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German Pages [88] Year 2017
Leben.Lieben.Arbeiten
SYSTEMISCH BERATEN
Barbara Ollefs
Die Angst der Eltern vor ihrem Kind Gewaltloser Widerstand und Elterncoaching
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Leben.Lieben.Arbeiten
SYSTEMISCH BERATEN Herausgegeben von Jochen Schweitzer und Arist von Schlippe
Barbara Ollefs
Die Angst der Eltern vor ihrem Kind Gewaltloser Widerstand und Elterncoaching
Vandenhoeck & Ruprecht
Mit einer Abbildung Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-666-40509-9 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Umschlagabbildung: LuismiX/shutterstock.com © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen
Inhalt
Zu dieser Buchreihe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Vorwort von Arist von Schlippe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
I Der Kontext Fallbeispiel 1: Leon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 1 Was zeichnet die elterliche Präsenz aus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erlebensaspekte von elterlicher Präsenz . . . . . . . . . . . . . . . . . Verhaltensaspekte von elterlicher Präsenz . . . . . . . . . . . . . . . . Systemischer Aspekt von elterlicher Präsenz . . . . . . . . . . . . .
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Die Vorgeschichte von Leon und seinen Eltern . . . . . . . . . . . . . 22 2 Parentale Hilflosigkeit, Angst und Scham . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 1) Selektive Wahrnehmung bzw. Fehldeutung kindlicher Signale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 2) Konfliktvermeidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 3) Distanzierung von der elterlichen Verantwortung . . . . . . 25 4) Defizite in der Kooperation auf der Elternebene . . . . . . . 27 3 Die Rolle der Partnerschaft und eines möglichen Paarkonfliktes 27 4 Rahmenbedingungen für den Verlust von elterlicher Präsenz: Konflikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Die komplementäre Form der Eskalation: Nachgiebigkeit zieht Forderungen nach sich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Symmetrische Eskalation: Feindseligkeit, die Feindseligkeit fördert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33
II Die systemische Beratung: Die Haltung im gewaltlosen Widerstand und im Elterncoaching – die sieben Säulen 1) Protest gegen das Verhalten des Kindes/Jugendlichen . . . . . . . . 40 Werte und Ziele für das künftige Zusammenleben: Die Ankündigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 Wie es mit Leons Eltern im systemischen Elterncoaching weiterging . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Das Sit-in: Die starke Form des elterlichen Protestes . . . . . . 46 Zurück zur Fallgeschichte: Deeskalation und die Methode der drei Körbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 2) Elterliche Deeskalationsmaßnahmen und Selbstkontrolle: Das Prinzip des Nicht-Hineingezogenwerdens und des Aufschubs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 3) Versöhnungs- und Beziehungsgesten: Gesten der Wertschätzung, der Überraschung und der Liebe – unverzichtbarer Bestandteil des gewaltlosen Widerstandes . . . 53 4) Aktivierung sozialer Unterstützung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Wirkungen von sozialer Unterstützung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 Konkretes Vorgehen bei der Aktivierung sozialer Unterstützung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 5) Wiedergutmachungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 6) Präsenz und wachsame Sorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 7) Transparenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 Wie ging es mit Leon und seinen Eltern weiter? . . . . . . . . . . . . 67 Fallbeispiel 2: Mit der Angst im Bunde – Überbehütung, die komplementäre Eskalation fördert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69
III Am Ende 5 Abschließende Bemerkung: Die Grundannahme der Vielstimmigkeit im Kind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 6 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 7 Die Autorin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87
Zu dieser Buchreihe
Die Reihe »Leben. Lieben. Arbeiten: systemisch beraten« befasst sich mit Herausforderungen menschlicher Existenz und deren Bewältigung. In ihr geht es um Themen, an denen Menschen wachsen oder zerbrechen, zueinanderfinden oder sich entzweien und bei denen Menschen sich gegenseitig unterstützen oder einander das Leben schwer machen können. Manche dieser Herausforderungen (Leben.) haben mit unserer biologischen Existenz, unserem gelebten Leben zu tun, mit Geburt und Tod, Krankheit und Gesundheit, Schicksal und Lebensführung. Andere (Lieben.) haben mit unseren intimen Beziehungen zu tun, mit deren Anfang und deren Ende, mit Liebe und Hass, mit Fürsorge und Vernachlässigung, mit Bindung und Freiheit. Wiederum andere Herausforderungen (Arbeiten.) behandeln planvolle Tätigkeiten, zumeist in Organisationen, wo es um Erwerbsarbeit und ehrenamtliche Arbeit geht, um Struktur und Chaos, um Aufstieg und Abstieg, um Freud und Leid menschlicher Zusammenarbeit in ihren vielen Facetten. Die Bände dieser Reihe beleuchten anschaulich und kompakt derartige ausgewählte Kontexte, in denen systemische Praxis hilfreich ist. Sie richten sich an Personen, die in ihrer Beratungstätigkeit mit jeweils spezifischen Herausforderungen konfrontiert sind, können aber auch für Betroffene hilfreich sein. Sie bieten Mittel zum Verständnis von Kontexten und geben Werkzeuge zu deren Bearbeitung an die Hand. Sie sind knapp, klar und gut verständlich geschrieben,
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allgemeine Überlegungen werden mit konkreten Fallbeispielen veranschaulicht und mögliche Wege »vom Problem zu Lösungen« werden skizziert. Auf unter 100 Buchseiten, mit etwas Glück an einem langen Abend oder einem kurzen Wochenende zu lesen, bieten sie zu dem jeweiligen lebensweltlichen Thema einen schnellen Überblick. Die Buchreihe schließt an unsere Lehrbücher der systemischen Therapie und Beratung an. Unsere Bücher zum systemischen »Grundlagenwissen« (1996/2012) und zum »störungsspezifischen 8
Wissen« (2006) fanden und finden weiterhin einen großen Leserkreis. Die aktuelle Reihe erkundet nun das »kontextspezifische Wissen« der systemischen Beratung. Es passt zu der unendlichen Vielfalt möglicher Kontexte, in denen sich »Leben. Lieben. Arbeiten« vollzieht, dass hier praxisbezogene kritische Analysen gesellschaftlicher Rahmenbedingungen ebenso willkommen sind wie Anregungen für individuelle und für kollektive Lösungswege. Um klinisch relevante Störungen, um systemische Theoriekonzepte und um spezifische beraterische Techniken geht es in diesen Bänden (nur) insoweit, als sie zum Verständnis und zur Bearbeitung der jeweiligen Herausforderungen bedeutsam sind. Wir laden Sie als Leserin und Leser ein, uns bei diesen Exkursionen zu begleiten. Jochen Schweitzer und Arist von Schlippe
Vorwort
Es ist schon beinahe zwanzig Jahre her, dass ich Haim Omer kennenlernte. Er suchte damals, 1999, potenzielle Kooperationspartner, um sein Konzept der elterlichen Präsenz in Deutschland bekannt zu machen. Seine Überlegungen sprachen mich sofort an, und aus unseren ersten Begegnungen heraus entstand schnell eine Freundschaft. In Gesprächen und in vielen Auseinandersetzungen entwickelten wir die Grundgedanken des Konzepts gemeinsam weiter. Die zentrale Idee ist dabei, die Haltung und zum Teil auch Methodik aus einer Form des politischen Kampfes auf die beratende und therapeutische Arbeit mit Familien zu übertragen, die mit den Namen von Mahatma Gandhi und Martin Luther King eng verbunden ist. Für beide war Gewaltlosigkeit das Wichtigste: jenseits aller Interessenunterschiede wollten sie ihren Gegnern zeigen, dass es ihnen nicht darum ging, sie zu demütigen, zu verletzen oder gar zu vernichten. Sie haben sich darauf festgelegt, eine Eskalation niemals so weit zu treiben, dass eine Stufe erreicht werden würde, die in der Konflikttheorie »gemeinsam in den Abgrund« genannt wird. Sie waren sich darüber im Klaren, dass dies bedeutete, auch persönliches Leid auf sich zu nehmen, um den Wert der Gewaltlosigkeit zu gewährleisten. Ihre Gedanken auf die Arbeit mit Familien zu übertragen, ist durchaus schlüssig. Denn wenn familiäre Konflikte in diese hohen Eskalationsstufen geraten, steht die Existenz der Familie auf dem Spiel, und dann sind auch die Grundfesten dessen bedroht, was
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unsere Identität ausmacht: die existenzielle Verwurzelung in einem Netz tragfähiger Bindungen – meist, wenn auch nicht immer und nicht zwangsläufig, ist dies die Familie. Der gewaltlose Widerstand ermöglicht es, gegenüber den Menschen, an die man am engsten gebunden ist, eigene Positionen klar zu vertreten, ohne sich in zerstörerische Machtkämpfe zu verwickeln. Niemals hätte ich 1999 erwartet, dass es eine dermaßen breite Resonanz für die Ideen von Haim Omer geben würde. Gerade in 10
der Kinder- und Jugendhilfe wurden sie mit großem Interesse und Engagement aufgegriffen, sie entwickeln sich in jüngster Zeit zunehmend auch in andere Felder hinein. Barbara Ollefs, ebenfalls seit beinahe zwei Jahrzehnten dem Konzept eng verbunden, legt nun eine sehr gute, kompakte und leicht lesbare Einführung zur elterlichen Präsenz und zum gewaltlosen Widerstand vor. Die Grundzüge dieses Denkens und Handelns werden so dargestellt, dass sie einen schnellen Überblick erlauben. Ich freue mich, wenn viele Leserinnen und Leser sich von den hier skizzierten Vorstellungen ansprechen lassen. Arist von Schlippe
Der Kontext
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ie gesellschaftlichen Erwartungen an Elternschaft und Erziehung haben sich in den letzten Jahrzehnten enorm gewandelt
(z. B. Peukert, 2012), sie stellen Eltern mitunter vor große Herausforderungen. In westlichen Gesellschaften hat sich ein Erziehungspfad etabliert, der auf psychologische Autonomieentwicklung der Kinder setzt, verbunden mit der Befähigung zur Eigenständigkeit, zu Selbstbewusstsein, Unabhängigkeit und zur Selbstverwirklichung (Borke, 2013). Gleichzeitig ist mit diesem Entwicklungsideal ein hohes Bil-
Kontext
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dungsideal verknüpft: Kinder werden von Anfang an als gleichberechtigt und dialogische Interaktionspartner angesehen. Sie werden darin gefördert, eigene Vorlieben zu entwickeln und einzubringen. Auch wird großer Wert darauf gelegt, den Kindern von Anfang an Raum zu geben, eigene Ideen zu entwickeln und Initiative zu ergreifen. Es wird erwartet, dass die Bezugspersonen nach Möglichkeit abwarten, was das Kind an eigenen Impulsen einbringt, um sensitiv darauf zu reagieren (Keller, 2013, S. 111). Autonomieorientierung als Entwicklungsanspruch setzt eine Professionalisierung von Eltern voraus, verbunden mit einem hohen Reflexionsvermögen und enger Vernetzung. Eltern kommen mit diesem Ideal manchmal an ihre Grenzen, vor allem wenn sie wenig Unterstützung in Partnerschaft bzw. Herkunftsfamilie erfahren, wenig vernetzt sind bzw. keinen oder wenig Austausch mit anderen an der Erziehung beteiligten Personen haben. Manchmal geraten sie auch an ihre Belastungsgrenze, wenn sie mit einem sehr willensstarken Kind konfrontiert sind. Elterliche Ängste, psychische und physische Erkrankungen oder auch Verhaltensbesonderheiten der Kinder können Eltern zusätzlich in der Erziehung überfordern. Wie es Eltern in der Erziehung mit ihren Kindern ergeht, darüber ist insgesamt wenig bekannt. Aber angesichts der relativ hohen Prävalenz von Angststörungen können wir davon ausgehen, dass Ängste häufig eine große Rolle spielen, wenn sich
Eltern in der Erziehung hilflos fühlen: Über die Lebensspanne hinweg erfüllen 7 bis 16 Prozent (Wittchen u. Fehm, 2003) der Menschen mindestens einmal die Kriterien einer sozialen Angststörung, wobei Frauen häufiger betroffen sind. Besonders Mütter (Patterson u. Coby, 1980) scheinen von den Verhaltensproblemen ihrer Kinder berührt zu sein, verstärkt, wenn sie alleinerziehend sind. Aber auch bei Elternpaaren können sich 15
partnerschaftlichen Kommunikation erheblich leiden. Die Angst,
Kontext
angesichts belastender Erziehungssituationen Hilflosigkeit, Scham, Resignation und Ängste entwickeln. Zudem kann die Qualität der beim Kind seelische Schäden zu bewirken, hindert viele Eltern daran, eine anhand ihrer eigenen Maßstäbe entwickelte Form von Erziehung zu verwirklichen. Wenn Eltern im Zusammenleben mit ihrem Kind gravierende subjektive Erfahrungen von Scheitern machen und einen tief greifenden Verlust von Selbstwirksamkeit erleben, also das Gefühl entwickeln, nicht mehr Einfluss auf die Situation nehmen zu können, wird ihr Gefühl von Verlässlichkeit und Vorhersagbarkeit infrage gestellt, was häufig mit erhöhten Depressionswerten einhergeht (Ollefs, von Schlippe, Omer u. Kriz, 2009). Pleyer (2003) spricht von »parentaler Hilflosigkeit« (genauer dazu weiter unten), wenn elterliche Lösungsbemühungen erfolglos zwischen Flucht und Angriff stecken bleiben. In der Steigerung dieser Erfahrung gehen etwa Korritko und Pleyer (2016) gar von »parentaler Traumatisierung« aus. Manchmal scheint auch ein eher liberales Erziehungsideal mit den Bedürfnissen eines eher willensstarken oder dominanzorientierten Kindes wenig kompatibel zu sein, da ein solches Kind neben einer sicheren Beziehung nach klaren impliziten und expliziten Regeln verlangt. In konflikthaften Auseinandersetzungen und Machtkämpfen werden Eltern zunehmend hilflos und ängstlich und verlieren ihre Präsenz, also ihre »Anwesenheit« im Leben der Kinder bzw. Jugend-
lichen (Rotthaus, 2004). Eine Haltung von Präsenz kann, je nach Temperament des Kindes, den Eltern mitunter Mut, Ausdauer und Beharrlichkeit abverlangen, wenn sie in Kauf nehmen, sich kurzfristig beim Kind unbeliebt zu machen, um sich langfristig für das Wohl ihres Kindes einzusetzen. Das Konzept des gewaltlosen Widerstandes in der Erziehung bietet eine Möglichkeit, Eltern und Erzieher zu unterstützen, ihre Präsenz ansatz für Eltern von Kindern mit massiven Verhaltensproblemen
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bei Hilflosigkeit und Angst wiederzuerlangen. Dieser Beratungs16
wurde von dem israelischen Psychologen Haim Omer entwickelt und gemeinsam mit Arist von Schlippe in Deutschland vorgestellt (Omer u. von Schlippe, 2002, 2004). Mittlerweile wurde der Beratungsansatz vielfach evaluiert (Weinblatt, 2008; Ollefs, 2008; Omer u. Lebowitz, 2016) und auf die Schule und andere pädagogische Institutionen übertragen (Omer, Irbauch u. von Schlippe, 2007; Lemme, Tillner u. Eberding, 2009; Lemme u. Körner, 2016).
Fallbeispiel 1: Leon Die Mutter des zwölfjährigen Leon1 bittet um ein Elterncoaching. Ihr Sohn, einziges Kind der Eltern, zeige in einer freien Privatschule, die einen reformpädagogischen Anspruch vertritt, zunehmend Verhaltensauffälligkeiten und Störungen im Sozialverhalten: Er halte sich kaum an Regeln, sei reizoffen, störe den Unterricht und versuche, durch negatives Verhalten Aufmerksamkeit zu gewinnen. Er provoziere Lehrer und Mitschüler und habe sich dadurch in eine Außenseiterposition manövriert. Die Schulleistungen seien mäßig oder gar darunter, es falle ihm schwer, sich zu konzentrieren. Gegenüber Mitschülern sei er in Konfliktsituationen aggressiv, was andere Eltern 1 Die Namen der Fallbeispiele wurden durchweg anonymisiert.
aufgebracht habe und nun den Ausschlag für die Beratungsanfrage gegeben habe. Dabei sei Leon normal intelligent, könne sich, wenn ihn etwas interessiert, durchaus konzentrieren und seine Fähigkeiten entwickeln. Die Lehrer hätten angekündigt, den Schüler nicht länger an der Schule halten zu können, wenn sich die Situation nicht ändere. Zu Hause lässt Leon den Schulfrust zunehmend an seiner Mutter ihr und attackiert sie manchmal körperlich, schubst sie und schreit
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sie an. Seine Mutter hält den Druck kaum aus und hat zunehmend
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aus: Er beschimpft sie, wenn er seinen Willen nicht bekommt, droht
Ängste um Leon sowie vor ihm und seinem Verhalten entwickelt. Die Mutter-Sohn-Beziehung ist angesichts der Konflikte stark belastet. Es gibt nur noch wenige gute Momente im Alltag. Der mütterliche Selbstwert ist niedrig: Es gibt eine permanente kognitive und emotionale Beschäftigung mit Leon. In der Interaktion mit Leon oszilliert ihr Ton zwischen Gereiztheit und Anklage, Wut und Rückzug, Beschwichtigung und Nachgiebigkeit. Aus Angst weicht sie ihm zunehmend aus und entwickelt massive Sorgen um die Zukunft. Sie schläft schlecht, ist antriebsgemindert und zunehmend widerstandslos im Konflikt mit ihrem Sohn. Die Mutter fühlt sich oft hilflos und ohnmächtig, hat sich schon länger aus den Aktivitäten in der Schule zurückgezogen, gibt teilweise den Lehrern die Schuld am Verhalten ihres Sohnes. Von ihrem Partner, Leons Vater, fühlt sie sich alleingelassen, er habe sich in Beruf und Karriere zurückgezogen und mache ihr Vorwürfe, »sich nicht genügend durchzusetzen«. Die Anwesenheit der Eltern in Leons Leben, ihre elterliche Präsenz, ist vor dem Hintergrund dieser Dynamik zunehmend fragil, ihre »elterliche Stimme« kaum mehr hörbar. Beide Eltern zeigen, jeder auf seine Weise, Rückzugsverhalten und scheinen ihren Sohn zu meiden und gewähren zu lassen. Sie nehmen kaum noch Anteil an seinem Leben.
Die depressive Verstimmung von Leons Mutter im Zuge des Verlustes von elterlicher Präsenz und der damit verbundenen elterlichen Hilflosigkeit ist keinesfalls ungewöhnlich: Auch in unseren Studien haben wir die Erfahrung gemacht, dass die elterliche Hilflosigkeit mit erheblichen, oft sogar behandlungsbedürftigen Werten auf Depressionsskalen einhergeht (Ollefs et al., 2009).
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1 Was zeichnet die elterliche Präsenz aus? In der Beratungspraxis erleben wir, dass der Begriff »Präsenz« für Eltern ein Türöffner sein kann, neu über ihre Rolle im Leben ihrer Kinder nachzudenken. Omer und von Schlippe (2004, S. 33 f.) schlagen vor, von Präsenz zu sprechen, wenn die Eltern in ihrem Verhalten vermitteln: »Wir sind deine Eltern und sind da und bleiben da, als Freunde, Beschützer, Begleiter, Zuhörer, Schützer der Familie, aber auch als Grenzensetzer, Schrankensteller, Erzieher und Bremser. In diesen Funktionen können wir nicht abgeschüttelt werden, wir können nicht umgangen werden, wir können nicht bestochen werden, wir sind da und bleiben da. Wir kämpfen um dich und um unsere Beziehung zu dir, nicht gegen dich!« Kinder, die diese Botschaft erfahren, erleben ihre Eltern als »präsent« in ihrem Leben: Als Personen, die in ihrem Leben Bedeutung haben, nicht als strafende Kontrollinstanz oder innerlich abwesend, sondern als freundliche und zugleich stabile Menschen. Es ist für Kinder und Jugendliche einladend, sich an einen Menschen zu binden, der diese Haltung vermittelt. Es kann zwischen Erlebensaspekten, Verhaltensaspekten und systemischem Aspekten der Präsenz unterschieden werden.
Erlebensaspekte von elterlicher Präsenz
Die Erlebensaspekte von Präsenz beschreiben, wie sich Eltern in ihrer Rolle fühlen. Der Grundstein für das Erleben von Präsenz wird in der Persönlichkeitsentwicklung gelegt. Diese erwächst aus der Erfahrung, dass die eigenen Handlungen Ausdruck einer kohärenten Lebensgeschichte und den daraus entwickelten Lebensanschauungen, Gefühlen und Werten sind. Gemeint ist das Bewusstsein, als Person über tät entspricht. »Für Kinder müssen die Eltern als Personen sichtbar
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werden, als lebendige, wütende, aufmerksame, traurige, ungeduldige,
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eine persönliche Stimme zu verfügen, die der eigenen Individuali-
kranke, zärtliche Personen« (Levold, 2002, S. 10). Zum Erlebensaspekt gehören auch das Selbstwertgefühl in der Elternrolle und der damit verbundene Grad der Erwartung, den gesellschaftlichen Anforderungen gewachsen zu sein. Auch die elterliche Überzeugung, über persönliche Kompetenzen und Selbstwirksamkeitserleben verfügen zu können, prägt das Erleben in der Elternrolle positiv. Starke Sorgen und Ängste schwächen Eltern in ihrem Präsenzerleben und in ihrer Zuversicht, Einfluss auf das Kind nehmen zu können. Zusammengefasst beschreibt der Erlebensaspekt das elterliche Gefühl, »das Richtige« zu tun, also das Bewusstsein für ein eigenes moralisches und persönliches Selbstvertrauen, was natürlich die Offenheit für das Hinterfragen eigener Vorstellungen einbezieht. Verhaltensaspekte von elterlicher Präsenz
Die Verhaltensaspekte betreffen die Umsetzung elterlicher Kompetenzen. Zunächst ist hierbei das Stillen kindlicher Grundbedürfnisse gemeint: das Kind zu versorgen, zu schützen und ihm Aufmerksamkeit zu schenken. Darüber hinaus gilt es, abhängig von der jeweiligen kindlichen Entwicklungsphase, auch körperliche Präsenz zu zeigen. Dazu gehört, dass Eltern Raum und Zeit im Leben des Kindes ein-
nehmen. Körperkontakt und die damit räumlich ausgedrückte emotionale Nähe ist sicherlich eines der existenziellsten Grundbedürfnisse eines kleinen Kindes. Mit dem Älterwerden entwickelt sich die unmittelbare und intensive körperliche Präsenz zunehmend in eine eher vermittelte, repräsentierte Präsenz. Neben dem Körperkontakt sind hier auch die Räume bedeutsam, die Eltern in ihrer Wohnung einnehmen. Beispielsweise ist der mögliche elterliche Zugang zu allen Räumen der Wohnung – wohlge-
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merkt unter Wahrung des Rechts des Kindes auf eine eigene Sphäre –, eine Form der Präsenz. Wenn Eltern etwa aus Angst vor der aggressiven Reaktion des Kindes keinerlei Zugang zum Kinderzimmer wagen, so ist dies ein »soft indicator« für fehlende Präsenz. Auch die Zeit, die Eltern aufwenden, um mit ihrem Kind zusammen zu sein bzw. einfach da zu sein, ist als ein Aspekt körperlicher Präsenz zu verstehen. Zum Verhaltensaspekt gehört ebenfalls das Interesse am Kind. Dieses offenbart sich darin, dass Eltern wissen, was ihr Kind beschäftigt, dass sie seine Freunde kennen und auch die Interessen und Fähigkeiten des Kindes fördern. Auch das Wissen darum, wo ihr Kind sich aufhält und mit wem es Umgang hat, ist hierbei von Bedeutung. Im Verhaltensaspekt ist darüber hinaus auch eine Art von freundschaftlicher Zugewandtheit zum Kind angesprochen. Schließlich beinhaltet der Aspekt auch einen sorgenden Anteil, das Kind, die Familie und sich selbst zu schützen und zugleich elterliche Verantwortung zu tragen. Bei elterlicher Präsenz wird dem Kind auf der Verhaltensebene vielfältig die Botschaft vermittelt, dass die Eltern hinter ihm stehen. Im Falle von Auseinandersetzungen zwischen Eltern und Kind ist wesentlich, dass erkennbar wird, dass die Eltern um das Kind und nicht gegen es kämpfen, sich also für Lösungen einsetzen, Verantwortung übernehmen und auch in Krisenzeiten Beziehungsangebote machen.
Systemischer Aspekt von elterlicher Präsenz
Der systemische Aspekt berührt die Frage nach der sozialen Einbindung der Eltern, also das Bewusstsein, von bedeutsamen anderen Personen in der Beziehung, Erziehung und Versorgung des Kindes gestützt zu werden. Zunächst sind damit Vertrauen und wechselseitige Verlässlichkeit auf der Paarebene gemeint. Auch die Kommunikation und Konsensbildung über Erziehungsstile, Erziehungsziele spielen in den systemischen Aspekt hinein. Gerade bei Streitigkeiten
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kommt der Paarebene besondere Bedeutung zu, denn wenn die Part-
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und der Umgang mit Unstimmigkeiten im Kontakt mit dem Kind
ner sich gegenseitig boykottieren, wird die Präsenz beider geschwächt. Des Weiteren gehört zum systemischen Aspekt die Frage nach der Haltung weiterer wichtiger Personen, von Familienmitgliedern, Verwandten und Freunden, bezogen auf die Erziehung und Entwicklung des Kindes. Der wertschätzende Blick bedeutsamer Dritter auf die Anstrengungen der Eltern stärkt diese in ihren Erziehungsbemühungen und gibt ihnen die Möglichkeit des Austausches über Sorgen und Belastungen. Zu wissen, dass andere freundlich auf sie blicken, kann Eltern stärken und ihnen das Gefühl vermitteln, dass ein ganzer Chor von Stimmen durch sie spricht und ihr Anliegen legitimiert ist. Auch der offene Austausch über die mit dem Kind verbundenen Gedanken und Gefühle kann Eltern entlasten. Das setzt die Bereitschaft voraus, sich mit anderen zu vernetzen und ins Gespräch zu kommen. Soziale Ängste können dagegen verhindern, mit anderen den Austausch zu suchen. Auch ein aktiver Boykott wichtiger anderer Personen schwächt oft die elterliche Präsenz (wie etwa die sprichwörtliche »böse Schwiegermutter«, die mit der Partnerwahl ihres Sohnes »nie einverstanden war und die Erziehungsbemühungen ihrer Schwiegertochter durchkreuzt«). Zuletzt umfasst der systemische Aspekt die Möglichkeit zur Bildung konstruktiver Allianzen mit anderen Personen, die ebenfalls
an der Erziehung des Kindes beteiligt sind, beispielsweise Lehrerinnen und Lehrer, Erzieherinnen und Erzieher, Gruppenleiterinnen und Gruppenleiter usw. Das Bündnis mit weiteren Personen aus dem sozialen Umfeld stärkt die Eltern in ihrem eigenen Erleben von Präsenz und in den Augen des Kindes. Je stärker die Eltern auf ein tragendes Netzwerk zurückgreifen, desto besser können sie ihre Kräfte bündeln und Belastungen ertragen. Im Erleben eines Kindes Einbettung der Eltern in verlässliche Beziehungen zu bedeutsamen
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stellt das Netzwerk der Eltern »die Welt« dar. Erfährt das Kind die 22
Dritten, dann stärkt dies die Präsenz der Eltern in den Augen des Kindes und kann ein Gefühl von Geborgenheit vermitteln (Omer u. von Schlippe, 2002).
Die Vorgeschichte von Leon und seinen Eltern Nach expliziter Einladung an den Vater (»Auch wenn Sie im Alltag deutlich weniger mit den Verhaltensproblemen Ihres Sohnes konfrontiert sind, ist uns Ihre väterliche Sicht wichtig. Sie kann neue Perspektiven ermöglichen und Wege für Verbesserungen eröffnen«) konnten beide Eltern für die Beratung gewonnen werden. Ihre Narrationen zur Vorgeschichte waren Folgende: Die Eltern, beide akademisch geprägt, hatten lange Zeit einen unerfüllten Kinderwunsch gehegt. Erst nach mehreren Fertilisationsversuchen wurde Leons Mutter mit Anfang 40 schwanger und das lang ersehnte Kind wurde geboren. Leon kam zehn Wochen zu früh auf die Welt. Sein Start ins Leben war von vielen Sorgen und Ängsten begleitet, da er anfangs zwölf Wochen in der Klinik bleiben musste. Als Säugling zeigte er Regulationsstörungen, er sei ein »anstrengendes Kind« gewesen, habe viel geschrien und sich nur schlecht beruhigen lassen. Bereits damals waren die Eltern in ständiger Sorge und Anspannung. Vor allem die Mutter habe sich häu-
fig regelrecht »ausgebrannt« und erschöpft gefühlt. Beiden Eltern zufolge war ihr Sohn als Kleinkind »schwierig im Temperament«, da sehr willensstark und in seinen Reaktionen »wenig einschätzbar«. Im Kindergarten sei er eher ein Einzelgänger geblieben. Unabhängig von den beschriebenen Schwierigkeiten sei Leon jedoch immer ihr »Ein und Alles« gewesen. Dabei waren die Eltern mit guten Vorsätzen in die Elternschaft mit dem Anliegen, ihren Sohn in seiner Autonomie und Kreativität
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zu unterstützen. In ihrer Erziehung grenzten sie sich auch von ihren
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gegangen. Ihren Erziehungsstil beschrieben sie als liberal-liebevoll,
Herkunftsfamilien ab, die sie als wenig sensitiv, zeitweise auch autoritär erlebt hatten. Darüber hinaus habe das Geschenk der ersehnten späten Schwangerschaft möglicherweise dazu beigetragen, Leons Bedürfnisse über die der Eltern zu stellen.
2 Parentale Hilflosigkeit, Angst und Scham Pleyer (2003) prägte den Begriff der parentalen Hilflosigkeit. Er ist hoch anschlussfähig an elterliche Selbst- und Problembeschreibungen. Die Gefühle von Hilflosigkeit und damit verbundener Angst der Eltern werden im direkten Umgang mit dem kindlichen Symptom besonders aktiviert. Häufig suchen Eltern dann professionelle Unterstützung, wenn sie ihre eigenen Versuche zur Änderung der festgefahrenen Situation als gescheitert erleben und psychisch und körperlich nachhaltig erschöpft sind. Pleyer (2003; siehe auch Pleyer u. Korritko, 2016, S. 199) zufolge lassen sich vier Felder identifizieren, auf denen hilflose Eltern häufig gravierende Auffälligkeiten zeigen.
1) Selektive Wahrnehmung bzw. Fehldeutung kindlicher Signale
Hilflose Eltern nehmen ihr Kind selektiv wahr bzw. interpretieren das kindliche Verhalten fehl. So werden Signale, mit denen das Kind (aus Sicht eines Beobachters) den Wunsch nach Nähe anzeigt, von den Eltern als »Unterdrückungsversuche« verstanden, oder kindliche Wünsche nach Rückzug werden als Zurückweisung missinterpretiert. Die Einschätzung der Beziehung durch die Eltern weicht
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häufig erheblich von der Sicht des Kindes oder einer Außenperspektive ab. Unter hohem Stress stehende Mütter berichten über mehr negative Emotionalität und über mehr Aggressivität bei ihren Kindern. Bei den meisten beobachteten Elternteilen scheint dieses Verhalten nicht mit einem grundsätzlichen Mangel an Feinfühligkeit im Zusammenhang zu stehen (Ainsworth, 1977). Vielmehr scheint die selektive Wahrnehmung besonders diejenigen kindlichen Signale zu betreffen, die bei den Eltern Unbehagen, Schmerz oder Angst auslösen. Grabbe (2012) erklärt diese Dynamik mit niedrigem Selbstwertgefühl im Zusammenhang mit großer Angst. Beides führt dazu, dass die Eltern sich mit höherer Wahrscheinlichkeit nachgiebig verhalten oder auch überreagieren können. Wir fragen daher im Coaching, wie Eltern das kindliche Verhalten interpretieren, welche Aspekte sie genau fokussieren und wie sie die eigene Beziehung zum Kind beschreiben, um uns ein Bild von der elterlichen (selektiven) Wahrnehmung zu machen. 2) Konfliktvermeidung
Hilflose Eltern leben meist in einer permanenten Spannung mit ihrem Kind und im Dauerkonflikt zwischen dem Gefühl, einerseits nicht aufgeben zu können, andererseits aber auch den Konflikt nicht in letzter Konsequenz zu Ende führen zu können. Wenn dann noch mangelnde Unterstützung und Erschöpfung hinzukommen, neigen Eltern dazu,
entweder in die eine oder andere Richtung überzureagieren, wie im Fallbeispiel mit Leon. Konflikthafte Zuspitzungen und Nachgiebigkeit wechseln sich ab. Die Eltern sehen sich im Dilemma, zwischen gleichermaßen angstbesetzten Möglichkeiten entscheiden zu müssen: entweder vergeblich zu versuchen, das Kind zu dominieren, oder ihm hilflos ausgeliefert zu sein. Die Reaktion des Kindes setzt wieder eine selektive Interpretation in Gang, die entsprechende Gefühle auslöst. fluss auf den elterlichen Selbstwert, ausgelösten Gefühlen und elterli-
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cher Handlung und damit verbundener kindlicher Reaktion wird bei
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Dieser Kreislauf von elterlicher Wahrnehmung, Interpretation, Ein-
Satir, Banmen, Gerber und Gomori (1995, S. 139) in den »Bestandteilen der Interaktion« beschrieben. Dabei wird darauf fokussiert, was Eltern in der Interaktion genau hören und sehen: Welche Bedeutungen und Interpretationen werden der Interaktion des Kindes/Jugendlichen zugeschrieben? Welche Gefühle werden bei den Eltern ausgelöst? Welche Gefühle stehen hinter diesen Gefühlen? Welche Reaktionen und Abwehrstrategien werden von den Eltern eingesetzt? Im beschriebenen Fallbeispiel fragten wir Leons Eltern, wie eine Konfliktdynamik genau verläuft, ob sie ihre eigenen Bedürfnisse und Erwartungen an ihren Sohn äußern, wie der Anfang und das Ende eines konflikthaften Interaktionsmusters aussieht, welche elterlichen Gefühle damit verbunden sind und welche Rolle sie in der Konfliktentwicklung genau einnehmen. 3) Distanzierung von der elterlichen Verantwortung
Die Zuständigkeit und Verantwortung für das Kind wird von den Eltern vor dem Hintergrund ihrer Hilflosigkeit und Angst zunehmend an helfende Fachleute delegiert. Sie erwarten eine intensive therapeutische und pädagogische Beschäftigung mit dem Kind, wobei sie sich in der Regel nichts von einer eigenen Mitarbeit in der Therapie versprechen. Dieser Prozess ist bei Eltern häufig von Schamge-
fühlen begleitet, »es nicht geschafft zu haben« bzw. die Krise durch ihr eigenes Handeln befördert zu haben, was zusätzlich belasten kann. Die Bedeutung von Scham für die Entstehung elterlicher Hilflosigkeit sollte nicht unterschätzt werden. Scham kann als ein Erleben von Diskrepanz zwischen einem (Selbst-)Ideal und dem erlebten Istzustand verstanden werden. Sie ist zunächst nicht als pathologisches Gefühl zu werten, sondern als ein wichtiger Regulationsmechanismus des Selbst in der Beziehung zu anderen Menschen (Hilgers, 2013, S. 17).
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Menschen, die einander am nächsten stehen, können einander besonders stark beschämen. Eltern erleben Scham, wenn sie sich herabgewürdigt und von ihren Kindern unangemessen und respektlos behandelt fühlen, z. B. durch Anklagen, Zurückweisung oder Beschimpfungen (Weinblatt, 2013). Schamgefühle können dazu herausfordern, Selbstkonzepte wie auch Konzepte von anderen und der umgebenden Realität zu überprüfen und können als Seismografen für die eigene Verortung in Beziehung zu den anderen dienen. Wenn sie übermächtig werden, kann das zu destruktiven Entwicklungen führen, wie z. B. zu depressiven Verstimmungen mit extremer Verletzlichkeit oder Angst. Dabei reagieren hilflose Eltern im Umgang mit der Beschämung häufig entweder mit Angriff, z. B. Anklage, Vorwürfen, Beleidigungen, oder mit Vermeiden oder Verstecken (Weinblatt, 2017). Im Gespräch wird Scham eher selten angesprochen, es geht eher um »zugänglichere« Gefühle wie Hilflosigkeit, Angst oder Wut. Allerdings beschreiben Eltern häufig, wie sie sich in Konflikten von ihren Kindern abgewertet fühlen und keine Wertschätzung erfahren (zu empfehlen sind zu diesem Thema die Texte von Weinblatt, 2013, 2016). Wir fragen die Eltern in der Beratung konkret, welche Gedanken und Gefühle die Abwertungen, Provokationen und Beschimpfungen bei ihnen auslösen, und geben diesen Erfahrungen Raum. Wir fragen sie daran anknüpfend, ob sie manchmal den Eindruck haben,
ihren eigenen Vorstellungen von Erziehung noch nachkommen zu können: »Dieses Erleben von der Diskrepanz eigener Ansprüche und erlebtem Alltag, was löst das bei Ihnen aus? Spielt das Thema Scham/Schuld manchmal eine Rolle im Kontakt mit Ihrem Kind?« In diesem Zusammenhang beschreiben wir Scham als ein sehr starkes Gefühl, das manchmal mit körperlichen Schmerzen vergleichbar ist: »Auf einer Rangskala von 1 bis 10, wie hoch erleben Sie die Beschämung in solchen Momenten?«
Wie bereits beschrieben, sind die Eltern oft in einem Machtkampf um den »richtigen« Weg von Erziehung gefangen und somit als Paar handlungsunfähig. In diesem Zusammenhang fragen wir nach der Zufriedenheit mit der Paarbeziehung (auch zirkulär), danach, wer von beiden Partnern einen größeren Einfluss auf das Kind nehmen kann und wo elterliche Kooperation in der Erziehung möglich ist. Oft sind die Eltern ausgesprochen oder unausgesprochen böse aufeinander. Hier kann es hilfreich sein, die Konflikte zu normalisieren – »Es ist sehr selten, dass in einer solchen Situation die Eltern nicht böse aufeinander sind!« – und mit der Prognose zu verknüpfen, dass es eine gute Chance gibt, dass über das Elterncoaching auch die Paarbeziehung besser wird.
3 Die Rolle der Partnerschaft und eines möglichen Paarkonfliktes Die Beziehung der Eltern ist in den dargestellten Eskalationsformen unter besonderem Druck, außerdem kann das »Teamspiel« beider Partner eine wesentliche ver- oder auch entschärfende Rolle spielen. Vertreten die Partner eine in wesentlichen Punkten unterschiedli-
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4) Defizite in der Kooperation auf der Elternebene
che Haltung in der Erziehung, kann das gerade in Krisenzeiten mit dem Kind eine Eskalation auf der Paarebene hinaufbeschwören, bei der die Frage um den »richtigen« Weg von Erziehung eine Dynamik in Gang setzt, bei der jeder auf seinem jeweiligen Standpunkt beharrt: Die Teufelskreise geben sich wechselseitig Schwung und verschärfen einander. Die Forschung zeigt markante Zusammenhänge zwischen Elternkonflikten, der Qualität der Eltern-Kind- Beziehungen und kindlichen Verhaltensauffälligkeiten auf (Schnee-
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wind, 2010). Auch wenn Verhaltensauffälligkeiten des Kindes fast immer mit Konflikten auf der Paarebene einhergehen, werden diese im systemischen Elterncoaching explizit nicht als Ursache der kindlichen Auffälligkeiten verstanden. Vielmehr wird es als beinahe zwangsläufig angesehen, dass ein Paar mit einem starken Kind, das eine besondere Herausforderung darstellt, in Konflikte miteinander gerät (Omer u. von Schlippe, 2004, S. 55). Entsprechend kann den Eltern die Erwartung vermittelt werden, dass sich vermutlich auch die Paarbeziehung verbessern wird, wenn die Eltern ihren Platz im Zentrum der Familie wieder einnehmen. Dem liegt ein relativ leicht verständliches Bild zugrunde: Angesichts bedrohlichen Verhaltens und in festgefahrenen Eskalationen liegen meist zwei mögliche Reaktionen nahe: Standhalten oder Nachgeben, Angriff oder Beschwichtigung. Fast immer differenziert sich hier zwischen den Eltern über die Zeit hinweg ein selbstorganisiertes Muster aus, in dem der eine ein wenig mehr die eine Position, der andere ein wenig mehr die andere ergreift und sich anschließend die beiden Positionen aneinander aufschaukeln, bis sie sich festgefahren haben: »Weil du so nachgiebig bist, muss ich umso strenger sein!« – »Weil du so streng bist, muss ich umso nachgiebiger sein!« Eine solche Form der Musterentwicklung im Sinne eines sich zirkulär um eine Thematik herum organisierenden Prinzips wurde
schon früh in der systemischen Theoriebildung beobachtet. Kriz (2004) beschreibt vor dem Hintergrund der Theorie dynamischer Systeme diese Prozesse mit dem Begriff des Sinnattraktors: Die Positionen beider Partner entstehen selbstorganisiert und bestehen, weil sie bestehen, nicht aus irgendwelchen verdeckten wirklichen Gründen. Ein Teil des Konflikts besteht nun darin, dass er von beiden Interaktionspartnern im Sinne einer einseitigen Interpunktion (»Ich logisierung und Entdramatisierung im Coaching (»Das ist normal«),
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verbunden mit der Induktion von Hoffnung (»Die Chancen stehen
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tue X, weil du Y tust«) erlebt und beschrieben wird. Die Entpatho-
gut, dass Sie sich besser verstehen werden, wenn Sie Ihre Präsenz wiederherstellen!«), wird von den Eltern oft als erleichternd erlebt. Zumindest lässt sich mit einem Aufzeigen der zirkulären Bedingtheit der jeweiligen Verhaltensweisen leichter eine kooperative Haltung beider Eltern erreichen, auch dann, wenn ein vielleicht schon länger dauernder Paarkonflikt auf eine spätere oder parallele Paarberatung verschoben wird.
4 Rahmenbedingungen für den Verlust von elterlicher Präsenz: Konflikte Die im Fallbeispiel angesprochenen konflikthaften Zuspitzungen sollen nachfolgend dargestellt werden. Die komplementäre Form der Eskalation: Nachgiebigkeit zieht Forderungen nach sich
Im Säuglingsalter ist ein komplementäres Kommunikationsmuster in der Eltern-Kind-Interaktion für die Bindungsentwicklung notwendig: Der Säugling, mit der Motivation und der Fähigkeit zum Lernen ausgestattet, und die Eltern, mit Motivationen und Fähigkeiten zur
komplementären Unterstützung des Lernens versehen, bedingen sich gegenseitig in der Bindung (Papoušek, 2004). Dieses Muster ermöglicht es dem Kind, im Dialog mit der Mutter bzw. den Eltern kontinuierlich sein Kommunikationsrepertoire zu erweitern, durch Mimik, Gestik und später durch Sprache. Mit zunehmendem Alter des Kindes erprobt dieses – und die Eltern gleichermaßen – die Grenzen der Komplementarität in der Interaktion mit seinen Eltern (»Warte!« – »Nein, ich will es jetzt!«). Es macht so Erfahrungen mit unterschied-
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lichen Variationen von Komplementarität und Symmetrie – mit »Ja« und »Nein«. Über das Aushandeln der Grenzen geschieht soziales Lernen. Hier kann es bereits zu sich allmählich steigernden, konflikthaften Zuspitzungen einseitiger Forderungen des Kindes kommen, eine komplementäre Form von Eskalation mag sich entwickeln. Sie scheint zunächst wenig dramatisch: Einer Forderung wird nachgegeben, ein Eskalationsschritt des Kindes wird begütigend beantwortet, zieht jedoch schnell neue Forderungen nach sich. Solche Dynamiken entstehen selbstorganisiert, doch können sie sich unter bestimmten Bedingungen chronifizieren. Erschöpfte Eltern geraten in einen Zirkel aus kurzfristiger Beruhigung des Kindes – Nachgeben um des lieben Friedens willen – mit späterer »Steigerung der Dosis«: Gegen die folgenden Forderungen des Kindes wird der Widerstand schwächer (s. hierzu z. B. Patterson u. Coby, 1980; Patterson, Dishion u. Bank, 1984). Auch Schuldgefühle und Selbstvorwürfe sowie persönliche Werte vor dem Hintergrund eigener Erziehungserfahrungen mögen Randbedingungen für elterliche Nachgiebigkeit darstellen, etwa der Wunsch, sich gegen in der eigenen Kindheit erfahrene Strenge abzugrenzen und zu emanzipieren. Allgemeine familiäre Belastungsfaktoren wie die Notwendigkeit, sein Kind allein erziehen zu müssen, überlastete Mütter, Ängste, Depressionen, Familien- und Partnerkonflikte sowie auch psychische Besonderheiten des Kindes können Eltern in ihrer Präsenz schwächen. Denn sie erfahren, dass ihr Ein-
fluss auf das kindliche Verhalten geringer wird, und ihre damit verbundene Selbstwirksamkeitserfahrung wird schwächer. Einer repräsentativen Studie des Robert-Koch-Instituts mit über 2000 Familien zufolge, scheinen kindliche, psychische Besonderheiten Eltern vor besondere erzieherische Herausforderungen zu stellen. Hinweise für psychische Auffälligkeiten liegen demnach bei 21,6 Prozent aller Kinder und Jugendlichen vor. Ängste (10 %) und Störungen des Sozialmachen einen großen Anteil aus (Ravens-Sieberer u. Klasen, 2014). In
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diesem Zusammenhang sprechen die Autorinnen von einer »neuen
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verhaltens, wie aggressive und dissoziale Verhaltensweisen (7,6 %),
Morbidität«, die von einer Verschiebung von den körperlichen Akuterkrankungen zu den chronisch-körperlichen Krankheiten und von einer Verlagerung von den somatischen Krankheiten zu psychischen Störungen gekennzeichnet ist. Die Risikofaktoren, die das Auftreten psychischer Auffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen deutlich begünstigen, sind: Familienkonflikte, Konflikte in der Familie der Eltern, Unzufriedenheit in der Partnerschaft bzw. psychische Erkrankungen der Eltern. Die Depressionswerte bei den Eltern von Kindern/ Jugendlichen mit Verhaltensproblemen sind mit psychosomatischen Krankheitsgruppen vergleichbar und machen deutlich, dass elterliche Depressionen wesentliche Rahmenbedingungen für den Verlust von Präsenz sind (Mattejat, 2001; siehe auch Ollefs et al., 2009). Die Eltern können sich auch durch Schuldgefühle über ihren Anteil an der Verhaltensstörung des Kindes gebunden fühlen. Sie wagen aus schlechtem Gewissen nicht, ihre elterliche Autorität einzusetzen, verlieren zunehmend ihre persönliche Stimme und rücken an den Rand der Familie, in deren Zentrum das Kind zunehmend seinen Einfluss ausbaut. Es kann so zu einem regelrechten Devianztraining kommen, das das Kind durchläuft (Patterson et al., 1984). Auch das Temperament des Kindes kann die Qualität der ElternKind-Interaktion beeinflussen: Empfinden Eltern ihr Kind von
Anfang an als anstrengend und »schwierig«, wie im Fallbeispiel, scheint die emotionale Beziehung darunter zu leiden (Wahl, Alt u. Hoops, 2006). Vor allem willensstarke Kinder zeigen in jungen Jahren starkes oppositionelles Verhalten, wenn sie mit Anforderungen seitens der Eltern konfrontiert werden. Dieses willensstarke Verhalten kann dazu führen, dass sie ihren Einfluss in der Familie ausbauen. Auch wenn Dominanzorientierung eine besondere Qualität 32
nicht risikofrei. Früh einsetzende oppositionelle Verhaltensstörungen
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ist und alles andere als pathologisch, ist diese Ausgangsbedingung stehen in deutlichem Zusammenhang mit Problemen in der Adoleszenz wie Ablehnung und Zurückweisung durch Gleichaltrige, Drogenmissbrauch, Depression, Jugenddelinquenz und Schulversagen (Loeber, 1990). Das Entscheidende, was bei all diesen Vorgängen verloren geht, ist nicht die Macht der Eltern oder ihre Dominanz, sondern ihre Präsenz, ihre Fähigkeit, für das Kind ein kontinuierliches Beziehungsangebot bereitzustellen. Sie beginnen, aus dem Leben des Kindes zu verschwinden, sie spielen psychologisch, manchmal sogar physisch keine Rolle mehr. Es gibt Kinder, die verlassen das Zimmer, während ihre Eltern mit ihnen sprechen, nehmen keinen Blickkontakt zu ihnen auf oder drängen ihre Eltern einfach mit der Brust beiseite. Auch dies ist eine Seite der physischen Präsenz: Das Kinderzimmer ist ein Tabu-Bereich, während gleichzeitig Turnschuhe und Kleidungsstücke des Kindes im Wohnzimmer der Familie herumliegen, in der Küche die Reste der gerade vom Kind selbst nachlässig zubereiteten Zwischenmahlzeit stehen: Das Kind ist überall im Territorium der elterlichen Wohnung präsent, die Eltern am Rand. Die komplementäre Eskalation geht bei den Eltern häufig mit Angst, Hilflosigkeit und Resignation einher. Isoliert lebende und alleinerziehende Eltern scheuen sich, gegen kindliches Problemverhalten zu protestieren, weil sie sich sorgen, ihr Kind »würde sie nicht
mehr lieben«, wenn sie Präsenz zeigen. Glasl (2014a, S. 102) beschreibt eine Form der Eskalationsdynamik, in der die Angst regiert: Schweigen, Stagnation, Rückzug und Pessimismus bezüglich positiver Veränderungen dominieren, ein sogenannter kalter Konflikt. Auch Virginia Satir (1990) hat Kommunikationsformen beschrieben, die Menschen unter Stress entwickeln, wenn ihr Selbstwert bedroht ist. Sie verhalten sich anklagend, vermittelnd, rationalisierend oder ablenkend. Offenzuges zwingen, die sie nicht beabsichtigen und in der sie sich als
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fremdbestimmt erleben. Alleinerziehende berichten von Gedanken
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sichtlich können Konflikte Menschen in die Dynamik eines Rück-
wie »Ich bin nichts wert, Hauptsache, dem Kind geht es gut!«, die dazu führen, dem Kind gegenüber nachgiebig, besänftigend und passiv-demütig zu sein. Angesichts mangelnder sozialer Unterstützung wird das Kind manchmal zum Partnerersatz, es wird »parentifiziert« (und damit überfordert). Viele Eltern entwickeln im Zuge dieser Entwicklungen eine negative, selektive Wahrnehmung für ihr Kind, die in der verzweifelten Aussage münden kann: »Ich komme nicht mehr an ihn heran, er ist wie vom Teufel besessen!« Offensichtlich schafft eine Situation von Hilflosigkeit auch ein Klima von Argwohn, in dem der Zweifel immer wieder durch negative Rückkopplungsschleifen genährt wird: Wenn Eltern dem Kind/Jugendlichen etwas Schlechtes unterstellen, werden sie sich entsprechend misstrauisch verhalten. Das Kind wird im Gegenzug ein ursprünglich möglicherweise freundlich gemeintes Beziehungsangebot nicht dauerhaft aufrechterhalten und umgekehrt. Die komplementäre konflikthafte Zuspitzung (Bateson, 1981) bietet somit häufig den Nährboden für eine weitere Steigerung der Eskalation, die im Weiteren vorgestellt wird. Symmetrische Eskalation: Feindseligkeit, die Feindseligkeit fördert
Eine symmetrische Eskalation ist ein Zeichen für die Zuspitzung des Konfliktes: Feindseligkeit fördert Feindseligkeit (Bateson, 1981),
negative Gefühle schaukeln sich auf beiden Seiten hoch und verschärfen sich. Diese Form, die oft von gegenseitigen Anklagen, Beschuldigungen und Abwertungen gekennzeichnet ist, kann auf komplementären Eskalationen aufbauen, wenn Eltern in Sorge um den Machtverlust in der Familie das Ruder herumreißen möchten (»Jetzt ist endgültig Schluss!«). Es entflammt ein Kampf darüber, wer Recht hat, wer sich durchsetzt und damit um Gewinner und Verlierer. Symmetrische Eskalationen folgen der Devise »Auge um Auge,
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Zahn um Zahn« (Glasl, 2014b). Wenn eine Familie in der Dominanzorientierung, das heißt in der Verpflichtung zu gewinnen, festgefahren ist, laufen solche Dynamiken Gefahr, immer wieder den kritischen Punkt zu überschreiten, bis zu dem man noch in der Lage ist, die Dynamik einzugrenzen, bis hin zu eskalierender Gewalt. Glaubenssätze wie »Wenn ich bei dieser Sache nachgebe, denkt sie, ich sei schwach!« oder: »Wenn ich den Fehler zugebe, denkt er, er habe in allem recht!« prägen diese Form von Eskalation. In den Interaktionen, die oft von Feindseligkeit geprägt sind, finden sich vielfach festgefahrene Muster, sogenannte geeichte Kommunikationsschleifen (Satir, 1990; siehe auch Plate, 2015, S. 35). Sie sind davon gekennzeichnet, dass der andere bereits zu wissen meint, was der eine hat sagen wollen, ehe dieser den Mund öffnet (Omer, Alon, von Schlippe, 2006, S. 49). Satir (1990) hat eine Reihe von Elementen dieser geeichten Schleifen beschrieben, etwa das »Gedankenlesen«. Die Interpretation eigener Beobachtungen wird unhinterfragt für wahr gehalten. Nur ein Teil der kommunikativen Botschaft wird für das Ganze genommen. Das erklärt die oft sehr große Geschwindigkeit, in der diese Muster ablaufen: Bereits das kleinste mimische Signal wird, ohne auf den gesamten verbalen Inhalt zu achten, als Ganzes interpretiert: »So, wie du den Mundwinkel verziehst, wusste ich schon, was du sagen wolltest …«.
In der Eltern-Kind-Kommunikation finden solche geeichten Kommunikationen vielfach Ausdruck in elterlichen Gardinenpredigten, im Englischen auch »parental nattering« genannt (Patterson et al., 1984). Allzu leicht werden dabei einzelne Verhaltensweisen des Jugendlichen generalisiert: »Du hast schon wieder deine Jacke rumliegen lassen! Alles muss man hinter dir herräumen! Selbst die Spülmaschine hast du gestern nicht ausgeräumt und wenn ich dein kann man sich nicht verlassen!« Diese Form des Anklagens, Jam-
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merns und Schimpfens erleben vor allem Jugendliche als stark intru-
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Zimmer sehe, wird mir schlecht! Du bist zu nichts nutze, auf dich
siv und abwertend. Gleichzeitig ist dies für sie aber auch ein Signal, dass die Eltern schwach und nicht ernst zu nehmen sind. In Familien mit symmetrischen Mustern sind Eltern und Kinder oft sehr böse aufeinander. Dabei haben die Eltern häufig zusätzlich Schuldgefühle, sodass Konflikte dann von ihnen ungelöst abgebrochen werden, weil sie es nicht bis zum Äußersten kommen lassen wollen. Das ist einer der Wege, wie sie in dieser Eskalationsform langfristig ihre Präsenz verlieren. Kinder sind dagegen meist Profis der Eskalation. Sie haben diese Schuldgefühle nicht so ausgeprägt, sondern vor allem ihre Wut. Gleich ist auf beiden Seiten, dass der Selbstwert niedrig ist und beide Seiten sich verletzt, entwertet und verraten fühlen. Hinzu kommt bei den Eltern, dass sie sich oftmals erschöpft, überfordert und überarbeitet fühlen, was mit Isolation, Scham und sozialem Rückzug einhergeht. Die Beziehung leidet massiv unter den Machtkämpfen. Der gegenseitige Groll nimmt zu, die Momente von Verständnis füreinander und gemeinsame positive Erfahrungen nehmen dagegen ab und werden im Familienalltag immer seltener, liebevolle Gefühle zwischen Eltern und Kindern flachen ab.
Die systemische Beratung: Die Haltung im gewaltlosen Widerstand und im Elterncoaching – die sieben Säulen
D
ie Idee des gewaltlosen Widerstands als Protest gegen Unterdrückung geht unter anderem auf Mahatma Gandhi und Martin
Luther King zurück (Sharp, 1973). Charakteristisch für den gewaltlosen Widerstand ist, dass er beginnt, wo Worte gescheitert bzw. kontraproduktiv geworden sind. Im Kontext innerfamiliärer Auseinan-
dersetzungen beginnt er mit der Entscheidung der Eltern, langfristig Kraft aufzubringen, um sich dem selbst- oder fremdschädigenden Verhalten des Kindes entgegenzustellen. Diese Gegenmacht ist nicht
Beratung
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zu verwechseln mit Gewalt, im Gegenteil, es wird gerade ein dritter Weg zwischen symmetrischer und komplementärer Eskalation gesucht. Es wird die Bereitschaft kommuniziert, alles zu tun, was in den eigenen Möglichkeiten steht, damit sich etwas ändert – ohne selbst zu gewalttätigen Mitteln zu greifen. Die praktischen Erfahrungen mit der Übertragung des Ansatzes auf die Erziehung von Kindern machen sehr deutlich, dass es dabei weder um die Unterwerfung noch um eine Umwandlung der betroffenen Kinder im Sinne der Erziehungsperson geht, wie dem Ansatz gelegentlich vorgeworfen wird (z. B. Dierbach, 2016). Ein wenig schulinteressiertes Kind wird auch bei noch so viel Engagement der Eltern und Lehrer kein begeisterter Schüler oder Klassenprimus werden. Doch reagieren die Kinder und Jugendlichen durch das veränderte Verhalten ihrer Eltern im Sinn einer Erhöhung ihrer Präsenz häufig mit konstruktiven Schritten ihrerseits (Ollefs et al., 2009; Weinblatt, 2005), was die Konflikte reduzieren und das Familienklima verbessern kann. Wenn Eltern sich für eine präsentere Haltung in der Familie entscheiden, schaffen sie eine andere Rahmung. Diese kann Kinder und Jugendliche anregen, sich an die neuen Gegebenheiten anzupassen (vgl. von Schlippe u. Schweitzer, 2012, S. 105). Es geht im Elterncoaching zunächst und vor allem darum, den Eltern eine gewaltlose Haltung nahe zu bringen und ein Bewusst-
sein dafür zu wecken, wie wichtig elterliche Präsenz und wechselseitige Unterstützung auf der Elternebene, aber auch mit anderen an der Erziehung beteiligten Personen ist. Eine zu frühe Konzentration auf Interventionen könnte die gefährliche Hoffnung erzeugen, vielleicht doch (in der Logik der Eskalation) verfeinerte Mittel der Kontrolle in die Hand zu bekommen. Es geht hier vielmehr darum, die Auseinandersetzung mit dem Kind auf andere, neue Prämissen 39
gewinnen!«, »Erst die vollständige Kapitulation des anderen wird
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aufzubauen. Eine Konfliktlogik, die sich auf Prämissen beruft wie »Es kann nur Sieg oder Niederlage geben!«, »Einer muss am Ende endgültig Ruhe bringen!«, führt letztlich immer nur in fruchtlose Eskalation. Die Gefahr besteht, dass sie sich nicht nur in der ElternKind- bzw. Lehrer-Kind-Beziehung aktualisiert, sondern sich auch auf die Eltern-Lehrer-Beziehung ausweitet (vgl. Omer et al., 2007, S. 50 ff.; siehe auch Lemme, Tillner u. Eberding, 2009). Eine Haltung, die auf der Überzeugung beruht, niemand anderen verändern zu können als sich selbst, fokussiert auf das eigene, elterliche Erleben von Präsenz und ermöglicht eine neue Art von Autorität im Kontakt mit dem Kind. Die Entscheidung der Eltern zur Änderung ihrer Haltung ermöglicht es ihnen, sich auf ein Methodenset zu beziehen, das mit dieser Haltung kompatibel ist. Die Interventionen und Maßnahmen können jeweils sieben Säulen des gewaltlosen Widerstandes zugeordnet werden (siehe auch Ofner u. Steinkellner, o. J.): 1. Protest gegen das Verhalten des Kindes/Jugendlichen, 2. elterliche Deeskalationsmaßnahmen, 3. Versöhnungs- und Beziehungsgesten, 4. Aktivierung sozialer Unterstützung, 5. Wiedergutmachung, 6. Präsenz und wachsame Sorge, 7. Transparenz.
Diese Methoden ermöglichen es, aus der Eskalationsfalle auszusteigen und sich der elterlichen Werte für das Familienleben (wieder) bewusst zu werden und gegenüber dem Kind im Alltag zu vertreten. Dabei steht die positive Gestaltung der Beziehung zum Kind deutlich im Fokus. Die Methoden helfen Eltern und Professionellen dabei, in eine präsente Haltung zu finden, die im Zuge von Streitigkeiten verloren gegangen ist.
Beratung
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1) Protest gegen das Verhalten des Kindes/Jugendlichen Ein wichtiges Anliegen der Beratung ist, die Eltern dabei zu unterstützen, gegen das Problemverhalten des Kindes zu protestieren. Werte und Ziele für das künftige Zusammenleben: Die Ankündigung
In aller Regel gehen Eltern mit guten Vorstellungen und Werten in die Elternschaft. Es ist ein sinnvoller therapeutischer Ansatzpunkt, davon auszugehen, dass sie im Grunde stolz auf ihr Kind sein möchten, dass sie sich wünschen, einen guten Einfluss auf es zu haben, positive Dinge über ihr Kind hören möchten, wissen wollen, was es gut kann und was im Zusammensein positiv wirkt (Grabbe, 2008, S. 122). Sie möchten, dass ihr Kind eine gute Ausbildung und Erfolgschancen hat und es ihm zukünftig gut gehen möge. Und schließlich wünschen sie sich eine gute Beziehung zu ihrem Kind. Viele hilflose Eltern beschreiben sich angesichts der dauernden Konflikte mit ihrem Kind als geradezu fremdbestimmt, in dem Sinn, dass sie sich selbst manchmal nicht mehr wiedererkennen, sich also nicht so verhalten, wie es ihren Werten entspricht. Durch die Verstrickung entfernen sie sich immer mehr von ihren ursprünglichen Vorstellungen von einem guten Familienleben und erleben dies resignativ
und schuldhaft. In der Beratung unterstützen wir die Eltern darin, an ihre Werte anzuknüpfen und darauf aufbauend ihren Protest gegen das Problemverhalten des Kindes zu formulieren.
Wie es mit Leons Eltern im systemischen Elterncoaching weiterging
stellungen und Werte sie für das Familienleben und für Leon hatten.
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Sie gaben an, dass sie ihre familiären Konflikte im gegenseitigen
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Zurück zum Beispiel von Leon: Wir fragten die Eltern, welche Vor-
Respekt und gewaltfrei austragen wollten. Auch war es ihnen wichtig, dass Leon in seiner Schule bleiben könne, die sie für seine Entwicklung grundsätzlich als förderlich bewerteten. Sie erlebten die Lehrer dort als engagiert und um ein gutes Miteinander bemüht und schätzten viele Mitschüler Leons als sozial kompetent ein. Auf dieser Basis konnten sich die Eltern wieder stärker auf ein gemeinsames Vorgehen einigen. Zu Beginn schrieben sie eine Ankündigung und Selbstverpflichtung in Form eines kurzen, freundlichen Briefes an Leon: »Lieber Leon, in der letzten Zeit haben wir uns über unsere Familie viele Sorgen gemacht. Für uns als Eltern ist es wichtig, dass wir in unserer Familie freundlich zueinander sind, auch wenn wir unterschiedlicher Meinung sind und uns streiten. In letzter Zeit gab es oft heftige Auseinandersetzungen. Im Streit bist du oft sehr wütend, laut und aggressiv geworden, hast uns beschimpft und sogar Mama mehrfach geschubst bzw. bedroht. Wir haben uns jetzt entschieden, dass wir dieses Verhalten nicht mehr hinnehmen. Wir werden tun, was wir können, damit es wieder besser wird in der Familie, denn wir wollen auch zu dir wieder eine bessere Beziehung haben. Darum werden wir sehr deutlich machen, womit wir
nicht einverstanden sind. Zum anderen wollen wir wieder mehr Anteil an deinem Leben nehmen. Wir wissen im Moment nicht weiter. Darum haben wir auch um Beratung angefragt und uns entschieden, unsere Probleme nicht mehr zu verschweigen und damit alleine zu bleiben. Wir werden Menschen, denen wir vertrauen, um Hilfe bitten. Wir werden auch mit den Lehrern sprechen und ihnen von unseren Sorgen erzählen, weil wir uns entDas tun wir, weil wir deine Eltern sind. Es ist unsere Aufgabe, dich
Beratung
schieden haben, damit nicht allein zu bleiben. 42
mit deinen Fähigkeiten zu fördern und dich zu unterstützen, damit du wieder Anschluss an deine Klasse findest. Lieber Leon, du bist uns sehr wichtig und du liegst uns am Herzen. Wir werden alles dafür tun, dass sich unsere Familiensituation verbessert und dass wir wieder freundlicher miteinander sind und uns wohler miteinander fühlen. Mama und Papa« Diesen Brief trugen die Eltern Leon in einer entspannten Situation vor, wobei der Vater das Verlesen übernahm. Dafür hatten sich die Eltern entschieden, um den »Wiedereinstieg« des Vaters in seine Präsenz zu markieren. Für die Mutter war dies entlastend, weil sie sich von ihrem Mann so besser unterstützt und damit präsenter fühlte. Gleichzeitig sollte die Ankündigung ihren Sohn darauf vorbereiten, dass die Eltern entschlossen sind, das Familienleben in der gegenwärtigen Form nicht einfach so weiterzuführen, sondern wieder mehr Verantwortung zu übernehmen und Interesse an Leon zu zeigen.
Die Ankündigung ist eine Intervention aus dem systemischen Elterncoaching im gewaltlosen Widerstand (ausführlich s. Omer u. von Schlippe, 2004, S. 132 f; vgl. Ollefs u. von Schlippe, 2007). Sie unter-
streicht die Entschlossenheit der Eltern und dient zugleich als Form des Protestes gegen das kindliche Verhalten. Sie markiert eine Musterunterbrechung, d. h. es geht darum, den bisherigen Eskalationsregeln Einhalt zu gebieten und die Beziehungen zu stärken. Dabei ist diese Intervention nicht ausschließlich auf verhärtete Eltern-KindBeziehungen begrenzt. Eine Ankündigung kann auch von einer Lehrerin an ihre Klasse (Haase u. Ollefs, 2014) oder von einem Vorge43
schluss zu verankern, nicht mehr Teil der Eskalation zu sein. Die
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setzten an sein Team geschrieben werden. Sie kann sogar in Form einer Selbstankündigung an sich selbst verfasst werden, um den Entnachfolgend skizzierten Schritte sind auf das Verfassen einer elterlichen Ankündigung zugeschnitten und markieren einen neuen Anfang. Die Eltern suchen einen Zeitpunkt, an dem die Familiensituation entspannter ist und sie sich in ihrer Präsenz stark fühlen. Die Ankündigung wird im Beratungsprozess schriftlich vorbereitet und formuliert. Die Erfahrungen mit dem Elterncoaching zeigen, dass im Ringen um die richtigen Worte, die das Kind erreichen sollen, die aber auch für die Eltern stimmig sind und ihren Wertvorstellungen entsprechen, häufig viel Diskussionsstoff steckt, der bereits in sich eine erste Intervention darstellt: Die Eltern beginnen, auf neue Weise zu kooperieren und die Basis für ihre zukünftige Positionierung zu legen. In der Ankündigung, die nicht mehr als fünf bis sieben Sätze in schriftlicher Form umfasst, formulieren die Eltern ihre Werte und Ziele für das zukünftige gemeinsame Familienleben, wie beispielsweise ein respektvolles Miteinander in der Familie bzw. einen gewaltlosen Umgang bei Konflikten. Daran anknüpfend benennen sie kurz und sachlich das beklagte Verhalten ihres Kindes (z. B. Kind attackiert Eltern und Geschwister, hat andere geschlagen, hält sich nicht an Ausgehregeln etc.) und kündigen ihre vermehrte Präsenz
im Umgang mit dem Problemverhalten an, im Sinne einer Selbstverpflichtung (z. B. »Wir sind nicht länger bereit, das Verhalten hinzunehmen, und werden frühzeitig in Eskalationen eingreifen und uns Unterstützung dazu holen«). Die Ankündigung sollte mit einem verbindlichen, wertschätzenden Satz enden, beispielsweise: »Wir tun das, weil wir deine Eltern sind, uns deine Entwicklung wichtig ist, und wir werden alles tun, was wir können, um uns dem entgegenoder zu beleidigen.« Es kann hier auch ein Bedauern der Eltern über
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zustellen, was wir problematisch finden, ohne dich zu attackieren 44
eigenes Fehlverhalten in der Vergangenheit ausgedrückt und mit einer Selbstverpflichtung verbunden werden, etwa so: »Wir sind in der letzten Zeit auch selbst oft sehr ungeduldig gewesen, auch wir sind manchmal lauter geworden, als wir es eigentlich wollten und haben dich beschimpft oder sogar geschlagen. Damit sind wir auch selbst nicht zufrieden und wir sind entschieden, das auch bei uns zu ändern.« Anschließend sollte zum Familienalltag zurückgekehrt und eine Diskussion vermieden werden. Da im Vorfeld häufig die »Wortfülle« die Eskalation noch befeuert hat, markiert die Stille nach der Ankündigung eine Musterunterbrechung im angespannten Familiengefüge. Für Eltern ist die Ankündigung eine besondere Herausforderung, da sie erstmals außerhalb des Gewohnten handeln, daher ist dies mit Angst und Aufregung verbunden. Wir ermutigen sie, diesen Schritt zu gehen, auch wenn kurzfristig der Angstpegel steigt. Es kann hilfreich sein, das Verlesen des Briefes genau zu planen und vielleicht sogar zu üben. Es hat sich bewährt, dass die Eltern proben, die Ankündigung mit einer ruhigen Stimme zu verlesen oder auszusprechen. Auch die Körperhaltung ist von Bedeutung: Wir fragen die Eltern im Coaching, in welcher Körperhaltung sie sich präsenter fühlen, wie sie ihre Atmung einsetzen können und wie genau das Setting sein sollte.
Die Erfahrung zeigt, dass sich Eltern nach einer Ankündigung weniger ängstlich und präsenter fühlen. Um sie zu diesem Schritt zu ermutigen, bedarf es einer positiven Beziehungsgestaltung im Coaching: Das Gefühl, dass die Berater hinter ihnen stehen, dass sie als Eltern moralisch das Richtige tun und ihr Anliegen von Professionellen unterstützt wird, ist zentral. Denn das therapeutische Bündnis mit den Eltern ist die Ausgangsbasis für die Zusammenarbeit. Hier leben erfahrungsgemäß meist schon seit Jahren mit Vorwürfen von
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Personen aus ihrer Umgebung, die ihnen sagen, sie seien zu ängst-
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gilt es für Berater, keine verdeckten Anklagen zu formulieren: Eltern
lich oder einengend und sie würden ihr Kind nicht richtig erziehen und seien selbst schuld an der Entstehung der Symptome. Es geht im Elterncoaching darum, das elterliche Erleben immer wieder in den Mittelpunkt zu stellen, und auch um die Würdigung der Eltern und die Anerkennung ihrer Not: »Ich kann mir vorstellen, wie schwer es für Sie in letzter Zeit war und wie belastend und quälend die Situation ist.« Zugleich ist es wichtig, dies zu tun, ohne das Kind negativ zu konnotieren oder zu pathologisieren. Dies kann über Formulierungen wie die folgende vermieden werden: »Ein starkes Kind stellt besonders hohe Anforderungen an die Eltern. Ich kann mir gut vorstellen, dass ich in solchen Situationen auch die Geduld verloren hätte.« Die Frage nach der Befindlichkeit der Eltern und ihrem Präsenzerleben durchzieht das Elterncoaching wie ein roter Faden. Auch wenn die Position des Beraters im Coaching primär »hinter den Eltern« ist, haben die Berater auch das Kind/den Jugendlichen mit seinen Bedürfnissen im Blick. Denn es geht, anders als gelegentlich missverstanden wird (vgl. Dierbach, 2016), nicht um die Installation der Eltern als machtvolle Figuren, die das Kind noch perfekter dominieren lernen, sondern um »Re-Attachment«, also darum, eine gefährdete oder verloren gegangene Bindungsbeziehung wiederherzustellen (dazu von Schlippe, im Druck).
Um die Eltern gut auf eine Ankündigung vorzubereiten, hat es sich bewährt, im Coaching darüber nachzudenken, wie sie weiter vorgehen können, wenn das Kind etwa aufsteht und den Raum verlässt oder anfängt zu diskutieren oder zu streiten. Oberste Maxime ist, dass die Eltern ruhig und deeskalierend reagieren, den Brief dem Kind übergeben oder zu einem späteren Zeitpunkt in sein Zimmer legen. Auch wenn das Kind den Brief zerreißt – in den Köpfen besteht die Ankündigung weiter. Unabhängig vom kindlichen Problemverhalten
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zeigen die Eltern weiter Präsenz im Umgang mit dem beklagten Verhalten. Die Zuständigkeit für die Selbstkontrolle und Deeskalation im Konflikt liegt bei den Eltern. Sie werden im Coaching ermutigt und bestärkt, wieder auf ihr eigenes Verhalten Einfluss zu nehmen und sich weniger vom Verhalten ihres Kindes abhängig zu machen. Das Sit-in: Die starke Form des elterlichen Protestes
Neben der Ankündigung als erstem Mittel, mit dem die Eltern deutlich machen, dass sie entschieden sind, etwas anders zu machen, stellt das Sit-in eine vertiefende Methode des elterlichen Protestes dar (ausführlich Omer u. von Schlippe, 2002, S. 57 ff.). Diese Intervention ist geboten, wenn das Verhalten des Kindes nach der Ankündigung keine Verbesserung zeigt, das Zimmer des Kindes bisher als »Tabuzone« für die Eltern galt und die Eltern auch schon andere Methoden aus dem gewaltlosen Widerstand eingesetzt haben. Wie schon in der Ankündigung beschrieben, sollte auch das Sit-in in einer relativ entspannten Situation stattfinden, wenn sich die Eltern also präsenter fühlen. Das Sit-in sollte zeitlich mit der Ankündigung in Verbindung gebracht werden können, also z. B. einige Tage danach stattfinden. Die Eltern betreten das Zimmer ihres Kindes/ des Jugendlichen (nachdem sie angeklopft haben) und setzen sich. Sie vermitteln danach ihrem Kind sinngemäß die folgende Botschaft in nicht anklagender Weise (siehe S. 41):
»Wir haben dir bereits angekündigt, dass wir mit der Situation, wie sie derzeit ist, nicht einverstanden sind. Dies möchten wir heute deutlich machen. Wir wenden uns gegen folgende Verhaltensweisen2: … Wir warten auf Vorschläge von dir, wie wir gemeinsam die Situation verändern könnten.« Wichtig ist, dass die Eltern nach dieser Einführung schweigen, keine ckeln lassen. Das kann für sie ziemlich herausfordernd sein, vor allem,
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wenn sie es gewohnt sind, in lange Diskurse mit dem Kind einzustei-
Beratung
weiteren Erklärungen abgeben und sich nicht in Diskussionen verwi-
gen. Aber gerade das Schweigen ist eine Musterunterbrechung im Konflikt, in dem erfahrungsgemäß sehr viele Worte gefallen sind. Für die Eltern kann ein Sit-in besonders schwierig sein, wenn sie bisher in ihrer eigenen Wohnung wenig körperliche Präsenz gezeigt haben und es für sie eine hohe Hemmschwelle zu überwinden gilt, das Jugendzimmer zu betreten. Wir empfehlen diese Intervention, wenn Eltern stark in die Defensive gerückt sind, ihre elterliche Stimme sehr leise geworden ist und sie wenig anwesendes Verhalten gezeigt haben. Die Eltern berichten uns nach einem Sit-in häufig, dass sie mit Angst und Herzklopfen in das Sit-in gegangen sind, sich aber im Laufe der Aktion sicherer gefühlt haben. Wichtig ist dabei die Haltung, die von freundlicher Klarheit, Offenheit und einer guten Absicht getragen sein sollte. Drohungen oder Machtdemonstrationen sollten vermieden werden. Das Sit-in ist eine starke Form des elterlichen Protestes, es vermittelt dem Kind die Botschaft von Beharrlichkeit, Geduld und Zeit. Weniger die Vorschläge des Kindes sind beim Sit-in ausschlaggebend, 2 Das Verhalten des Kindes sollte beobachtbar und belegbar benannt werden, ohne dass es moralisch bewertet wird – »Du hast das und das getan« statt »Das ist unmöglich, Du bist wirklich böse« usw. Du-Botschaften sollten generell vermieden und in sogenannte Ich-Botschaften überführt werden (ausführlich hierzu Gordon, 2012, S. 140).
zumal erfahrungsgemäß schnelle konstruktive Vorschläge von den Kindern nur selten kommen. Viel wichtiger ist die körperliche Präsenz der Eltern, die nach dem Sit-in in aller Regel erhöht ist. Falls die Lage eskalieren sollte, raten wir den Eltern, sofort abzubrechen. Jede Eskalation ist in einer hoch angespannten Beziehung zu vermeiden. Wir beraten die Eltern darin, wie Eskalationen im Vorfeld umgangen werden können (z. B. durch die Einbeziehung Dritter als Zeugen). Manchmal erleben die Eltern das Sit-in als zu invasiv und sträu-
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ben sich dagegen. Hier kann eine Abwandlung angeboten werden, die als »freundliche Besuche« bezeichnet werden (Förster, 2017). »Freundliche Besuche« bieten sich insbesondere an, wenn die Situation noch nicht hoch eskaliert ist: Die Eltern oder auch nur ein Elternteil setzen bzw. setzt sich wiederholt und in freundlicher Weise in das Zimmer des Kindes, verbunden mit der Aussage: »Ich wollte dich einfach mal besuchen kommen!« Je nachdem, ob das Kind sich auf ein Gespräch einlässt (das dann neutral sein sollte, also explizit nicht Problemverhalten zum Gegenstand haben sollte), können sie Zeitung lesen, sich das PC-Spiel erklären lassen etc. Ziel ist einfach, dem Kind nahe zu sein und die Chance einer freundlichen oder zumindest neutralen Begegnung zu erhöhen. Auch das kann eine Botschaft von Präsenz sein, die über die Schaffung von »guten Momenten« beziehungsstiftend wirkt.
Zurück zur Fallgeschichte: Deeskalation und die Methode der drei Körbe Mit Leons Eltern wurde neben der Ankündigung die Übung der »Drei Körbe« durchgeführt (Greene, 2001). Sie wurden gebeten, alle von ihnen als problematisch erlebten Verhaltensweisen von Leon jeweils auf einen separaten Zettel zu notieren. Diese Methode lädt dazu ein, sich über die eigenen, elterlichen »Knöpfe« bewusster
zu werden, die das Kind drückt und die schnell in eine Eskalation hineinführen. Anschließend ordneten die Eltern die Zettel mit den Verhaltensweisen jeweils drei Körben zu: In den größten, den grünen Akzeptanzkorb, wurden alle problematischen Verhaltensweisen Leons einsortiert, die zwar ärgerlich und Anlass für Groll bei den Eltern sind, die jedoch vernachlässigt werden können, weil sie aktuell für seine Entwicklung weniger bedeutsam sind. (So beschäftigt die Unordnung ihrer Kinder fast alle Eltern –
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und, so ärgerlich es ist, es gibt keine Lösung für das Problem, das
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und möglicherweise auch dem Übergang in die Pubertät geschuldet
sich ohnehin meist von selbst verwächst.) Die Eltern sortierten nach längerer Diskussion neben Leons Unordnung auch seinen herablassenden Tonfall, sein Nörgeln, sein provokantes Verhalten (»Er lässt alles stehen und liegen und lässt sich bedienen«) in den grünen Korb ein. Auch sein zum Teil schrilles Äußeres (gefärbte Haare, kaputte, ungepflegte Schuhe etc.) wanderte schließlich in den grünen Korb. Damit verbunden war auch der elterliche Vorsatz, sich von diesen Verhaltensweisen nicht weiter provozieren zu lassen und sie nicht zum Anlass zu nehmen, »wieder an die Decke zu gehen«. Natürlich sollte es im Familienalltag möglich bleiben, diese Themen in ruhiger Weise immer mal wieder anzusprechen. Es geht nicht in erster Linie darum, das beklagte Verhalten zu beenden, sondern sich im Sinne von Deeskalation und elterlicher Selbstkontrolle nicht mehr zu Eskalationen hinreißen zu lassen. In einen mittelgroßen, gelben Kompromisskorb wurden die Verhaltensweisen gelegt, die auf Dauer nicht akzeptabel sind, die jedoch derzeit nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Das sind problematische Verhaltensweisen, die noch etwas warten können, bei Leon waren dies beispielsweise seine Unpünktlichkeit und seine Unzuverlässigkeit im Erledigen von Aufgaben etc. In den gelben Korb gehören auch Themen und kindliche Verhaltensweisen, über
die sich die Eltern noch nicht einigen können, die also sozusagen eine Warteposition einnehmen. In den roten Limitkorb schließlich gehören die Verhaltensweisen, bei denen die Eltern sich einig sind, sie künftig nicht mehr zu akzeptieren. Es sind dies in der Regel Verhaltensweisen, die die Sicherheit und die Entwicklung des Kindes oder seiner Umgebung betreffen (z. B. selbstzerstörerische Aktivitäten, körperliche oder massive verständen). Auch wiederholtes, andauerndes Schuleschwänzen gehört
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bale Übergriffe auf andere, z. B. Geschwister, Zerstörung von Gegen50
dazu. Um die Themen, die von den Eltern in diesen Korb gelegt werden, zu bearbeiten, müssen die Eltern bereit sein, viel Mühe, Aufwand, Zeit und Energie zu investieren. Der drohende Verweis von der Schule und die Gefahr der weiteren sozialen Isolation und des Leistungseinbruches waren Themen, bei denen sich Leons Eltern schnell auf die höchste Priorität einigen konnten. Auch die Drohungen und Beschimpfungen gegenüber seiner Mutter wanderten in den roten Korb. Die Zuordnung zu den einzelnen Körben erfolgte im Gespräch mit der Beraterin, um den Eltern bei Differenzen in der Einschätzung zu helfen, einen »Korb« zu wählen, und sie vor überzogenen Erwartungen zu schützen. Und schließlich wurde mit den Eltern der »goldene Korb« gefüllt3, in den sie die Verhaltensweisen und Eigenschaften ihres Kindes legten, die sie mochten, die sie erhaltenswert fanden und nicht verändert sehen wollten. In Falle von Leon waren dies sein Interesse an technischen Dingen, sein manchmal aufblitzender Humor und seine Fähigkeit, gutes Essen zu genießen. Diese Angaben konnten wir später bei der Überlegung nutzen, wie die Eltern einseitige Beziehungsgesten anbieten könnten (siehe weiter unten). 3 Eine Ergänzung der Übung von Ross Greene durch Uri Weinblatt (mündlich).
2) Elterliche Deeskalationsmaßnahmen und Selbstkontrolle: Das Prinzip des Nicht-Hineingezogenwerdens und des Aufschubs Die Erkenntnis, dass ein unmittelbarer und dirigierender Einfluss auf das Verhalten des Kindes nicht möglich ist, ist für die Eltern nicht immer leicht zu akzeptieren und gerade deshalb im Elterncoaching der am Hilflosigkeitserleben großen Anteil hat: Wenn das eigene
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Selbstwertgefühl daran gebunden ist, dass das Kind »gehorcht«, ist es
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ein besonders wichtiges Thema. Denn es ist gerade dieser Anspruch,
massiv bedroht, sollte das Kind dies nicht tut. Wenn vermittelt werden kann, dass es, unabhängig davon, wie das Kind darauf reagiert, darum geht, das eigene Verhalten auf eine Weise zu verändern, die den eigenen Werten mehr entspricht, kann wieder die eigene Person als Quelle individueller Präsenz erfahren werden. Dies kann mit positiven Veränderungen im Selbstwertgefühl einhergehen. Zu akzeptieren, dass kein Mensch einen anderen vollständig kontrollieren kann (es sei denn, er hält ihn unter »Dauerterror« – und auch das gelingt nur so lange, wie dieser aufrechterhalten wird), kann als befreiend erlebt werden. Es bleibt die Möglichkeit zu lernen, sich selbst besser zu kontrollieren. In der Beratung werden die Eltern unterstützt, Selbstkontrolle zu üben und Situationen zu antizipieren, die regelmäßige »Entzündungsherde« sein könnten. Im Coaching werden die Eltern/Erzieher ermutigt, sich zunächst ausschließlich auf die Themen zu konzentrieren, bei denen die Entwicklung und der Schutz des Kindes in Gefahr sind, wie im Beispiel mit Leon skizziert, und alle anderen im Alltag nicht mehr zu kommentieren. Wir nennen dieses Vorgehen das »Prinzip des Nicht- Hineingezogenwerdens«, das das Ziel hat, die Anzahl der Konflikte im Alltag zu reduzieren und die Beziehungen nicht weiter zu belasten. Eine weitere Deeskalationsmaßnahme ist das Prinzip des Auf-
schubs. Wenn Eltern/Erzieher in eine Auseinandersetzung oder Eskalationsfalle geraten sind (was erfahrungsgemäß immer wieder vorkommt), werden sie unterstützt, nicht zu eskalieren, sondern zu schweigen. Hilfreich kann es sein, sich leise und einer Litanei vergleichbar den Satz vorzusagen: »Ich lasse mich nicht hineinziehen!«, um sich selbst in der gewaltlosen Haltung zu stärken. Auf der Verhaltensseite kann man ruhig mit dem Hinweis »Darüber werde ich zu einem späteren Zeitpunkt mit dir sprechen« oder »Das gefällt mir
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nicht, ich will darüber nachdenken und bespreche mich mit anderen« den Raum verlassen. Unabhängig davon, ob das Kind Problemverhalten zeigt, wird die Qualität der Präsenz nicht an dessen Verhalten gemessen, sondern am Verhalten der Eltern: Sie haben es geschafft, ihrer Wut oder Angst nicht zu folgen und standhaft, ruhig zu bleiben und nicht zu eskalieren. Das beschriebene Vorgehen ist vor allem dann sinnvoll, wenn es im Vorfeld viele konflikthafte Zuspitzungen gegeben hat und die Beziehung angespannt ist. Manchmal kann es im Coaching hilfreich sein, mit den Eltern eine Liste typischer Eskalationsauslöser zu besprechen, die »inneren Knöpfe«, die bei den Eltern Gefühle von Angst, Ärger, Hilflosigkeit, Mitleid und Schuld auslösen. Gerade bei Kindern und Jugendlichen mit externalem Problemverhalten hat sich diese Methode bewährt (Ollefs et al., 2009). Diese können häufig starken Einfluss auf die Kommunikation der Eltern nehmen: Sie sind oft sehr geschickt darin, Themen und Inhalte zu wechseln und so die Emotionalität der Eltern zu beeinflussen. Wenn es Kindern so gelingt, die Kommunikation der Eltern zu steuern, kommen sie in eine machtvolle Position, die ihnen nicht guttut, sie kann sowohl beängstigend sein als auch von Omnipotenzgefühlen begleitet werden. Dieses Muster wird unterbrochen, wenn die Eltern selbst eine Metaposition einnehmen und das eigene Verhalten beobachten: »Aha, jetzt versucht er, mich auf 180 zu bringen!«, und dann: »Mal
sehen, was passiert, wenn ich auf den ›Knopf‹ einfach nicht reagiere!« Die Kinder können von einem solchen elterlichen Vorgehen profitieren, weil die Eskalationen seltener werden und sie angeregt werden, ein konstruktiveres Verhalten zu erlernen. Studien zufolge (Döpfner u. Lehmkuhl, 1997) mehren sich die Hinweise, dass aggressives Verhalten sich im weiteren Verlauf umso stabiler zeigt, je früher und häufiger es auftritt und je ausgeprägter, vielfältiger und generalisierter es sich äußert. Daher ermutigen wir Eltern zur Deeskalation,
3) Versöhnungs- und Beziehungsgesten: Gesten der Wertschätzung, der Überraschung und der Liebe – unverzichtbarer Bestandteil des gewaltlosen Widerstandes Im systemischen Elterncoaching werden die Eltern/Erzieher unabhängig vom Problemverhalten ihrer Kinder unterstützt, von Anfang an regelmäßige kleine Gesten der Wertschätzung in den Familienalltag einfließen zu lassen. Die Gesten sollen die Botschaft vermitteln: »Unabhängig von unseren Streitigkeiten bleibst du mein Kind, an dem mir liegt.« Eltern werden ermutigt, die Beziehung zum Kind souverän zu gestalten und sich die Beziehungsqualität nicht vom Konflikt aufzwingen zu lassen. Erfahrungsgemäß leidet die Beziehung in hocheskalierten Konflikten massiv. Luhmann spricht im Zusammenhang von Konflikten auch von »parasitären Sozialsystemen« (1984, S. 533; vgl. von Schlippe, 2013). Der Konflikt setzt sich dabei in ein Kommunikationssystem (in die gewohnten Erwartungsstrukturen) hinein und zerstört immer mehr auch die Bereiche, in denen die Kommunikation noch funktionierte: Man grüßt sich nicht mehr, auch neutrale Anfragen bekommen einen aggressiven Unter-
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damit das aggressive Verhalten keine weitere Generalisierung erfährt.
ton und die Alltagskommunikation wird so zunehmend konflikthaft besetzt. Die Kommunikation beginnt, ein Eigenleben zu führen. Das, was wirkt, ist dabei oft gar nicht unbedingt das, was gewollt war. Die Kumulation von Nebeneffekten (die Sachaspekte nehmen ab und die Feindseligkeit nimmt zu) kann manchmal das eigentliche Problem sein. Denn im Regelfall will niemand aktiv den Konflikt. Im Zuge jeder Interaktion im Konflikt werden die Freiheitsgrade 54
sich die Akteure zu« (von Schlippe, 2013). Konflikte so zu sehen, hilft,
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für die Beteiligten geringer, man kann sagen, der Konflikt »richtet den Fokus mehr auf die Dynamik des Konfliktgeschehens zu legen und weniger auf die Suche nach Konfliktursachen, und es hilft zu vermeiden, die Konfliktursachen einseitig einer Konfliktpartei zuzurechnen. Die Frage danach, wer die Schuld am Konflikt(anlass) trägt, wer angefangen hat oder Ähnliches, ist in der Regel wenig hilfreich für die Verbesserung der Situation. Beziehungsgesten, auch Gesten der Überraschung und der Liebe genannt, sind ein erster Schritt, um sich vorsichtig anzunähern und Kontakt aufzunehmen. Sie unterlaufen auch den sogenannten feindseligen Wahrnehmungsfehler, der bei Kindern/Jugendlichen mit aggressivem Problemverhalten häufig zu beobachten ist (Dogde, 1993): »Ach, das tun sie ja nur, weil sie das und das bei mir erreichen wollen!« Beim diesem Wahrnehmungsfehler wird ein neutraler, vielleicht sogar positiver Schritt des anderen negativ, im Sinne einer Falle interpretiert. Damit wird es schwer, wieder aus dem Konflikt herauszukommen. Mit der Empfehlung von Beziehungsgesten werden die Eltern angeregt, beiläufig kleine Botschaften in den Familienalltag einzustreuen, die ihrem Kind vermitteln sollen: »Auch wenn wir uns häufig streiten, ist mir an der Beziehung zu dir gelegen …«. Solche Gesten können mündliche oder schriftliche Äußerungen sein, die Respekt gegenüber dem Kind und seinen Talenten bzw. Fähigkeiten ausdrücken, was sich Eltern bislang aus Ärger verknif-
fen hatten (»Warum soll ich mein Kind dafür belohnen, wenn es sich so danebenbenimmt?«). Hier können Eigenschaften und Fähigkeiten aus dem »goldenen Korb« bei der Ausgestaltung der Gesten leitend und hilfreich sein (indem sie etwa in ein Kompliment eingebunden werden). Eltern können gemeinsame Aktivitäten vorschlagen, die aus Ärger oder Resignation eingestellt wurden (Sport, gemeinsam Filme/ Videos schauen), wo also die Eltern begonnen hatten, den Kontakt mit dem Kind zu vermeiden. sehr beziehungsstiftend sein. Letztlich geht es darum, die Zahl guter Momente zu erhöhen. Jeder gute Moment, jede gelungene freundliche Interaktion bietet die Chance, dass eine positiv gefärbte Anschlussinteraktion erfolgt. Wenn Kinder mit einer Frage, einem Anliegen kommen oder einfach nur Kontakt mit den Eltern suchen, werden diese darin angeregt, darauf einzugehen. Und auch die Eltern können von sich aus aktiv werden, etwa wenn gelegentlich etwas, das das Kind mag, vom Einkauf mitgebracht wird (diese Sache gibt das Elternteil dem Kind dann eher beiläufig). Es kann auch zu Zeiten, die die Eltern bestimmen und die unabhängig vom Wohlverhalten des Kindes sind, eine Lieblingsspeise gekocht werden: Die Beraterpraxis zeigt, dass gerade bei Jugendlichen die gemeinsamen Mahlzeiten die guten Momente im Familienalltag erhöhen können, zumal eine Lieblingsspeise das Wohlbefinden stärkt und freundliche zwischenmenschliche Momente begünstigt. Auch mit jugendlichen Kindern können regelmäßige gemeinsame Mahlzeiten (wir schlagen mindestens zwei bis drei pro Woche vor) Anknüpfungspunkte sein, um wieder Kontakt aufzunehmen. Dieses Vorgehen mag irritierend sein, weil es an keine Bedingungen für das Kind geknüpft ist, aber die beschriebene positive Beziehungsgestaltung ist ganz zentral in dem Ansatz. Denn die Beziehung wird in aller Regel im Zuge von Streitigkeiten erheblich belastet. Bei stark belasteten Eltern-Kind-
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Wertvolle Zeit mit dem Kind zu verbringen, kann ebenfalls
Beziehungen unterstützen wir die Eltern darin, zunächst einseitig Beziehung anzubieten, bevor andere Maßnahmen aus dem gewaltlosen Widerstand empfohlen werden. Unserer Erfahrung nach reagieren Eltern auf diesen Vorschlag auch mit Erleichterung, vor allem wenn das elterliche Grundbedürfnis nach Fürsorge ausgeprägt ist. Manchmal erleben wir, dass die jugendlichen Kinder auf die »Rückkehr« ihrer Eltern mit Aversion reagieren. Wir vermitteln daher den Eltern im Coaching, dass sich die Kinder manchmal dagegen sträu-
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ben, weil sie denken, die einseitigen Beziehungsangebote seien Manipulationsversuche. Daher bereiten wir die Eltern intensiv auf mögliche Zurückweisungen vor. Eine freundliche Geste muss, zumindest anfangs, meist mehrmals ausgeführt bzw. eine Ablehnung gelassen kommentiert werden, etwa: »Du musst das Eis nicht essen, ich habe einfach an dich gedacht, als ich in der Stadt war.« Nur dann kann das Kind glauben, dass es sich nicht um eine verfeinerte Manipulation der Eltern handelt. Für die Eltern selbst kann die Geste das Präsenzerleben stärken, wenn sie unabhängig vom Verhalten ihres Kindes ihr Grundbedürfnis verwirklichen können, für gute Beziehungsangebote zu sorgen (»Ich lasse mir nicht vom Konflikt vorschreiben, wann ich meinem Kind eine freundliche Geste zukommen lasse«). Aber Rückschläge sind, wie gesagt, möglich, wenn das Kind z. B. auf freundliche Gesten abwehrend reagiert, obwohl es vielleicht vorher schon Beziehungsgesten angenommen hat. Der erwähnte feindselige Attributionsfehler kann erklären, weshalb vor allem Jugendliche auf plötzliche Annäherungsversuche mit Skepsis, Abwehr und Aggression reagieren, im Sinne einer »aggressiven Angstabwehr« (Trapmann u. Rotthaus, 2013, S. 21 ff.). Es ist im Sinne einer Enttäuschungsarbeit hilfreich, Eltern gut auf die mögliche Abwehr ihres Kindes vorzubereiten. Damit die Versöhnungsgeste zu einer »bedingungslosen Gabe« (Jakob, 2015) wird, ist es wichtig, sich von der Reaktion des Kindes unabhängig zu machen. Eine entwertende Antwort (»Jetzt
denkst du wohl, du kannst mich bestechen…!«) wird von den Eltern möglichst gleichmütig übergangen: »Du musst es ja nicht nehmen, ich habe nur in der Stadt an dich gedacht!« Mit Leons Eltern wurde besprochen, dass der Vater an zwei Abenden in der Woche früher nach Hause kommen würde, um seinerseits körperliche Anwesenheit zu zeigen und die Chancen für freundlich diese Geste eine große organisatorische, berufliche Herausforderung.
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Anfangs war dieses Vorgehen noch vom Aufbegehren Leons begleitet,
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gefärbte Kontakte mit dem Sohn zu erhöhen. Für den Vater war
der sich angewöhnt hatte, im Zimmer vor seinem PC zu essen. Allerdings konnten die Eltern der Einladung zur Eskalation widerstehen und ruhig bleiben. Auch die gemeinsamen Mahlzeiten waren Leon vorher angekündigt worden: »Uns ist aufgefallen, dass wir kaum mehr gemeinsame, schöne Zeiten miteinander haben und jeder für sich isst. Wir möchten zukünftig wieder gemeinsam essen, um wieder mehr Kontakt zu haben und unser Familienleben zu verbessern.« Die Eltern setzten die ersten gemeinsamen Mahlzeiten zeitlich so, dass Leons Hunger groß und die Aussicht auf ein gutes Essen verlockend war. Die neue Regelmäßigkeit ermöglichte es insbesondere dem Vater, wieder mehr Interesse und anwesendes Verhalten zu zeigen.
4) Aktivierung sozialer Unterstützung Soziale Unterstützung ist mit den Grundgedanken des gewaltlosen Widerstands untrennbar verbunden. Wer keine Unterstützung hat, dessen Präsenz ist fragil, er/sie kann sich nicht mit Entschiedenheit für seine/ihre Position einsetzen. Dagegen kann derjenige, der sich unterstützt und sozusagen von guten Blicken und Worten getragen weiß, neue Stärke in sich entdecken. Es ist eine Stärke, die nichts
mit dem Wunsch zu siegen zu tun hat, sondern die in der Erfahrung wurzelt, dass die eigene Stimme »richtig« ist, dass man zur eigenen Meinung und Einschätzung der Situation steht und weiß, dass man mit seiner Position nicht allein ist. Viele Eltern scheuen sich, über die Geschehnisse zu Hause zu sprechen, um sich und ihr Kind vor einem negativen Image zu schützen. Die Geheimhaltung aufzubrechen und Unterstützung von außen zu mobilisieren, stellt 58
Schritt häufig sehr schwer, weil er viel Mut, die Überwindung der
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daher eine bedeutsame Musterunterbrechung dar. Eltern fällt dieser Angst und ein sorgfältiges Vorgehen erfordert. Nachdem Eltern ihre Zweifel und Ängste überwunden haben, berichten sie häufig, dass der Austausch mit anderen, ausgewählten Personen (in der Schule, Nachbarn, Freunden etc.) langfristig das Verständnis füreinander gestärkt und sie entlastet habe. Breite Unterstützungsstrukturen zu schaffen, die im Ernstfall auch tragen, verlangt zum einen Kontinuität, zum anderen aber auch eine besondere Form von Klugheit, nämlich bei der Frage, wen man ansprechen und gewinnen kann und wen besser nicht. Denn ein Netz kann auffangen, aber auch gefangen halten. Früher mag das Netzwerk eines Menschen mit seiner Lebenswelt identisch gewesen sein – man hatte zu tun mit denen, die man kannte. Man kannte sich, man wusste, auf wen man sich verlassen konnte und auf wen nicht. In unserer Zeit, die von einer hohen Mobilität gekennzeichnet ist, ist gezielte Aktivität nötig, um Netzwerke entstehen zu lassen, von denen man weiß, dass sie verlässlich sind, und auf deren Vertreter man im Bedarfsfall zurückgreifen kann. Wirkungen von sozialer Unterstützung
Isolierte Eltern und vor allem Alleinerziehende können leicht Opfer von Angst, Demoralisation und Verzweifelung werden, weil sie niemanden haben, mit dem sie ihre Sorgen und Ängste teilen können.
Mit der Aktivierung von sozialer Unterstützung werden neue Rahmenbedingungen geschaffen, die im Elterncoaching folgende Wirkungen entfalten können: ȤȤ Eltern entwickeln Verständnis dafür, wie sich Eskalationsmuster entwickeln können, ȤȤ Eltern werden in ihrem Grundbedürfnis nach Anerkennung, Schutz, Zugehörigkeit, Integrität gestärkt – und damit im Empfinden der eigenen Würde (Marks, 2012), ȤȤ Eltern werden »Energiequellen« zur Seite gestellt, die sie in ihrer Erschöpfung selbst nicht mehr haben, ȤȤ Eltern machen die Erfahrung, wieder handeln zu können; das damit verbundene Erleben von Selbstwirksamkeit stärkt das Selbstwertgefühl und ermöglicht eine präsentere, zuversichtlichere Haltung. Studien (Baumeister, Gailliot, DeWall u. Oaten, 2006) zeigen darüber hinaus, dass die Motivation zur Selbstkontrolle bei sozialer Isolation abnimmt. Es ist daher anzunehmen, dass Eltern (und Kinder ebenfalls) im öffentlichen Raum mehr Selbstkontrolle entwickeln. Öffentlichkeit und Transparenz vermitteln dem Kind, dass das, was es tut, nicht länger im Privaten geschieht, sondern dass Unterstützer die familiäre Situation kennen und bereit sind, zu helfen. Kinder erfahren, dass die elterliche Botschaft von vielen weiteren Personen getragen wird. Das kann die Konfrontation zwischen Eltern und Kind auflösen. Das Kind beugt sich nicht mehr einer Person, sondern schließt sich dem Regelsystem einer Gemeinschaft an. Dies geschieht erfahrungsgemäß weniger deshalb, weil es einsieht, dass sein Verhalten problematisch ist (auch wenn sich viele Eltern genau das wünschen), sondern weil andere explizite und implizite Regeln im System greifen. Für Eltern wiederum ist es ermutigend, dass sie im Gespräch
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ȤȤ Eltern werden ermutigt, die eigenen Kräfte zu mobilisieren,
oder im Konflikt mit ihrem Kind das Bewusstsein haben, nicht allein zu sein und dass ihre Stimme durch einen ganzen Chor von Stimmen legitimiert ist.4 Um soziale Unterstützung zu aktivieren, kann auch das Angebot des Therapeuten erleichternd sein, selbst mit Helfern zu sprechen und diese zum Beratungsgespräch einzuladen. Viele Eltern erleben es als entlastend, wenn der Erstkontakt zu Unterstützern für sie gebahnt wird. Es sollte konkret besprochen werden, wer als Unterstützer hilf-
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reich sein könnte und wie die Kontaktaufnahme erfolgt. Manchmal kann eine Karte/E-Mail vom Berater an potenzielle Unterstützer eine erste Brücke sein. Es hat sich bewährt, solche Kontaktaufnahmen kurz und freundlich zu halten und eine Aussicht darauf zu geben, was als Unterstützung konkret gewünscht wird. Die Bereitschaft wird eher gestärkt, wenn die Unterstützer wissen, welchen Umfang die Mithilfe haben wird (weniger ist mehr), als wenn sie aus Sorge vor zu viel Aufwand eine Absage erteilen. Häufig erleben wir in der Beratung, dass die Aktivierung sozialer Unterstützung anfangs auf viele elterliche Einwände trifft. Hier kann es hilfreich sein, dem elterlichen Widerstand zunächst nachzugeben. Das Aufgreifen dieses Angebotes zu einem späteren Zeitpunkt, wenn deutlich wird, dass die Eltern bereit sind, die Kraft von Unterstützung zu nutzen, kann dann effektiver sein. Es sollte jedoch betont werden, dass es im Elterncoaching überwiegend positive Erfahrungen mit den Reaktionen der Umwelt gibt: »Wir haben geahnt, dass euch etwas bedrückt, und nun können wir euch besser verstehen!« Da die Geheimhaltung die Fantasien Außenstehender beflügeln kann, bietet die Offenlegung auch die Chance, die Bilder auf ein realistisches Maß zu reduzieren. Manchmal kann es für Eltern auch erleichternd sein, 4 So Haim Omer im März 2017 auf der Tagung »Kluge Wege zur Vernetzung«. an der Universität Witten/Herdecke.
andere um Hilfe zu bitten, weil sie sich bislang nicht getraut haben, Öffentlichkeit herzustellen. Unsere Erfahrungen mit der Einbeziehung Dritter zeigen, dass vor allem das Bündnis mit der Schule bzw. anderen an der Erziehung beteiligten Personen besonders effektiv ist. Aber auch die Einbeziehung der erweiterten Familie, von Freunden, Nachbarschaft oder Arbeitskollegen hat sich bewährt. Unterstützer können ganz unterschiedliche Aufgaben haben: Sie beispielsweise, wenn Eltern eine schwierige Situation mit dem Kind
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erlebt haben oder in der Vorbereitung einer Ankündigung. Sie kön-
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können als emotionale Tröster/Versorger und Zuhörer hilfreich sein,
nen als Zeugen bei einer zu erwartenden Auseinandersetzung zu Themen aus dem roten Limitkorb einbezogen werden. Sie können als Vermittler zwischen dem Kind und den Eltern hilfreich sein. Die Unterstützung sollte nicht auf die Eltern beschränkt bleiben, sondern immer auch das Kind einbeziehen. Denn wenn sich das Kind völlig allein sieht, wird es beschämt sein und sein Fehlverhalten möglicherweise intensivieren. Die Öffentlichkeit kann Scham hervorrufen, sie hat jedoch auch die Macht, dieses Gefühl abzuschwächen, wenn die Beziehungen verlässlich sind und eine re-integrative Kraft haben (Weinblatt, 2013). Daher wird meist auch ein Fürsprecher für das Kind einbezogen. Dies kann vom Kind anfänglich als Bedrohung empfunden werden, das ändert sich aber schnell, wenn es merkt, dass es dieselben Rechte hat wie die Eltern und manchmal sogar dazu ermutigt wird, Informationen darüber auszutauschen, was in der Familie geschieht. Auch Vermittler oder Mediatoren, die sowohl zum Kind eine Beziehung haben als auch die Brücke zu den Eltern schlagen, spielen in der Aktivierung sozialer Unterstützung eine wichtige Rolle. Omer (2017) verwendet dabei das Bild der Rampe: Die Unterstützer helfen dabei, dass sich das Kind wieder auf die Eltern zubewegen kann.
Konkretes Vorgehen bei der Aktivierung sozialer Unterstützung
Zusammen mit den Eltern sollte besprochen werden, wer hier hilfreich sein könnte. Die Unterstützer sollten von den Eltern als angenehm und wohlwollend erlebt werden (z. B. aus Familie, Nachbarschaft, Kollegenkreis, Freundeskreis, Vereinen, Schule etc.). Sie sollten in ihren Aussagen beide Elternteile unterstützen können, auch wenn die Sympathien nicht gleichermaßen beiden Partnern gelten. Großeltern oder andere Familienmitglieder sind als Zeugen,
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also als anwesende Beobachter, wenn eskalierende Auseinandersetzungen zu erwarten sind, grundsätzlich geeignet, wenn sie dazu Bereitschaft zeigen. Es hat sich bewährt, im Coaching verschiedene Netzwerke auf einer Flipchart unter folgenden Gesichtspunkten zu visualisieren: ȤȤ Wer aus den jeweiligen Herkunftsfamilien der Eltern kann hilfreich sein? ȤȤ Welche Freunde, Nachbarn, Kollegen können nützlich sein? ȤȤ Welche Personen aus früheren Zeiten kommen infrage, weil ein grundsätzliches Vertrauen besteht, auch wenn der Kontakt wieder aktiviert werden muss? ȤȤ Gibt es Menschen aus dem Vereinsleben der Eltern bzw. anderen sozialen Strukturen, die zur Seite stehen könnten? Aus dem Umfeld des Kindes lohnt es sich, Gruppierungen aus der Schule, dem Kindergarten, dem Sportverein, den Jugendgruppen in Erwägung zu ziehen und zu überlegen, welche Personen von dort Ansprechpartner sein könnten. Gerade isoliert lebende Eltern benötigen an dieser Stelle häufig viel Unterstützung, weil sie es nicht gewohnt sind, auf andere Menschen zuzugehen. Hier bietet es sich im Beratungskontext an, aktiv Netzwerke aufzubauen. So gründeten in einem Fall Beraterinnen und Berater aus verschiedenen Beratungsstellungen einer Stadt
gemeinsam eine Gruppe alleinerziehender Mütter. Sie brachten so die Frauen zusammen, die begannen, einander zu unterstützen. In London haben sich alleinerziehende Mütter von Jugendlichen, die in Gangs mit Kriminalität und Drogen in Berührung gekommen waren, mithilfe des Ansatzes erfolgreich zusammengeschlossen und ihre Präsenz entwickelt (Ollefs, im Druck). Manchmal reicht aber auch das Angebot einzelner Elternabende zu bestimmten Themen 63
des Treffens ihre Handynummern austauschen, um sich nochmals
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aus, um Eltern anzuregen, miteinander ins Gespräch zu kommen. Häufig haben wir die Erfahrung gemacht, dass die Eltern am Ende gesondert zu treffen. Eltern erleben es als hilfreich, wenn man mit ihnen gemeinsam überlegt, wie sie den ersten Schritt zur Kontaktaufnahme gestalten können (z. B. Verabredung zu einem Telefonat über SMS- oder E-Mail-Kontakt), um die Bereitschaft des Gegenübers zu stärken. Es hat sich darüber hinaus bewährt, in einer schwierigen Phase des Kindes mit Lehrern regelmäßige kurze Telefonkontakte zu vereinbaren und die Gespräche sorgfältig zu planen. Der Kontakt zur Schule wird von Eltern, die selbst eher schwierige Erfahrungen in der Schulzeit gemacht haben, als besonders herausfordernd erlebt. Dennoch zeigen die Erfahrungen, dass es in aller Regel engagierte Lehrer gibt, die Interesse an dieser Form von Austausch haben. Hier können Lehrer und Eltern ihre Interessen bündeln, weil beide Seiten erfahrungsgemäß den Wunsch haben, dass die Schüler/Kinder ihre Fähigkeiten entwickeln können. An dieser Stelle ist, wie im gesamten gewaltlosen Widerstand, eine Haltung nötig, die beharrlich bleibt und sich von einzelnen Rückschlägen nicht beirren lässt. Neben wohnortnahen Unterstützern können auch Personen, die weit entfernt oder gar im Ausland leben, als relevante Unterstützer über Nachrichten, E-Mails, Telefonate oder auch Briefkontakte die Eltern in ihrem Vorgehen unterstützen. Hier hat es sich (besonders,
wenn Gewalt ein Thema war) bewährt, dass die Unterstützer das Kind freundlich kontaktieren und ihm deutlich machen, dass ihnen die Vorkommnisse bekannt sind. Sie vermitteln dem Kind, dass sie die Eltern in ihrem Bemühen um ein Ende der Gewalt unterstützen, zugleich aber auch, dass ihnen der Kontakt zum Kind weiterhin wichtig ist. Gerade bei Jugendlichen kann der Kontaktaufbau über Kurzoder Sprachnachrichten ein Türöffner sein. Meistens reagieren
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Jugendliche sogar kooperativer, wenn Erwachsene per SMS eine Botschaft senden als face to face. Sie erleben diesen Kontakt als weniger intrusiv und mit weniger Gesichtsverlust verbunden. Wichtig ist es jedoch, dass der Kontakt langfristig auf die Beziehungspflege hin angelegt ist.
5) Wiedergutmachungen Wenn Kinder oder Jugendliche gewalttätig gegenüber ihren Eltern oder der Umwelt werden, entsteht ein Bruch zwischen ihnen, der Familie und ihrer Umgebung. Die Beziehungen werden angesichts psychischer und physischer Gewalt massiv belastet. In der Haltung des gewaltlosen Widerstandes wird vom Kind nicht erwartet, eigenständig Wiedergutmachung zu leisten. Doch kann es an Wiedergutmachungshandlungen teilnehmen, die von Eltern oder Lehrern angeleitet werden. Der Versuch der Eltern, das Kind zu Wiedergutmachungsgesten einzuladen, drückt den positiven Geist des gewaltlosen Widerstands aus, dem anderen respektvoll zu begegnen. Anders als Bestrafungen, die in keiner Weise die Kluft zu überbrücken vermögen, die sich zwischen dem Kind und den anderen aufgetan haben, bringen die Wiedergutmachungstaten das Kind wieder in die Familie oder Schule zurück und unterstützen auf diese Weise sein Bedürf-
nis nach Zugehörigkeit (Omer u. von Schlippe, 2010, S. 267). Unserer Einschätzung nach kann gerade dadurch Einsicht in begangenes Unrecht möglich und konstruktives Verhalten angeregt werden. So kann zum einen die Person aktiv einen Beitrag leisten und wieder vollwertiges Mitglied der Gruppe (z. B. in der Schule) werden und zum anderen werden Geschädigte tatsächlich ernst genommen (Haase, 2017; Haase u. Pinkall, 2013). Erwachsene, die solche Wiedergutmachungsprozesse begleiten, werden an Respekt gewinnen, weil
6) Präsenz und wachsame Sorge Mit dem gewaltlosen Widerstand sind Selbstreflexion und Bewusstsein untrennbar verbunden, denn es gilt, sich im Konflikt nicht von den eigenen Emotionen leiten zu lassen. Die Eltern/Erwachsenen übernehmen die Verantwortung für die Beziehungsqualität und stehen für die Einhaltung der Werte und Regeln im Zusammenleben gewaltfrei ein. Gandhi hat in diesem Zusammenhang den Hindibegriff »Swaraj« verwendet. Damit sind Selbstverantwortung und Selbstverwaltung gemeint (Jesudasan, 1987, S. 57), was Bewusstheit, Reflexion und Aufmerksamkeit für die Situation einschließt. Bezogen auf das Elterncoaching geht es darum, die Eltern in der wachsamen Sorge für ihr Kind zu sensibilisieren. Dabei werden drei Grade der elterlichen Aufsicht unterschieden (ausführlich Omer u. von Schlippe, 2010, S. 79 ff.): I. Offener Dialog und Aufrichtigkeit: Die Beziehung zum Kind ist vertrauensvoll, die Eltern investieren Zeit für ihr Kind und zeigen positives Interesse. Die Eltern-Kind-Beziehung ist von Offenheit geprägt, wobei die Eltern in ihrer elterlichen Präsenz spürbar bleiben. Falls das Kind in Gefahr gerät (beispielsweise beim wiederhol-
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auf diese Weise Konfliktlösungskompetenz entsteht.
ten Alkohol- oder Drogenkonsum), zeigt sich wachsame Sorge in der Bereitschaft, Beratung und Unterstützung einzuholen. II. Direkte Befragung: Wenn Eltern ihre wachsame Sorge verstärken wollen, tun sie dies nicht beiläufig, sondern explizit: »Wir machen uns seit einiger Zeit ziemliche Sorgen um dich. Es ist unsere Pflicht, besser Bescheid zu wissen, daher werden wir zukünftig nachfragen, bevor du das Haus verlässt.« Die direkte Befragung ist keine setzen und durch Machtkämpfe, Anschreien und Beleidigungen
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sehr beliebte Maßnahme, weil sich Jugendliche in aller Regel wider66
versuchen, die Eltern mürbe zu machen und sich zu wehren. Wir empfehlen den Eltern, den lauten Widerstand und das wütende Türenknallen als akzeptablen Preis für die Möglichkeit zu sehen, ihre Anwesenheit im Leben ihres Kindes zu verstärken. III. Einseitige Maßnahmen: Wachsame Sorge erfordert Mut, etwa
Schritte zur Fürsorge und zur Beaufsichtigung offen zu ergreifen, z. B. Telefonketten zu initiieren, wenn das jugendliche Kind nachts unterwegs ist und die Eltern nicht wissen, wo und mit wem es sich herumtreibt. Gleichzeitig gilt es aber, die persönlichen Grenzen des Jugendlichen zu wahren: Die Beaufsichtigung gilt nicht für persönliche Tagebücher, SMS oder Telefonate. Auch das Eindringen in die Gefühlswelt oder in intime Beziehungen ist damit nicht gemeint.
7) Transparenz Von großer Wichtigkeit im gewaltlosen Widerstand ist auch der Aspekt der Transparenz. Die Eltern entwickeln die Bereitschaft, Geheimnisse zu lüften (z. B. wenn das Kind/der Jugendliche Gewalt ausgeübt hat), Probleme und ihre Maßnahmen bekannt zu geben und die Öffentlichkeit als Ressource zu nutzen. Dieser Entschluss entzieht der Gewalt die Macht, denn Gewalt lebt davon, dass sie
geheim gehalten wird. Wenn Eltern oder Lehrer bereit sind, potenziellen Unterstützern Einblick in ihre Probleme zu gewähren, ändert das nicht nur die Beziehung zu diesen, sondern langfristig auch die zum Kind. Die Eltern werden zu Vertretern eines unterstützenden und somit autorisierenden Netzwerkes. Sprachlich kann sich das ausdrücken, indem Eltern nicht mehr in generalisierenden und anklagenden Du-Botschaften sprechen (»Du bist zu nichts nütze!«) oder Botschaften verwenden (»Wir möchten dich nicht verletzen. Aber
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wir sind entschieden, uns deinem Verhalten entgegenzusetzen«).
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eskalieren (»Du tust, was ich dir sage!«), sondern Ich- bzw. Wir-
Dadurch wird der Aussage der Stachel der Entwürdigung genommen. Das Kind beugt sich nicht einer Autoritätsperson, sondern hat die Möglichkeit, sich der Regel der Gemeinschaft anzuschließen, was mit weniger Gesichtsverlust verbunden ist. Dieser Übergang in die Transparenz stärkt das Zusammengehörigkeitsgefühl der Autoritätspersonen, wobei eine Haltung, die ethisch-moralisch vertretbar ist, als Voraussetzung gilt. Transparenz setzt also voraus, dass die Eltern ihre Werte, Ziele und ihr Vorgehen öffentlich machen und gegenüber der Umwelt, die sie aktiviert haben, kommunizieren.
Wie ging es mit Leon und seinen Eltern weiter? Tatsächlich nahmen die Eltern den Kontakt zur Schule wieder auf und suchten Gespräche mit verschiedenen Fachlehrern unter Einbeziehung von Leon. Dieser wehrte sich anfänglich massiv dagegen, aber die Eltern hatten ihm deutlich zu verstehen gegeben, dass sie sich von seinen Widerständen nicht beirren lassen würden. In der Beratung ermutigten wir sie, gerade auch mit den Fachlehrern zu sprechen, die Leon grundsätzlich positiver einschätzten. Es sollten nicht nur die Defizite thematisiert werden, sondern auch besonders Bereiche, wo sich Leon im Sinne des goldenen Korbs interessiert und
kooperativ zeigte. Die positiven Erfahrungen halfen den Eltern, aus der selektiven, negativen Wahrnehmung des Kindes auszusteigen und vorsichtig Hoffnung zu schöpfen. Gemeinsam mit den Lehrern wurden Nachhilfeangebote entwickelt. Auch vereinbarten die Lehrer mit den Eltern einen wöchentlichen Telefonkontakt, um Leons weitere Entwicklung im Sinne einer wachsamen Sorge (s. o.) im Blick zu behalten. Auch diesen Schritt machten die Eltern gegenüber Leon transparent.
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In der nachfolgenden Zeit reduzierten sich Leons Ausfälle gegenüber Lehrern, Mitschülern und auch zu Hause erheblich. Seine Leistungen in den Problemfächern verbesserten sich, ein Schulwechsel konnte vermieden werden und er ging wieder mit mehr Akzeptanz (wenn auch nicht mit Freude) in die Schule. Durch das Bündnis mit der Schule fühlten sich die Eltern, vor allem die Mutter, deutlich sicherer und weniger ängstlich. Die gewonnene Zuversicht stärkte sie, sich auch außerhalb der Kleinfamilie wieder zu öffnen und Kontakte zu ihrer Schwester und zu einer alten Freundin zu aktivieren, die erfahren im Umgang mit eigenen, älteren Kindern waren. Die Gespräche wirkten entlastend, weil ihre Probleme mit Leon relativiert wurden und sie dennoch bestärkt wurde, mit ihren Bemühungen um mehr Präsenz fortzufahren. Das Elterncoaching sensibilisierte das Paar auch für ihre eigenen Probleme. Die Eltern fühlten sich ermutigt, für sich selbst paartherapeutische Unterstützung zu suchen. Die Entwicklung von Leon und seinen Eltern zeigt, dass das Elterncoaching keine schnelle und umfassende Lösung für lang andauernde Eskalationsdynamiken in Familien verspricht. Einige Fortschritte waren schnell erkennbar, das Verhältnis zwischen den Eltern und Leon besserte sich schrittweise und vor allem fühlten sich die Eltern deutlich weniger hilflos und resigniert. Dennoch, es geht nicht um einen Sprint, eher um einen Marathonlauf. Leon wird sicherlich noch lange eine fördernde, beziehungsstiftende und
strukturierte Präsenz der Eltern benötigen. Wir bereiteten die Eltern daher trotz der kurzfristigen Erfolge darauf vor, dass ein langer Atem und noch viel Kraft seitens der Eltern nötig sein dürften, um Leon in seiner positiven Entwicklung zu unterstützen. Zugleich wurde dies aber auch normalisiert, denn diese Rahmenbedingungen sind im Zuge der Pubertät für Jugendliche ganz generell hilfreich. Gerade in Zeiten der Autonomieentwicklung ist die Gefahr von Eskalationen besonders groß, wie das weitere Fallbeispiel zeigt.
Fallbeispiel 2: Mit der Angst im Bunde – Überbehütung, die komplementäre Eskalation fördert Der 14-jährige Nils kam zum wiederholten Mal zur diagnostischen Abklärung von plötzlich auftretendem Schwindel mit anschließender Bewusstlosigkeit zu uns in die Klinik. Vier Wochen zuvor hatte er nach einem Skiunfall bei einer Klassenreise eine Gehirnerschütterung erlitten, die starke Kopfschmerzen hinterlassen hatte. Mit Freunden hatte er einige Wochen später den sogenannten Pilotentest geübt (Hyperventilationen bis hin zur Bewusstlosigkeit), den er bis zum Kollaps ausprobiert hatte. Die Symptomatik, die zur stationären Aufnahme geführt hatte, war eindrucksvoll: Während des Sportunterrichts und auch während des Matheunterrichts war er kollabiert und offensichtlich anfangs nicht ansprechbar gewesen, was die Lehrer bewogen hatte, den Rettungswagen zu rufen. Im Zuge der stationären Aufenthalte wurde er eingehend kör perlich untersucht, um eine Tumorerkrankung oder andere raumfordernde Prozesse auszuschließen. Zwischen den Krankenhausaufenthalten weigerte er sich zunehmend, zur Schule zu gehen. Mit Nils und seiner Mutter hatte ich während des dritten Krankenhausaufenthaltes frühzeitig Kontakt aufgenommen. Nils zeigte sich mir gegenüber freundlich, höflich und sozial angepasst. Er klagte
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darüber, dass er sich zunehmend schwächer fühle und dass ihn der Schwindel zusammen mit den Kopfschmerzen jeweils aus heiterem Himmel befalle. Er habe bereits mehrere Wochen aufgrund der Symptomatik in der Schule (9. Klasse Gymnasium) gefehlt, da er sich nicht in der Lage fühle, am Unterricht teilzunehmen. Seine Mutter würde das verstehen. Den Ausschluss einer körperlichen Ursache für seine Beschwerden 70
»Einerseits bin ich zwar erleichtert, dass ich nicht ernsthaft krank bin,
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am Ende der körperlichen Diagnostik nahm er mit Ambivalenz auf: andererseits kann ich mir meinen Schwindel, die Kopfschmerzen und die plötzliche Bewusstlosigkeit nicht erklären.« Im Team fiel auf (wir arbeiten als interdisziplinäres Team mit Ärztinnen, Kinderkrankenschwestern und Physiotherapeuten zu sammen und tauschen uns über unsere Erfahrungen regelmäßig aus), dass die Mutter Nils während seiner wiederholten Krankenhausaufenthalte kaum von der Seite wich. Aufgrund der körperlichen Schwäche ihres Sohnes begleitete sie ihn in ängstlicher Sorge zu den Untersuchungen und begründete ihre stete Anwesenheit damit, dass er sich kaum auf den Beinen halten könne. Im Gespräch wurde ihre große Angst deutlich: Sie habe zwar verstanden, dass es an der Zeit sei, Nils wieder zu mobilisieren und ihm dabei zu helfen, langsam ins Leben zurückzufinden. Gleichzeitig habe sie große Angst vor der Symptomatik und davor, »ihm unrecht zu tun«, zumal er ja auch zuhause immer wieder plötzlich kollabieren könne. Im Gespräch berichtete sie mir, dass sie aus eigener Unsicherheit heraus seiner Angst immer wieder entgegengekommen sei. Sie habe versucht, durch Nachgiebigkeit ihrem Sohn dabei zu helfen, sein mit der Angstsymptomatik verbundenes Leid zu lindern. Sowohl ihr Mann als auch die beiden älteren Söhne stünden der beschriebenen Symptomatik deutlich distanzierter gegenüber. Zwischen ihr und ihrem jüngsten Sohn habe es immer schon eine besonders enge
Beziehung gegeben, zumal Nils in seiner frühen Kindheit von einer starken Neurodermitis und später von Asthma betroffen gewesen sei. Im Gespräch zeigte sie sich offen, die Familiensituation zu reflektieren und ihre eigene Rolle im Umgang mit der Angst zu hinterfragen. Deutlich wurde im Gespräch, dass im Zuge der Nachgiebigkeit die Symptomatik und Beschwerden eher schlimmer geworden waren. Offensichtlich hatten sich mütterliche Sorge und kindliche Angst gegenseitig hatte (Omer u. Lebowitz, 2012, S. 39). Die mütterliche Gewohnheit,
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Nils zu schonen, hatte sich über die Zeit verfestigt, ohne dass sich die
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verstärkt, sodass sich ein regelrechter »Pakt der Angst« entwickelt
Mutter dessen bewusst war. Ein kleiner Hinweis reichte aus, um sie zum Handeln zu bringen, wobei sie ein Feingefühl entwickelte, das beinahe wie Telepathie wirkte. Die Ohnmachtsanfälle, die anfänglich zu Hause und beim Sport (Nils war eigentlich ein erfolgreicher Sportler, der in einer Sport-AG der Schule jahrelang engagiert war) aufgetreten waren, generalisierten sich in der Schule und später in der Klinik. Auch im Krankenhaus und vor allem im Beisein der Mutter hatte er Schwindel- und Ohnmachtsepisoden. Wir maßen diesen Ausfällen schließlich, mit der Sicherheit der diagnostischen Abklärung im Rücken, keine weitere Bedeutung mehr bei, zumal seine Vitalzeichen vorhanden waren. Um ihn zu aktivieren, arbeitete er mit einem Physiotherapeuten im Einzelsetting, der ihm atemerleichternde Stellungen und Atemtechniken für zukünftige Schwindelsituationen vermittelte. Im Team und in Absprache mit der Mutter wurde der Teufelskreis von Stress, Angst, Rückzug, Mattigkeit, depressiver Verstimmung und dessen Einfluss auf seine Symptomatik thematisiert. Vor diesem Erfahrungshintergrund entschieden wir uns als Team, Nils eine Ankündigung in Form eines Briefes zu schreiben und ihn darauf vorzubereiten, dass wir ihn mobilisieren würden und seine Mutter ihre Besuche nur noch auf kurze Stippvisiten am Tag reduzieren würde. Der Brief war zwar an Nils gerichtet, er war aber als Intervention
durchaus auch für die Mutter gedacht, um sie zu unterstützen, den Kreislauf aus Schwäche und Fürsorge zu unterbrechen: »Lieber Nils, in den letzten Wochen ist es dir zunehmend schlechter ergangen. Die Kopfschmerzen, der Schwindel und die Bewusstlosigkeit haben dazu beigetragen, dass du dich aus der Schule immer mehr zurückgezogen und dich antriebsloser und schwächer gefühlt hast. Die Symptome ste-
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hen offensichtlich im Zusammenhang mit deinem Skiunfall vor einigen Wochen und deiner Gehirnerschütterung. Deine Mutter hat dich lange Zeit umsorgt, damit es dir wieder bessergeht. Die sorgfältigen Untersuchungen in der Klinik haben ergeben, dass du körperlich gesund bist. Daher möchten wir als Team dich und deine Mutter nun darin unterstützen, dir wieder mehr zuzutrauen, deinen Weg allein zu gehen. Wir, das Stationsteam, werden für dich präsent sein, um die Zeit bis zu deiner Entlassung zu überbrücken. In dieser schwierigen Zeit war deine Mutter so etwas wie eine wichtige und hilfreiche Stütze für dich. Wir wissen, dass manchmal der Moment verpasst wird, an dem man die Stütze nicht mehr braucht. Dann besteht die Gefahr, dass man gar nicht mehr merkt, dass man wieder alleine gehen kann. Wir glauben, dass es bei dir jetzt so weit sein kann, dass du wieder mobilisiert wirst, zu Kräften kommst und wieder am Leben teilnehmen kannst. Nach Absprache mit deiner Mutter wird diese ihre Besuche reduzieren, damit du unter unserer Aufsicht üben und bald entlassen werden kannst. Auch ermutigen wir dich, trotz deiner Schwäche und Symptome, zeitnah – mit Unterstützung deiner Brüder – wieder zur Schule zu gehen und durch sportliche Betätigung und Ablenkung dich weniger auf deine Beschwerden zu konzentrieren. Wir wissen, dass es dir momentan noch nicht richtig gut geht. Aber wir sind zuversichtlich, dass du es schaffen wirst! Das Team der Station«
Nils nahm den Brief zunächst akzeptierend auf. Wie die Mutter später berichtete, versuchte er sie anfangs umzustimmen, doch sie blieb standhaft. Nachdem mit ihr die zeitnahe Wiedereingliederung in die Schule besprochen worden war, suchte sie gemeinsam mit ihrem Mann das Gespräch mit den Lehrern, berichtete ihnen von der diagnostischen Abklärung und bat sie um Mithilfe bei der Überwindung von Nils’ Angst. Seine Brüder, die zur gleichen Schule gin(Geschwisterkinder können eine bedeutsame Ressource im Eltern-
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coaching sein, siehe Terrahe-Hecking u. Theiling, 2013). Mit den
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gen, begleiteten ihn morgens und brachten ihn zu seiner Klasse
Mitschülern und Lehrern wurden Möglichkeiten besprochen, wie Nils die versäumten Lehrinhalte nacharbeiten konnte. Darüber hinaus wurde festgelegt, dass Nils zwar den Unterricht verlassen könnte, falls es ihm schlecht ginge, um seine physiotherapeutischen Übungen zu machen, er aber nicht mehr von der Schule abgeholt würde. Mit der Mutter wurden nachstationär noch einige Gespräche im Sinne eines Elterncoachings geführt, um sie in ihrer mütterlichen Präsenz zu bestärken. Der Fokus lag dabei auf der Ankündigung als Protest gegen Nils’ Umgang mit der Angst und auf der Aktivierung sozialer Unterstützung, insbesondere dem Bündnis mit der Schule und dem Leiter der Sport-AG. Auch bestärkte ich sie, Nils’ Rückzugsverhalten gegenüber nicht nachgiebig zu reagieren, sondern ihm folgende Botschaft in ihrem Verhalten zu vermitteln: »Ich weiß, es fällt dir schwer zur Schule zu gehen. Das kann ich nachempfinden. Ich weiß aber auch: Angst wird immer stärker, wenn man ihr immer wieder nachgibt. Darum habe ich mich entschieden, vor deiner Angst keine Angst mehr zu haben und werde es daher nicht mehr hinnehmen, dass sie dich lähmt. Ich unterstütze dich darin, dass du deine Angst angehst und versuchst, dein Leben wieder in deine eigenen Hände zu nehmen.«
In den nachstationären Gesprächen wurde deutlich, dass die Mutter immer wieder durch Nils’ Verhalten verunsichert wurde (auch nach der Entlassung »kollabierte« er zu Hause einige Male). Aber es war ihr möglich, im Zuge der Gespräche immer wieder dafür zu sorgen, dass Nils eine andere familiäre Rahmung im Umgang mit seinen Ängsten erfuhr. Auf diese Weise entwickelte er langsam einen weniger vermeidenden Umgang mit seiner Angst und fand sukzessive in sein altes Leben zurück. Hilfreich war es sicherlich, dass Nils viel Unterstützung
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von seinen Eltern und Brüdern erfuhr, wobei letztere ihn auf kumpelhafte Weise dazu brachten, wieder am Unterricht teilzunehmen. Erst nachstationär berichtete die Mutter von einem Burnout ihres Mannes wenige Jahre zuvor, der in der Familie aus Scham tabuisiert worden war, der aber dazu geführt hatte, dass ihr Mann mehrere Monate nicht arbeiten konnte. In ihrer Sorge, Nils könne den gleichen Weg gehen, und sensibilisiert im Zuge unserer Gespräche, entschied das Paar, eine längerfristige familientherapeutische Betreuung anzufragen. Der Vater erhöhte am Wochenende seine väterliche Präsenz, unternahm mit Nils gemeinsame Spaziergänge, später wurde auch das gemeinsame Skifahren wieder aufgenommen.
Die beschriebene Fallvignette zeigt exemplarisch, dass Fachpersonen in der Kinder- und Jugendmedizin häufiger mit der Situation konfrontiert werden, dass körperliche Symptome unklarer Genese in der Familie Angst, Hilflosigkeit und Eskalationen auslösen (Ollefs, 2013). Dass die Kinder und Jugendlichen mit somatoformen Störungen in der Familie nicht alleine stehen, zeigen auch Studien, die hohe Depressionswerte bei den beteiligten Eltern feststellen (Noeker, 2008). Hier erweist sich ein bio-psycho-soziales Krankheitsverständnis häufig als hilfreich (Engel, 1977; McDaniel, Doherty u. Hepworth, 2013). Im Christlichen Kinderhospital Osnabrück besteht seit Jahren eine enge interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Ärzten,
Gesundheits- und Pflegeassistenten und dem psychosozialen Fachbereich. Die systemische Sicht auf die Entwicklung von kindlichen oder jugendlichen Symptomen ist dabei hilfreich: Die Symptomatik wird von den einzelnen Familienmitgliedern gedanklich, emotional und in der Kommunikation begleitet. Krankheit kann zu einem signifikanten Bestandteil familiärer Interaktion und von Konflikten werden, die, wie bei Nils und seinen Eltern, von Forderungen des Kindes nach Schonung und Rückzug und von Sorgen, Ängsten und Seite begleitet werden.
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dem Verlust der elterlichen Stimme aus Mitleid auf der elterlichen
Am Ende
5 Abschließende Bemerkung: Die Grundannahme der Vielstimmigkeit im Kind Die mütterlichen Ängste und Sorge um die Fehlentwicklung ihrer Söhne als auch die damit verbundene Hilflosigkeit waren in den Fallbeispielen die Triebfeder für das Aufsuchen der Beratungsgespräche. Gleichzeitig zeigen die Fallvignetten, dass die mit Angst und Hilflosigkeit verbundenen Konflikte die gesamte Familie dominieren.
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Physiologisch gesehen ist Angst ein Grundgefühl, das unser Überleben sichert. Wenn Ängste allerdings überhandnehmen, neigen sie dazu, sich auf andere Bereiche auszubreiten, und es besteht die Gefahr, dass sie bis ins Erwachsenenalter andauern, wenn das Problem unbehandelt bleibt (Omer u. Lebowitz, 2012, S. 12). Daher führt die klare Entscheidung der Mütter und (meist nachfolgend) der Väter, eine präsentere Haltung einzunehmen und einseitig ein anderes Verhalten im Umgang mit den kindlichen Ängsten zu zeigen, zu einer Neuorganisation in der Familie: Angst steht nicht mehr im Zentrum. Sowohl Leon als auch Nils waren an einer Veränderung zunächst nicht interessiert und opponierten dagegen. Es entspricht unserer Erfahrung im systemischen Elterncoaching, dass die Kinder und Jugendlichen zunächst die alten Rahmenbedingungen einfordern: Leon war in seiner Familie der uneingeschränkte »Bestimmer«, der mithilfe seines Verhaltens Erfahrungen von Kontrolle und Selbstwirksamkeit gemacht und sich in seine Situation eingerichtet hatte. Bei Nils war die Entbindung von den schulischen Verpflichtungen, die Schonung und mütterliche Aufmerksamkeit mit einem hohen sekundären Krankheitsgewinn verbunden. Trotz der lautstarken Proteste gehen wir von einer Vielstimmigkeit des Kindes aus (Omer u. Lebowitz, 2012, S. 78): Wir erwarten, dass es immer eine Stimme – und mag sie noch so leise sein – im Kind geben wird, die sich eine Verbesserung wünscht (bei Nils die der körperlichen Mobilität, bei Leon die
nach einer besseren Beziehung zu den Eltern), die den Wunsch nach Wiedereingliederung in die Klasse und nach sozialer Anerkennung hat und die dabei die Unterstützung der Eltern begrüßt – sofern diese zeigen, dass sie stark genug sind. Wir gehen davon aus, dass Kinder und Jugendliche den Wunsch haben, ihre Fähigkeiten und Potenziale zu entwickeln, und positiv Einfluss auf ihr Leben nehmen möchten. Und sie wünschen sich eine stabile Beziehung zu ihren Eltern, die tierung und Sicherheit vermittelt. Der Ansatz vom gewaltlosen Wider-
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stand in Erziehung, Jugendhilfe und Therapie eröffnet sowohl Kin-
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auch in schwierigen Zeiten trägt und ihnen rückhaltgebende Orien-
dern als auch Eltern die Möglichkeit, sich ihren Ängsten zu stellen und an ihnen zu wachsen. Die leisen und konstruktiven Stimmen der Jugendlichen können in diesem Prozess hörbar und lauter werden. Eltern werden im Umgang mit den beschriebenen Symptomen herausgefordert, ihre »Ankerfunktion« (Omer u. Lebowitz, 2012, S. 26; Ollefs, 2017, S. 94) auszuüben, die von folgenden Stützpfeilern getragen wird: ȤȤ Selbstverwurzelung in der Elternrolle und die damit verbundene Pflicht, Präsenz und Fürsorge auszuüben; ȤȤ Schaffung einer Struktur für die gesamte Familie, inklusive klarer Grenzen, die ihnen als Eltern einen persönlichen und gesicherten Raum gewährleisten; ȤȤ die Verbindung zu einem sozialen Netzwerk; ȤȤ die Fähigkeit, eigene impulsive und destruktive Reaktionen zu steuern und zugleich beharrlich und geduldig ihre Werte für das Kind zu verfolgen. In meiner praktischen Arbeit in der Kinderheilkunde interessierte es mich in der Begegnung mit ehemaligen Patienten, heute jungen Erwachsenen, zu erfahren, was für sie hilfreich war, um die teilweise heftigen Eskalationen im Zuge der Pubertät mit den Eltern
überwinden zu können. Retrospektiv beschreiben ältere Jugendliche und junge Erwachsene das Gefühl als langfristig unterstützend, »die Eltern hinter sich zu wissen«, »dass die Eltern ihren Erziehungsvorstellungen treu geblieben sind und sich nicht haben beirren lassen«, selbst in den »stürmischen Zeiten«. Gleichzeitig seien die Eltern in der Beziehung geblieben und hätten die gemeinsamen, schönen Momente nicht vernachlässigt und nicht zu kurz kommen lassen. Dies scheint, ganz im Sinne der elterlichen Präsenz, eine passende
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Rahmung zu sein, um gut erwachsen werden zu können.
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land-Studie im Rahmen von KIGGS, Robert Koch Institut Berlin. Zugriff am 25.07.2017 unter https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/5_Publikationen/Gesundheit/Berichte/ Abschlussbericht_BellaPlus_2014–11–26.pdf Rotthaus, W. (2004). Vorwort. In H. Omer, A. von Schlippe, Autorität durch Beziehung. Die Praxis des gewaltlosen Widerstands in der Erziehung (S. 9–13). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Satir, V. (1990). Kommunikation, Selbstwert, Kongruenz: Konzepte und Perspektiven familientherapeutischer Praxis. Paderborn: Junfermann. Satir, V., Banmen, J., Gerber, J., Gomori, M. (1995). Das Satir-Modell. Familientherapie und ihre Erweiterung. Paderborn: Junfermann. Schlippe, A. von (2013). Die Konstruktion von Feindbildern. Eine paradoxe »Anleitung«. Konfliktdynamik, 2 (3), 212–221. Schlippe, A. von (im Druck). Ergänzende Stellungnahme zum Text »Der Plan von der Abschaffung der Ohnmacht«. Forum für Kinder- und Jugendarbeit, 2. Schlippe, A. von, Schweitzer, J. (2012). Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung I: Das Grundlagenwissen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Schneewind, K. A. (2010). Familienpsychologie (3., überarb. u. erw. Aufl.). Stuttgart: Kohlhammer. Sharp, G. (1973). The Politics of Nonviolent Action. Boston: Porter Sargent. Terrahe-Hecking, C., Theiling, S. (2013). Elterncoaching – und was ist mit den Geschwistern? In M. Grabbe, J. Borke, C. Tsirigotis (Hrsg.), Autorität, Autonomie und Bindung: die Ankerfunktion bei elterlicher und professioneller Präsenz (S. 200–209). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Trapmann, H., Rotthaus, W. (2013). Handbuch für Eltern und Erzieher. Bd. 1: Auffälliges Verhalten im Kindesalter (12. Aufl.). Dortmund: Modernes Lernen. Wahl, K., Alt, C., Hoops, S. (2006). Elterliche Erziehungskompetenzen: Auskünfte aus empirischen Studien. In K. Wahl, K. Hees (Hrsg.), Helfen »Super Nanny« und Co?: ratlose Eltern –Herausforderung für die Elternbildung (S. 31–43). Berlin u. a.: Cornelsen Scriptor. Weinblatt, U. (2005). Non-violent resistance as parent-therapy: A controlled study. Doctoral dissertation. Department of Psychology, Tel Aviv University. Weinblatt, U. (2008). Nonviolent Resistance: A treatment for parents of children with acute behavior problems. Journal of Marital and Family Therapy, 34 (1), 75–92.
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7 Die Autorin Dr. phil. Barbara Ollefs, Diplom-Psychologin, ist systemische Familientherapeutin und systemische Supervisorin (SG) sowie Fachpsychologin in der Deutschen Diabetes-Gesellschaft. Aufgrund ihrer Jugendmedizin des Christlichen Kinder-
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hospitals Osnabrück (seit 1998) verfügt
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Tätigkeit am Zentrum für Kinder- und
sie über langjährige Erfahrungen in der familienmedizinischen Betreuung von Kindern und Jugendlichen mit chronischen Krankheiten sowie mit somatoformen Störungen und in der Krisenintervention in der Perinatalmedizin. Sie ist Lehrbeauftragte am Institut für Psychologie der Universität Osnabrück und Dozentin am IF Weinheim – Institut für Systemische Ausbildung & Entwicklung, unter anderem für das Curriculum »Systemisches Elterncoaching und Professionelle Präsenz«. Zudem ist sie im Coaching und in der Weiterbildung tätig.