswirtschaft, gesammelte Aufsätze von L. Brentano, Leipzig 1924, S. 196-338.
298
Anhang I
charakterisisert werden, die ihre Abstammung aus der Grenznutzentheorie offenlegt: "Der Mensch bricht mit der Kindererzeugung da ab, wo die Mehrung der Kinderzahl ihm geringere Befriedigung schafft als andere Genüsse des Lebens, die ihm sonst unzugänglich würden ... 4. Die erkennbar mißverständliche Argumentation Brantanos führte allerdings bereits nach der erstmaligen Veröffentlichung im Jahr 1909 zu einer heftigen wissenschaftlichen Kontroverse 5. Für eine faire Würdigung der theoretischen Argumentation und einen Vergleich mit der aktuellen Diskussion müssen wir die etwas verstreuten Begründungsansätze zusammenführen und in heute übliche Termini übersetzen. Brentano geht aus der Sicht des modernen Theoretikers besonders von drei relevanten Faktoren aus: 1) Der "Nutzen" aus Kindern steigt zwar absolut mit der Kinderzahl, hat aber eine negative Zuwachsrate; der Grenznutzen zusätzlicher Kinder sinkt. Diese Formulierung steckt implizit oder explizit in praktisch allen anschließend zu behandelnden Theorievarianten. 2a) Die Armen realisieren Nutzen aus mit Uk = Kindernutzen Uc = Nutzen aus Grundnahrungsmitteln.
Die Nutzenfunktion der Armen besteht genaugenommen aus den gleichen Elementen wie die der anschließend behandelten Reichen, aber die ökonomischen Restriktionen lassen neben Kindern (deren "Produktion" kostenlos ist) nur den Einbezug der wichtigsten Nahrungsmittel zu. 2b) Der Nutzen der Reichen besteht aus U = Uk
+ Uc + UKultur + ... + UFreizeit
Den Reichen ist aufgrund der besseren materiellen Ausstattung ein vielfältiges Angebot sonstiger "Genüsse" zugänglich. Daß dabei relativ zum Einkommen oder Wohlstand weniger Kinder gewünscht werden, ist nur allzu verständlich und dem Ansatz jederzeit abzuleiten. Will man aber mit den obigen Annahmen eine sinkende absolute Kinderzahl erklären, muß ein drittes Element der Theorie herangezogen werden: L. Brentano, Die Bevölkerungslehre ... , a. a. 0., S. 297. Damals hatte Brentano allerdings noch miBverständlicher mit einem "abnehmenden Grenznutzen der Geschlechtsgenüsse" argumentiert. Zur Kritik siehe besonders J. Wolf, Die neue Sexualmoral, a. a. 0., S. 3 ff. 4
5
Überblick über moderne ökonomische Theorie der Geburtenentwicklung 299
3) Reiche ersetzen "Quantität" der Kinder durch "Qualität"6, was uns als eines der wichtigsten Charakteristika des sogenannten Chicago-Approach anschließend wiederbegegnen wird. Der "Wohlstandstheorie" (wie natürlich auch deren modernen Varianten) stehen aber einige Grundeinwände entgegen. Das gewichtigste Argument ist zweifellos, daß Kinder nicht beliebig zusätzlichen Nutzen spenden. Daß die in elenden Verhältnissen lebenden Arbeiter des 19. Jahrhunderts besonders viele Kinder hatten, darf keinesfalls so interpretiert werden, daß sie auch viele Kinder wünschten. Brentano berichtet von Erfahrungen mit Bergarbeiterfamilien, denen seiner Meinung nach in ihrem Elend der Geschlechtstrieb als einziges Ventil geblieben sei 7, was ihn zu einer "Theorie abnehmender Geschlechtsgenüsse" veranlaßte. Dieser Theorie liegt die Vorstellung zugrunde, daß steigender Wohlstand die Familien vom Sexualtrieb ablenken würde, da ihnen nun andere Beschäftigungen offenstünden. Im Grundsatz, allerdings in leicht mißverständlicher Sprache, ist damit das ausgedrückt, was Jahrzehnte später als "sozialpsychologische Erklärung" im "Dritten Familienbericht" der Bundesregierung 8 wiederentdeckt wurde: Die Größe der Familien verhält sich umgekehrt zur Wahrscheinlichkeit, Alternativen zu haben zur Befriedigung von Interessen, die man durch Kinder befriedigen kann 9.
In der Wohlstandstheorie wird jeglicher Einfluß der Kontrazeption auf die Nachfrage nach Kindern vernachlässigt und die tatsächliche Kinderzahl auf einen (wegen Mangel an Alternativen) stärker ausgelegten Geschlechtstrieb zurückgeführt 10. Wir besitzen keinerlei Erfahrung darüber, wieviele Kinder schlesische Bergarbeiter bei idealer Familienkontrolle verwirklicht hätten. Gerade angesichts der beschriebenen Lebensverhältnisse besteht aber kein 6 L. Brentano, Die Bevölkerungslehre ... , a. a. 0., S. 292: " ... und ferner, daß die Eltern bestrebt sind, den bereits vorhandenen Kindern eine bessere Ausbildung zu sichern, ihnen ein größeres Erbteil zuwenden und sie so für den heutigen Kampf ums Dasein besser ausrüsten zu können". 7 L. Brentano, Die Bevölkerungslehre ... , a. a. 0., S. 296 f. 8 Siehe dazu: Die Lage der Familien in der Bundesrepublik Deutschland - Dritter Familienbericht. Bundestagsdrucksache 8/3121, bes. S. 115. 9 Die Argumentation des Gutachtens basiert dabei auf L. H. Day und A. TaylorDay, Family Size in Industrialized Countries. An 1nquiry into the Social Cultural Determinants of Levels of Childbearing, in: Journal of Marriage and the Family, Vol. 31, 1969. 10 Daß die Kontrazeption als Trennungsfaktor zwischen der Nachfrage nach Kindern und nach geschlechtlicher Vereinigung hier absolut unerwähnt bleibt, mag mit der Tatsache erklärt werden, daß dies um die Jahrhundertwendejedenfalls noch kein Gegenstand öffentlicher Diskussion sein konnte.
300
Anhang I
Grund zu der Annahme, daß sie wesentlich größere Präferenzen für Kinder als ihre wohlhabenden Nachbarn hatten. Ein zweites Argument wird besonders von Wolf betont, der sich den Überlegungen der Wohlstandstheorie entgegenstellt. Er betont, daß die höhere Kinderzahl der Armen nur ein vorübergehendes Phänomen sei und daß gerade der Geburtenrückgang bis 1930 in erster Linie auf die Anpassung im SozialverhaIten durch die vormals "armen" Sozialschichten an das der Reichen zurückgehe. Dieses Argument spielt eine besondere Rolle auch in unseren weiteren Argumentationen, so daß eine ausführlichere Behandlung an dieser Stelle zurückgestellt werden kann.
2. Sinkende Fruchtbarkeit bei steigendem Einkommen: Der Beitrag Leibensteins H. Leibenstein, der sich ursprünglich mit investitionstheoretischen Erklärungen der Fruchtbarkeit beschäftigte', entwickelte sich in den letzten Jahren zu einem der pointiertesten Kritiker des anschließend behandelten Chicago-Approach. Gegenstand seiner eigenen Erklärung 2 ist, wie bei der Wohlstandstheorie, als deren Neuauflage man Leibensteins Ansatz verstehen kann, der Rückgang der Fruchtbarkeit bei steigendem Einkommen. Betrachtet man Kinder als (langlebige) Konsumgüter, gibt es jedenfalls keinen Anlaß, sie als inferior zu verstehen, so daß als Ergebnis mit steigendem Einkommen eine steigende Kinderzahl abgeleitet werden sollte. Um die sinkende Fruchtbarkeit zu erklären, führt Leibenstein eine neuere Kategorie von Gütern ein: Während normale Güter wie auch Kinder mit zunehmender Menge abnehmenden Grenznutzen spenden, gibt es sogenannte "Status"-Güter mit erst steigendem und anschließend sinkendem Grenznutzen (Increasing-Marginal-Utility-Goods). In den verschiedenen Sozialschichten wird für eine Reihe von Gütern ein bestimmter Mindestaufwand als unbedingt notwendig erachtet (was übrigens immer größere Einkommensanteile beansprucht), so daß der Grenznutzen des Konsums dieser Güter mindestens bis zur Normversorgung und oft noch darüber hinaus zunimmt (siehe Abb. 37a). , H. Leibenstein, Economic Backwardness and Economic Growth, New York 1957. 2 Siehe dazu H. Leibenstein, The Economic Theory of Fertility: Promising Path or Blind Alley? JEL, Vol. 12, 1974, S. 457-479; ders., The Economic Theory of Fertility Decline, in: QJE, Vol. 89, 1975, S. 1-31 oder ders., X-Efficiency Theory and Economic Development, London-Toronto 1978, Kapitel 7.
Überblick über moderne ökonomische Theorie der Geburtenentwicklung 301
Tabelle 16 Beispiel 2
Beispiel 1 Einkommen
Nachfr. Gut 1
Nachfr. Nutzen Gut 2 (gesamt) (Kinder)
2 4
9 11 16
22 29
2 2 3 3 4 5
1
2 3 4
8 13,5 20,5 24 29,5 35 38,5
Nachfr. Gut 1
2 2 3 3 4 3
Nachfr. Gut 2 (Kinder)
Nachfr. Gut 3 (IMUGut)
1
2 3 6
Nutzen
8 13,5 20,5 24 29,5 35 42
Die Argumentation Leibensteins basiert zentral auf der Einordnung dieser Güter in das Nutzenmaximierungskalkül, so daß wir seine Vorgehensweise in einem möglichst einfachen Beispiel über das von ihm selbst vorgestellte Maß hinaus verdeutlichen wollen 3 : Wenn wir zur Vereinfachung meßbare Nutzen der Güter unterstellen, können wir bei gegebenen Grenznutzenkurven (Abb. 37a) und Güterpreisen die Wahl der nutzenmaximierenden Haushalte nachvollziehen. Zwei Güter mit den Preisen Pj = 2 und P2 = 5 sollen wie in Tabelle 16 bei alternativen Einkommen gewählt werden (siehe Abb. 37b). Es ergibt sich bei steigendem Einkommen eine steigende Kinderzahl. Wir führen nun ein dritte Gut (ein IMU-Gut) ein mit der von Leibenstein geforderten Eigenschaft und einem Preis von P = 3 und vollziehen das Nutzenmaximierungskalkül des Haushalts erneut (Beispiel 2 in Tabelle 16). Steigt nun das Einkommen über 22 Einheiten, wird der vorher zu niedrige Grenznutzen des IMU-Gutes groß genug, um zu einer immer größer werdenden Nachfrage nach diesem Gut zu führen. Zusätzliche Einkommensbestandteile werden von jetzt aber wegen der steigenden Grenznutzen auf Kosten der anderen Güter auf das IMU-Gut verlagert und die Nachfrage nach Kindern sinkt deutlich (Abb. 37b). 3 Leibensteins Erklärung (siehe: The Economic Theory of Declining ... , a. a. 0., S. 10 f.) ist gerade in diesem Punkt nur knapp und schwer verständlich und wurde folglich auch als "ad hoc" Erklärung ohne Plausibilität attackiert. Siehe dazu W. E. Cullison, The Economic Theory of Fertility Decline: Comment, in: QJE, Vol. 91,
1977, S. 345-347.
302
Anhang I Nachfraoe nach Gut 2 (Kinder) 6
r---
ohne IMU-Gut
1
4
1
mit
IMU-Gut
Abb. 37 a
Abb. 37 b
Ersetzt man das, was Brentano Luxus- oder Kulturgut genannt hat, durch den Ausdruck IMU-Gut, dann erweisen sich beide Erklärungen als weitgehend identisch. Was aber zur Kritik der Wohlstandstheoretiker vorgebracht wurde, muß eingeschränkt auch für Lebenstein gelten, auch wenn er beispielsweise den Einfluß der Kontrazeption nicht negiert. Die Argumentation Leibensteins ist bewußt in Abwendung von allen Elementen gehalten, die gleichzeitig als Chicago-Approach (oft auch "New Horne Economics"-Approach genannt) bekannt wurden. Dabei wird auch auf die unzweifelhaft wichtigen und richtigen Aspekte dieser anschließend vorgestellten Theorievariante verzichtet und somit das Kind gewissermaßen mit dem Bade ausgeschüttet.
3. Der "Chicago-Approach" 3.1. G. Beckers ökonomische Analyse der Fruchtbarkeit
Die sicherlich einflußreichste Veröffentlichung für die gegenwärtige ökonomische Theorie der Bevölkerung ist ein Beitrag Beckers l aus dem Jahr 1960, auf den eine ganze Schule von Variationen und Verfeinerungen aufbaut. In ihr wurde zum ersten mal die direkte Analogie zur traditionellen mikroökonomischen Konsumtheorie vorgestellt und Kinder als langlebige Konsumgüter verstanden, die nur sehr untergeordnet Investitionsgutcharakter besitzen. Die Präferenzen für Kinder sind außerökonomisch (durch Religion, Rasse, Alter etc.) bestimmt, so daß unterschiedliche Kinderzahlen mit gleichem Einkommen durchaus erklärbar sind. Das Einkommen und die relativen Preise lenken die Allokation von Ressourcen in Kinder und in 1 G. Becker, An Economic Analysis ... , a. a. 0., S.
209 ff.
Überblick über moderne ökonomische Theorie der Geburtenentwicklung
303
alternative nutzenspendende Konsumgüter. Becker setzt den Preis von Kindern wie in der Mikroökonomie üblich als gegeben und explizit für alle Einkommensgruppen gleich an 2 und wendet sich damit gegen die von Leibenstein 1957 vorgetragene Erklärung, daß der Preis von Kindern mit dem Einkommen steigen würde 3. Auch Becker muß eine Erklärung für den Widerspruch zwischen steigenden Einkommen und sinkender Kinderzahl suchen, die er in zwei Faktoren sieht: Zum einen wurde die Beziehung über Jahrzehnte hinweg überlagert durch eine unterschiedliche Intensität der Verhütung in den verschiedenen Einkommensgruppen. Seit aber die Kindersterblichkeit niedrig und die Anwendung von Kontrazeptiva allgemein verbreitet ist, sollte sich die aus der Theorie vorausgesagte Beziehung auch wieder einspielen 4. Der zweite und für den gesamten Chicago-Approach charakteristische Faktor 5 ist die bereits in der Wohlstandstheorie aufgetauchte Unterscheidung zwischen Qualität und Quantität von Kindern, die wir deshalb an dieser Stelle ausführlicher diskutieren wollen, weil sie von Beginn der Diskussion an extrem kontrovers beurteilt wurde 6 . Mit steigendem Einkommen ersetzen Eltern die Quantität von Kindern durch Kinder höherer Qualität, so daß bei steigendem Einkommen die Beziehung zwischen Kinderzahl und Einkommen nicht mehr eindeutig sein muß. Entscheidender Faktor für die Beurteilung einer solchen Formulierung ist die Frage, was man sich unter Qualität von Kindern vorzustellen habe. Die Unterscheidung in Qualität und Quantität von Kindern könnte angelehnt sein an die Erfahrung bei Konsumgütern, für die das Gut "Automobil" stehen mag. Je höher das Einkommen, desto teurere und höherwertige Marken werden nachgefragt, die sich wenigstens teilweise in objektiven Größen wie Geschwindigkeit, Verbrauch an Kraftstoffen, Sitzfläche etc. messen lassen. 1m Fall des Automobils ist Ebenda, S. 214. Siehe H. Leibenstein, Economic Backwardness ... , a. a. 0., S. 161 ff. 4 Für Becker (an Economic Analysis ... , a. a. 0., S. 228) gab es deshalb auch keinen Grund, daß bei weiter steigenden Einkommen die Fruchtbarkeit langfristig, ausgehend vom "niedrigen" Niveau des Jahres 1960 (!), nicht wieder steigen sollte. 5 Siehe auch R. Willis, Economic Theory of Fertility Behavior, in: Economics of the Family, hrsg. von Th. W. Schultz, Chicago und London 1974, S. 25-75; O. Oe Tray, Child Quality and Oemand for Children, ebenda, S. 91-116; B. Becker und H. G. Lewis, On the Interaction between the Quantity and Quality ofChildren, ebenda, S. 81-90, oder A. Thornton, Fertility and Income, Consumption Aspirations, and Child Quality Standarts, in: Oemography, Vol. 16,1979, S. 157-175. 6 Siehe dazu beispielsweise die Oiskussionsbeiträge von Ouessenberry und Okun im Tagungsband der NBER-Tagung von 1960 oder B. Turchi, Microeconomic Theories of Fertility: A Critique, in: Social Forces, Vol. 54, 1975, S. 107-125. 2
3
304
Anhang I
Qualität eine tatsächliche oder gefühlsmäßige Outputeinheit, die durch einen höheren Marktpreis abgegolten wird. Becker wollte nun bei der Übertragung auf die Nachfrage nach Kindern eine solche Vorstellung vermeiden und bezeichnet als Qualität von Kindern die Tatsache, daß für ein Kind höhere Ausgaben (in Geld oder Zeit) aufgewendet werden 7 ; Qualität wäre demnach eine Inputkategorie. Gleichzeitig bietet er eine ergänzende Definition: "If more is voluntary spent on one child than another, it is because the parents obtain additional utility from the additional expenditures and it is this additional utility which we call higher quality"8. In dieser Formulierung wird impliziert, daß sich jeder Geldaufwand direkt proportional in Output übersetzt, so daß Qualität auch hier im Prinzip eine Outputeinheit bleibt. Der Begriff Qualität von Kindern legt die Vorstellung nahe von Intelligenz, Schönheit, Bildung oder ähnlichen Eigenschaften, die Eltern an ihren Kindern schätzen. Daß gen au dies auch in vielen Beiträgen des Chicago-Appro ach impliziert wird 9 , ist erkennbar bei Willis: " ... the vector ofutility-generating characteristics of a given child may be aggregated into the commodity Qi' which will be called the "quality" ofthe ith child"lO. Im hier zitierten Ansatz muß damit die Vorstellung verbunden sein, Qualität sei durch Einsatz von Geld oder Zeit veränder- und produzierbarli. "Glückliche" Eltern erhalten allerdings in Wahrheit alle von ihnen an ihren Kindern gewünschten Eigenschaften kostenlos, andere erreichen sie selbst durch Einsatz erheblicher Ressourcen nicht, so daß Aufwand und Ertrag bei der (in diesem Sinn verstandenen) Qualität von Kindern in keinem Zusammenhang stehen. Qualität als Output ist weder meßbar noch intersubjektiv vergleichbar, da ein Elternpaar ein braves und stilles Kind wünscht, andere nur einen Sport7 ,,1 will call more expensive children "higher quality" children ... ", (S. 173). Aber Becker verwirrt im zweiten Halbsatz ,just as Cadillacs are called higher quality cars than Chevrolets". 8 Im ursprünglichen ökonomischen Modell wäre dies ein Beispiel für Preisdiskriminierung: Für ein in seinen Charakteristika unveränderten Gut müssen einige Nachfrager mehr aufwenden (einen höheren Preis zahlen) als andere. 9 Für D. Oe Tray (Child Quality ... , a. a. 0., S. 102), für den auch die Anzahl der Kinder selbst in einer "Haushaltsproduktionsfunktion" unter Zeit- und Geld(?)-aufwand "erzeugt" wird (!), ist die Qualität ein Gut, dessen Annäherung das "expected full wealth of the child" wäre. Als konkretes Maß verwendet er dann den Input "expected public school investment per child in dollars". 10 R. J. Willis, Economic Theory of Fertility Behavior, a. a. 0., S. 30. 11 Das amerikanische Schulsystem begünstigt eine solche Vorstellung, wo eine College- oder Universitätsausbildung letztlich eine Frage des Geldaufwands ist. Dieses Beispiel darf aber keinesfalls auf andere Länder übertragen werden und ist selbst für die USA nicht auf andere Elemente des Begriffs Qualität anwendbar.
Überblick über moderne ökonomische Theorie der Geburtenentwicklung
305
star oder ein musikalisches Wunderkind anerkennen. Konsequenz der Nichtoperalisierbarkeit des Begriffs ist deshalb bei empirischen Überprüfungsversuchen die Zuhilfenahme eigenartiger Hilfskonstruktionen 12. Für eine so gemessene Qualität kann es auch keinen trade-off mit der Kinderzahl geben, wie er im Chicago-Approach in Form einer normal verlaufenden lndifferenzkurve explizit formuliert wird 13. Die Verwendung von Qualität als Outputkategorie und ein trade-off mit der Outputkategorie Kinderzahl 14 ist aus mindestens zwei Gründen absolut irrelevant: 1) Die Qualitätcharakteristika werden unter Unsicherheit erzeugt (die Mischung von Chromosomen unterliegt nicht dem ökonomischen Kalkül) und müssen von den Eltern akzeptiert werden, d. h. sind nicht selbst zu bestimmen (wie dies ein trade-off nahelegt). Die Eltern können bestenfalls versuchen, ihnen negativ erscheinende Qualitätsmerkmale der Kinder durch Erziehung und im beschränkten Maß durch Geldaufwand zu beeinflussen. 2) Eltern wünschen eine bestimmte "Qualität" bei allen ihren Kindern. Falls ein Musikfanatiker sich musikalische Wunderkinder wünscht, will er für alle Kinder vermutlich die gleiche Ausbildung. Falls die ökonomischen Ressourcen nicht für zwei qualitativ hochwertige Kinder reichen, wird das Musikliebhaberpaar kaum nur ein Wunderkind und ein zweites Kind minderer Qualität realisieren 15. Das Qualitätsargument wurde eingeführt, um die Tatsache zu erklären, daß Reiche trotz eines für alle Einkommen als gleich unterstellten Preises 12 So versucht etwa Thornton (Fertility and Income ... , a. a. 0., S. 170 ff.) "child quality" durch einen Index für "child quality desire" zu messen. Eltern werden dabei gefragt: a) Wie wichtig finden Sie eine College-Ausbildung, b) wie wichtig finden Sie, daß Mütter sich zuhause um die Erziehung kümmern, c) wie wichtig finden Sie individuelle Ausbildung in Musik, Tanz oder Sport, d) wie wichtig finden Sie die Teilnahme der Kinder an Camps, Touren und anderen Ferienaktivitäten und e) wie wichtig ist die Mitgliedschaft in Clubs, bei Pfadfindern etc. 13 Gemeinsam mit dem Wunsch für eine bestimmte Zahl besteht zugleich eine bestimmte Vorstellung, wie diese Kinder sein sollen. Eltern, die ihren ganzen Ehrgeiz in die Erzeugung eines stillen und frühreifen Klaviervirtuosen stecken, sind keinesfalls bereit, diesen Wunderknaben gegen drei laute und unmusikalische Kinder zu tauschen. 14 Da nur ein trade-off zwischen zwei Outputs (nie zwischen einem Output und einem Input) möglich ist, muß Qualität tatsächlich als Outputkategorie gemeint sein. 15 Freilich erlaubt die Knappheit der finanziellen Ressourcen bei vier Kindern in der Regel nur weniger Aufwand pro Kind als bei nur einem Kind: Gewünscht, und darum geht es hier, würde aber für jedes Kind gleich viel Qualität: Die "Indifferenzkurven" sind praktisch unabhängig von der Quantität und bestehen aus Geraden, die ein absolutes Maximum innerhalb des Quadranten haben können (wenn die Eltern finden, daß für Kinder ein bestimmter Aufwand sinnvoll ist und mehr Aufwand ihnen schadet). Für manche Eltern mag das Maximum aber auch im Unendlichen liegen. 20
Dinkel
306
Anhang 1
weniger Kinder haben. Nehmen wir an, die Vorstellungen darüber, was man einem Kind an Aufwand im Idealfall zukommen lassen sollte, seien über die Bevölkerung normalverteilt und vom Einkommen der Eltern unabhängig, wofür in einem Land wie der Bundesrepublik (mit relativ einheitlichem Konsumstandard) vieles spricht. Dann aber kehrt das Qualitätsargument die Aussage um,' Eltern mit niedrigem Einkommen können sich keines oder nur ein Kind leisten, von dem sie glauben, es vollkommen aussstatten zu müssen. Mit steigendem Einkommen entfallt diese Beschränkung, weil dann auch mehreren Kindern eine teure (in diesem Sinne "qualitativ" bessere) Pflege angediehen werden kann, so daß bei hohen Einkommen eher umso mehr Kinder geboren werden sollten. Ein ähnliches Ergebnis erhält man, wenn man sich mit einem zweiten Aspekt der Frage auseinandersetzt: Den absolut gleichen Versorgungs-, Ausbildungs- und "Qualitätsstandard" kann man einem zweiten Kind bei weitaus geringeren Aufwendungen pro Kind verschaffen. Viele Hilfsgüter sind mehrfach verwendbar (Spiegeräte, Kleidung etc.) und es entstehen beträchtliche "economies of scale"16. Wenn man nun ein Qualitätsziel neben der Zahl der Kinder selbst hat und zusätzliche Kinder zusätzlichen Nutzen spenden, dann führt die Berücksichtigung von Skalenerträgen zu einer Erhöhung der Kinderzahl, da für Kinder höherer Parität bei gleichem qualitativen Output geringere Aufwendungen nötig sind. Es werden relativ mehr Ressourcen zu Kindern verlagert, da dort (im Vergleich zur Analyse ohne Qualitätsaspekt) ein größerer Nutzenzuwachs erreichbar ist.
3.2. Die Weiterentwicklungen im Rahmen der "neuen" Haushaltstheorie
War Becker in seinem grundlegenden Aufsatz von 1960 noch davon ausgegangen, daß der Preis von Kindern für alle Eltern gleich ist, betonte Mincer l7 wenige Zeit später, daß die Kosten in der Haushaltstheorie und besonders in dem von ihm behandelten Beispiel der Nachfrage nach Kindern zu einem wesentlichen Anteil aus Opportunitätskosten (entgangenen Erwerbseinkommen) bestehen und damit von Haushalt zu Haushalt variieren. Damit löst sich die Argumentation aber von den Annahmen der traditionellen Mikroökonomie: Entscheidende Einflußgröße für die Nachfrage ist nun der 16 Dies gilt auch für die bei der Erziehung eines ersten Kindes erworbenen Fähigkeiten der Mutter wie Gesundheitsfürsorge etc. 17 1. Mincer, Market Prices, üpportunity Costs, and Income Effects, in: Measurement in Economics, Studies in Mathematical Economics and Econometrics in Memory of Jehuda Grunfeld, Stanford 1963, S. 67-82.
Überblick über moderne ökonomische Theorie der Geburtenentwicklung 307 variable und zu bestimmende Preis. Das eigentliche Problem der Haushalte ist die möglichst korrekte Schätzung des "wahren" Preises von Kindern, über den nicht immer vollkommene Informationen verfügbar sind. Nach Mincer besteht dieser Preis neben den direkten Kosten (Nahrung etc.) besonders aus den entgangenen Markteinkommen der Mutter. Für die Weiterentwicklung der Ökonomie der Geburtenrate sind zwei weitere Entwicklungen in der mikroökonomischen Haushaltstheorie der letzten Jahrzehnte wichtig: Der Haushalt selbst kann als Produktionseinheit aufgefaßt werden, der Marktgüter durch Einsatz vor allem von der Zeit in den eigentlich relevanten und nutzenspendenden finalen Konsum übersetzt. Die wichtigste Größe ist dabei die bereits von Mincer betonte Zeit, die nur beschränkt verfügbar ist und auf Arbeit, Konsum und die Beschäftigung mit den Kindern aufgeteilt werden muß. In einer Theorie der Zeitallokation 18 wird neben der Einkommens- noch eine Zeitrestriktion relevant, was wir wegen ihres Gewichts für die Argumentation bereits in einem früheren Abschnitt ausführlicher behandelt haben. Bringt man alle behandelten Elemente zusammen, können simultan die Bildung und Verteilung des Lebenseinkommens, die Arbeitszeit von Mann und Frau, die mengenmäßige und qualitative Nachfrage nach Kindern und sonstigen Marktgütern bestimmt werden l9 . Während dabei über Erwartungsbildung jedenfalls im Prinzip das Element der Unsicherheit jederzeit integrierbar ist, wird an dieser Vorgehensweise vor allem kritisiert 20 , daß in Wirklichkeit eine schrittweise Entscheidung der Haushalte relevant sei: Es werde nicht von Anfang an über die endgültige Familiengröße entschieden, sondern zuerst ein erstes Kind geplant und geboren. Mit den dabei gewonnenen Erfahrungen und veränder~ ten Präferenzen werde dann die erneute Entscheidung über die weitere Familienbildung (oder die Kontrazeption) getroffen. Freilich ist bereits die obige statische Formulierung des Kalküls derart kompliziert, daß man dem Modell nicht vorwerfen sollte, diese oder jene weitere wenn auch realistische Erweiterung im Kalkül nicht zu vollziehen. Um in möglichst kurzer Form die Essenz des Chicagomodells darzustellen, wählen wir eine vereinfachte von Ben-Porath 21 vorgetragene Variante, 18 Siehe dazu einführend G. Becker, A Theory ofthe Allocation ofTime, in: Economic Journal, Vol. 75, 1965, S. 493-517. 19 Eine gewisse Endstufe der Formalisierung wird erreicht bei R. J. W illis, Economic Theory ... , a. a. 0., S. 25 oder bei O. N. Oe Tray, Child Quality ... , a. a. 0.,
S. 91 ff. 20 21 20'
Siehe dazu B. Turchi, The Oemand for Children, S. 67 ff. J. Ben-Porath, Economic Analysis ... , a. a. 0., S. 189-224.
308
Anhang I
die sich u. a. dadurch auszeichnet, daß die dubiose Kategorie der Kinderqualität durch Konstanzsetzen der Größe Q (Qualität) = Q praktisch aus dem Kalkül eliminiert wird: Eltern haben eine außerökonomisch bestimmte Nutzenfunktion, in die Marktgüter G und Kindernutzen K (child services) eingehen, wobei sich K zusammensetzt aus der Zahl der Kinder N und aus Q: U(K, G)
= U(Q . N,
G)
= U(N,
G)
Die Nutzenfunktion wird maximiert unter den Nebenbedingungen der Produktionsmöglichkeiten in der Haushaltsproduktion sowie den Einkommens- und Zeitrestriktionen : N
=.1" CT.!N; TmN , XN)
G=jG(T}G; TmG , XG)
Für jedes Kind müssen Zeit der Mutter (TmN ), des Vaters (1jN) und Marktgüter (XN ) eingesetzt werden. Entsprechendes gilt für den finalen Konsum. Die Zeitrestriktionen für jeden Ehepartner (i = j; m) stellt sich dar als Aufteilung zwischen Arbeitszeit TA , Konsumzeit TG und Zeitaufwand für Kinder TN :
Falls der Haushalt Vermögen V besitzt, ergibt sich seine Budgetrestriktion als:
Das gesamte verfügbare Budget (Markteinkommen und Vermögen) kann ausgegeben werden für Güter, die dem finalen Konsum oder den Kindern dienen. Jeder Einsatz von Zeit für Kinder bedeutet aber einen Verzicht auf Markteinkommen, von dem angenommen werden soll, daß es zu den gegebenen Marktlöhnen H-j. und Wm erzielbar wäre. Die richtige Einkommensgröße (bei Ben-Porath "full income") für Ermittlung der realen Preisverhältnisse ist somit ein Markteinkommen, bei dem weder die Frau noch der Mann Zeit in der Haushaltsproduktion, sondern allein am Markt einsetzen. Dieses Einkommen (l) besteht aus
Überblick über moderne ökonomische Theorie der Geburtenentwicklung 309 und bestimmt die "Schattenpreise" von N und G (TCn und
TrG)
Gemäß Produktionsfunktion setzt sich das Einkommen zusammen aus:
Dabei ist ~NHjder wertmäßige Einsatz der Zeit für Kinder durch die Frau (und entsprechend für den Mann) und pXN die mit den Marktpreisen gewichtete Menge an Marktgütern pro Kind. Die beiden Klammerausdrücke beschreiben die Schattenpreise von Kindern und finalem Konsum. Er erweist sich, daß neben den eigentlichen Kinderkosten (p . Xp . N) besonders die Zeit kosten der Frau (~N· Wt • N) und des Mannes für die Wahl der Kinderzahl in einer Familie wichtig sind. Die Nutzenmaximierung erfordert, daß die Grenzrate der Substitution dem "wahren" Preisverhältnis entspricht:
Durch jeweilige partielle Ableitungen kann der Einfluß einzelner Variablen auf die Nachfrage nach Kindern ermittelt werden, wobei wir an dieser Stelle nur auf den Einfluß einer in der Mikroökonomie der Geburtenrate als besonders wichtig betonten Größe hinweisen wollen. Wenn der Lohnsatz für Frauen steigt (vielleicht als Einfluß verbesserter Ausbildung für Frauen), sollte dies einen negativen Einfluß auf die Nachfrage nach Kinder haben, falls die Kinder für die Mutter relativ zeitintensiver sind als der finale Konsum und wenn die Einkommenselastizität der Kinderzahl (mit steigendem Einkommen steigt ceteris paribus die Nachfrage nach Kindern und finalem Konsum) relativ gering ist 22 . Hier zeigt sich der auch in den empirischen Untersuchungen immer wieder betonte duale Einfluß: Einkommenserhöhungen (in erster Linie solche durch den Mann) wirken positiv auf die Fruchtbarkeit, aber Lohnerhöhungen für die Frau erhöhen den "Schattenpreis" der Kinder umso stärker ,je zeitintensiver sie sind, und wirken damit negativ auf die Kindernachfrage. Der Geburtenrückgang der letzten Jahrzehnte wird im Rahmen dieses Ansatzes folgendermaßen erklärt 23 : Die steigenden Beschäftigungschancen Siehe J. Ben-Porath, Economic Analysis ... , S. 195. Siehe besonders W. P. Butz und T. P. Ward, The Emergence of Countercyc1ical U. S. Fertility, in: AER, Val. 69, 1979, S. 318-328. 22
23
310
Anhang I
für Frauen und die relative (wie absolute) Erhöhung ihrer Löhne hat den (Schatten)Preis von Kindern erhöht und damit einen Rückgang der Nachfrage bei unveränderten Präferenzen und steigenden Einkommen ausgelöst.
4. Die langfristige Analyse von Easterlin Relativ große Resonanz fand eine Variante der ökonomischen Theorie der Fruchtbarkeit, die in mehreren Veröffentlichungen Easterlins als eine Art "Konjunkturtheorie der Fruchtbarkeit" vorgetragen wurdel. Ausgangspunkt dieser Theorie ist die Erfahrung, daß sich die Bevölkerung mit Sicherheit in diesem Jahrhundert (vermutlich auch in früheren Zeiten) in langfristigen Wellen von der Dauer etwa einer Generation (dem sogenannten "fertility swing") entwickelte 2. In praktisch allen hochindustrialisierten Staaten gingen zwischen 1925 und 1935 die Geburten zurück, nahmen von 1945 bis 1960 zu und seither mit gewissen zeitlichen Verschiebungen wieder ab. Während in allen anderen Erklärungen die wirtschaftlichen Variablen als Restriktion die Verwirklichung eines exogen vorgegebenen Kinderwunsches regulieren, bestimmen sie in Easterlins Ansatz die Entstehung und Veränderung der Präferenzen für Kinder selbst: Die Vorstellungen junger Erwachsener über Familiengröße und Kinderzahl ist danach ein Ergebnis ihrer Sozialisierungserfahrungen innerhalb der Familie, in der sie selbst aufwuchsen. Befinden sie sich aktuell in einer Lage, die günstiger ist als das im Elternhaus entstandene Anspruchsniveau, so erhöhen sie die Kinderzahl. Ist ihre relative ökonomische Position schlechter als die ihrer Eltern, reagieren sie mit einer Reduktion der Kinderzahl. Damit werden die langfristigen Schwankungen in der Kohortenfertilität durch den "relativen ökonomischen Status" der jungen Erwachsenen erklärt, wobei Faktoren wie die Kontrazeption als intervenierende Einflüsse wirksam werden. Easterlins Ansatz gehört auch vom Erklärungsgegenstand her in die Reihe soziologischer oder sozialpsychologischer Theorien und kann beispielsweise als eine Spezifizierung dessen verstanden werden, was als "Generative 1 Der Zeitraum einer "Konjunkturschwankung" ist damit wesentlich länger als der ökonomische Konjunkturzyklus, wie er beispielsweise bei Lösch im Mittelpunkt der Argumentation stand. 2 Als Zusammenfassung seiner Theorie siehe R. Easterlin, Relative Economic Status and the American Fertility Swing, in: Family Economic Behavior, hrsg. von E. B. Sheldon, Philadelphia und Toronto 1973, S. 170-223 oder ders., Population, in: Contemporary Economic Issues, a. a. 0., S. 310-352.
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Struktur"3 in der Bevölkerungssoziologie diskutiert wird. Die Lebenschancen und das Zukunftsbild einer Generation werden massiv von der vorangegangenen wirtschaftlichen Entwicklung, aber auch von der Bevölkerungsentwicklung selbst bestimmt. Hat, wie in Deutschland im letzten Jahrzehnt, eine relativ große Zahl junger Menschen neu entstandene Karrierepositionen früh ausgefüllt, verschlechtern sich die Zukunftschancen der nachfolgenden Generation deutlich 4 . Die Überlegungen Easterlins sind zwar plausibel, aber es ist nur schwer vorzustellen, wie daraus eine vollständige und ausreichende Zyklenbeschreibung entstehen könnte 5. Aber gerade Easterlin selbst hält eine ökonometrische Überprüfung für möglich und bietet "Evidenz" dafür an 6. Aus theoretischer Sicht sind vor allem zwei Argumente wichtig: Easterlins Erklärung baut auf der starren Relation zwischen der wirtschaftlichen Erfahrung der Eltern und der Kinder auf, denn nur auf diese Weise sind langfristige Zyklen erklärbar. Die Diskussion in der ökonomischen Mikrotheorie ebenso wie in der Demographie, die sich mit dem Einfluß von Anspruchsniveaus mit Präferenzbildung und -veränderung auseinandersetzen, betonen aber die Bedeutung der Anspruchsvorbilder in der gleichen Generation 7 : Es ist weniger die Elterngeneration, die aktuelle Ansprüche lenkt, sondern die soziale Schicht, in die man aufsteigen oder aus der man einen Abstieg verhindern möchte 8,9. 3 Zur Entstehungsgeschichte und alternativen Ausformulierungen des Begriffs siehe K. M. Bolte, Der Begriff der generativen Struktur als Instrument zur Analyse der Bevölkerungsbewegung der Entwicklungsländer, in: Entwicklungstheorie und Entwicklungspolitik, a. a. 0., S. 243-276. 4 Dieser Mechanismus ist weder neu noch einmalig. Siehe dazu ausführlich G. Rümelin, Zur Übervölkerungsfrage ... , S. 94 Ir. 5 In mathematischer Formulierung der Hypothesen lassen sich zyklische Schwingungen ähnlich denen des cobweb-Theorems entwickeln. Siehe P. A. Samuelson, An Economist's Non-Linear Model of Self-Generated Fertility Waves, in: Population Studies, Vol. 30, 1976, S. 243-247. 6 Mit der daraus entstandenen Diskussion wollen wir uns anschlieBend beschäftigen, wobei sich natürlich eine quantitative Formulierung der GröBe "relativer ökonomischer Status" als zentrale Frage erweisen muB. 7 Siehe dazu beispielsweise G. Mackenroth, Bevölkerungslehre, in: Soziologie, hrsg. von A. Gehlen und Schelsky, Düsseldorf-Köln, 1955, S. 70 f. 8 Die Einkommensposition relativ zur sozialen Schicht, der man sich zugehörig fühlt, wird auch von Freedman (D. Freedman, The Relation of Economic Status to Fertility, in: AER, Vol. 53, 1963, S. 414-426) betont und hat in einem statistischen Test bessere Erklärungskraft als das absolute Einkommen der Eltern. 9 Eine der Easterlinschen Hypothesen durchaus entsprechende Interpretation des Geburtenrückgangs in Deutschland gibt R. Mackensen, Das generative Verhalten im Bevölkerungsrückgang, in: Bevölkerungsbewegung zwischen Quantität und Qualität
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Ein weiteres verdeutlichendes Argument sollte angeführt werden: Die Entscheidung gegen Kinder in Zeiten relativ schlechter ökonomischer Situation fällt nicht etwa, weil dann für diese Kinder die Zukunftsaussichten besonders negativ sind, wie dies in der öffentlichen Diskussion oft anklingt. Dies wäre nämlich insofern irrational, weil die in dieser Situation geborenen Kinder später selbst vor relativ günstigen Bedingungen stehen müssen, da ihre Generation dann relativ "klein" ist. Auf diese Weise müßten die langfristigen Zyklen gedämpft werden und allmählich verschwinden. 5. Außerökonomische Faktoren und die alternativen sozial wissenschaftlichen Erklärungsansätze Bereits der Beitrag Easterlins war insoweit untypisch, als er die Präferenzbildung selbst zum Gegenstand der Analyse macht. Angesichts des Erklärungsgegenstands ist es nur natürlich, daß Ökonomen versuchen, ihre Erklärungen um Erkenntnisse anderer Sozialwissenschaften zu erweitern. Ein typisches Beispiel für den Versuch einer solchen integrativen Betrachtungsweise ist der Beitrag von TurchP, dessen Vorgehensweise kurz charakterisiert werden soll, woran sich ein Vergleich mit nichtökonomischen Fruchtbarkeitstheorien und deren komparativen Vor- und Nachteilen anschließen kann 2. Während Turchi die dubiose Kategorie der Kinderqualität (die wir bereits ausführlich diskutierten) kritisiert und eliminiert, übernimmt er doch die zentralen Elemente des Ansatzes der "neuen" Mikroökonomie, die Betonung der Üpportunitätskosten, ausgehend von einer Theorie der Zeitallokation. Gleichzeitig versucht er aber, soviele sozialwissenschaftliche Faktoren wie möglich in seine Analyse einzubeziehen. Dazu bieten sich vor allem zwei Stellen an: Die Erfahrung zeigt, daß in bestimmten sozioökonomischen Gruppen (z. B. bei Landwirten) oder Regionen vom Durchschnitt deutlich unterschiedliches Fertilitätsverhalten zu beobachten ist. Turchi geht deshalb von der Hypothese aus, daß die Präferenzen für Kinder zwischen verschiedenen sozioökonomischen Gruppen systematisch variieren, so daß Nachfragefunktionen jeweils für die einzelnen Gruppen getrennt formuliert werden ... , a. a. 0., S. 82-104, bes. S. 87 ff., wenn er die niedrige Fertilität bestimmter AIterskohorten mit deren Sozialisationsbedingungen in früher Jugend erklärt. 1 B. Turchi, The Demand far Children ... , Chapter 2 tr 2 Siehe dazu besonders R. P. Bagozzi und M. F. van Loo, Fertility as Consumption: Thearies from the Behavorial Sciences, in: Journal ofConsumer Research, Vol. 4, 1978, S. 199-228.
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müßten. In der von ihm vorgenommenen empirischen Analyse erweisen sich dann Faktoren wie Heiratsalter, Religion oder "farm background" als tatsächlich gewichtig, da ihre Einbeziehung die Vorzeichen und Signifikanz der rein ökonomischen Modellelemente ändert. Ein zweiter Faktor ist in seiner Existenz plausibel, aber in die Analyse faktisch nur schwer integrierbar: Wir hatten erkannt, daß der Preis von Kindern (so wie man diesen Ausdruck in der Mikroökonomie versteht) nicht wie bei anderen Gütern vorgegeben und bekannt ist. Der "wahre" Preis besteht größtenteils aus hypothetischen Elementen und die Eltern müssen sich bei ihrer Entscheidung bewußt oder unbewußt Vorstellungen über dessen Größe bilden 3. Turchi nimmt nun an, daß die Familien bei der Perzeption des wahren Preises unterschiedlich genau die tatsächlichen Größenverhältnisse treffen. Der wahre Preis (einschließlich Opportunitätskosten) dürfte zwar insgesamt unterschätzt werden, aber dort noch relativ am genauesten eingeschätzt werden, wo er besonders hoch und spürbar ist. Diese Überlegung könnte einerseits dazu beitragen, die inverse Beziehung zwischen Einkommen und Kinderzahl zu erklären, und könnte andererseits auch den säkularen Geburtenrückgang damit begründen, daß die wahren Preisverhältnisse im Zusammenhang mit der "Rationalisierung aller Lebensbereiche" immer stärker erkannt würden. Der Versuch, soziologische oder sozialpsychologische Erklärungsfaktoren in das ökonomische Modell zu intergrieren, ist so offensichtlich ein Schritt in Richtung Realitätsnähe, daß man sich wundern muß, warum eine solche Vorgehensweise so wenig Resonanz in ökonomischen Beiträgen fand. Die Begründung dafür muß allerdings vermutlich weniger in der Ignoranz der Ökonomen als im Zustand der vorhandenen alternativen Fruchtbarkeitserklärungen gesucht werden. In einem kurzen Überblick wollen wir uns deshalb im folgenden mit den sozialwissenschaftlichen Theorien beschäftigen 4 : Turchis Berücksichtigung von Faktoren wie Religion, Beruf oder Minoritätsstatus (den er allerdings mangels Daten nicht in die empirische Analyse einbezieht) ist eine direkte Anwendung der soziologischen Fruchtbarkeits3 Das ökonomische Rationalmodell darf nicht in der Form mil3verstanden werden, daß dabei unterstellt würde, die Eltern müßten mit Taschenrechnern operieren, wie dies dem ökonomischen Ansatz oft vorgeworfen wird. Rationalprinzip meint in diesem Fall, daß in einem expliziten oder impliziten Kalkül so viel als möglich verfügbare Information verwertet wird und die tatsächlichen Entscheidungen dann in eine Richtung gehen, wie es ein formales Rationalkalkül vorhersagt. 4 Siehe auch R. P. Bagozzi und M. F. van Loo, Fertility ... , S. 216 ff. sowie die Diskussionsbeiträge von C. Kiser, H. Leibenstein, K. Namboodiri, J. E. Scanzoni, B. Turchi sowie R. P. Bagozzi und M. F. van Loo, in: Journal ofConsumer Research, Vol. 5, 1979, S. 284-302.
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theorien. In diesem eigentlichen Kernbereich der Demographie werden Korrelationen zwischen der Fruchtbarkeit auf der einen und sozialen Schichtungsfaktoren wie Schulbildung, Einkommen, Wohnort oder den oben angeführten Faktoren auf der anderen Seite gebildet. Solche Beobachtungen sind aber erst dann relevant, wenn diese Beziehungen einerseits stabil sind und andererseits selbst erklärt werden. Eine Korrelation zwischen der Größe des Wohnorts und der Höhe der Fruchtbarkeit festzustellen, ist erst der Ausgangspunkt für und nicht schon die Formulierung einer Theorie. Für die Theoriebildung sind jene Faktoren heranzuziehen, mit denen die beobachteten Verhaltensdifferenzierungen erklärt werden könnten. Die soziologischen Erklärungsansätze betonen vor allem drei Faktoren als Erklärung für die von ihnen beobachteten Differenzierungen in der Fruchtbarkeit: Wie bei zahlreichen anderen Verhaltensäußerungen 5 auch kann die Fruchtbarkeit als Ergebnis der Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen Klassen 6 verstanden werden. Dann allerdings muß als nächster Schritt der Analyse erklärt werden, warum in der einen sozialen Schicht mehr und in der anderen weniger Kinder gewünscht oder realisiert werden. Ähnlich erklärungsbedürftig ist die Aussage, die Fruchtbarkeit sei von Normen gelenkt, die über meinungsbildende Institutionen wie beispielsweise Fernsehen oder Film verbreitet würden. Daß Katholiken in den USA eine deutlich höhere Fruchtbarkeit als andere Bevölkerungsgruppen hätten, geht beispielsweise für Blake 7 auf unterschiedlichen normativen Druck innerhalb der sozialen Gruppen zurück. Eine dritte Variante soziologischer Erklärungen hält die Rollenverteilung 8 in der Familie, besonders die jeweiligen Rolle der Frau (ihre Einstellung gegenüber Erwerbstätigkeit, Hausarbeit und anderen Faktoren) für entscheidend. Es wird schnell erkennbar, daß damit im Grunde nur eine "black box" für die eigentlich relevanten Erklärungsfaktoren formuliert wurde. Auch hier gilt es nun, die Entstehung oder Veränderung des Rollenverhaltens zu erklären. Nur in kurzfristiger Sicht sind Rollen, Normen oder ähnliche Größen fix. Sobald diese Faktoren selbst Variable sind, die ihrerseits z. B. von ökonomischen Faktoren mit verändert werden, kann man allerdings mit einer sol5 Praktisch identische Erklärungen werden beispielsweise in der soziologischen Theorie des Wahlverhaltens angeboten. 6 Siehe dazu etwa D. V. Glass, Fertility Trends in Europe Since the Second World War, in: Population Studies, Vol. 22, 1968, S. 103-146. 7 So beispielsweise Blake, Are Babies Consumer Durables'? ... , S. 25. 8 F. 1. Nye, Role Structure and Analysis of the Family, Beverly Hills, CY, 1976.
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Überblick über moderne ökonomische Theorie der Geburtenentwicklung 315 chen "Theorie" nicht den ökonomischen Ansatz kritisieren. Aus ökonomischer Sicht ist das unterschiedliche Verhalten verschiedener sozialer Gruppen letztlich das Ergebnis dahinterstehender rationaler Entscheidungen. Wenn eine Familie überlebende Kinder als Alterssicherung oder Arbeitskraft benötigt, wie dies früher für die Landwirtschaft typisch war, ist ihre hohe Fruchtbarkeit nur in kurzfristiger Sicht ein schichtgebundenes und traditionelles Verhalten; langfristig dagegen Ausfluß rationalen Handeins. Kurzfristig mögen religiöse Bindungen oder soziale Erfahrungen sich als Abweichungen vom Rationalverhalten darstellen, auf längere Sicht sind sie selbst das Ergebnis eines Kalküls 9 . Ein Beispiel für diese Grundschwäche soziologischen Argurnentierens ist die bereits angesprochene Fruchtbarkeit der ethnischen Minderheiten in Deutschland. Die Kinderzahl ausländischer Arbeitnehmer, die erst wenige Jahre in Deutschland leben, liegt ebenso deutlich über derjenigen deutscher Eltern, wie es für die polnischen Einwanderer im Ruhrgebiet vor 100 Jahren galt. Die Gastarbeiter bringen ihre eigenen Vorstellungen über die richtige Familiengröße aus ihrer Heimat mit, so daß hier im ersten Moment das soziologische Modell einen idealen Anwendungsfall findet. Würden wir allerdings prognostizieren, daß die vorher angesprochenen Familien (oder ihre Kinder) in zehn Jahren ein ähnlich differenziertes Verhalten zeigen - nur dann hätte es Sinn zu sagen, die Fruchtbarkeit hänge von der Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Minorität ab - würde man aber deutlich Schiffbruch erleiden. Auf ganz unterschiedliche Weise passen sich die Familien den neuen Lebensbedingungen auch im Fruchtbarkeitsverhalten an. Sie sind dann zwar noch Katholiken 10 oder türkischer Abstammung, aber ihr Verhalten hat sich geändert. Man kann nicht einmal stets konstatieren, die Fruchtbarkeit sei umso größer,je weniger eine soziale Gruppe in die Gesamtheit integriert ist. Die Minderheitenposition kann sowohl zu einer besonders hohen als auch zu einer besonderen niedrigen Fruchtbarkeit führen, wie dies etwa für die Juden in Deutschland in der Zeit nach der Jahrhundertwende galtlI. Unser 9 "Der Wirkungszusammenhang von Bevölkerungsweisen und ökonomischen Realfaktoren zeigt einen dialektischen ProzeB in dem immer wieder eine Bevölkerungsweise am Entstehen einer Wirtschaftsweise und diese am Entstehen einer neuen Bevölkerungsweise ursächlich mitbeteiligt ist". G. Mackenroth, Bevölkerungslehre ... , S. 328. 10 Der faktisch differenzierte EinfluB der Variable Religion kann allein daran erkannt werden, daß die katholischen Familien in Frankreich eine extrem niedrige, in den USA aber eine sehr hohe Fruchtbarkeit hatten und haben. 11 Siehe dazu E. Kahn, Der internationale Geburtenstreik ... , S. 32 Ir
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Beispiel zeigt, daß mit Korrelationen zwischen Fruchtbarkeit und bestimmten sozio-ökonomischen Merkmalen erst der Ausgangspunkt für eine Erklärung und nicht etwa schon ein Ergebnis formuliert ist l2 . Eine relative Außenseiterposition nehmen die psychologischen Fruchtbarkeitstheorien ein, die Fruchtbarkeit beispielsweise als Folge von Bedürfnissen oder Motivationen zu erklären versuchen l3. Damit können aber in Reinform bestenfalls einzelne Facetten des Verhaltens erklärt werden. So ist etwa die Beobachtung, daß die Kinderzahl davon abhängt, wie die Frau ihre Beziehung zum Ehepartner versteht 14, in vielen Fällen zutreffend, aber insgesamt doch zu wenig intersubjektiv vergleichbar. Eine andere im individuellen Fall sicherlich ebenso relevante Kategorie von Persönlichkeitsfaktoren sind die Willenskräfte l5 . Sie sind besonders relevant für die Frage, ob und wie eine bewußte Familienplanung durchgeführt wird. Ausgangspunkt der ökonomischen Ansätze war stets, sowohl die Fähigkeit als auch den Willen zur bewußten und aktiven Familienplanung vorauszusetzen, was in dieser Form sicherlich nicht immer zutrifft. Auch die Willenskontrolle dürfte mit der Ausbildung beider Ehepartner korreliert sein, so daß hier eine weitere Erklärung für die mindestens zeitweise negative Beziehung zwischen Einkommen und Fruchtbarkeit liegen könnte. Eine weitere Variante sozialpsychologischer Erklärungen der Fruchtbarkeit betont die interpersonellen Prozesse, d. h. den Entscheidungsmechanismus zwischen Vater und Mutter l6 .In der unterschiedlichen Art und Weise, wie sich zwischen den Partnern Entscheidungsprozesse vollziehen, kann sicherlich die Begründung für manche Abweichung des tatsächlichen von dem im Rationalmodell vorausgesetzten Verhalten liegen. Aber für eine brauchbare Integration in eine allgemeine Theorie der Fruchtbarkeit wäre dieser Aspekt zum einen nur ein Detail und müßte zum andern in einer verallgemeinerungsfähigen Konkretisierung vorliegen. 12 Mit solchen Korrelationen lassen sich zwar statistische Gleichungen mit ökonometrisch überzeugenden Testgrößen formulieren, die aber oft genug in die Nähe des "measurement without theory" rücken. l3 Siehe dazu L. Rainwater, Family Design: Marital Sexuality, Family Size and Contraception, Chicago 1965. 14 So kann man etwa davon ausgehen, daß eine vollkommen auf ihren Mann fixierte und gefühlsmäßig gebundene Frau eher Kinder gebären wird als eine Frau, die sich ihrer Beziehung zum (momentanen) Partner nicht sicher ist. 15 Siehe dazu M. Fishbein, Towards an Understanding of Family Planning Behavior, in: Journal of Applied Social Psychology, Vol. 2, 1972, S. 214-227. 16 Siehe etwa P. H. Hass, Maternal Role Incompatibility and Fertility in Latin America, in: Journal ofSocial Issues, Vol. 28, 1972, S. 111-128.
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Insgesamt zeigt sich, daß der ökonomische Erklärungsansatz zwar allgemeiner und abstrakter, aber als Theorie vollständiger ist als die konkurrierenden sozialwissenschaftlichen Ansätze. Nach dem Gesetz der großen Zahl abstrahieren ökonomische Modelle von Einzelerfahrungen, um für die Gesamtheit repräsentativ, prognose- und aussagefähig sowie in der Konstruktion so einfach wie möglich zu bleiben. An manchen Stellen zeigt sich, wie notwendig und sinnvoll eine Erweiterung der ökonomischen Argumentation wäre. Kaum eine der angeführten sozialwissenschaftlichen Erklärungen läßt sich aber, ohne die Argumentation wesentlich zu verkomplizieren, in den ökonomischen Ansatz unmittelbar integrieren, auch wenn genau an dieser Stelle vermutlich die günstigsten Chancen für weiteren Erkenntnisfortschritt liegen.
6. Die Prognose der Geburtenentwicklung im ökonomischen Modell 1m Rahmen der ökonomischen Theorie der Fruchtbarkeit kann man auch Fragen der Art beantworten, wie Babyboom und Geburtenrückgang zu erklären sind oder - was von besonderem Interesse ist - wie sich die Geburtenzahlen in den nächsten Jahren entwickeln könnten. Für solche Überlegungen wurden sowohl die Theorievariante von Easterlin als auch die "neue" Mikroökonomie herangezogen.
Die Kernthese des Chicago-Approach war, daß neben einem positiven Einfluß des Familieneinkommens vor allem der negative Einfluß der Erwerbstätigkeit der Mutter steht, wobei die Opportunitätskosten der Zeit der Mutter zwar nicht ganz korrekt, aber im großen und ganzen zulässig mit dem Marktlohnsatz gleichgesetzt werden. Auf diese Basis baut ein empirischer Test von Butz und Ward l7 auf, wobei der Lohnsatz nur als Schattenpreis für tatsächlich erwerbstätige Frauen angesetzt wird. Somit bestimmen die drei Größen "Einkommen des Mannes" Ym' "Lohnsatz der Frauen" W; und "weibliche Erwerbsquote" K die Geburten (gemessen in den altersspezifischen Fruchtbarkeitsraten B bestimmter Altersstufen). Getestet wird die Gleichung: InB
= Yo + YI K . In Ym + Y2 In Ym + Y3 K . In ~l'j
Durch die logarithmische Formulierung werden die Testparameter in Form von Elastizitäten gemessen 18, die eine direkte Interpretation zulassen. 17 W. P. Butz und M. P. Ward, The Emergence ... , S.
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+ Y2, da die beiden ersten Glieder der obigen Gleichung durch Umformung aus einer ursprünglichen 18 Die Einkommenselastizität der Fruchtbarkeit beträgt YI . K
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Mit einer zweistufigen Methode der kleinsten Quadrate (auch K wird endogen geschätzt und nicht etwa durch verfügbare Daten eingesetzt) erhalten die Autoren: Die Variable Einkommen des Mannes Ym hat in allen Altersgruppen einen positiven und der weibliche Lohnsatz ijjeinen negativen Einfluß, mit Ausnahme der Frauen, die 35 Jahre und älter sind. Insofern werden im Längsschnitt die Ergebnisse der Querschnittsanalysen bestätigt. Daraus schließen die Autoren auf eine antizyklische Fruchtbarkeit: Je besser die wirtschaftliche Lage, desto größer die Erwerbschancen für Frauen und desto höher ihr Lohn 19. In einer solchen Lage müßten folglich die Kinderzahlen zurückgehen, da Kinder nun relativ zu teuer werden 2o . Hält ein solcher Trend der weiblichen Erwerbstätigkeit an, müßten nicht nur die jährlichen Geburtenraten, sondern auch die gesamte Fruchtbarkeit der Kohorten langfristig sinken. Butz und Ward gehen davon aus, daß die Entlohnung von Frauen sich in Zukunft den männlichen Löhnen weiterhin annähern und die Erwerbsquote der Frauen weiter ansteigt. Daraus folgern sie für die USA einen säkularen Geburtenrückgang bis hin zu einem Mindestniveau, unterbrochen jeweils von antizyklischen Geburtenschwankungen 21 . Da die US-amerikanische immer noch deutlich höher als etwa die deutsche Geburtenrate ist, könnten jedenfalls für die nächsten Jahre diese Prognosen durchaus zutreffen 22 . Daß die weiblichen Löhne und die Erwerbsquote steigen, ist zum einen Reaktion auf die verbesserte Ausbildung, kann aber auch auf die sinkenden Kinderzahlen in den Familien zurückgehen. Wie bereits mehrfach betont, kommt in diesem Zusammenhang den Kontrazeptiva eine große Bedeutung zu: Man kann den Rückgang der Geburtenzahlen ab 1960 in den USA auch auf die Einführung und allmähliche Verbreitung neuer und effektiver Kontrazeptiva zurückführen; als Konsequenz der geringeren Kinderzahlen wäForm entstanden, die den positiven Einkommenseffekt und den Preiseffekt der nichterwerbstätigen Frauen (I - K) Ym enthielt. Siehe dazu W. P. Butz und M. P. Ward, The Emergence ... , S. 320 f. 19 Mit einer solchen Interpretation ist allerdings kaum zu erklären, warum auch die nichterwerbstätigen Frauen immer weniger Kinder gebären. 20 Die statistische Erklärungskraft des Modells ist (wie bei fast allen Zeitreihenanalysen) relativ hoch und eine expost Prognose für den Zeitraum ab etwa 1960 liefert überraschend gute Annäherungen an die Realität. 21 W. P. Butz und M. P. Ward, The Emergence ... , S. 327. 22 Um Aussagen des Modells zu verdeutlichen, muH man sich die US-Daten vor Augen führen: Der amerikanische Babyboom brach etwa 1960 (auf sehr hohem Niveau) ab und seither sinken die Geburtenraten langsam aber stetig. Ab etwa 1962 haben sich relativ zu den Einkommen der Männer die Lohnsätze für Frauen ebenso wie die Erwerbsquote erhöht, so daß der Geburtenrückgang in diesem Modell leicht ökonomisch "erklärt" werden kann.
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ren dann die höheren Löhne und Erwerbsquoten entstanden. Ein Test über Kausalität ist m. E. nur möglich, wenn man sich vergewissert, daß es gerade in den USA ein vergleichbares Geburtentief in der Zeit zwischen den Weltkriegen gab. Wenn auch damals die Einkommen der Männer wuchsen (Weltwirtschaftskrise !), aber von steigenden weiblichen Löhnen und steigender Erwerbsquote als negativen Einflüssen überkompensiert wurden, dann würde die obige Erklärung sehr viel mehr an Plausibilität gewinnen, da es einen entsprechenden Einfluß neu auftretender Kontrazeptiva damals nicht gab. Von Anfang an langfristig - d- h. in Generationenbetrachtung angelegt ist die Erklärung Easterlins. Wir erkannten sie als eine durchaus plausible Hypothese, die aber bei weitem zu unkonkret ist, um an ihr eine ökonometrische Überprüfung oder gar eine Bevölkerungsprognose anzuknüpfen. Tatsächlich aber wurde sie unter anderem von Easterlin selbst empirisch zu überprüfen versucht 23 ,24. Vorweg sollte betont werden, daß der EasterlinHypothese folgend die USA vor einem neuen Babyboom stehen müßten, obwohl gerade Easterlin selbst die Bedeutung der Kontrakonzeption durchaus beachtet. Entscheidender Ansatzpunkt einer empirischen Überprüfung muß sein, wie der Begriff des "relativen ökonomischen Status" in die Realität zu übersetzen ist. Easterlin und Condran 25 benutzen als Annäherungsgröße für diese sozialpsychologische Variable, mit der Einstellungen oder Stimmungen gemessen werden wollen, den relativen Umfang von Kohorten. Sogenannte geburtenstarke Jahrgänge werden dabei als "große" und geburtenschwache als relativ "kleine" Kohorten betrachtet. Kleine Kohorten wären der Easterlin-These folgend bevorzugt, da sie für den Einzelnen relativ bessere Chancen und damit höhere relative Einkommen bewirken würden. Eine solch 23 Siehe dazu etwa R. A. Easterlin, Relative Economic Status ... , S. 170 ff.; R. A. Easterlin und G. A. Condran, A Note on the Recent Ferti1ity Swings in Australia, Canada, England and Wales and in the United States, in: Population, Factor Movements and Economic Development, hrsg. von H. Richards. Cardiff, 1976, S. 139151; M. L. Wachter, A. Time Series Fertility Equation: The Potential for a Babyboom in the 1980's, in: International Economic Review, Vol. 16, 1975, S. 609-624 oder R. D. Lee, Demographie Forecasting and the Easterlin Hypothesis, in: Population and Development Review, Vol. 2, 1976, S. 459-468. 24 Zur Kritik siehe A. Sweezy, The Economic Explanation 01' Fertility Changes in the Unites States, in: Population Studies, Vol. 25, 1971, S. 255-267; 1. Ermisch, The Relevance 01' the Easter1in Hypothesis and the New Home Economics to Fertility Movements in Great Britain, in: Population Studies, Vol. 33, 1979, S. 39-58 oder M. R. OIeneck und B. L. Wolfe, A Note on Some Evidence on the Easterlin Hypothesis, in: lPE, Vol. 86, 1978, S. 953-958. 25 R. A. Easterlin und G. A. Condran, A Note ... , S. 1431l.
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simple Kausalkette kann sich aber in der Realität leicht umkehren: Die relativ großen Kohorten der Jahrgänge 1938-42 in Deutschland hatten weit überdurchschnittliche wirtschaftliche Chancen, als sie in das Alter der Familiengründung traten (1955-60); die ebenfalls großen Kohorten 1960-65 dagegen relativ schlechte, da ihnen Karrierepositionen versperrt sind und neue Positionen wegen des Bevölkerungsrückgangs nur eingeschränkt geschaffen werden. 26 • Ist die Variable "relativer Kohortenumfang" wenigstens in gewisser Weise plausibel, so kann die Meßgröße relativer Lohn oder relatives Einkommen noch weitaus weniger überzeugen: Der relative Lohnsatz der Kinder wird ermittelt als Verhältnis des Reallohns junger Erwerbstätiger zu einem Reallohn, wie er einige Jahrzehnte vorher gültig war, wobei zur technischen Konstruktion differenzierte lag-Strukturen verwendet werden 27 . Eine andere von Easterlin angebotene Konkretisierung des "relativen ökonomischen Status" ist das Verhältnis der Arbeitslosigkeit der jungen Generation im Vergleich zu der in der Vätergeneration 28 , die auf ähnliche Weise wie der relative Lohn konstruiert werden kann. Eine zusätzliche Variante bietet Oppenheimer 29 an, die die Anzahl der in einem Haushalt aufwachsender Kinder im Vergleich zum verfügbaren Einkommen als Maßgröße verwendet. Unabhängig davon, ob die oben angeführten Indizes im Verein mit zahlreichen anderen Dummy- und Proxy-Variablen eine statistisch signifikante Bestimmungsgleichung erbringen, muß bezweifelt werden, ob mit solchen Größen das gemessen wird, was mit ihnen intendiert wurde. Gerade die Easterlin-Hypothese sollte nicht derart überinterpretiert werden, allein mit ihr kurzfristige Schwankungen im Geburtenverhalten zu erklären. Die Generationenerfahrungen mögen sich vielleicht als lange Schwingungen in der Kohorten fertilität niederschlagen, für kurzfristige Bewegungen kann eine derart unbestimmte Größe wie der "relative ökonomische Status" kaum herangezogen werden.
26 Die Argumentation in Teil I konnte auBerdem zeigen, daB die kleinen Kohorten 1942-1950 trotz der relativ groBen wirtschaftlichen Chancen weitaus weniger Kinder haben als ihre Vorgänger. 27 Siehe dazu etwa M. L. Wachter, A Time Series ... , S. 613 tr, der zusätzlich eine ganze Reihe anderer Faktoren einbezieht (wie z. B. die Variable "Urban" für landwirtschaftliche Daten), mit denen (wie bereits betont) in Wirklichkeit oft ganz andere Zusammenhänge gemessen werden als beabsichtigt. 28 Siehe R. A. Easterlin, Relative Economic Status ... , S. 192 tr 29 V. Oppenheimer, The Life Cycle Squeeze: The Interaction ofMen's Occupational and Family Life Cycle, in: Demography, Vol. 11,1974, S. 227-245.
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