Die Akte Jeanne d'Arc 9783504384531

Eine Heilige, waffenklirrend, im Männersitz reitend und das französische Heer anführend, hat auf den ersten Blick schon

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German Pages 219 [224] Year 2017

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Table of contents :
Prolog
Inhalt
Prozesstagebuch
Die handelnden Personen
Der Weg zum Verurteilungsprozess
Gefangenschaft und Vorbereitung des Prozesses
Panorama des Prozesses
Vorwurf und Anklage
Die Organe des Prozesses
Die Vorermittlungen
Aussagepflicht und -verweigerung, Belehrung und Vereidigung
Jeannes Aussage vor der Inquisition
Die „Stimmen“ und Prophezeiungen
Letzte Schritte vor Beginn des ordentlichen Verfahrens
Die Anklageschrift
Jeannes Verteidigungsmöglichkeiten
Jeanne in der Streitbefestigung (Litis contestatio – Festlegung der streitigen Punkte)
Zeugen und Sachverständige
„Liebevolle Ermahnungen“ und das Angesicht der Folter: Der Weg zur Conclusio in causa
Die Haft
Letztes Wort und erstes Urteil
Widerruf und Abschwörung
Das zweite Urteil und sein Vollzug
Rückfall und drittes und letztes Urteil: Das Ende des Verurteilungsprozesses
Die Vollstreckung
Ausblick: Der Nichtigkeits- oder Rechtfertigungsprozess (Procès en Nullité de la Condamnation)
Rechtliche Bewertung des Verurteilungsprozesses
Das dritte Verfahren: Die Heiligsprechung
Anhang
Literaturverzeichnis
Sachverzeichnis
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Die Akte Jeanne d'Arc
 9783504384531

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Streck/Rieck Die Akte Jeanne d’Arc

Die Akte

Jeanne d’Arc Prozess- und Vollstreckungsbericht 1431 Urteilsanalyse und Thesen zur Verteidigung von

Dr. Michael Streck Köln und

Dr. Annette Rieck Kiel

2017

Die Karte am Anfang und am Ende des Buches ist entnommen aus F. W. Putzgers Historischer Schul-Atlas, 41. Auflage 1918, Verlag Velhagen & Klasing, von den Autoren um Orte, die für den Bericht eine Rolle spielen, ergänzt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ­http:// dnb.d-nb.de abrufbar. Verlag Dr. Otto Schmidt KG Gustav-Heinemann-Ufer 58, 50968 Köln Tel. 02 21/9 37 38-01, Fax 02 21/9 37 38-943 [email protected] www.otto-schmidt.de ISBN 978-3-504-06757-1 ©2017 by Verlag Dr. Otto Schmidt KG, Köln Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeiche­ rung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das verwendete Papier ist aus chlorfrei gebleichten Rohstoffen hergestellt, holz- und säurefrei, alterungs­ beständig und umweltfreundlich. Einbandgestaltung: Lichtenford, Mettmann Satz: WMTP, Birkenau Druck und Verarbeitung: Kösel, Krugzell Printed in Germany

Prolog Wir wollen hier bekunden, mit welch neugierigem Interesse, ja mit welcher Lust wir dieses Buch in Angriff genommen haben, und wollen versuchen, die Leserinnen und Leser in dieses Vergnügen mitzunehmen. Wie viele Namen hat sie! Jeanne, Darc, Jeannette, la Pucelle, Jeanne d’Arc, Jungfrau von Orléans, das Mädchen, Jehanne und – war sie dann heilig gesprochen – die Heilige Johanna, die Heilige Johanna der Schlachthöfe, und mit dem Reichtum der Namen ist auch die Literatur über sie reich und inflationär. Das hat uns nicht abgehalten. Wir wissen, nach uns werden andere über Jeanne schreiben, über dieses ungewöhnliche Mädchen, diese – man wurde nicht müde, dies zu untersuchen – virgo intacta. Soweit wir sehen, hat sich in der deutschen Literatur Franz Salditt aus anwaltlicher Sicht mit dem Prozess gegen Jeanne befasst. Wir greifen seine Überlegungen auf und führen sie fort. Uns interessiert bei der Darstellung des Prozessgeschehens auch, wie man Jeanne hätte verteidigen können? Konnte man sie überhaupt verteidigen? Hätte man eine Chance gehabt? Wir glauben ja. Aber wollte Jeanne die Verteidigung? Strafrechtlich Verfolgte, die im Namen Gottes, einer königlichen Weihe oder höherer Macht handeln, wollen oft keinen Verteidiger. Jesus hatte keinen Verteidiger. Liest man den juristischen Bericht von Wolfgang Stegmann über den Prozess Jesus von Nazareth,1 so ist es möglich, dass ein Verteidiger eine Chance gehabt hätte. Pilatus wollte den „kurzen Prozess“, „damit Ruhe im Lande“ herrsche. Bei „kurzen Prozessen“ werden Verteidiger wach. Man hätte Pilatus überzeugen können, dass es weniger Unruhe im Lande Judäa gegeben hätte, wenn man ihn nicht gekreuzigt, sondern verbannt hätte. Er wäre möglicherweise nach Tomi (heute Constanta in Rumänien) am Schwarzen Meer geschickt worden. Dort hätte er, welch vergnügliche Spekulation, Ovid getroffen (die minimale Differenz zwischen dem Todeszeitpunkten Ovids, 19 nach Beginn der Zeitrechnung, und Jesus, 33), ist in unserem Gedankenspiel ohne Bedeutung. Vielleicht hätten Ovid und Jesus uns wunderbare Literatur hinterlassen, aber, da Jesus nicht am Kreuz gestorben wäre, wäre er nicht 1 Stegmann, 41.

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Prolog

Religionsstifter geworden. Auch Johanna hätte verteidigt werden können. Auch sie hätte bei starker Verteidigungsführung dahin gebracht werden können, das erste Urteil zu akzeptieren, ein Urteil, das dahin ging, sie lebenslang in Kerkerhaft zu halten. Denn jeder Verteidiger hätte ihr gesagt, dass sie angesichts der durch sie bewirkten Befreiung Frankreichs von der englischen Besatzung in kürzester Zeit begnadigt worden wäre, was in dem ersten Urteil auch schon als Vorbehalt einer weiteren Entscheidung vorgesehen war. Sie wäre nicht verbrannt worden. Allerdings wäre sie auch nicht heilig gesprochen worden. Liest man in den Büchern über die großen Prozesse der Weltgeschichte, so stellt man auch anderweitig fest, dass „Große Personen“ glauben, sich am besten selbst verteidigen zu können. Dies gilt in England für den Lordkanzler Francis Bacon, der zwar nicht zum Tode, aber am 3.  Mai 1621 so verurteilt wurde, dass seine politische Karriere am Ende war.2 Ausdrücklich hatte er auf jede Verteidigung verzichtet. Dies gilt auch für Karl l. in England, den Oliver Cromwell am 30. Januar 1649 hinrichten ließ.3 Die berühmten Delinquenten der französischen Revolution konnten und wollten sich kaum selbst um eine Verteidigung bemühen, ihnen wurde pro forma, um der Ordnung willen, ein Verteidiger gestellt, der in der Regel nichts unternahm.4 16 Jahre vor dem Tod Jeannes in Rouen am 30. Mai 1431 wurde in Konstanz – ebenfalls auf dem Scheiterhaufen – Johannes Hus hingerichtet. Es könnte reizvoll sein, beide Inquisitionsprozesse zu vergleichen. Sie weisen Ähnlichkeiten auf. Hus hatte einen „Verteidiger“, dem er jedoch nicht folgte. Er hätte seinen Tod vermeiden können, wäre dann aber nicht in die böhmischen Messbücher eingegangen.5 Und: Slobodan Milosevic lehnte vor dem Internationalen Strafgericht in Den Haag einen Verteidiger ab; er wollte sich selbst verteidigen. Zu bemerken ist auch die Siegessicherheit derer, die sich begnadet fühlen.6 Jeder erinnert sich an das Victory-Zeichen des Chefs der Deutschen Bank, Josef Ackermann. Jeanne war voll der Zuversicht, „ihre“ Heiligen würden sie retten. Diese Sicherheit provoziert die Strafverfolger. Sie wollen die Reue. Der Prozess Jeannes ist ein einziger Kampf um ihre Reue. 2 Skaupy, 15 ff. 3 Skaupy, 40 ff. 4 Skaupy, 83 ff. betr. Antoine Laurent Lavoisier (1743–1793, hingerichtet). 5 Seibt, 89 ff. 6 Hierzu Streck, Festschrift, 789.

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Prolog

Und für Christian Klar, Mitglied der zweiten Generation der Roten Armee Fraktion, war seine Reue geradezu politische Bedingung für seine Begnadigung. Und dann der große historische Bogen. Im Hundertjährigen Krieg beanspruchte die englische Krone die französische. Ihr schwebte ein Königreich vor, das das heutige England und das heutige Frankreich umfasst. Einen Gedanken der Splendid Isolation für England gab es nicht. England war Teil des Kontinents. Und ausgerechnet dieses 19-jährige Mädchen, Jeanne, weist die Engländer in Orléans in ihre Schranken. Es bedarf keiner großen Gedankenakrobatik, um von dem Sieg in Orléans bis zum Brexit eine Linie zu ziehen. Jeanne hat die Engländer aus dem Kontinent vertrieben und, wer wollte es ernsthaft bestreiten, Brexit ist die Folge. Mit welchem Vergnügen stürzen sich die „starken“ Frauen auf Jeanne. Dass Marine Le Pen in Frankreich den Mythos Jeanne d’Arc für sich ­reklamiert, versteht sich („Wiedergängerin der Jeanne d’Arc“, FAZ v. 10.  April 2017). Im Gorki Theater in Berlin wird seit längerer Zeit das Theaterstück „Je suis Jeanne d’Arc – Der Jeanne d’Arc-Mythos und Marine Le Pen“ gespielt, das sich mit der Inanspruchnahme Jeannes durch die Rechte in Frankreich befasst. Nicht nur Marine Le Pen, sondern auch der Nestor der konservativen Staats-Philosophie, Carl Schmitt (1888–1985), kann sich der Faszination Jeannes nicht entziehen.7 Zwei Frauen haben es ihm angetan: Katharina von Siena (1347–1380), die den Papst aus Avignon nach Rom zurückführte, sowie „die Heilige Johanna, die ihr Volk aus einer verzweifelten militärischen Lage befreit hat“. „Wenn diese Heilige auf die Frage, ob sie behaupten wolle, dass Gott die Engländer hasse, geantwortet hat, sie wisse dies nicht, sie wisse aber, dass die Engländer aus Frankreich heraus müssten, so ist dies eine Antwort, die jedes Volk durch den Mund dieser Heiligen seinen Unterdrückern und Ausbeutern geben muss.“ Carl Schmitt zitiert aus dem Jeanne d’Arc Stummfilmklassiker, den er, wie bezeugt wird, unentwegt sah, und gibt damit einen nationalistischen Schlüssel für seine Faszination. Am Ende bekennt er seine Hoffnung, „dass Hunderttausende deutscher Frauen dieses Wissen und die natürliche Ordnung lebendig halten“.

7 Das Nachfolgende aus Mehring, 255.

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Prolog

Und schließlich Emmanuel Macron, damals noch Wirtschaftsminister, am 8. Mai 2016, dem Jahrestag der Befreiung, in Orléans.8 „Jeanne d’Arc zeigt, dass eine Ordnung nicht hält, wenn sie ungerecht ist“, sie gebe denen, „die nichts haben, die Hoffnung, über die triumphieren zu können, die alles tun, damit die etablierte Ordnung bestehen bleibt“. Jeanne belege, „dass das Schicksal nicht festgeschrieben ist.“ Natürlich war die Rede auch gegen die Usurpierung Jeannes durch die Rechte gerichtet. Die Abstimmung über den „Brexit“, die Wahl Donald Trumps in Amerika, lassen uns seit einiger Zeit darüber nachdenken, wie man mit Fake-­ News umgehen soll, mit falschen Nachrichten. Diese sind nichts Neues. Auch die Inquisition beherrschte die Behandlung von Gerüchten und falschen Nachrichten perfekt. Sie geht sogar einen Schritt weiter und instrumentalisiert und beurteilt sie nach rechtlichen Kriterien. Es ist nicht so, dass die Inquisition jedem Gerücht sofort Glauben schenkt. Die Fake-­ News werden auf ihren Wahrheitsgehalt geprüft. Man kann sagen, dass sie damals intensiver untersucht wurden als heute in den Wahlkämpfen. Unglaubliches erscheint: Was die Fake-News angeht, kann die Inquisi­ tion Lehrmeisterin sein. Die katholische Kirche tat sich mit Jeanne schwer. Anders als beim Heiligen Ivo, dessen Heiligsprechung 44  Jahre nach seinem Tod erfolgte,9 brauchte die Kirche 489 Jahre, um Jeanne 1920 schließlich heiligzusprechen. Die streitbaren Erzengel Michael und St. Georg und viele andere geben vor, dass männliche Kriegsherren und Soldaten schnell heilig werden können. Das Heiligenbild der Frauen wird von der heiligen Elisabeth (1207–1231), der heiligen Teresa von Ávila (1515–1582) oder Thérèse von Lisieux (1873–1897) bestimmt, d.h. von den zur Nächstenliebe verpflichteten, der Mystik zugewandten, „lieben Frauen“. Eine Heilige, waffenklirrend, im Männersitz reitend und das französische Heer anführend, hat auf den ersten Blick schon etwas außerordentlich „Unheiliges“ an sich. Als Jeanne dann 1920 heiliggesprochen wurde, gab es bereits die Jeanne d’Arc und die „Jungfrau von Orléans“ von Schiller. Von der „Heiligen Johanna“ wird wenig gesprochen. Diese Heilige gibt es beispielsweise

8 S.  www.handelsblatt.com/politik/international/emmanuel-macron-der-politik star; in Erinnerung gerufen von Gerd Krumeich, FAZ v. 26. Juli 2017, N 3. 9 Hierzu Streck/Rieck, 47 ff.

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Prolog

erst bei Shaw (Die Heilige Johanna) und bei Brecht (Die Heilige Johanna der Schlachthöfe). Und wo das Theater präsent ist, darf die Oper nicht fehlen. Natürlich gibt es eine aktuelle Oper „Jeanne d’Arc – Szenen aus dem Leben der Heiligen Johanna“ von Walter Braunfels, zuletzt Premiere am 14. Februar 2016 in Köln. Und die FAZ b ­ erichtet am 24. Januar 2017, in Lyon werde Arthur Honeggers (und Paul Claudels) Oper „Jeanne d’Arc au bûcher“ „trium­ phal“ inszeniert. Und erst der Film. Mehrfach wurde die Geschichte der „Frau des Jahr­ tausends“ (1999 v. Ed Gernon und Christian Duguay, Regie) verfilmt. Ingrid Bergmann setzte alles dran, Jeanne verkörpern zu können (1948, Regie Victor Fleming; FAZ v. 27. Mai 2017). Und wer meint, alles sei nur Historie, muss sich belehren lassen, dass es Petitessen gibt, über die sich auch heute noch England und Frankreich, was Jeanne betrifft, streiten können. Im Februar 2016 wird in London „Der Ring der Jeanne d’Arc“, der in ihrer Vernehmung am 17. März 1430 eine Rolle spielt (vgl. S. 84), versteigert. Ersteigert wird er von der Familie de Villiers für den Park Puy Du Fou, heimlich ausgeführt, in Frankreich präsentiert und  – von den Engländern wieder beansprucht, weil keine ordnungsgemäße Ausfuhrgenehmigung vorliegt. Zwei Monate gibt es einen großen Streit, dann endlich kommt die Genehmigung aus England, auch weil der Ring wahrscheinlich nicht echt sei. Immerhin ein Medienspektakel.10 Und am Ende geht Jeanne auch noch in die Geschichte der Hofnarren ein. Clemens Amelunxen befasst sich mit der Rechtsgeschichte der Hofnarren und weist auf die Besonderheit hin, dass Domrémy und Greux Jahrhunderte ein Privileg der Steuerfreiheit, erbeten von Jeanne, hatten. Den Finanz­inspektoren wurde am Ortseingang noch in napoleonischer Zeit die amtliche Abfuhr erteilt: „Rien-La pucelle“, was für Amelunxen einem Narrengebot gleichkam, weil insbesondere Hofnarren dieses Steuerprivileg für ihren Heimatort erwirken konnten.11

10 S. hierzu Wikipedia unter „Anneaux de Jeanne“. 11 Vgl. einmal Amelunxen, 17; und, ausführlicher zu dem Steuerprivileg und der höchst streitigen Beendigung, Pernoud/Clin, 427 ff.

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Prolog

Und jetzt zum Prozess der Jeanne d’Arc, und nur zum Prozess. Was ­vorher war und nachher ist, berichten wir nur zum Verständnis des ­Prozessgeschehens. Der Prozess bestimmt die Gliederung nicht rein chronologisch, sondern (prozess-)funktional. Die auftretenden Personen begegnen uns nicht nur in ihrem historischen Gewand, sondern auch im Vergleich zu ihresgleichen im heutigen Strafprozess. Die Leserin, der Leser erwarte keine Gesamtwürdigung des Hunderjährigen Kriegs, nichts zu den Hintergründen der militärischen Erfolge und Niederlagen Jeannes, nichts zu den medizinischen, psychologischen und theologischen Theorien der „Stimmen“, die sie leiteten. All dies ist Gegenstand vieler kluger Abhandlungen gewesen, denen wir nicht eine weitere hinzufügen wollen.

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Inhalt Seite

Prolog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Prozesstagebuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Die handelnden Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Der Weg zum Verurteilungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Gefangenschaft und Vorbereitung des Prozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Panorama des Prozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 Vorwurf und Anklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 Die Organe des Prozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 Die Staatsanwaltschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 Das Gericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Der Verteidiger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 Die Vorermittlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 Aussagepflicht und -verweigerung, Belehrung und Vereidigung . . . 57 Jeannes Aussage vor der Inquisition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 Die sechs öffentlichen Vernehmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 Die neun nichtöffentlichen (Sonder-)Verhöre . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Die „Stimmen“ und Prophezeiungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Letzte Schritte vor Beginn des ordentlichen Verfahrens . . . . . . . . . . 86 Die Anklageschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 Jeannes Verteidigungsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Die Ablehnung des Gerichts/recusatio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Der Appell an den Papst/appellatio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 Welche Verteidigungsmöglichkeiten hätten noch zu Gebote gestanden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 Jeanne in der Streitbefestigung (Litis contestatio – Festlegung der streitigen Punkte) . . . . . . . . . . . . . 108

11

Inhalt

Zeugen und Sachverständige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 „Liebevolle Ermahnungen“ und das Angesicht der Folter: Der Weg zur Conclusio in causa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 Die Haft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 Letztes Wort und erstes Urteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 Widerruf und Abschwörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 Das zweite Urteil und sein Vollzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Rückfall und drittes und letztes Urteil: Das Ende des Verurteilungsprozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Die Vollstreckung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 Ausblick: Der Nichtigkeits- oder Rechtfertigungsprozess (Procès en Nullité de la Condamnation) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Die Wiederaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Der Verfahrensverlauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 Die Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Rechtliche Bewertung des Verurteilungsprozesses . . . . . . . . . . . . . . . 191 Die beiden Urteile vor und nach der Abschwörung . . . . . . . . . . . 191 Das Urteil wegen Rückfalls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Überlegungen zur Verteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Das dritte Verfahren: Die Heiligsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 Résumé . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Genealogie des englischen und französischen Königshauses 1420/1430 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217

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Prozesstagebuch I. Das erste Verfahren (causa lapsus) 1. Das Verfahren von Amts wegen (Processus praeparatorius vel officio) vom 9. Januar bis 25. März 1431 Dienstag, 9. Januar (im Haus des königlichen Rates)

Eröffnungssitzung mit vorbereitenden Beratungen (von Theologen und Juristen) und der Bestellung von Prozessbeteiligten (Kirchenanwalt/Promotor; Kommissar und ­Vernehmungsrichter; Notare und Proto­kollführer; Vollzugsperson für gerichtliche Anordnungen und Ladungen) durch den ­Bischof und vor­sitzenden Richter Pierre Cauchon

Sonnabend, 13. Januar (bischöfliches Wohnhaus)

Eröffnung der Ergebnisse von Vorermittlungen Cauchons zur Beschuldigten; Beschluss, die Vorermittlungsergebnisse zu Artikeln zusammenzufassen

Sonntag, 14. Januar–­ Dienstag, 16. Januar

Zusammenstellung der Artikel

Dienstag, 23. Januar (bischöfliches Wohnhaus)

Verlesung der Artikel und Anordnung einer vorbereitenden Untersuchung/inquisitio praeparatoria über die „Worte und Taten“ Jeannes; Beauftragung von Kommissar und Vernehmungsrichter Jean de La Fontaine hiermit

Dienstag, 13. Februar (bischöfliches Wohnhaus)

Vereidigung der Prozessbeteiligten

Mittwoch, 14. Februar– Sonnabend, 17. Februar

Durchführung der vorbereitenden Untersuchung durch de La Fontaine

13

Prozesstagebuch

Montag, 19. Februar (bischöfliches Wohnhaus)

Vorstellung und Beratung der Ergebnisse der vorbereitenden Untersuchung; Aufforderung des stellvertretenden Inquisitors Jean Le Maistre zum Verfahrensbeitritt

Dienstag, 20. Februar (bischöfliches Wohnhaus)

Beratungen zu Formalien des Verfahrensbeitritts Le Maistres; Beschluss, Jeanne vor das Inquisitionsgericht vorzuladen

Mittwoch, 21. Februar (erste öffentliche Sitzung; Kapelle des Schlosses)

Antrag des Promotors, die Beschuldigte anzuweisen, im gerichtlichen Verfahren entsprechend der Ladung zu erscheinen; Vorführung Jeannes durch den Gerichtsdiener; erste „liebevolle Ermahnung“/­ caritativa exhortatio durch den Vorsitzenden an J­ eanne, die volle Wahrheit zu sagen; Verhör der Beschuldigten durch Cauchon

Donnerstag, 22. Februar (zweite öffentliche Sitzung; Rüstkammer neben dem großen Schlosssaal)

Verhör der Beschuldigten durch de La ­Fontaine

Sonnabend, 24. Februar (dritte öffentliche Sitzung; Rüstkammer neben dem großen Schlosssaal)

Verhör der Beschuldigten durch de La ­Fontaine

Dienstag, 27. Februar (vierte öffentliche Sitzung; Rüstkammer neben dem großen Schlosssaal)

Verhör der Beschuldigten durch de La ­Fontaine

Donnerstag, 1. März (fünfte öffentliche Sitzung; Rüstkammer neben dem großen Schlosssaal)

Verhör der Beschuldigten durch de La ­Fontaine(?)

14

Prozesstagebuch

Sonnabend, 3. März Verhör der Beschuldigten durch de La (sechste öffentliche Sitzung; ­Fontaine Rüstkammer neben dem großen Schlosssaal) Sonntag, 4. März–Freitag, 9. März (bischöfliches Wohnhaus)

Beratung des Ergebnisses der öffentlichen Sitzungen; Beschluss des Vorsitzenden, weitere Vernehmungen der Beschuldigten durchzuführen

Sonnabend, 10. März– Sonnabend, 17. März (neun nichtöffentliche Sitzungen; Gefängniszelle)

Sonderverhöre der Beschuldigten bis einschließlich 12. März durch de La Fontaine; ab 13. März durch de La Fontaine und Le Maistre gemeinsam

Dienstag, 13. März

Verfahrensbeitritt des stellvertretenden Inquisitors Jean Le Maistre

Sonntag, 18. März–­ Donnerstag, 22. März (bischöfliches Wohnhaus)

Beratung der Ergebnisse der Verhöre

Sonnabend, 24. März (Gefängniszelle)

Verlesung des Vernehmungsprotokolls vor der Beschuldigten

(Palm-)Sonntag, 25. März (Gefängniszelle)

Aufforderung an die Beschuldigte zum Anlegen von Frauenkleidung vor dem Besuch der Messe und dem Empfang des Abendmahls

2. Das ordentliche Verfahren (Processus ordinarius) vom 26. März bis 24. Mai 1431 Montag, 26. März (bischöfliches Wohnhaus)

Vorbereitende Beratung des Gerichts und Verlesung der vom Promotor vorbereiteten „Artikel“; Beschluss, in die Verlesung der Anklageschrift und die Streitbefestigung einzutreten

15

Prozesstagebuch

Dienstag, 27. März (Rüstkammer neben dem großen Schlosssaal)

Antrag des Promotors auf Entgegennahme der Anklageschrift und Eintritt in die Streit­befestigung; Überreichung der Anklageschrift an das Gericht; Beschluss des Gerichts, der Angeklagten die Artikel der Anklageschrift in französischer Sprache vorzulegen und zu erläutern und Jeanne jeweils Gelegenheit zur Erwiderung zu geben; Leistung des Eides de calumnia durch den Promotor; Anerbieten eines Prozessbeistands an die Angeklagte

Mittwoch, 28. März (Rüstkammer neben dem großen Schlosssaal)

Fortsetzung der Streitbefestigung

(Oster-)Sonnabend, 31. März (Gefängniszelle)

Nachverhör der Angeklagten

(Oster-)Montag, 2. April

Prüfung und Abgleich der Anklagepunkte, der Antworten und der Vernehmungen der Angeklagten durch die Richter und einige Beisitzer sowie deren Zusammenfassung in zwölf Artikeln; Beschluss, diese Artikel den Sachverständigen des kirchlichen und welt­lichen Rechts zur Stellungnahme zu über­senden

Donnerstag, 5. April

Versand der Artikel zur Stellungnahme an die Sachverständigen mit einem Begleitschreiben der Richter

ab Donnerstag, 12. April

Eingang der ersten Stellungnahme, abgegeben von 22 Sachverständigen

in den nächsten Wochen

Eingang weiterer Stellungnahmen

16

Prozesstagebuch

Mittwoch, 18. April (Gefängniszelle)

Unter dem Eindruck der eingegangenen Stellungnahmen zweite „liebevolle Ermahnung“ an Jeanne durch den Vorsitzenden und verschiedene Beisitzer

(wohl) nach dem 18. April

Beschluss Cauchons (allein), ein Gutachten der Universität von Paris zu den zwölf Artikeln einzuholen?

Mittwoch, 2. Mai (Raum nahe dem großen Schlosssaal)

Verhandlung mit 61 Beisitzern; zusammen­fassender Bericht des Vorsitzenden über das Stellungnahmeverfahren; dritte „liebevolle ­Ermahnung“ an Jeanne durch den Erzdiakon von Évreux, Magister Jean de Châtillon

Mittwoch, 9. Mai Vernehmung der Angeklagten im Ange(großer Turm des Schlosses) sicht der Folter Sonnabend, 12. Mai (bischöfliches Wohnhaus)

Beratung und Beschluss, von der Anwendung der Folter abzusehen

Sonnabend, 19. Mai (Kapelle der erzbischöflichen Residenz)

Verlesung des eingeholten Gutachtens der Universität von Paris; Stellungnahmen der (51 anwesenden) Beisitzer und Abstimmung zum weiteren Vorgehen; Beschluss, die Angeklagte nochmals „­liebevoll zu ermahnen“ und den Schluss der Verhandlung sowie den Termin zur Urteilsverkündung zu bestimmen

Mittwoch, 23. Mai (Raum des Schlosses in der Nähe der Gefängniszelle)

Eröffnung der zwölf Artikel gegenüber der Angeklagten; vierte „liebevolle Ermahnung“ durch den Domherrn der Kirche von Rouen, Magister Dr. theol. Pierre Maurice; Beschluss über den Schluss der mündlichen Verhandlung/conclusio in causa

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Prozesstagebuch

Donnerstag, 24. Mai (öffentlicher Platz auf dem Friedhof der Abtei von Saint-Ouen)

Predigt von Magister Dr. theol. Guillaume Érard, Domherr zu Langres und Laon; dreimalige öffentliche Ermahnung der Angeklagten durch das Gericht; teilweise Urteilsverkündung; Abschwörung Jeannes; Annahme des Widerrufs und der Abschwörung durch das Gericht; Verkündung des mutmaßlich endgültigen Urteils mit der Verurteilung zu „lebenslangem Gefängnis beim Brot des Schmerzes und dem Wasser der Traurigkeit“

II. Das zweite Verfahren (causa relapsus) vom 28.–30. Mai 1431 Montag, 28. Mai (Gefängniszelle)

richterliche Inaugenscheinsnahme der Verurteilten (in Männerkleidung)/Tat­ sachenfeststellung zum Rückfall

Dienstag, 29. Mai (Kapelle des erzbischöf­ lichen Palastes)

Beratung der Richter mit den Beisitzern über den Sachstand und das weitere Verfahren; Beschluss, gegen Jeanne „nach Recht und Vernunft“ wegen Rückfalls vorzugehen

Mittwoch, 30. Mai

Ladung Jeannes zur Urteilsverkündung auf denselben Tag; Gewährung der Sakramente in der Gefängniszelle; Überführung Jeannes auf den Richtplatz auf dem Altmarkt nahe der Kirche Saint-Sauveur; Glaubensakt (­Predigt von Dr. theol. Magister Nicolas Midi; Ermahnung Jeannes; endgültiges Urteil); Urteilsvollzug durch die weltliche Gewalt mittels Hinrichtung der Verurteilten auf dem Scheiterhaufen

– Ende des Verurteilungsprozesses –

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Die handelnden Personen Jeanne

die Jungfrau, Siegerin von Orléans, als ­Ketzerin angeklagt, verurteilt und verbrannt

Aragon, Jolanthe von

Königin der Vier Königreiche, Schwiegermutter Karls VII. und Leiterin der Unter­suchung von Jeannes Jungfräulichkeit in ­Poitiers (März 1429)

d’Arras, Franquet

Feldhauptmann der Burgunder, von J­ eanne bei einer kriegerischen Unter­ nehmung im Frühjahr 1430 besiegt, ­gefangen genommen und an die weltliche Gewalt ausgeliefert, die ihn wegen verschiedener Vergehen zum Tode verurteilt und enthauptet

Baudricourt, Robert von

Kommandant der (französischen) Streit­ kräfte in der Stadt Vaucouleurs

Beauchamp, Richard von, Graf von Warwick

Engländer; (weltlicher) Kommandant der Festung von Rouen, Schloss Bouvreuil, wo Jeanne in Untersuchungshaft sitzt

Beaufort, Heinrich

Kardinal von England, krönte Heinrich VI. im Dezember 1431 in Paris zum König von Frankreich

Beaupère, Jean

Beisitzer des Inquisitionsgerichts, Vertrauensmann Cauchons, führt als solcher Vernehmungen Jeannes durch

Beisitzer

angesehene theologische und kirchen­ juristische Persönlichkeiten, die in unterschiedlicher Häufigkeit und Zahl beratend ohne Entscheidungsbefugnis an den Sitzungen des Gerichts teilnehmen 19

Die handelnden Personen

Bourgogne, Anne de, ­Herzogin von Bedford

leitet die Untersuchung der Jungfräulichkeit Jeannes im Januar 1431 im Schloss Bouvreuil

Cauchon, Pierre

Bischof von Beauvais und Vorsitzender Richter des Inquisitionsgerichts

Châtillon, Jean de

Erzdiakon zu Évreux und Professor der Theologie; erteilt Jeanne in der Verhandlung am 2. Mai 1431 die dritte „­liebevolle Ermahnung“

Colles, Guillaume

Notar und Protokollführer im Verurteilungsverfahren

Courcelles, Thomas de

Rektor der Universität von Paris, gerichtlicher Besitzer, übersetzte nach dem Verurteilungsverfahren das in der Urschrift französische Prozessprotokoll ins Latei­ nische

Dunois, Johann Graf von

genannt: „Bastard von Orléans“, illegitimer Cousin Karls VII., Truppenführer der Franzosen in und vor Orléans beim Auftreten Jeannes

Érard, Guillaume

Magister und Doktor der Theologie, Domherr zu Langres und Laon, hält die Predigt bei der Verkündung des gerichtlichen Urteils nach Jeannes Abschwörung am 24. Mai 1431 auf dem Friedhof der Abtei von Saint-Ouen

d’Estivet, Jean

Domherr von Beauvais und Bayeux und für Beauvais zuständiger Promotor/Kirchenanwalt

Heinrich VI. von England

minderjähriger englischer König seit 1422; Krönung zum König von Frankreich am 16. Dezember 1431

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Die handelnden Personen

Johann II. von Luxemburg

Verbündeter der Engländer und Sieger über Jeanne vor Compiègne, wo sie in seine Gefangenschaft gerät

Karl VII. von Frankreich

Dauphin Frankreichs, seit 17. Juli 1429 französischer König (bis 1461)

La Chambre, Guillaume de

Magister der Medizin, untersucht und behandelt Jeanne während ihrer Haft im Schloss Bouvreuil

La Fontaine, Jean de

Magister der Künste und Lizentiat des kanonischen Rechts, Berater und Beauftragter Cauchons, Vernehmungsrichter

Lancaster, Johann von, ­Herzog von Bedford

ab 1422 Regent des englisch besetzten Frankreichs für seinen unmündigen ­Neffen Heinrich VI.

Le Maistre, Jean

Prior des Dominikanerkonvents zu ­Rouen und für den Verurteilungsprozess bestellter Vertreter des Großinquisitors von Frankreich Jean Graverent

Loiseleur, Nicolas

Domherr von Chartres und Rouen, Beisitzer und Vertrauter Cauchons, vom ­Gericht beauftragter Spitzel, der Jeanne während ihrer Haft aushorcht, darüber ihr Vertrauen gewinnt und sie bis auf die Tribüne des Scheiterhaufens begleitet

Ludwig von Luxemburg

Bruder Johanns II. von Luxemburg, Bischof von Thérouanne und Kanzler des englischen Königs, nimmt an der Verteidigung von Paris im September 1429 sowie am Diner des Grafen Warwick im Mai 1431 auf Schloss Bouvreuil teil und ist bei der Hinrichtung Jeannes auf dem Scheiterhaufen zugegen

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Die handelnden Personen

Manchon, Guilllaume

Notar und Protokollführer im Verurteilungsprozess

Massieu, Jean

Gerichtsdiener

Maurice, Pierre

Magister und Doktor der Theologie, Domherr der Kirche von Rouen, erteilt Jeanne in der mündlichen Verhandlung am 23. Mai 1431 die vierte „liebevolle Ermahnung“

Midi, Nicolas

Magister und Doktor der Theologie, hält die Predigt bei der Verkündung des endgültigen Urteils am 30. Mai 1431 auf dem Altmarkt von Rouen

Philipp (III.) der Gute, ­ erzog von Burgund H

erweiterte seinen Machtbereich beträchtlich (Grafschaften Hennegau, Holland, Namur und Seeland, Herzogtümer Brabant, Limburg und Luxemburg; die Picardie u.a.m.); er alliierte Burgund 1420 mit den Engländern, löste das Bündnis jedoch 1435 wieder auf

Sachverständige

namhafte Theologen und Kirchenjuristen aus der Region Rouen sowie die Universität Paris, die ab April 1431 zum gerichtlichen Beweisbeschluss (zwölf Assertiones) Stellung nehmen

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Der Weg zum Verurteilungsprozess Jeanne Darc,12 geboren um 1412, entstammte einer Bauernfamilie, die, leibeigen zwar, aber wohl situiert, einen Hof in Domrémy bewirtschaftete, einem Dorf mit 40 „Herdfeuern“. „Jeannette“ wird von ihrer Mutter im christlichen Glauben unterwiesen, Lesen und Schreiben lernt sie nicht. Sie hilft bei häuslichen Arbeiten, in der Landwirtschaft und hütet das Vieh – ein ruhiges, freundliches Mädchen, hilfsbereit und außergewöhnlich fromm. Ihre Kinder- und Jugendjahre sind geprägt von den aufgewühlten politischen Verhältnissen der Zeit, denn Domrémy war ein Grenzort. Geographisch gehörte es zu Lothringen, politisch zu Frankreich, dessen Grenze die östlich am Dorfrand fließende Maas markierte. Jenseits des Flusses begann das Heilige Römische Reich mit Grafschaft und Bistum Toul und dem Herzogtum Lothringen. Mitten durch das Dorf verlief die Grenze zwischen der (französischen) Grafschaft Champagne und dem Herzogtum Bar, das unter der Lehnshoheit des französischen Königs stand. Das südliche Domrémy, in dem die Darcs wohnten, gehörte zum Herzogtum.13 Das tägliche Leben der Menschen des oberen Maastales war durch private Kriege und Fehden zwischen den örtlichen Feudalherren beherrscht. Söldner- und Räuberbanden machten die Gegend unsicher, Raub und Schutzgelderpressungen waren an der Tagesordnung. Die ländliche Bevölkerung musste fast täglich mit Gewalttaten, Brandschatzungen, ja der vollständigen Zerstörung ihrer Dörfer rechnen. Im Juli 1425 wurde auch Domrémy überfallen, das Dorf geplündert, das Vieh fortgetrieben. Wohl als Jeanne 13 Jahre alt war, hört sie im Garten „eine Stimme von Gott“, von strahlendem Licht begleitet. Sie erblickt den geflügelten Erzengel Michael inmitten einer Engelsschar. Der Erzengel spricht zu ihr 12 Den Namen Jeanne d’Arc hat sie nie geführt. Als Kind rief man sie Jeannette, sie selbst nannte sich später „la pucelle/die Jungfrau“ und war allgemein als Jehanne la Pucelle bekannt. Der Name ihres Vaters lautete Jacques Darc (auch „Daix“, Dars“, „Dart“, „Tart“, „Tarc“ u.ä. geschrieben). Die Schreibweise „d’Arc“ ist der Versuch, ihre Erhebung in den Adelsstand im Dezember 1429 deutlich zu machen (vgl. Müller, XV). 13 Vgl. H.  Thomas/M.  Parisse, in: Lexikon des Mittelalters, Bd.  1, s.v.: Bar, Sp. 1427 f.; zu weiteren Details s. Müller, 518 ff.

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Der Weg zum Verurteilungsprozess

von dem großen Kriegsunglück, das über das Königreich Frankreich gekommen sei. Jeanne solle dem König zu Hilfe kommen. Von den Heiligen Katharina und Margareta werde sie Beistand und Führung erhalten. Darauf lösen die Stimmen dieser beiden den Erzengel Michael ab. Katharina und Margareta treten als Mittlerinnen zu Gott auf, unterbreiten diesem Jeannes Anliegen und eröffnen ihr Gottes Willen. Seit Oktober 1428 formulieren „die Stimmen“ beharrlich einen konkreten Auftrag: Jeanne solle „nach Frankreich14 gehen“ und die Belagerung von Orléans aufheben. Zunächst solle sie sich an den Truppenkommandanten der nördlich gelegenen Stadt Vaucouleurs, Robert von Baudricourt (ca. 1400–1454), wenden, der ihr ein Geleit stellen werde. Kurz vor Weihnachten 1428 gibt das junge Mädchen dem Drängen der Stimmen nach, verlässt Elternhaus und Heimatdorf und macht sich auf den ihr vorgegebenen Weg.15 Jeanne ist 16 Jahre alt und – später mehrfach überprüft – unversehrte Jungfrau. Ihr späterer Beiname „la Pucelle“ dokumentiert die Bedeutung dieses Status. Orléans wurde seit Oktober 1428 von den Engländern belagert. Engländer und Franzosen stritten seit langem um die französische Thronfolge, die beide für sich beanspruchten, nachdem drei Söhne des französischen Königs Philipps IV. (1268–1314) kinderlos geblieben waren. Eduard III. von England (1312–1377), Philipps Enkel von seiner Tochter Isabella, war es verwehrt, die französische Thronfolge anzutreten, weil das aus dem 6. Jahrhundert überkommene Salische Gesetz/die Lex Salica des fränkischen Königs Chlodwig  I. (466–511) die weibliche Erbfolge ausschloss. Ein Neffe Philipps wurde daher im Jahr 1328 von den französischen Reichsständen als Philipp VI. (1293–1350) zum König ausgerufen. Für die Engländer war Eduard III. der rechtmäßige Thronerbe, weil die Lex Salica in England nicht galt und der Enkel dem Neffen vorging. Darüber ent14 Gemeint war damit damals die heutige Île de France und ein Teil des mit diesem Stammland der Herzöge von Frankreich verbundenen Loiregebiets. 15 In dem einsam beschlossenen Aufbruch des Mädchens, allein ihren „Stimmen“ gehorchend und vertrauend, hat man „einen der ungeheuerlichsten Momente der Geschichte“ gesehen, der „ohne die treibende Kraft eines göttlichen Befehls schlechthin unerklärlich“ sei (vgl. Schirmer-Imhoff, Dokumente, 17). Nach der Terminologie in der einschlägigen Literatur zu Jeanne beginnt mit ihrem Aufbruch aus Domrémy ihr „Aufgebot“, das mit Einzug des Mädchens in Orléans am 29. April 1429 endete.

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Der Weg zum Verurteilungsprozess

brannte im Jahr 1339 ein Krieg, der mit Unterbrechungen 116 Jahre dauern sollte und als Hundertjähriger Krieg in die Geschichte einging.16 In Gefechten bei Crécy im Jahr 1346 und bei Maupertuis im Jahr 1356 konnten die Engländer den Franzosen vernichtende Niederlagen beibringen. Das französische Königshaus der Valois geriet neben diesen militärischen Misserfolgen auch im eigenen Land in Bedrängnis. Für König Karl VI. (1368–1422), der seit 1392 an einer Geisteskrankheit litt, führte sein jüngster Bruder, Herzog Ludwig von Orléans (1372–1407), die Regierungsgeschäfte und gelangte zu beträchtlicher Machtfülle. Die Ehefrau Karls VI., Königin Isabeau de Bavière (wohl 1370–1435), bayerische Prinzessin aus dem Hause der Wittelsbacher, wurde zur Regentin bestimmt. Die Schwäche des Königs gab dessen Onkel Philipp dem Kühnen (1342–1404, Herzog von Burgund seit 1364), Begründer des Hauses Burgund, Raum, den Einfluss seines Herzogtums, das er von seinem Vater, dem französischen König Johann II. (1319–1364), zunächst als Apana­ ge, erhalten hatte, weiter auszubauen. Philipps Sohn Johann „Ohnefurcht“ (1371–1419) ließ im November 1407 Ludwig von Orléans im Streit um die französische Regentschaft auf offener Straße ermorden, was die „Orleanisten“ (später „Armagnacs“) und Burgund offen entzweite. Königin Isabeau, die auf ihren kranken Gatten erheblichen Einfluss hatte, war eine mächtige Verbündete der „Burgunder“/Bourguignons. Mit Burgund verbinden wir heute die Vorstellung einer französischen Landschaft und einer wirtschaftlichen und künstlerischen Kulturblüte im Spätmittelalter (1363–1477). In der Verwaltungsstruktur des modernen Frankreich stellte Burgund noch bis Ende 2015 eine eigenständige Region (Gebietskörperschaft) mit dem Verwaltungssitz in Dijon dar. Seit 2016 sind Verwaltungseinheit sowie der Name verschwunden und durch Fusion in e­ iner größeren Region aufgegangen. Von Burgund bleibt die historische Chiffre. Anfang des 15. Jahrhunderts war es schon seit mehreren Jahrhunderten ein eigenes Herzogtum, in Teilen ein Lehen der französischen Krone, das sich im 13. und frühen 14. Jahrhundert kontinuierlich vergrößert hatte. 1361 fiel das Lehen an das Königshaus Valois zurück. Unter der Regierung durch eine königliche Nebenlinie der Valois, 16 Es sei daran erinnert, dass der Hundertjährige Krieg kein Religionskrieg war und nichts mit der erst 1531 vollzogenen Trennung der englischen Kirche von der römischen zu tun hatte; England war zu dieser Zeit „römisch-katholisch“.

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Der Weg zum Verurteilungsprozess

beginnend mit Philipp dem Kühnen, wuchs das Territorium Burgunds insbesondere unter Herzog Philipp (III.) dem Guten (1396–1467) weiter und prägte sich ein „burgundischer Staat“ aus, der von Kern-Burgund bis nach Flandern reichte. Mit einem eigenen (Gewohnheits-)Recht, den Coutumes de Bourgogne, und mit einer prägnanten „burgundischen Kultur“, die sich am Hof, im Adel und in den Städten entwickelt hatte, be­ einflusste Burgund West- und Mitteleuropa intensiv. Durch die Steuerzahlungen der flämischen Wirtschafts- und Handelszentren Gent und Brügge, Ypern und Löwen wurden die burgundischen Herzöge zu den reichsten Herrschern ihrer Zeit. Zurück zum hundertjährigen Konflikt zwischen Frankreich und England: Seit 1413 erneuerte der englische König Heinrich V. (1387–1422) die Ansprüche Englands auf die französische Krone. Nachdem sein Heer an der Seine-Mündung gelandet war, kam es im Oktober 1415 zur Schlacht bei Azincourt, wo die Franzosen ein weiteres Mal vernichtend geschlagen wurden. Bis 1419 eroberte das englische Heer nach und nach fast die gesamte Normandie. Burgund kooperierte mit den Engländern. Als es den Burgundern im Jahr 1418 gelang, Paris einzunehmen, musste der gerade 15 Jahre alte Dauphin Karl (1403–1461), anstelle seines mittlerweile vollständig umnachteten Vaters Karl VI. zum Statthalter des Königreiches bestellt, unter demütigenden Umständen aus der Stadt fliehen und war ­gezwungen, in den folgenden Jahren von Méhun-sur-Yèvre nahe Bourges (von seinen Gegnern deswegen abfällig als „petit roi de Bourges“ betitelt) und Poitiers aus zu regieren. Unter dem Druck der militärischen Erfolge seiner Gegner war er bemüht, sich mit Burgund auszusöhnen. Während eines Treffens mit dem burgundischen Herzog im September 1419 brach jedoch Streit zwischen beiden aus, in dessen ­Verlauf Männer aus dem Gefolge des Dauphins den Burgunder Johann „Ohnefurcht“, Mörder Ludwigs von Orléans, erschlugen. Daraufhin verbündete sich der Sohn Johanns, ­Philipp der Gute, offen mit Heinrich V. gegen den Dauphin. England und das mächtige Burgund standen jetzt als Allierte dem damals noch recht kleinen Frankreich gegenüber. Im Mai 1420 schlossen Karl VI., unter dem Einfluss des mächtigen Herzogs von Burgund stehend, und Heinrich V. von England in Troyes einen Vertrag, der den englischen König als alleinigen Thronfolger Frankreichs anerkannte. Dauphin Karl wurde aller Ansprüche auf die französische 26

Der Weg zum Verurteilungsprozess

Krone für verlustig erklärt und vom „Parlament von Paris“, dem obersten königlichen Gericht in Zivil- und Strafsachen, aus der Stadt verbannt; wir erinnern daran: Paris war von Burgund eingenommen worden. Im Juni 1420 heiratete der englische  – und nun auch französische  – Thronfolger Heinrich V. Katharina, die Tochter Karls VI. Heinrich starb nur zwei Jahre später, kurz vor seinem Schwiegervater. Sein Sohn Heinrich war da gerade zehn Monate alt, so dass der Bruder Heinrichs V., Johann von Lancaster, Herzog von Bedford (1389–1435), für seinen unmündigen Neffen die Regentschaft über die englischen Besitzungen in Frankreich übernahm. Der Dauphin gab sich nicht geschlagen. Seine Juristen erklärten wenige Tage nach dem Tod Karls VI. den Vertrag von Troyes u.a. wegen Verstoßes gegen das Salische Gesetz für nichtig, und der Dauphin nahm als Karl VII. den Königstitel an. Daraufhin flammten die militärischen Auseinandersetzungen zwischen Franzosen und alliierten englischen und burgundischen Streitkräften erneut auf. Nach weiteren katastrophalen Niederlagen der Franzosen landete ein Heer der Engländer im Juni 1428 mit dem Ziel in Calais, Karl in dem ihm verbliebenen „Königreich von Bourges“ südlich der Loirelinie anzugreifen. Zunächst sollten die letzten königstreuen Stützpunkte in der Champagne, darunter die prévôté/Vogtei Vaucouleurs, in englische Hand gebracht werden. Unter dem Eindruck der bevorstehenden Kriegshandlungen in unmittelbarer Nähe gaben die Einwohner Domrémys, unter ihnen auch die Familie Darc, Mitte Juli 1428 das Dorf auf und flüchteten mit ihrem Vieh in das nahegelegene lothringische Neufchâteau. Als die Einwohner von Domrémy in ihr Dorf zurückkehrten, fanden sie es gebrandschatzt vor. Mitte Oktober erreichten die Engländer Orléans, mit der wichtigen Brücke über die Loire: Zugang zum königstreuen Teil Frankreichs. Fiel Orléans, war der Krieg entschieden. Zu Beginn des Jahres 1429 war die damals ausschließlich auf dem rechten, nördlichen Loireufer gelegene Stadt bereits bis auf den Zugang im Osten von den englischen Truppen eingeschlossen.

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Als die Franzosen im Februar 1429 durch einen zahlenmäßig weit unterlegenen englischen Tross, der der Belagerungsarmee eingesalzene Heringe als Verpflegung für die bevorstehende Fastenzeit liefern sollte, eine Niederlage erlitten, erschien die Lage Frankreichs aussichtslos. Viele französische Befehlshaber zogen mit ihren Truppen aus Orléans ab. Karl, der sich in Chinon aufhielt, bereitete sich auf die Flucht in die entlegene „Dauphiné“, seine königliche Apanage, vor. In dieser Situation betritt Jeanne die Geschichte des Hundertjährigen Krieges: „Auf die Jahre eines Lebens in Verborgenheit und inneren Heranreifens folgen zwei kurze Jahre eines intensiven öffentlichen Lebens: ein Jahr des ,Handelns‘ und ein Jahr des ,Leidens‘“.17 Nach ihrem Aufbruch aus Domrémy Ende des Jahres 1428 unternimmt das Mädchen, in Vaucouleurs angekommen, bis in den Februar des Jahres 1429 hinein mehrere Versuche, den Kommandanten von Baudricourt dazu zu bewegen, ihr ein Geleit auf ihrem Weg nach „Frankreich“ zu stellen, um in Chinon den König zu treffen. Vaucouleurs ist, anders als zwei andere französische Festungen im oberen Maastal im späten Frühjahr des Jahres 1428, nicht von den Engländern erobert worden, aber von Baudricourt hat im Sommer des Jahres vorauseilend die Kapitulation erklärt, wohl weil er seine militärischen Möglichkeiten als nicht ausreichend einschätzte. Aber die Engländer haben die Stadt bisher nicht übernommen. Der Kommandant verhält sich Jeanne gegenüber zunächst abweisend, zieht aber schließlich Erkundigungen zu ihrer Person und ihrem Anliegen ein und erfragt beim König, wie er mit dem Vorgang umgehen solle. Schließlich stellt er eine Eskorte aus sechs Mann zusammen, die mit Jeanne, inzwischen in Männerkleidung und mit einem Schwert bewaffnet, kurz nach der „Heringsschlacht“ nach Chinon aufbricht. Dort über Auxerre, Gien und Sainte-Catherine-de-Fierbois angekommen, wird sie nach mehrtägigem Zögern des Königs, mit ihr zu sprechen, schließlich in öffentlicher Audienz im großen Saal des Schlosses empfangen. Nach Jeannes später im Prozess beschriebener Wahrnehmung ist der Saal von mehr als 50 Fackeln strahlend erleuchtet und mit mehr als 300 Rittern gedrängt voll. Das Mädchen erkennt den König – dessen äußere Erscheinung allerdings unverwechselbar war – nach eigenem Bekunden durch einen Hinweis ihrer „Stimmen“. Sie tritt ihm mit 17 Papst Benedikt XVI., 2.

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der Begrüßung entgegen, sie sei von Gott gesandt, um ihm und dem Königreich Hilfe zu bringen. Der König führt sie im weiteren Gesprächsverlauf in eine Fensternische, von der die anderen Gäste nach höfischer Etikette Abstand wahren. Hat Jeanne dem König hier im großen Saal ein (geheimes) „Zeichen“ zum Beleg ihres göttlichen Auftrags gegeben? Ihre spätere Aussage hierzu bleibt ungenau und widersprüchlich. Karl ist wohl beeindruckt von Jeannes Worten, hat aber nach der Begegnung offenbar Zweifel an ihrer göttlichen Mission. Er lässt das Mädchen noch in Chinon einer umfassenden Prüfung unterziehen. Geistliche befragen sie über den Zweck ihres Kommens, und „Matronen“, im Alter vorgerückte, erfahrene Frauen, unter ihnen in diesem Fall Gattinnen hochgestellter Würdenträger, stellen in zwei Untersuchungen fest, dass das Mädchen eine virgo intacta ist. Nach mittelalterlicher Auffassung konnte sie dann nicht mit dem Bösen im Bunde stehen, „besessen“ sein, denn zum Ritual des Bündnisschlusses gehörte der Beischlaf mit dem Teufel. Gleichzeitig forscht man in Jeannes Heimat über ihre Herkunft, ihren Lebenswandel und ihren Leumund. Danach wird das Mädchen auf Betreiben des Königs in Poitiers einer geistlichen Kommission vorgestellt. In Poitiers hatte das für das „Königreich von Bourges“ konstituierte Parlament seinen Sitz; dort waren zahlreiche hochrangige Geistliche versammelt, die auf Seiten Karls standen. Die Kommission prüft drei Wochen lang, ob es nachvollziehbare Zeichen göttlichen Eingreifens gebe, und befasst sich mit Jeannes „Stimmen“, ihrer Mission und ihren Gründen für das Tragen von Männerkleidung. Jeanne bekundet vor den Kommissionsmitgliedern, das sie legitimierende „Zeichen“ werde die Aufhebung der Belagerung von Orléans sein. Unter Leitung der Schwiegermutter Karls, der „Königin der vier Königreiche“18 Jolanthe von Aragon (1379–1442), wird erneut Jeannes Jungfräulichkeit in Augenschein genommen.19 Die Kommission fasst ihre Ergebnisse in einem Bericht zusammen, der Grundlage einer öffentlichen Erklärung der Regierung wird. Darin heißt es, der König dürfe in Anbetracht der Notlage, in der er und sein Reich sich befänden, die Jungfrau, die behaupte, sie sei von Gott gesandt, nicht daran hindern, mit ihren Kriegsleuten nach Orléans zu ziehen, sondern solle ihr ein eh18 Aragonien, Neapel, Sizilien und Jerusalem. 19 S. die Aussage Jean d’Aulons, Waffengefährte Jeannes, als Zeuge im Nichtigkeitsverfahren am 28. Mai 1456 (vgl. Duparc I, 476).

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renvolles Geleit geben und auf Gott vertrauen. Nachdem das Mädchen nun nicht in der Lage gewesen war, ein „Zeichen“ ihrer Gottgesandtheit zu geben, hatte Karl in Gestalt des Untersuchungsberichts immerhin alle nach menschlichem Ermessen notwendigen und möglichen Feststellungen getroffen, um die Göttlichkeit von Jeannes Mission zu belegen. Am 22. März 1429, nach Ende dieser Untersuchungen, diktiert Jeanne – wir erinnern uns: sie kann weder lesen noch schreiben – in Poitiers einen Brief an den minderjährigen englischen König Heinrich VI. (1421– 1471), seinen Regenten, den Herzog von Bedford, sowie drei in deren Diensten stehende Feldherren. Sie fordert die Engländer auf, die von ihnen eroberten französischen Städte freizugeben und sich aus Frankreich zurückzuziehen. Ihr Brief, in dem sie von sich selbst teils in der dritten, teils in der ersten Person spricht, trägt im Kopf die Leitformel † IHESUS MARIA † und ist an Deutlichkeit kaum zu überbieten: „… Übergebt der Jungfrau, die von Gott, dem König des Himmels, hierher gesandt worden ist, die Schlüssel aller guten Städte, die Ihr in Frankreich erobert und geschändet habt. … Wenn Ihr das nicht tut, so dürft Ihr Überraschungen von der Jungfrau erwarten, die Euch in Kürze, und zwar zu Eurem großen Schaden, entgegentreten wird! König von England, wenn Ihr das nicht tut: Ich bin Kriegsherr, und wo immer ich Ihre Leute in Frankreich finde, werde ich sie vertreiben, ob sie wollen oder nicht. Und wenn sie sich widersetzen, werde ich sie alle töten lassen. Ich bin hierher von Gott, dem König des Himmels gesandt, um Euch Mann für Mann ganz aus Frankreich hinauszuschlagen. Wenn sie aber gehorchen, werde ich Gnade walten lassen. Haltet nicht an Eurer Auffassung fest, denn Ihr werdet in keinem Fall von Gott, dem Himmelskönig, Sohn der heiligen Maria, das Königreich Frankreich erhalten, dies erhält König Karl, der wahre Erbe; denn Gott, der König des Himmels, will es so und hat es ihm durch die Jungfrau kundgetan. …“ Die königliche Kanzlei verbreitet diesen Brief und ebenso den Bericht der Kommission von Poitiers überall in Frankreich und über dessen Grenzen hinaus. Jeanne wird sodann in Tours militärisch ausgerüstet, sie erhält einen militärischen Rang und einen persönlichen Stab. Auf Weisung des Königs wird für sie eine Rüstung maßgefertigt und ihr als Feldzeichen eine Fahne ebenfalls mit dem gemalten Leitworten „Ihesus Maria“ beigegeben: 30

Der Weg zum Verurteilungsprozess

Auf lilienbedecktem Grund ist Gott dargestellt, die Welt in seinen Händen haltend, zu beiden Seiten die Erzengel Michael und Gabriel. Das Schwert, das sie in Vaucouleurs von Baudricourt erhalten hat, tauscht sie gegen ein anderes aus, welches auf ihren Hinweis hinter dem Altar der Kirche von Sainte-Catherine-de Fierbois von den örtlichen Geistlichen aufgefunden worden war. In seine Klinge sind fünf Kreuze in der Anordnung eines Fünfecks eingraviert. Um den ursprünglichen Eigentümer des Schwerts ranken sich Mythen. Es solle Karl Martell (ca. 688/89–741), dem fränkischen „Maior domus/Hausmeier“ und ersten Karolinger, gehört haben, der es nach seinem schwierigen und langwierigen, schließlich bei Poitiers siegreichen Feldzug gegen die von Spanien her gegen das Frankenreich vorstoßenden Sarazenen als Votivgabe in der Kapelle niedergelegt habe; andere schrieben es Bertrand du Guesclin (um 1320– 1380) zu, dem bretonischen Heerführer und Connétabel/Kronfeldherrn, der zu Beginn des Hundertjährigen Kriegs legendären Kriegsruhm für die französische Krone erworben hatte. Wegen seines ehemaligen Besitzers und der Umstände seiner Auffindung durch Jeanne werden dem Schwert zauberische Kräfte zugeschrieben. Über Blois, wo die Befreiungsarmee aufgestellt wird, macht sich der kleine Tross Ende April 1429 auf den Weg nach Orléans. Dort ist die Situation für die Bevölkerung seit der Niederlage in der „Heringsschlacht“ hoffnungslos. Doch gibt es bereits Gerüchte über ein junges Mädchen/„la Pucelle“, das auf dem Weg in die Stadt sei, um die Belagerung aufzuheben und Karl zu seinem Sacre, dem sakralen Akt der Krönung und Salbung,20 nach Reims zu führen. Nachdem Jeanne mit ihrer kleinen Truppe am 29. April 1429 Orléans vom Osten her auf dem freien linken Loireufer über die im Fluss liegenden Schanzen erreicht hat und durch die Porte de Bourgogne, den einzigen von den Engländern nicht kontrollierten Zugang, in die Stadt eingezogen ist, gelingt es ihr, die zögernden Militärs unter Johann Graf von Dunois (um 1402–1468)21 sowie Bürgermiliz und Bevölkerung gleichermaßen zu höchster Einsatz20 Nach mittelalterlichem Verständnis haben Krönung und Salbung transzendentalen Bezug. Sie machen sakrosankt und legitimieren die gesalbte Person als rechtmäßigen König (vgl. H.H. Anton, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 7, s.v. Salbung, Sp. 1288 ff.). 21 Der Graf war ein außerehelicher Sohn Ludwigs von Orléans und wurde aus diesem Grund „batard d’Orléans/Bastard von Orléans“ genannt.

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bereitschaft und Entschlossenheit mitzureißen. In gleicher Weise sinkt in den nächsten Tagen, während Jeanne ungeduldig auf das Eintreffen der Entsatzarmee wartet, die Stimmung im Lager der Engländer. Nach Ankunft der französischen Verstärkung am 4. Mai beginnen die Kämpfe. Die Franzosen nehmen am 4., 6. und 7.  Mai schrittweise die von den Engländern ertüchtigten Bastionen und Schanzen die Stadt herum ein. Am 7. Mai findet bei der Brückenschanze Les Tourelles/den „Türmen“ die entscheidende Schlacht statt. Die kleine Festung befindet sich am Kopf der 19-bögigen Brücke über die Loire auf der Orléans gegenüberliegenden Seite des Flusses und ist mit dem südlichen Flussufer durch eine Zug­brücke verbunden. Im Kampf wird Jeanne, entsprechend ihrer eigenen Vorhersage,22 durch einen Pfeil zwischen Hals und Schulter getroffen und schwer verletzt. Sie nimmt jedoch bereits nach kurzer Zeit wieder an den Kampfhandlungen teil.23 Am Abend fallen Les Tourelles. Eine militärische Erklärung24 für diese Wendung gründet sich auf der tatsächlichen zahlenmäßigen Überlegenheit der französischen Streitmacht, Jeannes mutigem Verhalten im Kampf und ihrem Charisma, mit dem sie Kampf22 Jeanne wurde dazu am 27. Februar 1431 im Verurteilungsprozess vom Gericht befragt. Sie bekundete, die „Stimmen“ der beiden Heiligen hätten ihr ihre Verwundung vorab enthüllt. Sie habe davon auch dem König erzählt (Tisset I, 79). Weitere Zeugen (u.a. Jeannes Beichtvater Jean Pasquerel) im späteren Nich­ tigkeitskeitsverfahren des Jahres 1456 bestätigten ihre Prophezeiung (vgl. ­Duparc I, 394–395 [= IV, 76–77], I, 410 [= IV, 91]). 23 Der Ansturm der französischen Soldaten war bis dahin erfolglos geblieben, so dass der Graf von Dunois gegen Abend zum Rückzug blasen lassen wollte. Das verwundete Mädchen bat ihn jedoch, noch zu warten, bestieg ihr Pferd und zog sich allein in einen nahegelegenen Weinberg zurück, fernab allen Kampfeslärms; dort verharrte sie eine „halbe Viertelstunde“ im Gebet. Als sie wieder vor der Truppe erschien und ihre Fahne zur Hand nahm, gewannen die Franzosen ihren Kampfesmut zurück und griffen erneut an (vgl. die Aussage des Grafen von Dunois als Zeuge im Nichtigkeitsverfahren am 22. Februar 1456, Duparc I, 320–321 [= IV, 6]). „Ihr inneres Dasein war dem irdischen Leben weniger verhaftet, als ihre Taten es erscheinen lassen.“, so deutet Schirmer-Imhoff dieses Geschehen, „Ihr wirkliches Sein leuchtet in jener Viertelstunde auf, in der sie während des Ringens um Orléans in höchster Bedrängnis von den Kämpfenden fortreitet und abseits kniend Gott um Rat anfleht.“ (Schirmer-Imhoff, Dokumente, 33). 24 Mehr als eine holzschnittartige Darstellung des komplexen Kampfgeschehens kann und soll im Rahmen dieses Berichts, der seinen Schwerpunkt auf den Verurteilungprozess legt, nicht geleistet werden. Zu weiteren Details vgl. Müller, 454–462, 646 ff. m.w.N.

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kraft und Siegeszuversicht der Bürger Orléans’ wie der französischen Truppen stärkte und gleichzeitig die englischen Gegner demoralisiert. Am nächsten Tag, Sonntag, 8. Mai 1429, haben die Engländer schon früh am Morgen ihr Hauptlager und die wenigen weiteren ihnen verbliebenen Stützpunkte geräumt und erwarten westlich von Orléans in Schlachtordnung die Franzosen. Jeanne aber lässt nahe bei der Stadt zwei Messen lesen und befiehlt ihren Soldaten, nicht die Schlacht zu suchen, sondern sich lediglich gegen einen Angriff der Engländer zu verteidigen. Als diese merken, dass die Franzosen die Schlacht nicht annehmen, ziehen sie in ihre nahe gelegenen Garnisonen ab. Die Belagerung von Orléans, die vor sieben Monaten begonnen hatte, endet damit gut eine Woche nach Jeannes Ankunft in der Stadt. Unmittelbar nach der Befreiung verlässt Jeanne Orléans, um den zweiten Teil ihres göttlichen Auftrags zu erfüllen und den König zum Sacre nach Reims zu führen. Karl hält sich nach wie vor in Chinon auf und begibt sich von dort, ohne Orléans zu besuchen, nach Tours, wo Jeanne mit ihm zusammentrifft. Der Kronrat hält es für richtig, zunächst die Engländer aus ihren Garnisonen Jargeau, Meung und Beaugency zu vertreiben, um danach nach Reims zu ziehen. Vor Jargeau findet sich im Juni 1429 eine Armee von zehnfacher Stärke der englischen Garnison ein. Nach dem Sieg von Orléans strömen Jeanne von überall her begeisterte Truppen zu. Einen übereilten Angriff schlagen die Engländer zurück, unterbreiten aber gleichzeitig ein Ka­ pitulationsangebot, das die französischen Befehlshaber ablehnen. Am nächsten Morgen greifen die Franzosen erneut an. Im Kampfgetümmel bleibt ein erneutes Waffenstillstandsgesuch der Engländer ungehört. Den Fall von Jargeau überleben nur wenige englische Soldaten. Meung und Beaugency fallen ohne nennenswerten Widerstand. Die Engländer werden schließlich am 18. Juni 1429 20 Kilometer nordwestlich von Orléans bei Patay erneut vernichtend geschlagen. Danach gelingt es Jeanne, König und Kronrat davon zu überzeugen, dem Krönungszug gegenüber weiteren militärischen Aktionen gegen die Engländer den Vorzug zu geben. Der Weg führt den Zug Ende Juni 1429 von Gien über Auxerres, Troyes und Châlons-sur-Marne, die sich sämtlich kampflos ergeben, nach Reims. Am 16. Juli lassen die Einwohner dem 33

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König durch eine Delegation die Schlüssel der Stadt überbringen. Bereits am nächsten Tag salbt Regnault von Chartres (gest. 1444), Erzbischof von Reims und Kanzler des Reiches, den König mit dem Öl aus der Sainte Ampoule und krönt ihn. Nicht vorgesehen im Zeremoniell war, dass Jeanne, eine Frau bäuerlicher Herkunft, in voller Rüstung und in der Hand ihre Fahne, in unmittelbarer Nähe von König und adligen Würdenträgern am Hochaltar steht. Am 7. August 1429 richtet der englische Regent Lancaster einen Brief an Karl, in dem er ihm die Königwürde abspricht, weil er sie nur mit Hilfe einer „aus der Ordnung getretenen und verrufenen Frau in Männerkleidung“ erlangt habe. Gleichzeitig zeigt er sich verhandlungsbereit. Der Herzog von Bedford hat nach der Vernichtung der englischen Armee bei Patay aus England neue Truppen überführen lassen, die in Paris konzentriert sind. Jeannes Ziel ist, die französischen Truppen ebenfalls nach Paris zu führen, um die Hauptstadt zurückzugewinnen. Karl verfolgt jedoch nicht mit gleicher Entschiedenheit und Stringenz den Weg einer militärischen Entscheidung, sondern will sich die Tür zu einer friedlichen Einigung offen halten. Mit der Krönung Karls in Reims verlässt der militärische Erfolg das Mädchen. Ist ihr göttlicher Auftrag nunmehr, nach der Befreiung von Orléans und dem Vollzug des Sacre, erfüllt? Verließ sie darum das auf ihrer Überzeugung, in göttlichem Auftrag zu handeln, gegründete „Charisma/­l’inspiration“? Der von ihr geforderte Angriff auf Paris, vom König nur halbherzig und zögerlich mitgetragen, beginnt am Fest der Geburt Marias am 8.  September 1429, auf den Tag genau vier Monate nach der Befreiung von Orléans. Noch im Juli hatten sich der Herzog von Bedford und der Burgunder Philipp der Gute in Paris getroffen und sich, mehr als zehn Jahre, nachdem die Stadt durch Verrat in die Hand der Burgunder gefallen war, von der Bevölkerung Treue und Loyalität schwören lassen. Im Gegenzug versprachen der englische Regent und der burgundische Herzog der Stadt Paris ihren Schutz. Danach trafen die aus England angeforderten Truppen in der Stadt ein. So hatten die Pariser sich in Verteidigungs­ bereitschaft bringen können, und es gelingt Jeanne nicht, die Bürger durch ihr Charisma zur Kapitulation zu bewegen. Sie wird durch einen Armbrustbolzen am Oberschenkel erneut verwundet, bleibt jedoch im 34

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Kampf. Ihre Strategie, den Wassergraben vor der Stadtmauer mit Reisigbündeln anzufüllen, um die Mauer selbst bestürmen zu können, scheitert. Ein allgemeiner Rückzug der Franzosen setzt ein. Am nächsten Tag gibt der König den Befehl zum Abbruch des Unternehmens und zum Rückzug der Truppen. Vor ihrem Weggang legt Jeanne in der Abteikirche von Saint Denis vor dem Marienbild und den Reliquien eine vollständige Rüstung mit einem Schwert als Votivgabe nieder. Am 21. September 1429 erreicht die Armee Gien an der Loire und wird dort aufgelöst. Mit den Engländern war ein Waffenstillstand geschlossen worden. Trotz dieser traurigen Situation wird Jeanne mit ihrer gesamten Familie im Dezember in den Adelsstand der d’Arc erhoben. Bis in das Frühjahr des Jahres 1430 führt sie das Leben eines Höflings im königlichen Wasserschloss Sully-sur-Loire. Als Karl nach wie vor zögert, den Krieg wieder aufzunehmen, überwerfen sich der König und das Mädchen. Jeanne verlässt Sully-sur-­Loire, begleitet von ihren Getreuen und einer Truppe von 200 Mann, über die sie ein selbstständiges Kommando führte. Sie zieht nördlich der Seine über Melun, Senslis und Crépy-en-Valois nach Compiègne. Mit Billigung, aber ohne aktive Unterstützung des Königs kämpft sie zur Ermutigung oder Entsetzung königstreuer Städte. Ein klares Konzept und die alte Zielstrebigkeit lässt ihre Kampagne im Frühjahr 1430 jedoch nicht erkennen. Außer der Einnahme des kleinen Ortes Saint-Pierre-le-Moûtier25 gelingt ihr nur der Sieg über den burgundischen Feldhauptmann Franquet d’Arras, den sie bei Lagny-sur-Marne26 Anfang Mai 1430 gefangen nimmt. Kurz zuvor im April 1430 war in Paris, das nach wie von den verbündeten Engländern und Burgundern besetzt war, eine Verschwörung von Anhängern Karls aufgedeckt worden, an der auch Angehörige des Parlaments und Kaufleute beteiligt waren. Man hatte französische Truppen in die Stadt lassen wollen. Mehr als 150  Verschwörer wurden verhaftet, mehrere hingerichtet; andere flohen. Auch Jeanne hatte offensichtlich Kontakte zu der Verschwörergruppe. Sie versucht, einen Mitverschwö25 Im Ort (heute verortet im Département Nièvre, Arrondissement Nevers) findet sich ein Denkmal, das Jeanne als Liberatrice de Saint-Pierre-le-Moûtier zeigt. 26 28  km östlich von Paris gelegen, gehört das Städtchen heute zum Département Seine-et-Marne, Arrondissement Toray.

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rer, Jacquet Guillaume, Wirt des Gasthauses „Zum Bären“ in Paris, gegen ihren Gefangenen d’Arras auszulösen. Als sie erfährt, dass der „seigneur de l’Ours/Bärenwirt“ bereits hingerichtet worden war, liefert sie – entgegen ritterlichen Gepflogenheiten, nach denen sich der Feldhauptmann gegen ein Lösegeld hätte freikaufen können – ihren Gefangenen an den bailli/Schultheiß und weltlichen Richter von Senlis aus. Dieser verurteilt ihn wegen verschiedener Vergehen zum Tode und lässt ihn enthaupten. Mitte Mai erleiden Jeannes Truppen eine Niederlage bei der Pont-l’Évêque, einer bei Noyon über die Oise führenden Brücke. Als sie dort die Nachricht erhält, Compiègne werde von den Burgundern belagert, zieht sie unverzüglich dorthin zurück und gelangt am 23. Mai 1430 frühmorgens mit ihren Truppen unbemerkt von den am jenseitigen Ufer der Oise lagernden Burgundern in die Stadt. Bei einem Ausfall aus der Stadt am Nachmittag sehen sich die französischen Truppen jedoch unerwartet einer Übermacht von Feinden gegenüber: Das etwa drei- bis viertausend Mann starke Heer Philipps des Guten vereint Pikarden27 und Engländer sowie Burgunder und Flamen28 unter Johann II. von Luxemburg (1392– 1441), Graf von Guise und von Ligny und Mitglied des herzoglichen Rates Philipps des Guten. Die Rückkehr in die Stadt ist Jeannes Truppen abgeschnitten, weil der Kommandant der Bürgermiliz von Compiègne angesichts der prekären Situation die Zugbrücke hatte hochziehen und das Stadttor schließen lassen. Jeanne wird von einem Vasallen Johanns II. von Luxemburg an ihrer huque, einem kurzen Überwurf, der über der Rüstung getragen wurde, vom Pferd gerissen und gefangen genommen. Wenig mehr als ein Jahr nach der Befreiung von Orléans und dem Sieg von Patay ist Jeannes kriegerische Mission beendet. Sie ist in der Hand eines Verbündeten der Engländer. Diese wollen vor allem eines: Rache nehmen an dem Mädchen, das sie militärisch gedemütigt hat. Aber dies gelingt nicht einfach mit einem Schwertstreich. Die Inquisition beansprucht die Jungfrau für sich. Die mittelalterliche Maschinerie des Rechts, eine Gemengelage von kirchlichem und weltlichem Recht, beginnt zu arbeiten.

27 Die Picardie war während des Hundertjährigen Krieges an Burgund gefallen. 28 Die große Grafschaft Flandern war zu dieser Zeit durch Heirat mit Burgund („burgundische Niederlande“) vereinigt (s.o. S. 25 f.).

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Gefangenschaft und Vorbereitung des Prozesses Nach ihrer Gefangennahme wird Jeanne in das Schloss Johanns II. von Luxemburg Beaulieu-les Fontaines bei Noyon, nördlich von Compiègne verlegt. Von dort unternimmt sie ihren ersten Fluchtversuch, der scheitert. Wohl aus diesem Anlass verlegt Johann II. von Luxemburg Jeanne im Juli 1430 in seine starke Festung Beaurevoir zwischen Cambrai und St. Quentin, von wo sie ein zweites Mal zu fliehen versucht, diesmal durch einen Sprung aus einem Turm des Schlosses aus einer Höhe von wohl 20 Metern. Sie überlebt den Sturz, verletzt sich jedoch schwer. Bereits im Mai 1430, unmittelbar nach Jeannes Gefangennahme, hatte Martin Billorin29, Generalvikar des Inquisitors von Frankreich, Philipp den Guten ersucht, die Jungfrau der Inquisition zu unterstellen. Der ­Herzog von Burgund hatte darauf nicht reagiert, möglicherweise, weil Jeanne sich zu dieser Zeit noch im Gewahrsam Johanns II. von Luxemburg befand. Mitte Juli wendet sich die dem Lager Burgunds zugehörige Universität von Paris, Hüterin der Glaubenstreue und in Paris und Umgebung seit 1428 selbst über inquisitorische Befugnisse verfügend, an Philipp den Guten und Johann II. von Luxemburg, damit Jeanne entweder an den Inquisitor oder an den Bischof von Beauvais, Pierre Cauchon (um 1371–1442), in dessen Diözese sie gefangen genommen worden war, ausgeliefert würde. Cauchon persönlich erscheint am 14. Juli 1430 im Hauptquartier Philipps des Guten vor Compiègne, um das Ersuchen der Universität sowie ein eigenes Schreiben mit der Bitte zu überreichen, Jeanne an den englischen König Heinrich VI. zu überstellen, damit dieser sie der Kirche zur Durchführung eines Glaubensprozesses ausliefern könne. Der Bischof bietet im Namen Heinrichs eine Zahlungsgarantie von 10.000 Francs für die Überlassung der Gefangenen  – ein Betrag, für den nach französischem Kriegsrecht dem französischen(!) König jeder Kriegsgefangene auszuliefern war. Nach langwierigen Verhandlungen akzeptiert Johann II. von Luxemburg und erhält das Lösegeld am 6. Dezember 1430. 29 Die genauen Lebensdaten sind nicht bekannt.

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Gefangenschaft und Vorbereitung des Prozesses

Jeanne ist bereits im September 1430 von Beaurevoir nach Arras in die Residenz der burgundischen Herzöge verlegt worden und steht jetzt in direktem Gewahrsam Philipps des Guten. Mitte November wird sie von Arras auf die Festung Le-Crotoy an der Somme-Mündung gebracht, dann über mehrere weitere Stationen nach Rouen, wo der Konvoi mit der Gefangenen kurz vor Weihnachten anlangt und Jeanne in ihr Gefängnis eingewiesen wird, einen wohl üblicherweise als Kerker genutzten Raum in einem der acht Türme des Schlosses Bouvreuil. Der Turm blickt auf die Felder (Tour vers les champs), nicht zur Stadt, und heißt später in der Bevölkerung „Tour de la Pucelle“, bevor ihn, stark beschädigt, die Ursulinen (sie hatten das Gelände erworben, um dort Gärten anzulegen) im Jahr 1809 abreißen ließen. Auf Schloss Bouvreuil – also nicht in England – leben zu dieser Zeit der neunjährige englische Thronfolger Heinrich VI.30, dessen Großonkel Heinrich Beaufort (1375–1447, Bischof von Winchester 1404–1447; Lordkanzler von England 1403–1405; 1413–1417 und 1424–1426; Kardinal seit 1427), Regent Herzog von Bedford (an die sich Jeanne vor anderthalb Jahren in ihrem „Brief an die Engländer“ gewandt hatte) sowie der Gouverneur Heinrichs VI. und seit 1427 Festungskommandant von Rouen Richard von Beauchamp (1382–1439), Graf von Warwick. In ihrer (weltlichen) Gewalt befindet sich Jeanne seit ihrer Auslieferung. Die Engländer hatten Rouen seit Heinrich V. zu einem zweiten London und einer „Bastille d’Angleterre“, einem Eckpfeiler Englands, ausgebaut, so dass die Stadt nicht zuletzt aus Sicherheitsgründen für den Gewahrsam einer Person wie Jeanne die besten Voraussetzungen bietet. Pierre Cauchon, Bischof von Beauvais, hat seine örtliche Zuständigkeit als geistlicher Richter bereits in seinem am 14.  Juli 1430 überreichten Schreiben an Johann  II. von Luxemburg und den Herzog von Burgund damit begründet, dass Jeanne auf dem Gebiet seiner Diözese gefangen genommen worden sei. Da ihr Prozess nun außerhalb der Grenzen von Beauvais stattfinden sollt, muss dem Bischof in der Erzdiözese und der Stadt Rouen „Territorium“ gewährt werden. Das wegen der Vakanz des 30 Heinrich war im November 1429, kurz vor seinem 8. Geburtstag, zum König von England gekrönt worden; sein sich anschließender zweijähriger Frankreichaufenthalt gipfelte am 16. Dezember 1431 in seiner Krönung auch zum König von Frankreich.

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Gefangenschaft und Vorbereitung des Prozesses

erzbischöflichen Stuhles zuständige Kapitel der Kathedrale kommt einem entsprechenden Antrag Cauchons am 28. Dezember 1430 nach und spricht Cauchon dieselben Rechte in dem anstehenden Prozess zu, wie er sie als zuständiger geistlicher Richter in seiner eigenen Diözese gehabt hätte. Eine andere Wahl hatte das Kapitel kaum, denn eine Weigerung hätte den Gang der Inquisition behindert, zumindest die Durchführung des Verfahrens verzögert und ihrerseits den Verdacht der Häresie und damit die Gefahr der Exkommunikation heraufbeschworen. In dem Brief des Kapitels an den Bischof von Beauvais vom 28. Dezember 1430, der sich bei den umfangreichen Prozessakten befindet und den klassischen Aufbau eines (kirchlichen) Verwaltungsakts zeigt, ist zur rechtlichen Begründung der positiven Entscheidung lakonisch darauf verwiesen, dass diese „dem Recht entspricht“.31 Bevor allerdings der Prozess in Glaubenssachen gegen die Jungfrau beginnen kann, muss diese formell der kirchlichen Gewalt überstellt ­werden. In den Prozessakten32 findet sich der Erlass des englischen Thronfolgers vom 3. Januar 143133, der entsprechend verfügt. An Haftort und -bedingungen ändert sich für Jeanne dadurch nichts. Durch die Anordnung und Zustimmung Heinrichs ist der Bischof von Beauvais als zuständiger kirchlicher  Richter ermächtigt, das Mädchen  – innerhalb der Mauern von Schloss B ­ ouvreuil – jederzeit aufzusuchen oder vorführen zu lassen, „damit er sie befragen, prüfen und ihr, Gott vor Augen, nach der Vernunft sowie den göttlichen Rechtsregeln und den heiligen Canones den Prozess machen“34 könne. Dies ändert nichts daran, dass das Mädchen materiellrechtlich Gefangene des weltlichen Machthabers bleibt. Heinrich – der neunjährige Thronfolger – behält sich durch seinen Regenten Bedford vor, dass Jeanne in seine alleinige Gewalt zurückfällt, falls sich die Vorwürfe in einem Rechtsstreit in Glaubenssachen nicht bestätigen sollten. 31 Vgl. (nur) zusammenfassend zur Zuständigkeit des Gerichts auch die Anklageschrift vom 27. März 1431 (Tisset I, 191, s.u. S. 93 ff.). 32 Für die Akten und Dokumente zum Verurteilungsprozess haben die Verfasser auf die Ausgabe von Pierre Tisset (avec le concours de Yvonne Lanhers), Procès de condamnation de Jeanne d’Arc, 3 Bände, Paris 1960–1971, zurückgegriffen. 33 Tisset I, 14–15. 34 A.a.O., 15.

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Panorama des Prozesses Der 20 Wochen dauernde kirchliche Prozess gegen Jeanne d’Arc ist nach modernen Maßstäben ein „Sensationsprozess“, so außergewöhnlich ist die Person der Angeklagten, sind die ihr angelasteten Verfehlungen sowie die zuvor beschriebenen politischen Bezüge. Der so genannte Verurteilungsprozess beginnt am 9.  Januar 1431 mit der Causa lapsus, dem Verfahren wegen Verfehlungen gegen den Glauben. Dieses zerfällt in zwei Abschnitte: in das vorbereitende „amtswegige“ oder Offizialverfahren35, den Processus praeparatorius vel officio, in dem das Inquisitionsgericht vom 9. Januar bis zum 25. März 1431 den Sachverhalt von Amts wegen ermittelt und dazu Jeanne intensiv verhört, und in das sich anschließende ordentliche Verfahren, den Processus ordinarius, der am 26.  März 1431 mit der Anklageerhebung durch den „Promotor“/Kirchenanwalt beginnt und am 24. Mai 1431, nachdem Jeanne ihren Irrtümern abgeschworen hatte, mit der Verkündung des Urteils auf lebenslanges Gefängnis „mit dem Brot des Schmerzes und dem Wasser der Trauer“ endet. An dieses erste Verfahren schließt sich am 28.  Mai 1431 nach Jeannes Rückwendung zu ihren „Stimmen“ ein zweites „wegen Rückfalls“ an, die Causa relapsus. In diesem Verfahren hat das Gericht lediglich über die Rechtsfolgen des durch gerichtliche Augenscheinsnahme festgestellten Rückfallstatbestandes (u.a. hatte Jeanne erneut Männerkleidung angelegt) zu entscheiden, so dass bereits am dritten Tag nach der Rückfallsfeststellung, am 30. Mai 1431, auf dem Altmarkt von Rouen das Urteil gesprochen, Jeanne als rückfällige Ketzerin exkommuniziert und sofort der weltlichen Gewalt/bras ­séculier, in diesem Fall der englischen Justiz im besetzten Frankreich, zum Vollzug des kirchengerichtlichen Urteils 35 Als Offizial wurde im 13. Jahrhundert der Stellvertreter des Bischofs in der kirchlichen Gerichtsbarkeit bezeichnet, dessen Tätigkeit durch das Anwachsen der Rechtstreitigkeiten notwendig geworden war. Zunächst von Fall zu Fall delegiert, entwickelte sich der Offizial zum abberufbaren bischöflichen Beamten, der als gelehrter Einzel-Berufsrichter in der bischöflichen Diözese die umfassende Gerichtsbarkeit ausübte und an der Spitze der bischöflichen Justizbehörde, des Offizialiats, stand (vgl. Zapp, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 6, s.v. Offizial, Sp. 1370 f.).

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Panorama des Prozesses

durch Hinrichtung übergeben wurde. Denn die Kirche durfte selbst kein Blut vergießen: Ecclesia abhorret a sanguine.36 Ein weiteres gesondertes weltliches (Gerichts-)Verfahren mit einem förmlichen Urteil findet nicht statt. Vielmehr weist das zuständige weltliche Exekutivorgan, der bailli/Schultheiß der Bastille d’Angleterre, den Henker und seine Knechte vor Ort der kirchlichen Urteilsverkündung unmittelbar an, ihres Amtes zu walten. Dies bedeutet, wie näher zu erläutern sein wird, keinen Rechtsbruch, sondern belegt, wie einig sich Kirche und weltliche (englische) Machthaber in dieser Rechtssache waren, und wie stark der Drang der Engländer war, gegen die verhasste Jeanne endlich das (aus dem kirchlichen Verfahren mit dem Strafausspruch der Exkommunikation unmittelbar und automatisch folgende) Todesurteil zu vollstrecken. Die Jungfrau von Orléans wird sofort zum vorbereiteten Scheiterhaufen geführt und stirbt im Feuer auf dem Altmarkt. Ausschließlich mit diesem Verurteilungsprozess beschäftigen wir uns. Der folgende Prozess zur Nichtigerklärung dieser Verurteilung, der „Rechtfertigungs-“ oder „Nichtigkeitsprozess“ vom 7. November 1455 bis zum 7.  Juli 1456, wird nur im Ausblick beziehungsweise insoweit betrachtet, als er – etwa mittels Zeugenaussagen von Beteiligten am Verurteilungsprozess – eine klarere Darstellung und gegründete Analyse des Verurteilungsprozesses ermöglicht.

36 Vgl. Innozenz III. (Papst 1198–1216) in seiner Dekretalis „Sententiam sanguinis“ (X.3.50.9, in: Corpus Iuris Canonici [CIC] II, Sp. 659 f.). Eine Dekretalis/ littera bzw. epistola decretalis ist ein päpstliches Antwortschreiben auf eine Anfrage zumeist einer Einzelperson zu einer kirchliche Rechtsfrage; im weiteren Sinne werden auch andere Papstschreiben unter diesen Begriff gefasst (vgl. van de Wouw, in: Lexikon des Mittelalters, Bd.  3, s.v. Dekretalen, Sp. 655 f.). Diese Dekretalis ist in die Dekretalensammlung Papst Gregors IX. (Papst 1227–1241) aus dem Jahr 1234 aufgenommen, den so genannten „Liber extra“. Die Sammlung wird als „X“ zitiert; dann folgen in absteigender Reihenfolge in arabischen Ziffern die Ordnungszahlen des Buches der Sammlung, dann des Titels und des Kapitels.

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Vorwurf und Anklage Der Vorwurf im kanonischen Strafverfahren lautete auf „Häresie“: Abfall vom rechten christlichen Glauben und hartnäckiges Festhalten am Irrtum; beides musste nach außen manifest geworden sein. Unter „Irrglauben“ verstanden im Anschluss an Thomas von Aquin (1224/5–1274) die Inquisitoren in unterschiedlichen Systematisierungen eine breite Vielfalt von glaubenswahrheitswidrigen Auslegungen der Heiligen Schrift und Abweichungen von der orthodoxen katholischen Lehre, die sich ihrerseits mit Gestalt und Idee dieser Kirche beständig veränderten.37 Die Handbücher der Inquisition beschrieben tatbestandsähnliche Fallgruppen, wann von einem Glaubensabfall auszugehen war, z.B. die Simonie (den Verkauf eines kirchlichen Amtes, von Pfründen, Reliquien oder anderen „heiligen“ Gegenständen); die Gotteslästerungen (etwa die Leugnung des Dogmas von der unbefleckten Empfängnis Marias); Hellseherei oder Wahrsagerei (unter Beschwörung des Teufels oder Nutzung geweihter Gegenstände o.ä.); das Anrufen von Teufeln oder Dämonen; das Schisma (Schismatiker waren abtrünnige Christen, die die Gemeinschaft mit der Kirche aufgeben, ohne formell vom Glauben abzufallen). Bereits der Erlass Heinrichs VI. vom 3. Januar 1431 zur Freigabe der gefangenen Jeanne für den Inquisitionsprozess erhob als „hinreichend notorisch und allgemein bekannt“ den Vorwurf, Jeanne habe Männerkleidung angelegt und „grausame Mordtaten“ begangen; sie habe dem einfachen Volk in verführerischer Absicht verkündet, sie sei von Gott gesandt und habe Kenntnis von den göttlichen Geheimnissen. Sie habe darüber hinaus „andere, sehr gefährliche und für unseren heiligen katholischen Glauben sehr schädliche und anstößige dogmatische Lehren 37 Das Aufbrechen dieser bruchlos zementierten Einheitlichkeit des lateinischen Christentums in der Institution der Katholischen Kirche, die zur Sicherung und Perpetuierung ihres (Glaubens-)Wahrheitsanspruchs bekanntlich Ketzer verbrennen ließ, gelang erst Martin Luther (1483–1546), der durch seine 95 Thesen vom 31. Oktober 1517 zudem „die Verschränkung von Sakralem und Säkularem, Religion und Gesellschaft, Priesterlichem und Politischem“ sprengte (vgl. Heinz Schilling, 1517. Weltgeschichte eines Jahres, München 2017, 303). Die Verfugung von geistlicher und weltlicher Gewalt bei der ­Bekämpfung des Irrglaubens wird in der Causa d’Arc bei der Hinrichtung Jeannes deutlich werden (s.u. S. 170 ff.).

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Vorwurf und Anklage

verbreitet“. Wegen ihres Aberglaubens, ihrer falschen dogmatischen Behauptungen und anderer Verbrechen gegen die göttliche Majestät hätten „mehrere sie für verdächtig, notorisch und diffamiert ihres guten Leumunds verlustig) erklärt“38. Diese „Diffamierung“ genügt nicht nur für die Überstellung Jeannes an die Inquisition, sondern im Sinne eines „Anfangsverdachts“ auch für die Einleitung des gerichtlichen Verfahrens. Das öffentliche Gerücht/der clamor publicus eines Fehlverhaltens, eine clamosa insinuatio, infamia oder (mala) fama39, ausgehend von angesehenen Bürgern − nicht von Gegnern des Beschuldigten –, konnte eine kirchengerichtliche Untersuchung wegen Irrglaubens, eine inquisitio, anstoßen, ob die fama wahr sei, ohne dass es (ähnlich wie bei „offenkundigen Delikten“40) einer vorherigen Anzeige oder Anklage bedurfte. Die fama trat hier also als kollektive, öffentliche Überzeugung von einer Glaubensverfehlung an die Stelle eines Anklägers. Zuvor praktizierte man das aus der weltlichen Gerichtsbarkeit übernommene Anklageoder Akkusationsverfahren, in dem das Gericht auf eine private oder öffentliche Klage hin tätig wurde. Neben dieses Verfahren trat seit dem 4. Laterankonzil im Jahr 1215 das Denunziations- oder Delationsverfahren, in dem der Richter nach seinem Ermessen einer (privaten oder öffentlichen) Anzeige nachging. Die anzeigende Person erhob keine Klage, sondern setzte das Verfahren lediglich in Gang, dessen Herr der Richter war. Der „Denunziant“ konnte dem Prozess beitreten und Beweisangebote vorlegen. Das Inquisitionsverfahren, seit Ende des 12. Jahrhunderts von Papst Innozenz III. unter dem Eindruck weit verbreiteter innerkirch38 Tisset I , 14–15. 39 Vgl. die Dekretalis Papst Innozenz’ III. „Qualiter et quando“ aus dem Jahr 1216 (X.5.1.23, in: CIC II, Sp. 745 ff. [746]). 40 „Manifesta accusatione non indigent./Offenkundige Tatsachen brauchen keine Anklage.“ Der Rechtsgrundsatz entstammt dem so genannten „Decretum Gratiani“ (Teil  2, C. (= Causa) 2 q.(= quaestio) 1 c. (= caput/canon) 15, in: CIC I, Sp. 445), das um 1140 von Magister Gratian (gegen Ende des 11. Jahrhunderts – um 1159), wahrscheinlich einem Ordensmann, aus überlieferten kirchenlichen Rechtsquellen zusammengestellt wurde. Mit der Veröffentlichung des Decretums von Magister Gratian beginnt das Zeitalter des klassischen Kirchenrechts; es war das erste Handbuch der neuen kanonistischen Rechtswissenschaft (zu Details vgl. Erdö, 105  ff.) und steht am Anfang des Corpus Iuris Canonici.

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Vorwurf und Anklage

licher Missstände, etwa der Beeinflussung von Wahlen bzw. Ämtervergaben durch Geldzahlungen (Simonie), eingeführt und seitdem beständig fortentwickelt41, war ein ebenfalls beim kirchlichen Gericht angesiedeltes (Offizial-)Verfahren ohne Parallele im römischen Recht, dessen Modell im Sinne einer übergeordneten „Inquisition“ Gottes, so Innozenz III., auf die Heilige Schrift zurückginge42. In ihrer ursprünglichen Ausrichtung auf innerkirchliche Missstände waren sowohl der Delationsprozess wie die Inquisitio weniger Strafprozesse als auf Selbstreinigung gerichtete (kirchliche) Verwaltungsverfahren  – eine Art Disziplinarverfahren, das dem Schutz der christlichen Gemeinschaft und der religiösen Sittlichkeit mit geistlichen Mitteln diente. Insofern waren ihre Zwecke mit denen des modernen (staatlichen oder kirchlichen) Disziplinarrechts vergleichbar, die die Funktionsfähigkeit und das Ansehen des Dienstes wiederherstellen sollen. Mit der Ketzerverfolgung jedoch wandelten sich die Verfahren zu Strafprozessen. Damit überschritt die Kirche die Grenzen des innerkirchlichen Bereichs und erweiterte ihren Zuständigkeitsbereich auf einen zuvor ausschließlich dem Staat vorbehaltenen. Die enge Verflechtung von Kirche und Staat wird deutlich, wenn die staatliche Exekutive auf die Feststellung eines schweren Häresietatbestandes durch ein kirchliches Gericht in ­einem Automatismus mit Strafausspruch und Vollstreckung der Todesstrafe reagierte, die von der Kirche in ihrem Urteil explizit nicht verhängt worden war; denn dieses tenorierte regelmäßig nur die Exkommu­ nikation.

41 Vgl. dessen Dekretalen „Licet heli“ (X.5.3.31; vgl. CIC II, Sp. 760 f.), „Qualiter et quando“ von 1216 (X.5.1.24, vgl. CIC II, Sp. 745 ff.) und „Per tuas literas“ von 1213 (X.5.3.32, vgl. CIC  II, Sp.  761  f.); insgesamt wurde das Verfahren durch Canon  8 De inquisitionibus des 4. Laterankonzils im Jahr 1215 (vgl. elektronische Quelle: www.internetsv.info) gebilligt (vgl. Müller, 900). Zu Details vgl. Jerouschek/Müller, 14 ff. 42 Dekretalis Qualiter et quando (s. Anm. 34): „… ex auctoritatibus veteris et novi testamenti …“ Es folgen Zitate aus: Genesis 18,21, wo Gott über Sodom und Gomorrah sagt: „Darum will ich hinabfahren und sehen, ob sie alles getan haben nach dem Geschrei, das vor mich gekommen ist, oder ob’s nicht so sei, damit ich’s wisse.“; und aus dem Lukasevangelium 16,2 (Vom ungetreuen Haushalter): „Und er ließ ihn rufen und sprach zu ihm: Was höre ich da von dir? Tu Rechnung von deinem Haushalten! Denn du kannst hinfort nicht Haushalter sein.“

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Vorwurf und Anklage

Als am 9. Januar 1431 mit einer formelhaften einleitenden Erklärung der beiden Richter die Causa lapsus gegen Jeanne d’Arc beginnt, der Prozess wegen Verfehlungen gegen den Glauben, gibt es nur die mala fama gegen Jeanne, aber noch keine Anklageschrift, nach deutschen strafprozessualen Maßgaben beruhend auf staatsanwaltlichen Ermittlungen und von einem Gericht zur Hauptverhandlung zugelassen. Ihrer Vorbereitung dient der erste Teil des Verfahrens. Das Gericht führt das Verfahren gegen Jeanne zunächst von Amts wegen als Inquisitio ex officio, der ursprünglichen Form des Inquisitionsverfahrens. In diesem ersten, vorbereitenden Prozessabschnitt, dem Processus praeparatorius, obliegt es ihm selbst, den durch den clamor publicus aufgebrachten Sachverhalt aufzuklären und anstehende prozessleitende Entscheidungen zu treffen. Ziel dieser Verfahrensstufe ist es, den clamor publicus, die Diffamierung, derart zu konkretisieren, dass eine förmliche Anklageerhebung möglich wird. Einen formellen Beschluss des zuständigen Inquisitionsrichters über die Ausgestaltung als amtswegiges Verfahren gibt es nicht. Mit der Auslieferung Jeannes an Cauchon war das Verfahren angestoßen. Ob sich Cauchon in Ausübung seines Ermessens zunächst gegen den Parteiprozess und für die ursprüngliche Form des Inquisitionsprozesses, das Offizialverfahren ohne die Aufgabenteilung mit einem Promotor/ Kirchenanwalt, entschied, weil der Ablauf straffer und effektiver war? Die Akten geben hierüber keinen Aufschluss. Einen Verfahrensverstoß bedeutete dieses Vorgehen nicht; es stand dem zuständigen Richter frei, die eine oder die andere prozessuale Ausgestaltung zu wählen.

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Die Organe des Prozesses Die Staatsanwaltschaft Das ordentliche Verfahren in Glaubenssachen, wie es sich im 15. Jahrhundert längst verfestigt hatte und in Handbüchern für Inquisitoren detailliert geregelt war43, sah regelmäßig neben dem Gericht einen Generalbevollmächtigten der Kirche, den Promotor iustitiae vor, welcher in Aufgabenteilung mit dem Gericht die Beweisführung gegen die beschuldigte Person übernahm – ohne dass allerdings hierdurch die richterliche Herrschaft über das Verfahren einschließlich der Aufklärung des Sachverhalts eingeschränkt worden wäre. Die Funktion des Promotors bestand in der Beförderung des Inquisitionsverfahrens (promovere/voranbringen) und der Unterstützung und Assistenz des Gerichts bei der Beweisführung gegenüber der beschuldigten Person. Er war insofern Partei, kirchlicher Anwalt und Interessenvertreter (solemnis advocatus). Eine Verpflichtung, wie ein Staatsanwalt als objektiver Sach­walter auch entlastende Umstände zu ermitteln (§ 160 Absatz 2 Strafpro­zessordnung), entsprach nicht seiner Rolle, die insofern im modernen prozessualen Gefüge kein echtes Pendant hat. Eine Staatsanwaltschaft nach unserem Verständnis gab es im Glaubensprozess nicht. Aufgabe dieses „Kirchenanwalts“ im Fall eines clamor publicus wie hier wäre gewesen, zunächst das Vorliegen einer Diffamierung, einer infamia, zu beweisen. Der beschuldigten Person hätte es oblegen, den Gegenbeweis zu führen, dem Gericht, nach Anhörung beider Seiten zu entscheiden, ob bzw. mit welchen Vorwürfen das Verfahren fortgeführt werden solle. In der Causa Jeanne d‘Arc war der Verlauf ein anderer: Der Vorsitzende des Inquisitionsgerichts, Bischof Pierre Cauchon, bestellt noch am ersten Prozesstag, dem 9. Januar 1431, Jean d’Estivet44, den 43 Vgl. z.B. Nicolaus Eymerich/Francesco Peña, Directorium inquisitorum, Rom 1587 (s.u. Anm. 119). 44 Geburtsdatum und Herkunft d’Estivets sind unbekannt. Ein Domherr oder Kanoniker war ein weltgeistliches Mitglied eines (Dom-)Kapitels, zu dieser Zeit eine autonome kirchliche Körperschaft mit eigener Vermögensmasse, der das Recht zukam, den Bischof zu beraten, bei einer Sedisvakanz die Diözese zu verwalten sowie einen neuen Bischof zu wählen.

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Die Organe des Prozesses

Domherrn/Canonicus von Beauvais und Bayeux und gleichzeitig für Beauvais zuständigen Promotor, für das Verfahren gegenüber Jeanne in dieses Amt. Im Ernennungsschreiben bezeichnet der Vorsitzende ihn als: „promotorem officii nostri/Unterstützer unseres Amtes“.45 Die Bestellung bleibt jedoch zunächst ein formaler Akt und d’Estivet im ersten Prozessabschnitt fast unbeteiligt. Allein das Inquisitionsgericht ermittelt den Sachverhalt von Amts wegen.

Das Gericht Der dem Gericht vorsitzende 60-jährige Pierre Cauchon, studierter Theologe und Jurist mit einschlägiger Erfahrung in Glaubensprozessen, war ein brillant begabter Diplomat und Politiker, der zu Beginn des Prozesses im Zenit einer herausragenden Karriere stand. Seit 1409 als Rektor der Pariser Universität Ratgeber des Burgunders Johann Ohnefurcht, hoch angesehen bei Papst Martin  V. (1367–1431), dessen päpstlicher Referent er im Jahr 1419 wurde, war er im März 1420 von der Sorbonne gemeinsam mit deren ehemaligem Rektor Jean Beaupère († um 1462/3) entsandt worden, um den geisteskranken Karl VI. bei der Vor­bereitung des Vertrags von Troyes zu beraten. Als er im August 1420 zum Bischof von Beauvais gewählt wurde, erlangte er damit gleichzeitig die Würde eines Grafen und Pair. Die zwölf geistlichen und weltlichen Pairs de France wirkten, in der Bevölkerung hochgeschätzt, bei der ­Bestimmung des Thronfolgers und sämtlichen wichtigen Regierungs­entscheidungen mit. Sie saßen beim Sacre, bevorzugt vor den übrigen adligen Würdenträgern, in unmittelbarer Nähe des Königs. Allerdings ruhten Cauchons Rechte als Pair, weil er  – auf der Basis des Vertrags von Troyes  – zur Seite der Engländer hielt. Der Burgunder Philipp der Gute nahm als Gast an Cauchons Einführung in das bischöfliche Amt teil. Zum Testamentsvollstrecker Karls VI. bestimmt, übernahm der Bischof, beginnend mit dem Jahr 1423, mehr und mehr Aufgaben für die englische Krone. Er leitete seit Februar 1428 die Vorbereitungen für die militärische Offensive der Engländer zur Eroberung der letzten zum Dauphin haltenden Ortschaften in der Champagne, im folgenden Jahr war er als kirchlicher Richter in Abgabensachen tätig. Im Mai 1429 hatte er noch die Feierlich45 Tisset I, 19.

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keiten zum Fronleichnamsfest in Reims organisiert, als ihn der Vormarsch der französischen Truppen nach dem Fall von Orléans zur Flucht nach Rouen nötigte, auf dessen erzbischöflichen Stuhl er sich Hoffnung machte. Cauchon war als „Rat des Königs von England“ Mitglied im Kronrat und Hofkaplan der englischen Königin. Bis zur ­Gefangennahme Jeannes hatte er sich (zumindest öffentlich) nicht als Gegner der Pucelle zu Wort gemeldet. Es liegt nahe, dass sich aus seiner politischen Positionierung für die anglo-burgundische Allianz hin­ reichende Anhaltspunkte für eine Besorgnis der Befangenheit im formellen Rechtssinne ableiten ließen, weil er in seiner Meinung vorgefasst erscheinen konnte und von vornherein beabsichtigen mochte, den Prozess – entgegen seinen Amtspflichten als Bischof und kirchlicher Richter  – mit einer negativen Entscheidung gegenüber dem Mädchen ab­ zuschließen. Ein Verteidiger dürfte diesen Gesichtspunkt aufgegriffen haben. Ob er in der Sache berechtigt war, mag sich aus der weiteren Darstellung ergeben. Als zweiter, gleichberechtigter Richter trat dem Verfahren am 13. März 1431 der Dominikaner Jean Le Maistre, Prior des Dominikanerkonvents in Rouen, bei, bestellter Vertreter (Vikar/Sub-/Vizeinquisitor) des Großinquisitors von Frankreich, Jean Graverent, für Stadt und Diözese Rouen. Das Zusammenwirken von Inquisitor und örtlich zuständigem Diöze­sanbischof in Glaubenssachen war, um missbräuchliche Maßnahmen der Prozessleitung auszuschließen, seit Anfang des 14.  Jahrhunderts durch päpstliche Verfügung vorgeschrieben. Subinquisitor Le Maistre hatte zunächst gegenüber der Aufforderung Cauchons zum ­Verfahrensbeitritt vom 19.  Februar 1431 Bedenken wegen seiner Zuständigkeit geäußert, weil es sich bei dem bischöflichen Gericht um das  Gericht der Diözese Beauvais handle, welches lediglich seinen ­Sitzungsort für dieses Verfahren in Rouen habe, während seine, Le Maistres, persönliche Bevollmächtigung sich auf die Diözese Beauvais nicht erstrecke. Cauchon erwirkte daraufhin bei Graverent, der persönlich durch einen anderen Glaubensprozess verhindert war, eine Ergänzung der Vollmacht Le Maistres, um formal sicherzustellen, dass das Gericht ordnungsgemäß besetzt war. Es gibt kein Indiz für ein besonderes Interesse Cauchons gerade an der Person Le Maistres für dieses Amt. Le Maistre trat nach Akteneinsicht ohne weiteres dem Verfahren offiziell bei, nachdem er an sämtlichen sechs öffentlichen Sitzungen des vorbe48

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reitenden Offizialverfahrens bereits vorsorglich als Zuhörer teilgenommen hatte.46 Bei der Konstituierung seines Gerichts am 9. Januar 1431 bestimmt und bestellt der Erste Richter den Magister der Künste und Lizentiaten47 des kanonischen Rechts Jean de La Fontaine48 zu seinem Berater, Beauftragten/commissarius und Vernehmungsrichter. Als Protokollführer setzt er Guillaume Colles, genannt Boisguillaume (geb. um 1390), und Guillaume Manchon (geb. um 1396–1456) ein, beide Kleriker mit niederen Weihen und Notare bei der erzbischöflichen Justizbehörde von Rouen, dem Offizialat. Auf sie49 geht die zumeist hohe Dignität und Gründlichkeit des amtlichen Prozessprotokolls, le procès-verbal, zurück. Das Protokoll stellt keine unmittelbare Mitschrift während der Sitzungen des Gerichts dar, weder Stenogramm noch Wortprotokoll, sondern entstand im Anschluss daran aus Austausch und Vergleich der Notizen, Aufzeichnungen, Anmerkungen und Eindrücke der Protokollanten durch die Hand Manchons. Dabei sind die Vernehmungen Jeannes in der damaligen (mittel-) französischen Sprache abgefasst (daher die Bezeichnung als la minute française/minuta in gallico)50, die Beratungen der Richter und sämtliche 46 Das Protokoll verzeichnet seine Anwesenheit ohne weitere Hervorhebung unter den Beisitzern in der Eröffnungssitzung am 21. Februar, am 22., 24. und 27. Februar sowie am 1. und 3. März 1431. 47 Die Licentia (ubique docendi) beinhaltete ursprünglich seit der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts die umfassende Lehrbefugnis an Schulen und Universitäten. Sie wandelte sich später zu einem universitären Grad, in der Hierarchie angesiedelt zwischen Baccalaureat und Magister/Doctor, mit dem nicht mehr automatisch die Lehrbefugnis einherging, zumindest nicht im universitären Bereich. Viele Studenten, insbesondere der Jurisprudenz, schlossen aus Kostengründen ihre universitäre Ausbildung mit der Licentia ab, wenn sie kein Lehramt anstrebten (vgl. J.  Verger, in: Lexikon des Mittelalters, Bd.  5, s.v. Licentia, Sp. 1957 f.) 48 Nicht zu verwechseln mit dem französischen Fabeldichter gleichen Namens (1621–1695)! 49 Am 14. März 1431 berief der stellvertretende Inquisitor Le Maistre zusätzlich den „verschwiegenen Mann/discreti viri“ (vgl. Tisset  I, 142) Nicolas Taquel, Priester in der Diözese Rouen und Notar, zum Protokollführer. Dieser hörte allerdings nur  zu (vgl. seine Zeugenaussage im Nichtigkeitsverfahren am 11. Mai 1456; s. Duparc I, 465 [= IV, 144]). 50 Die Überlieferungsgeschichte der minute française ist kompliziert und soll hier nicht im Einzelnen dargestellt werden (vgl. zu Details: Müller, 151 ff. m.w.N.). Die Urschrift des mittelfranzösischen Textes ist verschollen, seit sie im späteren

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Formalitäten (Ort und Datum der Sitzung, Anwesende usw.) auf Latein. Das Protokoll ist als lettre patente wie ein Bericht aus der Perspektive des Gerichts geschrieben, entsprechend der Üblichkeit bei mittelalterlichen Prozessniederschriften51; jede Seite trägt die Paraphe der beiden Notare. Den Priester Jean Massieu (geb. wohl um 1400) bestellt Cauchon zum Gerichtsdiener, der Verfügungen und Ladungen zuzustellen und Jeanne zu den Sitzungen des Gerichts außerhalb des Gefängnisses zu führen hat. Wie es das kanonische Recht seit Anfang des 13. Jahrhunderts vorschrieb, sind bei den nichtöffentlichen Sitzungen des Inquisitionsgerichts im ersten Verfahrensabschnitt außerdem jeweils zwei Zeugen anwesend, um die korrekte Beurkundung der Prozesshandlungen und der gerichtlichen Entscheidungen durch die Notare bestätigen beziehungsweise bestreiten zu können. Das Inquisitionsgericht wird durch die „boni viri/angesehenen Persönlichkeiten“ vervollständigt, geistliche Amtsträger oder gelehrte Laien, die als Beisitzer ihren theologischen oder juristischen Sachverstand kollegial in das Verfahren einbrachten. Sie konnten mit ihrer Sachkunde für die beschuldigte Person einen Schutz bedeuten. Einen formellen Bestallungsakt oder eine Vereidigung gibt es nicht. In der Causa d’Arc fungier-

Nichtigkeitsverfahren am 15. Dezember 1455 von Notar Manchon dem Gericht übergeben wurde. Überliefert ist eine auf zwei aufgefundenen Manuskripten beruhende abgeleitete Fassung aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts/Anfang des 16. Jahrhunderts, das so genannte „Orléans-Manuskript“. Die fehlerfreieste Überlieferung der minute française, das so genannte Manuscrit d’Urfé, benannt nach dem Herausgeber eines Sammelbandes verschiedener Texte im Zusammenhang mit den Prozessen zur Causa Jeanne d’Arc, ist lediglich fragmentarisch überliefert, nämlich beginnend mit der Vernehmung Jeannes am 3. März 1431 (dieses Urfé-Manus­kript ist bei Tisset, Bd. 1, unter dem lateinischen Text, s. nachstehend) abgedruckt. Die französische Urfassung wurde von Beisitzer Thomas de Courcelles (s.u. S. 51) und Notar Manchon in die offizielle lateinische Urkundssprache übertragen, wahrscheinlich relativ zeitnah zum Ende des Prozesses (der genaue Zeitpunkt ist umstritten). Wir legen unserer Darstellung dieses lateinische Protokoll zugrunde (in: Tisset I), nicht ohne es im Einzelfall mit der minute française abzugleichen, die in ihrer Diktion in der Regel knapper, direkter und bisweilen auch umfangreicher ist. 51 Alternativ konnten auch die zu Protokollführern bestimmten Notare als Berichterstatter fungieren, wie etwa im Nichtigkeitsverfahren in den Jahren 1455/56 der Fall.

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ten insgesamt 12952 Personen mehr oder weniger häufig als Beisitzer, darunter acht Engländer, alle anderen waren französischer Herkunft. Wohl neigte ein (kleinerer) Teil der Beisitzer nach ihrer Vita bzw. ausweislich der im Verfahren abgegebenen Voten der Seite der Engländer zu – ohne dass bei ihnen jedoch ein konkreter Pflichtenverstoß oder ein Abstimmungsverhalten gegen ihr Gewissen nachweisbar wäre. Der Kreis der Beisitzer wechselt an den einzelnen Verhandlungstagen, ihre Zahl schwankt: In manchen Sitzungen umfasst die „Jury“ bis zu 65 Assessores, ganz überwiegend Welt- und Ordensgeistliche, unter ihnen der Rektor der Universität von Paris, Thomas de Courcelles (1393–1469), der die Anklageschrift verliest, und weitere Professoren der Pariser theologischen Fakultät. An anderen Tagen, beispielsweise während der neun nichtöffentlichen Vernehmungen der Beschuldigten, sind nur fünf Gerichtspersonen anwesend. Die Stimmen und Voten der Beisitzer haben nicht nur beratende Funktion, sondern besitzen bei der Meinungsbildung des Gerichts erhebliches Gewicht. Denn wie in der französischen Justiz und Verwaltung des Spätmittelalters gilt auch im kirchlichen Inquisitionsverfahren der Grundsatz der kollegialen Entscheidung nach dem Mehrheitsprinzip. Das Prozess­ protokoll gibt mehrfach detailliert Auskunft über das argumentative Agieren einzelner Beisitzer in gerichtlichen Beratungen und deren Abstimmungsverhalten. Ungeachtet ihrer Funktion als Beisitzer können die boni viri, wie wir sehen werden, im selben Verfahren gleichzeitig als Sachverständige fungieren und insofern ihren Einfluss auf die gerichtliche Entscheidung nicht unerheblich intensivieren. Das Gericht tagt an wechselnden Orten, zunächst im Haus des königlichen Rates nahe dem Schloss von Rouen, dann in den Wohnräumen von Bischof Cauchon im Haus des Domherrn Jehan Rubbe, während der Verhöre und Vorführungen der Beschuldigten in der königlichen Kapelle des Schlosses Bouvreuil, in der Rüstkammer neben dem großen Schlosssaal oder anderen Räumen des Schlosses, die in der Nähe des Gefängnisses liegen, später auch in der Kapelle der erzbischöflichen Residenz. Während des ordentlichen Verfahrens finden Sitzungen im Raum neben 52 Vgl. Tisset II, 383 ff.

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dem großen Saal beziehungsweise im großen Turm des Schlosses statt. Das erste Urteil wird auf dem Friedhof der Abtei von Saint-Ouen in der Stadt verkündet. Das Gericht tritt zu Beginn des Verfahrens wegen Rückfalls zur „Tatsachenfeststellung“ in der Gefängniszelle Jeannes zusammen, das endgültige Urteil wird auf dem Alten Markt zu Rouen gesprochen.

Der Verteidiger (Erst) Zu Beginn des ordentlichen Verfahrens/Processus ordinarius am 27. März 1431, kurz vor Verlesung der Anklageschrift, bietet der vorsitzende Richter Cauchon der Angeklagten einen Verteidiger an: „Alle hier Anwesenden sind hochgelehrte Kirchenmänner und im göttlichen wie im menschlichen Recht erfahren. Ihr Anliegen ist es, mit Dir in aller Gottgefälligkeit und Milde zusammenzuwirken, wozu sie schon immer bereit waren – nicht um Rache zu nehmen oder eine körperliche Bestrafung zu erreichen, sondern zu Deiner Unterweisung und um Dich auf den Weg der Wahrheit und des Heils zurückzuführen. Weil Du nicht gebildet genug bist, um Dir in einer so schwierigen Materie selbstständig darüber klar zu werden, was Du tun oder antworten sollst, darfst Du Dir aus ihren Reihen eine oder mehrere Personen, die Dir zusagen, auswählen! Wenn Du das nicht vermagst, werde ich Dir Berater zuordnen. Denn Du mußt über die Tatsachen die Wahrheit sagen! Schwör das!“53 „Vielen Dank für das Beratungsangebot“, erwidert Jeanne kurz, „aber ich habe nicht vor, mich vom Rat Gottes zu trennen.“ Danach schwört sie.54 Dabei blieb es. Angesichts des ausdrücklichen gegenteiligen Willens der Angeklagten sieht der Vorsitzende von der Zuordnung eines Beistandes ab. Jeanne hat von sich aus zu keinem Verfahrenszeitpunkt einen Verteidiger verlangt. Sie sah sich unter Schutz und Schirm Gottes und seiner 53 Wörtliche Rede, die kursiv gekennzeichnet ist, entspricht dem originalen Vernehmungsprotokoll. Dieses gibt allerdings Fragen der Richter und Antworten Jeannes usw. überwiegend in indirekter Rede wieder. Diese Passagen werden von den Autoren als wörtliche Rede nachempfunden. Zur Anredeform s.u. Anm. 82. 54 Tisset I, 189 f.

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Heiligen und verteidigte sich in dieser Gewissheit mit Beginn des Prozesses bis zum Ende selbst.55 Da haben wir sie, die Egozentrik der Heilsbringer, die sich nicht vorstellen können, von einem anderen verteidigt zu werden. Auf die Parallelen in der Justizgeschichte haben wir hingewiesen.56

55 Dazu Salditt, 619: „Wer Gott an seiner Seite weiß, gäbe diese Vertei­digung auf, wollte er einen menschlichen Beistand in Anspruch nehmen. Und  wer den außerirdischen Helfer nur vortäuscht, wird wissen, dass er das Konstrukt, sollte er einen Verteidiger wünschen, zerstört.“ 56 S. den Prolog.

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Die Vorermittlungen Cauchon selbst hatte bereits vor der Einleitung des gerichtlichen Verfahrens, anknüpfend an die öffentlichen Gerüchte über die Ereignisse um die Jungfrau, insbesondere in Jeannes Heimat, aber auch an anderen einschlägigen Orten, umfangreiche Ermittlungen durchführen lassen. Derartige Erhebungen waren als inquisitio famae bzw. inquisitio specialis durchaus üblich und statthaft, um zu klären, ob – in heutiger juristischer Terminologie – zureichende tatsächliche Anhaltspunkte für eine Glaubensverfehlung vorlägen, so dass ein Inquisitionsverfahren eingeleitet werden musste. Gegenstand derartiger Voruntersuchungen konnte sein, ob überhaupt ein belastendes Gerücht im Umlauf war; oft bestand ihr Zweck darin, die mala fama zu konkretisieren. Protokolle, Dokumente oder andere Unterlagen über diese Voruntersuchungen sucht man in den Prozessakten zu Jeanne allerdings vergeblich. Ihnen ist lediglich der prozessuale Rahmen zu entnehmen, in dem die Voruntersuchungen eine Rolle spielten: Das Protokoll des Verurteilungsverfahrens weist keinen formellen Einleitungs- oder Eröffnungsbeschluss auf. Am Anfang steht vielmehr eine Erklärung der beiden Richter, die kurz auf die Vorgeschichte eingeht: Die Gefangennahme Jeannes wird darin erwähnt, die „öffentliche Meinung“/fama und summarisch die Vergehen, die der Pucelle öffentlich vorgeworfen werden, sowie das Ziel des Vorsitzenden, „zu Erhöhung und Förderung des christlichen Glaubens die so dermaßen allgemein verbreiteten Beschuldigungen in einer angemessenen Untersuchung zu klären und entsprechend Recht und Vernunft in einer ausgereiften Entscheidung weitere Schritte zu veranlassen“.57 Am Dienstag, 9. Januar 1431, dem ersten Prozesstag, berät sich Cauchon unmittelbar vor der formellen Einsetzung des Inquisitionsgerichts mit acht „namhaften und bedeutenden Persönlichkeiten“,58 Theologen und 57 „Nos vero, episcopus predictus, prout pastorali nostro incumbit officio, desiderantes exaltacioni ac promocioni fidei christiane totis viribus intendere, super rebus tantopere divulgatis inquisicionem debitam explere optavimus et, veluti ius atque racio suaderent, ad ea que nobis ulterius incumbere viderentur, cum maturo procedere consilio.“ Tisset I, 2. 58 Tisset I, 3.

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Die Vorermittlungen

Juristen darüber, „wie und nach welcher Ordnung in dieser Sache zu verfahren sei“. Als diese bekunden, es sei unabdingbar, zunächst Informationen einzuholen, „was sich in der Öffentlichkeit über die Worte und Taten dieser Frau verbreitet“ habe, informiert Cauchon sie über seine – vor Beginn irgendeines formellen Verfahrens – bereits durchgeführten beziehungsweise noch laufenden Vorermittlungen und stellt in Aussicht, über das Ergebnis binnen kurzem einen Bericht abzugeben. Auf dieser Grundlage solle dann über das weitere Verfahren entschieden werden. In der folgenden Sitzung des Gerichts am Sonnabend, 13. Januar 1431, lässt Cauchon in Abwesenheit der beiden Notare den Beisitzern das Ergebnis seiner Ermittlungen „in der Heimat der besagten Frau und an mehreren anderen Orten“59 verlesen. Zur Kenntnis gegeben werden außerdem „gewisse Gutachten zu diesem Ergebnis und weiteren, in der Öffentlichkeit notorischen Punkten“. Die umfassenden Voruntersuchungen hatten, u.a. aus Zeugenaussagen, eine derartige Fülle von belas­ tenden Details erbracht, dass die Beisitzer es für sinnvoll hielten, das Material in präzisen Artikeln/certi articuli zusammenzufassen, um die „Materie“/materia klarer überblicken und prüfen zu können, ob es einen hinreichenden Tatverdacht zur Einleitung eines Glaubensprozesses gäbe.60 Auch hier kann man den Eindruck gewinnen, dass ein formelles Verfahren noch gar nicht eingeleitet sei, obwohl ja mehrere Prozessbeteiligte: der Promotor, die Protollführer, der Vernehmungsrichter und der Gerichtsdiener, bereits bestellt (wenn auch noch nicht vereidigt) waren. Den Überlegungen der Beisitzer entsprechend beauftragt Cauchon mehrere angesehene Juristen, gemeinsam mit den beiden bestellten Notaren eine entsprechende Aufstellung zu fertigen. Diese liegt drei Tage später vor und wird in der nächsten Sitzung am 23. Januar 1431 ausgewertet. Die Beisitzer kommen zu dem Ergebnis, dass weitere „Befragungen/interrogatoria“61 zum Inhalt der Artikel und zusätzlich eine „vorbereitende (rechtliche) Bewertung und Erläuterung/informatio praeparatoria“ zum ermittelten Sachverhalt vorzunehmen seien. Cauchon ordnet auch dies 59 Tisset I, 23. 60 „…deliberari posset si esset materia sufficiens propter quam aliquis in causam fidei merito citari et evocari deberet“, a.a.O. 61 A.a.O.

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Die Vorermittlungen

formell an und beauftragt hiermit, weil er selbst verhindert ist, den ­diesmal anwesenden Jean de La Fontaine. Zusammen mit den Notaren Boisguillaume und Manchon führt dieser den Gerichtsbeschluss in der Zeit vom 14. bis 17. Februar 1431 aus, am 19. Februar 1431 wird das Ergebnis dem Gericht, mittlerweile um sechs namhafte Beisitzer von der Universität Paris erweitert, zur Beratung vorgetragen. Grundlagen und Inhalt der informatio (terminologisch auch inquisitio) praeparatoria bleiben unklar. Offen ist, ob in diesem Zusammenhang weitere Zeugen vernommen wurden, was allerdings wegen des erheblichen zeitlichen und organisatorischen Aufwands von Zeugenanhörungen angesichts der nur drei Tage dauernden Untersuchung unwahrscheinlich ist. Es dürfte sich dabei vielmehr um eine vorbereitende rechtliche Würdigung des Materials gehandelt haben, das bereits in den Ermittlungen vor Beginn des Verfahrens erhoben worden war. Darin waren auch „Zeugenaussagen enthalten“, wie das Protokoll zur Verlesung der Ergebnisse beiläufig erwähnt.62 Niederschriften oder sonstige Originalunterlagen dieser ursprünglichen Erhebungen werden von Cauchon weder in die Akten des Verurteilungsprozesses aufgenommen noch Jeanne jemals eröffnet. Reicht zur Erklärung, gar zur Rechtfertigung die Annahme aus, er habe die Anonymität von Zeugen oder Informanten nicht gefährden wollen? Nach Verlesung der Prüfungsergebnisse in der Sitzung am 19. Februar und „langer und reiflicher“63 Beratung befindet Cauchon auf den Rat der Beisitzer, dass Jeanne „in Sachen des Glaubens“ vorzuladen und zu befragen sei. Weitere Ermittlungen stellt Cauchon nicht an; er vernimmt im amtswegigen Verfahren keine Zeuginnen oder Zeugen. Wesentliche Grundlage für die Anklageschrift im ordentlichen Verfahren und schließlich für das Urteil in der Causa lapsus sind die Einlassungen der beschuldigten Pucelle  – ein ungewöhnliches Vorgehen im Glaubensprozess, wo Zeugenvernehmungen die Regelform der Beweisaufnahme waren, jedenfalls wenn es um Vorwürfe ging, die, wie wir sehen werden, von der beschuldigten Person geleugnet wurden. 62 Ipsisque praesentibus, articulos praemissos et depositiones testium in praemissa informatione contentas perlegi fecimus.“ Tisset I, 25 f. 63 Tisset I, 26.

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Aussagepflicht und -verweigerung, Belehrung und Vereidigung Im geltenden deutschen Strafprozessrecht gibt es keine Anklage, ohne dass zuvor die beschuldigte Person vernommen worden wäre (vgl. § 163a Strafprozessordnung). Ihre Vernehmung (vgl. §§ 133–136a Strafprozessordnung) ist hochformalisiert. Werden die gesetzlichen Vorgaben zu Ablauf, Belehrungen und Methoden nicht eingehalten, droht ein Beweisverwertungsverbot für die so erlangten Aussagen. Vor der ersten Vernehmung der Beschuldigten außerhalb der Hauptverhandlung ist diese zwingend in vierfacher Hinsicht zu belehren: –– Ihr ist zu eröffnen, welche Taten ihr zur Last gelegt werden und welche Strafvorschriften in Betracht kommen (§  136 Absatz  1 Satz  1 Strafprozessordnung); –– sie ist auf ihr Recht hinzuweisen, die Aussage zu verweigern (§ 136 Absatz 1 Satz 2 Strafprozessordnung); –– sie ist zu belehren, dass sie einen Verteidiger hinzuziehen darf (§ 136 Absatz 1 Satz 2 Strafprozessordnung) und –– sie ist darauf hinzuweisen, dass sie zu ihrer Entlastung weitere Beweiserhebungen beantragen kann (§ 136 Absatz 2 Strafprozessordnung). Zu Beginn der Hauptverhandlung ist die Angeklagte erneut zu belehren, dass es ihr freistehe, sich zu der Anklage zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen (vgl. § 243 Absatz 5 Strafprozessordnung). Aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht nach Artikel 1 Absatz 1 und Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes sowie aus dem Rechtsstaats­prinzip (Artikel  20 Absatz  3 Grundgesetz) leitet sich ein Grundprinzip des rechtsstaatlichen Strafverfahrens ab: „Nemo tenetur se ipsum prodere/ Niemand ist gehalten, sich selbst zu belasten“. Die beschuldigte Person ist frei von jedem Zwang zu einer Aussage oder zur aktiven Mitwirkung im Verfahren. Eine Wahrheitspflicht, zumal unter Eid, besteht entsprechend im modernen Strafprozess für die beschuldigte Person gerade nicht. Sie kann auch nicht indirekt über das materielle Strafrecht begründet werden. Der An57

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geklagte darf sich vielmehr auch durch unwahres tatsächliches Vorbringen verteidigen.64 Dieses Prinzip des nemo tenetur prodere se [ipsum] galt grundsätzlich auch im kanonischen Recht und im Inquisitionsverfahren und dies bereits weit vor dem Prozess gegen Jeanne.65 Andererseits regelte Bonifaz  VIII. (Papst 1294–1303) beispielsweise in seiner Dekretalis Si de calumnia ausdrücklich, dass in jedem kirchlichen Gerichtsverfahren zu Beginn ein Eid abzulegen sei, die Wahrheit zu bekennen/„… in causis spiritualibus … debet de veritate dicenda iurari …“.66 Dies ist vor dem Hintergrund der Entwicklung des Inquisitionsverfahrens seit dem Vierten Laterankonzil im Jahr 1215 zu verstehen: Papst Innozenz III. hatte das durch eine fama/ein öffentliches Gericht angestoßene Inquisitionsverfahren als neues Modell gegenüber dem bis dahin ausschließlich praktizierten Akkusationsverfahren mit einem Ankläger entwickelt67 und dazu einen ordo iuris/Grundsätze eines geordneten

64 Vgl. z.B. BGH, Urteil vom 1. September 1992, BGHSt 38, 552. 65 Es findet sich beispielsweise in der Glossa ordinaria, der autoritativen, in ihrer Verbindlichkeit teilweise gesetzesähnlichen, umfassenden Kommentierung (u.a.) zum kanonischen Recht des Corpus Iuris Canonici (vgl. R. Weigand, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 4, s.v. Glossa ordinaria, Sp. 1503 f.), hier zu den Dekretalen Papst Gregors IX. (Papst 1227–1241): „Sed contra videtur quod non teneatur respondere quia nemo tenetur prodere se.“/„Aber andererseits scheint es, dass er nicht gezwungen werden darf zu antworten, weil niemand gehalten ist, sich selbst zu verraten.“, Gl.ord. ad X 2.20.37 (Cum causam) s.v. de causis; vgl. auch gl.ord. ad Sext 2.9.2. (Si post) s.v. absque rationali causa. Der Grundsatz wurde durch Papst Innozenz IV. (Papst 1243–1254) wiederholt und gut­ geheißen: „nemini dicendum est ut se prodat in publicum“/„niemand ist ge­ heißen, sich öffentlich selbst zu verraten“, Apparatus super libros quinque decretalium ad X 1.6.54 (Dudum) Nr. 11 (1570). 66 Diese Dekretalis ist im so genannten Liber sextus veröffentlicht (VI 2.4.1, in: CIC II, Sp. 998), einer Sammlung von nach dem Liber extra generiertem kanonischen Rechtsstoff, die von Papst Bonifaz VIII. in Auftrag gegeben (seine Dekretalen machten zwei Drittel des Werkes aus) und im März 1298 publiziert worden war. Der Liber sextus wird zitiert als VI, es folgen in arabischen Ziffern das Buch, der Titel und das Kapitel (vgl. Erdö, 126 ff.). 67 S.o. S. 43.

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Verfahrens formuliert,68 beruhend auf dem Prinzip, dass „die Kirche nicht über verborgene Dinge urteilt“/„Ecclesia de occultis non iudicat“. 69 Zum ordo gehörte die Verpflichtung des zuständigen Richters, einer durch ein öffentliches Gerücht beschuldigten Person, die vor Gericht geladen war, zu Beginn schriftlich die konkreten Einzelvorwürfe mitzuteilen und deren Inhalt präzise zu erläutern, um dieser so zu ermöglichen, sich zu verteidigen. Er hatte die fama zu untersuchen/inquirere und auf Richtigkeit zu prüfen, insbesondere ob es sich bei den Belastungszeuginnen und -zeugen um respektable und damit glaubwürdige Glieder der Gemeinschaft handelte. Er hatte dem Vorgeladenen eine Beratung oder Verteidigung anzubieten. Erst nachdem diese vorgreiflichen Schritte getan waren, durfte der Richter in die Befragung der beschuldigten Person eintreten. Dann war diese  – ein entscheidender Unterschied zum modernen Verständnis der Beschuldigtenrechte im Strafprozess – ihrerseits gehalten zu antworten, und zwar wahrheitsgemäß entsprechend dem nach der umfassenden Darlegung der Vorwürfe abgelegten Wahrheitseid – auch wenn sie sich dadurch selbst belastete. Der Nemo-tenetur-Grundsatz wurde im Rahmen des geordneten Inquisitionsverfahrens von der Verpflichtung ausgestochen, dem als höher stehend verstandenen Gericht zur Erkenntnis des wahren Sachverhalts zu verhelfen. Damit gerieten die Beschuldigten, wenn Vorwürfe zutrafen, in ein grausames „Trilemma“:70 Sie konnten wählen zwischen Meineid, gesellschaftlicher Ächtung oder Verurteilung. Diese Problematik wurde von vielen Kommentatoren der einschlägigen

68 Vgl. die Glossa ordinaria: „Ordo juris servandus est in inquisitione facienda“, (ad v. presens), Corpus juris canonici II, 1598. 69 Bei dem Begriff „occultum/verborgen, geheim“ ist zwischen der sinnlichen Bedeutung (Gegensatz: „äußerlich erkennbar“) und der beweisrechtlichen (Gegensatz: „manifestum“ oder „publicum/[öffentlich, allgemein] erwiesen, bekannt, auf der Hand liegend“) zu unterscheiden. Im letzteren Sinne grenzte die genannte Rechtsregel ex negativo ab, dass der Kirche zum Beweis der Schuld des Einzelnen einzig äußerlich erkennbare Indizien (so genannte circumstantiae) zur Verfügung stehen, während Gott allein das Herz anschaut (1. Samuel, 16,7). Fehlen derartige Indizien oder reichen sie zum Beweis nicht aus, so bleibt die Tat im „Geheimen“ und ausschließlich dem göttlichen Urteil vorbehalten (vgl. Kuttner, 229–230). 70 Helmholz, 983.

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rechtlichen Bestimmungen durchaus gesehen und beklagt; das Procedere blieb auf der theoretischen Ebene strittig. Die Praxis dagegen verschärfte sich, gegenläufig zu allen dogmatischen Bedenken, seit Mitte des 13. Jahrhunderts. Unter anderem zwei Dekretalen Papst Bonifaz’ VIII.71 mögen dem Vorschub geleistet haben, weil sie den ordo des Inquisitionsverfahrens nicht ausdrücklich als verbindlich erwähnten und keine Sanktionen für absichtliche Abweichungen eines Inquisitionsrichters vom geordneten Verfahren oder für eine bewusste Verschleierung der Rechte der beschuldigten Person vor einer Vernehmung vorschrieben. Es wurde üblich, nicht nur Zeugen, sondern auch die Hauptverdächtigen zunächst einen Eid de veritate dicenda schwören zu lassen und sie unmittelbar danach zu Glaubensfragen zu vernehmen, ohne dass ihnen vorab die Vorwürfe eröffnet worden wären. Mit der Glaubenslehre nicht konforme Einlassungen wurden unmittelbar als Eingeständnis einer häretischen Gesinnung gewertet. Um die folgende Darstellung der Aussagen Jeannes unter diesem uns befremdlichen Gebot einer Aussage- und Wahrheitspflicht zu verstehen und das Inquisitionsverfahren nicht von vornherein zu verdammen, sei dies vorausgeschickt. Man mag dem Wahrheitseid im Inquisitionsprozess das ­Gottesurteil/iudicium dei oder ordalium gegenüberstellen, ein archaisches Instrument sakraler Rechtsfindung, das zwar nicht von der christlichen Kirche entwickelt, wohl aber – wenn auch unter Gegenvoten – bis in das 13. Jahrhundert von ihr geduldet und teilweise weiter­ entwickelt wurde. Der Wahrheitseid stand allerdings am Anfang, das Gottesurteil am Ende des jeweiligen gerichtlichen Verfahrens. Erst das 4. Laterankonzil im Jahr 1215 verbot Klerikern das Mitwirken an Gottes­

71 In der Dekretalis Postquam im Liber sextus (VI.5.1.1, in: CIC II, Sp. 1069) entwickelte Bonifaz VIII., dass jemand, der in einem Inquisitionsverfahren eine Verfehlung gestanden habe, später dieses Geständnis nicht durch den Einwand unverwertbar machen könne, er sei dieses Vergehens niemals durch ein öffentliches Gerücht bezichtigt worden oder ihm seien die Vorwürfe nicht offengelegt worden; in Si is (VI.5.1.2, in: CIC II, Sp. 1069) ging es darum, dass eine vor Gericht geladene und dort anwesende beschuldigte Person, wenn der Richter sie über einzelne Vorwürfe vernimmt, ohne vorher das zugrundeliegende öffentliche Gerücht geprüft zu haben, mit dieser Begründung das Verfahren später nicht mehr angreifen könne, wenn er unmittelbar in der Verhandlung dieses Procedere nicht beanstandet habe.

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urteilen.72 Dass das Inquisitionsverfahren als ein bewusstes kirchliches Gegenmodell zum ordalium entwickelt wurde, lässt sich nicht belegen. Der Problematik, dass es beim Irrglauben um innere Tatsachen ging, versuchte man im Häresieprozess – außer mit dem Wahrheitseid – mit der Folter beizukommen: Das Geständnis der angeklagten Person war das sicherste Beweismittel. Das Ziel der Wahrheitsfindung war derart absolut gesetzt, dass sogar Zeugen gefoltert werden konnten.73 Erst die späteren Jahrhunderte werden an die Rechte der Beschuldigten denken und auf Gottesurteil, Wahrheitseid und Folter verzichten.

72 H.-J. Becker, in : Lexikon des Mittelalters, Bd. 4, s.v. Gottesurteil, Sp. 1594 f. 73 Müller, 937 ff.

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Jeannes Aussage vor der Inquisition Die sechs öffentlichen Vernehmungen74 Jeanne wird auf Mittwoch, 21. Februar 1431, acht Uhr morgens, schriftlich vorgeladen, um, wie die Ladung formulierte: „die Wahrheit zu sagen zu Artikeln und Fragestellungen zum Glauben und anderen Verdachtspunkten“.75 Zur ersten öffentlichen Sitzung trifft sich das Gericht in Anwesenheit von 42  Beisitzern in der königlichen Kapelle des Schlosses Bouvreuil. In dieser Sitzung tritt zum einzigen Mal in diesem durch das Agieren des Inquisitionsgerichts geprägten Verfahrensabschnitt der Promotor  – „Kirchenanwalt“  – Jean d’Estivet auf und beantragt förmlich, unter Bezugnahme auf das Ladungsschreiben, dessen Zustellung an Jeanne bei Gericht aktenkundig ist, „besagte Frau“/antedicta mulier anzuweisen, vor Gericht zu erscheinen und sie über „bestimmte Artikel“/ certis articulis, die den Glauben beträfen, gerichtlich zu befragen. Während der Vorsitzende dies zusagt und die Beisitzer noch darüber aufklärt, warum der Beschuldigten gegenwärtig der Besuch der Messe nicht gestattet werden könne, führt der Gerichtsdiener Jeanne herein. Cauchon stellt sie den Assessores vor: „Jeanne, die Ihr hier seht, ist vor kurzem innerhalb der Grenzen Unserer Diözese Beauvais ergriffen und gefangen genommen worden. Der erlauchteste und allerchristlichste Fürst, unser Herr, der König,76 hat sie Uns überstellt und ausgeliefert, damit ihr, Recht und Vernunft entsprechend, der Prozess in Glaubenssachen gemacht werde. Die öffentliche Meinung, verbreitet bereits in fast allen christlichen Königreichen, legt ihr zahlreiche Verstöße gegen den rechten Glauben zur Last, die sie nicht nur in Unserer Diözese, sondern auch in verschiedenen anderen Gegenden begangen haben soll. Wir haben diese allgemeine Meinung und die öffentlichen Gerüchte aufmerksam aufgenommen und auf dieser Grundlage sowie nach gewis74 Tisset I, 32–109. 75 „… responsuram veritatem super articulis et interrogatoriis contra eam dandis et sibi faciendis fidei materiam concernentibus ac aliis super quibus eam suspectam habetis…“, Tisset I, 35. 76 Von Cauchon gemeint ist (auf der Grundlage des Vertrags von Troyes) der englische König.

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sen Erhebungen und reiflicher Beratung mit Experten im göttlichen und menschlichen Recht Jeanne vorgeladen, um sie zu bestimmten Artikeln und Fragen, den Glauben betreffend, anzuhören.“77 Das 19-jährige Bauernmädchen, das nicht lesen und schreiben kann, steht nun ohne menschlichen oder rechtlichen Beistand dem riesigen Tribunal gegenüber. Nach kanonischem Recht darf sie mit Vollendung des 14. Lebensjahres in causis spiritualibus das Verfahren selbst führen und sich verteidigen, ohne dass ein (pro-)curator bestellt werden musste (Prozessfähigkeit).78 Die durch eine Kette verbundenen Fußeisen, die Jeanne während des gesamten Verurteilungsprozesses in ihrem Kerker trägt, hat man ihr für die Vernehmungen abgenommen. Cauchon ergreift das Wort und spricht das Mädchen an. Er führt knapp die Vorgeschichte ihrer Gefangennahme und Überlieferung an die Inquisition aus und spricht pauschal den Anlass des Prozesses an: das „allgemeine Gerücht und öffentliche Gerede/fama communi et publicis rumoribus“ sowie „gewisse Informationen, die wir früher erwähnt haben“. Der Vorsitzende ermahnt Jeanne sodann „liebevoll“ und fordert sie auf/ „caritative monuimus et requisivimus“, zur Beschleunigung des Verfahrens/pro acceleracione presentis negocii und zur Erleichterung ihres eigenen Gewissens die volle Wahrheit auf die79 in der Sache an sie gerichteten Fragen zu sagen, ohne Ausflüchte/subterfugia oder Winkelzüge/ cautelas. Dies soll Jeanne durch einen Eid in gehöriger Form, die Hand auf dem heiligen Evangelium80, bekräftigen. Anders als nach der Formulierung in der Ladung oder der Einleitung des Promotors zu vermuten, macht Cauchon keinerlei Anstalten, dem Mädchen die fama oder die Ergebnisse der Vorermittlungen zu eröffnen und ihr eine Beratung oder Verteidigung anzubieten, wie es einem geordneten Verfahren entsprochen hätte. Ihm ging es ausdrücklich nur um Verfahrensbeschleunigung. Es ist unklar, ob er sich in diesem Moment

77 Tisset I, 37. 78 Papst Bonifaz III., Dekretalis VI.2.1.3 (in: CIC II, Sp. 997). 79 Das französische Protokoll vermerkt weitergehend: „… de toutes les choses sur ­lesquelles elle seroit interroguee.“, Tisset I, 38. 80 „… iuramentum in forma debita, tactis sacrosanctis euvangeliis, prestaret de dicendo veritatem … super hiis de quibus interrogaretur.“, Tisset I, 38.

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seiner Abweichung vom ordo überhaupt bewusst war.81 Hier ist ein Verfahrensfehler zu konstatieren. Die Kommunikation zwischen dem Gericht und der Beschuldigten beginnt konträr. Jeanne verweigert den Eid: „Ich weiß nicht, worüber Ihr mich befragen wollt. Vielleicht fragt Ihr mich nach Dingen, über die ich keine Auskunft geben will.“82 Spürt das ungeschulte junge Mädchen instinktiv, dass ihre Rechte an diesem Punkt beschnitten werden und sie vorab wissen durfte und musste, welche Fragen ihr gestellt werden sollten? Cauchon: „Du wirst schwören, die Wahrheit auf Fragen betreffend den Glauben zu sagen und zu anderen Dingen, die Du weißt!“83 Jeanne: „Was ich über Vater und Mutter sage und darüber, was ich getan habe, seit ich nach Frankreich gekommen bin, will ich gern beschwören. Aber nicht meine Erscheinungen, die mir Gott gab, und meine geheimen Ratgeber – und wenn man mir den Kopf abschlägt! Darüber habe ich nur zu Karl, meinem König, gesprochen. Anderen darf ich nichts über diese Geheimnisse verraten. Binnen acht Tagen werde ich besser wissen, ob ich diese Dinge enthüllen darf.“84 81 Auch die spätere Diskussion um die Ordnungsmäßigkeit des Verfahrens beschäftigte sich ausgiebig mit den repressiven Bedingungen von Jeannes Vernehmungen, nicht aber mit der Frage, ob die Verhöre als solche entsprechend dem damals geltenden Prozessrecht durchgeführt wurden. 82 „Nescio super quibus vultis me interrogare. Forte vos poteritis a me talia petere que non dicam vobis.“, Tisset I, 38. Die Protokolle lassen keine Regel erkennen, warum die protokollführenden geistlichen Notare Manchon und Colles gen. Boisguillaume einmal die direkte, ein andermal die indirekte Rede verwendeten; mitunter wechselt das Protokoll zwischen indirekter und direkter Rede unvermittelt hin und her (vgl. z.B. das 7. oder das 8. Sonderverhör). Die Fragen der Vernehmungsrichter wie Jeannes Antworten sind in den Protokollen ganz überwiegend indirekt formuliert, so dass die Person des Fragestellers stark zurücktritt, und beide sind nur in der grammatikalischen Konstruktion, nicht aber in einer direkten Ansprache bzw. Rede bezogen auf Jeannes Person (z.B.: „Gefragt, ob …, antwortet sie …“). Wie das Gericht Jeanne anredete, lässt sich so schwer bestimmen. Die Autoren haben durchgängig das „Du“ gewählt, wenn die Protokolle nicht eindeutig sind. Jeanne spricht ihre Richter im Lateinischen mit „Ihr/Euch“ an. 83 „Vos iurabitis dicere veritatem de hiis qui petentur a vobis fidei materiam concernentibus et qui scitis.“ (Tisset I, 38). 84 „Ipsa rursum respondit quod de patre et matre et hiis que fecerat postquam iter arripuerat in Franciam, libenter iuraret; sed, de revelacionibus eidem factis ex

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Cauchon gibt nach und beschränkt den Wahrheitseid auf „Glaubensdinge/que tangerent fidem nostram“. Auf Knien schwört Jeanne, beide Hände auf der Bibel. Ihre Erscheinungen nimmt sie ausdrücklich aus.85 Um diese Eidesleistung, die ihr in den kommenden zwei öffentlichen Sitzungen zu Beginn – immer von Cauchon persönlich – erneut abverlangt wird, gibt es jedes Mal eine Auseinandersetzung. Cauchon versucht, den Eid zu erweitern. Er insistiert: „Auch ein König, in Glaubenssachen befragt, darf den Eid nicht verweigern!“ Jeanne bleibt fest: „Ich habe gestern schon geschworen; das muss Euch genügen! Ihr belastet mich über die Maßen!“86 In der dritten Sitzung am 24. Februar 1431 verlangt der Vorsitzende einen gänzlich unbedingten Schwur. Dreimal ermahnt er das Mädchen auf ihre Verweigerung hin, diesen Eid zu leisten. Sie erwidert ihm: „Wenn ich das schwöre und Ihr zwingt mich, über meine Erscheinungen zu sprechen, würde ich einen Eid brechen, den ich vorher geschworen habe. Das könnt Ihr nicht wollen! Und: Ihr nennt Euch meinen Richter – passt auf, damit habt Ihr Euch eine schwere Last aufgeladen. Auch mich belastet Ihr maßlos! Im Übrigen: Zweimal vor Gericht zu schwören, ist genug! Macht weiter!“87 Sie leistet am Ende jedes Mal den Eid, allerdings jeweils nur mit der Einschränkung, dass Fragen denkbar seien, die sie nicht beantworten könne, weil sie dann wortbrüchig würde: Wahrheitsgemäß Auskunft gebe ich auf alles, was den Prozess angeht!88 Spätestens an dieser Stelle bringt

parte Dei, nunquam alicui dixerat seu revelaverat, nisi soli Karolo, quem dicit regem suum, nec eciam revelaret si deberet eidem caput amputari; quia hoc habebat per visiones sive consilium suum secretum ne alicui revelaret; et quod infra octo dies proximos bene sciret si hoc deberet revelare.“ (Tisset I, 38). 85 „Que quidem Iohanna, flexis genibus, ambabus manibus supra librum, … iuravit quod diceret veritatem super hiis que requirerentur ab ea fidei materiam concernentibus que sciret, tacendo de condicione antedicta, videlicet quod nulli diceret aut ­revelaret revelaciones eidem factas.” (Tisset I, 39). 86 „Iterum requisivimus quod iuraret; nam quicumque, eciam princeps, requisitus in materia fidei non posset recusare facere iuramentum. Responditque iterum: Ego feci heri vobis iuramentum; bene debet vobis sufficere. Vos nimium oneratis me.“, in der Sitzung am 22. Februar 1431 (Tisset I, 45). 87 Tisset I, 55 ff. 88 1 .– 3. und 5. öffentliche Sitzung.

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Jeanne auf den Punkt, dass sie für sich (in einer Parallelwertung in der Laiensphäre) ein (partielles) Schweigerecht fordert.89 Cauchon gibt schließlich auf, nicht ohne dem Mädchen zu sagen, sie mache sich verdächtig, wenn sie nicht bedingungslos schwöre. Am 21. Februar, dem ersten Verhörtag, setzt der Vorsitzende nach der Vereidigung die Sitzung mit den üblichen einleitenden Fragen zur Person fort: nach Namen, Vornamen, Alter, Geburtsort, Namen der Eltern, Taufort, Patinnen und Paten, Taufpriester. Zum Abschluss des Verhörs weist er die Beschuldigte darauf hin, dass es ihr verboten sei, ohne Erlaubnis das Gefängnis im Schloss von Rouen zu verlassen, und zwar „sub pena convicti de crimine heresis“/bei Strafe für das Vergehen erwiesener Ketzerei. Jeanne weigert sich ausdrücklich, das Verbot zu akzeptieren, und ergänzt: Wenn ich nun fliehe, kann niemand mir vorwerfen, mein Wort gebrochen zu haben, weil ich es niemandem gegeben habe.90 Sie beklagt sich über ihre Fesseln und Fußeisen im Gefängnis. Als Cauchon diese Maßnahmen mit ihren Fluchtversuchen begründet, erwidert sie nur: „Tatsache ist, dass ich fliehen wollte und wieder zu fliehen versuchen werde, denn jeder Gefangene hat das Recht zu fliehen.“91 – eine Erklärung, die dem modernen (Kriegs-)Völkerrecht entstammen könnte und dem Grundsatz der Straffreiheit der Flucht im deutschen Strafrecht entspricht.92 Das Protokoll enthält hierauf keine weitere Nachfrage. 89 Vgl. Salditt, 620 f. 90 Tisset I, 42. 91 „Ad quod respondit, dicens: Verum est quod alias volui et vellem, prout licitum est cuicumque incarcerato seu prisionario, evadere./A quoi elle répondit: ,Il est vrai quàilleurs jài voulu et que je voudrais m’evader, comme il est licite à toute personne incarcérée ou prisonière.’“ (Tisset I, 42 [lat.]/39 [franz.]). 92 Anders die Haltung des Sokrates (469–399 v. Chr.), der das Anerbieten seines Freundes Kriton ablehnt, ihm vor der Vollstreckung der wegen Gottlosigkeit und Verführung der Jugend gerichtlich gegen ihn verhängten Todesstrafe zur  Flucht aus dem Gefängnis zu verhelfen. Nach Sokrates’ Argumentation ist  den Gesetzen absolut zu gehorchen, also auch dann, wenn sie oder ihre Anwendung Unrecht stützen oder generieren (s. Platon, Kriton, 11. Kapitel, 49 e 9–50 c 3; vgl. Peter Unruh, Sokrates und die Pflicht zum Rechtsgehorsam, Baden-Baden 2000). Indem er den Schierlingsbecher leerte, übernahm der Philosoph die Mitverantwortung für die Entscheidung seiner Richter. Seine Freiheit bestand darin, zu wollen, was er musste. Jeannes Freiheit war eine andere. Bei gleichem Endergebnis spiegeln die beiden Prozesse in ihrem Verlauf die unterschiedlichen Persönlichkeiten und Wertungen der Angeklagten.

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Über sechs öffentliche Sitzungen, an denen bis zu 62 Beisitzer teilnehmen, erstrecken sich zunächst Jeannes Verhöre. Die fünf weiteren finden am 22., 24. und 27. Februar sowie am 1. und 3. März 1431, ebenfalls vormittags, in der Regel von acht Uhr bis elf oder zwölf Uhr in der Rüstkammer neben dem großen Schlosssaal statt, wohl sämtlich nicht vom (stets anwesenden) Ersten Richter durchgeführt, sondern von einem der Beisitzer, dem Magister der Künste, Lizentiaten der Theologie und wie erinnerlich früheren Rektor der Universität Paris Jean Beaupère.93 Begibt sich Cauchon nach der schlagfertigen und gleichzeitig tiefgründigen Antwort Jeannes auf seine Aufforderung gleich am 21. Februar, ihm das Vaterunser aufzusagen: „Wenn Hochwürden von Beauvais mir die Beichte abnehmen will, will ich dabei gern das Vaterunser sprechen!“94 – konsterniert aus der Rolle des aktiv Vernehmenden in die des Zuhörers? Will er Jeannes Aussage und Verhalten konzentriert und unabgelenkt ausloten? Will er in seinem Verfahren von Amts wegen doch als „unbefangener“, objektiver Beobachter erscheinen? Warum betraut er gerade Beaupère (nicht seinen commissarius und bestallten Vertreter de La Fontaine) mit diesen für den Prozess bedeutsamen Vernehmungen, der doch gar kein Jurist war und somit wohl in inquisitorischen Verfahren nicht versiert? Ist sein Vertrauen in Beaupères (nach der gemeinsamen Mission zur Vorbereitung des Vertrages von Troyes95) Empathie und Loyalität besonders hoch? Die richterlichen Fragen richten sich gezielt auf sieben Punkte: die „Stimmen“ –Tragen von Männerkleidung  – das legitimierende „Zeichen“  – Zauberei und Aberglauben  – Todsünden (Jeannes als Selbstmordversuch ­verstandener Sprung vom Turm in Beaurevoir, ihre Gotteslästerungen) – Arroganz und Anmaßung – Kriegsverbrechen. Obwohl es noch keine Anklageschrift gibt, sind die Fragen des Gerichts detailgenau und auf den Punkt formuliert. Die Richter hatten sich auf der Grundlage der Vorermittlungen und Beratungen zu Verfahrensbeginn offensichtlich bereits ein Bild von den möglichen Hauptvorwürfen in einer späteren Anklage gemacht. 93 S.o. S. 47. 94 Jeanne zeigte hier, dass sie durchaus zwischen dem äußeren Forum eines kirchlichen Gerichtshofes und dem inneren Forum eines Bekenntnisses im Rahmen des Sakraments der Beichte unterscheiden konnte (vgl. Kelly, Remain silent, 1014, 1024). 95 S.o. S. 47.

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Jeanne beschreibt in der zweiten Vernehmung auf Nachfrage Beaupères die von ihr gehörte „Stimme“, zunächst eine einzige. Zuhause im Garten, zur Mittagsstunde, ist sie zu der 13-Jährigen gedrungen, begleitet von einer Lichterscheinung großer Helligkeit. Die Stimme sagt zu ihr: Geh „nach Frankreich“! Sie leitet das Mädchen die ganze Zeit hindurch und wird ihr ermöglichen, unbekannte Menschen, die für ihren Weg wichtig sind, zu identifizieren: den Kommandanten von Vaucouleurs, den König. Auch jetzt hört Jeanne noch täglich diese Stimme, ist sie ihr Beistand und Stütze.96 Erst als Beaupère sie fragt, ob es sich um die Stimme eines Engels oder einer Heiligen oder um gar Gottes eigene Stimme handle, erzählt Jeanne von weiteren Stimmen, die sie auch hört: die der Heiligen Katharina und der Heiligen Margareta; die allererste Stimme sei die des Heiligen Michael gewesen.97 Zu Details, welche man von ihr wissen will, über das Aussehen der Heiligen oder den genauen Inhalt ihrer Botschaften gibt sie keine Auskunft: „Ich habe keine Erlaubnis, darüber zu reden“, erwidert sie zunächst,98 oder: „Sogar für kleine Jungen ist es eine Binsenweisheit, dass die Leute manchmal wen aufhängen, der die Wahrheit sagt!“99 An einem anderen Sitzungstag fragt der Richter unvermittelt erneut nach: Ist die Erscheinung ein Mann oder eine Frau? Erscheint der Heilige Michael nackt? Hat er Haare? Spricht die Heilige Margareta englisch? Jeannes Antworten bleiben sparsam: Ich sehe nur ihr Gesicht, ich erkenne sie an ihren schönen Stimmen, die ich jeden Tag deutlich vernehme, und an ihren Botschaften.100 Sie reagiert mit schlagfertigen Gegenfragen: „Meint Ihr, Gott habe nichts, den Heiligen Michael zu kleiden?“101 „Warum sollte man ihm die Haare abgeschnitten haben?“102 „Warum sollte die Heilige Margareta englisch sprechen, da sie nicht auf Seiten der Engländer ist?“103 96 Tisset I, 47 ff. 97 Tisset I, 71 f. Im lateinischen Protokoll führt (der Erzengel) Michael in der Regel das Attribut „sanctus/heilig“. 98 Tisset I, 72 ff. 99 Tisset I, 62. 100 Tisset I, 84. 101 Tisset I, 87. 102 Tisset I, 87. 103 Tisset I, 84.

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„Sind es Menschen aus Fleisch und Blut?“ fragt der Richter ein andermal. Jeanne: „Ich habe sie mit meinen eigenen Augen gesehen, so wie ich Euch sehe; und ich glaube, dass sie da sind, so fest wie ich glaube, dass es Gott gibt.“104 Drei Viertel der Vernehmungsfragen entfallen auf die „Stimmen“ und die Erscheinungen der Heiligen – die Kardinalfragen sowohl der Persönlichkeit Jeanne d’Arcs wie des Glaubensprozesses gegen sie. Indem sich Jeanne auf die „Stimmen“ als Impulsgeber ihrer Mission beruft, sind die Richter und später der Promotor vor die Aufgabe gestellt, den Beweis zu führen, dass es sich bei diesen nicht um gute, sondern um böse Kräfte handele. Beaupère stellt die für das Mädchen gefährliche Frage, ob Jeanne sicher sei, sich im Stand der Gnade zu befinden? Dieses Wissen war bei Gott allein verortet, wer es für sich beanspruchte, handelt gotteslästerlich. Verneinte Jeanne, kann dies als Schuldeingeständnis gewertet werden. Aber sie umschifft scharfsinnig beide Klippen mit der Erwiderung: „Wenn ich es nicht bin, möge mich Gott dahin bringen, wenn ich es bin, möge er mich darin erhalten!“, und fügt an: „Aber – wenn sie in der Sünde wäre, käme die Stimme doch wohl nicht!“105 Sie berichtet auf Nachfrage lange und vom Gericht nicht unterbrochen über den so genannten „Baum der Feen“ nahe bei Domremy: „Ich habe unter dem großen Baum oft mit den anderen Mädchen gespielt, und wir haben Blumenkränze geflochten und über die Zweige gehängt. Ich selbst habe dort aber niemals Feen gesehen. Meine Patin, die Gattin des Bürgermeisters Jeanne Aubery, hat mir erzählt, sie habe welche gesehen, aber ich weiß nicht, ob das stimmte. An dem Gerücht, dass ich unter dem „Baum der Feen“ meinen Auftrag empfangen habe, ist ebenfalls nichts dran.“106 Wiederholt wird ihr die Frage gestellt, auf wessen Rat hin sie Männerkleidung angelegt habe; immer wieder weicht sie der Frage aus, weigert sich zu antworten: „Damit belaste ich keinen Menschen!“107 In der vier104 Tisset I, 74. 105 Tisset I, 76. 106 Tisset I, 65 f. 107 Tisset I 50.

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ten öffentlichen Sitzung stellt sie auf erneute Nachfrage klar: „Welche Kleidung ich anhabe, ist doch nebensächlich, ja egal! Nicht auf menschlichen Rat hin trage ich Männersachen. Wie alles, was ich getan habe, habe ich auch dies auf Geheiß Gottes und seiner Engel getan. Allein von Gottes Befehl hängt ab, ob ich mich wieder anders kleide. Ob es recht war? Alles, was ich nach dem Willen Gottes getan habe, war wohlgetan!“108 Sie gibt Auskunft über das Schwert aus der Kirche der Heiligen Katharina in Sainte-Catherine-des-Fierbois: „Meine Stimmen haben mir gesagt, dass das Schwert am Altar vergraben liege. Die Schneide war zuerst ganz verrostet, aber der Rost fiel fast wie von selbst ab, als man sie abrieb. Ich hing an dem Schwert, weil es in der Kirche der Heiligen Katharina aufgefunden wurde, die ich so sehr verehre. Allerdings war mir mein weißes Banner mit den Lilien und den zwei Engeln noch lieber. Gesegnet oder auf einen Altar gelegt habe ich das Schwert nie. Ich verrate nicht, wo es hingekommen ist, denn das hat nichts mit diesem Prozess zu tun.“109 Beaupère fragt nach dem Brief des Grafen Johann  IV. von Armagnac (1396–1450) vom 22. August 1429 an Jeanne. Der Graf hatte Jeanne gebeten, bei Jesus Christus zu erwirken, dass er durch sie kundtun möge, wer der rechtmäßige Papst sei: Martin  V. (Papst 1417–1431) in Rom, ­Clemens VIII. (Papst 1423–abgedankt im Juli 1429), der in Peñiscola residiert hatte, oder Benedikt XIV. (Papst 1425–1430) mit unbekannter Residenz, die einander während des Großen, das gesamte Abendland ergreifenden Schismas der lateinischen Kirche (1378–1417 bzw. 1423) das Amt streitig gemacht hatten. Der Richter will von Jeanne wissen, was sie dem Grafen geantwortet habe und wer nach ihrer persönlichen Überzeugung der rechtmäßige Papst sei? Sie weicht zunächst aus: „Gibt es denn zwei?“ Dann: „Ich habe geantwortet, dass ich ihm in Paris oder anderswo, wo ich Ruhe habe, eine Antwort erteilen werde.“ Daraufhin werden der Brief des Grafen und Jeannes Antwort, die genau dies enthält, vom Gericht verlesen. Jeanne wird gefragt, ob das ihre Ant108 Tisset I, 75. 109 Tisset I, 76 ff.; hier weicht Jeanne zuletzt aus: Das Schwert war ihr vor dem Angriff auf Paris zerbrochen, als sie mit flacher Klinge auf eine Lagerdirne eingeschlagen hatte, um diese zu vertreiben. Die Waffe konnte nicht wieder zusammengeschmiedet werden. Dies hatte den König erzürnt und allgemein als böses Omen gegolten.

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wort gewesen sei. Sie erwidert: „Diese Antwort stammt nur teilweise von mir!“ Der Richter fragt: „Hast Du geantwortet, du wüsstest durch den Rat des Königs aller Könige, was der Graf zu wissen begehrte?“  – „Nein!“  – „Hast Du also im Zweifel gelassen, welchem Papst der Graf gehorchen solle?“ – „Der Graf wollte wissen, wem er nach dem Willen G o t t e s gehorchen solle. Dazu wusste ich nichts zu sagen. I c h persönlich glaube, dass der Papst in Rom der rechtmäßige ist. Dem Grafen habe ich zu diesem Punkt gar nichts geantwortet, ich habe ihm über Anderes geschrieben. Ich schwöre es!“110 Der Richter fährt mit Fragen nach der Aufschrift „Ihesus†Maria“ mit einem dazwischen stehenden Kreuz fort, die Jeanne über ihre Briefe setzte, und konkret nach ihrem Brief vom 22. März 1429 an die „Engländer“, der in der Vernehmung verlesen wird. Jeanne: „Ja, ich habe diesen Brief geschrieben – allerdings ausgenommen drei oder vier Wörter, die hier anders sind als im Original: Statt ‚Übergebt der Jungfrau‘ muss es heißen ‚Übergebt dem König‘; gar nicht in meinem Brief gestanden haben die Wörter ‚Mann für Mann‘ und ‚Kriegsherr‘“.111 Sie ergänzt: „Die Engländer werden einen noch größeren Verlust als vor Orléans erleiden, der sie ganz Frankreich kosten wird, noch ehe sieben Jahre um sind. Ich weiß das sicher durch meine Offenbarungen von der Heiligen Katharina und der Heiligen Margareta, die auf Befehl Gottes geschehen.“112 Wieder wechselt das Thema, diesmal zum Aberglauben, zur mandragore/­ Alraune: „Was hast Du mit deiner Alraune gemacht?“ Jeanne: „Eine ‚Alraune‘ habe ich nie besessen. Ich habe zwar im Dorf darüber reden hören, dass es in der Nähe eine gebe, die das Geld anziehe, ein gefährliches Ding und schwer zu hüten. Meine Stimmen aber haben nie über eine Alraune gesprochen, und ich selber habe nicht daran geglaubt.“113 „Aus welchem Stoff waren die Banner genäht, die sich einige Deiner Waffengefährten nach Deinem Beispiel angefertigt haben – aus Leinen oder aus Tuch?“ Hat Jeanne diese Banner als glückbringend bezeichnet? 110 Tisset I, 81 f. 111 Tisset I, 82. 112 Tisset I, 83. 113 Tisset I, 86.

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Hat sie das Tuch vor dem Vernähen mit geweihtem Wasser besprengen oder um einen Altar tragen lassen?“ Jeanne: „Davon weiß ich nichts. Wenn es geschehen ist, so nicht auf meinen Befehl.“114 Frage: „Warum hast Du das Pferd des Bischofs von Senlis (sc. Jean Fouquerel, der ein Anhänger der Engländer war; Bischof 1423–1429) mitgenommen?“ Antwort: „Ich habe es nicht gestohlen, sondern für 200 goldene Salute gekauft. Später, als es sich den Strapazen nicht gewachsen zeigte, habe ich dem Bischof angeboten, es zurückzuschicken.“115 Ob sie Catherine de la Rochelle kenne? Ob diese ihr eine „weiße Frau“ gezeigt habe, die Catherine manchmal erschienen sei? – „Nein, Catherine, der ich verschiedentlich begegnet bin, hat von der „weißen Frau“, die zu ihr käme und sich anheischig mache, versteckte Schätze zu finden, zwar eingehend berichtet; aber Catherine konnte sie mir nicht zeigen. Ich habe, um sicherzugehen, meine Heilige Katharina dazu befragt. Sie hat mir zu verstehen gegeben, dass die Erzählung von Catherine töricht sei und nichts daran wäre.“116 Richter: „Glauben deine Anhänger fest daran, dass du von Gott gesandt bist?“ – „Ob sie es glauben, weiß ich nicht; für mich ist ihr Geist und Mut wichtig. Auch wenn sie es nicht glauben: ich bin von Gott gesandt. Ich kann nichts dafür, wenn sie mir die Hände und Kleider küssen. Ihre Gedanken und Absichten dabei kenne ich nicht. Ich habe mich auch nicht darum gekümmert, als man behauptete, in Lagny sei durch mein Gebet ein Kind, das schon tot schien, auferweckt worden.117 Vom Turm von Beaurevoir bin ich  – gegen den Willen meiner Stimmen – gesprungen, weil ich aus Furcht vor den Engländern fliehen wollte, nicht um mir das Leben zu nehmen. Weder in diesem Zusammenhang noch sonst jemals habe ich eine Heilige oder einen Heiligen gelästert oder geleugnet! Das Gegenteil zu behaupten, ist üble Nachrede.“118

114 Tisset I, 96 f. 115 Tisset I, 102 f. 116 Tisset I, 103 f. 117 Tisset I, 99 f. 118 Tisset I, 107 ff.

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Jeanne wurde nach der letzten Befragung am 3. März 1431 wie nach jeder Vernehmung zurück in ihre Zelle geführt. Die öffentlichen Verhöre waren beendet.

Die neun nichtöffentlichen (Sonder-)Verhöre Eine Woche lang wertet Cauchon sodann in seiner Interimsresidenz in Rouen zusammen mit namentlich unbenannten „magistris et viris peritis in iure divino et canonico/Gelehrten und im göttlichen wie im kirch­ lichen Recht kundigen Männern“ die Vernehmungsprotokolle aus. Aus Jeannes Einlassungen werden die weniger befriedigenden, die zu weiteren Nachfragen Anlass gaben, sorgfältig herausgefiltert. Cauchon beschließt, entsprechend den Erwägungen seiner Ratgeber, weitere (Sonder-)Verhöre der Beschuldigten, diese unter Ausschluss der Öffentlichkeit, durchzuführen. Hiermit beauftragt Cauchon, den andere dienstliche Verpflichtungen in Anspruch nehmen, so dass er nur an der ersten, zweiten, vierten sowie der neunten und letzten Sitzung teilnehmen kann, durchgängig seinen Kommissar Jean de La Fontaine (nicht Jean Beau­ père) als Vertreter im Amt. Bei den Vernehmungen zugegen ist jeweils nur ein kleiner Kreis von fünf bis acht Personen, neben Cauchon und seinem Vernehmungsrichter zwei Doktoren der Universität von Paris als Beisitzer und – mit seinem formellen Verfahrensbeitritt zum vierten Sonderverhör am 13. März – auch der Stellvertretende Inquisitor Jean Le Maistre, der seitdem die Vernehmungen gemeinsam mit Jean de La Fontaine leitet. Wegen der Nichtöffentlichkeit der Verhöre sind außerdem jeweils zwei oder drei „öffentliche Zeugen“ anwesend, die gegebenenfalls über den Verlauf auskunftsfähig sind, darunter (nur) beim ersten Sonderverhör am Sonnabend, 10. März 1431, ein Advokat, der Lizentiat des kanonischen Rechts und Domherr von Rouen Jean Secard († 1449). Am letzten Sonderverhör am 17. März 1431 nehmen vier prominente Vertreter der Universität Paris teil, darunter die ehemaligen beziehungsweise am­ tierenden Rektoren Jean Beaupère und Thomas de Courcelles. Die Vernehmungen finden über einen Zeitraum von acht Tagen in Jeannes Gefängniszelle im Schloss zu Rouen statt, bisweilen zwei an einem Tag, vormittags und nachmittags zusätzlich für zwei bis drei Stunden. Die 73

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Sonderverhöre sind in ihrer Gesamtdauer überwiegend kürzer als die öffentlichen Vernehmungen. War die Beschuldigte in diesen Verhören zu den großen Anklagepunkten noch im Wesentlichen zusammenhängend befragt worden, werden jetzt die einzelnen Themen nicht mehr systematisch behandelt, so dass Jeanne abschließend hätte die einzelne Fragen beantworten können. Vielmehr wechseln die Beweisthemen in kurzen Abständen, eine Fragelinie wird vorzeitig abgebrochen, die andere zum wiederholten Male aufgegriffen. Die Verhöre sind darauf ausgerichtet, die befragte Person zu Widersprüchen zu verleiten, ihr Fallen und so ihre Glaubwürdigkeit auf den Prüfstand zu stellen. Dies entsprach bewährten Strategien im Inquisitionsverfahren: In seinem berüchtigten „Leitfaden für Inquisitoren/ Directorium inquisitorum“119 von 1376 gab der katalonische Dominikanermönch und Generalinquisitor von Aragon Nicolaus Eymerich (ca. 1316/19–1399) eine praktische Anleitung: „Wie die angeklagte Person zu befragen ist/Modus ­interrogandi reum accusatum“: Der „gescheite“ Inquisitor solle den Fundamentalvorwurf der Anklage mehr und mehr einkreisen, vom Allgemeinen zum Besonderen gehend und weiter vom Speziellen zum Singulären, um auf diese Weise die Wahrheit herauszufiltern.120 Das erste Verhör am Sonnabend, 10. März 1431, beginnt thematisch mit den Umständen von Jeannes Gefangennahme. Jeanne: „Die Tatsache meiner Gefangennahme ist mir von den Stimmen offenbart worden, nicht aber Zeit und Stunde oder die Umstände. Mir wäre es sonst schwer gefallen, in diese Schlacht zu gehen. Am Ende aber hätte ich mich dem Befehl der Heiligen gefügt, was auch immer mir vor119 Das Directorium inquisitorum von Nicolaus Eymerich wurde im Jahr 1503 erstmals gedruckt und erfuhr zwischen 1578 und 1607 fünf weitere Auflagen. Der Heilige Stuhl verlieh dem Buch einen quasi-offiziellen Rang, indem er Francesco Peña (ca. 1540–1612), Doktor der Theologie und beider Rechte (des weltlichen und des kirchlichen), mit der Kommentierung und Überarbeitung beauftragte, insbesondere mit der Einarbeitung der seit dem Tod Eymerichs päpstlicherseits erlassenen kanonischen Rechtsvorschriften. Die überarbeitete Fassung mit den Kommentaren von Peña, ein umfangreicher Text von 687 Seiten, erweitert durch einen Anhang mit päpstlichen Regelungen zur Heiligen Inquisition von über 150 Seiten, lag 1585 vor. 120 Directorium III, 421; Manuel, 125 f.

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her prophezeit worden wäre. Was meine Fahne bedeutet, die Gott als Weltenhalter mit den beiden Engeln zeigt? Ich weiß es nicht. Die Figuren habe ich auf Geheiß der Heiligen so malen lassen. Ein Wappen auf einem Schild habe ich nie besessen. Das Streitross, das ich vor Compiègne ritt, hat mir der König gegeben. Ich habe von ihm nichts für mich selbst verlangt, nur für den Kampf gute Waffen und Pferde sowie Mittel für mein Obdach. Ich selbst habe keine Reichtümer; mein Besitz steht im Eigentum des Königs.“121 Der Richter fragt weiter: „Was ist das für ein ‚Zeichen‘, das der König vor allen empfangen hat, als er Dir öffentlich Audienz gewährte? Ist es aus Gold, aus Silber, ein kostbarer Stein, eine Krone?“ – „Es ist gut und verehrungswürdig, es schenkt Vertrauen und ist das Kostbarste auf der Welt! Ein Engel hat es dem König übergeben. In diesem Augenblick kniete ich nieder und entblößte mein Haupt. Jetzt befindet es sich in der königlichen Schatzkammer und wird mehr als 1.000 Jahre Bestand haben. Weiter sage ich nichts dazu. Meine Stimmen haben mir vor meinem Gang zum König Mut gemacht: Der König wird ein positives Zeichen erhalten, Dich zu empfangen und Dir zu glauben! Er und seine Geistlichen, die mich bedrängten, waren dann wirklich beeindruckt von dem Zeichen und hörten auf, mich mit Fragen zu quälen.“122 Der Begriff des „Zeichens“/σημεĩον/signum findet sich bereits im Neuen Testament mit differenzierter Bedeutung, am häufigsten beim Evangelisten Johannes: Von Jesus wird etwa ein „Zeichen“ gefordert, dass Gott, in dessen Namen er wirkt, ihn eindeutig autorisiere. Papst Innozenz  III. (1198–1216) fasste diesen Zusammenhang im Jahr 1199 kirchenrechtlich in seiner Dekretalis Quum ex iniuncto:123 Bei einer „unsichtbaren Sendung/invisibilis missio“ reiche es, weil diese verborgen/occulta sei, nicht aus, sich bloß anzumaßen, von Gott gesandt zu sein. Auch ein Irrgläubiger könne dies versichern. Nachgewiesen werden müsse ein gewirktes Wunder oder ein spezielles Zeugnis aus der Heiligen Schrift. Später ließ man als legitimierendes „Zeichen“ auch andere Beweismittel zu.

121 Tisset I, 112 f. 122 Tisset I, 115 ff 123 X.5.7.12 (in: CIC II, Sp. 784 ff.)

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Die Befragung im zweiten Sonderverhör zwei Tage später knüpft an Jeannes Erscheinung des Engels an, der dem König das „Zeichen“ überbracht haben soll: „Hat er gesprochen?“ – Jeanne: „Ja, zum König sagte er: Übertrage Jeanne die Befehlsgewalt, dann wird die Heimat sogleich errettet sein! Dieser Engel hat mich nie verlassen, er tröstet mich jeden Tag. Der Trost kommt von den Heiligen Katharina und Margareta. Sie kommen ungerufen zu mir, manchmal inmitten einer Menschenmenge, ohne dass jemand sie sieht. Ich habe ihnen meine Jungfräulichkeit versprochen. Ich habe den Boden geküsst, auf dem sie gestanden haben, sie nennen mich: ‚Jeanne, Jungfrau, Tochter Gottes‘. Nicht einmal mit meinem Beichtvater habe ich über sie gesprochen, nur mit dem König und Robert von Baudricourt. Ob es Achtung und Ehre entsprochen hat, dass ich Vater und Mutter ohne Abschied verlassen habe, um meinen Auftrag zu erfüllen? Die Heiligen haben gewollt, dass ich Vater und Mutter die Wahrheit sage; aber ich habe nur ihren Kummer im Blick gehabt und geschwiegen. Ich habe dem Befehl Gottes mehr gehorchen und meine Eltern verlassen müssen  – und hätte ich hundert Väter und hundert Mütter gehabt und wäre ich eine Königstochter gewesen!“124 Am Nachmittag desselben Tages (3.  Verhör) leitet de La Fontaine die Vernehmung mit einer Frage nach den Träumen von Jeannes Vater ein. (An dieser Stelle wird besonders deutlich, dass der Vernehmungsrichter sein Verhör auf dem Material aufbaute, das Cauchon in den Vorermittlungen „in der Heimat“ Jeannes gesammelt hatte. Wie hätte sonst er diese Frage formulieren können?) Jeanne reagiert sofort: „Mein Vater hat geträumt, seine Tochter ginge – ganz konträr zu seiner strengen häuslichen Erziehung – mit Soldaten davon.“ Ob Jeanne zu diesem Zeitpunkt bereits ihre „Erscheinungen“ gehabt habe, will der Richter wissen. – „Ja, schon seit über zwei Jahren!“125 Dann geht es erneut um Jeannes Männerkleider: „Es war mein eigener Wille, sie anzuziehen, kein Mensch hat es von mir verlangt. Ich sage nichts dazu, ob meine Stimmen es mir geboten haben, dazu habe ich im Moment von ihnen keine Erlaubnis. Ich habe Männerkleidung niemals als schlecht angesehen. Wenn ich sie jetzt noch trüge und mein Vorhaben weiterführen könnte, hätte ich so viele englische Gefangene ge124 Tisset I, 121 ff. 125 Tisset I, 126 f.

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macht, dass ich den Herzog von Orléans gegen sie hätte auslösen können. Anderenfalls wäre ich übers Meer gegangen, um ihn mit Gewalt aus England zu holen, und ich hätte ihn befreit noch ehe drei Jahre um sind! All dies auf Geheiß der Heiligen Margareta und Katharina!“126 Am nächsten Tag setzt der stellvertretende Inquisitor die Befragung Jeannes zum „Zeichen“ fort (4. Verhör): Jeanne korrigiert nicht, als Jean Le Maistre vom „Zeichen“ einfach als einer „Krone“ spricht: „Die Krone war aus feinstem Gold. Sie bedeutete, dass der König das Königreich Frankreich erhält.“127 – Le Maistre insistiert auf einer Beschreibung des genauen Ablaufs bei der Übergabe der Krone durch den Engel an den König. Jeanne vermag alle Nachfragen im Detail zu beantworten: Woher der Engel kam, wie er sich, in Begleitung anderer Engel, zu denen auch die Heiligen Katharina und Margareta gehörten, dem König näherte, wie der Engel Jeanne in einer kleinen Kapelle wieder verließ. Auf die Frage, warum Gott sich gerade ihrer bedient habe, antwortet sie bescheiden: „Gott hat es gefallen, die Feinde des Königs durch eine einfache Jungfrau zurückzuschlagen.“ – „Welche Beweise gab es dafür, dass es sich um einen Engel gehandelt hat?“ Jeanne: „Der König hat den Geistlichen geglaubt, die anwesend waren, und – dem Zeichen der Krone. Die Geistlichen wiederum haben den Engel durch ihre Gelehrsamkeit identifizieren können – und weil sie eben Geistliche waren.“128 Der Subinquisitor fragt, ob die „Stimmen“ Jeanne zu ihren Feldzügen gegen Paris und Pont-l’Evêque bewogen hätten? – „Nein, ich habe dabei den Soldaten in ihrem Wunsch nach Scharmützeln und kriegerischer Tat nachgegeben. Paris hätte nicht am Feiertag Mariä Geburt angegriffen werden dürfen! Ich habe die Pariser Bürger aber nicht aufgefordert, die Stadt um Christi willen zu übergeben. Ich habe gesagt: Übergebt sie dem König von Frankreich!“129 Jeanne will diese gescheiterten Militäraktionen demnach nicht in Zusammenhang mit ihrer göttlichen Sendung gebracht wissen, sondern den Impuls auf menschliche Beziehungen zurückführen.

126 Tisset I, 128 f. 127 Tisset I, 135. 128 Tisset I, 135 ff. 129 Tisset I, 141 f.

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Im fünften Sonderverhör am 14. März 1431 fragt de La Fontaine in Anknüpfung an die vorherige öffentliche Vernehmung direkt: „Warum bist Du vom  Turm in Beaurevoir gesprungen? Wolltest Du Dir das Leben nehmen?“ Jeanne: „Nein, ich wollte den Engländern entkommen, an die man mich verkauft hatte! Ich wäre lieber tot gewesen als in deren Händen! Und der andere Grund: Mir war zu Ohren gekommen, dass die Einwohner von Compiègne wegen ihrer Unterstützung für mich bis hinab zum Alter von sieben Jahren getötet werden sollten. Ein solches Gemetzel wollte ich nicht überleben! Meine Stimmen haben mich vor dem Sprung gewarnt und nach dem Sprung getröstet. Sie sagten: Nimm es an, wie es ist. Gott wird Dir helfen und auch den Compiègnern!“130 Der Richter hält Jeanne die „Information“ vor, sie habe Gott geleugnet und gelästert, als sie nach dem Fall vom Turm die Sprache wieder gefunden habe. Jeanne: „Das ist mir nicht erinnerlich und auch undenkbar!“ Richter: „Berufst Du Dich dabei auf die bereits vorliegende Information oder auf noch anzustellende Ermittlungen?“ Jeanne: „Ich berufe mich auf Gott und niemand anderen und auf die wahrheitsgemäße Beichte.“131 „Sind Deine Heiligen von Licht umflossen, wenn sie erscheinen?“ Jeanne: „Sie kommen immer in hellem Schein! Ich habe ihnen dreierlei anbefohlen: meinen Feldzug; Gottes Beistand für die Franzosen und das Heil meiner Seele. Für den Fall, dass ich nach Paris gebracht werde, verlange ich eine Abschrift der Vernehmungsprotokolle und meiner Aussage, um sie dort vorzulegen und mir dadurch die Qual weiterer Verhöre zu ersparen.“132 Der Richter kommt auf Jeannes Warnung in den öffentlichen Vernehmungen an Cauchon zurück, dieser werde in große Gefahr geraten, wenn er Jeanne schlecht richte: „Was ist das für eine Gefahr?“ Jeanne: „Ich bin der festen Hoffnung, dass ich Hilfe erhalten werde, wie die Heilige Katha­ rina sie mir versprochen hat: Ich werde aus meinem Martyrium, den Widerwärtigkeiten, die ich im Gefängnis erleiden muss, errettet werden und am Ende in das Paradies kommen. Ich glaube fest an diese Verheißung meiner Stimmen.“ Richter: „Das ist eine Antwort von großem Ge130 Tisset I, 143 f. 131 Tisset I, 145 f. 132 Tisset I, 146 f.

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wicht!“ Jeanne: „Ja, für mich bedeutet diese Gewissheit einen großen Schatz!“133 Am Nachmittag wird das sechste Verhör abgehalten. Ob es überhaupt nötig sei, dass Jeanne zur Beichte gehe, wo doch die „Stimmen“ ihr beständig versicherten, dass sie gerettet werde? Jeanne: „Wenn ich im Stand der Todsünde wäre, hätten die Heiligen mich wohl tatsächlich auf der Stelle verlassen. Aber um auf die Frage zu antworten: ich finde, man kann sein Gewissen gar nicht rein genug waschen!“134 Richter:135 „Aber einen Mann als Geisel gefangen zu halten und ihn zu töten – heißt das etwa nicht, eine Todsünde zu begehen? Wie war das mit Franquet d’Arras in Lagny?“ Jeanne: „Ich habe der Hinrichtung von Franquet d’Arras zugestimmt, weil er ein Mörder, Räuber und Verräter war! Deswegen führten der Amtmann von Senlis und die Justiz in Lagny einen Prozess gegen ihn. Ich habe Franquet sogar entgegen dem Gesetz freilassen wollen, aber der Amtmann machte mir deswegen Vorwürfe, und ich war daraufhin damit einverstanden, dass mit ihm entsprechend dem Gesetz verfahren wurde.“ – Richter: „Nun mach Dir mal deutlich: Du hast Paris an einem Feiertag angegriffen; Du hast das Pferd des Bischofs von Senlis mitgenommen; Du hast dich vom Turm in Beaurevoir gestürzt; Du hast Mannskleider angezogen, und Du hast den Tod von Franquet d’Arras gebilligt  – und Du meinst tatsächlich, keine einzige Todsünde begangen zu haben?“  – Jeanne: „Die Attacke auf Paris: Das war für mich keine Todsünde. Es ist an Gott, darüber zu befinden, und an mir, dazu die Beichte abzulegen. Das Pferd: Der Bischof hat dafür eine Anweisung über 200  Goldsalute erhalten. Außerdem sollte ihm das Pferd zurückgebracht werden. Der Sprung vom Turm: Ich sprang nicht aus Lebensmüdigkeit, sondern um meinen Leib zu retten und vielen bedürftigen Menschen zu Hilfe zu kommen. Männerkleidung: Wo ich sie auf Gottes Geheiß und in seinem Dienst angezogen habe, kann ich wohl nicht schlecht gehandelt haben. Wenn Gott es befiehlt, werden die Sachen sofort abgelegt!“136 133 Tisset I, 147 f. 134 Tisset I, 150. 135 Es ist unklar, welcher Richter an diesem Mittwochnachmittag die Vernehmung durchführt, ob der Stellvertretende Inquisitor oder Jean de La Fontaine. Cauchon war nicht anwesend. 136 Tisset I, 150 ff.

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Das siebte Sonderverhör am darauffolgenden Tag beginnt unter „caritativis exhortacionibus/liebevollen Ermahnungen“ mit der richterlichen Feststellung: „Wenn Du Dich gegen den Glauben vergangen hast, musst Du Dich der Entscheidung der Kirche unterwerfen!“ – ein neues Thema in den Vernehmungen und ab jetzt durchlaufender Kontrapunkt in den Sonderverhören. Jeanne: „Wenn Geistliche in meinen Antworten oder Handlungen nach genauer Prüfung tatsächlich einen Glaubensverstoß finden, werde ich nicht daran festhalten, ja ich würde mich mit Leidenschaft dagegen stellen!“ – Der Richter erklärt ihr den Unterschied zwischen der triumphierenden Kirche und der streitenden.137 Sie solle sich ab sofort der Entscheidung der Kirche unterwerfen, sei sie gut oder schlecht. Darauf Jeanne: „Ich werde Euch ab sofort nichts Anderes antworten!“138 Der Richter fragt nach ihrem ersten Fluchtversuch aus Beaulieu, der Festung bei Compiègne. Jeanne: „Ich habe immer versucht, aus Gefangenschaft zu fliehen! Sähe ich jetzt die Tür offen, ginge ich hinaus – nach dem Motto: ‚Hilf dir selbst, so hilft dir Gott.‘ Gelingt die Flucht, weiß ich, dass Gott einverstanden ist.“139 Richter: „Du darfst die Messe hören – aber nur in Frauenkleidern. Was ist Dir wichtiger: Deine Männerkleidung oder die Messe?“  – Jeanne: „Und was sagen Sie, wenn ich unserem König geschworen habe, meine Männerkleidung immer zu tragen? Ich bin bereit, einen weiten langen Überrock darüber zu ziehen wie ein Bürgermädchen. Aber ich bitte inständig, lassen Sie mich die Messe hören so wie ich bin!“ – „Unterwirfst Du Dich der Entscheidung der Kirche?“ – „Alle meine Worte und Taten sind in Gottes Hand. Ganz gewiss wollte ich nichts tun oder sagen, was entgegen dem christlichen Glauben ist. Falls die Geistlichen feststellen, dass so etwas doch geschehen ist, halte ich nicht daran fest, sondern reiße es aus mir heraus.“ (auf erneutes Insistieren) „Heute hört Ihr von mir nichts An137 Tisset I, 155. Mit der „streitenden (kämpfenden) Kirche“ (ecclesia militans) ist die Kirche auf Erden und in der Welt gemeint, das „Gottesvolk“ der Gläubigen, die gegen die (Erb-)Sünde und das Böse kämpfen. Die „triumphierende Kirche“ (­ecclesia triumphans) bezeichnet die Heiligen, die den Weg zu Gott durch die irdischen Kämpfe hindurch bereits zurückgelegt haben; sie sind bei Gott und schauen ihn. 138 Tisset I, 155. 139 Tisset I, 156.

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deres. Schickt mir am Sonnabend einen Geistlichen, wenn Ihr nicht persönlich kommen wollt, ihm werde ich mit Gottes Hilfe antworten. Das kann dann im Protokoll festgehalten werden.“140 Der Richter fragt nach einem Beweis dafür, dass es sich bei Jeannes Erscheinungen um gute Geister handle. Jeanne: „Der Heilige Michael hat es mir versichert, noch bevor die Stimmen kamen. Ich habe ihn an seiner Redeweise als Heiligen erkannt und an seiner Sprache, wie sie die Engel sprechen. Ich glaube fest, dass meine Erscheinungen Engel waren! Erst hatte ich wie ein Kind Angst vor dem Heiligen Michael. Ich zweifelte daran, dass er es tatsächlich sei. Aber er zeigte mir und lehrte mich so vieles, dass ich schließlich fest an ihn glaubte. Er berichtete von dem großen Elend im Land und sagte mir, ich solle dem König von Frankreich zu Hilfe kommen. Gegen Katharina und Margareta habe ich mich nur durch meinen Sprung in Beaurevoir versündigt, sonst habe ich mich bemüht, mich zu bessern. Eine körperliche Strafe haben die Heiligen für diese Sünde nicht von mir verlangt.“141 Richter: „Du hast hier früher einmal gesagt, dass man mitunter Menschen, die die Wahrheit sagen, aufhängt. Bedeutet das, dass Du eine Schuld mit dir herumträgst, derentwegen du sterben müsstest, wenn du sie eingestündest?“ – „Nein!“142 Am 17. März, einem Sonnabend, finden die beiden letzten Sonderverhöre statt. Der Vernehmungsrichter knüpft an das vorige Verhör an und fragt erneut nach Gestalt und Aussehen des Erzengels Michael. Jeanne: „Ganz wie ein wahrer Edelmann ist er aufgetreten. Mehr sage ich dazu nicht!“143 „Unterwirfst Du Deine Worte und Werke, gut oder böse, dem Beschluss der Heiligen Mutter Kirche?“ Jeanne: „Ich liebe die Kirche und will sie um unseres christlichen Glaubens willen mit meiner ganzen Kraft unterstützen. Zu meinen Werken und meinem Auftrag unterwerfe ich mich dem König des Himmels: Er hat mich zu Karl geschickt, dem Sohn Karls, des gewesenen Königs von Frankreich. ‚Und Ihr werdet sehen, dass die 140 Tisset I, 156 ff., 158. 141 Tisset I, 162 f. 142 Tisset I, 164. 143 Tisset I, 165.

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Franzosen von Gott ganz bald einen großen Auftrag erhalten werden und dabei ganz Frankreich wanken wird.‘ Wann? Das steht bei Gott.“ – „Unterwirfst Du Dich mit Deinen Worten und Taten der Entscheidung der Kirche?“  – „Ich unterwerfe mich Gott, der mich geschickt hat, und der Heiligen Maria und allen Heiligen des Paradieses. Mir scheint, dass es sich bei Gott und der Kirche um ein und dasselbe handelt. Warum macht Ihr an dieser Stelle Schwierigkeiten?“144 Der Richter erläutert ihr erneut den Unterschied zwischen der triumphierenden Kirche, für die Gott, die Heiligen und Engel sowie die geretteten Seelen stehen, und der streitenden Kirche, repräsentiert durch den Papst, die Kardinäle und Prälaten, die Geistlichen und alle gläubigen Christen. Die aus beiden vereinigte Kirche sei unfehlbar und geleitet vom Heiligen Geist. Ob sich Jeanne also der streitenden Kirche unterwerfen wolle? Jeanne: „Ich bin auf Befehl von Gott, der Heiligen Jungfrau Maria, aller Heiligen des Paradieses und der aus der Höhe siegreichen Kirche zum König von Frankreich gekommen. Dieser Kirche unterwerfe ich all meine guten Taten und alles, was ich tue und tun werde.“ – „Unterwirfst Du Dich der streitenden Kirche?“ – „Mehr sage ich dazu nicht!“145 Richter: „Hasst Gott die Engländer?“ – Jeanne: „Darüber weiß ich nichts. Aber ich weiß, dass sie aus Frankreich herausgetrieben werden, außer denen, die hier bleiben und zu Tode kommen, und dass Gott den Franzosen den Sieg über die Engländer schicken wird!“ – „Also war Gott auf Seiten der Engländer, als sie in Frankreich erfolgreich waren?“  – „Ich weiß nicht, ob Gott die Franzosen hasste; aber ich glaube, er wollte zulassen, dass sie wegen ihrer Sünden – wenn sie welche begangen hatten – bestraft werden.“146 (Glänzend pariert!) Zwischen Fragen zu ihrer Männerkleidung, zu ihrem Banner und zu dem Schwert aus Fierbois, auf die sie bereits geantwortet hatte: Warum hat Jeanne eine vollständige weiße Rüstung und ein Schwert in der Kirche Saint Denis zu Paris dargebracht? Jeanne: „Ich habe ein frommes Werk tun wollen, wie üblicherweise Soldaten, wenn sie verwundet wurden. Weil ich vor Paris verwundet wurde, habe ich Rüstung und Schwert 144 Tisset I, 165 f., 166. 145 Tisset I, 166 f. 146 Tisset I, 169 f.

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in Saint Denis geopfert, denn „Montjoie Saint Denis!“ ist der Kampfruf der Franzosen! Ich habe es nicht gemacht, damit meine Waffen verehrt würden.“147 Im letzten Sonderverhör am Nachmittag dieses 17. März geht es noch einmal um Jeannes Fahne mit den beiden Engeln. Ob diese die Heiligen Michael und Gabriel darstellten? Jeanne: „Die Heiligen Katharina und Margareta haben mir das Banner im Auftrag des Himmelkönigs aufgegeben, und ich habe es daraufhin mit Gott und zwei Engeln ausgestalten lassen. Nicht diese Fahne, sondern Gott hat mir den Sieg verliehen! Meine Siegeshoffnung gründete sich nur auf den Herrn“.148 Richter: „Was hat es mit deinem Kürzel auf sich und den Wörtern ‚Jhesus Maria‘, die Du unter Deine Briefe gesetzt hast?  – Die Geistlichen, die meine Briefe schrieben, haben das Kürzel dorthin gesetzt und auch die Wörter ‚Jhesus Maria‘ für richtig gehalten“.149 (auf suggestive richterliche Nachfrage) Jeanne: „Nie ist mir offenbart worden, dass mir mein Glück abhanden oder die Stimmen nicht mehr kommen würden, wenn ich meine Jungfräulichkeit verlöre! Ich weiß auch nichts davon, dass die Stimmen ausblieben, wenn ich heiraten würde. Insofern halte ich mich an Gott.“150 Richter: War es recht, dass Dein König den Herzog von Burgund töten ließ? – „Das war ein großer Schaden für Frankreich. Was auch immer aber zwischen den beiden Fürsten stand, Gott hat mich geschickt, um Frankreich zu helfen“.151 Ob sie dem Papst gegenüber, dem Stellvertreter Gottes auf Erden, uneingeschränkter auf alle Fragen des Glaubens und des Gewissens antworten würde als dem Bischof von Beauvais und seinen Beisitzern? – „Ja! Man führe mich zu unserem Herrn, den Papst, und ich werde vor ihm alle Antworten geben!“152

147 Tisset I, 170 f. 148 Tisset I, 172 f. 149 Tisset I, 174 150 Tisset I, 174 f. 151 Tisset I, 175. 152 Tisset I, 175 f.

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Richter: „Aus welchem Material war Dein Ring mit der Aufschrift ‚Jesus-Maria‘?“ Jeanne: „Vielleicht aus Gold, vielleicht aus Kupfer, ich weiß es nicht. Der Ring hat mir gefallen, auch in Verehrung meiner Eltern. Ich habe mit diesem Ring am Finger die Heilige Katharina berührt. Ich habe beide Heilige, Katharina und Margareta, umarmt, und zwar wie es sich geziemt, an den Knien.“ – „Rochen sie gut?“ – „Ja, wenn man das wissen muss: sie rochen gut!“ – „Hast Du bei den Umarmungen eine Hitze oder etwas Anderes wahrgenommen?“ – „Ich konnte nicht anders als die Heiligen beim Umarmen spüren!“ – „Hast Du ihnen etwas geschenkt?“  – „Ich habe ihre Bilder in den Kirchen mit Blumen bekränzt. Aber wenn sie mir erschienen, habe ich ihnen keine Geschenke gemacht. Ich habe vor ihnen aus Ehrerbietung die Knie gebeugt und mich verneigt.“153 Richter: „Weißt Du etwas über die, die in Begleitung von Feen durch die Lüfte kommen?“ Jeanne: „Ich habe wohl davon sprechen hören. Auch, dass sie am Jupiter-Tag kommen sollen. Aber daran geglaubt habe ich nicht, das ist Wahrsagerei.“154 Richter: „Warum ist Deine Standarte in der Kathedrale zu Reims bei der Salbung des Königs den Fahnen aller anderen Feldherrn vorangetragen worden?“ Jeanne: „Die Standarte war in aller Bedrängnis die meine – es kam ihr zu, einmal auf diese Weise geehrt zu werden!“155 So enden die Vernehmungen Jeannes im Verfahren von Amts wegen.

153 Tisset I, 176 f. 154 Tisset I, 178. 155 Tisset I, 178 f.

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Die „Stimmen“ und Prophezeiungen Kardinalfrage sowohl der Verhöre wie des gesamten Prozesses waren die „Stimmen“ und Erscheinungen Jeannes. Drei Viertel der Vernehmungen entfielen auf dieses Thema156, das gleichzeitig das Rätsel ihrer Persönlichkeit beschreibt. Weder in den Verhören noch im weiteren Verlauf des Prozesses wird es gelingen, diese Schnittstelle von Diesseits und Jenseits befriedigend zu beschreiben und zu erklären. Ursache war auch, dass Jeanne nicht bereit und in der Lage war, die von ihr als höchstpersönlich empfundene außerweltliche Kommunikation vor Gericht alltagssprachlich auszubreiten, auch wenn sie im Laufe der insistierenden Befragungen Konkretisierungen versuchte. Bis heute existiert trotz verschiedenster, auch medizinischer Ansätze nach unserer Wahrnehmung keine überzeugende (natur)wissenschaftliche Deutung dieses metaphysischen Austausches, der sich seit Jeannes erster akustischer Wahrnehmung einer einzelnen „Stimme“ über sieben Jahre entwickelte157. Wie die katholische Kirche sich offiziell dazu geäußert hat, wird später anzusprechen sein. An die Problematik der „Stimmen“, die mit Jeanne sprechen, knüpft sich die Frage nach den Prophezeiungen des Mädchens, etwa die Vorhersage der Befreiung von Orléans binnen weniger Tage. Nach Jeannes eigener Darstellung beruhen sie auf Offenbarungen ihrer „Stimmen“. Und: Der göttliche Auftrag, den sie von den „Stimmen“ erhalten hatte, ihre kriegerische Mission  – wie weit reichte sie? Nur soweit der Auftrag reichte, konnte der Krieg, den sie geführt hatte, ein gerechter gewesen sein, ein „iustum bellum“. Hatte sie nicht nach der Befreiung von Orléans und dem sacre Karls ihr Charisma verloren? Und trotzdem weiter Krieg geführt?

156 13 Fragen beschäftigten sich mit dem Gesamtkomplex der „Stimmen“, darüber hinaus zehn mit den Erscheinungen des Erzengels Michael; weitere 18 betrafen die Heiligen Katharina und Margareta (vgl. Müller, 33 mit Anmerkung 133). 157 Wie bereits zu Beginn ausgeführt, sind für eine Darstellung des Verurteilungsprozesses diese Deutungsversuche entbehrlich. Ein Überblick zu den verschiedenen Ansätzen findet sich bei Müller, 83 ff. m.w.N.

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Letzte Schritte vor Beginn des ordentlichen Verfahrens Am 17.  März 1431 findet Jeannes letzte nichtöffentliche Vernehmung statt. Bereits am 18. März, dem Passionssonntag, treten beisitzende Mitglieder des Inquisitionsgerichts und der stellvertretende Inquisitor in der bischöflichen Residenz zusammen, um vom Bischof und Vorsitzenden den Bericht über die Verhöre des Mädchens entgegenzunehmen. Die Beratungen verlaufen konzentriert und intensiv. Jeder einzelne Beisitzer wird nach seiner Einschätzung befragt. Unter dem Eindruck der Voten verfügt der Vorsitzende, dass die Beteiligten sich nach drei Tagen erneut zusammenfinden sollen. Bis dahin hat jeder einzelne Gelegenheit, die in schriftlicher Form vorliegenden Aussagen und Antworten Jeannes sorgfältig zu studieren und auszuwerten – dies gern unter Beiziehung gelehrter Abhandlungen und Kommentierungen zu ähnlich gelagerten Sachverhalten. In der Zwischenzeit sollten aus den Vernehmungsergebnissen präzise Artikel/certi articuli formuliert werden, die vor dem Gericht gegen Jeanne eingebracht werden sollten.158 Hiermit dürfte der Vorsitzende die spätere Anklageschrift gemeint haben. Zu fundierterem Austausch trifft sich das Gericht in größerer Runde ein zweites Mal am Donnerstag, 22. März 1431. Cauchon verfügt, dass die Auszüge, die zuvor aus dem Register der Aussagen Jeannes in den Vernehmungen gefertigt worden waren, in wenigen „asserciones“/Behauptungen oder Schuldartikel aufbereitet werden, die den Kern der Aussagen der Beschuldigten enthalten.159 Diese Anordnung dürfte in die zwölf so genannten ­Assertiones gemündet sein, die später in weiter entwickelter Gestalt die Grundlage für die Verurteilung der Angeklagten bilden sollten. In ihrer Gefängniszelle wird Jeanne am darauffolgenden Sonnabend vom Notar Manchon das Vernehmungsprotokoll verlesen. Der Kreis der Anwesenden ist klein; der Bischof selbst ist nicht dabei, er lässt sich durch Jean de La Fontaine vertreten. Wie wichtig dieser Termin im Verfahren ist, zeigt sich an der Anwesenheit des Subinquisitors und so bedeutender Beisitzer wie Jean Beaupère und Thomas de Courcelles. Jeanne schwört 158 Tisset I, 179 f. 159 Tisset I, 180.

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Letzte Schritte vor Beginn des ordentlichen Verfahrens

vorab, den protokollierten Antworten nichts Unwahres hinzuzufügen. Sie verlangt, dass man ihr jeweils nacheinander die Fragen und Antworten vorlese. Falls sie nicht widerspreche, sei der Protokollinhalt zugestanden.160 Jeanne widerspricht dem Protokoll in keinem Punkt. Mit Blick auf das ausgezeichnete Gedächtnis des Mädchens dürfte das Protokoll demnach zutreffend sein. In ihrem letzten Zusammentreffen vor Beginn des förmlichen Verfahrens, am Morgen des folgenden Palmsonntags, 25.  März 1431, richtet Cauchon wiederum in Anwesenheit u.a. von Beaupère und de Courcelles in der Gefängniszelle an Jeanne die Frage, ob sie bereit sei, ihre Männerkleidung ab- und Frauenkleider anzulegen, wenn sie im Gegenzug, wie wiederholt erbeten, die Erlaubnis erhalte, in dieser österlichen Zeit die Messe zu besuchen. Jeanne erwidert: „Ich habe hierüber noch keinen Rat eingeholt, und so kann ich mich nicht dazu entschließen, die Kleidung zu wechseln. Bitte gestattet mir, die Messe in Männerkleidung zu besuchen! Damit verstoße ich nicht gegen die Regeln der Kirche, und mein Gewissen bleibt rein!“ Die anwesenden Beisitzer verschärfen den Ton und ermahnen Jeanne, eine ihrem Geschlecht entsprechende Kleidung anzulegen. Sie verweisen auf die in Aussicht gestellte Vergünstigung und auf Jeannes zur Schau getragene Frömmigkeit. Jeanne bleibt unbeirrt bei ihrer Haltung, ihr Einwand jedoch ungehört. Dem Promotor wird auf seine Bitte im Nachhinein eine Protokollausfertigung über das Gespräch erteilt.161

160 Tisset I, 181 f. 161 Tisset I, 183.

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Die Anklageschrift Mit der Verlesung der Anklageschrift in 70 Artikeln vor Jeanne beginnt am übernächsten Tag, am Dienstag der Karwoche, dem 27. März 1431, im Schloss zu Rouen der zweite Prozessabschnitt: das ordentliche Verfahren, der Processus ordinarius, der am 24. Mai 1431 mit der Urteilsverkündung enden sollte. Die Verlesung der Anklageschrift wird zwei Tage in Anspruch nehmen. Am Tag zuvor haben sich im bischöflichen Wohnhaus erneut der Vorsitzende, der stellvertretende Inquisitor und verschiedene beisitzende Richter zu einer protokollierten vorbereitenden Beratung getroffen, in der über das weitere Verfahren entschieden werden sollte.162 Als Entscheidungsgrundlage werden „präzise Artikel/certos articulos“ vorgelegt und verlesen, in denen die Vorwürfe zusammengestellt sind, die Promotor d’Estivet (nicht anwesend) gegen Jeanne vorzubringen beabsichtige. Für Cauchon und Le Maistre steht bereits vor der Beratung fest, dass es einen Wechsel zum Processus ordinarius geben soll, worin ihnen die Beisitzer zustimmen.163 Ob die articuli bereits die Form einer Anklage(-schrift)/libellus hatten, wird aus den Protokollen nicht deutlich. Terminologisch wird von articuli gesprochen, nicht von libellus. Inhaltlich besteht sicherlich Identität. Nicht nur der Verfahrenswechsel, auch der Inhalt der articuli, die, wie das Protokoll andeutet, im Hintergrund vom Promotor selbst verfasst worden waren, findet den Beifall der anwesenden Richter. Die Artikel sollen am nächsten Tag durch den Promotor (erwogen war auch der Vortrag durch einen anderen Kirchenanwalt) vorgetragen werden. Soweit Jeanne, zu ihnen befragt und gehört, eine Stellungnahme verweigere, gälten die Vorwürfe als zugestanden. Dieser Vorgang beschreibt die so genannte „Streitbefestigung/Litis contestatio“, eine ursprünglich im Zivilprozessrecht ausgeformte, im Inquisitionsprozess ausschließlich dem streitigen ordentlichen Verfahren eigene 162 Tisset I, 184 f. 163 (Nur) Im Urfé-Manuskript ist das Abstimmungsverfahren anhand der Voten der einzelnen Beisitzer (in lateinischer Sprache) detailliert aufgeführt (vgl. Tisset I, 187 f.).

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Die Anklageschrift

Festlegung des Streitgegenstandes zwischen Anklage und Angeklagten. Sie wurde nach der offiziellen Übergabe der Anklageschrift (oblatio libelli) an das Gericht – die hier zu diesem Zeitpunkt noch aussteht – vom Promotor beantragt. In diesem Angelpunkt des ordentlichen Verfahrens wurde die Angeklagte zu jedem einzelnen Anklagepunkt gehört und hatte unter Eid mit: „Ja, ich glaube/credo“, zu antworten, wenn sie ihn für zutreffend hielt, anderenfalls mit: „Nein, ich glaube nicht/non credo“; es stand ihr frei, ihr Votum durch weitere begründende Ausführungen zu untermauern. Über zugestandene Vorwürfe wurde in der Folge nicht weiter verhandelt, über streitigen Sachverhalt hatte der Promotor Beweis zu erbringen oder seine Anklage insoweit zurückzuziehen. Schwieg die Angeklagte, so galt der Anklagepunkt als zugestanden. Ein sachlicher Grund für den zulässigen, wenn auch seltenen Wechsel vom Prozess von Amts wegen zum ordentlichen Verfahren ist aus den Akten nicht zu entnehmen. Was ist das Motiv? Ist wichtig, dass der Prozess auch äußerlich die im 15. Jahrhundert in Glaubenssachen übliche Form erhielt? Oder ist für Cauchon und Le Maistre der positivere Eindruck ausschlaggebend, den ein Beobachter vom Processus ordinarius gewinnen konnte? Bei der „Streitbefestigung“ nämlich ist das Gericht nur Zuschauer der Auseinandersetzung zwischen dem Anwalt der Inquisition und der Angeklagten. Zwischen diesen beiden wird wie in einem Parteiprozess der Sach- und Streitstand festgelegt. Die (vermeintliche) Unparteilichkeit und Unabhängigkeit der Richter mögen dadurch in den Vordergrund der Wahrnehmung rücken. Die Erkenntnis, dass dieses Verfahren mit erheblichem prozessualen Aufwand „doppelt genäht“ war, vertieft sich angesichts der Überlegung, dass der Richter in einem Inquisitionsverfahren, welches durch ein öffentliches Gerücht angestoßen wurde, nicht (wie im ordo iudiciarius solemnis in Gestalt z.B. des ordentlichen, formgebundenen Akkusationsverfahrens) an die strikten kirchenrechtlichen Verfahrensbestimmungen gebunden war, sondern nach seinem Ermessen vorgehen konnte. Dabei soll er sich an der Billigkeit/aequitas ausrichten.164 Es sei ein Missverständnis, ihn hier gleichzeitig in einer Person in der Rolle des Richters und Anklägers/accusator et iudex zu sehen, so Innozenz  III., denn die 164 Vgl. Papst Innozenz III. in seiner Dekretalis „Per tuas literas“ aus dem Jahr 1213 (X 5.3.32, in: CIC II, Sp. 762).

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Die Anklageschrift

Anklage beruhe auf dem öffentlichen Gerücht/fama deferente et denunciante clamore. Der Richter solle nur seines ureigenen Amtes walten.165 Innozenz III. ließ zudem für die strafprozessualen Verfahrensarten per denuntiationem und per inquisitionem ausdrücklich ein vereinfachtes Verfahren (negotium summatim examinans166) zu. Diesen neuen Prozess­ typus bestätigte und beschrieb Papst Bonifaz VIII. in seiner Konstitu­tion Statuta mit einer vierfachen Klausel: Das Inquisitionsver­fahren könne „einfach und ohne weitere Umstände sowie ohne das Getöse und die Formalismen von Anwälten und Gerichten“ ablaufen.167 ­Clemens  V. (Papst 1305–1314) konkretisierte dieses vereinfachte Verfahren im Jahr 1311 in seiner Konstitution Saepe contingit angesichts der von ihm wahrgenommenen Verunsicherung, was die Formel genau bedeute und wie verfahren werden sollte: Er bestimmte, dass in wichtigen kirchlichen Rechtsstreitigkeiten sogar die Litis contestatio, unverzichtbarer Bestandteil des ordentlichen Verfahrens, sowie weitere substantialia iudicii wegfallen könnten. Entscheidendes Kriterium, welche Prozesshandlungen entbehrlich sind, ist für ihn, ob sie der cognitio veritatis/der Wahrheitsfindung dienten oder nicht. Mit „Wahrheit“ sind dabei diejenigen Tatsachen gemeint, die die richtige Entscheidung stützen. Auch im vereinfachten Verfahren, im processus summa­rius, durften also diejenigen Prozesshandlungen nicht beschnitten werden, die zum materiell richtigen Urteil führten.168 Cauchon hätte also von vornherein im Offizialverfahren summatim entscheiden können, allein auf Grundlage seiner vorbereitenden Untersuchung und der richterlichen Vernehmungen Jeannes: ohne Promotor, ohne Anklageschrift, auch ohne Litis contestatio. Dass er dies wohl ursprünglich vorhatte, kann man andeutungsweise einer Formulierung entnehmen, die er Jeanne gegenüber in der ersten Sitzung am 21. Februar gegenüber benutzte, als er sie „liebevoll ermahnte, zur Beschleuni165 Vgl. die Dekretalis „Licet Heli“ von Innozenz III., ebenfalls aus dem Jahr 1213 (X 5.3.31, in: CIC II, Sp. 760 f.). 166 X 2.6.5 (in: CIC II, Sp. 263 ff.), vgl. auch X 5.1.24 (in: CIC II, Sp. 745 ff.); X 5.3.32 (in: CIC II, Sp. 761 f.); X 5.1.26 (in: CIC II, Sp. 747 f.). 167 „Concedimus quod in inquisitionis haereticae pravitatis negotio procedi possit ­simpliciter et de plano et absque advocatorum et iudiciorum strepitu et figura.“ (VI 5.2.20, in: CIC II, Sp. 1078). 168 Nörr, Textrationalität, 21.

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gung des Verfahrens(!) und zur Entlastung ihres Gewissens die volle Wahrheit …“169 zu sagen. Stattdessen bestimmt der Vorsitzende schon am ersten Prozesstag d’Estivet zum Promotor und lässt diesen neben dem zweieinhalb Monate dauernden Offizialverfahren seine Anklageschrift ausarbeiten, die dann in der Litis ­contestatio zur (erneuten) gerichtlichen Überprüfung gestellt wird. Hat Cauchon dieses Procedere bereits von Anfang an als Masterplan für den Prozess entworfen? Zumindest in formeller Hinsicht haben auf diese Weise die sachentscheidenden Tatsachen eine eingehende Würdigung erfahren. Man kann dem vorsitzenden Richter nicht vorwerfen, dass er durch die prozessuale Ausgestaltung die cognitio veritatis verflacht beziehungsweise behindert oder das Recht gebeugt hätte. Oder wollte er mit der Umstellung des Verfahrens dem Vorwurf begegnen, den Prozess nicht beanstandungsfrei nach dem ordo durchgeführt zu haben? Sein Notar Guillaume Manchon hat später in der Tat berichtet,170 der namhafte Kirchenrechtler Jean Lohier habe, wahrscheinlich um den 17.  März 1431, Cauchon gegenüber geäußert, aus seiner Sicht sei das Verfahren aus verschiedenen Gründen fehlerbehaftet: Es fehle am formellen Rahmen eines ordentlichen Prozesses, z.B. habe es kein vorgelagertes Verfahren zur Klärung der fama gegeben; dieser Prozess werde unter Ausübung von Zwang geführt, so dass die Beisitzer keine unvoreingenommenen Entscheidungen treffen könnten; obwohl das Verfahren auch die Ehre des Königs von Frankreich berühre, sei dieser darin nicht vertreten; es gebe keinen libellus und nicht einmal einzelne Artikel mit den erhobenen Vorwürfen; die Beschuldigte, ein einfaches Mädchen, habe keine Beratung und Unterstützung bei der Beantwortung von Fragen zur Seite, die ihr von gelehrten Fachleuten und Doktoren zu komplizierten Sachverhalten gestellt würden. Manchon berichtete weiter, der Bischof sei entschlossen gewesen, den Prozess weiterzuführen, wie er ihn begonnen hatte. Hat Cauchon im Ergebnis die Kritik Lohiers doch teilweise ernst genommen und den weite-

169 S.o., S. 63. 170 Doncoeur/Lanhers, Instrument public, 48–49; Kelly, Remain silent, 1018 f.

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ren Gang des Verfahrens deshalb zu einem processus ordinarius modifiziert? Uns erinnert die Entscheidung der Richter an diesem Montag der Karwoche 1431, in die Litis contestatio einzutreten, an den gerichtlichen Eröffnungsbeschluss im modernen deutschen Strafverfahren, durch den das Zwischenverfahren, eingeleitet durch die Einreichung der Anklageschrift bei Gericht, beendet und das Hauptverfahren eröffnet wird. Hier fehlt es allerdings zu diesem Zeitpunkt an einer formellen Anklageschrift. Auch ein Gegenüber von Gericht und einer Staatsanwaltschaft ist wie oben beschrieben nicht vorgesehen. Der Promotor/Kirchenanwalt tritt noch immer nicht nach außen in Erscheinung und spielt beim internen Beschluss zur Einleitung des ordentlichen Verfahrens keine Rolle. Das ändert sich am Tag darauf: Jeanne wird in den Raum neben dem großen Schlosssaal vorgeführt. Promotor d’Estivet erscheint und überreicht dem Inquisitionsgericht die Anklageschrift. Er beantragt in französischer Sprache die Streitbefestigung bezüglich der einzelnen „Tatsachen, Rechtsgrundlagen und Vernunftgründe/facta, iura et raciones“, wie sie in den Artikeln der Anklageschrift/codex verschriftlicht und im Einzelnen erläutert seien. Dabei benutzt er den Rechtsterminus Litis contestatio nicht, sondern beschreibt ausführlich die bekannten Schritte deren Ablaufs. Er beantragt u.a., Jeanne „schwören und bekräftigen zu lassen, dass sie auf den Inhalt der Artikel antworten werde, ob sie diese glaube oder nicht glaube/ipsam Iohannam iurare et affirmare quod ipsa respondebit ad contenta in dictis articulis … quod credit aut non credit …“171 Jeanne soll also schwören, sie werde ihre Antworten nach Maßgabe dessen geben, was sie nach ihrer Überzeugung für wahr halte (credere). Ihre bisherigen Eide waren Wahrheitseide gewesen, sie hatte also geschworen zu antworten, was sie sicher wisse. An dieser Stelle nun war das Gericht tatsächlich unsicher, wie weiter zu verfahren sei: Sollte das Mädchen nun schwören? Wenn ja, welchen Eid? Was sollte sie antworten, wenn sie sich nicht sicher war? Welche Aufschübe wären für eine Antwort zu gewähren?

171 Tisset I, 186.

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Die Richter beraten sich mit den domini assistentes und hören die Meinung jedes einzelnen der 28 Beisitzer.172 Das Gericht beschließt schließlich, die Anklageschrift verlesen und deren Artikel der Angeklagten in französischer Sprache erläutern zu lassen. Danach solle sie auf jeden einzelnen Artikel antworten, „was sie wisse“. Wenn Jeanne für ihre Antwort einen Aufschub brauche, solle ihr eine angemessene Frist gewährt werden. Nun leistet der Promotor den „Eid gegen eine verleumderische Anklage/ iuramentum calumniae“ (Kalumnieneid) als letzte Formalie vor (üblicherweise nach) der Festlegung des Streitgegenstandes: „Ich schwöre, dass ich selbstverständlich alles, was in der Anklageschrift bzw. deren einzelnen Artikeln und inhaltlichen Aussagen gegen besagte Jeanne steht, nicht in Begünstigungsabsicht oder aus Groll, unter Bedrohung oder aus Hass, sondern aus Eifer für den Glauben vorlege.“173 Nachdem Cauchon Jeanne einen Verteidiger angeboten und sie abgelehnt hat,174 weist der Vorsitzende die Angeklagte auf ihre Verpflichtung zur wahrheitsgemäßen Aussage hin und „dass sie den Wahrheitseid bezüglich ihrer Taten zu schwören habe“. Sie schwört erneut, die Hand auf den Evangelien: „Ich bin bereit, die Wahrheit über alles zu sagen, was Ihren Prozess betrifft.“175 Danach beginnt die Verlesung der Anklageschrift mit ihren 70 Artikeln. Einem der Protokolle176 ist zu entnehmen, dass nicht der Promotor, sondern Beisitzer Thomas de Courcelles die Anklage vortrug, am Dienstag die ersten 30 Artikel, die weiteren 40 am nächsten Tag. Am Beginn steht eine Präambel in einem einzigen Satz, der in äußerst gedrängtem Stil anderthalb Seiten beansprucht. In ihr stellt der Promotor seine eigene Person und sein Amt kurz vor, apostrophiert Cauchon und Le Maistre als zuständige, gesetzliche Richter Jeannes, benennt die 172 Die 28  Antworten sind im französischen Protokoll enthalten, im späteren lateinischen nicht mehr; vgl. Tisset I, 187 f. 173 Tisset I, 188. 174 S.o. S. 52 f. 175 „… quod iuramentum prestaret de dicendo ipsam veritatem de hiis que tangerent factum… “ (Tisset I, 189). 176 Tisset I, 190.

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notorische Diffamierung des Mädchens und als Ziel der Anklage die Verurteilung als: „… Zauberin beziehungsweise Schicksalsdeuterin, Wahrsagerin, falsche Prophetin, Anruferin und Beschwörerin böser Geister, Abergläubische; den magischen Künsten verfallen und sie praktizierend; in Bezug auf unseren katholischen Glauben falsch denkend, schismatisch, zweifelnd und irrend über … verschiedene … Glaubensartikel; Frevelhafte, Götzendienerin, vom Glauben Abtrünnige, Übelredende und -handelnde, Lästerin Gottes und seiner Heiligen; Ärgernis erregend, aufrührerisch, den Frieden unterlaufend und ihn verhindernd; zu Kriegen aufhetzend, grausam nach menschlichem Blut dürstend und zum Blutvergießen aufrufend; unter Aufgabe der Schicklichkeit und Zurückhaltung ihres Geschlechts vollständig und ohne Scham das schimpfliche Gewand und den Stand von Kriegsleuten angenommen habend; dieserhalb und aus anderen Gründen Gott und den Menschen zuwider; pflichtvergessen gegenüber dem göttlichen und Naturgesetz und der kirchlichen Ordnung; Verführerin der Fürsten und des niederen Volkes, die es in Beleidigung und Missachtung Gottes duldet und billigt, dass man sie verehrt und anbetet, ihre Hände und Gewänder zum Kuss darbietet und sich die nur Gott zukommende Verehrung und Hingabe anmaßt; Häretikerin oder doch mindestens der Häresie vehement verdächtig …“177 Die folgenden 70  Anklagepunkte enthalten strenggenommen nicht 70 Vorwürfe der Häresie. Identische Vorwürfe werden unter neuer Artikelnummer mehrfach genannt. Einzelne Artikel beschäftigen sich mit Rechtsfragen, etwa mit der Zuständigkeit des Gerichts (Artikel 1), der Einleitung der gerichtlichen Untersuchung (Artikel  68) oder Jeannes Verhalten in den Vernehmungen (Artikel 69, 70). Sie formulieren rechtliche Bewertungen (Artikel 66, 67, 70), beschreiben Episoden aus dem Leben Jeannes (Artikel 4, 8, 9, 10), begleitende Ereignisse (etwa Empfang und Beantwortung eines Briefes; Artikel 26, 28) oder örtliche Gegebenheiten (Artikel 5). Zahlreiche im Wortlaut wiedergegebene Briefe erhalten eigene Artikelnummern (Artikel 22, 27, 29). Die Bewertung zuvor dargestellter Umstände oder Beweismittel erfolgt vielfach in einem diesen Themenkomplex abschließenden eigenen Artikel.

177 Tisset I, 191 f.

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An konkreten Handlungen und verwerflichen Gesinnungen werden Jeanne vorgeworfen: –– Zaubereien und Akte des Aberglaubens seit ihrer Jugendzeit: Anrufung böser Geister und Dämonen, Verbündung mit diesen; Feen- und Alraunwurzelglaube, Schwertfund in der Kirche Sainte-Catherine de Fierbois (Artikel 2, 4, 5, 6, 7, 19, 20, 23, 49, 50, 51, 56), –– Verführung und Unterstützung anderer durch Rat und Hilfe bei derartigen Praktiken (Artikel 2), –– Deutung der Zukunft und Wahrsagen durch angeblich göttliche Offenbarungen und Visionen, die aber tatsächlich von Dämonen und boshaften Geistern stammten (Artikel 2, 17, 19, 31, 32, 33, 57, 59), –– Verstoß gegen göttliche Offenbarungen oder Anweisungen (Artikel 37), –– Verführung anderer, Jeanne anzubeten wie eine Heilige, ihre Waffen wie Reliquien zu verehren und in ihr eine Abgesandte Gottes zu sehen (Artikel 2, 52, 59, 62), –– Glaubensirrtümer, falsche, prahlerische oder lügenhafte Gedanken, Worte und Taten, die gegen den katholischen Glauben und das göttliche, kanonische und weltliche Recht oder die Sittlichkeit verstießen (Artikel  3, 8, 9, 10, 11, 13, 14, 21, 22, 64), insbesondere: Lästerung Gottes und der Heiligen (Artikel 47); Leugnung des göttlichen Gebots (Artikel 13); Geringschätzung der göttlichen Sakramente (Artikel 15); Missbrauch der Namen JHESUS MARIA, etwa auf ihrer Fahne (Artikel 24, 58); angebliche Unterscheidung der Personen und der Stimmen der Erzengel, der Engel und der Heiligen Gottes (Artikel 34, 45); Erkenntnis, welche Menschen Gott besonders liebe oder verabscheue (Artikel 35); Jeannes göttliche Sendung (Artikel 38); direkte körperliche Anschauung und Nähe zu der Heiligen Katharina, der Heiligen Margareta und dem Erzengel Michael (Artikel  42); Ungeduld und mangelnde Ehrerbietung gegenüber Gott und den Heiligen (Artikel  46); Unterwerfung unter die triumphierende Kirche, nicht aber unter die streitende Kirche (Artikel 61), –– Vermittlung derartigen Gedankenguts an andere und Unterstützung Gleichgesinnter (Artikel 3), 95

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–– Eigensinn, Verhärtung im Bösen, fehlende Nächstenliebe, Ungehorsam gegenüber der Kirche, Spott und Verwünschungen gegenüber ehrenwerten Persönlichkeiten (Artikel 15, 48, 63), –– Tragen von Männerkleidung und -haartracht trotz mannigfacher Ermahnungen (Artikel 12–16), Empfang des Abendmahls damit (Artikel 40), –– Mord und Blutvergießen und Anstiftung anderer dazu unter Berufung auf ihre göttliche Sendung (Artikel 18, 25, 39), –– Behauptung, dass sie selbst, aber auch andere „Stimmen“ gehört hätten (Artikel 36), –– Versuchung Gottes durch das Herabstürzen vom Turm von Beaurevoir in selbstmörderischer Absicht, angestiftet vom Satan (Artikel 41, 64, 65), –– Behauptung, die Engel und Erzengel stünden auf der Seite der Franzosen (Artikel 43), –– Anmaßung und Überheblichkeit, indem sie sich gegenüber Männern als Befehlshaberin und Anführerin einer Armee aufspielte (Artikel 53), –– schamloses Zusammenleben mit Männern, Bedienung durch diese (Artikel 54), –– Missbrauch von angeblich göttlichen Offenbarungen und Prophezeiungen zu eigenem Gewinn und irdischem Vorteil (Artikel 55), –– Verweigerung des Eides, die Wahrheit zu sagen, mit der Schlussfolgerung der Anklage, sie habe in Angelegenheiten des Glaubens und der Offenbarungen Dinge getan oder gesagt, die sie den Richtern aus Furcht vor Strafe nicht offenzulegen wage (Artikel 60). Exemplarisch für Aufbau und Formulierung der Anklagepunkte liest man in Artikel 8 den – unausgesprochenen – Vorwurf, Jeanne habe einen unsittlichen Lebenswandel geführt: „Ungefähr in ihrem 20. Lebensjahr begab sich Jeanne eigenmächtig ohne die Erlaubnis von Vater und Mutter in die Stadt Neufchâteau in Lothringen und verdingte sich bei einer Frau, die „die Fuchsige“ genannt wurde und eine Herberge betrieb. Dort wohnten ständig junge Frauen kosten96

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frei und außerdem fast immer Soldaten. Während ihres Aufenthaltes in dieser Herberge hielt sich Jeanne zeitweise bei diesen Frauen auf; manchmal führte sie auch die jungen Lämmer auf die Felder oder die Pferde zur Tränke und auf die Wiesen und Weideplätze. Und dort erlernte sie das Reiten und den Umgang mit Waffen.“178 In Artikel 38 wird Jeannes göttliche Sendung mit folgenden Worten in einen Anklagevorwurf gefasst: „Obwohl Jeanne seit ihrer Jugend sehr viele schändliche, schreckliche, anstößige, entehrende und mit ihrem Geschlecht nicht zu vereinbarende Misse­taten, Verbrechen, Sünden und Vergehen in Wort und Tat begangen hat, hat sie erklärt und versichert, alles, was sie getan habe, sei von Gott bestimmt und nach seinem Willen geschehen, und sie habe nichts getan, noch tue sie etwas, das nicht von Gott und durch die Offenbarungen seiner heiligen Engel und der heiligen Jungfrauen Katharina und Margareta komme.“179 Stillschweigend wird hier in einen doppelten Vorwurf gewendet, was Jeanne aus heutiger Sicht hätte entlasten können: Sie hätte eventuell ohne Vorsatz gehandelt, wenn man ihre göttliche Sendung für den subjektiven Tatbestand ernst genommen hätte. Die beiden letzten Artikel des libellus stellen in derselben Diktion apodiktisch fest, die Angeklagte sei hinsichtlich der vorgenannten Vorwürfe hinreichend verdächtig, sie halte an ihren Irrtümern fest und sei nicht besserungswillig. Sämtliche Beschuldigungen seien wahr und erwiesen. Man vermisst in den meisten Artikeln der Anklage eine klare Subsumptionstechnik unter bestimmte, von mittelalterlichen Theologen wie Thomas von Aquin oder Thomas de Torquemada (1420–1498) herausgearbeitete und auch im Directorium inquisitorum zugrunde gelegte Tatbestände bzw. Fallgruppen der Häresie,180 des Abweichens von einzelnen kirchlichen Dogmen, Glaubenssätzen oder von Aussagen des Evangeliums. Eine chronologisch oder anders abgestufte inhaltliche Strukturierung oder Gewichtung der erhobenen Vorwürfe ist nicht erkennbar. Die Anklage stellt lediglich Behauptungen ohne Beweisantritt auf. Sie kreist 178 Tisset I, 200. 179 Tisset I, 238. 180 S.o., S. 42.

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ohne juristisch geschärfte Schlussfolgerungen deskriptiv um einige wenige stets wiederkehrende „notorische“ Tatkomplexe und Bewertungen. Ihre kardinale Bewertung, Jeannes Stimmen und Erscheinungen seien irrgläubig, ist als „entschiedene Annahme“ formuliert: In Artikel  31 stellt der Promotor zunächst fest, Jeanne habe sich durchgängig geweigert, ihre vielfältigen Erscheinungen/plures revelaciones et visiones durch Wort oder Zeichen/verbo vel signo plausibel zu machen/sufficienter declarare. Im folgenden Artikel heißt es dann: „Nach alledem könnt und müsst ihr auf das Entschiedenste annehmen, dass die Erscheinungen und Visionen  – wenn Jeanne denn überhaupt solche hatte  – eher von lügnerischen und teuflischen Geistern als von guten kamen.“181 Dieser Artikel, systematisch im Zentrum der Anklageschrift angesiedelt, ist sachlogisch für viele weitere Vorwürfe vorgreiflich, ohne dass dies durch Bezugnahmen zum Ausdruck gebracht wird. Es fällt auf, dass in den Anklagepunkten vielfach die Aussagen und Erklärungen der Beschuldigten zugrunde gelegt wurden, welche sie zu Selbstdeutung und Wirken nach außen in den Vernehmungen abgegeben hatte, allerdings ohne ausdrücklichen Bezug auf die Vernehmungsprotokolle. Die Anklage verzichtet allerdings nicht von vornherein in eigener „Relationstechnik“ auf die Erhebung von Vorwürfen, die Jeanne im Offizialverfahren abgewehrt oder geleugnet hatte. Zu berücksichtigen sind dabei sicherlich die formalen, aber auch taktischen Zwänge, welche sich aus der ungewöhnlichen Ausgestaltung des Prozesses ergeben: Nach der Umstellung des Verfahrens von Amts wegen auf den Processus ordinarius sollen nun die ungeschmälerten Vorwürfe zur Behandlung in der Feuerprobe der Streitbefestigung, dem ­zentralen Forum der Wahrheitsfindung, (erneut) ein- und vor die entscheidenden Richter gebracht werden. Wir werden nachstehend sehen, dass, vielleicht auch wegen dieser Schwächen in Aufbau und Argumentationsführung, diese Anklageschrift nicht die entscheidende Grundlage des weiteren Verfahrens sein wird.

181 Tisset I, 229.

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Jeannes Verteidigungsmöglichkeiten Der beschuldigten Person im Glaubensprozess standen kategorial drei Verteidigungsmittel zur Verfügung: die Ablehnung von Richtern, der Appell an den Papst und die Benennung von Entlastungszeugen. Zum letzten Punkt wird im Abschnitt zu Zeugen und Sachverständigen Näheres ausgeführt. Zu Richterablehnung und Appell an den Papst soll die Darstellung im Folgenden zweistufig sein: Die Überlegungen gehen zunächst dahin, ob Jeanne das Verteidigungsmittel rechtlich zugestanden hätte; sodann ob die Angeklagte sich ausdrücklich und rechtsförmlich oder auch nur nach ihrem mutmaßlichen Erklärungswillen auf eines der Verteidigungsmittel gestützt hat. Dabei stehen wir vor der Schwierigkeit, dass die rechtsunkundige Angeklagte über ihre Möglichkeiten in keiner Weise orientiert war.

Die Ablehnung des Gerichts/recusatio Das kanonische Recht sah die Möglichkeit einer recusatio bei schweren Zweifeln an der Unparteilichkeit eines Richters vor. Ein derartiger Verdacht (suspicio) konnte sich z.B. auf vertrauliche Kontakte182 oder die Verfeindung183 des Richters mit einer der Parteien gründen. Rechtsverstöße zum Nachteil des Beschuldigten, wie die Unzuständigkeit des Gerichts, die Verweigerung zulässiger Verteidigungsmittel oder die Nichtbeiordnung eines Verteidigers,184 konnten ebenfalls zum Erfolg einer Ablehnung führen. Betrachtet werden soll zunächst, ob Jeanne ein Verteidiger verweigert wurde und dies einen Ablehnungsgrund gegenüber dem Gericht darstellte. In diesem Zusammenhang spielt einer der Bausteine aus dem oben erwähnten summarischen Verfahren eine Rolle, die Klausel: absque ad-

182 X 1.29.25 (in: CIC II, Sp. 170). 183 C. III.q. 5 c.15 (in: CIC I Sp. 518). 184 Directorium III, 451 ff.; vgl. Manuel, 148 f. (stark verkürzt).

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vocatorum … strepitu et figura/ohne das Getöse und die Formalismen von Anwälten. Im Jahr 1215 hatte Papst Innozenz III. auf dem 4. Laterankonzil die Anwendung dieser Klausel auf das Inquisitionsverfahren in Glaubenssachen dem richterlichen Ermessen entzogen und mit einem Verbot bewehrt: „… weil man mehr fürchtet, was auf den Punkt genau befohlen, als was allgemein verfügt ist: euch Anwälten und Notaren … verbieten wir mit aller Schärfe, Häretikern, solange sie halsstarrig in ihrem Irrglauben verharren, Hilfe, Rat oder Unterstützung zu leisten … Im Falle der Zuwiderhandlung werdet ihr eures Amtes enthoben und verliert dauerhaft eure Ehre.“185 Im zweiten Teil des „Leitfadens für Inquisitoren“ kommentierte Peña im Jahr 1585 dieses päpstliche Verbot einer Verteidigung von Häretikern und wies dabei auf die Problematik hin, dass eine Verteidigung auch einem der Häresie Beschuldigten zugebilligt werden müsse, solange seine Schuld nicht erwiesen sei. Sobald er jedoch im Laufe des Verfahrens als Ketzer entlarvt werde, habe sein Verteidiger das Mandat niederzulegen.186 Auch im Inquisitionsverfahren nahm man demnach die Unschuldsvermutung ernst. Die Möglichkeiten einer Verteidigung waren in dieser Situation allerdings begrenzt und endeten gerade in einer Phase des Häresieprozesses, in der die beschuldigte Person in der Regel besonders dringend Hilfe benötigte. Bemerkenswerterweise wurde die Anordnung Papst Innozenz III. trotz ihrer Deutlichkeit in der Praxis von den Gerichten nicht befolgt.187 Schon im Jahr 1311 hatte Papst Clemens V. in seiner Konstitution Saepe contingit den allgemeinen Fall klargestellt, dass auch bei möglichst gestraffter Prozessführung durch den Richter die Verteidigung einer angeklagten Person gewährleistet sein müsse: „Der Richter darf eine Streitsache nicht dergestalt abkürzen, dass notwendige Beweisaufnahmen nicht

185 X 5.7.11 (in: CIC II, Sp. 784). 186 Directorium II, 100. 187 Müller, 928 f.

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zugelassen oder rechtlich gewährleistete Verteidigungsmöglichkeiten abgeschnitten werden.“188 Auch der „Leitfaden für Inquisitoren“ behandelte die Frage, ob ein Verteidiger der angeklagten Person zuzulassen sei, zusätzlich unter dem übergeordneten Blickwinkel: „Hindernisse für den schnellen Ablauf eines Prozesses/De iis quae processus fidei prorogare et retardare possunt“. Neben einer aus­ufernden Zahl von Zeugen führte Eymerich als weiteres Hindernis die Verteidigung an: „Eine Verteidigung für den Angeklagten zuzulassen, ist ein zweiter Grund für eine Verschleppung des Prozesses und eine Verzögerung der Urteilsverkündung. Ein solches Zugeständnis ist manchmal notwendig, manchmal überflüssig.“189 Der Praktikerleitfaden fuhr fort: Wenn der Angeklagte die Tat leugne, egal aus welchem Grund, solle er in Stand gesetzt werden, sich zu verteidigen, und man ihm dazu eine juristische Fachverteidigung zubilligen: „Ihm soll ein redlicher und gesetzestreuer Anwalt an die Seite gestellt werden, gelehrt in beiden Rechten, dem weltlichen und dem kirchlichen, und ein gläubiger Mann.“ In Peñas Kommentierung zu diesen Passagen ist zur Begründung das Naturrecht, die aequitas, angeführt: „quoniam iusta defensio est de iure naturae/weil eine dem Recht entsprechende Verteidigung sich aus dem Naturrecht ergibt“. Cauchon agiert genauso, allerdings erst genau mit Beginn des ordentlichen Verfahrens am 27. März 1431, bevor mit der Verlesung der Anklageschrift begonnen wird.190 Einen entsprechenden Antrag, ihr einen Verteidiger beizuordnen, hätte Jeanne natürlich schon viel früher, etwa zu Beginn ihrer Vernehmungen, stellen können und müssen – wenn sie dies gewusst oder gewollt hätte (so meinte übrigens auch der Kirchen188 „Non sic tamen iudex litem abbreviet, quin probationes necessariae et defensiones legitimae admittantur.“; vgl. Clementinen (Clem.) [Buch]5. [Titel]11. [Kapitel]2 (in: CIC II, Sp. 1200). Die Clementinae stellen eine weitere Dekretalensammlung im Corpus Iuris Canonici dar, die Clemens V. (Papst 1305– 1314) anordnete, die aber erst nach dessen Tod von Johannes XXII. (Papst 1316–1334) im Jahr 1317 veröffentlicht wurde. Die Sammlung besteht aus fünf Büchern, in denen Dekretalen von Papst Clemens V. zusammengestellt sind. 189 Directorium III, 446 f.; vgl. Manuel, 143. 190 S.o. S. 52.

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rechtler Lohier). Für Cauchon gilt zu diesem Zeitpunkt offensichtlich noch die Unschuldsvermutung und steht die Schuld Jeannes noch nicht zu seiner richterlichen Überzeugung fest. Hiermit hätte er sonst auf dem festen Boden des Rechts begründen können, dass die Beiordnung eines Verteidigers gar nicht statthaft sei. Auch mit dem Anerbieten, der Anklagten mehrere Berater zuzubilligen, ging der Vorsitzende deutlich über die kirchenrechtlichen Mindestanforderungen hinaus. Das spätere „Rechtfertigungsverfahren“ in der Causa d’Arc wollte eine Ablehnung des Vorsitzenden im Verurteilungsprozess aus dessen mehrfacher Anrede durch Jeanne in den Vernehmungen des Offizialverfahrens ableiten:191 „Sie behaupten, mein Richter zu sein; ich weiß nicht, ob Sie es sind – passen Sie auf, was Sie tun! Die Wahrheit ist, dass ich von Gott gesandt bin und Sie sich selbst in große Gefahr bringen! – Sie laden sich eine schwere Last auf – und Sie belasten gleichzeitig mich über Gebühr!“192 Einen formellen Ablehnungsantrag enthalten diese Einlassungen zweifellos nicht. Einen Verteidiger, der die Äußerungen Jeannes hätte in ein rechtliches Gewand kleiden können, gibt es nicht. Das kanonische Recht kannte wohl einen Grundsatz ähnlich § 300 Strafprozessordnung: „Ein Irrtum in der Bezeichnung des zulässigen Rechtsmittels ist unschädlich.“ Auf die ausdrückliche Nennung des Terminus recusatio kam es nicht an, sondern auf den Erklärungswillen.193 Die Beschuldigte dürfte mit ihren Worten jedoch nicht die Ablehnung dieses bestimmten Richters zum Ausdruck gebracht haben: Sie sah sich als filia Dei/Tochter Gottes außerhalb jeglicher Zuständigkeit irgendeines irdischen Gerichts. Im Ergebnis ist das Anerbieten des Gerichts, der Angeklagten einen Verteidiger beizuordnen, verspätet. Daraus dürfte ein Ablehnungsgrund gegenüber dem Vorsitzenden abzuleiten sein. Bezüglich der Beiordnung eines Verteidigers bliebe dieser zwar angesichts der Weigerung Jeannes, überhaupt eine Verteidigung anzunehmen, ohne Rechtschutzbedürfnis. Ein entsprechendes, auch nur unausdrückliches Begehren der Angeklag191 Am 22. und 24. Februar 1431 in der zweiten und dritten öffentlichen Sitzung sowie sinngemäß am 14. März 1431 in der fünften nichtöffentlichen Sitzung (vgl. Müller, 1671 ff.). 192 S.o. S. 65. 193 Vgl. X 2.28.34 bzw. 58 (in: CIC II Spp., 421, 437) zum Appell an den Papst.

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ten, sich auf einen Ablehnungsgrund mit diesem Inhalt zu berufen, ist dementsprechend nicht erkennbar. Doch kann nach dem unterlassenen Anerbieten des Vorsitzenden während des Offizialverfahrens, Jeanne einen Verteidiger beizuordnen, doch im Sinne einer suspicio vermutet werden, dass Cauchon die Rechte der Beschuldigten bewusst verkürzte, um ihre ungeschützte Aussage zu erreichen. Damit hätte ein so begründetes Ablehnungsgesuch wohl Aussicht auf Erfolg gehabt. Auch die Unzuständigkeit des Gerichts kann eine recusatio begründen. Im Verfahren gegen Jeanne ist die Zuständigkeit des Inquisitionsgerichts mehrfach Thema: Der Promotor entwickelte in Artikel  1 der Anklageschrift die Verantwortlichkeit des Bischofs von Beauvais und des Inquisitors in Glaubenssachen für die Bewahrung des rechten Glaubens und die Verfolgung und Bestrafung von Häretikern und auch für die entsprechenden inquisitorischen Verfahren, sofern die Beschuldigten in der Diözese Beauvais gefasst wurden.194 Dies gelte auch, wenn sie den Glaubensverstoß anderswo begangen hatten. Hiermit begründet die Anklage sodann die Zuständigkeit des Gerichts für dieses konkrete Verfahren, nachdem bereits in der einleitenden Erklärung der Richter zu Beginn des Prozesses am 9. Januar 1431, im Protokoll der ersten öffentlichen Sitzung am 21. Februar und in der Präambel der Anklageschrift vom Promotor die Zuständigkeit des Gerichts kursorisch thematisiert worden war. Der Grundsatz: ubi te invenero ibi te iudicabo/Wo ich dich auffinde, werde ich über dich richten, findet sich bei Eymerich im Directo­rium unbestritten entwickelt und von Peñas Kommentierung bestätigt: „… haereticus ubi invenitur, ibi convenitur./Wo ein Häretiker angetroffen wird, tritt das Gericht zusammen.“195 Eine vergleichbare Regelung zu einem derartigen Gerichtsstand des Ergreifungsortes/forum deprehensionis findet sich heute in §  9 der Strafprozessordnung. Die Voraussetzungen einer recusatio wegen Unzuständigkeit des Gerichts lassen sich also nicht erkennen.

194 Zu Technik und Stil der Anklageschrift sei erneut angemerkt, dass der Artikel  1 einen veritablen Tatvorwurf gegen die Angeklagte nicht enthält (s.o. S. 94). 195 Directorium, Bd. III, Quaestio 42, S. 568 f.

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Jeanne hat allerdings in ihrer „Verteidigung“ die Zuständigkeit des Gerichts und mögliche rechtliche Auswirkungen nachvollziehbar gar nicht im Blick, sondern wiederholt ihr Bekenntnis zur himmlischen Kirche: „Natürlich müssen der Papst in Rom, die Bischöfe und anderen Kirchenmänner sich um die Bewahrung des christlichen Glaubens und die Bestrafung von Abtrünnigen kümmern. Aber was mich selbst angeht und das, was ich getan habe, so unterwerfe ich mich allein der himmlischen Kirche, also Gott, der Jungfrau Maria und den Heiligen des Paradieses. Ich bin fest überzeugt, dass ich nicht gegen den rechten Glauben verstoßen habe. Das hätte ich auch nicht gewollt.“196 Die Anklage bewertet diese schon aus den Vernehmungen bekannte Einlassung erst später in Artikel 61: Jeanne sei der irrigen Meinung, sie könne sich in ihren Handlungen – ohne Vermittlung durch das Urteil der Kirche – direkt auf Gott und die Heiligen beziehen. Jeanne dazu in der Streitbefestigung: „Ich will nach Kräften der streitenden Kirche Verehrung und Ehrfurcht erweisen. Und bezüglich meiner Taten? Da ist es für mich zwingend, dass ich mich auf Gott, den Herrn, berufe, der mich veranlasst hat, so zu handeln.“197 Juristisch oder prozessstrategisch nicht gefiltert oder aufgearbeitet berühren uns diese Einlassungen heute in ihrer (naiven) Authentizität.

Der Appell an den Papst/appellatio Wir erinnern in diesem Zusammenhang an Jeannes Einlassung im letzten nichtöffentlichen Sonderverhör am 17. März 1431, als sie vom Vernehmungsrichter gefragt wurde, ob sie dem Papst uneingeschränkter auf alle Fragen des Glaubens und des Gewissens antworten würde als dem Gericht? – Jeanne: „Ja! Man führe mich zu unserem Herrn, dem Papst, und ich werde vor ihm alle Antworten geben!“198

196 Tisset I, 193. 197 Tisset I, 278. 198 S.o. S. 83.

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Jeannes Verteidigungsmöglichkeiten

Ist hierin eine Anrufung des Papstes zu sehen, mit der identischen Rechtsfolge wie bei einer wirksamen recusatio: die Gerichtsbarkeit Cauchons und Le Maistres wäre sofort suspendiert gewesen? Auch bei der appellatio kam es nicht auf einen bestimmten Wortlaut der Erklärung an, entscheidend war der Wille zu einer Devolution des Verfahrens vor den vicarius Dei. Wie bei der verworfenen Richterablehnung erkennt man, dass die Antwort Jeannes hier, wie schon die auslösende Frage des Richters, einen anderen Zielpunkt hatte: Es ging um die Unterwerfung unter die (streitende) Kirche, die Jeanne bisher noch nicht erklärt hatte.199 Das Mädchen ist jedoch – wenn überhaupt – nur dem Papst gegenüber bereit, über ihre Glaubensüberzeugungen umfassender Auskunft zu geben, nicht aber gegenüber dem Inquisitionsgericht. Dessen ungeachtet: Die Beschuldigte hatte schon in dieser frühen Prozessphase ausdrücklich darum gebeten, vor dem Papst eine Aussage machen zu dürfen. Eine appellatio konnte sich nicht nur gegen eine förmliche Zwischenentscheidung im Verfahren richten oder gegen das endgültige Urteil. Jede Beschwer der angeklagten Person, jede Verschlechterung ihrer (verfahrens-)rechtlichen Position (appellatio a gravamine) konnte sie begründen, etwa die Verweigerung rechtlichen Beistandes. Hier überschnitten sich die Verteidigungsmittel der Richterablehnung und des Appells. Dem erwiesenen Häretiker stand auch dieses Rechtsmittel nicht mehr zu, so dass es in Glaubensprozessen nur bis zum Endurteil beantragt werden konnte.

199 Bezugspunkt für dieses Petitum war die Ekklesiologie, die Papst Bonifaz VIII. in seiner Bulle (eine Bulle beinhaltet ein apostolisches Lehrschreiben) „Unam sanctam Ecclesiam/Eine heilige Kirche“ im November 1302 verkündet hatte: „Eine heilige katholische und ebenso apostolische Kirche müssen wir im Gehorsam des Glaubens annehmen und an ihr festhalten, und wir glauben diese fest und bekennen aufrichtig, außer ihr gibt es kein Heil und keine Vergebung der Sünden. … Sie stellt den einen mystischen Leib dar, und das Haupt dieses Leibes ist Christus, Christus aber ist Gott. In ihr ist ,e i n Herr, e i n Glaube und e i n e Taufe‘. E i n e Arche Noachs gab es nämlich zur Zeit der Sintflut, die die eine Kirche vorausbildete; in e i n e r Elle vollendet hatte sie e i n e n Führer und Lenker, nämlich Noach; außerhalb dieser wurden, wie wir lesen, alle Wesen auf der Erde vernichtet.“ (in: CIC II, Sp. 1245).

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Jeannes Verteidigungsmöglichkeiten

Die Einlassung der Beschuldigten hatte bereits im vorgelagerten Prozess von Amts wegen deutlich gemacht, dass in einem Verfahren vor dem Papst weitergehende Antworten und damit eine gründlichere Klärung des Sachverhalts sowie eine tiefer gehende Wahrheitsfindung zu erwarten waren. Ihr diese Möglichkeit abzuschneiden, musste Jeanne benachteiligen, sowohl mit Blick auf die Erhebung und die Bewertung des Sachverhalts durch das Gericht als auch im Sinne des ihr zu gewährenden rechtlichen Gehörs. Ihr Appell an den Papst a gravamine war einerseits aus diesem Grund sowie andererseits gestützt auf die Verweigerung einer Verteidigung im Offizialverfahren zulässig und auch begründet. Das Inquisitionsgericht hat Jeannes prozessuale Rechte also verkürzt, indem es ihr die appellatio versagte.

Welche Verteidigungsmöglichkeiten hätten noch zu Gebote gestanden? Wir erinnern uns erneut: Der vorsitzende Richter hatte unmittelbar nach der Vorführung der Beschuldigten zur ersten öffentlichen Sitzung des Offizialverfahrens am 21. Februar 1431 in seinen eröffnenden Worten herausgestrichen, die öffentliche Kunde/fama publica von Jeannes Verfehlungen gegen den Glauben sei „allgemein verbreitet“, und zwar in fast sämtlichen christlichen Königreichen.200 Bereits in der Vorladung, die Cauchon am Tag zuvor an das Mädchen gesandt hatte, war die notorisch verbreitete Kunde von ihren Glaubensverfehlungen festgestellt,201 die ihre gerichtliche Anhörung begründen sollte. Mit dieser (behaupteten) Offenkundigkeit ihrer Glaubensverfehlungen begründet Cauchon die Einleitung des Verfahrens gegen Jeanne und ent200 „… cuius gesta plurima in lesionem orthodoxe fidei, non modo in nostra diocesi, verum eciam in ceteris multis regionibus, fama publica iam fere per universa regna christianorum divulgata referebat…“ (Tisset I, 37); s.o. S. 62. 201 „… fama de factis et gestis per eam in laesionem fidei nostrae, nedum per regnum Franciae, immo eciam per totam christianitatem notorie divulgata…“ (Tisset I, 34).

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hebt das Gericht dadurch der Notwendigkeit, eine vorbereitende Untersuchung bezüglich dieses Punktes, also eine inquisitio infamiae, durchzuführen. Tatsächlich hatte es eine inquisitio praeparatoria gegeben, diese bezog sich jedoch nicht auf die Feststellung der Diffamierung, sondern betraf (wohl) Einzelheiten des Sachverhalts als solchem. Ihr Inhalt war bekanntlich nicht zu den Prozessakten gelangt.202 Jeanne hätte nun als Reaktion auf diese gerichtliche Verfahrenseröffnung sofort am 21. Februar 1431 oder zumindest zeitnah bestreiten können, dass es überhaupt eine Diffamierung gegeben habe, um so eine gesonderte und spezielle inquisitio infamiae zu erzwingen.203 Ein Verteidiger hätte sie entsprechend beraten können. Im weiteren Fortgang des Prozesses war sie mit diesem Einwand ausgeschlossen. Ob sie von dem Verteidigungsmittel Gebrauch gemacht hätte, wenn es ihr bekannt gewesen wäre, bleibt offen. Die Gründung des Prozesses auf der notorischen Diffamierung, von Jeanne unwidersprochen hingenommen, hatte außerdem zur Folge, dass ihr zu Beginn des Verfahrens die konkreten gegen sie erhobenen Vorwürfe nicht eigens eröffnet wurden. Sie erfährt diese erst mit der Ver­ lesung der Anklageschrift am 27. und 28.  März 1431. Dies ist wegen der vorausgesetzten Offenkundigkeit ihrer Verfehlungen in Gestalt der „allgemein verbreiteten öffentlichen Meinung“ rechtlich statthaft.204 Manche Vorwürfe mögen der Beschuldigten zudem sicherlich deutlich gewesen sein. Trotzdem bedeutet die Unklarheit bezüglich der ihr vorgeworfenen Verfehlungen, in der sich Jeanne während des gesamten Offizialverfahrens befand, eine strategische Einschränkung ihrer Verteidigungsmöglichkeiten, die sie benachteiligte.

202 S.o. S. 54 ff. 203 Vgl. die Dekretalis „Si is“ von Papst Bonifaz  VIII. (VI 5.1.2, in: CIC  II, Sp. 1069). 204 Vgl. das Regionalkonzil im südfranzösischen Béziers/Concilium Biterrense (im Jahr 1246 während des Papsttums Innozenz’ IV.) „zu der Frage, wie in einem Inquisitionsverfahren gegen Häretiker vorzugehen ist/qualiter sit in inquisitione procedendum contra haereticos“, in: Mansi, Bd. 23, Sp. 717.

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Jeanne in der Streitbefestigung (Litis contestatio – Festlegung der streitigen Punkte) Kehren wir zurück in den Prozess: Das ordentliche Verfahren hat am 27. März 1431 begonnen; die Anklageschrift wird verlesen, mit ihr im Wechselspiel verschränkt ist die Streitbefestigung, durch die sich dieser Verfahrensabschnitt über zwei Tage erstrecken wird. Jeannes Erklärungen im Rahmen der Litis contestatio sind in den Prozess­ akten den jeweiligen Artikeln der Anklageschrift beigegeben. Nimmt sie in der Streitbefestigung auf ihre Aussagen in den Vernehmungen des Offizialverfahrens Bezug, sind auch diese synoptisch beim einschlägigen Artikel der Anklageschrift aufgeführt. Am zweiten Tag erbittet sie zu einigen Punkten (Artikel 50: Nachrichten der „Stimmen“; 61: Unterwerfung unter die streitende Kirche; 62: Verführung des Volkes zum Glauben an ihre Irrlehren; 69: Festhalten an ihren Irrtümern) einen Aufschub für ihre Antwort „auf nächsten Samstag“. Immerhin sieben Artikel der Anklage kreisen um die Männerkleidung, die Jeanne während der Streitbefestigung nach wie vor trägt. Vielfältige Vorwürfe werden daran geknüpft: Liederlichkeit, fehlender weiblicher Anstand und mangelndes Schamgefühl, außerdem Verhärtung im Bösen, Eigensinn und Ungehorsam gegenüber der Kirche sowie Geringschätzung der göttlichen Sakramente, weil sie es ablehnt, Frauenkleider anzulegen, um an Messe und Abendmahl teilnehmen zu dürfen.205 Darauf Jeanne: „Ich handle nicht schlecht, indem ich Gott gehorche!206 Ich werde morgen näher hierauf eingehen. Ich weiß sehr wohl, wer mich dazu veran205 Artikel 12, 13, 14, 15, 16, 40 und 49 (Tisset I, 205, 207 f., 209, 210, 212, 214, 249). 206 Antigone argumentiert in der gleichnamigen Tragödie des Sophokles (496– 406 v. Chr.), aufgeführt ca. im Jahr 442 v. Chr., ähnlich; für sie steht Göttergebot über dem staatlichen Gesetz (vgl. V. 453 ff.). Sie hat es gewagt, ihren gefallenen Bruder Polyneikes würdig zu bestatten, der gegen ihre Heimatstadt Theben ins Feld gezogen war und damit Hochverrat verübt hatte. Damit handelt sie dem Verbot des thebanischen Königs Kreon zuwider, der sie dafür mit dem Tod bestrafen will. Antigone kommt der Strafe zuvor und stirbt durch

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lasst hat, Männerkleidung anzulegen, aber ich weiß nicht, wie ich das verständlich darstellen soll.“ (nach Verlesung des nächsten Artikels zum Thema) „Ich werde lieber sterben als das widerrufen, was ich auf Geheiß Gottes getan habe! Meine Kleidung werde ich bis auf weiteres nicht ablegen. Es liegt nicht bei mir, dafür den Zeitpunkt zu bestimmen. Und was sonstige Frauenarbeiten angeht: Es gibt genug andere Frauen, um diese auszuführen!“207 Insgesamt bringt die Angeklagte zu ihrer Verteidigung kaum Neues vor, sondern bezieht sich auf ihre früheren Aussagen in den Vernehmungen des Offizialverfahrens und bekräftigt diese. Die ihr mit der Anklageschrift nun vorgetragenen konkreten Vorwürfe leugnet sie ganz überwiegend. Ihre Abwehr bezieht sich nicht in erster Linie auf die vom Ankläger vorgetragenen Tatsachen, die sie vielfach ausdrücklich einräumt, sondern auf deren Bewertung durch den Anwalt der Inquisition als glaubensverkehrt. Bezüglich anderer Vorwürfe bestreitet sie Kausalität oder Vorsatz ihres Handelns. Beispielsweise wendet Jeanne sich dagegen, sie habe Akte ihrer Verehrung oder sogar Anbetung (welche die Anklage nicht näher konkretisiert) zugelassen: „Wenn Menschen meine Hände oder Kleider geküsst haben, habe ich das nicht gewollt oder gar herausgefordert, sondern mich vielmehr dagegen gewehrt, und ich bin nach Kräften dagegen angegangen.“208 In Artikel  21 der Anklageschrift wird ihr vorgeworfen, sie habe ihren Brief an die Engländer „geleitet von Vermessenheit und Anmaßung“ geschrieben. Das Schreiben, im Kopf versehen mit der Formel IHESUS MARIA, enthalte viele verwerfliche und frevelhafte Passagen, die mit dem katholischen Glauben nicht vereinbar seien. Artikel 22 zitiert zum Beleg ohne weiteres den Brief im Wortlaut.209

eigene Hand. Das „göttliche Recht“ auf Bestattung der Toten und das „staatliche Gebot“ stehen sich in diesem Konflikt ähnlich gegenüber wie das göttliche Gebot an und die göttliche Leitung von Jeanne der Glaubenshoheit der katholischen Kirche im Verein mit mächtigen politischen Kräften. 207 Tisset I, 207 f. 208 Artikel 2 (Tisset I, 193 f.) 209 Tisset I, 220.

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Jeanne erwidert: „Den Brief habe ich auf Geheiß des Herrn geschrieben, nicht aus Hochmut oder Anmaßung. Den Inhalt bestätige ich gern, ausgenommen drei Wörter. Die Engländer wären klug gewesen, wenn sie dem Brief geglaubt hätten, das werden sie noch vor Ablauf von sieben Jahren erkennen. Im Übrigen beziehe ich mich auf meine frühere Aussage.“210 Die Anklageschrift zementiert in nur zwei kürzeren Artikeln Sichtweise und Deutung, die für den Ausgang des Prozesses entscheidend sein werden: dass Jeannes „Stimmen“ und Erscheinungen von bösen, teuflischen Kräften ausgegangen und gesteuert seien und dass diese das Mädchen getäuscht hätten. Alternativ habe sie ihre „Offenbarungen“ lügenhaft erfunden. Dafür sprächen neben ihrem Hochmut, ihrem Betragen und ihren Lügen die Weigerung Jeannes, ihre Aussage darüber zu beeiden, und ihre Erklärung, sie werde vor Gericht weder ihre Offenbarungen und Visionen noch das „Zeichen“ preisgeben, auch nicht unter der Folter.211 Die Anklage geht soweit, Jeanne vorzuwerfen, dass sie, von ihr selbst eingeräumt, sich zeitweise entgegen dem offenbarten göttlichen Befehl verhalten hatte212, z.B. beim Sprung vom Turm von Beaurevoir. Dieser Prämisse wird von der Angeklagten argumentativ nichts als ihr Imperativ, ihre unerschütterliche Überzeugung entgegengesetzt, Gottes Geheiß habe ihr Handeln veranlasst. Leitmotiv ihrer gesamten Vertei­ digung ist ihre Berufung auf Gott, ihren (eigentlichen) Richter/iudex suus.213 Ihre Taten seien weder geeignet noch darauf ausgerichtet gewesen, gegen den Glauben zu verstoßen. Die zwei Positionen bleiben im Wesentlichen verkapselt gegeneinander stehen, gegenläufig zu Funktion und Ziel der Streitbefestigung, beiden Seiten den prozessualen Rahmen zu Präzisierung, Korrektur, Vermittlung oder Rücknahme zu schaffen. Die Anklage trägt Bausteine zu­ sammen, die ihr Ergebnis belegen sollen, aber diese Details zu Lebenswandel, Charaktereigenschaften, Selbstdarstellung oder militärischen Entscheidungen Jeannes erhalten nur dadurch vermeintlichen Beweis­ 210 Tisset I, 220 f. 211 Vgl. Artikel 23, Tisset I, 222 und Artikel 32, Tisset I, 229; in Andeutungen auch Artikel 49, Tisset I, 249 und Artikel 50, Tisset I, 251. 212 Vgl. Artikel 37, Tisset I, 237 f. 213 Vgl. Artikel 34, Tisset I, 233 ff.

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charakter, dass sie im Licht der generellen Negativhypothese bewertet werden, die ihrerseits unbelegt bleibt. Andererseits schweigt sich die Angeklagte in der Litis contestatio weiterhin beharrlich zu dem „Zeichen“ aus, das Gott ihr geoffenbart habe und durch das sie als Gottgesandte ausgewiesen worden sei  – mit der Begründung, Gott habe ihr untersagt, darüber zu sprechen.214 Auch bezüglich ihrer „Stimmen“ fügt sie ihren Aussagen in den Vernehmungen nichts Neues hinzu. In den fünf abschließenden Artikeln fasst die Anklageschrift am Ende zusammen und bekräftigt, dass die Angeklagte schuldig sei: „Bestimmte zuvor erwähnte Sachverhalte verstoßen gegen die Bestimmungen des göttlichen Rechts, des Rechts der Evangelien, des kirchlichen und weltlichen Rechts sowie gegen die Statuten, die von den Generalkonzilien beschlossen worden sind. Einige sind Zauberei, einige Wahrsagerei, einige Aberglauben; und einige bedeuten in formeller Hinsicht, an ihrer Wurzel oder auf andere Weise Häresie; sehr viele verleiten zum Irrtum im Glauben und befördern die häretische Verderbtheit; einige sind aufrührerisch, stören und verhindern den friedlichen Umgang, einige stacheln zum Vergießen menschlichen Blutes an … In blinder Vermessenheit hat die Angeklagte, vom Teufel besessen, Gott beleidigt und seine heilige Kirche, hat sich gegen die Kirche versündigt und vergangen. Als öffentliches Ärgernis und notorisch in Verruf ist sie vor euch gekommen, um zur Ordnung gerufen und gebessert zu werden.“215 Es folgen Feststellungen, dass nun die gerichtliche Untersuchung über diese Punkte durchgeführt werde; dass die Angeklagte sich auch angesichts der öffentlichen Diffamierung nicht korrigiert oder in irgendeiner Weise gebessert, sondern sich sogar hartnäckig dem verweigert habe; dass sie trotz vielfältiger wohlmeinender Ermahnungen durch das Gericht, angesehene Geistliche und durch andere ehrenwerte Persönlichkeiten an ihren Irr­tümern festhalte. Alle Punkte der Anklage seien „vera, notoria, manifesta/wahr, offenkundig, erwiesen“.216

214 Vgl. Artikel 51, Tisset I, 254 f. 215 Vgl. Artikel 66, Tisset I, 283 f. 216 Tisset I, 285.

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Jeanne leugnet standhaft und beruft sich auf Gott. Sie glaube nicht, durch die ihr vorgeworfenen Vergehen gegen den christlichen Glauben verstoßen zu haben.217 An diesem Mittwochabend in der Karwoche hat nun der Promotor das letzte Wort und bittet das Gericht demütig/humiliter, seines Amtes zu walten und angesichts der erdrückenden Feststellungen antragsgemäß zu entscheiden. Zum letzten Akt der Streitbefestigung trifft sich das Gericht in kleinem Kreis von sieben Beisitzern und zwei Zeugen am Abend des Ostersamstags im Gefängnis des Schlosses zu Rouen, um die ergänzende Befragung Jeannes zu den von ihr aufgeschobenen Punkten durchzuführen. Dabei geht es im Wesentlichen noch einmal um die Frage, ob die Angeklagte bereit sei, sich der streitenden Kirche zu unterwerfen. Jeanne bleibt dabei, dass sie in erster Linie Gott gehorche: „Ich habe auf Gottes Befehl gehandelt, von dem meine Erscheinungen und Offenbarungen ausgehen. Wenn die streitende Kirche von mir verlangt, sich ihrer Meinung zu unterwerfen, meine Offenbarungen seien Illusionen und Teufelswerk, so ist mir das unmöglich. Ich habe auf Gottes Geheiß getan, was ich getan habe. Um nichts in der Welt werde ich dies widerrufen.“218 So bleibt in der Streitbefestigung – als Einlassung der Angeklagten im heutigen strafprozessualen Verständnis Teil der Beweisaufnahme – das letzte Wort bei Jeanne. Im Protokoll heißt es abschließend: „Hierauf verließen wir diesen Ort, um uns dem zuzuwenden, was in der vorliegenden causa noch zu veranlassen war.“219

217 A.a.O. 218 Tisset I, 286 f. 219 Tisset I, 288 f.

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Zeugen und Sachverständige Das Gericht tritt jetzt in die (weitere) Beweisaufnahme ein, wie sie im regelmäßigen Verfahren in Glaubenssachen, dem processus ordinarius, auf die Litis contestatio folgte. Die Beweisaufnahme betrifft ausschließlich die von der angeklagten Person geleugneten Anklagepunkte. Offenkundige Tatsachen bedürfen keines Beweises. In der Regel bestand die Beweisaufnahme in der Anhörung von Zeuginnen oder Zeugen, die in Gegenwart der Angeklagten zu vernehmen gewesen wären. Im Glaubensprozess gegen Jeanne hört das Gericht keine Zeugen. Darin bleibt es sich in seiner Auffassung treu, dass die Verfehlungen Jeannes „offenkundig“ seien. Das Gericht verzichtet auch jetzt im processus ordinarius bezüglich der Inhalte der informatio praeparatoria auf einen Zeugenbeweis, obwohl die Vorermittlungen Zeugenaussagen enthielten. Die Angeklagte ihrerseits benennt ebenfalls keine Personen, die zu ihren Gunsten vor Gericht hätten aussagen sollen. Bezüglich des Kernpunktes im Prozess, ihrer Erscheinungen und „Stimmen“, mag die Benennung von Zeugen in der Tat kein probates Beweismittel darstellen. Das Inquisitionsgericht entscheidet sich für die Einholung von Sachverständigengutachten, nachdem es am auf das Nachverhör Jeannes folgenden (Oster-)Montag, 2.  April 1431, und an den beiden Tagen danach zusammen mit einigen Assessores erneut die Anklageschrift, die Vernehmungen Jeannes im Offizialverfahren und ihre Einlassungen in der Streitbefestigung ausgewertet hat. In einer Art Relationstechnik stellen die Richter summarisch in zwölf Artikeln so genannte „asserciones/Behauptungen“220 zusammen, eine Zusammenfassung sämtlicher Erklärungen und Aussagen der Angeklagten, in denen sie Vorwürfe der Anklage leugnete  – gewissermaßen ein (formloser) Beweisbeschluss. Hierbei soll das Votum der aus Paris stammenden Beisitzer ausschlaggebend gewesen sein, nach der dortigen Üblichkeit zu verfahren und im Interesse einer zügigeren Beratung (nur) die wesentlichen Vorwürfe in

220 S.o. S. 86.

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Zeugen und Sachverständige

wenigen Punkten zusammenzufassen („Pariser Schule“).221 Rechtlich ist dieses Procedere nicht zu beanstanden, sondern durch den weiten Ermessensspielraum des Gerichts im Inquisitionsverfahren gedeckt. Im bischöflichen Begleitschreiben zu den Assertiones vom 5. April 1431 an „jene Doktoren und Gelehrten, die nach unserer Kenntnis in dieser Stadt anwesend sind/illis doctoribus et viris peritis quos in hac urbe noveramus adesse“, hieß es: „Wir, Pierre, durch Gottes Erbarmen Bischof von Beauvais, und Jean Le Maistre, Vikar des Inquisitors, bitten und ersuchen Euch, uns zum Nutzen des Glaubens bis zum kommenden Dienstag schriftlich und unter Eurem Siegel einen förderlichen Rat zu den nachstehenden Einlassungen zu erteilen, und zwar nach Kenntnisnahme, reiflicher Überlegung und Abstimmung untereinander: Stehen alle oder einige von ihnen konträr zum rechten Glauben oder zur Heiligen Schrift oder sind dessen zumindest verdächtig? Oder zur Auffassung der Heiligen Römischen Kirche oder der von ihr anerkannten Kirchenlehrer? Zu den kirchenrechtlichen Bestimmungen? Oder sind sie anstößig, verwegen, aufrührerisch, widerrechtlich, verbrecherisch, sittenwidrig oder in sonstiger Weise Anstoß erregend?“222 Die zwölf Assertiones beginnen jeweils formelhaft mit: „Die besagte Frau sagt und behauptet/bekennt und erklärt/weiß und ist sich sicher …/Item dicta femina dicit et affirmat/confitetur et asserit/cognovit et certa est …“ Sie enthalten nicht nur Feststellungen, sondern berichten – insofern wie die Anklageschrift, aber verkürzter und gestraffter – narrativ über Abläufe und Vorgänge: –– Jeannes Begegnung und Umgang mit den Heiligen; deren Aussehen, Erscheinung und Befehle; Anlegen von Männerkleidung, Verlassen des Elternhauses und anderes; keine Unterwerfung unter die streitende Kirche –– das „Zeichen“/signum vor Karl VII. in Gestalt der Krone und die Geschehnisse um seine Anbringung

221 So gab Notar Manchon in seiner Vernehmung am 12. Mai 1456 im Nichtigkeitsverfahren an (vgl. Duparc I, 424 [= IV, 104]). 222 Tisset I, 289 f.

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–– Identifizierung der Heiligen als (Erzengel) Michael, Katharina und Margareta –– mündliche Offenbarungen/revelaciones verbotenus verborgener Dinge durch die „Stimmen/voces“ der Heiligen Katharina und Margareta –– Tragen von Männerkleidung und die Weigerung, Frauenkleidung anzulegen –– Schreiben von Briefen mit Drohungen und Anmaßungen, im Kopf die Namen JHESUS MARIA und ein Kreuz –– Begegnung mit von Baudricourt und Bewaffnung Jeannes –– Sturz vom Turm von Beaurevoir trotz Untersagung durch die Heiligen –– Verheißung des Paradieses durch die Heiligen, wenn Jeanne ihre körperliche und seelische Jungfräulichkeit/virginitatem tam in corpore quam in anima bewahre; ihre Überzeugung, keine Todsünden begangen zu haben –– keine Unterwerfung unter die streitende Kirche oder unter einen Menschen; Berufung auf Gott bezüglich ihrer Offenbarungen, angebliches Handeln auf göttlichen Befehl. Wir erinnern daran, dass Cauchon bereits im Januar 1431, wenige Tage nach Beginn des Verurteilungsverfahrens, aus der Detailfülle der informatio praeparatoria auf Bitten der Besitzer zusammenfassende Artikel/ articuli hatte erstellen lassen, um den Sachstand klarer überblicken zu können. Wir kennen diese nicht. Waren sie bereits Vorläufer dieser zwölf Assertiones? Oder waren die so genannten asserciones, die Cauchon aus den Befragungen und Antworten Jeannes in den Vernehmungen für die nachfolgenden gerichtlichen Beratungen am 22. März hatte exzerpieren lassen, das Modell? Es entsteht zumindest der Eindruck, dass es einem geheimen Masterplan, einer bereits im Offizialverfahren beschlossenen Konzeption entsprach, den Kern der Verfehlungen Jeannes in zwölf wesentlichen Punkten Gestalt gewinnen zu lassen. Die Abfassung der Anklageschrift mit ihren 70  Artikeln durch den Promotor bedeutete vor diesem Hintergrund einen erheblichen unnötigen Aufwand, der nach der Einlassung der Angeklagten in der Streitbefestigung wieder fast folgenlos verpufft. 115

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Der Angeklagten werden die zwölf Assertiones („Beweisbeschluss“) vor dem Versand an die Gutachter nicht eröffnet, sondern erst nach Vorliegen sämtlicher Stellungnahmen in der die Beweisaufnahme abschließenden mündlichen Verhandlung am 23. Mai 1431. Wir werden sehen, dass sie – wie schon in der Streitbefestigung – keine Vorbehalte gegenüber der dortigen Darstellung ihrer Einlassungen im bisherigen Verfahren äußert. Da die Assertiones keine unbekannten Tatsachen neu formulieren, sondern den in der Streitbefestigung dargelegten Sachverhalt lediglich auszugsweise neu aufbereiten, dürfte das nach heutigen Gesichtspunkten formell zu beanstandende Vorgehen des Gerichts Jeanne im Ergebnis in ihren Rechten nicht beschnitten haben. In den folgenden Wochen gehen, zum Teil nach wiederholter Aufforderung, 24 Stellungnahmen bei Gericht ein. Schon nach einer Woche, am 12. April 1431, reagiert eine Gutachtergruppe, in der 22 Personen mitgearbeitet haben,223 bis auf einen Magister der Künste sämtlich Theologen224 und gerichtliche Beisitzer im Prozess gegen Jeanne, unter ihnen die Vertreter der Universität Paris. Nach den üblichen Eingangsformeln, der Bezugnahme auf das Ersuchen der Richter und dem vollen Zitat der zwölf Assertiones im Wortlaut „bezeugten/protestati sunt“ die Verfasser formelhaft, sie hätten bei ihrem Votum die Stärkung des Glaubens und die Beförderung des Prozesses verfolgt, hätten sich an der Heiligen Schrift, den Lehren der Heiligen und den kirchlichen Gesetzen orientiert und dabei allein Gott und die Wahrheit des Glaubens im Blick gehabt. Ihre Stellungnahme unterwürfen sie der Prüfung, Korrektur und Bewertung durch die Heilige Römische Kirche. Im Anschluss an diese protestaciones/Bezeugungen spricht die gedrängte Stellungnahme der Sachverständigen Jeanne in allen Punkten schuldig im Sinne der Anklage:

223 Der Magister und Doktor der Theologie Jacques Guesdon, Mitglied im Orden der Minoritenbrüder in Rouen, gibt zusätzlich eine persönliche Stellungnahme ab, in der er sich, ohne weitere eigene inhaltliche Überlegungen zu äußern, dem Votum der Gruppe anschließt. Gleichzeitig bittet er darum, ihn zu entschuldigen, weil er andere Angelegenheiten zu besorgen habe; nach seiner Rückkehr wolle er wieder am Verfahren teilnehmen. 224 16 Doktoren sowie sechs Lizentiaten oder Bakkalaurei.

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Ihre Erscheinungen und Offenbarungen/appariciones et revelaciones ­seien nicht, vermittelt durch Engel und Heilige, von Gott gesandt. Vielmehr handele es sich um Trugbilder menschlicher Einbildung oder um Machwerke eines bösen Geistes/ficciones quasdam humanitus adinventas aut a maligno spiritu processisse, Beweise für das Gegenteil habe sie nicht erbringen können. Ihr fester Glaube an ihre Heiligen mache sie der Häresie verdächtig. Aus den in den Assertiones zusammengestellten Vorwürfen sprächen vorsätzliche Lügen, abergläubische Wahrsagereien, anstößige, ungläubige und götzendienerische Handlungen, Anmaßung und Vermessenheit, Ungehorsam gegenüber den Eltern, Gotteslästerung und mangelnde Nächstenliebe.225 Die beiden Notare Colles und Manchon erteilten als eingesetzte Protokollführer im gerichtlichen Verfahren der Stellungnahme ihre Beglaubigungsvermerke. Dieses Votum wird offensichtlich den anderen befragten Sachverständigen, Theologen und gelehrten wie praktischen Juristen, auch unter diesen Beisitzer im Prozess, zur Kenntnis gegeben, sei es durch öffentliche Bekanntmachung oder durch (Nach-)Versand im Zusammenhang mit der gutachtlichen Beauftragung; die Informationswege sind nicht dokumentiert. Zwei Drittel der Stellungnahmen nehmen Bezug auf dieses erste Votum und treten ihm bei.226 Die überwiegende Zahl der Verfasser formuliert dies ohne eingehendere eigene Argumentation, oft unter Berufung auf ihre eigene Unwissenheit angesichts des Gewichts der einmütigen Stellungnahme „einer solchen Zahl derartiger Männer, wie man sie vielleicht auf der ganzen Welt nicht wieder findet“:227 Sie sehen sich dadurch gehindert, anders zu votieren. Für die Stellung nehmenden Ju­ risten, immerhin mehr als die Hälfte der Befragten, ist dies teilweise nachvollziehbar, da es sich im Kern um eine theologische Fragestellung 225 Tisset I, 297 ff. 226 „… ad eam [sc. opinionem] me determino et illam in omnibus et per omnia teneo…“ (Tisset I, 304), so exemplarisch Magister Jean Maugier (um 1370– 1440), Lizentiat des kanonischen Rechts und Domherr zu Rouen; er war auch Assessor im Verfahren. 227 „Sed quid … post tantos et tales quibus similes forsan non sunt repperibiles in orbe, ignorancia mea concipere posset aut inerudita locucio parturire?“: Abt Gilles/Egidius, Vorsteher des Klosters der Heiligen Dreifaltigkeit zu Fécamp (Tisset I, 302).

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handelt. Allerdings sind auf dem Weg dahin durchaus auch kirchenrechtliche Überlegungen anzustellen. Nur fünf Stellungnahmen äußern sich ohne Bezug auf die Theologengruppe: Auch für Denis Gastinel, Magister und Lizentiat beider Rechte und gerichtlicher Beisitzer, war Jeanne eine Ketzerin; „im Glauben im höchsten Maße irrend“ vertrete sie eine „entartete beziehungsweise falsche Lehre“.228 Der Jurist begründet sein Votum nicht. Für die anderen vier Stellungnahmen zeichnen Theologen verantwortlich, darunter zwei Bischöfe. Philibert de Montjeu, Bischof von Coutances (seit 1424, †  1439), betont zunächst, der Prozess gegen Jeanne sei einwandfrei, höchst wissenschaftlich und exakt geführt worden – denn es sei nicht anzunehmen, dass der ehrwürdige Vater Cauchon und seine Beisitzer in irgendeiner Weise vom Pfade der Wahrheit abgewichen wären. In Jeanne sieht er eine Frau mit einem empfindsamen Geist, dem Bösen zugeneigt und von einem teuflischen Instinkt getrieben. Der Gnade des Heiligen Geistes beraubt, fehle ihr Sittsamkeit und Demut. Ihre Behauptungen stünden im Widerspruch zum katholischen Glauben, seien eitel, abergläubisch und anstößig; sie störten den Frieden und die öffentliche Ordnung. Eine Ketzerin, die ihrer gerechten Strafe zuzuführen sei.229 Zanon de Castiglione, Bischof von Lisieux (seit 1424, Bischof von Pavia ab 1453, † 1459 als Kardinal; Castiglione war eine einflussreiche Persönlichkeit, er wurde mehrfach auf diplomatischen Missionen eingesetzt), legt den Schwerpunkt seiner Überlegungen auf die „Erscheinungen und Offenbarungen“ Jeannes: Schon bei Paulus und dem Kirchenlehrer Augustinus (354–430) könne man lesen, dass der naturhafte Mensch nicht wahrnehme, was vom Geist Gottes stamme. Daher werde die menschliche Seele durch Visionen oder Erscheinungen oft getäuscht und betrogen: Ob es ein guter oder ein böser Geist sei, der sie befalle, sei nicht leicht zu unterscheiden. So dürfe man dem Einzelnen, der behaupte, von Gott gesandt zu sein, um der Welt eine geheime und unsichtbare Entscheidung Gottes kundzutun, nicht glauben  – es sei denn, durch Zeichen oder Wunder/signorum et miraculorum oder ein besonderes Zeugnis der Heiligen Schrift sei erwiesen, dass es sich um eine göttliche Mission hand228 „…  in fide vehementer erronea … doctrine erronee et perverse…“ (Tisset  I, 300). 229 Tisset I, 316 ff.

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le.230 Castiglione bezieht sich hierfür auf die Dekretalis „Quum ex iniuncto“ Papst Innozenz III., von der wir weiter oben bereits gehört haben.231 Der Bischof kommt zum Ergebnis, dass Jeannes Erscheinungen und Offenbarungen nicht göttlichen Ursprungs seien, sondern dämonische Illusionen, Teufelswerk oder von menschlicher Erfindung ausgeheckte Lügen. Als ausschlaggebend für diese Bewertung führt er an: den niedrigen Stand der Angeklagten/actenta vili condicione; ihre unsinnigen und anmaßenden Behauptungen sowie Form und Umstände ihrer Visionen.232 Mit dem fehlenden „Zeichen“ argumentieren auch mehrere Magister und Lizentiaten des kanonischen Rechts, die als (Staats-)Anwälte bzw. als Offizial in Rouen amtieren, sowie zwei Äbte, gleichzeitig Doktoren des kanonischen Rechts(!), teilweise auch sie gerichtliche Beisitzer im Verfahren gegen Jeanne: Die göttliche Herkunft der angeblichen „Offenbarungen“ sei für sie nicht erwiesen, weil es an einem Wunder, an einem Zeugnis der Heiligen Schrift und jedenfalls an der Heiligkeit des Lebenswandels der Angeklagten als Legitimation fehle. Allerdings könne hierüber letztendlich nur der Sachverstand der Theologen entscheiden, auf deren Votum sie sich beziehen.233 Lediglich drei Master und Bakkalaurei der Theologie wagen es, ihrer Unsicherheit bei der Bestimmung des Ursprungs der „Stimmen“ in einer gemeinsamen Stellungnahme offen Ausdruck zu verleihen: Da ihnen nun nicht klar sei, woher die Erscheinungen der Angeklagten kämen, ob von einem Dämon oder von Gott, sei es ihnen nicht erlaubt, diese zu deren Ungunsten auszulegen. Dieses Votum soll bei Cauchon Missfallen ausgelöst haben.234 230 „…  iuxta Apostoli sentenciam, animalis homo non percipit que spiritus Die sunt; quod tamen, sicut ponit beatus Augustinus in libro De Spiritu et anima, in huiusmodi visionibus sive apparicionibus anima sepe fallitur et illuditur …; idcirco, cuilibet simpliciter et nude asserenti se a Deo missum ad aliquod secretum et invisibile Dei iudicium in seculo manifestandum, minime est fides adhibenda, nisi per apparicionem aliquorum signorum et miraculorum, vel alicuius Scripture speciali testimonio; hoc ponit decretalis ,Cum ex iniuncto‘, de Hereticis.“ (Tisset I, 320). 231 S.o. S. 75. 232 Tisset I, 321. 233 Tisset I, 301 f., 313 f., 321 f. 234 Vgl. Müller, 1378.

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Im Ergebnis betrachten bis auf eines sämtliche Sachverständigenvoten Jeanne als schuldig im Sinne der zwölf Assertiones. Zweifel an der bösen Herkunft ihrer Erscheinungen werden von wenigen nur angedeutet und wirkten sich auf das Ergebnis ihrer Stellungnahmen nicht aus. Der Inhalt der Voten beschränkte sich ganz überwiegend auf persönliche Meinungen, vorgefasste Gewissheiten und wiederkehrende Erklärungsmuster ohne Objektivierung und wissenschaftliche Gründung. Sie bleiben schematisch und können nicht beantworten, wer Jeanne ist, was sie antrieb und worauf ihre Ausstrahlung beruhte. Eine abgestuftere Argumentation erkennt man allenfalls in den Voten derjenigen, die sich auf die Dekretalis Innozenz III. stützten und an den Sachverhalt auf diese Weise ein Prüfmuster des kanonischen Rechts anlegten. Doch kann man ein „Zeichen“, eine Autorisation auch hier nicht erkennen, was auch an Jeannes widersprüchlicher Darstellung des Vorgangs mit dem „Zeichen“ gelegen haben mag: mal besteht es in der Befreiung Orléans, mal ist es eine Krone, die dem König von einem Engel überreicht worden sei. Verblüffend wenige Juristen stellen allerdings überhaupt derart strukturierte Überlegungen an. In der Diktion fällt eine Unterwürfigkeit auf, die, jenseits der zeitbedingten sprachlichen Formelhaftigkeit, auf eine Atmosphäre der Einschüchterung und Angst schließen lässt. Noch nicht alle Rückläufer waren eingegangen, als sich das Gericht am Sonnabend, 19. Mai 1431, in der Kapelle der erzbischöflichen Residenz zu Rouen mit 51 Beisitzern zu einer entscheidenden Sitzung trifft. Cauchon informiert den großen Kreis über die „Überlegungen und Meinungsäußerungen/deliberaciones et oppiniones“235 der Sachverständigen, wenn auch ohne im Einzelnen auf deren Inhalt einzugehen, und fährt fort: „Wir Richter hätten allein schon auf dieser Grundlage zum Abschluss des Verfahrens gelangen können, weil die Äußerungen der Gutachter dafür ausreichend waren. Doch haben wir entschieden, die Assertiones unserer Mutter, der Universität Paris, zur eigenen und zur Stellungnahme der theologischen und der kirchenrechtlichen Fakultät zu übermitteln.236 Damit erweisen wir der Universität die ihr gebührende Ehre und 235 Tisset I, 353. 236 In der zweiten Aprilhälfte 1431, wohl nach dem Besuch des Gerichts bei Jeanne in ihrer Gefängniszelle am 18. April 1431 (s.u. S. 124 ff.), hatten drei ge-

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Referenz und hoffen gleichzeitig, eine noch weiter- und tiefergehende Klärung der Angelegenheit, eine Beruhigung der Gewissen und eine allgemeine Erbauung zu erreichen.237 Die mit den Fakultäten abgestimmte Stellungnahme liegt uns nun in Urkundsform vor – wir werden sie jetzt laut und verständlich vorlesen lassen und darauf die Meinung der Anwesenden hierzu und zum weiteren Verfahren einholen. …“ In seinem Anschreiben an das Inquisitionsgericht238 würdigte der seit März 1431 amtierende Rektor der Universität, Pierre de Gouda aus Leyden, die rechtskonforme Durchführung des Prozesses als ein „Zeugnis der größten und geschicktesten Klugheit“.239 Sowohl aus Hochachtung vor dem (englischen) König als auch aus alter Verbundenheit mit der ehrwürdigen Person des Bischofs habe man dem Ersuchen nach einer Stellungnahme mit größtem Wohlwollen und in dem Wunsch, gefällig sein zu können, entsprochen.240 Zunächst ist im Einzelnen das förmliche Procedere beschrieben, in dem die dann folgende universitäre Stellungnahme entstand: Erst wurde die gesamte Universität als Dach sämtlicher Fakultäten und „Nationen“241 in richtliche Besitzer, darunter Jean Beaupère, die Assertiones und die gerichtliche Bitte um Stellungnahme nach Paris gebracht. Parallel bat auch der englische (Kind-)König Heinrich die Universität um eine gutachterliche Stellungnahme zu den Assertiones in der Causa d’Arc; auch dessen Brief überbrachten die Assessores. Sie berichteten den Vertretern der Universität zudem in einer formellen öffentlichen Versammlung/en … assemblee solennelle über Form, Durchführung und Verlauf des Prozesses (vgl. Tisset I, 353 ff.; Müller 1260 ff.). 237 „… amplioremque et clariorem materie elucidacionem …, pro maiori serena­ cione conscienciarum et omnium edificacione …“, a.a.O. 238 Das lateinische Protokoll enthält die Originalfassung in französischer Sprache. 239 „Et en verité, oye icelle relacion et bien consideree, il nous a semblé, ou fait d’icelle femme, avoir esté tenue grande gravité, saincte et juste maniere de proceder, et don’t chacun doit este bien content.“ (Tisset I, 355). 240 „Et de toutes ces choses nous rendons grace tres humblement a icelle majesté souveraine premierement, et en après a vostre tres haulte noblesse, de humbles et loiales affeccions; … (a.a.O). 241 In der Universität Paris waren die Studenten der größten Fakultät der „freien Künste/artes liberales“ nach ihren Herkunftsorten vier „Nationen“ zuge­ ordnet: Île de France, Normandie, Pikardie und England (hierzu gehörten auch die Schüler aus Nord- und Zentraleuropa). Die „Nationen“ verkörperten einen wichtigen Teil des Universitätslebens, was durch eigene Siegel und

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einer feierlich einberufenen Sitzung mit den zwölf Assertiones befasst; sie beauftragte ihre Fakultäten der Theologie und des kanonischen Rechts mit der Beratung und Entscheidung in der Sache; ihre Entschließungen berichteten die zwei Fakultäten der Universität gut 14  Tage später, die beide Ausarbeitungen würdigte, bestätigte und sich zu eigen machte. In Abbildung dieser Entstehungsgeschichte übersendet die Universität Paris dem Inquisitionsgericht zwei nebeneinander stehende Stellungnahmen, eine der theologischen und eine der kirchenrechtlichen Fakultät, qualifiziert als „Lehrmeinungen/per modum doctrinae“, nicht als prozessuale Entscheidungssätze. Inhaltlich nicht näher vermittelt und in Beziehung gesetzt, sprechen sie im Ergebnis übereinstimmend Jeanne vollumfänglich im Sinne der Anklage schuldig. Die Theologen halten sich dabei akribisch an die Systematik der zwölf Assertiones, während die Dekretisten anhand der Fallgruppen zur Häresie argumentieren und dabei vier inhaltliche Vorwürfe aufbringen, wobei der „Glaubensirrtum“ mit drei unterschiedlichen (Tat-)Handlungen begründet wird: Jeanne –– sei schismatisch, weil sie sich mit ihren Auffassungen vom Gehorsam gegenüber der streitenden Kirche trenne; –– sei abtrünnig, weil sie sich die Haare kurz geschnitten und Kleidung und Verhalten von Männern angenommen habe; –– irre im Glauben, weil sie die einzige heilige katholische Kirche leugne,242 ihr Männerkleidung lieber sei als das Abendmahl und sie sich ihres Eingangs in das Paradies sicher sei, obwohl dies nur Gott allein wisse; –– sei eine Lügnerin und Wahrsagerin, weil sie behaupte, von Gott gesandt zu sein und mit Engeln und Heiligen zu sprechen, obwohl sie hierfür keinen Beweis durch ein Wunder oder ein besonderes Zeichen liefern könne!

Matrikelbücher, eigene Haushaltsmittel, eigene Versammlungen unter Leitung eines procurators und ­libri nationis / „Nationenbücher“ zum Ausdruck kam. 242 Dies konnte als ein Verstoß gegen den Artikel „Unam sanctam“ des Glaubensbekenntnisses gewertet werden.

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Nun werden in der gerichtlichen Sitzung ohne weitere Überleitung das Gutachten der „22 Doktoren“ vom 12. April 1431 sowie einige weitere Stellungnahmen verlesen, die Beisitzer des Inquisitionsgerichts verfasst haben. Sodann fragt der Vorsitzende sein Gericht, wie weiter zu verfahren sei. Viele der anwesenden Beisitzer schließen sich dem Gutachten der Pariser Universität an, ohne ein Votum, was prozessual der nächste Schritt sein solle. Manche meinen, man könne nach dem in der Sache zutreffenden Pariser Gutachten noch am selben Tag die Verhandlung schließen und das Urteil erlassen, das Jeanne an die weltliche Gewalt ausliefere. Eine knappe Mehrheit spricht sich dafür aus, Jeanne (erneut) „zu ermahnen/ moneatur“. Wenn sie dann nicht gehorche, widerrufe und auf den Weg der Wahrheit zurückkehre, solle man das Verfahren im Sinne des Pariser Votums fortsetzen. Dieser Mehrheitsmeinung schließen sich die beiden Richter an und bestimmen, nach nochmaliger „liebevoller Ermahnung“ der Angeklagten werde entsprechend den ertragreichen Überlegungen und weisen Ratschlägen „zu dem weitergeschritten, was noch zu tun bleibe“: zum Schluss der mündlichen Verhandlung/Conclusio in causa und zur Urteilsverkündung.

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„Liebevolle Ermahnungen“ und das Angesicht der Folter: Der Weg zur Conclusio in causa Das Inquisitionsgericht war tatsächlich bereits während des noch laufenden Stellungnahmeverfahrens zügig „weitergeschritten zu dem, was noch zu tun bleibt“, wobei es nach dem (späteren) Bekunden des Vorsitzenden in der Causa „noch nicht definitiv entschieden“ war:243 Am Mittwoch, 18. April 1431, hatten sich beide Richter in Begleitung von sieben theologischen Beisitzern bei Jeanne in der Gefängniszelle eingefunden. Das Mädchen befindet sich noch in schlechtem Zustand, sie war an einer Lebensmittelvergiftung erkrankt und dadurch stark geschwächt, nachdem sie von einem Karpfen gegessen hatte, den Cauchon ihr wohl am Sonntag zuvor übersandt hatte. Das Protokoll vermerkt Jeannes körperliche Schwäche. Trotzdem setzt Cauchon das Verfahren fort und erklärte vor dem Mädchen: „Diese Geistlichen und Gelehrten sind in hilfsbereiter und um Dein Wohl besorgter Absicht/familiariter et caritative zu Dir gekommen, um Dir in Deiner gesundheitlichen Geschwächtheit Trost und Stärkung zu spenden! Deine Einlassungen in den verschiedenen Vernehmungen sind von Persönlichkeiten mit hochgelehrtem Sachverstand sorgfältig geprüft und erwogen worden. Diese sind zu dem Ergebnis gekommen, dass viele Deiner Erklärungen und Bekenntnisse gefährlich für den Glauben/periculosa in fide sind. Du bist eine ungebildete Frau und kennst die biblischen Schriften nicht. Wir bieten Dir daher an, Dir eine wissenschaftlich gebildete und gleichzeitig integre und wohlmeinende Person zu benennen, die Dich diesbezüglich unterweist – zum Beispiel sind die hier anwesenden Gelehrten bereit, Dir einen Rat zu geben, wie Du zum Heil Deiner Seele und Deines Leibes gelangen kannst, was Du zu tun und zu glauben hast und woran Du Dich halten kannst. Wenn Du lieber mit jemand anderem sprechen willst, werden wir auch diese Person hierher holen. Wir sind bereit, Dir täglich solche Männer zu Deiner Unterweisung zu schicken und überhaupt alles zu tun, um Dich in den Schoß der Kirche zurückzuholen, der einer Reumütigen immer offen steht. Über243 Vgl. Cauchon in der gerichtlichen „Versammlung“ am 2. Mai 1431: „… satis cognovimus quod ista mulier in multis defectuosa esse videbatur, quanquam res non sit adhuc apud nos ultimate determinata …“ (Tisset I, 334).

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leg Dir diesen gutmeinten Rat und zieh die richtigen Konsequenzen! Handelst Du dem zuwider nach Deinem eigenen Kopf, müssen wir Dich aufgeben wie eine Mohammedanerin/sicut una Sarracena. Du kannst Dir denken, welch gefährliche Folgen das für Dich hätte – Folgen, die wir gern vermeiden würden.“244 Jeanne dankt für die Bemühungen um ihr Seelenheil245 und fährt fort: „Ich glaube mich dem Tode nah, so krank fühle ich mich. Wenn mein Tod denn Gottes Wille ist, so bitte ich Euch um die Beichte, das Heilige Abendmahl und eine Bestattung in heiliger Erde.“ Nun wird Jeanne „liebevoll“ bedrängt: Die Sakramente könne man ihr nur gewähren, wenn sie beichte und sich der Kirche unterwerfe. Je mehr sie um ihr Leben fürchte, desto dringender müsse sie dieses ändern. Das Mädchen beruft sich in bekannter Weise auf das, was sie im Prozess gesagt habe, und auf Gott. Jetzt kommen wieder neue Fragen zu ihren Offenbarungen, und ob sie sich nun endlich der streitenden Kirche unterwerfen wolle? Dann werde man ihr das Sakrament des Abendmahls reichen. Ob sie sich eine schöne, bedeutende Prozession wünsche, um sie in einen guten Glauben­ stand zurückzuführen? Eine weitere „liebevolle Ermahnung/exhortatio caritativa“ nach der ersten am 21. Februar 1431 zu Beginn von Jeannes Vernehmungen durch Cauchon. In den Verhören der Jungfrau im Offizialverfahren hatte es en passant viele derartige „Ermahnungen“ gegeben. Jetzt sollten noch zwei dezidierte folgen, bevor das Verfahren zu Ende ging. Cauchon beschreibt Sinn und Zweck dieses üblichen Instruments im Verfahren wegen Häre-

244 Tisset I, 328 f. 245 Aus unserer Sicht ist zweifelhaft, ob es sich hier um das Angebot eines Verteidigers im juristischen Sinne gehandelt hat (so Salditt, 619). Es spricht viel dafür, dass es an dieser Stelle und zu diesem späten Zeitpunkt im Prozess, als die Angeklagte sich zu den Vorwürfen bereits umfassend eingelassen hatte, (nur) noch um einen „Beistand“ geht, der Jeanne in Richtung auf ihr Seelenheil im Sinne des kirchlichen Verständnisses beeinflussen soll.

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sie246 am 2. Mai 1431247 vor der dritten „liebevollen Ermahnung“ in einer Selbstvergewisserung vor seinen Beisitzern: „… es ist wichtig, dass wir uns auf jede erdenkliche Art bemühen, diese Frau über das zu unterrichten, worin sie schuldig scheint, und sie mit all unseren Kräften auf den Weg und zur Erkenntnis der Wahrheit zurückzuführen. Dies vollkommen zu verwirklichen, war und ist unser sehnlichster Wunsch. Wir alle müssen danach trachten, und vor allem wir, die wir in der Kirche leben und im Dienste für die göttlichen Dinge: ihr liebevoll zu zeigen, was an ihren Worten und Taten nicht mit dem Glauben, der Wahrheit und der Religion übereinstimmt, und sie liebevoll zu ermahnen, auf ihr Heil bedacht zu sein.“248 Die exhortatio caritativa bedeutete also nicht das (erneute) Angebot eines veritablen Verteidigers, sondern seelsorgliche Ermutigung und „sanften“ Druck durch Überredung mit Argumenten des Glaubens, nicht des Rechts, dem Wunsch der Kirche nach bestimmten Bekenntnissen oder Handlungen nachzukommen.249 Trotz ihrer körperlichen Schwäche hielt Jeanne dem Druck der „liebevollen Ermahnung“ stand: 246 Vgl. z.B. Papst Innozenz III. im Jahr 1199 in seiner Weisung für ein Strafverfahren gegen den Abt von Pomposa (Dekretalis Licet Heli): … es muss … der Anzeige/denunciationem eine liebevolle Ermahnung/caritativa correctio … vorhergehen …“ (in: CIC II, Sp. 760). 247 Tisset I, 333 ff. 248 Tisset I, 335. 249 Salditt weist darauf hin (631), dass ähnliche Appelle seit 2009 auch in unserer Strafprozessordnung erlaubt sind: §  257b, eingefügt durch das „Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren“ vom 29. Juli 2009, regelt unter der Überschrift „Erörterung des Verfahrensstands mit den Verfahrens­ beteiligten“: „Das Gericht kann in der Hauptverhandlung den Stand des ­Verfahrens mit den Verfahrensbeteiligten erörtern, soweit dies geeignet erscheint, das Verfahren zu fördern.“ Der Bundesgerichtshof (vgl. BGH 1 StR 391/12, Beschluss vom 21. November 2012, DStR 2013. 140) geht gemäß § 202a Strafprozessordnung (für das Zwischenverfahren) von einer Erlaubnis für Mahnreden des Gerichts, die auf ein Geständnis abzielen, an Angeklagte, die sich gegen den Vorwurf verteidigen, aus. Nach § 257b Strafprozessordnung kann in der Hauptverhandlung nichts anderes gelten. In der Gesetzesbegründung spricht der Gesetzgeber ausdrücklich von „kommunikativen Elementen, die der Transparenz und Verfahrenskonzentration dienen“ (BTDrucks. 16/11736, S. 15).

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„Ich bin eine gute Christin und werde als solche sterben! Ich liebe und  diene Gott und will die Kirche mit all meinen Kräften unterstützen! Ich wünsche mir, dass die Kirche und ihre Gläubigen für mich beten!“250 Das Gericht, das Jeanne nach diesem Zusammentreffen von mehreren Ärzten in Augenschein nehmen lässt, bleibt hartnäckig: 14 Tage später, am 2. Mai 1431251 – viele Sachverständigenvoten stehen noch aus – tritt es im Kreis von 61 Beisitzern im Schloss zu Rouen erneut zusammen. Der Vorsitzende steuert das weitere Geschehen: In seiner einleitenden Ansprache stellt sich heraus, dass in den vergangenen zwei Wochen wiederholt mehrere ehrbare/notabiles Doktoren der Theologie Jeanne im Gefängnis aufgesucht haben, um im Sinne der Kirche auf sie einzuwirken, „voller Sanftmut und ohne sie zu irgend etwas zu zwingen“252, wie Cauchon vorträgt – „angesichts der bezwingenden Schlauheit des Teufels/prevalente astucia diaboli“ sei diese „gewissermaßen private Ermahnung/privatam huiusmodi admonicionem“ bedauerlicherweise bisher erfolglos geblieben: „Daher erscheint es uns opportun“, so fährt Cauchon fort, „eine Ermahnung durch diese ganze große feierliche Versammlung ehrenwerter und kluger Männer aussprechen zu lassen, um dem wohlgemeinten Rat an diesen eigenwilligen Kopf größere Überzeugungskraft zu Demut und Gehorsam zu  verleihen. Damit haben wir Magister Jean de Châtillon, Erzdiakon zu ­Évreux, beauftragt. Er ist bereit, diese Mühe auf sich zu nehmen, und wird hier und jetzt diese Frau/eidem mulieri ermahnen und zum Heil ihrer Seele und ihres Leibes belehren.“ Nach dieser Vorrede wird Jeanne dem Gericht vorgeführt und von Cauchon vorab aufgefordert, die nachfolgenden Ratschläge und Warnungen des besagten hochwürdigen Erzdiakons und Professors der heiligen Theologie zu beherzigen – wenn nicht, setze sie sich einer erheblichen Gefahr für Körper und Seele aus. Den Erzdiakon bat er anschließend, bei besagten Ermahnungen barmherzig/caritative zu verfahren.

250 Tisset I, 333. 251 Tisset I, 333 ff. 252 Tisset I, 335.

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Jean de Châtillon beginnt, in der Hand sein Konzept, mit einer allgemeinen Unterweisung und Belehrung der Jungfrau: „Alle gläubigen Christen sind verpflichtet, den christlichen Glauben ohne Abweichungen zu bekennen. Du solltest das, was Du getan hast, entsprechend den Erwägungen der ehrwürdigen und in beiden Rechten, dem kirchlichen wie dem weltlichen, hochgelehrten Doktoren und Magister,253 berichtigen und Dich künftig in Deinem Tun bessern!“ Jeanne: „Lest Euer Buch vor, und dann werde ich Euch antworten. Ich berufe mich in allem auf Gott, meinen Schöpfer, den ich von ganzem Herzen liebe.“ Ob sie zu de Châtillons allgemeiner Ermahnung/monicionem generalem noch mehr sagen wolle? „Ich berufe mich auf meinen Richter: Das ist der König des Himmels und der Erde./Je me actens a mon juge: c’est le Roy du ciel et de la terre.“ De Chatillon fährt nun mit „besonderen Ermahnungen/moniciones parti­culares“ in französischer Sprache fort und trägt der Angeklagten anhand seines Manuskripts sechs Punkte vor, in denen die bis dahin eingegan­genen einmütigen Stellungnahmen der Gutachter aufgegriffen und ausge­wertet sind. Der Erzdiakon knüpft seine Ausführungen an die mehrfache Äußerung Jeannes in einem der Sonderverhöre im Verfahren von Amts wegen: wenn in ihren Worten und Taten irgendetwas Verkehrtes/perversum gefunden und ihr von Geistlichen aufgezeigt werde, werde sie sich berichtigen: „Eine gute, löbliche Äußerung! Jeder Christenmensch muss soviel Demut aufbringen, Klügeren zu gehorchen und dem Urteil guter und gebildeter Menschen mehr zu glauben als dem eigenen! In Deinen Worten und Taten haben Doktoren und Geistliche nach intensiver Prüfung nun zahlreiche erhebliche Verfehlungen/multi et magni defectus festgestellt. Wenn Du Dich änderst, sind wir Kirchenleute bereit, mitleidig und barmherzig mit Dir zu verfahren. Bleibst Du bei Deinem Hochmut und

253 Die Stellungnahmen der Sachverständigen, auf die de Chatillon sich hier bezieht, waren der Angeklagten zu diesem Zeitpunkt ebenso wenig eröffnet worden wie die diesen zugrundeliegenden 12 Assertiones.

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Deiner Anmaßung, Dich auf Dinge des Glaubens besser zu verstehen als Doktoren und Gebildete, setzt Du Dich großer Gefahr aus!“ Die weiteren „liebevollen Ermahnungen“ de Chatillons haben fünf aus den Vernehmungen, der Anklageschrift, den zwölf Assertiones und schließlich den Stellungnahmen der Sachverständigen bereits hinlänglich bekannte Themen zum Gegenstand: Jeannes Unterwerfung unter die streitende Kirche, das Tragen von Männerkleidung nach Art der Soldaten, ihre Gotteslästerungen, die Offenbarungen und Erscheinungen sowie ihre anmaßende Wahrsagereien. Er eröffnet ihr im Zusammenhang mit seinem Petitum, sie solle sich der „einzigen heiligen katholischen Kirche“ unterwerfen, dass sie widrigenfalls als Häretikerin qualifiziert und „von anderen Richtern mit der Strafe des Feuers“ belegt werde.254 Die Angeklagte antwortet hierauf und auf mannigfache weitere Nachfragen und Ermahnungen, auf Androhung von Strafen ewigen Feuers für ihre Seele und zeitigen Feuers für ihren Körper – knapp: „Ich werde Euch hierüber nichts anderes sagen als zuvor. Ich berufe mich auf Gott!“ Als Cauchon sie abschließend warnt, sie solle sich vorsehen, die Ratschläge und Ermahnungen wohl bedenken und ihren Sinn ändern, fragt sie: „Innerhalb welcher Frist muss ich mir darüber klar werden?“255 Cauchon: „Du musst dir sofort darüber klar werden und antworten, was du nun willst!“ Darauf schweigt das Mädchen und wird in ihre Zelle zurückgeführt. Nach dieser groß angelegten dritten „liebevollen Ermahnung“ vergeht eine Woche bis zum größtmöglichen Kontrast in der Wahl der Mittel: Jeanne wird dem Gericht am 9. Mai 1431 im Donjon, dem großen Turm im Norden des Schlosses vorgeführt. Im Erdgeschoss liegt die Folter254 Salditt bemerkt hierzu: „Dies demonstrierte die Sanktionenschere in nicht zu überbietender Härte, weil an einem Ende Gefängnis und am anderen Ende der Tod in Aussicht gestellt wurde.“ (626) 255 Tisset I, 347.

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kammer, wo das Gericht, verstärkt durch acht Beisitzer, das Mädchen erwartet. Die Folterwerkzeuge sind vorbereitet, die Folterknechte stehen bereit. Der Druck auf Jeanne hat ein Höchstmaß erreicht. Erneut ersuchen und ermahnen nun die Richter Jeanne, die Wahrheit zu sagen, halten oder lesen ihr verschiedene Punkte vor, in denen sie gelogen habe, und berufen sich zum Beleg auf sichere Informationen, Beweise und starke Vermutungen/certe informaciones, probaciones et vehementes presumpciones: „Wenn Du die Wahrheit nicht gestehst, stehen hier Werkzeuge und Gehilfen bereit, Dich auf unsere Weisung der Folter zu unterziehen! Auf diese Weise wollen wir Dich auf den Weg der Wahrheit zurückführen und für das Heil Deiner Seele und Deines Körpers sorgen!“ Jeanne: „Ganz sicher: Auch wenn Ihr mir die Glieder zerreißt und meine Seele aus dem Körper treibt, ich werde mich nicht anders äußern! Und wenn doch – würde ich später immer sagen, dass Ihr mich unter Anwendung von Gewalt dazu gebracht habt! Ich habe meine Stimmen gefragt, ob ich mich der Kirche unterwerfen soll – und auch ob ich verbrannt werde. Sie haben mir geantwortet, ich solle auf den Herrn vertrauen, er wird mir helfen!“256 In dieser Antwort erkennt das Gericht eine derartige Verhärtung ihres Gemüts/obduracio animi, dass auch die Qualen der Folter es nicht aufzubrechen vermöchten. Die Richter sehen von dieser ab, und Jeanne wird aus dem Folterturm in ihre Zelle im Tour vers les champs zurückgebracht. Das Gericht trifft sich zur endgültigen Entscheidung über die Anwendung der Folter am 12. Mai mit 13 Beisitzern (von denen nur zwei am 9. Mai in der Folterkammer anwesend gewesen waren) im Bischofshaus. Das französische Protokoll gibt anders als das lateinische die Voten der Beisitzer wieder, die sich ganz überwiegend gegen die Folter aussprechen (mit elf gegen zwei Stimmen), weil sie unnütz und weder ratsam noch zweckmäßig sei: auch ohne sie verfüge man über genügend relevantes Material, und einem so gut geführten Prozess solle man nichts andichten

256 Tisset I, 349.

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können! 257 Die Richter schließen sich dem nach einer Gesamtabwägung von Jeannes Antworten, ihrer Geisteshaltung und ihren Willensbekundungen sowie der besonderen Umstände des Falles an.258 Die vierte und letzte „liebevolle Ermahnung“ wird Jeanne unmittelbar nach der Eröffnung der zwölf asserciones in der Fassung der Würdigung durch das Gutachten der Pariser Universität259 in der mündlichen Verhandlung am 23. Mai 1431260 erteilt. Der Beisitzer Pierre Maurice, Magister und sogar Doktor der Theologie sowie Domherr der Kirche von Rouen, erläuterte dem Mädchen auf Französisch zunächst die in zwölf Punkte gefassten Vorwürfe und spricht Jeanne danach eindringlich, ja fast flehentlich persönlich an: „Jeanne, liebste Freundin, jetzt, am Ende Deines Prozesses, ist es Zeit, alles, was gesagt worden ist, wohl abzuwägen. Du bist mehrfach und mit größter Intensität ermahnt worden – zur Ehre Gottes und aus dem Glauben an Jesus Christus heraus, zur Beruhigung der Gewissen und zur Befriedung des entstandenen Skandals, zum Heil Deiner Seele und Deines Leibes. Bisher warst Du nicht bereit, Dich der Kirche zu unterwerfen und ihr Urteil anzunehmen. Die meisten Richter hätten sich mit den bereits vorliegenden Fakten zufrieden gegeben und ihr Urteil gesprochen. Deine Richter nicht. Sie haben Deine Einlassungen an die Universität von Paris, Licht der Wissenschaften und Tilgerin aller Irrtümer/lux omnium scienciarum et exstirpatrix errorum, zur Begutachtung übersandt. Jetzt, nach Eingang von deren Stellungnahme, haben Deine Richter angeordnet, Dich erneut zu ermahnen und auf Deine Irrtümer und abscheuerregenden Verfehlungen hinzuweisen. Korrigiere Deine Behauptungen! Unterwirf Dich dem Urteil der Kirche! Befreie Dich von Deinem leichtfertigen Glauben an diese „Erscheinungen“ und Einbildungen! Vertraue dem Ur257 Mit dieser Überlegung ziehen die Richter sich selbst eine Grenze, die nicht dem kirchlichen oder weltlichen Recht entsprach, denn die Anwendung der Folter war legal, seit Papst Innozenz IV. sie in seiner Bulle Ad extirpanda aus dem Jahr 1254 (in: Mansi, Bd. 23, Sp. 569 – 575) als probate Maßnahme zur Bekämpfung der Ketzerei verfügt hatte (s.o., S. 61, vgl. Salditt, 627). 258 Tisset I, 350 ff. 259 Die Fassung der asserciones/Artikel vom 5. April 1431 und die durch die Bewertungen der Universität von Paris ergänzte Version entsprechen einander bis auf geringfügige Abweichungen. 260 Tisset I, 374 ff.

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teil der Universität Paris und sämtlicher Gelehrten, dass man ungewöhnlichen und unbekannten Phänomenen nicht glauben darf – es sei denn auf der Grundlage der Heiligen Schrift oder eines belastbaren Zeichens oder Wunders. Dies alles kannst Du nicht vorweisen. Ein Beispiel: Dein König hat Dir kraft Amtes das Kommando über eine Festung übertragen und Dir untersagt, irgendeine Person einzulassen. Kommt dann jemand angeblich im Auftrag des Königs und begehrt Einlass, darfst Du ihm ohne ein entsprechendes Schreiben oder einen anderen sicheren Beweis keinen Zugang gewähren. So hat Jesus Christus die Herrschaft über die Kirche dem Apostel Petrus und dessen Nachfolgern anvertraut, als er in den Himmel auffuhr, und es untersagt, Personen, die in seinem Namen kämen, zu akzeptieren, wenn ihre Sendung nur durch ihre eigenen Behauptungen belegt sei. Deshalb dürfen wir Dir nicht glauben. Oder denk mal, im Herrschaftsbereich Deines Königs wäre ein Ritter oder ein Leibeigener aufgestanden und hätte gesagt: ,Ich verweigere dem König den Gehorsam und werde mich ihm und seinen Beauftragten nicht unterordnen!‘ Würdest Du einen solchen Menschen nicht verdammen? Wenn Du nun den Beauftragten Christi, also den kirchlichen Amtsträgern, nicht gehorchen wolltest  – welches Urteil müsstest Du dann konsequenterweise über Dich selbst fällen? Kehre um und unterwirf Dich der Kirche! Sonst ist Deine Seele zu ewiger Pein und Qual verdammt und Dein Körper dem Untergang geweiht! Lass Dich davon nicht durch menschliche Eitelkeit und Scham und der Angst vor Ehrverlust abhalten. Heil und Ehre wirst Du ohnehin verlieren, wenn Du meinem Rat nicht folgst. Im Namen Deiner Richter bitte und ermahne ich Dich bei Deiner Gottesliebe und Deiner Liebe zu Dir selbst, Deinem Leib und Deiner Seele, kehre auf den Weg der Wahrheit zurück und unterwirf Dich in allem dem Urteil und der Entscheidung der Kirche! Nur so wirst Du Deine Seele retten und, wie ich es einschätze, Deinen Leib vor dem Tod. Jesus Christus möge Dich davor bewahren, seelischer Verdammnis und körperlicher Vernichtung anheim zu fallen!“ Jeanne reagiert auf diese engagierte Rede nur mit den Worten: „Ich beziehe mich auf meine Aussagen im Verfahren. Ich will sie aufrechterhalten.“ 132

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Dies wiederholt das Mädchen auf weitere Nachfrage. Sie ergänzt schließlich: „Selbst wenn ich vor der Verurteilung stünde und sähe das entzündete Feuer, die vorbereiteten Holzscheite und den Henker, bereit, das Feuer zu legen, und selbst wenn ich schon in den Flammen stünde – widerriefe ich dennoch nicht, sondern hielte bis zum Tod aufrecht, was ich im Prozess ausgesagt habe!“ Daraufhin fragen die Richter Jeanne und den Promotor, ob sie ihren Ausführungen noch etwas hinzufügen möchten. Als beide dies verneinen, schließt das Gericht die mündliche Verhandlung durch förmlichen Beschluss (so genannte Conclusio in causa) im Beisein dreier Zeugen. Die Conclusio ist in einer Urkunde festgehalten, die am Ende die Ladung zur Urteilsverkündung auf den folgenden Tag enthielt.261

261 Tisset I, 384.

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Die Haft Nach heutigen Maßstäben waren die Bedingungen, unter denen Jeanne im Schloss von Rouen im Tour vers le champs inhaftiert war, unmenschlich. Der sechseckige, halbdunkle Gefängnisraum – von einer Zelle zu sprechen, verbietet sich wegen seiner Größe von rund 17 Quadratmetern – war über acht Stufen zu erreichen, lag also im „Hochpaterre“. Man hatte ein Lager für die Gefangene aufgestellt, das wohl tagsüber abgeschlagen wurde; zu einer Latrine über einem Graben im Winkel zwischen Turm und Schlossmauer führte ein schmaler Mauerdurchbruch. In die Mauer von gut zwei Metern Stärke eingelassen war ein Schlupfwinkel, von dem aus Gespräche mit der Gefangenen durch ein speziell dafür geschaffenes Mauerloch mitgehört werden konnten, ohne dass die Zelleninsassen dies wahrnahmen.262 Da in dem Raum zwölf Sitzungen des Gerichts stattfanden, dürfte er zumindest währenddessen beheizt worden sein, was in den kalten Monaten ab Dezember 1430 auch sonst nötig gewesen wäre. Hart ist für das unbeugsame Mädchen ihre Fesselung: Sie hat in ihrem Turmverlies nachts, möglicherweise auch tagsüber, Fußeisen zu tragen, die durch eine Kette verbunden sind. Nur für Vernehmungen und Verhandlungen werden ihr die Eisen abgenommen. Im Gefängnis ist ihre Bewegungsfreiheit außerdem durch eine Kette eingeschränkt, die man in einem Holzklotz fest verankert hat. Hieran knüpfte ihr bemerkenswerter Dialog mit dem vorsitzenden Richter im allerersten öffentlichen Termin zur mündlichen Verhandlung am 21.  Februar an, als sie sich über diese Fesselung beklagt und Cauchons Ausführungen entgegengehalten hatte: Jeder Gefangene hat das Recht zu fliehen, und auch ich werde es bei erster sich bietender Gelegenheit erneut versuchen …!263 Schlimmeres bleibt ihr erspart: Für die Hexe Jeanne war ein eiserner ­Käfig geschmiedet worden, in dem sie stehend, an Hals, Händen und Füßen gefesselt, gefangen gehalten werden sollte, um ihre vermeintli-

262 So erklärte Notar Guillaume Manchon im Nichtigkeitsverfahren im Rahmen seiner Zeugenaussage am 12. Mai 1456, vgl. Duparc I, 421 (= IV, 101). 263 S.o. S. 66.

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chen Zauberkräfte unschädlich zu machen.264 Warum er nicht zum Einsatz kommt, ist ungeklärt. Noch belastender als Eisenfesseln mag für Jeanne die ununterbrochene Bewachung durch fünf eigens dazu bestellte und vereidigte Wachleute eng­lischer, zum Teil adliger Herkunft gewesen sein. Von diesen hielten sich drei Tag und Nacht bei Jeanne im Gefängnisraum auf, während die beiden anderen davor Wache standen. Obwohl die Männer wahrscheinlich sogar Mitarbeiter der Amtsmannschaft von Rouen und somit keine außerhalb der Gesellschaft stehenden, verrohten Subjekte waren, beklagt sich Jeanne wiederholt, auch vor dem vorsitzenden Richter und dem Subinquisitor, die Wachleute quälten sie mit Worten und körperlichen Übergriffen. Die Schuldigen werden daraufhin vom englischen Festungskommandanten Graf von Warwick gemaßregelt und ausgetauscht. Zu diesen Maßnahmen musste mehrfach gegriffen werden. Man darf vermuten, dass je länger desto mehr einerseits die Furcht der Wachhabenden vor den vermeintlich hexerischen Fähigkeiten Jeannes abklang, andererseits die Zermürbung durch den eintönigen Dienst zunahm und beides zusammen zu derartigen Auswüchsen führte. Eine weitere drückende Beschwer während der Inhaftierung ist für das Mädchen der Ausschluss von Gottesdienstbesuch, Abendmahl und Beichte. Schon am 20. Februar 1431, dem Tag vor der ersten öffentlichen Sitzung des Gerichts, hatte Jeanne den Vorsitzenden über Gerichtsdiener Massieu angefleht/supplicabat, als dieser ihr die Ladung auf den kommenden Tag zustellte, sie möge vor ihrem Erscheinen vor Gericht die Erlaubnis zum Besuch der Messe erhalten. Darüber informierte der Gerichtsdiener das Gericht in seinem Vollzugsbericht.265 Als Jeanne am 21. Februar 1431 zur ersten Vernehmung in die königliche Schlosskapelle geführt wird, ist Cauchon gerade dabei, seinen Beisitzern zu erläutern, dass eine derartige Erlaubnis nach eingehender Beratung mit ausgewiesenen Experten aus seiner Sicht nicht in Betracht komme. Denn dagegen sprächen die Schwere der gegen Jeanne erhobenen Vorwürfe und die unveränderte Schändlichkeit ihrer Kleidung.266 Noch mehrmals ist der 264 Müller, 834. 265 Tisset I, 35. 266 „… visis criminibus de quibus dicta mulier diffamata erat et difformitate habitus in quo perseverabat …“ (Tisset I, 36).

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Besuch der Messe in den Befragungen Thema, vom Gericht unter die Voraussetzung gestellt, dass sie ihre Männerkleidung ablege – eine der großen Fragen des Prozesses. Das Mädchen ist dazu aus verschiedenen Gründen nicht bereit: Sie habe keine Erlaubnis ihrer „Stimmen“; sie müsse erst erfüllen, wozu sie von Gott gesandt worden sei; sie sei dazu nicht in der Lage beziehungsweise wolle es nicht. So bleibt es im Gegenzug bei dem Verbot, die Messe zu besuchen. Massieu gewährt ihr in dieser Situation eine kleine Erleichterung: Führt er sie über den Schlosshof zu den gerichtlichen Vernehmungen oder Verhandlungen, so erlaubt er ihr, vor der am Wege liegenden Kapelle Saint Gilles einige Augenblicke zu verweilen und im Gegenüber zum Allerheiligsten zu beten. Als Cauchon davon erfährt, untersagt er dies sofort.267 Schon vor Beginn und mehrfach während des Prozesses bittet das Mädchen angesichts dieser Haftbedingungen vergeblich darum, sie in ein „freundliches“ Gefängnis zu überführen („… deturque sibi carcer gratiosus …“268). Gefangene der Inquisition waren in der Tat grundsätzlich in einem speziellen Gefängnis des Inquisitors unterzubringen.269 Allerdings ist zweifelhaft, ob ein solches Gefängnis „freundlicher“ gewesen wäre als dieses weltliche; in besonderer Konstellation war Jeanne ja nicht Gefangene der Kirche, sondern nach wie vor des englischen Thronfolgers Heinrichs VI., der mit seinem Erlass vom 3. Januar 1431 Cauchon als zuständigem kirchlichen Richter lediglich die Durchführung des Prozesses gestattet und ermöglicht hatte. Dementsprechend wurden sämtliche die Haft des Mädchens betreffende Entscheidungen vom Grafen von Warwick als verantwortlichem Kommandanten der Bastille d’Angleterre Rouen persönlich getroffen. Das Inquisitionsgericht war für die Umstände, unter denen Jeanne gefangen gehalten wurde, nicht verantwortlich. Allerdings waren zumindest die Fesselung und der Ausschluss von Messe und Abendmahl für der Häresie Verdächtige auch in Gefängnissen der Inquisition ganz übliche Maßnahmen.270 Je nach der Person des Angeklagten und nach dem Gegenstand der Anschuldigungen konnte die Inhaftierung dort härter oder „angenehmer“ ausgestaltet sein. Eine be267 Vgl. Jean Massieus Zeugenaussage im Nichtigkeitsverfahren am 12. Mai 1456 (vgl. Duparc I, 429 [= IV, 109–110]). 268 So unmittelbar nach ihren „Rückfall“: vgl. Tisset I, 397. 269 Manuel, 202. 270 Manuel, 202, 206.

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sondere, ungewöhnliche Härte für (zivile) Gefängnisse hingegen war sicherlich die Gegenwart dreier ständiger Bewacher in der Zelle der Gefangenen. Brachten der englische Thronfolger und sein Kronrat an dieser Stelle271 eventuell Kriegsrecht zur Anwendung? Im Januar 1431 wird erneut und ein letztes Mal die Jungfräulichkeit der Gefangenen geprüft, um die Möglichkeit einer teuflischen Besessenheit auszuschließen, zwei Jahre nach den Untersuchungen in Chinon und Poitiers diesmal unter Leitung und Aufsicht Anne de Bourgognes (1404– 1432), ­Herzogin von Bedford, der Gattin des englischen Regenten und Schwester Philipps des Guten, die sich zu dieser Zeit auf dem Schloss Bouvreuil aufhielt.272 Wiederum stellen die Matronen Jeannes Unberührtheit fest. Zeugen berichten später, die Herzogin habe daraufhin ausdrücklich angeordnet, es sei jedermann, insbesondere dem Wachpersonal, untersagt, der Gefangenen Gewalt anzutun.273 Während dieser Untersuchung in der Gefängniszelle werden bei Jeanne Verletzungen im Genitalbereich festgestellt, Druckstellen und Entzündungen, verursacht wohl durch das Reiten in den hölzernen Kampfsätteln.274 Der Magister der Medizin Guillaume de la Chambre, Sohn des Leibarztes der (französischen) Königin Isabeau, behandelt sie deswegen und bestätigt gleichzeitig ihre Jungfräulichkeit.275 Noch mehrmals hat Jeanne danach überraschenden Besuch in ihrer Zelle: Zuerst den Domherrn von Chartres und Rouen Nicolas Loiseleur (geb. um 1390), der wohl am 23. Februar 1431, zwei Tage nach der Eröffnungssitzung des Offizialverfahrens, bei ihr erscheint. Die Wachen ziehen sich zurück, so dass die beiden allein bleiben. Der Domherr gibt sich 271 Die Lösegeldzahlung, die Cauchon im Auslieferungsverfahren für das Mädchen angeboten hatte, war nach französischem Kriegsrecht bemessen gewesen (s.o., S. 37), wobei der Bischof deutlich gemacht hatte, dass J­ eanne keine Kriegsgefangene im eigentlichen Sinne sei. 272 S.o., S. 38. 273 So Jean Massieu als Zeuge im Nichtigkeitsverfahren am 12. Mai 1456 (vgl. ­Duparc I, 438 [= IV, 118]). 274 So als Zeugen im Nichtigkeitsverfahren Louis de Coutes, Jeannes Page, am 3. April 1456 (vgl. Duparc I, 363 [= IV, 48]) sowie Jean Monnet (Professor für Theologie und Sekretär des Beisitzers Jean Beaupère) am 3. April 1456 (vgl. Duparc I, 360 [= IV, 45]). 275 Guillaume de la Chambre als Zeuge im Nichtigkeitsverfahnren am 2. April 1456 (vgl. Duparc I, 350 [= IV, 35]).

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als mitgefangener ­lothringischer Landsmann und königstreuer Flickschuster aus und trägt dazu entgegen seinem Stand das „kurze Gewand (eines Laien)/in habitu ­brevi“. Es gelingt ihm, Jeanne in ein Gespräch zu verwickeln, wohl über die Lage des Königreichs und auch ihre „Erscheinungen“. In dem kleinen Raum neben ihrer Zelle stehen die beiden Notare Manchon und Boisguillaume und belauschten das Gespräch durch das Mauerloch. Loiseleur ist vom Gericht – er soll mit Cauchon befreundet gewesen sein – als Spitzel beauftragt, die Beschuldigte auszuhorchen und so Beweise für ihre häretische Gesinnung zu sammeln. Dies war eine im Inquisitionsverfahren übliche Praxis bei behaupteten Visionen oder Offenbarungen, die durch ein Geständnis der beschuldigten Person am einwandfreiesten zu widerlegen waren. Loiseleur soll sich allerdings nach dem Besuch bei der Gefangenen geweigert haben, die Antworten Jeannes zu Protokoll der Notare zu geben, weil das Verfahren auf diese Weise einen unsauberen Anfang nehme. Wenn die Beschuldigte im Prozess Derartiges äußere, möchten es die Notare gern zu Protokoll nehmen.276 Als Loiseleur ab 24. Februar 1431 als Beisitzer an einigen Sitzungen des Gerichts teilnimmt, kann er nicht mehr als Spitzel tätig werden. Zwischen Jeanne und ihm entwickelte sich trotz Loiseleurs Täuschung bei der ersten Begegnung ein Vertrauensverhältnis. Der Domherr soll dem Mädchen während des Verfahrens mehrfach die Beichte abgenommen und ihr zu Sitzungen als Berater zur Seite gestanden haben. Nicht jede Spitzelfunktion ist sicher steuerbar. Ein zweites Mal kommt Jeanne während ihrer Haft in den Genuss ärzt­ licher Behandlung, als sie sich durch den Verzehr eines Karpfens, übersandt vom Vorsitzenden Cauchon, eine fiebrige Lebensmittelvergiftung mit Erbrechen zugezogen hat. Nachdem das Gericht sie am 18.  April 1431 trotz ihres geschwächten Zustandes in ihrer Gefängnis­zelle „liebevoll ermahnt“ hat277, dringt die Kunde von ihrer Erkrankung zum Grafen Warwick und zu Heinrich Beaufort.278 Diese bestellen Guillaume de la 276 So die Notare Manchon (Aussage als Zeuge im Nichtigkeitsverfahren am 12.  Mai 1456, vgl. Duparc  I, 420–421 [= IV, 101–102] und Boisguillaume (Aussage als Zeuge im Nichtigkeitsverfahren am 12. Mai 1456, vgl. Duparc I, 437–438 [= IV, 117]. 277 S.o., S. 124 f. 278 S.o., S. 38.

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Chambre und Jean Tiphaine, Leibarzt der Herzogin von Bedford, sowie mehrere andere Ärzte ein und beauftragen diese mit der sofortigen sorgfältigen Untersuchung und Behandlung des Mädchens.279 Festungskommandant Graf Warwick, so berichtet de la Chambre später,280 macht dabei deutlich, der englische König wolle um keinen Preis, dass Jeanne ihren natürlichen Tod finde; denn ihm sei das Mädchen „lieb und teuer“, er habe sie für viel Geld gekauft und wolle, dass sie nur auf Grund eines gerichtlichen Urteils sterbe und verbrannt werde. Die Angst vor vorzeitigem natürlichen Tod oder ­Suizid ist insbesondere bei politischen Gefangenen heute so präsent wie vor Jahrhunderten. Die Ärzte, begleitet durch Promotor d’Estivet, messen im Gefängnis den Puls des Mädchens, tasten vorsichtig Jeannes rechte Körperhälfte ab und stellen Fieber fest. Sie fragen sie, wie es ihr gehe und woran sie leide. Das Mädchen erzählt von dem Karpfen, auf den sie ihren Zustand zurückführt. Auf Nachfrage berichtet das Wachpersonal, dass sie sich mehrmals erbrochen habe. Die Ärzte halten den Aderlass für die angezeigte Behandlungsmethode und informieren den Grafen Warwick. Der Kommandant reagiert nervös und erwidert: Lasst die Finger vom Aderlass! Das Mädchen ist gewitzt und könnte sich das Leben nehmen! – Die re-

279 Tiphaine sagte am 2. April 1456 als Zeuge im Nichtigkeitsverfahren aus, er sei von den Richtern des Inquisitionsgerichts mit der ärztlichen Untersuchung Jeannes beauftragt worden (vgl. Duparc I, 349 [= IV, 34]). 280 Aussage als Zeuge im Nichtigkeitsverfahren am 2. April 1456 (Duparc I, 351 [= IV, 36]): „… Et tunc ipse comes de Warwic dixit eisdem…, quod eos mandaverat ut de ea cogitarent, quia pro nullo rex volebat, quod sua morte naturali moreretur, rex enim eam habebat caram, et care emerat, nec volebat quod obiret, nisi cum iustitia, et quod esset combusta …“. Mutmaßungen, der vorsitzende Richter habe Jeanne den verdorbenen Karpfen vorsätzlich übersandt, um sie zu vergiften, lassen sich nicht verifizieren. Überlegungen, Cauchon habe dabei auf Veranlassung Königs Karls VII. gehandelt, um dem Mädchen den qualvollen Tod in den Flammen zu ersparen (durch den zugleich die Wiederauferstehung ihres zu Asche zerfallenen Körpers am Tag des Jüngsten Gerichts ausgeschlossen war) oder um zu verhindern, dass das französische Königtum beschädigt werde (Lavater-Sloman, 297 ff.) – überzeugen ebenso wenig wie die konträre Theorie, Cauchon habe Zweifel an einer Verurteilung Jeannes gehabt und deshalb das Verfahren im Sinne der Engländer vorzeitig beenden wollen (Pernoud/Clin, 198 ff.).

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nommierten Ärzte lassen sich jedoch nicht beirren, und nach dem Aderlass erlangt Jeanne angeblich sofort ihre Gesundheit zurück.281 Während der ärztlichen Visite kommt es zu einem unerwarteten Zwischenfall, wohl als Jeanne die Vermutung äußert, ihre Erkrankung hänge mit dem Genuss des Fisches zusammen, den Cauchon ihr übersandt hatte: Der Promotor wird spontan ausfallend und beschimpft Jeanne wüst: „Du Dirne! Du hast Gerstengraupen gegessen oder sonst was, das dir geschadet hat!“282 Das Mädchen braust auf, es kommt zu einem erregten Wortwechsel zwischen den beiden, der einen Fieberanfall Jeannes zur Folge hat.283 Als Warwick hiervon erfährt, untersagt er dem Promotor ausdrücklich, die Gefangene noch einmal derart zu beschimpfen.284 Am 13. Mai 1431 gibt Graf Warwick auf Schloss Bouvreuil ein Diner, an dem neben dem Vorsitzenden Cauchon und Jean de Mailly (1425–1473), Bischof von Noyon, auch Johann II. von Luxemburg, Graf von Ligny, und sein Bruder Ludwig (1391–1443), Bischof von Thérouanne und Kanzler (des englischen Königs) von Frankreich,285 Humphrey Earl of Stafford (1424–1455), Generalleutnant der Normandie und ein enger Freund Warwicks, sowie zwei weitere burgundische Edelmänner teilnehmen.286 ­Aimon de Macy, Begleiter Johanns II. und wahrscheinlich einer der beiden eingeladenen Edelmänner, berichtet später,287 der Graf von Ligny habe Jeanne sehen wollen, woraufhin die Brüder Luxemburg sich zusammen mit dem Grafen Warwick, dem Earl of Stafford und ihm selbst in ihr Gefängnis begeben hätten. Der genaue Zeitpunkt bleibt offen, vielleicht 281 So als Zeugen im Nichtigkeitsverfahren am 2. April 1456: Jean Tiphaine (vgl. Duparc I, 349 [= IV, 34]) und Guillaume de la Chambre (vgl. Duparc I, 351 [= IV, 35 f.]). 282 „Tu, Paillarda, comedisti halleca et alia tibi contraria.“, so Jean Tiphaine am 2. ­April 1456 als Zeuge im Nichtigkeitsverfahren (vgl. Duparc I, 349 [= IV, 34]). 283 A.a.O. 284 So Guillaume de la Chambre am 2. April 1456 als Zeuge im Nichtigkeitsverfahren, vgl. Duparc I, 351 (= IV, 36). 285 Ludwig von Luxemburg war im September 1429 unter den englischen Verteidigern gewesen, die Jeannes Angriff auf Paris erfolgreich zurückschlugen. 286 Die genaue Gästeliste findet sich im Beauchamp Household Book, dem Haushaltsbuch des Grafen von Warwick, das 1960 in England aufgefunden wurde (vgl. Müller, 850 f.). 287 Vgl. seine Zeugenaussage im Nichtigkeitsverfahren am 7. Mai 1456, ­Duparc I, 405 – 406 (= IV, 87).

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direkt im Anschluss an das Diner oder aber in den darauf folgenden Tagen. Johann habe dann im Kerker vor der Gefangenen erklärt: „Jeanne, ich bin gekommen, um Dich auszulösen, sofern Du mir versprichst, niemals wieder die Waffen gegen uns zu erheben!“ Darauf Jeanne: „Im Namen Gottes, Ihr verspottet mich! Ich weiß sehr wohl, dass Ihr dies weder wollt noch könnt!“ Das Mädchen wiederholt diese Worte mehrmals, während der Graf seinerseits insistiert. Schließlich ruft Jeanne: „Ich weiß sehr gut, dass die Engländer meinen Tod wollen, weil sie hoffen, danach die Herrschaft über Frankreich zu gewinnen. Aber das werden sie nicht, und wenn sie auch einhunderttausend ,Godons‘288 mehr wären als jetzt!“ Hierüber erbost der Earl of Stafford und will seinen Dolch zu ziehen, um das Mädchen niederzustechen. Graf Warwick fällt ihm in den Arm und verhindert dies.289 Jeannes Kraftquelle, diese Haftbedingungen zu überstehen, sind nur ihre „Stimmen“: „Ich wäre nicht mehr am Leben, wenn es nicht meine Offenbarung gäbe, die mich täglich stärkt.“290

288 Mit dem Schimpfnamen „Godons“ waren verballhornend die Engländer („God damned“) gemeint. 289 Aimon de Macy am 7.  Mai 1456 als Zeuge im Nichtigkeitsverfahren (vgl. ­Duparc I, 405–406 [= IV, 87]). 290 „Dixit eciam quod fuisset mortua, nisi fuisset revelacio que comfortat eam ­cothidie.“, so ihre Erklärung in der fünften öffentlichen Sitzung am 1. März 1431 (Tisset I, 86).

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Letztes Wort und erstes Urteil Am 24. Mai 1431, Donnerstag nach Pfingsten, tritt das Inquisitionsgericht nach Maßgabe der Ladung in der Conclusio vom 23. Mai 1431 zur Urteilsverkündung in Rouen zusammen. Ein öffentlicher Platz auf dem Friedhof der Abtei von Saint-Ouen bildet den Rahmen: Dort ist ein Gerüst aufgeschlagen, auf dem Jeanne sich gut sichtbar bereits befindet, als die Richter, umgeben von einer Wolke von Beisitzern, erscheinen. Bei der Generalpredigt/sermo generalis, dem zeremoniellen prozessualen Abschluss des Inquisitionsverfahrens291, sind neben vielen anderen Beisitzern auch die uns aus dem Vorfall in Jeannes Gefängnis nach dem Diner bei Graf Warwick bekannten Bischöfe Ludwig von Luxemburg und Jean de Mailly zugegen. Anwesend ist auch der mächtige Heinrich Beaufort, von Cauchon ausdrücklich gewürdigt. Seine Präsenz während der Urteilsverkündung unterstreicht die politische Bedeutung des Prozesses. Der Vorsitzende Richter erteilt zunächst seinem Beisitzer Magister Guillaume Érard, Doktor der Theologie und Domherr zu Langres und

291 Der sermo generalis (in Spanien „Auto-da-fé/actus fidei/Glaubensakt“ genannt) bezeichnete in seiner ursprünglichen Bedeutung die abschließende Verhandlung gegen jeweils mehrere Angeklagte in Glaubenssachen, deren Prozess entscheidungsreif war. Seinen Namen hatte er von der am Anfang der Verhandlung gehaltenen Predigt/sermo. In übertragender Bedeutung stand der sermo generalis für den rituellen prozessualen Schlussakt eines Ketzerverfahrens, eine Zeremonie in liturgischen Formen: Verhandlung und Urteil waren Predigt, also Verkündigung des Wortes Gottes. Der sermo generalis fand regelmäßig an Sonntagen statt (ausgenommen waren die Sonntage in der Fastenzeit und während des Advents), damit möglichst viele Menschen teilnehmen konnten. An diesen Sonntagen durfte in den Kirchen des Ortes nicht gepredigt werden. Der Termin wurde vorab in allen örtlichen Kirchen und Klöstern, am Sitz des Bischofs und im Rathaus bekannt gegeben, die Teilnahme stand jedermann offen. Personen, die teilnahmen, erhielten einen 20- oder 40-tägigen Ablass zugesichert; vgl. Werner, 471 ff.

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Laon,292 einer einflussreichen Persönlichkeit in der politischen Welt (für die englische Seite), das Wort zu einer feierlichen Predigt/solennem predicacionem.293 Thema ist ein Wort Jesu aus dem Johannesevangelium: „Die Rebe kann nicht von sich aus Frucht tragen, wenn sie nicht am Rebstock bleibt.“294 Érard kann hieran entwickeln, wie alle Gläubigen am Weinstock der Heiligen Mutter Kirche bleiben müssen, Jeanne sich aber durch Irrtümer und Verbrechen von dieser getrennt habe und den Gläubigen zum Ärgernis geworden sei. Sie und zugleich das gesamte anwesende Volk ermahnt der Prediger, an den heiligen Lehren festzuhalten. Erkennbar wird hier die Funktion dieser Predigt: Sie ist gleichzeitig Erhöhung des Glaubens und Erbauung der anwesenden Gläubigen sowie letzte Ermahnung der Angeklagten zu Einsicht und Umkehr. Nun wendet Érard sich direkt an das Mädchen auf dem Gerüst: „Schau Dir meine295 hochwürdigen Richter an, sie haben Dich immer wieder aufgefordert und gebeten, sich mit all Deinen Worten und Taten der Heiligen Mutter Kirche zu unterwerfen! Sie haben Dir aufgezeigt, dass Du viel Schlechtes und Irriges gesagt und getan hast!“296 Jeanne: „Ich will Euch antworten. Was die Unterwerfung unter die Kirche angeht, dazu habe ich ihnen geantwortet: Alles, was ich gesagt und getan habe, soll nach Rom an unseren Herrn den Papst übermittelt werden,297

292 Laon, im Norden Frankreichs gelegen, war im 10. Jahrhundert Residenz der karolingischen Könige und besitzt eine prachtvolle, architektonisch bedeutende frühgotische Kathedrale. 293 Vgl. Tisset I, 385. 294 Vers 15,4. 295 Spricht Érard hier als Beisitzer des Gerichts oder bleibt er in der Rolle des Predigers, der unmittelbar Gottes Wort und damit anstelle Gottes redet? Oder handelt es sich um einen Übersetzungsfehler beim Wort „messeigneurs les juges“ aus dem Französischen ins Lateinische („dominos meos iudices”)? 296 Tisset I, 386 f. 297 Hier bezieht sich Jeanne mit ausgezeichnetem Gedächtnis auf ihre Einlassung in der Vernehmung am 17.  März 1431 (nichtöffentliches Sonderverhör), wo sie verlangt hatte, dem Papst vorgeführt zu werden, ihm werde sie auf alle Fragen Antwort geben (s.o. S. 83, 104 f.).

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auf den und zuallererst auf Gott ich mich berufe. Was meine Worte und Taten angeht, so habe ich sie auf Veranlassung Gottes gesagt und getan.298 Nur mir persönlich, nicht dem König oder sonst jemandem, soll zur Last gelegt werden, was ich gesagt und getan habe.“ Entsprechend dem Ritual des sermo generalis wird sie nun abschließend gefragt, ob sie alle Worte und Taten widerrufen wolle, die ihr von den Geistlichen vorgeworfen würden? – „Ich berufe mich auf Gott und unseren Herrn den Papst!“, so ihr letztes Wort. „Das genügt nicht!“, wird ihr erwidert. „Es ist unmöglich, den Heiligen Vater, der so weit weg ist, mit dieser Sache zu behelligen. Alle Ordinierten sind zum Richteramt berufen, jeder in seiner Diözese. Also beruf Dich auf unsere Heilige Mutter Kirche und nimm Urteil und Entscheidung der anwesenden Geistlichen und Sachverständigen an!“ Noch dreimal wird das Mädchen nun vom Gericht derart ermahnt. Als sie anhaltend schweigt, beginnt Cauchon mit der Verkündung des (ersten) Urteils.299 Dieses ist als Urteil „ohne Widerruf der Angeklagten“ für die Sitzung ebenso vorbereitet wie eine weitere Fassung, die auf den Fall einer vorherigen Abschwörung Jeannes zugeschnitten war300:

„Im Namen des Herrn, Amen. Sämtliche Hirten der Kirche, sorgend bemüht, die Herde des Herrn getreulich zu hüten und zu leiten, müssen all ihre Kräfte einsetzen, um dem perfiden Irrtumsstifter, der mit List und Betrug die Lämmer Christi vergiftet, bei seinen schändlichen Versuchen wachsam und leidenschaftlich Widerstand zu leisten. Dies gilt ganz besonders in der Gegenwart, für die das Apostelwort sehr viele falsche Propheten vorhergesagt

298 Vgl. Tisset I, 387. 299 In den Prozessakten findet sich dieses erste Urteil hinter dem letzten, im Verfahren wegen Rückfalls verkündeten Urteil (vgl. Tisset I, 413 ff.). 300 So Cauchons ausdrücklicher Hinweis in seinem einleitenden Bericht zur Sitzung am 29. Mai 1431, schon im späteren Verfahren wegen Rückfalls (vgl. Tisset I, 401; s.u., S. 151 f.).

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hat, die Sekten des Verderbens und Irrtums gründen werden und durch ihre unwissenden Lehren die Gläubigen Christi verwirren könnten  – wenn nicht unsere Heilige Mutter Kirche die irrtumsverhafteten Versuche mit Hilfe der unverdorbenen Lehre und der kirchlichen Gesetze ständig höchstsorgfältig bekämpfte.301 Vor uns, den zuständigen Richtern: Pierre, auf Grund göttlichen Erbarmens Bischof von Beauvais, und Bruder Jean Le Maistre, in dieser Stadt und ­Diözese Vertreter des allseits bekannten Doktors und Magisters Jean Graverent, des Inquisitors der häretischen Verirrung im Königreich Frankreich, und von demselben für die vorliegende Rechtssache speziell beauftragt – vor uns bist du, Jeanne, vulgo la Pucelle, zahlreicher schändlicher Vergehen angeklagt und zu einem Glaubensprozess geladen worden. Aus diesem Grund sagen und entscheiden wir – nach sorgfältiger Betrachtung und Prüfung des Prozessverlaufs und deiner Handlungen, Antworten, Bekenntnisse und Behauptungen dort, unter Berücksichtigung der renommierten Bewertungen und Stellungnahmen zu deinen Behauptungen, Worten und Taten von Seiten der Magister der Fakultäten der Theologie und des kanonischen Rechts an der Universität von Paris, ja darüber hinaus von der Universität als ganzer, außerdem von zahlreichen anderen geistlichen Würdenträgern, Doktoren und Sachverständigen, sowohl in der Heiligen Schrift wie im kirchlichen und bürgerlichen Recht, aus der Stadt Rouen und anderswoher, nach reiflicher Beratung mit Praktikern der Inquisition, in Erwägung und Beachtung all dessen, was erwägen und beachten muss, wer korrekt Recht sprechen will –

301 Die Absätze wurden von den Autoren zur Verdeutlichung der inhaltlichen Strukturierung gesetzt. Im Prozessprotokoll ist ein ununterbrochener Fließtext zu lesen. Das Gleiche gilt für die Abschwörungserklärung und das zweite Urteil.

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Christus und das Ansehen des rechten Glaubens vor Augen, so dass unser Urteil direkt aus dem Mund Gottes kommt – sagen und entscheiden wir: du bist eine lügnerische Erfinderin göttlicher Offenbarungen und Erscheinungen (1)302, eine verderbte Verführerin (2), anmaßend, leichtgläubig, vermessen (3), abergläubisch (4), falsche Wahrsagerin (5) und Lästerin Gottes und der Heiligen (6), Verächterin Gottes in seinen Sakramenten (7), Übertreterin des göttlichen Gesetzes, der heiligen Lehre und der kirchlichen Regeln (8), aufrührerisch (9), grausam (10), abtrünnig (11) und schis­matisch (12), verhaftet in zahllosen Irrtümern über unseren Glauben (13) und in all dem schuldig gegenüber Gott und der Heiligen Kirche. Du hast dich außerdem stur, hartnäckig und halsstarrig geweigert und wiederholt ausdrücklich abgelehnt, dich unserem Herrn dem Papst und dem Generalkonzil zu unterwerfen – obwohl du hinlänglich sowohl von uns selbst als auch von vielen sachverständigen und erfahrenen Doktoren und Magistern, im Bestreben, Dein Seelenheil zu retten, ein ums andere Mal ermahnt worden bist, dich zu bessern, umzukehren und dich der Ent­scheidung und Verfügung unserer heiligen Mutter Kirche zu unterwerfen. Aus diesen Gründen erklären wir dich, eigensinnig in deinen geschilderten Vergehen und Fehlern verharrend, für kraft Gesetzes exkommuniziert und häretisch. Deine Irrtümer werden in einer öffentlichen Predigt verdammt werden. Wir verfügen, dich wie ein Glied des Satans, von der

302 Die Nummerierungen werden angebracht, um die einzelnen Schuldvorwürfe klarer abzugrenzen und später in der materiellrechtlichen Würdigung des Verurteilungsprozesses mit eindeutigem Bezug bewerten zu können. Sie erleichtern zudem den Vergleich der drei Urteile.

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Kirche abgetrennt und mit der Lepra der Häresie infiziert, der weltlichen Gerichtsbarkeit auszuliefern, damit du nicht andere Glieder Christi ansteckst. Wir liefern dich mit der Bitte aus, sie möge ihr Urteil mäßigen und nicht den Tod und die Verstümmelung der Glieder zu vollstrecken. Und: wenn du Anzeichen wahrer Reue zeigst, wird dir das Sakrament der Buße gewährt werden.“303

303 S.o., S. 169.

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Widerruf und Abschwörung Cauchon kommt mit der Verlesung des Urteils nicht zu Ende. Das Mädchen unterbricht ihn plötzlich304: „Ich will alles beachten, was die Kirche vorschreibt und Ihr Richter entscheidet. Ich folge in allem Euren Anordnungen und Wünschen.“ – Ein Geständnis ist das nicht. Jeanne gibt nicht zu, dass sie sich die Offenbarungen ausgedacht, „ihre“ Heiligen erfunden hätte, wie das Urteil es ihr vorwarf. Dies war eine Kapitulation, überraschend doch die geforderte, so lange verweigerte „Unterwerfung“ unter die Auffassung der Richter und Gelehrten. Hat sie die ganze Zeit über auf ein Eingreifen ihrer Heiligen gewartet? Hat sie nun, in diesem Moment, als sie auf dem Gerüst steht und das Urteil fast vollständig verkündet ist, ihr Vertrauen auf eine Rettung aus dem Verfahren verloren? „Fürchtet sie das Feuer“, wie Randbemerkungen zum lateinischen Protokoll es in zwei Handschriften vermerken?305 Zu spät ist es noch nicht, denn: „Die Kirche verschließt ihren Schoß ­keinem, der umkehrt/Ecclesia nulli claudit gremium redeunti.“306 Zu dem, was dann genau geschieht, enthalten die Protokolle des Verur­ teilungsprozesses Unterschiedliches beziehungsweise überhaupt keine Hinweise. Nach den obigen die Urteilsverkündung unterbrechenden Worten Jeannes fährt die minute française, das ursprüngliche französische Protokoll, fort:

304 Zum Zeitpunkt stellen die Handschriften des lateinischen Protokolls in der Überschrift über dem Urteil unterschiedlich fest: „Dieses Urteil wurde teilweise (Handschrift B)/ zu einem sehr großen Teil (Handschriften A und C) vor der Abschwörung Jeannes verlesen/verkündet./Ista sentencia fuit in parte/pro maiori parte pronunciata/lecta ante abiuracionem quondam Iohanne”; vgl. Tisset I, 413. 305 Tisset I, 388, Anm. 3: „Ante finem sentencie Iohanna timens ignem dixit se velle obedire Ecclesie“ in den Manuskripten B und C. Diese Deutung dürfte der späteren Einlassung Jeannes im Verfahren wegen Rückfalls entlehnt und hier adnotiert worden sein (s.u., S. 160 f. m. Anm. 338). 306 Alexander IV. (Papst 1254–1261) in seiner Anweisung an die „Inquisitoren der häretischen Verderbtheit/Inquisitoribus haereticae pravitatis“, VI, 5.2.4.

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„Dann, in Gegenwart der genannten Personen und einer großen Volksmenge, widerrief sie und erklärte ihre Abschwörung wie folgt.“307 Dieser Satz fehlt im lateinischen Protokoll. Weder im französischen noch im lateinischen Protokoll folgt nun allerdings die angekündigte mündliche Abschwörungserklärung, sondern in beiden Protokollen der Passus: „Sie sagte mehrere Male: Ihr seid der Auffassung, dass meine Erscheinungen und Offenbarungen nicht aufrechtzuerhalten, dass sie nicht glaubwürdig sind. Ich will sie nicht aufrechterhalten. Ich berufe mich in allem auf die Richter und auf unsere Heilige Mutter Kirche.“308 Nur das lateinische Protokoll enthält danach das hochformelle, umfangreiche Dokument der Abschwörung in französischer Sprache mit der Unterschrift „Jehanne“ und einem Kreuz dahinter sowie, unmittelbar anschließend, den Wortlaut der Abschwörung in lateinischer Übersetzung (die in der Diktion nicht immer mit der französischen Fassung übereinstimmt): „[Eingangsformel: Jeder Mensch, der im christlichen Glauben geirrt und diesen missachtet hat …] Ich, Jeanne, gemeinhin „Pucelle“ genannt, armselige Sünderin, bekenne zum Zeichen, dass meine Rückkehr zu unserer Mutter, der heiligen Kirche, nicht vorgetäuscht, sondern ehrlich und aufrichtig gemeint ist, dass ich schwer gesündigt habe, indem ich: göttliche Offenbarungen und Erscheinungen, vermittelt durch Engel, die heilige Katharina und die heilige Margareta, lügenhaft vorgetäuscht habe, andere verführt; töricht und leichtfertig geglaubt; abergläubisch wahrgesagt; Gott und seine Heiligen gelästert; 307 „Et alors, en la presence des dessusdiz et grant multitude de gens qui la estoient, elle revoqua et fist son abiuracion en la maniere qui ensuit.“ (Tisset I, 388). 308 „Et dist plusieurs fois qui, puisque les gens d’Eglise disoient que ses apparicions et revelacions n’estoient point a soustenir ne a croire, elle ne les vouloit soustenir; mais du tout s’en rapportoit aux juges et a nostre mere Saincte Eglise.“ (Tisset I, 388).

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das göttliche Gesetz, die Heilige Schrift und das kirchliche Recht übertreten; gegen den natürlichen Anstand eine liederliche, schändliche und unanständige Kleidung und gegen jede Ehrbarkeit des weiblichen Geschlechts die Haare nach Männerart rundgeschnitten getragen; desgleichen in großer Anmaßung eine Rüstung getragen; grausam nach dem Vergießen von Menschenblut verlangt; gesagt habe, ich hätte dies alles auf Geheiß Gottes, der Engel und der obengenannten Heiligen getan und damit recht gehandelt und nicht gefehlt; Gott und seine Sakramente missverstanden; Aufruhr geschürt und durch die Anbetung und Anrufung böser Geister Götzendienst getrieben habe. Ich bekenne auch, dass ich schismatisch gewesen bin und auf verschiedene Weise im Glauben geirrt habe.309 Diesen Verbrechen und Irrtümern schwöre ich ab; ich verabscheue und leugne sie und entsage und trenne mich aufrichtigen Herzens und ohne falsche Vortäuschung vorbehaltlos von ihnen…. Und wegen all dieser Verfehlungen unterwerfe ich mich unserer Mutter, der Heiligen Kirche, und Eurem guten Richterspruch. Auch gelobe, schwöre und verspreche ich…, dass ich niemals … zu den oben genannten Irrtümern zurückkehren werde … Und dies sage, bekräftige und schwöre ich bei Gott, dem Allmächtigen, und den Heiligen Evangelien. Und zum Zeichen dessen habe ich dieses Schriftstück mit meinem Handzeichen unterzeichnet. Jehanne +“310

309 Es fehlen hier aus den zwölf Assertiones (s.o., S.  113  ff.) die Vorwürfe des „Zeichens“, das Jeanne angeblich gegenüber Karl  VII. vorgewiesen hatte; ebenso der Gebrauch des Kreuzes in Briefen, der Ungehorsam gegenüber den Eltern, der Sprung vom Turm in Beaurevoir und die Heilsgewissheit Jeannes. Dieser Vorwurf fehlt auch im späteren zweiten Urteil nach Widerruf und Abschwörung; ebenso das Tragen einer Rüstung und einer Männerfrisur, das Schüren von Aufständen. 310 Tisset I, 389–391.

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Inhaltlich sind der Schuldausspruch des ersten Urteils und das Sünden­ bekenntnis der Abschwörung überwiegend deckungsgleich, wobei die Formulierungen des Urteils stark verknappt und schlagwortartig gefasst sind; im Urteil nicht erwähnt ist der Vorwurf, dass Jeanne Männerkleidung angelegt hatte. Ins Dunkel der protokollarischen Ungereimtheiten311 bringen erst Zeugenaussagen 15 Jahre später im Nichtigkeitsverfahren ein wenig Licht. Die Zeugen erwähnen, Jeanne habe bei der Unterzeichnung der Abschwörungserklärung gezögert. Das Mädchen habe die vorherige Prüfung des vorgelegten Dokuments durch Kirchenmänner verlangt. Ihren Widerstand habe sie erst aufgegeben, als Érard ihr drohte, wenn sie nicht unterschreibe, werde sie sofort verbrannt.312 Die Zeugen bekunden, Verlesung und Nachsprechen der Abschwörungserklärung auf dem Friedhof von Saint-Ouen hätten so lange wie ein Vaterunser gedauert; die Erklärung sei (nur) ca. sechs bis acht Zeilen lang gewesen.313 Es scheint demnach eine definitiv vorbereitete314 formelhafte (um den einschlägigen Verfahrensregeln zur Abschwörung zu entsprechen315) Langfassung der Abschwörung auf Französisch gegeben zu haben, die zu den Akten gelangte, und eine Kurzfassung, die am 24. Mai 1431 auf dem Friedhof verlesen und von Jeanne nachgesprochen wurde. Diese ist nicht 311 Zu den Details vgl. Müller, 212 ff. m.w.N. 312 Zeuge Jean Monnet am 3. April 1456 im Nichtigkeitsverfahren (vgl. Duparc I, 261 [= IV, 46]); Zeuge Gerichtsdiener Jean Massieu im Nichtigkeitsverfahren am 8. und 12. Mai 1456 (vgl. Duparc I, 208, 433 [= III, 196; IV, 114]; Zeuge Notar Guillaume Colles im Nichtigkeitsverfahren am 12.  Mai 1456 (vgl. ­Duparc I, 439 [= IV, 119]). 313 Zeugen im Nichtigkeitsverfahren: Arzt (s.o.) Guillaume de la Chambre am ­2. ­April 1456 (vgl. Duparc I, 352 [= IV, 37]); Zeuge Jean Monnet am 3. April 1456 (vgl. Duparc I, 361 [= IV, 46]; Zeuge Jean Massieu am 12. Mai 1456 (vgl. Duparc I, 433 [= IV, 113]); Zeuge Notar und vereidigter Protokollführer Nicolas Taquel am 11. Mai 1456 (vgl. Duparc I, 466 [= IV, 145]); Zeuge Beisitzer Pierre Miget am 12. Mai 1456 (vgl. Duparc I, 414 [= IV, 95]). 314 Aussage von Guillaume Manchon als Zeuge im Nichtigkeitsverfahren am 12. Mai 1456 (vgl. Duparc I, 425 [= IV, 106]). 315 Vgl. Eymerich/Peña, 173 f. Das Handbuch liefert zu den denkbaren Fallgruppen wie: Abschwörung bei einem schwachen Verdacht, bei einem starken Verdacht, bei einem schweren Verdacht oder im Falle eines bußfertigen Häretikers usw. jeweils eine Schilderung der konkreten Verfahrensabläufe und Muster einer Abschwörungserklärung.

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erhalten. Viel spricht dafür, dass dem Mädchen nach Verlesung der Kurzfassung zur Unterzeichnung die französische Langfassung/cedula vorgelegt wurde und daher ihre Irritation rührte. Nach dem anhand der Zeugenaussagen rekonstruierbaren Inhalt der Kurzfassung dürften Kurz- und Langfassung in den Kernaussagen inhaltlich allerdings weitgehend übereingestimmt haben bzw. identisch gewesen sein.316 Verschwunden ist die Kurzfassung erst im Zusammenhang mit dem Nichtigkeitsverfahren317 unter ungeklärten Umständen. Die Tatsache allerdings, dass Jeanne abgeschworen hat, kann nach den späteren Bezugnahmen auf die Abschwörung in den Protokollen des Verurteilungsprozesses, insbesondere nach der späteren Bewertung ihrer Abschwörung durch das Mädchen selbst,318 nicht überzeugend in Abrede gestellt werden.319

316 Vgl. Müller, 218 f. m.w.N. 317 Ausweislich der Ausführungen des Promotors im Nichtigkeitsverfahren, Simon Chapitault, am 2. Juli 1456, wenige Tage vor Erlass des Nichtigkeitsurteils, befand sich die Kurzfassung da noch bei den Prozessakten; vgl. Duparc II, 13 (= IV, 192). 318 Cauchon schilderte im Verfahren wegen Rückfalls (s.u.) am 29. Mai 1431 in seinem die gerichtlichen Beratungen einleitenden Bericht vor den anwesenden ­Beisitzern im Rückblick die Ereignisse auf dem Friedhof von Saint-Ouen (vgl. Tisset I, 401). Jeanne wurde ihre Abschwörung am 28. Mai 1431 vorgehalten – sie erwiderte: „Ich habe überhaupt nicht bewusst erkannt, dass ich solches getan und gesagt, dass ich meine Erscheinungen, die Heiligen Katharina und Margareta, geleugnet habe. All dies tat ich aus Angst vor dem Feuer! Mein Widerruf enthält nicht die Wahrheit!/Respondit quod ipsa non intelligebat sic facere vel dicere. Item dixit quod ipsa non dixit vel intellexit quod revocaret suas appaiciones, videlicet quod essent sancte Katherina et Margareta; et totum hoc quod fecit, ipsa fecit pre timore ignis et nichil revocavit quin hoc sit contra veritatem.“ (Tisset I, 398 f.). Die Tatsache der Abschwörung bestritt sie nicht. 319 Die Frage, ob es sich bei der Langfassung der Abschwörungsformel um eine Fälschung handelte, ob Jeanne gar niemals oder nicht wirksam (weil sie die Bedeutung des Geschehens nicht erfasste) abgeschworen habe, war seit Ende des 19. Jahrhunderts Gegenstand eines „Historikerstreits“ unterschiedlicher Schulen. In Anspielung hierauf liest man auf der im Jahr 1913 von der Stadt Rouen vor der Abteikirche Saint-Ouen errichteten Gedenktafel: „Ici, au cimitière de Saint-Ouen, … Jeanne d’Arc subit l’odieuse épreuve dite de l’abjuration./ Hier, auf dem Friedhof von Saint-Ouen, durchlitt Jeanne d’Arc die schändliche Prüfung, die so genannte Abschwörung.“

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Das zweite Urteil und sein Vollzug Nun geht alles schnell und ohne weitere Unterbrechung des prozessualen Verhandlungsgeschehens. Das Protokoll enthält unmittelbar nach der lateinischen Version der Abschwörung den einen knappen Satz: „Nach Annahme von Widerruf und Abschwörung in der vorstehenden Form durch uns Richter haben wir, obengenannter Bischof, unser endgültiges Urteil/sententia diffinitiva320 schließlich wie folgt verkündet: …“321 Dieses zweite Urteil ist zunächst identisch mit dem ersten, mit Beginn des Schuldausspruchs in der Urteilsformel verändern sich Inhalt und Diktion: „… wir sagen und entscheiden: du hast sehr schwer gefehlt, indem du göttliche Offenbarungen und Erscheinungen lügenhaft erfunden hast (1), indem du andere verführt hast (2), leichtfertig und blind geglaubt (3), abergläubisch wahrgesagt (4), Gott und die Heiligen gelästert (5), die Gebote, die Heilige Schrift und die kirchenrechtlichen Regeln verbogen (6), Gott in seinen Sakramenten missachtet (7), 320 Mit diesem Terminus technicus wurden ausschließlich Urteile bezeichnet, die eine Verurteilung beziehungsweise einen Freispruch tenorierten (vgl. für das Zivilrecht: Nörr, Romanisch-kanonisches Prozessrecht, 196 ff.). 321 „Tandem vero sua revocacione et abiuracione, ut prefertur, per nos, iudices, recepta, nos, episcopus prefatus, protulimus sentenciam nostram difinitivam in hunc modum:…“ (Tisset  I, 391  f.). Im Nichtigkeitsverfahren ergänzte der Zeuge Jean Monnet am 3. April 1456, Cauchon habe nach Jeannes Abschwörungserklärung zunächst den anwesenden Kardinal von England befragt, was zu tun sei. Dieser habe ihm geantwortet, Jeanne müsse zur Reue angenommen werden (vgl. Duparc I, 361 [= IV, 46]). Auch in diesem Fall folgte Cauchon dem von ihm erbetenen Ratschlag.

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Das zweite Urteil und sein Vollzug

zu Aufständen aufgewiegelt hast (8), abtrünnig geworden bist (9), in das Verbrechen der Glaubensspaltung verfallen bist (10) und indem du vielfach im rechten katholischen Glauben geirrt hast (11). Aber weil du nach vielen liebevollen Ermahnungen und langem Warten endlich mit Gottes Hilfe in den Schoß unserer heiligen Mutter Kirche zurückgekehrt bist – zu unserer Überzeugung mit zerknirschtem Herzen und nicht in geheucheltem Glauben – und Deine in öffentlicher Predigt verworfenen Irrtümer mit klarer Stimme widerrufen, weil du in einer der Form der kirchlichen Bestimmungen entsprechenden Weise mit eigenem Mund und lebendiger Rede jeglicher Häresie abgeschworen hast: lösen wir dich hiermit aus den Banden der Exkommunikation, in denen du gefesselt lagst, sofern du zur Kirche mit wahrhaftigem Herzen und ungeheucheltem Glauben zurückkehrst und auf dich nimmst, was wir dir auferlegt haben und auferlegen werden. Weil du aber gegen Gott und die heilige Kirche – wie zuvor ausgeführt – ohne jede Einsicht gefehlt hast, verurteilen wir dich durch endgültiges Urteil, immer unbeschadet unserer Befugnis zur Begnadigung oder Strafmilderung, zur heilsamen Buße mit dem Brot des Schmerzes und dem Wasser der Traurigkeit in ewiger Kerkerhaft, damit du dort deine Taten beweinst und künftig nichts mehr tust, was du beweinen müsstest.“322 Das erste wie das zweite Urteil weisen grundlegende Unterschiede zum heute üblichen Aufbau eines Strafurteils in straffer, formalisierter Rela­ tionstechnik auf: Eine konsequente und ausdrückliche Korrespondenz zwischen den Vorwürfen und Sachverhaltsfeststellungen der Anklageschrift, die nach heutigem Verständnis den Prozessgegenstand (§ 207 Strafprozessordnung) bestimmt, beziehungsweise zwischen den zwölf asserciones und den Schuld- und Strafaussprüchen des Urteilstenors fehlt.

322 Tisset I, 392 f.

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Das zweite Urteil und sein Vollzug

In der Urteilsformel wird keine (kirchliche) Rechtsvorschrift angeführt, die Schuld- und Strafausspruch tragen würde (vgl. § 260 Absatz 5 Strafprozessordnung). Eine Begründung (vgl. § 267 Strafprozessordnung) enthalten die Urteile ebenfalls nicht. Es fehlt auch eine (nach unserem Verständnis darin anzuführende) Tatsachendarstellung gänzlich. Die verschiedenen Feststellungen zum Sachverhalt aus den zwölf Schuldartikeln – das „Zeichen“; Männerkleidung und -frisur; der Gebrauch des Kreuzzeichens; der Ungehorsam gegenüber den Eltern; der Sprung vom Turm in Beaurevoir; die Gewissheit, in das Paradies einzugehen, und der Götzendienst in Gestalt der Referenz Jeannes gegenüber ihren Offenbarungen – finden in den Urteilen keine Erwähnung. Eine Schilderung der persönlichen Verhältnisse der Angeklagten, eine Beweiswürdigung, eine rechtliche Würdigung oder Ausführungen zur Strafzumessung, für uns Bausteine der Urteilsbegründung, fehlt ebenso wie eine konkrete Subsumption von als Ergebnis einer Beweiswürdigung festgestellten Tatsachen unter einschlägige legaldefinierte Deliktstatbestände. Genau dies wird im Nichtigkeitsverfahren von der Klägerseite gerügt werden: „… sie [sc. Jeanne] konnte nicht gültig durch ein Urteil für schuldig erklärt werden, das nur in allgemeiner Form die ihr vorgeworfenen Verbrechen aufzählte, … ohne die konkreten Verstöße mit ihren Begleitumständen zu nennen und aufzuzeigen.“323 Neben den genannten strukturellen Unterschieden fällt auf, dass in beiden Urteilen (und auch in der Abschwörung) – anders als noch einen Tag vorher am 23.  Mai in den zwölf Schuldartikeln  – nicht mehr für möglich gehalten wird, dass die Erscheinungen und Offenbarungen der Angeklagten das Werk von Dämonen und bösen Geistern seien. Das ­Inquisitionsgericht stellt vielmehr fest, das Mädchen habe seine Begegnungen und seinen Austausch mit den Heiligen „lügenhaft erfunden/ mendose confingendo“. Eine Begründung zum Ausschluss der ersten Alternative von einem Tag auf den anderen unterbleibt.324

323 Vgl. Duparc II, 20–32 (= IV, 200–213). 324 Salditt, 629, merkt an, dass diese Wendung „eher ,strafmildernd‘ motiviert gewesen sei. Als Instrument des Teufels wäre Johanna Hexe gewesen, als Lügnerin nur vom Wege abgekommen“.

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Das zweite Urteil und sein Vollzug

Mit dieser Feststellung war gleichzeitig der Schuldausspruch im Tenor hinfällig, Jeanne habe „leichtfertig und blind geglaubt/leviter et temere credendo“, denn dieser war aus der Einflüsterung ihrer Erscheinungen durch böse Geister abgeleitet. Der Schuldausspruch, die Angeklagte sei „abtrünnig geworden/apostatando“, ist im Verständnis eines Terminus technicus für eine Fallgruppe der Häresie ebenfalls inhaltlich nicht zutreffend. Apostasie325 bedeutete den völligen Abfall eines Getauften vom Glauben, nach außen dokumentiert durch den formellen Übertritt zu einem anderen Glauben oder das Bekenntnis zum Atheismus oder zum Heidentum. Angesichts des Auftretens und der Bekenntnisse Jeannes erscheint dieser Vorwurf abwegig. Im Strafausspruch sind formal Urteilstenor, Sachverhaltsdarstellung und Überlegungen zur angemessenen Strafe, Letztere unter die Maßgabe der reuevollen Um- und Rückkehr der Angeklagten in den Schoß der Heiligen Kirche gestellt, nicht klar abgrenzt. Vom Strafmaß her entspricht das Urteil dem, was seit der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts im einschlägigen kanonischen Recht als angemessen angesehen wurde: Wer abschwor, entging zwar dem Feuer, aber sie oder ihn erwartete lebenslange Kerkerhaft bei Wasser und Brot326 – insofern wurde das Versprechen in den exhortationes charitativae eingelöst. Eine geringere Strafe war nicht zulässig; einen Strafrahmen, den es durch eine Bewertung des Unrechts- und Schuldgehalts der Tat im Einzelfall

325 Eymerich/Peña, 83–84. 326 Konzil von Toulouse (1229): „XI.  Quomodo agendum cum haereticis non sponte, sed timore vel alia causa conversis … ad agendam poenitentiam per episcopum loci in muro cum tali includantur cautela, quod facultatem non habeant alios corrumpendi. …”, vgl. Mansi, Bd. 23, Sp. 191–203 (196); Gregor IX. (Papst 1227–1241) in seiner Konstitution X 5.7.15 (§  1): „Si qui autem de praedictis [sc.: universos haereticos, Catharos, Patarenos, Pauperes de Lugduno, Passaginos, Iosepinos, Arnaldistas, Speronistas], postquam fuerint deprehensi, redire noluerint ad agendam condignam poenitentiam, in perpetuo carcere detrudantur, credentes autem eorum erroribus haereticos similiter iudicamus.“; vgl. auch Papst Alexander IV. in VI.5.2.8 a.E.: „… immurationis poena …“; Papst Bonifaz VIII. in VI.5.2.12: „… et illorum, qui, vestris mandatis obedientes humiliter, stant propter haeresim in carcere vel muro reclusi… “; vgl. auch Gui, 101, 105.

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Das zweite Urteil und sein Vollzug

auszufüllen galt, gab es nicht. Jeannes jugendliches Alter,327 ihre Unerfahrenheit oder „die Schwäche des weiblichen Geschlechts“ bleiben daher beim Strafausspruch – systemimmanent zu Recht328 – unberücksichtigt. In der Formulierung war der Strafausspruch einer Dekretalis Papst Innozenz’ III. aus dem Jahr 1209329 eng nachgebildet. Trotz fehlenden Strafrahmens ist in das Urteil ganz am Ende ein Vorbehalt formuliert, der es dem Inquisitionsgericht erlaubte, die Strafe nachträglich zu mildern (nicht zu schärfen): „immer unbeschadet unserer Befugnis zur Begnadigung oder Strafmilderung/gracia et moderacione nostris semper salvis“. Die Glaubensgerichte behielten sich dies regelmäßig vor.330 Entscheidungen konnten auch nachträglich verschärft wer327 Nach den Bestimmungen des kanonischen Rechts (insoweit lex specialis) waren Minderjährige in Angelegenheiten des Glaubens/in spiritualibus befugt, selbständig prozessual zu handeln, wenn sie das 14.  Lebensjahr vollendet hatten (Papst Bonifaz VIII., Dekretalis VI.2.1.3, in: CIC II Sp. 99 [s.o., Anm. 78]: „Si annum quartum decimum tuae peregisti aetatis, in beneficialibus et aliis causis spiritualibus, … ac si maior XXV. annis exsisteres, ad agendum et defendendum per te vel per procuratorem … admitti debebis. Si vero infra XIV. annum exsistas, per te agere aut defendere non poteris super ipsis. …“ Das kanonische Recht traf für seinen Geltungsbereich insoweit Spezialregelungen; im weltlichen Recht waren Personen unterhalb der Altersgrenze von 25 Jahren besonders geschützt bzw. in ihrer Geschäfts- und Postulationsfähigkeit eingeschränkt: sie durften bei Rechtsgeschäften oder in gerichtlichen Verfahren nur in Begleitung eines Tutors oder Kurators auftreten (vgl. aus dem römischen Corpus Iuris Civilis [in Kraft getreten im Jahr 533, im Mittelalter weiter geltendes weltliches Recht]: Digesten 4.4.1; Codex Iustinianus 5.59.4). 328 Im Nichtigkeitsverfahren wurden 1455 in Verkennung der Rechtslage diese Gesichtspunkte von den Klägern angeführt (vgl. Duparc I, 61 [= IIII, 54–55]; I, 82 [= III, 74–75]; I, 129–130 [= III, 122]. 329 X 5.40.27 (§ 1): „… hoc tibi ducimus consulendum, ut in perpetuum carcerem ad agendam poenitentiam ipsum includas, pane doloris et aqua angustiae sustentandum, ut commissa defleat, et flenda ulterius non committat.“ (CIC II, Sp. 924). 330 Z.B. Konzil von Bézièrs (1229): „… sed hujusmodi perpetui carceris poenam seu poenitention, ex domini Papae indulgentia super hoc vobis confessa, mitigare vel commutare poteritis de paelatorum, quorum jurisdictioni subsunt, consilio, postquam fuerint in carcere aliquamdiu detenti vestris humiliter parendo mandatis, & signa poenitentiae apparuerint in eisdem, quae vos ad misericordiam moveant, simulque noveritis expedire.”, vgl. Mansi, Bd.  23, Sp.  715–724 (719): vgl. auch Papst Bonifaz VIII. in VI.5.2.12: „… poenam una cum praelatis, quorum iurisdictioni subsunt, mitigandi vel mutandi, quum videritis expedire …“ (CIC II, Sp. 1075).

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Das zweite Urteil und sein Vollzug

den, falls der ursprüngliche Strafausspruch sich als nicht ausreichend erwies. Urteile der Inquisition erwuchsen insoweit nicht in Rechtskraft.331 Dieser Vorbehalt wird uns noch bei den Überlegungen zur Verteidigung Jeannes beschäftigten. Noch am selben Nachmittag sucht der stellvertretende Inquisitor Le Maistre in Begleitung der Beisitzer Loiseleur, de Courcelles und einiger anderer die frisch Verurteilte in ihrer Zelle auf. Die Besucher dringen auf das Mädchen ein: „Gott hat dir heute eine große Gnade erwiesen! Und auch die Männer der Kirche sind dir mit Erbarmen begegnet: Sie haben dich in die Gnade und Barmherzigkeit unserer heiligen Mutter Kirche aufgenommen. Gehorche deshalb in Demut und unterwirf dich dem Urteil und der Anweisung dieser Männer der Kirche! Gib deine früheren Irrtümer und Erfindungen in Gänze auf und hüte dich, zu ihnen zurückzukehren! In einem solchen Fall wird die Kirche dich nicht noch einmal wieder aufnehmen, sondern endgültig fallen lassen. Leg jetzt die Männerkleidung ab und bekleide dich mit einem Frauengewand, wie es dir die Kirche aufgegeben hat!“ Jeanne: „Ich werde gern Frauenkleidung anziehen. Ich unterwerfe mich und gehorche in allem den Männern der Kirche!“ Ihr werden daraufhin Frauenkleider gebracht, die sie sofort anzieht, nachdem sie ihre Männerkleidung abgelegt hat. Ihre Haare, die rund geschnitten waren, rasiert man ihr mit ihrer Zustimmung ab. Damit endet an einem ereignisreichen Donnerstag nach Pfingsten das erste Verfahren gegen Jeanne d’Arc im Verurteilungsprozess der Inquisition.

331 Vgl. Tisset III, 146 m.w.N.

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Rückfall und drittes und letztes Urteil: Das Ende des Verurteilungsprozesses Das amtliche Prozessprotokoll setzt am darauf folgenden Montag, 28. Mai 1431, erneut ein.332 Die Szene spielt wieder in der Gefängniszelle der Pucelle. Beide Richter haben sich mit sieben Beisitzern eingefunden, zugegen (als Zeuge?) ist außerdem John Grey, Schildknappe des englischen Königs und Kommandant der für Jeanne abgestellten Wache im Schloss Bouvreuil. Das Gericht will sich von „Zustand und Verfassung/ statum et disposicionem“333 der Verurteilten ein Bild machen. Schon sehr bald nach Abschluss der Causa lapsus sind Gerüchte laut geworden: Jeanne habe wieder von und mit ihren „Stimmen gesprochen“; sie bereue, Frauenkleider angelegt zu haben. Cauchon hat in diesen Tagen mehrmals Beisitzer, u.a. seinen Vertrauten Jean Beaupère, zum Gefängnis gesandt, um die Tatsachen zu klären und das Mädchen vor einem Rückfall zu warnen. Diese werden jedoch von Engländern, die im Schlosshof versammelt und erbost sind, weil „die Staatsfeindin“ dem Scheiterhaufen entrann, gehindert, zu Jeanne vorzudringen. Tatsächlich trägt das Mädchen am 28. Mai 1431 wieder Tunika, Kappe, Wams und Hosen nach Männerart.334 Die Richter fragen335: „Wann und aus welchem Grund hast du erneut Männerkleidung angelegt?“ Jeanne: „Vor kurzem erst habe ich die Frauenkleider abgelegt und mich nach Männerart angezogen. Ich habe das aus eigenem Entschluss getan, nie-

332 Die Überschrift „Causa relapsus“ wurde ex post vergeben und eingefügt. 333 Tisset I, 395. 334 Wann Jeanne genau den Kleiderwechsel vorgenommen hatte und wie sie an (ihre alte?) Männerkleidung gekommen war, ist ungeklärt. Im Nichtigkeitsverfahren sagten Zeugen hierzu und auch zur Motivation Jeannes unterschiedlich aus. Bei manchen war der Eindruck entstanden, die Verurteilte habe Männerkleidung angelegt, um sich vor Zudringlichkeiten ihrer Bewacher zu schützen (vgl. Müller, 1304 ff. m.w.N.). 335 Tisset I, 395–399.

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mand hat mich dazu genötigt, ich trage diese Kleidung lieber als die weibliche.“ „Aber du hast versprochen und geschworen, keine Männerkleidung mehr zu tragen!“ „Mir ist nicht bewusst, dies jemals geschworen zu haben!“ „Warum hast du Männersachen angezogen?“ „Ich bin hier unter Männern, für mich ist es passender, wenn ich auch Männerkleidung trage. Ihr habt außerdem Euer Versprechen nicht gehalten, dass ich zur Messe gehen darf, den Leib Christi empfange und mir die Fußfesseln abgenommen werden!336 Ich will lieber sterben als in Eisenfesseln leben!337 Wollt Ihr mir aber erlauben die Messe zu hören, mir die Fesseln abnehmen und mich in ein erträgliches Gefängnis überweisen, werde ich mich gutwillig zeigen und alles tun, was die Kirche will.“ „Hast du seit vergangenem Donnerstag die Stimmen der Heiligen Katha­ rina und Margarete gehört?“ „Ja.“ „Was haben sie dir gesagt?“ „Gott338 hat mich durch die Heiligen von seinem großen Schmerz über den schweren Verrat wissen lassen, in den ich durch meine Abschwörung und den Widerruf eingewilligt habe, um mein Leben zu retten. Ich verdamme mich selbst wegen dieser Lebensrettung! Meine Stimmen haben mir vor dem Donnerstag genau gesagt, was ich an dem Tag tun soll, und genau so habe ich es gemacht. Als ich auf dem Gerüst stand, haben sie mich aufgefordert, dem Prediger kühn zu antworten. Das war ein 336 Ein Versprechen mit diesem Inhalt ist den Prozessakten nicht zu entnehmen. Über die Haftbedingungen Jeannes entschied der englische König, in dessen Gewalt sie sich auch während des kirchlichen Inquisitionsprozesses befand (vgl. den Erlass Heinrichs VI. vom 3. Januar 1431, s.o. S. 39). 337 Mit der Angst vor dauerhafter Gefangenschaft werden wir uns in den Thesen zur Verteidigung Jeannes befassen. 338 Die folgende Einlassung Jeannes versah der protokollierende Notar Colles gen. Boisguillaume am Rand des Protokolls mit der Bemerkung: „Responsio mortifera/todbringende Antwort“ (Tisset I, 397).

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falscher Prediger, er hat mir viel vorgeworfen, was ich nicht getan habe. Wenn ich sagen würde, Gott habe mich nicht geschickt, würde ich mich selbst verdammen, denn in Wahrheit hat Gott mich geschickt. Seit Donnerstag sagen mir meine Stimmen, ich hätte durch mein Bekenntnis großes Unrecht getan, ich hätte nicht recht gehandelt. Alles, was ich an diesem Donnerstag gesagt und widerrufen habe, tat ich aus Angst vor dem Feuer.“ „Sind es Stimmen der Heiligen Katharina und Margareta?“ „Ja, sie kommen von Gott.“ „Sagst du uns die Wahrheit über diese Krone, über die schon oft gesprochen wurde?“ „Ich habe Euch über all das im Prozess nach bestem Wissen die Wahrheit gesagt!“ „Bei der Abschwörung auf dem Gerüst hast du vor uns Richtern und dem gesamten Volk erklärt, du habest lügenhaft vorgetäuscht, es seien die Stimmen der heiligen Katharina und Margareta!“ „Ich war mir nicht bewusst, Derartiges zu sagen oder zu tun, auch nicht, dass ich meine Erscheinungen widerrufe, nämlich dass dies die Heiligen Katharina und Margareta gewesen seien. Ich habe alles aus Angst vor dem Feuer getan. Was ich widerrufen habe, war gar nicht gegen die Wahrheit! Ich will lieber einmal büßen, auch mit dem Tod, als noch länger meine Strafe im Gefängnis zu ertragen. Ich habe niemals etwas gegen Gott oder den Glauben getan, was auch immer ich widerrufen habe! Was in der Abschwörungsformel stand, habe ich nicht verstanden. Ich habe nicht beabsichtigt, irgendetwas zu widerrufen, es sei denn nach Gottes Gefallen. Wenn Ihr Richter wollt, ziehe ich wieder Frauenkleider an; aber bei allem anderen bleibe ich!“ Da verlassen die Richter das Mädchen in der Zelle, um das Verfahren „nach Recht und Vernunft/quod iuris esset et racionis“339 fortzusetzen. Am folgenden Tag, 29. Mai 1431, beginnt in der Kapelle des erzbischöflichen Palais die für das Schicksal Jeanne d’Arcs entscheidende Sitzung

339 Tisset I, 399.

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des Inquisitionsgerichts.340 42 Beisitzer sind zugegen. Der Bischof leitet die Beratungen mit einem Bericht über die Ereignisse seit der abschließenden mündlichen Verhandlung am 23. Mai 1431 ein: Verkündung des ersten Urteils, Widerruf und Abschwörung Jeannes, Verkündung des zweiten Urteils und dann, „durch die Einflüsterung des Teufels/suadente diabolo“, schon in der Nacht nach der Abschwörung und an den darauf folgenden Tagen: Jeannes erneutes Reden von ihren Erscheinungen und Stimmen, die wieder zu ihr gesprochen hätten, das erneute Anlegen der Männerkleidung. Die Richter hätten diese Fakten bei einer Inaugenscheinsnahme und Befragung des Mädchens bestätigt gefunden. Das Protokoll der Anhörung Jeannes im Gefängnis vom Tag zuvor wird verlesen. Anschließend werden die Beisitzer um „Rat und Stellungnahme/ consilia et deliberaciones“ gebeten. Inhaltlich steht unaus­gesprochen die Frage im Mittelpunkt, ob Jeanne zu ihrer im ersten und zweiten Urteil festgestellten ketzerischen Gesinnung zurückgekehrt und damit „rückfällig“ geworden sei. Die Voten der Beisitzer sind von höchster Eindeutig- und Einmütigkeit: Alle, Theologen wie Juristen, sehen das Mädchen als rückfällige Häretikerin an, die der weltlichen Gewalt ausgeliefert werden müsse. Die protokollierten Voten der einzelnen Assessores beschränken sich zumeist auf die knappe Feststellung des Rückfalls. Überwiegend schließen sie sich ohne weitere Ausführungen pauschal der Bewertung ihres Kollegen Gilles, Abt des Klosters von Fécamp in der Normandie, an, der darüber hinausgehend verlangt, das jüngst vor dem Mädchen verlesene Dokument („cedula nuper lecta“)341 solle ihr nochmals vorgelesen und durch Gottes Wort in einer Predigt erläutert werden. Die Richter hätten die Verurteilte hiernach für häretisch zu erklären und der weltlichen Justiz – mit der Bitte, nachsichtig mit ihr zu verfahren – auszuliefern. Für viele ist damit alles gesagt; wenige ergänzen, Jeanne habe sich unbußfertig und starrsinnig, uneinsichtig und ungehorsam gezeigt, und wollen auf die Bitte an 340 Tisset I, 399 ff. 341 Tisset I, 403; hiermit dürfte die Abschwörungserklärung vom 24. Mai 1431 gemeint sein, weniger wahrscheinlich ist, dass Abt Gilles sich hier auf die Stellungnahme der Universität zu den zwölf Artikeln bezieht, die Jeanne am 23. Mai verlesen wurde (s.o., S. 131; vgl. Müller, 198 mit Anm. 913; 1313 mit Anm. 5203). In der Sache ist dies unerheblich, da die Abschwörungsformel inhaltlich auf die Stellungnahme bezogen und auf sie abgestimmt war.

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die weltliche Gewalt um nachsichtige Behandlung verzichten. De Courcelles äußert, indem er sich Gilles anschließt, das Mädchen solle zum Heil ihrer Seele nochmals liebevoll ermahnt werden. Man solle ihr sagen, dass sie für ihr irdisches Leben nichts mehr zu hoffen habe. Nach Entgegennahme dieser Voten danken die beiden Richter und kommen zu dem Ergebnis, „dass gegen Jeanne nach Recht und Vernunft wegen Rückfälligkeit vorzugehen sei“.342 Die (in diesem Teil des Protokolls auf Latein verfasste) Minute française protokolliert genauer: Die Richter seien zum Ergebnis gekommen, entsprechend den Voten ihrer Beisitzer zu verfahren. „Und hiernach wurde das Formular des zu erlassenden Urteils verlesen.“343 Für den nächsten Tag, Mittwoch, 30. Mai 1431 – der 30. Mai wird der Namenstag Jeannes werden –, um 8.00 Uhr wird die Pucelle vor das Inquisitionsgericht auf den Alten Markt zu Rouen zur Urteilsverkündung befohlen. Der Morgen dieses 30. Mai dürfte sich folgendermaßen abgespielt haben: Noch vor 7.00 Uhr morgens sucht Gerichtsdiener Massieu das Mädchen in ihrer Zelle auf und lädt sie in richterlichem Auftrag (mündlich?344) für 8.00 Uhr auf den Marktplatz vor. Kurz danach treffen die beiden Inquisitionsrichter mit mehreren Bei­ sitzern (während des Besuchs kommen weitere hinzu), unter ihnen Thomas de Courcelles und Nicolas Loiseleur, sowie zwei Zeugen, sämtlich 342 Tisset I, 408. 343 „Quibus auditis, domini iudices concluserunt fiendum, ut ipsi domini deliberaverunt. Et postea fuit lecta cedula sentencie ferende.” (Tisset I, 408). 344 Die diesbezügliche Verfügung des Inquisitionsgerichts ist – rechtshistorisch bemerkenswert – so formuliert, dass die beiden Inquisitionsrichter die Weltgeistlichen in der Stadt Rouen und der zugehörigen Diözese zunächst grüßen und sodann jedem einzelnen strengstens befehlen und den Auftrag erteilen, „ohne dass einer von Euch auf den anderen wartet oder sich mit einem anderen entschuldigt, besagte Jeanne formell unter Anordnung ihres persönlichen Erscheinens morgen um acht Uhr früh auf dem Alten Markt Rouens vor uns zu laden, um von uns für rückfällig, exkommuniziert und häretisch erklärt zu werden.“ (Tisset I, 408 f.). Aus dem Ladungsbericht des Gerichtsdieners an die beiden Inquisitionsrichter geht nur hervor, dass dieser „infolge des mir übermittelten Ersuchens … eine Frau, die gemeinhin ,la Pucelle‘ genannt wird, persönlich vorgeladen habe …“ (Tisset I, 409).

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geistlichen Standes, in der Gefängniszelle ein, um Jeanne, wie es den Voten der Beisitzer vom Tag zuvor entsprach, um ihres Seelenheils willen nochmals zu ermahnen.345 In dem sich daraus spontan entwickelnden Gespräch zwischen den Besuchern und der Verurteilten mit erneuten Fragen der Beisitzer zu den bekannten Themen des Prozesses erklärte das durch die lange Haft geschwächte, um ihr nahes Ende wissende, verzweifelte Mädchen, das lange auf die von ihren Stimmen und Erscheinungen versprochene Befreiung aus dem Gefängnis gewartet und gehofft hatte: „Ob es gute oder böse Geister waren – sie sind mir erschienen, in Gestalt und Form sehr kleiner Dinge und Abmessung inmitten einer großen Schar [von Engeln], anders kann ich sie nicht beschreiben. Doch bin ich von ihnen getäuscht, enttäuscht und betrogen worden. Ich glaube nicht mehr an sie. In der Frage, ob es gute oder böse Geister waren, schließe ich mich jetzt der Kirche und ihren Männern an. Die Geschichte von dem Engel, der dem König die Krone als „Zeichen“ überbracht hat, habe ich erfunden; ich selbst bin der Engel gewesen und habe dem König nicht eine Krone, sondern lediglich das Versprechen überbracht, er werde in Reims gekrönt werden.“

345 Die Ereignisse während dieses letzten Besuchs in der Zelle Jeannes sind nicht Gegenstand der offiziellen Protokollausfertigungen des Verurteilungsprozesses, sondern in einer Zusammenstellung verschiedener Vorgänge niedergelegt, die zeitlich nach der Hinrichtung des Mädchens liegen – so genannte „quedam acta posterius/nachträgliche Akten“. Die Niederschrift über eine „Untersuchung nach der Hinrichtung über zahlreiche von ihr anlässlich ihres Endes und im Angesicht des Todes gemachte Aussagen/Informacio post exsecucionem super multis per eam dictis in fine suo et articulo mortis“ (Tisset I, 416 ff.), die am 7. Juni 1431 durchgeführt wurde, ist zwar von den Notaren selbst gefertigt, aber nicht durch deren Beglaubigungsvermerke bzw. Handzeichen authentifiziert. Dennoch bestehen gegenüber der Echtheit der „posthumen Untersuchung“ nach aktuellem Forschungsstand keine durchgreifenden Bedenken. In ihrem Rahmen wurden die am 30.  Mai 1431 im Gefängnis bei Jeanne anwesenden Beisitzer und Zeugen zu dem Verlauf dieses letzten Besuchs vernommen, deren Aussagen wir das Bild von der Gefangenen in ihrer Zelle kurz vor ihrer Hinrichtung verdanken. Die Äußerungen des Mädchens am Morgen ihrer Hinrichtung bleiben auf diese Weise außerhalb des Prozesses. Die acta posterius enthalten außerdem weitere interessante Dokumente, auf deren Bedeutung und Funktion später einzugehen sein wird.

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Drei der Beisitzer bekunden später ausdrücklich, Jeanne sei auch in der höchsten psychischen Anspannung und Verzweiflung an diesem Morgen bei klarem Verstand gewesen. Beinhalteten die Erklärungen der Gefangenen einen erneuten Widerruf? War sie in ihrer extremen Situation und abgründigen Gemütsverfassung dennoch fähig und in der Lage, eine wirksame Willenserklärung abzugeben? Die Richter verlassen nun die Zelle; einige der Beisitzer bleiben. Das Mädchen bittet darum, beichten zu dürfen und das Abendmahl zu erhalten. Beisitzer Martin Ladvenu, Dominikaner aus Rouen, schickt den Gerichtsdiener zum vorsitzenden Richter, um das Anliegen zu klären. Cauchon erörtert die Frage mit Le Maistre und den Beisitzern und entscheidet dann (aus Mitleid? beeindruckt von der Frömmigkeit des Mädchens?), man solle Jeanne das Abendmahl und „alles gewähren, was sie wünsche“. Daraufhin nimmt der Dominikaner dem Mädchen die Beichte ab und spendet ihr die Eucharistie.346 Darüber hinaus passiert nichts, sondern nimmt das Verfahren weiter seinen Lauf. Rechtlich wirft auch diese Entscheidung der Inquisitionsrichter zunächst Fragen auf. Ist Jeannes Erklärung als erneuter Widerruf einer Rückfälligen zu bewerten? Wenn ja, was bedeutet dies? Muss das nach der richterlichen Inaugenscheinsnahme der Gefangenen am 28. Mai 1431 und den Beratungen mit den Beisitzern am 29. Mai abgesetzte Urteil erneut (wie nach der ersten Abschwörung) in eine lebenslange Haft umgewandelt werden? Rein formal ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht im Wege einer gerichtlichen Entscheidung festgestellt, dass Jeanne rückfällig geworden ist. Das endgültige Urteil soll erst in einigen Stunden verkündet werden. Ist eine (erneute) Abänderung des Urteils prozessual jetzt noch mit der Begründung möglich, die Rückfällige habe ein zweites Mal widerrufen? Papst Alexander  IV. hatte im Jahr 1258 in einer Dekretalis auf die seit Jahrzehnten umstrittene Frage reagiert, ob ein erneut reuiger rückfälli346 Vgl. die Aussagen im Nichtigkeitsverfahren von: Martin Ladvenu am 3. Mai 1452 (Duparc I, 189 = III, 179), am 8. Mai 1452 (Duparc I, 236 = III, 223) und am 13. Mai 1452 (Duparc I, 442–443 = IV, 122); von Jean Massieu am 8. Mai 1452 (Duparc I, 210 = III, 198) und am 12. Mai 1452 (Duparc I, 434–435 = IV, 115); sowie von Guillaume Manchon am 8. Mai 1452 (Duparc I, 217–218 = III, 206) und am 12. Mai 1452 (Duparc I, 427 = IV, 108).

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ger Ketzer ebenso mit dem Tod durch Verbrennung bestraft werden ­solle wie ein Häretiker, der die Abschwörung von vornherein und hartnäckig verweigere. ­ Alexander  IV. entschied entgegen mehreren Konzilsbeschlüssen, einem rückfälligen Ketzer dürften Buß- und Altarsakrament gewährt werden, sofern er deutliche Zeichen der Reue erkennen lasse und demütig darum bitte.347 Denn die Kirche verschließe ihren Schoß dem, der umkehre, nicht. Dieser bleibe jedoch rückfälliger Ketzer und sei als solcher ohne weitere Anhörung der weltlichen Gewalt zu unterstellen. Ein erneuter Widerruf eines Rückfälligen entfaltet demnach keine Wirkung nach außen, im forum ex­ternum des Prozesses, sondern ausschließlich im forum internum zwischen den unmittelbar Beteiligten, indem er, als Reue verstanden, zur Gewährung der Sakramente führe. Dementsprechend war ein erneuter Widerruf eines Rückfälligen im formellen Verfahren auch nicht protokollarisch festzuhalten. Der rückfällige Ketzer war rettungslos verloren. Vor diesem rechtlichen Hintergrund ist die Kommunikation zwischen der gefangenen Jeanne in ihrer Zelle und dem Gericht am Morgen ihres Todes eine letzte Ermahnung und Bemühung um ihr Seelenheil angesichts ihrer fest- und bevorstehenden Verurteilung und Hinrichtung. Sie stellt keine Anhörung im Sinne einer Prozesshandlung dar, sondern bleibt mit ausschließlich geistlich-transzendentem Bezug im forum internum unter den in der Zelle Anwesenden. Ihr Inhalt konnte das endgültige Urteil nicht mehr beeinflussen. Für Jeannes letzte Stunden werden ihre Äußerungen nur insofern wirksam, als die Inquisitionsrichter in ihnen Reue erkennen – und sei es die einer Verzweifelten im Angesicht des Todes – und Jeanne daraufhin mit richterlicher Erlaubnis die Sakramente gewährt werden. 347 VI.5.2.4 (Dekretalis „Super eo“, in: CIC  II, Sp.  1070  f.): „…  Super eo, quod scriptum legitur, Ecclesia nulli claudit gremium redeunti, quodque hi, qui post abiurationem erroris, vel postquam se proprii anstistitis examinatione purgaverint, si deprehensi fuerint in abiuratuam haeresi recidisse, saeculari decernuntur iudicio sine ulla penitus audientia relinquendi… Nos itaque inquisitioni vestrae de fratrum nostrorum consilio respondemus, quod taliter deprehensis, etiamsi, (ut dictum est,) sine ulla penitus audientia relinquendi sint iudicio saeculari, si tamen postmodum poeniteant, et poenitentiae signa in eis apparuerint manifesta, nequaquam sunt humiliter petita sacramenta poenitentiae ac eucharistiae deneganda.“ (vgl. auch: Manuel, 62, 97).

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Überliefert sind für diesen Morgen weitere von Ungewissheit und Todesangst gezeichnete spontane Äußerungen des Mädchens in der Zelle: die Frage: „Wo werde ich heute Abend sein?“348 oder ihr Stoßseufzer: „Ach! Ich würde lieber sieben Mal geköpft als so verbrannt!“349 Nun wird sie in ein Ketzerhemd gekleidet und auf den Hof des Schlosses Bouvreuil geführt, wo sie den Henkerskarren besteigt. Ladvenu und Massieu bleiben bei ihr. Umgeben von einer eindrucksvollen Eskorte von mindestens 80 Soldaten der in Rouen stationierten englischen Garnison wird sie zum Altmarkt gefahren.350 Dort haben sich mehrere Tausend Schaulustige versammelt, die für ihre Teilnahme mit einem Ablass belohnt zu werden hoffen.351 Das beträchtliche militärische Aufgebot soll Sicherheit und Ordnung während der Urteilsverkündung und vor allem der Vollstreckung gewährleisten – ein Akt der Amtshilfe der weltlichen Gewalt gegenüber der Kirche im Kampf gegen den Irrglauben. Auf dem Markt wartet auf einer gesonderten Tribüne das Gericht. (Nur) Elf Beisitzer sind zugegen, umgeben von einer großen Zahl von Kirchenleuten und anderen interessierten „Herren und Magistern“, als Jeanne nahe der kleinen Kirche Saint-Sauveur auf eine Tribüne vorgeführt wird, wo alles Volk sie gut sehen kann. Auf einer dritten Tribüne sitzen Vertreter der weltlichen Gewalt neben den Inquisitoren. Dr. theol. Magister Nicolas Midi, der unter allen Beisitzern am häufigsten im Verurteilungsprozess mitgewirkt hat, hält zur „heilsamen Ermahnung/salutari admonicione“ der Verurteilten und zu Verurteilenden sowie zur „Erbauung des Volkes/populi edificatione“ eine feierliche Predigt

348 Auf ihre Frage antwortet Beisitzer Pierre Maurice, Professor der Theologie: „Habt Ihr kein Gottvertrauen?!“ – Jeanne: „So Gott will, werde ich im Paradies sein.“; vgl. Duparc I, 461 (= IV, 140). 349 „Ah! J’aimerais mieux d‘être décapitée sept fois que d’être ainsi brûlée.“ – nach der Aussage des Zeugen Jean Toutmouillé, Dominikanerpriester, am 4. März 1450 in der von Charles VII. veranlassten Untersuchung (s.u. S. 178 f.). Eine Auferstehung erschien theologisch-dogmatisch unmöglich, nachdem der Körper durch die Flammen zerstört war. 350 Der Weg dorthin ist auch anhand alter Stadtpläne exakt nicht mehr nachzuvollziehen. 351 Dies, obwohl entgegen der Regel dieser Glaubensakt nicht auf einen Sonntag fiel (s.o., Anm. 291).

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über das Wort des Apostels Paulus: „Wenn ein Glied leidet, leiden die anderen Glieder mit ihm.“352 Nun353 wird Jeanne von ihren Richtern zum letzten Mal ermahnt, ihre Missetaten mit Blick auf ihr Seelenheil zu bedenken und zu echter Zerknirschung und Reue zu gelangen. Ladvenu und ein weiterer Domini­ kanermönch, Beisitzer und Gehilfe des stellvertretenden Inquisitors, Ysambard de la Pierre, stünden auf Anordnung der Richter neben ihr und ihr bei, mit dem Auftrag, „hilfreiche Ermahnungen und heilsame Ratschläge“ zu erteilen. Jeanne reagiert nicht. Dann verkünden die Richter (erneut) ihr endgültiges Urteil/sentencia diffinitiva. Im Vergleich zu den beiden vorangegangenen knapper gefasst, erklärt es Jeanne zur „Rückfälligen und Ketzerin/relapsam et hereticam“, indem es sich zunächst auf die Tatsachenfeststellungen und Bewertungen des (zweiten) „gerechten Urteils/iusto iudicio“ bezieht und eine kurze Darstellung der Vorgänge um ihre Abschwörung und ihren Rückfall anschließt: „… Aber nach dieser Abschwörung deiner Irrtümer hat der Urheber von Schisma und Häresie dein Herz überfallen und es verführt und, wie der Hund die Gewohnheit hat, zu seinem Auswurf zurückzukehren, bist du (oh Schmerz!) in dieselben Irrtümer und die schon genannten Verbrechen zurückgefallen, wie dies nach deinen freiwilligen Geständnissen und Aussagen hinreichend und offenkundig erwiesen ist. Wir erklären dich für zurückgefallen in die Exkommunikation, die du dir ursprünglich zugezogen hattest, und in deine früheren Irrtümer …354“ Widerruf und Abschwörung, erzwungen in einer kurzen Phase der Schwäche Jeannes in großer Not, erweisen sich als fatal: Auch durch ihren endgültigen „Rückfall“ in ihre alte Position und ihr erneutes Bekenntnis zu ihren „Stimmen“ sind sie nicht mehr ungeschehen zu ma352 1. Kor. 12,36; vgl. Tisset I, 410. 353 Vgl. Tisset I, 410 f. 354 „… deinceps vero, post huiuscemodi tuorum errorum abiuracionem, irruente et seducente cor tuum auctore scismatis et heresis, te in eosdem errores et in prefata crimina ex tuis confessionibus spontaneis et assercionibus iterum, proth dolor! incidisse, velut canis ad vomitum reverti solet, sufficienter et manifeste constat; … hinc est quod, te in sentencias excommunicacionis quas primitus incurreras, et in errores pristinos reincidisse declarantes, te relapsam et hereticam decernimus…” (Tisset I, 412).

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chen. Das Gericht verwertet den Widerruf in seinem endgültigen Urteil und sieht im Rückfall lediglich die Unbeirrbarkeit einer verstockten Ketzerin. Die Richter entscheiden auf Exkommunikation, nämlich Jeanne „wie ein verfaultes Glied/tanquam membrum putridum“ von der Einheit der Kirche abzutrennen und der weltlichen Gewalt auszuliefern. Diese bitten sie, ihr eigenes Urteil auf ein Strafmaß milder als Tod und Verstümmelung zu mäßigen.355 Das Urteil schließt (wie das erste) mit der Formel: „Und wenn bei dir echte Anzeichen der Reue deutlich werden, soll dir das Sakrament der Buße gewährt werden.“356 Jeanne soll daraufhin ausgerufen haben: „Rouen, Rouen, mourrais je cy!“/„Rouen, Rouen, hier ich werde sterben!“357 Nach Abdruck des vor der Abschwörung teilverkündeten Urteils endet hier das Protokoll des Verurteilungsprozesses mit den Beglaubigungsvermerken der drei kirchlichen Notare und den Siegeln der beiden Richter. Der Urteilsvollzug war nicht Teil des Prozesses. Das Verurteilungsverfahren hatte mit der Urteilsverkündung seinen formellen Abschluss gefunden. Ein Rechtsmittel gegen Urteile eines Inquisitionsgerichts gab es nicht, sie waren unanfechtbar.

355 Diese stereotype Klausel wurde aus anderen Zusammenhängen verbreitet auf Verfahren in Glaubenssachen übertragen. Während sie in Rechtssachen sinnvoll war, wo, beginnend mit dem 13. Jahrhundert, weltliche Gerichte gegenüber Klerikern – ausnahmsweise, denn für diese galt das privilegium fori einer Zuständigkeit nur der kirchlichen Gerichtsbarkeit – eine eigene Entscheidungskompetenz hatten (delicta mixti fori), die sich überwiegend auf den Strafausspruch bezog, lief sie in Inquisitionsverfahren leer, weil die weltliche Gewalt dort lediglich ausführendes Organ eines Strafurteils des kirchlichen Gerichts war (s.u. S. 170 ff.). 356 „Et si in te vera penitentie signa apparuerint, tibi ministretur penitentie sacramentum.“ (Tisset, a.a.O.). 357 So der Zeuge André Marguerie im Nichtigkeitsprozess am 9. Mai 1452, vgl. ­Duparc I, 227 (= III, 215); ähnlich der Zeuge Pierre Daron am 13. Mai 1452: „Ha, Rouen, Rouen, seras tu ma maison?“, vgl. Duparc I, 470 (= IV, 149).

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Die Vollstreckung Über der Urteilsverkündung ist es Mittag geworden.358 Richter und Beisitzer ziehen sich von der Stätte des Geschehens zurück. Ihnen ist nach kirchlichem Recht untersagt, bei der Hinrichtung einer Verurteilten auch nur zugegen zu sein.359 Der weltlichen Gewalt bleiben nun formal fünf Tage Zeit zur Verkündung und Vollstreckung eines eigenen Urteils.360 Faktisch allerdings bestand für den weltlichen Richter kein Spielraum, da die Häresie durch das kirchliche Urteil bereits festgestellt war und eine abweichende weltliche Entscheidung die Begünstigung eines Ketzers361 bedeutet hätte. Seine Aufgabe war lediglich, den Ketzer „animadversione debita/ mit der 358 Zeugen berichten in den späteren weltlichen beziehungsweise kirchlichen Untersuchungen und im Nichtigkeitsverfahren über die Ereignisse um den Urteilsvollzug. 359 Vgl. X.3.50.9 (in: CIC  II, Sp.  659  f.; Dekretalis von Papst Innozenz  III.): „Senten­tiam sanguinis nullus clericus dictet aut proferat, sed nec sanguinis vindictam excerceat, aut ubi exerceatur intersit.“ Dem zuwider soll Ludwig von Luxemburg, Bischof von Thérouanne und Kanzler Frankreichs, der Hinrichtung beigewohnt und von allen Anwesenden am meisten geweint haben (vgl. die Zeugenaussagen von Martin Ladvenu, Pierre Miget, Jean Le Fèvre und André Marguerie im Nichtigkeitsverfahren; Duparc  I, 443 [= IV, 122–123], 412 [= IV, 93], 449 [= IV, 129], 456 [= IV, 135–136]). 360 Vgl. die Bulle „Ad extirpanda“ Papst Innozenz’ IV.: „… Lex 24. (25) Damnatos vero de haeresi per Dioecesanum, vel ejus Vicarium, seu per Inquisitores praedictos, Potestas, vel Rector, vel ejus Nuncius specialis eos sibi relictos recipiat, statim, vel infra quinque dies ad minus, circa eos Constitutiones contra tales editas servaturus. …“ (in: Mansi, Bd. 23, Sp. 569–575 [573]). Seit der Vereinbarung von Verona zwischen Papst Lucius III. (Papst 1181–1185) und dem deutschen Kaiser Friedrich  I. Barbarossa (Kaiser 1152–1190) aus dem Jahr 1184 über die Bekämpfung der Häresien wurde diese Kooperation und Verschränkung von kirchlicher und weltlicher Gewalt fortgeschrieben und praktiziert, zunächst unmittelbar im päpstlichen Edikt „Ad abolendam“ Lucius’ III. von 1184, später im Edikt „Excommunicamus“ Papst Innozenz’ III. von 1216, in den Ketzergesetzen Kaiser Friedrichs II. (1215–1250) von 1220, 1224 (Lombardei), 1231 (Königreich Sizilien), 1232 (Deutschland) und ab 1238 für das gesamte Territorium des Heiligen Römischen Reiches, oder im Dekretalis „Excommunicamus“ Papst Gregors IX. von 1229. 361 Die Begünstigung eines Häretikers war ihrerseits ein Häresietatbestand, der zunächst zur Exkommunikation, nach einjähriger Dauer der Exkommunikation zur Verurteilung als Ketzer führte (vgl. Manuel, 80–82).

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Die Vollstreckung

angemessenen Strafe“362, (unausgesprochen) der Verbrennung auf dem Scheiterhaufen, zu belegen und diese zu vollstrecken. So schloss sich in der Regel ein weltliches Verfahren oder unmittelbar die Vollstreckung des von der Kirche ohne weiteres übernommenen Urteils nahtlos an den kirchlichen Strafausspruch der Exkommunikation an. Der gesamte Rahmen ist auch am 30. Mai 1431 in Rouen dergestalt vorbereitet, dass die Urteilsverkündung durch das Inquisitionsgericht übergangslos in die Vollstreckung durch die weltliche Gewalt münden kann und soll. Jeanne verbleibt zunächst auf ihrer Tribüne  – im Niemandsland zwischen kirchlicher und weltlicher Gewalt. Ihr wird Zeit gegeben363 zu beten. Warum stockt der Übergang vom kirchlichen Erkenntnisprozess in die weltliche Sphäre des Urteilsvollzugs? Jeanne überantwortet ihre Seele Gott, Maria und allen Heiligen; sie stellt Karl VIII. von jeglicher Verantwortlichkeit für ihr Handeln frei und bittet, wohl auf den Rat Loiseleurs364, ihre Richter, die Engländer und die Burgunder, Heinrich  VI. und alle Fürsten Frankreichs, schließlich sämtliche Anwesenden um Verzeihung und ein Gebet für sie; sie vergibt ihnen das Leid, das diese ihr, Jeanne, zugefügt hätten. Jeder der anwesenden Priester möge eine Messe für sie lesen! … Wohl eine halbe Stunde lang365 unterbricht niemand das Mädchen. Schließlich übernimmt „der weltliche Arm“/le bras séculier in Gestalt des  bailli/Amtmannes Raoul Bouteiller. Dieser beschränkt sich auf die Weisung an die bereitstehenden Henkersknechte: „Emmenez, emmenez/ Führt sie weg, führt sie weg!“, und die entsprechende Handbewegung. 362 Dekretalis „Excommunicamus“ Gregors  IX. (X.5.7.13: „Damnati vero, praesentibus saecularibus postestatibus, aut eorum ballivis relinquantur animadversione debita puniendi …“, in: CIC II, Sp. 787–789 [787]). 363 Zum Tode verurteilten Ketzern war es grundsätzlich untersagt, zum Publikum oder ihren geistlichen Begleitern zu sprechen. Sie sollten gehindert sein, häretisches Gedankengut weiterzugeben oder gar Mitleid oder Sympathie zu erwecken (vgl. Lea, 619, 625). 364 So sagte dieser in der posthumen Untersuchung am 7. Juni 1431 (vgl. Tisset I, 422). 365 So berichtete Jean Massieu in seiner Vernehmung als Zeuge am 5. März 1450 in der von Karl VII. veranlassten weltlichen Untersuchung (vgl. Doncoeur/ Lanhers, L’ enquête de 1450, 55).

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Die Vollstreckung

Ein formelles Verfahren mit einem förmlichen weltlichen Urteil findet nicht statt. Das Mädchen wird nun auf den oberhalb eines gipsernen Postaments oder Sockels etwas erhöht errichteten Scheiterhaufen geführt. Auf diese Weise kann das Publikum die Vorgänge besser verfolgen, erkennen wer und dass sie verbrannt wird (und nicht der Hinrichtung entkommt). Die Verurteilte trägt jetzt eine papierne Mitra, eine Ketzermütze, mit der Aufschrift: „Ketzerin, Rückfällige, Abtrünnige, Götzendienerin“. Vor dem Scheiterhaufen ist eine Tafel aufgestellt, auf der geschrieben steht: „Jeanne, die sich ,die Pucelle‘ nannte, Lügnerin, Verderberin, Verführerin des Volkes, Wahrsagerin, Abergläubische, Gotteslästerin, Götzendienerin, Grausame, Liederliche, Anruferin böser Geister, Abtrünnige, Schismatikerin und Ketzerin“.366 Entlehnt aus den Urteilen vor und unmittelbar nach der Abschwörung ­Jeannes haben diese Apostrophierungen die Funktion einer öffentlichen Bekanntmachung der Urteilsvorwürfe; deren weitestmögliche Verbreitung ist zweifellos ganz im Sinne der englischen Seite.367 Nun wird das Mädchen an den Brandpfahl gebunden. In diesen Minuten ruft die 19-Jährige den Erzengel Michael an368 und bekennt sich erneut zu ihren Stimmen göttlichen Ursprungs.369 Nun wird der Scheiterhaufen entzündet. Er besteht aus Holz, Stroh und Reisigbündeln, beigefügt waren Öl, Kohle sowie Pech und Schwefel, die einen raschen Erstickungs366 So der Pariser Parlamentsschreiber Clément de Fauquembergue in seinem „Journal“ (1417–1435), vgl. Quicherat IV, 459–460. Fauquembergue vermerkte im Parlamentsregister nicht nur Informationen zu den dort anhängigen gerichtlichen Verfahren, sondern auch zu bedeutenden Ereignissen des Tages. So liest man dort über die Befreiung von Orléans, den Angriff der Pucelle auf Paris sowie über ihren Prozess und ihre Hinrichtung. 367 Ob dieses Vorgehen einer allgemeinen Üblichkeit bei der Vollstreckung von Todesurteilen gegenüber Häretikern entsprach, scheint nicht geklärt. 368 So sagte u.a. der Priester Pierre Bouchier aus, als er in der kirchlichen Untersuchung am 8. Mai 1452 als Zeuge befragt wurde; vgl. Duparc I, 202 (= III, 191), zu weitere Nachweisen vgl. Müller, 962. 369 Im Nichtigkeitsverfahrens bezeugen dies Guillaume Manchon am 12.  Mai 1456, Jean Massieu am selben Tag und Martin Ladvenu am 13. Mai 1456 (vgl. Duparc I, 428 [= IV, 108]; I, 435 [= IV, 115]; I, 444 [= IV, 123–124]; zur Bewertung der Glaubwürdigkeit ihrer Bekundungen vgl. Müller, 22  f.; 199  f.; 261 f.).

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Die Vollstreckung

tod herbeiführen sollen. Auch das Armsünderhemd ist mit Schwefel getränkt. Als der Henker das Feuer an den Brandhaufen legt, ruft Jeanne laut: „Jesus!“ – wohl immer wieder bis zum Schluss.370 Wird ihr, als sie schon in den Flammen steht, von ihrem Begleiter Ysambard de la Pierre auf ihre allerletzte Bitte ein Kreuz vorgehalten?371 Der mit dem Entzünden des Feuers entstehende dichte, ­ätzende Rauch, verstärkt durch Sauerstoffmangel, führt zusammen mit den extremen Schmerzen mit einem letzten Schrei wohl schnell zu Jeannes Bewusstlosigkeit. Das Ganze dürfte nicht länger als zwei Minuten gedauert haben. Trotzdem soll ihr Henker Geoffrey Thieurache ihren Tod als grausam/ tyrannice bezeichnet haben, weil ihn der durch den Sockel erhöhte Scheiterhaufen daran gehindert habe, hinaufzureichen und ihre Leiden zu verkürzen.372 Nachdem das Mädchen still geworden ist, zieht er – ungewöhnlich für derartige Hinrichtungen  – das Feuer zurück. Jedermann soll den verkohlten weiblichen373 Körper ansehen können. Den Engländern, deren Justiz hier handelt, ist wichtig, nüchterne Fakten zu präsentieren, die keine Mystifizierung zulassen: Das Urteil ist nun vollstreckt, das Mädchen tot. Der Henker sammelt Jeannes Asche, das unverbrannt gebliebene Herz und die Eingeweide374 zusammen und verstreut sie vom Pont Mathilde 370 So der Zeuge Maugier Leparmentier am 12. Mai 1456, vgl. Duparc I, 457 (= IV, 137). 371 So Ysambard de la Pierre am 3. Mai 1452 in der kirchlichen Untersuchung; vgl. Duparc I, 186 (= III, 175). Der Sterbenden diesen letzten Wunsch erfüllt zu haben, beanspruchte später im Nichtigkeitsverfahren auch Martin Ladvenu für sich (s. dessen Zeugenaussage am 13. Mai 1456, vgl. Duparc I, 443 [= IV, 123]). Jean Massieu bekundete schon am 5. März 1450 in der weltlichen Untersuchung, er habe das Kreuz, wahrscheinlich ein auf eine Stange aufgesetztes Prozessionskreuz, aus der Kirche Saint-Sauveur herbeigeholt (vgl. Doncoeur/Lanhers, L’ enquête de 1450, 55–56). 372 Vgl. die Aussagen von Martin Ladvenu am 5. März 1450 (vgl. Doncoeur/Lanhers, L’ enquête de 1450, 44–45) und am 9. Mai 1452 („… quodque tortor seu lictor …. perhibuit testimonium quod tyrannice ipsa passa fuerat mortem.“, vgl. Duparc I, 224). 373 In der Bevölkerung herrschten offenbar Zweifel daran, dass Jeanne wirklich eine Frau war (vgl. Journal, 296–297). 374 Der Henker hatte zusätzlich mit Öl und Schwefel versucht, die unversehrt gebliebenen Organe zu verbrennen, was zu seiner Verwunderung misslang

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(heute Pont Boieldieu) in die Seine, die die Überreste davonträgt. Jede Spur des Mädchens soll, wie bei verbrannten Ketzern üblich, ausgelöscht, auch hierdurch jede potentielle Legendenbildung unmöglich gemacht werden. Feuer, Wind und Wasser, drei der vier Elemente, verhindern zugleich die leibliche Auferstehung am Jüngsten Tag.375 Wenige Tage nach Jeannes Tod erstellen die beiden Inquisitionsrichter wie vorgeschrieben376 das Instrumentum sententiae/Hilfsmittel für die Erschließung des Urteils, das eine summarische Darstellung der einzelnen Prozessabschnitte in lateinischer Sprache gibt und die Schuldartikel, den Text der Abschwörung sowie die beiden Urteile im Wortlaut377 enthalten. Die Kunde von den Ereignissen auf dem Altmarkt von Rouen verbreitet sich im Volk schnell und weit von Mund zu Mund. Auf höchster offizieller Ebene versendet der englische König zwei Schreiben, eines am 8. Juni 1431 „an den Kaiser [sc.: Sigismund von Luxemburg, 1368–1437], die Könige, Herzöge und anderen Fürsten der gesamten Christenheit“ mit einem Kurzabriss über Jeannes Wirken und den Prozess; ein zweites längeres, inhaltlich dem ersten stark angenähertes am 28. Juni 1431 „an die Prälaten der Kirche sowie an die Herzöge, Grafen und anderen Adeligen und an die Städte seines Königreiches Frankreich“. In ihnen sind die ­Ergebnisse der „posthumen Untersuchung“ vom 7.  Juni 1431 bereits ­verarbeitet, Jeanne habe kurz vor ihrem Tod im Feuer die Geister, die ihr erschienen seien, als lügenhaft und betrügerisch bezeichnet.378 Beide (so die Zeugen Ysambard de la Pierre am 5. März 1450, vgl. Doncoeur/Lanhers, L’ enquête de 1450, 38–39; und Jean Massieu im Nichtigkeitsverfahren am 12. Mai 1456, vgl. Duparc I, 435 [= IV, 115–116]). 375 Diese weit verbreitete Vorstellung reicht bis ins zweite christliche Jahrhundert zurück. Sie war theologisch-dogmatisch schwierig, wurde aber dadurch gestützt, dass exhumierte Heilige, Märtyrer oder auch sexuell Enthaltsame vielfach körperlich völlig unversehrt befunden wurden. 376 So Papst Innozenz III. in seiner Dekretalis aus dem Jahr 1199 (X.2.27.16, in: CIC II, Sp. 401); vgl. Fournier, 209. 377 Vgl. Müller, 141 m.w.N. Das von den Notaren beglaubigte authentische Dokument ist nicht erhalten. Im Nichtigkeitsverfahren lagen den Richtern jedoch Kopien vor (vgl. Doncoeur/Lanhers, Instrument public, 71–72), zu denen etwa der Notar Manchon befragt wurde (am 8. Mai 1452, vgl. Duparc I, 217 [= III, 205]). 378 S.o. S. 164 f. mit Anm. 345.

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Schreiben, die eine größtmögliche Publizität des Urteils und seiner Vollstreckung bezwecken, bleiben in der Darstellung der Person, des Handelns und der Glaubensbezeugungen Jeannes holzschnittartig und schematisch. Die Universität Paris richtet mit gleicher Zielsetzung ein eigenes (undatiertes) Schreiben an den Papst, den Kaiser und das Kollegium der Kardinäle, um über den Sachverhalt, das gerichtliche Verfahren und ihre eigene Rolle darin zu berichten. Überliefert sind diese Schriftstücke in den acta posterius, die außerdem zwei Dokumente zu einem aus Jeannes abgeleiteten Fall von Häresie enthalten: Der Dominikanermönch Pierre Bosquier war bei der Hinrichtung Jeannes zugegen und äußerte während des Spektakels, die Inquisitionsrichter hätten mit der Verurteilung der Pucelle schlecht gehandelt. Ihm war daraufhin eine Anklage des Inquisitionsgerichts zugegangen.379 Bosquier widerruft nun seine Erklärung mit einem Schreiben, das Eingang in die acta posterius gefunden hat (als revocacio cuiusdam religiosi/Widerruf eines gewissen Ordensgeistlichen): Seine Äußerung sei dumm gewesen, unüberlegt und unachtsam, er habe vorher getrunken.380 Der Mönch bekennt, gesündigt zu haben, er bittet um Verzeihung und unterwirft sich demütig einer möglichen Besserungsmaßnahme und Bestrafung des Gerichts. Cauchon und Le Maistre erlassen am 8.  August 1431 ein knappes Urteil381: Bosquier, so stellen sie fest, sei nach dem gerichtlich ermittelten Sachverhalt ein Begünstiger der verurteilten Häretikerin382 Jeanne. Aber weil er der heiligen Kirche und seinen Richtern in allem demütig Gehor379 Dessen Zuständigkeit leitete sich aus einer Dekretalis Papst (AD 1159–1181) Alexanders III. an den Bischof von London ab, wonach der Inquisitor Urteilskompetenz auch über diejenigen besaß, die ihn in seiner Rechtsfindung behinderten: „… sic tibi respondemus, quod, sicut agentes et consentientes pari poena scripturae testimonio puniuntur, sic tam eos, qui trahuntur in causam, quam principales eorum fautores, si eos manifeste cognoveris iustitiam impedire, districtione ecclesiastica poteris coercere.“ (X.1.29.1, in: CIC II, Sp. 158). 380 Tisset I, 430 f. 381 Tisset I, 431 ff. 382 Dies war eine der in den Handbüchern für Inquisitoren genannten Fallgruppen der Häresie (vgl. Manuel, 84–88).

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sam und Unterwerfung versichert, zudem unter Alkoholeinfluss gehandelt und erhebliche menschliche Qualitäten habe, ziehe das Gericht die Milde der Strenge vor/misericordiam rigori preferre volentes: Es verurteilt ihn zu Gefängnis bis zum kommenden Osterfest bei Wasser und Brot im Kloster der Dominikaner zu Rouen. Weitere Strafen, die er verwirkt habe, werden ihm erlassen und er, soweit nötig, in seinen guten Ruf ­wiedereingesetzt („… et ad suam bonam famam, si et prout opus est, restituimus. …“). Schließlich ist ein Schutzbrief König Heinrichs VI. vom 12. Juni 1431383 erhalten, der den Richtern, Beisitzern und sonstigen Prozessbeteiligten des Verurteilungsprozesses Sicherheit durch königlichen Beistand gegenüber Repressalien weltlicher und kirchlicher Stellen garantiert. Er wurde allerdings nicht in die acta posterius aufgenommen, sondern erst am 5.  Juni 1456 im Nichtigkeitsverfahren vorgelegt, dort veraktet und uns so überliefert. Die Causa Jeanne d’Arc im weiteren Sinne war damit abgeschlossen.

383 Duparc II, 503 ff.

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Ausblick: Der Nichtigkeits- oder Rechtfertigungsprozess (Procès en Nullité de la Condamnation) Zumindest schien es 19 Jahre lang so.

Die Wiederaufnahme Politisch hatten sich die Dinge weiter zugunsten Karls VII. (er wurde in der Geschichtsschreibung le Victorieux genannt) und der französischen Sache entwickelt. Compiègne, die Stadt, bei deren Entsatz Jeanne in Gefangenschaft geraten war, hatten die Burgunder nicht erobern können. Im De­zember 1431 schloss der Burgunder Philipp der Gute einen sechsjährigen Waffenstillstand mit Karl VII. Beim Sacre aus Anlass der Krönung des zehnjährigen Heinrichs VI. zum König von Frankreich durch Heinrich Beaufort in Notre-Dame zu Paris (nicht in der traditionellen Krönungskathedrale zu Reims, das bekanntlich in französischer Hand war) drei Tage später fehlte er. In Nevers nahmen im Januar 1435 Burgund und die französische Krone Friedensverhandlungen auf. Eine weiter gehende Einigung zwischen Engländern und Franzosen scheiterte an der starren Haltung von Regent Bedford, der am Vertrag von Troyes festhielt. Burgund und Karl  VII. schlossen am 20. September 1435 in Arras Frieden. Wenige Tage zuvor war Bedford auf Schloss Bouvreuil zu Rouen gestorben. Im April 1436 gelang den Franzosen im Handstreich die Einnahme von Paris; die englischen Besatzer zogen nach Rouen ab. Franzosen, die den Engländern nahe standen, unter ihnen Pierre Cauchon, verließen überstürzt die Stadt. Die finanzielle Erschöpfung beider Gegner brachte nun die Kampfhandlungen zum Ruhen. Dann brach 1438/49 die schwarze Pest über Frankreich herein, ihr fielen bis zu 50.000 Menschen allein in Paris zum Opfer. Die militärischen Auseinandersetzungen flammten erst 1441 wieder auf, nach wechselnden Erfolgen zwang im Oktober 1449 ein Aufstand die englische Garnison in Rouen zum Abzug. Karl VII. zog im November des Jahres in die normannische Hauptstadt ein, die die Engländer über 177

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30 Jahre unter ihrer Besatzung gehabt hatten. Die Franzosen erlangten damit Zugang zu den Akten des Verurteilungsprozesses. Zudem standen vor Ort wichtige Zeugen zur Verfügung. Eine Überprüfung des Urteilsverfahrens gegenüber Jeanne war faktisch möglich geworden. Karl VII. reagierte und beauftragte im Februar 1450, drei Monate nach seinem Einzug in Rouen, nach Beratung mit seinem Kronrat Magister Dr. Guillaume Bouillé, Professor für Theologie an der Universität Paris und deren ehemaliger Rektor, „die Wahrheit über den … Prozess und die Art, auf die er geführt und betrieben worden ist …“,384 herauszufinden. Für den König stand fest, dass „die Engländer durch von ihnen beauftragte und bestellte Personen einen Prozess … haben führen lassen, in dem mehrere Fehler und Rechtsverstöße vorgekommen sind  …“. Bouillé sollte sämtliche Unterlagen zum Prozess, derer er habhaft werden konnte, sammeln und zusammen mit seinen Untersuchungsergebnissen an den König übermitteln. Dieser beabsichtigte, nach Prüfung der Möglichkeiten „das Erforderliche zu veranlassen“. Karl hatte erhebliches Interesse daran, dass sich die Verurteilung Jeannes als unrechtmäßig erwies. Denn für ihn und sein Königsamt bedeutete es einen erheblichen Makel, die Wende des Krieges und in der Folge seine Salbung und Krönung zum König einer verurteilten Ketzerin zu verdanken, die beim Sacre mit ihrem Banner neben ihm gestanden hatte. Der Professor vernahm im März 1450 in Rouen in Gegenwart eines ­ otars sieben Zeugen: den Beisitzer und Vertrauten Cauchons Jean N ­Beaupère (er befand sich zufällig in der Stadt), Gerichtsdiener Jean ­Massieu, Notar Guillaume Manchon sowie vier Dominikanermönche, drei von ihnen ebenfalls Assessores im Verurteilungsprozess.385 Weder der Vorsitzende Pierre Cauchon, zuletzt Bischof von Lisieux, noch Promotor Jean d’Estivet waren zu dieser Zeit noch am Leben. Der stellvertretende Inquisitor Jean Le Maistre, seit 1431 Prior des Dominikanerklosters zu Rouen, wurde von Bouillé aus unbekannten Gründen nicht vernommen. Die Vernehmungsprotokolle übermittelte Bouillé sodann, ergänzt um eine kurze Stellungnahme, „Codicillus“ („Aufsatz“) genannt, seinem Auf384 Doncoeur/Lanhers, L’enquête de 1450, 33. 385 Es handelte sich um Guillaume Duval, Martin Ladvenu und Ysambard de la Pierre.

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traggeber. Es bleibt im Dunkel, was der König daraufhin veranlasst hat. Ihm selbst fehlte jegliche Befugnis und auch nur ein begründbares Rechtschutzinteresse bezüglich einer Wiederaufnahme des Verfahrens. Hat Karl die Untersuchungsergebnisse an die zuständigen kirchlichen Stellen weitergegeben? Hat er sie sogar direkt dem amtierenden Papst Nikolaus V. (Papst 1447–1455) übermittelt? Wenn ja, so blieb Rom trotzdem zunächst untätig – vielleicht, weil eine Wiederaufnahme eines angeblich rechtsfehlerhaften Verfahrens, für das Karl ausdrücklich die Engländer verantwortlich machte, diese brüskiert hätte? Die durch Karl veranlassten Erhebungen fanden als Maßnahme der weltlichen Gewalt – bis auf den Codicillus Bouillés386 – keinen Eingang in den späteren kirchlichen Verfahrensgang. Im Februar 1452 traf in Tours Kardinal Guillaume d‘Estouteville als neuer päpstlicher Gesandter am französischen Hof erstmals mit Karl  VII. zusammen. D’Estouteville sollte Frankreich für die politischen Ziele des Papstes, u.a. die Abwehr der vor Konstantinopel drohenden türkischen Expansion, gewinnen. Zwei Monate später leitete er in Rouen gemeinsam mit Groß­inquisitor Jean Bréhal, Dominikaner und Professor für Theologie, eine kirchliche Untersuchung zur Klärung der Umstände von Jeannes Verurteilung ein. Der königliche Tresor leistete dem Inquisitor im Hintergrund finanzielle Unterstützung für den „ihm durch die Befassung mit dem Fall der verstorbenen Pucelle Jeanne als einer ihm durch den besagten Seigneur [sc. Karl VII.] übertragenen Angelegenheit notwendigerweise erwachsenden Aufwand“.387 Der Kardinal und der Inquisitor formulierten nun zwölf(!) Thesen zu Hintergründen, Vorgeschichte und Verlauf des Verurteilungsprozesses388: zu denen am 2. und 3. Mai 1452 fünf Zeugen vernommen wurden: 386 Vgl. Duparc II, 317–348. 387 „… pour luy aidier à supporter la despense que faire luy conviendra en besongnant au fait de feue Jehanne la Pucelle, au fait duquel ledit seigneur luy a ordonné de besongner“, Doncoeur/Lanhers, L’enquête du Cardinal, 32. 388 Die erste These lautet: „Der verstorbene Monseigneur Pierre Cauchon, der seinerzeit Bischof von Beauvais war, wurde durch eine verderbliche Leidenschaft dazu getrieben, der verewigten Jeanne, die gemeinhin la Pucelle genannt wurde, den Prozess zu machen; und weil sie gegen die Engländer Krieg geführt hatte, verfolgte und hasste er sie und erstrebte mit allen möglichen Mitteln ihren Tod.“ (vgl. Duparc I, 177 f. [= III, 167–169]).

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Notar Guillaume Manchon sowie die Beisitzer Pierre Miget, Ysambard le La Pierre und Martin Ladvenu, dazu ein Roueneser Bürger. Die Vernehmung weiterer Zeugen war geplant, als d’Estouteville zu politischen Verhandlungen aus Rouen abberufen wurde, nicht ohne zuvor den Schatzmeister der Kirche von Rouen, Magister Philippe de la Rose, mit der Fortführung der Untersuchung zu beauftragen. Gleichzeitig bestellte der Kardinal den Lizentiaten des kanonischen Rechts Guillaume Prévosteau zum Promotor. Schatzmeister, Inquisitor und Promotor setzten allerdings das am 2. Mai begonnene Verfahren nicht fort, sondern eröffneten am 8. Mai eine neue Untersuchung. Grundlage war ein nunmehr 27 Artikel umfassender Katalog, zu dem die zuvor genannten Zeugen erneut sowie zwölf weitere Personen gehört wurden, darunter verschiedene uns bekannte Beteiligte am Verurteilungsverfahren. Die Artikel waren – obwohl sie jedenfalls teilweise auf Gerüchten beruhten – thesenhaft formuliert und schlossen stereotyp mit der Formel: „Et sic fuit, et est verum./So war es, und dies ist die Wahrheit.“ In dieser Diktion mochten sie auf die Zeugen nicht wie offene, korrigierbare Überlegungen, sondern wie verbindliche Feststellungen wirken, die Bestätigung suggerierten (und von zahlreichen Zeugen auch in knapper Form erhielten). Zwei Beispiele: „II. Da die genannte Jeanne in diesem Krieg den Engländern schwere Verluste beigebracht hatte, fürchteten diese sie sehr und suchten mit allen erdenklichen Mitteln, sie zu töten, da sie, wenn sie nicht mehr lebe, ihnen kein Übel mehr zufügen könne. So war es, und dies ist die Wahrheit. III. Um dabei unter dem Vorwand und Deckmantel der Gerechtigkeit handeln zu können, schafften die Engländer sie in diese Stadt Rouen, also unter ihre tyrannische Herrschaft. Und hier, wo sie im Gefängnis des Schlosses festgehalten wurde, unternahmen die Engländer es, vermittels Furcht und Zwang einen angeblichen Glaubensprozess gegen sie zu inszenieren. So war es, und dies ist die Wahrheit. …“389 Die rechtliche Qualifizierung dieses Vorgangs bereitet Schwierigkeiten. Um eine Inquisitio cum promovente handelte es sich nicht, da zumindest der Schatzmeister kein rechtmäßig bestellter und zuständiger Richter, 389 Duparc I, 192 f. (= III, 181 f.).

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die inquisitio aber richterlich geführt war. Nach heutigen Kategorien könnte es sich um ein administratives Vorermittlungsverfahren zur Erhebung von Anhaltspunkten für eine Wiederaufnahme der Hauptsache gehandelt haben. Am 10. Mai 1452 endete diese kirchliche Voruntersuchung mit der notariellen Beglaubigung. D’Estouteville unterrichtete den französischen König zunächst schriftlich und erörterte im Juli bei einem Treffen in Méhun-sur-­Yèvre wohl auch mündlich das weitere Vorgehen mit diesem. Spätestens mit seiner Rückkehr nach Rom Ende 1452 dürfte der Kardinal auch dem Papst Bericht erstattet haben. Inquisitor Jean Bréhal verfasste parallel ein „Summarium“, in dem die wesentlichen Anklagepunkte, die Einlassungen Jeannes sowie die Urteilsgründe aus dem ersten Prozess zusammengestellt waren, und versandte dies mit einem Fragenkatalog zur Stellungnahme an in- und ausländische Fachleute.390 Das Jahr 1453 verging ohne Bewegung in der zweiten Causa Jeanne d’Arc. Allerdings wurde Kardinal d’Estouteville am 30. April zum Erzbischof von Rouen berufen. Im Oktober endete der Hundertjährige Krieg ohne einen formellen Friedensschluss, als die Engländer sich nach einer Niederlage bei Castillon vom Kontinent zurückzogen. Noch als der neue Erzbischof im Juli 1454 feierlich in Rouen Einzug hielt, war nach außen nichts passiert. Sowohl nach der Untersuchung von 1450 wie nach der kirchlichen Voruntersuchung waren jedoch mehrere Gutachten eingeholt worden, die sich mit den rechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten einer Überprüfung des Verurteilungsverfahrens beschäftigten. In Betracht kam angesichts der politisch angestrebten Rechtsfolgen nur ein außerordentlicher Rechtsbehelf, entlehnt aus dem römischen Recht und durch

390 Dieses Vorgehen entsprach den kanonischen Bestimmungen (vgl. die Empfehlung Gratians, in Causae, welche sich weder anhand der Heiligen Schrift noch am Beispiel der Heiligen oder der päpstlichen Canones lösen ließen, die „seniores provinciae/ortsansässigen Ältesten“ anzuhören, vgl. Decretum Gratiani, Teil 1, D.[= Distinctio] 20 c.[= caput/canon] 3, in: CIC I, Sp. 66). Auch die Praktikerhandbücher empfahlen Entsprechendes: „Der Inquisitor soll die Koryphäen der Theologie und des kanonischen wie weltlichen Rechts befragen.“ (Manuel, 221).

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päpstliche Übung in das kanonische übernommen391: die Nichtigkeitsklage/querela nullitatis, durch die Rechtsakte annulliert oder deren Unwirksamkeit festgestellt werden konnte. Der Papst als oberster Gerichtsherr musste die Klage zulassen und in diesem Beschluss für die via extraordinaria nullitatis zugleich Gericht, Kläger und Beklagte bestimmen. Als Kläger kamen nur die nächsten Angehörigen Jeannes in Betracht, die vom Schuldspruch im ersten Verfahren und dessen Infamiefolgen392 am meisten betroffen waren. So wandte man sich wohl an Jeannes Mutter Isabelle Rommée, die in einem kleinen Ort nahe Orléans noch lebte393, und an ihre Brüder Jean und Pierre. Die genauen Kommunikationswege und Vorgänge sind nicht dokumentiert. Wahrscheinlich zwischen Anfang April und Anfang Juni 1455 erreichte den neuen Papst Calixt III. (Papst April 1455–1458) eine (nicht erhaltene) Bittschrift der Familie Darc, in der um eine Überprüfung des Verurteilungsprozesses von 1431 nachgesucht wurde. Es ist schon unter dem Gesichtspunkt der anfallenden erheblichen Verfahrenskosten, aber auch angesichts ihres geringen Bildungsstands sehr fraglich, ob die Familie von sich aus ein derartiges Verfahren angestrengt hätte. Stand Großinquisitor Bréhal selbst hinter dem Gesuch und überbrachte es auch persönlich nach Rom?394 Durch den familiären Vorstoß jedenfalls wurde einer Überprüfung des Verurteilungsprozesses die politische Brisanz genommen; die französische Krone trat weder als Betreiberin im Vorfeld noch formal als Klägerin in einer querela nullitatis in Erscheinung, durch deren Zulassung sich der Papst in diesem Fall England zum Feind gemacht hätte. Nach nur zwei Monaten, am 11.  Juni 1455, gab Papst Calixt  III. dem Gesuch statt. Er wählte dazu die rechtliche Form eines „Reskripts“, einer 391 Vgl. Digesten 49.8 und zum Rechtsinstitut: X.2.27.5 (in: CIC II, Sp. 393 f.); Clem. 2.11.1 und 2 (in: CIC II, Sp. 1151–1153). 392 Dabei handelte es sich um von weltlichen Stellen veranlasste Maßnahmen gegenüber verurteilten Ketzern und deren Angehörigen, z.B. die Einziehung des Vermögens oder die Zerstörung ihrer Häuser; von existenzieller Bedeutung für die Betroffenen war die Nebenfolge, keine öffentlichen Ämter im weltlichen oder kirchlichen Bereich bekleiden oder private Rechte nicht ausüben zu dürfen (vgl. Müller, 976 ff.). 393 Sie starb im November 1458. Über das Schicksal von Jeannes Vater Jacques Darc zu dieser Zeit ist nichts bekannt. 394 Zu Details vgl. Müller, 1478 m.w.N.

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Weisung, die in einer konkreten Rechtssache eine bestimmte rechtliche Gestaltung verbindlich macht.395 Die Verfügung war hochformal aufgelegt: sie enthielt eine Grußadresse an die drei Adressaten: den Erzbischof von Reims sowie die Bischöfe von Paris und Coutances  – welche der Papst am Schluss des Reskripts zu Richtern im Verfahren bestellte – und war notariell be­glaubigt sowie gesiegelt.396 Als Anlass wurde auf die Bittschrift der Familie Darc397 Bezug genommen. Es folgte eine im Konjunktiv abgefasste inhaltliche Wiedergabe des Gesuchs, enthaltend eine Aneinanderreihung von Anfragen an Veranlassung und Verlauf des ersten Verfahrens und damit von potentiellen Wiederaufnahmegründen. Im Ergebnis, so Calixt, sei darum gebeten worden, „… einige ausgewählte Persönlichkeiten … mit der Durchführung des Verfahrens zur Nichtig­ erklärung und zur Rechtfertigung zu beauftragen  …“398 Von diesem Verfahren potentiell Betroffene bzw. Angeklagte wurden nicht ausdrücklich benannt. In Betracht kamen nur die Rechts- bzw. Amtsnachfolger der Hauptverantwortlichen im Verurteilungsverfahren, also der Richter Cauchon und Le Maistre (auch der stellvertre­tende Inquisitor war zu diesem Zeitpunkt wohl bereits verstorben) und des  Promotors d’Estivet. Kläger konnten nur die betroffenen Angehörigen Jeannes sein. „Gerührt durch die Bitten“ traf der Papst abschließend konkrete Anordnungen zur Ausgestaltung des Verfahrens: Das mit dem Reskript eingesetzte Ausnahmegericht sollte sich einen (namentlich nicht genannten) Inquisitor beiordnen sowie einen Promotor bestellen, und zwar den für Strafsachen in der Diözese Beauvais zuständigen Amtsträger; das Gericht sollte auch in einer Besetzung mit nur einem einzigen oder zwei Richtern prozessual handlungsfähig sein; das Verfahren sollte von allen entgegenstehenden Bestimmungen des kanonischen Rechts freigestellt und der Appell an den Papst ausgeschlossen sein; dem Urteil sollte durch Androhung von kirchlichen Zwangsmitteln Geltung verschafft werden. 395 Vgl. allgemein zur Rechtsform: X.1.3 de rescriptis (in: CIC  II, Sp.  16  ff.); VI.1.3 de rescriptis (in: CIC II, Sp. 938 ff.; Clem. 1.2 de rescriptis (in: CIC II, Sp. 1134–1135). 396 In diesem Format stellte das Reskript eine kleine (gewöhnliche) Bulle/bulla dar. Der Begriff leitet sich von der Kapsel (bulla) ab, die das Siegel enthielt und mit einer Schnur mit der Urkunde verbunden war. 397 Im Reskript sind neben Jeannes Mutter und den beiden Brüdern weitere Verwandte aus der Diözese Toul als Mitverfasser des Bittgesuchs benannt. 398 Duparc I, 19 f. (= III, 17 f.).

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Der Verfahrensverlauf Nach diesen Maßgaben wurde das Nichtigkeitsverfahren am 7. November 1455 in der Kathedrale Notre-Dame zu Paris eröffnet. Isabelle Rommée, in Begleitung nur ihres Sohnes Pierre, präsentierte den Richtern, unter lautem Stöhnen und Seufzen ihnen zu Füßen liegend, das päpstliche Reskript (in­sofern überraschend, als dieses an die Bischöfe gerichtet war) und vertiefte  mündlich die päpstlichen Ausführungen. Das Gericht hatte sich noch nicht formal konstituiert, sondern war nur durch den Erzbischof von Reims, Jean Juvénal des Ursins (1388–1473), und den Bischof von Paris, Guillaume Chartier († 1472), vertreten. Der dritte Richter, Richard Olivier de Longueil (1406–1470), Domherr und Offizial zu Rouen und seit 1453 Bischof von Coutances, trat erst später hinzu. Inquisitor, Promotor und amtlich bestellte Notare waren noch nicht bestimmt; der von der kirchlichen Untersuchung des Kardinals d’Estouteville her bekannte Großinquisitor Jean Bréhal allerdings war bereits zugegen. Erst in den folgenden Terminen kooptierte das Gericht sich ihn formal als Inquisitor und Mit-Richter für das Verfahren und bestellte den Magister der Künste und Lizentiaten des kanonischen Rechts Simon Chapitault zum Promotor iustitiae. Zwei geistliche Notare begleiteten das Verfahren ab Dezember 1455. In der zweiten Sitzung am 17. November 1455, die im bischöflichen Palais zu Paris stattfand, wurde das Reskript offiziell und förmlich präsentiert und registriert. Isabelle Rommée und ihre Söhne schworen, Mutter und Brüder Jeannes zu sein. Pierre Maugier, ein „Mann von großem Ansehen und Wissen“,399 Magister der Künste und Doktor des Kirchenrechts, Dekan der kirchenrechtlichen Fakultät der Universität Paris und deren Rektor, den das Gericht in dieser Sitzung der Familie Darc als Anwalt beigeordnet hatte, gab sodann eine erste mündliche Stellungnahme zum Begehren seiner Mandanten und zum Verurteilungsverfahren ab. Obwohl die Richter den Hinweis erteilt hatten, das Gericht sei noch gar nicht konstituiert und dies deshalb nicht angezeigt, plädierte der eifrige Rechtsbeistand ausgiebig und steckte seine Erwartungen an das Gericht ab:

399 Duparc I, 53 f. (= III, 47 f.).

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„…  Eurer rettenden Tat ist insoweit Gewalt verliehen und Delegation erteilt, von Euch erwartet man das Licht über dieser höchst ungerechten Verurteilung, damit Ihr vermittels der Gerechtigkeit die Gewissen erleichtert und eine gehörige Wiedergutmachung festsetzt, gerecht und süß, wohlriechend in einer Mischung von Gerechtigkeit und Billigkeit. …“400 In dieser Sitzung bestellten die drei Kläger zudem insgesamt 16 Prozessbevollmächtigte und traten damit als Naturalpartei faktisch im Verfahren nicht mehr in Erscheinung. Von ihren Bevollmächtigten agierte in den Terminen zumeist Guillaume Prévosteau, bekannt als Promotor aus der kirchlichen Voruntersuchung. Das Gericht ordnete an, die Zulassung der Wiederaufnahme des Verfahrens durch den Papst in den Diözesen Beauvais und Rouen per Aushang öffentlich bekanntzumachen. In der Bekanntmachung wurden gleichzeitig der amtierende Bischof von Beauvais, dessen Promotor in Strafsachen, der Prior des Dominikanerklosters sowie alle im Verurteilungsprozess Mitwirkenden und am neuen Verfahren Interessierten zur Eröffnung des Wiederaufnahmeprozesses an den erzbischöflichen Gerichtshof zu Rouen geladen, wohin das Gericht seinen Sitz verlegte. Im Termin am 15. Dezember 1455 trug Maugier mündlich zwölf (!) Artikel vor, um „einige der Verfolgung dieser Sache dienende Gesichtspunkte aufzuzeigen“401, und rügte in seinem „feierlichen Referat“ zu dem ersten Prozess u.a. die Unzuständigkeit des Gerichts, die Weiterführung des Prozesses trotz der Ablehnung des Vorsitzenden wegen Besorgnis der Befangenheit durch die Angeklagte und trotz deren Appells an den Papst, die Verweigerung eines Rechtsbeistands und die Minderjährigkeit Jeannes. Prévosteau legte am 18. Dezember die schriftliche Klage/petitio in scriptis vor (oblatio libelli402) und stieß damit das Verfahren endgültig förmlich an. In seinen Ausführungen ergänzte er Angaben zur Person der Betei-

400 Seine Ausführungen formulierte Maugier in französischer Sprache; vgl. ­Duparc I, 16–29 (= III, 14–26). 401 Duparc I, 53 f. (= III, 47 f.). 402 S.o., S. 89.

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ligten, zum Klagebegehren sowie zum Sachverhalt und vertiefte die Rechtsausführungen Maugiers. Wiederum zwei Tage später erschien vor der für diesen Tag anberaumten Sitzung bei Richter Juvénal des Ursins der Domherr zu Rouen, Magister Jean de Gouys, und überreichte eine schriftliche Erklärung der Erben des verstorbenen Pierre Cauchon des Inhalts, dass diese sich vom aktuellen Verfahren „nicht für betroffen hielten“ und nicht beabsichtigten, das Verurteilungsverfahren und die darin ergangenen Urteile „als rechtswirksam zu vertreten und zu verteidigen“.403 Die Rechtsnachfolger Cauchons beriefen sich zugleich vorsorglich auf eine von Karl VII. aus Anlass der Befreiung der Normandie von der englischen Herrschaft erlassene Amnestie. Der Schutzbrief Heinrichs VI. aus dem Jahr 1431 entfaltete hier naturgemäß keine Wirkung. In der danach stattfindenden mündlichen Verhandlung legte Prévosteau dem Gericht ein erweitertes Klagevorbringen in 101  Artikeln vor und beantragte, diese als Grundlage des weiteren Verfahrens zu nehmen. Promotor Chapitault rügte – ohne den Artikeln zu widersprechen – seinerseits mehrere aus seiner Sicht besonders schwerwiegende Mängel des Verurteilungsverfahrens; offenbar hatten Klägervertreter und Promotor an der petitio in scriptis zusammen weitergearbeitet und eine Verfahrensgrundlage erarbeitet, die beider Sichtweisen zusammenführen sollte. Die Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit spiegelt sich in zahllosen inhaltlichen Doppelungen in den Artikeln wieder, die den Eindruck erwecken, als wären die Ausarbeitungen beider ohne redaktionelle Verfugung einfach aneinandergesetzt worden. Chapitault beantragte außerdem, erneut Zeugen in der Heimat Jeannes zu vernehmen; hierüber fehlten bekanntlich Unterlagen in den Akten des ersten Verfahrens. Dem gab das Gericht statt und bestellte zwei Kommissare zur Durchführung von Zeugenvernehmungen in Lothringen. Die eigentlich in diesem Termin angezeigte Litiscontestatio/Streitbefestigung, also die Feststellung streitigen und unstreitigen Sachverhalts, konnte nicht erfolgen, weil die Beklagtenseite bis dato nicht erschienen war. Das Gericht hatte auf entsprechenden Antrag des Klägervertreters 403 Duparc I, 98–100; 102–107 (= III, 90–92; 94–99).

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zwar die Säumnis der Gegenseite festgestellt, diese aber „aus überreicher Gnade und wohlerwogener Vorsicht im Blick auf die Schwierigkeit der Sache/nihilo­minus ex abundanti gratia et bona cautela … propter causae arduitatem“404 nochmals auf den 16. Februar 1456 geladen. Nach Feststellung der Säumnis war die Fortsetzung des kontradiktorischen Verfahrens auch ohne Streitbefestigung zulässig.405 Als hinreichender Ersatz für den Eid de calumnia wurde wohl die Eidesleistung Isabelle Rommées und ihrer Söhne am 7. November 1455 gewertet. Am 17. Februar 1456 (die Sitzung war vertagt worden) erschienen für die Beklagten immerhin der Promotor in Strafsachen von Beauvais, ­Regnault Bredouille, gleichzeitig als Vertreter des Bischofs von Beauvais, sowie für das Dominikanerkloster zu Beauvais der Prior des Dominikanerklosters von Évreux. Nachdem die 101 Artikel verlesen worden waren, bestritt Magister Bredouille deren Inhalt und – insbesondere bemerkenswert – dass der vorsitzende Richter Cauchon den ersten Prozess in der von Prévosteau anhand vieler Details behaupteten parteiischen und befangenen Weise gegen Jeanne geführt habe.406 Er bezog sich im Übrigen auf das von Cauchon geführte Verfahren und werde an diesem zweiten Prozess – ebenso wenig wie der Bischof von Beauvais – nicht mehr teilnehmen, weil man an der Sache nicht interessiert sei. Das Gericht ging auf dieses Vorbringen nicht ein, sondern ließ die 101  Artikel als Grundlage des weiteren Verfahrens zu und beschloss förmlich, „über die Artikel und die Tatsachen eine Untersuchung durchzuführen“.407 Beweis erhoben werden musste nun auch über im Zeitpunkt des Verurteilungsverfahrens „notorische“ Tatsachen, weil diese während des zweiten Verfahrens nicht mehr aktuell waren.408 In Akkusationsprozessen, zu denen das Nichtigkeitsverfahren zählte, war neben dem Promotor auch 404 Duparc I, 101–102, 108–110 (= III, 93–49, 100–101). 405 Vgl. X. 2.14.8. (in: CIC II, Sp. 296 f.). 406 Duparc I, 155 (= III, 148). 407 Duparc I, 157 (= III, 150). 408 Offenkundige Tatsachen bedurften wie erinnerlich (s.o. S. 119) keines Beweises; dies galt bei länger zurückliegenden Fakten jedoch nur, sofern diese noch andauerten (notorium facti actu permanenti), vgl. Durand, Speculum III 1, 44 (De notorio crimine): „Scias ergo, quod in notoriis non est necessaria vel exceptio, nec testes etiam, vel aliae probationes …“.

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die Klägerseite zur Sachaufklärung und Beweisführung verpflichtet. In diesem Fall kam vor allem der Zeugenbeweis in Betracht. Hierbei hatte der Promotor dem Gericht vorab einen Fragenkatalog vorzulegen, aus dem die Beweistatsachen hervorgingen. Außerdem war ein Verzeichnis der in Betracht kommenden Zeugen zu präsentieren.409 Inquisitor und Promotor bestellten nun jeweils Bevollmächtigte für die Vernehmungen, die bis Mai 1456 in Lothringen (in Domremy, Vaucouleurs und Toul 34  Zeugen, alle von Jean Darc benannt410), in Orléans (41 Zeugen), Paris (20 Zeugen) und in Rouen (19 Zeugen) sowie in Lyon (ein Zeuge) durchgeführt wurden.411 Die Vorgänge um die Zeugenvernehmungen sind in den Akten zum Teil nicht im Einzelnen nachvollziehbar dokumentiert. Nach weiteren Verhandlungsterminen am 13. Mai und 1. Juni 1456, in denen jeweils die Säumnis der („fingierten“) Angeklagten festgestellt und die Parteien zur Vorlage weiterer Beweismittel aufgefordert wurden412, brachte der Promotor am 5. Juni 1456 u.a. den Schutzbrief des 409 Grundsätzlich mussten die Persönlichkeiten der Zeugen in Gegenwart der Parteien gewürdigt werden (probatio). In Glaubensprozessen entfiel dieser Schritt, weil die Identität der Zeugen geheim gehalten wurde. In diesem Nichtigkeitsverfahren sind die Namen der Zeugen und deren Aussagen demgegenüber Teil der Prozessakten, eine Geheimhaltung entfiel. Wegen der Säumnis der Angeklagten verzichtete man jedoch auch in diesem Fall auf die probatio der Zeugen. 410 Der Fragenkatalog für diese Beweiserhebungen, der zwölf Artikel umfasst, ist erhalten geblieben. Er enthält u.a. folgende Fragen: „Wurde Jeanne in ihrer Kindheit ihrem Alter und ihren Lebensumständen entsprechend im Glauben und in den guten Sitten gehörig unterwiesen?“, „Wie war ihr Betragen in ihrer Jugend, und zwar in der Zeit vom vollendeten 7. Lebensjahr [sc.: zu diesem Zeitpunkt endete die Kindheit] bis zum Verlassen der Elternhauses?“, „Beichtete sie in ihrer Jugendzeit oft und gerne?“, „Wie verhält es sich mit den verbreiteten Erzählungen über diesen Baum, der „Baum der Feen“ genannt wird, und war es bei den jungen Mädchen Brauch, dort zu tanzen? Kam ­Jeanne häufig mit anderen Mädchen zu der Quelle neben diesem Baum, und aus welchem Grunde oder bei welcher Gelegenheit ging sie dorthin?“, „Fand zu der Zeit nach ihrer Gefangennahme vor Compiègne, als sie im Gewahrsam der Engländer war, auf Veranlassung der Richter in ihrer Heimat irgendeine Untersuchung statt?“, usw. (vgl. Duparc I, 250–251 [= III, 238–239]). 411 Die etwa 120 Zeugenaussagen sind gleichzeitig eine erstrangige historische Quelle für das Leben im ausgehenden Mittelalter. 412 Duparc I, 493 (= IV, 159).

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englischen Königs vom 12. Juni 1431413 bei. Die Kläger rügten, bei den Schuldartikeln des Verurteilungsprozesses handle es sich um Fälschungen, weil die Ein­lassungen Jeannes darin nicht korrekt wiedergegeben seien. Die Säumnis der Gegenseite war vom Gericht zum wiederholten Mal festgestellt worden, diese damit faktisch mit jeglichen Einwendungen ausgeschlossen und die Sache entscheidungsreif. Schlussverhandlung und conclusio in causa wurden auf den 2. Juli 1456 terminiert, in der Klägervertreter und Promotor dem Gericht ihre abschließenden Rechtsausführungen/motiva iuris und acht Rechtsgutachten zur Sache (u.a. auch die aus Anlass der Untersuchungen der Jahre 1450 und 1452) einreichten.414

Die Entscheidung Im Verkündungstermin am 7.  Juli 1456 im erzbischöflichen Palais zu Rouen, an dem für die Kläger auch Jean Darc teilnahm, erkannte Juvénal des Ursins erwartungsgemäß auf Nichtigkeit des Verurteilungsprozesses mit seinen Urteilen und Rechtsfolgen: „Wir sagen und verkünden, entscheiden und erklären, dass die genannten Prozesse und Urteile, befleckt durch Arglist, Verleumdung, Widersprüche und offensichtlichen Rechts- und Tatsachenirrtum, ebenso wie der besagte Widerruf, die Vollstreckung und alle Folgen nichtig, ungültig, unwirksam und wertlos waren, sind und sein werden. Nichtsdestoweniger kassieren wir sie, heben sie auf, annullieren sie und nehmen ihnen jegliche Wirkung, soweit dies erforderlich und durch die Vernunft angezeigt ist. Wir erklären, dass die besagte Jeanne, die Kläger und ihre Verwandten aus den genannten Gründen keinerlei Makel oder Schandfleck der Infamie erlitten oder sich zugezogen haben, dass Jeanne 413 S.o. S. 176. 414 Noch im Verlauf des Juni hatte sich das Gericht zu eingehenden Beratungen in Paris getroffenen und im Vorfeld Inquisitor Bréhal mit einer recollectio beauftragt, einer Zusammenfassung des gesamten Sach- und Streitstands. Die (zeit)aufwändige Ausarbeitung erheblichen Umfangs (rund 200 Seiten; vgl. Duparc II, 405–600) verarbeitete auch die Rechtsgutachten und die motiva iuris der Kläger im Nichtigkeitsverfahren, die somit (auch den Richtern?) schon vorab bekannt gewesen sein dürften und in der Schlussverhandlung lediglich förmlich in den Prozess eingebracht wurden.

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unschuldig war und in allem gerechtfertigt ist, und insofern es notwendig sein sollte, rechtfertigen wir sie insoweit vollkommen.“415 Zuvor hatten die Richter in zwei Langsätzen den Bezug zu ihrem apostolischen Mandat hergestellt, Kläger und Beklagte vorgestellt, deren (Beweis-)An- und Vorträge, die richterlichen Ermittlungen und Prüfungen sowie den Prozessverlauf in knappster Form zusammengefasst. In einer ersten Entscheidung vor dem eigentlichen Tenor erklärten sie die die Urteile im ersten Verfahren tragenden „(Schuld-)Artikel“ für arglistig verfälscht und verleumderisch. Auch diese kassierten, annullierten und verwarfen sie: „Wir haben sie aus dem genannten Prozess heraustrennen lassen und bestimmen hier gerichtlich, dass sie zu zerreißen sind.“416 Als tragende Urteilsgründe werden außerdem in verklausulierter Kürze benannt: die „Eigenschaften“ der Richter und Bewacher Jeannes, die „Ablehnungen, Unterwerfungen, Appelle“ der Jungfrau, ihr Vorlageersuchen an den Papst und ihre angeblich durch Gewalt und Drohung erzwungene Abschwörung. Auf die Gutachten und Stellungnahmen von „Prälaten“ und „Doktoren“ wird pauschal Bezug genommen; hiernach könnten die dem Mädchen im Verurteilungsprozess zugeschriebenen Verbrechen aus der Gesamtheit des Prozesses nicht hergeleitet werden, außerdem ergäben sich aus den Abhandlungen die „Nichtigkeit und Unrichtigkeit“ vieler Punkte im ersten Prozess. Am Schluss der Entscheidung steht die Verfügung, das Nichtigkeitsurteil in Rouen sofort auf dem Platz Saint-Ouen öffentlich bekannt zu machen, flankiert von einer allgemeinen Prozession und einer feierlichen Predigt. Am Tag darauf sollte derselbe Akt auf dem Altmarkt an der Stelle von Jeannes Feuertod wiederholt und „der Jungfrau zum ewigen Gedächtnis sowie zu ihrem Seelenheil … ein ehrenvolles Kreuz errichtet werden“. Bis heute hält dort ein Kreuz die Erinnerung an das Geschehen wach. Weitere Maßnahmen zum Vollzug des Urteils sowie zu dessen öffentlicher Bekanntmachung behielt sich das Gericht vor.

415 Vgl. Duparc II, 605–611 (= IV, 224–229). 416 A.a.O.

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Rechtliche Bewertung des Verurteilungsprozesses Einige Gesichtspunkte zur rechtlichen Würdigung des Verurteilungsprozesses sind bereits angeführt worden. Folgende zusammenfassende Anmerkungen sollen diese Überlegungen in Zusammenschau mit im Nichtigkeitsprozess formulierten Beanstandungen des ersten Verfahrens ergänzen417:

Die beiden Urteile vor und nach der Abschwörung418

• Formell Eine fehlerhafte Bevollmächtigung des (Groß-)Inquisitors Graverent, die zur Nichtigkeit der Bestallung auch seines Vertreters Le Maistre geführt hätte, ist nicht belegbar. Die Rüge der örtlichen Zuständigkeit Le Maistres greift ebenfalls nicht durch. Jeannes Stimmen, Erscheinungen und Offenbarungen führen nicht dazu, dass ihr Fall als Causa Ecclesiae maior/bedeutende Glaubensangelegenheit mit der Folge einer Vorlagepflicht an den Papst zu qualifizieren gewesen wäre. Causae maiores haben bedeutende Fragen an die Lehre der Kirche und deren Inhaltsbestimmung (Wirkung der Taufe; Erbsünde; Substanz der Glaubensartikel) zum Gegenstand419, nicht aber Glaubens417 Mit der verknappten und thetisch angelegten Darstellung sollen und können tragende Überlegungen im Nichtigkeitsverfahren lediglich schlaglichtartig benannt und bewertet werden. Für eine breitere Darstellung s. Müller, Bd. 4 „Rechtfertigung und Urteilskritik“. 418 Jeanne hatte wie erinnerlich den vorsitzenden Richter bei der Verlesung des ersten Urteils unterbrochen und nachfolgend eine so genannte Abschwörungserklärung abgegeben, in der ihre „Stimmen“ und Erscheinungen als „lügenhaft vorgetäuscht“ bezeichnet und ihre Handlungen und Äußerungen in verschiedenen Bezügen als ketzerisches Tun bewertet wurden. Daraufhin war ein zweites Urteil ergangen, welches sie vor dem Hintergrund ihrer „Umkehr“ zu lebenslanger Kerkerhaft verurteilte. Auf diese beiden Urteile wird hier Bezug genommen (s.o., S. 148 ff.). 419 Vgl. die Dekretalis Innozenz’ III.: „Maiores ecclesiae causas, praesertim articulas fidei contingentes, ad Petri sedem referendas intelliget  …“ (X.3.42.3, in: CIC II, Sp. 644–646).

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inhalt und -form Einzelner. Zudem hatte das Gericht des Verurteilungsprozesses die Erscheinungen Jeannes als lügenhafte Erfindungen eingeordnet  – schon von daher konnten die Richter eine bedeutende Frage des Glaubens nicht bejahen. Die für eine Parteilichkeit des Gerichts, der Beisitzer und der Gutachter im ersten Verfahren angeführten Indizien können eine Befangenheit nicht überzeugend belegen. Nach der Argumentationsstrategie der Betreiber des Nichtigkeitsverfahrens war der Kardinalvorwurf gegen den Verurteilungsprozess, dass die „zwölf Artikel“ zum Nachteil der Angeklagten vorsätzlich verfälscht und manipuliert worden seien. Allerdings wird diese Beanstandung von der Klägerseite weder substantiiert vorgetragen, noch ist sie inhaltlich nachvollziehbar, entsprechende Indizien fehlen. Im Ergebnis konnte das Nichtigkeitsverfahren keine Tatsachen oder Rechtsgründe ans Licht bringen, die geeignet gewesen wären, das Verurteilungsverfahren als formal unrechtmäßig erscheinen zu lassen.

• Materiell (1) „… lügenhaftes Ersinnen göttlicher Offenbarungen und Erscheinungen …“420 Diese Schuldzuweisung aus beiden Urteilen vor dem Rückfall erscheint vor dem Hintergrund der widersprüchlichen Einlassungen Jeannes zum „Zeichen“ vor Karl VII. zumindest vertretbar und nicht als willkürliche richterliche Setzung. Die Klägerseite im Nichtigkeitsverfahren bewertete dagegen die Erscheinungen und Offenbarungen Jeannes naturgemäß als gut und göttlichen Ursprungs. Sie begründete ihre Auffassung u.a. mit dem einwandfreien Lebenswandel des Mädchens, ihrer Jungfräulichkeit und dem Wirken ihrer „Erscheinungen“ zu guten Werken.

420 Die Auflistung orientiert sich an den vollständigen Schuldvorwürfen des ersten, vor der Abschwörung teilverkündeten Urteils (von denen in das zweite Urteil nicht alle aufgenommen wurden).

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Das Nichtigkeitsurteil wich einer Entscheidung dieser Frage mit der Begründung aus, schon der Apostel Paulus habe nicht genau sagen können, ob er seine eigenen Offenbarungen körperlich erfahren habe oder nur im Geist, und sich deshalb auf Gott berufen. (2) „Schismatikerin“ Diese Qualifizierung (auch im zweiten Urteil benannt) musste für die Richter im Verurteilungsprozess notwendig aus Jeannes Festhalten an ihrer Überzeugung von der göttlichen Herkunft ihrer Erscheinungen und Offenbarungen folgen. Denn die Kirche verdammte diese. Jeannes Tragik liegt auch darin, dass sie sich wegen dieser ihrer Überzeugung der Kirche, die sie liebte, nicht unterwerfen konnte. Mit ihrer Verweigerung wurde das Mädchen zur schismatica. Als Eckpfeiler des Prozesses reichen diese beiden gewichtigen Vorwürfe, um alle drei Urteile, das vor der Abschwörung, das danach sowie das dritte Urteil wegen Rückfalls, als materiell rechtmäßig erscheinen zu lassen. (3) „verderbliche Verführerin“ Mit dieser Schuldzuweisung, die im zweiten Urteil als „andere verführend“ formuliert ist, war auf die Verehrung Jeannes im Volk Bezug genommen. Sie spielte dann keine Rolle, wenn man wie die Betreiber des Nichtigkeitsverfahrens davon ausging, dass die Offenbarungen des Mädchens göttlichen Ursprungs waren. (4) „… anmaßend, leichtgläubig, vermessen …“ Diese Apostrophierungen werden im zweiten und dritten Urteil nicht mehr angeführt. Sie beziehen sich auf die Frage des Grafen von Armagnac nach dem rechten Papst; auf die Führung einer Armee von zeitweise 16.000 Mann, in der zahlreiche Adlige dienten; auf den „Brief an die Engländer“; auf ­Jeannes angebliche Fähigkeit, die Stimmen Gottes, der Engel und Heiligen von menschlichen Stimmen unterscheiden zu können; auf ihre Bereitschaft, an ihre Visionen und Offenbarungen zu glauben. Die Tatbestandsmäßigkeit dieser Schuldzuweisungen steht in Frage. Rechtlich abgrenzbare Fallgruppen der Häresie sind insoweit nicht erkennbar. Eine besondere Schwere könnten die Qualifizierungen über193

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dies nur daraus gewinnen, dass man die Offenbarungen des Mädchens als böse beziehungsweise lügenhaft einordnet. (5)/(6) „… abergläubisch …, falsche Wahrsagerin“ Im zweiten Urteil wird diese Schuldzuweisung zu „abergläubisch wahrsagend“. Die Wahrsagerei stellte zwar eine Fallgruppe der Ketzerei dar, doch wurde von der Doktrin zwischen einfachen Wahrsagern, die die Zukunft aus Handlinien oder auf ähnliche Weise zu ersehen versuchten, und ketzerischen Wahrsagern unterschieden. Letztere riefen den Teufel an, nutzten Weihwasser oder geweihte Gegenstände, sprachen Gebete oder wandten andere glaubensmissbräuchliche Praktiken an, um Aussagen über die Zukunft machen zu können. Nur dieser Gruppe Zugehörige waren als Ketzer zu qualifizieren.421 Der Vorwurf gegenüber Jeanne stützte sich auf ihre Versprechungen gegenüber Karl VII., die Belagerung von Orléans werde aufgehoben, Karl in Reims zum König gekrönt und seine Gegner bestraft; außerdem auf ihre Entdeckung des Schwertes von Fierbois. Jeanne habe sich außerdem durch ihre Wahrsagungen finanzielle Vorteile verschafft. Schon an den ersten Schritt, die Prophezeiungen des Mädchens als Wahrsagerei und nicht als prophetische Gabe zu bewerten, lassen sich Anfragen stellen. Jedenfalls aber sind die qualifizierenden Tatumstände zur Bejahung einer häretischen Wahrsagerei nicht ersichtlich und belegbar. (7) „… lästerlich gegenüber Gott und den Heiligen …“ Diesen Vorwurf erhebt auch das zweite Urteil, allerdings ebenso wie das erste ohne inhaltliche Substantiierung. Die Anklageschrift422 erkannte eine Lästerung im Sprung vom Turm in Beaurevoir und im Tragen von Männer- und Kriegsbekleidung. Abgesehen davon, dass Jeanne in ihren Vernehmungen eine Lästerung nach ihrem Sprung vom Turm in Abrede gestellt hatte, wurde das Tragen von Männerkleidung durch eine Frau nicht von allen als per se unanständig oder gar normativ-dogmatisch

421 Vgl. Manuel, 66–68. 422 Artikel 12, 47 und 66.

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verboten eingestuft.423 Das Gericht allerdings bewertete dies anders und folgte damit offenbar einer herrschenden Meinung, die darin einen Verstoß gegen das mosaische Gesetz erkannte.424 Andererseits wird nicht dargelegt, dass sich bei den benannten Handlungen um unmittelbar gegen Dogmen (z.B. der unbefleckten Empfängnis) oder Glaubensartikel (etwa der Allmacht Gottes) gerichtete qualifizierte Lästerungen gehandelt hätte, wie es die einschlägige Fallgruppe „Häresie“ verlangte.425 (8) „… Gott in seinen Sakramenten verachtend …“ Dieser Vorwurf (auch im zweiten Urteil aufrechterhalten) hängt mit der Bewertung des Tragens von Männerkleidung zusammen. Jeanne hatte nicht nur ausdrücklich eingeräumt, vor ihrer Gefangennahme in Männerkleidung das Abendmahl empfangen zu haben, sondern sich auch während des Prozesses geweigert, Frauenkleider anzulegen, um dann die Messe besuchen zu dürfen. Die Kläger des Nichtigkeitsverfahrens trugen demgegenüber vor, Jeanne habe häufig gebeichtet und das Abendmahl eingenommen; dabei habe sie die Männerkleidung abgelegt. Anfragen an diesen Schuldvorwurf bleiben, wenn man der Meinung folgt, dass das Tragen von Männerkleidung durch eine Frau nicht zu inkriminieren sei.

423 Vgl. so etwa das Rechtsgutachten/Opusculum des berühmten Theologen Jean le Charlier de Gersons (1363–1429) vom Mai 1429, das in die Akten des Nichtigkeitsverfahrens Aufnahme fand (Duparc  II, 33  ff.; 38–39); Thomas von Aquin, Summa theologica, Teil 2, Quaestiones 107 und 108 („Das Neue Gesetz im Vergleich zum Alten Gesetz“, „Der Inhalt des Neuen Gesetzes“), in: Corpus Thomisticum, s.v. quaestio 107, quaestio 108. 424 5. Mose 22,5: „Non induetur mulier veste virili, nec vir utetur veste feminae; abominabilis enim apud Deum est qui facit haec./Eine Frau soll nicht Männersachen tragen, und ein Mann soll nicht Frauenkleider anziehen; denn wer das tut, der ist dem Herrn, deinem Gott, ein Greuel.“; im Neuen Testament schrieb Paulus an die Korinther: „Lehrt euch nicht auch die Natur selbst, dass es einem Manne eine Unehre ist, so er langes Haar trägt, aber der Frau eine Ehre, so sie langes Haar hat? Das Haar ist ihr zum Schleier gegeben.“ (1. Kor. 11, 14–15). 425 Vgl. Manuel, 63–66.

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(9) „… dem göttlichen Gesetz, der heiligen Lehre und den kirchlichen Geboten zuwiderhandelnd …“ Hiermit ist (auch im zweiten Urteil) wiederum das Tragen von Männerkleidung in Bezug genommen. Die Richter konnten eine Rechtfertigung von Jeannes Handeln durch göttliche Weisung nicht erkennen; bei negativer Bewertung einer Frau in Männerkleidern war diese Schuldzuweisung für das Gericht folgerichtig. (10) „… aufrührerisch …“ Auch Jeannes kriegerische Aktivitäten nahm das Gericht in seine Entscheidung auf (im zweiten Urteil als: „seditiones moliendo/zu Aufständen anstachelnd“); deren Qualifikation als Glaubenssache, die der Zuständigkeit der kirchlichen Richter unterfiel, ließ sich einerseits aus der von dem Mädchen behaupteten göttlichen Weisung herleiten, Orléans zu befreien. Zum anderen stellte sich anhand dieses Vorwurfs die Kardinalfrage nach einem möglichen „gerechten Krieg/iustum bellum“, dessen Voraussetzungen und Vereinbarkeit mit dem Gebot der Feindesliebe aus dem Neuen Testament seit den Frühzeiten des Christentums theologisch und kirchenrechtlich diskutiert worden waren.426 Entsprechend den einschlägigen Kriterien (etwa: Ziel und Zweck des Krieges in der Wiedergewinnung geraubter Güter oder der Landesverteidigung; Erforderlichkeit der Auseinandersetzung für die Herstellung des Friedens; kein Hass als leitendes Motiv) waren die von Jeanne geführten militärischen Aktionen nicht zu verwerfen. Andererseits konnten die Richter des Verurteilungsverfahrens die von dem Mädchen mit dem Ziel, die Engländer aus Frankreich zu vertreiben, geführten Schlachten schwerlich als „gerechten Krieg“ qualifizieren. An dieser Stelle wird der politische Charakter des ersten Verfahrens greifbar. Vor dem geänderten politischen Hintergrund des Nichtigkeitsverfahrens wurde naturgemäß dieser Schuldvorwurf als unbegründet verworfen. (11) „… grausame …“ 426 Von der Feindesliebe in der Bergpredigt Jesu berichten Matthäus (5, 38–46) und Lukas (6, 27–35). Die theologische Diskussion begann mit Augustinus (354–430), der ebenso wie später Thomas von Aquin Voraussetzungen für einen „gerechten Krieg“ formulierte. Die kirchenrechtlichen Regularienwerke griffen diese Überlegungen auf; es bildeten sich im juristischen Kontext abstrakte Kriterien für ein bellum iustum heraus.

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Der Vorwurf bezieht sich auf die Anschuldigung in der sechsten der zwölf Assertiones, Jeanne habe geprahlt, sie werde alle töten lassen, die ihr nicht gehorchen wollten. Schon in der Anklageschrift (Artikel  18) war ihr vorgeworfen worden, sie habe Karl VII. von einem Friedensvertrag abgehalten und zu Mord und Blutvergießen angestiftet, weil man „den Frieden nur mit der Spitze der Lanze oder des Schwertes gewinnen“427 könne und die kriegerische Auseinandersetzung als Mittel zum Zweck von Gott gewollt sei, um die Engländer aus dem Land zu treiben. Dieser Punkt ist in dem Urteil nach der Abschwörung nicht mehr enthalten, so dass auch die Betreiber des Nichtigkeitsverfahrens nicht auf ihn eingehen. (12) „… Abtrünnige/apostatrix …“ Diesen Vorwurf liest man im Urteil nach der Abschwörung, aber weder in der Anklageschrift noch im ersten Urteil. Die „Apostasie“ stellte als gänzlicher Abfall vom christlichen Glauben (dokumentiert in der Regel durch den Übertritt zu einer anderen Glaubensgemeinschaft oder durch das Bekenntnis zum Heidentum) eine eigene Fallgruppe der Häresie dar.428 Der Glaubensabfall ließ sich nicht aus der Summe einzelner (vermeintlicher) Glaubensverfehlungen oder sündhafter Verhaltensweisen, etwa des Tragens von Männerkleidung oder -haarschnitt durch eine Frau, herleiten oder begründen, wie es die kanonische Fakultät der Universität Paris in ihrer Stellungnahme zu den „Assertiones“ tat.429 Anderenfalls gäbe es für Beichte und Buße keinen Raum. Eine Begründung des Vorwurfs gibt das zweite Urteil nicht. (13) „… über zahlreiche Punkte des Glaubens Irrende …“ Dieser Vorwurf in beiden Urteilen hat keine eigene rechtliche Qualität, sondern bekräftigt die vorstehenden Verstöße Jeannes zusammenfassend aus anderer Blickrichtung. 427 Tisset I, 215. 428 Manuel, 83–84; s.o., S. 156. 429 „Die besagte Frau ist auch abtrünnig, sowohl weil sie sich die Haare, die Gott ihr als Schleier gegeben hat, zu einem schlechten Zweck hat abschneiden lassen, als auch weil sie aus dem nämlichen Anlass das Gewand einer Frau aufgegeben und das Verhalten von Männern nachgeahmt hat.“ (vgl. Tisset  I, 363).

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Das Urteil wegen Rückfalls Diese Entscheidung musste und durfte sich ausschließlich mit der Frage beschäftigen, ob Jeanne tatsächlich rückfällig geworden, das heißt zu ihren als häretisch eingestuften Verhaltensweisen und Einstellungen zurückgekehrt war. In der abschließenden gerichtlichen Beratung am 29. Mai 1431, Grundlage für das dritte Urteil, hatte der Vorsitzende den Beisitzern anhand des Besuchs bei Jeanne in ihrer Gefängniszelle zwei Rückfallgründe referiert: ihr erneutes Bekenntnis zu ihren „Stimmen“ und, in zweiter Linie, die Rückkehr zur Männerkleidung. Diese Tatsachen standen unabweisbar fest und wurden auch von den Beisitzern bestätigt. Selbst wenn man das Tragen männlicher Kleidung durch eine Frau anders als das erste und das zweite Urteil nicht als häretisch bewertet, mochte sich das Gericht insoweit treu bleiben. Als tragende und eindeutig rückfallbegründende Tatsache blieb jedenfalls Jeannes innere Rückkehr zu ihren Erscheinungen. Das Nichtigkeitsurteil erhob angesichts dieser eindeutigen Tatsachenlage Einwendungen gegen die Wirksamkeit der Abschwörung: Jeanne habe den Inhalt ihrer Willenserklärung nicht verstanden; sie habe lediglich aus Angst vor dem Feuer, nicht aus innerer Überzeugung abgeschworen; sie habe gar nicht abschwören können, weil sie niemals häretisch gewesen sei. Diese Überlegungen können allerdings rechtlich die Abschwörung nicht in Frage stellen: Jeanne wollte sich vor dem Feuertod retten und unterbrach mit diesem Ziel am 24. Mai 1431 Cauchon bei der Verlesung des ersten Urteils, um zu erklären, sie wolle nun alles beachten, was die Kirche vorschreibe und in allem den Anordnungen und Wünschen der Kirche und ihrer Richter folgen. Diese Erklärung musste das Gericht, um die von dem Mädchen gewünschte Rechtsfolge zu erreichen, in eine Abschwörungserklärung gießen, die, um rechtlich passgenau zu sein, die Schuldvorwürfe des ersten teilverkündeten Urteils im Einzelnen abzubilden hatte. Rechtlich ist dies nicht zu beanstanden und entsprach in der Wirkung dem von Jeanne geäußerten Willen. Die Richter zeigten gleichzeitig ihre Bereitschaft, Jeannes Wunsch zu entsprechen und sie vor dem Scheiterhaufen zu bewahren. Der Weg dahin führte juristisch allerdings nur über eine Absage des Mädchens an ihre „Stimmen“. 198

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Wenn Jeanne im Nachhinein dahin kam, in erneuerter Treue zu ihren Erscheinungen den Tod in Kauf zu nehmen, so kann dies die Wirksamkeit ihrer Abschwörung als Ausdruck einer zu diesem Zeitpunkt konträren Willenserklärung nicht in Frage stellen. Dass das Mädchen nicht habe abschwören können, weil sie nicht häretisch gewesen sei, ist eine in sich zirkelhafte Argumentation, die nicht überzeugt.

Ergebnis Im Ergebnis erscheint das im Nichtigkeitsverfahren ergangene Urteil als in verschiedener Hinsicht rechtsfehlerhaft. In vielen Unrichtigkeiten, Unwahrheiten und „Merkwürdigkeiten“, die einer eigenen Darstellung bedürften, scheint in ihm das politische Interesse auf, das Königtum Karls VII. von dem Makel zu befreien, auf den Erfolgen einer rückfälligen Häretikerin und Schismatikerin zu fußen. Wenn das Nichtigkeitsurteil z.B. postuliert, Jeanne habe sich der streitenden Kirche unterworfen, so ist dies eine Verbiegung der dokumentierten Tatsachen und des konsequent geäußerten gegenteiligen Willens der Pucelle. Dem Verdikt, der Nichtigkeitsprozess sei „ein Dokument menschlicher Erbärmlichkeit“,430 kann im Ergebnis nur bezüglich der Diktion, nicht aber inhaltlich widersprochen werden. Der Verurteilungsprozess dagegen zeigt sich aus formaljuristischer Sicht in weiten Teilen als zumindest vertretbar. Zu beanstanden ist neben dem verspäteten Angebot einer Verteidigung vor allem die unterbliebene Objektivierung beziehungsweise Verifizierung der mala fama, des öffentlichen Gerüchts, das Jeanne „denunzierte“. Aber: Wäre Jeanne von der Kirche bei gleicher Tatsachenlage wegen Häresie prozessual verfolgt worden, wenn sie nicht im Rahmen einer Kampfhandlung in die Hände der Engländer ge­fallen wäre? An dieser Stelle ist spürbar, dass das Verurteilungsverfahren Anteile eines „politischen Prozesses“ aufweist: Die englische Seite verfolgte den Prozess auf dem Boden eines von ihr widerrechtlich besetzten(?) oder zu Recht beanspruchten(?) Frankreichs mit klarer Tendenz. Inwieweit sie es aktiv mitinitiiert hat, bleibt im Dunkel der Geschichte. Prozess- oder m ­ ateriellrechtlich bildet sich dieser historisch-politische Rahmen im Verurteilungsprozess allerdings nicht der430 Nette, 112.

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gestalt ab, dass das Verfahren als offensichtlich unrechtmäßig oder gar willkürlich erschiene. Der Verurteilungsprozess hält der juristischen Überprüfung nach den im 15. Jahrhundert geltenden Maßgaben des Inquisitionsverfahrens überwiegend stand. Trotzdem scheitert die Justiz, scheitern auch und gerade die beteiligten Theologen an diesem Fall und an der Persönlichkeit Jeannes. Ein – fast – perfekter Prozess mündet in ein breit abgesichertes und abgestimmtes Urteil. War dieses unrichtig? Unrichtig war es insbesondere, wenn Jeannes Angaben zu ihren „Erscheinungen“, „Stimmen“ und „Offenbarungen“ richtig waren. In einem kirchenrechtlichen Verfahren vor einem theologisch und kirchenjuristisch hochkarätig besetzten Kirchengericht, das Fallgruppen der Häresie prüfte, konnten und mussten (kirchen-)juristische Maßstäbe und Beweismittel diese Phänomene erfassbar und entscheidbar machen. Fiel deren Prüfung gegen die Angeklagte aus, weil es ein von den politischen Machthabern gewollter und mitinitiierter Prozess war? Agierte das Kirchengericht nicht unabhängig? Hier verläuft die Grenze zu Spekulationen und Plausibilitätsüberlegungen. Auf außerbzw. metajuristischer Ebene begegnet auch der Verurteilungsprozess insofern Bedenken. Die Rechtsanwendung ist bis heute mit Fällen befasst, in denen immaterielle Kräfte hinter Handlungen stehen, deren Auswirkungen (straf) rechtlich zu bewerten sind. Der BGH hat in einem konkreten Fall geurteilt, metaphysische Kräfte gehörten in den Kreis von Glauben, Aberglauben, Vorstellung oder Wahn. Weil sie der Lebenserfahrung und wissenschaftlicher Erkenntnis entzogen seien, könnten sie vom Richter nicht als Quelle realer Wirkungen anerkannt werden. Grundlage der gerichtlichen Autorität sei „die Unterstellung einer gemeinsamen objektiven Welt“431.

431 Salditt, 622 f., unter Verweis auf BGH NJW 1978,1207 u. RGSt 33, 321, 323. Salditt bezieht sich weiter auf ein Urteil des Reichsgerichts aus dem Jahr 1900 (RGSt 30,321), das sich mit einer Teufelsbeschwörung beschäftigte, welche zum Tod eines Menschen führen sollte. Das Reichsgericht befand, dass aus dem „Kreis kausaler Veranstaltungen“ herausfalle, was metaphysische Kräfte erregen solle. Eine Verurteilung etwa wegen versuchten Totschlags käme daher nicht in Betracht

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Rechtliche Bewertung des Verurteilungsprozesses

Sieht man hinter Jeannes Handlungen, mit denen sie ihren „Stimmen“ folgt, eine glaubensgetragene Gewissensentscheidung, so wäre Artikel 4 Grundgesetz als Garantie der Glaubens- und Gewissensfreiheit einschlägig, der direkt in das Strafrecht hineinwirkt. Eine Gewissensentscheidung ist als innere Tatsache der Beweiserhebung entzogen. Das Prinzip in dubio pro reo hilft hier nicht weiter.432 Jeanne hätte wohl Rat von kompetenter Seite einholen können (und nach modernen Maßstäben auch müssen433), um sich über Natur und Dignität ihrer „Stimmen“ klarer zu werden. Dies hat sie unterlassen. Noch im Verfahren verweigerte sie einen Beistand mit der Begründung, sich nicht vom „Rat Gottes“ trennen zu wollen.434 Schließlich ist das Grundrecht der Glaubens- und Gewissensfreiheit nicht schrankenlos gewährleistet, wobei hier ein hohes Rechtfertigungsniveau verlangt wird: Eingriffe in den Schutzbereich des Artikels 4 können nur durch Schranken auf der Verfassungsebene selbst gerechtfertigt werden. In Betracht kommen Grundrechte Dritter oder sonstige Rechtsgüter mit Verfassungsrang.435 Für das Gericht Cauchons im Jahr 1431 dürften Institution und Macht der katholischen Kirche diesen Rang aufgewiesen haben. Ein moderner Strafrichter würde andere Rechtsgüter in seine Abwägung einstellen. An dieser Stelle soll wegen der Historizität des Geschehens dessen Abmessung an den rechtlichen Maßstäben der heutigen Lebenswelt enden.

Überlegungen zur Verteidigung Für einen Anwalt, der als Verteidiger tätig ist, eigentlich für jedes an­ waltliche Denken, ist die Entscheidung Jeannes, einen Verteidiger ab­ 432 Salditt, 623 m.w.N. 433 Vgl. Salditt, 622, der auf den „Katzenkönig“-Fall (BGHSt 35,347) verweist, in dem der Bundesgerichtshof entschieden hat, „bei gebührender Gewissensanspannung und der… zumutbaren Befragung einer Vertrauensperson, zum Beispiel eines Geistlichen“ wäre der Irrtum, dem der Täter unterlegen war, zu vermeiden gewesen; oder auf eine Entscheidung im Fall einer Steuerverkürzung (BGH 1 StR 38/11 vom 8. September 2011 [in: wistra 2011,465]). 434 S.o., S. 52. 435 Vgl. Unruh, Religionsverfassungsrecht, 3. Auflage 2015, 90 m.w.N.

201

Rechtliche Bewertung des Verurteilungsprozesses

zulehnen, ein Ärgernis. Sie glaubt subjektiv, über die eigene Verteidigung selbst am besten entscheiden zu können, und übersieht, dass die  eigene Subjektivität in einen objektiven Rahmen eingebunden ist, der nur von einem Dritten als Teil dieser Objektivität beurteilt werden kann. Was hätte ein Verteidiger (eine Verteidigerin kam damals nicht in Frage) bewirken können? Wir konzentrieren uns an dieser Stelle auf den Widerruf, auf Jeannes „Rückfall“, da hier die anwaltlichen Möglichkeiten geradezu „mit den Händen zu greifen“ sind. Weitere Hinweise zur Verteidigung haben wir in den Text einfließen lassen. Bei Verlesung des ersten Urteils am 24. Mai 1431 hat Jeanne selbst die Notbremse gezogen. Sie widerrief, als der Tod durch das Feuer konkret vor ihr stand. Dies war in der Sache ein Akt der Selbstverteidigung. Doch nach dem zweiten Urteil vom selben Tag sah sie ihr künftiges Leben im Kerker „mit dem Brot des Schmerzens und dem Wasser der Traurigkeit“ in einem bedrückenden Gefängnis vor sich, weiter eingeengt durch Eisen an den Füßen. Man kann darüber spekulieren, ob dieser Blick auf ihr zukünftiges Leben in Kerkerhaft oder ihre „Stimmen“ gewichtiger waren; vermuten kann man, dass die Ängste vor den physischen Leiden der Zukunft einen erheblichen Druck auf sie ausgeübt haben. Und hier hätte die Verteidigung ansetzen können und müssen. Jede Zukunftsperspektive ist mit der Ungewissheit des Zeitmaßes verbunden. Hieß hier lebenslang wirklich lebenslang? Das zweite Urteil nach der Abschwörung enthielt die Relativierung, dass es korrigierbar sei. Hieran knüpfen sich weitere Überlegungen eines potentiellen Verteidigers: Der Prozess fand in einem politischen Umfeld stand. Die Macht der Engländer war im Schwinden begriffen, auch durch den Sieg Jeannes in Orléans. Hätte Karl  VII., von ihr zur Krönung nach Reims geführt, im Falle einer Vertreibung der Engländer vom Kontinent tatsächlich hingenommen, dass seine Befreierin lebenslang im Kerker sitzt? Hier müssen wir ausblenden, dass die Zukunft die Frage mit Nein beantwortete, wie der spätere Nichtigkeits- oder Rechtfertigungsprozess gezeigt hat. Damit war im Zeitpunkt der fiktiven Beratung durch einen Verteidiger (vor dem Rückfall) nicht sicher zu rechnen. Aber es gab die Möglichkeit. Die lebenslange Haft war eben keine irreversible Alternative, anders als das Todesurteil. Dem sicheren Tod im Feuer stand die nur 202

Rechtliche Bewertung des Verurteilungsprozesses

mögliche Haft gegenüber. Und unter dem Prinzip Hoffnung stehend waren die Schmerzen der Kerkerhaft zudem sicher leichter zu ertragen. Diese Entscheidungsmöglichkeit zwischen sicherem Tod und zeitlich ungewisser Haft hätte ein Verteidiger Jeanne auseinandersetzen können. Und da die Ungewissheit der lebenslangen Kerkerhaft mit der Möglichkeit der Freiheit gepaart war, wagen wir die Prognose, dass Jeanne den Rückfall vermieden hätte. Denn vor dem Feuertod ist Jeanne schon einmal zurückgewichen. Es ist nicht anmaßend anzunehmen, dass ein Verteidiger Jeanne hätte bewegen können, es bei dem zweiten Urteil zunächst zu belassen.

203

Das dritte Verfahren: Die Heiligsprechung Nachdem die Causa d’Arc bereits im Jahrhundert von Jeannes Erscheinen auf der Weltbühne unter dem Prozessthema Häresie mit entgegengesetzten politischen Vorzeichen in konträre Richtungen entschieden worden war, vergingen fast 500  Jahre, bevor die katholische Kirche in einem weiteren geordneten Verfahren die Heiligkeit der Pucelle feststellte. Diese Zeitspanne war ungewöhnlich lang; sie vermisst den Weg und den Widerwillen einer Kirche zur Umwertung einer Ketzerin und „Soldatenfrau“ in eine Heilige. Die Verehrung einer Person als heilig ohne Billigung durch den Papst war erst seit der Mitte des 13.  Jahrhunderts untersagt.436 Papst Urban VIII. (1568–1644) formulierte im Jahr 1634 in seiner Konstitution Caelestis Jerusalem das exklusive Recht des Papstes, eine oder einen Verstorbenen als selig oder heilig festzustellen, und bestimmte dafür Verfahrensregelungen: Die Heiligsprechung erhielt das Format eines Gerichtsprozesses. Papst Clemens  XII. (1652–1740) verfügte die Zusammenstellung und Kommentierung der prozessualen Regularien, die im Jahr 1735 veröffentlicht wurden. Bis heute werden in streng abgemessenen Verfahrensschritten, die sich im Kern über die Jahrhunderte nur wenig ver­ändert haben, der heiligmäßige Lebenswandel, Tugenden und ­gewirkte Wunder der vorgeschlagenen Person anhand von Zeugenaussagen und anderen Erkenntnisquellen untersucht, geprüft und im Gegenüber von Advocatus Dei/Postulator und Advocatus ­diaboli verifiziert. In der Regel geht der Heiligsprechung die Seligsprechung voran. In einem dritten Prozess, diesmal unter dem Leitthema der Heiligmäßigkeit, dessen Anfänge bis in das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts zurückreichen, wurden die einzigartig dokumentierten Taten, Äußerungen und historischen Erfolge Jeannes erneut gesichtet, zusammengestellt und bewertet. Als ein Problem wurde schon im Seligsprechungsprozess die Abschwörung ausgemacht. Die am Heiligen Stuhl zuständige Ritenkon436 Die Dekretalis Audivimus von Alexander  III. (Papst 1159–1181) von 1170, die 1234 in der Dekretalensammlung Gregors IX. (s.o. Anm. 36) veröffentlicht wurde, war die gesetzliche Grundlage für das päpstliche „Reservat“ der Heiligsprechung (Kuttner, 209).

204

Das dritte Verfahren: Die Heiligsprechung

gregation stellte fest, eine Beatifizierung sei unmöglich, sofern Jeanne ihrem Glauben untreu geworden sei, dokumentiert dadurch, dass sie tatsächlich abgeschworen habe. Im April 1909 sprach Pius X. (Papst 1903–1914) nach mehrere Jahrzehnte dauernden, schwierigen Untersuchungen die Jungfrau selig, Benedikt XV. (Papst 1914–1922) sprach sie im Mai 1920 heilig. Die wiederum komplizierten und wohl auch politisch beeinflussten Verfahren können hier nicht im Einzelnen dargestellt, sondern nur angemerkt werden: Jeannes Heiligsprechung wurde mit den Kardinaltugenden des Mädchens begründet und mit verschiedenen Wunderheilungen, die man ihrer Fürsprache zuschrieb und die anhand der Regeln der medizinischen Kunst nicht erklärbar waren. Ihr Tod auf dem Scheiterhaufen wurde dabei nicht als Martyrium, sie selbst nicht als Märtyrerin anerkannt. Denn diese Heilige war nicht wegen ihres christlichen Glaubens von einer außerhalb der Kirche stehenden Macht verbrannt worden; die Kirche selbst hatte sie auf Grund kirchengerichtlich festgestellter Vorwürfe der Häresie exkommuniziert und zur Vollstreckung des Todesurteils der weltlichen Gewalt überantwortet. Auch im Selig- bzw. Heiligsprechungsprozess äußerte sich die Amtskirche nicht zu den Stimmen und Erscheinungen Jeannes. Theologisch bleibt es beim jahrhundertelangen Schweigen der katholischen Kirche. Eine offizielle Stellungnahme ex cathedra zu den „Erscheinungen“ Jeannes erging nicht; die Einordnung des Phänomens ist bis heute dem einzelnen Gläubigen (oder Nichtgläubigen) überlassen. Handelt die Kirche theologisch wie schon ihre Richter juristisch im Nichtigkeitsverfahren des Jahres 1456 in Verfolgung des schon mehrfach benannten (in seinem Geltungsbereich unklaren) kanonischen Prinzips: „Ecclesia de occultis non iudicat./Die Kirche urteilt nicht über Verborgenes.“437? 437 Bei dem Begriff „occultum/ verborgen, geheim“ ist zwischen der sinnlichen Bedeutung (Gegensatz: „äußerlich erkennbar“) und der beweisrechtlichen (Gegensatz: „manifestum“ oder „publicum/ [öffentlich, allgemein] erwiesen, bekannt, auf der Hand liegend“) zu unterscheiden. Im letzteren Sinne grenzte die genannte Rechtsregel ex negativo ab, dass der Kirche zum Beweis der Schuld des Einzelnen einzig sinnlich wahrnehmbare Indizien (so genannte

205

Das dritte Verfahren: Die Heiligsprechung

Wie schon erwähnt, blieben nicht zuletzt alle Bemühungen, diese Kardinalfrage aller Prozesse, mit denen die Kirche das Mädchen und ihre Causa überzog, und die substantielle Frage an ihr Sosein und ihre Persönlichkeit (natur-)wissenschaftlich-medizinisch zu lösen, erfolglos.

Und wir wagen noch das Résumé: Hätte Jeanne sich nicht selbst verteidigt, hätte ihr ein Verteidiger zur Seite gestanden, hätte ihr Hauptverfahren nicht mit dem Feuertod enden müssen. Aber die Engländer hätten ihr Rachebedürfnis nicht gestillt, die Franzosen und ihre Könige hätten sie nicht in mystische Höhen erheben, die Kirche sie nicht zur Heiligen und Frankreich sie nicht zu seiner Nationalheiligen erklären können. Hätte, hätte, hätte …

circumstantiae) zur Verfügung stehen, während Gott allein das Herz anschaut (1. Samuel, 16,7). Fehlen derartige Indizien oder reichen sie zum Beweis nicht aus, so bleibt die Tat im „Geheimen“ und ausschließlich dem göttlichen Urteil überlassen (vgl. Kuttner, 229 f.).

206

Anhang Genealogie des englischen und französischen Königshauses 1420/1430

207

Anhang

Hugo Capet a 987 - 996

Philipp III. a 1270 - 1285

Philipp IV. a 1285 - 1314



Karl IV.

Philipp V.

Ludwig X.

Isabella

a 1322 - 1328

a 1316 - 1322

a 1314 - 1316

1295 - 1358

Eduard of Woodstock



1330 - 1376

Richard II. a England 1377 - 1399







Legende s. Seite 210

208

Anhang

Karl von Valois



°°

1270 - 1325

Eduard II. a England 1307 - 1327

Eduard III. a England 1327 - 1377

1337

Philipp VI. a 1328 - 1350

John of Gaunt

Johann II.

1340 - 1399

a 1350 - 1364

Heinrich IV. a England 1399 - 1413

Heinrich V. a England 1413 - 1422

Heinrich VI. a England 1422 - 1461, 1470 - 1471

Karl V. a 1364 - 1380

Karl VI. a 1380 - 1422

Karl VII. a 1422 - 1461

209









Anhang

Legende 1. Die 3. französische Dynastie der Kapetinger stellt seit Hugo Capet (König 987–996) bis zum Jahr 1328 die französischen Könige. Sie stirbt aus, als der letzte Kapetinger Karl  IV. (König 1322–1328) ausschließlich Töchter hinterlässt. Der vorletzte Kapetinger, König Philipp  V. (König 1316–1322), hatte sich zur Geltung des Salischen Gesetzes bekannt, nach dem Frauen und auch deren männlichen Nachkommen die dynastische Nachfolge nicht zustand. 2. Nunmehr geht das französische Königtum auf eine Seitenlinie der ­Kapetinger über: das Haus Valois. Graf Karl I., Stammvater des Hauses Valois (1270–1325), ist einer von mehreren Söhnen des Kapetingers ­Philipps III. (König 1270–1285). Karls Sohn Philipp folgt im Jahr 1328 dem letzten Kapetinger Karl IV. in der französischen Königswürde und führt als Philipp VI. (König bis 1350) von Valois das „Haus Frankreich“, die Kapetinger, weiter. Philipp VI. war der Cousin des letzten Kapetingers Karls IV. 3. Der den Hundertjährigen Krieg aus­lösende Streit entsteht, als der Repräsentant des englisch-französischen Hauses Plantagenêt im Jahr 1337 ebenfalls Anspruch auf den französischen Thron erhebt: Eduard  III., ­König von England (1327–1377), ist ebenfalls mit den Kapetingern ­verwandt. Er ist der Sohn von Isabella (1295–1358), Tochter des Kapetingers Philipps IV., der vom Jahr 1268–1314 französischer König war. Isabella hatte den englischen König Eduard  II. geheiratet. Nach dem ­Salischen Gesetz stand ihrem Sohn als Nachkommen (nur) einer T ­ ochter des französischen Herrschers der Thron Frankreichs nicht zu. Eduard III. von England war ebenfalls Cousin, allerdings in weiblicher Linie, des letzten Kapetingers Karls IV.

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Sachverzeichnis Brief Jeannes vom 22. März 1429 an Heinrich VI. u.a. 30, 38, 71, 83, 109 f., 115, 150, 193 Burgund 19, 22, 25 ff., 34 f., 37, 38, 47, 48, 83, 140, 171, 177 Chinon, Prüfung Jeannes in 29 Codicillus des Magisters Dr. Guillaume Bouillé 178 f. Diffamierung 43, 45 f., 54, 58, 59, 63, 90, 91, 94, 106, 107, 111, 135, 176, 199 Eid de calumnia 16, 93, 187 Erlass Heinrichs VI. vom 3. Januar 1431 39, 42, 136, 160 Ermahnung (liebevolle) 12, 14, 17, 18, 20, 22, 80, 96, 111, 123, 124 ff., 143, 154, 166, 167, 168 Feuertod 41, 129, 133, 148, 152, 156, 161, 172 ff., 190, 198, 202, 203, 206 Folter 12, 17, 61, 110, 124, 129 ff. Friedhof der Abtei von Saint-Ouen 18, 20, 52, 143, 151 f. Gefängnis 15, 16, 17, 18, 38, 40, 50, 51, 52, 66, 73, 78, 86, 87, 112, 124, 127, 129, 134 ff., 142, 159, 160, 161, 162, 164, 176, 180, 198, 202 Gefangennahme Jeannes bei Compiégne 36, 37, 48, 54, 63, 74, 188, 195 Gewissen 51, 63, 79, 83, 87, 91, 104, 121, 131, 185, 200 f. Gotteslästerung 42, 67, 117, 129 Häresie 19, 39, 42, 44, 61, 66, 94, 97, 100, 111, 117, 118, 122, 126, 131, 136, 142, 147, 154, 156, 162, 165 f., 167, 168, 169, 170, 171, 172, 174, 175, 178, 182, 191, 193, 194, 195, 197, 199, 200, 204, 205 Heilige Katharina und Margareta 24, 68, 70, 71, 72, 76, 77, 78, 81, 83, 84, 85, 95, 97, 115, 149, 152, 160, 161 Heiligsprechung, Verfahren 204 f. Henker(skarren) 41, 133, 167, 171, 173

Abschwörung 12, 18, 20, 144, 145, 148, 149, 150, 151, 152, 153, 155, 160, 161, 162, 165, 166, 168, 169, 172, 174, 190, 191, 192, 193, 197, 198, 199, 202, 205 Ärzte 127, 137, 138, 139, 140, 151 Akten des Verurteilungsprozesses 39, 45, 48, 54, 56, 62, 89, 107, 108, 144, 151, 152, 160, 164, 176, 178, 188 Altmarkt von Rouen 18, 40, 41, 167, 174, 190 Amtshilfe 167 Anklagepunkte 11, 16, 56, 67, 74, 86, 88 f., 93 ff., 103 f., 108 ff., 113 ff., 129, 154, 181, 194, 197 Anwälte 5, 13, 20, 40, 46, 62, 88, 89, 90, 92, 99 f., 101, 109, 119, 184, 201 f. Armagnacs 25 d’Arras, Feldhauptmann 19, 35 f., 79 Artikel 13, 15, 16, 17, 55, 62 f., 86, 88, 91 ff., 103 f., 108 ff., 115, 122, 180, 185, 186, 187, 188, 189 f., 191, 192, 194, 195, 197, 200 f. Assertiones, zwölf 22, 86, 113 ff., 120 ff., 128 f., 131, 154 f., 158, 162, 174, 197 Autodafé 142 Beaurevoir, Sprung Jeannes vom Turm von 37, 67, 72, 78 f., 81, 96, 110, 115, 150, 155, 194 Beisitzer, gerichtliche 16, 17, 18, 19, 49, 50 f., 55, 56, 62, 66, 67, 73, 83, 86, 87, 88, 91, 93, 112, 113, 116, 117, 118, 119, 120, 123, 124, 126, 127, 130, 131, 135, 137, 138, 142 f., 151, 152, 158, 159, 162, 163, 164, 165, 167, 168, 170, 176, 178, 180, 192, 198 Beweisbeschluss 22, 113, 116 Bourguignons 25 Brief des Grafen Johann IV. von ­Armagnac vom 22. August 1429 an Jeanne 70, 83, 115, 150

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Sachverzeichnis Ordentliches Verfahren 15, 40, 46, 51, 52, 56, 88, 89, 90, 91, 92, 101, 108 Ordo 58, 59, 60, 64, 89, 91 Orléans, Sieg bei 7, 8, 19, 24, 27 ff., 31 ff., 36, 48, 71, 85, 120, 172, 194, 196, 202 Paris, Angriff auf 21, 34 ff., 77, 79, 82, 140, 172, 177 Poitiers, Prüfung und Untersuchung Jeannes in 19, 29, 30, 137 Promotor iustitiae (s. auch Staatsanwalt) 13, 14, 15, 16, 20, 40, 45, 46 f., 47, 55, 62, 63, 69, 87, 88 ff., 103, 112, 115, 133, 139 f., 152, 178, 180, 183, 184, 185 ff. Protokoll(führer) 13, 15, 20, 22, 49 f., 51, 52, 54, 56, 63, 64, 66, 68, 73, 78, 81, 86 ff., 88, 93, 98, 103, 112, 117, 121, 124, 130, 138, 145, 148, 149, 151, 152, 153, 159, 160, 162, 163, 164, 166, 169, 170, 178, 186 Prozessfähigkeit 63, 157 Prozessbevollmächtigte im Nichtigkeitsverfahren 185 Rouen, ärztliche Untersuchungen Jeannes in 137, 138, 139 f. Rückfall 12, 18, 40, 52, 136, 144, 148, 152, 159 ff., 172, 192, 193, 198 f., 202, 203 Sachverständige 12, 16, 22, 51, 113 ff., 127, 128, 129, 144, 145, 146 Sacre 31, 33, 34, 47, 85, 177, 178 Salisches Gesetz 24, 27, 209 Schismatiker 42, 94, 122, 146, 150, 168,172, 193, 199 Schwert von Saint-Catherine-de ­Fierbois 31, 70, 82, 95, 194 Spitzel 21, 137 f. Staatsanwalt 11, 45, 46, 92 „Stimmen“ Jeannes 10, 11, 24, 28, 29, 32, 40, 67, 68, 69, 70, 71, 72, 74, 75, 76, 77, 78, 79, 81, 83, 85 , 95, 96, 98, 108, 110, 111, 113, 115, 119, 130, 136, 141, 159, 160, 161, 162, 164, 168, 172, 191, 193, 198, 200, 201, 202, 205

Heringsschlacht 28, 31 Hundertjähriger Krieg 25 f., 28, 31, 36, 181, 207 Inaugenscheinsnahme 18, 40, 127, 162, 165 Informatio praeparatoria, s. Vorermittlungen Inquisitionsverfahren 6, 8, 36, 37, 39, 42 ff., 46 f., 50 f., 54, 58 ff., 63, 67, 74, 88, 89, 90, 100, 103, 107, 114, 138, 142 ff., 160, 166, 169 f., 200 Inquisitor 14, 15, 21, 37, 42, 48, 49, 73, 77, 79, 86, 88, 103, 114, 135, 136, 145, 148, 158, 167, 168, 170, 175, 178, 179, 180, 181, 182, 183, 184, 188, 189, 191 – ~en, Handbücher für 46, 74, 97, 100 f.,175 Jungfräulichkeit 5, 8, 19, 20, 24, 29, 30, 36, 37, 39, 41, 54, 71, 76, 77, 82, 83, 97, 104, 115, 125, 128, 137, 190, 192 Kalumnieneid 16, 58, 93, 187 Kirche, katholische 8, 25, 37, 41, 42, 44, 59, 60, 70, 81, 82, 85, 96, 104, 105, 108, 109, 111, 114, 116, 122, 125, 126, 127, 132, 136, 143, 145 f., 147, 148, 149 f., 154, 156, 158, 160, 164, 166, 167, 169, 171, 175, 191, 193, 198, 199, 201, 204, 205 f. – triumphierende 80, 82, 95, 104 Kläger im Nichtigkeitsverfahren 155, 157, 182 f., 188, 189 f., 192, 195 Litis contestatio, s. Streitbefestigung Männerkleidung 18, 28, 29, 34, 40, 42, 67, 69, 70, 76, 79, 80, 82, 87, 96, 108 f., 114, 115, 122, 129, 136, 150 f., 155, 158, 159 f., 162, 194 ff. Morgen der Hinrichtung 163 ff. Notare 13, 20, 22, 49, 50, 55, 56, 64, 86, 91, 100, 114, 117, 134, 138, 151, 160, 164, 169, 174, 178, 180, 181, 183, 184 Offizial(at) 40, 49, 119, 184 Offizialverfahren 40, 44, 45, 49, 90 f., 98, 102 f., 106 f., 108, 109, 113, 115, 125, 137

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Sachverzeichnis – vom 30. Mai 1431 12, 18, 22, 40, 163 ff. Urteilsvollzug 12, 18, 40 f., 153 ff., 169, 170 ff., 190, 193, 198 f. Verfahren, summarisches 90, 99 Vernehmungsrichter 13, 21, 49, 55, 64, 73, 76, 81, 104 Verteidigung 5, 6, 11, 12, 53, 59, 63, 99 ff., 109, 110, 158, 160, 199, 201 ff. Vorermittlungen 11, 13, 54 ff., 63, 67, 76, 113, 115, 181 Wahrheitseid 57 f., 59, 60 f., 63, 64, 65, 66, 89, 92, 93, 96, 110 Weltliche Gewalt 18, 19. 38, 39, 40, 41, 42, 47, 123, 162 f., 169, 170 ff., 179, 182, 205 Wiederaufnahme des Verfahrens 177, 179, 181, 183, 185 Zeichen 29f., 67, 75 ff., 98, 110 f., 114, 118, 119, 120, 122, 132, 150, 155, 164, 192

Streitbefestigung 11, 15, 16, 98, 104, 115 f. Tatsachen, notorische 42, 43, 55, 88 f., 90 ff., 94, 98, 106, 107, 108 ff., 111, 186 f. Troyes, Vertrag von 26 f., 47, 62, 177 Universität von Paris 17, 20, 22, 37, 47, 51, 56, 67, 73, 113, 114, 116, 120, 121, 122, 123, 131, 132, 145, 175, 178, 184, 197 Untersuchung des Kardinals d‘ Estouteville 179 ff., 184 Unterwerfung unter die Kirche 80, 82, 95, 104 f., 108, 112, 114, 115, 122, 125, 129 f., 131, 132, 143, 144, 146, 199 Urteil, erstes vom 24. Mai 1431 12, 142 ff., 162, 198, 202 – zweites vom 24. Mai 1431 12, 18, 20, 40, 88, 145, 150, 153 ff., 162, 168, 191, 192, 193, 194, 195, 196, 197, 198, 202, 203

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Leseprobe aus Streck/Rieck, St. Ivo (1247–1303)

(Informationen s. hintere Umschlagklappe)

Erster Teil Ein heiliger Jurist Sanctus Ivo erat Brito Advocatus et non latro Res miranda populo.

Der Heilige Ivo aus der Bretagne war Anwalt und doch kein Straßenräuber – eine Sache, die dem Volk wie ein Wunder vorkommt.

An der Wand manch bretonischer Kirche liest der Reisende diesen Dreizeiler, dessen Hintergrund sich nicht ohne weiteres erschließt. Seine Geschichte soll hier erzählt werden.

Aufbruch Um das Jahr 1261 machte sich ein junger Franzose aus dem Herzogtum Bretagne auf nach Paris, um dort ein Studium zu beginnen. Für seine Heimat hatte vom Jahr 1213 an eine Zeit tiefgreifender Wandlungen begonnen: Das Land wurde im Jahr 1214 nach der Schlacht von Bouvines in der Grafschaft Flandern aus der englischen Lehnsherrschaft befreit und gelangte als unabhängiges Herzogtum an das französische Herrscherhaus der Capetinger. Der Franzose Pierre I. Mauclerc („schlechter Geistlicher“) de Dreux (gest. 1250), ein Vetter des französischen Königs, heiratete in die bretonische Herzogsfamilie ein und begründete so in der Bretagne eine neue Dynastie. Insbesondere unter der von Sparsamkeit und Besonnenheit geprägten Herrschaft von Pierres Sohn Herzog Jean I. le Roux („der Rothaarige“; 1237–1286), einem vorzüglichen Verwaltungsmann, entstand die Bretagne in ihrer spätmittelalterlichen Gestalt. Jeans Tatkraft stärkte Ansehen und Autorität der bretonischen Herzöge, die sich in der Folge bei aller Abhängigkeit von dem französi220

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schen König ihre Eigenständigkeit bewahrten: Für mehr als ein Jahrhundert kehrte Frieden und Wohlstand im Lande ein. In diese glückliche Epoche fiel die Lebenszeit des Mannes, von dem wir erzählen wollen. Die Bretonen sind seit alters her ein besonders frommes Volk. Im 5. Jahrhundert kamen christianisierte Kelten aus Britannien in das Land, auf der Flucht vor den Angeln und Sachsen. Die Kelten lösten die römische Kultur ab, die die Bretagne seit der Eroberung durch Julius Cäsar (100– 44 v. Chr.) um 56 v. Chr. über Jahrhunderte geprägt hatte. Weit vor den Römern, vom 6. bis zum 4. Jahrhundert, waren schon einmal Kelten in das Land eingewandert und hatten der Halbinsel den Namen „Armorika/Meerland” gegeben. Ihre gebildeten Priester (Druiden) besaßen im Volk starken Einfluss, so dass hier ein Ursprung der bretonischen Frömmigkeit zu suchen sein mag. Die zweite Welle keltischer Einwanderer veränderte die Armorika tiefgreifend: Das Christentum breitete sich aus, die keltische Sprache belebte sich wieder, die Halbinsel wurde nun „Bretagne/Kleines Britannien“ genannt. Die Führer der Kelten, aber auch viele Mönche und Eremiten von charismatischer Persönlichkeit wurden später von den Bretonen als Heilige verehrt (z. B. St-Malo oder St-Brieuc). So hat nahezu jede Gemeinde ihren eigenen Heiligen; 7777 Heilige sollen in der Bretagne verehrt werden, mag auch der Papst nur die wenigsten anerkennen. Unser junger Bretone wurde zwischen 1247 und 1253 geboren, sein genaues Geburtsjahr kennen wir nicht. Adlig von Herkunft wuchs er auf dem Herrensitz „Kermartin“, bretonisch für: „Haus Martin“, in dem Dörfchen Minihy-Tréguier auf, nordwestlich von St. Brieuc im heutigen Departement Côte-du-Nord gelegen (siehe die Landkarte auf Seite 20/21). Seine Mutter hatte geträumt, ihr Sohn werde einmal ein Heiliger werden, und ihm deshalb nach dem alten Lokalheiligen und Schutzpatron „Ivy” den Namen Ivo gegeben, auf französisch: Yves, im altbretonischen Dialekt Trécorien: Erwan. Um eine Verwechslung mit einem anderen, zweihundert Jahre jüngeren Ivo, dem großen Kirchenrechtler Ivo von Chartres (1014–1116), zu vermeiden, nannte man unseren Ivo später mit zweitem Namen nach seinem Vater Hélory, manchmal auch nach seinem Lebens- und Wirkensort Ivo von Tréguier oder Kermartin. Seiner adligen Abstammung entsprechend wäre ihm zu dieser Zeit die Ritterlaufbahn bestimmt gewesen, doch war der Junge wissenschaftlich begabt 221

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und interessiert, so dass seine Mutter ihn durch einen jungen Privatlehrer im Lesen und Schreiben sowie im Lateinischen, der Gelehrtensprache des mittelalterlichen Europa, unterrichten ließ. Die Entscheidung für ein Studium bedeutete für Ivo, seine Heimat verlassen zu müssen, denn die Bretagne besaß keine Universität. Es dürfte mit dem Ruhm der Sorbonne zusammen gehangen haben, dass seine Wahl auf Paris fiel. Daneben mag eine Rolle gespielt haben, dass auch sein Lehrer dort ein Studium beginnen wollte, so dass die beiden jungen Männer sich gemeinsam auf die Reise machten. Wir wissen nicht, ob der junge Adlige ein Pferd oder Pferd und Wagen für die Reise gewählt hat; üblicherweise reiste man zu Fuß. Für die Bewältigung der etwa 450 km nach Paris dürften die beiden Männer 12 bis 14 Tagesmärsche benötigt haben. Ivo musste sich bei seiner Immatrikulation noch nicht auf ein Studienfach festlegen. Die Ausbildung an einer mittelalterlichen Universität begann für alle mit dem propädeutischen Grundstudium an der Artistenfakultät, welches das methodische Rüstzeug für das anschließende Hauptstudium – der Theologie, Rechtswissenschaft oder Medizin – ­vermittelte. Die Artes liberales, die „Sieben freien Künste”, hatte das Mittelalter von der Antike ererbt. Das sprachwissenschaftliche Trivium/ Dreiweg lehrte die Fächer Grammatik, Rhetorik und Dialektik, das anschließende mathematischnaturwissenschaftliche Quadruvium/Vierweg die Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie. Zur Immatrikulation an der Artistenfakultät hatte man einen Eid zu schwören. „Vor dem 14. Lebensjahr soll niemand zum Schwören gezwungen werden“, hieß es in den Bestimmungen des Kirchenrechts, die für die Pariser Universität maßgeblich waren. So können wir Ivos Alter in etwa bestimmen. Er bezog Quartier in der rue du Fouarre, der Strohstraße, wo die Artistenfakultät ihren Sitz hatte. Sie soll nach den Strohballen benannt gewesen sein, auf denen die Studenten während der Vorlesungen saßen. Der junge Herr Ivo gehörte nicht zu den Armen unter den Pariser Studenten, doch teilte er, wie damals üblich, ein Zimmer mit einem Kommilitonen. Wie die anderen Bretonen in Paris wird auch er in einem der besonderen Häuser gewohnt haben, die den Landeskindern zur Verfügung standen. Der König war an den Gästen aus der Bretagne sehr interessiert, denn sie entstammten den führenden Familien des 222

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Landes, und ihr Studium in der Hauptstadt gab ihm die Möglichkeit, sie kennen zu lernen, um den aufstrebenden Nachwuchs womöglich später in seinen Dienst zu nehmen. Die Welt der mittelalterlichen Studenten war eine durch und durch männliche: Dass dem weiblichen Geschlecht die Universitäten noch bis in das 19. Jahrhundert grundsätzlich verschlossen waren, hatte seinen Grund keineswegs in den kirchlichen Bindungen der Universitäten, denn auch deren zunehmende Entklerikalisierung änderte daran nichts. Man befürchtete vielmehr studentische Promiskuität und eine Entfremdung der Frauen von ihren häuslichen Aufgaben. Die Rechtslehre sprach den Frauen aus den gleichen Gründen wie den Juden das Recht auf Promotion ab: Man hielt den Doktortitel mit seinen Privilegien, Würden und Rechten für unvereinbar mit dem weiblichen Status. Allerdings konnte es auch Ausnahmen von dieser Regel geben, wenn eine Dame von Stand studieren wollte. Vor allem im südlichen Europa, insbesondere im Italien des 14. und 15. Jahrhunderts, pflegten adlige wie bürgerliche herrschaftliche Häuser ihre Söhne und Töchter gleicher­ maßen von Privat- oder berühmten Universitätslehrern erziehen zu ­lassen. Manche dieser Frauen erwarb eine außergewöhnliche Bildung und konnte als „Standesstudentin“ in universitären Kreisen verkehren. Héloise (1100–1164) soll in Paris die Artes studiert haben, als sie Schülerin und Geliebte des Bretonen Peter Abaelard (1079–1142) wurde. Dies war jedoch nur möglich, weil ihr Onkel, unter dessen Obhut sie stand, Kirchenrechtler war und ihr den Zugang zum Studium vermittelt hatte. Novella Andreae (1312–1352), Tochter des berühmten und reichen Bologneser Professors für Kirchenrecht Johannes Andreae (um 1270–1348) und selbst eine hervorragende Kirchenrechtlerin, vertrat ihren Vater in den Vorlesungen, wenn dieser krank war. Einem zeitgenössischen Bericht zufolge las sie hinter einem Vorhang, weil ihre auffallende Schönheit die ausschließlich männlichen Studenten sonst vom Vortrag abgelenkt hätte. Man bescheinigte ihr „männlichen Scharfsinn“ – das höchste Lob, das einer Frau in der Wissenschaft damals gezollt werden konnte. Dennoch bestätigt das männliche Gepräge wissenschaftlich erfolgreicher Frauen nur, dass Frauenbildung an den Universitäten nicht zeitgemäß war.

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Die „Nationen“ Die Erstsemester standen zu Ivos Zeiten, obwohl fremd in einer neuen Stadt und sozialen Umgebung, doch nicht vereinsamt da. Mit ihrem Eintritt in die Universität gehörten sie ohne weiteres einer der nationes/ Nationen an, landsmannschaftlichen studentischen Zusammenschlüssen, die die Organisation der mittelalterlichen Universität prägten. Die Zugehörigkeit zu einer Nation bestimmten die Muttersprache, der Geburtsort, die Kulturgemeinschaft und die gemeinsame Geschichte. Die Universitätsnationen waren keine national gesinnten Gebilde oder Vermittler nationaler Ideologien im heutigen Verständnis. Sie waren soziale Zweckgemeinschaften an den fremden Hochschulorten, deren Rolle und Bedeutung sich von einer Universität zur anderen unterschieden. Ihre Funktionen reichten von der Fürsorge für die Mitglieder bis hin zur Wahl des Rektors und der Mitgliedschaft in der Universitätsleitung. Die Nationen besaßen eigene Führungs- und Verwaltungskräfte, führten Siegel, Matrikeln und einen Haushalt, sorgten für Disziplin, organisierten Aufsichten und Schulungskurse, mieteten Häuser. Sie feierten eigene Feste und Gottesdienste zu Ehren ihres heiligen Patrons. Ihren Mitgliedern standen sie bei Gefahr, in Not oder Krankheit bei und sorgten im Todesfall für ein würdiges Begräbnis. Dementsprechend zahlte man für die Zugehörigkeit zur Nation statusgerechte Gebühren. In Paris gab es nur an der Fakultät der Artes vier Nationen, und zwar entsprechend der geographischen Herkunft der Studenten: die französische (Île de France, Südfrankreich, Italien, Spanien, Portugal, Griechenland und Kleinasien), die pikardische (Nordostfrankreich und die alten Niederlande bis zur Maas), die normannische (die Kirchenprovinz von Rouen) und die englische, in der die übrigen Länder Europas vertreten waren. Die Bretagne stellte innerhalb der normannischen Nation eine „Provinz“ dar. Ivo wird ihr angehört haben. …

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