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German Pages [232] Year 2021
Rainer Gross
ALLEIN ODER EINSAM? Die Angst vor der Einsamkeit und die Fähigkeit zum Alleinsein
Böhlau Verlag Wien Köln
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2021 Böhlau Verlag, Zeltgasse 1/6a, A-1080 Wien, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Lektorat: Vera M. Schirl Umschlagsgestaltung: Michael Haderer, Wien Layout: Bettina Waringer, Wien Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-205-21396-3
Wir wissen wenig voneinander. Wir sind Dickhäuter, wir strecken die Hände nacheinander aus, aber es ist vergebliche Mühe, wir reiben nur das grobe Leder aneinander ab – wir sind sehr einsam. Georg Büchner
All the lonely people – where do they all come from? Paul McCartney
In der Folge gellte von jemand ein wiederholtes „Ich bin allein!“ Das erste Mal ein Schluchzen, das zweite Mal ein Triumphgeheul. Peter Handke
Inhalt
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
Im Jahr der Pandemie: Wie gefährlich ist Einsamkeit wirklich? (Mediale vs. sozialwissenschaft liche und medizinisch-psychiatrische Positionen) . . .
12
Soziologie und Statistik: Die Außenperspektive . . . . 12 Zwischen Innen und Außen: Einsamkeit als soziales Problem und/oder als psychische Krankheit? . . . . . . 13 Die Innenperspektive: Welche Faktoren fördern oder verhindern Einsamkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . 16
Anmerkungen zur Einsamkeit im Lockdown . . . . . .20 I. Außenperspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . .
27
Gibt es wirklich eine loneliness epidemic? . . . . . . . . . 27 Die japanische Extremvariante des sozialen Rückzugs: Hikikomori . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 Korea: Der Honjok-Lebensstil: Allein oder doch einsam? . . . . . . . . . . . . . . . . 36
Der Blick auf die Einsamkeit – zwischen Idealisierung und Entwertung . . . . . . . . . . . . .
39
Odo Marquard: Plädoyer für die Einsamkeitsfähigkeit . 43 Anthony Storr: Einsamkeit als Basis für Kreativität . . .47 Alice Koller: The Stations of Solitude . . . . . . . . . . .52 Sara Maitland/How to Be Alone . . . . . . . . . . . . 54
Unterschiedliche Arten von Einsamkeit? . . . . . . . .
60
Einsamkeit und Vertrauen: Angst vor Abhängigkeit als Einsamkeitsrisiko? . . . . . . . . . . .62 Vertrauen und Enttäuschung in der Psychotherapie . . .67
Exklusion – die soziale Komponente der Einsamkeit? .
71
Soziale Isolierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .74
II. Zwischen Außen und Innen: Einsamkeit und Identitätskonstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . .
83
Die Kulturgeschichte der Einsamkeit im Schnelldurchlauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
83
Einsamkeit und soziale Medien . . . . . . . . . . . . .
94
Entfremdung/Resonanz/Einsamkeit . . . . . . . . . .
99
Einsamkeit und Identitätskonstruktion: Konzepte der Stärke und Schwäche . . . . . . . . . .
117
Alleinsein im Kontext eines starken Selbstbildes . . . . 118 Gemeinsam statt einsam: Ist das immer die bessere Option? . . . . . . . . . . . 124 Globalisierung vs. Isolationismus: Die politische Dimension von Alleinsein . . . . . . . . 125
Mikroerlebnisse von Einsamkeit im Alltag . . . . . .
137
Im Schlaf ist jeder allein – in der Schlaflosigkeit fast jeder einsam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 Einsamkeitsgeneratoren . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 III. Innenansichten der Einsamkeit . . . . . . . . . . 149
Psychische Erkrankungen und Einsamkeit . . . . . .
149
Separation anxiety disorder: Trennungsangststörung im Erwachsenenalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154
Soziale Phobie: Einsamkeit als Folge von aktiver Kontaktvermeidung . . . . . . . . . . . . . . 156 Ein „Tsunami an Einsamkeit und Depressionen“ als Folge von Corona? . . . . . . . . . . . . . . . . . 165
Drei Ebenen unserer Persönlichkeit/Identität . . . . . 168 Jeder hält sich selbst für normal – die anderen aber … . 174 Soziale Genussfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . 175
Psychoanalytische Positionen zur Trennungsangst/ Angst vor dem Alleinsein . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Trennungsangst bei S. Freud . . . . . . . . . . . . . . 182 Melanie Klein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Blicke auf uns: Glanz im Mutterauge oder Angst vor Verurteilung? . . . . . . . . . . . . . . . . 188
Alleinsein in Gegenwart eines anderen: Donald W. Winnicott und die Fähigkeit zum Alleinsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Incommunicado: Der innerste Kern des Selbst muss allein bleiben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 Die begabten Kinder der „toten“ Mutter . . . . . . . . 196 André Green: Die tote Mutter . . . . . . . . . . . . . 198
Mit einem Buch bist du nie allein: Zwischen der Isolation des Lesers und seiner Kunst, mit Abwesenden zu reden . . . . . . . . . . . . . . . . . .
201
Die Suche nach dem Kompromiss zwischen Verschmelzung und Isolation . . . . . . . . . . . . . . 213
„Der ist ja nur einsam …“ – Einsamkeit und Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . 215 IV. Coda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219
Plädoyer für „hinlänglich gute“ Beziehungen zu sich selbst und zu anderen Menschen . . . . . . . . .
220 9
Plädoyer für Solidarität . . . . . . . . . . . . . . . . .
222
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . .
225
Internetquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Nachweis der Motti (S. 5) . . . . . . . . . . . . . . . 232
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Einleitung
Jeder Mensch wünscht sich glückliche Beziehungen, will aber wohl auch mit sich selbst allein sein können, ohne sich dabei verlassen oder einsam zu fühlen. Diese Fähigkeit zum befriedigenden Alleinsein ist ein zentrales Therapieziel aller psychotherapeutischen Schulen und wird in unserer Zeit der Reizüberflutung als wichtige Voraussetzung für ein gelingendes Leben hochgeschätzt. Sichtlich aber verfügen nicht alle über diese emotionale und soziale Kompetenz: Wir lesen immer mehr über die wachsende Zahl jener Menschen, die sich einsam fühlen oder Angst davor haben, speziell im Alter zu vereinsamen. Bei Eingabe der Begriffe loneliness und epidemic erzielt man viele Tausende Treffer im Internet – inklusive zahlreicher dramatischer Warnungen vor einer loneliness epidemic in den reichen westlichen Staaten der EU und in den USA. Leben wir wirklich schon in einer „Kultur der Einsamkeit“? Haben wir diese selbst durch die Leitwerte des Neoliberalismus unfreiwillig gefördert? Wodurch entscheidet sich, wer allein mit sich zufrieden sein kann und wer nicht? Bedeutet Einsamkeit nur einen Zustand des nicht selbstgewählten Alleinseins? Wovon also sprechen wir, wenn wir vom Alleinsein oder aber von der Einsamkeit sprechen?
11
Einleitung
Im Jahr der Pandemie: Wie gefährlich ist Einsamkeit wirklich? (Mediale vs. sozialwissenschaftliche und medizinisch-psychiatrische Positionen) Soziologie und Statistik: Die Außenperspektive
Schon wenige Minuten der Recherche im Internet liefern eine Vielzahl an statistischen Daten zum Beleg der zunehmenden Einsamkeitsepidemie und der Angst davor: In den meisten Studien wird Einsamkeit hier definiert als „keinen Menschen zu haben, an den man sich in Notsituationen um Hilfe wenden kann“. (Siehe Simmank 2020 – auch für die Zahlen dieses Kapitels.) Die folgenden Zahlen zum Thema sind großteils noch vor Beginn der Corona-Epidemie erhoben worden. Wie weit sie durch die Bedingungen der Pandemie noch erhöht wurden, kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt niemand verlässlich sagen. In den USA fühlt sich demnach jeder dritte ältere Amerikaner einsam, in der EU immerhin sechs Prozent aller Europäerinnen. Innerhalb der EU gibt es allerdings große Unterschiede mit 17 Prozent einsamer Menschen in Frankreich, 13 Prozent in Italien, nur vier Prozent hingegen in Österreich, in Ungarn gar nur zwei Prozent. Jeder dritte Haushalt im EU-Bereich ist ein SingleHaushalt, in Skandinavien sind sogar mehr als 50 Prozent der Haushalte von nur einer Person bewohnt. 40 Prozent dieser Singles wiederum sind EU-weit älter als 65 Jahre. Jeder Dritte von ihnen ist von Armut bedroht. In Österreich haben sich die Single-Haushalte bei den Männern zwischen 1971 und 2017 fast verdreifacht, fast jede fünfte Frau lebt bereits als Single. In vielen Studien werden die Anzahl der Single-Haushalte und die Zahl der einsamen Menschen de facto gleichgesetzt. Bei dem Versuch eines statistischen Fazits durch 12
Im Jahr der Pandemie
die wissenschaftlich seriöse Website Our World in Data der Universität Oxford allerdings ergab sich ein anderes Bild: Die Zahl jener Menschen, die sich einsam fühlen, ist in den letzten zehn Jahren in der EU und auch in den USA in etwa gleich geblieben. Gestiegen ist die Zahl der Einsamen oder Einsamkeitsgefährdeten nur bei den Jüngeren. Trotz Zunahme der Single-Haushalte betonen Soziologinnen, dass die Zahl der Allein-Lebenden nicht verantwortlich sei für die Zunahme an Einsamkeit: Vielmehr steige die Zahl derer, die unter einem subjektiv erlebten Mangel an sozialer Unterstützung und dadurch unter dem Gefühl der Einsamkeit leiden würden. (Siehe Simmank 2020) Kleine Zwischenbilanz also: Einsamkeit ist weniger an der Zahl meiner Mitbewohner abzulesen als am subjektiven Gefühl eines emotionalen Mangels. Kein Wunder, dass durch die COVID-bedingten Einschränkungen ein solcher Mangel bei vielen Menschen „überschwellig“ wurde, also bereits Probleme bzw. Symptome auslöst.
Zwischen Innen und Außen: Einsamkeit als soziales Problem und/oder als psychische Krankheit?
Schon seit Beginn der Moderne zählt die Einsamkeit für viele Soziologen und Sozialphilosophinnen zu den Insignien des modernen Individuums. Dafür gibt es unzählbare philosophische und literarische Beispiele von Nietzsches Zarathustra über Jean-Paul Sartres Ekel bis zu Karl Ove Knausgård. Diese oft fast kokette Selbstbeschreibung der Intellektuellen wurde spätestens in der Ära des Existentialismus populär und damals auch als Erklärung für diverse gesellschaftliche Fehlentwicklungen herangezogen. Heute aber wird Einsamkeit in den USA wie auch in Europa primär als sozialpolitisches Problem empfunden: 13
Einleitung
In Großbritannien gibt es bereits eine Staatssekretärin für (oder wohl eher: gegen) Einsamkeit – im Rahmen des Ministeriums für Sport, Familie, Zivilgesellschaft und Einsamkeit. In London und auch in Berlin gibt es bereits einen „Einsamkeitsnotruf“ („Silver Line“ bzw. „Silbernetz“). Für Wien kündigte die Caritas eine solche Notrufnummer an. Wie bei so vielen anderen sozialen Problemlagen wurde auch hier durch die Corona-Pandemie eine bereits bestehende Mangelsituation noch verschärft. Aber wie bei so vielen anderen Problemen droht auch hier die Individualisierung und die Pathologisierung einer sozialen Notlage, also deren Umdeutung zum medizinischen Problem: Die Konjunktur der Warnungen vor einer Einsamkeitsepidemie in den Medien ist auch dadurch bedingt, dass ein chronisches Gefühl von Einsamkeit das Risiko nicht nur für psychische, sondern auch für somatische Erkrankungen nachweislich erhöht – und damit die Gesamtkosten des Gesundheitssystems. Einsame Menschen kontaktieren und beanspruchen das Gesundheitssystem häufiger als andere. Davon kann man sich in jeder Ordination eines praktischen Arztes überzeugen. Eine Metastudie zum Thema untersuchte die Beziehung zwischen Einsamkeit und körperlicher Gesundheit mit dem Resultat, dass Einsamkeit als starker Mortalitätsprädiktor bezeichnet wird: Der negative Effekt der Einsamkeit auf das Sterblichkeitsrisiko sei sogar gleich hoch wie das Risiko eines Menschen, der täglich 10–15 Zigaretten raucht oder aber mehr als 10 kg Übergewicht mit sich herumschleppt und dabei noch körperlich inaktiv ist. Einsamkeit scheine insgesamt den Alterungsprozess zu beschleunigen. (Holt-Lunstad, zitiert nach Simmank, S. 46) Daher warnte der Neurowissenschaftler Manfred Spitzer 2018 vor der Einsamkeit als „unerkannter Krankheit“: 14
Im Jahr der Pandemie
Stellen Sie sich vor, es gebe eine Krankheit, die hierzulande immer häufiger auftritt und chronische Schmerzen verursacht, eine ansteckende, von der medizinischen Wissenschaft noch kaum erforschte Krankheit […] Sie wäre tückisch, denn viele Betroffene wüssten gar nicht, dass sie an ihr leiden. Diese Krankheit gibt es tatsächlich. Ihr Name: Einsamkeit. (Manfred Spitzer, S. 9)
Einsamkeit zählt noch nicht zu den psychiatrischen Diagnosen; es werden uns auch keine „Anti-Einsamkeitsdrogen“ angeboten, zumindest noch nicht. Es gibt allerdings einen übereinstimmenden und auf den ersten Blick verblüffenden Befund der Sozialpsychologie: Das subjektiv erlebte Gefühl der Einsamkeit korreliert NICHT mit der Anzahl der Sozialkontakte eines Menschen, auch nicht mit dem Ausmaß der für ihn verfügbaren realen sozialen Unterstützung. Sehr wohl allerdings korreliert das Einsamkeitsrisiko mit der Persönlichkeitsstruktur der Betroffenen und mit ihrer Erwartungshaltung an die von ihnen ersehnten Beziehungen: Sowohl ein niedriges Ausmaß an Vertrauen in andere Menschen als auch ein hoher „sozialer Perfektionismus“ (also ein Wunsch nach idealen zwischenmenschlichen Beziehungen) können das Einsamkeitsrisiko erhöhen. Es gibt sogar Hinweise auf einen biologisch-hereditären Faktor im Sinne eines Mangels an Rezeptoren für das „Glückshormon“ Oxytocin. Komplizierend kommt noch hinzu, dass viele Betroffene ihr Gefühl der Einsamkeit dann als besonders schmerzlich erleben, wenn sie von Familienmitgliedern oder Freunden umgeben sind. Insgesamt scheinen einsame Menschen andere zu fürchten und ihnen zu misstrauen, während sie sich gleichzeitig trotzdem nach Beziehungen sehnen. 15
Einleitung
Eine klare Unterscheidung zwischen den beiden Begriffen von Alleinsein und Einsamkeit ist daher wichtig: • Die Frage, ob ein Mensch allein ist, ist quantifizierbar und daher „objektiv“ durch die Anzahl seiner Sozialkontakte in einem vorgegebenen Zeitraum zu beantworten. Dieses Faktum des Alleinseins kann aber positiv oder negativ besetzt sein: Man kann sich allein durchaus zufrieden oder sogar glücklich fühlen, jedoch auch zutiefst unglücklich und einsam. • Das Gefühl der Einsamkeit hingegen ist eine Emotion und meist negativ besetzt. • In der Formulierung des Sozialphilosophen Svendsen bedeutet Alleinsein „mit sich selbst zusammen sein“, Einsamkeit hingegen bedeutet „allein sein mit sich selbst“. Die satirisch-zynische Definition von Einsamkeit stammt schon aus dem 20. Jahrhundert von Ambrose Bierce: „Alone. In bad company!“
Die Innenperspektive: Welche Faktoren fördern oder verhindern Einsamkeit?
Selten sind sich die Psychoanalyse, die Säuglingsbeobachtung, die Neurowissenschaften und die Bindungsforschung so einig wie in diesem Punkt: Die Basis für unsere capacity to be alone (Winnicott 1958) oder aber für eine fear of loneliness (Winnicott 1958) wird in den ersten Jahren unseres Lebens gelegt. Wie leicht und oft dann durch Erlebnisse von Trennung im späteren Leben und auch beim Erwachsenen diese frühen Erfahrungen von Einsamkeit oder Sicherheit, von Gehaltenwerden oder aber Verlassenwerden wieder reaktiviert werden, davon kann man sich in fast jeder Psychotherapie überzeugen. 16
Im Jahr der Pandemie
Es geht aber nicht nur um die realen Erfahrungen, mindestens ebenso wichtig sind deren innere Verarbeitung, die inneren Bilder von einer „guten“ Beziehung und die subjektiven Konzepte von Autonomie und Bindungsfähigkeit: Wenn im Idealfall ein Kleinkind das Glück hat, nach einer ausreichend langen und sicheren symbiotischen Phase, in der ihm die Mutter ganz zur Verfügung gestanden ist, dann von seinen Eltern auch noch zum Hinausgehen in die Welt, zur Entwicklung seiner Autonomie ermutigt zu werden – wenn das Baby also den Übergang von der sicheren, aber entwicklungsbegrenzenden Dyade in die Autonomie schafft –, dann (aus Sicht der Psychoanalyse: nur dann!) hat es die so wichtige Fähigkeit zum Alleinsein erworben. Diese Ressource wird ihm das gesamte künftige Leben erleichtern. Alleinsein ohne allzu große Angst ist auch eine wichtige Voraussetzung der Symbolisierungsfähigkeit: Sie ermöglicht es dem Menschen, auch für abwesende wichtige bzw. geliebte Menschen („Objekte“) innere Bilder in seiner Seele (sogenannte Objektrepräsentanzen) zu bilden und im Gedächtnis zu behalten. Das wiederum macht es leichter, die Abwesenheit des Objektes und damit das Alleinsein zu ertragen. Sehr viele Psychotherapiepatientinnen besitzen diese Fähigkeit leider nicht in ausreichendem Maß: Sie können nur schwer allein sein, ohne sich dabei einsam zu fühlen. Gleichzeitig aber scheuen sie oft intensive oder intime Beziehungen, weil sie Angst vor Abhängigkeit und Autonomieverlust haben. Im Idealfall können sie in der Therapie wie in einer Laborsituation eine sicherheitgebende Beziehung erleben, die sie nicht einengt. Psychoanalyse bedeutet ja nichts anderes, als allein zu sein in der Gegenwart eines anderen. Neben dieser individuellen entwicklungspsychologischen Komponente gibt es allerdings auch einen sozialen, 17
Einleitung
ja sozialpolitischen Aspekt des Problems: Der aktuelle neoliberale Zeitgeist propagiert ein Konzept der forcierten Autonomie bis hin zu einer emotionalen Autarkie: Jeder soll sein eigener Herr sein, ausschließlich rational für sich selbst entscheiden. Er ist dann allerdings auch ganz allein verantwortlich für sein Wohlergehen. Daher das individualistische Credo: Ich brauche niemanden, ich bin von niemandem abhängig. Ich verweigere jegliche Abhängigkeit. Falls ich sie spüre, muss ich sie als Schwäche empfinden und deshalb verleugnen. Menschen mit einem solchen Selbstbild kommen heute meist erst dann zum Therapeuten, wenn sie sich in Krisensituationen dafür schämen, diese forcierte Autonomie-Position nicht mehr durchhalten zu können. Auslöser kann eine Trennung sein, der Verlust eines Arbeitsplatzes oder aber die Angst vor dem Nachlassen der Kräfte im Alter. Solche Situationen werden als hochgradig beschämend erlebt. Ein so überdehntes Autonomie-Konzept ist eindeutig narzisstisch und schon deshalb einsamkeitsgenerierend: Sowohl Beziehungswünsche als auch die Möglichkeit solidarischen Fühlens und Handelns müssen dadurch vernachlässigt werden. Auch die Frage, wie weit das Gefühl der Einsamkeit fast unweigerlich auch die Entfremdung von sich selbst inkludiert, spielt hier eine Rolle. Aus der eigenen Pubertät und Adoleszenz kennen fast alle Menschen ein solches Gefühl: Die Vorstellung, anders als alle anderen zu sein, zwar einzigartig, dadurch aber auch unverstanden und allein. Es ist oft schwer zu entscheiden, wann der gesunde Wunsch nach Autonomie und zufriedenem Allein-SeinKönnen durch den aktuellen Zeitgeist allzu stark forciert wird. Gleichzeitig wird unsere Furcht vor Einsamkeit noch durch das Stigma des „Losers“ verstärkt, der dem Ideal18
Im Jahr der Pandemie
bild des glücklichen, souveränen Menschen nicht genügen kann. Hier stehen soziale Faktoren in der Genese dieser Ängste vor Einsamkeit den intrapsychischen Faktoren aus unserer Biografie gegenüber. Gerade die Interdependenz dieser äußeren und inneren Faktoren bei der schwierigen Balance zwischen Fähigkeit zum Alleinsein und Angst vor Einsamkeit sind Thema dieses Buches. Die theoretischen Ausführungen werden dabei immer wieder unterbrochen durch Fallbeispiele: Es sind Biografien von realen Personen aus der Geschichte, meist aber sind es imaginäre Figuren: Denn auch unsere positiven oder negativen Bilder von Einsamkeit werden beeinflusst von Gestalten aus der Fiktion, von Beziehungen in Büchern, Filmen und Liedern: Vom lonesome hero bis zum soulmate, von Platon bis zu den Beatles, ja bis zu Game of Thrones und Twilight – aus Kultur und Populärkultur kann man viel erfahren über die Sehnsucht der Menschen nach Autonomie und auch über ihre Angst vor der Einsamkeit. Aber Einsamkeit ist kein Schicksal, auch einsame Menschen müssen nicht einsam bleiben. Sie können sowohl wieder zu befriedigenden Beziehungen fähig werden als auch zum sinnstiftenden sozialen Handeln. Für beide Auswege aus der Einsamkeit hoffe ich, Anregungen bieten zu können. Auch wenn ich zutiefst davon überzeugt bin, dass meine Einsamkeit ausschließlich die Folge äußerer Faktoren ist, dass ich ausgegrenzt, zu wenig beachtet oder wertgeschätzt werde; auch dann kann ich nicht darauf vertrauen, dass mein soziales Umfeld oder das sozialpolitische Klima sich meinen Wünschen entsprechend ändert: Bei aller oft auch berechtigten Verbitterung wird es mir nicht erspart bleiben, zumindest die ersten Schritte hinaus aus der Einsamkeit selbst zu gehen. 19
Anmerkungen zur Einsamkeit im Lockdown
Anmerkungen zur Einsamkeit im Lockdown
Als Psychoanalytiker bin ich überzeugt davon, dass einer der psychischen Gründe für die tiefe Verunsicherung fast aller Menschen seit Beginn der Pandemie darin besteht, dass ein menschliches Grundbedürfnis unser Handeln plötzlich nicht mehr bestimmen darf. Jetzt wird das genaue Gegenteil von uns gefordert: Alle Menschen sind von Geburt an darauf programmiert, menschliche Nähe zu suchen. Wir assoziieren Nähe, Hautkontakt und Gehaltenwerden mit dem Gefühl der Sicherheit. Ohne eine solche Nähe zur Mutter könnte kein Säugling überleben.1 Die Sehnsucht nach solch körperlicher Nähe, die Gleichsetzung von Sicherheit und Zufriedenheit in intimen Beziehungen prägt auch das Gefühlsleben aller Erwachsenen. Berührung wirkt auf uns wie ein Signal der Sicherheit, lässt uns Stress und Angst besser ertragen. Jetzt aber gilt plötzlich die Umkehrung: Körperliche Nähe bedeutet Gefahr, Ansteckungsrisiko, schlimmstenfalls schwere Erkrankung und speziell für ältere Menschen oder Risikopatientinnen Lebensgefahr. Distanz und Berührungsverbote hingegen bedeuten weniger Risiko und mehr Sicherheit. Das führt im zweiten Jahr des Lebens unter pandemischen Bedingungen zu Reaktionen, die noch Anfang 2020 völlig absurd gewesen wären: So berichtete mir eine Patientin, dass sie bei einem älteren Film erschrocken sei, als sich zwei Menschen mit Handschlag begrüßten. Sie überlegte dann und konnte sich gar nicht mehr genau erinnern: Hatten wir uns früher wirklich in jeder Therapiestunde mit Handschlag begrüßt und ver1 Siehe das Kapitel „Psychoanalytische Positionen zur Trennungsangst/Angst vor dem Alleinsein“ zur problematischen Gleichsetzung von Mutter und primary caregiver. 20
Im Jahr der Pandemie
abschiedet? Ihr Körper erinnerte sich noch deutlich daran – wohl deshalb war es für sie besonders schmerzlich. Im Herbst 2020 zielte die Werbung bereits auf diese Sehnsucht nach Berührung bei gleichzeitigem Wissen um deren Unmöglichkeit: Eine Fastfood-Kette versprach, dass ihr Kaffee „dich von innen umarmt“. (McDonalds-Werbung, September 2020) • Auf biologischer Ebene gibt es einen deutlichen Zusammenhang zwischen Einsamkeit und dem Zustand des Immunsystems: Laut Sheldon Cohen (1991 und 1997) erhöht Einsamkeit das Risiko von Infektionen, und zwar – aktuell interessant – auch und speziell von viralen Infekten. Angeblich bleibt dieser zusätzliche Risikoeffekt für einsame Menschen auch dann aufrecht, wenn man alle anderen Variablen herausrechnet. (Vgl. Spitzer, S. 143) • Demnach müssten einsame Menschen auch ein erhöhtes Risiko bezüglich Corona-Infektion aufweisen. Gleichzeitig wiederum sind sie durch ihre selteneren Sozialkontakte weniger gefährdet. • Jenseits von Einsamkeit allerdings zeigen die Daten Ende 2020 sowohl in Deutschland als auch in Frankreich, den USA oder in England eine massive sozio-ökonomische Komponente des Corona-Risikos: So starben z. B. in Großbritannien (Stand Ende November 2020) laut Michael Marmot zwölf von 100.000 Akademikerinnen an Corona, hingegen 40 von 100.000 Hilfsarbeitern (deren Sterblichkeit sogar signifikant höher war als die der Krankenschwestern mit 26/100.000). Je ärmer der Wohnbezirk, je beengter die Wohnverhältnisse, desto höher das Risiko. (Vgl. Zeit vom 26.11.2020, www.zeit.de) • Interessanterweise konnte man auch erleben, dass jene Menschen, die schon vor der Corona-Pandemie an Einsamkeit litten, die aktuelle Extremsituation sogar als 21
Anmerkungen zur Einsamkeit im Lockdown
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weniger belastend empfanden als die Allgemeinbevölkerung: Ein Patient von mir, der seine Wohnung außer zum Gang an die Arbeitsstätte so gut wie nicht verlässt und seine Freizeit ausschließlich vor dem Computer oder im Bett verbringt, äußerte trocken und etwas hämisch: „Um mich brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen, für mich hat sich ja nichts verändert ...“ All jene, für die bis jetzt schon die einsamen Wochenenden quälend lang erschienen, sind vielleicht sogar besser für die aktuelle Extremsituation gerüstet als die nicht so einsame Mehrheit der Bevölkerung. Für Einsame, in Beziehung Lebende oder auch im familiären Kontext „Zusammengesperrte“ gilt: Fast alle von uns werden die Funktion der sozialen Medien und des Internets nach dieser Corona-Pandemie anders einschätzen: Selbst die schärfsten Kritikerinnen der selfieversessenen Jugend und die Kulturpessimisten, die schon vor Jahren die „digitale Demenz“ befürchteten (wie z. B. Manfred Spitzer): Sie alle werden wohl jetzt zugestehen müssen, dass eine vergleichbare Quarantänesituation vor dreißig Jahren ohne Internet noch deutlich belastender gewesen wäre. Das betrifft nicht nur die Jugend: Nie zuvor haben Menschen verschiedenster Altersgruppen so intensiv in/mit den neuen Medien kommuniziert. Laut der „Vermächtnisstudie“ in Deutschland mit immerhin 3000 Befragten zwischen 16 und 80 Jahren gibt es daher digitale Hoffnung für alle Einsamen: Zwischen 2015 und 2020 (Umfrage nach erstem FrühjahrsLockdown) ist die Zustimmung zur folgenden Aussage deutlich gestiegen: „Ich fühle mich nie alleine, weil ich über das Internet mit anderen Menschen in Kontakt stehe.“ Ob man die Zustimmung zu diesem Satz nun
Im Jahr der Pandemie
als erfreulich oder eher bedenklich einschätzt – sichtlich bedeutet digitale Kommunikation für viele alleinlebende Menschen zumindest „besser als gar nichts“. • Dies gilt wahrscheinlich auch für die Durchführung von Psychotherapien unter Covid-Bedingungen: Auch wenn zumindest nach meiner Erfahrung eine Telefonstunde für die Therapeutin wesentlich anstrengender ist und auch von der Qualität her mit dem direkten persönlichen Kontakt nicht vergleichbar, so ist sie für die meisten Patienten immer noch besser als gar keine Therapiestunde. • Viele Patientinnen sind auch dankbar dafür, dass der emotionale Kontakt zur Therapeutin in solchen Extremsituationen verlässlich aufrecht bleibt: Wohl auch deshalb, weil für viele psychisch Kranke Einsamkeit eines ihrer größten Probleme ist: Dieser Teufelskreis ist altbekannt und bestens dokumentiert – aber leider nur schwer zu verändern: Einsamkeit fördert die Entstehung psychischer Erkrankungen, psychische Krankheiten wiederum bewirken oft schmerzliche Einsamkeit. Denn viele psychisch Kranke leiden ja neben anderen Symptomen an Schwierigkeiten bei der Beziehungsaufnahme, bei ihrer „sozialen Feineinstellung“: Sie haben größere Schwierigkeiten bei persönlichen Kontakten und ziehen sich daher immer mehr zurück. Am Ende steht oft eine völlige Vereinsamung. • Ob aber psychisch krank oder gesund: Für sehr viele Mitmenschen fällt jetzt durch den Zwang zum Homeoffice (oder schlimmstenfalls durch die Arbeitslosigkeit) eine sehr verlässliche „Einsamkeitsprophylaxe“ weg, deren Wichtigkeit wir meist unterschätzen: Die tägliche Arbeit. So schildern fast alle Befragten, dass Homeoffice ja durchaus erträglich sei und auch Vorteile habe – aber: So gut wie alle vermissen die sozia23
Anmerkungen zur Einsamkeit im Lockdown
len Kontakte mit den Kollegen, das Tratschen in der Kaffeepause oder vielleicht noch bei der gemeinsamen Zigarette. Wenn diese sozialen Kontakte im Job aber die einzigen sozialen Kontakte waren, dann bewirken die Corona-Restriktionen oft ein akutes Abrutschen in eine schmerzliche Einsamkeit. • Gegenprobe: Die oben geschilderte schwierige Situation einsamer oder durch die Pandemie vereinsamter Menschen kann man relativieren durch den Hinweis auf andere, wohl ebenso große Schwierigkeiten für Paare und speziell Familien mit kleinen Kindern in der aktuellen Situation: Wahrscheinlich gab es noch nie einen so flächendeckenden „Stresstest“ für Paarbeziehungen und Familiensysteme: Dabei ist wie bei so vielen sonstigen medizinisch-virologischen und sozialen Folgen noch kaum abschätzbar, wie diese Versuchsanordnung in verschiedenen Ländern, für verschiedene ökonomische Klassen und auch Kulturen ausgehen wird – wahrscheinlich aber wird auch hier der berüchtigte „Matthäus-Effekt“ gelten: Wer hat, dem wird noch gegeben, wer aber nicht hat, dem wird sein Weniges genommen. Abstrakter ausgedrückt: Da die Stressregulation durch gegenseitige Berührung jetzt nur mehr im privaten Haushalt möglich ist, werden sowohl angenehme als auch unangenehme Effekte dieser gegenseitigen Hautkontakte stärker spürbar. Gute Beziehungen werden die Krise überstehen, man wird sich vielleicht sogar noch näher kommen oder das gemeinsame Bewältigen einer Extremsituation als positiv erleben können. Brüchige Beziehungen hingegen werden in vielen Fällen die Krise nicht überleben. Leider werden die Einschätzungen der Folgen mit Fortdauer der Pandemie immer pessimistischer: In den Wo24
Im Jahr der Pandemie
chen des ersten Lockdowns überwog die Hoffnung auf ein Erstarken der Solidarität, ja sogar auf ein generelles Umdenken, eine Abkehr vom Narzissmus. Wir würden gemeinsam gestärkt aus dieser Prüfung hervorgehen: So der Titel des Zeit-Magazin am 19.03.2020 (www.zeit.de), also nach einer Woche des Lockdowns: „Nie war es so wichtig, gemeinsam allein zu sein. Um auf alle aufzupassen.“ Ein paar Monate später war von Solidarität nur mehr wenig zu hören. Immer häufiger wurden die beschwörenden Aufrufe, doch die Schwächsten nicht allein zu lassen: So auch in einem Text des EU-Kommissars für Wirtschaft Paolo Gentiloni gemeinsam mit Dubravka Šuica: Der Kommissar sowie die ehemalige EU-Parlamentarierin betonen, dass „Einsamkeit eines der großen, drängenden Probleme ist, mit denen unsere Gesellschaft konfrontiert ist. Sie ist kein Phänomen, das erst durch die Corona-Pandemie entstanden ist. Doch ganz klar ist sie dadurch größer geworden und stärker ins Bewusstsein gerückt.“ Deshalb rufen sie auf, durch die Erfahrungen mit der Pandemie zu besserer Gesundheit und mehr Solidarität vor allem zwischen den Generationen zu finden. Das aber müsse auch die Maßnahmen zur wirtschaftlichen Erholung und unser Engagement gegen die Ungleichheit betreffen, denn besonders einsam würden sich Arme und Arbeitslose fühlen. Ein bisschen klingt das schon wie das Pfeifen der Politiker und Ökonomen im dunklen Wald: So etwas wie Vertrauen, sei es in die Weisheit der Mächtigen oder in unsere eigene Kompetenz scheint kaum mehr möglich. Dadurch aber fühlen wir uns letztlich alleingelassen, allein mit unserer Angst: Wir wissen nicht, wie sich das Virus weiter verhalten wird, wie sich die Menschen verhalten werden und wie lange wir das Alleinsein in unseren Wohnungen noch aushalten müssen – sei es nun mit oder ohne Partnerin und Familie. 25
I. Außenperspektiven
Gibt es wirklich eine loneliness epidemic?
Tausende von Zeitungsartikeln haben in den letzten Jahren vor der „Einsamkeitsepidemie“ in Europa und den USA gewarnt. Die Evidenz für diese alarmistische Gesellschaftsdiagnose aber ist verblüffend schmal, ja kaum existent: Es gibt keine Daten, die die Hypothese eines massiven Anstiegs der Einsamkeit unterstützen – ganz zu schweigen von einer Epidemie. Wahr hingegen ist, dass immer mehr Menschen speziell in den wohlhabenden Ländern allein leben. Die Tatsache ihres Alleinlebens aber bedeutet weder, dass sie sich alle einsam fühlen noch, dass sie keine soziale Unterstützung hätten. Die Website Our World in Data fasst die Datenlage zusammen: Schlagzeilen über eine Einsamkeitsepidemie seien unwahr und nicht hilfreich. (https://ourworld indata.org/loneliness-epidemic) Wahr hingegen ist das verblüffende Ergebnis einer Umfrage in England 2017: Es ging um subjektive Selbsteinschätzung bzw. um Antworten auf die Frage: „Wie oft fühlen Sie sich einsam?“ Überraschenderweise berichten nicht so sehr vereinsamte Oldies darüber, dass sie sich „often/always“ oder zumindest „some of the time“ einsam fühlen: Die Altersgruppe mit den höchsten Einsamkeitsraten sind eindeutig junge Menschen zwischen 16 und 24 Jahren: Zehn Prozent von ihnen fühlen sich „often or always“ einsam – im Vergleich zu nur drei Prozent der 27
I. Außenperspektiven
Pensionisten über 65. Laut OWiD bestätigen vergleichbare Umfragen aus anderen Ländern wie Neuseeland, Japan und den USA dieses Ergebnis. (https://ourworldindata. org/loneliness-epidemic) Aber in diesen Studien geht es um Individuen. Wenn die Frage im Generationenvergleich gestellt wird – also ob Menschen heute einsamer sind als ihre Altersgenossen in der Vergangenheit – dann könnte es anders sein: In einer Studie aus Psychology and Aging von Louise Hawkley ergab sich, dass die Selbstzuschreibungen von Einsamkeit im Alter von über fünfzig Jahren abnahmen und erst nach dem Alter von fünfundsiebzig Jahren wieder zunahmen. Diese Zunahme hing allerdings eindeutig zusammen mit gesundheitlichen Problemen und dem Verlust von Ehepartnerinnen. Interpretation der Autorin: Es gibt zwei gegenläufige Faktoren, nämlich eine direkte Beziehung zwischen Alter und Einsamkeit – hier sinkt Einsamkeit mit dem Alter, weil unsere sozialen Erwartungen sich an die Realität anpassen und wir selektiver werden bezüglich der Kontakte, die uns emotional stützen. Ältere Menschen haben also weniger, aber dafür engere Freunde. Aber es gibt eine indirekte Kraft in die Gegenrichtung und deshalb steigt Einsamkeit mit dem Alter dann doch wieder an, aber nur in Kombination mit gesundheitlichen Problemen und Verlust von Freunden und Verwandten. Im mittleren Lebensalter dominiert der erste Effekt, erst in wirklich höherem Alter beginnen die negativen indirekten Effekte. In derselben Studie fand Hawkley, dass es bezüglich des „Kohorten-Trends“ in den USA kaum eine Differenz in der selbstberichteten Einsamkeit von Menschen verschiedener Generation gab: Die zwischen 1920 und 1947 Geborenen berichteten über dieselben Verläufe von Einsamkeit während ihres Lebenszyklus wie die zwischen 1948 und 1965 28
Gibt es wirklich eine loneliness epidemic?
Geborenen. Die älteren Menschen scheinen sich im Durchschnitt heute nicht einsamer zu fühlen als vor zehn Jahren. Auch die Hypothese, dass Menschen in den sogenannten „individualistischen“ Gesellschaften ihre höhere individuelle Freiheit mit häufigerer Einsamkeit bezahlen, ist durch Daten nicht belegbar: So zeigt sich bei Studien z. B. in Dänemark und der Schweiz (bei jeweils sehr hohen Anteilen von Single-Haushalten) kein höheres Ausmaß von subjektiv empfundener Einsamkeit. Eine Gegenfrage gibt Auskunft darüber, wie viele Menschen den Eindruck haben, dass sie auf Freundinnen oder Verwandte als soziale Unterstützung zählen können: In Island sind dies unglaubliche 98 %, in Norwegen 94 %, in den USA 90 %, in Griechenland 82 %. (https://ourworld indata.org/loneliness-epidemic) Fazit: Bei sehr vielen Zahlen gibt es praktisch keine Belege für eine epidemische Verbreitung von Einsamkeit und kaum einen Zusammenhang mit individualistischer Ausrichtung der Gesellschaft oder der Anzahl von SingleHaushalten. Als Folge des großen medialen Interesses an der Einsamkeit wurde in England 2018 von der BBC gemeinsam mit der Wellcome Collection und Forschern dreier Universitäten unter dem Titel The Loneliness Experiment die angeblich weltgrößte Befragung zur Einsamkeit durchgeführt: Es war eine Online-Umfrage mit über 55.000 Teilnehmerinnen. (The Anatomy of Loneliness, https:www.bbc. co.uk/programmes/m0000mj9) Also ein riesiges Sample, allerdings wieder mit eingeschränkter Aussagekraft: Da es eine Online-Umfrage war, dürfte der Anteil jüngerer Teilnehmer überdurchschnittlich groß gewesen sein. Außerdem war es ein self-selecting sample, also dürften viele Menschen teilgenommen haben, die sich ohnehin einsam fühlten und daher für das Thema sensibilisiert waren. 29
I. Außenperspektiven
Trotzdem sind die Ergebnisse bestürzend: Ca. ein Drittel der 55.000 Teilnehmerinnen fühlte sich oft oder sehr oft „lonely“ (wobei durch die Fragestellung sehr wohl zwischen allein und einsam bzw. alone/lonely unterschieden wurde: 80 % der Befragten berichteten, dass sie manchmal durchaus gern allein seien). Die – wahrscheinlich überrepräsentierten – Jungen berichteten über ein verblüffend hohes Einsamkeitserleben: 40 % der 16- bis 24-Jährigen in dieser Umfrage fühlten sich oft bzw. sehr oft einsam, hingegen nur 27 % der über 75-Jährigen. Folgende Ergebnisse wurden in der Studie hervorgehoben: • In höherem Ausmaß einsam fühlen sich behinderte bzw. diskriminierte/sich diskriminiert fühlende Mitbürger. • Sehr viele Menschen schämen sich ob ihrer Einsamkeit. • Wenn sich Teilnehmerinnen als einsam beschrieben, dann schätzten sie sich selbst auch als überdurchschnittlich mitfühlend ein. • Die sich einsam Fühlenden berichten über weniger Vertrauen in ihre Mitmenschen. • Einsame haben zwar mehr Online-Freunde, verbringen aber nicht mehr Zeit im Internet als Nicht-Einsame. (Aber: Bei den Einsamen überlappen sich OnlineFreundinnen und Freunde im realen Leben weniger als bei Nicht-Einsamen.) • Das Gefühl der Einsamkeit korreliert mit einer schlechteren körperlichen und psychischen Gesundheit. • Insgesamt bestätigten diese Zahlen der BBC-Umfrage die Ergebnisse jener ebenfalls groß angelegten Studie, die letztlich zum Auslöser für die Errichtung des Staatssekretariats für Einsamkeit in Großbritannien wurde: Die Community Life Survey wurde 2016/2017 durchgeführt und erbrachte nur relativ bescheidene 5 % der 30
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Erwachsenen in England, die sich „oft“ oder „immer“ einsam fühlten. Auch in dieser Umfrage war der Anteil der jüngeren, vor allem aber der behinderten Bevölkerungsgruppen überdurchschnittlich hoch. (https://www.gov.uk/government/collections/community-life-survey) • Betont wurde das erhöhte Einsamkeitsrisiko bei Arbeitslosen, die sich mit 12 % dreimal so oft einsam fühlten wie vergleichbare Personen im Arbeitsprozess. Und immerhin fühlten sich nur 3 % der Menschen in einer aufrechten Partnerschaft oft oder immer einsam, jedoch 10 % der Alleinlebenden. • Die Bilder der vereinsamten Alten auf der Parkbank oder beim resignierten Blick aus dem Fenster, die wir aus dem Fernsehen kennen, haben also sichtlich wenig mit der Realität zu tun. Sie passen aber zusammen mit unseren inneren Bildern, die Einsamkeit und Alter „zusammenschalten“. Für die jungen Einsamen gibt es noch weniger Bilder in den Datenbanken der Medien und auch in unserer kollektiven Vorstellung von Einsamkeit. Vielleicht gibt es noch einen zusätzlichen Faktor, der die so deutlich höheren Einsamkeitseinschätzungen der Jungen im Vergleich zur Pensionistinnen-Generation bewirkt: Könnten auch die Ansprüche der Jüngeren an Beziehungen im Sinne eines sozialen Perfektionismus gestiegen sein? Empfinden die Jungen deshalb ihren Zustand auch beim Leben in aufrechter Partnerschaft und bei bestehenden Freundschaften öfter als wenig zufriedenstellend, fühlen sich auch dabei eher einsam als die heute Älteren dies vor dreißig Jahren bei identer Situation empfunden hätten? Wäre demnach die loneliness epidemic auch ein Symptom der zunehmenden Dominanz des „subjektiven Faktors“ nach der Devise: 31
I. Außenperspektiven
Wenn ich mich einsam fühle, dann bin ich das auch – egal ob eine liebevolle Frau, meine Kinder und eine Zahl von Freunden um mich besorgt sind oder nicht. Denn alle oben angeführten Prozentsätze der Einsamkeit sind Ergebnisse von „Self-Assessment“: Also Selbsteinschätzungen, Selbstzuschreibungen der Betroffenen. Diese müssen subjektiv bleiben – Einsamkeit bleibt damit letztlich trotz aller Umfrageanstrengungen schwer messbar.
Die japanische Extremvariante des sozialen Rückzugs: Hikikomori
Niemand weiß genau, wie viele es wirklich sind: Es gibt nur unterschiedliche Schätzungen, höchstwahrscheinlich aber gibt es in Japan mehr als eine Million Menschen, die daheim in völligem sozialem Rückzug leben. Sie verlassen ihr Zimmer kaum oder gar nicht und werden von ihrer Familie versorgt: Diese meist jungen Männer sind der Welt wahrlich völlig abhandengekommen. Das japanische Wort Hikikomori bedeutet „nach innen gewandt, im sozialen Rückzug“. In den letzten Jahren mehren sich die Hinweise, dass es sich nicht um ein ausschließlich japanisches Phänomen handelt. Allerdings fand man in anderen Ländern weniger vergleichbar isolierte junge Männer und diese waren fast alle psychisch schwer krank. Gerade das hingegen ist für die Betroffenen in Japan nicht so klar: Verschiedene Definition von Hikikomori stimmen in einem Punkt überein: Der Betroffene muss länger als sechs Monate in totaler sozialer Isolation gelebt haben. Das Phänomen wurde erstmals 1998 vom japanischen Psychiater Tamaki Saitō beschrieben. Schon damals schätzte er die Zahl der Betroffenen auf mehr als eine Million. (In: Wikipedia/Hikikomori) 32
Gibt es wirklich eine loneliness epidemic?
2010 sprachen offizielle Zahlen des japanischen Gesundheitsministeriums von über 700.000 Hikikomori, von denen viele länger als zwanzig Jahre völlig isoliert gelebt hatten. Diese Gruppe wird heute als first generation hikikomori bezeichnet. Niemand weiß, was mit ihnen geschehen wird, wenn ihre Eltern und Pfleger sterben. Diese quälende Frage wird in Japan als 2030 problem bezeichnet. 2015 zählte man 541.000 Isolierte im Alter zwischen 15 und 39 Jahren, 2019 fand eine Untersuchung mehr als 613.000 Hikikomori im Alter zwischen 40 und 65 Jahren. Alle Wissenschaftlerinnen betonen jedoch, dass die Dunkelziffer wegen der allzu großen Scham der betroffenen Familien wohl sehr hoch sei. Denn in den allermeisten Fällen steht am Anfang eines solchen Einsiedler-Schicksals ein Misserfolg, eine Kränkung und Beschämung in Schule oder Universität: Das japanische Ausbildungssystem ist in den letzten fünfzig Jahren so brutal kompetitiv geworden, dass es für die „besseren“ Kindergärten bereits Aufnahmsprüfungen gibt. Dieses Hochleistungssystem wird durchgezogen über Volksschulen, weiterführende Schulen und Gymnasien bis an die Universitäten. Im Gegensatz zu früher allerdings bietet auch das jahrzehntelange Durchhalten dieses extremen Leistungsdrucks keine Garantie mehr für einen guten Job nach Abschluss an einer Elite-Universität. Dies sei der maßgebliche Grund dafür, dass immer mehr junge Japaner aus diesem Konkurrenzdruck aussteigen und im Extremfall lieber als Hikikomori leben, als die beschämende Arbeitslosigkeit in der Öffentlichkeit zu ertragen. Die Existenz der Hikikomori ist ein Mittelschichtphänomen: Nur solche Familien können es sich leisten, ein nicht arbeitendes Familienmitglied schlimmstenfalls jahrzehntelang zu versorgen. Die betroffenen Familien bemü33
I. Außenperspektiven
hen sich, das Versagen des Sohnes möglichst geheim zu halten, um einen Gesichtsverlust zu vermeiden. Dies ist die Wurzel des (unbewussten?) Zusammenspiels von Einsiedler-Sohn und versorgenden Eltern, die seine Isolation erst ermöglichen und dabei über die Jahre selbst immer mehr vereinsamen. Japanische Autorinnen betonen, dass mit Sicherheit nicht alle Hikikomori die Kriterien einer psychischen Erkrankung wie Depression, Psychose oder Sozialphobie erfüllen. Das Phänomen scheint weder rein medizinisch noch psychologisch/psychopathologisch und auch nicht nur sozial fassbar zu sein: Sichtlich ist es sowohl bezüglich Ätiologie als auch Verlauf ein Beispiel für die Notwendigkeit eines biopsycho-sozialen Blicks auf ein hochauffälliges Modell des Sozialverhaltens (bzw. des Vermeidens von Sozialverhalten). Takeo Doi beschreibt als einen wichtigen ätiologischen Faktor das japanische Konzept der Mutterliebe: Das Wort amae bezeichnet die fast symbiotische Liebe zwischen Mutter und Kind, die dann mit Eintritt in den Kindergarten plötzlich abgelöst wird von der Anforderung, soziale Regeln streng einzuhalten. Im ausführlichen Wikipedia-Eintrag wird Hikikomori auch als Rückzugsverhalten in den Jahren der Adoleszenz beschrieben, wenn junge Männer die Verantwortungen und Rollenerwartungen des Erwachsenenalters nicht erfüllen können, insbesondere die heikle Balance zwischen honne (was in etwa unserem „wahren Selbst“ entspricht) und tatemae (dem Funktionieren in einer Berufsrolle). Gerade die Kombination eines modernen Wirtschaftssystems mit einer immer noch sehr hierarchischen Struktur von Familie und Gesellschaft führt in Japan zu extremem Druck auf die Heranwachsenden. (https://de.wikipedia.org/wiki/Hikikomori) Auch das Leben der Hikikomori wurde in den letzten Jahrzehnten durch die Entwicklung des Internet und der 34
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sozialen Medien massiv verändert: Durch die Möglichkeit, durch die Versuchung, die gesamte zwischenmenschliche Kommunikation über PC oder Smartphone abzuwickeln, scheint auch der Unterschied zwischen Hikikomori und „normalen“ Jugendlichen geringer geworden zu sein, wenn auch diese jede Stunde ihrer Freizeit vor dem PC verbringen. Natürlich gab es Hikikomori schon lange vor der Internet-Ära, aber aktuell beschreiben sich viele von ihnen selbst als internetabhängig. Umgekehrt hat sich aber sicher das Kommunikationsverhalten der Gesamtbevölkerung dem Hikikomori angenähert. Speziell Wissenschaftler mit japanischen Wurzeln, die schon lange im Ausland leben und forschen und zwischen den Kulturen leben und auch vermitteln wollen, haben sich für eine Entpathologisierung der Hikikomori ausgesprochen: Im Februar 2020 erschien in World Psychiatry ein Artikel von Alan Teo (Teo 2020, S. 116 und 117), der betonte, dass es sich hier um ein weltweites Problem und keine japanische Spezialität handle. Man möge bei der Definition einer allfälligen Krankheit doch genauer das Ausmaß des Leidensdruckes beachten: Wenn bei den Betroffenen ein Mangel an sozialen Kontakten keinen Leidensdruck verursache, was bedeute das? Wenn sie sich in ihrer Isolation durchaus wohlzufühlen scheinen und jegliche Behandlung massiv ablehnen – darf man dann dieses Problem der Psychiatrie zuschieben? So kommt Teo zum Schluss: Dies ist ein kulturelles Problem im Haus der Medizin und wir schauen nicht hin – aber es geht uns etwas an und es geht nicht nur um Junge und nicht nur um Japan: Es gibt auch Achtzigjährige in den USA mit vergleichbaren Problemen. Eine Schriftstellerin mit japanischer Mutter und österreichischem Vater, Milena Michiko Flašar, schrieb einen poetischen und melancholischen Roman über den Ver35
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such eines Hikikomori mit einem „normalen“ in der Öffentlichkeit lebenden melancholischen Mann Kontakt aufzunehmen: Ich nannte ihn Krawatte. Wahrscheinlich kann kein Beobachter von außen das Ausmaß des Leidensdruckes der Hikikomori und ihrer Angehörigen ermessen, der zu einem solchen extremen Rückzug, zu einer Selbstverurteilung zur Einzelhaft als Folge einer extremen Beschämung führt.
Korea: Der Honjok-Lebensstil: Allein oder doch einsam?
Während in Nordkorea die kommunistische Diktatur eine Massenkultur erzwingt und jeglichen Individualismus unter Strafe stellt, gibt es im kapitalistischen Südkorea einen gegensätzlichen Trend: Das koreanische Wort Honjok wurde 2017 bekannt als Hashtag einer von Jugendlichen propagierten „Gegenkultur“: Es ist eine Neuschöpfung aus Honja, was allein bedeutet und Jok, dem Suffix für Stamm: Also so etwas wie ein „Ein-Personen-Stamm“. Der Begriff steht für Personen, die Alltagsaktivitäten freiwillig allein durchführen. Solche Verhaltensweisen stehen im Zusammenhang mit dem deutlichen Anstieg der SingleHaushalte in Korea von 9 % 1990 auf 30 % im Jahr 2020. Die traditionelle Familienstruktur zerbricht in Südkorea spätestens seit dem Millennium aufgrund der Alterung der Bevölkerung bei gleichzeitig sinkender Geburtenrate. Dies führt dazu, dass im Gegensatz zu früheren Generationen auch in der koreanischen Kultur mit ihrer Hochschätzung der Familie heute das Leben als Single nicht mehr als prinzipiell defizitäre Lebensform betrachtet wird. Außerdem geben immer mehr junge Menschen freiwillig ihre Liebesbeziehungen und Freundschaften auf. Wohl nicht nur freiwillig: Wegen des übergroßen Konkurrenz36
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drucks in der Arbeit haben sie keinerlei Kraft und Zeit mehr übrig für ein Privatleben. Immer mehr von ihnen geben an, „unnötige“ Beziehungen nicht mehr fortführen zu wollen und Gruppenaktivitäten sogar zu meiden. Sie würden sich allein wohler fühlen. Es gibt verschiedene Aspekte des Honjok-Lebensstils: So steht hon-bap für eine Mahlzeit, die man allein einnehmen und auch genießen kann, weil einem die Situation allein im Restaurant nicht peinlich ist. Bis zu 70 % aller Südkoreanerinnen praktizieren das bzw. können es sich zumindest gut vorstellen. Hon-nol bezeichnet die Durchführung von Freizeitaktivitäten allein und ohne Partner/Freundinnen: So gibt es z. B. Karaoke-Räumlichkeiten, in denen eine einzige Person unbeachtet von anderen singen kann, es gibt auch Kinos, die sich auf Single-Zuschauer spezialisieren. Wenig überraschend: Hon-sul, das Trinken von Alkoholika allein – es wird am liebsten daheim durchgeführt und das wohl nicht nur in Südkorea. Geändert hat sich primär die Wahrnehmung all dieser Solo-Aktivitäten: Laut einer Umfrage („Korean social trends“ von 2015) genießen es 57 % der Koreaner über 15 Jahre, ihre Freizeit allein zu verbringen. Demgegenüber würden nur 8,3 % der Befragten ihre Freizeit mit Freundinnen verbringen. Trotz dieser verblüffend geringen Zahl war durch die Fragestellung hier klargestellt, dass hon-nol für eine freiwillig allein verbrachte Freizeit steht: Es bedeutet nicht, dass man keine Freunde dafür hätte, sondern dass man diese Aktivitäten eben lieber allein praktiziert. Konsequenterweise bestätigten 75 % der Zwanzigjährigen, dass es ihnen nichts ausmache, allein zu arbeiten. Das dürfte wohl mit dem massiven Arbeitsdruck in der südkoreanischen Hochleistungsgesellschaft zusammenhängen und mit der Schwierigkeit, auch nach einem guten 37
I. Außenperspektiven
Abschluss im sehr kompetitiven Schulsystem überhaupt einen Job zu bekommen. Aber auch die kargen Jobs sind in Südkorea oft extrem belastend: Erst 2018 wurde die maximale Wochenarbeitszeit reduziert – und zwar auf 52 Stunden. Vorher waren bis zu 68 Wochenarbeitsstunden erlaubt. Es gibt sogar ein eigenes Wort für Tod durch Arbeitsüberlastung: gwarosa. Laut einem Bericht der New York Times seien in den ersten Monaten des Corona-Lockdowns in Südkorea viele PaketKuriere an Überarbeitung gestorben. Nur allzu begreiflich also, dass junge Koreaner weder Zeit noch Energie für Privatleben oder Beziehungen erübrigen wollen oder können. Der Trend zum konsequenten Single-Leben ist aber auch aus einem anderen ökonomischen Blickwinkel interessant: Die so rasch wachsende Zahl der Single-Haushalte bedeutet für viele Sparten der Wirtschaft große Wachstumsraten und Gewinnspannen: Die Solo-Economy zielt auf die große Kaufkraft der Singles durch deren überdurchschnittliches Einkommen. Das bewusst neutrale Keyword für die Bedürfnisse dieser Einpersonenhaushalte lautet: S-O-L-O. Das bedeutet 1. Self-orientated consumption for self 2. Online consumption 3. Low-priced consumption 4. Convenience orientated consumption In der englischsprachigen Übersetzung des ausführlichen koreanischen Wikipedia-Eintrags zum Thema betonen die koreanischen Autorinnen, dass es sich bei Honjok um eindeutig frei gewählte Solo-Aktivitäten handle: Es gehe also hier immer um Alleinsein und nicht um Einsamkeit. Natürlich gibt es auch schon einen Ratgeber für diesen Lebensstil: Honjok, die Kunst allein zu leben. Laut Klap38
Der Blick auf die Einsamkeit – zwischen Idealisierung und Entwertung
pentext ein Manifest für das selbstgewählte Alleinsein, geschrieben von „Honjokkern“, die statt gesellschaftlichen Erwartungen zu folgen ihre Individualität feiern. Es gehe dabei um Chancen zur Selbstfindung, Aufbau von Selbstwertgefühl etc. – insgesamt also eine inspirierende Lebenshaltung, die zu mehr Glück und Erfüllung im Leben führt. Vom gesellschaftlichen Druck im turbo-kapitalistischen Tigerstaat Südkorea, von Honjok als Notausgang aus dem Zwang zur Erfüllung zahlloser Normen im Privatleben liest man im Buch wenig. Beschrieben wird allerdings das zumindest für mich unheimliche Phänomen der „Hochzeit allein“: Diese Inszenierung wird meist von Frauen gebucht. Es gibt ein All-inclusive-Service mit Hochzeitskleid, Fotograf, Limousine, Trauungszeremonie und Festbankett – alles für eine Person. Obwohl koreanische Frauen angeblich solche Zeremonien und den Lebensstil des Honjok insgesamt als feministischen Akt verstehen, mit dem sie dem Druck der traditionell-patriarchalischen Gesellschaft entkommen könnten, kann zumindest ich mir bei der „Hochzeit allein“ nur schwer vorstellen, dass es sich um eine ausschließlich freie Entscheidung handelt.
Der Blick auf die Einsamkeit – zwischen Idealisierung und Entwertung
Fast alle Theologen, Philosophinnen und Schriftsteller der Neuzeit warnten vor dem bedrohlichen und schrecklichen Zustand der Einsamkeit. So z. B. eine drastische Formulierung des schottischen Aufklärers David Hume: „Eine vollständige Einsamkeit ist wahrscheinlich die schlimmste Strafe, die wir erleiden können.“ (In: Svendsen, S. 26) Über Jahrhunderte blieb dies eindeutig die Mehrheitsposi39
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tion. Aber es gab als Gegenposition zu diesem Misstrauen gegenüber den Einzelgängern auch autobiografisch getönte Texte von Künstlerinnen oder Intellektuellen mit Betonung der positiven Funktionen von sozialem Rückzug und kreativer Einsamkeit: Diese Berichte sind meist eine Mischung aus Biografie und Essay, sind Beschreibungen der individuellen Auswege dieser Autorinnen aus seelischem Leid und Krisen. Ich möchte nur eine kleine und subjektive Auswahl dieser Apologeten der Einsamkeit vorstellen. Sie beginnt mit einem südfranzösischen Philosophen zwischen Mittelalter und Renaissance. Ein Aussteiger im 16. Jahrhundert: Michel de Montaigne Im Jahre Christi 1571 ließ ein südfranzösischer Jurist und Kleinadeliger aus Bordeaux an einem Turm seines Schlösschens eine Inschrift anbringen mit dem Inhalt, dass sich „Michel de Montaigne im Alter von 38 Jahren, seit langem des Dienstes im Parlament und der öffentlichen Pflichten müde“ hierher zurückgezogen habe „an diesen Ort der süßen Weltflucht, den er seiner Freiheit, seiner Ruhe und Muße geweiht hat“. Ein Aussteiger in diesem Jahrhundert zwischen Mittelalter und Neuzeit? Michel de Montaigne wurde 1533 geboren und erhielt von frühen Kinderjahren an eine humanistische Erziehung, studierte Philosophie und Rechtswissenschaften und hatte vor seiner Weltflucht schon dreizehn Jahre als Ratsherr in Bordeaux Recht gesprochen. Die verbleibenden einundzwanzig Jahre seines Lebens aber verbrachte er dann wirklich größtenteils lesend und schreibend in seinem Turmzimmer. Nur die einstimmige Wahl zum Bürgermeister von Bordeaux konnte ihn noch einmal für vier Jahre zur Rückkehr in die Öffentlichkeit verlocken. Ein tatkräftiger, umsichtiger Politiker, jahrelang um Ausgleich in den schrecklichen Wirren der Religionskriege bemüht, zieht sich in die Isolation zurück. Warum aber sollte uns das noch vierhundertfünfzig Jahre später interessieren? 40
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Montaigne lebte zur Zeit des Übergangs vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit: Eine dramatische Umbruchszeit, in der fast alle Sicherheiten verlorengegangen waren und auch die Tröstungen des Glaubens nicht gegen die Pest und die alltägliche Gewalt der Religionskriege helfen konnten. Daher die verzweifelte Frage, an welche Überzeugungen man sich noch halten könne in solcher Krisenzeit: „Für ein paar Generationen stand der Mensch allein in der Welt, war für eine Weile alles offen, schien alles möglich. In dieser Zeit lebte Michel de Montaigne.“ (Greffrath, 28 f.) Der Einsiedler im Turm versuchte ausgehend von seiner Erfahrung und seiner umfassenden Kenntnis der klassischen Autoren der Antike eine neue, bescheidene Sicherheit zu gewinnen durch den Blick auf sich selbst, durch Selbstreflexion. Diese Versuche (französisch essais) mit dem Rüstzeug des römischen Stoizismus, der Epikureer und vor allem der skeptischen Grundhaltung der Vorsokratiker erscheinen uns heute noch verblüffend frisch durch ihre unprätentiöse Sprache und einen fast zeitgenössisch wirkenden „gesunden Hausverstand“. Seine insgesamt hundertsieben essais sind voller Geschichten, Abschweifungen und Selbstenthüllungen. Immer wieder beschwören sie die Wichtigkeit des Rückzugs auf sich selbst. Montaigne wurde bewundert von Shakespeare, Diderot, Goethe und Nietzsche – weniger allerdings von der Schulphilosophie der letzten vier Jahrhunderte. Eindeutig und durchgehend war die Ablehnung seitens der Kirche: Die Essais wurden 1676 auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt und verblieben dort für die folgenden Jahrhunderte. Für unser Thema besonders interessant ist der Text Von der Einsamkeit (S. 39 f. im ersten Buch der essais) als wichtiger Teil seiner „Enttäuschungsarbeit“. Es ist ein entschiedenes Plädoyer für ein Leben des Rückzugs, des Studiums und der Selbsterkundung. Zu Beginn seiner Niederschriften sind Montaigne nach der Sicherheit des Glaubens an Gott zunehmend auch die Gewissheiten der Humanisten abhandengekommen, nach denen sowohl sein Vater als auch sein Seelenfreund Étienne de La Boétie lebten: Diese Werte verloren für 41
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Montaigne aber spätestens nach dem Tod von Freund und Vater ihre Gültigkeit, was der Anlass für seinen Rückzug ins Turmgemach in seiner depressiven Krise war. Stärker hingegen wurde das Vertrauen in seine höchstpersönlichen Erfahrungen, seine subtile Beobachtung der Mikroschwankungen von Gedanken, Phantasien und Stimmungen: In seiner Isolation wollte er sich auf keine Autorität mehr verlassen als auf seine eigene Stimme. In seiner Apologie der Einsamkeit betont er, dass diese unvereinbar sei mit jeglichem Ehrgeiz, mit dem Schielen auf den Beifall der anderen: „Der Ruhm und die Ruhe können nicht im selben Haus wohnen.“2 Oberstes Ziel für Montaigne wurde ein „gutes Leben“. Zentral dafür war für ihn die Sicherheit, nur sich selbst zu gehören. „Unser großes Meisterwerk sei: Richtig leben. […] Das Größte in der Welt ist, sich selbst gehören zu können.“ So fühlte er sich in seinem Turm durchaus wohl, denn „unsere Seele kann sich auf sich zurückwenden; sie kann sich selbst Gesellschaft leisten“. Deshalb möge man sich von allen Bindungen lösen, „die uns von uns selbst entfremden“. In einem Hinterstübchen sollten wir „ganz für uns, ganz frei unsere wichtigste Zuflucht und Einsamkeit finden“. Aber Montaigne warnte auch vor der Illusion, dass der Rückzug allein schon zu Weisheit und Seelenfrieden führen würde: „Zieht euch zurück in euch selbst, aber bereitet euch zunächst vor, euch dort zu empfangen; es wäre Torheit, euch selbst zu vertrauen, wenn ihr euch nicht zu beherrschen versteht. Man kann in der Einsamkeit ebenso straucheln wie in Gesellschaft.“ Deshalb scheinen ihm jene Einsamen glaubwürdiger, „die ihre tätigsten und blühendsten Jahre im Dienste der Welt verbracht haben“. Es geht ihm also um eine Balance zwischen Einsamkeit und dem Leben in Beziehungen, um eine Integration dessen, was der buddhistische Meditationslehrer Stephen Batchelor als das „Basisparadox der menschlichen Existenz“ bezeichnet:
2 Dieses und alle folgenden Zitate aus Montaigne/Essais/I/S. 39ff. 42
Der Blick auf die Einsamkeit – zwischen Idealisierung und Entwertung
Einsamkeit bedeutet mehr als nur allein zu sein. Wahre Einsamkeit ist ein Weg des Lebens, den man kultivieren muss. Man kann es nicht beliebig an- und abdrehen. Einsamkeit ist eine Kunst. Mentales Training ist notwendig, um es zu verfeinern und zu stabilisieren. […] Einsamkeit ist kein Luxus für die Wohlhabenden. Es ist eine unentrinnbare Dimension des Menschlichen. (Batchelor, S. XII) Interessanterweise bezieht sich auch Batchelor auf Montaigne, bei dem er ein ähnliches Gleichgewicht beschreibt wie bei Buddha: Erfüllung könne der Mensch nur finden in der Integration der Weisheit (allein) und des Mitgefühls (mit den anderen). Montaigne als Meister der Selbstironie hätte wohl auch dazu milde gelächelt.
Odo Marquard: Plädoyer für die Einsamkeitsfähigkeit
In den Jahren nach 1968 erlebte Deutschland (genauer: die damalige Bundesrepublik) eine Blütezeit, ja fast eine Inflation von Gruppen: Politische Gruppen, Arbeitsgruppen, Selbsterfahrungsgruppen – sie alle glaubten an die Wichtigkeit und Richtigkeit des „kollektiven Faktors“ in ihrem Denken und Fühlen. Der ironische konservative Philosoph Odo Marquard fühlte sich damals als Universitätsprofessor von diesem „Gruppenklima“ genervt bis überfordert. Er lieferte als Gegenposition ein entschiedenes Plädoyer für die Einsamkeitsfähigkeit auch des modernen Menschen:3 Marquards Grundthese: Wir leben zwar im Zeitalter der Einsamkeit, aber wir haben die Fähigkeit zur Einsamkeit verloren: „Die Schwächung der Kraft zum Alleinsein, der Schwund des Vermögens, Vereinzelung zu ertragen, […] Einsamkeit positiv zu erfahren. Das ist in Dingen der Ein3 Ursprünglich ein Rundfunkbeitrag für den SFB (Sender Freies Berlin) am 12.01.1983. 43
I. Außenperspektiven
samkeit die eigentliche Malaise unserer Zeit.“ (Marquard, S. 111) Marquard beschreibt besonders für das Großstadtleben ein erhöhtes Einsamkeitsrisiko dadurch, dass die Zahl der Mitmenschen steigt und gleichzeitig „die personale Dichte und Intensität der Kommunikation“ sinkt. Da viele Menschen ihre Einsamkeit aber schwer ertragen, stürzen sie sich in „symptomatische Gegen-Geselligkeiten“ bzw. Anti-Einsamkeitsaktivitäten: Diese „suchthaften Anti-Einsamkeits-Kommunikationen“ beschreibt Marquard an zwei Beispielen: 1. Gefühle der Mitmenschlichkeit werden „exotisiert“ bzw. in die Ferne verlagert: Gerade die moderne Einsamkeit als Kommunikationstod im Nahbereich führe dazu, als Ersatz den Fernbereich überempathisch zu kultivieren: „Menschlich ist man dann nur noch zu jenen, die ganz weit weg sind: Zeitlich, räumlich oder durch sonstigen Abstand.“ Dazu passt für Marquard auch die Wichtigkeit des Fernsehens: „Selbst das Sehen wird ersetzt durch das Fernsehen“, Dialoge würden nur mehr durch das Telefon geführt. Was würde Marquard wohl zur heutigen Smartphone-Kultur sagen? 2. Dazu komme das Phänomen einer „Konjunktur der Gruppe als Anti-Einsamkeitsmittel“: Man fliehe ins Kollektiv, „das jetzt als Allesheiler propagiert wird“. Marquard karikiert bei der Suche nach Gruppen neben der Wohngemeinschaft, Fahrgemeinschaft und Arbeitsgemeinschaft auch die „Fühlgemeinschaft“. Für ihn ist das moderne Zeitalter der Einsamkeit gleichzeitig das Zeitalter einer symptomatischen Gegen-Geselligkeit durch „kommunikative Fernemphase und Gruppensucht“. Dadurch aber sieht er die Einsamkeitsfähigkeit noch mehr reduziert: Die Menschen können sich gegen ihre Vereinsamung nicht mehr wehren. 44
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Nach dieser Kritik an einer überschießenden Gruppenkultur geht Marquard zum Lob der Einsamkeit über, vor allem aber zum Lob der Fähigkeit zur Einsamkeit: Die etymologische Wurzel des Begriffs „Einsamkeit“ findet er bei den mittelalterlichen Mystikern wie Meister Eckhart: Zunächst sei Einsamkeit überhaupt kein Wort für das Isolierte und Einzelne gewesen, sondern die deutsche Übersetzung von unio im Sinne einer Unio mystica, eben einer mystischen Vereinigung des Menschen mit Gott: Die Ein-samkeit war das Eins-Sein als intensivste Form der Kommunikation. Einsamkeit wäre also ursprünglich Vereinigung gewesen – wobei dieser Wortsinn später völlig verlorengegangen sein soll. Während also früher Einsamkeit als die Abgeschiedenheit von den Mitmenschen als Vorbedingung zum mystischen Gotteserlebnis betrachtet wurde, wäre nach der Säkularisierung der Mensch nur noch allein mit sich selbst geblieben und daher einsam im heutigen Wortsinn. Für Marquard gibt es auch einen positiven Einsamkeitsbedarf: Diesen sieht er speziell für Skeptiker und Wissenschaftler, aber auch für andere Einsamkeitssuchende. Als klassischer Bildungsbürger zitiert er Humboldt, der auch schon für die Wissenschaftlerinnen Einsamkeit und Freiheit gefordert hatte. Aber nicht nur Wissenschaftler brauchen für ihr Denken oft die Einsamkeit, auch andere leiden an der „heutigen Verpflichtung zur totalen Geselligkeit“. Deshalb betont Marquard, dass „es nicht nur die Last, auch die Lust der Einsamkeit gibt“ (S. 119). Die entscheidende Frage bleibt für ihn daher, wie sich Einsamkeitslast umarbeiten lässt in Einsamkeitslust, wie also eine Kultur der Einsamkeitsfähigkeit entstehen kann. Daher sein abschließendes Plädoyer, das vierzig Jahre später angesichts der heutigen Betroffenheitsrhetorik und 45
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des Hangs zum „Teilen“ bzw. Mitteilen aller Emotionen höchst aktuell anmutet: Durch Steigerung der „Einsamkeitskompetenz“ werde auch unsere KommunikationsKompetenz erhöht: Wer – einsamkeitsunfähig – mit all seinen Lebensfragen alle erreichbaren Mitmenschen dauernd behelligt, kommuniziert nicht, sondern wird als krankhafter Fürsorgefall unerträglich. Um solche Belästigung der Mitmenschen zu vermeiden, empfiehlt Marquard gerade die Einsamkeitsfähigkeit als Voraussetzung der Mündigkeit: „Je weniger Kommunikation jemand braucht, umso mehr Kommunikation gelingt ihm, je einsamer einer sein kann, desto weniger ist er es.“ (S. 120/121) Drei Faktoren empfiehlt der Autor zur Erhöhung bzw. zum Training unserer Einsamkeitsfähigkeit: 1. Humor: Gerade dessen Leichtigkeit, die auch aus der Schwermut kommt, führe zu einer hinlänglichen Selbst-Distanz: Das wiederum helfe bei der Vermeidung von allzu hohen Erwartungen sowohl an Gruppen als auch an die Einsamkeit. 2. Bildung: Für Marquard geht es nicht um Faktenwissen, sondern um Bildung als Ausdehnung des Aktionsradius der Merk- und Genussfähigkeit. Das ermögliche und erleichtere uns die Stunden der Einsamkeit, in denen man nicht auf unmittelbare Präsenz der anderen angewiesen bleibt, sondern auch allein zufrieden sein kann mit Büchern, Bildern und Musik „durch das Bündnis von Phantasie und Erinnerung“. Insofern ist Bildung für Marquard „die Sicherung der Einsamkeitsfähigkeit“. 3. Religion: Auch sie kann für Gläubige Einsamkeitserfahrungen erleichtern: „Gott ist für den Religiösen der, der noch da ist, wenn niemand mehr da ist.“ (S. 122) 46
Der Blick auf die Einsamkeit – zwischen Idealisierung und Entwertung
Anthony Storr: Einsamkeit als Basis für Kreativität
Anthony Storr überlebte als Kind nur knapp eine Sepsis und litt ein Leben lang unter Asthma. Mit acht Jahren kam er in eine Internatsschule und war dort schrecklich unglücklich, weil er sich dumm fühlte und auch sportlich unbegabt war. Er fand nur schwer Freundinnen und fühlte sich nach diesen prägenden Jahren ein Leben lang als Einzelgänger. Seine Rettung aus all diesem Leid war die frühe Begeisterung für Musik: „Wir leiden alle an Mangel, wir sind alle enttäuscht und versuchen deshalb ein Leben lang, unsere Realität mit einem Ideal zu verknüpfen. Dieses Muster der lebenslangen Spannung und Entspannung ist am besten in der Musik zu beobachten.“ (In: The Dynamics of Creation, 1972, S. 237) Nach dem Medizinstudium absolvierte er die Ausbildung zum Psychiater und auch eine jungianische Psychoanalyse. Nach einigen Jahren am berühmten Maudsley Hospital arbeitete er in der psychotherapeutischen Praxis und unterrichtete später noch viele Jahre in Oxford. Seine Bücher machten ihn zu einem der bekanntesten Psychotherapeuten Englands. Berühmt war er vor allem für sein Mitgefühl, seine Menschlichkeit und seine Fähigkeit, komplexe Fragen verständlich zu erklären. Er selbst empfand sich nicht als Jungianer, sondern als eklektischen Skeptiker der Psychotherapie. 1988 erschien sein Buch Solitude. Der vollständige Originaltitel lautete Solitude. School of Genius, auf Deutsch noch pathetischer Die schöpferische Einsamkeit. Das Geheimnis der Genies. Die Kritik feierte das Buch als klassische Meditation über die Notwendigkeit der Einsamkeit für das kreative Individuum. Offen berichtete er über seine eigenen leidvollen Erfahrungen. Aber er betont auch als Psychiater: „Heute wird die Tatsache, dass Isolation 47
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therapeutisch sein kann, in psychiatrischen Lehrbüchern selten erwähnt. Der Schwerpunkt liegt auf Teilnahme an Gruppen-Aktivitäten.“ Storr aber wünscht sich sowohl in psychiatrischen Kliniken als auch im Leben aller Menschen einen Platz für jene, „die allein sein wollen und auch davon profitieren würden“. Fünfundzwanzig Jahre später wird das Buch als Klassiker zum Thema betrachtet: Es sei (so Sara Maitland 2014) ein psychoanalytischer Blick auf Alleinsein, Einsamkeit und Kreativität, der zum Schluss kommt, dass es auch andere Wege zur Erfüllung und psychischen Gesundheit gibt als intime Beziehungen. Als Psychotherapeut bezweifelt Storr zwar keineswegs, dass zwischenmenschliche Beziehungen extrem wichtig für alle Menschen sind. Er stellt allerdings die Frage, ob Liebesbeziehungen und ein erfülltes Sexualleben die einzige Möglichkeit für Menschen darstellen, ein glückliches und sinnvolles Leben zu führen. Ausgangspunkt für seine Überlegungen zur Funktion von Rückzug und Einsamkeit für psychische Gesundheit und Selbstfindung sind Biografien von Wissenschaftlerinnen und Künstlern. Ihre Selbstzeugnisse inklusive der oft leidvollen Kindheitsgeschichten zitiert er ausführlich als Belege dafür, dass ein Rückzug aus dem sozialen Leben und der Wunsch nach Alleinsein nicht nur Ausdruck von Beziehungsunfähigkeit sein müssen. Denn für Storr sind „menschliche Wesen von der Natur sowohl zum Persönlichen als auch zum Unpersönlichen hingezogen als wichtige Möglichkeit ihrer Anpassung. […] Es scheint mir, dass das, was in einem Menschen vorgeht, wenn er allein mit sich ist, ebenso wichtig ist wie das, was in seinen Interaktionen mit anderen Menschen geschieht.“ (Einleitung, S. XIV) 48
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Daher „braucht jeder menschliche Beziehungen, aber jeder braucht auch eine Art der Erfüllung, die nur für ihn relevant ist.“ (S. 84) Aus entwicklungspsychologischer Perspektive situiert er die Persönlichkeit in einem Spannungsbogen zwischen den beiden Polen von Introvertiertheit und Extravertiertheit bzw. zwischen einem Streben nach Abstraktion und dem nach Empathie. Wichtiger aber als solche binären Gegensätze scheint für Storr als Psychiater und Analytiker die frühkindliche Entwicklung: Ähnlich wie D. Winnicott beschreibt er die Folgen von nicht optimalen Beziehungen zwischen Kleinkind und Mutter und die Möglichkeit eines frühen emotionalen Rückzugs seitens des Kindes als eine CopingStrategie, als bestmöglichen Ausgang aus einer Notsituation – und nicht primär als Abwehr von Triebwünschen. Sowohl eine zu frühe emotionale Trennung von der Mutter (schlimmstenfalls durch deren Tod, aber oft auch durch eine mütterliche Depression) oder ein zu wenig einfühlsames Verhalten der Eltern führen zur unsicheren Bindung des Kindes, zu einer ängstlich-misstrauischen Überaufmerksamkeit oder aber zum Vermeidungsverhalten: Das kann man auch als Versuch des Kleinkindes beschreiben, wenigstens einen Rest von Kontrolle über die Situation zu behalten oder wiederzugewinnen. Storr betont, dass solche Kinder mit ihrer Grundstimmung einer wachsamen Ängstlichkeit früh lernen müssen, ihre eigenen Gefühle (vor allem Angst und Traurigkeit) für sich zu behalten – da sie mit keiner verständnisvollen Reaktion der Eltern rechnen können. Sie müssen aber auch ebenso früh lernen, das Verhalten der Eltern genau zu beobachten, die Erwachsenen und deren Emotionen zu „lesen“ – um sich vor neuerlichen Bedrohungen oder Zurückweisungen zu schützen. Für Storr scheint es da49
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her nur logisch, dass solche Kinder als Erwachsene häufig Ärztinnen oder speziell Therapeuten und Psychoanalytikerinnen werden: Sie sind verständnisvoll und vertrauenserweckend, vermeiden aber, sich selbst andern gegenüber zu öffnen. Auch bei Künstlern gibt es viele solche Beispiele – Storr beschreibt die schreckliche Kindheit z. B. von Rudyard Kipling als eine Triebfeder für dessen Beobachtungsgabe und seine spätere Fähigkeit, anderen zuzuhören, sie zu verstehen und zu beschreiben. In solchen Fällen fördert die emotionale Not des Kindes die frühe und reichhaltige Entwicklung von Phantasien. Storr reiht sich in die englische Traditionslinie von Wordsworth bis Winnicott ein, in der Phantasie und „Imagination“ durchaus positiv besetzt sind im Gegensatz zu Freuds skeptischer Position. Der hunger of imagination ist für Storr einer der wichtigsten Motoren der Kulturentwicklung überhaupt – in seiner Funktion als Scharnier zwischen subjektiver Innenwelt und Objektivität bzw. realer Außenwelt. So betont er auch, dass das Erschaffen eines Kunstwerkes immer Kreation als ReKreation bedeutet: Dieses Wieder-Erschaffen einer heilen Ganzheit, eines Gefühls von Kohärenz und Ordnung kann der Künstlerin oder auch dem Wissenschaftler tiefe Befriedigung ermöglichen: Ein solches Glück kann laut Storr durchaus mit dem Gefühl der Verliebtheit verglichen werden. In solchen Momenten hat man das Gefühl, „dass alles mit der Welt und in der Welt in Ordnung ist – und dadurch kann man sich besser an diese Welt anpassen“, denn „all the world loves a lover, and the lover loves all the world.“ (S. 187) Dieses Gefühl einer perfekten Harmonie mit dem Universum (oder beim Verliebten: mit einer anderen Person) und die perfekte Harmonie mit sich selbst, sie sind intensiv verbunden. Mehr noch: Für Storr handelt es sich im Wesentlichen um ein- und dasselbe Phänomen. 50
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Deshalb beklagt er auch, dass sich die meisten Psychoanalytikerinnen zu sehr auf Beziehungen zu belebten Objekten konzentrieren. Auch die intensiven Beziehungen zu einer für den Menschen sinngebenden Arbeit, einer künstlerischen Schöpfung oder auch „nur“ einem intensiv betriebenen Hobby – sie können nicht nur ein Ersatz sein für affektive Beziehungen zu Menschen, sie sind durchaus als gleichwertig mit diesen einzuschätzen. Schon der Storr freundschaftlich verbundene Analytiker Charles Rycroft hatte betont, dass man den psychoanalytischen Begriff des Objekts nicht nur auf Personen oder Symbole für diese Personen beschränken sollte. Wenige Jahre nach Storrs Solitude unterstrich der Analytiker Christopher Bollas, dass nicht nur die Mutter oder eine Psychoanalytikerin unsere Persönlichkeit verändern können, sondern auch kulturelle Objekte wie Bücher, Musikstücke oder Bilder durchaus zu transforming objects werden können. Abschließend betont Storr, dass für ihn unsere Psyche so konstruiert zu sein scheint, dass jede Entdeckung oder Wahrnehmung einer Ordnung, einer Einheit in der äußeren Welt von uns gespiegelt und umgestaltet wird: Wir erleben einen solchen äußeren Eindruck so, als hätten wir eine neue Ordnung und Balance in unserer Innenwelt erfahren. (S. 200) Daher sind für Storr jene Menschen am glücklichsten, die weder ihre interpersonellen Beziehungen noch ihre impersonal interests als jeweils einzig möglichen Weg zum Glück idealisieren müssen. Das Verfolgen beider Wege, das befriedigende Erleben beider Aspekte der menschlichen Natur führt am ehesten zu einem guten Leben. Storrs Buch überzeugt durch seine Verwendung der Biografien und Werke kreativer Genies als Beispiele, als beruhigende Hinweise für uns durchschnittliche Men51
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schen, dass es nicht „abnorm“ oder nicht nur eine klägliche Kompensationshandlung sein muss, wenn man längere Zeit durchaus freiwillig und gern mit sich allein sein will – auch wenn dabei kein Meisterwerk entsteht.
Alice Koller: The Stations of Solitude
Im Herbst 1962 war Alice Koller an einem Tiefpunkt ihres Lebens angekommen: Nach einer schwierigen Kindheit hatte sie von einer Schauspielkarriere geträumt, diese Hoffnung jedoch mangels Erfolgs aufgeben müssen. Ihr Studium in Harvard finanzierte sie sich mit diversen Gelegenheitsjobs. Auch nach Promotion zur Doktorin der Philosophie gelangte sie nie zu einer fixen Anstellung als Universitätsprofessorin – während alle männlichen Kollegen ihres Jahrgangs schon längst gesicherte Jobs hatten. Zu all diesen Baustellen ihres Lebens kamen noch Schulden dazu. Als sie dann ihr Geliebter verließ, um eine andere zu heiraten, versuchte sie ihr Experiment in Einsamkeit: Sie mietete für die Wintermonate ein Haus auf der Insel Nantucket, das in der toten Saison billig zu haben war. Dort lebte sie allein mit ihrem Schäferhund Logos, mit dem sie täglich stundenlang am leeren Strand unterwegs war. Sie wollte wissen, „wer ich bin und was ich mit meinem Leben machen soll“. Viele Jahre später erklärte sie resigniert in einem Interview: „Ich hatte das Aussehen, die Intelligenz und ein Harvard-Doktorat – und lebte trotzdem in Armut […]“ (Interview/Judy Flanders, Washington Star, 14.06.1977) Nach drei Monaten allein hatte sie zwar immer noch keinen Lebensplan, keinen Job und keine Wohnung, „aber ich weiß zumindest einige Dinge: Ich habe Logos und brauche ihn, auch dieses Meer ist mir wichtig – vielleicht 52
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finde ich noch andere Dinge dazu.“ Das Ergebnis ihrer schonungslosen Selbstanalyse war ein Manuskript, das in den folgenden fünfzehn Jahren von insgesamt dreißig Verlagen abgelehnt wurde. Erst 1981 erschien An Unknown Woman bei Holt-Rinehart in New York und wurde in den Jahren darauf zu einem „Grassroots-Bestseller“ mit insgesamt mehr als 500.000 verkauften Exemplaren. Sichtlich hatten sich viele Leser und vor allem Leserinnen wiedergefunden in dieser Selbstbeschreibung der unglücklichen Autorin, die trotzdem nicht aufgeben wollte und sich auch in den folgenden Jahren und Jahrzehnten mit akademischen Kurzzeitjobs durchschlug. Zwischenzeitlich war sie immer wieder von der Unterstützung ihrer Freunde oder auch von Fürsorgeleistungen abhängig. Obwohl sie sich vom Erlös dieses Buches einige Jahre über Wasser halten konnte, blieb es ein Leben am Rande der akademischen Community. Koller kämpfte beharrlich weiter um ihren Platz als Autorin: Noch im Alter von dreiundachtzig Jahren erstellte sie eine Website, mit der sie um Unterstützung für ein letztes geplantes Buch Meditation on Being a Philosopher bat. Sie wurde von amerikanischen Feministinnen gefeiert als weibliches Pendant zu Henry David Thoreau, die versuchte, ihr Leben durch Introspektion zu verstehen und trotz ihres Unglücks darauf beharrte, dass ein selbstbestimmtes Leben für sie die bessere Option sei im Vergleich zur sozialen Anpassung. Ihr Selbstfindungsbuch zeigte, dass man weder ein Genie noch ein Mann sein musste, um aus einem Intervall der Einsamkeit gestärkt hervorzugehen. Denn (wie Sara Maitland über Koller schrieb) „[b]eing solitary is being alone well. […] Because solitude is an achievement.“ (Maitland, S. 142)4 4 Koller, Maitland, Storr, sie alle schreiben von „solitude“: Im Englischen und auch im Französischen gibt es diesen Begriff 53
I. Außenperspektiven
Sara Maitland/How to Be Alone
Sara Maitland hatte bereits mehrere Leben hinter sich, als sie in England als moderne Einsiedlerin bekannt wurde: Sie wuchs in einer großen Familie der schottischen Oberschicht auf inmitten vieler Geschwister und beschreibt sich selbst als ausgesprochen soziale Person, die besonders Familienfeste und Smalltalk genießen konnte. Nach ihrer behüteten Kindheit folgten einige wilde Jahre der Hippie-Phase als Studentin in Oxford in den Siebzigern. Sie war dort eine enge Freundin Bill Clintons, erlebte Sex & Drugs & Rock’n’Roll und auch einen schweren psychischen Zusammenbruch inklusive Klinikaufenthalt. Dann fand sie zurück zum bürgerlichen Leben in einer zwanzigjährigen Ehe mit einem anglikanischen Geistlichen und zog ihre Kinder auf. Danach aber lebte sie nach Trennung von ihrem Mann erstmals bewusst allein, um Abstand zu gewinnen. Aktuell lebt sie schon länger als zwanzig Jahre als moderne Einsiedlerin in einer ehemaligen Schäferhütte im äußersten, kaum besiedelten Norden Schottlands in der Mitte eines „huge nothing“. Während sie für ihren Erstlingsroman 1978 noch als feministische Denkerin gefeiert wurde, hat sie nun zum christlichen Glauben gefunden und schreibt vorwiegend religious fantasy. Wirklich populär aber wurde sie mit ihrem Book of Silence 2007, gefolgt von How to Be Alone 2014. zwischen „alone“ und „lonely“ – potentiell positiv besetzt, sicher auch allzu oft romantisiert bis idealisiert. Aber es ist eine Bezeichnung für einen „dritten Weg“ zwischen Alleinsein und Einsamkeit, für den wir im Deutschen keinen adäquaten Ausdruck haben. Auch im Französischen kann Georges Moustaki in Ma solitude davon singen, dass er nie allein sei – er sei ja mit seiner Einsamkeit, die eine Freundin geworden sei. 54
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Sie beschreibt ihr völlig isoliertes Leben als glücklich. Ihre Beziehung zur Stille vergleicht sie mit einer Liebesbeziehung. Deshalb möchte sie auch anderen Menschen Mut machen, ihre Fähigkeit zum Alleinsein zu entwickeln und die Angst vor der Einsamkeit abzulegen: Denn laut Maitland kann es jedem von uns jederzeit passieren, unfreiwillig und länger allein leben zu müssen. Wenn man aber einen solchen Lebensabschnitt mit der Einstellung beginnt, dass alle Alleinlebenden nur „sad, bad or mad“ sein können, dann macht man es sich selbst nicht leichter. (S. 16) Eingangs stellt Maitland in ihrem Buch die für sie grundlegende Frage: Wie sind wir in die Situation gekommen, dass in den reichen Ländern der entwickelten Welt einerseits die persönliche Freiheit, die Selbsterfüllung und die Menschenrechte, vor allem aber der Individualismus und die Autonomie so hoch geschätzt werden – höher als je zuvor in der menschlichen Geschichte – und gleichzeitig aber diese autonomen, freien Individuen so große Angst davor haben, mit sich selbst allein zu sein? Dieser Widerspruch ist für Maitland „truly very odd“. Wenn nämlich persönliche Freiheit und Autonomie für uns sowohl ein Menschenrecht darstellen als auch ein hohes Gut sind, warum dann der misstrauische Blick auf all jene, die sich autonom und frei dafür entscheiden, allein zu leben? Warum werden solche Menschen stigmatisiert als depressiv, moralisch minderwertig und/oder verrückt? Wir können unschwer verstehen, dass jemand für eine bestimmte Zeit oder für die Erfüllung einer konkreten Aufgabe alleinbleiben will, sei dies nun die Beendigung einer Dissertation, die Herstellung eines Kunstwerks oder eine monatelange Pilgerreise. Was uns aber massiv beunruhigt oder gar mit Angst erfüllt, sind jene Menschen, für die permanente Einsamkeit ein wichtiger Teil ihres Lebens 55
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geworden ist und die sich in diesem isolierten Leben auch noch wohlzufühlen scheinen. Die Autorin zählt die Negativklischees und Unterstellungen gegen die Einsamkeitssuchenden auf: Dieses Verlangen nach Alleinsein sei „mad“, weil • Einsamkeit unnatürlich sei • oder pathologisch. Laut Maitland sind sich alle Psychotherapieschulen darin einig, dass möglichst intime und auch sexuell erfüllende persönliche Beziehungen unabdingbare Bedingungen seien für Gesundheit und Glück des Menschen. Daher gelte allein die Vorstellung, alleinlebend glücklich sein zu können als gefährliche Illusion. Dazu sei Einsamkeit moralisch schlecht, also „bad“, weil • „self-indulgent“ (genusssüchtig): Das Beharren auf Einsamkeit sei hedonistisch, egoistisch, asozial. • eskapistisch: Einsamkeit sei nur eine Flucht, ein Davonlaufen vor der unangenehmen Realität. • potentiell kränkend für Beziehungssuchende: Dass jemand lieber alleine leben will als mit ihnen zusammen, können sie nicht verstehen. • soziale Verantwortung vermeidend: Wobei laut Maitland oft ungeklärt bleibt, worin diese soziale Verantwortung denn bestünde bzw. warum es einem Alleinlebenden unmöglich sei, sie zu erfüllen. Aus psychiatrischer Sicht kann ich nur ergänzen: Wenn mehrere oder schlimmstenfalls alle der obigen Einschätzungen von einem unfreiwillig alleinlebenden Single geteilt werden, dann beschreibt man dies als Internalisierung einer negativen Attribution und daher als Selbststigmatisierung: Das wird meine Meinung von mir selbst nicht verbessern und kann speziell den ohnehin schwie56
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rigen Anfang einer Phase der Isolierung noch massiv erschweren. Laut Maitland kann man die Kulturgeschichte der letzten dreitausend Jahre auch als Pendelbewegung zwischen Warnungen vor der Einsamkeit oder aber Idealisierung des zurückgezogenen, isolierten (natürlich männlichen) Intellektuellen sehen. Zwischen diesen beiden Polen bleibt eine pragmatisch-realistische Einschätzung des Alleinlebens als eine von mehreren gleichwertigen Optionen schwierig. Ihr Hauptanliegen bleibt die Korrektur der allzu negativen Einstellungen gegenüber dem Alleinsein: Wir hätten aktuell zu viel Angst vor etwas, das niemand verlässlich vermeiden könne: Einsamkeit könne jedem passieren: „Solitude catches people on the hop.“ (S. 51) In England sind die größten und am raschesten wachsenden Gruppen von Singles alte Frauen oder aber jüngere Männer zwischen 25 und 45, meist nach Beendigung einer längeren Beziehung. Maitland unterscheidet zwei Abwehrstrategien gegen unsere Angst vor Einsamkeit: 1. Als Reaktion gegen diese Angst werden oft Menschen, die Einsamkeit nicht fürchten oder sogar behaupten, sie zu genießen, abgewertet: Sie seien bedauernswert, egoistisch, verrückt oder aber pervers. 2. Wir versuchen, unsere sozialen Kontakte unendlich auszudehnen als „Versicherungspolizze“ gegen das Risiko der Einsamkeit. Diese Verhaltensweise wird heute speziell durch Nutzung der sozialen Medien erleichtert. Strategie Nr. 1 kann laut Maitland „bite you in the ass“ (S. 52): Wenn ich meine Ängste vor Einsamkeit massiv auf Alleinlebende projiziere und mich dann ungewollt als Single wiederfinde – dann fällt mir diese negative Einstellung auf den Kopf. 57
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Die zweite Möglichkeit allerdings hat durchaus ihre Vorteile, insbesondere weil die neuen sozialen Medien ja communities of choice erzeugen: Dadurch kann ich völlig abgeschieden leben und trotzdem übers Internet weltweit Gleichgesinnte auch für die seltensten oder seltsamsten Vorlieben oder Lifestyles finden. Im „Ratgeberteil“ ihres Buches schlägt Maitland verschiedene, einander ergänzende Strategien vor, um unsere Angst vor Einsamkeit in den Griff zu bekommen und das Alleinsein als potentiell attraktiv erleben zu können:5 1. Stell dich deiner Furcht. 2. Unternimm genussvolle Aktivitäten allein. 3. Erprobe das Tagträumen/die Reverie. 4. Intensiviere deinen Kontakt mit der Natur. 5. Lerne etwas auswendig. 6. Unternimm etwas Größeres allein. 7. Bring deinen Kindern bei, allein zu sein (und Langeweile auszuhalten). 8. Respektiere Differenzen – und somit auch Alleinlebende. Stell dich deiner Furcht: Hier wiederholt sie ihren Grundgedanken, dass ein Alleinleben – wenn es denn freiwillig erfolgt – an sich kein Gesundheitsrisiko darstellt, sehr wohl aber die Angst davor: Man kann diese Angst laut Maitland auch durchaus als krankheitswertig im Sinne einer Phobie betrachten: Als Bezeichnung für diese Angst vor dem Alleinsein schlägt die Autorin „Monophobie“ bzw. „Autophobie“ vor. Maitland berichtet aber auch von einer viel häufigeren Phobie: Laut Umfrage von 2008 hätten über 13 Millionen Menschen in Großbritannien panische Angst da5 Die Punkte 1–8 bauen aufeinander auf, sind zu verstehen als Progression von der einfachsten bis zur schwierigsten Aufgabe. 58
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vor, keinen Mobiltelefonkontakt zu haben. Sie zeigen also durchaus Symptome von Angst bis hin zur Panik, wenn ihr Smartphone nicht funktioniert bzw. wenn sie keinen Empfang haben. Dafür gibt es auch schon einen Namen: Diese No mobile-phobia wurde Nomophobia genannt – und betrifft angeblich mehr als 50 % aller Mobiltelefonbenutzer. Maitland empfiehlt ironisch und konsequent für derlei Ängste einen verhaltenstherapeutischen Ansatz: • Liste deine verschiedenen Ängste auf und beginne mit jenem Element der Angst/Vermeidung von Einsamkeit, das noch am wenigsten Angst macht. • Betrachte die Vorteile und Freuden des Alleinseins. • Entwickle verschiedene Strategien für das Alleinsein (beginne wieder mit den am wenigsten bedrohlichen bzw. noch angenehmsten Varianten). • Verbringe Zeit allein in Situationen, wo zwar andere Menschen präsent sind, aber keine dir bekannten Menschen. • Schalte dein Mobiltelefon zumindest versuchsweise einmal aus! Immerhin fünf Millionen Engländerinnen hätten noch 2014 kein Mobiltelefon besessen. Und (so Maitland trocken) auch sie hätten bisher überlebt. Für ein Leben mit oder ohne Handy aber gilt: Wenn nicht die Einsamkeit krank macht, sondern die Angst vor ihr, dann sind Wissen und Information die besten Heilmittel gegen Angst: Es gibt bisher keine Evidenz dafür, dass auch längere Zeiträume des Alleinlebens der körperlichen oder seelischen Gesundheit schaden müssen – solange dieses Alleinsein frei gewählt ist. Neben der Angst vor der Einsamkeit sei die Herablassung und negative Einschätzung seitens der nicht alleinlebenden Mitmenschen die größte Gefahr für Alleinleben59
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de, weil sie auch deren Selbstwahrnehmung prägt. Das wiederum gilt besonders dann, wenn man ungewollt allein ist und bleibt. Neben den entscheidenden individuellen Faktoren für Einsamkeit und ihre Überwindung gibt es aber auch äußere Belastungsfaktoren, die sowohl miteinander als auch mit den individuellen Aspekten interagieren können und die Isolierung im Sinne einer Intersektionalität verstärken.
Unterschiedliche Arten von Einsamkeit?
Die glückliche Liebesbeziehung soll heute unserem Leben Sinn geben, soll das Zentrum einer erfüllten Existenz darstellen. Trotz dieser hohen, oft auch überhöhten Anforderungen an eine Beziehung wird abgesehen von den ersten Monaten einer Liebe kaum jemand von uns mit dem Partner/der Partnerin alles immer teilen können, kaum jemand wird dies wollen. Ein emotional autarkes Zweier-Universum gegen den Rest der Welt ist auf Dauer weder möglich noch erstrebenswert. Auch bei noch so glücklicher Partnerschaft brauchen wir immer noch andere Menschen und Kontexte, um uns so geschätzt, akzeptiert und verstanden zu fühlen, dass wir unser Leben als gut und befriedigend empfinden. Das kann in vielen Bereichen unseres Lebens gelingen: • Arbeit: Jede/r wünscht sich, auch von Arbeitskollegen geschätzt zu werden, im Job beliebt zu sein und dort auch ein wichtiger Teil des Teams zu werden. • Interessen: Auch hier wünscht sich fast jede/r das Gespräch/die Resonanz von Gleichgesinnten – sei dies nun im Fußball-Club, in der Lokalpolitik oder in einer NGO. • Verankerung im Alltag: Dazu zähle ich die kleinen Freuden des Tratsches mit der Greißlerin, den Woh60
Unterschiedliche Arten von Einsamkeit?
nungsnachbarn, die Freude am bunten Herbstlaub etc. • Emotionale Beziehungen in der Herkunftsfamilie, oft auch trotz heftiger Konflikte. • Freundeskreis: Auch wenn es mit vielen Freundinnen nur ein geteiltes Interesse, eine gemeinsame Aktivität gibt wie z. B. bei Männern den Sport oder auch das Fußball-Schauen, bei Frauen die Freundinnenrunde oder das Joggen. Heute aber auch durchaus möglich: Die Frauenfußballrunde oder die Kochgruppe der Männer. • Beziehung zu wichtigen Personen aus unserer Vergangenheit wie z. B. Jugendfreunde oder Schulkolleginnen geben uns ein Gefühl der biographischen Kontinuität trotz aller Veränderungen im Leben. Mit all diesen Personen teilen wir einen (wenn auch oft nur kleinen) Teil unserer vielfältigen Interessen/Persönlichkeitszüge/Projekte/Vorlieben oder auch Abneigungen. Zusehends komplexer wird dieses ohnehin schon meist breite Beziehungsspektrum heute noch durch soziale Medien und ihre virtuellen Beziehungen, die es jedem und jeder erlauben, auch für seltene Interessen und Vorlieben im Internet Gleichgesinnte zu finden. Für alle hier angeführten Punkte gilt im Positiven wie auch im Negativen ein Prinzip der „Intersektionalität“: Wenn ich in drei der oben genannten Punkte positive und befriedigende Erfahrungen machen kann, wird es mir auch leichter fallen, in den übrigen Punkten „anzudocken“. Wenn ich umgekehrt in fünf von sechs der obigen Bereiche ohne Beziehung bzw. ohne Resonanz bleibe, wird auch der letzte Bereich schwierig für mich werden. Im positiven Fall aber wird jeder für das soeben beschriebene Netz an Bekannten und auch distanzierteren Freunden oder Freundinnen dankbar sein – speziell, wenn 61
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man z. B. nach einer langjährigen Zweierbeziehung sich plötzlich allein wiederfindet, wird dadurch der Verlust zwar nicht ausgeglichen, wohl aber gelindert werden können. In ökonomischen Begriffen formuliert: Je nach Persönlichkeitsstruktur, je nach unserem Schwerpunkt auf Paarbeziehungen oder aber auf Gruppen werden wir mehr Beziehungsenergie in unsere Liebesbeziehung oder aber in ein breiteres soziales Netzwerk investieren: Wir werden also unsere Zeit, unsere Begeisterung und unser gesamtes soziales Kapital mehr oder weniger breit gestreut investieren. In jedem Fall sind unsere „Gefühlsinvestitionen“ in andere Menschen, aber auch in Institutionen notwendigerweise immer „Risikogeschäfte“: Unser Vertrauen ist immer eine Vorschussleistung und kann enttäuscht werden. Nach wiederholten Enttäuschungen aber wird es immer schwerer, neuerlich Vertrauen aufzubringen. Die meisten Liebesbeziehungen und auch Freundschaften halten heute nicht mehr lebenslang. Nicht nur unsere Lebenserwartung ist gestiegen, sondern auch unsere Erwartungen an Beziehungen bei gleichzeitig tendenziell sinkender Bereitschaft zu vertrauen. Denn wir wollen ja selbständig sein und uns nicht abhängig fühlen.
Einsamkeit und Vertrauen: Angst vor Abhängigkeit als Einsamkeitsrisiko?
Ein psychisch gesunder und erfolgreicher Erwachsener soll heute zwei Forderungen erfüllen: Erste Forderung: Sei autonom – sei also im Idealfall von nichts und niemandem abhängig! Zweite Forderung hingegen: Sei offen für Veränderung, für neue Menschen, lass dich auf andere ein, sei teamfähig! 62
Unterschiedliche Arten von Einsamkeit?
In vielen Situationen stellen diese beiden Anforderungen für uns ein Doublebind dar. Unter Doublebind verstehen Psychologinnen zwei gegensätzliche Aufträge, die man gleichzeitig empfängt: Wenn ich die eine Forderung erfülle, kann ich dadurch gleichzeitig die andere nicht erfüllen. Oft wird die eine Anforderung explizit geäußert, während die andere gegensätzliche implizit mitschwingt. Ein allgemein bekanntes Beispiel wäre die beliebte Aufforderung durch Elternteil oder Partnerin: „Tu doch, was du willst…“ Bei entsprechendem Unterton hören wir die gegenteilige Botschaft durchaus mit: „Aber dein Wunsch ist der falsche. Er verletzt mich. Also mach, was ich will!“ Spätestens dann fällt es uns schwer, uns ganz unabhängig vom Partner zu entscheiden. Bei der aktuellen Überhöhung der autonomen Persönlichkeit ist der Begriff „Abhängigkeit“ praktisch ausschließlich negativ besetzt: Wer will schon abhängig sein im Sinne von unselbständig, ohnmächtig oder ausgeliefert? Diese Angst wird auch in der politischen Rhetorik verwendet: Der Rückbau des Sozialstaates in den letzten Jahrzehnten wurde u. a. damit legitimiert, dass Arbeitslose und sozial Bedürftige nicht von staatlichen Unterstützungsleistungen abhängig bleiben sollen. Sie sollen vielmehr selbständig werden, sollen als Unternehmer ihrer selbst uns nicht mehr zur Last fallen. Hier kann eine Begriffsklärung helfen: Von welcher Abhängigkeit sprechen wir? Grob vereinfacht gibt es zumindest zwei Modelle von Abhängigkeit in zwischenmenschlichen Beziehungen, die auf den ersten Blick wenig miteinander gemeinsam haben: 1. Die frühe infantile Abhängigkeit: Das Neugeborene, das kleine Kind ist unfähig, für sich selbst zu sorgen, ist noch ganz hilflos und daher abhängig von der Fürsorge der Eltern, vor allem der Mutter. Keine Erwach63
I. Außenperspektiven
sene will freiwillig in ein solches Beziehungsmuster zurückkehren: Eine solche Abhängigkeitsbeziehung wäre das genaue Gegenteil der allseits geforderten und gewünschten symmetrischen Beziehung auf Augenhöhe. 2. Die „reife“ Abhängigkeit: Auch der völlig autonome Erwachsene erlebt unweigerlich in gewissem Ausmaß Gefühle der Abhängigkeit, wenn er sich auf eine Liebesbeziehung einlässt: Dann sorge ich mich, ob der/ die Geliebte mich vielleicht verlassen wird (bis hin zur quälenden Trennungsangst). Ich beobachte genau, ob ich ihm/ihr noch „genüge“, ob er/sie mich immer noch attraktiv findet. Im Idealfall einer glücklichen Beziehung, einer erwiderten Liebe sehen wir hier zwei gegenseitige Abhängigkeiten, zwei Erwachsene leben „in der Freiheit gegenseitiger Abhängigkeit“ (Quinodoz, S. 252). Dann – und nur dann – wäre es wieder eine symmetrische Beziehung auf Augenhöhe, die allerdings immer prekär bleibt. Die entscheidende Frage: Wie sehr prägt die in den ersten Jahren erlebte infantile Abhängigkeit unser späteres Erleben von Abhängigkeit? Wie beeinflusst sie den verschieden stark ausgeprägten Wunsch nach Autonomie oder aber nach Sicherheit und Aufgehobensein in einer Beziehung? Denn sowohl intensive Beziehungswünsche als auch Trennungsängste, die Trauer nach dem Verlassenwerden und speziell das Leiden an der Einsamkeit – all das hat nicht nur mit der äußeren, objektiven Realität zu tun, sondern auch mit ihrer subjektiven Verarbeitung in unserem Seelenleben. Dies ist einer der zentralen Punkte der Interdependenz von Phantasie und Realität, Vergangenheit und Gegenwart, von bewusstem und unbewusstem Erleben. In jeder Psychotherapie und Psychoanalyse geht es daher auch um solche Fragen. Sie werden aktiviert und intensi64
Unterschiedliche Arten von Einsamkeit?
viert durch die Übertragungsbeziehung zur Therapeutin. Praktisch alle psychotherapeutischen Schulen postulieren, dass nur eine „Akzeptanz“ im Sinne eines bewussten Erlebens der intensiven und oft auch negativen Gefühle der frühen Abhängigkeit dazu führen kann, dass wir uns im späteren Erwachsenenleben einigermaßen vertrauensvoll auf Liebesbeziehungen und die mit ihnen unvermeidlich verbundenen Abhängigkeiten einlassen können. Wie funktioniert das? In den ersten Monaten des Lebens kann noch kein Baby die Grenze zwischen sich selbst und der Mutter, also zwischen Subjekt und Objekt erkennen und begreifen. Es ist die erste und vielleicht größte Kränkung, die wir in unserem Leben verarbeiten müssen: Dass nämlich die Mutter ein Leben außerhalb von uns hat, jenseits der Sorge um „His Majesty the Baby“ (Freud 1914, S. 157). Sie ist ein unabhängiges Objekt, das nur teilweise dem Willen ihres Neugeborenen unterworfen ist. Erst die Anerkennung dieser verstörenden Tatsache beendet die Illusion der frühkindlichen narzisstischen Omnipotenz. Erst dadurch wird die Trennung zwischen dem Selbst und der Außenwelt, zwischen dem Subjekt und seinen Objekten möglich. Diese schwierige Entwicklungsaufgabe gelingt leichter, wenn das Kleinkind in der Beziehung zu einer verlässlich liebevollen Mutter genügend „abgesättigt“ wurde – wenn es aus dieser Erfahrung Vertrauen entwickeln konnte, dass auch eine gelegentlich abwesende Mutter wieder zurückkommt und ihr Kind nicht wirklich verlässt. Das Warten auf die Wiederkehr der Mutter führt allmählich zur Entwicklung eines inneren Bildes dieser abwesenden Mutter in der Psyche des Kindes. Je mehr positive Beziehungserfahrungen mit der Mutter gespeichert werden, desto eher entspricht dieses innere Bild der Mutter einem guten inneren Objekt. Wenn wir im Verlauf der ersten Jahre unseres 65
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Lebens im Idealfall neben der Mutter noch andere solcher guten inneren Objekte entwickeln können wie einen verlässlich starken Vater, aktivierende Spielkameradinnen oder Geschwister, dann können wir in immer höherem Ausmaß die Funktion der Mutter, die mütterliche Sorge um uns verinnerlichen im Sinne einer Selbstsorge. Das negative Gegenmodell hingegen ist die Unmöglichkeit eines Auswegs aus der ganz frühen Abhängigkeit: Wenn nämlich zu früh zu viel Trennungserleben ertragen werden musste – oder eben noch nicht ertragen werden konnte –, dann bewirkt das eine innere Weigerung, das frühe (phantasierte) Paradies der ungestörten Beziehung zur Mutter zu verlassen: Dann suchen die Betroffenen schlimmstenfalls ein Leben lang nach einer solch perfekten Beziehung, nach der garantierten hundertprozentigen Versorgung. Die aber kann es natürlich im Erwachsenenleben niemals und schon gar nicht lebenslang geben. Die Folgen für diese Menschen sind dann leichte Enttäuschbarkeit, geringe Frustrationstoleranz und vor allem unrealistisch hohe Anforderungen an allfällige Beziehungspartner. Das aber führt die Betroffenen oft in die Einsamkeit, weil sie irgendwann jeglichen Kontakt mit Menschen scheuen und auch schon kurze Begegnungen kaum mehr ertragen. Der Schriftsteller David Foster Wallace, der sein Leben lang trotz seiner Begabung und seines Ruhmes unter der schrecklichen Einsamkeit des Depressiven litt, beschrieb diese Situation am eigenen Beispiel: „Einsame Menschen tendieren dazu, einsam zu sein, weil sie es ablehnen, die psychischen Kosten des Umgangs mit anderen Menschen zu ertragen. Sie sind allergisch auf Menschen.“ (In: Svendsen, S. 48) Kein Wunder, dass sie auch in einer Psychotherapie die Beziehung zur Therapeutin oft als schmerzlich und überfordernd erleben. 66
Unterschiedliche Arten von Einsamkeit?
Vertrauen und Enttäuschung in der Psychotherapie
Fast jeder Patient, der am Anfang einer Therapie seine Lebensgeschichte erzählt und dabei von Gefühlen der Einsamkeit berichtet, beklagt auch ein auslösendes Ereignis. Meist ist eine Beziehungsenttäuschung der Anlass seines Vertrauensverlustes in die Welt. Auch wenn dieses „Beziehungstrauma“ der Zuhörerin nicht sonderlich dramatisch oder schrecklich erscheint, für den Betroffenen hat es dazu geführt, dass sein Blick auf die Menschen als Kolleginnen, Freunde, speziell aber als potenzielle Beziehungspartnerinnen misstrauischer geworden ist: Es fällt ihm schwerer, sich eine glückliche Beziehung in der Zukunft überhaupt vorzustellen. Dadurch aber bleibt er oft allein auch noch lang nach einer Trennung, fühlt sich einsam und gibt schließlich die Hoffnung auf eine neue Beziehung auf. Wenn sich aber eine neue Chance auftut, wenn er jemanden kennenlernt, dann ist er oft schon zu vorsichtig, zu misstrauisch für einen Annäherungsversuch geworden. Er ist geprägt durch die Angst vor neuerlicher Zurückweisung, vor der befürchteten Enttäuschung oder Beschämung. Diese „sicherheitsbetonte“ Zurückhaltung im Umgang mit anderen Menschen prägt natürlich auch die emotionale Beziehung zur Psychotherapeutin: Auch hier fällt es ihm schwer, Vertrauen zu fassen als „Vorschussvertrauen“ – als eine Phantasie über eine mögliche positive Entwicklung dieser Beziehung. Eine solche Rückzugsposition, ein Einigeln in der Opferhaltung ist die unauffälligere Variante von Leid und Beziehungsunfähigkeit im Gegensatz zur „offensiveren“ Variante einer schroffen, verächtlichen Entwertung aller möglichen Beziehungspartnerinnen im Sinne eines „ich brauche niemanden!“. Für solche Menschen ist Vertrauen als eine von ihnen akzeptierte Form der Verletzlichkeit 67
I. Außenperspektiven
unmöglich geworden. Dieses Grundgefühl ist oft langlebig, ändert sich nicht so rasch wie viele andere spontane Affekterlebnisse. Die deutsche Psychoanalytikerin Edith Weigert, die vor den Nazis in die USA fliehen musste, stellte das Vertrauen sogar der Einsamkeit direkt gegenüber: Wir sehen Vertrauen im dialektischen Gegensatz zu dem Schauder der Einsamkeit stehen. […] Jede Enttäuschung wird subjektiv als teilweise Vernichtung erlebt, aber dieser Kummer wird gelindert in zwischenmenschlichen Beziehungen, die Erfüllung versprechen. Aufschub der Erfüllung kann ertragen werden, wenn Hoffnung und Vertrauen da sind. Aber Glaube und Hoffnung können Illusionen werden für den einsamen Menschen, der verlassen bleibt. (Weigert, S. 539)
Andere Analytikerinnen haben das Vertrauen auch als Gegenposition zur Angst skizziert: „Der wahre Gegenspieler der Angst ist nicht der Mut, sondern das Vertrauen. Vertrauen zu sich selbst, zu den Mitmenschen und in die eigentlich tragenden Kräfte des Lebens.“ (Ursula Seemannde Boor, in: Küchenhoff S. 93) Wir sehen also, dass die Unmöglichkeit des Vertrauens sowohl die Beziehung zu sich selbst als auch zu den Objekten, ja die gesamte Beziehung des Selbst zur äußeren Welt beeinträchtigt. Meist ist bei solchen Patienten auch das Gefühl der Selbstwirksamkeit deutlich eingeschränkt: Sie können sich nicht mehr vorstellen, dass sie selbst aktiv ihre leidvolle Einsamkeit beenden können: Entweder sie versinken in Resignation oder aber sie hoffen nur mehr auf Rettung/ Erlösung durch die Eine, die ihre Bedürftigkeit, aber auch ihren Wert erkennt und sie aus dem Eispalast der Einsamkeit herausführen wird. Derlei Idealisierungen und die 68
Unterschiedliche Arten von Einsamkeit?
unweigerlich darauffolgenden Entwertungen prägen dann fast immer auch das Übertragungs-/Gegenübertragungsklima in der Psychotherapie. Im günstigen umgekehrten Fall eines immer schon ausreichenden Urvertrauens aufgrund einer liebevollen Erziehung wird dieses basale frühkindliche Beziehungsvertrauen zur Grundlage einer Selbstsicherheit, die die gesamte zukünftige Wahrnehmung und auch das Denken prägt: Aus diesem frühen Vertrauen, das einmal von anderen kam und dadurch viel leichter zu ihnen zurückfließt, entwickelt sich das, was Peter Fonagy „epistemisches Vertrauen“ nennt. Er versteht darunter ein Vertrauen in die Richtigkeit und Zuverlässigkeit der eigenen Wahrnehmung, die ihre Wurzeln im Vertrauen in eine prinzipiell wohlwollende Umwelt hat. Der pathologische Gegensatz dazu: Wenn das Vertrauen in die Objekte verlorengeht und dieser Verlust auch das Verhältnis zur gesamten Welt erschüttert, dann verliert der Patient schlimmstenfalls auch das Vertrauen in die eigenen Wahrnehmungen und Gedanken. Spätestens dann aber muss er auch als psychisch krank, ja schlimmstenfalls als psychotisch bezeichnet werden. Idealerweise ist Vertrauen ein wechselseitiges Geschenk in Beziehungen: „Wir vertrauen denen, die uns vertrauen, und wir vertrauen ihnen, indem wir auf Vertrauen, das in uns gesetzt wird, mit Vertrauen antworten.“ (Dalferth 2013, in: Küchenhoff S. 95) Vertrauen hat immer auch eine Zeitstruktur: Es ist auf die Zukunft hin ausgerichtet. Eigentlich ist es immer ein „Vorschussvertrauen“, eine Wette auf die Zukunft: Ich kann mir zwar nicht sicher sein, ob der, dem ich vertraue, dieses Vertrauen auch noch in der Zukunft verdienen wird, ich weiß auch, dass ich mich nicht unbedingt darauf verlassen kann – aber ich kann die in diesem Vertrauens69
I. Außenperspektiven
verhältnis unvermeidliche Verletzlichkeit akzeptieren und dadurch einen Beziehungsversuch wagen. Denn wir versuchen zwar alle, Beziehungen berechenbarer zu machen, also auch einem Vertrauensverlust vorzubeugen – aber das ist bestenfalls begrenzt möglich. Schlimmstenfalls kann man die „Absicherungsmaßnahmen“ so weit ausdehnen, dass man damit mehr verliert als gewinnt. Ein eindrückliches Beispiel dafür ist das Symptom der krankhaften Eifersucht. Oft kann Vertrauen gefestigt werden durch eine „Triangulierung“ von Beziehungen, also durch die gemeinsame Ausrichtung von zwei oder mehreren Menschen auf eine dritte Instanz. Dadurch kann ein gestörtes oder verlorenes Vertrauensverhältnis zwischen Beziehungspartnerinnen leichter wieder aufgebaut werden auf Grundlage einer gemeinsamen Aufgabe. Dieser Mechanismus scheint mir auch für Freundschaftsbeziehungen oder das Basisvertrauen zu Arbeitskollegen wichtig zu sein. Vertrauen in Beziehungen ist prinzipiell niemals garantiert, muss immer wieder hergestellt werden, bleibt ein Geschenk und lässt sich nur begrenzt absichern. Auch in der therapeutischen Beziehung muss Vertrauen ein idealerweise wechselseitiges Geschenk bleiben. Einladen zu diesem Geschenk sollte die Therapeutin, der es hoffentlich aufgrund sowohl ihrer Ausbildung als auch ihrer psychischen Stabilität leichter fallen wird als dem Patienten. Worauf aber vertraut der Patient, der trotz einer misstrauischen Grundhaltung nach Beziehungsenttäuschungen eine Therapie beginnt? Joachim Küchenhoff unterscheidet hier a) die Hoffnung durch das Geschenk des Vertrauens, b) die Utopie des Vertrauens durch die Idealisierung der Therapeutin, die Absicherung des Vertrauens durch das psychothera70
Exklusion – die soziale Komponente der Einsamkeit?
peutische Setting und dessen verlässliche Strukturen und nicht zuletzt c) die Erfahrung des zerstörbaren, aber auch wiedergewinnbaren Vertrauens im Rahmen eines therapeutischen Prozesses. Nach erfolgreicher Psychotherapie können wir hoffen, dass die Patienten mit mehr (Selbst-)Vertrauen innere und äußere einsamkeitserzeugende Faktoren besser differenzieren können und sich dadurch leichter aus ihren Positionen sozialer Exklusion oder eben Selbstexklusion befreien können.
Exklusion – die soziale Komponente der Einsamkeit?
In der Soziologie steht der Begriff der Exklusion oder des sozialen Ausschlusses als Synonym für „exogen verursachte Einsamkeit“. Soziale Exklusion hat die Sozialwissenschaften in den letzten zwanzig Jahren beschäftigt, ja beschäftigen müssen, weil dieses Schicksal immer mehr Menschen auch in den reichen westlichen Ländern traf: Nach der formal-trockenen Definition der Kommission und des Rates der EU handelt es sich bei sozialer Ausgrenzung um einen „Prozess, durch den bestimmte Personen an den Rand der Gesellschaft gedrängt und durch ihre Armut bzw. wegen unzureichender Grundfertigkeiten oder fehlender Angebote für lebenslanges Lernen oder aber infolge von Diskriminierung an der vollwertigen Teilhabe gehindert werden“. (Gemeinsamer Bericht der Kommission und des Rates über die soziale Eingliederung 2004.) Im Alltag denken wir bei Exklusion meist an die nach massiven ökonomischen Umwälzungen „Zurückgelassenen“: Es sind jene, die „übrigbleiben, wenn die Arbeit verschwindet“ (William Julius Wilson, in: Bude, S. 30). Wir sehen sie in den melancholischen Bildern aus den 71
I. Außenperspektiven
Industrieruinen von Detroit, Nordengland oder dem Ruhrgebiet. Man denkt an ältere, abgerackerte Männer, deren körperlich anstrengende Arbeit heute nicht mehr gebraucht wird. Sie sitzen isoliert und verbittert daheim, oft verarmt und auch in ihrem Selbstbild, ihrem Selbstwert erschüttert. Sie sind die Entkoppelten und Abgehängten, das untere Drittel neben den „Prekären“ in der Mitte und den „Integrierten“ als oberes Drittel von Robert Castels Drei-Zonen-Modell (vgl. Bude, S. 32). Sie sind am Arbeitsmarkt auch bei maximaler Motivation und trotz aller Reintegrationsprogramme nicht mehr vermittelbar. Diesen Begriff des „nicht mehr vermittelbaren“ Mannes allerdings kann man auch auf das Elend der dauerhaft alleingebliebenen Single-Männer beziehen, die als Folge des gnadenlosen „emotionalen Kapitalismus“ (laut Eva Illouz) in ihrem Umfeld wenig Chancen haben, eine nach ihrer eigenen Einschätzung adäquate Partnerin zu finden. Im Internet finden sie oft noch Frauen aus Thailand oder der Ukraine, denen sie in ihrer vergleichbar besseren ökonomischen Lage noch „etwas bieten“ können, für die sie noch attraktiv sind. Für die völlig Vereinsamten oder Verschüchterten unter diesen Männern bietet die Industrie bereits teure „lebensechte“ Sex-Puppen an. In den Feldern von Arbeit und Partnerschaft ordnet sich der soziale Raum nach zwei Dimensionen: Der vertikalen Ebene einer sozialen Stufenleiter bzw. des sozio-ökonomischen Status als „objektiver“ Ebene entspricht eine horizontale, vorwiegend subjektive Ebene der Fühlung mit dem sozialen Wandel. So fühlen sich auch sozial gut integrierte ältere Menschen oft massiv verunsichert und beschämt allein durch ihre mangelnde PC-Kompetenz. Ebenso wie zwischen der objektiv messbaren Häufigkeit der Sozialkontakte und dem subjektiven Gefühl von Einsamkeit überraschend wenig Korrelation besteht, so ist 72
Exklusion – die soziale Komponente der Einsamkeit?
auch der Zusammenhang zwischen der realen Gefährdung durch die sozio-ökonomische Situation und dem subjektiven Empfinden des gesellschaftlichen Ausschlusses verblüffend gering. Denn diese subjektive Einschätzung ist hochgradig abhängig von den individuellen Vorstellungen, Ängsten und Erwartungen an die Zukunft, von den Überzeugungen einer persönlichen Selbstwirksamkeit etc. Laut Heinz Bude beschrieben bei einer deutschen Umfrage z. B. 18 % sozial völlig abgesicherter Menschen ihre Lebenslage als ein „soziales Abseits“, während in der Gruppe der „Prekären“ immerhin ein Drittel sich nicht gesellschaftlich abgeschrieben fühlt. Diese Menschen erleben sich zwar sehr wohl als benachteiligt, nicht aber als sozial ausgeschlossen. Die Risikofaktoren für soziale Exklusion am Arbeitsmarkt oder bei der Partnersuche scheinen weitgehend ident zu sein. Sie stimmen auch überein mit jenen Faktoren, die schon länger als Risikofaktoren für Einsamkeit bekannt sind: • Armut • höheres Alter • massive Trauma-Erfahrungen • Alkohol- oder Drogenmissbrauch • chronische Krankheiten/chronische Schmerzen • psychische Krankheiten All diese Faktoren erhöhen das Einsamkeitsrisiko, sie liegen oft kombiniert als Risiko-Cluster vor. Wenn die Biografie eines Menschen von solchen Faktoren geprägt ist und seine Chancen dadurch massiv reduziert sind, dann muss ein Individuum schon sehr resilient sein, um sich nicht auch als sozial ausgeschlossen zu erleben, um nicht zu vereinsamen. 73
I. Außenperspektiven
Soziale Isolierung
Dieser Begriff steht für mich zwischen der subjektiv gefühlten Einsamkeit und der sozialen Exklusion. (Siehe für die folgenden Ausführungen vor allem Jakob Simmank Einsamkeit. Warum wir aus einem Gefühl keine Krankheit machen sollten, 2020.) Soziale Isolierung ist seit vielen Jahren ein Leitthema der Sozialmedizin und Sozialpsychiatrie, weil sie nach allen verfügbaren Daten als soziale Determinante psychischer und somatischer Gesundheit gilt. Isolierung meint hier den Prozess, während Isolation für das negative Resultat dieses Prozesses steht. Die Verwendung des Begriffes aber war bis vor ca. zehn Jahren beschränkt auf Fachdiskurse zwischen Pu blic Health und Sozialpolitik. Dann kam die rasche, fast explosionsartige Verbreitung der Schlagzeilen über zunehmende Einsamkeit und die Angst vor der loneliness epidemic: Spätestens seit dem TED-Talk von John Cacioppo The Lethality of Loneliness 2013 mit seinem griffigen Vergleich der Gesundheitsrisken „wissen“ fast alle: Schwere Fettleibigkeit erhöht die Wahrscheinlichkeit eines vorzeitigen Todes um 20 %, Alkoholmissbrauch um 30 % – Einsamkeit aber um 45 %. Es war nur konsequent, dass solch alarmierende Ergebnisse der Sozialpsychologie bald zu einem Aufruf zum „Krieg gegen die Einsamkeit“ führten (in: New York Times, 09.11.2019) oder zur Ernennung einer Staatssekretärin für bzw. gegen die Einsamkeit in Großbritannien: „A national mission to end loneliness“, verkündete die damalige Premierministerin Theresa May. Durch diese Emotionalisierung und Individualisierung, durch dieses Reframing des sozialen Problems der 74
Exklusion – die soziale Komponente der Einsamkeit?
sozialen Isolierung als neuer „Volkskrankheit Einsamkeit“ war es nur konsequent, dass primär individuelle Hilfen empfohlen wurden: Psychotherapie, Ratgeberliteratur – nicht aber sozialpolitische Maßnahmen z. B. zur Reduktion sozialer Ungleichheiten. So konnte sich auch eine konservative englische Regierung den Kampf gegen eben jene Einsamkeit an ihre Fahnen heften, die sie in den Jahren davor durch ihre Sparmaßnahmen selbst geschaffen bzw. intensiviert hatte: Nämlich die Einsamkeit der Alten speziell in den ländlichen Regionen durch Reduktion der öffentlichen Verkehrsangebote und der psychosozialen Versorgung ebenso wie das gestiegene Einsamkeitsrisiko der jungen Pendlerinnen und prekär Beschäftigten: Die fanden Arbeit nur mehr in den urbanen Zentren, wo aber wiederum die Mieten für sie unerschwinglich waren. Tägliche stundenlange Fahrten von und zum Arbeitsplatz aber bedeuten weniger Zeit und Energie für jegliches Sozialleben. Zusätzlich war die gesamte englische Bevölkerung betroffen durch die massiven Budgetkürzungen beim NHS (National Health Service). Im neoliberalen Meinungsklima wurde es für die Betroffenen noch dazu schwieriger, die Scham über ihre vermeintlich selbstverschuldete Einsamkeit zu überwinden und sich Hilfe zu suchen. Wie bei so vielen psychischen und physischen komplexen gesundheitlichen Problemen ist die Frage nach der Verantwortung, ist das gegeneinander Aufrechnen von subjektiven und „objektiven“ bzw. strukturellen Ursachen aber auch hier schwierig und nur begrenzt sinnvoll: Zwar steht fest, dass die negative Emotion, die leidvoll erlebte Einsamkeit nicht nur und auch nicht primär von der Anzahl der Sozialkontakte abhängt, die absolute Priorisierung von John Cacioppo 2008 (in: Simmank, S. 47) 75
I. Außenperspektiven
aber ist auch nicht haltbar: Er schreibt, dass „einzig das subjektive Gefühl der Einsamkeit und nicht der Mangel an objektiver sozialer Unterstützung die depressiven Symptome, chronischen Krankheiten und erhöhten Blutdruck voraussagten“. Seit seinem Befund gibt es viele neuere Daten zu diesem Problemkomplex und eine beeindruckende Übersichtsarbeit von Julianne Holt-Lunstad. (Holt-Lunstadt et al., 2015) Sie sichtete mehr als tausend Studien und versuchte den Zusammenhang zwischen subjektiv negativ erlebter Einsamkeit und objektiv messbarer sozialer Unterstützung bzw. Dichte des sozialen Netzes zu präzisieren: Was macht kränker – das subjektive Gefühl der Einsamkeit oder die objektive soziale Isolierung und mangelnde soziale Unterstützung? Laut Holt-Lunstad wirkt sich die Qualität des sozialen Netzes der Menschen und das Ausmaß der sozialen Unterstützung stärker auf deren Gesundheit aus als ihre gefühlte Einsamkeit. Soziale Isolierung hatte den stärksten Einfluss auf die Sterblichkeit der Menschen, das Risiko von HerzKreislauf-Erkrankungen etc. Dieser Befund wurde weit seltener zitiert als Cacioppos Thesen – weil er auch die Politik in die Pflicht genommen hätte. Soziale Isolierung kann nur durch politische Maßnahmen bekämpft werden und nicht durch eine noch so gute Therapie. Wenn aber im Rahmen von Austerität und Sparpolitik gerade an jenen öffentlichen Gütern gespart werden soll oder angeblich muss, die den Menschen Teilhabe erlauben und sie aus der Vereinsamung holen wie Pflegeprogramme für Ältere, Unterstützung für arme und kinderreiche Familien etc., aber auch öffentlichen Nahverkehr inklusive guter Straßenbeleuchtung – dann ist die Versuchung für „sparsame“ politische Entscheidungsträger groß, die „subjektive Seite“ der angeblichen Einsamkeits76
Exklusion – die soziale Komponente der Einsamkeit?
epidemie zu betonen. Nur logisch also, dass Stephanie Cacioppo (Witwe und langjährige Forschungspartnerin ihres verstorbenen Mannes John) bereits 2013 ein Medikament gegen Einsamkeit propagierte: Pregnenolon (ein SteroidHormon ähnlich dem Progesteron) sollte das Alarmsystem in der Psyche einsamer Menschen dämpfen. Es sollte diesen Menschen ihre Angst vor sozialen Situationen nehmen und sie dadurch wieder in die Gemeinschaft zurückführen. Klinische Studien in den USA allerdings lieferten bisher keine überzeugenden Resultate. (Simmank, S. 58 f.) Im Gegensatz dazu gibt es bereits seit fünfzig Jahren Belege dafür, dass speziell „schwache Bindungen“, also Bekanntschaften und nicht enge Freundschaften oder Liebesbeziehungen für die soziale Integration in eine Gemeinschaft extrem wichtig sind: Der klassische Text dazu The Strength of Weak Ties von Mark Granovetter erschien bereits 1973: Granovetter geht davon aus, dass starke Bindungen eng geknüpfte Netzwerke (close knit networks) hervorbringen: Wenn Person A sowohl zu B als auch zu C jeweils eine starke Bindung aufbaut, dann werden mit ziemlicher Sicherheit auch B und C eine relativ enge Bindung haben (weil man davon ausgehen kann, dass A, B und C sehr viele Eigenschaften und Interessen teilen). Das führt zum Gefühl der Zugehörigkeit in kleinen Gruppen. Es ist aber weniger wirksam bei der Organisation größerer Gruppen, Netzwerke oder Communities. Im Gegensatz dazu aber können die weak ties, also weniger starke Bindungen wie jene zu Arbeitskollegen oder Bekannten, mit denen wir nur ein einziges Interesse teilen, so etwas wie „Brückenbauerfunktion“ haben: Wenn unsere Freundinnen einander nicht kennen, wenn unsere Person die einzige „Brücke“ zwischen den verschiedenen Mikronetzwerken oder Freundeskreisen darstellt, dann 77
I. Außenperspektiven
bedeutet das für uns netzwerkmäßig Chancen auf viele Informationen und dadurch sogar neue berufliche Optionen. Granovetter berichtet, dass Menschen knapp nach einem Jobwechsel befragt wurden, wer oder was ausschlaggebend gewesen sei für ihre erfolgreiche Bewerbung: Viele führten als entscheidende Information eben einen solchen weak tie an, in diesem Fall waren es Menschen, die sie nur selten oder nur im Job-Kontext trafen. Die engeren Arbeitskolleginnen oder Freunde hingegen bewegten sich in den gleichen sozialen Kreisen wie sie selbst und hatten daher selten Zugang zu neuen Informationsquellen. Daher Granovetters Fazit: „Schwache Bindungen, die oft als Ursache von Entfremdung bezeichnet werden, sehen wir als unverzichtbar für persönliche Gelegenheiten und für die Integration in Gemeinschaften.“ (Granovetter, S. 1378) Jenseits aller berechtigten Kritik an diesen Entwicklungen der Individualisierung und Medikalisierung eines sozialen Problems bleibt die unbequeme Frage: Was kann man realistischerweise der Sozialpolitik empfehlen? Wahrscheinlich werden oft Mikro-Interventionen und „kleine“ lokale Ansätze besser funktionieren als große nationale Aufrufe und Kampagnen. Beispiele dafür gibt es bei genauerem Hinsehen schon genug. Die Freundschaftsbank – eine erfolgreiche Mikro-Intervention In New York stehen viele orangefarbene Plastikbänke an den Straßen als „Erste-Hilfe-Stationen für die Seele“. Die Friend ship Bench ist ein Service des New Yorker Gesundheitsamtes. Die Zuhörer sind keine Therapeutinnen oder Psychiater, sondern Frauen und Männer, die in einem mehrwöchigen Training gelernt haben, emotionale Unterstützung zu leisten. Die Idee hat Mary Bassett vom Gesundheitsamt aus Zimbabwe mitgebracht: Dort hatte der Psychiater Dixon Chibanda 78
Exklusion – die soziale Komponente der Einsamkeit?
2005 versucht, das kollektive Trauma einer Gesellschaft nach den brutalen Säuberungsaktionen des Mugabe-Regimes zu lindern: Da es weder Geld noch Therapeutinnen gab, ging Chibanda auf die „Hüterinnen der Gesundheit“ zu: Das ist eine Gruppe von Großmüttern, die schon in den Achtzigern Tbc- und HIV-Patienten unterstützten. Diese Großmütter würden – so Chibanda – über Lebenserfahrung verfügen und auch geduldig zuhören können und eher als Therapeutinnen die Sprache ihrer „Patienten“ sprechen (in Zimbabwe wird Depression umschrieben mit „zu viel denken“.) Da es in den überfüllten Krankenhäusern von Harare keine Räume gab, fanden die Gespräche auf Vorschlag der Großmütter auf einer Friendship Bench im Schatten eines Baobabs statt. 2016 erschien im Journal of the American Medical Association eine randomisierte klinische Studie, die den Großmüttern eine höhere Erfolgsquote bescheinigte als der ärmlichen psychiatrischen Standardversorgung in Zimbabwe. Daraufhin übernahmen Sansibar, Malawi und einige karibische Staaten das Konzept der Friendship Bench – und schließlich auch New York. Die Helfer arbeiten nicht ehrenamtlich, sie werden vom Gesundheitsamt bezahlt und können auch auf Fachleute zurückgreifen. Seit dem Start des Programms 2017 wurden 80.000 Begegnungen von mehr als zehn Minuten registriert, 20 % davon führen zu längeren/wiederholten Gesprächen. Die Hilfsbedürftigen bleiben anonym. In der Corona-Pandemie haben die Teams ihre Arbeit ganz auf Chats und Telefonate verlagert. (Zeit vom 29.04.2021)
• Weltweit empfehlen die Expertinnen, (wieder) Begegnungsorte wie eben die Freundschaftsbänke zu schaffen, die für möglichst alle gratis zugänglich sein sollen. Dafür engagiert sich in Deutschland z. B. die Initiative des Forum Neuro-Urbanistik um den Psychiater Mazda Adli von der Charité Berlin: • „Wir brauchen öffentliche Räume – Plätze, Parks, Bürgersteige, die nicht nur Transitzonen, sondern Verweil79
I. Außenperspektiven
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zonen sind. Sie wirken sozialer Isolation direkt entgegen. […] Entscheidend ist, dass wir dafür sorgen, dass der Zugang allen ohne große Hürden möglich ist.“ (In: Simmank, S. 87) „Ohne allzu große Hürden“ bedeutet auch: Ohne Konsumationszwang in solchen öffentlichen Räumen. Ebenso wichtig ist auch eine Entstigmatisierung des Themas Einsamkeit/soziale Isolation: Dies gilt sowohl für Alte als auch für Junge, speziell aber für alle durch psychische oder körperliche Probleme oder Erkrankungen Vereinsamten: Simmank weist darauf hin, dass 83 % der schwerbehinderten alten Menschen in Deutschland mit weniger als 1000 € Rente pro Monat auskommen müssen. Das führt wohl nicht gerade zur Erleichterung der sozialen Teilhabe. Wir sehen also, dass Überlegungen zum Zusammenhang von Einsamkeit und sozialer Situation sehr schnell zu grundlegenden Fragen der psychischen Gesundheit und auch der sozialen Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft führen. Aufwertung von Care-Arbeit oder: Woran wollen wir in Zukunft den Status einer Person bemessen? Zu dieser Frage sind die Whitehall-Studien und der Begriff des „Status-Syndroms“ (nach M. Marmot) klassisch geworden: Der gesellschaftliche Status von Menschen hat einen immensen Einfluss auf ihre Gesundheit, wobei nach Marmot der Status mit zwei fundamentalen menschlichen Bedürfnissen zusammenhängt, nämlich 1. mit dem Bedürfnis, Kontrolle über sein eigenes Leben zu haben (Gefühl der Selbstwirksamkeit) und 2. mit dem Gefühl, ein anerkanntes und geschätztes Mitglied der Gesellschaft zu sein. Wer wenig Kontrolle über seine Lebensumstände hat und
Exklusion – die soziale Komponente der Einsamkeit?
wenig Anerkennung erfährt, weil er in der Hierarchie unten steht – der lebt laut Marmot im Dauerstress. Chronischer Stress aber macht krank und dadurch einsam – oder auch umgekehrt. Jedenfalls steht fest, dass sowohl viele psychisch Kranke als auch die allermeisten einsamen Menschen deutlich erhöhte Blutspiegel des Stresshormons Cortisol aufweisen.
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II. Zwischen Außen und Innen: Einsamkeit und Identitätskonstruktion
Die Kulturgeschichte der Einsamkeit im Schnelldurchlauf
Die Abneigung, die Angst des Menschen vor dem Alleinsein hat schon Jahrtausende vor der biblischen Feststellung aus der Genesis „es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei“ begonnen: Für diese Sehnsucht nach Gemeinschaft und Nähe gibt es sowohl entwicklungspsychologische als auch evolutionäre Gründe: • Das Überleben des Homo sapiens und die Erfolgsgeschichte ausgerechnet dieses weder besonders starken noch besonders geschickten Primaten war nur möglich durch unsere Fähigkeit zum sozialen Lernen, zur Kooperation: Angeblich war der Neandertaler zumindest bezüglich Hirngröße dem Homo sapiens sogar überlegen – aber aufgrund der Fähigkeit zum kollektiven Lernen und Handeln setzten sich unsere Vorfahren durch: Seinen Erfolg in der evolutionären Systemkonkurrenz gegenüber anderen Primaten verdankt unser Vorfahr vor allem seiner Fähigkeit zum kooperativen Jagen in Gruppen: Das können zwar in Ansätzen auch andere Tiere, die Menschen aber haben diese Arbeitsteilung schon früh in der Evolution intensiviert. Bereits kleine Kinder können das: Beim Vergleich der kogniti83
II. Zwischen Außen und Innen
ven Leistungen von zweieinhalbjährigen Kindern mit jungen Schimpansen zeigten sich kaum Unterschiede – mit einer Ausnahme: Signifikant besser waren die Menschenkinder in ihrer Bereitschaft und Fähigkeit zur Kooperation. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass ein alleinlebender Mensch in der Frühgeschichte deutlich geringere Überlebenschancen hatte. Daher auch schon in der Bibel die Warnung: „Weh dem, der allein ist. Wenn er fällt, so ist kein anderer da, der ihm aufhilft.“ (Prediger 4,10) Dies dürfte einer der Gründe dafür sein, dass unsere Sehnsucht nach Gemeinschaft und Gruppenzugehörigkeit tief im Stammhirn gespeichert ist. Die Rolle des Einzelgängers, des alleinlebenden „weisen Mannes“ oder der starken Einsiedlerin gab es in prähistorischen Zeiten wohl noch nicht. • Parallel zu diesen evolutionären Spuren gibt es in der Frühgeschichte jedes einzelnen Menschen bewusst nicht zugängliche, jedoch im Körpergedächtnis gespeicherte Erinnerungen an die panische Angst des hilflosen Neugeborenen vor dem Verlassenwerden. Als „physiologische Frühgeburt“ ist auch ein starkes und intelligentes Baby rettungslos verloren ohne seine erwachsenen Versorger, ohne jahrelange Ernährung und Betreuung durch die Eltern. Es gibt also in unser aller Stammesgeschichte und parallel dazu noch individuell auf Ebene der Entwicklungspsychologie gute Gründe für die Präferenz fast aller Menschen für ein Leben in Beziehungen – und damit auch für die Angst der meisten Menschen vor der Einsamkeit. Vor diesem Hintergrund kann man die Kulturgeschichte der letzten dreitausend Jahre laut Maitland auch als Pendelbewegung zwischen verschiedenen Optionen eines „guten Lebens“ begreifen: Dabei ist in verschiedenen 84
Die Kulturgeschichte der Einsamkeit im Schnelldurchlauf
Epochen die Einstellung der Eliten, der Intellektuellen zur Frage des Alleinseins immer ein Schlüsselfaktor zum Verständnis gesellschaftlicher und individueller Identität in der jeweiligen Ära.6 Die Fähigkeit und die Bereitschaft zum Alleinsein wurden abwechselnd empfohlen oder aber verdammt: In der griechischen Antike war das Idealbild eines gelungenen Lebens der politisch und sozial aktive Bewohner der Polis: Dieser hatte in seiner Heimatstadt das Bürgerrecht (allerdings nur als Mann; Frauen, Sklaven oder Stadtfremde waren exkludiert). In Athen oder auch in Sparta wurde die aktive Teilnahme der Männer am politischen Leben der Gemeinschaft empfohlen und im Idealfall für die Eliten auch der philosophische Gedankenaustausch in einer Gruppe von Gleichgesinnten. Die zentralen Rituale der Stadtgemeinschaft waren Kollektiv-Veranstaltungen – sei es das Opfer für die Stadtgötter im Tempel oder die Aufführung der Tragödie im Amphitheater. Nur wenige freie Männer konnten es sich erlauben, von diesem empfohlenen Ideal abzuweichen: Sei es als belächelter oder misstrauisch betrachteter Außenseiter oder in Einzelfällen als „weiser Mann“. Einer der ersten dieser bewusst und freiwillig isoliert lebenden Weisen war angeblich Pythagoras. In Rom übernahm die politische Elite sowohl in der Zeit der Republik als auch später in der Kaiserzeit diese Präferenz der Griechen für den sozial aktiven Bürger: Ein geachteter Mann musste in Rom ein politisches Amt zumindest anstreben. Der Dienst an der Gemeinschaft galt als höchste Bürgertugend. 6 Im Gegensatz dazu kennen wir vom Schicksal der „einfachen Menschen“ in der Antike oder im Mittelalter nur wenige Zeugnisse: In Armut und beengten Wohnverhältnissen werden sie wohl andere Probleme gehabt haben als die Einsamkeit. 85
II. Zwischen Außen und Innen
Allerdings gab es für den philosophisch gebildeten und vermögenden Römer der Kaiserzeit auch eine philosophische Traditionslinie, die ein zurückgezogenes oder sogar einsames Leben empfahl: In der stoischen Tradition (bis heute präsent und in den letzten Jahren wieder popularisiert am Beispiel des „Philosophenkaisers“ Marcus Aurelius) war das Ideal die „Ataraxia“. Einen solchen Zustand der innerlichen seelischen Unerschütterlichkeit und dadurch gesicherten Autonomie konnte der Philosoph nur durch konsequenten Rückzug vom politischen Leben und von jedem Streben des politischen Ehrgeizes und der Lust erreichen – am besten also im ruhigen Landhaus. Auf dieser Höhe der Selbstkontrolle konnte man sich dann auch in der Öffentlichkeit „einsam machen“. Dadurch war es möglich, in einem solchen inneren Rückzug konzentriert zu arbeiten auch im Trubel der Stadt oder des Feldlagers: So berichtet Cicero vom berühmten Heerführer Scipio Africanus, dass dieser sich angeblich am wenigsten einsam fühlte, wenn er allein war. Er konnte sich also im Feldherrenzelt oder in der Senatssitzung sichtlich erfolgreich abkapseln. Diese an sich säkulare Tradition der Stoa konnte nach dem Aufstieg des Christentums relativ leicht mit dem neuen Ideal eines gottgefälligen Lebens vereint werden: Das Streben nach ehrenvollen öffentlichen Ämtern geriet jetzt völlig in den Hintergrund, vielmehr konzentrierten sich die Christen der ersten Jahrhunderte auf ihre Beziehung zu Gott und ihr Leben in der engen Glaubensgemeinschaft. Manche Historikerinnen beschrieben dies als einen Kampf der Kulturen zwischen den zurückgezogenen, innengeleiteten Frühchristen und den gemeinschaftsorientierten, öffentlichkeitsfreudigen römischen Bürgern. Spätestens aber mit dem Aufstieg des Christentums zur Staatsreligion unter Kaiser Konstantin war der Kampf 86
Die Kulturgeschichte der Einsamkeit im Schnelldurchlauf
zwischen der „heidnischen Welt“ und dem neuen Glauben entschieden – was seit Gibbon viele Historiker auch als Anfang vom Ende der Antike bzw. als Hauptursache für den Untergang des Römischen Reiches beschrieben. Allerdings siegte das christliche Wertemodell gerade durch die Relativierung seiner Zentraltugenden von Innerlichkeit und Zurückgezogenheit: Einmal an die Macht gekommen, akzeptierten die Christen sehr wohl weltliche Werte und engagierten sich massiv in den Machtkämpfen der Politik, führten auch Feldzüge gegen die „Ungläubigen“ und praktizierten sogar Sklaverei. Die Theologen aber betonten den Gegensatz zwischen dem „Gottesstaat“ und dem „Teufelsstaat“ der römischen Cäsaren (so noch bei Augustinus). Zur Aufrechterhaltung dieser Balance zwischen Innerlichkeit und sozialem Leben brauchten die Christen Vorbilder: Solche nachahmenswerten Modelle fanden sie in den Heiligen, von denen viele als Einsiedler lebten und das „Wagnis der Wüste“ (nach P. Brown, 1989) eingingen: Diese Eremiten oder Wüstenbewohner formten erst das Bild des Mönches für spätere christliche Epochen. Das Adjektiv monachós (einzeln, alleinlebend) führt zum Substantiv monachós, der Einsiedler oder Mönch. Nach Einschätzung des Historikers Peter Brown „beruht das Ansehen des Mönches darauf, dass er der ‚Einsame‘ war“. (1989, S. 275) Denn durch diese Einsamkeit „hat der Mönch, der Einsame, die Ahnung der ursprünglichen Majestät des Menschen zurückerobert“ (1989, S. 276). Allerdings war dieser Einzelkampf gegen den Teufel in der Einöde auch hochriskant: Viele Eremiten scheiterten und erlagen der gefürchteten und als Todsünde verdammten Acedia: Im Gegensatz zum bewunderten Einsiedler Antonius, dessen Kampf mit seinen inneren Dämonen unzählige Künstler inspiriert hat, erlagen sie der Erschlaffung der Seele, der Depression und dem schrecklichen Gefühl 87
II. Zwischen Außen und Innen
des Versagens in der Gottesferne. Der Psychoanalytiker und evangelische Theologe Hermann Beland beschrieb diese Acedia als „Sinnlosigkeitsdepression“ und verglich sie mit dem Konzept des Burnouts. (Beland, 2020) Der erfolgreiche Einsiedler als zurückgezogener Asket aber blieb ein Modell christlicher Tugend bis weit ins Mittelalter hinein. Allerdings gab es Ausweitungen bzw. Aufweichungen dieses Einsamkeitskonzeptes wie z. B. den Versuch, auch innerhalb eines Klosters oder gar in der Familie ganz allein zu leben: Katharina von Siena sprach in diesem Zusammenhang von den „zwei Zellen“, nämlich der Klosterzelle und der spirituellen Zelle der Einsamkeit allein mit Gott. Zentral aber blieb die Bewunderung der Gläubigen für den einsamen Mönch, der über viele Jahre auf soziale Kontakte zu Menschen verzichtete, um sich ganz der Beziehung zu Gott zu widmen: Laut Georges Duby war für die Gläubigen im Mittelalter „der höhere Grad an Vollkommenheit nur in der Einsamkeit zu erreichen“. (Duby, 1990, S. 478) Die historische Figur der Anchoress Eines der frühesten Bücher einer Frau im englischen Sprachraum schrieb im 14. Jahrhundert Juliana von Norwich. Sie war eine mittelalterliche Mystikerin, deren Revelations of Divine Love heute kaum jemand liest, deren Leitspruch aber sogar auf T-Shirts auftaucht: „All shall be well and all shall be well and all manner of things shall be well.“ Juliana war nur die bekannteste von vielen Einsiedlerinnen des mittelalterlichen England: Vom 13. bis zum 15. Jahrhundert gab es angeblich (es existieren nur Schätzungen) durchgehend mehr als zweihundert Anchoresses: In der Tradition der Hl. Maria Aegyptiaca und der Wüstenväter führten sie das Leben von Einsiedlerinnen in einer wahrlich extremen Form: Diese Frauen ließen sich in einer Zelle in der Kirchenwand lebendig einmauern. Sie waren lebendig begraben, es 88
Die Kulturgeschichte der Einsamkeit im Schnelldurchlauf
wurde für sie auch die Totenmesse gelesen – aber dieser fast absolute soziale Tod sollte ihnen die sichere Aufnahme ins ewige Leben und in den Himmel garantieren, sie empfanden sich als „living with the angels“. (Vgl. Alberti, 2019) Es war gar nicht so leicht, eingemauert zu werden: Man benötigte sowohl die Genehmigung des örtlichen Bischofs als auch genügend Geldmittel für zumindest eine Bedienstete, die zuständig war für die Versorgung mit Nahrung und den Abtransport des Nachttopfs. Die Zelle hatte nur zwei ganz kleine Fenster Richtung Kirche als „Gesprächsschlitz“ für die seltenen Besucher und ein drittes Fensterchen für Nahrung und Abtransport. Es gab sogar ein Handbuch für diese Einsiedlerinnen: Der anonyme Verfasser von Ancrene Wisse empfahl für das tägliche Leben in der Zelle Beschäftigung vorwiegend mit Gebet und Kontemplation, dazwischen evtl. auch Handarbeiten, um die Versuchungen des Denkens fernzuhalten. (Vgl. Alberti, 2019) Auch wenn diese Frauen aus moderner Perspektive ein Leben extremer Einsamkeit führten und wir bei ihnen Selbstbestrafungswünsche oder ein grausames Über-Ich vermuten, so können wir doch in Wirklichkeit nicht wissen, wie sie fühlten und dachten: Im Mittelalter war das diesseitige Leben nur ein vergleichsweise unbedeutendes Vorspiel für das Jenseits und die Frage, ob man dieses ewige jenseitige Leben im Himmel oder in der Hölle verbrachte, war absolut zentral für die Menschen: Dementsprechend empfanden sich diese Frauen wahrscheinlich nicht in unserem Sinne als einsam, waren sie doch ständig in Kontakt mit Gott – oder spürten andererseits den Versucher, den Teufel nur allzu nahe. Eine solche Einsiedlerin war für die Kirche eines Ortes ein durchaus positiver Bestandteil, führte sie doch oft zu einem Zustrom von Pilgern und dadurch zum ökonomischen Aufschwung eines ganzen Dorfes. Daher wurde die Anchoress auch als „Ankerin“, als Basis des gesamten „Schiffes der Kirche“ betrachtet. (Der Gleichklang funktioniert nur im Englischen: Anchoress könnte auch die weibliche Form von anchor, dem Schiffsanker sein.) 89
II. Zwischen Außen und Innen
Die erwähnte Juliana von Norwich lebte mindestens zweiundzwanzig Jahre (wahrscheinlich aber mehr als dreißig Jahre) eingemauert als Anachoretin. In diesem Zustand schrieb sie ihr berühmtes Buch, wurde 1413 von einer anderen Mystikerin besucht, von Margery Kempe (die die erste englischsprachige Autobiografie überhaupt schrieb): Für Kempe war Juliana eine lebende Heilige, eine absolute spirituelle Autorität, mit der sie über ihre eigenen Visionen sprach und sich deren Relevanz bestätigen ließ. Geschichten aus längst vergangenen Zeiten? Nicht ganz: Die letzte historisch belegte Anchoress starb 1990: Zwar gab es nach dem 16. Jahrhundert in England und im übrigen Europa keine eingemauerten Einsiedlerinnen mehr, aber die amerikanische Nonne Nazarena of Jesus (Julia Crotta) ließ sich 1945 in Rom im Kloster Sant’Antonio Abate auf dem Aventin lebendig einmauern und verblieb in ihrer Zelle bis zu ihrem Tod 1990. (Papst Franziskus besuchte sogar ihre Zelle und betete 2013 dort.)
Erst die spätmittelalterlichen Konzepte der „arbeitenden“ Orden wie z. B. der Benediktiner mit ihrem ora et labora bieten ein sowohl spirituell als auch ökonomisch erfolgreiches Gegenmodell. Das Lob der frommen Einsamkeit blieb allerdings während des gesamten Mittelalters ein spirituelles Elitenkonzept. Von der überwiegenden Mehrheit der mittelalterlichen Menschen aber wurde Einsamkeit eindeutig als gefährlich angesehen und war daher möglichst zu vermeiden: Diese Gefahren waren durchaus real – der einsame Reisende wurde öfter beraubt. Aber auch im spirituellen Sinn stand der einsame „Normalverbraucher“ dem Teufel und seinen Versuchungen hilflos gegenüber. Auf religiöser Ebene diskreditierte die Reformation im 16. Jahrhundert das Modell der Einsiedlerinnen als spirituelle Elite. Gleichzeitig aber wurde die Figur des einsamen Denkers von den Renaissance-Intellektuellen (auch mittels Bezug auf die stoische Tradition der Antike) „sä90
Die Kulturgeschichte der Einsamkeit im Schnelldurchlauf
kularisiert“ und idealisiert in Beschreibungen vom selbstgewählten Rückzug weiser Philosophen, die sich aus dem politischen Getriebe und Intrigengewirr der aufstrebenden Städte heraushalten wollten. Diese Tendenzen passten gut zu einer Verherrlichung der Melancholie als typischer Eigenschaft der Philosophen. Im entsprechenden Standardwerk von Robert Burton, seiner berühmten Anatomie der Melancholie (The Anatomy of Melancholy) von 1621 allerdings zeigt er sich ambivalent bezüglich der Einsamkeit: Burton bewundert zwar die spirituellen Leistungen der ägyptischen Wüstenväter ebenso wie die Fähigkeit eines Scipio oder Plinius zum sozialen Rückzug in ihre Landhäuser zum Schreiben. Die weniger genialen Gelehrten seiner Epoche aber warnte Burton vor der selbstgewählten Einsamkeit: „Freiwillige Einsamkeit ist eine vertraute, gleichsam passgenaue Begleiterscheinung der Schwermut und lockt uns sanft wie eine Sirene, eine Sphinx in den Abgrund ohne Wiederkehr.“ (2003, S. 227) Mit Ausnahme der melancholisch zurückgezogenen Philosophen standen die Renaissance-Eliten der höfischen Gesellschaft und des aufstrebenden Bürgertums der Einsamkeit skeptisch gegenüber, wie man den damaligen Ratgebern zum erfolgreichen Verhalten am Fürstenhof entnehmen kann, deren berühmtestes Baldassare Castigliones Il libro del Cortegiano/Das Buch vom Hofmann von 1528 war: Sowohl am Hof als auch in den wachsenden Städten mussten sich Menschen in großer räumlicher Nähe miteinander arrangieren. Der Verhaltenskodex war dabei weniger starr festgelegt als früher. Diese neue soziale Situation bedurfte also neuer Regeln: Der Mensch wurde als prinzipiell auf Gemeinschaft angelegtes zoon politikon verstanden. So beginnt Francis Bacon seinen Essay Über die Freundschaft 1625 mit einem Aristoteles-Zitat: „Wer die 91
II. Zwischen Außen und Innen
Einsamkeit vorzieht, ist entweder ein wildes Tier oder ein Gott.“ Für Bacon allerdings gilt nur die Negativ-Variante: Der Einsame gleiche dem wilden Tier. (In: Assmann, S. 108) Insgesamt rückte die Wahl zwischen Einsamkeit oder Geselligkeit im 16. Jahrhundert ins Zentrum der kritischen Reflexion: In einer neuen Anthropologie der Gemeinschaft wurde der Mensch als von Natur aus unvollständiges, auf die Ergänzung durch seine Mitmenschen angewiesenes und deshalb von Grund auf soziales Wesen definiert, das in der Einsamkeit verkommt. (Vgl. Assmann, S. 112) Wiederum 150 Jahre später stellte man im 18. Jahrhundert in England die anthropologische Grundfrage anders: Nicht mehr, ob der Mensch von Natur aus einsam oder gesellig sei, sondern ob er von Natur aus gut oder böse sei, schien nun entscheidend: In dieser Auseinandersetzung zwischen pessimistischer und optimistischer Anthropologie wurden die Begriffe von Höflichkeit, Zivilität und Urbanität geprägt. Dabei darf der Earl of Shaftesbury als Theoretiker des geselligen Menschen gelten (nach Assmann, S. 120). In seinem Unterweisungsbuch von 1710 beschrieb er die Schwierigkeiten der „sozialen Feineinstellung“ in der damaligen Weltstadt London, die ein hohes Ausmaß an Selbstregulierung und Selbstkontrolle des Individuums erforderte. Dabei war Höflichkeit für ihn ein Zentralbegriff nicht mehr im Sinne einer elaborierten Rhetorik oder eines höfischen Zeremoniells, sondern unter demokratischeren Bedingungen: „Alle Höflichkeit verdankt sich der Freiheit. Wir polieren einander und reiben uns gegenseitig unsere Ecken und Kanten in freundlicher Reibung ab.“ (In: Assmann, S. 124) Shaftesburys freundliche Reibung (amicable collision) erzeugt eine „Politur“ des Menschen im gegenseitigen Umgang – politeness steht hier laut Assmann im Zusam92
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menhang mit polis. Sie ist entscheidend für das soziale Funktionieren in der Stadt. Der unhöfliche Mensch ist auch ein unsozialer Mensch – er ist für Shaftesbury der monologische Typus, der sich den Stimmen der anderen verschließt. Aber auch dieser Theoretiker des sozialen Lebens empfiehlt einen (allerdings nur temporären und selbstgewählten) Rückzug von der Bühne der Gesellschaft und des städtischen Trubels zum Kraftschöpfen für die nächsten Auftritte. In einer solchen kurzfristigen Einsamkeit solle der Mensch das Selbstgespräch pflegen „weil wir wohl weniger lärmend und in Gesellschaft erträglicher werden, wenn wir […] in Einsamkeit mit uns selbst kommunizierten.“ (Nach Assmann, S. 126) Shaftesbury empfiehlt für solche Selbstgespräche die innere Aufteilung in zwei Personen, die man in einen Dialog bringen möge: „Erkenne dich selbst – das heißt nichts anderes als: Teile dich selbst, verdopple dich!“ (Nach Assmann, S. 127) Diese Empfehlung eines philosophischen inneren Dialoges ist bereits zu verstehen im Rahmen der entstehenden Aufklärung: Jetzt stehen die soziale Orientierung und die gesellschaftliche Tätigkeit des Menschen absolut im Vordergrund. Zwar orientierten sich die Aufklärer am Modell der römischen Bürgertugenden, weniger allerdings an der Empfehlung der Stoa zum Rückzug des Gelehrten ins ländliche Idyll. Aber der europaweite Siegeszug des aufklärerischen Denkens führte bereits fünfzig Jahre später zu einem neuerlichen Gegenausschlag des Pendels: Die Romantik, die auch eine Reaktion auf die „Entzauberung der Welt“ durch die Aufklärung darstellte, feierte erneut die Innenschau und Selbstversenkung des Menschen: Im Kontakt 93
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mit der Natur und am besten in der Einsamkeit könne man zu sich selbst finden, denn der Weg gehe laut Novalis immer nach innen. Dem romantischen Einsiedler ging es allerdings um den Kontakt mit sich selbst und nicht mehr um die Verbindung zu Gott. Dieses „Elite-Programm“ der romantischen Originalgenies und ihrer vielen Nachahmer wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts popularisiert und auch psychologisiert: Unsere heutige Feier des „Persönlichkeitswachstums“ und die allgegenwärtige Empfehlung, doch auf die „innere Stimme“ zu hören – es ist ein fragiler Kompromiss zwischen einer unübersichtlich gewordenen Öffentlichkeit und einer oft ebenso wenig gesicherten Individualität. Da aber dieser Kompromiss sichtlich für viele Menschen nicht zu einem guten und befriedigenden Leben führt, scheint er aktuell brüchig zu werden: Das ist vielleicht einer der Gründe, warum jegliche Kritik an einer überbordenden „Beziehungskultur“ so schnell abgewehrt werden muss. Dies gilt besonders dann, wenn die allzu große Wichtigkeit virtueller Beziehungen problematisiert wird.
Einsamkeit und soziale Medien
Heute prophezeien manche Experten das endgültige Ende der Einsamkeit durch das Internet und die sozialen Medien und belegen dies nicht zuletzt mit millionenfachen Skype- oder Zoom-Familiengesprächen in Zeiten von Covid-19. Prinzipiell aber darf man davon ausgehen, dass das Verhalten der Menschen in den sozialen Medien nur ihr Verhalten im realen Leben spiegelt: Einsamkeit wird daher weder verhindert noch erzeugt, schlimmstenfalls evtl. intensiviert, wenn nicht bereits davor bestehende Beziehungen „IRL“, also im realen Leben bei lokaler Trennung von 94
Einsamkeit und soziale Medien
Freundinnen oder Familie durch Facebook aufrechterhalten oder sogar intensiviert werden können. Wenn umgekehrt wenige oder nicht existente reale Sozialkontakte durch exzessiven Gebrauch von Facebook oder Instagram ersetzt werden sollen, muss man skeptisch bleiben. Es ist im Wesentlichen eine Neuauflage der alten Geschichte: Wo Tauben sind, fliegen Tauben zu oder: Die sozial ohnehin gut integrierten Menschen mit sicherem sozialen Netz können auch die neuen Medien bei temporärer Trennung von Partnerinnen oder Freunden nutzen so wie in Zeiten der Pandemie, während die davor Einsamen durch Facebook kaum weniger einsam werden. In A Biography of Loneliness beschreibt Fay Alberti das „FOMO-Syndrom“ (fear of missing out) speziell bei jungen Menschen. Es wurde definiert als die andauernde Beschäftigung im Internet mit den scheinbar so befriedigenden Erfahrungen, die andere Menschen dort haben und auch dauernd zeigen, von denen man selbst aber ausgeschlossen ist. FOMO ist charakterisiert durch ein Bedürfnis, ständig in Verbindung mit diesen anderen und deren Aktivitäten zu bleiben, wofür man dauernd online bleiben muss. Leider ist FOMO mehr als ein Problem einiger einsamer Nerds: Bei einer Umfrage 2012 berichteten in England fast Dreiviertel junger Erwachsener über zumindest zeitweises „FOMO-Verhalten“ (in: Alberti, 2019, S. 122). Aber auch wenn exzessiver Internetkonsum immer wieder verantwortlich gemacht wurde für Einsamkeit ebenso wie für die Zunahme an Eifersucht, Ressentiments und Selbstwertproblemen, so dürfte es sich doch um eine zirkuläre, selbstverstärkende Beziehung zwischen all diesen negativen Affekten und dem Gebrauch der sozialen Medien handeln: Je einsamer und gelangweilter, je unzufriedener im realen Leben – desto mehr Engagement in den sozialen Medien mit der Folge des intensiven Vergleichs 95
II. Zwischen Außen und Innen
mit anderen Userinnen, die man fast immer als glücklicher, erfolgreicher oder schöner einschätzt. Auch dafür gibt es bereits ein „Label“: „Facebook-Depression“. Ob dieser Neid auf die Instagram-Stars dann zu der internalisierenden Symptomatik einer Depression führt oder nach außen gewandt wird als Wut oder „Trolling-Verhalten“, hängt wohl immer von der Persönlichkeitsstruktur der einzelnen User ab. Fay Alberti (2019) fasst die Beziehung zwischen Einsamkeit und sozialen Medien zusammen: Die wichtigste Frage sei nicht die nach der Häufigkeit oder zeitlichen Ausdehnung des Gebrauches sozialer Medien, sondern die Frage, ob diese Internet-Aktivitäten die offline-relationships im wirklichen Leben ersetzen sollen oder nur ergänzen. Dies dürfte genauso für den Zusammenhang zwischen Social-Media-Nutzung und psychischen Krankheiten gelten: Nach ausführlicher Übersicht über die Literatur dazu Lucy Foulkes: „Es ist einfach nicht möglich, zu sagen, ob soziale Medien gut oder schlecht für die psychische Gesundheit sind. Sie sind beides.“ (Foulkes, S. 144) Diese Formel dürfte nicht nur für die Ersetzung oder aber Ergänzung der Beziehungen zu anderen Menschen gelten, sondern auch für sonstige Beziehungen, denen wir Bedeutung zumessen: Sei dies die Beziehung zur Natur oder zu bestimmten Tieren – auch in diesem Bereich gibt es zahllose Beispiele vom harmlosen stundenlangen Entzücken am cat content im Internet bis hin zur Bedeutungszuteilung, zum fast schon magischen Gefühl des Verbunden-Seins mit Wesen, die man nie im Leben real gesehen hat – die im Extremfall überhaupt niemand je gesehen hat. Ein faszinierendes Beispiel dafür – und zwar sowohl für die Tröstungen als auch die schon fast wahnhafte emotionale Aufladung – bietet die Geschichte des einsamsten Wals der Welt. 96
Einsamkeit und soziale Medien
52 Blue: Der einsamste Wal der Welt als gigantische Projektionsfläche? Es ist eine berührende Geschichte von Einsamkeit, Mitleid und vor allem von Projektion, von Zuschreibung menschlicher Gefühle an ein Tier: An einen Wal, den noch kein Mensch jemals gesehen hat, an ein mythisches Tier, das für alle Zuschreibungen verschiedenster Menschen als einsam, unglücklich, taub oder aber stolz und allein zur Verfügung steht. Alle wichtigen Ingredienzien einer faszinierenden Geschichte sind vorhanden: Eine geheimnisvolle Institution des Kalten Krieges, deren Ergebnisse streng geheim bleiben mussten, die dann aber nach 1989 ihren Charakter völlig veränderte. Ein Geheimnis, eine rätselhafte Botschaft oder ein Hilferuf? Ein grenzgenialer Wissenschaftler, der viele Jahre damit verbrachte, dieses Rätsel aus den Tiefen des Ozeans zu lösen. Schließlich das überwältigende Echo so vieler einsamer Seelen aus der ganzen Welt, die sich mit einem Tier identifizieren konnten, ihm helfen wollten, ja den Wal umarmen wollten. In der Nordwestecke der USA wurde von einer militärischen Spezialstation an der Pazifikküste mittels Hydrophonen die Bewegung sowjetischer U-Boote überwacht, da im Ozean Geräusche über tausende Kilometer übertragen werden und daher aus großer Distanz hörbar sind. Mit Ende des Kalten Krieges wurden die Finanzmittel massiv gekürzt und die hochspezialisierte Einrichtung suchte eine neue Aufgabe: So konzentrierte man sich statt der U-Boote auf Meeresbiologie, vor allem auf die Bewegungen und Geräusche von Walen, die berühmten Walgesänge: Dabei gab es unter den tausenden Wal-Rufen einen einzigen Wal, der gegenüber allen anderen als unverwechselbar herausstach: Er fiel auf, weil er seinen Gesang in einer Frequenz sendete, die kein anderer Wal verwendete: Während Blauwale auf Frequenzen von 20 bis maximal 40 Hertz singen und Finnwale um 20 Hertz, war dieser einzelne Wal über viele Jahre auf der Frequenz von 52 Hertz zu hören. Über zwölf Jahre konnte er im97
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mer wieder auf seinen Wanderungen von Nord nach Süd, von den Aleuten nach Mexiko und dann wieder zurück dokumentiert werden. William A. Watkins wertete viele tausende Hydrophon-Befunde aus und kam zum Schluss, dass es „vielleicht schwer zu akzeptieren ist, dass hier im riesigen Ozean ein einziger Wal dieser Art unterwegs war“. (In: Jamison, 2019, S. 4) Nach der Publikation seiner Forschungsergebnisse in einem wissenschaftlichen Journal erkannten einige Journalisten das sentimentale Potenzial dieser Geschichte: Ihre Titel reichten von Der Wal, dessen einzigartiges Lied ihn daran hindert, Liebe zu finden über Der Wal, den kein anderer Wal hören kann bis zu The Loneliest Whale in the World und machten 52 Blue zur Legende: Tausende von einsamen Menschen auf der ganzen Welt fühlten sich diesem Wal seelenverwandt, wollten ihn treffen, umarmen, glaubten, genau zu wissen, dass er einsam sei wie sie oder enttäuscht und deshalb allein, dass er taub sei, behindert oder aber „just blue“. Obwohl die Meeresbiologen betonten, dass niemand wissen könne, ob 52 Blue taub sei, ob er irgendwie behindert sei oder aber eine Kreuzung, ein Hybrid aus Finnwal und Blauwal oder ob er vielleicht gar nicht allein sei (weil später auch andere Wal-Signale auf 52 Hertz empfangen wurden) – der Mythos war nicht mehr aus der Welt zu bringen: Eine Frau in New York war sich ganz sicher, dass sie aus ihrem Koma letztlich nur durch diesen Wal wieder zum Leben erweckt wurde, ein liebeskranker Pole ließ sich den Wal auf seinen Rücken tätowieren: Für ihn war er ein Symbol für eine positive Art allein zu sein. Er und viele andere betonten, dass sie aus eigener Erfahrung wussten, wie weh es tun kann, wenn niemand auf deiner Wellenlänge ist. Innerhalb weniger Jahre gab es viele Lieder über 52 Blue, ein Kinderbuch, jahrelang wurde Geld gesammelt für eine geplante Filmdokumentation: Man wollte den Wal finden und „erlösen“ – aus seiner Einsamkeit? Der Wal war endgültig zum Symbol geworden, zur Metapher dafür, dass man auch in tiefer Einsamkeit überleben kann. 98
Entfremdung/Resonanz/Einsamkeit
Einige 52-Blue-Fans richteten einen Twitter-Account für ihn ein und ließen ihn dort „sprechen“: „Hellooo? Is anyone out there? I am so lonely.“ Im Gegenzug gab es auch bald einen Twitter-Account @52Hurts, auf dem der Wal gegen seinen Symbolstatus protestierte: „I am no symbol, no metaphor. […] I am a whale.“ 52 Blue ist und bleibt wohl beides, ein Symbol und ein Tier. Er wurde von sehr vielen Menschen mit für sie individueller Bedeutung ausgestattet. Er hat „dem, was sie schon vorher gefühlt haben, eine Form und einen Körper gegeben“ (so Jamison). Sie überlegt auch, dass schon der Gebrauch einer Metapher an sich etwas Verbindendes habe: Impliziert diese rhetorische Figur doch, dass nichts absolut isoliert ist, dass es immer eine Verbindung zwischen zwei Punkten/Themen/ Wesen gibt. Man kann diese Geschichte lesen als Beispiel für das hemmungslose Sentimentalisieren der Natur und ihre Verwendung als Projektionsfläche für unsere Emotionen. Aber diese projizierten Gefühle sind doch real: Dieser Wal, den niemand je gesehen hat, hat immerhin sichtlich vielen einsamen Menschen geholfen, mit ihrem Schmerz umzugehen. Rätselhafterweise vermittelte er ihnen ein Erlebnis der Resonanz zwischen seiner phantasierten Einsamkeit und ihrer eigenen Biografie.
Entfremdung/Resonanz/Einsamkeit
Eine der Achsen, entlang derer man den Unterschied zwischen neutralem oder sogar positivem Erleben des Alleinseins gegenüber der Verzweiflung des einsamen und verlassenen Menschen beschreiben kann, ist der Gegensatz zwischen Entfremdung und Resonanz: Während sich der resonanzfähige Mensch allein nicht einsam fühlen muss, leidet der entfremdete oft auch in Gesellschaft an seiner Einsamkeit. 99
II. Zwischen Außen und Innen
Das philosophische Konzept der Entfremdung geht zurück auf Jean-Jacques Rousseau: Er beklagte die Deformation des prinzipiell guten natürlichen Menschen durch die Gesellschaft: Von dieser werde das Individuum seinen eigenen Bedürfnissen entfremdet und einem konformistischen Diktat unterworfen. Dadurch entwickle der Mensch Geltungsdrang und Eitelkeit und werde abhängig von der Meinung anderer. Für Rousseau ist und lebt der nicht gesellschaftlich verbildete Mensch in sich, der gesellige hingegen ist immer schon außer sich, ist entfremdet. Der Klassiker der politischen Entfremdungstheorie hingegen ist Karl Marx, der vor allem in seinem Frühwerk (Ökonomisch-philosophische Manuskripte von 1844) die Entfremdung des Arbeiters beschrieb: Dieser wird laut Marx durch die entfremdete Arbeit nicht nur vom Produkt seiner Arbeit, sondern auch von seiner eigenen Tätigkeit und von den anderen Menschen entfremdet. Entfremdung bedeutet hier eine Störung der Beziehung sowohl zu sich selbst als auch zur sozialen Welt. Marx beschrieb also Entfremdung als Problem des Sinnverlustes. Die Welt wird verarmt und bedeutungslos, der Mensch steht ihr ohnmächtig gegenüber. Gemeinsam ist Rousseau und Marx die Bewertung der Entfremdung als eine „Beziehung der Beziehungslosigkeit“ (nach Rahel Jaeggi, 2005): Wir fühlen uns machtlos, unser Leben erscheint uns sinnlos. Jegliches Gefühl von Selbstwirksamkeit ist verlorengegangen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in der Ära des Existentialismus das Konzept der Entfremdung sehr populär, dadurch aber seit den Fünfzigerjahren des 20. Jahrhunderts für immer mehr verschiedene Lebensbereiche und Probleme als „Allzweck-Kritik“ verwendet und zunehmend überdehnt: Es wurde zum Fetischbegriff und zur Leerformel, die nichts mehr zum Ausdruck brachte als ein diffuses Unbehagen gegenüber allen bestehenden sozialen 100
Entfremdung/Resonanz/Einsamkeit
Verhältnissen oder Beziehungen. Ein solcher soziologischer Entfremdungsbegriff klingt noch in der Definition von Hartmut Rosa durch: „Entfremdung bezeichnet eine spezifische Form der Weltbeziehung, in der Subjekt und Welt einander indifferent oder feindlich und mithin innerlich unverbunden gegenüberstehen. […] Entfremdung definiert damit einen Zustand, in dem die ‚Weltanverwandlung‘ misslingt, so dass die Welt stets kalt, starr, abweisend und nichtresponsiv erscheint.“ (Rosa, 2016, S. 316) Rosa vermutet, dass neben der Inflation des Entfremdungsbegriffes zu dessen eindeutiger Bestimmung auch ein klarer Gegenbegriff fehlte: Denn die nicht entfremdete wahre Menschennatur irgendwo zwischen absoluter Autonomie und Authentizität – sie war spätestens für die Postmoderne nicht mehr denkbar als einheitliche, wahre und innerste Natur des Menschen. Deshalb bemüht sich Rosa in seinem Magnum Opus Resonanz um die Beschreibung eines tauglichen Gegenbegriffs zur Entfremdung. Resonanz als Kontrast zur Entfremdung ist für Rosa eine durch Affizierung, Emotion und Selbstwirksamkeitserwartung gebildete Form der Weltbeziehung: Hier berühren einander Subjekt und Welt, im Idealfall können sie einander transformieren. Rosa betont, dass die Resonanz kein Echo sei, sondern eine Antwortbeziehung: Beide Seiten müssten dafür mit je eigener Stimme sprechen. Resonanzbeziehungen seien auch nicht beliebig herstellbar, dazu gehöre ein Moment konstitutiver Unverfügbarkeit. Daher sei für den Autor Resonanz kein emotionaler Zustand, sondern ein Beziehungsmodus. Dieser Modus müsse nicht unbedingt positiv erlebt werden – er sei gegenüber dem emotionalen Inhalt neutral. Deshalb könnten wir sogar traurige Geschichten oder spezielle Musikstücke lieben und genießen, wenn sie bei uns eine Resonanzerfahrung auslösen. 101
II. Zwischen Außen und Innen
Der Soziologe Rosa konzipiert für die moderne Gesellschaft spezielle Resonanzachsen und Resonanzräume wie Natur, Kunst und Religion. Diese psychischen Räume ermöglichen den Menschen „die Erfahrung einer Verflüssigung ihrer Weltbeziehung“ (S. 296). Aus entwicklungspsychologischer Sicht kann ich ergänzen, dass wir auch bei der so wünschenswerten Fähigkeit zur Resonanzerfahrung von einer primären intrapsychischen Erfahrung ausgehen müssen: Wenn in den ersten Lebensjahren idealerweise genügend Resonanzerfahrungen mit Mutter und Vater, später auch mit Geschwistern oder Freundinnen gemacht werden können, dann werden die Erinnerungen aus diesen vielen positiven Interaktionen mit realen Menschen mehr und mehr internalisiert werden können. Aber nicht nur die für uns wichtigen menschlichen Objekte können hoffentlich erfolgreich verinnerlicht werden und sind dadurch auch in ihrer Abwesenheit für Resonanzerfahrungen verfügbar. Auch nicht-belebte, nichtmenschliche Objekte ermöglichen uns Resonanzerfahrungen: In der Begegnung mit Kunstwerken, aber auch im Erleben von Natur und in der spirituellen Erfahrung gibt es Erlebnisse der Resonanz. Wenn jemand oft solche intensiven Erfahrungen machen kann, fühlt er sich prinzipiell weniger abhängig von der ständigen Anwesenheit der für ihn wichtigen Menschen. Dadurch aber wird ein positives Erleben von Alleinsein als kreativer Rückzug, als Auszeit im guten Sinne möglich, man fühlt sich mit sich selbst in guter Gesellschaft. Voraussetzung für diese so wichtigen positiven Erlebnismöglichkeiten aber ist die Erfahrung von Trennung als einem potentiell auch positiven und nicht ausschließlich bedrohlichem Erlebnis: Trennung kann dann auch Differenzierung bedeuten, eine verlässliche Abgrenzung von Subjekt und Objekt: Das ermöglicht das Ertragen von 102
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zwei unterschiedlichen Positionen, von zwei Stimmen – idealerweise ein positives Erleben von Unterscheidung, von Differenz, ein Wertschätzen des Anderen. Wenn Trennung aber nur ein schmerzliches Verlassenwerden bedeutet, dann kann sie zur Entfremdung und in der Folge auch zur Selbstentfremdung führen. André Hellers berührendes Beispiel dafür: „Zerst hab i di verlorn, / dann hab i mi verlorn. / […] Alaan sei ist ärger als Ratzen fressen.“ In: Heller/Qualtinger: Heurige und gestrige Lieder, 1970. In vielen Fällen ist es schwer oder gar nicht zu unterscheiden, ob die Einsamkeit selbstgewählt oder aufgezwungen ist, ob sie eine Selbststilisierung, eine speziell in der Pubertät gar nicht seltene Attitüde ist oder aber ein Zustand des pathologischen Leidensdruckes. Die Menschen fliehend, die Einsamkeit suchend: Jean-Jacques Rousseaus Träumereien eines einsamen Spaziergängers Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) war Philosoph, Schriftsteller, Reformpädagoge, Dramatiker und sogar Opernkomponist. Außerdem aber erfand und verkörperte er auch die Leitfigur des Wanderers als Archetypus des romantischen Lebensgefühls: Rousseau wurde zum Urvater aller jungen Männer, die bis heute am Rand des Schulhofs stehen und melancholisch oder herablassend auf das fröhliche Treiben der anderen blicken. Sind sie coole Einzelgänger, unglücklich Ausgegrenzte oder Abgelehnte? Verkörpern sie eine stolze Isolierung oder das Elend der Einsamkeit? Das ist schwer zu unterscheiden – oft genug wohl auch für die Betroffenen selbst: Ist es selbstgewählte Absonderung von der Menge als Demonstration der Stärke oder erzwungene Einsamkeit als Schwäche, als Elend der Ungeliebten? Rousseau beschrieb als Erster diesen Balanceakt zwischen imaginierter und realer, idealisierter und erlittener sozialer Isolierung: In der Realität waren es nur sechs Wochen im Herbst 1765. 103
II. Zwischen Außen und Innen
Jean-Jacques Rousseau war wieder einmal vertrieben worden. Auf der Flucht verschlug es ihn mit seiner Gefährtin Thérèse auf eine kleine Insel im Bielersee. Dort unternahm er täglich stundenlange Spaziergänge, sammelte und studierte die Pflanzen. Meist aber gab er sich Tagträumen und Meditationen hin: „So war ich denn vor den Menschen geflohen und hatte die Einsamkeit gesucht, ich phantasierte nur mäßig und dachte noch weniger…“ (VII. Spaziergang, S. 126) Dadurch aber erreichte er eine neue Ebene des Seelenfriedens: „Sobald ich an Orte gelange, wo ich keine Spur von Menschen sehe, atme ich unbeschwerter.“ (VII, S. 132) „So erlangte ich den inneren Frieden.“ (VIII, S. 148) Mehr als zehn Jahre später, motiviert durch wiederum ausgedehnte Spaziergänge in der Nähe von Paris, schrieb der Philosoph seine Erinnerungen an diese bittersüßen Wochen auf der einsamen Insel nieder: Die Träumereien eines einsamen Spaziergängers wurden gemeinsam mit seinen berühmten Confessions erst posthum 1782 veröffentlicht: Damit wurde Rousseau zum Ahnherrn aller romantisch-melancholischen Wandersburschen und Studenten, die mit seinen Büchern in der Tasche und auf der Flucht vor dem Unverständnis der Spießbürger die europäischen Wiesen und Wälder durchstreiften. Rousseau selbst war ein Leben lang unterwegs, unterbrochen nur durch vergleichsweise kurze Aufenthalte auf den Landgütern diverser Förderer und Gönnerinnen. Bei jedem neuen Aufbruch, bei jeder Flucht wurde für ihn wieder die Erinnerung an die Angst, die Verzweiflung und die bittere Armut wach, vor der er als Sechzehnjähriger aus der Heimatstadt Genf geflohen war. In den Folgejahren schlug er sich mehr schlecht als recht durch ein Vagantenleben in Frankreich und Italien: In seiner Autobiografie berichtet er über diese Jahre des Überlebenskampfes als Zechpreller, Betrüger und Domestik – immer abhängig von der Gnade der „Oberen“, immer in Angst vor dem Erwischtwerden. Es ist ein „Schelmenroman aus dem Ancien-Régime“ (Darnton, 1995, S. 147), der uns auch die Welt der damaligen kleinen Leute, der Wanderarbeiter, Bettler, Schauspieler, 104
Entfremdung/Resonanz/Einsamkeit
Scharlatane und Diebe lebensnah vor Augen führt. Zu ihnen gehörte auch Rousseau als „intellektueller Vagabund“, der von seinem Witz lebte, sich als Hauslehrer oder Musikant andiente – immer auf der Suche nach Kost und Logis. Nach vielen vergeblichen Versuchen wurde er 1750 schlagartig berühmt mit seinem ersten Diskurs. Er fand Zugang zu den Salons und lernte die großen Aufklärer seiner Zeit kennen. Sowohl durch sein überempfindliches bis paranoides Naturell als auch durch seine Position als intellektueller Emporkömmling blieb er aber verletzlich, fühlte sich nie ausreichend akzeptiert und schließlich sogar in seinem Erfolg nicht hinlänglich geachtet: „In die große Welt geworfen, ohne den richtigen Ton zu haben und in der Lage zu sein, ihn sich anzueignen, gab ich vor, die Höflichkeit zu verachten, die ich nicht beherrschte.“ (In: Darnton, S. 112) Seine Berühmtheit hatte (nach der drastischen Formulierung Robert Darntons) „den intellektuellen Vagabunden und kleinen Schreiberling aus dem literarischen Untergrund in einen Tanzbären verwandelt. Bei dieser Verwandlung verlor Rousseau etwas, sein Selbst […]“ (Darnton, S. 112) Er zog sich daraufhin aus der großen Gesellschaft zurück, lebte mit seiner Thérèse in einer Hütte im Schlosspark seiner Gönnerin Madame d’Épinay und schrieb innerhalb weniger Jahre drei Werke, die die europäische Kulturgeschichte verändern sollten: Seinen pädagogischen Roman Émile oder über die Erziehung, Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechtes und Julie oder Die neue Héloïse. Die beiden Romane wurden Bestseller und blieben bis heute eindrückliche Stimmen zur Kritik des aufklärerischen Denkens: Auch wenn Rousseau nie „zurück zur Natur“ geschrieben hat, als Kürzestformel passt es gut zu seinem Werk. War er doch überzeugt davon, dass „das Nachdenken ein widernatürlicher Zustand ist und ein denkender Mensch ein entartetes Tier“ (In: Starobinski, 1995, S. 544).7
7 Im Original: „Animal dépravé“ – wobei depraviert sowohl verderbt, entartet als auch „im Krankheitsverlauf verschlimmert“ bedeuten kann … 105
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Er war überzeugt davon, dass der Mensch durch die Zivilisation nicht besser geworden war: Die Verderbnis habe mit dem Privatbesitz und der Sesshaftigkeit begonnen und sich mit der Zusammenrottung der Menschen in größere Gruppen noch verschlimmert. Rousseaus natürlicher Mensch, sein edler Wilder war für ihn ein jagender und fischender Einzelgänger, ein Wanderer inmitten einer freundlichen Natur, dessen Unschuld von der Landwirtschaft und später von den Fabriken zerstört wurde: Die „blassen ausgemergelten Gesichter der unglücklichen Arbeiter in den Gruben und Fabriken“ hätten die ehemals „verliebten Schäfer“ ersetzt. (VII, S. 127) Rousseaus Engführung von Autobiografie und Philosophie stellt sowohl eine Stärke als auch eine entscheidende Schwäche seines Werkes dar. Seine Texte fühlen sich lebendig und authentisch an. Man spürt aber auch die Überempfindlichkeit, ja geradezu eine Suche nach Kränkung und in späteren Jahren die immer stärkere Überzeugung, dass alle Menschen und insbesondere die früheren Freunde sich gegen ihn verschworen hätten. Über Rousseaus „Diagnosen“ ist viel geschrieben worden – jeweils mit Bezug auf seine so reichlichen autobiografischen Äußerungen. Sei es nun die Suche nach der nie gekannten Mutter (die wenige Tage nach seiner Geburt starb), sei es die immer neue Re-Inszenierung der Flucht des unglücklichen Sechzehnjährigen aus Genf – immer wieder gibt es bei Rousseau auch das Hohelied des zu Unrecht verfolgten Flüchtlings, des Vereinsamten in seinen Rückzugsorten: Daher blieb das Gehen, Wandern oder Flüchten für ihn immer ein Schlüsselbegriff – und es war immer ein einsames Wandern. Bei aller Idealisierung dieser permanenten Fluchtbewegung, bei allen idyllischen Beschreibungen der schönen Natur sah Rousseau selbst, dass er unterwegs primär „die Abwesenheit von allem, das mich meine Abhängigkeit spüren ließ“ als erleichternd erlebte. (In: Solnit, 2001, S. 19) Daher wohl auch seine Verbindung zwischen Gehen und Denken: „Ich kann nur im Gehen denken. Wenn ich stehenbleibe, höre ich auf zu denken, mein Geist arbeitet nur mit meinen Beinen.“ (In: Solnit, 2001, S. 14) 106
Entfremdung/Resonanz/Einsamkeit
Wahrscheinlich war Träumereien eines einsamen Spaziergängers der letzte Text, den Rousseau vor seinem Tod 1778 schrieb, Jahre nachdem er sich mit allen Freunden und Förderern zerstritten hatte und sich zum verfolgten einsamen Weisen stilisiert hatte. Alle drei Worte im Titel dieser Abhandlung wurden zu Zentralbegriffen der Romantik im 19. Jahrhundert: Rêveries du promeneur solitaire. Rêverie steht heute für eine romantische Träumerei, für einen Zustand zwischen sehnsüchtigem Tagtraum, Klavierphantasie in Moll und Meditation. Allerdings bedeutete rêve noch im 17. Jahrhundert das „tiefe Nachdenken“ (so der Rousseau-Spezialist Marcel Raymond in seiner Einleitung zu den Rêveries). Bei Rousseau steht Rêverie für ein lockeres und deklariert unsystematisches Denken – und damit als Gegenmodell zu den linear-systematischen Denkgebäuden und Systemen der Aufklärung bis hin zu Hegel. Rêverie ist also ein Zustand irgendwo zwischen Denken, Sehnen und Träumen, ein Denken in Bildern, nahe an den Empfindungen und Sinnesreizen. Es entspricht Rousseaus Wunsch einer „Sprache des Geistes durch das Herz“ (In: Darnton, 1995, S. 98). Promeneur war Rousseau ein Leben lang, sei es auf der Flucht vor den verständnislosen Freunden oder seinen Verfolgern, sei es auf der Suche nach der unverdorbenen Natur fern von den Städten: Gehen, promenieren oder wandern bedeutete eine Suche nach der wahren Empfindung, ein Einsaugen der Kräfte der möglichst menschenleeren Natur. Solitaire: Rousseau war der Ahnherr, dem viele einsamkeitssuchende Dichter und Denkerinnen auf der Suche nach tiefen Empfindungen und Einsamkeit folgten: Zum Beispiel in England William Wordsworth: „The world is too much with us; late and soon […]“. In Dänemark entdeckte Søren Kierkegaard den Zwischenzustand des „Stadtwanderers“ zwischen Einsamkeit und Zugehörigkeit oder Beobachtung der ihn ablehnenden Menschen: Täglich wanderte er durch Kopenhagen, „als Möglichkeit für einen Menschen, unter anderen Leuten zu sein, aber nicht mit ihnen, in der Wärme flüchtiger menschlicher Begegnungen zu baden: Der einsame Spaziergänger ist so107
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wohl präsent als auch entfernt von der Welt um ihn, mehr als ein Publikum, aber weniger als ein Teilnehmer“ (Solnit, 2001, S. 24) Kierkegaard wurde zum vielleicht ersten Philosophen der urbanen Entfremdung: Ein einsamer Flaneur in der Stadt, immer unterwegs, zwar in Aktion, aber handelnd als distanzierter Reisender und nicht als Einwohner, als Mitbewohner. Noch Walter Benjamin mit seiner für ihn so wichtigen Figur des Flaneurs steht in dieser Tradition: Viele Jahre streifte er als einsamer Beobachter durch Paris auf der Suche nach Anschauungsmaterial für sein großes unvollendetes Werk über die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts. Er bezog sich auch auf Baudelaire, der seinerseits interessanterweise definiert hatte, dass „multitude und solitude – identische Begriffe, austauschbar durch den aktiven und fruchtbaren Dichter“ seien. Denn „der Mensch, der nicht dazu fähig ist, seine Einsamkeit zu bevölkern, kann auch nicht allein sein in der Menge“. (In: Solnit, 2001, S. 204) Diese späten Nachfahren von Rousseau durchstreifen also nicht mehr die Wälder, sondern die „Prärien der Großstadt“ – aber auch sie isoliert, marginalisiert, entfremdet. Nicht nur bei Benjamin, Baudelaire oder Kierkegaard – schon bei Rousseau bleibt die Frage unentschieden, ob es sich bei der von ihm so idealisierten Einsamkeit nun um einen selbstgewählten oder einen aufgezwungenen Zustand handelt: Jenseits des philosophischen Wertes sind Rousseaus Träumereien wohl bis heute so populär geblieben, weil er im Text die Balance zwischen der Melancholie des einsamen, nachdenklichen Spaziergängers und der Angst und Wut des paranoiden Einzelgängers hält. In der historischen Realität war Rousseau sicher eine höchst schwierige Persönlichkeit, der es schließlich kein Freund recht machen konnte. Auch die Stufenfolge dieser selbst herbeigeführten Rückzugsbewegungen kann man seinen Rêveries ablesen: Zuerst eine neuerliche Enttäuschung – über das bösartige Verhalten der anderen, aber auch die Scham über seine eigene Gier nach Anerkennung.
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Darauf folgt dann der Rückzug, durchaus aber noch in der Hoffnung, von den Freundinnen oder Bewunderern wieder gesucht und gefunden zu werden, zurückgeholt nach gebührenden Entschuldigungen. Falls dann aber niemand kommt, leidet Rousseau anfangs unter dem Alleinsein, fühlt sich einsam, kann aber dann seine Flucht umdeuten als selbstgewählte stolze Isolation des unverstandenen, an seinem Unglück schuldlosen Menschen. Ab dann besteht das Ziel für ihn darin, sich zwar von der Welt entfremdet zu fühlen, nicht aber von sich selbst. Rousseau zeichnet diesen Weg nach: „Die Menschen haben denjenigen, der unter ihnen der warmherzigste war, einmütig aus ihrer Mitte verbannt. […] Ich hätte die Menschen auch gegen ihren Wunsch geliebt. Nur indem sie aufhörten, Menschen zu sein, konnten sie sich meiner Zuneigung entziehen. Nun sind sie also Unbekannte für mich, Wesen, die mir nichts mehr bedeuten: Sie wollten es ja nicht anders! Ich aber – losgerissen von der ganzen Welt: Was bin ich selbst? Das bleibt mir noch zu ergründen.“ So beginnt der „erste Spaziergang“ (I, S. 7). So versucht er, wie ein Naturforscher „meine Seele wie mit dem Barometer zu prüfen“ (I, S. 16). Dieser Selbstversuch bewirkt, „dass ich meine Leiden nicht mehr spürte, ja mich kaum noch ihrer erinnerte. Die Quelle des wahren Glücks […] liegt in uns selber […]“ (II, S. 20) Auch wenn ihn die Menschen „in die Einsamkeit gezwungen haben, damit ich dort elend zugrunde ginge“ – sie hätten dadurch nur „mehr für mein Glück getan, als ich es selbst tun wollte“ (III, S. 41). Daher bleibt die Frage offen: „Vielleicht bin ich ja der Einzige auf der Welt, der isoliert leben muss, weil ihn das Schicksal dazu verurteilt hat – aber sollte ich etwa ebenso der Einzige sein, der dies auch aus freien Stücken täte?“ (V, S. 82) Letztlich kommt doch der Schwenk zum positiven Erleben durch Selbststilisierung: „Inzwischen empfinde ich meine erdachte Anwesenheit unter den Menschen oft schon intensiver und sogar lustvoller als seinerzeit die wirkliche.“ (V, S. 97) 109
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Spätestens fünfzig Jahre nach der Publikation von Rousseaus Spaziergängen war dieser Text für tausende von romantischen jungen Männern zu einem Drehbuch geworden, zur Vorlage als Hilfe bei der Bewältigung ihrer ganz persönlichen Seelenschmerzen. Der Soundtrack zu diesen Bildern vom einsamen Wanderer, zu diesem gleichzeitigen Erleben von Schönheit und Schmerz entstand im 19. Jahrhundert in Wien: Der gehemmte, unglückliche und todkranke Franz Schubert schuf jene Lieder, die bis heute Chiffren geblieben sind für Entfremdung und Einsamkeit: „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus …“. So beginnt das erste Lied seines Zyklus Winterreise: Immer weiter marschiert der tödlich Vereinsamte in die Kälte, schließlich in den Tod – und hypnotisiert durch die Musik bis heute sein Publikum: „Wollte ich Liebe singen, ward sie mir zum Schmerz. Und wollte ich wieder Schmerz nur singen, ward er mir zur Liebe.“ (In: Bostridge, 2017, S. 34) In diesem Brief klingt Schubert fast wie Rousseau, allerdings ohne dessen kokette Selbststilisierung: Seine Musik brachte die tödliche Kälte einer Entfremdung von der Welt und von sich selbst in die Biedermeier-Salons: „Man glaubt immer, zueinander zu gehen, und man geht immer nur nebeneinander. O Qual für den, der dies erkennt.“ (Tagebuch vom 27.03.1824) Für ihn verkörpert Einsamkeit die auf sich selbst zurückgeworfene Reflexivität des isolierten Individuums. In der Winterreise aber werden dem Wanderer eben durch seine Einsamkeit, sein Einzel-Sein die „Insignien einer Art romantischen Heldentums verliehen. […] Es besteht hier eine Verwandtschaft zu jener Form der Erhabenheit, die uns in den Gemälden von Caspar David Friedrich begegnet.“ (Bostridge, S. 226) Diese Einsamkeit und der Rückzug ins Private waren nicht nur dem individuellen Elend geschuldet, sondern auch dem Leiden an der politischen Unterdrückung des Vormärz nach dem endgültigen Scheitern der Revolution: „Das Verlangen, allein zu sein oder sich in sich selbst zurückzuziehen, kann auf persönlicher, psychologischer Ebene stattfinden. Wird es aber systematisch in der Kunst oder Philosophie verfolgt, 110
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dann hat es seinen Ursprung zwangsläufig in den sozialen und politischen Gegebenheiten.“ (Bostridge, S. 239) Ian Bostridge, einer der größten Schubert-Interpreten, hat dieser untrennbaren Verflechtung von individuellen und sozialen Faktoren in der Genese schmerzlicher Einsamkeitsgefühle ein kluges Buch gewidmet: Schuberts Winterreise. Lieder von Liebe und Schmerz. Fast resigniert stellt auch er fest, dass die existenzielle Ebene der Schubert’schen Lieder über die Einsamkeit immer noch verdeckt wird durch den tausendfach verkitschten Mythos des unglücklichen „Schwammerl“, dessen Liebesgefühle von den Mädchen nicht erwidert wurden. Aber jenseits vom politischen Quietismus des Biedermeier, jenseits auch von Schuberts unglücklichen Liebesgeschichten berührt die existenzielle Ebene dieser Vereinzelung bis heute: Welche Beziehungen können wir überhaupt zu anderen Menschen knüpfen? Sind unsere tiefsten Gefühle nicht nur kurze Unterbrechungen einer Einsamkeit als anthropologische Konstante? Das war zumindest eine zentrale Behauptung des Existentialismus, der in den Fünfziger- und Sechzigerjahren des 19. Jahrhunderts das intellektuelle Klima in Europa prägte.
Die Einsamkeit des Langstreckenläufers: Metapher wofür? Der Titel der 1959 erschienen Kurzgeschichte von Alan Sillitoe The Loneliness of the Long Distance Runner wurde im englischen Sprachraum zum geflügelten Wort und ist in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen. Spätestens nach der Verfilmung 1962 (Regie: Tony Richardson) war die Geschichte zum Klassiker geworden. Der Plot ist schnell erzählt: Colin Smith ist ein junger Mann aus ärmlichen Verhältnissen der Arbeiterklasse. Mit seinen Eltern verbindet ihn nichts. Er lebt von Kleinkriminalität, wird schließlich verhaftet und kommt in ein Jugendgefängnis, in dem der „Governor“ ein strenges Regiment führt. Als dieser Gefängnisleiter aber herausfindet, dass Smith ein ta111
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lentierter Leichtathlet ist, bietet er ihm Privilegien und lässt ihn sogar außerhalb des Gefängnisses für ein wichtiges Rennen trainieren. Für den Governor wäre ein Sieg seines Stars über die Konkurrenz aus den noblen public schools mit ihren Oberschicht-Jünglingen ein ersehnter PR-Erfolg für sein Rehabilitationsprogramm. Im großen Rennen kann Smith sich schnell absetzen und läuft einem ungefährdeten Sieg entgegen. Dann aber bleibt er wenige Meter vor der Ziellinie stehen und lässt seinen Konkurrenten vorbei, verzichtet also auf den Triumph. Im Film starrt er dabei trotzig direkt seinen Governor an, der entsetzt und hilflos die Vereitelung seines größten Wunsches miterleben muss. Als Folge werden Smith alle Privilegien gestrichen, was er gleichmütig hinnimmt. Interessanterweise wurden Text und Film von den Zeitgenossen als schneidende Kritik am englischen Klassensystem und somit als politisch im Sinne des britischen kitchen sink realism verstanden. Aus heutiger Sicht mutet die aktive Verweigerung des Sieges eher als existentialistische Geste an. Die anhaltende Popularität der Geschichte dürfte auch auf die Mehrdeutigkeit, auf die Ambivalenz des Narrativs zurückzuführen sein: Bietet uns der Held eine Verkörperung von Einsamkeit als Stärke an oder erleben wir ein Bild des heroischen Scheiterns und dadurch eine Anklage gegen die Ungerechtigkeit des Klassensystems – oder aber beides gleichzeitig? In heutiger Terminologie: Self-Empowerment durch Verweigerung der Kollaboration mit dem „System“? Die überdauernde Wirkung hängt aber wohl weniger mit solch abstrakten Überlegungen als mit dem Bild des schwitzenden Läufers allein in der grauen Landschaft zusammen: Es löst bei uns Identifikation und Bewunderung für die Leistung und Stärke des Einzelkämpfers aus, aber eben auch negative Assoziationen von Einsamkeit und existentieller, schicksalhafter Entfremdung. „Einsam“ fühlt sich der junge Held eben nicht dann, wenn er ganz allein seine Trainingseinheiten abspult, sondern viel eher in der Gruppe im Gefängnis und wohl auch schon in seinem Leben davor: Wir lesen seine Erinnerungen, wir sehen die Bilder seines Vorlebens: Immer klarer erkennt er, dass er 112
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im brutalen englischen Klassensystem von Anfang an keine Chance auf ein sicheres und gutes Leben hatte. Ihm bleibt nur die Entfremdung, auch die Selbstentfremdung im bedeutungslosen Leben eines Kleinkriminellen. Er bleibt allein, kann aber dieses Gefühl im Training als ein positives empfinden. Seine Erinnerungsarbeit als Nebeneffekt der langen Trainingsläufe führt ihn nicht zum solidarischen Anschluss an eine politische Partei oder Gemeinschaft, sondern zu seiner heroisch-sinnlosen Verweigerungsgeste eines proletarischen Existentialisten: Er kann, ja er will seine Einsamkeit nicht lindern durch die Beziehung zu einer Geliebten oder zu seinen Freunden, aber auch nicht durch Einbindung und Solidarität mit dem Fühlen und Handeln einer Gruppe. Er beharrt darauf, ausschließlich allein über sein Schicksal zu entscheiden im Sinne einer negativen Freiheit: So verstehe ich auch den Werbespruch des Films: „You can play it by rules... or you can play it by ear – what counts is that you play it right for you...“
Eleanor Rigby: All the lonely people … Millionen von angry young men auf der ganzen Welt wussten damals wohl oft selbst nicht, ob ihre Einsamkeit eine trotzig-rebellische Pose oder doch traurige Realität war. Zwei dieser jungen Männer diskutierten vielleicht auch darüber auf einem ihrer vielen Spaziergänge im idyllischen Friedhof der St. Peter’s Parish Church in Liverpool, nachdem sie den Film von der Einsamkeit des Langstreckenläufers gesehen hatten. Zehn Jahre später aber war die Grundstimmung der Jugend völlig verändert: Jetzt ging es nicht mehr um Existenzialismus und Entfremdung, sondern um Aufbruch, Drogen, ein kollektives Miteinander, freie Liebe und Popmusik. Eine der Hymnen dieser Generation fasste schon im Titel zusammen: All you need is love! Die Schöpfer dieser „Welt-Ju113
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gend-Hymne“ waren eben die beiden Burschen vom Friedhof in Liverpool: John Lennon und Paul McCartney wurden mit den Beatles nach Lennons Aussage berühmter als Jesus und Idole für Millionen junger Menschen. Im Gegensatz zu vielen Rockstars allerdings scheinen sie die verunsicherte ältere Generation nicht nur als verklemmte Spießer verachtet zu haben. Aus einer Grundhaltung melancholischer Ironie schrieben sie 1966 ein Lied, das für den damals noch nicht gebräuchlichen Begriff der Alterseinsamkeit einprägsame Bilder und eine unsterbliche Melodie fand: Eleanor Rigby. Ah, look at all the lonely people Ah, look at all the lonely people Eleanor Rigby Picks up the rice in the church where a wedding has been Lives in a dream Waits at the window Wearing the face that she keeps in a jar by the door Who is it for? All the lonely people Where do they all come from? All the lonely people Where do they all belong? Father McKenzie Writing the words of a sermon that no one will hear No one comes near Look at him working Darning his socks in the night when there’s nobody there What does he care? [Refrain] Eleanor Rigby Died in the church and was buried along with her name Nobody came Father McKenzie Wiping the dirt from his hands as he walks from the grave No one was saved [Refrain] Der legendäre Song erschien 1966 auf dem Album Revolver. Musikalisch war das Lied eine wichtige Station auf dem Weg 114
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der Beatles weg vom klassischen Rock’n’Roll hin zu experimentelleren Formen mit seinem opulenten Streicher-Arrangement und sogar kontrapunktischen Ansätzen. Völlig außergewöhnlich aber für einen Popsong von 1966 war der Text: Die Themen Alter, Einsamkeit und Tod waren absolutes Neuland für die damalige Populärkultur. Die Kritiker waren überrascht, meist aber positiv berührt davon, dass die berühmteste Popband der Welt sich um vereinsamte ältere Menschen sorgte. Das Lied strahlt die graue Stimmung eines tristen Lebens im Nachkriegsengland aus, aber auch die Atmosphäre früher Schwarz-Weiß-Filme: Der Guardian schrieb 2007 von Eleanor Rigby als „Mischung aus Purcell und Truffaut“ – also auch eine Mischung aus ehrwürdigster altenglischer Musikkultur und Avantgarde-Filmen der Sechzigerjahre. Interessanterweise entdeckten Beatles-Fans auf dem Friedhof der St. Peter’s Parish Church in Liverpool sowohl das Grab einer realen Eleanor Rigby als auch nur wenige Meter entfernt ein Grab mit dem Namen McKenzie. Auf genau diesem Friedhof hatten McCartney und Lennon in ihren Teenagerjahren viel Zeit verbracht. McCartney bestätigte, dass hier durchaus sein Unbewusstes tätig geworden sein könnte: Eleanor Rigby sei für ihn zwar ein fiktiver Name gewesen, den er erfunden habe – aber… Seit 1982 gibt es in Liverpool ein Denkmal für Eleanor Rigby: Die Statue einer Frau, die allein auf einer Bank sitzt, rechts neben ihr eine große Handtasche, aus der eine Milchflasche herausragt, links von ihr eine aufgeschlagene Zeitung, auf der ein Spatz sitzt, den sie anschaut. Darüber eine Bronzeplakette: „…dedicated to all the lonely people“. Sogar im Werk der Beatles ist dieses Lied etwas Besonderes durch die Mühelosigkeit, mit der es eine intensive Atmosphäre von Melancholie, nicht aber von Verzweiflung hervorruft: Mit etwas Phantasie kann man behaupten, dass spätestens mit diesem Lied die bittersüße Einsamkeit nicht mehr nur ein Privileg der jungen Männer war, dass ein einsames Leben und die Angst davor für alle Altersstufen zum 115
II. Zwischen Außen und Innen
Thema geworden war. Es ging jetzt nicht mehr um existentiell-heroische Posen irgendwo zwischen Jean-Paul Sartre und James Dean in Rebel Without a Cause, es ging um Angst, Leiden und Schwäche. In den letzten Jahrzehnten vor dem Millennium wurde der zentrale Ansatz jeglicher Psychotherapie mehrheitsfähig, dass man sich seinen Ängsten und Schwächen stellen müsse, um mit ihnen anschließend besser leben zu können. Diese Haltung einer innerpsychischen Toleranz, einer Arbeit an sich selbst wurde zunehmend von einem Privileg der Intellektuellen zu einer Anforderung an alle: Bewältige deine Schwäche! Nur deine eigene Willenskraft ist entscheidend für deinen Erfolg. Solche Sätze wurden zu Slogans im neoliberalen Meinungsklima. So begegnen wir dem Langstreckenläufer ein zweites Mal, jetzt aber als Verkörperung der Willensstärke und Selbstüberwindung. Noch einmal Langstreckenlauf: Marathon als Metapher Zumindest einmal pro Jahr lesen wir den Titel von Sillitoes Erzählung Die Einsamkeit… verlässlich in den Boulevard-Zeitungen als Codewort in der Vorschau auf den lokalen Großstadt-Marathon. Tausende gehen an den Start mit dem Ziel, die 42,185 km zu bewältigen, um sich selbst ihre Willensstärke und Durchhaltefähigkeit zu beweisen. Das Bild des Langstreckenläufers, speziell des Marathonläufers ist unter den Bedingungen des Neoliberalismus heute zur Verkörperung einer „Kraft des Willens“ geworden: Es geht nicht mehr wie bei Sillitoe um Einsamkeit oder Entfremdung des Menschen, sondern um die Demonstration von Leistung, Leidensbereitschaft und Selbstoptimierung: Im Bild der Marathonläuferin erleben wir eine Legierung der „alten“ Leistungsideologie im Sinne Max Webers’ protestantischer Ethik mit dem „neuen“ neoliberalen Narrativ der Selbstoptimierung: Wenn du es wirklich willst, wenn du dich ganz stark bemühst – dann kannst auch du einen Marathon laufen. Für die Verkörperung solcher Botschaften der Leistungsideologie eignet sich der einsame Läufer besser als eine Teamspielerin: Er ist ganz allein auf sich angewie116
Einsamkeit und Identitätskonstruktion
sen, völlig selbstverantwortlich für seinen Erfolg oder sein Scheitern. Also ein Bild der Einsamkeit des Starken, der für die vielen hundert allein heruntergespulten Trainingskilometer irgendwann Monate später im Ziel des Marathons vom Jubel des begeisterten Publikums für seine Qualen entschädigt wird.
Einsamkeit und Identitätskonstruktion: Konzepte der Stärke und Schwäche
Unsere Vorstellungen vom Alleinsein, vom Leben als Single oder aber als Teil eines Paares oder einer Gruppe, unsere dazugehörigen Phantasien und Wünsche: Sie werden wie so vieles in der frühen Kindheit geformt, begleiten uns ein Leben lang und sind ein wichtiger Baustein unseres Selbstbildes und unserer Identität. Eine Leitdifferenz dabei ist die Trennlinie zwischen „starken“ und „schwachen“ Bildern vom Alleinsein. Es macht einen entscheidenden Unterschied, ob mir beim Stichwort „allein“ zuerst die heroisch einsame Heldin einfällt oder aber der bemitleidenswerte Verlassene im leeren Hotelzimmer. Die Keimzelle für solche Szenarien wird durch unsere Beziehung zu den Eltern und vor allem in den ersten Jahren gelegt. Es geht dabei um die Überzeugung, ein gewolltes und geliebtes Kind gewesen zu sein oder aber ein ungewolltes, das mehr pflichtgemäß versorgt als geliebt wurde. Der Psychoanalytiker Lichtenstein bezeichnete solche Fundamente eines Selbstbildes als „Identitätsthema“: Manche von uns leben nach der Überzeugung: „Am Ende ist jeder Mensch doch allein“, während andere aus ihren biographischen Erfahrungen heraus fest davon überzeugt sind, dass auch in der Not immer jemand für sie da sein wird. 117
II. Zwischen Außen und Innen
Alleinsein im Kontext eines starken Selbstbildes
Jeder kennt die Bilder des Denkers, der sinnend ins Weite blickt, der einsam mit sich und seinem Dämon ringt. Noch häufiger sehen wir Bilder von Konzern-Chefinnen als schmale Silhouetten im vollverglasten Hochhausbüro, die auf die Großstadt und die Masse der gewöhnlichen Menschen herabblicken. Das sind Ikonen der einsamen, starken Ausnahmemenschen und Genies. Ihre Isolation, ihr Alleinsein – es ist eine selbstgewählte Einsamkeit als Ausdruck ihrer Autonomie. Sie sind von niemandem abhängig, nur sich selbst und ihrem eigenen Interesse verpflichtet. Politiker kennen die Kraft solcher Bilder und wir kennen die sorgfältigen Fotoinszenierungen wie jene von Barack Obama allein im Oval Office des Weißen Hauses. Solche Fotos sollen uns die Anstrengung, die Last der Verantwortung verdeutlichen. Große Männer und Frauen müssen einsam entscheiden über unser aller Schicksal. Die Kontrastfolien dazu sind die Fotos vom „Bad in der Menge“: Auch sie zeigen uns die Alpha-Männer nicht als gleichberechtigte Gruppenmitglieder, sondern inmitten ihrer Bewunderer und Anhängerinnen. Wir sehen die asymmetrische Beziehung des Massenführers zu seinem Publikum. Sigmund Freud beschrieb dies vor hundert Jahren in Massenpsychologie und Ich-Analyse. Der bekannteste „Untertitel“ zu diesen Bildern aber kommt aus der deutschen Klassik in der klingenden Formulierung Friedrich Schillers: „Der Starke ist am mächtigsten allein […]“ (aus: Wilhelm Tell/I/III). Nur wenige erinnern sich an die Antithese wenige Zeilen später: Tells Gegenspieler Stauffacher betont die Macht des Kollektivs: „Verbunden werden auch die Schwachen mächtig […]“ Unsere Imagination aber wird stärker berührt durch die Bilder des einsamen Stars: Dazu phantasieren wir uns die 118
Einsamkeit und Identitätskonstruktion
Last seiner Verantwortung, das Leiden an einer Berühmtheit, die wir uns selbst oft vergeblich wünschen. Deshalb lebt die Regenbogenpresse seit Jahrzehnten bestens von den immer gleichen Geschichten unglücklicher Prinzen oder Prinzessinnen, Multimillionärinnen und Rockstars. Der „Songwriter für Intellektuelle“ Randy Newman fasste dieses etwas kokette Leiden der Stars an ihrer Berühmtheit ironisch zusammen: Listen all you fools out there Go on and love me, I don’t care Oh, it’s lonely at the top Oh, it’s lonely at the top
In einem Interview berichtete Newman, dass er diesen Song ursprünglich für Frank Sinatra geschrieben hatte in der Hoffnung, dass dieser seinen eigenen Mythos des trotz allen Ruhms einsamen Superstars selbstironisch sehen und besingen könne. Dem aber war nicht so: Sinatra lehnte das Lied ab und so sang es Newman als Nicht-Superstar selbst. Am Beispiel dieses Songs wurde ihm klar, warum „das amerikanische Publikum mich nie lieben wird: Die Menschen wünschen, dass der Künstler meint, was er sagt und singt – und das gebe ich ihnen nicht.“ Wir wünschen uns also ein „authentisches“ Leiden unserer Stars an und in ihrer Rolle. Als klassisches Beispiel für die weibliche Variante dieses „lonely at the top-Klischees“ klagt Bette Davis in ihrer Rolle der unglücklichen Filmdiva in All about Eve: „Success can’t keep you warm in bed at three in the morning […]“ Große Künstler können allein durch die Art ihrer Darbietung, durch den Ton ihres Gesangs – verbunden mit der Aura der ihrem Publikum schon bekannten Persona – 119
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auf der schmalen Grenzlinie zwischen stark und schwach balancieren, zwischen der Einsamkeit des Verlassenen und der coolen Stärke des einsamen Wolfes. Ein beeindruckendes Exempel liefert Johnny Cash, der 2000 (im Album Solitary Man) einen uralten Song von Neil Diamond nicht nur coverte, sondern sich wahrlich aneignete: Solitary Man. Wir hören im Text die Erzählung eines Mannes, der von mehreren Frauen verlassen wurde –also nicht gerade ein Bild der Stärke. Da wir aber gleichzeitig Johnny Cashs’ so starke Stimme hören und ihn vor unserem inneren Auge als lonesome cowboy sehen, ergibt sich die Spannung, durch den der Song in Cashs’ Interpretation fasziniert: Belinda was mine till the time That I found her Holding Jim And loving him. Then Sue came along, Loved me strong, That’s what I thought Yeah, me and Sue, But that died, too. Don’t know that I will But until I can find me The girl who’ll stay And won’t play games behind me I’ll be what I am: A solitary man Solitary man.
Ein Lied – zwei Interpreten und zwei konträre Bilder von Männlichkeit: Bei Neil Diamond hören wir ein bittersü120
Einsamkeit und Identitätskonstruktion
ßes, durchaus sentimentales Lied als Klage des verletzlichen, in seiner Schwäche aber für Frauen durchaus attraktiven Mannes. Es passte zum Klischee des „Softies“ und war in den Siebzigern ein weltweiter Hit. Johnny Cash hingegen lässt die narzisstische Wunde und das Leid des Verlassenen nur kurz anklingen, transponiert sie dann aber in ein Bild der Stärke: Nun kann der Mann wieder seiner eigentlichen Natur folgen – on the road auf der Suche nach der nächsten Frau. Es sind wohlgemerkt Männerbilder, Bilder von Männlichkeit: Auch bei einer vergleichbar intensiven und einzigartigen Stimme kann die Klage einer Frau über ihr Verlassenwerden – wie z. B. bei Janis Joplin – kaum vergleichbare Bilder der Stärke bei uns auslösen: „Come on, take another piece of my heart now, baby […]“ Joplin bleibt in Erinnerung als Frau, die am Widerspruch zwischen künstlerischem Erfolg und privatem Unglück und Sucht tragisch zugrunde ging. Johnny Cash hat in seinem langen Leben wohl mehr Drogen konsumiert als Joplin – aber er hat überlebt (auch durch die Liebe und Sorge seiner Frau) als Bild männlicher Stärke und nicht als Opfer. Eine fast idente Spannung zwischen Stärke und Schwäche des Mannes nach einer Liebesenttäuschung gibt es auch schon im klassischen deutschen Kunstlied: „Ich murre nicht, und wenn das Herz auch bricht […]“ Heinrich Heines Text spielt noch mit der Spannung zwischen „authentischem“ Leid und romantischer Ironie. Wenn wir den Text aber in der Vertonung von Schumann von einem lyrischen Tenor gesungen hören wie z. B. Fritz Wunderlich, dann begeistern wir uns für den Schmelz seiner Stimme und hören Ironie oder Schwäche kaum mehr heraus. Von Schubert und Schumann, von Heinrich Heine bis Johnny Cash und Nick Cave wurde die bittersüße Melancholie der Einsamkeit von unzähligen Künstlern ge121
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pflegt, ja hochstilisiert zur unabdingbaren Voraussetzung ihrer Kreativität. Eines der berühmtesten Beispiele für ein solches Selbstbild war Rainer Maria Rilke, der einem bewundernden jungen Dichter 1903 schrieb: „Lieber Herr, lieben Sie Ihre Einsamkeit und tragen Sie den Schmerz, den sie Ihnen verursacht, mit schönklingender Klage. […] Ihre Einsamkeit wird Ihnen auch inmitten sehr fremder Verhältnisse Halt und Heimat sein, und aus ihr heraus werden Sie alle Ihre Wege finden.“ (in: Briefe an einen jungen Dichter, 16.07.1903) Aber abgesehen von den Genies ist es nicht allen Männern und noch weniger Frauen gegeben, durch Umschreibung und Positivierung aus einem unfreiwilligen Alleinsein eine selbstgewählte stolze Einsamkeit zu destillieren und der Umwelt zu präsentieren. Die obigen Beispiele und auch viele biographische Erzählungen von Patientinnen in Therapien zeigen allerdings oft beeindruckende re-framings lebensgeschichtlicher Ereignisse: Jahre nach einer Trennung wird oft aus dem erinnerten „sie hat mich verlassen“ dann ein erzähltes „wir haben uns getrennt“ oder sogar „ich habe sie verlassen!“ Aber dazu sind eben nicht alle fähig oder bereit: Weder zum Umdeuten einer unfreiwilligen Einsamkeit noch zum „reifen“ Ertragen einer solchen Situation ohne allzu viel Selbstmitleid oder Aggression, zum Verbleiben in der Realität in der Hoffnung auf eine baldige Veränderung hin zum Positiven. Viele Trennungsopfer bleiben in der Rolle des Mauerblümchens, das vergebens nach Freunden oder gar Liebespartnerinnen sucht: Diese Menschen leiden ganz ohne Koketterie und Selbststilisierung an ihrem Alleinsein. Sie empfinden es als eindeutig schmerzliche, weil ungewollte Einsamkeit. 122
Einsamkeit und Identitätskonstruktion
Oft sind sie auch überzeugt davon, dass ein Mensch wie sie ja viel zu unattraktiv, dumm oder langweilig sei, um irgendein Recht auf Freundinnen oder Partner zu haben. Mit einem solchen negativen Selbstbild (frei nach dem zynischen Motto: Keiner liebt mich, wieso ich?) wird es immer schwerer, aus der Opferrolle des Alleingebliebenen herauszutreten. Allerdings ist dieses Leiden am Alleinsein und der Selbstentwertung oft begleitet von meist nur teilweise bewussten Größenphantasien: Das geht von der harmlosen Überzeugung, dass eben niemand meine Einzigartigkeit und meine inneren Werte erkennen kann bis schlimmstenfalls zum Neid und Hass auf alle Erfolgreicheren. Vergleichbare Gefühle kennen wir fast alle aus der Pubertät. Allerdings gelingt es den meisten Menschen in der Adoleszenzphase dann, sich an die Beziehungsrealität so weit anzupassen, dass sie auch einen Partner oder eine Partnerin finden. Diese Spaltung zwischen dem Leiden an der eigenen Insuffizienz und den oft dahinterliegenden Größenphantasien ist wahrscheinlich auch einer der Gründe für die so große Beliebtheit der Superhelden-Comics und -Filme: Welcher Pubertierende hat noch nicht phantasiert, dass er so wie Superman hinter der harmlos-tapsigen Realität des Clark Kent ein Superheld ist, der verlässlich die Welt rettet und anschließend natürlich auch das geliebte Mädchen erobert. Übrigens kennt auch Superman die Figur des Rückzugs in die Einsamkeit: Seinen Zufluchtsort nennt er fortress of solitude. Nicht immer allerdings bleiben die Phantasien einsamer junger Männer so harmlos-rührend: Nur allzu oft erleben wir auch (speziell im Internet) eine ausnehmend toxische Kombination aus Selbstentwertung, Selbsthass und entsprechend wütender bis sogar mörderischer Aggression gegen die erfolgreicheren Konkurrenten und vor allem 123
II. Zwischen Außen und Innen
gegen Frauen: Bekanntestes Beispiel dafür ist die berüchtigte Internet-Subkultur der „Incels“8, die schon für zahlreiche Morde und Amokläufe verantwortlich waren. Allein daheim vor dem Laptop fühlen sie sich ihrem Neid und ihrer Aggression hilflos ausgeliefert. Auf ihren Websites im Internet aber können sie sich gegenseitig aufschaukeln zur mörderischen Aggression gegen Frauen, können diesen Hass ausleben und sich dabei wenigstens virtuell stark fühlen als Teil einer Gruppe, nicht mehr als isolierte Versager.
Gemeinsam statt einsam: Ist das immer die bessere Option?
Viele Menschen, die sich sozial isoliert fühlen bzw. oft geographisch isoliert leben, die durch ihre Ideen oder ihre Lebensführung Außenseiterpositionen einnehmen, sind dankbar für jede Möglichkeit, sich als Teil einer sozialen Gemeinschaft, einer Gruppe zu fühlen. Dadurch aber sind sie auch für populistische, esoterische oder sonstige Verführerinnen oft eine leichte Beute: Sei es als Anhänger von Verschwörungstheorien, sei es als Mitglied einer Sekte – der Preis für die Zugehörigkeit zu einer Gruppe besteht oft in der Ächtung seitens der großen Mehrheit oder aber in einer zunehmenden Radikalisierung, die neuerlich zur gesellschaftlichen Marginalisierung führt. Das aber sind nur die Negativbeispiele für den Ausgang aus der Einsamkeit durch eine stabilisierende, stärkende kollektive Identität, durch die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft: Der Soziologe Norbert Elias wies darauf hin, dass es für eine stabile Identität nicht genüge, ausschließ8 „Incel“ steht für involuntary celibate – also für einen unfreiwillig keusch bzw. ohne Sexualität mit einer Frau lebenden Mann. 124
Einsamkeit und Identitätskonstruktion
lich unsere individuelle Identität auszuprägen: Diese „IchSchicht“ allein genügt nicht, jeder von uns braucht auch noch eine „Wir-Schicht“, ein Gefühl von Zugehörigkeit und Zusammengehörigkeit in der Gruppe, heute oft auch in der virtuellen Internet-Gruppe. Erst dadurch entwickeln wir ein Gefühl der kulturellen Identität. Anna Gavalda: Zusammen ist man weniger allein Der Roman machte 2005 die Autorin Anna Gavalda in Frankreich zum Superstar. Das Buch erreichte eine Millionenauflage, bereits zwei Jahre später folgte die Verfilmung von Claude Berri mit Audrey Tautou knapp nach deren Triumph als „wunderbare Amélie“. Buch und Film singen das Hohelied der Gemeinschaft – genauer der Wohngemeinschaft von drei (später vier) Außenseiterinnen: Im französischen Originaltitel wird dies noch deutlicher: Ensemble, c’est tout kann man sinngemäß übersetzen mit „Gemeinsam – darauf kommt’s an“ oder etwas abstrakter „Gemeinsamkeit ist entscheidend“. Es ist eines der berühmtesten Beispiele für ein ganzes Subgenre: In vielen Romanen (und wohl noch mehr Filmen) müssen sich zwei Außenseiter/Einzelgängerinnen (meist gegen ihren erklärten Willen) für ein gemeinsames Leben „zusammenraufen“. In den allermeisten Fällen gibt es dann ein Happyend – die beiden entdecken unvermutet unerwartete Gemeinsamkeiten und oft genug werden sie auch zum glücklichen Paar.
Globalisierung vs. Isolationismus: Die politische Dimension von Alleinsein
In den letzten Jahren haben „starke“ Konzepte von Autonomie im Sinne von Isolierung und Isolationismus die politischen Konzepte rechtspopulistischer Politiker durchaus beeinflusst: Am deutlichsten wurde diese Tendenz zum 125
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„neuen Nationalismus“ als Gegenbewegung zur als bedrohlich erlebten Globalisierung wohl in Donald Trumps Schlachtruf America first. Aber auch die Betonung des better alone der Brexit-Befürworter geht in diese Richtung des „besser frei und einsam als gemeinsam“. Dass dies alles auch mit dem Stichwort „Einsamkeit“ zusammenhängt, belegt zumindest für mich eine Publikumsreaktion beim Glastonbury Pop-Festival von 2016 kurz nach dem Brexit-Referendum: Die nicht eben für Harmoniebedürftigkeit und allzu sanfte Töne bekannte Sängerin PJ Harvey erntete von ihrem jung-alternativen Publikum Standing Ovations nach dem Vorlesen eines fast vierhundert Jahre alten Gedichtes: „No man is an island, entire of itself; every man is a piece of the continent […]“ Es sind die berühmten ersten Zeilen der Meditation Nr. XVII von John Donne – geschrieben 1623. Die diametral entgegengesetzte Position dazu hören wir in einem Popsong, dessen Autor Paul Simon John Donnes Gedicht sicher kannte: I touch no one and no one touches me I am a rock I am an island And a rock feels no pain And an island never cries.
In diesem Lied hat Simon die Position des trotzig-einsamen Rückzugs sehr genau erfasst: Das Gefühl der Stärke und auch der dahinter liegenden Bedürftigkeit und Sehnsucht danach, keine Insel mehr sein zu müssen.
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Einsamkeit und Identitätskonstruktion
Starke und schwache Konzepte von Alleinsein/Einsamkeit im Kriminalroman Männliche Einsamkeit des souveränen Einzelgängers: Rogue Male Im Mai 1939 erschien knapp vier Monate vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in England der Thriller Rogue Male von Geoffrey Household, der mit einer damals sensationellen Szene begann: Ein englischer Gentleman und Großwildjäger hat Hitler im Fadenkreuz seines Gewehrs, drückt aber nicht rechtzeitig ab. Im Anschluss wird er gefangengenommen, gefoltert, zur Vortäuschung eines Unfalls über eine Klippe geworfen. Natürlich überlebt er irgendwie und entkommt aus dem Land des Diktators. Allerdings wird er dann auch in England von der Polizei gejagt, kann seine Verfolger aber immer wieder überlisten. Er versteckt sich schließlich in einer Höhle in Dorset, kann den Chef seiner Verfolger töten, ganz am Ende des Buches steht ein Brief an seinen Freund: Der Held ist auf einem Schiff in Richtung Tanger unterwegs, wird wieder in jenes „Land in Mitteleuropa“ zurückkehren und beim zweiten Versuch wird er nicht mehr versagen. „I shall not survive, but I will not miss a second time.“ Im Roman bleibt der Held ebenso namenlos wie der Diktator, den er fast „als größtes Raubtier“ erlegt hätte. Wenige Monate später allerdings war für alle klar, dass Hitler gemeint war, was der Autor auch später in Interviews bestätigte. Der Roman von Geoffrey Household, der als Banker, Bananenverkäufer und im Zweiten Weltkrieg im englischen Geheimdienst arbeitete, ist in England legendär. Er blieb bis heute ein Klassiker durch den Helden, der die typisch britischen Tugenden der coolen Gelassenheit auch im Angesicht des Todes idealtypisch verkörpert. Bereits 1941 wurde das Buch von keinem Geringeren als Fritz Lang verfilmt (Man Hunt), in einer Fernsehverfilmung von 1978 spielte Peter O’Toole den Helden. Schon das Wort rogue als Einzelgänger, ursprünglich geprägt als Bezeichnung eines von der Herde isoliert lebenden 127
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männlichen Raubtiers, gibt den Ton vor: Allein, mächtig, gefährlich. Sogar in den Folterszenen erscheint der Held immer noch als souverän durch seine Weigerung, irgendetwas zu verraten. Er bietet ein Bild der Kraft und Männlichkeit als Paradebeispiel für jenen Typus von Oberschicht-Mann, der das Bild des Officer and Gentleman bis heute prägt. Niemand käme auf die Idee, diesen Protagonisten wegen seiner Einsamkeit als bad, sad or mad zu bezeichnen. Households namensloser Held war der Ahnherr für viele weitere wortkarge, starke Männer mit düster melancholischer Aura, die in Filmen und Kriminalromanen bis heute die Populärkultur prägen: Die berühmtesten von ihnen laden ein zur Identifikation sowohl durch Bewunderung für ihre Stärke als auch Mitgefühl für ihre vom Publikum dahinter vermutete Schwäche, ihre „Seelenwunden“. Den einsamen Helden gibt es in der „guten Version“ des Polizisten und Detektivs, aber auch als bad guy, als Gangster oder Terrorist. Oft allerdings ist dieser Typus von Held auch an der moralischen Grenze zwischen Gut und Böse angesiedelt wie z. B. der Typus des Vigilante, des einsamen Rächers. Diese Exponenten der Selbstjustiz wurden im Kino oft verkörpert von Schauspielern wie Clint Eastwood oder dem lakonischen Charles Bronson. Speziell dieser Typus des an sich guten, jedoch von den Ordnungsmächten gejagten (moralisch aber überlegenen) Einzelkämpfers trug die Tradition des so eminent britischen Rogue in die USA: Dort lebt Geoffrey Households Typus des Helden in einer ur-amerikanischen Kino-Ikone weiter: 1972 erschien First Blood von David Morrell mit dem Helden Rambo – nach der Verfilmung mit Sylvester Stallone legendär geworden. In Interviews betonte Morrell mehrmals, wie sehr er beim Schreiben seines Buches von Rogue Male beeinflusst war. Ein eindeutig positiv gezeichneter Loner durchwandert (meist sogar zu Fuß) seit Jahrzehnten die Weiten der USA: Jack Reacher in den Romanen von Lee Child. In jedem Roman rettet er Menschen vor der übermächtigen Bedrohung durch Gangster oder Terroristen, in jedem Buch findet sich 128
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auch zumindest eine Frau, die nur allzu gern seine Einsamkeit lindern würde. Er aber muss weiterziehen… Der geniale Werbespruch für diese Roman-Reihe lautet: „Jack Reacher: Every man wants to be like him. Every woman wants to be with him“. Reacher steht in einer amerikanischen Tradition sowohl des Film Noir als auch der amerikanischen Krimi-Klassiker wie Dashiell Hammett oder Raymond Chandler (deren einsame Helden im Kino unsterblich wurden durch Humphrey Bogart in einigen seiner Paraderollen). Auch in Europa gibt es die einsamen, düsteren und vom Schicksal gezeichneten Ermittler, es gibt aber auch die hochstilisierten Gangsterfilme z. B. von Jean-Pierre Melville mit seinen stoischen Helden, die ihr auswegloses Schicksal mit existenzialistischer Gleichmut annehmen: Das berühmteste Beispiel dafür ist Alain Delon als Le Samouraï in Melvilles bekanntestem Film. Schon in einem Insert zu Beginn erfahren wir, dass „nur die Einsamkeit des Tigers im Dschungel“ der Einsamkeit dieses Samurai vergleichbar sei. Weibliche Einsamkeit als Schwäche oder: Mord aus Verzweiflung Karin Fossum ist eine der bekanntesten Schriftstellerinnen Norwegens. Sie bezeichnet ihre Bücher selbst einfach als Romane und nicht als Kriminalromane: Die Stille bringt den Tod ist der dreizehnte Fall für ihren Kommissar Sejer, einen Virtuosen der psychologischen Einfühlung und des ruhigen, geduldigen Verhörs. In Fossums Romanen gibt es keine Verfolgungsjagden oder Schießereien, die Spannung entwickelt sich aus subtilen psychologischen Beschreibungen, aus der Nachzeichnung der Motivation der TäterInnen. Sejer trifft im Verhör auf eine bereits geständige Mörderin: Ragna Riegel ist eine seit Jahrzehnten einsame, in ihrer unauffälligen Graumausigkeit fast unsichtbar gewordene Person. Zusätzlich ist sie fast stumm, weil sie nach einer missglückten Operation am Kehlkopf nur flüstern kann. Von Beginn an entsteht die Spannung aus der Abfolge von inneren Monologen Ragnas mit Dialogen ihres Verhöres: Lange 129
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kann sich die Leserin nicht vorstellen, wie aus solch einem schwachen, bemitleidenswerten Menschen eine brutale Mörderin werden kann. Auf der Ebene der Kriminalerzählung ist hier von Anfang an alles klar, das Geständnis liegt bereits vor. Kommissar Sejer aber möchte wissen, warum sie getötet hat. Als Leitmotiv durchzieht den Roman die Erleichterung Ragnas, endlich mit jemandem sprechen zu können, endlich gehört, ja „erhört“ zu werden. Sie berichtet dem freundlich-zugewandten Kommissar ihre traurige Lebensgeschichte – von der Kindheit mit zwei liebevollen Eltern über ihre Schwangerschaft nach einem One-Night-Stand bis zur Liebe zu ihrem Sohn. Sowohl der von ihr als liebevoll geschilderte Vater als auch der angeblich so erfolgreiche Sohn erweisen sich im Verlauf der Verhöre als idealisierte Figuren, die mit der faktischen Realität wenig zu tun haben. In ihren Selbstbeschreibungen liefert Ragna Bilder und Metaphern der Selbstverachtung, der Selbststigmatisierung als Folge, vielleicht aber auch schon als Ursache ihrer Vereinsamung. Ihr Blick auf sich selbst ist erbarmungslos, aber auch realistisch: Die Einsamkeit habe sie verletzlich gemacht, ihr aber auch ein Gefühl von Freiheit und Kontrolle gegeben (S. 17), sie sei eben eine, die niemand haben wollte (S. 83). Es sei schwer, sich wertvoll zu fühlen, wenn man allein in einer Höhle sitzt (S. 243). Knapp vor Ende des Romans resümiert Sejer die Lebensgeschichte der von ihm Verhörten: „Alle reden über das Licht, dachte er, dahin sehnen sie sich, davon träumen sie. Aber einige wollen im Dunklen sein. Dort finden sie Geborgenheit, dort wo sie nicht gesehen werden. Und weil sie nicht gesehen werden, gehen sie zugrunde, sie tappen in ihre eigene Falle.“ (S. 345) Denn auch der Polizist lebt nach dem Krebstod seiner Frau allein nur mit seinem dicken, alten Hund. Trotzdem zeichnet ihn die Autorin als eine Figur der Stärke. Er ist moralisch integer und fachlich souverän, dabei aber ausnehmend gütig in seinem Umgang mit der Täterin, die in ihm nach vielen Jahren zum ersten Mal einen Menschen trifft, der sie freundlich und wertschätzend behandelt. 130
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Der Roman zeichnet den Abstieg in die Katastrophe genau nach: Nach der „Wahl“ des einsamen Lebens als risikovermeidende Abwehrorganisation findet Ragna schließlich aus ihrer Einsamkeit ohne Hilfe nicht mehr heraus, was sie in einem rührenden Bild auf ein Tier projiziert: In einer Tierhandlung „besucht“ sie oft einen Ara, dessen Käfig zwar immer offen steht – er könnte den Käfig nach Belieben verlassen „hatte ein stehendes Angebot der Freiheit, entschied sich aber dagegen. Zu viele Menschen da draußen, dachte er vielleicht.“ (S. 145) Lange kann Ragna in ihrem kärglichen Leben einigermaßen stabil bleiben, einer einfachen und schlecht bezahlten Arbeit im Supermarkt nachgehen. Minimale soziale Kontakte genügen ihr. Dann aber kommt es zur Krise – sie erhält Drohbriefe, wobei im weiteren Verlauf immer weniger klar ist, ob diese Drohungen wirklich von außen kommen oder aber aus ihrer eigenen verstörten Seele. Zur Katastrophe kommt es, als ein Mann aus unschuldigen Motiven an ihrer Haustür klopft. In ihrer Panik ersticht sie ihn. Widerspruchslos lässt sie sich verhaften, wirkt fast erleichtert: Niemand kam, als sie unter ihrer Einsamkeit als Opfer litt, aber „ich habe ihn betrachtet, als er auf dem Boden lag. Und da wusste ich, dass ihr [die Polizei] endlich gezwungen wart zu kommen.“ (S. 324) Ich habe selten bei der Lektüre eines Romans so intensiv erlebt, wie ein Gefühl von resignativer Verzweiflung drohte, auf mich als Leser „hinüberzuschwappen“ – und mich deshalb mit der Lektüre fast quälen müssen, obwohl ich beeindruckt war von der Qualität der Sprache. Auch die psychologische Feinfühligkeit der Autorin, die jahrelang als Krankenschwester in einer Psychiatrie arbeitete, fällt auf und wurde von der Kritik auch durchgehend gepriesen. Trotzdem ist das Buch keine leichte oder eingängige Lektüre. Der Unterschied zum männlichen Gegenpart in Rogue Male könnte kaum größer sein: Dieser ist in jeder Hinsicht ein Ausbund an Stärke: Er stammt aus der Oberschicht, ist als Sportler körperlich extrem fit, reaktionstüchtig etc. Im Gegensatz dazu wird Ragna auf allen Ebenen als „schwach“ gezeich131
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net: Sie stammt aus der Unterschicht, erweist sich immer mehr als psychisch krank, ist dazu noch behindert durch ihr Sprachproblem, ist arm, formal wenig gebildet: Ragna ist ein Bündel aus allen Risikofaktoren für Einsamkeit. Während der Held in Rogue Male eines der letzten leuchtenden Beispiele für die Überlebenskraft des „British Gentleman“ auch in Extremsituationen bietet, scheint mir Ragna eher geeignet als Fallbeispiel für die Einsamkeit der Armen und Abgehängten in der Moderne/Postmoderne. Während die Souveränität des Helden in Rogue Male noch durch die relative Schwäche seiner Gegner/Verfolger verdeutlicht wird (er als Einzelner überwindet souverän die Gruppen bzw. ganzen „Hetzmeuten“ seiner Verfolger), wird bei Ragna ihre Schwäche noch durch die Stärke des Kommissar Sejer unterstrichen: Sowohl menschlich-moralisch als auch intellektuell ist er ihr klar überlegen, lässt es sie aber nicht spüren. Bilder von Männlichkeit und Einsamkeit: Clint Eastwood Clint Eastwood ist einer der bekanntesten Schauspieler der letzten fünfzig Jahre. Im Laufe einer langen Karriere wurde er auch zur Ikone einer stolzen, im Alter zunehmend zur Selbstironie fähigen Männlichkeit. In den allermeisten Mainstream-Filmen soll ja der Zustand des Alleinseins oder der Einsamkeit möglichst schnell überwunden werden, weil wir uns ein Happyend nur zu zweit vorstellen können. Im Gegensatz dazu verkörperte Eastwood immer wieder knorrige, sture, dabei aber immer „starke“ Exponenten männlicher Einsamkeit: Nur selten verliefen seine bekanntesten Rollen nach dem Muster: Held findet Frau bzw. Held rettet seine Frau/seine Familie. Häufiger war er sowohl am Beginn als auch am Ende eines Films allein, dazwischen ablaufende Liebesgeschichten blieben peripher. Zusätzlich aber hat sich Eastwoods Image seit seinen Anfängen im Italo-Western wohl so massiv verändert wie das keines anderen Film-Idols: Von den aus heutiger Sicht peinlichen, politisch reaktionären Dirty-Harry-Filmen über seine 132
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ersten Regiearbeiten bis hin zur berührenden Liebesgeschichte Die Brücken am Fluss und dem heroischen Opfergang eines einsamen alten Mannes in Gran Torino ging er einen wahrlich weiten Weg. Sehr viele Eastwood-Rollen zeigen uns klassische Lonesome Heroes: Das gilt für den coolen dirty Harry Callahan, der seine Wut und Verachtung nur mühsam kontrolliert. Aber auch für den Protagonisten von Gran Torino, der eindrucksvoll demonstriert, dass auch in hohem Alter noch Persönlichkeitsveränderung möglich ist. Alle diese Filmbilder laden auch ein zum Nachdenken über den Zusammenhang zwischen Idealen von Männlichkeit und starken oder schwachen Konzepten von Einsamkeit. In seinen Anfängen blieb Eastwood lange einer von vielen, ein in den USA mäßig bekannter TV-Star. Während er auf den Durchbruch wartete, suchte ein junger italienischer Regisseur einen möglichst „billigen“ Titelhelden für seinen ersten Western: Sergio Leone (1929–1989) war geprägt sowohl von seinen Wurzeln im Neorealismus (Regieassistent in Fahrraddiebe) als auch von seiner Bewunderung fürs amerikanische Populärkino und speziell John Fords Western. Er träumte von einer völlig neuen Deutung der mythischen Bausteine des Westerns. Allerdings hatte er für seine Visionen nur ein minimales Budget. Daher waren Dreharbeiten in den USA und auch ein Hauptdarsteller wie Henry Fonda für ihn unerschwinglich. Clint Eastwood allerdings war billig zu haben und nahm Leones Angebot an. Er bewies damit wie später noch so oft seinen Riecher für die Erfolgschancen ungewöhnlicher Projekte: 1964 verkörperte er den zynischen namenlosen Fremden, der in Sergio Leones Für eine Handvoll Dollar zwei Clans gegeneinander ausspielt: Hier ging es nicht mehr um den edelmütigen Kampf von Gut gegen Böse – jeder verfolgte nur brutal seine Interessen. Mit diesem Film begann ein neues Genre – der Italo-Western (in Amerika verächtlich „Spaghetti-Western“ genannt). Anfangs wurden diese Filme von der Kritik ignoriert oder
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verrissen, wurden wegen ihrer schäbigen Helden, billigen Kulissen und dreckig-realistischen Szenen als zweitklassig empfunden. Überraschenderweise aber erwiesen sich diese fast zärtlichen Dekonstruktionen des Western-Mythos mit ihrer Ästhetisierung der Gewalt und den amoralischen Helden speziell in Europa als kommerziell erfolgreich. Die uramerikanische Figur des lonesome cowboy wurde hier verbunden mit der düster-existentialistischen Stimmung eines Nachkriegseuropa. Das Ergebnis waren Anti-Helden, die einsam und stoisch ihren Weg gingen. Sie wollten nur überleben ohne hehre Ideale. Es gibt wenig Beziehung zwischen den Menschen in diesen Filmen, eher ein Nebeneinander von Einsamkeiten. Der Nachfolgefilm Für ein paar Dollar mehr zeigte 1965 wieder Eastwood in der Hauptrolle des stoisch-wortkargen Pistolenhelden im Poncho. Die Figur wurde hunderte Male imitiert, vor allem im stilbildenden Django. Im dritten Film von Leones Dollar-Trilogie spielte Eastwood neben Eli Wallach und Lee Van Cleef in einer zynischen Western-Oper. Die Musik zu allen drei Filmen schrieb Ennio Morricone: Mit ihren Leitmotiven wurde sie zu einem wesentlichen Teil des „Gesamtkunstwerks“ und zurecht berühmt. So wurde Eastwood als stoppelbärtiger einsamer Reiter zu seiner eigenen Überraschung ein Star in Europa, wo die Kritik allmählich Leones Western politisch als materialistische Analyse der Western-Mythen deutete. Die amerikanische Populärkultur war für Leone und seine Generation nach der faschistischen Ära überlebensnotwendig und wurde daher innig verehrt. In seinem Nachruf auf Leone beschrieb ihn Georg Seeßlen 1989 als romantischen Dekonstruktivisten der amerikanischen Mythen. Das passte zur Zeitstimmung der Proteste gegen den Vietnamkrieg. Die Italo-Western wurden zunehmend als linke, kritische Filme betrachtet. 1968 entstand Leones Meisterwerk Spiel mir das Lied vom Tod – ohne Clint Eastwood, der sich mit dem Meister zerstritten hatte. So war Eastwood verfügbar für einen US-Regisseur, den Leones Filme und auch deren kommerzielles 134
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Potenzial faszinierten: Mit Don Siegel drehte Eastwood Coogans großer Bluff und ein Ein Fressen für die Geier. 1971 bot ihm Siegel die Hauptrolle des „Dirty Harry“ Callahan in einem Krimi an. Es ist ein einsamer Rächer in einem urbanen Western: Ein zynischer Polizist, der im Kampf gegen das Böse fast demonstrativ alle Vorschriften und Gesetze bricht, weil er sie verachtet. Die Kritiker waren entweder entsetzt von diesem „Sheriff“, der in San Francisco aufräumte oder aber voller Verachtung – so wie Pauline Kael (damals Kritikerin der New York Times), die den Film als faschistisch und mittelalterlich verriss. Das „normale“ Kinopublikum der amerikanischen silent majority aber, das sich von der damals so tonangebenden „Love-and-Peace-Ideologie“ des liberalen Hollywood und der jungen Studenten verhöhnt und bedroht fühlte – es strömte in die Kinos: Dirty Harry als Exponent von Law and Order, als letzter aufrechter Kämpfer gegen den Zerfall der Werte wurde zur Legende und zum Role Model vieler konservativer Amerikaner. Bis heute kann man seine zynischen Sprüche, die berühmten One-Liners auf YouTube bewundern inklusive des legendären „Go ahead, make my day!“ Drei Fortsetzungen schlachteten diesen Sensationserfolg gebührend aus und so fand sich Clint Eastwood plötzlich als Posterboy eines „rechten Kinos“ wieder. Zur Überraschung vieler seiner Kritiker aber folgte bald der nächste Stilwechsel: Der „Anti-Schauspieler“ Eastwood erwies sich bereits wenige Jahre nach Dirty Harry IV als stilsicherer Regisseur, der sich oft selbst in der Hauptrolle besetzte. Spätestens nach den beiden Oscars für Unforgiven war er 1992 anerkannt. Seit Die Brücken am Fluss schwärmen auch viele Frauen von der Sensibilität, mit der Eastwood die Einsamkeit eines Mannes und die ganz andere Einsamkeit einer Frau in ihrer lieblos gewordenen Ehe als Ausgangspunkt für eine bittersüße, berührende Liebesgeschichte nutzte. Seither ist Eastwood zum Star für Männer und Frauen, für liberale und konservative Zuschauer geworden. 2000 lieferte er dann eine ausnehmend lustige Geschichte von der Sehnsucht isolierter alternder Männer, die noch einmal geschätzt 135
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und gebraucht werden wollen. Einmal noch Großes leisten, einmal noch in den Weltraum fliegen: Space Cowboys. Die für mich schönste Meditation zu den Themen von Männlichkeit, Einsamkeit und einem Altern in Würde in Eastwoods Gesamtwerk aber ist Gran Torino. Nach dem Tod seiner Frau zu Beginn des Films erleben wir Walt Kowalski als völlig vereinsamten, todkranken alten Mann, der als einziger übrig gebliebener „echter“ Amerikaner die „Schlitzaugen“ in seiner Nachbarschaft misstrauisch beobachtet. Früher hat er in Korea gegen sie gekämpft, jetzt sind sie in seiner Straße angekommen. In einem dramatischen Prozess der Re-Sozialisierung durch Action, aber auch durch zunehmendes Mitgefühl für die asiatische Familie nebenan hilft er dann deren jungem Sohn und opfert schließlich sein Leben, um diese Familie vor einer gewalttätigen Gang zu schützen. Nur vor der Folie all seiner früheren „harten“ Figuren konnte Eastwood diese wundersame Wandlung des menschenfeindlichen Rassisten zur christusähnlichen Rettungsfigur so kitschfrei und daher überzeugend spielen. Gran Torino ist ein Film über die Trauer im Alter um die immer schmerzlicheren Verluste, über die Einsamkeit des Alters und die Angst vor dem Sterben. Es ist aber auch ein berührendes Beispiel für die Möglichkeit der Persönlichkeitsveränderung auch noch knapp vorm Lebensende und nebenbei ein lakonisches Plädoyer für die asiatische „Wahlfamilie“ und gegen die biologische Familie des Protagonisten. Es ist ein kluger Film auch zum Thema „Generativität“, also über das Weitergeben nicht nur des titelgebenden Oldtimer-Autos, sondern auch die Weitergabe einer Haltung des Nicht-Aufgebens trotz Einsamkeit und Todesnähe. Für uns Zuschauer bleibt Eastwood speziell in dieser Rolle berührend, weil wir sowohl seine Verletzlichkeit, Verbitterung und Resignation spüren können als auch seine Kraft für einen letzten Kampf.
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Mikroerlebnisse von Einsamkeit im Alltag
Mikroerlebnisse von Einsamkeit im Alltag
Jeder kennt Alltagssituationen, in denen man sich plötzlich sehr allein fühlen kann: Das erleben wir, wenn wir uns mit unserer Meinung, unseren Sorgen und Schmerzen isoliert und verlassen fühlen inmitten anderer Menschen, in einer gleichgültigen oder als feindlich empfundenen Umwelt. Einige Beispiele für solche „Standardsituationen“ einer meist nur kurzfristigen Isolation oder Einsamkeit: • Das Erleben, sich allein in einer Gruppe von Menschen oder gar allein gegen alle anderen zu fühlen – z. B. in einer Teambesprechung. • Allein in einer Minderheitenposition (sei es als einzige Frau im Raum, als einziger politisch Andersdenkender, als einzige Ausländerin, Nicht-Weißer etc.). • Allein durch vorübergehende Trennung von der Bezugsgruppe/Familie/Community. • Allein im Familienkreis nach einem Streit, isoliert als einziger mit abweichender Meinung, als „schwarzes Schaf“. • Allein neben der Partnerin in einer unglücklichen Phase einer Beziehung – z. B. nach einem bösen Streit. In solchen Konstellationen kann die Eskalationskaskade sehr schnell ablaufen: Es beginnt mit der Überzeugung, dass sich niemand vorstellen kann, wie es mir eigentlich geht. Nächste Station ist der Schmerz, dass mich niemand versteht bis hin zum Verdacht, dass mich gar niemand verstehen will, weil ich niemandem wichtig bin. So führt der Weg in die Isolation oder auch Selbstisolation: Als Unverstandene fühlen wir uns nicht anerkannt, im Extremfall gar nicht mehr existent als soziale Wesen. 137
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Ähnliche Gefühle erleben wir auch ganz ohne Exklusion durch die anderen in Situationen eines „ersten Mals“: Wenn man die Codes, die Spielregeln (noch) nicht kennt, dann liegt die ganze Last des Nachfragens, das emotionale Risiko der Kontaktaufnahme bei der Einzelnen: Der Rest der Gruppe hat meist anderes zu tun, als sich um unser psychisches Wohlergehen zu kümmern oder unser „Ankommen“ zu erleichtern. Vertrauen zu haben und auch zu geben wird in solchen Situationen sehr schwer. Eine Extremform solcher Erfahrungen erleben Migranten: In diesem Fall sprechen die Betroffenen oft nicht einmal die Sprache ihres Ankunftslandes, sind also zusätzlich leicht zu verunsichern, fühlen sich oft beschämt, wenn sie die lokalen Regeln der sozialen Kommunikation erst erfragen oder ängstlich erproben müssen. In vielen Fällen erleben sie dadurch jahrelang „die tiefste der Einsamkeiten“ (Tahar Ben Jelloun). Im Vergleich zu solch jahrelang erlittenen Extremsituationen sind die Miniatur-Einsamkeiten unseres Alltags harmlos: Fast täglich gibt es für jeden von uns kurze, oft nur minutenlange Inseln des Alleinseins, der Leere und der erzwungenen Passivität. Wir erleben sie speziell in Situationen des Überganges von einer Aktivität zur anderen, beim Warten „dazwischen“: In jedem Wartezimmer, an der Bushaltestelle oder am Bahnhof, am Flughafen müssen wir Zeit totschlagen und sind dabei oft auf uns allein zurückgeworfen. Früher konnte man in solchen Situationen oft Menschen beobachten, die mit leerem Blick vor sich hinstarrten, ganz in sich selbst zurückgezogen. Nur wenige hatten als „Notration“ für solche Situationen immer ein Buch in der Tasche. Heute gibt es einen einfachen Ausweg für alle: Innerhalb von Sekunden bietet uns das Smartphone Töne oder Bilder nach Wunsch, mit denen wir uns die Zeit und die Einsamkeit vertreiben können. 138
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Vielleicht aber war das frühere Aushalten-Müssen solcher Mikro-Einsamkeiten und die Langeweile des Wartens auch eine Art „Immunitätsstärkung“, eine Einübung in ein zumindest kurzfristiges Alleinsein, auf sich selbst angewiesen sein. So wie Kinder heute wahrscheinlich auch deshalb infektionsanfälliger sind, weil sie fast schon zu „hygienisch“ aufwachsen – so sind diese Kinder heute ohne Smartphones oft auch unfähig, nur kurze Zeiträume des Alleinseins ohne großes Unbehagen zu ertragen. Jede aufkommende Irritation wird durch die beruhigende Wirkung des Handys verlässlich gelindert wie durch einen Tranquilizer oder einen Schnuller. Wie beim Gebrauch von Tranquilizern ist aber auch hier das Abhängigkeitsrisiko beträchtlich: Kaum ein Einzelner, keine Einsame lebt heute ohne eine elektronische „Nabelschnur“ zur Welt. Sein Smartphone bietet ihm Zugang zu Gleichgesinnten, oft auch gleichermaßen Bedürftigen. In solchen Gruppen, in Chatrooms oder Internetforen bin ich nicht mehr allein mit meinem Mangel, meiner Sehnsucht, meiner Empörung. Ob dieses Gefühl der Zugehörigkeit und des Verstandenwerdens „real“ ist, bleibt schwer zu entscheiden. Schlimmstenfalls ist das ähnlich wirksam, aber auch riskant wie eine „symptomatische Therapie“ z. B. einer Depression mit Tranquilizern: Diese Medikamente lindern die Symptome zwar für einige Stunden und bei regelmäßigem Gebrauch auch länger; sie können aber eine Behandlung der Ursachen nicht ersetzen. Oft genug dienen sie dazu, die gefürchtete Auseinandersetzung mit den Ursachen unseres Leidens zu vermeiden.
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II. Zwischen Außen und Innen
Im Schlaf ist jeder allein – in der Schlaflosigkeit fast jeder einsam
Viele verwenden ihr Handy oder den Fernsehapparat auch als Einschlafhilfe, sie dösen bei laufendem Ton oder flimmernden Bildern ein. Im Schlaf steht uns das Handy nicht mehr zur Verfügung, jeder ist dann ganz allein in seiner privaten Realität. Schon Freud zitierte den Ausspruch des Aristoteles, dass wir tagsüber alle dieselbe Welt bewohnen, nachts aber jeder allein in seiner Welt lebt. Aber der Weg in diese Welt ist nicht ganz einfach, denn (so Freud 1916/1917 S. 413): „Der Mensch legt allnächtlich die Hüllen ab, die er über seine Haut gezogen hat […] und beim Schlaf nimmt er auch eine ganz analoge Entkleidung seines Psychischen vor.“ Für viele Menschen ist diese allabendliche „Entkleidung ihrer Seele“ nicht ganz einfach: Manche können sich wie auf Knopfdruck wohlig und erleichtert in den Schlaf fallen lassen, andere wälzen sich noch stundenlang hellwach und grübelnd im Bett. Viele von uns schlafen besser und leichter ein, wenn an ihrer Seite ein geliebter oder vertrauter Mensch liegt oder zumindest in der Wohnung anwesend ist. Vor allem in langjährigen Beziehungen symbolisieren die gemeinsamen Einschlafrituale oft Vertrauen und emotionale Nähe: Man schmiegt sich aneinander, sucht den Hautkontakt, hält die Hand der Partnerin. Wohl deshalb berichten auch viele Menschen, dass der Anblick der leeren Betthälfte neben ihnen beim Einschlafen die schmerzlichste Erinnerung an den abwesenden, den verlorenen Partner darstellt: Es ist die allabendliche bittere Erkenntnis ihres Alleinseins. Speziell beim Aufwachen aus dem Schlaf, aus einem Traum um drei oder vier Uhr reagiert kaum jemand gelassen, wenn er nicht mehr einschlafen kann. Schon aus 140
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physiologischen Gründen (wegen der frühmorgendlichen Kreislaufbedingungen mit niedrigem Blutdruck und Puls) fühlen wir uns dann besonders ausgeliefert. Wir denken an gesundheitliche, finanzielle oder emotionale Sorgen und blicken hilflos grübelnd immer ängstlicher dem kommenden Tag entgegen. Wahrscheinlich kommen auch gesunde Menschen in solchen Situationen dem schrecklichen Verlassenheitsgefühl depressiver Patientinnen für einige Stunden ziemlich nahe. Scott Fitzgerald, der Depressionen und Verzweiflung selbst nur allzu gut kannte, bemerkte dazu: „In a real dark night of the soul, it is always three o’clock in the morning, day after day.“ Für die Schlaflosen ist es kaum ein Trost, dass sie in ihrem Leid nicht allein sind, dass bis zu einem Drittel der Bevölkerung in den Industriestaaten über häufige Schlaflosigkeit berichtet. Sogar die Frage des gesunden und ausreichenden Schlafes entscheidet sich nicht nur individuell, sogar hier wirken gesellschaftliche und historische Faktoren: Angesichts einer zunehmend lauten, aktiven und auch nachts durchgehend grell ausgeleuchteten Welt wird es schwieriger, sich gelassen und entspannt ins Dunkel des Schlafes fallenzulassen. Auch die durchschnittliche Schlafdauer wurde im letzten Jahrhundert um zumindest eine Stunde kürzer: In seinem Buch 24/7: Schlaflos im Spätkapitalismus behauptet Jonathan Crary, dass der Schlaf das letzte Haupthemmnis gegenüber einer vollständigen Durchsetzung des 24/7-Kapitalismus darstellt. Auch deshalb gibt es bei immer kürzerer Schlafdauer immer mehr Schlaflose – und auch hier ist das Risiko unterschiedlich je nach sozialökonomischer Situation: Frauen leiden häufiger an Schlafstörungen, ebenso Menschen mit niedriger Schulbildung, Arbeitslose und prekär 141
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Beschäftigte. Es liegt also nahe, auch den „guten erholsamen Nachtschlaf“ als Privileg der abgesicherten Klassen zu beschreiben: Wahrscheinlich kann ich mich umso leichter ohne Angst fallenlassen und die Anforderungen des Lebens eine Nacht lang vergessen, wenn meine Sorgen nicht allzu groß sind und wenn ich psychisch einigermaßen gesund bin: Denn bei fast jeder psychischen Krankheit ist auch der Schlaf beeinträchtigt. Da aber jede psychische Erkrankung auch das Einsamkeitsrisiko steigert (und umgekehrt!), muss man davon ausgehen, dass sehr viele einsame Menschen auch an Schlafstörungen leiden. Auch hier kommt zum intensiven Leiden am Alleinsein, zur Sehnsucht nach einem Geliebten und/oder einer Sexualpartnerin noch der gesellschaftliche Druck dazu, sich als nicht allein, als Teil eines glücklichen Paares zu präsentieren. Daher auch die zahlreichen Filme, in denen der Held/die Heldin innerhalb weniger Stunden einen „MietPartner“ oder eine Darstellerin der Geliebten/Verlobten für irgendeine Familienfeier oder Reunion aus dem Hut zaubern muss. Wenn sich jemand als alleinlebend „outet“, dann meist mit defensivem oder beschämtem Unterton: Denn als Reaktion ist bestenfalls der Versuch zu erwarten, das arme Mauerblümchen zu verkuppeln, schlimmstenfalls aber die Etikettierung (und oft auch Selbstetikettierung) als „beziehungsunfähig“ oder Schlimmeres. Lars und die Frauen: Systemische Behandlung einer Einsamkeitspsychose? Seit seiner Premiere 2007 wurde der Film Lars and the real girl (dt. Lars und die Frauen) zu einem Überraschungserfolg in den Arthouse-Kinos. Nancy Oliver wurde für ihr Drehbuch sogar für einen Oscar nominiert, der Hauptdarsteller für einen Golden Globe. Dieser Hauptdarsteller war wohl für viele Zuschauerinnen der Grund, ins Kino zu gehen: Es ist Ryan Gosling kurz vor seinem Durchbruch zum Weltstar. In seiner Dar142
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stellung des schrullig-tapsigen Einzelgängers mit verzerrtem Lächeln und Babyspeck ist er noch weit weg von seinem späteren coolen Image. Die Handlung ist schnell erzählt, eigentlich ist es fast ein Märchen von der Heilung einer Psychose mit Hilfe der Nachbarschaft, ja der gesamten Kleinstadt: Lars ist ein extrem schüchterner, schon als sozialphobisch einzuschätzender junger Mann, für den sogar eine Frühstückseinladung bei seinem im Nebenhaus lebenden Bruder und dessen Frau eine massive Überforderung darstellt. Durch die hochschwangere Schwägerin wirkt er noch zusätzlich peinlich berührt. Zwanghaft und ängstlich quält er sich durch seinen Alltag im eisigen winterlichen Minnesota. Die Avancen einer freundlichen Arbeitskollegin bewirken nur verstärktes Rückzugsverhalten. Sein Bruder und dessen Frau sind dementsprechend besorgt um ihn und daher überglücklich, als er ihnen verlegen eröffnet, er habe eine Freundin gefunden. Ihre Freude weicht allerdings bald dem blanken Entsetzen: Die von Lars präsentierte Freundin Bianca ist eine aufblasbare Puppe, ein Sex-Spielzeug. Er aber behandelt sie wie einen lebenden Menschen: Sie sei eine kranke brasilianische Missionarin, die er jetzt im Rollstuhl umherführen müsse, weil sie körperlich so geschwächt sei. Er spricht mit ihr und gibt auch seinen Angehörigen zu verstehen, dass er die Aufnahme von Bianca in den Familienkreis erwartet. Der ratlose Bruder und seine Frau sind überzeugt, dass Lars jetzt verrückt geworden ist. Daher bitten sie ihre Hausärztin, seine Einweisung in die Psychiatrie zu veranlassen. Die blasse und erschöpft wirkende Ärztin aber winkt entschlossen ab: Wenn alle in der Gemeinde versuchen würden, eine Zeitlang „mitzuspielen“, dann würde sich die Symptomatik dadurch vielleicht auflösen lassen. Trotz großer Skepsis nehmen nicht nur Lars’ Angehörige, sondern alle Bewohnerinnen der Kleinstadt diese Aufgabe auf sich. Nach einer Diskussion wird Bianca auch in der Kirchengemeinde willkommen geheißen. Sie darf teilnehmen an Gottesdiensten und auch an Partys, immer umsorgt vom überprotektiven und eifersüchtigen Lars, der alle Männer als potentielle Rivalen misstrauisch beobachtet. 143
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Die Ärztin bestellt Lars mit Bianca regelmäßig zur Kontrolle ihrer somatischen Erkrankung in ihre Praxis. Frau Doktor sieht immer schlechtere Laborwerte, die Plastikpuppe erkrankt immer schwerer – gleichzeitig aber wird Lars selbst verblüffenderweise lockerer und sogar ansatzweise fähig zum Kontakt mit anderen Menschen. Schließlich „stirbt“ Bianca und die gesamte Gemeinde kommt zum Begräbnis zusammen. Bei diesem Anlass kann sich Lars von der schon immer in ihn verliebten Arbeitskollegin trösten lassen, im Schlussbild sind die beiden einander sichtlich schon nähergekommen. Gleichzeitig konnten wir parallel zum Frühlingseinbruch nach einem anfangs klirrend kalten Winter auch ein Auftauen der sozialen Beziehungen in der ganzen Gemeinde beobachten. Der „Behandlungsplan“ der Ärztin hat funktioniert, die Zeit zum Ausleben seines Wahns hat die starre Abwehrstruktur des absoluten Einzelgängers Lars soweit aufgeweicht, dass auch eine Liebesbeziehung zu einer realen, lebenden (und deshalb von ihm aber auch nicht beliebig zu kontrollierenden) Partnerin zumindest vorstellbar scheint. Auf sehr sympathische Weise illustriert der Film für mich eine neue Bescheidenheit von Psychotherapeutinnen: Ganz nebenbei bemerkt die Ärztin im Film, dass „ein Gemeindearzt auch Psychotherapeut sein muss“. Sie verweigert die Pathologisierung und rein medizinische Behandlung auch dieser skurrilen Ausformung einer „Einsamkeitspsychose“ und setzt auf die heilende Kraft des Gemeinwesens. Interessanterweise ist Lars weder eine Komödie, die sich über den unglücklichen Helden lustig macht, noch ein Sexfilm: Es geht hier nicht um Darstellung oder auch nur die Phantasie einer erotischen Nutzung der Sex-Puppe: Anfangs scheint für Angehörige und Nachbarinnen vielmehr gerade Lars unschuldige Liebe zu Bianca der Skandal zu sein. Einen sexuellen Gebrauch hätten sie vielleicht noch als Notlösung eines jungen Mannes verstanden, der ja mit seinen Energien und seinem Trieb irgendwohin muss, Lars’ Verhalten aber schätzen sie als verrückt ein. Doch sie lassen sich von der Ärztin überreden, Lars’ Verleugnungstendenz mitzutra144
Einsamkeitsgeneratoren
gen: Sie behandeln Bianca als Mensch und nicht als Puppe. Vielleicht bewirkt dies auch eine Minderung des normativen Drucks auf Lars: Er ist jetzt „offiziell“ nicht mehr Single, nicht mehr allein. Man muss ihn nicht mehr verkuppeln, er muss sich nicht ständig gutgemeinte Ratschläge anhören. Ob Lars am Ende des Films „beziehungsfähig“ geworden ist, bleibt ungewiss. Mit Sicherheit aber ist er durch die einladende Haltung seiner Umgebung weniger einsam geworden. Ob sein eigenes zunehmendes Verständnis für die anderen Menschen oder das Verständnis seiner Umgebung für ihn dazu geführt hat, bleibt offen – wahrscheinlich wohl beides gleichzeitig.
Einsamkeitsgeneratoren
Das Zentralerlebnis eines Menschen, von niemandem auf der Welt verstanden zu werden, von niemandem in seiner speziellen Notsituation oder seinem Leid erkannt und wahrgenommen zu werden – es kann in verschiedensten Ausprägungen zur Einsamkeit führen oder eine bestehende Einsamkeit verstärken: Umgekehrt verschlimmert aber die Einsamkeit all diese leidvollen Situationen wie Armut, chronische somatische Erkrankung, Arbeitslosigkeit, Behinderung bzw. Funktionseinschränkung, Trauma, soziale Exklusion, Migration oder psychische Krankheit. Aus einer philosophischen Perspektive könnte man all diese einsamkeitsfördernden Krisen oder Zustände eines Menschen als Anerkennungsmangel beschreiben: Die Betroffenen fühlen entweder einen kritisch-verächtlichen Blick auf sich oder aber sie erleben sich als überhaupt nicht mehr gesehen, als sozial unsichtbar. Dann kommt es zur oft beschriebenen emotionalen Abfolge: Ich werde nicht gesehen (nur negativ gesehen) – ich fühle mich nicht er145
II. Zwischen Außen und Innen
kannt, fühle mich nicht anerkannt. Daher fühle ich mich isoliert/unverstanden/einsam. Nach längerer Dauer einer solchen Anerkennungskrise oder Vereinsamungsspirale ist die Frage nach der Genese fast müßig bzw. nur sehr schwer zu beantworten: Bestand schon anfangs eine spezielle „einsamkeitsaffine“ Persönlichkeitsstruktur bzw. ein Vertrauensdefizit der Betroffenen oder wurde sie sozial exkludiert und daher isoliert? Ob soziale Exklusion oder Selbstexklusion: In vielen Fällen handelt es sich um einen Teufelskreis, aus dem die Betroffenen oft allein nicht mehr herausfinden.
„Einsamkeits-Generatoren“
Armut Psychische Krankheit
chronische Erkrankung
Einsamkeit
Migration
Trauma soziale Exklusion
Arbeitslosigkeit
Behinderung Funktionseinschränkung
Grafik 1: Einsamkeitsgeneratoren (© R. Gross 2021) All diese Risiko-Faktoren verstärken das Einsamkeits-Risiko. Umgekehrt verschlimmert eine Situation des Alleinseins all jene Risiko-Situationen. Schlimmstenfalls entsteht dann ein „Teufelskreis der gegenseitigen Verstärkung“.
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Einsamkeitsgeneratoren
All diese Risikofaktoren verstärken das Einsamkeitsrisiko. Umgekehrt verschlimmert eine Situation des Alleinseins all jene Risikosituationen. Schlimmstenfalls entsteht dann ein „Teufelskreis der gegenseitigen Verstärkung“.
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III. Innenansichten der Einsamkeit
Psychische Erkrankungen und Einsamkeit
Es ist das bekannteste Klischee über einsame Menschen: Die haben doch alle irgendwie einen Knacks, eigentlich sind sie alle psychisch krank. Wie so viele Klischees ist auch dieses nicht nur falsch: Praktisch alle psychischen Erkrankungen erhöhen wirklich das Einsamkeitsrisiko – umgekehrt aber kann Einsamkeit eine psychische Erkrankung auslösen oder aber (öfter) vorbestehende psychische Erkrankungen verschlimmern bzw. deren Chronifizierung fördern. Für die Sozialpsychiatrie bedeutet psychische Krankheit prinzipiell immer auch das Vorliegen von Schwierigkeiten in der Kommunikation, in den Beziehungen zu anderen Menschen: Für die Betroffenen wird es als Teil ihrer Symptomatik schwieriger, eine lebbare Balance zwischen Nähe und Distanz herzustellen, eine „Feineinstellung“ des sozial adäquaten Abstandes. Gesunde bzw. symptomfreie Menschen machen das im Alltagsleben vorbewusst, also ohne bewusst nachzudenken: Wir adaptieren unsere Distanz zur jeweiligen Gesprächspartnerin durch konstantes Überprüfen unseres und ihres Verhaltens. Für psychisch Kranke bleibt diese Aufgabe schwierig und deshalb finden sie auch nur schwer Partner, ihre Beziehungen scheitern leichter oder bleiben oft prekär. Nach Jahren der Krank149
III. Innenansichten der Einsamkeit
heit bleiben sie öfter allein und fühlen sich dementsprechend einsam. In vielen Fällen sind dann ihre einzigen Sozialkontakte die Termine bei der Sozialarbeiterin oder Psychiaterin im psychosozialen Dienst, die einzigen sonstigen Bekannten sind andere Patienten der Beratungsstelle. Solche Patienten äußern oft den Wunsch nach Beziehungen zu „normalen“ anderen Menschen, spüren aber auch ihre Unfähigkeit, ohne allzu viel Angst und Misstrauen solche Beziehungen eingehen und durchhalten zu können. Bei fast allen psychischen Krisen klagen die Betroffenen über Gefühle von Angst und/oder Traurigkeit und depressiver Verstimmung. Beide dieser „Basisaffekte“ haben mit Trennung, Angst vor dem Verlassenwerden und Alleinsein zu tun: Für das Neugeborene und das kleine Kind wäre es ein Todesurteil, von der Mutter verlassen zu werden. Deshalb begleitet uns ein leises Echo dieser frühen Angst durch unser Leben – und wird speziell bei labilen Personen durch Trennungen auch im Erwachsenenleben schnell wieder reaktiviert. Auf der anderen Seite des Zeiterlebens steht dieser Angst vor der Trennung als Vorbild späterer Depressionen die Verzweiflung nach dem Verlassenwerden gegenüber, das Gefühl des hilflosen alleingelassenen Kindes. Man könnte auch sagen: Trennungsangst ist die Angst vor dem Eintreten der Katastrophe, Depression hingegen ist die Verzweiflung des bereits Verlassenen, der die Katastrophe nicht verhindern konnte. Dazu passt der wissenschaftlich gut belegte Zusammenhang zwischen Angsterkrankungen und Depressionen: Wenn eine Angsterkrankung lange unbehandelt bleibt, mündet sie meist in eine Depression. Psychisch Kranke leiden also oft unter ihrer Einsamkeit. Die aber wird nicht ausschließlich durch ihre Symptomatik hervorgerufen: Auch die immer noch deutlich 150
Psychische Erkrankungen und Einsamkeit
spürbare Stigmatisierung psychiatrischer Patientinnen im Alltag und die daraus resultierende Selbststigmatisierung der Patientinnen und ihrer Angehörigen tragen oft genug zur Vereinsamung bei. Alle Psychiaterinnen kennen die traurige Situation chronisch psychotischer Patienten, die völlig vereinsamt in ihrer verwahrlosten kleinen Wohnung sitzen und außer ihren Betreuerinnen keinen Menschen mehr sehen. Oft genug erleben wir auch die „Einsamkeit zu zweit“ von schon längst erwachsen gewordenen schizophrenen Männern, die immer noch in symbiotischer Enge mit ihrer Mutter leben: Beide Beteiligten klagen und schimpfen über den jeweils anderen, können aber sichtlich weder miteinander noch ohneeinander einigermaßen zufrieden leben. Im Fall der Schizophrenie kann man sogar behaupten, dass die immense Schwierigkeit, ja oft Unmöglichkeit, eine Balance zwischen allzu großer Nähe oder symbiotischer Verschmelzung bis hin zum Gegenpol der völligen Vereinsamung zu finden, das zentrale Dilemma eben dieses Krankheitsbildes darstellt: Während für psychisch Gesunde irgendwo zwischen dem Wunsch nach Autonomie einerseits und dem gegensätzlichen Wunsch nach Beziehung, Aufgehobensein und Liebe ein Kompromiss möglich wird – bzw. in einer Beziehung gefunden werden muss – bleibt eine solche Mittellösung für Schizophrene unmöglich bzw. unerträglich: Für sie besteht hier kein Konflikt, sondern ein Dilemma: Es gibt für sie nur die beiden Extrempositionen der völligen Verschmelzung mit dem Liebesobjekt oder aber der völligen Abkapselung, des aggressiven Rückzugs in die Isolierung. Ihre Einsamkeit ist eine fast absolute, da sie nicht nur von der äußeren/realen Welt entfremdet und abgeschnitten sind, sondern auch von sich selbst bzw. ihrem gesun151
III. Innenansichten der Einsamkeit
den Selbst. Das ist eine Folge der krankheitsbedingten kognitiven Einschränkungen, die auch die Realitätsprüfung erschweren bis unmöglich machen: Aber auch die wahnhafte Verarbeitung der Realität und das damit einhergehende massive Misstrauen gegen fast alle Menschen tragen zur Selbstentfremdung bei. Tragisch isoliert und einsam fühlen sich auch fast alle depressiven Patientinnen: Sie leiden ja nicht nur an ihrer affektiven Verstimmung, sondern zusätzlich noch an kognitiven und somatischen Symptomen – und ebenfalls an gestörten Realitätseinschätzung. Denn sie sind (eigentlich wahnhaft) davon überzeugt, dass es ihnen nicht nur jetzt so schrecklich schlecht geht, sondern dass ihr Leben immer schon leer, verzweifelt und sinnlos war und auch immer so bleiben wird. In solcher Hoffnungslosigkeit denken dann viele von ihnen an Suizid. Ihr Selbstwertgefühl ist fast auf null herabgesetzt. Oft halten sie sich für so wertlos, dass sie sich gar nicht vorstellen können, dass sich irgendjemand freiwillig mit ihnen abgeben würde – geschweige denn sie schätzen oder gar lieben könnte. Im Gegensatz zu dieser Extremsituation einer schweren depressiven Episode (die ja nach Monaten der Behandlung in den meisten Fällen wieder verschwindet) leiden Menschen mit einer depressiven Persönlichkeitsstruktur oft weniger dramatisch, dafür aber ein Leben lang unter dem Gefühl ihrer Wertlosigkeit, was ihnen die Aufnahme von Beziehungen massiv erschwert – und in vielen Fällen zur Vereinsamung führt. Die Borderline-Persönlichkeitsstörung zeigt als Zentralsymptom oft eine große Sehnsucht der Patienten nach Liebesbeziehungen bei gleichzeitig massiver Schwierigkeit, eine solche Beziehung auch durchzuhalten: Bei den Betroffenen sind die Grenzen zwischen ihrem Selbst und den Objekten weder fest noch verlässlich. Daher können 152
Psychische Erkrankungen und Einsamkeit
die Betroffenen auch schwer unterscheiden, ob Affekte wie Angst, Wut oder Traurigkeit aus ihnen selbst kommen oder aber von ihren Freundinnen, ihren Partnern. Sie können sich zwar in weniger intensiven Beziehungen wie z. B. zu Arbeitskolleginnen oder Bekannten relativ normal verhalten und sind daher nicht immer so isoliert bzw. sozial vereinsamt wie chronisch-psychotische Patientinnen. In ihren Liebesbeziehungen aber erscheinen sie oft fast wahnhaft, verkennen die Beziehungsrealität „psychosewertig“: Winzig kleine Kränkungen werden von ihnen so intensiv erlebt, dass sie zu dramatischen Ausbrüchen führen, zu Beziehungskonflikten bis hin zur Trennung. Psychiaterinnen sprechen hier von einem teilweisen Verlust der Realitätstüchtigkeit oder aber von „Mikropsychosen“, die nur in den Intimbeziehungen auffällig werden. Solche Menschen müssen ihre Partner und auch ihre Psychotherapeutinnen immer wieder gnadenlos „testen“: Wie oft halten diese Objekte ihre Aggressionen, ihre Angriffe aus, wie oft können sie ihre Therapeuten kränken, ohne von ihnen verlassen zu werden? Sie fordern absolute Übereinstimmung mit ihrer Position und hundertprozentige Konzentration auf sie und ihre Bedürfnisse. „Hundertprozentig“ ist hier wörtlich gemeint: 99 Prozent Übereinstimmung genügt nicht – es wird ebenso als Zurückweisung empfunden wie eine völlige Ablehnung. Umgekehrt sind sie bezüglich ihres eigenen oft kränkenden Verhaltens kaum kritikfähig. Daher scheitern sie oft in Beziehungen, was sie wiederum in ihrer erfahrungsgesättigten Überzeugung bestärkt, dass niemand sie aushält. Oft aber klagen sie über das Grundgefühl, von allen Menschen missverstanden und schlecht behandelt zu werden. Therapeutinnen beschreiben das als Verharren in einer ausschließlichen Opferidentität bei gleichzeitigem Ausblenden der „Täteranteile“ ihrer Persönlichkeit. Das Endresultat ist 153
III. Innenansichten der Einsamkeit
oft ein verbittert-resigniertes Leben allein: Einsam, aber immer noch voller Sehnsucht nach Bestätigung und Liebe.
Separation anxiety disorder: Trennungsangststörung im Erwachsenenalter
Obwohl die allermeisten psychischen Erkrankungen sowohl zu Einsamkeit führen können als auch umgekehrt durch Einsamkeit verstärkt werden können, gibt es einige Diagnosen, bei denen die Angst vor der Einsamkeit absolut im Zentrum steht: Das trifft speziell auf die noch wenig bekannte Trennungsangststörung im Erwachsenenalter zu. Im Gegensatz zur bekannteren kindlichen Trennungsangst ist die analoge Störung beim Erwachsenen nicht mehr funktional im Sinne einer Überlebenssicherung. Denn die betroffenen Erwachsenen könnten ja im Gegensatz zu Kleinkindern objektiv sehr wohl ohne Partnerin überleben, die subjektiv für sie absolut überlebensnotwendig scheint. Während die meisten Menschen in ihrer Jugend lernen müssen, mit Trennungen umzugehen und so die frühe Trennungsangst überwinden, gelingt dies immerhin fünf Prozent der Erwachsenen nicht in ausreichendem Maße. Zu den Symptomen gehören massive Ängste bis hin zu Panikattacken. Die treten oft schon beim Gedanken daran auf, vom geliebten Partner, Kind oder Elternteil verlassen zu werden. Laut DSM-59 stehen im Zentrum Symptome der wie9 Es gibt zwei international bedeutende Diagnosesysteme für die Psychiatrie: DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) gilt in den USA (aktuell DSM-5). Das ICD (International Classification of Diseases and Related Health Problems) gibt es für alle Erkrankungen, es gilt weltweit und wird von der WHO erstellt. Die beiden Systeme stimmen weitgehend überein. 154
Psychische Erkrankungen und Einsamkeit
derkehrenden und extremen Belastung durch die Erwartung einer Trennung vom geliebten Menschen sowie durchgehende exzessive Sorgen, diesen Menschen durch Krankheit oder sonstige Katastrophen zu verlieren. Dazu kommt die Sorge, die Partnerin durch ein Verbrechen zu verlieren, weshalb oft sogar das Haus aus Angst vor Trennung nicht mehr verlassen werden kann. Außerdem klagen die Patienten oft noch über Alpträume bezüglich der Trennung sowie über somatische Symptome wie Kopfschmerzen, Bauchschmerzen etc. bei bevorstehender oder erwarteter Separation. Bei Auftreten von mehreren dieser Symptome über einen Zeitraum länger als sechs Monate wird fachärztliche Abklärung und Behandlung empfohlen. Bei milden Ausprägungen steht oft ein extrem „klammerndes“ Verhalten in der Partnerschaft im Zentrum oder aber die Angst eines Elternteiles, der die drohende Ablösung eines Kindes verhindern will. Auch eine pathologische Intensität von Eifersucht oder übersteigertes Kontrollverhalten kann ein Hinweis auf die Störung sein. Allerdings ist wie bei der Sozialphobie auch hier die Frage berechtigt, ob bei allem Ernstnehmen des Leidensdruckes nicht sehr viele Menschen mit dieser Diagnose auch gleichzeitig an anderen psychischen Erkrankungen wie Angsterkrankungen, Depressionen oder schweren Persönlichkeitsstörungen leiden. Dann aber sind die Symptome vielleicht Bestandteil dieser Grunderkrankung. In jedem Fall aber ist ein Leben mit einer solchen Störung belastend und voller Einschränkungen: Die Mehrzahl der Betroffenen berichtet über häufiges schmerzliches Scheitern ihrer Beziehungen. Viele können auch ihrem Beruf nicht mehr nachgehen und kaum mehr den Alltag bewältigen aufgrund ihrer quälenden Ängste, Schlafstörungen, Zwangsgedanken und -handlungen. Auch nur 155
III. Innenansichten der Einsamkeit
kurzfristige Trennungen von der geliebten Person sind kaum erträglich. Laut Katherine Shear scheint die Trennungsangststörung ein Vulnerabilitätsfaktor für alle Arten psychischer Störungen zu sein. Die Angehörigen sind auch hier massiv mitbetroffen: Eltern mit der Diagnose Trennungsangst können ihr Kind extrem streng oder auch überaus ängstlich erziehen, um dadurch sicherzustellen, dass es ja nicht zu früh seine eigenen Wege geht. Umgekehrt können auch Erwachsene daran scheitern, sich von den Eltern zu trennen oder deren Sterblichkeit zu akzeptieren. In sehr vielen Fällen kann die Störung dazu führen, dass Betroffene auch in destruktiven Beziehungen viel länger verbleiben, als ihnen guttut. Aber auch bei milderen Ausprägungen fühlen sich die Partnerinnen der Erkrankten meist genervt und überfordert durch ein Bombardement von Anrufen oder SMS vor allem täglich bei der Arbeit, noch ganz abgesehen von sonstigen Kontakt- und Kontrollmöglichkeiten durch soziale Medien. Selbst jene Partner der Erkrankten, die zu Beginn ihrer Beziehung den absoluten Wunsch nach ständiger Nähe als Liebesbeweis empfanden, werden sich durch die Forderung nach durchgehendem Zusammensein irgendwann überfordert und erdrückt fühlen. Spätestens dann kann die vom Betroffenen gefürchtete Katastrophe eintreten, wenn die Partnerin sich wirklich trennt.
Soziale Phobie: Einsamkeit als Folge von aktiver Kontaktvermeidung
Soziale Phobien sind mehr als extreme Schüchternheit. Die Betroffenen sind nicht einfach stille Mauerblümchen. Es handelt sich um eine ernst zu nehmende psychische Erkrankung aus dem Bereich der Angststörungen. Im Diag156
Psychische Erkrankungen und Einsamkeit
nosemanual DSM-5 werden sie als „soziale Angststörung“ bezeichnet, weil der frühere Ausdruck Sozialphobie zu bagatellisierend gewirkt hätte. Typisch für Sozialphobiker sind situationsbedingte Ängste (nicht in allen Situationen, aber in fast allen Situationen des Nicht-Alleinseins, der sozialen Interaktionen). Typischerweise führt dies zum Vermeidungsverhalten und dadurch zu Isolierung und Einsamkeit: Die Betroffenen meiden zwischenmenschliche Situationen aufgrund der Angst, die Erwartungen ihrer Mitmenschen nicht erfüllen zu können bzw. abgelehnt zu werden. Meist befürchten sie auch, dass man ihnen ihre Schüchternheit, ihre Unsicherheit oder Angst ansieht (was die Ängste noch intensiviert). Typisch sind körperliche Symptome wie Erröten, Zittern, beschleunigter Puls, Schwitzen, bis hin zu Atemnot, Schwindelgefühlen, zwanghaftem Harndrang, Beklemmungsgefühlen und Übelkeit. In schweren Fällen kommt es sogar zu Panikzuständen oder Gefühlen von Derealisation oder Depersonalisation. All diese Symptome führen zu einem massiven Leidensdruck und in der Folge zu einem oft extremen Vermeidungsverhalten, zum sozialen Rückzug und dadurch zur Chronifizierung der Störung bis hin zur völligen Isolierung. Zusätzlich erschwert wird das Leiden oft noch durch die Komorbidität, also das gleichzeitige Vorliegen einer Depression oder auch einer sekundären Alkohol- oder Benzodiazepinabhängigkeit: Diese sekundären Süchte sind die Folgen einer kurzfristig entspannenden, längerfristig aber schädlichen „Selbsttherapie“. Das relativ junge Krankheitsbild der Sozialphobie hat Anlass zu durchaus ernstzunehmender Kritik gegeben: Während Medizinkritikerinnen anmerkten, dass hier wieder einmal ein allgemein-menschliches Verhalten wie Schüchternheit pathologisiert würde, gab es auch grund157
III. Innenansichten der Einsamkeit
sätzlichere Bedenken: Hier werde eine zwischenmenschliche oder auch durch gesellschaftliche Faktoren verursachte Symptomatik personalisiert im Sinne einer Personenzentrierung des interpersonellen Problems. Die erwähnten gesellschaftlichen Faktoren seien eine deutliche Abnahme des allgemeinen Sicherheitsgefühls der Bevölkerung durch erhöhte Mobilität, ein häufigeres Scheitern von Beziehungen und oft auch noch die Angst vor Jobverlust. All das führe zur massiven Zunahme sozialer Ängste und kann die Ausbildung sozialer Phobien fördern. Erschwerend für „ganz normal schüchterne“ Menschen kommt wohl auch dazu, dass in immer mehr Berufen eine offensive, fast aggressive Selbstdarstellung des strahlend-sicheren Erfolgsmenschen gefordert wird, dass erfolgreiche „Performer“ oft brav-schüchternen effizienten Kolleginnen vorgezogen werden. Zyniker sprechen vom Trend zu „Performanz statt Kompetenz“. So kann ein Großraumbüro für stille Menschen mit Rückzugsbedürfnis durchaus zum täglichen Belastungstest werden. Therapeutisch werden für Sozialphobiker sowohl psychotherapeutische Ansätze wie Verhaltenstherapie als auch Medikamente empfohlen. Medikamentös können Benzodiazepine zwar kurzfristig verblüffende Verbesserungen erzielen, weil sie stark angstlösend und beruhigend wirken und dadurch eine oft als angenehm empfundene „Wurstigkeit“ hervorrufen. Allerdings sind sie eine klassische Bedarfsmedikation: Sie sollten nur selten und niedrig dosiert eingenommen werden, um eine sekundäre Abhängigkeit zu vermeiden. Längerfristig werden Antidepressiva vom Typ der SSRI empfohlen, die allerdings auch nicht immer ausreichend wirken. Noch nicht hinlänglich geklärt scheint auch, wie weit allein die Diagnose einer Sozialphobie die Betroffenen beruhigen kann und schon dadurch hilft, im Sinne von: „Es ist eine Krankheit, aber man kann sie behandeln.“ Die 158
Psychische Erkrankungen und Einsamkeit
mit dieser Diagnose etikettierten Menschen können sich dadurch aber auch stigmatisiert fühlen und noch mehr an Selbstwertgefühl verlieren. Angeblich leiden zwischen zwei und zehn Prozent der Bevölkerung zumindest unter massiven sozialen Ängsten. Eine deutsche Studie mit immerhin mehr als 4.000 Teilnehmern aus der Allgemeinbevölkerung ermittelte (mittels standardisierten diagnostischen Interviews) eine ZwölfMonats-Prävalenz von zwei Prozent, während amerikanische Studien von einer Lebenszeitprävalenz von sieben bis zwölf Prozent der Erwachsenen sprechen. Diese Zahlen dürften so weit auseinanderliegen, weil sowohl intensive Schüchternheit als auch Vermeidungsverhalten beschämend wirken und daher oft bei Befragung bagatellisiert werden, aber auch weil die Abgrenzung zu anderen Krankheitsbildern wie zur ängstlich-vermeidenden Persönlichkeitsstörung oft schwierig ist. Hilfreich zur Differentialdiagnose zwischen Sozialphobie und ängstlich-vermeidender Persönlichkeitsstörung ist das Kriterium der Ich-Dystonie: Während Sozialphobikerinnen ihre Symptomatik als ich-dyston empfinden, also als ein ihnen eigentlich wesensfremdes Verhalten, erleben Menschen mit ängstlich-vermeidender Persönlichkeitsstörung ihre fast idente Symptomatik als ich-synton, also als Teil ihrer Persönlichkeit, als zu ihnen gehörig. Den Zusammenhang zwischen Einsamkeit und diversen Persönlichkeitsstörungen mit düster-bedrohlichen Assoziationen können wir täglich auf vielen Fernsehkanälen oder beim Streaming studieren: In tausenden Krimis, Thrillern und Horrorfilmen ist der Bösewicht ein dunkelunheimlicher Einzelgänger, bei dem man lange nicht weiß: Ist er selbst ein armes Opfer, ist er traumatisiert oder war er immer schon ein psychopathisch-mörderisches Monster? Wenn in solchen Filmen (und auch in hunderten von 159
III. Innenansichten der Einsamkeit
Serienkiller-Kriminalromanen) über die Motive des Täters gerätselt wird, dann werden meist diagnostische Etiketten wie „maligner Narzissmus“, „antisoziale Persönlichkeitsstörung“ oder aber „paranoide Psychose“ verwendet. Ebenfalls aus Fernsehen und Kino kennen wir jene einsamen, unglücklichen Menschen, die zum Opfer werden: In ihrem Fall stellt sich oft heraus, dass sie eigentlich gar nicht krank sind, dass sie sich ihre Bedrohung nicht einbilden, diese ist vielmehr schrecklich real. Die psychische Krankheit wird diesen hilflosen Isolierten von Verwandten oder bösen Psychiaterinnen nur attestiert, um sie zu quälen oder auszubeuten. Von all diesen Filmen bleiben uns meist jene als spannend im Gedächtnis, in denen wir lange nicht wissen, ob ein dunkler Einzelgänger nun selbst ein Opfer ist oder ein Täter – aus diesem Oszillieren der Publikumsreaktionen zwischen Mitleid und Schrecken generiert der Film Noir seine Faszination. „Ich bin Gottes einsamste Kreatur“ Taxi Driver, 1976 In ihrem Film Taxi Driver gelang es Regisseur Martin Scorsese und seinem Drehbuchautor Paul Schrader 1976, die Atmosphäre von New York am absoluten Tiefpunkt der Stadt perfekt einzufangen: Ganz Amerika war damals nach der Niederlage in Vietnam und dem Watergate-Skandal verwirrt, verbittert und ratlos. In New York aber war die Situation katastrophal: Die Stadt war pleite, die Kriminalität explodierte, die Müllabfuhr streikte in Permanenz. Der Film zeigt diese dampfende, stinkende, chaotisch-explosive Metropole schon in der zwanzigminütigen Eröffnungsszene einer nächtlichen Taxifahrt. Dazu passend die schwül-pulsierende Musik von Bernard Herrmann, der schon für Hitchcock legendäre Soundtracks geliefert hatte. Es ist eine passende Kulisse für den Helden, den Antihel160
Psychische Erkrankungen und Einsamkeit
den dieses Films: Robert De Niro wurde weltberühmt in der Rolle des Travis Bickle. Er spielt einen traumatisierten, verbitterten Vietnam-Veteran, der ganz allein ohne Freunde und Partnerin und ohne Lebenssinn dahinvegetiert. In seinem gelben Taxi gleitet er schweigend und absolut einsam durch das nächtliche New York: „Loneliness has followed me my whole life, everywhere. […] There is no escape. I’m God’s lonely man!“ (In: Svendsen, S. 13) Freiwillig übernimmt er alle Nachtschichten, weil er ohnehin nicht schlafen kann. Er ist gleichzeitig fasziniert und abgestoßen vom Verhalten seiner Fahrgäste, die ihn ihrerseits gar nicht mehr als menschliches Wesen wahrnehmen. „Nach jeder Schicht wische ich das Sperma vom Rücksitz – und oft auch das Blut.“ Nur kurz keimt Hoffnung in ihm auf, als er Betsy (Cybill Shepherd) kennenlernt: Das hübsche, blonde All American Girl arbeitet als Wahlhelferin für den Präsidentschaftskandidaten Palantine. Als Travis sie allerdings beim allerersten Date ausgerechnet zu einem Pornofilm ins Kino einladen will, wird die sozio-kulturelle Kluft zwischen den beiden schmerzlich deutlich und Travis bleibt weiterhin allein. In der Folge fasziniert ihn die minderjährige Prostituierte Iris (gespielt von der damals zwölfjährigen Jodie Foster): Die altkluge Kleine aber will trotz seiner fast schon obsessiven Bemühungen von ihm nicht aus ihrem elenden Leben gerettet oder von ihrem schmierig-gewalttätigen Zuhälter befreit werden. Immerhin aber spricht sie mit ihm, interessiert sich für ihn im All Night Diner, wo er sonst auch im Kreis seiner Kollegen ein Außenseiter bleibt. Immer öfter, immer gewalttätiger phantasiert er davon, in diesem kriminellen Saustall endlich „aufzuräumen“. Daheim stärkt er seine Muskeln und trainiert mit Pistolen: Er übt vor dem Spiegel, wie er auf der Straße Streit vom Zaun brechen könnte. In diesem Monolog hören wir eines der berühmtesten Zitate der Filmgeschichte: Travis steigert sich theatralisch in die Rolle des provozierten Passanten hinein, grinst diabolisch und zieht plötzlich die Pistole: „You talkin‘ to me?“ Sinngemäß übersetzt: „Willst du was von mir?“ Dieser Satz 161
III. Innenansichten der Einsamkeit
und die begleitende aggressive Pose wurden seither tausendfach zitiert, werden auf der ganzen Welt wiedererkannt als Code für eine Haltung von: „Ich lass mir nichts gefallen!“ Die Tragik besteht darin, dass der Einzelgänger Travis sich zwar verzweifelt danach sehnt, dass irgendjemand mit ihm spricht, gleichzeitig aber schon so paranoid-aggressiv reagiert, dass er jeglichen Kontaktversuch nur mehr als Provokation und Kampfansage empfinden kann. Der Jesuitenzögling Scorsese kannte natürlich die biblische Verheißung: „Sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund“. (Matthäus 8,8) In seinem Film zeigt er uns die absolute Negation dieser Hoffnung: Für Travis genügt ein Wort, um sich so sehr bedroht zu fühlen, dass er die Pistole zieht. In dieser legendären Szene nimmt die Kamera die Position des Spiegels ein, wodurch der Zuschauer mitten in die Szene hineingenommen und dadurch selbst zum Bedrohten wird. So spürt man die Intensität der Wut, die sich in Travis bereits aufgebaut hat: Davor konnte man ihn mit gutem Willen noch als schrägen und eigentlich bemitleidenswerten Typen erleben, jetzt aber wird klar: Er ist auch gefährlich. In einem Moment der Selbsterkenntnis unmittelbar nach „You talkin‘ to me?“ scheint er zu spüren, dass diese Aggression aus der Enttäuschung und Einsamkeit kommt. Beschämt-hilflos grinst er in den Spiegel: „Well, I’m the only one here“ Die Aggression kann sich also letztlich nur gegen ihn selbst wenden. Der Kritiker Roger Ebert bezeichnete eben diesen Satz als die wahrhaftigste und traurigste Dialogzeile des ganzen Films. Wie intensiv Travis’ Gewaltphantasien auch mit seinen Wünschen nach Selbstzerstörung und Suizid zusammenhängen, zeigt eine zweite „häusliche“ Szene: Travis sieht im TV „American Bandstand“. Zuerst zielt Travis jetzt mit seiner Pistole auf die tanzenden Paare im TV, richtet aber dann den Lauf der Pistole weg vom Fernsehschirm und gegen seine eigene Stirn in einer Simulation des Selbstmords. Dabei wirkt er weniger wütend als vielmehr neidisch, resigniert-traurig: Es tut ihm weh, die entspannte Freundschaft und Sexualität der Teenager beobachten zu müssen. Zwischen Mitleid und Angst erkennen wir, dass Travis bereit ist, sowohl sich selbst 162
Psychische Erkrankungen und Einsamkeit
als auch andere zu töten „als einsamer Mann, aus Mangel an Liebe“ (Taubin, S. 71). Durch die subtile Darstellung dieses Balanceaktes zwischen Aggression und Autoaggression erreicht Regisseur Scorsese beim Zuschauer sogar noch jetzt so etwas wie Mitleid für seinen mörderischen Protagonisten. Im Anschluss plant Travis ein Attentat auf den Präsidentschaftskandidaten Palantine. Er kommt diesem aber wegen der effizienten Sicherheitsmaßnahmen nicht nahe genug. Während wir ihn auf der Flucht vor den Security-Männern sehen, hören wir gleichzeitig als Voiceover den Text eines Briefes an seine Eltern: Er könne leider seine Adresse nicht mitteilen wegen einer geheimen Tätigkeit für die Regierung. „Ich bin gesund und verdiene viel Geld, bin mit einem Mädchen zusammen, auf die auch ihr stolz sein könntet. Macht euch keine Sorgen um mich.“ Spätestens jetzt wird jedem Zuschauer klar, dass Travis nur mehr in seiner Phantasiewelt lebt, dass er Realität und Wunsch nicht mehr unterscheiden kann, dass er immer mehr in einen psychotischen Zustand hineinrutscht. Er steigert sich zusehends in seine Rolle des „lonesome hero“ hinein: Ein Mann darf sich nicht alles gefallen lassen, einer muss aufstehen gegen all diesen Schmutz, gegen diese Verbrecher. So kommt es zum mörderischen Enactment seines Rettungsszenarios für die verehrte junge Iris: Er dringt in das Bordell ein, in dem sie arbeitet, erschießt in einem blutigen Massaker ihren Zuhälter und mehrere andere Farbige, bleibt selbst schwerverletzt liegen. In der Folgeszene aber erfahren wir, dass er von Presse und Öffentlichkeit als Held und Vigilante Man gefeiert wird. In der allerletzten Szene sehen wir ihn wieder in seinem Taxi. Betsy (Cybill Shepherd) steigt ein und spricht ihn auf seine Heldentat an. Er lächelt und schweigt – auch jetzt kommt es zu keinem emotionalen Kontakt zwischen den beiden. Gleichzeitig hört man den Text eines Briefes an ihn von den Eltern der jungen Iris: Das Mädchen sei wieder daheim, gehe brav in die Schule, sie aber seien dem Retter ihrer Tochter ewig dankbar. Und so fährt Travis weiter in seinem Taxi durch die Millionenstadt, wieder isoliert in der Hölle seiner Einsamkeit. 163
III. Innenansichten der Einsamkeit
Über diese Schlussszene ist viel spekuliert worden: Sehen wir hier einen Traum von Travis oder gar die letzten Wunschphantasien eines Sterbenden, der bei der Schießerei ja schwer verletzt worden ist? Oder ist es doch Realität? Regisseur Scorsese hat in verschiedenen Interviews beide Versionen als plausibel akzeptiert. Das von Travis im Film geplante fiktive Attentat auf einen Präsidentschaftskandidaten liegt zeitlich zwischen zwei realen politischen Attentaten, die die politische Landschaft der USA veränderten: Bereits 1972 hatte Arthur Bremer, ein psychopathischer junger Loner ein Attentat auf den Präsidentschaftskandidaten George Wallace verübt. Drehbuchautor Schrader hatte für Taxi Driver die Tagebücher Bremers als Inspiration für seine Figur des Travis Bickle verwendet. Fünf Jahre nach der Premiere des Films mussten die Amerikaner schockiert erleben, wie nahe an der psychischen Realität sozial isolierter und verzweifelter junger Männer in den USA die Rolle De Niros angelegt gewesen war: John Hinckley Jr. versuchte im März 1981, den damaligen Präsidenten Ronald Reagan zu ermorden. Er begründete sein Attentat damit, dass er der von ihm verehrten Schauspielerin Jodie Foster imponieren wollte. John Hinckley hatte sie nach eigenen Angaben unzählige Male als Iris in Taxi Driver gesehen. Seinen psychischen Zustand unmittelbar vor dem Attentat beschrieb er mit den Worten: „I felt like I was walking into a movie.“ Scorseses Film bleibt faszinierend bis heute, wurde von der Kritik gefeiert als „Schilderung einer abgrundtiefen, verzweifelten Einsamkeit wie nie zuvor in der Filmgeschichte“ (Gansera, S. 98). In der emotionalen Reaktion des faszinierten Publikums vermischten sich die „Standardklischees“ in der Einschätzung einsamer Menschen: Werden sie doch als sad, bad or mad gesehen. Travis Bickle ist sicher in hohem Ausmaß traurig/sad, im Verlauf des Films immer eindeutiger wahrnehmbar als verrückt/mad und obwohl er mörderisch böse/bad handelt, ist unser Mitleid mit ihm auch am Ende des Filmes nicht ganz verschwunden.
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Psychische Erkrankungen und Einsamkeit
Ein „Tsunami an Einsamkeit und Depressionen“ als Folge von Corona?
Bereits zu Beginn des Lockdowns im März 2020 konnte man die ersten Warnungen vor den zu befürchtenden Post-Covid-Belastungen durch die Einsamkeit und Isolierung im Lockdown lesen und diese Überschriften setzten sich bis Sommer 2021 fast unverändert fort: Pro mente Austria warnte vor „Corona als Brandbeschleuniger der Einsamkeit“, in Der Standard war von einer psychischen Belastung durch Corona zu lesen, die bis zu fünfmal so hoch sei wie vor der Krise. Eine Studie der SFU sprach von mehr als der Hälfte der Befragten, die Zeichen von Überlastung und Gereiztheit aufwiesen. Im zweiten Jahr der Pandemie gibt es nicht nur immer neue Mutationen des Virus – auch unsere Emotionen scheinen zu „mutieren“: Viele fühlen sich sowohl erschöpft und müde als auch erbittert und wütend – das neue Wort dafür lautet „mütend“. Im Englischen wird von einem Grundgefühl des languishing gesprochen: Übersetzt bedeutet das ermattet, erlahmend, aber auch sehnsüchtig. Insgesamt vielleicht weniger passiv-aggressiv als unser „mütend“, eher erschöpft und resigniert. Auch eine kollektive „posttraumatische Verbitterungsstörung“ als psychische Corona-Folge wurde bereits prophezeit (Th. Kron in Medscape, 01.05.2021). Dem entsprechen europaweite Warnungen vor einem „Tsunami psychischer Krankheiten“ z. B. seitens des Royal College of Psychiatrists in London, vor einem „weltweiten Tsunami“ seitens der Europäischen Gesellschaft für Infektionskrankheiten. Im Juni 2021 fasste eine OECD-Studie die Warnungen zusammen: Die Zahl der Angststörungen und Depressionen hätte sich durch die Epidemie in 165
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manchen Staaten sogar verdoppelt. Die OECD sieht daher Handlungsbedarf und fordert ihre Mitgliedsstaaten auf, sich stärker für die psychische Gesundheit ihrer Bürger einzusetzen. (In: ÖÄZ vom 25.06.2021, S. 16) Eine groß angelegte deutsche Untersuchung („NAKO“ – Nationale Kohorte) mit mehr als hunderttausend Teilnehmerinnen, bei der seit 2014 immer dieselben Menschen interviewt wurden, erbrachte ein differenzierteres Bild: Die Corona-Effekte wurden speziell bei Jüngeren gefunden im Sinne einer Zunahme von Angst und Depression, während ältere Menschen eher gelassen blieben: Das wurde darauf zurückgeführt, dass die Jungen unter Covid-Bedingungen ihre sozialen Beziehungen weniger leicht aufrechterhalten konnten, aber mehr als Ältere auf die Anerkennung in sozialen Medien und in Gruppensituationen angewiesen seien. Sowohl die Jungen als auch psychisch Vorerkrankte wurden als Risikogruppe bezeichnet – auch mit Hinweis auf die altbekannte Interdependenz zwischen psychischen Erkrankungen und dem Risiko von Vereinsamung. Vereinsamung droht besonders dann, wenn zur psychischen Erkrankung noch eine soziale Notsituation dazukommt: Außerdem ist das Risiko einer Covid-Infektion für prekär Beschäftigte in ungesunden Arbeitsbedingungen und für Menschen, die in kleinen Wohnungen eng zusammenleben, deutlich höher als für Gutverdienende. Dahingehend stimmen die Studienergebnisse in den USA und mehreren EU-Staaten überein. Speziell diese Infizierten sind dann auch gefährdeter bezüglich einer „sekundären“ Ausprägung psychischer Erkrankungen, sei es durch Covid-Symptomatik oder auch „nur“ aus Angst vor Infektion. Denn diese Menschen hatten schon vor der Pandemie nicht das Gefühl, ihr Leben selbst bestimmen zu können: Laut Vikram Patel (Har166
Psychische Erkrankungen und Einsamkeit
vard Medical School) haben 80 % der „Unterschichtpopulation“ das Gefühl, „keine Kontrolle über ihr Leben zu haben“. (in Die Zeit, 19.11.2020) Ihnen geht also das Gefühl einer „Selbstwirksamkeitserwartung“ ab, was wiederum ihr Verhalten in der aktuellen Krisensituation beeinträchtigt. Was dagegen helfen könnte? Der Experte Patel empfiehlt „finanzielle Unterstützung für benachteiligte Schichten“, also in Kurzform: Geld! Die Verschärfung sozialer Ungleichheiten durch Covid rückt erst allmählich ins Zentrum der Betrachtungen: Speziell die Doppel- und Dreifachbelastung von Frauen durch Homeoffice, CareArbeit und Homeschooling – sie wird zu wenig betont und noch weniger „abgegolten“. Laut einer Studie vom April 2021 klagt zwar bereits jeder zweite Jugendliche über psychische Belastung, am stärksten allerdings wird der Belastungsanstieg von Frauen erlebt: Fünfmal höher als bei den Männern! (Der Standard, 22.04.2021) Niemand kann heute die Langzeitfolgen von Covid und die ökonomischen Sekundäreffekte seriös abschätzen. Deshalb ist es auch so schwer, erfolgversprechende Behandlungsansätze zu entwickeln jenseits des Ratschlags, doch bitte „positiv zu denken“. Solche selbstverantwortungszentrierte Ansätze werden aktuell als Resilienzsteigerung durch positive appraisal style empfohlen: Man möge doch die Situation neu bewerten und versuchen, auch darin etwas Gutes zu finden. Bewegung im Freien, Erlebnisse in der Natur und Gespräche könnten helfen. Die Resilienzforscherin Ann Masten bezeichnet ein solches Reframing als ordinary magic. Doch auch das Erlernen solcher Zauberkünste wird die ökonomischen Sorgen nicht wegzaubern können. Leider muss man davon ausgehen, dass als Folge der Pandemiejahre die Arbeitslosigkeit auch längerfristig hoch bleiben wird. Dadurch werden mehr Menschen in die Ar167
III. Innenansichten der Einsamkeit
mut abrutschen und allein schon deshalb werden psychische Krankheiten und Einsamkeit zunehmen. Aber als Psychoanalytiker frage ich mich, warum so viele Leser/Hörer an solchen Berichten und Zahlen so interessiert sind? Meine Antwort darauf mag provokant klingen: Ich glaube, dass die Rezeption solcher Expertenwarnungen und Einschätzungen als Benefit für die Leserinnen dazu führen, sich mit ihrem Elend, ihrer depressiven Symptomatik oder ihrer Angst vor Einsamkeit zumindest nicht mehr allein zu fühlen. Dadurch empfinden sie sich vielleicht weniger als krank oder als Versager. Abstrakter formuliert: Es ist eine minimale Resozialisierung, eine Deindividualisierung einer solchen Symptomatik, vielleicht sogar eine passive Mikrosolidarisierung nach dem Motto: Es geht mir schon einen Hauch besser, wenn ich mich mit meinem Elend nicht so allein fühle, wenn es ja sichtlich so vielen oder fast allen anderen unter den gegebenen belastenden Umständen auch schlecht geht. Eine vergleichbare fast schon inflationäre Berichterstattung, eine vergleichbare Lawine von immer höheren Prozentzahlen der Betroffenen gab es übrigens auch schon vor zehn Jahren während der damaligen Hochblüte der „Burnout-Epidemie“.
Drei Ebenen unserer Persönlichkeit/Identität
Das hier skizzierte Modell der drei Compartments unserer Persönlichkeit ist grob vereinfacht und schematisch, kann aber vielleicht trotzdem Anhaltspunkte zum Nachdenken über die eigenen Stärken und Schwächen bieten.
168
Drei Ebenen unserer Persönlichkeit/Identität
Drei Ebenen unserer Persönlichkeit/Identität ICH SELBSTBeziehung ICH und DU
I
WIR
DYADE Zweier-Beziehung
GRUPPENBeziehungen
II
III+
Grafik 2: Drei Ebenen unserer Persönlichkeit (© R. Gross 2021)
1. Der Einzelne: Am wichtigsten ist ihm die Beziehung zu sich selbst Eine positive Selbstbeziehung führt zu einem ausreichend stabilen Selbstwertgefühl. Ein wichtiger Aspekt dieses intakten Selbstwerts ist die Überzeugung, sein Leben selbst steuern und positiv verändern zu können: Dieses Gefühl der Selbstwirksamkeit (sense of agency) ist jener Persönlichkeitsbestandteil, der ein positives Erleben von Autonomie ermöglicht. Umgekehrt kann eine schlechte Beziehung zu sich selbst, ein Mangel an Selbstwert großes Leid verursachen und bis zur Entfremdung von sich selbst führen. Dadurch wird dann die Neigung gefördert, sich einsam zu fühlen, selbst dann, wenn man nicht allein ist. Lebenslang wichtig bleibt für jeden von uns der Unterschied zwischen unserem Selbstbild und der Einschätzung unserer Person durch die Mitmenschen: Wenn die Differenz zwischen Innensicht und Außenperspektive allzu groß wird, dann sinken die Chancen auf ein 169
III. Innenansichten der Einsamkeit
zufriedenes oder glückliches Leben. Dann fühlen sich die Menschen oft missverstanden, unterschätzt oder verkannt. Der umgekehrte Fall jener Menschen, die von sich selbst nicht so viel halten, aber von ihrer Umgebung hoch geschätzt werden, ist deutlich seltener. Prinzipiell wird eine hinlänglich gute Beziehung des Individuums zu sich selbst leichter gelingen auf Basis ausreichend positiver dyadischer Beziehungen in der frühen Kindheit. Zum Subjekt können wir nur durch unsere Beziehungen zu den Objekten werden. Dieses Paradoxon vom Anfang unserer Individuation bleibt ein Leben lang wichtig: Voraussetzung und Basis jeder positiven Beziehung zu sich selbst ist immer die schon davor geglückte Zweierbeziehung des Kleinkindes zur Mutter und zum Vater.
2. Der Partner: Priorität der dyadischen Beziehungen/Paarbeziehungen Unter dyadischer Beziehung verstehen wir bei der Erwachsenen primär Beziehungen zum Partner/zur Partnerin. Allerdings entwickeln sich diese bereits auf Basis der früheren Beziehung zu den Eltern, Geschwistern oder Freundinnen. Später kommt noch die Beziehung zu den eigenen Kindern dazu. Im positiven Fall von gelingenden 1:1-Beziehungen fühlen wir uns auch als Erwachsene sicher gebunden, geliebt und aufgehoben. Im negativen Fall allerdings überwiegt auch in längerfristigen Paarbeziehungen das lähmende Gefühl von Abhängigkeit und gleichzeitiger Einsamkeit. In unglücklichen Paarbeziehungen führt dies schlimmstenfalls für beide Beteiligten zu einem bedrückenden Grundgefühl des feeling alone together. Auch hier sehen wir als Basis des Vertrauens in ein Gelingen dyadischer Beziehungen die verinnerlichte 170
Drei Ebenen unserer Persönlichkeit/Identität
Mutterbeziehung, allerdings eine spätere Phase: Die Balance zwischen Sicherheit in der Dyade bei gleichzeitiger Möglichkeit zur Autonomie ist dann leichter zu erreichen, wenn eine liebevolle Mutter ihr Kind auch rechtzeitig „loslassen“ kann und so gemeinsam mit dem Vater ihrem Kind die Explorationsphase, die lustvolle Erforschung der Außenwelt und dadurch die Freude an der Autonomie ermöglicht. 3. Der Gruppentyp Er fühlt sich am wohlsten in der Familie, in familiären oder sozialen Gruppensituationen. Unter „Gruppenbeziehungen“ verstehe ich hier alle Beziehungen zu mehr als jeweils einem einzigen anderen Menschen: Das sind primär familiäre Beziehungen, aber auch Beziehungen zu Kolleginnen am Arbeitsplatz, in Vereinen, bei politischer Tätigkeit oder auch bei jeder alltäglichen Gruppenaktivität. Interessanterweise kann beileibe nicht jeder Mensch, der zu sich selbst und im Idealfall zusätzlich noch zum Partner/Partnerin eine geglückte Beziehung hat, vergleichbar positive Gefühle auch in Gruppen erleben: Wilfred Bion, einer der Begründer der Gruppenpsychoanalyse, betonte stets: Die Beziehung zur Gruppe sei genauso schwierig und störungsanfällig wie die vorangehende Beziehung zur Mutter, das Vertrauen in die „gute Brust“. Er fügte hinzu: Jeder von uns erwarte sich von den Gruppen in seinem Leben mehr, als diese ihm geben können oder wollen. Positive und gelingende Beziehungen, ein Gefühl von Sicherheit und Zugehörigkeit als Teil mehrerer Gruppen: Eine solche idealerweise multiple Gruppenzugehörigkeit entspricht ziemlich genau dem, was heute meist „soziales Netz“ genannt wird. Es erleichtert 171
III. Innenansichten der Einsamkeit
uns auch ein Erleben unseres Selbst als multiples und nicht monolithisches Subjekt. Falls dies allerdings nicht gelingt, fühlen sich viele Menschen schlimmstenfalls isoliert in ihrer Familie oder auch im Freundeskreis, fühlen sich lonely in the crowd bis hin zur Entfremdung.
Die schwierige Balance zwischen Nähe und Distanz, zwischen Sicherheit und Autonomie
Nur wenigen Menschen gelingt es, sich entspannt und sicher, gleichzeitig aber auch unabhängig zu fühlen sowohl in der Beziehung zu sich selbst als auch in ihren Liebesbeziehungen als auch in Gruppensituationen: Wahrscheinlich kann man jene Mitmenschen, die sich in allen drei „Registern“ ihrer Beziehungen gleichermaßen entspannt und zufrieden durchs Leben bewegen, als psychisch sehr stabil oder sogar als glücklich bezeichnen. Die meisten von uns allerdings fühlen sich zumindest in einem der drei Beziehungslevels nicht so sehr zu Hause. Sie „fremdeln“ entweder beim Alleinsein oder in der Zweierbeziehung oder aber in Gruppensituationen: Dementsprechend erleben wir unterschiedliche Prioritäten bei der Beziehungsgestaltung: Für manche Individuen haben Sicherheit, Bindung und Aufgehobensein in Beziehungen eindeutig erste Priorität. Insgesamt also streben sie nach Nähe. Sie entsprechen eher dem Klischee der „Nesthockerin“ als dem des „Nestflüchters“. Solchen Menschen fällt das Alleinsein meist schwer, zumindest streben sie es nicht an. Sie ziehen dyadische Beziehungen oder aber Gruppenbeziehungen/Peer-Beziehungen vor: Sie definieren sich primär als Teil eines Paares, fühlen sich in dieser Rolle wohl und aufgehoben oder aber sie leben erst in Gruppen172
Drei Ebenen unserer Persönlichkeit/Identität
situationen richtig auf: Sei dies bei Männern die „homosoziale“ Beziehungskomponente beim gemeinsamen Fußballschauen, am Stammtisch oder im Team beim Ausüben eines Hobbys; für Frauen kann dies die Yoga-Gruppe oder der genüssliche Austausch in der Freundinnenrunde sein. Im Gegensatz zu diesen Partnertypen oder den Gruppenfans fällt es den „Einzelmenschen“ meist deutlich leichter, mit sozialer Distanz, aber auch mit Situationen des Alleinseins umzugehen: Sie können das als Autonomiegewinn positiv erleben und fühlen sich daher auch nicht so schnell einsam, wenn sie allein sind. Manchmal ist ihre soziale Isolation sogar eine selbstgewählte – speziell dann, wenn nach Kränkungen neue Beziehungen schwierig bis unmöglich geworden sind. Aber auch die allermeisten dieser „Einzelgängerinnen“ brauchen und wollen sehr wohl Objektbeziehungen: Das können aber statt der allzu gefährlichen Beziehungen zu Menschen vielmehr solche zu „unbelebten Objekten“ sein. Das kann der Beruf sein, in dem sie aufgehen, aber auch ein intensiv betriebenes Hobby oder das Verfolgen eines ganz privaten Projektes, eines „Lebenswerks“. Im Idealfall können solche Menschen dann über das Teilen, über die erfolgreiche Präsentation des vollendeten Werkes wieder zurückfinden in die Welt des Sozialen. Für das Gefühl einer stabilen Identität, eines insgesamt als gut empfundenen Lebens scheint mir die geglückte Balance zwischen den oben beschriebenen drei Beziehungsebenen entscheidend. Es ist auch ein Finden eines Gleichgewichts zwischen dem individuellen Ich-Ideal einerseits und der Erfüllung gesellschaftlicher bzw. kultureller Vorgaben. Für uns alle aber gilt wohl ein Leben lang, dass „die Spuren des Außen im Herz des Innen“ noch feststellbar und prägend sind – so der Soziologe Pierre Bourdieu (Bourdieu, S. 44). Diese Spuren zeigen sich bei uns allen 173
III. Innenansichten der Einsamkeit
auch und gerade dort, wo wir uns ganz einzigartig und unverwechselbar fühlen – in unseren innersten Phantasien und intimsten Beziehungen.
Jeder hält sich selbst für normal – die anderen aber …
Alle drei der hier grob schematisierten Beziehungstypen haben bei allen Unterschieden eine Tendenz gemeinsam: Sie neigen dazu, die jeweils eigene Persönlichkeitsstruktur und auch ihre individuellen Prioritäten in der Beziehungsgestaltung als „normal“ zu betrachten. Das aber führt allzu oft dazu, dass wir jene Mitmenschen, deren Lebensstil aus unserer Sicht nicht korrekt, realistisch und erstrebenswert ist, als fast schon abnormal ansehen: Diese Tendenz zur Abwertung der anderen Beziehungstypen kann auf einer moralisierenden Ebene erfolgen nach dem Schema: Das kann nur ein schlechter Mensch sein! Oder aber pathologisierend: Der Arme ist ja krank und eigentlich bemitleidenswert … Komplizierter wird die Identitätskonstruktion für alle, deren Ich-Ideal allzu weit von ihrer aktuellen Beziehungsrealität oder auch von den gesellschaftlichen Vorgaben abweicht. Je nach Beziehungstyp sind dann unterschiedliche Krisen zu erwarten: • Für den Einzelgänger ist eine typische Krise die Verunsicherung bei intensiver Verliebtheit, weil er das dazugehörige Erleben von Abhängigkeit nur schwer erträgt. • Für den Partnertypus hingegen, für den das Leben als Teil eines Paares die gewünschte und meist auch gewohnte Situation darstellt, ist die typische Krise eine Verwirrung und Überforderung nach einer Trennung, nach dem Verlassenwerden. • Dem Gruppentyp wiederum kann kaum Schlimmeres passieren als die soziale Exklusion aus seiner Bezugs174
Drei Ebenen unserer Persönlichkeit/Identität
gruppe: Sei dies durch Ausschluss aus einer für ihn wichtigen und identitätsstiftenden Gruppe oder aber durch dauernde Trennung vom Familiensystem oder im Falle der Migration sogar aus seiner ethnischen Bezugsgruppe oder Nation. Auch Psychotherapeutinnen sind nicht gefeit vor derlei Etikettierungen und damit vor Abwertung jener Menschen, die ihrem eigenen Wertesystem und Beziehungsmodus nicht entsprechen. Gerade die therapeutische Profession stellt oft die „Beziehungsfähigkeit“ ins Zentrum ihres Modells seelischer Gesundheit und eines geglückten Lebens. Dadurch aber gerät jegliches Bedürfnis, jede Sehnsucht nach Einsamkeit schnell unter Pathologieverdacht.
Soziale Genussfähigkeit
Der Typ des Einzelgängers ist vorwiegend autonomiebetont und kann daher gut allein sein und oft und gern auch isoliert längere Zeit an einem größeren Projekt arbeiten. Umgekehrt steht er einer engeren Beziehung vorsichtig oder sogar ängstlich-misstrauisch gegenüber, weil sie mit seinem IchIdeal des autonomen Menschen schwer vereinbar scheint. Der Sozialphilosoph Svendsen hat hier noch einmal differenziert: Während manche einsamkeitssuchende Menschen „sozial genussunfähig“ sind (socially unhedonic), also Sozialkontakt prinzipiell kaum als angenehm oder gar erfüllend erleben können, fühlen sich andere „Einzelne“ in einer Zweierbeziehung emotional gehalten und auch wohl, leiden aber gleichzeitig unter mangelnder sozialer Integration und vermissen die Gruppenzugehörigkeit. (Svendsen, S. 14) Andere individualistische und zurückhaltende Menschen aber können unter ihren sozialen Ängsten leiden bis 175
III. Innenansichten der Einsamkeit
hin zur Sozialphobie: Das unterscheidet sie vom oben beschriebenen Typ, weil in diesem Fall ihre Ambivalenz, also ihr gleichzeitiger Wunsch nach sozialen Kontakten und die Angst davor, für sie spürbar ist, während die „sozial Genussunfähigen“ bewusst keine Ambivalenz verspüren und daher wohl auch weniger Leidensdruck. Partnertypen hingegen sehen ihre Paarbeziehung als prioritär und sind in hohem Ausmaß „beziehungsfähig“ – oder anders formuliert: Sie haben deutlich weniger Angst vor Abhängigkeit als vor Isolation. Umgekehrt leiden sie aber oft unter massiver Trennungsangst, vermeiden allzu große Autonomieschritte, weil Alleinsein für sie immer einen Mangelzustand darstellt. Für den Gruppenfan hat sein Sozialleben Priorität eindeutig noch vor der Paarbeziehung. Solche Menschen sind sehr vernetzungsfähig, können Gruppensituationen genießen und oft auch souverän gestalten. Sie beschreiben sich auch selbst oft als „Familienmenschen“, wirken von außen eher extravertiert. Allein sind sie nicht gern und auch als Teil eines Paares ziehen sie es vor, „gemeinsam mit anderen“ etwas zu unternehmen. Wohl alle Menschen entwickeln für ihr Leben zwischen Alleinsein, Paarbeziehung und Gruppensituationen ein individuelles Idealbild als Modell und dadurch auch als Anforderung an sich selbst und an ihre Partnerinnen. An dieser Erwartung messen sie dann die Qualität ihrer realen Beziehungen. Wenn sie mit den Realbeziehungen zufrieden sind, wenn diese Beziehungen in etwa ihrem Ideal entsprechen, dann werden sie sich auch bei längerem Single-Dasein nicht einsam fühlen. Im Gegensatz dazu aber werden sie sich sehr wohl einsam fühlen, wenn sie Liebesbeziehungen oder soziale Beziehungen haben, die nicht ihren Erwartungen und Anforderungen entsprechen. Soziologinnen nennen das ein „kognitives Diskrepanzmodell von Einsam176
Psychoanalytische Positionen zur Trennungsangst/Angst vor dem Alleinsein
keit“ (Svendsen, S. 23). Auf der Ebene der Psychodynamik sprechen wir von einer größeren oder kleineren Diskrepanz zwischen dem Ich-Ideal und dem Real-Ich des Menschen. Der Soziologe Robert Weiss unterschied hier noch zwischen sozialer gegenüber emotionaler Einsamkeit: Bei der sozialen Einsamkeit fehlen die soziale Integration und die Gruppenzugehörigkeit, während ein emotional einsamer Mensch sich vorwiegend nach einer Partnerschaft oder einer Liebesbeziehung zu einem bestimmten anderen Menschen sehnt. (Svendsen, S. 59) Beide Ausprägungen von Einsamkeit können, müssen aber nicht gleichzeitig vorliegen: Jemand kann sozial gut integriert sein, viele Beziehungen zu anderen Menschen haben und sich dabei trotzdem ohne einen Partner emotional einsam und daher unglücklich fühlen. Umgekehrt kann ich mich in einer Zweierbeziehung emotional gehalten und geliebt fühlen, trotzdem aber die soziale Integration und Gruppenzugehörigkeit vermissen. Diese Beschreibungen der drei Beziehungsmodi und ihrer Interaktionen sind noch schablonenhaft und vereinfacht. Aber wir können uns dadurch leichter vorstellen, dass z. B. eine Beziehung zwischen einem Einzelgänger und einem Gruppenmenschen (inklusive der in jeder Beziehung unvermeidlichen Kompromisse) auch beim besten Willen beider Beteiligten und bei großer Liebe sich als ausnehmend schwierig herausstellen wird.
Psychoanalytische Positionen zur Trennungsangst/ Angst vor dem Alleinsein
Die Fähigkeit, jegliche Angst, speziell aber die Trennungsangst in sich „aufzubewahren“, also zu ertragen und im Idealfall ohne allzu viel Leid selbst damit fertig zu werden 177
III. Innenansichten der Einsamkeit
– diese Fähigkeit ist bei verschiedenen Menschen sehr unterschiedlich ausgeprägt: „Was wir aber Normalität nennen, meint das Vermögen einer Person mit Angst fertig zu werden und sie psychisch zu verarbeiten.“ (Quinodoz, S. 20) Daher haben die Psychoanalytiker seit Freud darüber nachgedacht, welche Faktoren die Intensität der Trennungsangst beeinflussen und was deren Bewältigung ermöglicht. Das wichtigste Beispiel bzw. Modell für Trennungsangst, ja für jegliche Angst ist für die Psychoanalyse seit hundert Jahren die Angst des Babys vor dem Verlassenwerden durch seine Mutter. Dieses Modell der Trennungsangst wurde früher oft konkretistisch gebraucht und oft genug auch missbraucht im Sinne von „im Zweifelsfall ist immer die Mutter schuld am Leiden des Patienten“. Diese theoretische Engführung wurde zurecht vorwiegend aus feministischer Sicht kritisiert als „mother hunting“. Heute wissen wir speziell durch die beeindruckenden Ergebnisse der analytisch orientierten Entwicklungspsychologinnen in der Nachfolge von Daniel Stern viel mehr um die hochkomplexe Choreografie der frühesten Beziehungen des Kindes: Von Beginn an ist dabei das Baby ein aktiver, mitgestaltender Protagonist, reguliert seinerseits auch die Beziehung. Hinlänglich wurde auch demonstriert, dass ein Vater sich durchaus „mütterlich“ verhalten kann – dass also auch hier Biologie nicht Schicksal sein muss. Der Begriff eines mütterlichen Verhaltens oder der mütterlichen Rolle in der frühkindlichen Entwicklung bedeutet daher im psychoanalytischen Diskurs heute nicht ausschließlich und unbedingt die Mutter als biologische Person aus Fleisch und Blut. Gemeint ist vielmehr oft eine mütterliche Funktion im Rahmen der frühesten Beziehung eines Kleinkindes: Für dieses Baby muss irgendein Erwachsener jene so entscheidende emotionale Leistung erbringen, ohne die 178
Psychoanalytische Positionen zur Trennungsangst/Angst vor dem Alleinsein
niemand zu einem Subjekt werden kann: Es geht um eine haltende, verstehende Beziehung, die jegliches kindliche Fühlen und Denken erst ermöglicht. Dass diese Person als primary caregiver heute meist immer noch die Mutter ist, ist kein Beweis für ein biologisches Naturgesetz. Es ist vielmehr der eindeutige Hinweis darauf, dass CareArbeit inklusive der emotional so fordernden Fürsorge für ein Kleinkind immer noch zum überwiegenden Teil von Frauen geleistet wird. Diese erste Beziehung ermöglicht dem Neugeborenen in seiner absoluten physischen Abhängigkeit das Überleben und ermöglicht ihm Reifungsschritte zum Erleben einer begrenzten Autonomie bei gleichzeitigem Anerkennen der Abhängigkeit. Während bei Freud die Rolle der Mutter hinter dem allmächtigen Vater fast verschwindet, ist die Mutter bei Donald Winnicott absolut zentral: Man kann in seinem Werk eine Idealisierung der Frau finden, allerdings auch ihre Reduktion auf die Funktion als Mutter. Bei aller Originalität seines Denkens steht Winnicott aus heutiger Sicht doch im Kontext eines paternalistisch-konservativen Frauenbildes der beginnenden Sechzigerjahre in England – ebenso wie Freud ein Exponent des bürgerlich-männlichen Selbstbewusstseins aus dem Fin de Siècle ist. Winnicott wird als Exponent einer maternal mode of psychoanalysis dem von Freud repräsentierten paternal mode gegenübergestellt (Wright, 1991). Seit zumindest dreißig Jahren kann man beobachten, dass den Anklagen gegen die strengen, verbietenden Väter in der Moderne nunmehr die Klagen über die Mütter und das mütterliche Defizit an Liebe und Anerkennung als neues Leitmotiv einer therapeutischen Postmoderne gefolgt sind. In den letzten Jahrzehnten aber hat sich die Psychoanalyse weiterentwickelt und noch viel mehr die Gesellschaft: 179
III. Innenansichten der Einsamkeit
Es gibt neue, vielfältige, diverse Modelle sowohl von Geschlechtsidentität als auch von Familienstruktur. Zum Verständnis der Psychodynamik in diesen neuen komplexen Genderrollen und familiären oder Gruppenkonstellationen kann ein erweitertes Bild von „mütterlicher“ gegenüber „väterlicher“ Beziehungsgestaltung hilfreich sein: Ein Beispiel dafür ist die in der Tradition von W. Bion entwickelte Gegenüberstellung von „dyadischer“ Zweierbeziehung und einer „triangulierenden“ Beziehung dreier Personen in einem Beziehungsdreieck: Dabei geht es nicht mehr wie bei Freud um eine lineare Entwicklung, um die „Befreiung“ des Kindes aus der Symbiose mit der Mutter durch einen „autonomiestiftenden“ Eingriff des Vaters. Vielmehr wird die Fähigkeit zum lebenslangen Oszillieren unseres emotionalen Funktionierens zwischen diesen beiden Polen als entscheidend beschrieben: Wir alle erleben Momente von Sicherheit, Aufgehobensein und Geliebtwerden primär in Zweierbeziehungen (eben nach dem Muster der phantasierten oder auch realen ersten frühen Beziehung). Unser Erleben von Autonomie und Selbstwirksamkeit aber beziehen wir demgegenüber erst durch die Möglichkeit der Selbstbeobachtung, der Selbstdistanzierung, die wir als „ausgeschlossener Dritter“ in einem Beziehungsdreieck lernen mussten. Psychotherapie bedeutet immer auch ein „Training“ beider obigen Fähigkeiten: Ein vielleicht erstmaliges Gefühl einer aushaltbaren Abhängigkeit – aber auch ein Erleben von Widerspruch, Differenz und Autonomie. Für beide Beziehungsmodi steht aber nur eine Therapeutin zur Verfügung: Sie/er muss also abwechselnd sowohl die „mütterliche“ als auch die „väterliche“ Rolle übernehmen, unabhängig vom eigenen biologischen Geschlecht. Der männliche Therapeut muss also sehr wohl mütterlich180
Psychoanalytische Positionen zur Trennungsangst/Angst vor dem Alleinsein
haltend funktionieren, die Therapeutin auch trennend, autonomiestiftend. Es geht dabei also um Geschlechterrollen, mehr um Gender als um biologisches Geschlecht und nicht um die Fortschreibung einer „natürlichen Weiblichkeit als Mütterlichkeit“. Wenn wir als Therapeutinnen unseren Patienten eine neue, haltende Beziehung ermöglichen wollen, dann muss letztlich eine Person (Therapeut oder Therapeutin) die Rollen beider Elternteile verkörpern. Für den Patienten steht „Mutter“ oft fast als Codewort gleichbedeutend mit „früher Kindheit“ im positiven und öfter noch im negativen Sinn: Für die Therapeutin wiederum ist zuerst einmal diese Sicht ihres Patienten entscheidend. Die wenigsten Patienten erzählen in den Therapien über eine ausschließlich glückliche Kindheit. In einem zweiten Schritt sollte eine Therapeutin immer versuchen, dem Patienten seinen eigenen Anteil, seinen Teil an Verantwortung für sein Unglück und seine Symptome klarzumachen: Ein Verbleiben in der Opferrolle kann ja nicht zu einer erwachsenen Autonomie führen. Dieser zweite Schritt ermöglicht vielen Patienten dann eine Umschrift, ein „neues Script“, in dem sie im Rückblick nicht nur sich selbst, sondern auch Mutter und Vater nuancierter mit positiven und negativen Anteilen erleben können. Spätestens dann wird klar, dass niemand ausschließlich ein hilfloses Opfer einer bösen oder kalten Mutter ist. Schon Anna Freud erwiderte auf den Vorwurf des psychoanalytischen Determinismus (bzw. die These, dass die Ursache für alles prinzipiell in der Kindheit zu finden sei): Wenn man das Leben mit einem Schachspiel vergleiche, dann seien die Eröffnungszüge sicher wichtig. Aber auch im späteren Leben gebe es noch viele interessante Züge zu tun. Vor dem Hintergrund dieser Kontextualisierung psychoanalytischer Konzepte von Mütterlichkeit wenden wir uns jetzt den „Klassikern“ zu: 181
III. Innenansichten der Einsamkeit
Trennungsangst bei S. Freud
Freud selbst hat sich vor allem in zwei wichtigen Texten mit der Trennungsangst als Modell jeglicher Angst beschäftigt: 1. Trauer und Melancholie 1917 In dieser Abhandlung beschreibt er als Ursache einer depressiven Reaktion (die über die „normale“ Trauerreaktion hinausgeht) die massive Identifikation mit dem verlorenen Objekt, um die Realisierung des Verlustes abzuwehren. Dadurch wird der Objektverlust auch zu einem Verlust von einem Teil des Selbst, die Patientin fühlt sich in ihrem Alleinsein auch noch „entleert“. („Der Schatten des Objekts fällt auf das Ich.“, GW X, S. 435) Laut Freud kann die Reaktion auf eine Trennung von einem Objekt als normale Trauer verarbeitet werden, wenn sowohl die positiven (libidinösen) als auch die negativen (aggressiven) Regungen im Fühlen und Denken an dieses Objekt, in der Erinnerung an sie oder ihn bewusstwerden dürfen: Das bedeutet, dass die vergangene Beziehung nicht nur idealisiert oder entwertet werden muss. Dem entsprechen Formulierungen wie: „Wir hatten auch gute Zeiten, aber es gab große Probleme und Schwierigkeiten.“ Allmählich können so die vielen „Fäden“ gelöst werden, die uns durch Erinnerungen noch an das Objekt binden. Am Ende bleibt ein stabiles inneres Bild des verlorenen Menschen in unserer Seele bestehen. Soweit der Idealfall. Bei der Melancholie hingegen ist es typisch, dass vor allem unsere aggressiven, entwertenden Triebregungen und Phantasien gegenüber dem verlorengegangenen Objekt, gegenüber dem, der uns verlassen hat, nicht bewusstwerden dürfen. Dann aber wendet sich die Aggression nach innen, gegen das Selbst. 182
Psychoanalytische Positionen zur Trennungsangst/Angst vor dem Alleinsein
2. Hemmung, Symptom und Angst 1926 1926 ging Freud im Rahmen seines Strukturmodells von Ich, Es und Über-Ich nochmals speziell auf die Angst ein: Hier beschreibt er die Trennungsangst als Urbild jeglicher Angst überhaupt. Angst aber ist für ihn definiert durch das Erleben eines Zustandes der Hilflosigkeit des Ich. Das Erleben von Angst, speziell aber die Trennungsangst und der Umgang mit ihr bleiben zentrale Punkte der lebenslangen Interdependenz von innerer und äußerer Realität, von realen Erlebnissen des Verlassenwerdens und von den Phantasien und der innerpsychischen Angst davor. Freuds Tochter Anna betonte die Wichtigkeit auch der äußeren Realität für solche Trennungserfahrungen: Für sie (und in ihrer Nachfolge für die Ich-Psychologie) werden in der Psychoanalyse die Verlassenheitserfahrungen bei jeder noch so kurzen Trennung von der Analytikerin wieder aktiviert, werden die Erinnerungen an die Trennungen der Kindheit wieder wach und in der Übertragung neu belebt und erlebt. Dies geschieht zwar prinzipiell in jeder Beziehung des Erwachsenen – in der Analyse aber kann und soll es thematisiert und bearbeitet werden. Im Gegensatz zu Anna Freud betonte ihre große Rivalin Melanie Klein die absolute Priorität der inneren Realität und der Phantasien für den Umgang der Kinder und Erwachsenen mit Angst und mit Trennungsangst.
Melanie Klein
Für Melanie Klein ist Trennungsangst vor allem eine Folge der aggressiven Phantasien des Kleinkindes gegenüber seiner Mutter: In ihrer Theorie phantasiert bereits das Ba183
III. Innenansichten der Einsamkeit
by von der Zerstörung, ja Tötung der nährenden Brust oder der Mutter. Als Folge aber entwickelt das Kleinkind die Angst, dass diese von ihm attackierte Mutter flüchtet und verschwindet. Als allerletzten Aufsatz ihres Lebens schrieb Melanie Klein 1963 Zum Gefühl der Einsamkeit: Darin unterscheidet sie Faktoren, die zum Einsamkeitsgefühl führen von solchen, die Einsamkeit lindern. Auch jetzt noch versteht Klein unter Einsamkeit „nicht die objektive Situation, äußere Gesellschaft entbehren zu müssen, vielmehr das Gefühl innerer Einsamkeit – das Gefühl ungeachtet der äußeren Umstände allein zu sein, ja sich sogar unter Freunden oder in Situationen, in denen einem Liebe zuteil wird, allein zu fühlen.“ (S. 475) Ein solcher Zustand innerer Einsamkeit ist für die Autorin „das Resultat einer allgegenwärtigen Sehnsucht nach einem unerreichbaren inneren Zustand der Vollkommenheit“. (S. 475) Daher ist dieses Gefühl zu einem gewissen Grad jedem Menschen vertraut, es entspringt Ängsten des Säuglings, der diesen von ihm phantasierten paradiesischen Zustand verloren hat. Klein beschreibt Einsamkeit als ein menschliches Grundgefühl: Eine befriedigende frühe Beziehung zur Mutter setzt einen engen Kontakt zwischen dem Unbewussten der Mutter und dem des Kindes voraus. Er bildet die Grundlage der Erfahrung, zutiefst verstanden zu werden und ist aufs engste mit der präverbalen Phase verbunden. Gleichgültig aber, wie befriedigend es im späteren Leben sein mag, Gedanken und Gefühle einem verständnisvollen Menschen gegenüber ausdrücken zu können, bleibt eine unbefriedigte Sehnsucht nach einem Verstehen ohne Worte erhalten – letztlich eine Sehnsucht nach 184
Psychoanalytische Positionen zur Trennungsangst/Angst vor dem Alleinsein
der frühesten Beziehung zur Mutter. Diese Sehnsucht trägt zum Gefühl der Einsamkeit bei und wurzelt in der depressiven Empfindung, einen unwiderruflichen Verlust erlitten zu haben. (S. 476)
Abgesehen von Kleins spezieller Terminologie kennt das wohl jeder: Das tiefe Gefühl eines Mangels, einer Überzeugung, dass irgendetwas Entscheidendes fehlt, um uns gut und glücklich zu fühlen. Solche Gefühle können eher depressiv oder aber aggressiv verarbeitet werden. In der Folge beschreibt Klein den lebenslangen Gegensatz zwischen einem Drang zur Destruktion oder zur Integration: Integration muss immer unvollständig bleiben, weil „ein allumfassendes Verstehen und Akzeptieren der eigenen Gefühle, Phantasien und Ängste unmöglich bleibt – und dieser Umstand ist ein wichtiger Faktor der Einsamkeit“. Zunehmende Integration (durch Anerkennung der äußeren Realität) bedeutet auch eine Rücknahme der Idealisierung sowohl des Objekts als auch der diversen Selbstanteile. Im Idealfall kann eine glückliche Beziehung zum ersten Liebesobjekt und dessen erfolgreiche Internalisierung „bedeuten, dass Liebe gegeben und angenommen werden kann“. (S. 489) Auch die Fähigkeit, sich zu freuen, hängt eng damit zusammen – „sie ermöglicht es, das zu genießen, was verfügbar ist, ohne allzu große Gier nach unerreichbaren Befriedigungen zu entwickeln oder exzessiven Groll bei Versagungen zu empfinden.“ (S. 489) Entscheidend also bleibt die Fähigkeit, eine Realität, die niemals ideal sein wird, zu akzeptieren, auch wenn sie von unserem Wunschbild abweicht. Die Anerkennung durch andere Menschen und der Erfolg können laut Klein ebenfalls zur Abwehr der Einsamkeit dienen. Lebenslang aber bleibt die Wechselwirkung 185
III. Innenansichten der Einsamkeit
zwischen äußeren und inneren Faktoren verstärkend oder aber lindernd für das Gefühl der Einsamkeit. Spätere psychoanalytische Autoren haben im Gegensatz zu Klein die Wichtigkeit gerade von äußeren, realen Faktoren für das Erleben von Einsamkeit stärker betont. So unterscheidet Peggy Hutson 2014 bei Erwachsenen zwei mögliche Konsequenzen für den häufigen Fall, dass die Mutter auf „unerwünschtes Verhalten“ ihres Säuglings mit Unverständnis oder Ärger reagierte: Laut Hutson ist die Fähigkeit auch des Erwachsenen „nachzugeben und sich dabei wohlzufühlen“ sowohl auf ödipaler als auch auf präödipaler Ebene ein Leben lang von dieser speziellen Form des not good enough mothering gezeichnet. 1. Auf präödipaler Ebene: Wenn eine Mutter oder andere Bezugsperson zu wenig oder schlimmstenfalls gar kein Verständnis für negative emotionale Erregungen oder Triebregungen ihres Kleinkindes aufbringen kann, wenn sie Äußerungen von Ärger, Wut oder auch nur Quengeln und Trotz seitens des Kindes schwer erträgt, dann entzieht sie in diesen Situationen ihrem Kind die Liebe und das Verständnis. Das wiederum ruft beim Kleinkind die unbewusste Überzeugung hervor, dass jegliches Anderssein, jede abweichende Meinung und schon gar jegliche Aggression sofort bestraft wird: Wenn ich aggressiv bin, werde ich verlassen und verliere damit jegliche Sicherheit. Solche Menschen brauchen dann auch als Erwachsene die ständige Bestätigung eines real anwesenden Objektes, dass sie nicht verlassen werden. Das aber erfordert im Idealfall die ständige Präsenz dieser realen Person.
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Psychoanalytische Positionen zur Trennungsangst/Angst vor dem Alleinsein
2. Folgen auf ödipaler Ebene: Je früher eine solche oben beschriebene Symptomatik entsteht, desto gravierender die Folgen. Aber auch eine spätere Abwendung der Mutter oder des Vaters von einem wütenden oder aggressiven Kind kann zur Schädigung des kindlichen Selbstwertes durch diesen Liebesentzug führen: Wenn ein Kind immer wieder hören muss, dass es dumm, hässlich und letztlich unaushaltbar ist – dann wird dies seinen Selbstwert schädigen. Denn die Normen für das Selbst und auch die Idealbilder, das Ich-Ideal dieses Kindes werden primär von den Eltern geformt. Wenn die Rückmeldungen allzu negativ sind, fühlt sich das Kind klein, unwert und unerwünscht. Solche Gefühle und Selbstdefinitionen werden in das Selbstbild, aber auch in das Ich-Ideal integriert. Als Erwachsener kann ein solcher Mensch dann traurig oder resigniert fragen: Wer würde sich denn freiwillig mit mir abgeben – wer könnte mich jemals lieben? Ein solches negatives Selbstbild führt zu Scham, führt zu Rückzugsverhalten – und oft genug zur Einsamkeit. Denn die früh „gesäte“ Überzeugung, dass ich nicht liebenswert bin – sie führt auch zur Gewissheit, dass ich es nicht wert bin, von anderen Menschen als den Eltern geliebt oder auch nur respektiert zu werden. Dann wird die Differenz zwischen Ich und Ich-Ideal unüberbrückbar groß und kann auch durch Perfektionismus und Härte gegen sich selbst nicht bewältigt werden. Schlimmstenfalls führt dann auch eine „objektiv“ nicht bedrohliche Trennung oder ein Neuanfang in einem neuen Job, einer neuen Stadt oder neuen Beziehung zum Wiedererleben dieser Trennungsangst. Dann wird jeder Blick bedrohlich, nur der Rückzug bietet Sicherheit. 187
III. Innenansichten der Einsamkeit
Blicke auf uns: Glanz im Mutterauge oder Angst vor Verurteilung?
Ein Leben lang orientieren wir uns in der Welt durch Blicke: Wir schauen Menschen an, spüren aber auch die Blicke der anderen auf uns. Der erste Blick auf uns ganz am Anfang unseres Lebens kommt von der Mutter: Für einen liebevoll strahlenden Blick auf das Kind fand der Begründer der Selbstpsychologie Heinz Kohut das schöne Bild vom „Glanz im Mutterauge“. Ein solch wohlwollender Blick gibt dem Kind die Überzeugung, geliebt zu werden und deshalb wertvoll zu sein. So kann es auch Sicherheit genug gewinnen, um aus seiner frühen Symbiose mit der Mutter hinauszugehen und die Welt selbständig zu erkunden. Falls ich mich aber von der Mutter nicht positiv gesehen, nicht angenommen fühle – nicht von ihr erkannt und auch nicht anerkannt – dann wird es mir schwerfallen, ein positives Bild von mir selbst zu erreichen. Dadurch aber kann ich mir kaum vorstellen, dass andere mich als positiv oder gar als liebenswert einschätzen. Dies führt dann bei Erwachsenen oft dazu, dass sie die Blicke anderer Menschen auf sich prinzipiell als kritisch empfinden. Sie fürchten sie als nicht nur wertend, sondern abwertend, als nicht nur beurteilend, sondern verurteilend. Im besten Fall können sie in ihrer subjektiven Wahrnehmung Blicke noch als verständnisvoll oder mitleidig wahrnehmen. Im schlimmsten Fall aber wird jeder Blick eines Mitmenschen zur Bedrohung, wird als Verachtung und Hohn erlebt. Ein solcher Kreislauf der als böse phantasierten Blicke von außen und der misstrauisch-ängstlichen Reaktion der Blicke von innen heraus funktioniert leider oft als selbstverstärkendes System. 188
Psychoanalytische Positionen zur Trennungsangst/Angst vor dem Alleinsein
In weiterer Folge wird dann der Blick des misstrauischen, selbstunsicheren und oft dadurch schon vereinsamten Menschen nach außen, auf andere Menschen zwar immer noch sehnsüchtig sein, aber er wird auch zunehmend „böse“: In der Hoffnung, weiteres Unheil durch Verurteilung abzuwenden oder zu vermeiden, werde ich meinerseits Beschämung und Schmerz durch andere vorbeugend vermeiden, indem ich umgekehrt sie abwertend oder verächtlich behandle. Dabei wird es immer schwieriger zu unterscheiden, ob die negativen Gefühle, die Abwertung und die Verachtung jetzt in mir drinnen sind oder von außen kommen und damit durch Rückzug und Ablehnung vermeidbar sind. Oft erleben sich solche Menschen wie durch eine Glaswand von anderen getrennt, umgekehrt aber werden sie auch von ihren Mitmenschen als zurückgezogen „wie hinter Glas“ erlebt. Das Fenster als Symbol einer unsichtbaren Grenze scheint mir hier passend, weil eine gläserne Wand zwar stabil trennend wirkt, aber auch durchaus fragil ist: Ein Steinwurf, also eine böse Bemerkung oder ein abschätziger Blick genügt und die Scheibe zerspringt. Analytisch formuliert: Die Fragmentierungsangst, die Angst vor dem Auseinanderbrechen des Selbst in viele kleine tote, wertlose Splitter wird zur Realität. Ein Dichter hat diese Ambivalenz, diesen Wunsch nach Nähe bei gleichzeitiger Angst davor in zwei Zeilen poetisch verdichtet: Sign on the window says „lonely“, sign on the door said „no company allowed“.
Das singt Bob Dylan zur Gleichzeitigkeit der sehnsüchtigen Klage des Einsamen als Zeichen im Fenster bei schroffem „Eintrittsverbot“ an der Tür zu seinen seelischen In189
III. Innenansichten der Einsamkeit
nenräumen. Man beachte: Das Zeichen an der Tür wurde zuerst geschrieben (said), der Hilferuf aus dem Fenster folgt erst danach und bleibt wohl folgenlos. Die jungianische Psychoanalytikerin Kathrin Asper beschrieb die Struktur solcher Persönlichkeiten und auch die Mechanismen, mit der sie die leidvolle Situation einer subjektiv erlebten Verlassenheit bewältigen: Ausgehend von der schmerzlichen Gewissheit, niemals bedingungslos geliebt worden zu sein, wird im Leben solcher Menschen oft die Leistung zentral: Wenn ich schon nicht geliebt werde, dann möchte ich wenigstens anerkannt, vielleicht sogar bewundert werden. Asper konstatiert als typische Verhaltensformen die Überanpassung an die Realität und eine starre Identifikation mit kollektiven Werten: Durch möglichst konformes Verhalten und auch „innere Anpassung“ im Denken und vor allem Fühlen soll Zugehörigkeit sowohl demonstriert werden als auch zumindest ein bisschen spürbar. Dazu kommt ein Verzicht auf die Wahrnehmung eigener Gefühle, eine absolute Priorisierung von Intellekt und Rationalisierung, die solche Menschen als hochgradig „funktionierend“, vernünftig und verlässlich erscheinen lässt. Gleichzeitig bleiben sie aber durch ihre Angst vor Ablehnung leicht manipulierbar. Wenn all diese Mechanismen noch nicht ausreichen, um eine ausreichend sichere Position in der sozialen Gruppe, im Beruf und im Idealfall auch in einer Beziehung zu erlangen, dann kommt es zum sozialen Rückzug. Von dort geht der Weg schlimmstenfalls weiter aus der Isolierung und Einsamkeit zurück nach außen in Richtung einer narzisstischen Wut, vielleicht aber auch nach innen mit den Symptomen einer narzisstischen Depression. Wenig überraschend fanden die Psychoanalytikerinnen auch für solche Zustandsbilder die Ursache in einem Man190
Alleinsein in Gegenwart eines anderen
gel an Anerkennung, an Sicherheit durch bedingungslose Liebe in der frühen Kindheit.
Alleinsein in Gegenwart eines anderen: Donald W. Winnicott und die Fähigkeit zum Alleinsein
Die Psychoanalytiker von Freud bis heute sehen die realen Beziehungen und noch mehr die dazugehörigen Triebwünsche und Phantasien als zentral für das Seelenleben jedes Menschen an: Aus dieser Perspektive scheint es dann unmöglich, ohne befriedigende Beziehungen, speziell ohne befriedigende Intimbeziehungen ein gutes Leben zu führen. Diese Überhöhung der „Beziehungsfähigkeit“ als Grundbedingung eines geglückten Lebens hat ein Kritiker höhnisch zusammengefasst: Die Psychoanalyse verspreche eine Art von Erlösung durch ihr Angebot, das Individuum von jenen emotionalen Blockaden oder blinden Flecken zu heilen, die seine Liebesbeziehungen unglücklich machten. So bestehe unsere ganze Umwelt dann nur noch aus den Beziehungen zu wenigen anderen Menschen. (Gellner, 1985, in: Storr, S. 26). Um 1950 wurde der Analytiker und Kinderarzt John Bowlby durch seine Beobachtung und Beschreibung der realen Beziehungen des Kleinkindalters zum Begründer der Bindungstheorie: Auch er kam zum Schluss, dass die Beziehungen, speziell die erste Beziehung zur Mutter absolut wichtig seien: Allerdings ging es ihm weniger um Triebbefriedigung als um die Wichtigkeit einer sicheren Bindung: Er konnte nachweisen, dass ohne eine solche Bindung des Kleinkindes an seine Mutter die seelische Stabilität eines Menschen lebenslang prekär bleiben kann. 191
III. Innenansichten der Einsamkeit
Die Bindungstheorie unterscheidet zwischen Bindung und Abhängigkeit: Die Abhängigkeit wird vom Kleinkindalter bis ins Erwachsenenleben mit wachsender Reife immer geringer, das Streben nach Bindung hingegen bleibt ein ganzes Leben lang als Grundbedürfnis aufrecht. Diese Priorisierung realer Beziehungen entfernte Bowlby zwar vom analytischen Denken, führte aber ebenso wie dieses zum Misstrauen gegenüber jenen Menschen, die freiwillig allein lebten: Deren Distanzierung oder Geringschätzung von Beziehungen wurde als „vermeidend-unsichere Bindung“ und damit als Risikofaktor für psychische Erkrankungen gesehen: Ohne zumindest den Wunsch nach intimen Beziehungen könne jemand nicht ganz gesund sein – er sei dann zumindest etwas bad or mad. Vor diesem Hintergrund der absoluten Priorität äußerer oder aber verinnerlichter Beziehungen sorgte 1958 ein Aufsatz für großes Aufsehen in der analytischen Community10: Donald Winnicott behauptete, dass sich die Psychoanalyse sechzig Jahre lang zwar viel mit der Angst vor dem Alleinsein beschäftigt habe, nicht aber mit der Frage, was einen Menschen überhaupt dazu befähige, ein solches Alleinsein zu ertragen. Im Gegensatz zur negativen Beschreibung des Rückzugs als Pathologie oder Abwehrorganisation will er die für ihn längst überfällige Frage der positiven Aspekte dieser capacity to be alone diskutieren. Für den Kinderarzt und Psychoanalytiker Winnicott ist die Grundlage jeglicher Fähigkeit eines Erwachsenen, allein zu sein, die Erfahrung als Kleinkind „of being alone in the presence of the mother/of another“. Er postuliert einen Zustand des Babys, in dem dessen unmittelbare Bedürfnisse nach Nahrung, Wärme und körperlichem Kontakt befriedigt wurden. Das Kleinkind sei also beruhigt 10 Erstveröffentlicht 1958 im Int. Journal of Psychoanalysis, S. 416 –420 192
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und „gestillt“, brauche in diesem Augenblick die Mutter nicht mehr zur Befriedigung seiner Triebbedürfnisse. Aber das beruhigende Bewusstsein, von der Mutter gehalten zu werden, die Sicherheit, dass sie weiterhin verlässlich da ist und bleiben wird: Daraus entsteht im Laufe der ersten Lebensjahre im Idealfall das Gefühl einer inneren Sicherheit. Dieses Gefühl der Sicherheit kann man auch als einen Prozess der Konditionierung beschreiben: Je öfter das Kind die Anwesenheit der Bezugsperson beruhigend gespürt hat, desto vertrauensvoller wird es die künftige Verfügbarkeit der Mutter erwarten. Immer fester wird es davon überzeugt sein, nicht alleingelassen zu werden. Hier beschreibt Winnicott sowohl die „sichere Bindung“ als auch jenen frühen Prozess, den die Psychoanalytikerinnen als „Internalisierung des guten Objekts“ bezeichnen. Die positive Erinnerung, das Bild der realen Beziehungskonstellation wird immer mehr zum Teil der psychischen Innenwelt des Kleinkindes. Im Idealfall gibt dieses innere Bild dem Kind ein Gefühl der Sicherheit auch in jenen Phasen, in denen die Mutter nicht zur Verfügung steht, weil sie nicht anwesend ist. Für Winnicott hängt diese Fähigkeit des Kindes, allein in der Gegenwart der Mutter zu sein, mit der gesamten Entwicklung seines Selbst zusammen: Die Fähigkeit zum Alleinsein verknüpft er mit der „Entdeckung des Selbst und Selbstverwirklichung, mit dem Bewusstwerden der tiefsten Bedürfnisse, Gefühle und Impulse des Menschen“. Grundlegend für ihn ist also ein Paradoxon: Die Basis unserer Fähigkeit, später befriedigende Beziehungen zu anderen Menschen einzugehen, ist die bereits davor entwickelte Fähigkeit zum Alleinsein. Es geht Winnicott um die psychische Fähigkeit, nicht um die reale Situation: Er betont, dass jemand in Einzelhaft sein könne ohne Fähigkeit zum Alleinsein und deshalb dort schrecklich leiden 193
III. Innenansichten der Einsamkeit
werde. Umgekehrt aber könne man mit dieser Fähigkeit zum Alleinsein ein reiches Sozialleben genießen. Wir können davon ausgehen, dass diese Fähigkeit zum Alleinsein bei niemand immer und absolut vorliegt. Auch hier gibt es Abstufungen zwischen größerem oder geringerem Vertrauen, zwischen dem Grundgefühl einer mehr oder weniger sicheren Bindung: Niemand kann immer absolut sicher sein, dass der oder die Geliebte rechtzeitig kommt, dass man sich also nie allein fühlen muss und keinerlei Restangst vor dem Verlassenwerden entwickelt. Das Ausmaß, die Intensität dieser Angst ist unterschiedlich groß – und prägt den Beziehungsstil auch noch beim Erwachsenen: Er/sie geht mit Beziehungen eher aktiv oder aber passiv um, risikobereit, bereit zu vertrauen – oder aber nicht.
Incommunicado: Der innerste Kern des Selbst muss allein bleiben
1963 erschien Winnicotts Aufsatz Communicating and Not Communicating. Der Text wird als Summe seiner jahrzehntelangen Beschäftigung mit dem Phänomen der Mutter-Kind-Beziehung und Fragen der Kommunikation betrachtet. Für seinen Biographen Adam Phillips ist es sogar sein wichtigster Beitrag zur Psychoanalyse. Winnicott beginnt mit einem entschiedenen Plädoyer für das Recht jedes Menschen auf Nicht-Kommunikation. Auch das Schweigen des Patienten in der Analyse dürfe deshalb nicht primär als Verweigerung und Widerstand betrachtet werden, es könne auch ein positiver Beitrag sein. Wieder kommt er auf sein Lieblingsthema: „Ich weise auf die Wichtigkeit der Vorstellung von der ständigen Isoliertheit des Individuums hin und unterstreiche sie, und ich behaupte, dass es im Kern des Individuums überhaupt 194
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keine Kommunikation mit der Welt des Nicht-Ich gibt.“ (S. 249) Denn der Kern der Persönlichkeit bleibt eine isolierte Festung, dürfe niemals mit der äußeren Realität kommunizieren oder gar von ihr beeinflusst werden. Für Winnicott ist das Recht auf Nicht-Kommunikation zentral: „Wenn auch gesunde Menschen kommunizieren und es genießen, so ist doch die andere Tatsache ebenso wahr, dass jedes Individuum ein Isolierter ist, in ständiger Nicht-Kommunikation, ständig unbekannt, tatsächlich ungefunden. […] Im Zentrum jeder Person ist ein Element des „Incommunicado“, das heilig und höchst bewahrenswert ist.“ (S. 245) Bei aller Beschwörung dieses heiligen Kerns eines wahren Selbst allerdings ist er sich der Gefahren der Isolation durchaus bewusst: „Die Frage ist, wie kann man isoliert sein, ohne abgesondert sein zu müssen?“ (isolated not insulated, S. 246) Spätestens hier ist wohl entscheidend, ob es sich um eine freiwillige oder erzwungene Isolierung handelt.11 Winnicott beschreibt im Falle eines freiwilligen Rückzugs in die psychische Innenwelt (z. B. bei einem Mystiker) „einen Gewinn an Wirklichkeitsgefühl als Gegengewicht zu einem Verlust des Kontakts mit der Welt der gemeinsamen Realität.“ (S. 243) Und er erinnert an eine wohl jedem von uns aus der eigenen Kindheit bekannte Erfahrung: Für Kinder sei es beim Versteckspiel „eine Freude, verborgen zu sein, aber ein Unglück, wenn man nicht gefunden wird“. (S. 244) Entscheidend dabei ist für Winnicott immer die primäre Wahlmöglichkeit des Kindes zwischen Kommunikation und Nicht-Kommunikation: Wenn ein Kind in seiner ersten Beziehung ausreichend lang und verlässlich emotional gehal11 Incommunicado steht im Englischen sowohl für die freiwillige als auch für die unfreiwillige Isolation eines Menschen: Jemand kann z. B. auch incommunicado sein, weil er in Einzelhaft inhaftiert ist. 195
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ten wurde, kann es aus diesem Gefühl der Sicherheit heraus oszillieren zwischen beiden Zuständen, zwischen Rückzug und Beziehung. Die Basis dafür liefert die silent communication, die wortlose Verbindung zwischen Mutter und Kind allein durch das Gehaltenwerden. Denn für Winnicott ist jede wirklich wichtige Kommunikation eine wortlose. Im Gegensatz dazu aber werden jene Kinder, die nicht sicher und lange genug gehalten wurden, in die Kommunikation gezwungen durch ihren Versuch, den Kontakt zur Mutter zu halten. Sie fühlen sich verwirrt, erleben die archaische Angst davor, fallengelassen zu werden, „in anderen Worten, sie haben das Trauma erlebt“. (In: Abram, S. 88)
Die begabten Kinder der „toten“ Mutter
Als Sonderfall beschreibt Winnicott das Schicksal jener Babys, die zuerst eine Erfahrung der Sicherheit, des Gehaltenwerdens und der „hinlänglich guten Mutter“ machen konnten, dann jedoch plötzlich aus diesem frühkindlichen Paradies herausgerissen wurden, von der Mutter „fallengelassen“: Diese Katastrophe tritt dann ein, wenn eine Mutter plötzlich für ihr Kind emotional nicht mehr verfügbar ist, obwohl sie physisch weiterhin anwesend ist. Dies passiert leider häufig im Fall einer Depression der Mutter im ersten Jahr nach der Geburt. Wenn dann die Mutter auch ihr Kind immer noch ausreichend nährt und pflegt, ihm weiterhin die Brust gibt – ihr Blick, ihre Sorge, das Zentrum ihres Fühlens liegt jetzt woanders. Für diesen Fall beschreibt Winnicott die Versuche des verzweifelten Säuglings, die Mutter wieder zu erreichen, als Traumafolge, als eine falsche Art von Lebendigkeit: Er muss seine emotional isolierte und „tote“, weil depressive 196
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Mutter aufheitern, wieder lebendig machen: „Die Aufgabe des Säuglings ist es in einem solchen Fall, lebendig zu sein und lebendig auszusehen und dieses Lebendigsein zu kommunizieren. […] Die Lebendigkeit des Kindes, dessen Mutter depressiv ist, ist […] unnatürlich und eine unerträgliche Belastung für das unreife Ich.“ (S. 252) Winnicott postuliert, dass in einer solchen Situation „das, was später der Intellekt wird“ die Fähigkeit eines Säuglings verstärkt, „ein relatives Versagen im Bereich der sich anpassenden Umwelt zu überleben“. (S. 236) Ein „begabter“ alleingelassener Säugling wird also die fast unlösbare Aufgabe eher leisten können, seine Mutter wieder ins Leben und in die Beziehung zurückzuholen. Von Winnicott gibt es nur wenige Äußerungen über seine eigene Kindheit. Seine Beschreibung der eigenen Mutter ist wohl idealisiert: Sie sei munter, freundlich und warmherzig gewesen. Aber wahrscheinlich hat er als Kind das von ihm so eingehend beschriebene Drama der emotionalen Abwendung einer depressiven Mutter selbst erleben müssen: Wenige Monate vor der Publikation von Communicating and Not Communicating“ verfasste er im Alter von dreiundsechzig Jahren ein Gedicht über seine Mutter. Winnicott liebte es als Kind, in einem Baum im Garten zu sitzen – und hier beginnt auch sein Gedicht The Tree (Der Baum): Mother below is weeping Mutter unten weint weeping weint weeping weint Thus I knew her So kannte ich sie Once, stretched out on her lap Einst ausgestreckt in ihrem Schoß, as now on dead tree wie jetzt auf totem Baum 197
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I learned to make her smile lernte ich, sie zum Lachen zu bringen, to stem her tears ihren Tränen Einhalt zu gebieten, to undo her guilt ihre Schuld ungeschehen zu machen, to cure her inward death den Tod in ihr drinnen zu heilen. To enliven her was my living. Mein Leben war, sie zu beleben. Winnicott, zitiert nach Phillips, S. 48
Wahrscheinlich hat Winnicott durch das Leid der frühen Jahre zu seinem Lebensthema der Mutter-Kind-Beziehung gefunden und durch seine psychoanalytische Arbeit und deren theoretische Fundierung diese schmerzlichen Erfahrungen bewältigt. Zwanzig Jahre nach der Entstehung von Winnicotts Gedicht fand ein anderer Psychoanalytiker den einprägsamen Titel für diese Katastrophe der Kindheit: Die tote Mutter.
André Green: Die tote Mutter
André Green war einer der bedeutendsten Psychoanalytiker des vorigen Jahrhunderts. Ihm verdanken wir Standardwerke über Narzissmus und die Funktion der Negativität im Seelenleben. Wirklich berühmt aber wurde er 1983 durch einen Aufsatz mit dem prägnanten Titel: Die tote Mutter. In einem Interview stellte er später resigniert fest, dass dieser Text sein weitaus berühmtester geworden sei, obwohl er andere für wichtiger halte. Das führt er auch darauf zurück, dass dieser Aufsatz autobiografische Wur198
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zeln gehabt hatte: Ähnlich wie Winnicott dürfte er also die beschriebene Konstellation aus eigenem Erleben gekannt haben. Vielleicht löste der Text deshalb bei vielen Lesern Resonanzerfahrungen aus. Er beschrieb eine ungewöhnliche Art der Depression, bei der die Patientinnen in der Analyse weniger über Traurigkeit klagen als vielmehr über ein allgemeines Grundgefühl der Unfähigkeit: „Unfähigkeit aus einer Konfliktsituation herauszufinden, zu lieben, Begabungen zu nutzen oder Lebenserfahrungen reifen zu lassen“. (S. 240) Selbst wenn sie all das geschafft haben, bliebe bei diesen Patienten eine tiefe Unzufriedenheit zurück. Sie fühlen sich isoliert, abgetrennt von ihren Mitmenschen. Die Ursache dafür sieht Green in einer Depression ihrer Mutter, die diese Patientinnen als Baby oder Kleinkind erleben mussten: Aus irgendeinem äußeren oder inneren Grund sei die Mutter krank und dadurch emotional unerreichbar geworden und „immer ist die Trauer der Mutter und ihr schwindendes Interesse für das Kind ausschlaggebend“. (S. 240) Im Gegensatz zu anderen depressiven Zustandsbildern, die durch den Verlust des Objektes ausgelöst werden, ist der wesentliche Zug einer solchen Störung, „dass sie in Anwesenheit des Objekts stattfindet, das aber seinerseits durch eine Trauer völlig in Anspruch genommen ist“. (S. 240) Poetisch und eindrucksvoll beschreibt Green die anfangs so glückliche Beziehung zwischen Mutter und Kind, die dann im Schock endet: „Dieses Glück kam jäh zum Stillstand und blieb von da an blockiert.“ (S. 241) Ein solches Erlebnis des Kleinkindes hinterlässt eine unauslöschliche Spur auch in den Beziehungen dieser Menschen. Die Plötzlichkeit der eingetretenen Katastrophe, der Verlust an Lebenssinn – er färbt alle Liebesbeziehungen auch des Er199
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wachsenen und dessen Einstellung zum Leben insgesamt. Denn das dunkle Zentrum, „der kalte Kern des Unheils“ ist die unbewusste Identifikation mit der „toten“, emotional nicht mehr erreichbaren Mutter. Die Katastrophe des Verlassenwerdens fördert laut Green aber auch die frühzeitige Entwicklung der intellektuellen Fähigkeiten des Kindes: Hier geht es nicht um kindliches Spiel, nicht um freies Phantasieren, sondern um „den Zwang, denken zu müssen“. Kognitive Leistung ist hier der Versuch einer Selbstheilung. Ziel ist das psychische Überleben der frühen Einsamkeit nach dem Verlust des emotionalen Kontaktes zur Mutter. „Das Kind hat die grausame Erfahrung seiner Abhängigkeit von den unterschiedlichen Stimmungen seiner Mutter gemacht. Fortan widmet es sein Bemühen dem Voraussagen oder Vorwegnehmen.“ (S. 244) Schlimmstenfalls muss das Subjekt ein Leben lang versuchen, „die Mutter wiederzubeleben, sie zu zerstreuen, ihr wieder Geschmack am Leben zu verschaffen, sie zum Lachen zu bringen […]“ (S. 247) Dadurch werden diese Subjekte „stillgelegt in ihrer Fähigkeit zu lieben, sie können nur noch versuchen, Autonomie zu erlangen“. (S. 248) Sie können mit niemandem etwas teilen – und damit wird die Einsamkeit zu ihrem Normalzustand. Eine intensive berufliche, intellektuelle oder künstlerische Tätigkeit wird dann oft als „Aufhänger für ein Phantasma der Selbstgenügsamkeit“ verwendet. (S. 252) Diesen Zusammenhang hat schon Winnicott in Communicating and Not Communicating angedeutet, Green aber hat ihn genauer ausgearbeitet: Je nach Intensität und Länge der mütterlichen Depression sind die Folgen für das Kind unterschiedlich. Auch die Qualität der vorangegangenen intakten Beziehung wird die spätere Symptomatik 200
Mit einem Buch bist du nie allein
beeinflussen. Die intellektuellen Fähigkeiten des Kindes wiederum sind mitentscheidend für das Coping, für die Bewältigung dieser frühen Beziehungskatastrophe. Viele Leserinnen haben sich wohl in diesem Aufsatz Greens wiedergefunden – speziell jene, die ihr eigenes Leben als zwar erfolgreich, aber auch als isoliert und nicht allzu glücklich beschreiben.
Mit einem Buch bist du nie allein: Zwischen der Isolation des Lesers und seiner Kunst, mit Abwesenden zu reden
Wir kennen das Bild aus Gemälden, aus Filmen und auch aus seiner Beschreibung in vielen Texten: Ein Mensch ist versunken in ein Buch, er liest ruhig, konzentriert und stumm. Allein dadurch schließt er sich für die Dauer der Lektüre von Umgebung und Mitmenschen ab. Für uns ist dieses stumme Lesen der Normalfall: Erwachsene lesen allein und still für sich, nur Kindern wird laut vorgelesen. Spätestens seit der Romantik gibt es unzählige oft kitschige Bilder dieser Figur der einsamen Leserin, die in ihre Imagination versinkt, ganz in der Lektüre aufgeht. Über viele Jahrhunderte hindurch aber war ein solches lautloses Lesen die absolute Ausnahme: Gelesen wurde laut, ja deklamierend. Deshalb war der Hl. Augustinus verblüfft, als er den von ihm verehrten Bischof Ambrosius bei dessen Bibellektüre beobachtete: „Wenn er aber las, glitten seine Augen über die Seiten, sein Herz suchte den Sinn zu erkunden, doch Stimme und Zunge blieben stumm.“ (Confessiones, VI/3) Diese Szene wurde zum Ausgangspunkt für die in der christlichen Ikonographie so populäre Figur des Einsiedlers mit seinem Buch. Die klassische Version zeigt den Hl. Hieronymus am Lesepult, bewacht von einem Löwen. 201
III. Innenansichten der Einsamkeit
Sowohl für die antike Denkschule der Stoa als auch für das christliche Ideal einer Vita contemplativa war das Buch ein Symbol des Denkers, der sich vom Lärm der Welt abgewandt hatte. Er ist allein, seine Isolation aber wird verklärt zum erhabenen intellektuellen Rückzug. Für die Stoiker war der einsame Weise so geschützt sowohl vor den Versuchungen des gesellschaftlichen Ehrgeizes als auch vor dem unkontrollierten Ausleben seiner Affekte. In der christlichen Tradition erleichterte das Einsiedlerleben die Annäherung an Gott. All diese weisen Männer (denn es waren fast immer Männer) waren allein, fühlten sich aber beileibe nicht einsam: Denn sie standen immer in einem Dialog – sei es im Zwiegespräch mit Gott oder mit ihrer „inneren Stimme“, ihrem Daimon. Ein fernes Echo dieser ikonischen Figur schwingt auch heute noch mit, wenn wir jemanden sehen, der in seine Lektüre vertieft und dadurch der Welt abhandengekommen ist. Am häufigsten und am leichtesten gelingt diese völlige Versenkung ins Buch in der Jugend: Wer als Kind gelernt hat, stundenlang allein mit einem Buch zufrieden oder gar glücklich zu sein, der ist ein Leben lang durch diese Beziehung zu einem unbelebten Objekt (dem Buch) weniger abhängig von seinen Mitmenschen, diesen leider so unkontrollierbaren lebenden Objekten. Ob nun aber die Begeisterung fürs Lesen „nur“ Kompensation für fehlende oder abwesende Freundinnen ist oder schon primär aus anderen Motiven entstand – in jedem Fall ist sie einer der entscheidenden Symbolisierungsschritte, der uns einen Reichtum an inneren Bildern bietet: Denn das Lesen ist z. B. für Rousseau „die Kunst, mit Abwesenden zu reden“ oder für Freud „die Schrift als Rede des Abwesenden.“ In Abwesenheit eines lebenden Gesprächspartners impli202
Mit einem Buch bist du nie allein
zieren diese Bilder immer die Anwesenheit einer inneren Dialogpartnerin durch die Lektüre: Der Leser ist nicht allein. Da seine innere Wirklichkeit dominiert, wird die Außenwelt nur als Störung empfunden. Kurt Tucholsky beklagt den Moment des „Erwachens“ aus der intensiven Lektüre: „Manchmal bist du in ein Buch so vertieft, dass du in ihm versinkst – du bist gar nicht mehr da. […] Nichts weißt du von der Welt um dich herum, du hörst nichts, du siehst nichts, du liest. Du bist im Banne eines Buches.“ (In: Hart-Nibbrig, S. 165) Für solche begeisterten kindlichen Leserinnen bedeutet das Buch sicher mehr als einen bloßen Ersatz für abwesende, vermisste Eltern, Geschwister oder Freunde: Lesen kann zum „Probefühlen“ werden, das Kind kann durch Identifikation dabei im Idealfall ganz allein neue Beziehungsformen ausprobieren, auch wenn diese in der Wirklichkeit noch zu viel Angst machen. Solche positiven Folgen des Lesens aber sind den konzentrierten Viel-Leserinnen unter den Kindern vorbehalten und diese waren und sind in der Minderheit: Laut „Nationalem Bildungsbericht Deutschland“ von 2019 beschreiben sich von den Vierzehnjährigen nur 2,8 Prozent der Buben und 7,6 Prozent der Mädchen als „Viel-Lesende“. Nur diese Wenigen werden Stoßseufzer wie den von Friederike Mayröcker nachvollziehen können, die nach dem Tod ihres Gefährten bis zu ihrem Tod allein gelebt hat: „Hätte ich nicht Lesen gelernt wie unglücklich wäre ich jetzt.“ (In: Wegner und Raabe, S. 49) Aber auch passionierte Leser werden weder zwangsläufig zu isolierten Bücherwürmern noch sind sie durch die lektürebedingte „narrative Empathie“ bessere, weil empathischere Menschen. Auch beim Lesen kommt es sowohl auf die Dosis als auch auf die Funktion an: Bücher kann 203
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ich verwenden, um mir die Menschen und die reale Welt der Beziehungen vom Hals zu halten, weil sie mich überfordern: Das ist ein eskapistisches, weltflüchtiges Lesen. Genauso gut aber kann mir das Lesen meinen Zugang zur Welt und zu den Menschen erleichtern, kann ich Momente einer „narrativen Resonanz“ erleben: Damit bezeichnet Hartmut Rosa die Erfahrung, beim Lesen über fiktive Menschen und Beziehungen verändert zu werden: „Es berührt etwas ganz tief in mir und löst dort allerhand irritierende Reaktionen aus. Das ist narrative Resonanz.“ In solchen Momenten spüren wir, dass Bücher „etwas mit uns machen, aber nicht genau, was sie mit uns machen.“ (In: Wegner und Raabe, S. 207) Für Rosa ist die Resonanzerfahrung beim Lesen, sind das Berührtwerden durch den Text und die emotionale Eigenleistung miteinander verschränkt, eben weil Lesen beim individuellen Ausmalen der Szenen eine höhere Selbstwirksamkeit erfordert als z. B. das Ansehen eines Filmes. Resonanzerfahrungen – seien es solche mit Menschen oder aber mit Büchern – verbinden das Berührtwerden und unsere Reaktion darauf. Dadurch kann „die unüberwindlich scheinende Kluft zwischen Identität und Differenz an dieser Stelle überbrückt werden“ durch eine „Anverwandlung des Anderen“. (In: Wegner und Raabe, S. 212 f.) Vielleicht sind solche Erlebnisse Schwebezustände zwischen einsamer Autonomie und Beziehung? In solchen Fällen fallen Selbsterkenntnis und Vermehrung unseres Wissens um die Beziehungswelt zusammen. Dieser Idealfall gilt wohl nur für fokussiertes, konzentriertes Lesen, heute auch als deep reading bezeichnet. Seit Augustinus ist diese Versenkung in den Text zentral für den Aufbau unserer Subjektivität geworden. Sie kann Reflexion, Imagination und Selbstbefragung erleichtern – 204
Mit einem Buch bist du nie allein
„ein Training im Verständnis der psychischen Welt der Anderen und der eigenen Innenwelt“. (In: Wegner und Raabe, S. 37) Manche begeisterten Leserinnen beschreiben sogar einsame „Ekstasen des Lesens“ – so Dževad Karahasan: Solche Ekstasen erreichen Menschen sonst nur in gemeinsamen religiösen oder spirituellen Ritualen oder zu zweit in der Sexualität. Lesen dagegen ist ein „stilles Herausgehen [ek-stasis] aus sich selbst, wie es nur in der Einsamkeit möglich ist.“ (In: Wegner und Raabe, S. 227) Auch der nüchterne Neurowissenschaftler Wolf Singer spricht vom „Glücksgefühl der Epiphanie“ beim Lesen. (In: Wegner und Raabe, S. 163) Interessanterweise verwendet auch Donald Winnicott den Begriff der Ekstase für kulturelle Erfahrungen, für „ein höchst befriedigendes Erlebnis, wie man es in einem Konzert oder im Theater erlangen kann“. (Winnicott, 1985, S. 44) Voraussetzung dafür aber ist eine davor erlangte Fähigkeit zum Alleinsein. Dafür wiederum ist die Voraussetzung eine hinlänglich geglückte frühe Beziehungserfahrung. Später kann eventuell auch eine Psychotherapie Ähnliches bewirken oder aber – laut dem Psychoanalytiker Christopher Bollas – die Beziehung zu einem unbelebten, aber durch unsere emotionale Reaktion darauf lebendig gewordenem Objekt: Bollas beschreibt als „Verwandlungsobjekte“ neben der Mutter und der Psychoanalytikerin auch die großen Kunstwerke, die uns verändert zurücklassen. (Bollas, 1997, S. 28) Das gilt natürlich auch für nichtliterarische Kunstwerke, in höchstem Ausmaß wohl für die Musik, durch die so viele von uns in Zuständen von Traurigkeit oder Einsamkeit „mikro-kathartische“ Erfahrungen machen können: Interessanterweise empfinden viele Menschen speziell 205
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melancholische, traurige Musik als tröstlich bis hin zum Gefühl, dass dieses Schubert-Lied oder aber jener Song von Nick Cave oder Leonard Cohen eigentlich nur für sie geschrieben worden sei. Die Kunst bietet uns insgesamt viele Ikonen der Einsamkeit – von Schuberts todessehnsüchtigem Wanderer in der Winterreise bis zum existenziell einsamen Django, von Caspar David Friedrichs Mönch am Meer bis zu den wie eingefroren wirkenden Menschen in den Gemälden Edward Hoppers. Das Extrembeispiel aber bietet eine fiktive Figur der absoluten Einsamkeit bis in den Tod, die faszinierenderweise trotzdem bis heute Tausende zur Identifikation einlädt: Bartleby. Verweigerung bis in den Tod: Die Einsamkeit des Schreibers Bartleby Herman Melvilles Erzählung Bartleby, the Scrivener: A Story of Wall Street erschien erstmals 1853 und wurde damals wenig beachtet. Im 20. Jahrhundert aber und vor allem in den letzten zwanzig Jahren wurde der Schreiber Bartleby zu einem der berühmtesten Beispiele der Verweigerung, des absoluten Rückzugs und der unheilbaren Einsamkeit. Bartlebys Geschichte erfahren wir vom Ich-Erzähler, einem freundlich-biederen wohlhabenden Rechtsanwalt, der Bartleby als Schreiber in seiner Kanzlei in der Wall Street einstellt. Dieses Büro ist ein düsterer Ort im Schatten der umgebenden Hochhäuser. Von seinem Arbeitsplatz am Stehpult hat Bartleby nur die Aussicht auf eine Brandmauer. Anfangs kopiert der neue Schreiber eifrig und zuverlässig seine Akten. Dann aber verweigert er jegliche andere Arbeit außer dem Kopieren. Später verweigert er die Arbeit überhaupt. Dabei fällt zum ersten Mal der so berühmt gewordene Satz Bartlebys: „Ich möchte lieber nicht.“ (im Original: „I would prefer not to.“) Der Anwalt steht dieser Arbeitsverweigerung anfangs ver206
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blüfft, dann zunehmend hilflos gegenüber. Denn Bartleby gibt keinerlei Grund für sein Verhalten an. Er spricht nichts mehr außer dem einen Satz. Er verlässt die Kanzlei nicht mehr, scheint kaum mehr zu essen und ist nicht einmal durch das Angebot einer großzügigen Abfertigung von seinem Platz zu vertreiben. Längst schon hat der Anwalt seine Versuche aufgegeben, Bartleby aus seiner Isolierung herauszulocken. Zunehmend aber versucht er, ihn zu verstehen und fühlt dabei eine geheimnisvolle Verbindung zu seinem unglücklichen Schreiber. So ist es ihm schließlich unmöglich, Bartleby gewaltsam von seinem Platz entfernen zu lassen. Lieber übersiedelt er selbst mit seiner gesamten Kanzlei und lässt Bartleby dort zurück. Die Nachmieter aber sind weniger verständnisvoll, lassen Bartleby zuerst hinauswerfen und (nachdem er sofort wieder beim Eingang des Gebäudes sitzt) schließlich von der Polizei ins Gefängnis The Tombs verbringen. Getrieben von Sorge und Schuldgefühl besucht der Anwalt ihn auch dort noch einmal: Bartleby spricht wieder nicht mit ihm und dreht nur den Kopf weg. Vom Gefängnispersonal erfährt der Anwalt, dass er auch nichts mehr isst. Bei seinem nächsten Besuch findet er Bartleby nur mehr tot vor. Auch im Gefängnis sei er schweigend dagesessen und habe auf eine Mauer gestarrt. Von Bartlebys Biografie erfahren wir nichts außer einem nachgelieferten Detail: Früher habe er im dead-letter office gearbeitet, also auch dort schon mit „toten“ Briefen zu tun gehabt, mit Worten, die niemanden erreichten. Der Erzähler aber betont einen Zusammenhang zwischen Bartlebys Tragödie und der conditio humana: Denn die Geschichte endet mit dem verzweifelten Ausruf: „Oh, Bartleby! Oh mankind!“ Gerade weil der Anwalt in seinem Versuch, Bartleby zu verstehen, durchgehend scheitert, empfindet die Leserin das Bedürfnis, selbst Bartleby und sein Handeln besser zu verstehen: Deshalb gibt es eine fast schon unübersehbare Schar von Intellektuellen, Philosophinnen, Psychoanalytikern und zu207
III. Innenansichten der Einsamkeit
letzt auch Kapitalismuskritikern, die sich auf Bartleby als den Schutzheiligen des passiven Widerstandes berufen: Für Gilles Deleuze ist Bartleby „der neue Christus oder unser aller Bruder“ (Deleuze, S. 123). Für die Bewegung Occupy Wall Street wurde er zur Symbolfigur: Tausende T-Shirts mit dem Slogan I would prefer not to wurden verkauft. In seinem Lobpreis der Occupy-Bewegung schrieb Slavoj Žižek mit Bezug auf Bartleby: „Es gibt Raum für eine magische passive Revolution, welche die Macht, anstelle ihr direkt entgegenzutreten, allmählich zersetzt, indem sie wie ein Maulwurf im Untergrund wühlt und sich den Alltagsritualen verweigert.“ (In: Assheuer, 2013, https://www.zeit.de) Dazu allerdings müsste der Maulwurf erst einmal überleben. Wie also diese „magische passive Revolution“ jenseits der absoluten Verweigerung funktionieren soll, konnte weder Žižek erklären, noch konnte Occupy Wall Street zum Erfolgsbeispiel dafür werden. Trotzdem ist Bartleby als Ikone der „Systemverweigerer“ in den letzten Jahren weltweit berühmt geworden: Für viele Individuen, die sich gerade durch das geforderte Übermaß an Flexibilität, Selbstoptimierung und Anstrengung um ihr eigenes Leben betrogen fühlen, „markiert Bartleby die existenzielle Differenz. Er weiß nicht, was er will – er will nicht funktionieren – er wählt die Null-Option.“ (Assheuer, 2013) Schon vor den Gesellschaftskritikerinnen haben viele Psychiater und Therapeutinnen den großen Einsamen aus der Wall Street entdeckt und für ihn die verschiedensten Diagnosen gefunden: Natürlich bietet sich die Depression als Diagnose eines solchen totalen Rückzugs an, aber auch eine schizophrene Psychose, eine Erkrankung aus dem AutismusSpektrum und verschiedenste Persönlichkeitsstörungen wurden vorgeschlagen. Die Faszination der Figur aber blieb stärker als diese diagnostischen „Einhegungen“. Es bleibt schwer zu ertragen, dass jemand „neither lazy nor crazy, just desperately lonely“ ist. Denn wenn er nicht krank ist, könnte nicht dann auch uns Gesunden eine vergleichbare Versteinerung in der Einsamkeit drohen? 208
Mit einem Buch bist du nie allein
Der Psychoanalytiker Christopher Bollas wies darauf hin, dass es neben der Frage nach der Ursache für Bartlebys Verhalten noch ein zweites großes Rätsel in dieser Erzählung gebe: Warum fühlt sich der Ich-Erzähler, der doch als Inbild des normalen und zufriedenen Menschen geschildert wird, dieser gequälten Kreatur Bartleby so nahe und innerlich verwandt? Bollas vermutet in Bartleby ein „Double“ des Erzählers. Er sei dessen abgespaltenes „wahres Selbst“, während das behagliche reale Leben des Anwalts nur dessen „tätiges Selbst“ betreffe. Mein (wahrscheinlich ebenfalls hilfloser) Erklärungsversuch: Ich phantasiere eine letztlich „beziehungstraumatische“ Genese von Bartlebys Verhalten: Vielleicht hat er früher einmal eine große Beziehungsenttäuschung bzw. Zurückweisung erlebt, auf die er mit fast völligem Rückzug bis zum automatischen Funktionieren (und zum Fast-Mutismus) reagierte. Dann hat er vielleicht (erstmals nach vielen Jahren?) durch das freundliche Verhalten des Ich-Erzählers wieder so etwas wie Hoffnung gespürt – genauer gesagt wohl: Eine Mischung aus Hoffnung und Misstrauen/Angst vor neuer Enttäuschung. So muss er (aus unbewusster Notwendigkeit) den Erzähler immer wieder auf die Probe stellen – ob dieser nach vielen Zurückweisungen und Verweigerungen sich immer noch um ihn bemüht. Dabei bleibt er nur so lange in der mächtigen Position, wie er in seiner konsequenten Verweigerungshaltung verharrt. Man kann dies als passiv-aggressives Verhalten beschreiben, am Ende ist es selbstdestruktiv bis zur Suizidalität. Man kann dahinter auch eine maximale Regression vermuten – in der verzweifelten Hoffnung auf eine ebenso maximale und umfassende Versorgung? Interessanterweise aber gibt es auch ganz gegensätzliche Gestalten in der Literatur, die viele Menschen ebenfalls zur Identifikation einladen und zu Phantasien des glückseligen Aufgehens in einer lebenslangen Verschmelzung. Soulmate: Eine Idee von Platon bis zu Game of Thrones Platons wohl berühmtester Dialog Symposion entstand um 380 v. Chr. Darin entwickelt er den Mythos von den Kugel209
III. Innenansichten der Einsamkeit
menschen, ihrer Halbierung und der darauffolgenden lebenslangen Suche der Halb-Menschen nach dem „verlorenen Anteil des Selbst“: Ursprünglich hätten alle Menschen vier Arme, vier Beine und zwei Köpfe gehabt. Aufgrund dieser körperlichen Stärke aber seien sie so hochmütig geworden, dass sie die Götter herausgefordert hätten. Deshalb entschloss sich Zeus, jeden dieser Menschen in zwei Teile zu zerschneiden, um ihren Übermut zu bestrafen. Seither ist laut Platon jeder von uns auf der Suche nach seiner/ihrer „fehlenden Hälfte“, dem Seelenverwandten, der uns erst wieder komplettiert, ganz macht und unsere Seele stärkt. Dieser Mythos blieb wirkmächtig und prägt bis heute die Phantasien auch von Menschen, die Platon nie gelesen haben. Am Beginn der industriellen Revolution in England beeinflusste er auch einen sensiblen romantic poet: Samuel Taylor Coleridge beklagte in einem Brief an eine Freundin 1822 das Leid der Frauen, die in einer unglücklichen Ehe mit einem verständnislosen Mann festgeschmiedet sind: Es sei zwar notwendig, einen house-mate zu haben, zusätzlich aber brauche jeder Mensch – und sichtlich speziell jede Frau – einen soul-mate! Erst mit diesem Menschen sei es möglich, soul, body and estate zu teilen in inniger lebenslanger Verschmelzung. Ohne einen solchen Seelengefährten sei ein erfülltes Leben nicht vorstellbar. (In: Alberti, S. 67) Coleridge verwendete dieses Wort als einer der Ersten. Die Feier der innigen Freundschaft aber war für alle Romantiker in England und auch in Deutschland zentral. Solche Herzensbruderschaften zwischen Männern waren ein Ausweg gegen Entfremdung und Vereinzelung des Menschen in den Frühphasen der industriellen Revolution. Sie boten eine Fluchtmöglichkeit vor der verhassten Welt der Fabriken und des Gewinnstrebens in diesen satanic mills. (William Blake) Bei Coleridge ist dieses Ideal der Seelenverschmelzung zweier Menschen noch „platonisch“ im Sinne einer spirituellen und nicht sexuellen lebenslangen tiefen Verbindung. Das aber änderte sich bald: Die Sehnsucht nach dem Soulmate wurde populär und prägte insbesondere die romance als neue Form des Liebesromans, die auch ein neues Liebesideal propagierte. 210
Mit einem Buch bist du nie allein
Das berühmteste Beispiel solcher Romane ist Emily Brontës Wuthering Heights (dt.: Sturmhöhe) von 1847: Im Gegensatz zu hunderten Nachahmern blieb Brontës Text populär bis heute und prägte sogar die Popmusik mit Kate Bushs Hit Wuthering Heights 1978. Laut Fay Alberti definierte dieser Roman den Begriff des „Soulmate“ als „an individual who was intended to complete the self with the added thrill of romance“. (Alberti, S. 69). Die schwarz-romantische Liebesgeschichte von Catherine und dem dunkel-destruktiven Heathcliff kennt im englischen Sprachraum jeder und vor allem jede: Die beiden Liebenden wissen, dass es für sie kein Happyend geben kann. Trotzdem ist für Catherine ihr geliebter Heathcliff „more myself than I am“ und „his soul and mine are the same“. „I am Heathcliff – he is always in my mind […] as my own being.“ (In: Alberti, S. 72) Heathcliff seinerseits nennt Catherine sein Leben, seine Seele: „I cannot live without my life, I cannot live without my soul!“ (In: Alberti, S. 73) Was aber bewirkt die Lektüre solcher Sätze bei jenen Leserinnen, in deren Leben es keinen vergleichbaren Soulmate gab oder gibt? Die Sehnsucht nach dem Seelengefährten kann quälend sein, weil sie die Latte für Liebesbeziehungen in der Realität extrem hoch legt. Das kann sogar dazu führen, ein großes Ausmaß an Gewalt und Missbrauch in einer realen Beziehung zu ertragen im festen Glauben, dass die Liebe und das Begehren des Seelenverwandten auch dann einer banalen Idylle vorzuziehen sind, wenn dieser Soulmate sich tyrannisch und gewalttätig verhält. („Er kann ohne mich nicht leben.“) Aber auch für jene, die niemals ihren Soulmate gefunden haben oder deren reale Liebespartnerinnen hinter diesem Ideal schmerzlich zurückbleiben, kann der Einfluss spürbar werden: Ihnen wird durch diese fiktiven Liebesbeziehungen ihr Mangel verdeutlicht. Daran können wohl auch Selbsthilfebücher wie The Soulmate Secret wenig helfen. Aber betrifft uns dieser Mythos des 19. Jahrhunderts noch? Sichtlich ja, wie auch als populärkulturelles Beispiel die Bücher und Filme der Twilight-Saga beweisen: Die Autorin Ste211
III. Innenansichten der Einsamkeit
phenie Meyer wurde weltberühmt durch ihre Geschichte des leidenden Teenagers Bella und deren schwieriger Wahl zwischen dem geliebten Vampir Edward und dem Werwolf Jacob. Meyer bezieht sich mehrmals auf Wuthering Heights: Bella trägt ein zerlesenes Exemplar der Sturmhöhe immer mit sich und bringt sogar den Vampir dazu, ihr Lieblingsbuch zu lesen. Fay Alberti behauptet, dass uns heute das Ideal der romantischen Liebe als einzige Quelle der spirituellen, psychologischen und körperlichen Befriedigung verkauft wird, die ein Mensch daher zum „guten Leben“ unbedingt brauche. Früher sei ein Großteil solcher Bedürfnisse erfüllt worden durch religiöse Gefühle und das Vertrauen der Gläubigen auf die unbedingte Liebe Gottes für seine Geschöpfe. Nach dem Aufstieg des Individualismus, dem Beginn des Massenkonsums und dem Sieg eines psychologischen Diskurses aber blieb keine gleichwertige Verheißung umfassender Befriedigung übrig. In den letzten Jahren haben Millionen Menschen auf der ganzen Welt eine solche destruktive und in diesem speziellen Fall auch „widernatürliche“ Liebe zwischen zwei Soulmates gebannt verfolgt: In Game of Thrones lieben einander die Zwillingsgeschwister Jaime Lannister und Cersei Baratheon unbedingt und ausweglos. In ihrem Falle ist diese Liebe eindeutig nicht platonisch: Cersei beschreibt die Sehnsucht nach dem Soulmate sehr körpernahe: „Wenn er in mir ist, fühle ich mich ganz …“. Auch diese dunkle Variante kann anschließen an alte Mythen bis zurück zu den ägyptischen Geschwisterhochzeiten der Pharaonen. Aus psychoanalytischer Sicht scheinen mir die beiden Idealvorstellungen der Einsamkeit allein oder aber zu zweit als potentiell gleichermaßen gefährlich: Sowohl die Vorstellung vom edlen philosophischen Einsiedler als auch der Traum von der Verschmelzung eines Paares von Seelengeschwistern sind immens attraktiv. Diese Ideale werden gemacht, für uns vorgeprägt im Bereich der Fiktion, aber diese imaginären Beziehungsmuster haben die Kraft, unsere psychische Realität zu prägen und zu verändern. Diese Macht aber ha212
Mit einem Buch bist du nie allein
ben sie deshalb, weil sie die beiden Endpunkte, die beiden Pole unserer Sehnsüchte beschreiben: Einerseits kennen wir den Wunsch nach möglichst großer Autonomie und Freiheit von jeglicher Abhängigkeit – dafür bietet der weise philosophische Einsiedler ein einprägsames Bild. Das andere Extrem ist die uns allen bekannte Sehnsucht nach Verschmelzung, nach wortloser und absoluter Einstimmung mit einem anderen Menschen bis zum völligen Verschwimmen der Ich-Grenzen. Für diese Sehnsucht nach der Symbiose, ja fast nach der Rückkehr in den Mutterleib steht die Beziehungsfigur des Soulmate. Im realen Leben sind wohl beide Extrempositionen weder erstrebenswert noch lebbar, allerdings spüren wir die Sehnsucht danach trotzdem deutlich genug, um die Kompromisse unserer gelebten Realität als langweilig und einschränkend zu empfinden.
Die Suche nach dem Kompromiss zwischen Verschmelzung und Isolation
In den beiden letzten Kapiteln zu Bartleby und zur Sehnsucht nach dem Soulmate haben wir zwei Extremlösungen, zwei Pole im Spannungsfeld zwischen Autonomie und Symbiose/Verschmelzung kennengelernt: Bartleby ist das Beispiel für den absoluten Rückzug, die hundertprozentige Autonomie, ja Autarkie: Er „will lieber nicht“ mit irgendeinem Menschen auch nur sprechen, geschweige denn eine Beziehung haben oder minimale Abhängigkeit spüren – und daran geht er zugrunde. Umgekehrt kann die obsessive Suche nach einem Soulmate dazu führen, dass ein Mensch sich allein ohne einen solchen Herzensmenschen völlig unvollständig, vereinsamt und emotional ausgehungert fühlt. Auch diese „Lösung“ führt zu einem Leben im Unglück. 213
III. Innenansichten der Einsamkeit
Was aber haben diese beiden diametral entgegengesetzten emotionalen Positionen gemeinsam? Beide sind um eine zentrale Größenphantasie konstruiert: Im Falle von Bartleby die Illusion der absoluten Autarkie: Ich brauche niemanden, ich bin absolut unabhängig. Bei der Suche nach dem Soulmate dominiert die Überzeugung, dass ich nur die eine, die wirkliche Liebesbeziehung brauche und mit dieser „besseren Hälfte“ meines Selbst gemeinsam dann völlig unabhängig bin: Wir beide als ideales Paar geschlossen gegen die verständnislose Umwelt. Sowohl in der Liebesverschmelzung als auch in der Autarkie in der Dyade, wo die Grenze zwischen mir und dem anderen wie ausgelöscht ist, existiert letztlich nur mehr ein Wesen bzw. ein von der Welt unabhängiges Doppelwesen. In beiden Fällen spürt man in Therapien oft den verzweifelten Wunsch, dass doch all diese Konflikte, die unser Leben so schwierig und undurchsichtig machen, endlich aufhören sollen: Enden sollen sowohl die intrapsychischen Konflikte zwischen meinen Selbstanteilen, den zumindest zwei Seelen in meiner Brust, als auch die zwischenmenschlichen Konflikte in meinen vielen Begegnungen und Beziehungen. Diesen Wunsch kennen wir alle und als Wunsch ist er völlig normal, seine Erfüllung aber kann (siehe oben) emotional tödlich sein, obwohl sie als ein Nirvana, als ein Zustand absoluter Ruhe und Zufriedenheit ersehnt wird. Auch bei den allermeisten Menschen, die weder Bartleby nachstreben wollen noch ihr Leben der Suche nach dem Soulmate weihen, sind also beide Wünsche nach diesen Extrempositionen zu spüren. Besonders intensiv spüren sie Therapeutin und Patient in den intensiven Emotionen der Übertragung und Gegenübertragung im Verlauf einer Psychotherapie: Ist es mir als Patientin möglich, den Therapeuten als von mir getrennte Person wahrzunehmen, 214
„Der ist ja nur einsam …“
also als einen Nicht-Soulmate? Ist es mir aber umgekehrt auch möglich, die immer entstehenden Gefühle von Abhängigkeit von ihm auszuhalten? Ergänzungsfrage: Wodurch wird es dem Patienten möglich, sich nicht nur als Opfer insuffizienter Beziehungspartnerinnen zu erleben oder noch schlimmer als jemand, den seine Mutter halt leider nicht genug geliebt hat?
„Der ist ja nur einsam …“ – Einsamkeit und Psychotherapie
In jeder Ordination eines praktischen Arztes gibt es Patienten, die zumindest einmal pro Woche mit wechselnden, unklaren und meist banalen Beschwerden kommen. Die Ärzte reagieren darauf mitfühlend oder auch genervt – meist aber nach dem Prinzip: „Der hat ja sonst niemand, der ist halt einsam …“ Diese Patientinnen sind auch in Ambulanzen und Spitalsabteilungen bekannt und manchmal gefürchtet, weil sie mit diffusen Beschwerden immer wieder kommen und nur schwer „hinauszubringen“ sind. Sie vermitteln den Behandlern eindeutig das Gefühl, dass diese ihnen genau das nicht geben können, was sie brauchen. Meist sind sie längst überreichlich medikamentös „eingestellt“, selten allerdings dadurch ausreichend gebessert. Wenn das Behandlungsteam erschöpft ist, kommt es meist zur Diagnose „psychogen überlagerte Beschwerden“, also zur Vermutung einer primär seelischen Ursache des Leidens. Die Folge ist dann die Empfehlung einer Psychotherapie – mit dem oft unausgesprochenen Subtext: Da hat er wenigstens jemanden zum Reden. Das ist eine zwar reduktionistische, aber leider nicht unrealistische Vorstellung von Psychotherapie im Sinne einer „Empathie 215
III. Innenansichten der Einsamkeit
als Dienstleistung“ bzw. eines bezahlten Sozialkontakts: Therapeutinnen haben aber auch gelernt, mit jenen Patienten behutsam umzugehen, bei denen sie fast die einzigen Sozialkontakte in deren einsamen Leben sind. Denn bei diesen Patientinnen ist die durch das psychotherapeutische Setting ohnehin naheliegende Gefahr der Abhängigkeit vom Therapeuten noch deutlich größer. Insgesamt spielen die Phänomene der Einsamkeit als Symptom oder der mangelnden Fähigkeit zum Alleinsein sowohl bei der Entscheidung der Patientinnen für eine Psychotherapie als auch im Verlauf dieser Therapie eine wichtige Rolle. In den Vorgesprächen bzw. in den ersten Stunden einer Psychotherapie wird nur selten Einsamkeit als „offizieller“ bzw. manifester Grund dafür genannt, eine Behandlung zu brauchen. Wir hören stattdessen von Enttäuschungen in Beziehungen, von erlittenen Traumata, oft auch vom abwesenden Vater oder der allzu kalten Mutter. Vielleicht vermutet der Patient auch bei sich selbst eine „Beziehungsunfähigkeit“. Oft aber wird innerhalb weniger Stunden klar, dass Patient/Patientin ein sozial isoliertes, einsames Leben führt. Wenn dann auch noch der Arbeitsplatz/die Ausbildungssituation und die dort „mitgelieferten“ sozialen Kontakte wegfallen, bleibt schlimmstenfalls die Psychotherapeutin als einzige Gesprächspartnerin, allerdings meist nur für eine Stunde pro Woche übrig. Das aber ist eine Situation, die längerfristig sowohl für Patienten als auch für Therapeutinnen problematisch wird. Während einer Psychotherapie oder gar Psychoanalyse ist für alle Patienten die Beziehung zur Therapeutin zentral – in positiver oder auch negativer Hinsicht. Verschiedene therapeutische Schulen unterscheiden sich in der Einschätzung, wie weit in dieser (sowohl realen als auch phantasierten) Übertragungsbeziehung „nur“ alte 216
„Der ist ja nur einsam …“
Beziehungsmuster aus der Kindheit wiederholt werden oder aber „veränderte Neuauflagen“ solcher Beziehungskonstellationen ausprobiert werden sollen. Mit Sicherheit aber ist die Realbeziehung zur Therapeutin und das psychotherapeutische Setting – noch ganz unabhängig von der theoretischen Ausrichtung der Therapeutin – ein entscheidender Faktor: Manche Patienten erleben hier zum ersten Mal in ihrem Leben Konstanz und Verlässlichkeit in einer Beziehung. Allerdings ist es eine deutlich asymmetrische Beziehung. Positiv formuliert geht es in diesen therapeutischen Gesprächen nur um den Patienten und seine Problematik. Negativ formuliert aber ist die therapeutische Beziehung keine Liebesbeziehung und soll bzw. darf auch keine werden. Auch und speziell bei Patientinnen, die unter Einsamkeit in ihrem realen Leben leiden, ist sicher mitentscheidend, mit welcher Phantasie von „geglückter therapeutischer Beziehung“ sie in Behandlung kommen: Wenn sie von der glücklicheren Neuauflage einer Eltern-Kind-Beziehung träumen, dann kann im Idealfall die „korrektive emotionale Erfahrung“ gemacht werden, das Erleben eines wohlwollenden, stützenden Elternteils. Wenn aber der unbewusste Wunsch nach einer realen Liebesbeziehung als Therapieziel dominiert, dann ist die Enttäuschung vorprogrammiert in Form einer schmerzhaften Abhängigkeit. Ziel einer Psychotherapie kann nicht primär sein, dem Patienten eine Partnerschaft zu ersetzen. Ebenso wenig kann eine Therapie nur dann als geglückt betrachtet werden, wenn an deren Ende der Patient in einer zufriedenstellenden Partnerschaft „gelandet“ ist. Sehr wohl aber kann (und sollte) es Ziel einer Therapie sein, die Patientin zu besseren Beziehungen zu befähigen – und zwar zu besseren Beziehungen zu sich selbst und dadurch auch zu anderen. Eine wichtige Voraussetzung 217
III. Innenansichten der Einsamkeit
dafür ist eine einigermaßen realistische Einschätzung der Verantwortung für das eigene Leid: Der Patient sollte zumindest ansatzweise unterscheiden können, welcher Anteil an seiner Symptomatik aus seiner Kindheit stammt – und wie groß seine eigene Verantwortung als Erwachsener für die Aufrechterhaltung seines Leids oder seiner Einsamkeit ist. Das „Durcharbeiten“ der Trennungsangst sollte dazu führen, dass im Lauf der Behandlung auch eine vielleicht weiterhin bestehende Einsamkeit zumindest „gezähmt“ werden kann: So die Position von Jean-Michel Quinodoz, der die „gezähmte Einsamkeit“ als „echtes Mittel der Kommunikation mit der eigenen Person und mit anderen“ ansieht. Für ihn ist der Übergang von einer feindseligen und trostlosen Einsamkeit zu einem Alleinsein, das ein vorsichtiges Vertrauen in die Kommunikation mit sich und anderen ermöglicht, eines der zentralen Ziele einer Psychoanalyse: „Wenn die Trennungsangst gezähmt worden ist, wird sie zum Quell des Lebensschwungs. Die Einsamkeit zähmen heißt nicht, die Angst unterdrücken; man muss vielmehr lernen, sie zu bewältigen und in den Dienst des Lebens zu stellen.“ (S. 17)
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IV. Coda
Meine Arbeit an diesem Buch begann im März 2020 während des ersten Lockdowns, beendet wurde sie im Mai 2021 in den Wochen der großen Hoffnung auf ein Ende des Ausnahmezustandes. In den Monaten dazwischen mussten ausnahmslos alle Menschen ein Ausmaß an Angst, Verunsicherung und Kontrollverlust ertragen, das sie davor nicht für möglich gehalten hätten: Viele liebe Gewohnheiten und Bestandteile unseres Alltags waren plötzlich verboten oder unmöglich geworden. Die von allen so ersehnte menschliche Wärme, das Umarmen, ja schon das Berühren eines anderen Körpers, jedes Aufeinander-Zugehen wurde nur mehr als Gesundheitsrisiko betrachtet. Rückzug, Distanz und Vereinzelung hingegen versprachen noch am ehesten so etwas wie Sicherheit. Kein guter Zeitpunkt also, um einsame Menschen zu ermutigen, wieder ein bisschen Risiko einzugehen, schlimmstenfalls eine Abweisung zu riskieren. Aber das Jahr der Pandemie hat uns auch schmerzlich bewiesen, dass dieses Leben auch bei exzessiver Vorsicht nie völlig kontrollierbar und risikofrei sein kann. Ebenso deutlich wurde, dass wir alle auf Gedeih und Verderb vom Verhalten der Mitmenschen abhängig sind und bleiben. Niemand ist eine Insel, niemand kann sich so weit isolieren, dass ihn die Unsicherheiten des Lebens nicht mehr tangieren. Ich bin aber überzeugt davon, dass ein Herunterschrauben der Forderungen, eine Reduktion der überhöhten Ansprüche an die anderen – und an uns selbst – 219
IV. Coda
dieses so komplizierte Leben einfacher machen kann, oft auch weniger einsam machen kann. Daher ein abschließendes Plädoyer für einen wohlwollenderen Blick auf uns selbst und unsere Umwelt. Auch Solidarität beginnt innen:
Plädoyer für „hinlänglich gute“ Beziehungen zu sich selbst und zu anderen Menschen
Wer unter Einsamkeit leidet, weil er sich benachteiligt, missachtet und ausgegrenzt fühlt, der wird eine Änderung der sozialen Ausschlussmechanismen fordern. Dazu hat er jedes Recht – allerdings kann man ihm nicht empfehlen, auf die Erfüllung solcher Forderungen zu warten. Es bleibt daher kaum eine andere Wahl, als zur Linderung leidvoller Einsamkeit zuerst das eigene individuelle Verhalten zu adaptieren. Das misstrauisch-ängstliche, oft aber auch arrogante Warten auf jemand/etwas „Besseres“ – es kann Einsamkeit verursachen und vor allem perpetuieren. Umgekehrt aber kann die Möglichkeit, auch eine notwendigerweise unvollkommen bleibende Beziehungsrealität aktiv zu gestalten, neue Möglichkeiten eröffnen. Voraussetzung für solche erste Schritte ins Außen zu den anderen aber muss der Versuch sein, die eigene Unvollkommenheit und Durchschnittlichkeit zu akzeptieren oder sich zumindest damit zu arrangieren. Dann erscheinen auch andere Menschen meist als weniger bedrohlich, ihre Schwächen weniger dramatisch und kritikwürdig. Durch ein solches Herunterschrauben überhöhter Erwartungen sowohl an sich selbst als auch an die anderen kann ich im Idealfall vorsichtig aus der Einsamkeit hinausgehen in zwar unvollkommene, emotional oft aufwendige, aber auch durchaus potentiell befriedigende Beziehungen. 220
Plädoyer für „hinlänglich gute“ Beziehungen
Auf der individuellen Ebene bleiben die beschriebenen Tatsachen bzw. Mechanismen entscheidend: • Situationen des Alleinseins sind im Laufe eines menschlichen Lebens nicht zu vermeiden. • Wie schnell aber, wie intensiv solche Situationen das subjektiv leidvolle Gefühl der Einsamkeit auslösen, hängt in hohem Ausmaß von intrapsychischen Faktoren ab. • Hilfreich wirkt eine Haltung der intrapsychischen Toleranz, also der Vermeidung unrealistisch hoher Ansprüche an sich selbst und auch an andere. Eine solche Einstellung könnte man sogar als speziellen Faktor von Resilienz beschreiben. Die Anerkennung auch der ungeliebten, schwachen und sogar beschämenden Anteile unseres Selbst wird es uns erlauben, auch die Mitmenschen trotz ihrer Mängel leichter zu akzeptieren, zumindest aber auszuhalten und dadurch Kommunikation, interpersonelle Kontakte und Beziehungen auch nach vorangegangenen Enttäuschungen wieder zu probieren. Das ist oft schwer genug, aber wohl der einzige einigermaßen verlässliche Weg aus der Einsamkeit heraus. Bei solchen Versuchen bemerkt man verblüfft, dass sehr wohl auch andere Menschen ähnliche Probleme haben. Ein großer Philosoph hat dieses Paradoxon trocken-britisch resümiert: „Jeder, der überhaupt begreift, worum es im menschlichen Leben geht, fühlt manchmal die seltsame Einsamkeit jeder einzelnen Seele. Die Entdeckung derselben Einsamkeit in andern aber bewirkt eine seltsame Verbindung und ein Wachsen des Mitgefühls.“ (Bertrand Russell, in: Svendsen S. 21) Eine Grundhaltung der Solidarität entsteht also auch von innen heraus: Sie beginnt als Mitgefühl, als Verständ221
IV. Coda
nis für unsere eigenen oft wenig moralischen, wenig leistungsfähigen und unsozialen Selbstanteile.
Plädoyer für Solidarität
Die Entdeckung eines einsamen Menschen, dass er nicht der einzige in einer solchen Belastungssituation ist, kann der Beginn eines solidarischen Denkens und sogar Handelns werden. Unter Solidarität verstehe ich hier eine Grundhaltung der Bereitschaft, andere zu unterstützen – wenn wir eine Übereinstimmung mit ihnen in einem wichtigen Aspekt unseres Lebens erkennen und anerkennen. (Vgl. Prainsack 2020) Ein solches gemeinsames Tun hat auch einen angenehmen Nebeneffekt: Der solidarische Einsatz für ein von allen ersehntes Ziel führt meist dazu, dass wir unser Leben als sinnvoller empfinden. Dadurch werden wir auch zufriedener und leiden weniger. Gemeinsames Handeln vermindert das drohende Grundgefühl des Ausgeliefertseins und der Hilflosigkeit. Umgekehrt verstärkt es unser Gefühl von Selbstwirksamkeit, also die Überzeugung, dass wir unser Leben selbst zum Besseren verändern können. Diese positiven Effekte bemerkt man oft einfach daran, dass sich die so quälende Frage der Einsamen nach dem Sinn ihres Lebens nicht mehr so schmerzlich stellt. Bei der Bereitschaft, uns solidarisch zu verhalten, bleibt unser Gerechtigkeitsgefühl ein wichtiger Faktor. Auch für den gesellschaftlichen Zusammenhalt erwarten wir reziprokes Verhalten: Wir belohnen Kooperation und neigen dazu, den „Trittbrettfahrer“ zu bestrafen, der nur seinen eigenen Vorteil sucht. Besonders erbittert sind wir dann, wenn wir uns übervorteilt fühlen. („All of my kindness is taken for weakness“ heißt es in einem Pop-Song von Paul 222
Plädoyer für Solidarität
McCartney und Rihanna.) Sowohl für Kooperation als auch für blanken Egoismus gab es seit Beginn der Pandemie genügend Beispiele: Von der allzu kurzen Welle der Solidarität im Frühjahr 2020 bis zu den diversen Krisengewinnlern, Masken-Verweigerern und Covid-Leugnern im weiteren Verlauf. Die Zahlen der Soziologinnen demonstrieren auch das Ausmaß von Solidarität gegenüber der Einsamkeit im Sinne zweier kommunizierender Gefäße: Das Gemeinschaftsgefühl hat sich zwar in den ersten Corona-Monaten des Frühjahrs 2020 deutlich verbessert, allerdings war dieser „Solidaritätsschub“ durch eine von allen gemeinsam erlebte Bedrohung nicht von Dauer: Während im April 2020 der Satz „es herrscht eine solidarische Stimmung in der Bevölkerung“ von 64 % der Befragten bestätigt wurde, stimmten bereits im November 2020 nur mehr 20 % zu. Bereits Anfang 2021 bilanzierte das „Austrian Corona Panel“: Die Solidarität sinke weiterhin, die Einsamkeit dagegen steige wieder an: 10 % der Österreicher fühlten sich täglich einsam, insbesondere Arbeitslose und Studentinnen und überraschenderweise weniger Pensionisten. Sichtlich korrelierte die Erfahrung von Einsamkeit also mit dem Ausmaß der Störung der Alltagsroutinen, des Alltagslebens der Betroffenen. Niemand kann heute beurteilen, wie massiv die psychischen Nachwirkungen der Pandemie bezüglich psychischer Erkrankungen und Einsamkeit sein werden – prophezeit wird bereits eine PostCovid-Gesellschaft als post-traumatisches Kollektiv. In dieser Situation der Ungewissheit finden Junge und Alte auch unter dem Druck der Krise nur schwer zu einer Solidarität der Generationen: Es wird aber längerfristig nicht genügen, Solidarität auszulagern als Forderung an den Staat um Unterstützung. Die Bruchlinien zwischen den Generationen, aber auch zwischen den Forderungen 223
IV. Coda
nach möglichst umfassender Sicherheit gegenüber möglichst großer Freiheit von Einschränkungen – all das können wir nur gemeinsam und hoffentlich solidarisch aushandeln. Niemand kann zum jetzigen Zeitpunkt voraussagen, wie sich das Ausmaß von Solidarität in einer hoffentlich bald wieder post-pandemischen Zukunft entwickeln wird. Auch diese abschließenden Überlegungen zu möglichen Ausgängen aus der Einsamkeit haben ein letztes Mal den unhintergehbaren Zusammenhang zwischen exogen verursachter und intrapsychisch erzeugter Einsamkeit, zwischen Vertrauen und Sicherheitsbedürfnis gezeigt. Einsamkeit ist kein unveränderliches Schicksal, aber sie vergeht auch nicht von selbst. Die Förderung der Fähigkeit zum Alleinsein kann die Angst vor Einsamkeit vermindern.
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