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German Pages 577 [578] Year 2017
Cilli Kasper-Holtkotte Deutschland in Ägypten
Cilli Kasper-Holtkotte
Deutschland in Ägypten
Orientalistische Netzwerke, Judenverfolgung und das Leben der Frankfurter Jüdin Mimi Borchardt
ISBN 978-3-11-052361-4 e-ISBN (PDF) 978-3-11-052612-7 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-052366-9 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Bildnachweis: Walther Uppenkamp, Mimi Borchardt und Ludwig Borchardt in Ägypten (v.l.n.r.), ca. 1937, Quelle: Gisela Adämmer Satz: Konvertus, Haarlem Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort Und was ist Zufall anders als der rohe Stein, der Leben annimmt unter Bildners Hand? Den Zufall gibt die Vorsehung – zum Zwecke muss ihn der Mensch gestalten. (Friedrich Schiller „Don Carlos“)
Als ich im Sommer 2009 in Kairo den seit 1939 dort weitgehend unberührt lagernden Nachlass Mimi Borchardts (1877–1948) entdeckte, versetzte mich als erstes sein enormer Umfang in Erstaunen und weckte meine Neugier, auch weil die Nachlasserin, wie ich in Erfahrung brachte, unweit meines Frankfurter Wohnhauses und gegenüber dem Kinderhort meiner Töchter aufgewachsen, mir die Villa im Frankfurter Westend bekannt war. Darüber hinaus konnte ich mit dem Namen Mimi Borchardt kaum etwas verbinden, trotz meines mehrjährigen Lebens in Kairo. Doch schien die Vielzahl der Briefe spannende Einblicke zu ermöglichen in das Leben einer jüdischen Frankfurter Migrantin in Ägypten. Tatsächlich sollte mich die Korrespondenz schließlich in ganz unerwartete, mir als auf Jüdische Geschichte und Migration (Frühe Neuzeit bis 20. Jahrhundert) spezialisierte Historikerin meist unbekannte Welten führen. Dies ahnte ich erst nach der Lektüre einiger Briefe und erster Recherchen, die mich den Zufallsfund als Verpflichtung sehen ließen, die darin aufscheinende Welt vor dem Vergessen zu bewahren. Mimi Borchardts Wunsch würde dies entsprochen haben, wie mir der mit ihr vertraut gewesene Fortunatus Schnyder (-Rubensohn) und dessen Sohn Thomas versicherten. Bis ich mich überhaupt den Briefen widmen konnte, waren zuvor etliche Hürden zu nehmen. Der Nachlass war noch gänzlich unsortiert, Manches noch in Päckchen und Paketen verschnürt, sodass der Zugang nicht gestattet war. Das Schweizerische Institut für Ägyptische Bauforschung und Altertumskunde (SIK), wo sich der Nachlass befindet, formulierte als Zugangsvoraussetzung die vertragliche Zusicherung, aus der Sammlung unentgeltlich ein Archiv einschließlich Datenbank und Findbuch anzufertigen. Diese Aufgabe habe ich ab Herbst 2009 übernommen und im März 2010 abgeschlossen, nachdem mich die Archivarin Eva Haberkorn (Hessisches Staatsarchiv Darmstadt) und der Archivar Dr. Peter Haberkorn (Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden) zwei Wochen lang in Kairo in die Geheimnisse der Archivarbeit eingeführt hatten. Den beiden gilt mein ganz besonderer Dank für ihr Engagement, ihre Geduld und Kooperationsbereitschaft, ebenso der Hessischen Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen – vor allem Professor Dr. Friedrich Battenberg -, die spontan die Kosten der Archivarreise übernahm. Um Einblick in die mir fremde Welt deutscher und internationaler Ägyptologen gewinnen zu können, bedurfte es des Rats und der Unterstützung etlicher DOI 10.1515/9783110526127-202
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Vorwort
Personen. Erste Hinweise gaben Dr. Cornelius von Pilgrim (Direktor des SIK) und Beatrix von Pilgrim (SIK). Dr. Susanne Voss (Berlin) und Prof. Dr. Dietrich Raue (Ägyptisches Museum Leipzig, ÄMUL) leisteten wichtige Vermittlungsdienste. Ihnen sei für die Hilfen besonders bei meinen ersten Schritten auf fremdem Terrain gedankt. Prof. Raue und Frau Kerstin Seidel (Ägyptologin am ÄMUL) bin ich verpflichtet für ihre oft unbürokratischen Hilfen während meiner Archivarbeiten im ÄMUL und die Zurverfügungstellung fotografischen Materials. Dieselbe Zuvorkommenheit begegnete mir im Deutschen Archäologischen Institut Kairo (DAIK), vor allem seitens Dr. Daniel Polz (stellvertretender Direktor und Ägyptologe) und Frau Isolde Lehnert (Ägyptologin und Bibliothekarin). Frau Lehnert machte mir nicht nur archivisches Material zugänglich, sondern mich auch auf mir unbekanntes aufmerksam. Von ebenso großer Bedeutung und eine Quelle der Inspiration waren unsere zahlreichen Gespräche, Verbesserungs- und Änderungsvorschläge, auch die Ermutigungen. Unsere wunderbare Zusammenarbeit sehe ich als einen der schönsten Nebeneffekte meiner Recherchen. Mit Freude denke ich an meine Arbeiten im Griffith Institute Oxford (GIO) zurück. Trotz meines dort ungewohnten Themas zeigten die MitarbeiterInnen großes Interesse und noch größere Hilfsbereitschaft. Der nimmermüde Einsatz von Dr. Francisco Bosch-Puche, Frau Elizabeth Fleming, Prof. Richard Parkinson, Dr. Vincent Razanajao und Frau Cat Warsi hat mitunter unmöglich Erscheinendes schließlich doch möglich gemacht. Meine Arbeiten in diversen Colleges in Oxford, im Pitt Rivers Museum, bei Oxford University Press und in der Bodleian Library verliefen wegen der Unterstützungsbereitschaft der jeweiligen MitarbeiterInnen ebenso erfreulich wie ergiebig. Allen, die mich in Oxford unterstützten, gilt mein Dank, vor allem Prof. Henry Mayr-Harting, der sein soziales Netzwerk aktivierte, seine eigene Biografie einbrachte und unermüdliches Interesse zeigte. Freundschaftlicherweise führte Prof. Richard Wayne mich in den Senior Common Room von Christ Church (College) ein und schuf damit Kontaktmöglichkeiten. Zugang zum im Archiv des Jüdischen Museums Berlin lagernden Nachlass von Otto Rubensohn gewährte mir Dr. Aubrey Pomerance, großzügig stellte er mir zudem fotografisches Material zur Verfügung. Dr. Gerhard Keiper (Politisches Archiv Auswärtiges Amt Berlin, PA AA) leistete zielführende Recherchehilfen und sorgte ebenfalls für fotografisches Material. Auf solches des SIK musste ich angesichts der Preisgestaltung verzichten. Negative Reaktionen auf briefliche oder mündliche Anfragen habe ich nie erfahren, im Gegenteil. Mit großer Offenheit und ausführlich berichteten mir Dr. Walter Felipe Wreszinski (Schweiz), Dr. Arthur Schlesinger (New York), Prof. Thomas Güterbock (Charlottesville/USA) und Familie Goldscheider (Wien). Ganz besonders verpflichtet fühle ich mich der Großfamilie Rothschild in England. Vor allem George und John öffneten mir ihre Türen, vertrauensvoll
Vorwort
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darauf bauend, dass ich Licht ins partielle Dunkel ihrer Familiengeschichte, die auch die Geschichte Georg Hermanns und seines Bruders Ludwig Borchardt ist, bringen würde. Sehr zu schätzen wusste und weiß ich die warmherzige Aufnahme und die Bereitschaft, mir Einblick in ihren reichen Lebenserfahrungsschatz zu gewähren, wie sie mir Frau Gisela Adämmer-Uppenkamp (Hamburg), Frau Eva Schulz-Peinert (Basel), Frau Gabriele Schuster-Karig (Singen) und ihr Bruder, der Berliner Ägyptologe Dr. Jochen Selim Karig, entgegenbrachten. Wichtige Kontakte in Kairo, u. a. zur Jüdischen Gemeinde, vermittelte mir freundschaftlicher- und dankenswerterweise Frau Hebba Bakri, offerierte mir auch stets eine Bleibe in Kairo. Diese Gastfreundschaft boten mir ebenso das SIK und Frau Lehnert. Familie Laimer öffnete mir in großzügiger Weise ihr Heim „Lindenhof“ in Meran und versorgte mich mit wertvollen Informationen. Die Möglichkeit, bereits in der Frühphase erste Ergebnisse im Rahmen der 2011 im Liebieg Museum (Frankfurt/M.) stattfindenden Sahuré Ausstellung zu präsentieren, bot mir Prof. Dr. Vinzenz Brinkmann. Für die kritische Durchsicht des Textes, ausführliche Diskussionen und zahlreiche weiterführende Hinweise habe ich dem Berliner Ägyptologen Dr. Thomas Gertzen zu danken. Meine Dankesliste könnte noch um einige Personen erweitert werden, manche habe ich vermutlich vergessen zu erwähnen. Sie mögen mir verzeihen und sich dennoch meiner Dankbarkeit gewiss ein. Meine Töchter Elena und Babette haben mit ihren kritischen Kommentaren etliche Unebenheiten zu glätten und Ungereimtheiten zu mildern helfen. An letzter Stelle erwähnt, aber an erster Stelle zu nennen ist mein Mäzen – mein Ehemann Andreas Holtkotte. Auch wenn er seine Unterstützung für selbstverständlich hält, ist sie es aus meiner Sicht keineswegs. Ohne sein Mäzenatentum wäre diese Untersuchung unmöglich gewesen. Möge mein Buch dazu beitragen, eine weitgehend vergessene Welt ins Bewusstsein zu heben und, angeregt vom Mimi Borchardt Nachlass, weitere Forschungen zu inspirieren,1 parallel zu jenen, die ich in den nächsten Jahren durchführen werde.2 Nairobi, Dezember 2016.
1 Beispielsweise zu international operierenden beruflich-sozialen Netzwerken und deren politischen Bedeutung jenseits der Wissenschaft. 2 In Zusammenarbeit mit dem DAI Kairo ist eine Studie zur ‚deutschen Kolonie‘ in Kairo geplant. Des Weiteren ist mein Vorhaben, eine Biografie der Architektin, Kostüm- und Bühnenbildnerin Else Oppler-Legband vorzulegen.
Inhalt Einleitung 1
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Im Sonnenland – Prägungen und Prägendes
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54 2 Erzwungene Heimkehr, 1914–1922/23 2.1 Ägyptendeutsche und das Ehepaar Borchardt 2.2 Der Krieg und die Ägyptologen 98 2.2.1 Die Deutschen 99 2.2.2 Die Internationalen 118 2.3 Kriegsfolgen 133
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148 Rückkehr nach Ägypten 3 3.1 Die ‚deutsche Nachkriegs-Kolonie‘ 154 3.1.1 Vereins- und Gemeinschaftsleben 178 3.1.2 Alltägliches 190 3.2 Ägyptologen vor Ort – Steindorffs Erkundungsreise, 1925 209 4 Die Zäsur – 1933 und die Folgen 4.1 Nationalsozialismus am Nil 210 4.2 Ägyptendeutsche unterm Hakenkreuz 215 4.3 Der ‚Prozess‘ 238 4.4 Juden und Jüdinnen 256 4.4.1 Deutschsprachige jüdischer Herkunft 269 4.4.2 Bedrohte Lebenswelt und Gegenwehr 277 4.4.3 Hilfe für Nahestehende – Beispiel Borchardt 304 4.4.4 Unterstützung und Gegenleistung 341 4.5 Ägyptologisch-orientalistische Netzwerke 380 4.5.1 Borchardts Institut 407 4.5.2 Wirklichkeiten des Exils – Beispiel Oxford 429 4.5.3 Steindorffs Flucht 455 5
Nach 1945 – vergessen und vergeben?
Nachwort
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Abkürzungen
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Inhalt
Abbildungsverzeichnis Quellen
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Literaturverzeichnis Register
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Einleitung Manchmal meine ich vollkommen im Traum zu sein – man muss doch erwachen, aus all dem Fürchterlichen, es kann doch nicht Wirklichkeit sein. Manchmal wünsche ich, ich müsste äußerlich mehr handeln, wäre dazu gezwungen. (…) Nur nicht passiv sein müssen, das ist das Zermürbendste. (Mimi Borchardt an Else Oppler-Legband, 22. November und 12. April 1938)
An das Ägypten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts koppeln sich spontan Bilder von Altertümern und Geheimnissen des Orients, an Entdecker und Forscher, Abenteurer und von Ägyptomanie erfasste Reisende. Begeistert berichteten sie von der Überfülle an Eindrücken, waren davon ähnlich wie der Dichter Rainer Maria Rilke mitunter sogar überfordert, aber auch beflügelt und inspiriert, suchten fortan die Nähe zu Ägyptologen.1 Das zeitgenössische Ägypten und seine Bevölkerung tauchten dabei nur wenig und selten wirklichkeitsnah auf, schienen von untergeordnetem Interesse. Das moderne Ägypten aber hatte ein anderes, nicht pharaonisch geprägtes Gesicht, auch ein deutsches, vornehmlich mit Städten wie Frankfurt, Kassel, Hannover und Berlin in Verbindung stehendes. Allenfalls ägyptologisch orientierte Darstellungen erwähnen dies, wenngleich eher am Rande. Noch viel weniger wird das Land am Nil als eines jener identifiziert, auf das sich fern jeder Orientromantik und -verklärung die Hoffnung zahlreicher Zuflucht suchenden Menschen richtete, die dabei nicht zuletzt auf die Unterstützung durch Ägyptologen und Orientalisten bauten. Dieser Blick auf Ägypten und Deutsch-Ägypten ist unüblich. In besonderer Weise freigelegt ist er durch den seit 1939 in Kairo lagernden, hier erstmals zur Gänze ausgewerteten brieflichen Nachlass von Mimi Borchardt. Er darf zu jenen von herausragender Bedeutung gezählt werden. Um dies ermessen zu können, bedarf es zunächst der Klärung, um wen es sich bei der Nachlasserin handelte, die nicht zuletzt auch entscheidende Weichen für die deutsche Ägyptologie stellte, was ebenso vergessen ist wie die Bedeutung ihres darüber hinaus gehenden, langfristige Folgen zeitigenden Handelns. In die Wiege gelegt war ihr Vieles, eine Rolle in der Ägyptologie jedoch nicht, auch nicht, dass sie von 1903 bis 1939 den Großteil ihres Lebens in Kairo bzw.
1 In Verbindung stand Rilke mit verschiedenen Ägyptologen, etwa Georg Steindorff (Leipzig), Adolf Erman (Berlin) und Friedrich v. Bissing (München). Reise nach Ägypten, 2000, S. 61, 83. Thomas Mann informierte sich in den späten 1920er Jahren bei Wilhelm Spiegelberg (München) und ließ sich von ihm in Ägypten führen. DOI 10.1515/9783110526127-001
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Einleitung
Ägypten zubringen sollte, bzw. changierend zwischen ihrem Elternhaus in Frankfurt, ihrer Wohnung in Berlin und ihrer zweiten Heimat im Orient. Als sie im Juni 1939 aus Ägypten ausreiste, um wie üblich die Sommermonate in Europa zu verbringen, sollte dies zugleich ihr definitiver Abschied von ihrer zweiten Heimat sein. Ihr Kairener Wohnhaus sollte sie nie wiedersehen, musste dort ihre gesamte Habe zurücklassen, auch den Großteil ihrer sich über Jahrzehnte erstreckenden Korrespondenz. Eingelagert in Kisten, verschnürt in Päckchen und Pakete, überstand diese die Zeit bis ins erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts unbeschadet und unberührt, aber auch weitgehend unbeachtet. Bis zu ihrer Eheschließung mit dem Berliner Ägyptologen Ludwig Borchardt im Frühsommer 1903 lebte die 1877 geborene Emilie, genannt Mimi, zusammen mit ihren Eltern Eduard und Ida Cohen sowie ihrer Schwester Sophie im vornehmen Frankfurter Westend. Die Familie gehörte zur großbürgerlichen Prominenz der Stadt, der Judenschaft sowieso, und den bedeutendsten Mäzenen. In direkter Linie konnte Eduard Cohen seine Herkunft bis auf den Hannoveraner Hoffaktoren Leffmann Behrens zurückverfolgen, auch verweisen auf seinen angesehenen Hannoveraner Schwager, den vor allem als Synagogenbauer berühmt gewordenen Edwin Oppler. Mimis mütterliche Seite hatte ein anderes Profil, leitete sich von Pfälzer Landjuden ab, die Mitte des 19. Jahrhunderts um ihrer Armut zu entkommen in die USA emigrierten. Als wohlhabender Investmentbanker, Mitbegründer von „Kuhn Loeb & Company“, kehrte Mimis Großvater Abraham Kuhn im späten 19. Jahrhundert nach Deutschland zurück, ließ sich in Frankfurt nieder und ermöglichte seiner Tochter Ida, ihrem Ehemann Eduard Cohen und den Enkeltöchtern ein Leben in finanzieller Sorglosigkeit. Die Finanzgeschäfte in New York wusste er bei dem in das Bankunternehmen eingetretenen und in die Familie eingeheirateten Frankfurter Jakob Schiff in besten Händen. Besonders intensive Beziehungen unterhielt Familie Cohen zu den ebenfalls als herausragende Mäzene Frankfurts bekannten Familien Hallgarten, Merton und Oppenheim. Emma Neißer-Hallgarten, Stefanie und Alfred Oppenheim gehörten zum engsten Freundeskreis Mimis; die Nähe vor allem zu Emma Neißer-Hallgarten hielt ihr Leben lang. Zwar war Mimi Borchardt von Geburt an an gesicherten Wohlstand gewöhnt, doch hatte er laut Vorgabe ihrer Eltern an wohltätiges Handeln sowohl zugunsten sozialer als auch kultureller Einrichtungen gekoppelt zu sein. Entsprechend richteten Eduard und Ida Cohen ihr Leben aus. Darüber hinaus setzte sich der als Kunstmaler aktive Familienvater sehr für die künstlerische und kulturelle Bildung seiner Töchter ein. Mimi Borchardt, die stets eng mit Frankfurt verbunden blieb, fühlte sich den von ihren Eltern tradierten und gelebten Werten verpflichtet, sogar so sehr, dass sie ab 1933 ihre Zuwendungen an jüdische Einrichtungen der Stadt intensivierte und 1934 ihr Elternhaus, eine überaus wertvolle Immobilie, der Jüdischen Gemeinde als Schenkung übereignete.
Einleitung
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In die Ehe brachte Mimi Borchardt mithin nicht nur Finanzkapital ein. Die in ihrem Elternhaus geprägten Lebensideale und ihre weitreichenden sozialen Beziehungen bestimmten ab 1903 ihr Leben und Handeln in Ägypten, prädestinierten sie geradezu, eine Mittlerin zwischen den Welten des Okzidents und des Orients, also auch zwischen Frankfurt und Ägypten, zu werden. Die von ihren Eltern formulierten und vorgelebten Ideale brachte sie in die deutsche Gesellschaft Kairos ein, wohltätige und kulturfördernde Aktivitäten wurden zu einem wesentlichen Kern ihres Lebens und machten sie bis 1933 zu einer der prägendsten Persönlichkeiten deutscher Vereine und Institutionen. Andererseits bildet ihr Leben zwischen den verschiedenen Welten modellhaft die weibliche Sicht auf den Orient ab. All dies spiegelt sich in den nachgelassenen Briefen, die die Zeitspanne vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis 1939 und einen Raum von Europa über Nord-Amerika und Nord Afrika umspannen. Dennoch wäre es eine Verkürzung, sich lediglich auf die Biografie Mimi Borchardts zu konzentrieren, wenngleich sich trotz fehlender Selbstzeugnisse etwa in Form von Briefen, eigenen Aufzeichnungen oder Tagebüchern aus den an sie gerichteten Schreiben ein Persönlichkeitsbild herausfiltern ließe. Tatsächlich eröffnet der Nachlass weit umfassendere Möglichkeiten. Er kann gelten als das ‚Who-is-Who‘ des Frankfurter jüdischen und nichtjüdischen Bildungs- und Großbürgertums, der über Deutschland hinausreichenden zeitgenössischen Polit- und Kunst-Szene sowie vor allem der internationalen Ägyptologen- und Orientalistenschaft, womit sich wissenschaftlich mit dem Orient beschäftigende Personen gemeint sind. Die von Mimi Borchardt intensiv gepflegten Beziehungen waren nicht nur Resultat ihrer weitläufigen Verwandtschaft und eines entsprechenden Freundeskreises, sondern ebenso ihres Lebens und Handels in ihrer Wahlheimat Ägypten. Dies nämlich brachte sie ebenso wie ihren Ehemann in Verbindung vor allem mit ägyptologisch orientierten oder interessierten Kreisen sowie gleichzeitig mit der deutschen Migrantengemeinde. Keineswegs waren diese Beziehungen in der Hauptsache beruflich motiviert, nicht einmal jene zu Ägyptologen und Orientalisten. Wie die Korrespondenz erhellt, entstanden gerade aus den anfänglich beruflich bedingten Verbindungen vielfach freundschaftliche; es war ein soziales Netzwerk internationaler Prägung. Nun ist es zwar durchaus spannend, die sich zwischen Europa, den USA und Ägypten entwickelnden sehr facettenreichen Beziehungsgefüge in ihren Verästelungen und auch in ihren Konfliktzonen nachzuverfolgen, doch dies allein macht die Brisanz der Korrespondenz nicht aus. Diese liegt vielmehr darin, dass sie eine andere Sicht besonders auf die Ägyptologen- und Orientalistenschaft erlaubt, womit zugleich ein bisher unbekanntes Kapitel aufgeschlagen wird. Nicht das wissenschaftliche Handeln der zu einem international aufgestellten Beziehungs-
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Einleitung
netz gehörenden Personen steht im Vordergrund, sondern die politische, interkulturelle und soziale Rolle, die sie in Zeiten von Krisen und vor allem während der Zeit des Nationalsozialismus spielten. Dass dem ägyptologisch-orientalistisch orientierten Netzwerk eine außerordentliche Bedeutung zukam, kann angesichts allein des von Mimi Borchardt hinterlassenen Briefwechsels kaum angezweifelt werden. Dennoch ist dazu wenig und kaum Umfassendes bekannt, vor allem nicht zu seiner Funktion ab 1933. Im Fokus stehen mithin all jene Beziehungsgefüge, die zum einen sowohl das Ehepaar Borchardt als auch andere mit Ägypten in Verbindung stehende Deutsche jüdischer Herkunft umrankten, in denen sie agierten und denen zum andern mit der Machtübergabe an die Nationalsozialisten veränderte Rollen zukamen. Männliche Akteure werden dabei ebenso in den Blick genommen wie weibliche, denen üblicherweise über ihre Stellung als Ehefrauen bzw. Begleiterinnen hinaus kaum Bedeutung beigemessen wird. Ein Zufallsprodukt ist diese Schwerpunktsetzung nicht; sie ergibt sich fast zwingend daraus, dass der Großteil der an Mimi Borchardt gerichteten Briefe aus den Jahren ab 1933 stammt und einen andern Charakter aufweist als die davorliegende Korrespondenz. Eine Vielzahl mehr oder weniger dringlich formulierter Hilfegesuche von Verwandten, Bekannten und auch gänzlich Unbekannten traf in Kairo ein, daneben Schreiben von nicht-deutschen Ägyptologen und Orientalisten über mögliche Unterstützungsmaßnahmen oder von ausgegrenzten und verfolgten deutschen Ägyptologen/Orientalisten. Um die Zusammenhänge nach 1933 begreifen zu können, muss ihre Vorgeschichte und damit ein breites Themenspektrum aufgerollt werden, womit zugleich Forschungsneuland betreten wird. Miteinbezogen sind außer der Geschichte der Juden Frankfurts jene Ägyptens, seiner jüdischen Bevölkerung und deutschen Migrantengemeinde, ebenso die deutsche Außenpolitik in Ägypten, die Entwicklung der deutschen und internationalen Ägyptologie sowie schließlich Verfolgung und Exil während des Nationalsozialismus. Die fächerübergreifende Betrachtungsweise und eine breite Quellengrundlage ermöglichen die dichte Beschreibung der wechselvollen Lebenswelten zwischen Okzident und Orient, Zusammenhänge, in denen sich Ludwig und Mimi Borchardt jahrzehntelang bewegten, und das Erfassen des Ausmaßes des radikalen Wandels mit Beginn des Nationalsozialismus. Der Kairener Nachlass allein bildet jedoch keine hinreichende Basis für die angestrebte multiperspektivische Betrachtung, dient aber als Ausgangspunkt und Orientierung. Multiperspektivität, dem internationalen Zuschnitt der sozialen Netzwerke entsprechend, kann nur auf Grundlage eines deutlich breiteren Quellenfundaments, das nicht nur Materialien deutscher Provenienz miteinbezieht, sondern auch britischer und amerikanischer, erreicht werden. Dies erst
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ermöglicht eine umfassende Betrachtung und verhindert die Reduktion auf die deutsche Perspektive. Der Charakter der innerhalb der ägyptendeutschen Gesellschaft sich entwickelnden Beziehungen, die prägenden Rollen, die das Ehepaar Borchardt ebenso wie der in Kairo niedergelassene, mit ihnen befreundete jüdische Augenarzt Max Meyerhof einnahmen, erhellt sich ebenfalls nur aus Quellen deutscher wie nichtdeutscher Herkunft. Dasselbe hat für familiär-freundschaftliche Beziehungen zu gelten, da sämtliche sozialen Netzwerke sich auch überlappten. Dargestellt sind vier, an der Chronologie orientierte Schwerpunkte: Die Zeit bis zum Ersten Weltkrieg, Krieg und Nachkriegszeit bis 1923, Rückkehr nach Ägypten und Neuetablierung, die Zeit des Nationalsozialismus. Als Ausblick ist das letzte Kapitel gedacht, das den Umgang mit dem Erlebten und Erfahrenen nach 1945 thematisiert. Deutsches und ägyptisches Umfeld von Mimi Borchardt, Lebensbedingungen, Selbstverständnis, der Aufbau neuer sozialer Beziehungen sowie die Verknüpfung von alter und neuer Heimat stehen im Mittelpunkt des ersten Schwerpunkts. Plastisch gemacht werden die divergierende Sicht der Ägyptendeutschen und -besucher auf den Orient, daraus abgeleitete Haltungen und Handlungen. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs zwang alle Ägyptendeutschen, ihre Wahlheimat zu verlassen und sich mit den Gegebenheiten in ihrem Herkunftsland zu arrangieren, was der zweite Schwerpunkt behandelt. Der Krieg forderte zur politischen Stellungnahme heraus, ebenso ab 1918 die Weimarer Republik. Im Zentrum stehen die durch den Krieg provozierten politischen Haltungen, vor allem auch deutscher und nicht-deutscher Ägyptologen und Orientalisten, das Zerbröckeln langjähriger beruflichen und privaten Beziehungen sowie die Langzeitfolgen dieser Vertrauenskrise und Politisierung auf allen Seiten. Wie sich die Neuetablierung von Deutschen in Ägypten ab 1923 angesichts dessen gestaltete, welches Profil dabei vor allem Ludwig und Mimi Borchardt gewannen, wird im dritten Schwerpunkt ebenso dargestellt wie der Prozess der Wiederbelebung von vor dem Krieg bestehenden internationalen Beziehungen. Zweifellos gehörten das Ehepaar Borchardt und auch Max Meyerhof zu den tragenden Säulen der sogenannten ‚deutschen Kolonie‘ in Kairo, sie galten fraglos und erklärtermaßen als ihre brillantesten Repräsentanten. Dies änderte sich mit der Machtübergabe an die Nationalsozialisten radikal, aus der Wahlheimat wurde für die Deutschen jüdischer Herkunft Exil. Im Mittelpunkt des vierten Schwerpunkts steht, wie Ägyptendeutsche jüdischer Herkunft diesen Wandel erlebten, vor allem wie sie darauf und auf die an sie adressierten Hilfegesuche reagierten, welche Möglichkeiten ihnen in Ägypten und darüber hinaus zur Verfügung standen, welche Funktion dabei ägyptologisch-orientalistische Beziehungen übernahmen. Des Weiteren wird plastisch gemacht, wie
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Einleitung
ausgegrenzte und verfolgte deutsche Ägyptologen und Orientalisten mit ihrer veränderten Lebenssituation umgingen, welche Bedeutung dabei Ägypten und den internationalen beruflich-sozialen Beziehungen zukam. Erkennbar werden soll auf diese Weise auch, welche ‚Fallhöhe‘ beispielsweise Ludwig Borchardt, sein Leipziger Kollege Georg Steindorff und sein ehemaliger Lehrer Adolf Erman (Berlin) zu erleben hatten. Dass die Zeit des Nationalsozialismus nicht nur für Mimi Borchardt eine tiefe Zäsur darstellte, eine scheinbar vertraute Welt zerbrechen ließ, steht außer Zweifel. Wie sehr dies allerdings auch auf ihre nächsten Freunde und Verwandten, schließlich sogar auf die internationale Ägyptologen- und Orientalistenschaft zutraf, sollte sich erst nach 1945 in vollem Ausmaß erweisen, beispielhaft gezeigt an den teils mit Schärfe geführten Nachkriegsdebatten um die Integration bzw. den dauerhaften Ausschluss deutscher Wissenschaftler. Erste Quellengrundlage und Ausgangsbasis stellt der von mir archivierte, im SIK befindliche Briefnachlass Mimi Borchardts (MB) mit seinen etwa 14.000 Schriftstücken dar, ergänzt durch einige Korrespondenzen aus dem noch nicht archivierten und zugänglichen Nachlass Ludwig Borchardts (LB), in die das SIK Einblick gewährte.2 Quantitativ liegt der Schwerpunkt von Ersterem auf den 1930er Jahren, Korrespondenzpartner sind neben Familienangehörigen und engen Verwandten auch FreundInnen aus Frankfurt und Berlin sowie aus dem Kairener Umfeld, des Weiteren politische FreundInnen, VertreterInnen der Kunstszene, Ägyptenreisende und Ägyptologen. Sowohl Mimi als auch Ludwig Borchardt erscheinen, abgesehen von der ausschnittweise im MB-Briefwechsel vorhandenen Korrespondenz zwischen den beiden, hauptsächlich als Empfänger. Der Perspektivenwechsel, eine breitere und detailliertere Sicht bedürfen der quellenmäßigen Ausweitung. Sowohl das Institut für Stadtgeschichte in Frankfurt/Main als auch das Hessische Hauptstaatsarchiv Wiesbaden hält Quellen bereit, die den familiären Kontext von Mimi Borchardt ebenso ausleuchten wie jenen der ihr nahestehenden Familie Rubensohn und etlicher weiteren, in Hessen ansässig gewesenen wichtigen Bezugspersonen. Zu der aus Kassel stammenden Familie Rubensohn bietet zudem das Archiv des Jüdischen Museums Berlin Quellen in Form des Nachlasses von Otto Rubensohn, der außer Brieftagebüchern und Briefen auch fotografisches Material zur mit Mimi Borchardt verwandten Hannoveraner und Nürnberger Familie Oppler enthält. Ergänzt wurde dies durch in verschiedenen Archiven der Stadt
2 Nicht zugänglich gemacht wurde auch der im MB-Archiv des SIK vorhandene Briefwechsel mit Georg Hermann Borchardt (Schriftsteller, Bruder von LB) ab 1933. Fotografisches Material des SIK konnte wegen des hohen Preises für Scans (je 80 EUR) nicht miteinbezogen werden.
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Meran (Stadtarchiv, Jüdische Gemeinde, Grundbuchamt), Exilort von Else Oppler- Legband, vorhandenen Quellen. Der politische Rahmen, in dem sich außer Ludwig und Mimi Borchardt auch zahlreiche andere, sich als ägyptendeutsch bezeichnende Personen bewegten, wird nachvollziehbar anhand der im Archiv des Auswärtigen Amtes Berlin existierenden Akten zur deutschen Außenpolitik und zu ‚Deutschland in Ägypten‘ im Besonderen. Darin spiegeln sich neben den grundsätzlichen politischen Leitlinien deutscher Politik im Nahen Osten auch die Rollen einzelner, in Ägypten aktiver Persönlichkeiten, etwa von Ludwig Borchardt und Max Meyerhof, sowie der nach 1933 eingetretene radikale Wandel. Ergänzt werden diese Quellen durch jene des Deutschen Archäologischen Instituts in Kairo und der Deutsch-Evangelischen Gemeinde Kairo, die das Geschehen im Umfeld der deutschen Ägyptologenschaft und der ‚deutschen Kolonie‘ nachvollziehbar machen. Da die Untersuchung nicht auf die Person Mimi Borchardt reduziert ist, sondern auf die international wirkenden beruflich-sozialen Netzwerke abhebt, müssen entsprechende Quellen herangezogen werden. Die engen Vernetzungen innerhalb deutscher und internationaler ägyptologisch-orientalistischer Kreise erhellt der in der Universität Bremen aufbewahrte Nachlass Adolf Ermans, eines der bedeutendsten Ägyptologen des 19./20. Jahrhunderts; er beinhaltet Ermans Korrespondenz vornehmlich mit Fachkollegen innerhalb und außerhalb Deutschlands. Ebenso weiterführend ist diesbezüglich der erst seit Kürzerem im Ägyptischen Museum Leipzig befindliche Nachlass des Ägyptologen Georg Steindorff, Schüler Ermans und Freund Ludwig Borchardts, der wegen seiner jüdischen Herkunft Deutschland verlassen musste. Steindorff hinterließ neben Teilen seiner Korrespondenz auch etliche ausführliche Reisetage- und Notizbücher, zudem zahlreiche Fotografien. Um die Perspektive nicht-deutscher Ägyptologen- und Orientalistenkreise auffangen zu können, bedarf es einer erweiterten Spurensuche. Enge, wenngleich nicht immer konfliktfreie, letztlich aber tragende Beziehungen bestanden zwischen deutschen und britischen Ägyptologen/Orientalisten. Die im Griffith Institute Oxford vorhandenen Briefnachlässe einzelner Ägyptologen, vor allem jene von Alan Gardiner und Percy Newberry, legen die Sicht frei auf einen sehr intensiven Austausch, auch auf Spannungen und schließlich auf erhebliche Unterstützungsleistungen. Nicht zuletzt finden sich in diesem Institut zahlreiche Briefe von Mimi und Ludwig Borchardt, noch zahlreichere allerdings von Georg Steindorff und Adolf Erman. Diese Korrespondenzen bilden mithin das notwendige Pendant zu den in Deutschland und in Kairo befindlichen Nachlässen. Dies trifft ähnlich auch auf die in der Bodleian Library Oxford befindlichen Akten zu, etwa jene des Academic Assistance Council, die in erster Linie die Wirklichkeit exilsuchender, mitunter auch -findender Wissenschaftler beleuchten und die
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Einleitung
Bedeutung, die in diesem Zusammenhang ägyptologisch-orientalistische Netzwerke gewannen. Wirklichkeiten des Exils geben auch die Akten des Somerville College (Oxford), des Pitt Rivers Museum (Oxford), von Christ Church (Oxford) und Oxford University Press (Oxford) wider. All diese archivischen Quellen wurden von deutschen Forschenden bislang kaum oder überhaupt nicht herangezogen. Wie eingangs erwähnt hat sich die Historiographie einem Thema wie dem vorliegenden noch nicht zugewandt. Weder findet es bei Darstellungen zur Geschichte der jüdischen Bevölkerung Frankfurts oder Hessens Erwähnung, dass eine Frau ‚aus ihren Reihen‘ Geschichte nicht nur in Frankfurt, sondern auch im Nahen Osten und in der Ägyptologie schrieb, noch gehört dies zum Kenntnisinteresse etwa von in den USA erschienenen biografischen Studien3 oder ägyptologisch orientierter Forschungen. Erst seit Kürzem, seit dem ‚Heranwachsen‘ einer jüngeren WissenschaftlerInnengeneration, beschäftigt sich die deutsche Ägyptologie intensiv mit der eigenen Geschichte, wagte dabei zunächst jedoch kaum den Blick über den nationalen Tellerrand hinaus, d. h. die Einbeziehung von Quellen nicht-deutscher Provenienz, woraus mitunter eine verkürzte Perspektive gerade auf die Zeit des Nationalsozialismus resultierte.4 So wurden beispielsweise Ludwig und Mimi Borchardt kaum als von den Nationalsozialisten Verfolgte und über die Ägyptologie hinaus aktive Persönlichkeiten wahrgenommen. Aktuellerweise zeichnet sich eine deutliche Trendwende ab. Thomas Schneider treibt von Kanada aus die Diskussion über die Rolle deutscher Ägyptologen während des Nationalsozialismus voran.5 Parallel widmen sich in Deutschland etliche ÄgyptologInnen kritisch der Geschichte ihres Fachs, darunter vor allem Susanne Voss, Dietrich Raue und Thomas Gertzen. In ihrer Bedeutung kaum zu überschätzen sind die seit den 2010er Jahren im Rahmen des an der Universität Leipzig und dem Ägyptischen Museum Leipzig angesiedelten Forschungen im Kontext des Georg Steindorff Nachlasses, die in wegweisende P ublikationen mündeten.6
3 Vgl. Naomi W. Cohen: Jacob H. Schiff, 1999; Stephen Birmingham: „Our Crowd“, 1967. 4 Ägyptologen und Ägyptologien, 2013. 5 Thomas Schneider: Ägyptologen im Dritten Reich, 2013; Ders.: Ancient Egypt and the Nazis (in Vorbereitung). 6 Aus dem DFG-Projekt „Wissenshintergründe und Forschungstransfer“ (2012–2015) unter Leitung von Dietrich Raue und Mitarbeit u. a. von Susanne Voss, Alexandra Cappel, Thomas Gertzen und Sandra Müller ging die Publikation Susanne Voss, Dietrich Raue (Hrsg.): Georg Steindorff, 2016, hervor. Beiträge lieferten außer den Herausgebern u. a. Elke Blumenthal, HansWerner Fischer-Elfert, Franziska Naether, Tonio Sebastian Richter, Kerstin Seidel und Karl Heinrich Stilpnagel.
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Darüber hinaus setzten sich vor allem die oben Benannten mit der Geschichte bzw. der Biografie von aus unterschiedlichen Gründen herausragenden, mitunter umstrittenen Ägyptologen wie Georg Steindorff, Hermann Junker, Friedrich von Bissing, Hermann Grapow und Hermann Kees auseinander, womit neue Maßstäbe gesetzt wurden, indem auch die politischen Haltungen und Handlungen hinterfragt und beleuchtet wurden.7 Da mir zur Zeit der Textabfassung noch nicht sämtliche Ergebnisse vor allem der Steindorff-Forschung vorlagen, konnten deren Erkenntnisse nur partiell mit einfließen, woraus sich stellenweise Modifikationen ergeben könnten. In den Kontext der neueren, von deutschen ÄgyptologInnen angestellten Forschungen gehört zudem die sich in Vorbereitung befindende Untersuchung zur Biografie des erwähnten Augenarztes und Orientalisten Max Meyerhof, die derzeit Isolde Lehnert auf Basis von dessen Korrespondenz und Tagebuchaufzeichnungen anfertigt. Zwar stehen Fragen der Gender-Studies oder um Orientalismus bzw. das Spannungsfeld von Antisemitismus und Orientalismus8 nicht explizit im Fokus der Darstellung, doch können und sollen sie nicht gänzlich ausgeklammert bleiben. Zweifellos hatten Mimi Borchardt und etliche ihrer ägyptendeutschen Zeitgenossinnen einen speziellen, auch von ihrem Geschlecht geprägten Zugang zum Orient. Ägyptendeutsche konstruierten ihr von unterschiedlichen Interessen geleitetes Orientbild und entwickelten daraus entsprechende Handlungsmodelle.9 Nicht zuletzt folgten deutsche Ägyptologen bzw. Orientalisten überhaupt
7 Die relevanten ausführlichen Literaturhinweise finden sich im Literaturverzeichnis. 8 Vgl. Ivan Davidson Kalmar, Derek J. Penslar (Hrsg.): Orientalism, 2005; Achim Rohde: Der Innere Orient, 2005. 9 Seit Edward Saids‘ Studie Orientalism‘ reissen Kritik am und Diskussionen zum Orientalismus nicht mehr ab. Im Gegensatz zu Orientalistik (wissenschaftliche Forschung zum und Beschäftigung mit dem Orient) bedeutete Orientalismus für Said die Konstruktion von Orient-Bildern, d. h. von kolonialistisch geprägten Konstruktionen des Anderen, woraus zugleich ein hierarchisches Verhältnis zwischen Okzident und Orient abgeleitet werde. „In diesem Sinne hat sich der Begriff in postkolonialen Theorien zunehmend vom konkreten Raum des Orients gelöst und fungiert als allgemeine Bezeichnung für westliche Repräsentaionen eines nichtwestlichen Anderen.“ Felix Wiedemann: Orientalismus, 2012, S. 2. Vgl. u. a Robert Irwin: Dangerous Knowledge, 2006; Burkhard Schnepel, Gunnar Brands, Hanne Schönig (Hrsg.): Orient, 2011. Ebenso intensiv wie kontrovers war und ist auch die feministische Rezeption der Orientalismus-Theorie, indem Said „vor allem auf das Bild eines sinnlich-erotischen oder effeminierten Orients als negativer Topos des europäischen Orientalismus“ abstellte, „demgegenüber der Okzident als Ort von Sittlichgkeit und männlicher Ordnung konturiert werden konnte“. Felix Wiedemann: Orientalismus, 2012, S. 10. Vgl. u. a. Meyda Yegenoglu: Colonial Fantasies, 1998; Laura Nader: Orientalism, 1989; Reina Lewis: Gendering, 1996.
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in unterschiedlichem Maße einem vom Orientalismus hergeleiteten Orientbild, was seinen Niederschlag fand in ‚vor Ort‘ zu beobachtenden Verhaltensweisen und Haltungen.10 Eingehendere Untersuchungen liegen zur Geschichte Deutschlands in Ägypten vor, wobei vor allem Fueß,11 Kassim,12 Oberhaus13 und Schwanitz14 herausragen. Nicht thematisiert ist in diesen und in andern relevanten Untersuchungen das Schicksal Ägyptendeutscher jüdischer Herkunft. Nämliches hat für das Thema Ägypten als mögliches Exilland zu gelten, worüber, abgesehen von einigen wenigen Autobiografien, so gut wie keine Kenntnisse existieren. Zwar ist durchaus bekannt, dass ägyptische Juden sich schon 1933 öffentlich gegen den Nationalsozialismus aussprachen und den Boykott deutscher Waren und Dienstleistungen initiierten. Welchen Bezug sie zu verfolgten Ägyptendeutschen oder -österreichern hatten, welche Rolle sie bei der Rettung Verfolgter spielten, liegt jedoch bisher im Dunkeln. Hintergrund dessen ist nicht zuletzt, dass Darstellungen zur Geschichte der ägyptischen Juden diesen Bereich ausblenden, auch die nachweislich engen Beziehungen besonders zu österreichischen Juden, die sich in zahlreichen Eheschließungen niederschlugen, nicht miteinbeziehen. Auch Gudrun Krämer15 konzentriert sich im Wesentlichen auf ägyptische Juden, schließt dabei die darüber hinaus in Ägypten lebenden nicht mit ein, was gleichermaßen für Jacob M. Landau zu gelten hat.16 Nicht zuletzt bildet die Forschung zu länderübergreifenden beruflich-sozialen Netzwerken von Ägyptologen und Orientalisten ein fast völliges Desiderat, vor allem bezogen auf die Zeit des Nationalsozialismus. Zwar gibt es zahlreiche Verweise auf enge wissenschaftliche Zusammenarbeit, ausgespart bleiben dabei aber die daraus entstandenen sozialen Beziehungen und deren Auswirkungen. Ägyptologen als politische Akteure in einem sich wandelnden Ägypten nimmt allein Donald M. Reid in den Blick, widmet sich dabei jedoch in erster Linie den Macht- und Verteilungskämpfen französischer, britischer, amerikanischer und ägyptischer Ägyptologen sowie der Ägyptologie als politischem Instrument.17 10 Zum deutschen Orientalismus wegweisend: Ludmila Hanisch: Die Nachfolge, 2003. Vgl. auch Ekkehard Ellinger: Deutsche Orientalistik, 2003; Suzanne L. Marchand: German Orientalism, 2009. 11 Albrecht Fueß: Die deutsche Gemeinde in Ägypten, 1996; Ders.: Zwischen Internierung und Propaganda, 1998. 12 Mahmoud Kassim: Beziehungen, 2000. 13 Salvador Oberhaus: „Zu wilden Aufstande entflammen“, 2006. 14 Wolfgang Schwanitz: Deutsche in Kairo, 1994. 15 Gudrun Krämer: Minderheit, 1982; Dies.: The Jews, 1989. 16 Jacob M. Landau: Jews Egypt, 1969. 17 Donald Malcolm Reid: Contesting Antiquity, 2015.
Einleitung
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Eine umfassende Darstellung zu von nicht-deutschen Ägyptologen und Orientalisten initiierten Hilfsaktionen zugunsten verfolgter Kollegen steht nach wie vor aus. Dies ist umso bemerkenswerter, als dies für alle Betroffenen und Involvierten von 1933 bis über 1945 hinaus das zentrale, mit Langzeitfolgen versehene Interesse und Thema war. Grund für dieses Desiderat dürfte sein, dass Ägyptologen die relevanten Quellen, d. h. vor allem die Korrespondenzen, nur ausnahmsweise mit diesem Forschungsinteresse untersuchen und Historiker, die sich dazu eher aufgerufen fühlen könnten, entweder keine Kenntnis von diesen Briefen besitzen oder kein entsprechendes Forschungsbedürfnis entwickeln können. Mit Ägypten in Zusammenhang stehende Forschungen sind nach wie vor überwiegend auf dessen Alte Geschichte fokussiert, seit Kurzem allerdings aus aktuellem politischen Anlass auch auf die neueste. Daraus leitet sich ab, dass in etlichen Bereichen Pionierarbeit zu leisten ist und obendrein grundlegende Informationen zu liefern sind. Der Anspruch ist indes nicht, eine Geschichte der deutschen oder der Ägyptologie überhaupt vorzulegen, sondern vielmehr eine eng an die Biografien von Mimi und Ludwig Borchardt, deren Sichtweisen und beruflich-soziale Beziehungsnetze angelehnte Fallstudie.
1 Im Sonnenland – Prägungen und Prägendes Und wie wir auch durch ferne Lande ziehn, da kommt es her, da kehrt es wieder hin, wir wenden uns, wie auch die Welt entzücke, der Enge zu, die uns allein beglücke. (Johann Wolfgang von Goethe)
Eine sehr spezielle, sogar weichenstellende Beziehung bestand zwischen Frankfurt am Main und Ägypten bzw. der Ägyptologie. Dem flüchtigen Beobachter enthüllt sich dies nicht unmittelbar, wird erst mit Blick auf den Berliner Ägyptologen und Bauforscher Ludwig Borchardt (1863–1938) sichtbar.1 Er gehörte zu jenen Deutschen, die sich schon Ende des 19. Jahrhunderts nach Ägypten begaben und von den dort sich bietenden Möglichkeiten so angetan waren,2 dass das Land die dauernde Bleibe werden sollte. Während seiner Arbeiten in Nubien 1895/96 lernte Borchardt seine spätere Ehefrau, die aus Frankfurt stammende Emilie Cohen, genannt Mimi,3 kennen. Bevor Borchardts späterer Schwiegervater, der Kunstmaler Eduard Cohen (1838–1910),4 zusammen mit den Töchtern Mimi und Sophie (1881–1933)5 sowie seiner Ehefrau Ida Kuhn-Cohen (1853–1930) von Frankfurt aus seine Ägyptenreise antrat, hatte er möglicherweise bereits Kontakt zu Borchardt aufgenommen. Seiner Art, Reisen sorgfältig vorzubereiten, hätte es entsprochen, zumal er auch sehr an ägyptologischen Themen interessiert war. Außerdem galt es, schon im Vorfeld mögliche Unannehmlichkeiten für seine Ehefrau und seine Töchter, die zu Empfindlichkeiten neigten, aus dem Weg zu räumen. Konsequenterweise nahm die Reise mit einem Aufenthalt im unweit von Kairo gelegenen Kurort Heluan ihren Anfang. Der Ort hatte zu Beginn des 20. Jahrhunderts 8.000 Einwohner und war eine künstlich geschaffene, luxuriöse Kur-Oase, die wegen ihrer Schwefel- und Natursalzquellen sowie des trockenen Klimas von Lungen-, Nieren-, Rheumatismus- und 1 Sohn von Herman (Heimann) Borchardt (geb. 1830 Schwerin, gest. 1890 Berlin) und Bertha Levin (geb. 1835 Berlin, gest. 1910 Berlin). PA AA Kairo-Gesandtschaft 1a. Nach seiner Ausbildung wurde er 1892 zum Königlichen Regierungsbaumeister ernannt, danach Studium der Ägyptologie bei Adolf Erman in Berlin. 2 Zu den verschiedenen Phasen der Orientbegeisterung vgl. Abdel Hamid Marzouk: Ägypten, 2001. 3 Geboren 21. Juli 1877 Wien (Nibelungengasse 13). 4 Geboren 22. Juni 1838 Hannover, gestorben 12. Dezember 1910 Frankfurt. Sohn des Arztes Hermann Cohen und der Sophie Gleisdorfer. Waldemar R. Röhrbein: Persönlichkeiten, 1998, S. 31. 5 Genannt Bo, abgeleitet von „Bobbelsche“. DOI 10.1515/9783110526127-002
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Ischias-Kranken gesucht war.6 Die einzigen Frankfurter Kurgäste waren die Cohens nicht. In Heluan hielt sich zu derselben Zeit Paul Jaffé auf, Sohn des Cohen’schen Frankfurter Hausarztes Theophil Jaffé, der den Kuraufenthalt wahrscheinlich empfohlen hatte.7 Der Kur ließ die Familie eine Reise durch Ägypten folgen, die sie den Nil entlang nach Oberägypten und Nubien führte. Eines der wohl entscheidenden Treffen fand auf der Insel Philae unweit von Assuan statt, eine Tempelanlage, der Eduard Cohens besonderes Interesse galt und mit der auch Borchardt seit 1895 befasst war.8 Die Besichtigung sowie Borchardts Erläuterungen verfehlten ihre Wirkung bei Eduard Cohen nicht, noch Monate später fragte er bei Borchardt wegen der Entwicklung Philaes und anderer Projekte in Ägypten an. Mit dem geplanten Nilstauwerk zugunsten der Baumwollproduktion sollte Philae unter Wasser gesetzt werden, wogegen sich wegen der zu erwartenden unwiderruflichen Zerstörung der Tempelanlage weltweit Proteste erhoben. Diese bewirkten, dass unter Leitung des britischen Henry George Major Lyons (1864–1944) die Grundmauern der Tempelanlage gestützt wurden, um sie vor der alljährlichen Nilüberschwemmung zu schützen. Nachhaltig gelang dies jedoch nicht.9 Als möglichen Heiratskandidaten für seine älteste Tochter hatte Eduard Cohen Ludwig Borchardt zunächst nicht im Auge. Ebenso wenig war sie selbst vollkommen überzeugt vom ersten Eindruck, den Ludwig Borchardt auf sie gemacht hatte, so dass sie den weiteren Kontakt weder suchte noch pflegte, allenfalls nach Aufforderung ihres Vaters höfliche Dankeszeilen sandte. Völlig anders sah es bei Ludwig Borchardt aus. Bei ihrem ersten Treffen war Mimi zwar kaum dem Teenageralter entwachsen, was ihn aber nicht von der Überzeugung abbrachte, in ihr die ‚Frau fürs Leben‘ vor sich zu haben. Von ihrem eher reservierten Verhalten ließ er sich nicht beirren; sieben Jahre lang verfolgte er das Ziel, Mimi Cohen für sich zu gewinnen. Immer wieder brachte er sich bei Familie Cohen in Erinnerung,
6 Rudolf Otto Neumann: Ägypten, 2005, S. 49. Auch Kairo-Heliopolis verfügte über Kureinrichtungen. Zur Bedeutung medizinischer Einrichtungen in Ägypten vgl. Marcel Chahrour: Austrian Physicians, 2007, S. 37–49. Leiter des Sanatoriums Fouad war lange Jahre der Schweizer Bur nand von Leysin, dessen Nachfolger 1929 der Schweizer Erich Zimmerli wurde. Esther Zimmerli Hardman: Kleopatra, o.J., S. 14. 7 In Heluan traf man zudem den Amtsrat Schwarck, Franz Kauffmann aus Thannhausen und Dr. Fynics. E. Cohen an MB, 24. Juli u. 25. Juli 1897. SIK MB 1/2. 8 Erman vermittelte die Entsendung LBs nach Ägypten, „als deutschen Vertreter zu den vor dem ersten Staudammbau notwendig gewordenen internationalen Rettungsgrabungen in Philae, wo er im Auftrag der Preußischen Akademie der Wissenschaften für die Bauaufnahme verantwortlich zeichnete“. Zudem war er mit der Aufnahme von Inschriften beauftragt. Cornelius v. Pilgrim: Ludwig Borchardt, 2013, S. 244. Susanne Voss: Geschichte, 2013, S. 34. 9 Ottmar v. Mohl: Ägypten. II., 1922, S. 35.
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erkundigte sich nach dem Wohlbefinden und Reiseplänen. Ab und an machte er bei seinen Deutschlandreisen Station in Frankfurt, suchte dort den Kontakt zur Familie Cohen in der Feuerbachstraße 14 und wies auf gemeinsame Bekannte hin.10 Bei einer Florenzreise im Jahre 1902 fand unter den wachenden Augen von Mimis Nürnberger Tante Julie Oppler11 das entscheidende Treffen statt.
Abb. 1: Julie Oppler geb. Stern und Ehemann Theodor Oppler
Große Worte machte Ludwig Borchardt nicht, schloss Mimi in die Arme, womit das Eis gebrochen war. Gerade diese ‚zupackende‘ Art Ludwig Borchardts mag Mimi überzeugt haben, sie wurde ein notwendiges Pendant zu ihrem eher grüblerischen und zögerlichen Charakter, war sie doch fast überbehütet unter 10 Während MB sich im Juni 1897 bei ihrer Tante Ella Oppler in Hannover aufhielt, besuchte LB Frankfurt. E. Cohen lud LB zu einer Stadtrundfahrt ein, zeigte ihm Sehenswürdigkeiten. Wenig später ließ LB Cohen ägyptologische Literatur zukommen. LB machte darauf aufmerksam, dass er den Schwiegersohn seines Mitarbeiters Freund gut kannte. Von ihm hatte er im Herbst 1902 von der Anwesenheit des Ehepaars Cohen in Berlin erfahren. E. Cohen an MB, 8. Juni u. 14. Juli 1897, 19. September 1902. SIK MB 1/2 u. 2/2. LB war mit dem in Frankfurt lebenden Sally Cohn verwandt. 11 Geborene Stern aus Breslau, Ehefrau von Theodor Oppler (Schwager von Eduard Cohen).
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den stets besorgten Blicken ihrer Eltern aufgewachsen. Andererseits stellte Mimi ein Korrektiv für Ludwig Borchardt dar; mit ihrer Bedachtsamkeit und Sensibilität milderte sie sein leicht aufbrausendes Naturell. Gerne ließ Eduard Cohen seine Älteste nicht vom Frankfurter Westend in die ägyptische Metropole ziehen. Doch klammerte er sich an das von Ludwig Borchardt gegebene Versprechen, nur einige Jahre in Ägypten bleiben zu wollen. Genau festgelegt hatte Borchardt sich freilich nicht,12 was auch schwer gefallen wäre, denn sein beruflicher Status und seine Zukunft waren längere Zeit ungewiss.13 Andererseits war Eduard Cohen das Leben außerhalb Deutschlands keineswegs fremd. Nach seinem Kunststudium in Hannover und Weimar hatte er eine Zeitlang in Wien, dann von 1867 bis 1870 in Süditalien und Sizilien gelebt.14 Mit Ida Kuhn, die er 1876 ehelichte, lebte er zunächst in Wien, wo auch Tochter Mimi geboren wurde. Erst danach ließ er sich mit Ehefrau und Tochter in der geräumigen Villa seines Schwiegervaters Abraham Kuhn im Frankfurter Westend nieder. Dort kamen drei weitere Kinder zur Welt, von denen jedoch nur die 1881 geborene Tochter Sophie das Erwachsenenalter erreichte. Nach dem Tod von Abraham Kuhn im Jahre 1892 lebte die vierköpfige Familie Cohen allein in der Feuerbachstraße 14, umsorgt von zahlreichem Personal. Seine Tochter Mimi nahm Eduard Cohen schon frühzeitig als Begleiterin mit, etwa zu Reisen nach England. Die englische Sprache beherrschte sie ebenso wie die deutsche, denn ihre Mutter war in den USA zweisprachig aufgewachsen und legte Wert auf Bilingualität. So schrieb Tochter Sophie in aller Regel ihre an ihre Schwester gerichteten Briefe auf Englisch, zu Beginn angeleitet von einer englischen Hausdame.15 In Frankfurt galt Eduard Cohen nicht als Unbekannter. Einer seiner Vorfahren, der ebenfalls aus Hannover stammende Philipp Abraham Cohen (1790–1856),16 Sohn des Hofbankiers Abraham Herz Cohen, ließ sich 1824 in Frankfurt nieder und gründete das rasch florierende Metallunternehmen „Gebrüder Cohen“, aus dem die „Degussa“ hervorging; ab 1856 wurde es von Cohens Schwiegersohn Raphael (Moses) Merton17 weitergeführt. Vor allem die Mitglieder der Familie Merton 12 E. Cohen an MB, 31. Januar 1904. SIK MB 4/1. 13 Nach seiner Tätigkeit in Philae wollte LB nicht nach Deutschland zurückkehren, arbeitete mit an der Erstellung des Generalkatalogs des Ägyptischen Museums, war ab 1899 „Egyptologischer Attachée“ am deutschen Generalkonsulat. Cornelius v. Pilgrim: Ludwig Borchardt, 2013, S. 244. 14 Biographisches Lexikon, 1909, S. 25. 15 SIK MB 17/1–27/5. 16 Er war ein Neffe von Eduard Cohens Großvater. Verheiratet ab 1816 mit der Frankfurter Bankierstochter Eleonore Wertheimer (1787–1860), Tochter von Moses Zacharias Wertheimer; ihre Mutter war eine geborene Speyer. B.W. de Vries: Mettle, 2000, S. 112 f, 115–119. 17 Verheiratet mit Sara Amalia Cohen. Sohn Henry (1838–1872) gründete 1860 ein Unterneh men in London, Sohn Wilhelm (1848–1916, verheiratet mit Henrietta Ladenburg (1859–1939)
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ehörten zur Prominenz der Stadt Frankfurt; sie taten sich nicht nur mit unternehg merischen Geschick hervor, sondern auch als überaus bedeutende Mäzene.18 Zweifel mag Eduard Cohen gehegt haben, ob Ludwig Borchardt in der Lage war, das historische Erbe seiner Familie zu wahren. Denn immerhin war er väterlicherseits ein Nachfahre des Hannoveraner Hofjuden Leffmann Behrens Cohen (1634–1714), mütterlicherseits der Wiener Oberhoffaktoren Samson Wertheimer und Samuel Oppenheimer – Vorfahren, an die er seine Tochter wiederholt e rinnerte.19
Abb. 2: Eduard Cohen
aus Mannheim, blieb in Frankfurt. Wilhelm war der Vater von Richard (1881–1960) und Alfred (1878–1954) Merton. B.W. de Vries: Mettle, 2000, S. 119–121. 18 Bruno Müller: Stiftungen, 2006, S. 109, 112, 122 f, 145 ff, 153 f, 170, 192, 279. 19 Im Besitz von E. Cohens Schwester Ella Oppler (Ehefrau von Edwin Oppler, Hannover) befand sich ein mit dem österreichischen Doppeladler geschmückter silberner Chanukkaleuchter aus
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Noch mehr als für Mimi Borchardts Vater war für ihre Mutter Ida das Leben fernab von Deutschland vertraut. Geboren wurde sie 1853 in Cincinnati, wo ihr Vater Abraham Kuhn sich als Kaufmann betätigte. Um 1840 war er zusammen mit seinen Brüdern Samuel und Marx vom pfälzischen Herxheim in die USA ausgewandert, hatte sich zunächst in Lafayette niedergelassen und seinen Lebensunterhalt als fahrender Händler verdient. Später eröffnete er ein Handelshaus in Cincinnati und heiratete 1849 Regina Loeb, die Schwester seines ebenfalls nach Cincinnati ausgewanderten Vetters Salomon Loeb (1829–1903)20 aus Worms, der dann Abraham Kuhns Schwester Fanny ehelichte. Vor allem mit der Produktion und dem Verkauf von Armeekleidung zu Wohlstand gekommen, gründeten Salomon Loeb und Abraham Kuhn 1867 in New York die Investmentbank „Kuhn Loeb & Company“, aus der sich Abraham Kuhn nach dem Tod seiner Ehefrau, 1869, zurückzog, um mit seinen Töchtern Ida und Emilie nach Deutschland zurückzukehren. In Frankfurt erwarb er in der Feuerbachstraße 14 ein ansehnliches, von einem großen Garten umgebenes Wohnhaus. Partner der Bank blieb er bis 1887.21 In Frankfurt lernte er anlässlich eines Treffens im Hause des Bankiers Jacques Dreyfus Jakob H. Schiff (1847–1920) kennen, den er Salomon Loeb als Mitarbeiter des New Yorker Bankhauses empfahl. Schiff ragte nicht nur wegen seiner prominenten Frankfurter Herkunft, sondern auch wegen seiner beruflichen Erfahrungen heraus. Zusammen mit den beiden Frankfurtern Henry Budge und Leo Lehmann hatte er bereits 1867 in New York ein Finanzunternehmen gegründet, war aber 1872 nach Deutschland zurückgekehrt. Eine Zeitlang arbeitete er in Hamburg für ein Londoner Bankunternehmen, ging 1873 wegen des Tods seines Vaters nach Frankfurt zurück. Noch in demselben Jahr wanderte er nach New York aus, um für „Kuhn Loeb & Company“ zu arbeiten, dessen Vollmitglied er bereits 1875 wurde. Parallel dazu ehelichte er Therese Loeb, die Tochter des Unternehmensgründers Salomon Loeb.22 Mit dem Eintritt dem Besitz von Samson Wertheimer. Genealogische Studien, 1913, S. 50. In ihren nur fragmentarisch erhaltenen Lebenserinnerungen hebt MB stark auf dieses Erbe ab. Archiv Jüdisches Museum Berlin, Nachlass Rubensohn. 20 Sohn des Korn- und Weinhändlers Leopold Loeb und der Rosina Scheuer, hatte 16 Geschwister, von denen zwei Brüder und drei Schwestern das Erwachsenenalter erreichten. Mit seiner ersten Ehefrau Fannie Kuhn hatte er die Tochter Therese (spätere Ehefrau von Jakob Schiff). Nach dem Tod Fannies ehelichte er 1862 Betty Gallenberg (gest. 1902) aus Mannheim. Mit ihr hatte er die Kinder: Morris (gest. 1912), James, Guta und Nina (heiratete 1895 Paul Warburg /Hamburg, Bruder von Felix Warburg). S. Loeb starb im Dezember 1903 in New York. James Loeb, 2000, S. 9 f, 15, 19. 21 Allan Tarshish: Economic Life, 1976, S. 76; Jerry W. Markham: Financial History, 2001, S. 289. 22 ISGF S2 Nr. 6153; Frankfurter Biographie, 1996, S. 277 f. Schiff besuchte in Frankfurt die orthodoxe Realschule der Israelitischen Religionsgemeinschaft und hielt zeitlebens an der orthodoxreligiösen Lebensform fest. Hans-Otto Schembs: Jüdische Mäzene, S. 130–132. Frieda, die Tochter von Jakob und Therese Schiff, ehelichte 1895 Felix M. Warburg (Bruder von Paul Warburg).
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Abb. 3: Elternhaus von Mimi Borchardt. Feuerbachstraße 14 in Frankfurt/M
Jakob Schiffs in das Bankunternehmen nahm dieses einen rasanten Aufstieg und Schiff avancierte zu einer der bekanntesten Persönlichkeiten der USA. Mit seiner Heimatstadt Frankfurt blieb er eng verbunden, was sich nicht zuletzt in einem regen Mäzenatentum ausdrückte, etwa in der Finanzierung eines Seminars für
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semitische Philologie an der neu eingerichteten Universität Frankfurt, woraus später der Lehrstuhl für Orientalistik entstand.23 Für Eduard und Ida Cohen hatte die Pflege der Beziehungen zu den Familien Loeb und Schiff ebenso wie zu jener der in die Loeb-Familie eingeheirateten Warburg von Hamburg höchste Priorität, wohl wissend, dass sie diesen in der Hauptsache ihren Wohlstand verdankten.24 Von der amerikanischen Verwandtschaft wurde die Verbindung zwischen Mimi und dem Ägyptologen Ludwig Borchardt durchaus begrüßt, vor allem seitens James Loeb (1867–1933), dem ältesten Sohn von Salomon Loeb. Dieser war zwar als Nachfolger seines Vaters vorgesehen, hatte aber gänzlich andere Interessen. Nach seinem Studium in Harvard wurde ihm angeboten, in Paris und London Ägyptologie zu studieren, was sein Vater verhinderte, obwohl er die tatsächlichen Interessen seines Sohnes kannte. Nach diversen psychischen Krisen und Konsultationen u. a. bei Sigmund Freud25 in Wien verließ James Loeb sein Heimatland, ließ sich 1905 dauerhaft in München,26 dann in Murnau27 nieder, widmete sich ganz seinen wissenschaftlichen und künstlerischen Interessen, machte seinen bayerischen Wohnort zu einem Zentrum für zeitgenössische Künstler.28 Zu seiner Verwandten in Kairo
23 Das Seminar entstand 1916, Schiff erklärte sich schon 1910 zur Dotierung eines Lehrstuhls bereit, stiftete dafür 1912 250.000 Mark (70.000 Dollar der Jakob H. Schiff Universitätsstiftung, zu dessen Vorstand Schiffs Bruder Ludwig als Vorsteher der Jüdischen Gemeinde und ein weiteres Gemeindemitglied gehörten); er unterstützte das Paul-Ehrlich Institut, die Frankfurter Stadtbibliothek, das Jüdische Waisenhaus, das Jüdische Krankenhaus und zahlreiche Museen mit bedeutenden Geldbeträgen. Frankfurter Biographie, 1996, S. 277 f; Ludmilla Hanisch. Die Nachfolger, 2003, S. 51. Auch in den USA tat er sich als bedeutender Stifter hervor, so 1905 mit der Stiftung der „Schiff-Professur für Sozialökonomie“ an der Columbia Universität, später an der Cornell Universität und in Harvard (1902 bedeutende Stiftung für ein Semitisches Museum). Paul Kluke: Stiftungsuniversität, 1972, S. 128–130. 24 Vgl. Briefe von E. Cohen an MB. SIK MB 3/1–8/8. 25 Freud vermittelte J. Loeb an Emil Kraepelin in Wien und gründete mit ihm in München die Deutsche Forschungsanstalt für Psychiatrie. 26 1908 erwarb er das Anwesen des 1907 verstorbenen Archäologen Adolf Furtwängler, ließ es abreißen und erbaute ein „großzügiges, repräsentatives Stadtpalais“. James Loeb, 2000, S. 24. 27 Zu Loebs Leben in Murnau vgl. James Loeb, 2000, S. 31–34. 28 James Mutter Betty Gallenberg war ausgebildete Pianistin und verlieh der Familie Loeb ein „intensives Bildungsklima“. James lernte Cello, Klavier und Orgel, wurde im Geist humanistischer Bildung ausgebildet, sprach außer Deutsch und Englisch auch Französisch, Italienisch, Hebräisch und Spanisch. Selbstverständlich erlernte er diverse Sportarten, darunter Reiten und Tennis. Besonderer Wert wurde gelegt auf Kunst, Literatur und Musik. Eine enge Freundschaft verband James Loeb mit seinem Hamburger Schwager Aby Warburg (gest. 1929). James Loeb, 2000, S. 17, 20; Stephen Birmingham: „Our Crowd, 1996, S. 354 f. Zu den kulturwissenschaftlichen Interessen und der Sammlertätigkeit Loebs vgl. James Loeb, 2000, S. 29 f.
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ließ er die Beziehung nicht abreißen, lobte Ludwig Borchardt für seine „famosen Arbeiten“, die „seinen Ruhm in alle Länder“ trügen und unterstützte seine Arbeit 1928 auch finanziell.29 Vermutlich motivierte das Interesse James Loebs an der Ägyptologie dessen Schwager Jakob Schiff, auch in diese Richtung als Mäzen aufzutreten – allerdings zugunsten des amerikanischen Ägyptologen George Reisner aus Harvard.30 Geradezu idealtypisch repräsentierte die Familie Cohen-Kuhn das deutschjüdische Bürgertum, war sogar eine Verbindung von alter und neuer jüdischen Elite – Letztere wurde von Mimi Borchardt jedoch wenig gewertschätzt, obschon auf ihr die finanzielle Unabhängigkeit der Familie, also auch ihr großbürgerlicher Lebensstil basierte.31 Das Aufgebot für Ludwig und Mimi Borchardt wurde am 19. März 1903 in Kairo bestellt, die Eheschließung fand am 7. Juni 1903 durch den von der Familie Cohen sehr geschätzten Rabbiner Rudolph Plaut (1843–1914) in der Frankfurter Synagoge statt.32 Nach einer kurzen Hochzeitsreise nach Paris und Etretat in der Normandie fuhren die frisch Vermählten im Oktober 1903 nach Kairo, bezogen dort ihre kurz zuvor erworbene Villa auf der Nilinsel Gesireh Garden (später Zamalek genannt). Ludwig Borchardt hatte einige Zeit darauf verwandt, ein ihm geeignet erscheinendes Wohnhaus zu finden. Nach intensiven Beratungen mit seinem Schwiegervater entschied er sich schließlich für die von dem britischen „Captain“ und Polizeichef in Alexandria, Henry Charles Hopkins, angebotene Villa in der Sharia Amir Said Nr. 13, unweit des Khediven Palastes und am Ufer des Nil gelegen.33 Finanziert wurde der Kauf mit dem großväterlichen Erbe Mimi Borchardts
29 J. Loeb an MB, 25. Januar 1914. MB und LB besuchten J. Loeb mehrfach in München und Murnau, wie Loebs Briefe belegen. Dieser schrieb am 24. Januar 1928, er freue sich, dass seine „Hilfe gerade in Zeit kam, um die Arbeiten weiter zu führen“. Es handelte sich wahrscheinlich um die Finanzierung des neuen Deutschen Hauses in Theben, ein Projekt, das von LB mit großer Energie vorangetrieben wurde. SIK MB 68/6. 30 Cohen vermerkte (9. Juni 1904), dass er wenig Einfluss auf Schiff habe. Dieser tue nur das, was er sich vorgenommen habe, „hört nicht auf andere“. Schiff kenne Reisner, habe schon von ihm gesprochen, werde ihn also als Ersten als Leiter der Grabung „in Betracht ziehen“. SIK MB 4/2. 31 Vgl. Werner E. Mosse: Élite, 1989, S. 317 ff. 32 1. Tag der Woche, 12. Siwan 5663 in Frankfurt. Zeugen: J. Grosskopf, Heimann Meyer. 33 Das Nachbarhaus erwarb Borchardt 1909, ebenfalls von ihm und seiner Ehefrau finanziert. Vorbesitzer war der Ire S.E. Edward Armstrong Johnson Pasha. Erworben wurde es im Namen der Deutschen Regierung. Dort fand das deutsche Archäologische Institut seinen Platz. Kommentar von Cornelius von Pilgrim vom 9. Oktober 2008 auf den Artikel von Samir Raafat: Maa’had, 2001.
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mütterlicherseits.34 Zudem erhielt sie von ihren Eltern eine Ausstattung im Wert von 1.080.000 Mark sowie eine Rente von 750.000 Mark.35 Eduard Cohen befürchtete zwar, dass das erworbene Kairener Anwesen von Hochwasser bedroht sei, was ihn an der Richtigkeit des Kaufs zweifeln ließ. Seine Bedenken sollten sich jedoch als überflüssig erweisen und der Kauf der Villa als Glücksgriff.36 Von Überschwemmungen blieb man verschont, allenfalls sorgten vom Sturm abgerissene Äste für Störungen. Bei der Einrichtung des Wohnhauses überließ Cohen nichts dem Zufall, sorgfältig wurden die Anfertigung der Möbel und deren Transport nach Ägypten geplant.37 Ludwig Borchardt hatte richtig eingeschätzt, dass Gesireh zukünftig zu einem der gesuchtesten und auch teuersten Wohnorte Kairos avancieren sollte. Das war nicht immer so gewesen. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts ließ sich die Insel, die regelmäßig überflutet wurde, nur per Boot erreichen, was sich erst mit dem Bau des Khediven-Palastes in den späten 1860er Jahren änderte.38 Den Inselcharakter behielt Gezireh bis 1912, als die Boulac-Brücke die Fähre ersetzte.39 Um 1903 34 Am 24. Mai 1903 hielt MB schriftlich fest, dass ihr Großvater Abraham Kuhn ihr, als sie noch minderjährig war, „verschiedene Kapitalbeträge“ schenkte, wie er in seinem Testament vom 11. Oktober 1888 vermerkte. Diese Schenkungen wurden bis 1903 von Eduard Cohen verwaltet. Wert dieser Schenkung war 150.000 Mark, die ihr 1903 ausgezahlt wurden. Der Großteil dieses Geldes wurde in den Kauf der Villa in Kairo investiert. Zu diesem Zweck überwies Eduard Cohen am 8. April 1903 220 £ an die Credit Lyonnais und am 9. April 1903 4.200 £ an die Banque Ottomane. Später sollten noch 1.000 £ für die Herrichtung der Räume und die Gartengestaltung überwiesen werden. Einige Jahre später plante LB, das Nachbargebäude zu erwerben, wie er seiner im Hotel Edelweiß (Sils Maria) weilenden Ehefrau am 29. September 1909 berichtete. SIK MB 3/1, 3/2, 31/3. 35 Testament Ida Kuhn vom 18. Juni 1923. HHSTA Wiesbaden Amtsgericht Frankfurt 51/36 IV 201/30. 36 LB und MB bewohnten die Villa bis 1939. Die Darstellung von Samir Rafaat: Cairo, 2005, S. 169 f enthält diverse Fehler: Angegeben ist, dass die später von Borchardt erworbene Villa der Sitz der Deutschen Orient Gesellschaft, als deren Direktor Borchardt fungiert habe, gewesen sei. Unrichtig ist auch, dass Borchardt 1929 in vorzeitigen Ruhestand ging, dass sein Nachfolger Junker sein ehemaliger Mitarbeiter war, dass er das Private Borchardt Institut nur gründete, weil er als Jude nicht ins nationalsozialistische Deutschland zurückkehren konnte. Auch stand dieses Institut nicht von Beginn an unter dem Schutz der Schweizer Regierung. Unrichtig ist auch, dass Borchardt am 12. August 1938 in Zürich starb (er starb in Paris). 37 Angefertigt wurden die teilweise von Else Oppler-Legband entworfenen Möbel in Nürnberg, Darmstadt und Frankfurt. E. Cohen an MB, 4. Juli – 7. August 1903. SIK MB 3/2. 38 Janet L. Abu-Lughod: Cairo, 1971, S. 97. Khedive Ismail ließ den Palast als Unterbringung für Königin Eugenie anlässlich der Eröffnung des Suez Kanals (1869) erbauen. Geplant wurde der Bau von dem Architekten Julius Franz Pasha, dem sein Kollege Del Rosso assistierte. 1897 übernahm die Egyptian Hotels Company das Gebäude und machte daraus das Gezira Palace Hotel. Samir Rafaat: Cairo, 2005, S. 143 f. 39 Samir Rafaat: Cairo, 2005, S. 145.
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war die Insel noch kaum bewohnt, hatte 1913 etwa 400 Einwohner, entsprechend 84 Haushaltungen, wovon 52 britisch,40 sechs belgisch, fünf deutsch,41 je vier schweizerisch42 und jüdisch (ohne weitere Angaben), zwei österreichisch waren; außerdem gab es einen griechischen Tabakfabrikanten, einen niederländischen Konsul und einen schwedischen Grafen sowie fünf Einwohner unbekannter Herkunft und drei ägyptischer.43 Gesireh Garden war eine reine Wohngegend, eine Geschäftsstraße, Ladengeschäfte oder Banken existierten nicht, mit Ausnahme eines kleinen, an der die Insel durchquerenden Hauptstraße Avenue Boulac liegenden deutschen Lebensmittelgeschäfts. Frischprodukte wie Obst und Gemüse oder Milchprodukte konnten auf dem sonntäglichen Markt auf dem nördlichen Teil der Insel direkt bei den Produzenten erworben werden.44 Der ehemalige Khediven-Palast war 1913 bereits zum Gezira-Palace Hotel umgewandelt worden, in dem sich außer dem Post- und Telegraphenamt auch ein öffentliches Telefon fand. Neben dem Sporting Club des Khediven lag das Anglo-American Hospital. Am südlichen Teil der Insel hatte Thomas Cook sein Reisebüro etabliert; dort konnten Boots- und Schiffsreisen nach Oberägypten gebucht und von dort aus unternommen werden. Touristisch war Gesireh vor allem wegen des schon 1901 der Öffentlichkeit zugänglich gemachten Aquariums („Fish Grotto“) und des „Gezirah Palace Garden“ im Zentrum der Insel interessant.45 Die privaten Wohnhäuser lagen ebenso wie das Borchardt’sche in unmittelbarer Umgebung des Palastes.46 Bereits einige Jahre vor Beginn des Ersten Weltkriegs zeichnete sich ein Wandel ab, Gesireh entwickelte sich zu einem als attraktiv und exklusiv geltenden Wohngebiet, das damit rasch einen neuen Zuschnitt gewann. Wesentlich trug dazu der seit 1889 in Kairo lebende Schweizer Hotelier Charles Baehler bei, der 1908 etliche Grundstücke auf der Insel erwarb und mit der Erbauung von Wohnhäusern in unmittelbarer Nähe des Palastes begann.47
40 Darunter Sir Frederic Rowlatt (Governor der National Bank of Egypt) und Sir Reginald Wingate (Commander in Chief of the Egyptian Army und Governor of Sudan). Samir Rafaat: Cairo, 2005, S. 135 f. 41 Darunter der deutsche Konsul, Baron von Falkenhausen. 42 Darunter der Direktor der „Egyptian Hotels Company“ und die deutsche Familie von Heller. Samir Rafaat: Cairo, 2005, S. 136. 43 Samir Raafat: Cairo, 2005, S. 135 f. 44 Samir Raafat: Gezirah, 2001, S. 1. 45 Samir Raafat: Gezirah, 2001, S. 1. 46 Zum Verweilen lud das von den beiden Italienern Dalbagni und Corbetta geführte Café Gezirah nahe der Kasr el Nil Brücke ein. Samir Raafat: Gezirah, 2001, S. 2. 47 Weitere Wohnhäuser ließ er zwischen 1927 und 1929 folgen.
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Leicht waren für Mimi Borchardt trotz ihres vergleichsweise luxuriösen Wohnumfelds die Anfänge in Ägypten nicht, jedenfalls hatte sie es sich einfacher oder anders vorgestellt. Zwar hatte sie das Land vor ihrer Niederlassung in Kairo durchaus mehrfach besucht und kennengelernt, sogar beobachtend an archäologischen Grabungen teilgenommen. Dennoch zeigte der Alltag ein anderes Gesicht. Ein recht großer Haushalt war ebenso zu organisieren wie diversen gesellschaftlichen Verpflichtungen nachzukommen, längere Phasen des Alleinseins galt es zu überbrücken. Mimi Borchardts Klagen häuften sich schon nach Wochen, mal über problematische Hausangestellten, mal über die männlich dominierte Ägyptologenschaft, mal über die zahlreichen und oft ungebetenen Besucher, mal über die Fülle von nicht immer amüsanten gesellschaftlichen Verpflichtungen.48 Allzu häufig war der Ehemann beruflich im Lande unterwegs und ließ sie in Kairo zurück. Andererseits fehlte es ihr an eigenen Aufgaben, an selbst formulierten Zielen. Sowohl ihre Isolation als auch der Mangel an einer eigenen Identität über jene der Ehe- und Hausfrau hinaus machten Mimi Borchardt zu schaffen, zumal sie völlig ihren Idealen widersprachen. Als ihre Zielsetzung hatte sie schon früh formuliert, beständig ihre Bildung vervollkommnen und in der Armenfürsorge tätig sein zu wollen.49 Von beidem sah sie sich in Ägypten zunächst weit entfernt. Tröstend wirkten die aufmunternden Worte des Vaters nur bedingt. Anders als seine Tochter war er überzeugt davon, dass diese sich mit der Zeit nicht mehr fremd und unbeholfen inmitten beispielsweise der Ägyptologenschaft fühlen, sondern zunehmend lernen werde, sich unter Fremden zu bewegen und anregende Gesprächsthemen zu finden.50 Den in Deutschland, vor allem in Frankfurt lebenden Freundinnen – Emma Hallgarten-Neißer51 und Stefanie Oppenheim beispielsweise52 – muteten Mimi Borchardts Klagen angesichts des scheinbar inspirierenden orientalischen Lebensumfelds und des sie umgebenden Luxus mitunter unangemessen an. In einer deutschen Zeitung wurde sie gar als „Notable“ von Kairo bezeichnet.53 Ihr
48 s. Briefwechsel zwischen MB und Friedel Oppler(-Rubensohn). 49 Friedel Oppler an MB, 30. Oktober 1893. SIK MB 40/1. 50 E. Cohen an MB, 21. November 1903. SIK MB 3/3. 51 Tochter von Charles Hallgarten (1838–1908), einem engen Freund von Eduard Cohen, verheiratet mit dem Bakteriologen Max Neißer (1869–1938, u. a. an der Universität Frankfurt tätig). Ihre Kinder: Gerhard Ernst, Klaus Alfred, Lilo. Letztere heiratete den Romanisten Herbert Dieckmann. 52 Stefanie Oppenheim (geb. 1877 Frankfurt) war eine Tochter von Daniel Guido Oppenheim (Kaufmann) und Julia Rice, Schwester des Künstlers Alfred Oppenheim (1873–1953), Enkelin des Malers Moritz Oppenheim. 53 Sophie Cohen hatte den Artikel ausfindig gemacht, wie E. Cohen am 24. Oktober 1905 an MB schrieb. SIK MB 5/2.
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Alltag wurde jedoch bestimmt von der Sorge um die reibungslose Organisation des Haushalts, die Anleitung und Beaufsichtigung diverser Angestellten, was erst nach einigen misslungenen Versuchen und praktischer Hilfestellung durch die Ägyptologengattin Elise Steindorff54 einigermaßen klappte. Als Hauswirtschafterin fungierte zunächst eine Österreicherin, dann eine Deutsche.55 Zu schaffen machte das ungewohnte Klima mit teils feucht-kalten Wintern und sehr heißen Sommern. Gegen beides konnte man sich nur beschränkt schützen, ebensowenig wie gegen Ungeziefer. Zur Belastung entwickelten sich des Öfteren Frankfurter Besucher,56 deren freundliche Aufnahme Eduard Cohen seiner Tochter ans Herz legte, darunter im Januar und Februar 1904 der Bankier Julius Heyman (1863–1925)57 mit einem Freund und der „junge Neustadt“,58 ein Bruder von Paula Neustadt, im März 1907
54 Ehefrau von Georg Steindorff (Leipzig). MB an Steindorff, (Braunwald, Hotel Alpina) 8. August 1945. ÄMUL NL Steindorff K23 1944. 55 Maria Lana bis 1914, von 1923 bis 1939 Fanny Ibig. Für die meisten Hausangestellten begann ihr Sommerurlaub nicht zeitgleich mit demjenigen ihrer Arbeitgeber. Die gesamte Inneneinrichtung und alle Wäschestücke mussten sorgfältig gereinigt werden, was wochenlanges Arbeiten bedeutete. Dies erklärt, weshalb sich etliche europäische Hausangestellten noch nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs in Ägypten aufhielten. 56 Rabbiner Plaut empfahl am 1. September 1904 Albert Kindle, der als Sekretär des deutschen Generalkonsuls in Kairo bei Max von Oppenheim angestellt war. Diesen beschrieb er als „ebenso intelligenten wie charaktervollen Mann“, den er „wärmstens“ empfehlen wollte. Ida Cohen berichtete (6. Februar 1904), Mumm von Schwarzenstein halte sich in Ägypten auf. Laut E. Cohen (17. März 1904) hielten sich im März 1904 die Schriftsteller Ludwig Fulda (1862–1939) und Hermann Faber-Goldschmidt in Ägypten auf. SIK MB 75/2, 4/1. L. Fulda stammte aus Frankfurt, sein Elternhaus befand sich im Kettenhofweg 100, also in unmittelbarer Nachbarschaft zum CohenKuhn’schen Haus. Sein Großvater, der Kaufmann Oppenheimer, war 1868/69 der erste jüdische Stadtrat Frankfurts. L. Fulda studierte deutsche und romanische Philologie sowie Philosophie in Heidelberg, Leipzig und Berlin. Trotz herausragender wissenschaftlicher Fähigkeiten entschied er sich gegen eine universitäre Laufbahn, wählte stattdessen den Beruf des freien Schriftstellers. 1883 hatte er einen ersten größeren Erfolg am Frankfurter Stadttheater mit seiner Komödie ‚Die Aufrichtigen‘. Zudem machte er sich einen Namen als Übersetzer. Er war Mitbegründer des 1910 gegründeten ‚Verbandes deutscher Bühnenschriftsteller und Bühnenkomponisten‘, den er von 1919 bis 1930 leitete. Von 1925 bis 1928 war er 1. Präsident des deutschen P.E.N. Clubs. Wegen seiner jüdischen Herkunft wurde Fulda von den Nationalsozialisten verfolgt, er starb am 30. März 1939 vereinsamt. Jürgen von Ungern-Sternberg, Wolfgang von Ungern-Sternberg: Der Aufruf, 1996, S. 27–31. Bernhard Gajek, Wolfgang von Ungern-Sternberg: Ludwig Fulda, Teil 1, 1988, S. 344. 57 Sohn von Wolf Heyman und Mina Seckel; er war zudem ein bedeutender Sammler, der sein Haus der Stadt Frankfurt vermachte. 58 Eventuell ein Verwandter des New Yorker Bankiers Sigmund Neustadt, Partner von Charles Hallgarten. Stephen Birmingham: „Our Crowd“, 1967, S. 9.
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Leo Ellinger,59 im Winter 1907 auf Alfred Oppenheims Empfehlung hin Martin Flersheim.60 Von „Fremden“, auch hochrangigen Besuchern,61 wurde das Haus Borchardt geradezu „überlaufen“, Ludwig Borchardt dadurch am Arbeiten gehindert, wie Eduard Cohen den Briefen seiner Tochter entnahm.62 Sogar an der Grabungsstätte Abusir tauchten immer wieder neugierige Besucher auf.63 An Ludwig und Mimi Borchardt gerichtete Empfehlungsschreiben kamen von verschiedenen Seiten, etwa 1914 von dem Verwandten James Loeb, der Frau Bonn, die Schwester seines aus Frankfurt stammenden, an der Universität München lehrenden Freundes Professor Moritz Bonn (1873–1965) zur freundlichen Aufnahme empfahl. Sie wollte einige Zeit in Kairo verbringen, interessierte sich „sehr lebhaft für Kunst und Archäologie“.64 Im Januar 1910 empfahl James’ Bruder Morris65 Professor Julius Sachs (und Ehefrau), seinen und seines Bruders früheren Lehrer, der ein „eingefleischter Hellene“ sei und Mimis Mutter noch als Mädchen gekannt habe.66 Geheimrat Esberg von Hannover, der von Eduard Cohens Hannoveraner Schwester Ella Oppler an Mimi und Ludwig Borchardt vermittelt wurde, entpuppte sich 1905 und 1907 gar als kaum zu vertreibender Dauergast. Die „verschiedenen deutschen Herren“ berichteten in Frankfurt und Hannover über ihre Besuche bei Borchardts in Kairo, was wiederum Familie Cohen zugetragen wurde. Unter den Hannoveraner Besuchern von 1904 fand
59 War auf „Gesellschaftsreise“ und sollte freundlich aufgenommen werden. E. Cohen an MB, 10. März 1907. SIK MB 6/3. 60 Da er ebenso wie E. Cohen im Städelverein (Frankfurt) sehr aktiv war, sollte LB sich besonders um ihn kümmern. E. Cohen an MB, 25. November 1907. SIK MB 6/7. 61 LBs Dienstakten geben nur teilweise Auskunft über die Besucher, etwa im März 1903 ein diplomatischer und ein Besuch des Prinzen Friedrich Heinrich, Bruder Kaiser Wilhelms II., im März 1908 vom kaiserlichen Sohn Prinz Oskar, im Januar 1911 von Kronprinzessin Cecilie, Ehefrau des preußischen Kronprinzen Wilhelm, mit Söhnen des Kaisers, im März 1911 des sächsischen Königs Friedrich August, im Dezember 1912 von Prinz Johann Georg Herzog von Sachsen, Bruder von König Friedrich August, mit Gefolge, im März 1913 von Prinz Joachim von Preußen, Sohn des Kaisers. Susanne Voss: Geschichte, 2013, S. 141 f. 62 E. Cohen an MB, 4. Februar 1904, 12. Februar 1904. SIK MB 4/1. 63 I. Cohen an MB, 17. Februar 1904. SIK MB 4/1. 64 J. Loeb an MB, 25. Januar 1914. SIK MB 68/6. Bonn stammte aus der gleichnamigen, seit dem frühen 16. Jahrhundert in Frankfurt ansässigen Familie, war Nationalökonom, Regierungsberater, Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei. 1933 emigrierte er zunächst nach Österreich, dann nach England und 1939 die USA. Max Warburg war sein Cousin. Sein Vater war ein Schulfreund von Jakob Schiff, der sich bei einer USA-Reise des Ehepaars Bonn 1914–1917 annahm. Moritz J. Bonn: Geschichte, 1953, S. 163. 65 Studierte bis 1887 in Berlin Chemie. 66 M. Loeb an MB, 27. Januar 1910. SIK MB 68/6.
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sich auch Max Meyerhof, ein Verwandter von Spiegelbergs in Hannover, wie Ida Cohen wusste.67 Er hatte sich, angeregt von seinem Vetter, dem Ägyptologen Wilhelm Spiegelberg (1870–1930),68 und einer Ägyptenreise mit seinem Großvetter Otto Meyerhof 1901/02, im Oktober 1903 definitiv für die dauerhafte Niederlassung in Ägypten und zur Eröffnung einer augenärztlichen Praxis entschieden. Möglicherweise vermittelte Eduard Cohen, dessen Vater ein ebenfalls in Hannover niedergelassener, hoch angesehener Arzt gewesen war, die Bekanntschaft zwischen dem Ehepaar Borchardt und Meyerhof in Kairo.69 Auf jeden Fall stellte sie einen Glücksfall dar, im Laufe der Jahre wuchs eine enge Freundschaft. Die Gelegenheit, sich von einem kundigen Familienmitglied durch das Land am Nil und seine berühmten Altertümer führen zu lassen, nutzte nicht zuletzt die amerikanische Verwandtschaft. Sowohl Jakob Schiff als auch Morris und James Loeb, die Söhne von Salomon Loeb, tauchten in Ägypten auf und ließen sich von Mimi Borchardt und ihrem Ehemann betreuen.70 Zugunsten von Jakob und Therese Schiff verzichtete Mimi Borchardt 1908 darauf, ihren Ehemann zu der Grabungsstätte in Tell el-Amarna zu begleiten.71 Alles in allem bedeutete die eheliche Verbindung von Ludwig und Mimi Borchardt ein Gewinn für die Familie, auch für ägyptenbegeisterte Frankfurter. Mimi Borchardts Tage füllten die zahlreichen Besucher zwar phasenweise fast im Übermaß, doch sinnstiftend wirkten sie nicht. Sie suchte ein eigenes, ihrer Erziehung und ihren Idealen gemäßes Betätigungsfeld, fand es schließlich vorläufig, auch dem Rat ihrer Nürnberger Freundin und Verwandten Friedel Oppler folgend, in der Fotografie, die ihren künstlerischen Neigungen entsprach und mit der sie es sogar zu einiger ‚Meisterschaft‘ brachte.72
67 I. Cohen an MB, 30. Januar 1904. SIK MB 4/1. 68 Sohn des Bankiers Eduard Spiegelberg (1837–1910) und seiner Ehefrau Antonie Dux (1846–1902). 69 Laut Information von Frau Isolde Lehnert (DAIK) hatte Meyerhof seine ärztliche Praxis in Hannover in unmittelbarer Nähe des Hauses Cohen. 70 Am 19. Januar 1907 kamen Morris und Eda Loeb zu LB und MB nach Kairo. M. Loeb an MB, (Neapel, Bertolini’s Palace) 11. Januar 1907. Jakob und Therese Schiff kamen im Winter 1907/8. James Loeb kam im Winter 1909. SIK MB 68/6, 7/1, 8/4. 71 E. Cohen an MB, 8. März u. 15. März 1908. SIK MB 7/2. 72 Die Eltern Cohen lobten MB für diese Beschäftigung (6. Februar u. 8. Februar 1904). Offenbar erhielt sie Preise für einige Aufnahmen. SIK MB 4/1. Das Hobby entsprach einer seit Mitte des 19. Jahrhunderts gepflegten Orientbegeisterung. Vgl. Zu den Ufern, 2005.
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Abb. 4: Familie Oppler in Nürnberg. (v.l.) Julie, Else, Theodor, Friedel Oppler
Erfüllend war auch dies nicht. Sie strebte ein Aufgabengebiet an, das darüber hinaus ging und bedauerte, keine Berufsausbildung zu haben. Ihre Mutter erinnerte sie daran, dass ihr „Beruf“ sei, die „Frau Deines Mannes zu sein“. Wenn sie diesen ganz erfülle, habe sie „ja auch schon dadurch etwas“. Klavierspielen, Arabischlernen und sonstigen Interessen nachgehen, werde ein Übriges tun. „Intime Freundschaften“ aber werde sie wohl nicht mehr schließen können, „wenn Du nicht gerade jemanden findest, der Dir ganz zusagt und das ist immer schwer und wird mit den zunehmenden Jahren immer schwerer“. Allerdings fand auch Ida Cohen, dass Mimi außer der Haushaltsführung eine „ernstere Tätigkeit“ benötigte. Nur sollte sie nicht mehr so grüblerisch sein und über ihr Leben nachsinnen.73 Doch weder ihre Aufgaben noch die meisten der sie umgebenden Menschen sagten Mimi Borchardt zu. Gleichgesinnte ließen sich kaum finden, der „oberflächliche gesellschaftliche Verkehr“ widerstrebte ihr, das „gesellige Leben“ in 73 I. Cohen an MB, 24. Februar 1904. SIK MB 4/1.
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Kairo empfand sie zunehmend als langweilig, versuchte die Zahl der E inladungen 74 auf ein Minimum zu reduzieren. Die erste Person, für die sie große Sympathie empfand und deren G esellschaft sie genoss, war der schon seit 1898 mit Ludwig Borchardt befreundete klassische Archäologe Otto Rubensohn (1867–1964),75 den sie spätestens im März 1904 in Kairo näher kennenlernte.76 Die beiden Männer hatten Bekanntschaft gemacht, als sich Rubensohn im Auftrag des sogenannten Papyruskartells77 für längere Zeit in Ägypten aufhielt, um für die Berliner Museen literarische Papyri zu erwerben und auszugraben. Dass sie sich auf Anhieb gut verstanden, empfand Rubensohn als nichts Ungewöhnliches, denn „zwei Juden finden sich immer“.78 1901 teilten sie sich eine Zeitlang eine gemeinsame Wohnung, besuchten zusammen Bekannte der ‚deutschen Kolonie‘ oder in Kairo stattfindende Veranstaltungen. Auch dass sie beide in temporären und keineswegs sicheren Stellungen arbeiteten, schweißte zusammen. Eine Wendung ins Positive zeichnete sich auch ab, als Mieter in die Institutswohnung aufgenommen wurden. Denn nachdem Borchardt 1907 nach langem Hin und Her zum Direktor des neu gegründeten „Kaiserlich Deutschen Instituts für ägyptische Altertumskunde“ ernannt worden war, man sich in Berlin aber nicht über den Ankauf eines Gebäudes verständigen konnte, erwarb Borchardt 1909 aus eigenen Mitteln sein Nachbarhaus, richtete in dessen unterem Stockwerk das Institut ein, im oberen Wohnräume für Mit74 Sympathie empfand MB für George Reisner und dessen Ehefrau (I. Cohen an MB, 23. März 1904. SIK MB 4/1). E. Cohen an MB, 23. Januar 1908. SIK MB 7/1. 75 Sohn von Hermann Rubensohn (1837–1919) und Rosa Herrlich (1838–1931). 1866 zog das Ehepaar Rubensohn von Beverungen nach Kassel, wo Otto als drittes Kind geboren wurde. 1873 gründete H. Rubensohn in Kassel eine Jute-Spinnerei und -Weberei. Weitere Kinder: Julie, Emil, Fritz, Ernst. Wegen Rosa Rubensohns Mutter lebte der Haushalt koscher. 1896 nahm sich Fritz das Leben, u. a. weil er judenfeindlich motivierten Diskriminierungen ausgesetzt war. Otto R. studierte Klassische Philologie, Archäologie und Kunstgeschichte in Berlin u. a. bei Adolf Furtwängler (Archäologe), Adolf Kirchhoff (Philologie) und Hans Delbrück (Geschichte), ab 1888 in Straßburg, dort Promotion 1892, 1893 Grabungen mit Dörpfeld in Troja, 1899 erstmals in Ägypten, ebenfalls 1901 bis 1906/07. Aubrey Pomerance: Rubensohn, 2015, S. 13–16. 76 E. Cohen an MB, 14. April 1904. SIK MB 4/2. Im April 1909 heirateten Friedel Oppler und Otto Rubensohn. Näher kennengerlernt hatten sie sich in Berlin bei Else Oppler-Legband, Friedels Schwester. Zur Hochzeit war auch das Ehepaar Cohen eingeladen. SIK MB 8/2. 77 Gegründet im Oktober 1902 zwecks Ankauf von Papyri. Dem Kartell gehörten u. a. A. Erman und U. v.Wilamowitz-Moellendorf in Berlin und G. Steindorff in Leipzig an. Josefine Kuckertz: Auf der Jagd, 2015, S. 43. 78 O. Rubensohn an seine Eltern, Februar 1899. Jüdisches Museum Berlin Sammlung Rubensohn 2006/27/146.
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arbeiter und Gäste.79 Erster Mieter im Obergeschoss waren das Diplomatenehepaar Hans und Elisabeth Kehren. Letztere war eine Frau, zu der Mimi Borchardt Vertrauen fassen, mit der sie eine Beziehung aufbauen konnte, die schließlich so stabil war, dass sie jahrzehntelang tragfähig blieb.80 Der langfristig bedeutendste Einschnitt bildete der am 29. Januar 1911 ins Leben gerufene und am 4. Februar erstmals tagende „Deutsche Frauenverein“, dessen Leitung statutengemäß die Ehefrau des deutschen Gesandten innehatte. Gründungsmitglieder waren Freifrau von Falkenbach (Vorsitzende), Olga Hasselbach (stellvertretende Vorsitzende), Emma Hess (Schatzmeisterin), Elvira Schmidt (Beisitzerin), Frau Eggert (Beisitzerin), die Gemeindeschwester Emma Kuhlen, Frau Heift (Beisitzerin, Ehefrau des deutschen Pfarrers) und Mimi Borchardt als Schriftführerin.81 Definierter Vereinszweck war die „Frauenhilfe zur Linderung der unter den Deutschen (…) in Kairo bestehenden Notstände“, wobei „Not“ nicht nur die materielle und finanzielle meinte. Nicht alle Vereinsmitglieder entsprachen Mimi Borchardts Geschmack, was aber angesichts des Vereinszwecks wenig wog. Im Zentrum stand die Pflege sozialer und kultureller Wohltätigkeit, was mit den von der Familie Cohen geprägten und der Tochter vorgelebten Lebensidealen übereinstimmte. Ihr Großvater väterlicherseits, Hermann Cohen,82 gehörte lange zum Vorstand der Jüdischen Gemeinde Hannovers, war in der Stadt und darüber hinaus als Wohltäter bekannt, auch einer der drei Administratoren des Samson’schen Legatenfonds der Samsonschule in Wolfenbüttel.83
79 Das AA zahlte dafür eine Miete von 20,- LE. Cornelius v. Pilgrim: Ludwig Borchardt, 2013, S. 244. 80 Briefwechsel zwischen MB und Elisabeth Kehren, 1906–1939. SIK MB 67/6. E. Kehren geborene Hardt war verheiratet mit Hans Josef Kehren-Görlsdorf (1873–1936). Söhne: Wolfgang (geb. 1907), Richard (geb. 1910). 1912 schied Kehren aus dem diplomatischen Dienst aus, kaufte sich ein Gut in Görlsdorf und betrieb Landwirtschaft. MB besuchte das Ehepaar mehrfach auf seinem Gut. 81 Bei der ersten Sitzung war MB nicht anwesend, weil sie sich wegen des Todes ihres Vaters in Frankfurt aufhielt. Vereinsgelder wurden bei der DOB in Kairo deponiert. SIK MB 63/7. 82 Gest. 10. Januar 1891, Sohn des Kriegsagenten Jakob Leffmann Cohen, verheiratet mit Sophie Gleisdorfer (gest. 1862, stammte direkt von den Oberhoffaktoren Samson Wertheimer und Samuel Oppenheimer ab). Seine Tante mütterlicherseits, Jeanette (gest. 1871), war die zweite Ehefrau von Israel Jakobsohn, des Präsidenten des jüdischen Konsistoriums. H. Cohens Tante Amalie (gest. 1885) war mit Alexander Cohen verheiratet. Sein Neffe war Albert Cohen (gest. 1889). Genealogische Studien, 1913, S. 49 f. 83 Jeshurun (AF) 43 (1884), S. 681; Moritz Rosenstock: Festschrift, 1886, S. 18.
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Abb. 5: Hermann Cohen, Großvater Mimi Borchardts väterlicherseits
Eduard Cohen war Mitglied und Förderer etlicher Frankfurter und Hannoveraner Vereine, etwa des Vereins für jüdische Krankenpflegerinnen (Frankfurt),84 des 1903 gegründeten Lokal-Comités des Hilfsvereins der Deutschen Juden,85 dessen Aufruf vom 12. Oktober 1905 zur Unterstützung der Juden in Russland er im 84 Frankfurter Israelitisches Familienblatt, H. 2 (1902), S. 3 f. 85 Im Oktober 1907 unterzeichnete er den „Aufruf für die Marokkanischen Glaubensgenossen“, der vom der Alliance Israélite Universelle initiiert worden war. Als Präsident der Alliance fungierte L.M. Goldberger, dessen Stellvertreter war Cohens Freund Charles Hallgarten. Ost und West 10 (1907), S. 666 f.
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inklang mit seinem Verwandten Jakob Schiff unterzeichnete,86 sowie des FrankE furter Kunstvereins, um nur Einige zu nennen. Ganz besonders am Herzen lag Cohen die 1893 gegründete jüdische Schule und Ausbildungsstätte in Hannover- Ahlem, weshalb er sich kontinuierlich mit deren Gründer, dem Hannoveraner Bankier Moritz Simon, zu Besprechungen traf.87 All diese Aktivitäten hatten diskret stattzufinden, ebenso wie Cohen auch mit seinem künstlerischen Schaffen nicht in die Öffentlichkeit trat, weil es ihm um die „innere Wahrhaftigkeit des künstlerischen Schaffens“ ging.88
Abb. 6: Edwin und Ella Oppler (Schwester von Eduard Cohen, Tante von Mimi Borchardt), Hannover
86 Schiff leitete ab 1903 die amerikanische Boykott-Kampagne gegen Russland, die 1911 erste große Erfolge verzeichnete. http://nwodb.com/main?e=1546. 87 Mit Simon (1837–1905) traf Cohen sich sowohl in Hannover als auch in Frankfurt, wie er seiner Tochter in zahlreichen Briefen, beispielsweise am 7. Januar 1897, berichtete und ihr dabei die Unterstützung der Einrichtung ans Herz legte. SIK MB 1/2. In Ahlem standen die landwirtschaftlich-gartenbauliche und handwerkliche Ausbildung jüdischer Schüler im Vordergrund. Friedel Homeyer: 100 Jahre, 1993. Waldemar Röhrbein, Hugo Thielen: Persönlichkeiten, 1998, S. 148–150. 88 Nachruft „Eduard Cohen“, in: AZJ 6 (1911), S. 66.
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Auch mütterlicherseits hatte wohltätiges Handeln Tradition. Aus dem Testament von Mimi Borchardts Mutter Ida Kuhn geht hervor, dass deren Vater Abraham Kuhn im pfälzischen Dürkheim eine „A. Kuhn’sche Stipendienstiftung“ ins Leben gerufen hatte. Ida verfügte testamentarisch, dass ein Jahr nach ihrem Tod die „Kuhn-Cohen’sche Familienstiftung“ eingerichtet werden sollte, die für verarmte oder kranke Nachkommen, gemeinnützige Zwecke und in Not geratene Menschen gedacht war.89 Mit ihrem Engagement beispielsweise im Rahmen des Frauenvereins und des deutschen Unterstützungsvereins folgte Mimi Borchardt ihrer Familientradition, dort erlernten sozialen Werten; zugleich ergaben sich daraus langdauernde soziale Beziehungen. Darüber hinaus rückte sie so ihrem lang gehegten Traum von einem „Salon Mimi“ ein Stück näher.90 Dahinter stand der Wunsch, die deutscher Kultur auch im Ausland zu pflegen und weiterzugeben, ein Bedürfnis, um das es Mimi Borchardt nach dem Ersten Weltkrieg noch weit mehr ging. Im Blick hatte sie dabei nicht nur Erwachsene, sondern auch Kinder und Jugendliche, sodass die Förderung der deutschen Schule ebenso zu ihrem Anliegen wurde – sie sollte deutsche Kultur verbreiten, Deutschland in Ägypten repräsentieren.91 Bis 1914 kristallisierten sich wichtige Bezugspersonen für Mimi Borchardt heraus. Eine der wesentlichsten war mit Gewissheit der Augenarzt Max Meyerhof (1874–1945).92 Ende 1912 mietete er gemeinsam mit seiner verwitweten Schwester Emma Pakscher die Institutswohnung, in der vorher Curt Prüfer gelebt hatte. Vertrauensbildend wirkte nicht zuletzt, dass sich die Hannoveraner jüdischen Familien Cohen, Spiegelberg und Meyerhof kannten, sogar weitläufig miteinander verwandt waren, wie die Eltern Cohen wussten. Auch mit den Nachfolgemietern des Ehepaars Kehren, dem Ehepaar Prüfer, entstand große Nähe. Der ungewöhnlich sprachenbegabte Curt Prüfer (1881–1959) war von Februar 1907 bis November
89 Stiftungsleitung hatten MB, Mortimer Schiff (New York) und Rechtsanwalt Eduard Baerwald (Frankfurt) inne. Testament Ida Kuhn, in: HHSTA Wiesbaden Amtsgericht Frankfurt 51/36 IV 201/30. 90 Ida Cohen erinnerte ihre Tochter an diesen „einstigen Traum“ (20. Februar 1904). SIK MB 4/1. 91 1915 gab es in Ägypten 9.060 Schulen, die von ca. 543.000 Schülern besucht wurden. 1917 lag die Alphabetenrate bei 6,8 %, 1927 bei 11,8 %. Ziad Fahmy: Ordinary Egyptians, 2011, S. 24, 33. 92 Der gebürtige Hildesheimer Max Meyerhof wuchs in Hannover auf als Sohn von Albert Meyerhof (1817–1876) und Lina Spiegelberg (1834–1924). Sein Vetter war der Ägyptologe Wilhelm Spiegelberg (1870–1930), sein Großvetter der Chemiker Otto Meyerhof. M. Meyerhof war Augenarzt, Medizinhistoriker und Orientalist, betrieb ab 1903 in Kairo eine Privatpraxis, arbeitete außerdem an der vizeköniglichen Augenklinik. Seit 1930 verheiratet mit Elise Henning. Kahle Erhart: Meyerhof, Max, 1994, S. 392–393. Isolde Lehnert (DAIK) bereitet eine biografische Studie zu Max Meyerhof vor.
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1913 Übersetzer (Dragoman) der deutschen Gesandtschaft,93 verheiratet in erster Ehe mit der Amerikanerin Frances Ethel Pinkham. Zu ihr hielt Mimi Borchardt den Kontakt, auch nachdem sich das Ehepaar Prüfer getrennt hatte.94 Eduard Cohens Sorgen bezüglich des beruflichen Fortkommens seines Schwiegersohnes dürften sich gemildert haben, als diesem vom Minister für die geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten am 22. Oktober 1906 aufgrund seiner wissenschaftlichen Leistungen der Professorentitel verliehen wurde. Dies war zwar keineswegs mit höheren Zuwendungen verknüpft, bedeutete aber eine Ehre für den „wissenschaftlichen Sachverständigen beim Kaiserlichen Generalkonsulat Kairo“, so Borchardts offizieller Titel.95 Erst 1907 wurde Borchardt offiziell Direktor des „Kaiserlich Deutschen Instituts für ägyptische Altertumskunde“. Dies mag Eduard Cohen erleichtert haben. Denn er brachte zwar Verständnis dafür auf, dass sein Schwiegersohn 1906 einen Ruf an die Universität Wien wegen des dort herrschenden Antisemitismus abgelehnt hatte, bedauerte diese Entscheidung dennoch.96 In Frankfurt bemühte sich das Ehepaar Cohen um Kontakte mit Ägyptologen, so mit Georg Steindorff, der im Dezember 1905 einen Vortrag hielt und bei dieser Gelegenheit Gast im Hause Cohen war.97 In Hannover nahm man Anteil an den Geschehnissen im Hause Spiegelberg.98 In Chicago vermittelten Freunde den Besuch des Archäologen Tarbell bei Ludwig Borchardt in Kairo.99
93 Die von ihm angestrebte Leitung des Khedivalen Bibliothek löste diplomatische Spannungen aus, weil Prüfer zusammen mit Max v. Oppenheim anti-britische Politik betrieben hatte und die ägyptischen Nationalisten unterstützte. Die Position wurde ihm seitens Ägypten und Großbritannien verweigert. Im November 1913 verließ er den Auswärtigen Dienst. Donald M. McKale: Prüfer, 1987, S. 21–24. 94 Frances und Curt Prüfer lernten sich im Winter 1906 in Berlin kennen, wo sie Musik studierte. Sie stammte aus einer wohlhabenden Familie in Lynn (Massachusetts), war 13 Jahre älter als C. Prüfer. Heirat 1907. In zweiter Ehe heiratete sie 1931 in Boston den Schauspieler William Lorenz (1888–1946). SIK MB 75/9. Scott Anderson: Lawrence, 2014, S. 31. 95 Am 30. Juli 1897 hatte die Berliner philosophische Fakultät LB den Dr.h.c. verliehen. 96 E. Cohen meinte (21. Mai 1906 an MB), LB hätte den Gegenbeweis antreten können. Zur Ernennung LBs zum Direktor gratulierten etliche Verwandte und Freunde E. Cohens. SIK MB 6/2, 6/6. Der in Wien herrschende Antisemitismus suchte in seiner „ideologischen Virulenz und politischen Durchschlagskraft in Europa seinesgleichen“. Ulrich Sieg: Jüdische Intellektuelle, 2008, S. 45. 97 E. Cohen an MB, 1. Dezember 1905. SIK MB 5/4. 98 E. Cohen berichtete MB am 3. November 1905, eine Tochter Spiegelberg habe sich mit einem adligen Leutnant verlobt. SIK MB 5/4. 99 E. Cohen empfahl MB am 15. Januar 1907 dessen freundliche Aufnahme. Vermittelt wurde durch Prof. Ernst Freund (Professor in Chicago), Sohn des Freundes von Cohen. SIK MB 6/7.
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Auch wenn sich das Leben Mimi Borchardts in Kairo zunehmend konsolidierte und in für sie befriedigendere Bahnen floss, barg die Umstellung auf das gänzlich andere gesellschaftliche Umfeld und die fremde Lebensart dennoch beständig Probleme, obwohl sie 1903 gut vorbereitet und informiert in Ägypten eingetroffen war. Dies war den zahlreichen, alljährlich in den Wintermonaten nach Ägypten strömenden orientbegeisterten Touristen nicht deutlich.100 Auf sie wirkte die orientalisch-europäische Welt Ägyptens zumeist anziehend, ebenso wie auf Familie Cohen Ende des 19. Jahrhunderts.101 Seit Mitte des 19. Jahrhunderts war Ägypten eines der gesuchtesten Reise- und Migrationsländer für Europäer;102 bereits in den 1850er Jahren wurden jährlich etwa 30.000 Besucher gezählt.103 Während manche von den zu besichtigenden Altertümern angezogen waren, kamen andere aus gesundheitlichen, beruflichen oder wissenschaftlichen Gründen – Nierenund Lungenkranke schätzten das ägyptische Klima, Kaufleute die geschäftlichen Möglichkeiten, Orientalisten, Ägyptologen und Mediziner104 die Forschungsmöglichkeiten. Von besonderer Anziehungskraft waren die beiden städtischen Metropolen Kairo und Alexandria, die nicht nur eine reizvolle Mischung aus Kosmopolität und Orient boten, sondern auch unternehmerische Möglichkeiten. Auch war es nicht allzu umständlich, Ägypten per Schiff zu erreichen. In knapp vier Tagen ließ sich die Distanz zwischen Genua bzw. Neapel und Alexandria oder Port Said überbrücken. Nur etwa drei Stunden dauerte um 1900 die Zugfahrt von Alexandria nach Kairo. Die meisten Besucher betrachteten die ägyptischen Zeitgenossen mit überheblicher Distanz in einer Mischung aus wohlwollendem Verzeihen, Verachtung und Respektlosigkeit. So äußerte sich der außerordentliche Professor am Heidelberger Hygienischen Institut, Rudolf Otto Neumann (1868–1952), in seinen Erinnerungen an eine Ägyptenreise vom März bis Mai 1909 despektierlich über die Ägypter, die er durchweg als betrügerische, korrupte und schmuddelige „Faulenzer“ wahrnahm.105 In Kairo mit seinen zu dieser Zeit rund 650.000 100 Einblick in die Vielzahl der Besucher liefern die Beschreibungen von Ottmar von Mohl: Ägypten, 1922. 101 Ägyptenbegeisterung setzte vor allem nach der Napoleonischen Eroberung Ägyptens (1799– 1802) ein, in deren Folge sich zunächst das wissenschaftliche und anschließend ein umfassenderes Interesse an dem Land sprunghaft entwickelte. James F. Goode: Negotiating, 2007, S. 67–69. 102 Zur Zuwanderung aus Österreich, vornehmlich seit dem frühen 19. Jahrhundert, vgl. die Reihe „Egypt and Austria“. 103 Anita Müller: Schweizer, 1992, S. 26. 104 Mediziner erforschten vor allem Augen- und bakterielle Erkrankungen. Zu nennen sind etwa Maximilian Koch, Theodor Bilharz, Robert Koch, Franz Pruner und Sebastian Fischer, die die Grundlagen der Tropenmedizin schufen. 105 Rudolf Otto Neumann: Ägypten, 2005.
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Einwohnern sah er „eine echt orientalische Stadt“, in der nur das „Ausländerviertel“ schön, elegant und vornehm sei.106 Mit ähnlicher Verachtung trat er dem seit 1896 an der Kairener Medizinhochschule „Kasr al Aini“ tätigen Helminthologen Arthur Looss (1861–1923) entgegen, der aus seiner Sicht, ebenso wie etliche andere, seit Längerem in Ägypten lebende Deutsche, „arabisiert“, also chaotisch, unsauber und faul sei.107 Sogar der seit 1903 in Kairo tätige Max Meyerhof, dem er durchaus Respekt und Bewunderung entgegen brachte, fiel unter dieses Verdikt.108 Andere Reisende, wie etwa der Münchner Lehrer Alfons Kalb, fühlten sich 1903 in Kairo in eine „besondere, reizende Welt versetzt, die sich die Knabenphantasie aus ‚Tausend und eine Nacht‘ erschuf“. Als positiv empfand er, dass Kairo sich „neuestens manchen Vorzug europäischer Großstädte angeeignet (hatte) ohne dabei seinen eigentümlichen, bodenständigen Charakter“ einzubüßen. Dabei seien die „Schattenseiten des Orients, Unordnung und Schmutz“ für den Reisenden „wenig fühlbar, so dass sie das freundliche Märchenbild nicht zu trüben vermögen“. Über alles erstrecke sich der „bunte orientalische Zauber“.109 Anders als Neumann erfuhr Kalb die „eingeborene Bevölkerung“ als „durchweg liebenswürdig“, verglich sie „mit großen Kindern“, die „heiter“ seien und den „Scherz bis zum Mutwillen“ liebten. Ab und an zeigten sie „auch die Unarten von Kindern“, seien aber „doch gewöhnlich weder halsstarrig noch hinterhältig“, begegneten „dem Fremden“ mit Respekt. Niemand verstehe es „so gut Orientalen Achtung vor europäischer Überlegenheit beizubringen, als der aristokratische, wortkarge, aber zielbewusste Engländer“.110 Bewunderung nötigte Kalb die gelungene Organisation des Straßen- und Verkehrswesens Kairos ab und ebenso die Anlage schöner Plätze, etwa des Ezbekije Garten, in dem tropische Pflanzen zu bewundern waren und an den die europäischen Institute, Post, Banken, Gerichtshöfe, Hotels und Theater angrenzten. In diesem Umfeld amüsierte sich abends und nachts die europäische Bevölkerung der Stadt. Von dem „freundlichen Gelehrten“ Ludwig Borchardt ließ Kalb sich am 24. Januar 1903 durch die Grabungen in Abusir-Sakkara führen. Mit der Straßenbahn waren sie morgens
106 Rudolf Otto Neumann: Ägypten, 2005, S. 33. 107 Rudolf Otto Neumann: Ägypten, 2005, S. 34 ff. 108 Neumann bewunderte nicht zuletzt Meyerhofs umfassende Sprachkenntnisse, die es ihm ermöglichten, mit den unterschiedlichsten Patienten zu kommunizieren. Rudolf Otto Neumann: Ägypten, 2005, S. 74 f. 109 Alfons Kalb: Tagebuch, 1904/05, S. 13 f. 110 Alfons Kalb: Tagebuch, 1904/05, S. 15. 111 Alfons Kalb: Tagebuch, 1904/05, S. 48, 53.
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zum Mena Haus am Fuße der Pyramiden von Giza gefahren, um von dort per Esel den mehr als zweistündigen Ritt nach Abusir zurückzulegen.111 Die beiden Reisebeschreibungen stellten keineswegs Ausnahmen dar. In der Mehrzahl kontrastierten diese das ‚zivilisierte Europa‘ mit dem ‚primitiven Ägypten‘, dessen pharaonische Vergangenheit als die Wiege der Kultur zu bewundern sei.112 Selbst- und Fremdwahrnehmung der ägyptischen Zeitgenossen klafften schon Ende des 19. Jahrhunderts weit auseinander, wie sich beispielsweise 1894 anlässlich der Weltausstellungen in Belgien und Frankreich (Lyon), die jeweils einen arabischen Pavillon hatten, zeigte. Vor allem die Ausstellung in Antwerpen erregte das Missfallen beispielsweise des ägyptischen Nationalisten und Sozialreformers Mustafa Kamil, der die Darstellung einer ‘typisch’ ägyptischen Straße als unzutreffend und beleidigend empfand.113 „He felt it presented visitors with a picture of Egypt as lacking and of Egyptians as content in their backwardness. He believed the real aim of the exhibit was mockery.“114 Als repräsentativ für Ägypten wurde eine Straße in Alt-Kairo dargestellt mit traditionellen Kleinhändlern, Haschisch rauchenden Eseltreibern und Bauchtanz-Cafés. Diese sollten die typischen Charaktere von Ägyptern spiegeln. Noch erzürnter war der zur sich entwickelnden Mittelschicht, der „Effendiyya“, gehörende Kamil über die so oft wiederholte Darstellung von ägyptischen Bauchtänzerinnen, dass Ägypten wie ein „feminized and sexualized body“ erschien. Europa galt im Gegensatz zu dem vermeintlich degenerierten und feminisierten Osten als aktiver und starker Westen. Das zeitgenössische Ägypten war aus europäischer Sicht repräsentiert durch Bauchtänzerinnen und träge, mittelalterlich anmutende männliche Charaktere. Dass Europäer daraus die Berechtigung zur Kolonialisierung bzw. Herrschaft über Ägypten ableiteten, war für Kamil evident. In höchstes Erstaunen versetzt hätte es die meisten Ägyptenbesucher, etwa von der sich seit dem späten 19. Jahrhundert unabhängig von Europa entwickelnden ägyptischen Frauenbewegung zu erfahren.115 Dass viele Ägypter durchaus um die Fremdwahrnehmung wussten und sie sich darin keineswegs wiederfanden, war den meisten Besuchern und europäisch-amerikanischen Migranten Ägyptens fremd. Sie hielten sich auf beobachtende Distanz, urteilten aus ‚höherer Warte‘, wie an den benannten deutschen Beispielen zu sehen, und schufen sich ihr eigenes Ägypten. So traf sich schon vor
112 Sarah Lemmen: Travelogues, 2007, S. 167–176. 113 Wilson Ch. Jacob: Working Out, 2011, S. 1. 114 Wilson Ch. Jacob: Working Out, 2011, S. 3. 115 Daughters, 2001; Beth Baron: Egyptian Women’s, 1994; Janet Abu-Lughod: Remaking, 1998.
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1914 unweit des Shepheard’s Hotel allabendlich ein „deutscher Stammtisch“, den auch deutsche Kurzzeitbesucher wie beispielsweise der Heidelberger Ägyptologe Hermann Ranke gerne aufsuchten.116 Dort trafen sich fast der gesamte „akademische Teil der deutschen Kolonie sowie die durchreisenden deutschen Akademiker“. Ranke lernte bei dieser Gelegenheit den Dragoman Curt Prüfer, den Arabisten Hess, den dänischen Leutnant Davidson und Pieper, der mit ihm später einen einheimischen Antikenhändler aufsuchte, kennen. Prüfer führte Ranke durch diverse Museen und Basare. Ägyptens Bevölkerung wuchs seit dem späten 19. Jahrhundert rasch, was sich zunächst eher im ländlichen Raum bemerkbar machte, dann aber auch auf die 17 städtischen Ansiedlungen übergriff und zu einer sich wandelnden Gesellschaft führte. Zu beobachten war ein Einwandererschub, der im wesentlich aus der zunehmenden Ausrichtung der ägyptischen Landwirtschaft auf Baumwolle resultierte. Davon angelockt wurden europäische Händler und Investoren, denen sich „lukrative Wirkungsmöglichkeiten“ zu eröffnen schienen, „weil das wachsende Handelsvolumen den Aufbau eines modernen Transport- und Kommunikationsnetzes verlangte, Bereiche, in die während des ganzen 19. Jahrhunderts riesige Summen investiert wurden“.117 Schon 1880 verfügte Ägypten über ein ausgeweitetes Eisenbahnnetz118 und Telegraphensystem. Infolge des gut funktionierenden Transportsystems entwickelte sich Ägypten zu einem Rohstofflieferanten (vor allem von Baumwolle) für europäische Fabriken. Zugleich sorgte die Eisenbahn für die Ausweitung kommunikativer Netzwerke, das gut organisierte Postsystem für die Versorgung mit Zeitungen und Zeitschriften.119 Eine Vielzahl ausländischer Unternehmen bemühte sich um Teilhabe an und Investition in neue Projekte.120 Begünstigt wurden sie durch eine Gesetzgebung, die privaten Landbesitz ermöglichte und Ausländern in Form der „Kapitulationen“ besondere Privilegien zugestand.121
116 Ranke an Erman, 24. November 1912. UBB NLE Ranke. 117 Anita Müller: Schweizer, 1992, S. 23. 118 Die erste Eisenbahnlinie (1856) führte von Kairo nach Alexandria (209 km). 1858 kam die Verbindung Suez-Kairo hinzu, 1861 jene zwischen den Städten im Delta und Kairo. Ziad Fahmy: Ordinary Egyptians, 2011, S. 25. 119 Dazu zählten auch Reise-Theater. 1913 gab es 427 große Postämter und 1477 kleine, über das Land verteilte. Ziad Fahmy: Ordinary Egyptians, 2011, S. 26 f, 43. 120 Anita Müller: Schweizer, 1992, S. 23. 121 Die „Kapitulationen“ bestimmten, dass Ausländer nicht vor ein ägyptisches Gericht gestellt werden durften, sondern nur vor das Konsulargericht ihres Heimatlandes. Erst 1875 wurden die Gemischten Gerichte eingeführt, um allzu grobe Missbräuche zu verhindern. Anita Müller: Schweizer, S. 23.
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Auf der Negativseite stand, dass der ägyptische Staat schon 1876, unter Khedive Ismail, Bankrott anmelden musste. Aufgrund der enormen Schulden kontrollierten Frankreich und England die ägyptischen Finanzen und gründeten eine „Caisse de la Dette“, die die ägyptischen Finanzen unter die Kontrolle europäischer Gläubiger stellte. Die instabile Finanzsituation führte schließlich 1882 zur „Urabi“-Revolte, in deren Folge Ägypten schließlich unter britische Besatzung fiel.122 Schon Mitte des 19. Jahrhunderts hielten sich zahlreiche Ausländer in Ägypten auf, 1836 wurde ihre Zahl auf 14.500 geschätzt, 1882 auf rund 90.000 mit rasch zunehmender Tendenz in den darauffolgenden Jahren.123 Vor allem in Kairo machte sich der demografische Wandel bemerkbar, die Bevölkerung verdreifachte sich zwischen 1897 und 1947, überschritt schließlich die Zwei-Millionen Grenze.124 Unter den rund 400.000 Einwohnern des Jahres 1873 fanden sich etwa 20.000 Europäer (7.000 Italiener, 4.200 Griechen, 4.000 Franzosen, 1.600 Engländern, 1.200 Österreichern/Ungaren, 800 Deutsche, 500 Perser, 120 Spanier, 25 Belgier, neun Brasilianer, fünf Portugiesen, zwei Schweden). Acht Prozent der ägyptischen Bevölkerung lebten 1897 in Kairo, der Stadt mit der höchsten Steigerungsrate, fünfzig Jahre später schon elf Prozent.125 Dieses Wachstum resultierte auch aus der Migration vom Land in die Stadt, die ihre Ursache in der Verarmung der ländlichen Bevölkerung infolge hoher Steuern, fehlender Landreformen, schnellen Bevölkerungswachstums und des Wechsels von Subsistenzwirtschaft zu „cash crop farming“ hatte.126 Anders als in Alexandria, wo schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts eine große Anzahl Nicht-Ägypter lebte, war dies in Kairo ein erst ab dem späten 19. Jahrhundert auftauchendes Novum. 35.000 der Kairener Einwohner des Jahres 1897 waren nicht in Ägypten geboren, 1907 zwischen 62.000 und 75.000, die nicht die ägyptische Staatsangehörigkeit besaßen und zu etwa 70 Prozent als Einwanderer einzustufen sind.127 In Alexandria galten 1897 rund 47.000 der etwa 320.000 Ein122 Ziad Fahmy: Ordinary Egyptians, 2011, S. 23. 123 Anita Müller: Schweizer, S. 23. 124 Insgesamt verdoppelte sich die Bevölkerungszahl Ägyptens während dieses Zeitraums. Janet L. Abu-Lughod: Cairo, 1971, S. 119. 125 Für 1897 sind 589.572 Einwohner angegeben, für 1907 678.423. Mit dem Börsenkrach von 1907 und der folgenden Wirtschaftskrise verlangsamte sich der Bevölkerungszuwachs in Kairo, ein Trend, der sich mit Beginn des Ersten Weltkriegs umkehrte. Zwischen 1917 und 1927 nahm der Bevölkerungsumfang, vor allem aufgrund zunehmender Binnenmigration, um 236.600 Personen zu. Janet L. Abu-Lughod: Cairo, 1971, S. 120 f, 125. 126 Ziad Fahmy: Ordinary Egyptians, 2011, S. 28. 127 Janet L. Abu-Lughod: Cairo, 1971, S. 121 f. 128 Anita Müller: Schweizer, 1992, S. 29.
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wohner als Ausländer, 1907 rund 56.000 von etwa 370.000.128 In den folgenden zehn Jahren änderte sich das Bild zugunsten Alexandrias. 1917 waren von den rund 445.000 Einwohnern etwa 85.000 Ausländer, in Kairo etwa 69.000 von rund 791.000.129 In der Mehrzahl besaßen diese 1907 griechische Staatsangehörigkeit (62.973), gefolgt von der italienischen (34.926), englischen (20.653) und französischen (14.591).130 Zunehmend ließen sich auch Deutsche und Österreicher in Ägypten nieder. Für die Jahre 1902 und 1906 sind für Ägypten 7.115 Österreicher und 1.281 Deutsche angegeben (davon 2.262 bzw. 487 in Kairo), für 1913 7.704 bzw. 1.847 (etwa 1.000 Deutsche in Kairo).131 Obschon wesentliche wirtschaftliche Impulse von Deutschen ausgingen, etwa der Bau luxuriöser und am europäischen Geschmack ausgerichteten Hotels, war Deutschland keine zahlreich vertretene Nation, machte dennoch auf sich aufmerksam, etwa durch den Bau von Hotels in Kairo, Alexandria, Luxor und Assuan in den 1870er Jahren.132 In Kairo erforderte die rasche Bevölkerungszunahme die Schaffung neuer Wohngebiete, ehemaliges Ackerland am Westufer des Nil wurde trockengelegt und bebaut, ein neues Straßennetz angelegt. Mehr als 300 Moscheen, 44 Kirchen und 13 Synagogen waren zu finden.133 Als die vornehmste, von zahlreichen Läden gesäumte Straße galt die „Muski“ im Stadtzentrum, bei Touristen und den im Land lebenden Ausländern erfreute sie sich gleichermaßen großer Beliebtheit. Eine Oase der Ruhe bot die Nilinsel Gesireh mit dem Khediven-Palast und dessen prachtvollen Parkanlagen, die wie ein „Wundermärchen“ aus „Tausend und eine Nacht“ wirkten. 1903, als der überwiegende Teil der Straßen noch völlig ungeeig129 Von den im Jahre 1927 als Ausländer bezeichneten Personen galten 83 % als Europäer. Wichtig für die Klassifizierung war nicht die Herkunft, sondern die Staatsbürgerschaft und „dass es sich bei einem Großteil der ‚Briten‘, ‚Franzosen‘, usw. um Personen aus deren Kolonien handelte, sowie um Angehörige anderer Nationen und lokale Minderheiten, die sich mit einer europäischen Staatsbürgerschaft die Privilegien der Kapitulationen zu sichern suchten.“ Anita Müller: Schweizer, 1992, S. 24 f, 29. 130 Überwiegend lebten die Ausländer in Städten. 1927 lag ihr Bevölkerungsanteil insgesamt bei 1,6 %, in Alexandria bei 17 %, in Port-Said und Ismāilia bei je 15 %, in Suez bei 14 % und in Kairo bei 7 %. Anita Müller, Schweizer, 1992, S. 25. 131 Baedeker, 1913, S. XLV, LXIV. 132 Dazu ausführlich: Andrew Humphreys: Grand Hotels, 2011. Direktor des „Luxor-Hotels“ (Luxor) war der Schweizer Hügi, Direktor des „Winter Palace“ (Luxor) des Deutsche Schaich. Bericht LB an Reichskanzler v. Bethmann-Hollweg, 10. April 1916. DAIK Archiv Altakten Mappe A XXVIII. 133 Gerhard Rohlfs: Beiträge, 1876, S. 75. 134 1930 wurden 7.000 bis 8.000 Privatautos gezählt; hinzu kamen einige Taxen und Autobusse. Nur fünf Jahre später waren mehr als 10.000 private Automobile unterwegs, etwa 2.000 Taxen und Autobusse. Janet L. Abu-Lughod: Cairo, 1971, S. 158 f.
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net dafür war, erschienen die ersten Automobile im Kairener Straßenbild, 1930 versank die Stadt bereits fast im Verkehrschaos.134 Noch rascher vollzog sich diese Entwicklung in Alexandria, was auch daraus resultierte, dass die Stadt sich im Laufe des 19. Jahrhunderts zur Handelsmetropole entwickelt hatte. Ägyptens Wirtschaftskraft steigerte sich bis 1907 erheblich, doch lagen die Gesellschaftskapitalien, die gesamten Staatsanleihen, die Suez-Kanal-Gesellschaft und der Großhandel weitgehend in nicht-ägyptischer Hand – „during the period 1882–1918 foreign domination of finance, banking, trade, and various joint-stock companies was almost complete“.135 Mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs schied Ägypten aus dem osmanischen Herrschaftsgebiet aus, wurde zum Britischen Protektorat erklärt. England entsandte eine große Anzahl von Truppen in den Mittleren Osten, was einen erneuten Bevölkerungszuwachs beinhaltete und zu einer deutlichen Produktionssteigerung sowie Nachfrage nach Dienstleistungen, insgesamt also einem wirtschaftlichen Aufschwung führte.136 Für Deutschland kristallisierte sich Ägypten bis zum Ersten Weltkrieg zunehmend als wichtiger Handelspartner heraus. In der Maiausgabe 1907 der Zeitschrift „Palästina“ war zu lesen, dass „Deutschland (…) in den Handelsberichten von Alexandria seit Jahren an vierter Stelle“ erscheine.137 Der Handelsumsatz mit Ägypten betrug 1905 56 Millionen Mark, war aber tatsächlich höher zu veranschlagen, „da ein nicht unbeträchtlicher Teil der deutschen Ausfuhr über österreichische, italienische, niederländische und belgische Häfen geht und in der Statistik als ein Teil der Ausfuhr dieser Länder erscheint“. Führend war Deutschland bei der Ausfuhr von Strumpf- und Wirkwaren, Musikinstrumenten, Steingut und Porzellan nach Ägypten; bei der Einfuhr nach Deutschland rangierten Zigaretten und Gummiarabikum an erster Stelle. Dem Bericht zufolge kam der „allgemeine Aufschwung“ Ägyptens deutschen Unternehmen zugute. Eine Vorrangstellung nahm dabei die Hotelindustrie ein, wie etwa das von einem Dresdner geführte „Grand Continental-Hotel“ in Kairo.138 Ziel des zitierten Zeitschriftenartikels war, deutsche Interessen noch mehr auf Ägypten zu lenken, denn „unstreitig (sei es) ein Land der Zukunft“ und erschließe der deutschen Industrie „unübersehbare Absatzgebiete“.
135 Marius Deeb: Socioeconomic Role, 1978, S. 11–22, zitiert nach: Anita Müller: Schweizer, 1992, S. 24. 136 Janet L. Abu-Lughod: Cairo, 1971, S. 124 f. 137 Palästina 5 (1907), S. 135. 138 Im Durchschnitt täglich 350 Gäste bei 230 Angestellten. Die Tageskosten betrugen ca 7000 Mark. Palästina 5 (1907), S. 136.
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Deutsche Unternehmen etablierten sich auch in zuvor England vorbehaltenen Bereichen, etwa im Transportwesen. Kurz nach der Jahrhundertwende gelang es der Hamburg-Amerika-Linie, ernsthafte Konkurrenz der englischen Linie bei der Nildampferbetreibung für Fahrten nach Oberägypten zu werden. Dies war Novum und Zäsur zugleich, denn bis dahin waren sämtliche Dampfer und auch Hotels in Luxor und Assuan im Besitz des englischen Unternehmens „Cook“ gewesen. Die Nildampfer „Puritan“, „Viktoria“, „Nubia“ und „Germania“ wurden seit 1906/07 von der „Hamburg und Anglo-American Nile Co.“ betrieben.139 Auch der Dampferverkehr von Europa nach Alexandria, für den lange Zeit ausschließlich die Österreichische Lloyd ein Monopol besaß, ging mehr und mehr in deutsche Hände über. Zwei deutsche Linien richteten Dauerverbindungen ein, die Hamburg-Amerika-Linie schuf eine Expressverbindung nach Ägypten.140 Ebenso wie Ludwig und Mimi Borchardt legten die meisten deutschen Migranten ihre Niederlassung in Ägypten auf Langfristigkeit an. Deshalb war ihnen – ähnlich wie den Angehörigen anderer Nationen141 – an der Schaffung eigener sozialer Strukturen gelegen. Als erstes etablierte sich die deutsche Kirche. Anlässlich der Eröffnung des Suez-Kanals, 1869, legte Kronprinz Friedrich Wilhelm von Preußen in Kairo den Grundstein für eine deutsch-evangelische Kirche und ein Gemeindehaus, ermöglicht durch eine Schenkung des 139 Diese Company war entstanden aus der Vereinigung der „Anglo-American Nile Steamer and Hotel Co.“ mit der „Hamburg-Amerika-Linie“. Palästina 5 (1907), S. 137. 140 „Am Montag Abend setzt man sich auf dem Anhalter Bahnhof zu Berlin in den ÄgyptenExpress, der über München-Verona-Florenz und Rom nach Neapel fährt, wo die „Oceana“ zur Überfahrt nach Alexandrien bereitliegt, und am Sonnabend Morgen schon landet man in Ägypten, ohne irgend eine Gepäckrevision, ohne jede Unbequemlichkeit oder Schererei.“ Palästina 5 (1907), S. 137. 141 Zu schweizerischen Organisationsstrukturen in Alexandria s. Anita Müller: Schweizer, 1992, S. 59–62, 127–142. 142 100 Jahre, 1964, o. S. 1869 trennten sich die Kairener und Alexandriner Gemeinde. Schulund Pfarrhaus in Kairo wurden von dem Architekten Franz-Bey entworfen, die Bauarbeiten von dem Architekten Battigelli überwacht. Vorstandsmitglieder 1869: Stamm (Missionar), Nerenz (Vizekonsul), Wettstein, Riser, Zollikover; 1870: Stamm, Dr. Brugsch, Fabian, Franz Bey, Uhle, Wettstein; 1872: Dr. Trautwetter (Pfarrer) als Vorsitzender, v. Jasmund (Generalkonsul), Bangerter, Birites, Franz-Bey, Kuster, König; 1875: Trautwetter, Bangerter, Franz-Bey, Guigon, Kuster, Wolff; 1877: Trautwetter, Travers (Konsul), Bangerter, Griehl, Hagens, Knöpfel, Wolff; um 1900: Wedemann (Pfarrer), Anton Hasselbach (Konsul), Dr. Reher, Rennebaum (Architekt), Sigrist, Werner. Trautwetter stand der Gemeinde 1872–1879 vor. Schulvorstand 1875: Bircher, Hagens, Kienast, Dr. Reil (wenig später durch Prof. Dr. Schweinfurth ersetzt); 1879: Travers, Trautwetter, Hagens,
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ägyptischen Khediven Ismail – ein ca. 3.400 m2 großes Grundstück in der Sharia Maghraby, einer „ziemlich öden Gegend“.142 Bis 1939 waren sechs deutsche Pfarrer in Kairo aktiv, darunter von 1903 bis 1908 der spätere Orientalist Paul Kahle, der sich als besonders umtriebig erwies, eng mit dem Ehepaar Borchardt und Max Meyerhof zusammenarbeitete.143 Diese Verbindung sollte sich in den 1930er Jahren, als auch Kahle zum Exilanten wurde, als bedeutsam erweisen.144 Kahle lag vor allem am Ausbau der deutschen Schule in Kairo, deren Direktor er war.145 Auf seine Initiative hin und mit Unterstützung der Kaiserswerther Diakonissen wurden 1908 nach den Plänen des Architekturbüros Cattaui & Matasek146 in Kairo-Boulac in Sichtweite der Borchardt’schen Villen eine neue Kirche und neue Gemeindegebäude einschließlich Lehrerwohnungen und Kindergarten fertiggestellt, was zugleich die Ausweitung der „Wohlfahrts-Einrichtungen“ ermöglichte.147 Der Ausbau der Schule bot sich an, da sie sich seit ihrer Eröffnung (1873) zum Erfolgsmodell entwickelt hatte.148 1901/02 wurden 88 Kinder unterrichtet, 1912/13 waren es bereits 262 (137 männlich, 125 weiblich). Neben 121 Schülern mit Bach, Croptier, Franz-Bey, Knöpfel. 1883: Hagens und Croptier nachgefolgt von Hasselbach und Hübner, diese 1885 von Staub und H.Chr. Wolff. E. Wedemann: Mitteilungen, o.J., S. 9–29. 143 Ernst Wedemann (1893–1903), Paul Kahle (1903–1908), Ernst Heift (1908–1913), W. Olschewski (1913–1915), Werner Karig (1926–1935), Karl Heinz Schreiner (1935–1939). 144 Nach 1908 widmete sich Kahle nur noch der Wissenschaft, hatte bis 1939 in Bonn den Lehrstuhl für Orientalistik inne. Weil seine Ehefrau jüdische Nachbarn unterstützte, musste er seinen Lehrstuhl aufgeben und fliehen, ließ sich in Oxford nieder, hielt sich mit Hilfe der SPSL und mit einer von Chester Beatty an der Bodleian Library stattfindenden Übersetzungsarbeit finanziell über Wasser. 145 Bis 1913 wurde die Schule vom jeweiligen Pfarrer der Kirchengemeinde geleitet, danach von einem hauptamtlichen Direktor. Auch die erstmalige Herausgabe eines Gemeindeblattes („Die Rundschau“, später „Die deutsche Kirche im Orient“) ging auf Kahles Initiative zurück. 146 Der ägyptisch-jüdische Maurice Cattaui (geb. 1874 Kairo) hatte österreichische Staatsbürgerschaft. Der Wiener Architekt Eduard Matasek (1867–1912) lebte seit 1892 in Kairo, assoziierte 1900 mit Cattaui. Rudolf Agstner: Matrikelbuch, 1994, S. 45–47. 147 Erworben wurde das 8000 m2 große Grundstück 1907 (nach dem Ersten Weltkrieg erhielt die Gemeinde nur 3654 m2 mit zwei Gebäuden zurück). Zugute kam der Gemeinde, dass die Immobilienpreise in die Höhe schnellten und sie die ursprünglichen Gemeindeimmobilien mit Gewinn verkaufen konnte (Angebot an den Khediven zu 1200 Mark pro m2, erzielter Preis vier Millionen Mark). 100 Jahre, 1964, o. S.; Palästina 5 (1907), S. 136. 148 1873 15 „Knaben“ (unterrichtet Pfarrer Trautwetter und dem Schweizer David Croptier), 1878 80 Schüler, 1892 zusätzlich Mädchenabteilung, Anstellung eines Hilfslehrers und eines Arabischlehrers für die „Knabenschule“, die auch an der wenig später eingeführten koedukativen Schule unterrichteten.
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deutscher Muttersprache fanden sich 141, für die deutsch eine Fremdsprache war. Aufgenommen wurden selbstverständlich auch Kinder nichtchristlicher Konfession. Für 1912/13 sind 108 Schüler mit evangelischer, 39 mit römisch-katholischer, 28 mit griechisch-orthodoxer, 47 mit jüdischer und 40 mit anderer (meist muslimischer) Religion angegeben.149 Die überkonfessionell angelegte Konzeption der Schule kam zumal Deutschen jüdischer Herkunft gelegen, Schule und Gemeindehaus bildeten die sozialen Zentren aller Deutschen. In diesem Kontext bewegte sich auch Mimi Borchardt, die sich eine zentrale Rolle im Frauenverein und damit innerhalb der ‚deutschen Kolonie‘ zu erobern verstand. Parallel dazu intensivierte auch ihr Ehemann sein soziales Engagement etwa im Deutschen Verein und im Unterstützungsverein. Anerkennung und hohes Sozialprestige innerhalb der ‚Kolonie‘ waren beiden gewiss. Selbstverständlich standen sie auch im Zentrum ägyptologiebegeisterter Kreise und Reisenden. Dennoch gestalteten sich auch für Ludwig Borchardt seine Anfänge in Ägypten nicht leicht, weil das deutsche Interesse an der von ihm betriebenen Etablierung eines archäologischen Instituts in Kairo minimal war. Dies hing vor allem mit der ablehnenden Haltung von Borchardts Berliner Lehrer, dem maßgeblich die Wissenschaftspolitik bestimmenden Adolf Erman zusammen.150 Anders als Borchardt legte er keinen Wert auf Bauforschung und die Präsenz ‚vor Ort‘, sondern sah die Zukunft der deutschen Ägyptologie in der philologischen Spezialisierung, weshalb er ab 1882 die auf ihn und das „Wörterbuch der ägyptischen Sprache“ konzentrierte „Berliner Schule“ ausbaute.151 „Zudem befürchtete das Auswärtige Amt, das britisch-französische Gefüge in Ägypten mit einer deutschen Station vor Ort zu beunruhigen.“152 Doch Borchardt zeigte sich nicht gewillt, Ägypten wieder zu verlassen, nicht-deutschen Ägyptologen das Feld zu überlassen, obschon seine berufliche Konsolidierung jahrelang in Frage stand, er zunächst nicht einmal über eigene Räumlichkeiten für wissenschaftliche Arbeiten verfügte, seine dienstlichen Geschäfte in einem Raum der deutschen Schule 149 Ab Oktober 1908 wurde jede Klasse in einem gesonderten Klassenraum unterrichtet, im Sommer 1909 bestanden die ersten drei Jungen und drei Mädchen die „Reifeprüfung für den einjährigen freiwilligen Dienst“. K. Kremkau: Die Schule, 1964, o. S. 150 Vgl. Thomas Gertzen: Jean Pierre Adolphe Erman, 2015. 151 Susanne Voss: Geschichte, 2013, S. 32. Dort auch ausführlich zu wissenschaftspolitischen Strategien Deutschlands. 152 Susanne Voss: Geschichte, 2013, S. 40. 153 Susanne Voss: Geschichte, 2013, S. 63. 154 Aus den Darlegungen von Susanne Voss: Geschichte, 2013, S. 112 f, wird nicht klar ersichtlich, weshalb Erman sich im Gegensatz zu LB nicht durchsetzen konnte. Vermutlich unterschätzt sie hier, welche Rolle soziale Beziehungen ‚vor Ort‘ spielten, die LB pflegte und zu nutzen verstand. Hinzu kam vor allem das erhebliche Vermögen seiner Ehefrau, das ihn unabhängig machte.
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erledigen musste.153 Auch nach der Einrichtung des „Kaiserlich Deutschen Instituts für ägyptische Altertumskinde“ am 5. August 1907, also nachdem Borchardt letztlich obsiegt hatte,154 rissen die Spannungen mit Deutschland, namentlich der Berliner Wörterbuchkommission, und deutschen Kollegen nicht ab. Viele zeigten sich jedoch als Besucher im Borchardt’schen Haus, darunter der Leipzigern Ägyptologe Georg Steindorff.155 1907 begann für Borchardt allerdings auch eine besonders fruchtbare Schaffensperiode, jene in Tell el-Amarna, die ihre Krönung am 5. oder 6. Dezember 1912 mit dem Fund der Büste von Nofretete erfuhr. Borchardt wusste den Fund publikumswirksam zu inszenieren und festigte damit seinen Ruf nachhaltig.156 Die Schattenseiten zeigten sich erst Jahre später, indem die Fundgeschichte als politisches Druckmittel funktionalisiert wurde.157 Visionär und provokativ zugleich war schließlich sein Vorhaben, ein deutsches Grabungshaus zu errichten. Im Einklang mit Erman suchte er ab 1901 nach einem geeigneten Standort, legte im September des Jahres einen ersten Entwurf für das Haus in der näheren Umgebung von Theben vor, ließ seinen Bruder Heinrich erste Entwürfe anfertigen. Deutscherseits wurden im März 1904 die Baukosten genehmigt, im Dezember 1904 begann das Ehepaar Borchardt mittels privater Spenden mit der Möblierung des Hauses, offiziell eröffnet wurde es am 24. Dezember 1904.158 Trotz der Vorbehalte deutscher Ägyptologen wurde das Deutsche Haus in Theben international geschätzt und frequentiert, etwa von den Briten Quibell, Carter, Ayrton, Gardiner, Charles Seligman, Gunn, um nur einige zu nennen.159 Borchardts langjähriger Kampf trug also schließlich doch Früchte mit der vom Auswärtigen Amt am 2. November 1906 erteilten Genehmigung zur Einrichtung eines deutschen archäologischen Instituts in Ägypten, obwohl dies Ermans Plänen widersprach, Borchardt sich damit aber der Aufsicht der Berliner Wörterbuchkommission und den Interessen der Berliner Museen ein Stück weit entziehen konnte, ein größeres Maß an Autonomie gewann.160 Offensichtlich verstand es Borchardt, seine langjährigen Beziehungen zu verschiedenen diplomatischen
155 Susanne Voss: Geschichte, 2013, S. 88 f. 156 In Anwesenheit des Prinzen Johann Georg Herzog von Sachsen (1869–1938), dessen Ehefrau, Schwägerin und älteren Schwester. Ob dies eine Inszenierung für den ‚hohen‘ Besuch war, der Fund tatsächlich schon früher stattgefunden hatte, lässt sich nicht belegen. Bei der Fundteilung am 20. Januar 1913 war auch MB anwesend, daneben das Ehepaar Güterbock. Susanne Voss: Geschichte, 2013, S. 95, 97. 157 Claudia Breger: Imperialist Fantasy, 2005, S. 145–150, 154 f. 158 Susanne Voss: Geschichte, 2013, S. 99–106. 159 Susanne Voss: Geschichte, 2013, S. 107 f. 160 Susanne Voss: Geschichte, 2013, S. 112 f, 161.
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Vertretungen in Ägypten, auch zu internationalen Kollegen wirken zu lassen. Ab dem 5. August 1907 fungierte er also offiziell als Direktor des „Kaiserlich Deutschen Instituts für ägyptische Altertumskunde“, konnte sich der Unterstützung seitens des Auswärtigen Amts sicher sein, allerdings auch der Spannungen mit der Aufsicht führenden Berliner Wörterbuchkommission, der das eigenmächtige und -willige Tun Borchardts wenig genehm war.161 Ein üppiges Budget stand dem Institut nicht zur Verfügung, sämtliche Grabungen basierten auf privaten Zuschüssen und Spenden.162 Auch wenn Borchardt dies mehrfach gegenüber dem Auswärtigen Amt monierte, behinderte es ihn nur wenig. Denn mit seiner Eheschließung erlangte er eine finanzielle Unabhängigkeit, die ihm nicht nur einen hohen Lebensstandard und den Kauf einer großzügigen Villa ermöglichte, sondern auch den Erwerb des ebenfalls großen Nachbarhauses, das fortan als Institut diente. Zugute kam ihm also die Wohlhabenheit seiner Ehefrau, die ein erhebliches Vermögen mit in die Ehe brachte, deren Mutter Ida Kuhn im frühen 20. Jahrhundert als eine der wohlhabendsten Frauen Deutschlands galt und später ein üppiges Erbe hinterließ.163 Tatsächlich machte also Mimi Cohen aus Frankfurt die Einrichtung des archäologischen Instituts in Ägypten möglich, von offizieller deutscher Seite wäre sie nicht finanziert und realisiert worden. Zusätzlich eröffnete die finanzielle Abfederung Ludwig Borchardt einen erweiterten Handlungsspielraum, nicht zuletzt bezüglich seiner wissenschaftlichen Arbeit, machte ihn unabhängiger von deutschen Einflussnahmen. Wie wichtig ihm dies neben seinen fachlichen Interessen war, zeigte sich anlässlich der 1906 auch ihm, ebenso wie Kurt Sethe und Wilhelm Spiegelberg, angebotenen Professur in Wien. In Frage kam sie für ihn wegen des dort herrschenden Antisemitismus nicht, wie er seinem Schwiegervater darlegte. Cohens Argument, seinem Schwiegersohn biete sich die Gelegenheit, dem Antisemitismus die Stirn zu bieten und den Gegenbeweis gegen herrschende Stereotypen anzutreten, verfing bei Borchardt nicht. Dieser Kampf erschien ihm wenig lohnenswert. Seine Kräfte wollte er zugunsten der deutschen Ägyptologie einsetzen, aber weder in Deutschland noch in Österreich. In Ägypten
161 Susanne Voss: Geschichte, 2013, S. 116 f, 120. 162 Susanne Voss: Geschichte, 2013, S. 130. 163 Als sie am 15. Januar 1930 im Sanatorium Kohnstamm in Königstein starb, hinterließ sie ihren beiden Töchtern ein Vermögen von mehr als 7 Millionen Reichsmark, eine wertvolle Immobilie im Frankfurter Westend, eine wohl ebenso wertvolle, 106 Gemälde umfassende Sammlung (darunter Rubens, Spitzweg, Kaulbach, Lenbach, Corot, von Uhde, Achenbach, Menzel, Messonier) sowie etliche Schmuckstücke. Testament Ida Kuhn vom 18. Juni 1923. HHSTA Wiesbaden Amtsgericht Frankfurt 51/36 IV 201/30.
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unterlag er als Jude weniger Verhaltens- und Anpassungszwängen als in der bürgerlich-deutschen Gesellschaft des wilhelminischen Deutschland, musste nicht in der deutschen akademischen Landschaft um die schwer zu erzielende Anerkennung ringen.164 Dennoch erreichten ihn auch in Ägypten antisemitische Anwürfe von deutscher Seite, doch ließ er sie dort leichter an sich abprallen.165 Wie Recht Borchardt mit seiner Einschätzung bezüglich der überaus problematischen Position jüdischer Wissenschaftler hatte, sollte sich in den 1920er Jahren bei der Besetzung des Lehrstuhls für Ägyptologie in München durch Wilhelm Spiegelberg zeigen.166 Fernab von Deutschland konnte Borchardt sich als Wahrer, Förderer und Repräsentant deutscher Kultur beweisen. Dass dem deutsch-jüdischen Bürgertum daran gelegen war, Wohlhabenheit mit Wohltätigkeit und Mäzenatentum zu kompensieren, kam ihm zugute. In dem Berliner Bankier James Simon fand er einen konstanten Förderer und Mäzen, was Borchardts wissenschaftliche Reputation und zugleich sein Sozialprestige hob. Trotz ihrer anfänglichen Vorbehalte gegenüber der Ägyptologenschaft nahm Mimi Borchardt regsten Anteil an den wissenschaftlichen Arbeiten ihres Ehemannes, kein unübliches Phänomen bei Ägyptologengattinnen, bei ihr aber über das ‚Normalmaß‘ hinausgehend.167 Demnach gestalteten sich auch ihre Beziehungen zu deutschen und nicht-deutschen Ägyptologen eng, obwohl ihr Ehemann vom wissenschaftlichen Wert der meisten britischen und französischen Unternehmungen kaum überzeugt war, insbesondere die Aktivitäten des französisch geleiteten Antikendienstes negativ bewertete.168 In welchem Maße 164 Bis in die Weimarer Zeit hinein blieb Juden die universitäre Laufbahn weitgehend verschlossen, war höchstenfalls nach erfolgter Konversion zum Christentum möglich. Vgl. Notker Hammerstein: Universitäten, 2001, S. 25–34. 165 Der auch in Ägypten tätige, antisemitisch gesinnte deutsche Ägyptologe Friedrich v. Bissing versuchte von Beginn an, das Institut zu unterminieren. Gegenüber dem Direktor des Antikendienstes, Maspero, äußerte er sich geringschätzig über LB. Von Wilhelm v. Bode forderte er im September 1907, dieser habe dafür zu sorgen, dass das Institut keine „Berliner Judenaffaire“ werde. Auch gegenüber Steindorff verhielt v.Bissing sich despektierlich. Nach 1918 meinte er, das „verschnittene Judenpack“ (u. a. James Simon, LB) hätte man auf den „Misthaufen (…) werfen müssen“. zitiert nach: Peter Raulwing, Thomas Gertzen: Von Bissing, 2013, S. 47; vgl. auch Susanne Voss: Geschichte, 2013, S. 348. 166 Der Ägyptologe Friedrich v. Bissing und Vertreter von nationalsozialistisch orientierten Studentenvereinigungen opponierten 1923 gegen die Lehrstuhlbesetzung durch einen Juden, obwohl Spiegelberg schon Jahre zuvor zum Protestantismus konvertiert war. Richard Spiegelberg: Spiegelberg, 2015, S. 69–72. 167 Zum (unentgeltlichen) Engagement von Frauen vgl. Gerdien Jonker: Gelehrte Damen, 2002, S. 125–166. 168 Susanne Voss: Geschichte, 2013, S. 133 f.
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die Borchardt’schen Häuser und die Grabungsstätten überwiegend von mit ägyptologischen Themen befassten, oft gleichzeitig befreundeten Personen frequentiert wurden, belegt das Gästebuch für die Zeit vom späten 19. Jahrhundert bis 1939.169 Zu den häufigsten Besuchern gehörten der Kasseler Archäologe Otto Rubensohn170 und der Leipziger Ägyptologe Georg Steindorff,171 der sich zwar ebenfalls als Freund Borchardts bezeichnete, dennoch etliche Zerwürfnisse mit ihm durchstand. Erst in den 1930er Jahren traten diese zwangsläufig völlig in den Hintergrund.172 Als Gäste erschienen im März 1901 der Berliner Archäologe Adolf Furtwängler (1853–1907)173 und Hermann Thiersch (1874–1939),174 im Februar 1902 der Berliner Kunsthistoriker Werner Weisbach (1873–1953),175 im April desselben Jahres der Archäologe Wilhelm Dörpfeld (1853–1940),176 im Januar 1903 der erwähnte Gymnasiallehrer Alfons Kalb zusammen mit Peter Goessler (1872–1956), einem Mitarbeiter Dörpfelds, in demselben Monat der Straßburger Ägyptologen Wilhelm Spiegelberg, im Mai 1903 der Ägyptologe und Mitarbeiter Borchardts, Georg Möller, ebenfalls im Mai 1903 der Berliner Archäologe Alfred Schiff (1863–1939). Mit der Eheschließung Borchardts änderten sich die Örtlichkeiten, Gästezimmer fanden sich nun auch in der „neuen Locanda“, der Villa auf „Gesireh Island“. Genutzt wurde diese im April 1904 von dem Hannoveraner Arzt Esberg und dem Bauforscher A. Dotti, im Juni 1904 von Emil Decker, im August 1904 von Alfred Boehden. Keine beruflichen Hintergründe hatte der Besuch von Mimi Borchardts Freundin und Verwandten Friedel Oppler, die sich von Januar bis März 1905 in Kairo aufhielt, zeitgleich mit Otto Rubensohn, den sie dort aber nicht näher kennenlernte. 169 SIK LB. 170 Einträge vom Winter 1898/99, Frühjahr 1905, März 1907. 171 Winter 1899/1900, Mai 1903, April und Mai 1905 zusammen mit Ehefrau Elise, Mai 1906, April 1910. 172 Rubensohn, LB und Steindorff wurden von den Nationalsozialisten verfolgt, wie an späterer Stelle ausgeführt werden wird. Betroffen waren ebenso beispielsweise Walter Wreszinski (Königsberg), Hermann Ranke (Heidelberg), Joseph Schacht (Königsberg), auch Adolf Erman (Berlin) und Max Meyerhof. 173 Professor für Klassische Archäologie in München, Vater des Dirigenten Wilhelm Furtwängler. 174 Klassischer Archäologe, sein Vater August Thiersch war Architekt und Professor für Baugeschichte an der TH München. Weil seine Ehefrau als „Halbjüdin“ eingestuft wurde, konnte Thiersch nicht mehr bis zu seiner Emeritierung an der Universität Göttingen tätig sein, obwohl er das „Bekenntnis“ der Göttinger Hochschullehrer 1933 unterzeichnet hatte. 175 Wurde 1933 wegen seiner jüdischen Herkunft aus dem Hochschuldienst (Berlin) entlassen und emigrierte nach Basel. 176 Direktor des DAI Athen.
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Abb. 7: Mimi Borchardt und Friedel Oppler-Rubensohn, Kairo 1909
Privater Natur war auch der Besuch von Ludwig Borchardts Schwester Else im Januar 1906, ihr folgten die Eltern Cohen mit Tochter Sophie im März desselben Jahres. Ein stets gern gesehener Gast war der Göttinger Ägyptologe Kurt Sethe, der von Mai bis Juli 1905 Borchardts Gastfreundschaft genoss. Paul Wrede erschien im April 1906, im Juni Fr. Zechlin, im Januar 1907 das Ehepaar Möller, von Januar bis Mai 1907 der Hannoveraner Bauforscher Uvo Hölscher, von August bis November 1907 der Regierungsbauführer Walter Honroth (1880–1914), im November 1907
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der Maler Alfred Bollacher (1877–1968), im Februar 1908 O. Schultze. Der ebenfalls gern gesehene Gast Hölscher fand sich im April 1908 zusammen mit dem Ägyptologen Walter Wreszinski ein. Einen ‚Heimatbesuch‘ statteten im Mai und Juni 1909 Hans und Elisabeth Kehren ab, zeitgleich mit den nun als Ehepaar angereisten Freunden Friedel (Oppler) und Otto Rubensohn. Ludwig Borchardts Bruder Heinrich verließ Ägypten im März 1909 nach vierwöchigem Aufenthalt, das Ehepaar Cohen im Februar 1909. Gäste waren im März 1910 die Berliner Kunsthistorikerin Hedwig Fechheimer, der Ägyptologe Friedrich Zucker und erneut Uvo Hölscher, im April 1910 O. Schultze und Georg Steindorff, im Januar 1911 Uvo Hölscher und Dietrich Marcks. Von Januar bis März 1912 blieb der Berliner Ägyptologe Heinrich Schäfer (1868–1957).177 Nicht zum ersten Mal nahm Major Timme im Oktober 1913 Borchardts Gastfreundschaft in Anspruch; dasselbe galt für Walther Honroth und seine Ehefrau, die Schriftstellerin Lisa Honroth-Loewe. Der offiziell letzte Gast vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs war der Papyrologe Friedrich Bilabel (1888–1945).178 Borchardts Gastfreundschaft genossen auch nicht-deutsche Ägyptologen, so Ende 1900 der Amerikaner George Reisner mit seiner Ehefrau Mary Bronson-Reisner, Anfang 1901 der Brite Quibell (1867–1935)179 mit Ehefrau Annie, Weihnachten 1901 der Brite Norman de Garis Davies, Anfang 1901 der Schweizer Bauforscher Ernst R. Fiechter (1875–1948). Zwischen 1903 und 1914 verstand es das Ehepaar Borchardt, ein dichtes und stabiles soziales Netzwerk zu kreieren, resultierend aus beruflicher Tätigkeit, sozialem Engagement zugunsten der ‚deutschen Kolonie‘ und der Pflege privater Beziehungen. Zum engsten Kreis gehörten Max Meyerhof und Otto Rubensohn, der dem Ehepaar Borchardt auch wegen seiner Eheschließung (1909) mit Friedel Oppler besonders nahe stand.180 Zu diesem auch verwandtschaftlich miteinander verbundenen Personenkreis gehörte zudem Wilhelm Spiegelberg, ein Fachkollege Borchardts, Schulfreund Rubensohns und Verwandter sowohl Max Meyerhofs als auch Mimi Borchardts. 177 Direktoralassistent, später Direktor am Berliner Museum. 178 Wurde nach der Entlassung von Eugen Täubler durch die Nationalsozialisten im März 1934 dessen Nachfolger als a. o. Professor an der Universität Heidelberg und Leiter der Papyrussammlung. Im April 1935 trat er als offenbar überzeugter Nationalsozialist der NSDAP bei und wurde Mitglied verschiedener Parteiorganisationen. 179 Studierte an Christ Church (Oxford), war Mitarbeiter von Flinders Petrie in Ägypten 1893, Mitarbeiter am Katalog des Ägyptischen Museums Kairo (1899), „Inspector in Chief“ des Antikendienstes im Delta und Mittel-Ägypten (1899–1904) und Luxor (1904–1905), Leiter der Grabung Saqqara 1905. 1914–1923 am Ägyptischen Museum Kairo, Generalsekretär des Antiken Departements 1923–1925, arbeitete weiter in Ägypten mit Firth in Sakkara, ab 1931 als Grabungsleiter. Who-was-Who, 2012, S. 450. 180 1909 machten sie ihre Hochzeitsreise nach Kairo.
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Abb. 8: Ehepaar Rubensohn, 1909 auf Hochzeitsreise in Kairo
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Zum erweiterten Kreis zählten des Weiteren der Orientalist Paul Kahle und Alfred Wiener, dessen Bekanntschaft Borchardt um 1907 in Kairo machte, als Wiener sich aus gesundheitlichen Gründen für einige Zeit in Ägypten aufhielt. Unter den Ägyptologen war es vor allem der überwiegend in Ägypten lebende Amerikaner George Reisner, der das besondere Vertrauen von Ludwig und Mimi Borchardt gewann. Langfristig größte Bedeutung kam dem britisch-deutschen Chemiker Robert Mond zu, mit dem Borchardt 1902 zusammentraf, als Mond sich aus gesundheitlichen Gründen181 erstmals nach Ägypten begab. Vertrauensbildend war Monds Herkunft aus einer jüdischen Familie Kassels, der Heimat Otto Rubensohns, und sicherlich auch sein Festhalten an deutscher Kultur.182 Zwischen Borchardt und Mond entstand gegenseitige Wertschätzung und Vertrauen. Dass Mond überhaupt eine Beziehung zu Ägypten und der Ägyptologie entwickelte, war seiner fragilen Gesundheit zuzuschreiben. Nach einem ersten Ägyptenaufenthalt folgten zahlreiche weitere, Ägyptenbegeisterung war geweckt und mündete bei Mond schließlich in ein großzügiges Mäzenatentum.183 Auch an Grabungen etwa der britischen Ägyptologen Alan Gardiner und Howard Carter nahm er beobachtend teil, wurde 1906 Mitglied des Komitees der 1882 gegründeten „Egypt Exploration Society“ (EES), deren Präsident von 1928 bis zu seinem
181 Seine Ärzte warnten ihn vor einer chronisch zu werdenden Atemwegserkrankung. 182 Geboren 1867 Farnworth (Lancaster), Sohn von Ludwig Mond (Eltern: Moritz Mond und Henrietta Levinsohn). Ludwig Mond war Chemiker und Besitzers des Chemieunternehmes „Bruner Mond & Company“ (bei Liverpool), verheiratet mit Frida Löwenthal aus Köln (Tochter von Adolph Löwenthal, ein Onkel von Ludwig Mond). R. Mond studierte Chemie in Cambridge, Zürich, Edinburgh und Glasgow, um das väterliche Unternehmen übernehmen zu können. Er war Mitglied zahlreicher Gesellschaften und Verbände, unter anderen wegen seiner Verbindung zu Nickel-Minen in Kanada des Vorstands des „Royal Ontario Museum“ in Toronto. Im Hause Mond wurde ausschließlich deutsch gesprochen und darüber hinaus deutsche Kultur gepflegt. J. M. Cohen: Ludwig Mond, 1956, S. 25, 32 f, 134–165; SIK MB 71/4. 183 Schon bei seinem ersten Aufenthalt stellte er Geld für die von Howard Carter (war zu Beginn des 19. Jahrhundert Antiken-Generalinspektor für Ober Ägypten. W.V. Davies: Thebes, 1982, S. 68) initiierten und später von Arthur Weigall fortgeführten Instandsetzungsarbeiten der Nekropolis in Theben zur Verfügung, erwarb wenig später Grabungsrechte in Theben (Gräber), die er 20 Jahre lang privat besaß. Danach gab er die Rechte aufgrund veränderter gesetzlicher Regelungen in Ägypten an die Universität Liverpool ab. J. M. Cohen: Ludwig Mond, 1956, S. 222. Mond finanzierte z. B. einen von Gardiner und Weigall erstellten Katalog der Gräber und die sehr kostspieligen Grabungsarbeiten unter W.B. Emery 1924–1926 in Qurna. Er beteiligte sich auch an Grabungen in Palästina, gehörte zu den Gründern der „British School of Archaeology“ in Jerusalem sowie des „Maison de la Chemie“ in Paris, förderte die Entwicklung der Chemie in Paris erheblich, u. a. als Förderer des „British Institute“ in Paris. Seine Witwe übernahm später die Finanzierung ägyptologischer Publikationen. W.V. Davies: Thebes, 1982, S. 69 f.
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Tod im Jahre 1938.184 Tatsächlich zeichneten Mond nicht nur seine ungewöhnliche Generosität aus, sondern auch seine Gabe zu Visionen. Dies wiederum hatte er mit Borchardt gemein und brachte die beiden einander näher. Ähnliches beflügelte auch den Berliner Bankier James Simon, einen der bedeutendsten Mäzene Borchardts; Wohlhabenheit galt ihm als Verpflichtung zur Förderung von Wissenschaft und Kenntnis. Mond fielen indes später noch ganz andere Aufgaben zu, wie an anderer Stelle berichtet werden wird.185 Nämliches gilt für die Beziehung zwischen dem niederländischen Althistoriker und Papyrologen David Cohen (1882–1967) und Ludwig Borchardt.186 Als Ludwig und Mimi Borchardt im Sommer 1914 Ägypten verließen, rankte sich um sie ein dichtes Beziehungsnetz. Sie galten neben Max Meyerhof als die tragenden Säulen der ‚deutschen Kolonie‘, eine Rolle, die sie auch außerhalb Ägyptens und nach 1923 spielten. Eng waren trotz diverser Spannungen auch die Bindungen an deutsche sowie nicht-deutsche Ägyptologen und Orientalisten. Die intensive Zusammenarbeit, das mitunter wochenlange Beisammensein auf Grabungsstätten und geteilte Erfahrungen im ägyptischen Umfeld schweißten zusammen, ließen langlebige Beziehungen entstehen, die oft über gemeinsame berufliche Interessen hinausgingen, wie sich in der Korrespondenz Mimi Borchardts spiegelt.
184 Im Laufe der Jahre stellte Mond eine bedeutende ägyptologische Sammlung zusammen, die er später dem British Museum übereignete. Um die Arbeit der Wissenschaftler zu dokumentieren, entwickelte er ein Verfahren der Farbfotografie. Seine Förderung endete nicht, als seine erste Ehefrau Edith Levis (Eheschließung 1898, zwei Töchter) 1905 in Ägypten den Tod fand. Um ihre Kopfschmerzen zu lindern, griff sie zu von einer deutschen Bekannten überlassenen, angeblich harmlosen Tablette, die fälschlicherweise eine hohe Dosis Opium enthielt, sodass Edith an einer Überdosis starb. 1922 ehelichte Mond Marie-Louise Guggenheim geborene Manach aus dem französischen Belle-Île-en Terre, weshalb er dann überwiegend in Frankreich lebte. 1932 wurde er in England geadelt. J. M. Cohen: Ludwig Mond, 1956, S. 224, 235 f; Jean Goodman: Mond Legacy, 1982, S. 78 f; W.V. Davies: Thebes, 1982, S. 70. 185 Dabei arbeitete Mond mit seinem Bruder Alfred zusammen. Zugute kam ihm dabei u. a. die eheliche Verbindung seiner Cousine Thérèse Mathias mit einem deutsch-ägyptischen Bankier und Repräsentanten einer deutschen Bank in Ägypten. 186 1924 bis 1926 Professur für Althistorie an der Universität Leiden, bis 1953 an der Universität Amsterdam. Ab 1904 engagierte Cohen sich in der zionistischen Bewegung, war ein Sponsor des jüdischen Jugendbundes und des zionistischen Studentenverbandes. Für LB wurde von Bedeutung, dass Cohen ab 1933 Vorsitzender des ‚Unterausschusses Flüchtlinge‘ des von ihm initiierten Komitees für besondere jüdische Angelegenheiten war, ab 1934 dem ständigen Ausschuss der aschkenasischen Gemeinden angehörte. Nach der deutschen Besetzung der Niederlande gehörte er zu den Gründern eines jüdischen Koordinierungsausschusses. Wie auch andere Mitglieder des „Joods Raads“ wurde Cohen im September 1943 als einer der letzten in den Niederlanden verbliebenen Juden in das Ghetto Theresienstadt deportiert. P. Romijn: De Oorlog, 1995, S. 320 ff.
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Sie verstand es, sich ab 1903 in der pulsierenden Metropole Kairo ihre Enklave zu schaffen, indem sie sich, ihren Idealen folgend, im Rahmen des Frauenvereins, des Unterstützungsvereins und der deutschen Schule der Sozial- und Bildungsarbeit verschrieb, in Not geratene, hilfesuchende oder einsame Deutsche mental und finanziell unterstützte. Ihren Lebensrhythmus fand sie in einem Wechsel zwischen den Winteraufenthalten in Ägypten und den sommerlichen in Deutschland, womit sie ihre sozialen Beziehungen sowohl in Ägypten als auch in Deutschland aufrecht erhielt. Mehr und mehr begriff sie Ägypten als ihre zweite Heimat – wenngleich sie die Ägypter nicht mochte, so liebte sie doch das Land, wie Borchardts späterer Assistent Herbert Ricke es formulierte. „Heroische Taten“ meinte sie nicht zu leisten, aber sie ‚lebte und liebte‘, wie sie in der Rückschau festhielt – „und wir waren glücklich! Ist das etwa nichts?!“.187 Deutschland und dort vor allem Frankfurt bildeten ihren „Halt“, auf den sie sich bis 1933 zurückziehen und verlassen konnte.188
187 MB an Else Oppler-Legband, 18. Dezember 1938. SIK MB 70/7. 188 MB an G. Steindorff, (Kairo) 12. Mai 1939. ÄMUL NL Steindorff 1939.
2 Erzwungene Heimkehr, 1914–1922/23 Während ihres meist alljährlichen Sommeraufenthalts in Europa, fernab ihrer ‚zweiten Heimat‘ Ägypten, traf die Ägyptendeutschen die entscheidende Zäsur – der Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Khedive Abbas Hilmi II. und Lord Kitchener hielten sich wie stets während der Sommermonate in Europa auf, die im Land verbliebenen Minister ebenso wie die Vertreter der deutschen Gesandtschaft in der Sommerresidenz Ramleh unweit von Alexandria.1 England erklärte Deutschland am 4. August 1914 den Krieg, Ägypten am 7. August 1914.2 Ab Dezember 1914 galt Ägypten als britisches Protektorat, geleitet von einem „High Commissioner“.3 Diese Position bekleidete von 1914 bis 1916 Henry McMahon (1862–1949), von 1917 bis 1919 Reginald Wingate (1861–1953).4 Die Loslösung Ägyptens vom Osmanischen Reich erfolgte durch Verkündung des Kriegsrechts am 2. November 1914, Khedive Abbas Hilmi II. wurde im Dezember abgesetzt und ersetzt durch seinen, nun als Sultan bezeichneten Onkel Hussein Kamil.5 Als kaiserlich-deutscher Geschäftsträger in Ägypten fungierte Eberhard von Pannwitz,6 der sich am 15. August 1914 aus „dienstlichen Gründen“ ausnahmsweise in Kairo aufhielt und frühnachmittags von Lindemann, dem Vertrauensmann der kaiserlichen Marine in Alexandria, telefonisch vom Eintreffen eines Telegramms unterrichtet wurde, das Lindemann nicht dechiffrieren konnte.7 Von Pannwitz eilte nach Alexandria, erfuhr dort von den beiden Vertrauensmännern Lindemann und Lohnsdorfer, dass diese unmittelbar nach der Verkündung des Kriegszustandes in Ägypten (6. August) sämtliches geheime Material einschließlich der Chiffren verbrannt hatten. Brasch, der Vertrauensmann der kaiserlichen Marine in Port Said, hatte jedoch die Geheimmaterialien noch nicht beseitigt; der fragliche Text konnte dechiffriert werden, so dass man vom deutschen Dampfer 1 Erich Meyer: Kriegszustand, 1916, S. 18. Meyer war bis 1914 deutscher Pfarrer in Alexandria, dann in Frankfurt/Main. 2 Österreich erklärte Serbien den Krieg am 28. Juli 1914, Deutschland Russland am 1. August 1914; am 3. und 4. August erklärten Frankreich bzw. England Deutschland den Krieg. 3 De facto wurde diese Organisation erst mit dem anglo-ägyptischen Vertrag von 1936 aufgehoben. Britischer Generalkonsul war 1911–1914 Herbert Kitchener (1850–1916). Arthur Goldschmidt jr.: Dictionary, 1994, S. 34 f, 159 f, 134, 233. 4 Nachfolger war 1919–1925 Edmund Allenby (1861–1936). 5 John Darwin: Britain, Egypt, 1981, S. 60–63. 6 E. v.Pannwitz (1887–1945), verheiratet mit Dagmar H. v. Danckelmann, 1936–1939 deutscher Geschäftsträger in Albanien, 1940–1941 dort Generalkonsul. 7 Geheimbericht v. Pannwitz, 24. September 1914. PA AA Kairo-Gesandtschaft 1a. DOI 10.1515/9783110526127-003
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„Göben“ erfuhr, dass der Suezkanal weit mehr als sonst zum Truppentransport genutzt wurde, dieser also blockiert werden müsste. Pannwitz setzte sich mit dem deutschen Konsulat in Port Said in Verbindung, um eine Blockade zuwege zu bringen.8 Mehrere Versuche scheiterten, nicht zuletzt an der Geschwätzigkeit der Matrosen, die ägyptischen und englischen Behörden waren damit derart in Alarmbereitschaft versetzt, dass die diplomatischen und konsularischen Vertreter Deutschlands fortan strengstens observiert wurden. Zwischen Ägypten und Deutschland wurde eine Kommunikationssperre verhängt, jede postalische und telegraphische Verbindung unterbrochen. Dennoch waren zunächst Geschäftstätigkeiten nicht sonderlich gestört, obwohl die ägyptische Regierung bereits am 3. August 1914 ein Ausfuhrverbot für Lebensmittel verhangen hatte. Weitgehend problemlos konnten Wehrpflichtige oder andere Deutsche ein- oder ausreisen. Der politische Wandel war vor allem im privaten Umfeld spürbar. Vielen Deutschen fiel es schwer, in ihren zur ‚englischen Kolonie‘ gehörenden Bekannten und Freunden nun Feinde sehen zu müssen.9 Verhaltensunsicherheit bestand auch bei der Deutschen Orientbank (DOB), die nicht wusste, ob sie die Schalter geöffnet halten oder die deutsche Flagge von bestimmten Gebäuden entfernt werden sollte. Am 3. August 1914 verließen 130 deutsche gestellungspflichtige Männer mit dem österreichischen Lloyddampfer „Dalmatia“ von Alexandria aus Ägypten in Richtung Triest, darunter Baron von Richthofen und Hauptmann Schliessmann.10 Mitte August verbot der ägyptische Innenminister bei einer persönlichen Unterredung Wilhelm Schwedler, dem Chefredakteur der „Aegyptischen Nachrichten“, das weitere Erscheinen des beliebten Nachrichtenblattes.11 Trotz der sich anspannenden Lage hielt es viele Deutsche weiterhin in Ägypten.12 Der Alltag gestaltete sich aber zunehmend unangenehm. Pannwitz
8 Der mit Kohlen beladene deutsche Dampfer „Rabenfels“ sollte aus Port Said auslaufen und wenig später versenkt werden, sodass er eine Blockade darstellen würde. 9 E. Meyer: „Schwerer lastete auf uns die moralische Seite der englischen Kriegserklärung. Mit der englischen Kolonie Ägyptens verbanden uns mancherlei Bande gesellschaftlicher und freundschaftlicher Art. Ja, die in sich geschlossene englische Kolonie verkehrte so gut wie nur mit der deutschen Kolonie. (…) So wurde uns das Hineinfinden in die Feindschaft gerade dieser beiden Völker nicht leicht.“ Erich Meyer: Kriegszustand, 1916, S. 19. Meyerhof sorgte sich um das Befinden von Kitchener (an LB, Hannover, 21. August 1914). SIK LB. 10 Pannwitz an Bethmann-Hollweg, 6. August 1914. PA AA Kairo-Gesandtschaft 1a. 11 Schwedler an „Kaiserlich Deutsche Diplomatische Agentur“, z. Zt. Kasino San Stefano, Ramleh (Alexandria), Kairo, 17. August 1914. PA AA Kairo-Gesandtschaft 1a. 12 Adolf Stross, Leiter der Generalagentur der Deutschen Levantelinie, berichtete dem deutschen Konsulat (11. August 1914) von vier deutschen Dampfern, die zu dieser Zeit im Alexandriner Hafen vor Anker lagen und nicht auslaufen konnten. Was mit ihnen geschehen sollte, wusste
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meinte beobachten zu können, dass die „europäische Bevölkerung Egyptens“ den Deutschen „meist feindlich gesinnt“ sei, der „bessere Levantiner“ sich den Engländern andiene und Paris als „Ideal“ verehre.13 In der Presse wurde überwiegend Stimmung gegen Deutschland gemacht. Die DOB konnte am 10. August zwar ihren Geschäftsbetrieb wieder aufnehmen, hatte aber sogar bei Deutschen an Unterstützungsbereitschaft eingebüßt, weil sie wegen verweigerter Unterstützung seitens der National Bank of Egypt kurzzeitig zahlungsunfähig gewesen war. Obwohl Pinto und Singer, die beiden Direktoren der Kairener und Alexandriner Niederlassung, dem keine besondere Bedeutung beimessen wollten, fürchtete von Pannwitz um die Zukunft der Bank, zumal „sich schon immer Stimmen hören ließen, die damit unzufrieden waren, dass die Beamten der DOB in der Mehrzahl ausländische Juden sind“.14 Tatsächlich musste die DOB nur wenige Tage später ihre Pforten schließen.15 Mehr und mehr waren die noch in Ägypten lebenden Deutschen von Oberservierungsmaßnahmen betroffen, auch wurde auf britische Initiative hin der postalische Verkehr weitgehend unterbunden, was einer Nachrichtensperre gleichkam.16 Von Pannwitz entschloss sich daraufhin Anfang September in Abstimmung mit dem amerikanischen Botschafter Paul Knabenshue, im erforderlichen Fall die Amtsgeschäfte der deutschen Gesandtschaft und des Konsulats der nordamerikanischen Botschaft zu übertragen.17 Um Sanktionen zu entgehen wollten auch die beiden Wahlkonsuln von Port Said und Suez, Meinecke und Rickmers, ihre Ämter
weder die britische Gesandtschaft noch die ägyptische Hafenbehörde, sie verlangten aber das Löschen und die Lagerung der Ladung. Ende August lagen in Port Said, Suez und Alexandria 20 deutsche Schiffe vor Anker, denen mit zwei Ausnahmen das Auslaufen zwar gestattet, aber unmöglich war angesichts der im Roten Meer und vor Port Said kreuzenden britischen Kriegs schiffe. Bericht Pannwitz an deutsche Reichskanzlei, 26. August 1914. PA AA Kairo-Gesandtschaft 1a. 13 Pannwitz an Reichkanzler Bethmann-Hollweg, 10. August u. 20. August 1914. PA AA KairoGesandtschaft 1a. 14 Pannwitz an Reichskanzler, 11. August 1914. PA AA Kairo-Gesandtschaft 1a. 15 Pannwitz an Reichskanzler, 13. August 1914. PA AA Kairo-Gesandtschaft 1a. 16 Anfang September 1914 wurde ohne Voranmeldung das Gut von Baron von Landsberg-Velen in Bilbeis von bewaffneten ägyptischen Soldaten nach „drahtlosen Funken-Telegraph. Apparaten“ durchsucht. An deutsche Gesandtschaft (Bilbeis, 4. September 1914). Aus Port Said die Nachricht, dass Deutschen ihre Post nicht mehr zugestellt wurde. Siedler (deutsches Konsulat Alexandria) an Pannwitz, (Alexandria) 1. September 1914. PA AA Kairo-Gesandtschaft 1a. 17 Auf die Italiener und die von ihrem Botschafter Sotta zugesicherte Neutralität glaubte er sich nicht verlassen zu können. Spätestens nachdem am 2. September 1914 ein britischer Offizier bei ihm aufgetaucht war und ihn im Namen von Generalmajor Byng aufgefordert hatte, gemeinsam mit allen Vertretern der deutschen Gesandtschaft und allen Konsuln Ägypten bis zum 7. September zu verlassen, war v. Pannwitz klar, dass er das Land verlassen musste. Aktennotiz Pannwitz, 3. September 1914. PA AA Kairo-Gesandtschaft 1a.
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niederlegen. Von Pannwitz wollte als alleiniger diplomatisch-konsularischer Vertreter Deutschlands in Ägypten ausharren, obschon ihm die ägyptische Regierung via die amerikanische Botschaft mitteilen ließ, er habe bis zum 7. S eptember das Land zu verlassen.18 Dies erwies sich als undurchführbar. Am 4. September 1914 erklärte von Pannwitz dem ägyptischen Außenminister Adly Pasha Yeghen,19 er werde gemeinsam mit allen diplomatischen und konsularischen Vertretern Deutschlands Ägypten spätestens am 10. September 1914 verlassen.20 Die Wahrnehmung der diplomatischen und konsularischen Interessen Deutschlands würden von der diplomatischen Vertretung Nordamerikas21 übernommen.22 Vor seiner Abreise übergab von Pannwitz der amerikanischen Botschaft 700 £, mit denen ein halbes Jahr lang die Gehälter der zurückgebliebenen Beamten gezahlt werden sollten. Weitere 100 £ wurden zur Verfügung des amerikanischen Botschafters deponiert, 500 £ für „Herrn Lohnsdorfer“; beides war gedacht als Notfallunterstützung für Deutsche in Ägypten. Vor seiner Abreise verbrannte von Pannwitz sämtliche vorhandenen Materialien und Papiere. Zusammen mit dem deutschen Konsul in Alexandria (Hopman), dem Verweser des deutschen Konsulats in Alexandria (Vizekonsul Siedler), dem Sekretär der diplomatischen Agentur (Wegener) und dem zweiten Sekretär des Konsulats in Alexandria (Baumann) reiste von Pannwitz am 10. September 1914 aus und meldete sich am 22. September offiziell in Berlin zurück.23 Wilhelm Siedler von 18 Pannwitz plante, den Sekretär der deutschen Gesandtschaft zu beurlauben, dann den deutschen Konsuln von Kairo und Alexandria zu raten, ihre Funktionen auf ihn zu übertragen, um anschließend zusammen mit den anderen Beamten des deutschen diplomatischen Dienstes auf Urlaub zu gehen. 19 Er erklärte, lediglich den Anweisungen der britischen Militärbehörden, die er unmöglich beeinflussen könne, Folge zu leisten. Bericht v. Pannwitz an Reichskanzlei, („An Bord der ‚Catania‘“) 11. September 1914. PA AA Kairo-Gesandtschaft 1a. 20 Außer für v. Pannwitz wurden entsprechende Anträge gestellt für Generalkonsul Eduard Hopman (Kairo), Vize-Konsul Dr. Wolff Siedler (Alexandria), den Sekretär am deutschen Konsulat in Alexandria, Julius Baumann, den Sekretär der deutschen Gesandtschaft in Ägypten und dessen Familie, Willy Wegener. Pannwitz an ägyptischen Minister, 6. September 1914. PA AA Kairo-Gesandtschaft 1a. 21 Chargé d’Affaires war Paul Knabenshue. 22 Zum Verlassen des Landes habe man sich entschlossen, weil sowohl die diplomatischen als auch konsularischen Vertreter außer Stand gesetzt worden seien, ihre Aufgaben wahrzunehmen und man der Ausweisung zuvorkommen wollte. Das deutsche Konsulat berichtete am 31. August 1914, man habe vom deutschen Konsulat Port Said die Nachricht, dass diesem jeder postalische Austausch seitens der ägyptischen Behörden unmöglich gemacht worden sei. Pannwitz akzeptierte deshalb das Demissionsgesuch von Ludwig Rickmers, deutscher Konsul in Port Said. PA AA Kairo-Gesandtschaft 1a. 23 Am 8. September 1914 erfolgte die offizielle Übergabe. Das Protokoll ist unterzeichnet von Olney Arnold (US-Generalkonsul) und von v.Pannwitz. PA AA Kairo-Gesandtschaft 1a.
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den „Aegyptischen Nachrichten“ entschloss sich daraufhin spontan, Ägypten in aller Heimlichkeit zu verlassen und über den Balkan nach Deutschland zurückzureisen. Seinen für Konstantinopel geplanten Zwischenaufenthalt wollte er „sehr nützlich anwenden“.24 Frau und Kinder ließ er in Kairo zurück, versorgte sie mit finanziellen Mitteln, die bis Dezember 1914 ausreichen sollten. Als offizielle Vertreter Deutschlands verblieben in Ägypten lediglich Dr. Paulus (Dragoman des „Kaiserlichen Konsulats“ in Kairo), der erste Sekretär in Alexandria (Blasig), die beiden Sekretäre Schulz und Thomas.25 In Deutschland wurden Pannwitz’ Berichte mit Spannung erwartet. Dem Reichskanzler schilderte er „Eingriffe in deutsche Rechtssphären in Egypten“. Hausdurchsuchungen seien vorgenommen worden bei Konsul Padel in Kairo, Kaufmann Hasselbach in Kairo, Musikalienhändler Haackh in Kairo und auf dem Gut des Grafen von Landsberg-Vehlen in Bilbeis; Padel sei „körperlich visitiert“, „seine Privatpapiere“ seien teilweise beschlagnahmt worden. Haackh sei während eines Spaziergangs von englischen Soldaten verhaftet worden. Am 10. September wurden Padel und Haackh von dem Oberkommandierenden der englischen Armee ausgewiesen.26 Dies war der Auftakt zu verschärften Maßnahmen gegen noch in Ägypten verbliebene Deutsche und Österreicher. Öffentlich wurde zum Boykott deutscher Waren und Dienstleistungen aufgerufen, womit sich für die Betroffenen die Erwerbsmöglichkeiten rapide verschlechterten. Deutsche und Österreicher wurden entweder ausgewiesen oder ab Oktober 1914 auf Malta interniert. Am 18. Dezember 1914 erklärte England Ägypten zu einem unabhängigen Sultanat und zum britischen Protektorat, setzte Khedive Abbas Hilmi II ab,27 der 24 An Pannwitz, (Kairo) 3. September 1914). PA AA Kairo-Gesandtschaft 1a. 25 Malhamé (Dragoman des deutschen Konsulats in Alexandria) galt bei den ägyptischen Behörden als „ottomanischer“ Staatsangehöriger, konnte also in Ägypten bleiben. 26 Pannwitz erhob dagegen am 7. September Protest. Berlin, 25. September 1914. PA AA KairoGesandtschaft 1a. 27 Abbas Hilmi II (1874–1944) war der letzte Khedive von Ägypten und des Sudan (1892–1914). Er war der Ururenkel von Mohamed Ali und folgte seinem Vater Tawfik Pasha nach als Khedive. Seine Schulbildung erhielt er in Lausanne und Wien, beherrschte außer der arabischen und türkischen auch die englische, französische und deutsche Sprache. Zu Beginn seiner Regentschaft umgab er sich fast ausschließlich mit europäischen Ratgebern, die sich gegen die britische Okkupation Ägyptens auflehnten, zunächst offen, dann verdeckt, indem sie die ägyptische Nationalbewegung unterstützten. Abbas lenkte schließlich ein, widmete sich intensiv landwirtschaftlichen Projekten und arbeitete schließlich eng mit dem britischen Generalkonsul in Kairo, Sir Eldon Gorst, zusammen. Die Ernennung von Sir Herbert Kitchener als Nachfolger von Gorst, 1911, bedeutete einen Bruch in den englisch-ägyptischen Beziehungen. Kitchener schlug die Entlassung Abbas’ vor, eine Forderung, die am 18. Dezember 1914 umgesetzt wurde. Zu Abbas Hilmi II s. The Last Khedive, 2006.
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als zu deutschfreundlich galt, und ernannte am 19. Dezember 1914 dessen Onkel Hussein Kamal Pasha zum „Sultan von Ägypten“. Trotz allem rechneten die wenigsten nach Deutschland zurückgekehrten Ägyptendeutschen mit einem langen Krieg und einem längeren Heimataufenthalt, sondern hielten, weil man an die baldige Rückkehr glaubte, engen Kontakt zu andern Betroffenen und zu in Ägypten verbliebenen Freunden und Bekannten, vor allem zu Schweizern. Im archäologischen Institut hielt Borchardts Assistent Friedrich Rösch noch für kurze Zeit die Stellung, übergab schließlich die Institutskasse an Paulus vom Deutschen Konsulat. Sein Gehalt bezog er weiterhin, Ludwig Borchardt schickte ihm im August 1914 300 Mark für Verwaltungszwecke, vor allem für die Bezahlung der Wächter und weiterer Angestellten des Hauses. Wie die sonstigen Zahlungen vonstatten gehen sollten, war ungewiss angesichts der unklaren Zukunft der DOB. Im Auswärtigen Amt besprach Borchardt sich deswegen mit von Müller, von Richthofen und von den Bussche. Unklar war er sich darüber, ob er selbst nochmals nach Kairo reisen oder die notwendigen Zahlungen durch den neuen Gesandten von Bülow vornehmen lassen sollte. Dieser plante nämlich eine Reise nach Ägypten, ein Vorhaben, an dessen Durchführbarkeit Borchardt erhebliche Zweifel hatte. Vorsorglich bot er von Bülow dennoch sein Kairener Wohnhaus als Bleibe an. Zur Not wollte Borchardt Kontakt mit seinem amerikanischen Kollegen Reisner aufnehmen, der in den Häusern auf Zamalek nach dem Rechten sehen und auch die Angestellten bezahlen sollte.28 Die Nachrichten aus Kairo ließen auf sich warten. Am 24. August 1914 hatte Borchardt auf seine Geldsendung noch keine Rückmeldung von Rösch erhalten, weshalb er „amtlich nach dem Verbleib“ seines Telegramms recherchieren lassen wollte.29 Um weitere Nachrichten zu erhalten, kontaktierte Borchardt in Berlin den angeblich gut informierten Alexander, Leiter der DOB.30 Das Auswärtige Amt ließ über Konstantinopel Nachrichten aus Kairo einholen.31 Konsul von Richthofen hatte Ägypten als einer der ersten Deutschen verlassen, mit der „Dalmatia“ unbehelligt Triest erreicht. Allerdings war von Bülow Ende August 1914 schon unterwegs, um das ägyptische Generalkonsulat zu übernehmen. Da Borchardt nicht sicher war, ob dieser überhaupt in Ägypten eintreffen würde, ließ er über einen Vertrauensmann der DOB Weisungen nach Ägypten transferieren.32 Sollte auch dies nicht glücken, wollte er die amerikanische Botschaft einschalten. 28 LB an MB, 22. August 1914. SIK MB 33/5. 29 LB an MB, 24. August 1914. SIK MB 33/5. 30 LB an MB, 24. August 1914. SIK MB 33/5. 31 LB an MB, 25. August 1914. SIK MB 33/5. 32 LB an MB 26. August 1914. SIK MB 33/5.
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Dass sich die Lage in Ägypten drastisch verändert hatte, erfuhr auch Borchardt mit Verzögerung. Denn ein von seinem Assistenten Rösch an ihn gerichtetes Schreiben von Anfang August 1914 erreichte ihn erst am 21. August. Rösch hatte in Eile das Institut verlassen müssen, weil er am 3. August 1914 den Mobilmachungsbefehl erhalten und nur wenig Zeit für die ordnungsgemäße Übergabe des Instituts an das Konsulat gehabt hatte. Zusammen mit Konsulatsvertreter Paulus versiegelte er die Institutsräume und übergab Scheckbücher, Bargeld und sämtliche Schlüssel dem Konsulat. Sowohl die Diener als auch die Wächter bezahlte er bis zum 31. Juli. Diener Mohammed beauftragte er, sich regelmäßig beim Konsulat zu melden. Von Pfarrer Olschewski erhielt er die Zusage, dass er regelmäßig nach Haus und Garten sehen wollte. Als Rösch sich am 4. August 1914 nach Port Said in Erwartung der baldigen Abreise begab, wurde er ebenso wie etwa 200 andere Deutsche wegen eines sich in der Nähe befindenden englischen Geschwaders abgewiesen. An eine Rückreise auf einem österreichischen Dampfer war nicht mehr zu denken. Nach nervenaufreibenden und erfolglosen Verhandlungen mit italienischen und niederländischen Unternehmen gelang es Rösch, für einen deutlich überhöhten Preis einen Platz auf dem griechischen Dampfer „Thessaloniki“ zu erhalten. Zusammen mit weiteren 18 Deutschen – „alle mit falschen Pässen versehen“ – und sieben Diakonissen vom deutschen Hospital in Alexandria trat er die Reise an. Besonders angenehm gestaltete sie sich nicht, denn der Kapitän des Schiffes drohte, sie den „Feinden“ auszuliefern, sollte das Schiff kontrolliert werden. Verpflegung wurde nicht geboten, auch kein Schlafplatz, der diese Bezeichnung verdient hätte. Der Schiffsreise schlossen sich dann noch 62 Stunden Bahnfahrt an. Zur Reisegruppe gehörten neben den Diakonissen auch Pastor Jahn, Baron von Dobeneck von der deutschen Gesandtschaft in Peking sowie Kappauff und Wargen von der DOB. Von der „Dalmatia“, mit der Rösch eigentlich hatte reisen wollen, hörte man gerüchteweise, dass sie von einem französisch-englischen Geschwader abgefangen und nach Malta umgeleitet worden sei. Auf dem Schiff befanden sich angeblich von Richthofen und fast sämtliche Deutsche aus Alexandria.33 Dass dies tatsächlich nur ein Gerücht war, erfuhr Rösch nicht mehr – nur kurz nach seinem Ausrücken in den Krieg wurde er eines von dessen Opfern. Um seine Immobilien und Besitztümer zu schützen, drängte Borchardt beim Auswärtigen Amt darauf, dass seine Kairener Angestellten und die laufenden Kosten weiter gezahlt wurden.34 Da die Verbindungen zu Kairo weitgehend
33 Rösch an LB, o. D. (ca. 10. August 1914), dort eingetroffen am 21. August 1914. DAIK Archiv Altakten Mappe A XXVIII. 34 LB an AA, 25. August 1914. DAIK Archiv Altakten Mappe A XXVIII.
2.1 Ägyptendeutsche und das Ehepaar Borchardt
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unterbrochen waren, übertrug er seinem amerikanischen Kollegen Reisner die Verantwortung für das Institut und sein Wohnhaus, wie er Reichskanzler von Bethmann-Hollweg am 31. August 1914 mitteilte.35
2.1 Ägyptendeutsche und das Ehepaar Borchardt Es bindet gleicher Schmerz wie gleiches Blut, Und Trauernde sind überall verwandt. (Franz Grillparzer „Sappho“)
Nach September/Oktober 1914 flossen die Nachrichten aus Ägypten immer spärlicher, nur hin und wieder gelangten über Umwege Briefe von Ägypten nach Deutschland, wie nicht nur die in Ägypten aufgewachsene und dort als Lehrerin an der deutschen Schule tätig gewesene Emma Walther beklagte.36 Noch im Oktober 1915 in Ägypten lebende Deutsche wie Frau Lüthy und ihre Töchter fürchteten, „in ein Konzentrationslager gesteckt zu werden“.37 Ehemals tragende Säulen der ‚deutschen Kolonie‘ wie das Kaufmannsehepaar Willi und Olga Hasselbach, das am 5. November 1914 Ägypten verlassen und sich eine Zeitlang in Rom aufgehalten hatte, befanden sich in einer schwierigen finanziellen Lage, mussten aus Baden abreisen, „weil seine Gelder alle in englischen und französischen Banken angelegt“ waren.38 Ihren Sohn hatten sie in Ägypten zurückgelassen, er wurde später auf Malta interniert. Der Österreicher Flasch, Besitzer des größten Restaurants in der Nähe des „früheren Hammam“ in Kairo, hatte die griechische Staatsangehörigkeit angenommen und leistete angeblich Spionagedienste für England. Dasselbe erzählte man von dem Schweizer Camenzind und dessen Tochter sowie einem österreichisch-jüdischen Künstler.
35 DAIK Archiv Altakten Mappe A XXVIII. 36 Hatte ab 1896 in Ägypten gelebt. E. Walther an MB, (Konstanz) 13. Oktober 1915. SIK MB 82/3. 37 Frau Pfyffer (s. O. von Mohl: Ägypten, 1922) schreibe „sehr lustige Briefe aus Cairo“. Gina Brethschneider habe aus Deutschland berichtet, Dr. von Becker sei ausgewiesen worden, habe noch keinen Kontakt zu seiner Familie aufnehmen können. Die sich in Genf aufhaltenden Frau Bauerlé, Frl. D. Mendelssohn und Gräfin Sala planten ihre baldige Rückkehr nach Ägypten. 38 Willi Hasselbach berichtete LB (14. Dezember 1914), seit seiner Abreise habe er nicht mehr von Hausdurchsuchungen in Kairo gehört, aber von der „in ganz unerhörter Weise“ vorgenommene Durchsuchung des Sanatoriums von Frau Urbahn. DAIK Altakten Mappe A XXVIII.
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Max Meyerhof hatte seine eigenen Nachrichtenkanäle, die zwar unregelmäßig funktionierten, aber doch den Nachrichtenfluss sicherten und sogar die Aufrechterhaltung seiner Klinik sowie die Bezahlung von Miete und Gehältern ermöglichten.39 Unmittelbar nach seiner Rückkehr nach Deutschland stellte er sich als Landsturmarzt zur Verfügung, wurde aber wegen seines Nierenleidens für „felddienstuntauglich“ erklärt. Stattdessen arbeitete er gegen geringe Entlohnung als freiwilliger Zivilarzt (Chirurg und Augenarzt) am israelitischen Krankenhaus in Hannover, das in ein Reservelazarett umgewandelt worden war, später am Vereinslazarett Hannover und schließlich als landsturmpflichtiger Arzt.40 Wie die meisten Ägyptendeutschen wollte auch Meyerhof die Hoffnung auf die baldige Rückkehr nach Ägypten nicht aufgeben, zumal beispielsweise ein österreichischer Kollege im Oktober 1914 noch nicht ausgewiesen, der „Verkehr mit den Engländern (…) weiter nett“ war, die Engländer von Maadi sich sogar um in Not geratene Deutsche und Österreicher kümmerten.41 Dennoch herrschte in der ‚österreichischen Kolonie‘ großes „Elend“. Diese Hoffnungsschimmer schwanden zunehmend, denn auch die noch in Ägypten befindlichen Ägyptendeutschen bzw. Österreicher wurden sukzessive aus ihren Stellungen entlassen, des Landes verwiesen oder auf Malta interniert.42 Meyerhof tat sein Möglichstes, zumindest Kollegen zu neuen Stellungen zu verhelfen. Dennoch hoffte beispielsweise Emma Walther für 1916 bestimmt auf die Rückkehr und an „unsere ägyptische Schule“, und war mit dieser Hoffnung nicht allein.43 Um das Ehepaar Borchardt scharten sich etliche „heimatlose Ägypter“, sich an die Rückkehrhoffnung klammernd, obschon diese immer unwahrscheinlicher wurde. Dennoch hielt auch das Ehepaar Borchardt – Ludwig Borchardt war am 19. Juli 1914 gemeinsam mit Max Meyerhof von Ägypten nach Europa
39 Über den Bruder seines Assistenten in Kairo konnte er über die Schweiz Nachrichten schicken und erhalten. Informationen lieferte ihm auch der Schweizer J.J. Hess. Meyerhof an LB, 21. August 1914, 12. Juni 1915. SIK LB. 40 In Ersterem befanden sich permanent etwa 100 Schwerverwundete. Meyerhof an LB, 12. September 1914, 16. Dezember 1914, 27. Dezember 1916. SIK LB. 41 Der Wiener Arzt Rudolf Amster durfte unter der Bedingung in Ägypten und in seiner Stellung bleiben, „dass er nichts gegen England unternehmen werde“. Meyerhof an LB, 14. Oktober 1914. SIK LB. 42 Meyerhof an LB, 10.12.1914. SIK LB. Der Orientalist Arthur Schaade konnte dank eines niederländischen Passes Kairo unbeschadet verlassen. Ludmila Hanisch: Die Nachfolger, 2003, S. 79. 43 Konstanz (Luziengang 5), 26. Dezember 1915. SIK MB 82/3.
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usgereist, seine Ehefrau schon einige Wochen zuvor44 – an seinem Optimismus a fest, glaubte an den Sieg Deutschlands,45 begnügte sich mit der vorläufigen Bleibe in der Berliner Pension Heukelum. Mit der Überzeugung vom baldigen deutschen Kriegsgewinn wussten sich Ludwig und Mimi Borchardt nicht allein. Mahnende oder nachdenkliche Stimmen wie jene von Max Warburg, der vor Ort beispielsweise die „Grausamkeiten der deutschen Verwaltung“ in Belgien erlebte und sie nicht als der Gerüchteküche entnommen abtat, sondern scharf verurteilte, waren eher selten und wurden von Borchardts nicht gehört.46 Für derartige Bedenken und Beobachtungen hatte auch Mimi Borchardt wenig Verständnis, obwohl Max Warburg zu ihrer amerikanischen Großfamilie mütterlicherseits gehörte. Sie war im Gegenteil sogar so erzürnt, dass sie den Kontakt zur amerikanischen Verwandtschaft weitgehend abbrach, ein Verhalten, das sie in den 1930er Jahren nicht mehr nachvollziehen konnte und bereute.47 Philipp Schiff, dem in Frankfurt lebenden Bruder Jakob Schiffs, über dessen Verhalten das Ehepaar Borchardt in erster Linie erzürnt war, war die Auseinandersetzung so peinlich, dass er im August 1914 die in Frankfurt weilende Mimi mit besonderer Zuvorkommenheit behandelte.48 Zu überbrücken waren aber die Spannungen infolge der auseinanderdriftenden politischen Einstellungen nicht mehr. Bei den in Deutschland lebenden Verwandten, Freunden und Bekannten überwog zunächst die Kriegsbegeisterung. Ludwig Borchardt war geradezu enthusiastisch über das militärische Vorgehen und die Erfolge Deutschlands.49 Er freute sich, dass den Belgiern wegen ihrer „üblen Behandlung der Deutschen“ hohe Kontributionen auferlegt worden waren.50 Die Stimmung in Berlin empfand er als zuversichtlich, was ganz seiner eigenen entsprach.51 Die Einnahme Belgiens
44 Im Juli 1914 hatte LB sich in Kairo mit Konsul W. Padel, Fabrizius und von Miquel getroffen. Seine Erwähnung, im Herbst 1914 nochmals in Ägypten gewesen und am 5. Dezember 1914 ausgereist zu sein, muss sich auf eine andere Person beziehen, eventuell meinte er Paul Kahle. LB an MB, Juli 1914, 14. Januar 1915. SIK MB 33/4 u. 33/5. 45 Während MB Zweifel kamen, hielt LB an der Überzeugung vom deutschen Kriegsgewinn fest. „Es ist auch nicht der geringste Grund, nicht auf den Sieg zu vertrauen“, schrieb er am 9. März 1915 an MB. SIK MB 34/2. 46 Max M. Warburg: Aufzeichnungen, 1952, S. 37. 47 Am 8. Dezember 1938 schrieb MB an Marianne Grunwald, zu ihrer Verwandtschaft in den USA habe sie leider keinen Kontakt mehr. Man sei „seit dem Krieg, an dem sie sich zu den Feinden schlugen, vollkommen auseinander. Das ist ein Witz, eines Teufels würdig“. SIK MB 64/2. 48 LB an MB, 30. August 1914. SIK MB 33/5. 49 LB berichtete MB am 22. August 1914 von Gesprächen mit einem Major aus Kassel. SIK MB 33/5. 50 Mit Erläuterung des militärischen Vorgehens der Deutschen in Belgien. LB an MB, 24. August 1914. SIK MB 33/5. 51 LB an MB, 24. August 1914. SIK MB 33/5.
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rief bei Borchardt Begeisterung hervor: „der deutsche Gouverneur in Belgien, die deutsche Sprache in Belgien und vermutlich wird man die französische daneben beibehalten. Du, stolzes England, freue Dich! Antwerpen deutscher Hafen! Pack ein, John Bill! Ob Wilhelminche wohl in den Bundesstaat (nicht gleich Staatenbund (s. d.) eintritt? Und das bißchen Kongostaat, das an den Belgiern hängt.“.52 Entsprechend abwegig fand er, dass Belgien in Den Haag Klage führen wollte über die „inhumane Kriegsführung der Deutschen“, namentlich deren Einsatz chemischer Waffen.53 Wegen der österreichischen Armee sollte Mimi sich keine Sorgen machen, „die freuen sich, dass sie mit dem großen Bruder mitlaufen dürfen und damit haben sie ihren Zweck erfüllt“.54 Ende August 1914 meinte Borchardt seiner Ehefrau bereits vom Sieg Deutschlands „im Osten“ berichten zu können.55 Zusammen mit seinem Bruder Heinrich besuchte Ludwig Borchardt Vertriebene aus Ostpreußen, übergab der betreuenden Ordensschwester Schokolade, Zigarren und Geld. Als sonderlich bedrückend empfand er die Kriegssituation nicht, obwohl sein Bruder Heinrich vergeblich eine Arbeitsstelle suchte und auch er selbst nicht recht wusste, was er mit seiner Zeit anfangen bzw. wie er sie zugunsten der deutschen Kriegsführung einbringen sollte. Als Dolmetscher für Gefangenentransporte wurde er abgelehnt, stellte stattdessen Überlegungen zum „Schutz der Kunstschätze Belgiens“ an.56 Inspiriert worden sein dürfte er vom Kreis um den ehemaligen Botschafter in Japan, Philipp Alfons Mumm von Schwarzenstein, den er als Besucher in Ägypten kannte. Dieser Kreis begann ab dem 25. August 1914, „die Wahrheit ins Ausland“ zu verbreiten. Mitglied der Gruppe war auch Theodor Wiegand, Direktor der Antikenabteilung der Königlich Preußischen Museen, dessen Aufgabe unter anderem darin bestand, deutsche Gelehrte für die „Aufklärungsarbeit“ zu gewinnen, weshalb er sich am 4. September 1914 wegen der Denkmalpflege in Belgien an Wilhelm von Bode, Generaldirektor der königlichen Museen in Berlin, wandte. Auch der Archäologe Wilhelm Dörpfeld, der im Nachrichtenbüro Berg als Übersetzer aus dem Neugriechischen eingesetzt war, sollte eingebunden werden.57 Borchardt bewegte sich in diesem ihm seit Langem bekannten Personenkreis, wurde vermutlich dadurch motiviert, seine Kenntnisse einbringen zu wollen. An einem baldigen Sieg Deutschlands zweifelte er nicht, erwartete fast täglich „den Tag, an dem die englische Flotte erliegt“.58 Nochmals bot er sich
52 LB an MB, 25. August 1914. SIK MB 33/5. 53 LB an MB, 30. August 1914. SIK MB 33/5. 54 LB an MB, 25. August 1914. SIK MB 33/5. 55 LB an MB, 31. August 1914. SIK MB 33/5. 56 LB an MB, 26. u. 27. August 1914. SIK MB 33/5. Vgl. Christina Kott: Préserver l’art, 2006. 57 Jürgen von Ungern-Sternberg, Wolfgang von Ungern-Sternberg: Der Aufruf, 1996, S. 128 f. 58 LB an MB, 27. August 1914. SIK MB 33/5.
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als Dolmetscher an, wurde wiederum abgewiesen. Doch schienen sich Pläne abzuzeichnen, Borchardt als ‚Kunstoffizier‘ „zum Schutze des Museums“ nach Brüssel zu schicken. Seine Aufgabe sollte in „Regelung und Schutz des Betriebes der öffentlichen Sammlungen und Einrichtungen von Magazinen, in denen Private ihre Kunstschätze gegen Quittung unter militärische Bewachung stellen“ könnten, bestehen, ein Vorhaben, das nach Borchardts Meinung wohl auf kaiserliches Wohlwollen stoßen würde.59 Tatsächlich schien man sich im Kultusministerium auf Borchardt als den geeigneten Kandidaten für eine solche Aufgabe einigen zu wollen, zumal er einer der wenigen abkömmlichen Männer war.60 Realisiert wurde das Vorhaben nicht, später erwähnte Borchardt es nicht mehr, obwohl er sich anfangs sehr auf eine solche Aufgabe gefreut hatte.61 Tatsächlich waren seine Aussichten von Anfang an gering. Denn wieder flammte gegen ihn gerichteter Antisemitismus auf, erneut ausgehend von dem ebenfalls in Belgien aktiven Ägyptologen Friedrich von Bissing.62 Zweifel am deutschen Kriegsgewinn, die sich bei seiner Ehefrau hier und da einschlichen, zerstreute Borchardt mit Auflistungen der bisherigen militärischen Erfolge Deutschlands und Darstellung zukünftiger Strategien.63 Mit seinem nicht zu erschütternder Optimismus stand er in seinem engsten Kreis jedoch zunehmend allein. Bruder Heinrich hegte so erhebliche Zweifel an einem zu erwartenden Kriegsgewinn Deutschlands und der Sinnhaftigkeit des Krieges überhaupt, dass es zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen den Brüdern kam. Um die gemeinsamen Mittagessen nicht gänzlich aufgeben zu müssen, einigte man sich darauf, das Thema Krieg fortan völlig auszusparen.64 Weiterhin führte Borchardt eifrig Buch über den Verlauf des kriegerischen Geschehens und war nicht wenig stolz darauf, dass auch einige seiner ehemaligen jüdischen Mitschüler vom Aska-
59 LB an MB, 27. August 1914. SIK MB 33/5. 60 LB an MB, 4. September 1914. SIK MB 33/5. 61 Mit dem Schutz der Kunstdenkmäler in Belgien und Nordfrankreich beauftragt wurde schließlich der Bonner Kunsthistoriker Paul Clemen, Harvard-Austauschprofessur 1907/08. Bernhard vom Brocke: Wissenschaft, 1985, S. 677. 62 Dieser wandte sich deutlich gegen einen Einsatz LBs in Belgien, er wäre eine „Schmach für Deutschland“, wie er am 10. September 1914 an Bode schrieb. Laut v. Bissing sollte mit dem „Berliner Judengesindel“ endlich „aufgeräumt“ werden, der Kaiser sich der „jüdischen Geheimräte“ entledigen. Zitiert nach Susanne Voss: Geschichte, 2013, S. 149. Vgl. Peter Raulwing, Thomas Gertzen: Von Bissing, 2013, S. 47. 63 LB an MB, 1., 2., 3., 4. September 1914. SIK MB 33/5. 64 LB an MB, 14. Januar 1915. SIK MB 34/1. 65 Auf der Liste „Im Kampfe für das Vaterland haben den Tod erlitten“ kennzeichnete LB die jüdischen Soldaten, nämlich 7 von 69 (10,15 %), wie er errechnete. 1915/16 waren laut seiner Zählung 43 (12,3 %) der Kriegsteilnehmer des Askanischen Gymnasiums jüdisch. SIK LB.
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nischen Gymnasium in Berlin Kriegsteilnehmer waren.65 Ebenso stolz war er, als Max Meyerhof sich 1916 freiwillig zum landsturmpflichtigen Arzt bestimmen ließ, wobei ihn vor allem der damit zusammenhängende militärische Rang interessierte.66 Weder Ludwig noch Mimi Borchardt bildeten bezüglich der Einstellung zum Krieg und der Rolle Deutschlands eine Ausnahme innerhalb der gebildeten deutschen Judenschaft, als deren Sprecher sich auch der Marburger Neukantianer Hermann Cohen hervortat.67 Dieser stand auf Empfehlung von Eduard Cohen in engem Kontakt mit Mimi Borchardt und beeinflusste sie maßgeblich, obwohl sie erklärtermaßen eine Anhängerin Nietzsches war. Ebenso wie zahlreiche andere jüdische Intellektuelle waren die beiden Borchardts überzeugte Nationalisten und empfanden sich als „Hüter traditioneller kultureller Werte“.68 Zu den Intellektuellen gehörte zwar auch Max Meyerhof. Doch war seine Kriegsbegeisterung verhaltener bzw. seine Skepsis größer, auch weil er täglich in Gestalt von Schwerstverwundeten mit den Folgen des Krieges konfrontiert war.69 Schon im September 1914 bezweifelte er, „dass wir England ins Herz treffen können“.70 Im Dezember 1914 wusste er von Klagen der aus Flandern kommenden Offiziere zu berichten, dass „auf einen deutschen Flieger 8–10 französische und englische“ kämen, dem Gegner nicht die kleinste Truppenansammlung verborgen bliebe und dies mit gewaltigem „Artillerie-Schnellfeuer“ beantwortetet werde. Ein größerer „Vorstoß“ der Deutschen sei demnach so gut wie unmöglich.71 Erst als ein rasches Kriegsende unwahrscheinlicher wurde, mieteten sich Ludwig und Mimi Borchardt Ende 1916 eine Wohnung in der Berliner Keithstraße. Von dort aus pflegten sie enge Beziehungen zu Mitgliedern der ehemaligen ‚deutschen Kolonie‘, sammelten sich mit all jenen, die sich um ihr in Ägypten verbliebenes Hab und Gut sorgten und nach dem geliebten „Sonnenland“ sehnten.72 Mimi Borchardt versuchte ihre Zeit sinnvoll zu nutzen, indem sie an der Univer66 Meyerhof interessierte dies wenig, aber er lieferte die gefragten Informationen. Meyerhof an LB, 1. Januar 1917. SIK LB. 67 Cohen war der einzige jüdische Ordinarius für Philosophie im deutschen Kaiserreich. Deutschtum und Judentum konvergierten laut Cohens Interpretation auf einen ethischen Monotheismus, so dass konfessionelle und ethische Unterschiede ihre prinzipielle Bedeutung verlören. Ulrich Sieg: Jüdische Intellektuelle, 2008, S. 36. 68 Ulrich Sieg: Jüdische Intellektuelle, 2008, S. 11. 69 Regelmäßig berichtete er LB von der Ankunft Schwerverwundeter im Lazarett, z. B. 16. Dezember 1914, 27. Juni 1915. SIK LB. 70 Meyerhof an LB, 12. September 1914. SIK LB. 71 Meyerhof an LB, 13. Dezember 1914. SIK LB. 72 In der Borchardt Wohnung in Berlin trafen sich die Ägyptendeutschen regelmäßig, wie sich O. Hasselbach erinnerte. Berlin, 27. Dezember 1938 an MB. SIK MB 65/6.
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sität Vorträge von Cohen besuchte oder selbst Vorträge über Ägypten hielt, etwa beim Bund der Auslandsdeutschen,73 dessen ägyptendeutsche Mitglieder sich regelmäßig im „Weihenstephan“ in Berlin trafen.74 Ludwig Borchardt weigerte sich weiterhin, den Wahrheitsgehalt jeder aus seiner Sicht ungünstigen Nachricht zu akzeptieren. Als die durch ihren Ehemann Konsul Padel wohl unterrichtete Frau Padel75 ihm im Januar 1915 von einem Zeitungsbericht erzählte, wonach in Ägypten sämtliches türkisches und deutsches Privateigentum beschlagnahmt worden sei, wertete er dies als Falschmeldung.76 Mitte 1916 stellte sich jedoch heraus, dass diese Meldung tatsächlich in die richtige Richtung gewiesen hatte. Am 12. August 1916 druckte die „Egyptian Gazette“ die „Verordnung des britischen Oberbefehlshabers in Ägypten vom 31. Juli 1916 über Zwangsverwaltung feindlichen Eigentums“.77 Es war ein Public Custodian ernannt worden, damit Maßnahmen zur Liquidation und Kontrolle von „enemy businesses“ ergriffen werden konnten. Innerhalb von 30 Tagen mussten die Vermögenswerte angegeben werden. Einige Deutsche hielten sich zu Beginn 1915 immer noch in Ägypten auf. Von einer ‚deutschen Kolonie‘ konnte aber keine Rede mehr sein. Unter den letzten 44 „zuletzt aus Ägypten ausgewiesenen Frauen“, die am 20. Dezember 1915 in Genua ankamen, war unter anderem die von Emma Walther erwähnte Marie Lüthy.78 Zu dieser Gruppe gehörten vermutlich auch die beiden Ordensschwestern, die sich bis zuletzt in den Gebäuden der deutsch-evangelischen Gemeinde aufgehalten hatten. Angeblich war auch der deutsche Konsulatssekretär Paulus, der bis November 1915 der Amerikanischen Diplomatischen Agentur für die Angelegenheiten des deutschen Archäologischen Instituts zugewiesen war, ausgewiesen worden.79 Meist waren es ehemalige Hausangestellte, die als Letzte das Land verließen.80 Auch Borchardts 73 Ihre Cousine Friedel Oppler-Rubensohn bestärkte sie in dem Vorhaben, diese Vorträge zu halten. „Populäre Lichtbilder“ („Straßenscenarien, Volkstypen usw.“) könne ihr ihr Ehemann entleihen. F. Oppler-Rubensohn an MB, 11. Dezember 1914. SIK MB 49/7. 74 Die Borchardt’sche Wohnung in der Keithstraße konnte erst ab 1916 als Treffpunkt genutzt werden. Offenbar war das Interesse an diesen Treffen groß, wie den Briefen LBs an seine Ehefrau zu entnehmen ist. SIK MB 33/4–5, 34/1–2. 75 Padels waren bis 1914 direkte Nachbarn von LB und MB in Kairo. 76 LB an MB, 14. Januar 1915. SIK MB 34/1. 77 DAIK Altakten Mappe A XXVIII. 78 Konstanz, 26. Dezember 1915. SIK MB 82/3. 79 LB an Reichskanzler Bethmann-Hollweg, 10. April 1916. Paulus reiste am 29. November 1915 aus Ägypten aus (Paulus an LB, 4. April 1916). DAIK Altakten Mappe A XXVIII. 80 So das „Stubenmädchen“ der Familie Hasselbach, die erst 1916 mit „verschiedenen deutschen Frauen und Kindern in der Heimat“ ankam. „Sie mussten 60 italienische Reservisten begleiten und sollen noch eine ganze Anzahl da sein, die nicht alle auf einmal, sondern nach und nach jedesmal Reservistentransporte decken sollen“. Olga Hasselbach an MB, 11. Juni 1916. SIK MB 65/6.
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ließen ihre Köchin, die Österreicherin Marie Lana, in Kairo zurück.81 Ende 1914 hielt sich auch der bis 1907 als Pfarrer der deutsch-evangelischen Kirchengemeinde tätige Paul Kahle noch in Ägypten auf, wahrscheinlich aus Forschungsgründen, denn er hatte das geistliche Amt zugunsten seiner orientalistischen Forschungen aufgegeben. John Maxwell (1859–1929), Oberbefehlshaber der britischen Truppen in Ägypten, verschaffte ihm einen Pass, damit er auf einem holländischen Schiff ausreisen konnte. Dieses Schiff wurde dann allerdings von einem französischen Kriegsschiff nach Malta, Bizerta und schließlich Marseille umgeleitet. Dort wurde Kahle in Polizeigewahrsam genommen, wieder aufs Schiff gebracht, erneut von dort weggebracht und 20 Tage lang auf St. Nicolas („auf Stroh zuerst“) gefangen gehalten. Dann erst wurde ihm die Ausreise nach Deutschland gestattet.82 In Deutschland wurde er sogleich auch für Ägyptendeutsche tätig, versuchte Arbeitsstellen zu vermitteln.83 Mit den zuletzt Ausgereisten waren die Immobilien der deutschen Gemeinde weitgehend „ohne jeden Schutz“, die Borchardt’schen Mobilien und Immobilien standen im August 1916 unter dem Schutz der diplomatischen Vertretung Nordamerikas, Reisner kümmerte sich darum.84 Meyerhof verfügte über so verlässliche Beziehungen zu Ägypten, dass er seine Klinik aufrecht erhalten konnte mittels Transfer der Miete über Mittelsmänner.85 Dass der Krieg ein lange dauernder werden würde und schließlich auch ehemalige Ägyptendeutsche betraf, lastete auf den Ehemaligen.86 Besonders
81 Nachdem Assistent Rösch Ägypten verlassen hatte, hütete sie gemeinsam mit Diener Ahmed die Häuser. Sie blieb dort während des gesamten Krieges. Im November 1919 trat sie ihre Arbeit im Haushalt des schwedischen Generalkonsuls Unander an. Unander an LB, 1. Dezember 1919. DAIK Altakten Mappe A XXVIII. 82 LB an MB, 4. Januar 1915. SIK MB 34/1. Die Angabe von Ludmila Hanisch: Die Nachfolger, 2003, S. 79, Kahle sei in Kairo gefangengenommen und ein Jahr lang interniert worden, erscheint unrichtig. 83 Die ehemalige Schülerin der deutschen Schule, Sylvia Hornstein, hatte diese aushilfsweise bis zu ihrer Ausweisung am 15. Juli 1915 weitergeführt. Paul Kahle vermittelte ihr eine am 1. Dezember 1915 beginnende Arbeitsstelle an einer Gießener Vorschule. S. Hornstein, Tochter von Lena Hornstein, 1920 angemeldet bei Schmidt (Direktor der Papierfabrik Schuppler in Laaskirchen/Oberösterreich). Abteilung Ägypten des Bundes der Auslandsdeutschen. Mitgliederliste v. 10. Februar 1920. 84 Den Wert seiner beiden Villen bezifferte LB auf 250.000 Mark, der Mobilien (Möbel, Bibliothek etc.) auf 91.000 Mark. Geld und Wertpapiere waren bei der DOB deponiert gewesen und hatten einen Wert von 11.360 Mark. Materialien zur Vorbereitung wissenschaftlicher Werke hatten einen Wert von 4.000 Mark. LB an Reichskanzler Bethmann-Hollweg, 29. August 1916. DAIK Altakten Mappe A XXVIII. 85 Meyerhof an LB, 12. Juni 1915. SIK LB. 86 Der aus Friesland stammende Karl Pleister, der vier Jahre lang Lehrer an der deutschen Schule in Kairo gewesen war, galt im Dezember 1915 als „vermisst“, wenig später als „gefallen“. „Er
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Meyerhof war tief betroffen, schon im September 1914 waren zehn seiner Bekannten, darunter zwei enge Freunde, gefallen.87 Er selbst wurde Thema von Gerüchten, wonach er angeblich „im Osten“ gefallen war.88 Einige Ägyptendeutsche – darunter Hasselbach, Schmidt und Fritz Hess – hofften aufgrund der Vermittlertätigkeit von Ludwig Borchardt, ihre Söhne vom Militärdienst befreien zu können, was sich als aussichtslos erwies.89 Weitere Gerüchte machten die Runde. Angeblich hatte das ehemals in Kairo, nun in Baden-Baden lebende Ehepaar Hasselbach die englische Staatsbürgerschaft angenommen, um seine Besitztümer zu retten. Als sich diese Nachricht als ein vom ehemaligen Lehrer Stark gestreutes Gerücht erwies, wurde dies mit Erleichterung aufgenommen. Schwer getroffen war Frau Schmidt, deren Ehemann W.A. Schmidt90 auf Malta interniert war.91 Nachrichten von ihrem Ehemann erhielt sie nur selten und in stark zensierter Form. Kaufmann Hasselbach stellte sich stand als Leutnant beim Res. Reg. 216 in Flandern und hat sich im Verlauf der langen Kämpfe dort das Eiserne Kreuz erworben. Ich habe mich seinetwegen an verschiedene Stellen gewandt, bis jetzt aber nichts erfahren können.“ Die Leiche Pleisters wurde im Januar 1916 von bayerischen Truppen bei Loos gefunden. Auch einer seiner Brüder war im Krieg gefallen. Der einzige Sohn von Kaufmann Gustav Mez fand ebenfalls den Tod. Im Juli 1917 musste von der schweren Kopfverwundung des ehemaligen Musiklehrers und Organisten der deutschen Schule, Karl Plato, berichtet werden; später leistete er wieder Frontdienst, geriet Ende Juni 1918 in französische Kriegsgefangenschaft. Weitere zehn Männer aus dem Kreis der Ägyptendeutschen fanden bis Mitte 1915 den Tod. E. Walther an MB, 26. Dezember 1915, 6. Februar 1916, 29. Juli 1917, 5. Januar 1919. SIK MB 82/3. „Von Deutsch-Aegyptern sind fürs Vaterland gefallen“: von Hanffstengel (Direktor der Deutschen Baumwollpresse), Hildenbrand (2. Juli 1915 in den Vogesen), Höhne (DOB, vor dem 6. Januar 1915), Klingenburg (Pfarrer in Alexandria, vor dem 11. August 1915), Röhrig (DOB), Dr. Rösch (Assistent am deutschen Institut in Kairo, am 30. August 1914), Rübsam (Continental Hotel, Kairo), Seyffert (DOB), Carl Wasmus (am 15. Mai 1915), Wiesendanger (vor dem 2. Oktober 1914). Liste verfasst von LB. SIK LB. 87 Meyerhof an LB, 12. September 1914. SIK LB. 88 Neuigkeiten aus Kairo erreichten E. Walther von Gina Brethschneider (Genf) und Madame Phyffer-Heller (Kairo). E. Walther an MB, (Konstanz) 6. Februar 1916. SIK MB 82/3. Der ehemals in Kairo als Rechtsanwalt tätige J. van Oordt fand Anstellung bei der deutschen Gesandtschaft in Den Haag, arbeitete Anfang 1919 bei der Hilfsstelle der deutschen Gesandtschaft (Presseabteilung und für orientalische Sprachen). E. Walther an MB, 5. Januar 1919. SIK MB 82/3. Für 1911 ist van Oordt als Mitglied Nr. 1224 der „Deutschen Morgenländischen Gesellschaft“ aufgeführt, Rechtsanwalt (Kairo, Maison Abst). 89 Von seinen erfolglosen Bemühungen berichtete LB seiner Ehefrau, 6. Februar 1915. Das Ansinnen des Sohnes Hasselbach, eines „jungen kräftigen Sohnes“, der sich zudem in Kairo „sehr unbeliebt gemacht hatte“, konnte LB nicht nachvollziehen. SIK MB 34/2. 90 Professor für Chemie, 1899 bis 1914 Professur an der Egyptian Gouvernment School of Medicine. 1924 versuchte er, seine frühere Position in Ägypten zurückzuerhalten. PA AA R 63246. 91 Sie zog mit ihren Kindern zu ihrer Schwiegermutter nach Osnabrück, unterrichtete ab August 1915 an einer „Knabenschule“.
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auf ein längeres Fernbleiben von Ägypten ein, begab sich zusammen mit einem Herrn Fincky, ebenso wie der Arzt von Herff,92 nach Konstantinopel.93 Mit der Zeit versandeten die Nachrichtenquellen, denn die ägyptische Zensur wurde erheblich verschärft, so dass beispielsweise „Frau Dr. Ali Ibrahim“ darum bat, ihr nur noch „Familiensachen“ zu schreiben und die Schweizerin Hartmann94 nur noch „ganz Persönliches“ aus Ägypten mitteilte.95 Auch Borchardt erfuhr nur noch selten Neuigkeiten aus Ägypten, weder das Ehepaar von den Bussche noch Padel wusste Neues.96 Einigermaßen funktionierten lediglich die ägyptologischen Netzwerke, die ab und an Neuigkeiten aus Ägypten vermeldeten,97 etwa jene von Benisch im März 1915, dass „im Hause in Gesira“ alles „tamäm“, also in Ordnung sei, was von den ehemaligen Angestellten Meyerhofs bestätigt wurde.98 Auch die Wächterlöhne konnten noch rechtzeitig ausgezahlt werden.99 Dass der Reserveoffizier Julius O. Voit100 und ein deutscher Militärattaché aus Indien in den Borchardt’schen Häusern in Kairo wohnten, konnten weder Professor Looss noch Heinrich Bitter aus eigener Anschauung bestätigen. Die beiden hatten am 5. Dezember 1914 Kairo verlassen. Dass sich die beiden besagten Personen tatsächlich in Kairo aufhielten, konnte als gesichert gelten. Als aber von Bülow vorschlug, die Instituts-Bibliothek ins Konsulat transportieren zu lassen,101 um das Institut 92 1915 zum Sanitätsrat ernannt, bereitete sich im August 1915 auf den Dienst in der türkischen Armee („gegen Ägypten“) vor. Zunächst sollte er als Chefarzt des Lazaretts in Skutari fungieren. Meyerhof an LB, 29. August 1915. DAIK Altakten Mappe A XXVIII. 93 Die Ehefrauen der beiden Ersteren blieben zunächst bei der Ägyptendeutschen „Frau Dr. Urbahn“ in Bad Nauheim. Spätestens ab 1916 war Hasselbach bei der Deutsch-Orientalischen Handelsgesellschaft in Konstantinopel tätig. Olga Hasselbach wohnte in Berlin. E. Walther an MB, 5. Januar 1919. O. Hasselbach an MB, 11. Juni 1916. SIK MB 82/3, 65/6. „Die Kontakte zwischen dem deutschen und Osmanischen Reich intensivierten sich nicht nur auf der militärischen, sondern auch auf der kulturellen Ebene. Ab August 1916 wurden 272 türkische Schüler zur Schulausbildung und mehr als 300 Handwerkslehrlinge nach Deutschland geschickt.“ Ludmila Hanisch: Die Nachfolger, 2003, S. 83. 94 Eine Nichte von Frau Hartmann war in den 1930er Jahren Lehrerin an der deutschen Schule Kairo. E. Walther an MB, 28. Mai 1933. SIK MB 82/3. 95 Konstanz, 26. März 1916 E. Walther an MB. SIK MB 82/3. 96 LB an MB, 27. Januar 1915. SIK MB 34/1. 97 In Kontakt stand er vor allem mit Reisner. LB an MB, 16. Februar 1915. SIK MB 34/2. 98 Meyerhofs Angestellte standen in Briefkontakt mit ihrem ehemaligen Arbeitgeber. LB an MB, 14. März 1915. SIK MB 34/2. 99 LB’s Telegramm hatte das deutsche Konsulat tatsächlich erreicht, so dass die Finanzangelegenheiten geregelt werden konnten. LB an MB, 4. Januar 1915. SIK MB 34/1. 100 Er hatte schon vor 1914 in Ägypten gelebt, wie sich aus den Liquidationslisten ergibt. Journal Officiel du Gouvernément Égyptien, 47, No. 23 (17. Mars 1920), S. 7. 101 Vermutlich resultierte dies aus einem Schreiben F. von Bissings vom 22. Dezember 1914 an das AA, worin er diesem diesen Vorschlag unterbreitete. DAIK Altakten Mappe A XXVIII.
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zu schützen, wehrte Borchardt sich heftig. Erstens gehe diese Angelegenheit weder von Bülow noch das Auswärtige Amt etwas an und zweitens sei von Bülow sowieso „komplett verrückt“.102 Außerdem stellte die dann doch nachgewiesene Anwesenheit Voits, der das „Assistentenzimmer“ des Instituts bewohnte103 und unter dem besonderen Schutz des amerikanischen Generalkonsuls Olney Arnold (1861–1916)104 stand, der seinerseits von der amerikanischen Regierung mit dem Schutz des Instituts beauftragt worden war, einen gewissen Schutz dar.105 Außer Voit wohnte Mitte 1915 auch das Ehepaar Thomas, das kurz vor Kriegsbeginn aus London eingetroffen war, weil er die Stelle als Sekretär des deutschen Konsulats in Alexandria übernehmen sollte, in einem der Institutszimmer. 1915 wurde Thomas vertretungsweise an die amerikanische Agentur berufen. Mit Sorge und Verärgerung verfolgte Borchardt die Vergabe von Grabungskonzessionen bzw. befürchtete, dass er die an Deutschland für Tell el-Amarna vergebene verloren geben musste. Aus einem vom amerikanischen Generalkonsul Olney Arnold an ihn gerichteten Schreiben vom Januar 1915, das sich auf Informationen von George Reisner berief, entnahm er, dass die amerikanische Abteilung der Egypt Exploration Society (EES) Ansprüche auf Tell el-Amarna angemeldet hatte. Reisner versuchte zu bewirken, dass die Entscheidung über die Grabungskonzession bis Kriegsende ruhen sollte. Allerdings waren die Wachen bereits am 2. Dezember 1914 abgezogen worden, was die Ägyptologen Edgar, Quibell und Reisner zu revidieren versuchten. Zugunsten der wissenschaftlichen Forschung wurde schließlich ein Kompromiss gefunden, es wurde nicht unmittelbar über die Neuvergabe der Konzession entschieden. Unumstößlich aber war 102 LB an MB, 15. Januar 1915. SIK MB 34/1. 103 Briefe von Emil und Julius Voit an LB, 11. Oktober 1915. DAIK Altakten Mappe A XXVIII. 104 War von September 1913 bis Januar 1916 amerikanischer Generalkonsul in Ägypten als Nachfolger von Peter August Jay (1877–1933), der von Dezember 1909 bis 1913 amtierte. Nachfolger Arnolds wurde von Oktober 1917 bis Dezember 1919 Hampson Gary (1873–1952). Ihm folgten von Mai 1920 bis Oktober 1921 Carroll Sprigg (1880–1944), von Juni 1922 bis Juli 1927 Joseph Morton Howell (1863–1937), von April 1928 bis Juli 1930 Franklin Mott Gunther (1885–1941), von Juli 1930 bis September 1933 William Marion Jardine (1874–1955), von September 1933 bis Februar 1941 Bert Fish (1875–1943). 105 Am 1. Mai 1915 bestätigte Lerch vom AA, in Kairo den Reserveoffizier Voit aus Durlach kennengelernt zu haben. Dieser verdanke Generalkonsul Arnold (hatte sich bei Maxwell für das Wohlverhalten Voits verbürgt), noch auf freiem Fuß zu sein und seiner Beschäftigung nachgehen zu können. Voit versicherte Arnold, für den Erhalt des Borchardt’schen Besitzes zu sorgen, womit LB wahrscheinlich einverstanden sei. DAIK Altakten Mappe A XXVIII. LB hatte von Frau Kersting von Voit erfahren. LB an MB, 12. u. 14. Januar 1915. SIK MB 34/1. Wie LB laut seinem Brief an Meyerhof vom 20. Januar 1920 von Voit erfuhr, wurde dieser wenig später nach England gebracht. LB befürchtete, dass das Institut für „irgendeine Schweinebande“ requiriert werden würde. SIK LB.
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die Entscheidung, dass „the concessions have been annulled, but they will not be given to anyone else“.106 Anders als von Arnold erhofft, kam es in der Folgezeit jedoch wiederholt zu Plünderungen an der Grabungsstätte.107 Meyerhof, den immer weniger Nachrichten aus Ägypten erreichten, sorgte sich um den Erhalt seiner Klinik. Obwohl er genügend Möglichkeiten hatte, sich in Deutschland als Augenarzt mit eigener Praxis niederzulassen, war ihm dieser Gedanke zuwider. Vor allem wegen des „abscheulichen Klimas“ ersehnte er die Rückkehr in den „Orient“, auf die er aber immer weniger zu hoffen wagte.108 Schwer wog der nicht abzusehende Vermögensverlust. Vorsorglich reichte Borchardt beim Auswärtigen Amt eine Aufstellung seiner zurückgelassenen Güter ein und riet Meyerhof, dasselbe bei Reichskommissar Just zu tun.109 Die Lehrerin Walther hatte ihr Barvermögen der DOB in Kairo anvertraut, die das Guthaben in 5 % Kriegsanleihen wechselte. Die zurückgebliebenen Besitztümer der Ägyptendeutschen verpackten die Schwestern der Borromäerinnen in Kisten und ließen sie ins Untergeschoss der Kirche bringen. Die Hausverwaltung übernahm ein Herr Holzmann.110 Im Borchardt’sche Wohnhaus und im benachbarten Institutsgebäude waren Deutsche untergebracht, alles befand sich laut Beobachtungen von Hedwig Amster zumindest Anfang 1915 „in Ordnung“.111 Bei all diesen Sorgen, Nöten, Ängsten und schwindenden Hoffnungen tat es gut, sich mit Gleichgesinnten und -betroffenen auszutauschen, was in der Borchardt’schen Wohnung, allwöchentlich im Berliner „Weihenstephan“ an der Potsdamer Brücke oder über regen Briefkontakt geschah.112 Zu den regelmäßigen Besuchern der Treffen gehörten die Ehepaare Loos und Padel, zu den regelmäßigen Briefpartnern Frau Amster, Frau Schmidt, Frau Hasselbach und Max Meyerhof.113 Zumal die Treffen im „Weihenstephan“ fanden regen Zuspruch. Um in Kontakt mit den Ägyptendeutschen zu bleiben, den Nachrichtenaustausch zu sichern und auch eine Art Unterstützungsverein zu bilden, legte Ludwig Borchardt schon 1915 106 Arnold an LB, (Kairo) 29. Januar 1915. UBB NLE Borchardt. 107 Diese Informationen erhielt Güterbock von Sarre und gab sie an LB weiter. LB an A. Erman, (Berlin) 11. September 1920. UBB NLE Borchardt. 108 Ein ehemaliger, reicher syrischer Patient bot Meyerhof 20.000 Mark an, damit dieser seine Schulden begleichen könne. Meyerhof an LB, 27. August 1916, 28. August 1916. SIK LB. 109 LB an Meyerhof, 30. August 1916. SIK LB. 110 Konstanz, 26. März 1916. E. Walther an MB. SIK MB 82/3. 111 Ende Dezember 1914 verließ das Ehepaar Amster ihr Haus in Kairo-Maadi, das sie vorher verkauften, um sich unübersehbare Unterhaltungskosten zu ersparen. Sie mussten weit unter Wert verkaufen. Über Italien reisten sie nach Deutschland aus; er begab sich nach Österreich. Im Februar 1915 traf LB sich mit Hedwig Amster in Berlin. LB an MB, 10. Januar 1915 u. 4. Februar 1915. SIK MB 34/1–2. 112 Konstanz, 25. Juni 1916. E. Walther an MB. SIK MB 82/3. 113 LB an MB, 10. Januar 1915. SIK MB 34/1.
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Adressenlisten an. Auf der ersten sind 90 Personen verzeichnet, auf der zweiten 109.114 Zu unterstützen waren die sich in „größter Not“ befindenden, noch im Juni 1915 in Kairo und Alexandria verbliebenen deutschen Frauen und Kinder, denn die bis dahin in Ägypten arbeitenden deutschen Unterstützungsvereine waren selbst mittellos geworden.115 Bei den in Europa sich aufhaltenden Ägyptendeutschen sollten Gelder gesammelt und vom Direktor der DOB Berlin weitergeleitet werden, eine Aufforderung, der Meyerhof und Borchardt in besonderem Maße genügten. Auch setzte man sich für Kriegsteilnehmer ein, stellte regelmäßig Versorgungspakete zusammen;116 Mimi Borchardt ließ sich in Blindenschrift schulen, wurde Mitarbeiterin der „Beratungsstelle für blinde Studierende e. V.“.117 Drittens war Sorge zu tragen für die auf Malta internierten Ägyptendeutschen, von denen einige ernsthaft erkrankt waren.118 Im Frühjahr 1917 wurde von mindestens 57 Internierten ausgegangen, wovon 38 vorher in Kairo, 15 in Alexandria gelebt hatten.119 Eine wenig später erstellte Liste verzeichnete 71 Internierte, davon 38 aus Kairo, 19 aus Alexandria und 10 aus Khartoum. Noch später war von 330 internierten Ägyptendeutschen die Rede, die erst im November und Dezember 1919 Malta verlassen konnten.120 Mit der Zeit wurden die Internierungsbedingungen gelockert, Vortragsreihen initiiert, etwa jene von Schmidt über Chemie, wie seine Ehefrau aus Osnabrück wissen ließ. Dennoch plagten die „erzwungene Untätigkeit“, Langeweile121 und die sehr limitierten Korrespondenzmöglichkeiten.122 Die Anfang 1917 geschürte Hoffnung, ältere Internierte würden Malta bald verlassen können, erfüllte sich nicht,123 auch im Dezember 1917 war die Internierung noch nicht aufgehoben.124 114 Akten „Bund der Auslandsdeutschen“. SIK. 115 Rundschreiben, verfasst von LB, Juni 1915. SIK LB. 116 Mehrere Briefe von LB an MB, 1914 ff. SIK 33/1 ff – 34/1 ff. 117 Die Beratungsstelle hatte ihren Sitz in Marburg. In Blindenschrift übertrug MB z. B. „Ethik“ von Wundt. Beratungsstelle an MB, 23. Juli 1921. SIK MB 53/5 Br. 118 Vor allem Meyerhof sandte kontinuierlich Gelder, Lebensmittel und Medikamente, obwohl er über ein nur geringes Gehalt verfügte. Meyerhof an LB, 31. Oktober 1916. SIK LB. 119 „Liste von Deutsch-Aegyptern in englischer Gefangenschaft auf Malta“, 1. April 1917. SIK LB. 120 Mitteilungen der „Vereinigung der Deutsch-Ägypter“ v. 12. Dezember 1919. SIK LB. 121 Konstanz, 18. Dezember 1916. E. Walther an MB. SIK MB 82/3. 122 Der Internierte Marburg berichtete nach Deutschland, die Engländer hätten zwei Monate lang alle Post zurückgehalten, dann nur einen Brief wöchentlich erlaubt. Prof. Schmidt hoffte, dass baldmöglichst die mehr als 45-jährigen Internierten ausgetauscht würden, wie es bereits bilateral bewilligt war. E. Walther an MB, (Konstanz, 12. Februar 1917). SIK MB 82/3. 123 E. Walther pendelte zwischen Konstanz und der Schweiz, um mit Internierten korrespondieren zu können. E. Walther an MB, 8. Mai u. 29. Juli 1917. SIK MB 82/3. 124 E. Walther an MB, 27. Dezember 1917. Prof. Schmidt fand nach seiner Heimkehr wieder eine Anstellung am Reichsgesundheitsamt, was laut E. Walther (6. Januar 1926 an MB) seiner früheren Tätigkeit entsprach. SIK MB 82/3.
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In Deutschland blieben die Ägyptendeutschen in enger Beziehung zueinander.125 Mit Spannung erwartete man die ab und an gelieferten Nachrichten des Schweizers Hegi, der nach wie vor als Arzt am Kairener Diakonissenhospital tätig war.126 Je länger der Krieg und die Abwesenheit von Ägypten dauerten, umso mehr kursierten innerhalb der ‚ägyptendeutschen Kolonie‘ die unterschiedlichsten Geschichten. Etwa, dass Curt Prüfer,127 ehemaliger Dragoman der deutschen Gesandtschaft in Kairo und Mieter bei Borchardt, als Flieger Bomben über Kairo abgeworfen habe, wobei eine auf die Sharia Manakh niedergegangen und Frau Merzberger getötet habe.128 Nachrichten dieser Art, die, wie auch in diesem Fall, selten mit der Wirklichkeit übereinstimmten,129 stammten vom in Kairo noch vorhandenen Kreis Deutschsprachiger – vor allem den Familien Hegi und Hartmann -, die sich eng zusammengeschlossen hatten.130 Der Schweizer Journalist Paul Jacot-Descombes kehrte gar in Erwartung des nahenden Kriegsendes im Frühjahr 1917 nach Ägypten (Alexandria) zurück.131 Auch wenn dies hoffnungsvolle Zeichen waren, blieb die Sorge um die in Ägypten zurückgelassenen Besitztümer. Mal hieß es, alles sei noch „unberührt“, mal alles sei verkauft. Letzteres war zu befürchten, obwohl Meyerhof von dem österreichischen Kollegen Osborne132 erfahren hatte, dass die zwangsweise vermieteten Villen der Deutschen und Österreicher133 von ihren neuen Mietern 125 Pfarrer Wedemann besuchte MB in Berlin, E. Walther traf sich mit Pfarrer Olschewski in Mannheim. 126 Da die zuvor dort tätigen deutschen Ärzte ausgewiesen waren, war Hegi meist der alleinige ärztliche Betreuer des Victoria Hospitals (der Diakonissen), infolgedessen völlig überanstrengt. 127 Zu Prüfers Kairener Zeit s. Donald M. McKale: Curt Prüfer, 1987, S. 13–24. Dass Prüfer und seine erste Ehefrau Frances während dieser Zeit Mieter bei LB waren, erwähnt McKale nicht. 128 Konstanz, 8. Mai 1917. E. Walther an MB. SIK MB 82/3. 129 Prüfer baute einen zwischen Palästina und Ägypten operierenden Spionagering auf, arbeitete dabei hauptsächlich mit Minna Weizmann (Schwester von Chaim Weizmann) und andern Juden zusammen. Haupttreffpunkt deutscher Spione war im Shepheard’s Hotel. Scott Anderson: Lawrence, 2014, S. 124–129. 130 Die Familien Hegi und Hartmann feierten das Weihnachtsfest 1916 zusammen. 131 Gründete 1935 in Alexandria die „Ligue Pacifiste“, in der viele Juden aktiv waren. Ehefrau Sophie (geb. 1879 Leipzig, gest. 1941), die 1916 ihren ersten Gedichtband veröffentlichte, schrieb 1917 vielleicht aus diesem Anlass den Roman „Moses. Eine Erzählung aus der Sagenzeit des Volkes Israel“. Gudrun Krämer: Political Participation, 1987, S. 76. E. Walther an MB, 8. Mai 1917. SIK MB 82/3. 132 Alfred Osborne (1875–1943), Augenarzt, stammte aus Prag, ab 1895 in Alexandria tätig, von 1914 bis 1921 in Österreich, dann wieder in Alexandria. Gründer der ophthalmologischen Gesellschaft in Ägypten, 1902. Nachruf, verfasst von Max Meyerhof, in: The British Journal of Ophthalmology, 1943. 133 Z. B. Hess, Bindernagel, Lindemann.
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sorgfältig behandelt, sogar die Mieten ordnungsgemäß an Banken abgeführt wurden.134 Für Empörung und Wut sorgte die von dem Hilfsgeistlichen Jahn verbreitete Meldung, dass das von Borchardt errichtete „Deutsche Haus in Theben“ (Grabungshaus) zerstört worden war, was auch darüber hinaus Übles verhieß.135 Dass Borchardt diese Nachricht erzürnt aufnahm und die Zerstörung als einen „unsinnigen Racheakt unserer Feinde“ betrachtete, verwundert nicht.136 Die Verantwortung dafür hatte seiner Meinung nach der englische High Commissioner Sir Arthur Henry McMahon (1862–1949), was er später gegenüber Adolf Erman revidierte.137 Am 30. September 1916 informierte er offiziell vom Abbruch des Deutschen Hauses durch die Engländer im November 1915, weil dort angeblich illegaler Antikenhandel getrieben worden sei, was Borchardt als „Scheingründe“ bezeichnete, die den tatsächlichen „Willkürakt der Britischen Militärbehörden verschleierten“. Dies sei umso unverständlicher, als das Haus auch englischen Wissenschaftlern stets Gastfreundschaft gewährt habe.138 Am schwersten wog jedoch der Reputationsverlust, den die Deutschen durch den Übergriff auf ihren Besitz in Ägypten erlitten. Immerhin waren die Borchardt’schen Villen offenbar nach wie vor unbeschädigt, auch die Bibliothek hatte keinen Schaden genommen.139 Dagegen glaubte Meyerhof, seine Kairener Klinik aus finanziellen Gründen nicht mehr halten zu können, meinte, „demnächst seine Sachen als verloren anmelden“ zu müssen.140 134 Meyerhof an LB, 20. November 1916, 12. Januar 1917. SIK LB. 135 Die meisten Ägyptendeutschen hofften ebenso wie Jahn, dass die Engländer für diese „Schandtat“ bestraft würden. Jahn schrieb, er hoffe, „dass der Tag kommen wird, wo ihnen die Puste ausgeht, trotz der heulenden Derwische aus dem Weißen Haus, des großen und guten Wilson“. E. Walther an MB, 8. Mai 1917. SIK MB 82/3. 136 Paulus hatte ihm am 4. April 1916 mitgeteilt, das Haus sei zerstört worden, weil laut englisch-französischer Darstellung dessen Wächter Ahmed Musa angeblich einen ausgedehnten Antikenhandel betrieb und das Deutsche Haus als „Schlupfwinkel der Diebesbande“ benutzte. Dies hielt LB für abwegig, wie er dem Reichskanzler am 10. April 1916 erklärte. „Aber in Ägypten lässt sich jede Beschuldigung durch Zeugen beweisen, namentlich wenn es von den Behörden gewünscht wird.“ DAIK Altakten Mappe A XXVIII. 137 McMahon war seit 1890 bei der britischen Indienverwaltung tätig, 1911 bis 1914 Außenminister des Vize-Königreichs Britisch-Indien, 1915–1916 Nachfolger von Lord Kitchener in Ägypten. Sein Nachfolger war Francis Reginald Wingate (1861–1953). Zur Amtsführung von McMahon und Reginald Wingate s. Martin Daly: The Sirdar, 1997. LB erklärte später Howard Carter für den Verantwortlichen. 138 Bericht LB. Der „Herstellungswert“ des Hauses habe im Winter 1903/04 rd. 25.000 M betragen. DAIK I, 179. 139 Meyerhof an LB, 16. September 1917. SIK LB. 140 Finanziell half ihm sein Verwandter, der Ägyptologe Wilhelm Spiegelberg, aus. Meyerhof an LB, 27. März 1918. SIK LB.
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Borchardt stürzte sich in Arbeiten, vor allem solche, für die er in Ägypten keine Zeit hatte finden können. Ehefrau Mimi verlegte sich auf Sozial- und politische Arbeit. Lehrerin Walther blieb in Konstanz, unterrichtete an einer Höheren Mädchenschule, hoffte weiterhin auf die „Wiederaufweckung“ der deutschen Schule in Kairo, die zunehmend illusionär wurde.141 Andere ehemalige Ägyptendeutsche stellten schon frühzeitig Überlegungen über Schadensersatzansprüche an, wohl weil sie auf eine baldige Rückkehr nach Ägypten kaum noch hofften.142 Ähnlich wie die Mehrheit der Deutschen glaubten auch die meisten der ehemaligen Ägyptendeutschen nicht daran, dass der Kriegsgewinn Deutschlands illusionär war, der Krieg in einem Desaster für Deutschland enden könnte, obwohl spätestens 1916 „die Lage im Innern des Landes (…) bedrohliche Formen“ annahm. Lebensmittelverknappung, erhebliche Verteuerung, Kohlennot, Transportprobleme waren die Folgen und führten zu Bevölkerungsunruhen und Protesten.143 Trotz der erkennbaren Aussichtslosigkeit weiterer Kriegsführung entschied Deutschland sich für den uneingeschränkten U-Boot-Krieg. Der entsprechenden Ankündigung vom 31. Januar 1917 folgte am 6. April 1917 die amerikanische Kriegserklärung an Deutschland. Im Sommer 1917 war deutlich, dass der U-Boot Krieg für Deutschland katastrophal enden würde, wie auch Meyerhof gegenüber Borchardt bekräftigte, doch auf einen „Remis“-Kriegsausgang hoffte.144 Der deutsche Reichstag votierte in der Mehrzahl für einen Frieden ohne Eroberungen, was zu einer Krise und der Entlassung des Reichskanzlers führte. Nur wenige Monate später schloss Deutschland Friedensverträge mit der Ukraine, der UdSSR, Finnland und Rumänien.145 Militärische Kreise um Ludendorff setzten den Krieg zwar fort, konnten erwartungsgemäß die Niederlage Deutschlands nicht abwenden, was spätestens in den letzten Septembertagen 1918 offenkundig war. Am 9. November wurde in Weimar die deutsche Republik ausgerufen, der Kaiser musste abdanken. Die Versailler Friedensverhandlungen begannen im Frühjahr 1919. Mimi Borchardt und Emma Walther dürften nicht die einzigen Ägyptendeutschen gewesen sein, die sich über das innenpolitische Geschehen in Nachkriegsdeutschland entrüsteten. „Niemals hätte ich es für möglich gehalten, dass bei uns die schlechten Elemente, die niedrig Gesinnten in dieser Weise die Übermacht erlangen könnten. Es ist einfach furchtbar“, schrieb Walther am 5. 141 „Mit Pensionsberechtigung“, was E. W. angesichts ihres Vermögensverlusts besonders wichtig war. An MB, 27. Dezember 1917. SIK MB 82/3. 142 Im Januar 1915 trat Frau Dr. Urbahn mit einer diesbezüglichen Frage an LB heran, der ihr die entsprechenden Formulare beim AA besorgte. LB an MB, 4. Januar 1915. SIK MB 34/1. Dr. Urbahn hatte in Kairo ein Sanatorium geführt. 143 Max M. Warburg: Aufzeichnungen, 1952, S. 45. 144 Meyerhof an LB, 2. Januar 1918. SIK LB. 145 9. Februar, 6. März und 7. März 1918.
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Januar 1919 nach Berlin.146 Gerade diese Stadt gleiche einem „Tollhaus“, weshalb sie nach der „starken Hand, die hier Ordnung schafft“, suchte, nach der „Wehr, die unsere Grenzen gegen dies unverschämte polnische Gesindel schützt“. Bei diesen Bemerkungen durfte sie auf Mimi Borchardts Zustimmung rechnen. In dem Maße, wie sich die Abwehr gegen die deutsche Republik entwickelte, steigerte sich die Sehnsucht nach Ägypten. Tatsächlich war Berlin vom 3. bis 16. März 1919 von heftigen militärischen Auseinandersetzungen geschüttelt, einer der zentralen Schauplätze der „programmatischen und sozialen Auseinandersetzungen um die Ausgestaltung der deutschen Nachkriegsgesellschaft“, einmal wegen ihrer Rolle als Reichshauptstadt, zum andern weil sich dort die Zentralen der „wichtigsten gesamtstaatlichen Institutionen und Regierungsbehörden befanden“.147 Im Winter 1918/19 machten sich erhebliche Versorgungsengpässe bemerkbar, die Arbeitslosigkeit stieg rasant. Ende 1918 kam es zu einer ersten größeren Streikwelle. Am 9. November 1918 mussten die Offiziere ihre Vormachtstellung zugunsten von Soldatenräten abgeben, die „bewaffnete Macht“ lag in den Händen von Einheiten aus Arbeitern und Soldaten.148 Als am 10. Dezember 1918 das unter Leitung der Obersten Heeresleitung stehende Frontheer in die Stadt einzog, führte dies, da die Offiziere der Revolution und also auch den Räten ablehnend gegenüber standen, zur Verschärfung der politischen Konfrontationen zwischen den neu gebildeten Institutionen und den aus dem Heer hervorgehenden Freikorps. Anfang März 1919 wurde Berlin von einer erneuten Streikwelle erfasst, die sich zunächst auf Berliner Großbetriebe und den öffentlichen Nahverkehr erstreckte, schließlich auch Kleinbetriebe und das grafische Gewerbe, so dass keine Zeitungen mehr erschienen. Zentrales Streikorgan war die Vollversammlung der Arbeiterräte. Heftige Kämpfe fanden am 5. und 6. März fast in der ganzen Stadt statt, Auseinandersetzungen, die mit militärischen Gewalt zurückgedrängt wurden.149 In der Folgezeit gingen die Freikorps mit großer Brutalität auch gegen Unbeteiligte in den Berliner Arbeitervierteln und politisch unliebsame Personen vor, es kam zu willkürlichen Hinrichtungen und Massakern. Bis zum 5. Dezember 1919 wurde in Berlin der Belagerungszustand aufrechterhalten. Am 13. Januar 1920 eröffnete die Sicherheitspolizei das Feuer auf Demonstranten, es gab 42 Tote, erneut wurde der Ausnahmezustand, der bis zum März 1920 galt, verhängt. Wenig später kam es wiederum zu einem mit blutigen Zusammenstößen einhergehenden Generalstreik, der auch Beamte und Angestellte umfasste.150 146 An MB. SIK MB 82/3. 147 Dietmar Lange: Märzkämpfe, 2011, S. 49. 148 Dietmar Lange: Märzkämpfe, 2011, S. 52. 149 Dietmar Lange: Märzkämpfe, 2011, S. 56. 150 Dietmar Lange: Märzkämpfe, 2011, S. 81 f.
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Mimi Borchardt beobachtete all dies mit größter Missbilligung, ärgerte sich über fehlende oder schlechte Zugverbindungen, am meisten aber über die deutschen „Friedensunterhändler“ – „sitzen da wie die Affen und werden behandelt wie die Hunde – die sie auch sind“.151 Die Folgen des Friedensvertrags prophezeite sie als katastrophal, unterstellte den „unmenschlichen Feinden“ eine „satanische Schlechtigkeit“, wünschte, dass die Hand verdorre, „die diesen Frieden unterzeichnet“.152 Frankfurt, das von den Franzosen besetzt werden sollte, verließ sie fast fluchtartig, zog sich zusammen mit ihrer Mutter und ihrer Schwester nach Kronberg im Taunus zurück, wo sich Ida Cohen vermutlich wie üblich zur Kur im Sanatorium Kohnstamm aufhielt.153 Nach Berlin zurückgekehrt, erlebte sie die Folgen des Generalstreiks, dessen Inhalte sie nicht nachvollziehen konnte und für wenig bedeutsam hielt. Wichtig war ihr, dass Deutsche zu ihrem „Nationalgefühl“ zurückfänden, glaubte um sich herum aber nur Kommunisten, Pazifisten und „Internationalisten“ – mit Letzteren meinte sie primär die Mitglieder des CV und Zionisten – zu sehen, die sie nicht als wahre Deutsche verstehen wollte.154 Ihre Verärgerung ging schließlich so weit, dass sie der Reichstagsresolution von 1917 die Hauptschuld an der militärischen Niederlage Deutschlands gab, sowohl die Sozialdemokraten als auch die Demokraten für die aktuelle, von ihr als desaströs empfundene Politik verantwortlich machte, dem „Volk“ vorwarf, nicht zu erkennen, welche „Schmach“ der Friedensvertrag bedeute.155 Als die Demokraten schließlich aus der Regierung austraten, weil sie die Friedensbedingungen nicht unterzeichnen wollten, interpretierte Mimi Borchardt dies als „feiges Verhalten“, meinte, dass sie „keine Verantwortung übernehmen“ wollten. Die größten Feinde Deutschlands wähnte sie im eigenen Land, nämlich in der Regierung, die sie geradezu ‚verfluchte‘. Die „Besten der Deutschen“, nämlich die „Generäle und Kommandanten“, seien ausgeschlossen. Sie fürchtete, dass das „deutsche Volk, das deutsche Reich durch all die Feinde, Feiglinge und Opportunisten ausgelöscht“ werde. Ein Trost war ihr, dass ihre Bekannten – Friedeberg und Liebermann – sich von ihrem „Friedensfimmel“ befreit hatten, sie zürnte aber von den Bussche, der sich in den diplomatischen Dienst nach Argentinien begab, was für Mimi Borchardt „Fahnenflucht“ war.156 Kein Verständnis hatte sie für die Forderungen der aus ihrer Sicht faulen Arbeiter, etwa ihrem Streben nach einem Acht-Stunden-Tag.157
151 Tagebuch, (Frankfurt) 5. Mai 1919. SIK MB 9/2. 152 Tagebuch, (Frankfurt) 16., 23. Mai 1919. SIK MB 9/2. 153 Tagebuch, 23. Mai 1919. SIK MB 9/2. 154 Tagebuch, 7. Juni 1919. SIK MB 9/2. 155 Tagebuch, 7. Juni 1919. SIK MB 9/2. 156 Tagebuch, 20., 22. Juni 1919. SIK MB 9/2. 157 Tagebuch, 25. September 1919. SIK MB 9/2.
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Ludwig Borchardt entwickelte parallel dazu eigene politische Strategien, um politisch Einfluss zu nehmen und die ersehnte Rückkehr nach Ägypten nicht verloren geben zu müssen: Er arbeitete in Zusammenarbeit mit seiner Ehefrau158 an einem organisatorischen Zusammenschluss aller Auslandsdeutschen, Bemühungen, die überwiegend begrüßt und für notwendig erachtet wurden, nicht zuletzt wegen der ungeklärten Frage der Schadensersatzansprüche. Mimi Borchardt meinte zudem, die Ägyptendeutschen auf diese Weise dem „Deutschtum besser erhalten“ zu können.159 Die vorher zwar wöchentlich, aber dennoch lose anberaumten Treffen der Ägyptendeutschen wurden am 21. Juni 1919 auf Borchardts Initiative hin in der „Vereinigung der Deutsch-Ägypter“, einer Ortsgruppe des „Bundes der Auslandsdeutschen“,160 formalisiert, mit Borchardt als Vorsitzenden. Zweck des Vereins war, „die persönlichen und wirtschaftlichen Interessen der Deutschen aus Ägypten zu wahren und ihnen mit Rat und Tat zur Seite zu stehen“ durch die Arbeit der Mitglieder und des Arbeitsausschusses „sowie durch Zusammenarbeiten der Vereinigung mit ähnlichen Vereinigungen von Auslandsdeutschen aus andern Ländern“.161 Sitz des Vereins war Berlin. Als seine vorrangige Aufgabe verstand der Verein „die Rettung unseres in Ägypten zurückgelassenen Privatvermögens, die Entschädigungen für bereits verlorenes oder trotz aller Bemühungen nicht mehr zu rettenden Privateigentums, die Möglichkeit der Rückkehr nach Ägypten oder die Beförderung unserer noch beweglichen Habe nach Deutschland“. Dem Arbeitsausschuss des Vereins gehörten neben Borchardt Leonhard David, Karl Herold, H.H. Löwenstein und Rudolph Stobbe an.162 Weiterhin sollten die Treffen der Ägyptendeutschen im „Weihenstephan“ stattfinden. Jenes vom 4. Oktober 1919 war sehr gut besucht, vermutlich weil der Arbeitsausschuss über „die Entstehung der Vereinigung, über die aus eigenen Mitteln während des Krieges gewährten Unterstützungen, über die bald erwartete
158 E. Walther an MB, 1. November 1919; Tagebucheintrag, 22. Juni 1919. SIK MB 82/3, 9/2. 159 Tagebucheintrag, 22. Juni 1919. SIK MB 9/2. 160 Gegründet im September 1919, Sitz der Geschäftsstelle war Berlin SW 61 (Gitschinerstr. 97–103), Vorsitzender Konsul Peter. Seit der Gründung gehörten dem „Bund“ 38 Einzelorganisationen an. PA AA R 127543. Nach 1918 entstand ein flächendeckendes Netz des ‚Vereins für das Deutschtum im Ausland‘ (VDA) mit diversen Landesverbänden und Ortsgruppen. Gegründet wurde der VDA 1881, 1917 in Stuttgart das ‚Deutsche Auslands-Institut‘ (DAI). Hinter diesen Gründungen stand die Vorstellung „des deutschen Volkes als kultureller und sprachlicher Einheit oder auch als Abstammungsnation und ethnischer Gemeinschaft“. Rainer Münz, Rainer Ohlinger: Auslandsdeutsche, 42002, S. 373–376. 161 SIK LB. 162 Schriftführer und Kassenwart war Löwenstein, Beisitzer waren David, Herold und Stobbe, Rechnungsprüfer Dr. Josef Badt und F. Schünemann.
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Rückkehr der noch in Ägypten und Malta zurückgehaltenen Gefangenen und vor allen Dingen über den Stand der Entschädigungsfrage“, wobei besonders betont wurde, „dass das Reich die Entschädigungen, welche für die liquidierten privaten Auslandswerte den früheren Besitzern zu zahlen sind, so regeln müsste, dass letztere sich dafür die entsprechenden Summen in der Auslandswährung wieder anschaffen können“, berichtet wurde.163 Während der Novemberversammlung der Auslandsdeutschen (Abteilung Ägypten) berichtete Borchardt über den Stand der Vorentschädigungsfrage und betonte, „dass die Anträge zur Entschädigung mit größter Gewissenhaftigkeit aufgestellt werden müssen, damit die Prüfung durch die Sachkundigen den Antragstellern Enttäuschungen erspart bleiben und damit für den Antragsteller keine Nachteile bei der endgültigen Entschädigung entstehen“.164 Borchardt beließ es nicht bei der Arbeit für die Abteilung Ägypten, sondern engagierte sich zudem für den gesamten „Bund der Auslandsdeutschen“. Im November 1919 war er in zwei Kommissionen des Vereinsvorstandes vertreten, in der siebenköpfigen „Propagandakommission“ und in der fünfköpfigen „Pressekommission“.165 Während der zweiten „Wandervertreterversammlung“ des Bundes vom 11. bis 13. Oktober 1919 in Stuttgart, deren zentrales Thema die Entschädigungsfrage war, betonte Borchardt, die Auslandsdeutschen sollten das „Reichsnotopfer mitbezahlen, wo sie die ersten seien, die die Ehre hätten, für das Deutsche Reich Kriegsentschädigung zu bezahlen, weil sich der Feind zunächst an ihre zurückgelassenen Werte halte“.166 In Ägypten war 1919 die Lage noch unübersichtlich, aber nicht ohne Lichtblicke. Frau von Falkenhausen, Ehefrau des ehemaligen deutschen Gesandten in Ägypten, erzählte Emma Walther im Sommer des Jahres, Borchardts sei es mit Hilfe des Auswärtigen Amts gelungen, die Beschlagnahmung ihres bei einer Kairener Bank deponierten Silbers zu verhindern. Ob dies auf eine grundsätzliche politische Vorgehensweise hindeutete, wusste man zu diesem Zeitpunkt noch nicht zu sagen.167 Hilfe erhoffte man sich erneut von dem Schweizer Hegi,
163 PA AA R 127543. 164 Dem folgte eine „recht lebhafte Aussprache“, bei der es vor allem um die „Valutafrage“ ging. Nachrichtenblatt des Bundes der Auslandsdeutschen, Jg. 1, Nr. 6 (15. Dezember 1919). PA AA R 127543. 165 Nachrichtenblatt des Bundes der Auslandsdeutschen, Jg.1, Nr. 4 (15. November 1919). PA AA R 127543. 166 PA AA R 127543. Die Versammlung fand in den Räumen des Deutschen Auslands-Instituts (Stuttgart, Neues Schloss) statt. Die Mitgliederzahl lag bei geschätzten 49.200. 167 Im November 1919 waren die Deutschen noch auf Malta interniert. E. Walther an MB, 1. November 1919. SIK MB 82/3.
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der wahrscheinlich nicht nur Emma Walther versprach, dass sie zumindest die „weniger wertvollen“ Teile ihrer Kairener Besitztümer zurück erhalten werde.168 Wieviel aber tatsächlich noch vorhanden war, wusste niemand genau und man befürchtete, dass im Laufe der Jahre bereits eine Menge versteigert worden oder sonstwie abhanden gekommen war. Die Zeit der Stagnation schien vorüber, als zwischen November 1919 und Januar 1920 die auf Malta Internierten zurückkehrten und bald darauf auch die Ägyptendeutschen Schadensersatzansprüche anmelden konnten, ein angesichts der komplizierten Formulare schwieriges Unterfangen. Der Geldwert von Dingen von hauptsächlich ideeller Bedeutung ließ sich nun mal nicht deutlich beziffern.169 Offenbar war der Großteil des Zurückgelassenen noch in den Gebäuden der deutschen Schule in Kairo eingelagert; von ihrem Zustand wusste man nichts, ahnte aber eher Schlimmes, weil sich die Schreckensmeldungen aus Ägypten häuften,170 etwa dass der Keller der deutschen Schule in Alexandria im Jahre 1919 überschwemmt worden war, so dass die dort eingelagerten Besitztümer der Deutschen als weitgehend zerstört galten.171 Im November 1920 trafen sich etliche ehemalige Ägyptendeutsche in BadenBaden – u. a. das Ehepaar Hasselnach und das Ehepaar Loos -, die sich mit dem urlaubenden Dr. Hegi besprechen wollten, der sich nach wie vor um die Besitztümer der Deutschen in Kairo kümmerte. Ein unvorhergesehenes Problem
168 Das Ehepaar Hegi hatte Überblick über noch Vorhandenes und Zugang dazu; bei ihren Verpackungsaktionen wurden sie unterstützt von einer ehemaligen Schülerin der deutschen Schule. E. Walther an MB, 1. November 1919. SIK MB 82/3. 169 Walther war nicht die einzige, die außer Stande war, die Formulare auszufüllen. Unter den von ihr zurückgelassenen Dingen waren viele von nur persönlichem Wert, die sie später dennoch nicht zurückerhielt. E. Walther an MB, 25. Januar 1920. SIK MB 82/3. 170 Die Mutter einer früheren Angestellten und Schülerin von E. Walther, die während des gesamten Krieges in Kairo gelebt hatte, wurde ohne Vorankündigung von den Engländern des Landes verwiesen und nach Hamburg geschickt, obwohl die alte Dame die meiste Zeit ihres Lebens in Ägypten und Palästina verbracht hatte. Von Familie Hasselbach gab es keine Nachrichten. Pastor Wedemann (ehemals deutsch-evangelischer Geistlicher in Kairo) sah in Allenstein einer ungewissen Zukunft entgegen. Das frühere Konsul-Ehepaar von Falkenhausen hatte ein ehemaliges Klostergut in Berchtesgaden erworben, widmete sich der Landwirtschaft. E. Walther an MB, 25. Januar 1920. Am 1. Januar 1925 berichtete Walther, der Sohn von Falkenhausen arbeite in der Münchner Filiale einer großen bulgarischen Tabakfirma. Frau Remy, die Mutter von Konsul von Falkenhausen, erzählte Walther im Januar 1926, Frl. von Mohl, Tochter von Ottmar von Mohl, sei mit ihrem Bruder nach Süd-Amerika ausgewandert. Es gehe ihnen dort nicht gut. O. von Mohl gehörte von 1897 bis 1914 als Kommissar der Schuldenkommission in Ägypten an (vgl. Ottmar von Mohl: Reichsdienst, II., 1922). SIK MB 82/3. 171 Als man die noch zu rettenden Sachen auf dem Schulhof lagerte, wurde Etliches gestohlen. Brief aus Prag vom 12. Februar 1920, in: Mitteilungen der „Vereinigung der Deutsch-Ägypter“.
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waren die fast „unerschwinglichen“ Transportkosten172 für die Überführung nach Deutschland.173 Wer für diese Kosten aufkommen würde, war ungeklärt.174 Trotz der noch undeutlichen politischen Rahmenbedingungen und teils düsterer Nachrichten, planten einige Deutsche dennoch bereits 1920 ihre Rückkehr nach Ägypten. Die Berichte des zurückgekehrten „Frl. Hasse“ ließen ahnen, dass sich in Ägypten alles sehr verändert hatte und „dass Ägypten noch für lange Zeit kein erfreulicher Aufenthalt für Deutsche sein dürfte“.175 Ob man Genaueres in Erfahrung bringen konnte – von der ägyptischen Revolution des Jahres 1919, der Inhaftierung von Sa’ad Zaghloul und den anschließenden Protestkundgebungen Tausender Ägypter -, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen.176 Hegi berichtete, das Ehepaar Herzbruch, das im Besitz der Schweizer Staatsbürgerschaft war, habe vor Kurzem Ägypten bereist, um seine Besitztümer zu verkaufen und zu versteigern, was ungünstig verlaufen sei, weil wegen fehlender Einreise- und Aufenthaltsgenehmigung kein Deutscher vor Ort habe behilflich sein können.177 Generell verlief der Verkauf der Mobilien unerfreulich, da die Zeiten in Ägypten schlecht waren und von Kauflust wenig zu spüren war. Ein „Fräulein Taschner“ hatte den Juristen „Leibovist“178 beauftragt, ihre Sachen ausfindig zu machen und teilweise zu verkaufen, was diesem zunächst zu gelingen schien. Dann aber wurden die Möbel beschlagnahmt und zum „Spottpreis“ von LE 16 (ca 2.300 Mark) verkauft. Es war zu befürchten, dass sich solche Vorkommnisse häuften. Emma Walther trauerte um den zu befürchtenden Verlust ihrer Mahagonimöbel und sorgte sich um den Verbleib des Borchardt’schen Mobiliars, 172 Im Juli 1920 teilte die „Vereinigung der Deutsch-Ägypter“ mit, dass für den Transport von 200 kg Fracht von Kairo bis Triest 12 LE (= 1800 Mark) gefordert wurden. Die dazugehörige Kiste kostete 200 Frcs (= 1200 Mark). Die Gepäckbeförderung übernahm meist die Firma Francois Bacel & Co in Kairo. Mitteilungen der „Vereinigung der Deutsch-Ägypter“, 30. Juli 1920. 173 Walthers Besitzfrage schien sich zu klären. Frau Hegi ließ sie verpacken, um sie mit der „Beamtenlinie“ transportieren zu lassen. E. Walther an MB, 28. November 1920. SIK MB 82/3. 174 Am 30. Juli 1930 wurde in den Mitteilungen der „Vereinigung der Deutsch-Ägypter“ vermerkt, dass die „Rückschaffung der Sachen auf Kosten des Reiches“ kaum zu erwarten sei. 175 Frl. Hasse wollte mit der türkischen Prinzessin, für die sie in der Schweiz arbeitete, nach Ägypten gehen, erhielt aber von den Engländern zunächst keine Einreiseerlaubnis. Ab Januar 1921 hielt sie sich in Ägypten auf, verbrachte ihre Tage im Harem, wagte sich kaum allein auf die Straße, „besonders seit den letzten Streitereien zwischen den Arabern und Griechen, die immer wieder den Gedanken einer ‚Europäersache‘ angenommen haben sollen“. Auch die alte Gräfin Sala, die bis zum Krieg in Kairo gelebt hatte, wollte Frl. Hasse wieder gerne als Gesellschafterin anstellen, was diese ablehnte. E. Walther an MB, 19. Juni 1921. SIK MB 82/3. 176 Ziad Fahmy: Ordinary Egyptians, 2011, S. XI. 177 O. Hasselbach berichtete (5. August 1920), Herzbruch und Frau Hopmann seien in Ägypten gewesen, um ihre Sachen zu liquidieren. SIK MB 65/6. 178 Gemeint war der Jurist Leibovitz.
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die „wundervollen Teppiche und die einzig schöne Kollektion von griechischen Vasen! Ob Sie dies alles wohl jemals wiedersehen?“ Es gab aber auch Positives zu vermelden. Im Haus des Ehepaars Lepique179 in Shibin-el-Kanater waren unter anderem sämtliche Teppiche, Decken und Polstermöbel unberührt und -beschadet geblieben, wie sie aus zuverlässiger Quelle erfahren hatten – selbst einreisen, auch um nach ihrer Fabrik zu sehen, durften sie nicht.180 Mitleid empfand man mit Frau Bitter, die „schwere Zeiten“ zu durchleben gehabt hatte.181 Das Ehepaar Heinrich und Wanda Bitter hatte im neu entstandenen Kairener Stadtteil Maadi ein Wohnhaus errichtet und dort mit den beiden Töchtern Margarethe und Hilde gelebt. Das Haus wurde von England sequestriert, dann bei einer öffentlichen Auktion versteigert; nach dem Krieg erhielten Bitters dafür eine nur minimale Kompensation. Für Heinrich Bitter, der seit 1902 als Leiter des staatlichen Hygieneinstituts in Kairo tätig gewesen war, war dies eine so niederschmetternde Erfahrung, dass er noch während des Krieges als „a young and bitter man“ verstarb.182 Grundsätzlich gestaltete sich die Rückgabe der Besitztümer der Ägyptendeutschen schwierig und umständlich. Allein das vorherige Ausfüllen der seitenlangen Antragsformulare183 stellte für viele eine Herausforderung dar, weshalb einige Mitglieder der „Vereinigung der Deutsch-Ägypter“ ihre Hilfe anboten.184 Strittig war obendrein, ob die etwaigen Entschädigungen in ägyptischer Währung ausgezahlt wurden, wie die Ägyptendeutschen es wünschten, oder aber in deutscher Mark.185 179 Sohn Fritz Lepique fiel 1916 als Flieger an der Ostfront. Alfred Kaufmann: Ewiges Stromland, 1926, S. VII. Kaufmann war ehemaliger Pfarrer der evangelischen Gemeinde und der Deutschen Schule in Alexandria. 180 Das Ehepaar Brethschneider hörte Positives über sein in Kairo zurückgelassenes Vermögen. 181 E. Walther an MB, 19. Juni 1921. SIK MB 82/3. 182 Bitters waren direkte Nachbarn ihrer Freunde, der österreichisch-jüdischen Familie Joseph und Irma Lichtenstern (sie hatten sich um 1900 in Maadi von Edouard Matasek ihre „Villa Aus tria“ erbauen lassen). Samir Raafat: Annie Gismann, 1996. Bitters Tochter Margarethe wurde 1902 in Kairo geboren, studierte in München und Halle Rechtswissenschaften, ließ sich nach ihrer Promotion, 1929, in Kairo als Juristin (Kanzlei „Dahm & Liebhaber“) nieder. Institut für Zeitgeschichte – Archiv – http://www.ifz-muenchen.de/archiv/ed_0449.pdf (24.072013). 183 Ab Mitte Januar 1920 lagen die Formulare bereit. Beim Ausfüllen waren u. a. M. Lindemann (Dresden), M. Meyerhof (Hannover), Pelizaeus (Hildesheim), Leo Pfahl (Köln), O. Sterzing (Würzburg) behilflich. 184 In Berlin: J. Badt, L. David, F. Ehrlich, W. Glatthaar, C. Herold, W. Schulz, R. Stobbe, R. Werner; in Dresden: H. Finck, M. Lindemann; in Remscheid: C. Giudice; in Arnstadt/Thür.: H. Kortenhaus; in Hamburg: L. Lion; in Hannover: M. Meyerhof; in Hildesheim: W. Pelizaeus; in Köln: L. Pfahl; in München: J. Rennebaum; in Osnabrück: W.A. Schmidt; in Gera: E. Seidemann; in Freiburg: H. Stern; in Würzburg: O. Sterzing; in Kempten: F. Trinklein; in Aachen: W. Vogel. Mitteilungen der „Vereinigung Deutsch-Ägypter“, 15. Januar 1920. 185 Die Ägyptendeutschen wollten versuchen, die am 25. Juli 1914 geltenden Währungskurse zu ermitteln. Mitteilungen des „Vereinigung der Deutsch-Ägypter“, 15. Januar 1920.
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Tatsächlich gelangten nach geraumer Zeit einige ziemlich unsortierte Kisten nach Deutschland, lösten bei den Empfängern aber nicht nur Freude aus.186 Dabei überstiegen die Transportkosten fast den Wert des Gelieferten. Auch Emma Walthers Ansinnen, ihre sieben „Crédit-foncier Aktien“ zurück zu erhalten, wurde verweigert und sie angewiesen, sich an den seit November 1921 in Ägypten amtierenden deutschen Generalkonsul Schrötter zu wenden. Auch dies verlief erfolglos,187 Emma Walther verzichtete wie etliche andere Ägyptendeutsche schließlich ganz auf jede „schäbige“ Entschädigung.188 Ähnliche Erfahrungen wie Walther machten die meisten ehemaligen Ägyptendeutschen. Nur wenige hatten über die Rückerstattung keine Klage zu führen.189 Im Allgemeinen waren die Ägyptendeutschen entweder erzürnt oder erbittert und enttäuscht wegen der Sequestrierung und Versteigerung ihrer privaten Mobilien und Immobilien. Ihren offiziellen Anfang nahmen die entsprechenden Maßnahmen mit der Unterzeichnung des Versailler Vertrags (28. Juni 1919) und die im Anschluss am 22. Januar 1920 verkündeten Dispositionen bezüglich der Vermögen von Deutschen in Ägypten.190 Am 17. April 1920 publizierten die „Mitteilung
186 So bei E. Walther, in deren Kisten sich nur fremdes Gut befand (u. a. Hausrat der Familien Schmidt, von Loos, Frl. Taschner). Hegi konnte zwei von Walthers Teppichen ausfindig machen, die über Prof. Loos transportiert werden sollten. Bücher, Wäsche, Bilder, Messing und Porzellan kamen fast vollständig zurück, waren aber meist beschädigt und zerbrochen. Fehlend waren Schmuck, mehrere Kassetten und Decken. Für LE 16,- wurde ein Teil des Mobiliars verkauft. Hegi musste dafür LE 10,- an den Public Custodian abführen. E. Walther an MB, 13. Januar 1923. SIK MB 82/3. O. Hasselbach erhielt aus Kairo „große Bücherkisten“, die Bände waren auseinandergerissen, fremdes Gut war dabei. „Was an Wäsche und Kleidern mitgeschickt worden ist, spottet jeder Beschreibung. Alle Damastwäsche, sämtliche Leintücher und Tischtücher fehlen, aber Mutiquairen und Bettvolants, die wir bekanntlich an deutschen Betten in unserm Klima hochnötig haben, die sind vollzählig mitgesandt worden.“ O. Hasselbach an MB, 29. Dezember 1921. SIK MB 65/6. 187 Auf Rat von Hegi wandte Walther sich an Generalkonsul Schroetter, der ihr antwortete, der Public Custodian verweigere die Herausgabe der Wertpapiere. Über den Verbleib ihres Sparguthabens bei der DOB konnte Walther nichts in Erfahrung bringen. E. Walther an MB, 13. Januar 1923. SIK MB 82/3. 188 E. Walther an MB, 1. Januar 1925. SIK MB 82/3. 189 Frl. Hasse erhielt auf Vermittlung „ihrer türkischen Prinzen“ ihre „sämtlichen auf der Bank of Egypt deponierten Wertpapiere“ zurück, wollte aber nicht in Ägypten bleiben. Anfang 1923 war sie mit „ihren türkischen Prinzessinnen“ am Genfer See, konnte so ihre Rückkehr nach Deutschland aufschieben. E. Walther an MB, 13. Januar 1923. SIK MB 82/3. Hedwig Amster-Dürre erhielt alles, sogar „ihre Ledersessel“ zurück. Professor Loos kam wieder in den Besitz seines Silbers, seiner Wäsche und seiner Bücher. O. Hasselbach an MB, 29. Dezember 1921. SIK MB 65/6. 190 Laut Verfügung wurde alles deutsche Eigentum in Ägypten ab Inkrafttreten des Friedensvertrags einem „offiziellen Verwahrer“ (Public Custodian) unterstellt. Dieser war berechtigt, die Besitztümer zu liquidieren. Mitteilungen der „Vereinigung der Deutsch-Ägypter“, 3. April 1920.
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der Abteilung Aegypten des Bundes der Auslandsdeutschen“ die am 17. März 1920 formulierten Regelungen, versehen mit der Liste betroffener Personen.191 Aufgelistet erschienen: „1. Description of Property to be liquidated – securities, bills etc., 2. Description of property to be liquidated – furniture etc., 3. Description of property to be liquidated – real estate“. Unter Kategorie eins waren 327 Personen aufgeführt, unter Kategorie zwei 262, unter Kategorie drei 89. Keine Spezifizierung erfolgte bezüglich der Vermögenswerte. Dass in Ägypten sogar das Privateigentum von Deutschen liquidiert wurde, erregte in Deutschland erhebliches Missfallen. Der ehemalige Lehrer in Kairo, Ernst Liedloff,192 widmete dem Thema einen ausführlichen Artikel in der „Deutsche(n) Allgemeine(n) Zeitung“ vom 20. April 1920.193 Von den Liquidierungsmaßnahmen in Ägypten seien rund 700 Personen betroffen, was er scharf kritisierte. Laut Völkerrecht müssten Privatvermögen unangetastet bleiben, denn Kriege würden nicht zwischen Einzelnen geführt, sondern zwischen Völkern. Zwar versuche Edmund Allenby, der Oberbefehlshaber der britischen Truppen in Ägypten, die Bestimmungen „möglichst wohlwollend“ auszulegen“, habe auch diverse Ausnahmen zugestanden, die aber längst nicht hinreichend seien. Als höchst ungerecht verstand es Liedloff, dass auch solche Personen von den Liquidierungen betroffen waren, die in jahrelanger Tätigkeit zugunsten Ägyptens gewirkt und gearbeitet hatten, vor allem Ärzte, Wissenschaftler, Lehrer und Beamte. Positiv sei allerdings, dass Allenby, um noch größere Härten zu vermeiden, die Herausgabe persönlichen Guts im Wert von maximal 1000 LE, entsprechend etwa 21.000 Mark, zugestanden habe. Aufgrund dieser Bestimmung seien bereits etliche Wohnungseinrichtungen freigegeben worden. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich die Ägyptendeutschen ab 1914 überwiegend kriegsbegeistert zeigten, eine Euphorie, die sich im Laufe des Krieges zwar wandelte, aber keine grundsätzlich neuen Haltungen hervorbrachte. Unbeirrt optimistisch blieb Ludwig Borchardt, vielleicht auch, weil er nicht direkt vom Kriegsgeschehen betroffen war, dieses nicht aus eigener Anschauung kannte, allenfalls unter unterbrochenen Bahn- und Postverbindungen zu leiden hatte. Max Meyerhof hingegen entwickelte sich nicht zuletzt wegen seiner Behandlung von Schwerverwundeten zum Skeptiker, er zweifelte an der Sinnhaftigkeit des Krieges. Dies kommunizierte er seinem Freund Borchardt nur 191 Nr. 23 (1920). Den Hinweis verdanke ich Frau Isolde Lehnert (DAIK). 192 Übernahm Ende April 1920 als Nachfolger von Löwenstein die Funktion des Schriftführers der „Vereinigung der Deutsch-Ägypter“. Im Mai 1920 erhielt er eine Lehrerstelle in Braunschweig, weshalb er die Funktion aufgab. Mitteilungen der „Vereinigung der Deutsch-Ägypter“, 21. April u. 20. Mai 1920. 193 59. Jg./Nr. 183.
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andeutungsweise, das Thema Krieg sparten die beiden in ihrer Korrespondenz und wohl auch in Gesprächen weitgehend aus. Mit seinem Freund, dem Orientalisten Enno Littmann, tauschte sich Meyerhof dagegen kritisch über den Krieg aus.194 In demselben Maße wie sich bei Meyerhof grundsätzliche Zweifel ausweiteten, prägte sich bei Ludwig Borchardt Nationaldenken aus. Gebrochener war Mimi Borchardts Denken, denn ihre intensiven Beziehungen zu betroffenen Frauen (Ehefrauen, Mütter, Großmütter oder Tanten) ließen eine völlig unkritische Kriegsbegeisterung nicht zu. Allerdings frustrierten sie die deutsche Niederlage, der Versailler Vertrag und der Wandel von der Monarchie zur Republik erheblich. Angesichts der überwiegend negativen Nachrichten fiel es vielen ehemaligen Ägyptendeutschen schwer, nicht in ungezügelten Hass gegen England zu verfallen.195 Mimi Borchardt widmete sich intensiv politischen Tätigkeiten, tauschte sich mit Gleichgesinnten aus.196 Aus dem Bedürfnis, Ängste, Sorgen und auch Wut formulieren und kanalisieren zu wollen, entwickelten sich schon in den ersten Kriegswochen regelmäßig stattfindende Treffen der Ägyptendeutschen, die zu wichtigen Anlaufstellen und zu einem viel frequentierten Sammelpunkt wurden. Maßgeblich initiiert und 194 Die entsprechenden Hinweise verdanke ich Isolde Lehnert (DAIK), die im Rahmen ihrer Untersuchungen zu Max Meyerhof auch die Korrespondenz zwischen ihm und Littmann bearbeitet. 195 E. Walther an MB, 19. Juni 1921. SIK MB 82/3. 196 E. Walther pflegte ihre Kontakte zu Ägyptendeutschen, traf sich z. B. mit Pastor Wedemann, den sie seit 18 Jahren nicht mehr gesehen hatte, mehrmals mit Wilhelm Pelizaeus (1851–1930, aus Hildesheim, kam 1869 nach Ägypten, um in einer Firma seines Onkels in Alexandria zu arbeiten, wechselte später in ein Unternehmen für Bank- und Getreidegeschäfte, übernahm 1878 die Kairener Zweigstelle eines englischen Unternehmens für die Belieferung des arabischen Marktes mit Kohle, Eisen, Textilien und Gas. Dieses Geschäft weitete er erfolgreich aus. Gleichzeitig entwickelte er Interesse an Ägyptologie und am Sammeln von Antiquitäten. Ab 1886 unterhielt er enge Beziehungen zur deutschen Wirtschaft und Hochfinanz, bewarb sich um große Staatsaufträge in Ägypten, erhielt u. a. den Zuschlag für den Bahnbau von Assiut-Girgeh in Zusammenarbeit mit Krupp. Er wurde zu einem wichtigen Mitglied der ‚deutschen Kolonie‘ in Kairo. Ab 1889 war er Vertreter für Krupp in Ägypten. Großzügig unterstützte er den Orden der Borromäerinnen in Kairo und Alexandria, ebenso die deutsche Schule in Kairo. Nach der Begegnung mit dem Ägyptologen Georg Steindorff unterstützte er ab 1902/03 maßgeblich Grabungen deutscher Ägyptologen. Ab 1907 plante er die Einrichtung eines Museums in Hildesheim, um seine Antikensammlung der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. In seinem Auftrag überwachte Otto Rubensohn als erster Direktor des Museums den Transport der Sammlung von Ägypten nach Hildesheim. Den Ausbruch des Ersten Weltkriegs erlebte Pelizaeus während seines Sommerurlaubs in Deutschland. Sein in Ägypten befindliches Eigentum wurde konfisziert und versteigert. Um 1929 erhielt er dafür eine kleine Entschädigung.), der „auf Gott und die Welt“ schimpfte, aber „im Grunde mit sich zufrieden“ zu sein schien. Den Winter wollte er in Vaduz verbringen. Nach Ägypten wollte er nicht mehr zurückkehren. E. Walther an MB, 15. Januar 1922. SIK MB 82/3; Meyerhof an LB, 7. April 1918. SIK LB. Bettina Schmitz: Pelizaeus, 2001, S. 164.
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organisiert wurden diese Treffen von Ludwig Borchardt in Zusammenarbeit mit seiner Ehefrau. Borchardt verlieh den ‚exilierten‘ Ägyptendeutschen auf diese Weise Stimme und Gehör. Von dieser politisch-organisatorischen Tätigkeit war es nur ein Schritt hin zu weiterer politischen Betätigung. Ohne die Erfahrungen der Jahre 1914 bis 1918 wäre ein solches Engagement nicht denkbar bzw. erforderlich gewesen. Borchardt bündelte seine Interessen primär in seinem Engagement für den politisch rechts-konservativ ausgerichteten Verband der Auslandsdeutschen (VDA). Dass er sich politisch einbringen wollte, stand von Beginn des Krieges an fest, nur fand er anfangs kein geeignetes Forum. Als Vorbild dürfte nicht zuletzt der ihm sehr vertraute Orientalist Moritz Sobernheim, dessen Ehefrau als Tochter von Ludwig Schiff in Frankfurt und Nichte von Jakob Schiff in New York auch Mimi Borchardt seit Langem bekannt war, gedient haben. Dieser war im Auswärtigen Amt aktiv, Nachfolger von Georg Steindorffs Schwager Franz Oppenheimer in der Funktion als Berater in jüdischen Angelegenheiten.197 Im Unterschied zu Borchardt waren sowohl Oppenheimer als auch Sobernheim Zionisten. Eine deutlich definierte Aufgabe beim Auswärtigen Amt strebte Borchardt allem Anschein nach an, glaubte sich auch aufgrund seiner langjährigen Beziehungen dorthin berechtigte Hoffnungen machen zu dürfen, wie Georg Steindorff gegenüber Adolf Erman mutmaßte. Ebenso wie Sobernheim war Borchardt Anhänger und Unterstützer der 1918 gegründeten Deutschen Volkspartei (DVP), die zwar nicht frei von antisemitischen Strömungen war und das Christentum als Basis der deutschen Kultur verstand, in Gustav Stresemann aber schließlich einen Gegner des Antisemitismus fand. Auffallend ist, dass zumal Personen jüdischer Herkunft den Krieg begeistert begrüßten und umso verbitterter über dessen Ergebnis und die Folgewirkungen waren. Damit spiegelten sie die Haltung der überwiegenden Mehrheit der deutschen Juden; sogar der 1893 gegründete „Centralverband deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ (CV) hatte zu Beginn des Krieges zur Teilnahme aufgerufen. Der Mimi Borchardt seit vielen Jahren bekannte Marburger Philosoph Hermann Cohen verteidigte Deutschland gegenüber den amerikanischen Juden als ein Land, in dem Juden im Unterschied zu Russland frei leben könnten.198 Auch wurde das ‚Manifest der 93‘ von zahlreichen Juden unterzeichnet, darunter Paul Ehrlich, Fritz Haber, Paul Laband, Max Liebermann und Max Reinhardt. Ernst Lissauer komponierte einen „Haßgesang gegen England“. Für Juden bot der Krieg die Chance, ihre patriotische Gesinnung ebenso unter Beweis zu stellen wie ihre Bereitschaft zur Pflichterfüllung gegenüber Deutschland, ihre Vaterlandsliebe
197 Peter Pulzer: Jews, 2006, S. 273. 198 Peter Pulzer: Jews, 2003, S. 195.
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und Opferbereitschaft. Jeder Zweifel an ihrer nationalen Zuverlässigkeit sollte zerstreut werden.199 Wie wichtig dies auch Ludwig Borchardt war, beweist sein akribisches Auflisten sämtlicher am Krieg teilnehmenden jüdischen Schüler des Askanischen Gymnasiums, der Schule, deren Absolvent er war. Es gab aber auch Juden, die ab 1916 auf Distanz zum kriegerischen Vorgehen Deutschlands gingen, etwa Dernburg, von Schwabach und Max Warburg, den U-Boot Krieg ablehnten, weil er Nord-Amerika zum Feind Deutschlands machen werde, und schon frühzeitig auf eine Form von Verständigung drängten.200 Bei Ludwig Borchardt erregten derlei Pläne höchstes Missfallen, wie er seiner Ehefrau gegenüber mehrfach äußerte. Weder Kriegsbegeisterung noch direktes Engagement für den Krieg verhinderten den schon nach den ersten militärischen Misserfolgen Deutschlands, spätestens ab Ende 1915 lauter werdenden Antisemitismus, den die meisten deutschen Juden für endgültig beseitigt gehalten hatten. Die Juden wurden als verantwortlich für die Niederlage Deutschlands, die Bekämpfung der Juden und des neuen demokratischen Staates ab 1918 zu identischen Zielen erklärt. Es entstand ein „Klima innenpolitischer Gewalt“ mit einem „bis dahin nie dagewesenen Antisemitismus“.201 „In einer für die Bevölkerung mit Existenznot und Zukunftsangst verbundenen Zeit wuchs die Anfälligkeit für judenfeindliche Deutungsmuster und zunehmend aktive und sich völkisch radikalisierende antisemitische Gruppen hatten regen Zulauf.“202 Schon seit Jahren hatte der 1908 gegründete Alldeutsche Verein in Zusammenarbeit mit andern nationalistischen Verbänden gegen die Juden gehetzt, die Rücknahme der Emanzipation von 1871 gefordert. Nach dem Krieg machte sich vor allem die Deutschnationale Volkspartei (DNVP) für solche Ideen stark, verbreitete sie in einer Vielzahl von Zeitschriften, Büchern und Broschüren. „Die frühen Weimarer Jahre waren gekennzeichnet durch Gewalt, Mordanschläge und Putschversuche gegen Juden, Kommunisten und politische Vertreter der Republik“;203 prominente Opfer waren Rosa Luxemburg, Kurt Eisner, Gustav Landauer und Walter Rathenau. Gleichwohl beharrten die meisten Juden darauf, sich in erster Linie als Deutsche und Deutschland als ihre Heimat zu verstehen.204 Dass dies bei zahlreichen nichtjüdischen Deutschen auf wenig Verständnis und Ablehnung stieß, zeigte sich beispielsweise anlässlich des vor allem gegen Ostjuden gerichteten Scheu199 Gerlind Mittelstädt: Die Rolle, 2013, S. 55. 200 Peter Pulzer: Jews, 2003, S. 202. 201 Gerlind Mittelstädt: Die Rolle, 2013, S. 20. 202 Gerlind Mittelstädt: Die Rolle, 2013, S. 20. 203 Gerlind Mittelstädt: Die Rolle, 2013, S. 22. 204 Gerlind Mittelstädt: Die Rolle, 2013, S. 4.
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nenviertelpogroms im November 1923 in Berlin, womit die antisemitische Hetze einen weiteren Höhepunkt fand. Gefruchtet hatten also die Verlautbarungen des CV, der beispielsweise dem gegen Juden erhobenen Vorwurf der Drückebergerei während des Krieges öffentlich entgegengetreten war, nicht. Im Frühsommer 1919 kam es in gesamt Deutschland zu Ausschreitungen gegen Juden, an denen auch Soldaten der Reichswehr beteiligt waren, was Alfred Wiener, ebenfalls ein naher Bekannter Ludwig Borchardts, und führendes Mitglied des Reichsbunds jüdischer Frontsoldaten (RjF), zu höchst besorgten öffentlichen Verlautbarungen veranlasste.205 Wieners Sorge wegen der „Pogromhetze“ war nicht unbegründet, denn im Februar 1919 beispielsweise forderte das Reichsbankdirektorium vom Innenminister Maßnahmen gegen die „galizischen und polnischen Juden“ des Berliner Scheunenviertels, 1920 versuchten Bayern und Preußen, die ostjüdischen Einwanderer in Lagern unterzubringen und auszuweisen.206 Antisemitische Äußerungen wurden ‚gesellschaftsfähig‘, konnten in aller Öffentlichkeit und ungestraft getan werden. Das Scheunenviertelpogrom von 1923 polarisierte schließlich die Judenschaft Berlins. Zwar war man sich einig, dass die antisemitische Hetze zu dem Pogrom geführt hatte, bewertete dies aber unterschiedlich. Der Verband nationaldeutscher Juden (VnJ), zu dessen Gründungsmitgliedern das Ehepaar Rubensohn und Mimi Borchardt gehörten, erklärte in seiner Verbandszeitung, „wir nationaldeutschen Juden denken anders. Es mag die Schicksalsstunde anderer sein. Das Schicksal der deutschen Juden in seiner Gesamtheit wird durch Anderes bestimmt, wird dadurch bestimmt, wie wir selbst es gestalten. Deutschlands Schicksal ist auch das Schicksal des deutschen Juden“.207 Zwar sah auch der VnJ das Pogrom als Angriff auf alle Juden an, machte aber dennoch die ostjüdischen Einwanderer mit ihren Verhaltensweisen dafür verantwortlich. In den Ostjuden sahen sie die Hauptursache für den zunehmenden Antisemitismus. Wenig Erfolg hatten auch die Aktivitäten des Verbands deutscher Juden (VdDJ), der argumentativ gegen antisemitische Hetzkampagnen vorzugehen versuchte. Nachdem die Oberste Heeresleitung (OHL) am 1. November 1916 eine „Judenzählung“ (Erhebung über alle Kriegsdienst leistenden Juden) angeordnet hatte, deren Ergebnis keineswegs mit den von den Antisemiten verbreiteten Nachrichten identisch war – der Anteil von jüdischen Soldaten entsprach dem Anteil der Juden an der Gesamtbevölkerung – verweigerte die OHL die Bekanntgabe, so dass antisemitischen Anwürfen weiterhin kein Riegel vorgeschoben
205 Gerlind Mittelstädt: Die Rolle, 2013, S. 24. 206 Gerlind Mittelstädt: Die Rolle, 2013, S. 26. 207 Zitiert nach Gerlind Mittelstädt: Die Rolle, 2013, S. 19.
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wurde, sogar behauptet werden konnte, die Juden hätten die Bekanntgabe verhindert. Für Borchardt dürfte auch dies den Anstoß gegeben haben, die erwähnten Recherchen in seinem eigenen Umfeld anzustellen. Umso bitterer dürfte ihn, sicher auch Adolf Erman und Georg Steindorff, getroffen haben, dass nach dem Friedensschluss den Juden weiterhin Drückebergerei vorgeworfen wurde.208 All dies ließ Mimi Borchardt, die sich im Laufe des Krieges zunehmend politisiert hatte, nicht unberührt. Ebenso wie ihr Ehemann versuchte sie politisch Einfluss zu nehmen, und zwar auf verbands- bzw. parteipolitischer Ebene. Wie ihre Tagebucheinträge der Jahre 1919/20 enthüllen, wandte sie sich der Deutschen Volkspartei (DVP) zu, leistete gemeinsam mit Paula Mühsam Parteiarbeit. Ihre im Tagebuch verzeichneten politischen Überlegungen zeigten deutliche Übereinstimmungen mit jenen des VnJ, dem sie 1921 beitrat. Mit ihrer parteipolitischen Arbeit schuf sie sich ein Forum, als Jüdin ihre unbedingte Loyalität mit Deutschland öffentlich zu machen und zu unterstreichen, ein ähnlicher Motor, der viele Juden angetrieben hatte, sich während des Krieges für Deutschland zu engagieren. Eines ihrer wesentlichen Ziele war, wie sie am 5. Oktober 1919 schrieb, dem Antisemitismus entgegen zu treten, davon zu überzeugen, dass sie „eben ganz Deutscher“ sei.209 Denn auf das „deutsche Volk“ sei sie stolz, die „Höhepunkte des deutschen Volkes (seien) die Höhepunkte der Menschheit“, Ursache von Judenhass und Antisemitismus seien die Juden selbst bzw. deren „Internationalismus“, womit sie die Mitglieder des CV und Zionisten meinte. Obwohl sie sich mit Gewissheit nicht als nicht „undeutsch“ begriff, war sie bzw. ihre Familie dennoch dem Antisemitismus sogar direkt ausgesetzt.210 Max Meyerhof beobachtete den zunehmenden Antisemitismus mit ähnlicher Sorge, verortete dessen Ursachen jedoch anders, nämlich vor allem bei der „unglaublichen alldeutschen Hetze“, die in seinem Hannoveraner Umfeld bzw. dessen „geist-minderwertigen Bevölkerung“ auf fruchtbaren Boden falle.211 Dieser „Geist“, der sich vor allem in Hochschulkreisen finde, werde sich in den nächsten Jahrzehnten nicht ändern.
208 Derartige Unterstellungen trugen wesentlich bei zur Gründung des RjF am 8. Februar 1919 durch den Aachener Reserve-Hauptmann und Chemiker Dr. Leo Löwenstein. Gerlind Mittelstädt: Die Rolle, 2013, S. 60–95. 209 Tagebuch, 25. September 1919. SIK MB 9/2. 210 Tagebuch, 10. November 1919. SIK MB 9/2. In seiner antisemitischen Schrift „Die internationalen verwandtschaftlichen Beziehungen der jüdischen Hochfinanz“, S. 3–7, bezichtigte Heinrich Pudor 1933 Jakob Schiff, dessen Familie und Geschäftspartner, den Ersten Weltkrieg, die russische Revolution 1917 und die Revolution in Deutschland 1918 herbeigeführt zu haben. 211 Meyerhof an LB, 29. März 1920. SIK LB.
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Mimi Borchardt, die nicht wie Meyerhof von Existenzsorgen geplagt war und sich vornehmlich in besitzbürgerlichen Kreisen bewegte, beklagte dagegen, dem „wundervollen deutschen Volk“ fehle es an „nationalem Rettungswillen“, weshalb es durchaus nachvollziehbar sei, dass die „Völkischen“ die Juden als die Schuldigen betrachteten.212 Ein Desaster sei auch der parlamentarische Untersuchungsausschuss, der acht ehemalige Heeresführer für die Anzettelung aussichtsloser Schlachten verantwortlich mache, obwohl diese doch nur „ihr Volk zum Sieg“ hätten führen wollen. Die Anklage hielt sie für umso unberechtigter, als es wegen des „festen Vernichtungswillens der Feinde“ sowieso nie zu einem Verständigungsfrieden hätte kommen können. Wer dies noch immer nicht sehen wolle, sei ein „Idiot oder ein Verbrecher“, tue den „unschuldigen Deutschen“ Unrecht. Dabei galt ihr besonderer Zorn „dieser Wanze“ Eberhard Gothein (1853– 1923), einem Reichstagsabgeordneten, den sie „zerquetschen“ wollte. Derselbe Zorn galt Hugo Sinzheimer. Gothein war Nationalökonom, Professor in Heidelberg, wurde im Januar 1919 für die Deutsche Demokratische Partei (DDP) in die verfassunggebende Landesversammlung der Republik Baden gewählt und wirkte an deren Landesverfassung mit. Zugleich setzte er sich stark für Erwachsenenbildung ein, nahm 1922 den Ruf des Auswärtigen Amtes an, um an der Ausbildung künftiger Diplomaten mitzuwirken. Für Mimi Borchardt galten Gotheins Anstrengungen nichts, weil sie glaubte, diese riefen zu Recht nationalgesinnte Kreise und auch Antisemiten auf den Plan. Hugo Sinzheimer (1875–1945) war Rechtswissenschaftler, Professor in Frankfurt und Sozialdemokrat. Während der Novemberrevolution 1918 fungierte er als provisorischer Polizeipräsident in Frankfurt, trat stark für die Rechte von Arbeitern ein. Auch dieses Engagement wurde von Mimi Borchardt nicht gutgeheißen, vor allem weil ihr die Forderungen der Arbeiter völlig unverständlich waren. Einen „Lichtblick“ vermochte sie im November 1919 ebensowenig zu sehen wie einen „Führer“, der einen „Weg aus dem Dunkel und der Dummheit, in der das deutsche Volk entschwindet“, weisen sollte.213 Besonders die Eintragungen der ersten Monate 1919 lassen die Distanz erkennen, die Mimi Borchardt zu den tagtäglichen Nöten der Bevölkerungsmehrheit hatte. Weder brachte sie Verständnis auf für die Forderungen Demonstrierender oder von Arbeitern noch wusste sie von der komplexen Problemsituation, mit denen die regierenden deutschen Politiker konfrontiert waren. Fest stand für sie, dass die deutsche Niederlage selbstverschuldet war, Deutschland einen Verteidigungskrieg geführt hatte, die deutschen Verhandler bei den Friedensverhandlungen Unrecht handelten und vor allem, dass der Antisemitismus von den Juden
212 Tagebuch, 19. November 1919. SIK MB 9/2. 213 Tagebuch, 19. November 1919. SIK MB 9/2.
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selbst provoziert wurde, weil sie sich zu international und zu wenig deutschnational verhielten, wie sie wiederholt formulierte.214 Den „international“ gesinnten Juden sprach sie ab, wirklich etwas von Deutschland zu verstehen, von dessen „Geistigkeit, von dem Charakter, von der Politik“, weil es eben nicht ihr „geliebtes Vaterland“ sei. Dass dies Antisemitismus hervorrufe, sei allzu verständlich, weil die deutschen Juden eben meist „nicht deutsch empfinden“, sondern „Internationalisten“ seien, also auch am Antisemitismus schuld. Denn dieser sei eine „vollkommen gerechte“ Reaktion, zwingend hervorgerufen von der „Handlungsweise der Juden“. Fatalerweise werde jüdischerseits nicht gegen das „Antideutschtum“ in den eigenen Reihen gekämpft. Nirgends glaubte Mimi Borchardt wirkliche „Liebe zum deutschen Vaterland, das in seinen größten Vertretern und in seinen besten Eigenschaften doch das herrlichste der Welt ist“, zu sehen.215 Immer wieder beschwor Mimi Borchardt den Mythos ‚deutsches Vaterland‘, was ihr auch deshalb gelingen konnte, weil Alltags- und Überlebenssorgen sie nicht drückten, sie sogar die Möglichkeit hatte, Urlaub in den Schweizer Bergen zu machen. In ihrer Verbitterung bastelte sie weiter an ihrem Mythos, ihrem imaginierten Idealbild Deutschland. Damit befand sie sich auf einer Linie mit andern nationalistisch gesinnten Frauen, die das ‚Volk‘ als einen Organismus auffassten. „Der Einzelne war in dieser organischen Vorstellung mit seinen Vorfahren und Nachkommen durch die ‚Kette von Geschlechtern‘ unmittelbar verbunden.“216 Dem ‚Volk‘ wurde ein eigener idealer Zustand zugeschrieben, „der seinem ‚Volks charakter‘ und seinen ‚Anlagen‘ entsprach. (…) Ein Abweichen von der Bestimmung des Volkes führte daher unausweichlich zum Niedergang. Als typisch deutsch galt (…) der Wille zur Selbstbehauptung, zum Aufstieg und zur Macht“.217 Zur Höherentwicklung des Volkes war laut diesem Verständnis ein bestimmter Staatsaufbau erforderlich. Den Frauen sprachen die Nationalistinnen eine engere Bindung zu diesem Organismus zu als Männern, wandten sich gegen Interessenvertretungen von Arbeitern, denn deren Bestimmung sei, dem Unternehmer bereitwillig und gehorsam zu folgen.218 Die laut Mimi Borchardt idealtypischen Juden sammelten sich eben nicht im „internationalen“ CV, sondern im späteren VnJ – „Sammlung der national deutsch empfindenden Juden“; sie sollten auf dem Kongress der DVP zusammenkommen, vor allem um gegen den Antisemitismus zu kämpfen. Aus Sicht der
214 Z. B. Tagebuch, 23. November 1919. SIK MB 9/2. 215 Tagebuch, 11. November 1919. SIK MB 9/2. 216 Christiane Streubel: Nationalistinnen, 2006, S. 328. 217 Christiane Streubel: Nationalistinnen, 2006, S. 328 f. 218 Christiane Streubel: Nationalistinnen, 2006, S. 331.
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„National-Empfindenden“, also auch Mimi Borchardts, waren die „InternationalEmpfindenden“ Verbrecher, weil diese den Feinden Deutschlands sogar Recht gäben. Dennoch war ihr bewusst, dass Antisemitismus als „Demagogie“ getrieben wurde, auch dass man sich damit einen gemeinsamen Feind schuf. Dem hielt sie aber entgegen, dass beispielsweise bestimmte Kunstschaffende, besonders die von „Galizischen Juden“ betriebenen Theater u. ä., den Antisemitismus nachvollziehbarer- und berechtigterweise förderten.219 Weiteres zentrales Thema war für Mimi Borchardt die ‚Ägypten-Frage‘. Infolge der Friedensbestimmungen glaubte sie ihren Kairener Besitz verloren geben, ihn den „Feinden“ überlassen zu müssen, eine Erkenntnis, die erst allmählich bei den Betroffenen durchsickere und die Nicht-Betroffenen nicht kümmere.220 Tröstlich war ihr, dass Ludwig Borchardt Vorsitzender des Bundes der Auslandsdeutschen (Abteilung Ägypten) geworden war, ein Verband, den er selbst in der Hauptsache gegründet hatte und der zunächst in erster Linie Vorentschädigungen durchsetzen wollte, „bevor das Reich pleite ist“. Die zahlreichen „vernichteten Existenzen“, die betrüblichen Schicksale, von denen sie tagtäglich hören musste, machten sie schwermütig, sah sie doch in den „Auslandsdeutschen“ die „besten Deutschen“. Umso mehr erschütterte sie, dass trotz allen Elends die Theater, Tanzhäuser und andere Vergnügungsstätten bestens besucht waren. Den Generalstreik in Berlin interpretierte sie als „Putsch“, der ihre Bahnverbindungen und Einkaufsmöglichkeiten behinderte. Die Frankfurter Zeitung war ihr zuwider, weil sie „demokratisch“, vom „Geist der Freiheit“ und „antideutsch“ bestimmt sei. Trotz ihres Patriotismus verärgerte sie, dass das Frankfurter Haus ihrer Mutter „Einquartierung“ erlebte, man ein ganzes Stockwerk mit den „schönen Gesellschaftsräumen (…) hergeben“ musste.221 Den Kapp-Putsch interpretierte sie in der ihr eigenen Weise, glaubte dass die Gewerkschaften zu viele Rechte hätten, die Regierung eher die harmlosen Rechten verfolgte als die gefährlichen Linken.222 Wirklich verzweifelt aber machte sie, dass sie ihre deutschnationale Gesinnung, ihr Bekenntnis zu Deutschland nicht öffentlichkeitswirksam verkünden konnte.223 Hinzu kam, dass die aus Ägypten eintreffenden Nachrichten, vor allem ihre Immobilien betreffend, bedrückend waren. Laut Mimi Borchardt wollten die Engländer sie an sich reißen, wie ihr Ehemann zufällig erfahren haben wollte und deshalb alle ihm möglichen Hebel in Bewegung setzte. 219 Tagebuch, 15. Dezember 1919. SIK MB 9/2. 220 Tagebuch, 11. Januar 1920. SIK MB 9/2. 221 Tagebuch, (Frankfurt) 18. März 1920. SIK MB 9/2. 222 Tagebuch, (Frankfurt) 29. März 1920. SIK MB 9/2. 223 Tagebuch, (Frankfurt) 23. Februar 1920. SIK MB 9/2.
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Voller Verachtung beobachtete sie schließlich die Verhandlungen zwischen Deutschland und den Entente-Mächten. Das „Winseln und Katzbuckeln vor den Feinden und dem Ausland und das sich selbst besudeln“ der Deutschen waren ihr unerträglich.224 Angesichts dessen sehnte sie sich in die imaginierte Welt des Jahres 1806, als es noch Dichterfürsten wie Goethe und Fichte, vor allem aber eine „Zentralstelle“ – den König -, gegeben habe.225 Aktuell zerfleische sich das deutsche Volk selbst, nach dem Motto „alle gegen alle“. Das Bürgertum sei lethargisch, wie sie zur Genüge bei ihrer Parteiarbeit beobachten könne. Im Einklang mit andern Frauen der bürgerlich-rechten Parteien und einer Mehrheit der deutschen Bevölkerung226 war Mimi Borchardt gegen die Versailler Friedensverhandlungen und Pazifismus, andererseits für die Beibehaltung der Monarchie und der Heeresführer, protestierte gegen Gebietsverluste, Reparationsforderungen und die Festschreibung Deutschlands als Kriegsverursacher. Die Aufgabe der Frauen sollte in der Erziehung der Jugend im nationalen Sinne bestehen, was zur Stärkung des Volkes führen werde, nicht in der Aufnahme und Pflege internationaler Beziehungen. Denn Frauen galten als die eigentlichen Wahrerinnen der deutschen Kultur – wie Frauen der DVP und der DNVP unterstrichen – und der nationalen Ehre Deutschlands.227 Um ihren Gedanken und Forderungen Nachdruck zu verleihen, engagierte Mimi Borchardt sich parteipolitisch, nahm u. a. an Versammlungen der DVP in Hamburg-Altona teil. In Berlin schloss sie sich ebenso wie Paula Mühsam der überaus aktiven Ilse Szagunn, einer Ärztin von Berlin-Charlottenburg, an. Zu diesem Frauen-Engagement gehörte der Aufbau einer Vereinskultur, d. h. der Veranstaltung von Treffen unterschiedlicher Art. Von besonderer Bedeutung waren wohltätige Aktionen, die die bürgerlichen Frauen als Kern ihres Aufgabenbereiches betrachteten.228 Wie sich in den Jahren nach 1923 zeigen sollte, folgte Mimi Borchardt diesen ab 1918 entwickelten Denk- und Handlungsmodellen, die sich eng anlehnten an die bürgerliche Rechte. Ihre grundsätzliche Bitterkeit bezüglich der politischen Verhältnisse wich zwar nicht, milderte sich aber, als Ludwig Borchardts Bemühungen Früchte trugen. Den Kampf um den Erhalt des Kairener Instituts hatte er nie aufgegeben, dafür „offiziell, offiziös und privative“ gefochten. Als er am 20. November 1921 sämtliche Immobilien und Besitztümer vor allem dank des intensiven Einsatzes 224 Tagebuch, 18. April 1920. SIK MB 9/2. 225 Tagebuch, 7. November 1920. SIK MB 9/2. 226 Zur Stimmungslage in Deutschland vgl. die zusammenfassende Darstellung von Hagen Schulze: Versailles, 42002, S. 407–421. 227 Raffael Scheck: Mothers, 2004, S. 120 f. 228 Raffael Scheck: Mothers, 2004, S. 149–151.
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des Schweizer Ägyptologen Jean-Jacques Hess und auch des Ägyptologen Firth zurück erhielt, überraschte dies Mimi Borchardt so sehr, dass sie es zunächst kaum glauben wollte.229 „Das ist erreicht worden durch zähen, nie nachgebenden Willen“, resümierte sie, „da hätte in andern Fällen, wenn ein Hei230 an der rechten Stelle gewesen wäre, für Deutschlands Politik nicht auch etwas erreicht werden können?!“ Borchardts Besitzungen wurden am 9. Juni 1922 der seit dem 15. Mai 1922 in Kairo amtierenden deutschen diplomatischen Vertretung übergeben, Meyerhof und seine Schwester gratulierten Borchardt zu seinem Erfolg.231 Trotz dieses ‚Etappensieges‘ haderte Mimi Borchardt weiterhin, schimpfte im Februar 1922 auf die Pazifisten, die einen Kongress in Mainz abhielten.232 Nationalgefühl in ihrem Sinne sah sie bei Deutschen kaum noch und meinte, es sei sowieso bei ihnen ein im Geldbeutel sitzendes Gefühl, was sie mit „Pfui Deufel“ als dem letzten Eintrag ihres Tagebuchs kommentierte.233 Mit Demokratie und Republik konnte Mimi Borchardt sich ebenso wenig anfreunden wie mit politischen Debatten, Gewerkschaften oder Demonstrationen, die sie allesamt als Zeichen von Schwäche deutete. Sie sehnte ich zurück nach der Monarchie, ganz den Forderungen und dem Parteiprogramm der DVP entsprechend. Konform ging dies auch mit den Ideen des VnJ, zu dessen Gründungsmitgliedern sie ebenso wie Otto und Friedel Rubensohn sowie Georg Steindorffs Schwager Franz Oppenheimer gehörte.234 Gegründet wurde der Verband am 20.November 1921 von dem Berliner Juristen Max Naumann (1875–1935). Lose mit dem VnJ verbunden war auch Ludwig Borchardt, aber keines der 89 Gründungsmitglieder. Wie die Beziehung zu Naumann zustande kam, lässt sich nur vermuten. Wahrscheinlich 229 Dennoch beobachtete sie mit Genugtuung während eines Schweiz-Urlaubs, dass es auch den Schweizern wirtschaftlich nicht gut ging, meinte dies als Folge der gegen Deutschland gerichteten Neutralität deuten zu können. Tagebuch, 4. Dezember 1920. SIK MB 9/2. J.J. Heß fühlte sich wegen seines Studiums in Deutschland der deutschen Ägyptologie sehr verbunden. Ihn entsetzte, dass Borchardts Besitz in Kairo laut Meldung der schwedischen Agentur vom 14. Juli 1921 definitiv sequestriert, also versteigert werden sollten. Firth zog zum Schutz der Bibliothek kurzfristig in das Institutsgebäude ein. Heß sandte an Lord Curzon eine von 12 Schweizer Wissenschaftlern unterschriebene Petition zugunsten von Borchardts Besitz, was diesen vor der Sequestrierung bewahrte. Susanne Voss: Geschichte, 2013, S. 174 f. 230 Kosename für LB. 231 Meyerhof hoffte, dass auch Curt Prüfer ähnliches Glück haben würde. Meyerhof an LB, 25. April 1920. SIK LB. 232 Am 26. Januar 1922 schlossen sich in Mainz 13 pazifistische Verbände zum „Deutschen Friedenskartell“ zusammen. 233 Tagebuch, 28. Februar 1922. SIK MB 9/2. 234 Alphabetische Liste der 89 Gründungsmitglieder des VnJ (März 1921) in: Klaus J. Herrmann: Organisationen, 1969, S. 36–38.
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vermittelte sie die entfernte Verwandte Paula Mühsam ( 1876–1942),235 eine Schwägerin des Verbandsmitglieds Richard Mühsam (1872–1938). Naumann sandte im Februar 1921 an Mimi Borchardt ein Rundschreiben, „mit dem ich die Broschüre zu versenden pflege, eine Liste nebst Umschlag, ein Prospekt der Auszüge aus Presseäußerungen und die Satzung“. Er versprach, sie in Bälde persönlich „über den Stand der Sache“ in Kenntnis zu setzen.236 Mimi Borchardt antwortete schriftlich, bezog sich dabei auf „Herrn Josephthal aus Nürnberg“,237 dem Naumann von Mimi verfasste Materialien zugesandt hatte.238 Im April 1921 sollte eine Versammlung des Verbandes stattfinden, an dem auch Ludwig und Mimi Borchardt teilnehmen wollten. Zu diesem Zeitpunkt war Mimi Borchardt noch nicht Verbandsmitglied. Wie Naumann von diversen Teilnehmern der Versammlung vom 11. April 1921 erfuhr, plante Mimi Borchardt, dem Verband beizutreten, was wenig später geschah.239 Naumann forderte sie auf, ihm die Anschriften weiterer Interessierten zuzusenden.240 Darüber hinaus war er sehr daran interessiert, dass sie Mitglied des Hauptvorstandes – einer Form erweiterten Vorstands – wurde.241 Dies aber stellte Mimi Borchardt vor Probleme. Nach einigen Tagen „reiflicher Überlegung“ entschied sie sich dagegen.242 Zwar war sie mit der Arbeit des Verbandes „den christlichen Deutschen gegenüber einverstanden“, nicht aber mit dessen „Polemik“ gegen den „Zentralverband“. Anders als Naumann war sie nie Mitglied des CV gewesen, hatte „von jeher“ viele von dessen Mitgliedern als „genau das empfunden“, was Naumann als „Zwischenschicht“ bezeichnete, und war überzeugt, dass die „Polemik von der andern Seite a ufgezwungen wird – was übrigens ja eigentlich zu erwarten war“.
235 Tochter von Julius Guttentag und Emilie von Portheim, verheiratet mit dem Arzt Wilhelm Mühsam (gest. 1939), ein Sohn von Eduard Mühsam und Clara Jaffé. Ihre Tante Jenny Cohen (geb. 1850), Ehefrau von Ernst Cohen und Mutter von Paul und Otto Cohen, war eine Verwandte und Korrespondenzpartnerin von MB. P. Mühsam und ihr Sohn Heinrich wurden 1943 nach Theresienstadt bzw. Ausschwitz deportiert und dort ermordet. 236 15. Februar 1921. SIK MB 63/7. 237 E. Josephthal, Vorstandsmitglied des CV in Nürnberg, zugleich Mitglied der DVP. Peter Pulzer: Jews, 2006, S. 232. 238 4. März 1921. SIK MB 63/7. 239 16. April 1921. SIK MB 63/7. 240 2. November 1921. SIK MB 63/7. 241 Thema der Hauptversammlung (5. Februar 1922) war die Erweiterung des Vorstands. Dieser sollte bestehen aus dem geschäftsführenden, engeren Vorstand (sieben Personen, die in oder in der Nähe Berlins ansässig waren) und erweitertem Vorstand (= Hauptvorstand, Mitglieder sollten außerhalb Berlins ansässig sein), der bei der Erledigung von „Fragen besonderer und grundsätzlicher Wichtigkeit“ einberufen werden sollte. 16. Januar 1922. SIK MB 63/7. 242 25. Januar 1922. SIK MB 63/7.
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Allerdings machten „das räumliche Ausmaß und die Stärke, die diese Polemik angenommen hat, sowie mein Unvermögen hieraus einen Ausweg zu erblicken“, es ihr unmöglich, dem Vorstand beizutreten. Tatsächlich scheute sie den Konflikt bzw. die offene Auseinandersetzung, denn nicht anders als der Nationalverband unterstrich auch der 1893 gegründete CV den jüdischen Beitrag zum deutschen Kulturleben. Ausschlaggebend und handlungsleitend für Mimi Borchardt dürfte gewesen sein, dass sie etlichen Mitgliedern und Unterstützern des CV nahe stand und schätzte – etwa ihrem Schwager Georg (Hermann) Borchardt243 und ihrem Kairener Freund Max Meyerhof. Obwohl Mimi Borchardt überzeugtes Mitglied des VnJ blieb, exponierte sie sich zunächst nicht zwecks Vermeidung direkter Konflikte. Doch war sie sich ebenso wie Naumann sicher, mit der Verbandsarbeit eine „breite, auch nichtjüdische Öffentlichkeit erreichen“ zu können.244 Der VnJ war eine politisch extrem rechts stehende Organisation, laut Avraham Barkai „ein Beispiel jüdischen Selbsthasses“, womit schließlich den Judengegnern in die Hand gespielt wurde.245 Seine Beziehung zum Judentum definierte der Verband nicht aus der Religionszugehörigkeit oder andern gemeinsamen Belangen, sondern aus der „Rassezugehörigkeit und Stammesverwandtschaft“, die aber nur für deutsche Juden reklamiert wurden. Zwar wollte auch der VnJ den Antisemitismus bekämpfen, betrachtete dabei aber die ostjüdischen Einwanderer und die Mitglieder des CV, der „Zwischenschicht“, die weder zionistisch noch „von der rein deutschen Geistesrichtung der nationaldeutschen Juden“ sei, als dessen Hauptursache.246 Ebenso wie das Ehepaar Borchardt unterstützte auch Naumann die DVP, bekämpfte den Zionismus, jede Form von jüdischem Nationalismus und die Tendenz einiger deutsch-jüdischen Organisationen (besonders des CV), mit Parteien der Linken zusammenzuarbeiten.247 Jede Gemeinsamkeit von deutschen und osteuropäischen Juden negierte er. Denn nur die deutschen Juden seien eng verbunden mit deutschem Wesen und Bewusstsein, woraus für den VnJ die Aufgabe erwachse, sich gegen alles Un-Deutsche, was die Stärke Deutschlands und dessen Selbstwertgefühl gefährden könnte, zur Wehr zu setzen, um die ange-
243 Zu den „Erfolgsgestalten“ des CV gehörte außer Georg H. Borchardt auch der Maler Max Liebermann, der u. a. LB und MB porträtiert hatte. Zu „stürmischen Neuerungen“ neigten beide Künstler nicht. Ulrich Sieg: Jüdische Intellektuelle, 2008, S. 31. Zu Georg H. Borchardts Überlegungen zum Krieg vgl. Georg Hermann: November achtzehn. Roman. 1930. 244 Matthias Hambrock: Die Etablierung, 2003, S. 14. 245 Avraham Barkai: Wehr Dich, 2002, S. 140. 246 Avraham Barkai: Wehr Dich, 2002, S. 138 f. 247 Maximal 4 % der deutschen Juden waren Anhänger der DVP. Carl J. Rheins: The Verband, 1980, S. 243.
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strebte Vormachtstellung Deutschlands baldmöglichst wieder zu erreichen. Zur Erörterung politischer Fragen sollten von gegenseitigem Respekt und Patriotismus getragene Treffen von nichtjüdischen und jüdischen Deutschen stattfinden. Die Mehrzahl der rund 3.000 Mitglieder des VnJ war Anhänger der DVP, nur wenige von linken Parteien, was sich allein an der gemeinsamen Sprache der politischen Rechten und dem VnJ ablesen lässt. Eine allzu große Nähe zur Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) verbot sich wegen deren erklärtem Antisemitismus.248 Mimi Borchardt wählte mit ihrer Unterstützung des VnJ demnach einen radikalen Weg, gehörte einer zahlenmäßig wenig bedeutenden, isolierten und von vielen geächteten Splittergruppe an, die sich überwiegend aus dem Bildungsbürgertum rekrutierte.249 Konform mit der Haltung des VnJ grenzte Mimi Borchardt sich scharf gegen Ostjuden ab, was allerdings auch die meisten liberalen CV-Mitglieder taten. Ostjuden wurden zur Projektionsfläche dessen, „was die ‚hochkultivierten‘ deutschen Juden nicht sein wollten – kulturell und wirtschaftlich rückständig, ungebildet und in ihrem Verhalten auffällig“.250 Die deutschen Juden reagierten „auf den kulturellen Habitus der Ostjuden mit Scham (…), da sie den eigenen als relativ gefestigt erlebten Status in der deutschen Gesellschaft nicht verlieren wollten“.251
2.2 Der Krieg und die Ägyptologen Für die Ägyptologenschaft bedeutete der Erste Weltkrieg eine tiefgreifende und sich langfristig auswirkende Zäsur. Über Jahrzehnte gewachsene international angelegte, kollegial-freundschaftliche Beziehungen wurden unterbrochen, teilweise zerstört, internationale Kooperationen für etliche Jahre weitgehend unmöglich. Die deutschen Ägyptologen mussten sich zwangsläufig auf philologische Interessen konzentrieren, da Grabungsmöglichkeiten nicht mehr b estanden. Das 248 Stellvertretender Vorsitzender des VnJ war Siegfried Breslauer, Herausgeber des „Berliner Lokalanzeiger“, der zum Hugenberg-Imperium gehörte. Peter Pulzer: Jews, 2006, S. 234 f. Angesichts der radikalen Anschauungen des VnJ konnten Auseinandersetzungen mit dem CV, vor allem die ‚jüdische Identität‘ betreffend, nicht ausbleiben. Naumann warf dem CV vor, eine „Zwischenschicht“ zwischen deutschem Patriotismus und Zionismus darzustellen. Daraus entwickelte sich eine scharfe Auseinandersetzung zwischen dem Generalsekretär des CV, Ludwig Holländer, und Naumann. Ersterer weigerte sich, in der CV Zeitschrift ‚Im deutschen Reich‘ einen Artikel Naumanns zu veröffentlichen, was diesen zu einer Veröffentlichung in der DVP-nahen ‚Kölner Zeitung‘ bewog. Letztere kann als Manifest des VnJ angesehen werden. Peter Pulzer: Jews, 2006, S. 234. 249 Vgl. dazu ausführlich Matthias Hambrock: Die Etablierung, 2003. 250 Anna Michaelis: Ostjuden, 2013, S. 155. 251 Anna Michaelis: Ostjuden, 2013, S. 155 f.
2.2 Der Krieg und die Ägyptologen
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deutsche archäologische Institut in Kairo existierte nur noch virtuell, stand unter von George Reisner geführten amerikanischen Aufsicht und war für deutsche Ägyptologen nicht mehr zugänglich. Freiwilliger- und unfreiwilligerweise geriet die deutsche ebenso wie die internationale Ägyptologie in den Sog politischer Auseinandersetzungen, polarisierte sich zusätzlich aufgrund unterschiedlicher politischen Haltungen. Dem Diktum Adolf Ermans (1854–1937)252 entgegen, dass „Wissenschaft und Kunst, Religion und Humanität über den Zeiten und über den Völkern stehen“,253 also unpolitisch zu sein hätten, bewirkte der Erste Weltkrieg Gegenteiliges und schuf fast unüberbrückbare Distanzen. Gewollt waren diese nicht immer, zumal nicht von dem Berliner Ägyptologen Erman. Jahrzehntelang bildete er das Zentrum der philologisch ausgerichteten Ägyptologie, war Lehrer der prominentesten Ägyptologen unterschiedlicher Herkunft und zugleich ihr wichtigster Förderer. Deutsche und nicht-deutsche Ägyptologen suchten seinen Rat und die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit ihm, teils unter Inkaufnahme längerer Reisen nach Berlin. Im Zentrum stand dabei das von Erman 1897 initiierte Projekt ‚Wörterbuch der ägyptischen Sprache‘, wobei Erman zugleich als Leiter der Wörterbuchkommission fungierte, also auch Ludwig Borchardts Arbeit in Ägypten dirigierte. Tatsächlich gingen Ermans Beziehungen auch zu seinen nicht-deutschen Kollegen häufig über den wissenschaftlichen Austausch hinaus, bedeuteten zugleich enge Freundschaften. Dies zeigte sich etwa daran, dass der britische Ägyptologe Walter Ewing Crum der Pate von Ermans ältestem Sohn Peter war, der amerikanische Ägyptologe James Breasted von Sohn Henri.
2.2.1 Die Deutschen Wie dargestellt verfolgte Ludwig Borchardt das kriegerische Geschehen von Beginn an mit großer Begeisterung, war vom Sieg Deutschlands überzeugt. Mit 252 Studierte Ägyptologie in Leipzig unter Ebers und in Berlin, wo er von Lepsius unterstützt wurde. Begann seine Arbeit an der Universität Berlin 1881; seine ersten Schüler waren Georg Steindorff und Ulrich Wilcken. Bei ihm studierten u. a. Gardiner, Crum, Reisner, Breasted, Ransom-Williams, Jéquier. Ab 1885 Direktor der Ägyptischen und Assyrischen Abteilung des Berliner Museums; ordentliche Professur in Berlin 1892–1923. Seit 1884 verheiratet mit Käthe d’Heureuse (1862–1943). Erman war der einflussreichste Ägyptologe seiner Zeit (‚Berliner Schule‘), auch wegen seiner Initiierung des „Wörterbuchs der ägyptischen Sprache“ und seines Vorsitzes in der Wörterbuch kommission ab 1897. Letztere überwachte die Tätigkeit von LB in Ägypten (ab 1892). Who-was-Who, 2012, S. 180 f. Vgl. v. a. Thomas L. Gertzen: École, 2013. 253 Erman an Eduard Meyer, 3. April 1916. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften. Aktenarchiv. Nachlass Eduard Meyer Nr. 328.
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dieser Überzeugung stand er auch in seinem Kollegenkreis nicht allein. Sein ihm wohl am nahestehendster Freund, Otto Rubensohn, Leiter des Hildesheimer Pelizaeus Museums und Ehemann von Mimi Borchardts Cousine Friedel Oppler, äußerte sich Anfang August 1914 begeistert von der „Vehemenz, mit der der deutsche Stoß beginnt“ und der „unheimlichen Ruhe und Sicherheit der Mobilisation“.254 In diese Begeisterung mischten sich jedoch auch Bedenken, ob Deutschland nicht doch zu „viele Feinde“ habe. Doch wollte Rubensohn trotz des über Deutschland hereingebrochenen „furchtbaren Geschicks“ „mutig und zuversichtlich“ sein.255 Dieser Mut speiste sich auch daraus, dass er nicht eingezogen, sondern zum Leiter des Hildesheimer Roten Kreuzes bestimmt worden war. Erhebende Gefühle überkamen ihn angesichts der ausreisenden Reservisten und Aktiven, „alle gleich begeistert, mutig und erfolgsgewiss“. Alle Menschen seiner Umgebung seien eines „Sinns und Zorns über den aufgezwungenen Krieg und stolz auf das wunderbare Ineinandergreifen der Organisation. (…) Und alle voll Vertrauen auf den Feldherrn, auf Graf Haeseler,256 der vorgestern im Zeppelinschiff Hansa über Hildesheim257 hinweg geflogen ist mit Richtung nach Belgien“. Dass der Krieg als deutscher Verteidigungskrieg zu betrachten war und der Überfall auf Belgien gerechtfertigt, stand für Rubensohn offenbar außer Frage. Wie viele Nicht-Aktive suchte er Begründungen für seine nicht direkte Beteiligung am Krieg, fand sie in seiner Ehefrau und der nur wenige Tage alten Tochter Käte. Ohne diese beiden wäre er „längst im Glied“. Die Kriegsbegeisterung verflog rasch, als Rubensohn Anfang Dezember 1914 in Richtung Belgien und Nordfrankreich ausrücken musste, allerdings nur für eine knapp zweiwöchige „Expedition“.258 Bestens ausgerüstet, wie für eine „große Expedition“, machte er sich auf den Weg, eine Ehefrau zurücklassend, die von „furchtbarem Entsetzen“ und „wahnsinniger Angst“ gepackt war.259 Im Nachhinein erwiesen sich die Ängste als unbegründet, denn Rubensohn hielt sich weit entfernt von jedem Kriegsgeschehen auf, genoss anregende Gespräche und interessante Begegnungen, kehrte schließlich unversehrt und weiterhin zuversichtlich nach Hildesheim zurück.260 Wenig später schüttelten die kleine Familie ganz andere Sorgen; Rubensohn war
254 O. Rubensohn an MB, 5. August 1914. SIK MB 76/9. 255 O. Rubensohn an MB, 6. August 1914. SIK MB 76/9. 256 Gottlieb von Haeseler (1836–1919), preußischer Generalfeldmarschall. 257 Fotografie dieses Überflugs, aufgenommen von Th. Reinhard (Hildesheim). 258 F. Oppler-Rubensohn an MB, 2. November 1914. SIK MB 47/7. 259 Seine Eltern versorgten ihn mit diversen Wollsachen und pelzgefütterten Westen, die Ehefrau mit Lebensmitteln für 14 Tage, Zigaretten, Wein, Medikamenten. F. Oppler-Rubensohn an MB, 7. Dezember u. 11. Dezember 1914. SIK MB 49/7. 260 F. Oppler-Rubensohn an MB, 19. Dezember 1914. SIK MB 49/7.
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gezwungen, Hildesheim zu verlassen und sich nach einer neuen Arbeitsstelle umzusehen.261 Mag sein, dass Rubensohn sich von der Kriegsbegeisterung Borchardts mitreißen ließ. Im Gegensatz zu etlichen andern Wissenschaftlern262 war er aber wenig gewillt, selbst in den Krieg zu ziehen bzw. in unmittelbarer Nähe von kriegerischen Geschehen aktiv zu werden, was im tatsächlich erspart blieb. Weniger Grenzen kannte die Kriegsbegeisterung bei andern Wissenschaftlern und Bekannten Borchardts, etwa bei dem Berliner Althistoriker und Ägyptologen Eduard Meyer, der zu dem engeren Bekanntenkreis und mehrfachen Besuchern Borchardts in Kairo zählte.263 Nicht nur wegen seiner Funktion als Rektor der Friedrich-Wilhelm Universität Berlin, sondern auch aus freundschaftlichen Gründen stand Meyer mit Adolf Erman in stetem Kontakt.264 Gleichzeitig pflegte er vor dem Krieg enge Beziehungen zu etlichen nicht-deutschen Ägyptologen, beispielsweise dem Amerikaner James Breasted (1865–1935),265 den er wahrscheinlich während dessen Studium in Deutschland kennenlernte. Trotz seiner gefeierten USA-Besuche 1904 und 1909/10 wandte Meyer sich nach Ausbruch des Krieges rasch, von der amerikanischen Politik enttäuscht und erbittert, von den USA ab. Denn entgegen seinen Erwartungen betrieb der amerikanische Präsident Wilson, früherer Präsident der Princeton-Universität, zwar eine Neutralitätspolitik, die aber Waffenlieferungen an die Alliierten einschloss. Insbesondere die Harvard Universität wandte sich deutlich gegen Deutschland, was Meyer zu einem geharnischten Artikel veranlasste.266 Zur Harvard’schen Sichtweise bekannte sich 261 Ihm wurde ein sexueller Übergriff auf eine Mitarbeiterin des Roten Kreuzes zur Last gelegt. Interventionen seitens LB und Pelizaeus fruchteten nicht, Rubensohn wurde entlassen, verzog nach Berlin und arbeitete Jahre später als Lehrer an einem Gymnasium. 262 Der Orientalist Enno Littmann schrieb am 20. September 1914 an Eduard Meyer, er wolle sich „so gern für das Vaterland betätigen“. Er habe arabische und englische Manifeste verfasst „und auf Umwegen in jene Länder geschafft (d. h. das englische nach Amerika)“. „Bei der Landsturmmusterung wurde ich zuerst zu den Leuten ohne Waffen gestellt, dann reklamierte ich und wurde der Infanterie zugewiesen. Aber es ist noch unsicher, wann wir ausgebildet werden.“ Staatsbibliothek zu Berlin-Preußischer Kulturbesitz. Handschriftenabteilung. Nachlass 213 (Eduard Meyer), Kasten 3. 263 Belegt durch im SIK vorhandene Fotos von Meyer mit seiner Ehefrau im Borchardt’schen Garten. 264 Meyer und Erman duzten sich und sprachen sich brieflich mit „Lieber Freund“ an. Vgl. Briefwechsel Meyer-Erman in: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften. Aktenarchiv. Nachlass Eduard Meyer; UBB NLE Meyer. 265 Amerikanischer Ägyptologe, arbeitete zunächst als Pharmazeut, studierte dann in Chicago und an der Yale Universität, danach in Berlin Ägyptologie bei Erman (Promotion dort 1894), Mitarbeiter am Berliner „Wörterbuch“ 1900–1904, Ägyptologe in Chicago, zahlreiche Reisen nach Ägypten zu Forschungs- und Grabungszwecken. Who-was-Who, 2012, S. 78 f. 266 Mortimer Chambers: Meyer, 1990, S. 123.
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allerdings auch der amerikanische Ägyptologe und Freund Borchardts, George Reisner. Hintergrund von Meyers Vorstoß war, dass der deutschstämmige Kongressabgeordnete Richard Bartholdt (1855–1932) 1915 zu einer Protestkundgebung gegen die Wilson’sche Politik und zur Neukonstituierung der amerikanischen Neutralitätspolitik aufgerufen hatte. Unterstützung erwartete er besonders von dem aus Kiel stammenden, in Harvard lehrenden Kuno Francke (1855–1930), der sich der Aufforderung mit der Begründung entzog, er sehe sich zur Loyalität mit den USA und der Wilson’schen Politik verpflichtet. Meyer brachte die Position Harvards derart in Rage, dass er jeden wissenschaftlichen Austausch mit Nord-Amerika für „jetzt und für alle Zukunft“ ablehnte.267 Von seiner Sichtweise, dass Deutschland einen Verteidigungskrieg führte, ähnlich den antiken kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Rom und Griechenland, rückte Meyer auch nicht ab, nachdem sein Sohn im April 1915 den Tod auf den Schlachtfeld von Ypres gefunden hatte, „setzte sich für deutsche Annexionen in Ost und West sowie für den deutschen U-Boot-Krieg ein“, Überzeugungen, wie sie sich auch bei Ludwig Borchardt fanden.268 Auch Kondolenzbriefe seitens amerikanischer Kollegen ließen Meyer nicht an seiner politischen Haltung zweifeln, obwohl er zumal James Breasted, bei dem er 1910 eine Zeitlang gewohnt hatte, sehr nahe stand. Als dieser 1922 erstmals seit 1907 wieder nach Berlin kam, lehnte Meyer ein Treffen mit ihm ab. Erst ein zufälliges Zusammentreffen bei der Schiffsüberfahrt nach Ägypten, 1925, brachte die beiden Männer wieder einander näher.269 Meyers Konfrontation mit der internationalen Wissenschaft ging so weit, dass er eine Reihe von nicht-deutschen Ehrentiteln zurückgab, nicht allerdings den Ehrendoktor der Universität Chicago.270 In seinem überzeugten Deutschtum und Festhalten an der Monarchie fand Meyer zumindest in Ludwig und Mimi Borchardt Gleichgesinnte, eingeschränkt in dem Leipziger Ägyptologen Georg Steindorff, der den Krieg auch als „bange, unfrohe Zeit“ empfand, aber dennoch meinte, Erman müsse froh darüber sein, dass auch sein zukünftiger Schwiegersohn als Freiwilliger „ins Feld“ rückte.271
267 Mortimer Chambers: Meyer, 1990, S. 124. 268 Jürgen von Ungern-Sternberg: Politik und Geschichte, 1990, S. 484–504. Laut Information von Cornelius von Pilgrim belegen im SIK vorhandene Unterlagen, dass LB sich intensiv mit dem U-Boot Krieg befasste, demnach ebenso dessen Befürworter war wie der Berliner Alt-Philologe v.Wilamowitz-Moellendorf. 269 Mortimer Chambers: Meyer, 1990, S. 125. Das Ehepaar Meyer verbrachte den größten Teil seines Ägyptenaufenthalts mit LB und MB. SIK MB 71/2. 270 Mortimer Chambers, Meyer, 1990, S. 127. 271 Steindorff an Erman, 26. August 1914. UBB NLE Steindorff.
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Wenig später meldete sich Ermans Sohn Peter ebenfalls freiwillig zum Kriegsdienst. Steindorffs Sohn Ulrich wurde eingezogen – auf den Militärdienst leistenden Sohn war der Vater gewaltig stolz-,272 wegen eines Fußleidens aber zunächst ‚nur‘ zum Landsturm, obwohl er sich an verschiedenen Stellen als Freiwilliger gemeldet hatte. Währenddessen half Ulrichs Ehefrau Marguerite ihrer Schwiegermutter Elise und Schwägerin Hilde bei der Beköstigung durchreisender Soldaten. Die Ägyptologen Burchardt und Kees waren „im Felde“, Kühn war bei den Grenadieren in Dresden. Steindorffs Neffe Peter Heinz, Sohn von Richard und Paula Dehmel, war als Kriegsfreiwilliger bei den Leibhusaren, schrieb begeistert, dass er sehr bald als Meldereiter im Westen eingesetzt werde. Von August Fischer, der sich bei Ausbruch des Krieges in Marokko aufhielt, fehlte noch jede Spur. Man befürchtete, dass er in französische Kriegsgefangenschaft geraten war.273 Für Steindorff rückten angesichts des Krieges ägyptologische Themen in den Hintergrund, auf unabsehbare Zeit hielt er sämtliche Grabungspläne sowieso für „begraben“, was ihn nicht sonderlich bekümmerte und weshalb er Sieglin raten wollte, sein Geld besser „dem armen Ostpreußen“ als den „nubischen Beduinen“ zukommen zu lassen. Dass wissenschaftliche Interessen zu Kriegsbeginn in den Hintergrund traten, lässt sich auch bei andern deutschen Ägyptologen feststellen. Ihre vorherigen Zerwürfnisse beiseite legend, pflegten auch Heinrich Schäfer und Adolf Erman wieder engere Beziehungen zu Ludwig Borchardt, Schäfer meinte gar, sich bei Borchardt entschuldigend äußern zu sollen, was Borchardt zunächst eher als „Waffenstillstand“ deutete.274 Auf ein derartiges Verhalten von Steindorff wartete Borchardt zwar noch, ehe er ihn ‚amnestieren‘ wollte, doch waren die vorherigen Querelen im Kontext des archäologischen Instituts in Kairo zunächst nicht mehr von großer Bedeutung.275 Ähnlich in Kriegsbegeisterung schwelgend wie Borchardt stellte sich Schäfer beim Zweiten Garde Regiment als Ausbilder zur Verfügung, Georg Möller leistete Wachdienste bei der Bahn, Borchardts Bruder Georg musste sich beim Landsturm melden.276 Im Ägyptischen Museum wurde auf Veranlassung Borchardts eine Karte aufgehängt, auf der mit Fähnchen die
272 Am 17. Januar 1907 schrieb Steindorff, seinen Sohn betreffend, an Erman: „Am 1. April tritt er dann beim Militär ein. Er hat sich gestern gestellt und ist tauglich befunden worden; der erste unseres Geschlechts, der seit den Tagen der Makkabäer eine Waffe führt!“. UBB NLE Steindorff. 273 Tatsächlich war er für kürzere Zeit in englischem Gewahrsam. Ludmila Hanisch: Die Nachfolger, 2003, S. 79. 274 LB an MB, 23. u. 27. August 1914. SIK MB 33/5. 275 LB an MB, 27. August 1914. SIK MB 33/5. 276 LB an MB, 24. u. 25. August 1914. SIK MB 33/5.
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Kriegszüge der Deutschen gekennzeichnet wurden.277 Borchardt sorgte sich um die Deutschen in Japan, zürnte Dernburg „(jüdische Voreltern)“, Oskar Münsterberg „(getaufter Jude)“ und dem Verwandten seiner Ehefrau, Jakob Schiff „(so gut wie 6)“.278 Letzterer hatte sich zwar nie deutschfeindlich geäußert, aber dennoch für die Entente und amerikanische Interessen Partei ergriffen, was letztlich zum Bruch zwischen ihm und dem Ehepaar Borchardt führte. Obwohl er von der Berechtigung des deutschen „Verteidigungskrieges“ überzeugt war, stellte Georg Steindorff sich Fragen wegen der Zukunft der deutschen Ägyptologie. Es stand für ihn außer Frage, dass bezüglich des deutschen Instituts in Kairo eine definitive Entscheidung gefällt werden sollte, vor allem, weil die Missstimmung gegen Borchardt „ganz allgemein“ sei.279 Die Wörterbuchkommission sollte die Fürsorge für das Institut ebenso aufgeben wie Borchardt seine Leitungsposition. Derlei Überlegungen meinte er dennoch angesichts des Krieges für „Kinkerlitzchen“ halten zu sollen, mit denen er sich nicht länger befassen wollte. Ähnlich wie Borchardt konzentrierte er seinen „ganzen Hass gegen England“ und dessen unbeschreibliche „Infamie“, obwohl es ihm schwer fiel, sich von den „englischen Freunden loszusagen“ – „aber es muss sein – ‚Die Sinne sind in ihren Banden noch. Hat gleich die Seele blutend sich befreit‘“.280 So focht Steindorff auf seine Weise einen ähnlichen Kampf mit sich aus wie Reisner in Kairo, zerrissen zwischen der Loyalität mit langjährigen Freunden und dem Herkunftsland. Doch war die Stimmung an der Universität Leipzig derart bestimmt von Diskussionen über das Kriegsgeschehen und Kriegsbegeisterung, dass auch Steindorff einer der 165 von insgesamt 244 Lehrenden der Universität Leipzig war, die die „Erklärung der Hochschullehrer des Deutschen Reiches“ vom Oktober 1914 unterzeichneten.281 Ludwig Borchardt gehörte weder zu den Unterzeichnern des Manifests der 93 noch jenes der Hochschullehrer vom Oktober 1914. Er war wohl wenig gewillt, den öffentlichen Bekundungen der „Professoren“ Beifall zu zollen, obwohl er das Vorgehen des deutschen Militärs in Belgien begrüßte und rechtfertigte. Doch wollte er dem „deutschen Professor“ nicht „zu viel Ehre“ zukommen lassen, sondern das siegreiche militärische Vorgehen eher „wie bei Königgrätz“ dem „deutschen Schulmeister, ob er nun Dorfschul- oder Gemeindeschullehrer oder
277 LB an MB, 25. August 1914. SIK MB 33/5. 278 LB an MB, 27. August 1914. SIK MB 33/5. 279 Steindorff an Erman, 26. August 1914. UBB NLE Steindorff. 280 Zitiert aus Friedrich Schiller: Wallenstein, Kap. 13, 2. Aufzug, 1. Auftritt (Max Piccolomini zu Wallenstein). Anstelle von „deinen“ schrieb Steindorff „ihren“. Zu dieser Zeit ließ Erman sich von Frau Wentscher porträtieren. 281 Ulrike Gätke-Heckmann: Universität Leipzig, 2005, S. 153.
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gar Unteroffizier heißt“, zuschreiben. Denn diese ermöglichten erst das „Zusammenarbeiten von Führern und Geführten“.282 Den öffentlichen Bekundungen der deutschen Bildungselite stand er eher distanziert gegenüber. Im Gegensatz zu Steindorff hielt Borchardt auf verschiedenen Wegen Kontakt zu Ägypten, gab die Idee eines dortigen deutschen Instituts nicht auf.283 Dagegen ließ Steindorff sich nur widerwillig mit ägyptologischen bzw. wissenschaftspolitischen Themen konfrontieren, etwa dadurch, dass der Ägyptologe Friedrich von Bissing anregte, die deutschen Grabungsstätten „irgendwie unter Schutz“ stellen zu lassen.284 Dass die deutschen bzw. die Borchardt’schen Grabungsstätten unter den Schutz Reisners gestellt worden waren, war Steindorff im Gegensatz zu Erman nicht bekannt, aber durchaus recht, weil ohnehin niemand wissen könne, „was der Krieg uns bringen wird“. Ob die Deutschen danach überhaupt noch „Lust haben werden, in Ägypten zu graben, und ob es sich überhaupt noch lohnen wird, ein ägyptisches Institut oder ein Generalkonsulat dort zu haben“, stellte Steindorff in Frage. Viel mehr Interesse als an dem „ägyptischen Quark“ hatte er an den Geschehnissen in „Flandern und Polen“, sah aber ein, dass man sich zugunsten der Kriegsheimkehrer auch um die „wissenschaftlichen Dinge“ kümmern musste. Wirklich belastend waren die Sorgen um die Söhne und Schwiegersöhne. Ulrich Steindorff befand sich wochenlang mit einem Leipziger Lazarettzug in Gnesen, erwartete täglich den Weitertransport nach Russland, hielt sich ab Mai 1915 in Berlin auf, war vorläufig „zurückgestellt“ und schon längst zu einem Kriegsgegner geworden.285 Schwiegersohn Franz Hemer286 war ebenso im kriegerischen Geschehen wie Ermans Sohn Peter und die Schwiegersöhne, was auch deshalb zu permanenten Ängsten Anlass gab, weil nicht nur Eduard Meyers Sohn, sondern auch sein Schwiegersohn den Tod gefunden hatte. So wurde der Krieg für Steindorff zunehmend zu einem „Schrecken“. Von seinen Feindbildern rückte er jedoch nicht ab, wie sich an seiner höchst verärgerten Reaktion auf einen in der „Egyptian Gazette“ veröffentlichten, von seinem amerikanischen 282 LB an MB, 30. August 1914. SIK MB 33/5. 283 Vermitteln über das AA und über die Schweiz ließ LB Botschaften an Reisner senden. LB an MB, 31. August 1914. SIK MB 33/5. 284 Steindorff an Erman, 4. Dezember 1914. UBB NLE Steindorff. 285 Dies führte zeitweise zu tiefen Zerwürfnissen zwischen Vater und Sohn. In den 1920er Jahren wanderte Ulrich mit seiner Ehefrau in die USA aus, arbeitete u. a. als Drehbuchautor. Steindorff an Erman, 1. Juni 1915. UBB NLE Steindorff. Sandra Müller: Steindorff, 2012, S. 19. 286 Cellist, ab 1914 Ehemann von Hilde Steindorff. 1920 Geburt des Sohnes Klaus, 1923 von Thomas, 1931 von Rolf. 1926 ermöglichte Georg Steindorff seinem Schwiegersohn „den Einstieg in die Geschäftswelt des Leipziger Brühl, einer Drehscheibe des internationalen Pelzhandels“. Das Unternehmen florierte. Sandra Müller: Steindorff, 2012, S. 21 f.
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Kollegen George Reisner verfassten Artikel zeigte. „Wissenschaftlich“ hielt er Reisner für „sehr gescheit“, ansonsten aber für „betrüblich ungebildet, politisch (im historischen Denken)“ sogar für „kindlich“. Dies leitete er auch ab von Reisners Begeisterung anlässlich einer von Roosevelt in Kairo gehaltenen Rede, in der Steindorff lediglich ein „plattes Elaborat“ sah, womit Reisner sich aber von diesem „amerikanischen Charlatan“ habe „einfangen“ lassen. Für Unmut sorgte auch Alan Gardiner, über den Steindorff Bedenkliches glaubte gehört zu haben.287 Als noch unerfreulicher empfand er einen „unerquicklichen Brief“ seines Schweizer Kollegen Naville, der sich als Neutraler mit einem „unabhängigen Urteil“ aufspiele, tatsächlich aber „antideutsch“ urteile. „Bekehren“ wollte Steindorff den Kollegen nicht, ihn auch nicht daran erinnern, dass Deutschland noch ebenso ein Kulturvolk darstelle wie 1870, ein Volk, dessen Freund Naville damals gewesen sei.288 Tatsächlich gehörte Edouard Naville zu jenen Schweizer Wissenschaftlern, die erzürnt und erschrocken waren über den am 4. Oktober 1914 veröffentlichten Aufruf „An die Kulturwelt“, der von 93 prominenten Vertretern des deutschen Geisteslebens, jedoch nicht von Georg Steindorff, unterzeichnet wurde. Dieses Manifest habe den deutschen Intellektuellen sehr geschadet und sei ein „coup terrible à la science allemande“, so Naville an Steindorff, der darauf erwiderte, er schätze die „Leistungen der französischen und englischen Wissenschaft noch ebenso hoch, wie ich es je getan habe, wenn sich auch viele Gelehrte der feindlichen Länder mit ähnlichen Erklärungen wie die der 93 kompromittiert haben“.289 Kurz vor Kriegsende distanzierte sich Steindorff von der auch von ihm unterzeichneten „Erklärung der Hochschullehrer des Deutschen Reiches“ vom 16. Oktober 1914, eine „Erklärung“, zu der sich über 4000 deutsche Hochschullehrer per Unterschrift bekannten, die in deutscher, englischer, französischer, italienischer und spanischer Sprache verbreitet wurde und die eine teils sehr empörte Reaktion nicht-deutscher Wissenschaftler hervorrief. Besonderes Missfallen erregte nicht nur die Rechtfertigung völkerrechtswidrigen Verhaltens Deutschlands und die Interpretation des Krieges als deutscher Verteidigungskrieg, sondern auch die erkennbare Überheblichkeit, die aus dem abschließenden Satz „Unser Glaube ist, dass für die ganze Kultur Europas das Heil an dem Siege hängt, den der deutsche ‚Militarismus‘ erkämpfen wird, die Manneszucht, die Treue, der 287 Steindorff an Erman, 20. November 1915. UBB NLE Steindorff. 288 Die im Krieg befindlichen Angehörigen waren auch im Februar 1916 noch unversehrt. Steindorff an Erman, 23. Februar 1916. UBB NLE Steindorff. 289 Zitiert nach: Jürgen von Ungern-Sternberg, Wolfgang von Ungern-Sternberg: Der Aufruf, 1996, S. 85. Steindorff hatte Eduard Meyer von dem Schreiben Navilles am 24. März 1915 berichtet und diesem am 12. Oktober 1916 geantwortet.
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Opfermut des einträchtigen freien deutschen Volkes“ sprach.290 Als Hauptfeind Deutschlands wurde England benannt, das unterscheiden wolle zwischen dem „Geiste der deutschen Wissenschaft und dem, was sie den preußischen Militarismus nennen“, eine Differenzierung, die die Unterzeichner des Aufrufs ablehnten. Denn diese ‚zwei Deutschland‘, nämlich das geistige Goethe‘scher und das militaristische Bismarck’scher Prägung, existierten nicht. Vielmehr bestehe eine Einheit von „deutschem Heer, deutschem Volk und deutscher Wissenschaft als Erscheinungen ein- und desselben, dem Preußentum innewohnenden Geistes“.291 Als Anreger und Verfasser der „Erklärung“ firmierte der Berliner Altphilologe Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf (1848–1931) in Zusammenarbeit mit Eduard Meyer. Laut Meyer wollten die Hochschullehrer mit der Erklärung „gegen die alberne, aber im Ausland allgemein geglaubte Behauptung Stellung nehmen, als sei in Deutschland auch nur der geringste Gegensatz zwischen Militär und Volk und herrsche eine ‚militärische Clique‘ (‚Potsdam‘), die uns den Krieg aufgezwungen habe“.292 Meyer rechnete mit Tausenden von Unterschriften, die tatsächlich kamen. Zu den Unterzeichnern gehörten neben Steindorff auch Adolf Erman, Günther Roeder, Kurt Sethe, Uvo Hölscher, Gotthelf Bergsträsser, Friedrich von Bissing und Wilhelm Spiegelberg sowie Eduard Meyer, Hermann Cohen und Hermann Jacobsohn. Die Verlautbarung der Hochschullehrer war dem von dem Frankfurter (auch der Familie Eduard Cohen bekannten) Literaten Ludwig Fulda formulierten Aufruf „An die Kulturwelt!“ gefolgt,293 mit dem 93 deutsche Kulturschaffende, darunter Max Liebermann, Peter Behrens, Max Reinhardt und Steindorffs ehemaliger Schwager Richard Dehmel, auf die weltweite Empörung über den deutschen Überfall auf das neutrale Belgien und die dort von deutschen Truppen verübten Gräueltaten reagierten. Die Unterzeichner versicherten, Deutschland gehöre nach wie vor zu den Kulturnationen und habe sich keiner Vergehen schuldig gemacht. Dass diese Bekundung wider besseres Wissen erfolgte, zeichnete schon am 8. Oktober 1914 Theodor Wolff, Chefredakteur des „Berliner Tageblatt“ und Mitbegründer der „Deutschen Demokratischen Partei“, auf.294 Diese Kundgebungen seien nicht nur unwirksam, schrieb er, sondern zeugten auch von Unkenntnis etwa über „überflüssige Gewaltakte, sinnlose Erschießungen von Geiseln
290 Zitiert nach: https://de.wikisource.org/wiki/Erklärung_der_Hochschullehrer_de. 291 Bernhard vom Brocke: Wissenschaft, 1985, S. 654. 292 E. Meyer an Ehefrau Rosine, 18. September 1914. Staatsbibliothek Berlin-Preußischer Kulturbesitz. Handschriftenabteilung, Nachlass 213, Kasten 2. 293 Entworfen wurde der „Aufruf“ von Ludwig Fulda, überarbeitet von H. Sudermann und dem Berliner Bürgermeister Georg Reicke. 294 Theodor Wolff: Tagebuch, 2008, S. 86–87.
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etc.“. Für Wolff war es völlig unverständlich, „dass die ersten ‚Denker‘ Deutschlands Bürgschaft dafür leisten wollen, dass in einem solchen Kriege alles gerecht und ordnungsgemäß zugegangen (…), keine Brutalität vorgekommen sei“. Der Krieg mache offenbar auch diese Personen kritiklos, veranlasse sie zu „schwammiger Gedankenlosigkeit“. Die Unterzeichner des Aufrufs aber versuchten, das in Belgien geschehene Unrecht sogar moralisch zu rechtfertigen.295 Tatsächlich hatte der „Aufruf“ erhebliche Auswirkungen, auch weil er in zahlreichen Privatbriefen in neutrale Länder versandt wurde. Jahrzehntelang gepflegte internationale wissenschaftliche Zusammenarbeiten wurden aufgekündigt, von französischer, amerikanischer und englischer Seite erfolgten Gegenaufrufe, die auf die von den Unterzeichnern der deutschen Aufrufe postulierte „Identität von Kultur und Barbarei“ abhoben. Besonders heftige Reaktionen erfolgten aus Frankreich, eher abgewogene aus England, etwa des Oxforder Klassischen Archäologen Percy Gardner, Mitglied der Göttinger und der Berliner Akademie der Wissenschaften, der erklärte, am meisten der deutschen Bildung zu verdanken zu haben.296 Der angesehene Oxforder Hellenist Gilbert Murray erkannte trotz aller Kritik an Deutschland seinem deutschen Kollegen Wilamowitz-Moellendorf den Rang eines „in Deutschland seltenen Gelehrten zu, welcher die besten Eigenschaften beider Gelehrtenwelten in sich vereinigt“.297 Noch lange nach Kriegsausbruch hielt er brieflichen Kontakt zu seinem deutschen Kollegen.298 Doch nahm auch bei britischen Wissenschaftlern im Lauf des Krieges die negative Kritik an Deutschland zu. Auch in den USA löste der Aufruf erhebliche Verwirrung aus. Zahlreiche amerikanische Wissenschaftler hatten seit dem 19. Jahrhundert in Deutschland studiert, den Professorenaustausch zwischen den Ländern gefördert. So erstaunte es nicht, dass der Ägyptologe Breasted, der einige Jahre bei Erman in Berlin studiert hatte, engen Kontakt auch zu dem Althistoriker Eduard Meyer pflegte, diesem ebenso wie Erman verständnisvolle Briefe schrieb. Sogar den deutschen Einmarsch in Belgien glaubte er rechtfertigen, die die USA erreichenden Meldungen für üble Propaganda der Alliierten halten zu müssen.299 An Meyer schieb er einen
295 Bernhard vom Brocke: Wissenschaft, 1985, S. 661. 296 Bernhard vom Brocke: Wissenschaft, 1985, S. 671. 297 Bernhard vom Brocke, Wissenschaft, 1985, S. 673. 298 Wilamowitz-Moellendorf unterrichtete Murray 1915, dass sein Sohn im März 1915 gefallen war. Er erinnerte sich an Oxford, das er 1908 zusammen mit seiner Ehefrau besucht und wo er sehr herzliche Aufnahme gefunden hatte, als ein ‚verlorenes Paradies‘. George Huxley: Wilamowitz, 1985, S. 539. 299 Am 2. November 1914 an Meyer, nach: Jürgen von Ungern-Sternberg, Wolfgang von UngernSternberg: Der Aufruf, 1996, S. 86 f.
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„warmherzigen Brief“, in dem er versicherte, dass Deutschland sich „heldenmütig und mit glänzendem Erfolg gewehrt“ hatte, was er beruhigt aufnahm. Auch für den deutschen Einmarsch in Belgien hatte er Verständnis, warf den Alliierten vor, die „Amerikaner vollständig zu verführen“, wobei er selbst sich aber nicht täuschen lasse.300 Andere, auch deutschstämmige amerikanische Wissenschaftler, sahen die Rolle Deutschlands und auch Österreichs weit kritischer und eher negativ, was sie ihren deutschen Kollegen kommunizierten.301 Auf Seiten der neutralen, vor allem kleineren Staaten erregte der ‚Aufruf‘ deutliche Abwehr, mussten sie doch ein ähnliches Schicksal wie Belgien befürchten. Diesen Befürchtungen lieferte Eduard Meyer mit seinen Verlautbarungen sogar noch Nahrung, indem er beispielsweise Belgien als ein „Gebilde früherer Diplomatie“ bezeichnete, das zu einer „Absurdität“ geworden sei.302 „Kein anderes Manifest des Weltkriegs hat das Ansehen der deutschen Wissenschaft im Ausland (…) mehr diskreditiert als dieser ‚Aufruf‘, der mit der These ‚Es ist nicht wahr, dass Deutschland diesen Krieg verschuldet hat‘ begann und für dessen Wahrheit die Unterzeichner am Schluss mit ihren Namen und mit ihrer Ehre einstanden. Kein Manifest hat so den Chauvinismus der anderen Seite provoziert, ohne dass der gewünschte Erfolg auch nur im geringsten erreicht wurde. Der ungeschminkte Führungsanspruch, mit dem die deutsche Wissenschaft beim Zuwiegen von Kultur und Barbarei in die Waagschale geworfen wurde, das Bekenntnis der ‚Erklärung‘, dass für die ganze Kultur Europas das Heil an dem Siege hängt, den der deutsche ‚Militarismus‘ erkämpfen wird, die im Ausland mit einer Mischung aus Bewunderung und Grauen beobachtete Fähigkeit ihrer deutschen Kollegen zur (gleichsam militaristischen) Organisation einmütiger Bekenntnisse, riefen geballten Widerspruch hervor. Wider ihre Absicht hatten Deutschlands Intellektuelle die Gegner geeinigt.“303 Beide Aufrufe galten bald als Missbrauch wissenschaftlicher Autorität zur Verteidigung politischen Unrechts, als Symbole „des Abdankens der Wissenschaft von der politischen Macht schlechthin“.304
300 Zitiert nach: Jürgen von Ungern-Sternberg, Wolfgang von Ungern-Sternberg: Der Aufruf, 2013, S. 98. 301 Beispielsweise der Anthropologe Franz Boas (Columbia University) an Eduard Meyer am 22. Oktober 1914. Jürgen von Ungern-Sternberg, Wolfgang von Ungern Sternberg: Der Aufruf, 1996, S. 87 f. 302 Zitiert nach: Jürgen von Ungern-Sternberg, Wolfgang von Ungern-Sternberg: Der Aufruf, 2013, S. 107. 303 Bernhard vom Brocke: Wissenschaft, 1985, S. 665 f. 304 Bernhard vom Brocke: Wissenschaft, 1985, S. 681.
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Inhaltlich stimmte auch Ludwig Borchardt den beiden Manifesten zu, wie die Korrespondenz mit seiner Ehefrau ausweist. Auch war der Frankfurter Schriftsteller Ludwig Fulda ihm als einer seiner Besucher in Kairo bekannt. Trotz der Einsicht, mit der Unterzeichnung des Hochschullehrer-Manifests einen Fehlgriff getan zu haben, saßen bei Steindorff Ärger und Bitterkeit so tief, dass sie ihn auch nach dem Krieg noch trugen. Auf Kritik nicht-deutscher Kollegen an Deutschland reagierte er äußerst verärgert, so auf die Bemerkung des dänischen Kollegen H.O. Lange von 1919, dass an eine baldige internationale ägyptologische Integration der Deutschen noch für längere Zeit nicht zu denken sei.305 Noch weit abweisender zeigte sich der Berliner Ägyptologe Heinrich Schäfer, der offenbar über den Krieg hinaus den brieflichen Austausch mit internationalen Kollegen mied. 1921 unterstellte er Norman de Garis Davies, die „brutale“ Wegnahme von Privateigentum in Ägypten als selbstverständlich und die endgültige Schließung des deutschen ägyptologischen Instituts als gegeben hinzunehmen.306 Tatsächlich hatte Davies an Schäfer, der sich auf Borchardts Drängen an den Engländer gewandt hatte, geschrieben, die Sequestrierung der Borchardt’schen Villen nehme er mit Gelassenheit. Denn er habe befürchtet, dass auch deren Inhalt weggenommen würde, was ihn extrem geärgert haben würde. Er zweifelte, ob ein offizieller Protest seinerseits irgendeinen Erfolg haben würde, denn Borchardts Name sei in Ägypten „Anathema“. Vielmehr hoffte Davies, dass das deutsche Institut nicht definitiv geschlossen würde, auch wenn in den folgenden Jahren dort kaum viel gearbeitet werden könne. Von derartigen Problemen wusste man während des Kriegsalltags noch nicht. Steindorff versuchte ihn durch intensives Arbeiten sowie Kümmern um eigene und anderer wissenschaftliche Interessen zu bewältigen, was ihm mitunter schwer fiel. Umso erleichterter nahm er wahr, dass die sich ‚im Feld‘ befindenden Kollegen Hermann Ranke (Heidelberg) und Wilhelm Spiegelberg (Straßburg)307 so wenig 305 Am 2. Dezember 1899 äußerte sich auch Heinrich Schäfer gegenüber Erman sehr positiv über seine gemeinsame Arbeit mit Lange im ägyptischen Museum in Kairo, wohingegen er zunehmend Kritik an LB äußerte, den er von Ägypten ‚abziehen‘ wollte (15. März 1901 an Erman). Bei seinem Aufenthalt in Ägypten, 1912, tauschte er sich wieder intensiv mit LB aus (14. Februar 1912 an Erman). UBB NLE Schäfer. 306 Jedenfalls, wenn das Institut unter der Leitung von LB stünde. Schäfer an Erman, 15. September 1921. UBB NLE Schäfer. 307 Der Ägyptologe Spiegelberg (1870–1930) stammte ebenso wie sein Vetter Max Meyerhof aus Hannover. Er studierte Ägyptologie bei Johannes Dümichen in Straßburg, bei A. Erman in Berlin und bei Gaston Maspero in Paris, wurde 1899 Nachfolger von Dümichen in Straßburg, heiratete dort die Tochter des Pathologen Friedrich Daniel von Recklinghausen. Nach dem Tod seines Vaters (1910), dem Hannoveraner Bankier Eduard Spiegelberg, konvertierte er zum
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betroffen zu sein schienen, dass sie hin und wieder Aufsätze zur Veröffentlichung anbieten konnten.308 Spiegelberg war allerdings nicht als Soldat aktiv, sondern betreute eine Feld-Bibliothek.309 Das Ägyptische Museum in Leipzig eröffnete 1916 seine Ausstellungsräume, die sogar von dem Monarchen besucht wurden. Immerhin spiegelte dies eine Form von Normalität vor. Noch weit mehr hob es Steindorffs Selbstbewusstsein, dass er im Februar 1916 auf Einladung des Oberkommandos der Armee für etwa zehn Tage an die Westfront gehen sollte, um dort vor Offizieren und Mannschaften Vorträge zu halten, entsprechend den 1916 eingeführten Aktivitäten im Rahmen des „Vaterländischen Unterrichts“. Dieses Vorhaben zerschlug sich aus Steindorff nicht bekannten Gründen. Dies war umso niederdrückender, als sich die wissenschaftlichen Arbeiten gezwungenermaßen in immer engerem Rahmen bewegten. Nicht-deutsche Kollegen veröffentlichten nicht mehr in der deutschen ZÄS, sondern schufen eigene Publikationsorgane, was die zunehmende Isolation deutscher Ägyptologen deutlich werden ließ und verstärkte.310 Nöte dieser Art bedrängten die im Krieg befindlichen Ägyptologen kaum, auch wenn sie sich wie Hermann Ranke um ihre berufliche Zukunft und wissenschaftliche Reputation sorgten. Im November 1914 befand er sich mit einer Heereseinheit im lothringischen Lützelberg, hatte zuvor drei Wochen lang in Friedrichshafen „Bahnschutz“ geleistet, eine Funktion, die er auch in Lothringen als „Bahnhofskommandant“ ausübte.311 „Kanonendonner“ hörte er nur von Ferne und wünschte den „Edlen in Engelland“ „ganz gehörige Hiebe“. An vorderster Front musste Ranke nicht kämpfen, wurde auch immer wieder zu „Gaskursen“ nach Berlin geschickt, so im September 1914, als er im dortigen Ägyptischen Museum Schäfer, Pieper und Schubart traf und sich länger mit Ludwig Borchardt unterhalten konnte.312 Von Kampfeshandlungen oder „Heldentaten“ konnte Ranke aus eigener Anschauung nicht berichten.313 Abwechslung im eintönigen Soldatenalltag boten ihm Wanderungen oder Ausritte durch die Vogesen. Sorgenfrei war dieser Soldatenalltag nicht. Rankes jüngerer Bruder lag schwer verletzt in einem Lazarett in Oldenburg, der Sohn seines engsten Freundes war gefallen. Von Mitte rotestantismus, angeregt von seinem Freund Albert Schweizer. 1919 musste er infolge des VerP sailler Vertrags Straßburg verlassen und trat eine a. o. Professur in Heidelberg an, 1923 erhielt er den Lehrstuhl für Ägyptologie an der Universität München. 308 Steindorff an Erman, 23. Februar 1916. UBB NLE Steindorff. 309 Infolge einer Verletzung war er ‚untauglich‘, also nicht zu aktivem Kriegsdienst fähig. 310 Steindorff an Erman, 3. März 1917. Zwar bezeichnete Steindorff als „neue Sorgen“, dass sein Sohn Ulrich wegen Ischias im Lazarett war und sich dort eine Angina zuzog, doch entzog ihn dies dem kriegerischen Einsatz. UBB NLE Steindorff. 311 Ranke an Erman, 2. November 1914. UBB NLE Ranke. 312 Ranke an Erman, 27. September 1914. UBB NLE Ranke. 313 Ranke an Erman, (Mörchingen) 30. Dezember 1915. UBB NLE Ranke.
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September bis Dezember 1917 lag dann auch Ranke ununterbrochen im Schützengraben.314 Von Kollegen hatte er keinerlei Nachrichten. Nur der in der Nähe tätige Spiegelberg korrespondierte regelmäßig mit ihm. Zu klagen wagte Ranke nur indirekt – die „wenigen im Museum verbliebenen Herren“ kämen wohl aufgrund von „Arbeitsfülle“ nicht zu „persönlicher Korrespondenz“, merkte er Erman gegenüber an. Ihm war es trotz längerer Leerlaufzeiten, aber angesichts der täglichen Anspannungen (und fehlender Bibliothek) gänzlich unmöglich, wissenschaftlich zu arbeiten.315 Bitterkeit schlich sich ein, verstärkt dadurch, dass sein Bruder, der Heidelberger Psychiater Otto Ranke, im Krieg gefallen war, sein Bruder Friedrich (1882–1950) nach zweimaliger Verwundung erneut im Osten kämpfen musste. Dennoch zweifelte Ranke lange nicht am deutschen Sieg, zeigte sich noch im Oktober 1917 optimistisch, freute sich über die „herrlichen“ Erfolge im Rigaischen Meerbusen und in Italien, war andererseits äußerst erzürnt über den deutschen Reichstag, der den Verständigungsfrieden suchte.316 Von Oktober 1917 an war Ranke im Elsass als „Offizier-Kriegs-Berichterstatter“ tätig, was er als „angenehme und sympathische Art Dienst“ empfand,317 auch weil er immer wieder Gelegenheit fand, sich mit Spiegelberg zu treffen. Irgendwann versagten Rankes psychische Kräfte, drei Wochen lang durfte er sich Mitte 1918 bei seiner Familie erholen.318 Mitte Dezember 1918 wurde Ranke aus dem Kriegsdienst entlassen, wollte im Januar 1919 seine Arbeit an der Universität Heidelberg wieder aufnehmen, was ihm nach mehr als vier Jahren ununterbrochenem Kriegsdienst keineswegs leicht fiel und weil das universitäre Leben in Heidelberg ebensowenig wie in Leipzig in geordneten Bahnen verlief.319 An der Universität Leipzig reduzierten sich während des Krieges die Arbeitsmöglichkeiten drastisch. Im Wintersemester 1914/15 waren 59 %, im Sommersemester 1915 70 % der eingeschrieben männlichen Studierenden in irgendeiner Weise in den Kriegsdienst involviert, 1917 sogar 85 %. „Von den im WS 1916/17 eingeschriebenen 4577 Studierenden leisteten 3492 ihren Heeresdienst ab und hielten sich nicht in Leipzig auf.“320 Im Winter 1914/15 leisteten auch 55 der 244 (22,5 %) Universitätslehrer Kriegsdienst. Nicht alle eingezogenen Universitätslehrer waren an der Front oder in Lazaretten tätig, sondern ebenso in der Verwaltung der besetzten Gebiete, so Alfred Doren bei der Politischen Abteilung des
314 Ranke an Erman, 13. April 1917. UBB NLE Ranke. 315 Ranke an Erman, 29. Mai 1917. UBB NLE Ranke. 316 Ranke an Erman, 26. Oktober 1917. UBB NLE Ranke. 317 Ranke an Erman, 18. Mai 1918. UBB NLE Ranke. 318 Ranke an Erman, 24. August 1918. UBB NLE Ranke. 319 Ranke an Erman, 23. Dezember 1918. UBB NLE Ranke. 320 Alma Mater Lipsiensis, S. 1. Ulrike Gätke-Heckmann: Universität Leipzig, 2005, S. 48.
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eneralgouvernements Belgien und der Professor für orientalische Sprachen, G Heinrich Zimmern, ebenfalls in Belgien.321 Die Lehre an der Universität wurde zwar nicht unterbrochen, doch änderte sich die Zusammensetzung der Studentenschaft – vor allem steigerte sich der Anteil weiblicher und jüngerer Studierender.322 Im Sommersemester 1918 brachte Steindorff erstmals seit 25 Jahren mangels Nachwuchs kein Anfängerkolleg mehr zustande.323 Erleichternd war, dass im Dezember 1917 seine Familie noch keine ‚Verluste‘ zu beklagen hatte, doch wagte er angesichts der insgesamt niederdrückenden Situation kaum sich zu entspannen und hoffte, dass „die Welt sich wenigstens an einzelnen Stellen ihres Wahnsinns bewusst zu werden“ beginne, fürchtete aber die zu erwartende „Abrechnung“.324 Noch aber war der Krieg nicht beendet, auch der Kollege Hermann Grapow war trotz seines Herzleidens mittlerweile im Kriegsdienst. Angesichts dieser Situation irritierte Kurt Sethes Beharren auf ägyptologischen Feinheiten, was aus Steindorffs Sicht nur dazu führte, an Ägyptologie Interessierte fernzuhalten. Dies war umso wichtiger, als auch in Leipzig der reguläre Lehrbetrieb 1918 weitgehend undenkbar geworden war, der Druck der ZÄS schwierig und kaum noch zu finanzieren. Noch vor Kriegsende stand für Steindorff fest, dass er sich um die erneute Anbindung an die internationale Ägyptologenschaft kümmern musste, sollte die deutsche Ägyptologie überhaupt eine Zukunftsperspektive haben. Aus der Schweiz, wo er sich im Februar 1918 wegen einer Vortragsreise aufhielt, wollte er an Alan Gardiner ein „ruhiges Wort“ schreiben und sich „unserer alten Gesinnung versichern“.325 An ein für Deutschland erfolgreiches Ende des Krieges glaubte er im August 1918 nicht mehr, hoffte vielmehr auf erfolgreiche Verhandlungen.326 Möglicherweise setzten seine zahlreichen Vortragsreisen in die Schweiz, 1917/18, einen Umdenkungsprozess in Gang, ließen ihn sich nach Frieden sehnen.327 Als dieser endlich kam, erlebte er ihn dennoch als „gewaltige Enttäuschung“ und wohl auch als Erniedrigung.328 Deprimierende Nachrichten kamen hinzu, etwa dass Emil Brugsch (1842–1930)329 in Nizza unter Polizeiaufsicht stand und „unser 321 Ulrike Gätke-Heckmann: Universität Leipzig, 2005, S. 149 f. 322 1370 Studenten, 12 Dozenten und 14 Angestellte fielen im Krieg. Ulrike Gätke-Heckmann: Universität Leipzig, 2005, S. 168. 323 Steindorff an Erman, 15. Mai 1918. UBB NLE Steindorff. 324 Steindorff an Erman, 27. Dezember 1917. UBB NLE Steindorff. 325 Steindorff an Erman, 30. Januar 1918. UBB NLE Steindorff. 326 Steindorff an Erman, 3. August 1918. UBB NLE Steindorff. 327 Steindorff an Erman, 14. August u. 19. August 1918. UBB NLE Steindorff. 328 Steindorff an Erman, 17. Oktober 1918. UBB NLE Steindorff. 329 Trat 1871/72 in den ägyptischen Antikendienst ein, blieb der einzige Deutsche mit fester Anstellung beim „Service des Antiquités“. Susanne Voss: Geschichte, 2013, S. 30.
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alter Freund“, der russische Ägyptologe Golenischeff, von Almosen leben musste. Steindorff sah darin den Auftakt für noch weit Schlimmeres. Erzürnt war er über die Starrköpfigkeit „unserer Professoren“, die noch immer nicht begriffen, „welches Unheil sie gestiftet haben“, sich hauptsächlich auf die „Erklärung der Hochschullehrer des Deutschen Reiches“ vom Oktober 1914 beziehend. In der Nachschau gestand Ranke ein, dass Erman unter seinen Bekannten der Einzige war, der schon vor 1914 „die Dinge richtig gesehen, als wir noch im goldenen Optimismus schwelgten“. Zwar hatte auch Erman Kriegsbegeisterung entwickelt, die Berechtigung eines Krieges nicht angezweifelt, doch war er trotz der Unterzeichnung des Manifests der Hochschullehrer bezüglich der positiven Konsequenzen eines Krieges weniger optimistisch. Gänzlich fremd war auch Steindorff diese Haltung nicht, obschon er kaum von der Idee des Verteidigungskrieges zugunsten der Kulturnation Deutschland Abstand nehmen konnte. Trotz seines erklärten Hasses auf England vermochte er dennoch nicht, diesen auf seine englischen Freunde auszudehnen und sich gänzlich von ihnen zu lösen. Denn allzu viel dürfte geblieben sein von der Begeisterung, die er angesichts seiner Schottland- und Englandreise im Herbst 1903 empfand und während der er seine „lieben Freunde“ Crum und Horner sowie Budge und Petrie getroffen hatte.330 Seine Amerikareise von Januar bis Mai 1904 bezeichnete er gar als „famos“, glaubte mehr gesehen und gelernt zu haben „als je in meinem Leben in der kurzen Zeit“, hatte auch „eine Menge sehr netter Menschen kennengelernt“.331 Wirklich vergessen konnte Steindorff diese gewonnenen Eindrücke wohl kaum, sie lediglich unter dem mit dem Krieg zusammenhängenden Bangen zurückdrängen.332 Zweifel an der Sinnhaftigkeit des Krieges resultierten mit Gewissheit aus dem Tod von Ermans Sohn am 1. Juli 1916, sodass bei Steindorff zu Weihnachten 1917 keine Freude mehr aufkommen wollte und er den Beginn der Friedensverhandlungen mit Erleichterung aufnahm, womit er sich zugleich gegen die bei den Lehrenden der Universität Leipzig dominant vertretenen „Annexionisten“ stellte. Im August 1918 hoffte Steindorff auf das Niederlegen der Waffen, an einen deutschen Sieg glaubte er nicht mehr. Als schließlich auch sein Schwiegersohn in demselben Monat aus dem Krieg heimkehrte, betrachtete Steindorff diesen als beendet, fürchtete zwar die Verhandlungen mit den Alliierten, verurteilte diese aber nicht.333 Eher enttäuscht war er von der deutschen Professorenschaft, die eine nochmalige Erklärung abgegeben und damit bewiesen hatte, dass sie an ihrem einstigen Urteil festhielt, ohne zu bemerken, „welches Unheil sie gestiftet“ hatte 330 Steindorff an Erman, 26. September 1903. UBB NLE Steindorff. 331 Steindorff an Erman, 15. Mai 1904. UBB NLE Steindorff. 332 Steindorff an Erman, 26. August 1914. UBB NLE Steindorff. 333 Steindorff an Erman, 14. August 1918. UBB NLE Steindorff.
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und dass der „deutsche Professor (…) hier leider jeden Kredit verloren“ habe, als „reaktionäres, gegenwartsfremdes Wesen“ gelte.334 In Leipzig sei man mit einer ähnlichen, „recht farblosen Äußerung nachgehinkt“. Steindorff bezog sich dabei auf die am 20. November 1918 offiziell bekanntgegebene „Erklärung der Berliner Universitätslehrer“, die sich „angesichts der ungeheuren Umwälzungen, die aus dem Welt- und Massenkrieg hervorgegangen sind“, bereit erklärten, sich der „provisorischen neuen Regierung“ zu unterstellen, die „endgültige Ordnung der Verhältnisse von einer auf lauteren demokratischen Grundsätzen aufgebauten Nationalversammlung“ erwarteten und „ihre ganze Arbeitskraft in den Dienst der zurückkehrenden Studenten und der neuen sich darbietenden Aufgaben der Volksbildung zu stellen bereit“ waren.335 Wichtiger und deutlich war Steindorff, dass der deutschen Bevölkerung eine enorme Verarmung bevorstand, was er als vorhersehbare Konsequenz betrachtete. Umso erfreulicher war angesichts seiner düsteren Erwartungen, dass er im Frühjahr 1919 glaubte erste Anzeichen dafür wahrnehmen zu können, „dass wir mit der Welt wieder in Verkehr kommen“.336 Zwar war auch die Stadt Leipzig ‚belagert‘ worden, zu Blutvergießen war es aber nicht gekommen. Dennoch wünschte Steindorff sich eher in den „Wüstensand in Ägypten oder in Nubien“, hatte das Gefühl, dass ihm ein „Fellache als Mensch näher“ stünde als „irgendein toller spartakistischer Volksgenosse“, dem er offenbar keinerlei Sympathien entgegenbrachte und womit er konform ging mit der Haltung der Mehrzahl seiner Leipziger Kollegen.337 Doch riet er bei einer Senatssitzung am 4. Dezember 1918 der Universität davon ab, politisch Stellung zu beziehen.338 In Leipzig war am 8. November 1918 die Revolution ausgebrochen, am 12. November hatte sich eine Studentenversammlung für die Unumgänglichkeit von Reformen ausgesprochen, aber eine gewaltsame Revolution abgelehnt. Tatsächlich war die Mehrheit der Studentenschaft monarchistisch gesinnt.339 Nach der offiziellen Bekanntgabe der Versailler 334 Damit bezog er sich auf die „Vaterländische Kundgebung“ von mehr als 1100 Hochschullehrern (u. a. Wilamowitz-Moellendorf) vom Oktober 1917, mit der der Reichstagsmehrheit die Qualifikation für die politische Führung des deutschen Volkes abgesprochen wurde. Steindorff an Erman, 24. Oktober 1918. UBB NLE Steindorff. 335 Zitiert nach: Aufrufe und Reden, 2014, S. 238. Steindorff bezog sich auf einen Bericht im „Berliner Tageblatt und Handelszeitung“ vom 21. Oktober 1918. Am 20. Oktober 1918 hatte auf Einladung von Rektor Seeberg eine Versammlung der Professoren der Universität Berlin stattgefunden, wobei einstimmig eine Kundgebung beschlossen wurde, die auf einem von Ernst Troel tsch verfassten Aufruf basierte. 336 Steindorff an Erman, 10. März 1919. UBB NLE Steindorff. 337 Anja Schubert: Universität Leipzig, 2005, S. 176. 338 Anja Schubert: Universität Leipzig, 2005, S. 177. 339 Anja Schubert: Universität Leipzig, 2005, S. 172 f.
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Friedensbedingungen am 7. Mai 1919 fand an der Universität Leipzig am 14. Mai eine Protestversammlung gegen den „Gewaltfrieden“ statt, die politischen Studentenvereinigungen bezeichneten die Friedensbedingungen als „Rechtsbruch ungeheuerlichster Art“.340 Die Friedensbedingungen bewirkten beim Bürgertum einen politischen Rechtsruck. Angesichts dieser politischen Wirren – Leipzig war im Mai 1919 militärisch besetzt, die Arbeiter-und Soldatenräte durch Regierungstruppen ersetzt worden – beschäftigte sich Steindorff zunächst nur widerwillig mit Überlegungen zur Wiedereröffnung des deutschen Instituts in Ägypten, verfasste einen ersten Antrag, den er aber zögerte, an die sächsische Landesregierung weiterzuleiten.341 Dass er die in Kairo verbliebene Institutsbibliothek ebenso für verloren hielt wie dessen Räumlichkeiten, vertraute er nur Erman an. Für allzu dramatisch hielt er dies nicht, denn schließlich könnten sich die deutschen Ägyptologen auf ihre unbestrittenen philologischen Qualitäten besinnen, auch hielten die deutschen Museen genügend Material bereit. Die archäologische Ägyptologie wollte er gerne der „Entente“ überlassen, was bedeute „los von Petrie-Borchardt-Reisner und zurück zu Lepsius-Erman-Sethe“. Auf diese Weise werde man das diesbezüglich hohe Ansehen Deutschlands bewahren können. Trotz dieses Bekenntnisses empfand Steindorff es offenbar als betrüblich, dass möglicherweise einige der „staatlichen Kunstschätze“ angesichts der steigenden „Volksnot“ ins Ausland verkauft werden müssten: „Also Rembrandt für Speck! Marmor für Baumwolle!“. Um „deutsche Kunst“ sehen zu können, werde man zukünftig wohl amerikanische Museen besuchen müssen. Dennoch betrachtete Steindorff dies als „notwendige Folgerung“, für die er sogar Verständnis hatte. Keines hatte er dagegen für Borchardts „Phantasien von der 50jährigen Druckpause“, Überlegungen, weshalb Borchardt nicht mehr ernst zu nehmen sei und die umso schlimmer seien, als dieser eine offizielle Tätigkeit beim Auswärtigen Amt anstrebe – „es lebe der Dilettantismus“. Befreiend wirkte schließlich der „sehr“ erfreuliche Brief Gardiners an Steindorff, der darin wieder den „famosen Menschen“ erkannte, „für den ich ihn stets gehalten habe“.342 Auch mit Walter Crum kam wieder brieflicher Kontakt zustande. Unbedingt galt es zu verhindern, so Steindorff, dass Spiegelberg mit einer geplanten Veröffentlichung einer koptischen Grammatik mit Crum konkurrierte. Solche „Konkurrenzunternehmen“ würden „unsere guten Freunde im Ausland“ allzu sehr aufregen.
340 Anja Schubert: Universität Leipzig, 2005, S. 175. 341 Steindorff an Erman, 21. Mai 1919. UBB NLE Steindorff. 342 Steindorff an Erman, 13. September 1919. UBB NLE Steindorff.
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Auf den Boden der Wirklichkeit brachte dann allerdings ein Brief H.O. Langes, der prophezeite, dass es lange dauern werde, „bis die internationalen Beziehungen wieder hergestellt sein werden“ und seine Freude darüber ausdrückte, dass „Dänemark seine verlorenen Brüder in Schleswig wieder erhalte“. Letztere Bemerkung hielt Steindorff für wenig „taktvoll“, wenn auch nachvollziehbar. Den „verlorenen Internationalismus“ bedauerte er zwar, wie er Lange antwortete, sah die Lage jedoch keineswegs so pessimistisch. Denn auf die Dauer werde man die Deutschen nicht boykottieren können. Ohne das Berliner Wörterbuch beispielsweise könne auch kein „feindlicher“, auf sprachlichem Gebiet arbeitender Ägyptologe auskommen. Zudem müssten sich die Museen ergänzen. Zu den französischen Kollegen seien wegen des „politischen Chauvinismus“ die Beziehungen ohnehin nie allzu eng gewesen. Ohne die Anwesenheit der Deutschen sei auf internationalen Kongressen bekanntermaßen nichts Sonderliches herausgekommen. Im Übrigen lud Steindorff jeden nicht-deutschen Kollegen ein, sich an den zukünftigen Treffen in Weimar zu beteiligen. Steindorffs Äußerungen zeigen durchaus verhaltenen Zorn über das teils als überheblich und triumphierend empfundene Verhalten mancher nicht-deutschen Kollegen. Dennoch bekräftigte er, den deutschen Monarchen nicht nachzutrauern, allenfalls der Monarchie, die es mit der Ägyptologie stets gut gemeint habe. Über Vergangenes und Verlorenes sich zu grämen, war Steindorffs Sache nicht. Er wollte sich daran gewöhnen, dass eine „neue Zeit“ angehoben hatte und es nicht auf das „Wohlgefühl des Einzelnen“ ankam. „Wir müssen uns abfinden und hineinfügen“ – so das Steindorff’sche Credo. Auch die aktuellen politischen Unruhen würden nach seinem Dafürhalten bald ein Ende finden, auch wenn diese im März 1920 heftig in Leipzig tobten.343 Tatsächlich kam es in Sachsen zu schweren Auseinandersetzungen. „Nach der Ermordung des sächsischen Kriegsministers Gustav Neuring am 13. März 1919 war über ganz Sachsen der Belagerungszustand verhängt worden.“ Bürgerkriegsartige Unruhen, die zahlreiche Todesopfer forderten, versetzten die Stadt in permanente Unruhe.344 Von diesen Zuspitzungen scheint Steindorff unberührt geblieben zu sein, weil er zwar Erman gegenüber die „ernsten Schießereien“ erwähnte, aber meinte, es sei „im Gegensatz zu Berlin kein Blut geflossen – Wir Sachsen sind eben ‚heeflich‘“.345 Ihr Ende fanden die Kämpfe erst im März 1920. Steindorff war froh, die „eklige Woche glücklich überstanden“ zu haben, obwohl es an seinem Wohnort in Leipzig-Gohlis nicht hoch her gegangen war. Die Universität war in eine Kaserne umgewandelt worden und ein „Hauptangriffspunkt der Spartakisten“, an einen geordneten Vorlesungsbe343 Steindorff an Erman, 30. März 1920. UBB NLE Steindorff. 344 Anja Schubert: Universität Leipzig, 2005, S. 187 f. 345 Steindorff an Erman, 10. März 1919. UBB NLE Steindorff.
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trieb war seitdem nicht zu denken.346 Auch die Zusammenarbeit mit der „Deutschen Morgenländischen Gesellschaft“ gestaltete sich unerfreulich, zum für 1922 in Leipzig geplanten Orientalisten-Kongress boten sie nur „schlechtes Zeug“.347 Die positive Trendwende bezüglich der internationalen Beziehungen konsolidierte sich für Steindorff. Im November 1921 gratulierten ihm seine Kollegen Crum, Gardiner, Naville und DeBuck persönlich zum Geburtstag, was er als „alte Freundschaft“ wertete.348 Dies mag ein Anstoß gewesen sein und ihn ermutigt haben, Anfang 1925 zu seiner ersten Nachkriegs-Ägyptenreise aufzubrechen.
2.2.2 Die Internationalen Das politische Geschehen lastete auf der deutschen ebenso wie auf der internationalen Ägyptologenschaft, belastete ihre über Jahrzehnte gewachsenen Beziehungen, die oftmals mehr als nur beruflich geprägte waren. Der amerikanische Ägyptologe George Reisner, ein enger Freund und Vertrauter Borchardts seit ihrer gemeinsamen Arbeit im Ägyptischen Museum Kairo Ende des 19. Jahrhunderts, rang schwer mit sich, wie sich dessen Mitarbeiter Dows Dunham (1890–1984)349 erinnerte. Er befand sich in einem Loyalitätskonflikt, der umso problematischer war, als er großväterlicherseits aus Worms stammte, sich Deutschland verbunden fühlte. In Berlin hatte er wie etliche seiner nicht-deutschen Kollegen bei Adolf Erman studiert, zählte Kurt Sethe und Georg Steindorff zu seinen Freunden. Unmittelbar nach Kriegsausbruch unterbrach Reisner seine wissenschaftlichen Arbeiten in Ägypten, widmete sich ausschließlich der Lektüre aller für ihn erreichbaren Zeitungen sowie Diskussionen mit Kollegen und Politikern. „He would spend hours pacing up and down his office, sucking his pipe and weighing such evidence as he could gather as to the rights and wrongs of the war.“350 Nach langer Überlegung kam er zu dem für ihn schmerzhaften Fazit, dass die Alliierten im Recht, Deutschland im Unrecht sei, er also die Beziehungen zu seinen deutschen Freunden und Kollegen weitestgehend abbrechen musste. Während des Krieges stellte Reisner sich den Briten in Ägypten als vermittelnder Informant zur Verfügung. Zugleich hatte er als 346 Steindorff an Erman, 30. März 1920. UBB NLE Steindorff. 347 Steindorff an Erman, 29. April 1921. UBB NLE Steindorff. 348 Steindorff an Erman, 13. November 1921. UBB NLE Steindorff. 349 Studierte 1909–1913 in Harvard bei Reisner, mit dem er ab 1914 Grabungen in Giza ausführte, 1916 bei Breasted in Chicago, diente anschließend bis 1919 als Soldat in Frankreich als Ambulanzfahrer und Offizier, danach Grabungen in Ägypten und im Sudan. 1923–1925 assistierte er Firth in Sakkara und Dashur, 1925–1928 Reisner in Giza, ab 1928 in Boston. Who-was-Who, 2012, S. 165. 350 Aus Sorge um seine Sicherheit nötigte Dunhams Familie ihn, in die USA zurückzukehren, während Reisner solche Überlegungen für abwegig hielt. 1915 kehrte Dunham nach Ägypten
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Vertreter Nord-Amerikas ein wachendes Auge auf die Geschicke des deutschen Instituts und das benachbarte Wohnhaus Borchardts, was für diesen eine Beruhigung bedeutete. Obwohl Reisner bei Erman in Berlin studiert hatte, war der briefliche Austausch zwischen den beiden nie allzu intensiv, was auch mit Reisners Ausrichtung auf Bauforschung zu tun gehabt haben dürfte. Anders sah es bei den beiden amerikanischen Erman-Schülern Breasted und Ransom-Williams aus. Die aus Toledo (Ohio) stammende Caroline Ransom-Williams (1872–1952)351 besuchte, nach ihrem Studium bei Erman, Vorkriegsdeutschland zuletzt 1911.352 Der Kriegsausbruch bedeutete nicht die Unterbrechung der brieflichen Kommunikation mit Erman, eine Möglichkeit, die dieser und seine Ehefrau nutzten. Denn Ransom-Williams stand in engem Austausch mit andern amerikanischen Ägyptologen, etwa Breasted, Albert Lythgoe (1868–1934)353 und Herbert Winlock (1884–1950),354 war also eine bedeutende Mittlerin.355 Um ihr seine wissenschaftliche Wertschätzung zu versichern, erwähnte Erman seine frühere Schülerin in seinen wissenschaftlichen Veröffentlichungen, wie er es auch bei Norman de Garis Davies handhabte. Damit sandte er zugleich die Botschaft, nicht gewillt zu sein, die internationale Zusammenarbeit aufzukündigen, seinen nicht-deutschen Kollegen den Respekt zu entziehen und die Zukunft der international angelegten deutschen Ägyptologie aufzugeben. Mehr noch als für Ransom-Williams war es für James Breasted von größter Bedeutung, die Beziehung zu Erman zu pflegen.356 Denn seit seinem Studium in Berlin 1899 bis 1904 und seiner Arbeit am Erman’schen Wörterbuch hatte er zu seinem Lehrer ein ungewöhnlich herzliches Verhältnis. 1905/06 und 1906/07 z urück, korrespondierte dort mit Reisner aufgrund der Briefzensur in Hieroglyphen, eine Methode, der sich auch andere Ägyptologen bedienten. Dows Dunham: Recollections, 1972, S. 14–16. 351 Studierte 1898–1900 Ägyptologie bei Breasted, ging danach zu Erman nach Berlin. Lehrte 1905–1910 am Bryn Mawr College, 1909 korrespondierendes Mitglied des Deutschen Archäologischen Instituts, 1910–1916 Assistant Curator am Department of Egyptology des Metropolitan Museum of Art in New York. Who-was-Who, 2012, S. 581. Sie heiratete am 28. Juni 1916 den Immobilienentwickler Grant Williams. 352 Ransom-Williams an Erman, 10. November 1911. UBB NLE, Williams. 353 Amerikanischer Ägyptologe, Gründer der Abteilungen für Ägyptologie am Museum for Fine Arts Boston (MFA) und des Metropolitan Museum of Art New York (Met), 1906. 354 Schüler von Lithgoe, mit dem er ab 1906 in Ägypten Grabungen durchführte. Zum Grabungsteam gehörte auch der britische Ägyptologe Arthur Mace von Oxford. Winlock wurde 1932 Lithgoes Nachfolger am Met. Während des 1. WK diente er in der Feldartillerie. 355 Von Tarbell (Ägyptologe) bestellte sie Grüße an Erman. Sie hatte die Bekanntschaft des Berliner Ehepaars (Max) Planck gemacht, das gezwungenermaßen in New York festsaß. RansomWilliams an Erman, 23. Mai 1915. UBB NLE Williams. 356 Zur Korrespondenz Breasted-Erman s. auch Thomas Gertzen: War-correspondence, 2010/2011.
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Abb. 9: Porträt James Henry Breasted
hielt sich Breasted in Ägypten auf, von 1907 bis 1908 wieder in Berlin, wo er Jahre zuvor seine spätere Ehefrau kennengelernt und geheiratet hatte. Zwar konnte sich Breasted nach Ausbruch des Krieges wegen Briefzensur nicht mehr in der gewohnten Offenheit äußern, musste sich meist aufs Kartenschreiben beschränken, doch den Kontakt zu Erman wollte er nicht abreißen lassen,
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wie er im September 1914 verlauten ließ.357 Dass Ermans Sohn und Schwiegersöhne Kriegsdienst leisteten, hatte Breasted schon aus andern Quellen erfahren, fand dies auch nicht bedenklich. Denn den „Zeitungslügen“ wollte er keinen Glauben schenken, zumal die von ihm begrüßten „siegreichen Fortschritte“ der Deutschen im Westen diesen widersprächen. Auch war er der festen Überzeugung, dass seine Landsleute die Ursachen des Krieges anders als die Engländer beurteilten. Belege für die Fehleinschätzungen der Engländer boten ihm die von Erman im August 1914 gesandten Zeitungsausschnitte, die die russische Mobilmachung als Kriegsursache, die Nachrichten der Alliierten als Fehlinformationen, die von England verbreiteten Informationen als „shameful lies“ erklärten.358 Erman rechtfertigte den Angriff auf Belgien, auch jenen auf die Kathedrale von Reims, beschuldigte die Russen gewalttätiger Übergriffe in Ost-Preußen. Für Breasted waren diese Informationsquellen von umso größerer Bedeutung, als England mit Kriegsbeginn sämtliche deutschen Transatlantikkabel kappen ließ, womit die englische Nachrichtenagentur Reuter vor allem in den USA beinahe ein Nachrichtenmonopol erhielt.359 Auch weil er sich in vieler Hinsicht mehr als Deutscher als als Amerikaner verstand, hoffte Breasted auf den Sieg Deutschlands, wie er auch Eduard Meyer versicherte. An der grundsätzlichen politischen Einstellung Breasteds änderte sich im Verlauf des Krieges zwar wenig, doch wechselte er die Lager, denen er sich zugehörig fühlte. Dazu beigetragen haben dürfte, dass sich bei ihm ab 1915 die tragischen Nachrichten häuften, etwa vom Soldatentod des Sohnes des französischen Ägyptologen und Leiter des Antikendienstes in Ägypten, Gaston Maspero (1846–1916),360 im Februar des Jahres. Maspero beleuchtete gegenüber Breasted die Übergriffe der deutschen Truppen anders und wenig vorteilhaft für Deutschland. Später war Breasted schockiert über die grausamen Erfahrungen, die die Familie von Worrells französischer Ehefrau während des Krieges hatte machen müssen.361 Andererseits erfuhr er durch Ransom-Williams vom Tod der Söhne von Erman und Meyer, glaubte aber Erman damit trösten zu können, dass sein Sohn einen heldenhaften Tod für sein Vaterland gestorben sei, was den Vater 357 Erman an Breasted, 16. September 1914; Breasted an Erman, 5. August 1916. UBB NLE Breasted. 358 Erman an Breasted, 23. August 1914, zitiert nach: Lindsay J. Ambridge: Imperialism, 2013, S. 17, entnommen James H. Breasted Papers, Correspondence with Adolf Erman, Courtesy of the Oriental Institute at the University of Chicago. 359 Jürgen von Ungern-Sternberg, Wolfgang von Ungern Sternberg: Der Aufruf, 1996, S. 115. 360 1880 erstmals in Ägypten, 1881–1886 und 1899–1914 Nachfolger von Auguste Mariette als Direktor des ägyptischen Antikendienstes und des Ägyptischen Museums in Kairo. 361 Breasted an seine Familie, 31. August 1919. Letters from James Henry Breasted to his family, August 1919-July 1920. Ed. by John A. Larson (Oriental Institute Digital Archives. Number 1. The Oriental Institute of the University of Chicago).
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mit Stolz erfüllen müsse. Für sein Patenkind Henri erhoffte er jedoch ein anderes Schicksal.362 Die amerikanische, von Wilson gesteuerte Politik war nicht im Sinne Breasteds, den Präsidenten hielt er für unfähig, er bringe es nahe an Feindseligkeiten mit Deutschland, was von den meisten Amerikanern abgelehnt werde. Mit einem Wahlsieg Hughes’ im November werde eine „besonnene und gerechte“ Politik beginnen.363 Zu berichten hatte er auch von einem in Chicago sich gebildeten Komitee einflussreicher, wohlhabender Amerikaner, das deutsche Soldaten finanziell unterstützen wollte. Anders als Breasted Erman glauben machen wollte, war weder die amerikanische Wissenschaftswelt noch Bevölkerung insgesamt sonderlich deutschfreundlich gestimmt, sondern spätestens seit dem Aufruf der deutschen Hochschullehrer vom Oktober 1914 überaus kritisch. In einem von der Times veröffentlichten offenen Brief von Samuel Harden Church, Präsident des Carnegie Instituts (Pittsburgh), vom November 1914 wurde die zwischenzeitlich entstandene Kluft zwischen deutschen und amerikanischen Wissenschaftlern deutlich.364 Wie für die meisten amerikanischen Wissenschaftler war es für Church unstrittig, dass Deutschland und Österreich die alleinige Kriegsschuld trugen, die Unterzeichner der beiden Manifeste vom Oktober 1914 zumindest schlecht informiert und geradezu naiv waren. Unverrückt hielt Breasted an seiner Unterscheidung zwischen „civilized“ und „uncivilized peoples“ fest. Krieg hielt er für notwendig, um die zivilisierte Gesellschaft vor unzivilisierten Völkern zu schützen, worunter er im Oktober 1917 Deutschland zählte.365 Ähnlich wie er Erman gegenüber bezüglich dessen Sohn Peter geäußert hatte, war Breasted stolz, als sein Sohn Charles der amerikanischen Armee beitrat, allerdings um, von seinem Vater bestärkt, gegen Deutschland zu kämpfen. Ebenso wie Erman ging Breasted von der einigenden Wirkung von Krieg aus. Erman hatte Breasted zuvor auseinandergesetzt, dass die halb-zivilisierten Völker die Kultur der zivilisierten bedrohten, womit er Japaner, Sudanesen und „Gurkhs“ (gemeint waren Ghurkas), also überwiegend aus den Kolonien stammende Menschen meinte, die auf Seiten der Alliierten kämpften.366 Dabei übersah er, dass beispielsweise in Deutsch-Ostafrika einheimische Askaris zu den deutschen Truppen gehörten.367 Zwischen Erman und Breasted bestand
362 Dies hatte Kuno Meyer Breasted berichtet. Breasted an Erman, 25. Juni 1916. UBB NLE Breasted. Lindsay J. Ambridge: Imperialism, 2013, S. 17. 363 1921 wurde der Republikaner Warren G. Harding Nachfolger von Woodrow Wilson. 364 Jürgen von Ungern-Sternberg, Wolfgang von Ungern-Sternberg: Der Aufruf, 1996, S. 89. 365 James H. Breasted an seinen Sohn Charles, 29. Oktober 1917, zitiert nach: Lindsay J. Ambridge: Imperialism, 2013, S. 17. 366 Erman an Breasted, 23. August 1914, zitiert nach: Lindsay J. Ambridge: Imperialism, 2013, S. 18. 367 Heather Jones: German Empire, 2014, S. 67.
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grundsätzliche Einigkeit über die Sinnhaftigkeit und Berechtigung von Krieg,368 nur gehörten sie verschiedenen Seiten an. Die briefliche Kommunikation zwischen den beiden versiegte 1916, kam 1918 aber wieder in Fluss. Abgeschnitten waren damit Ermans Kommunikations- und Informationskanäle nicht. Ihm blieben andere Möglichkeiten, die er nicht zuletzt nutzte, um die Zukunft des auf Internationalität angelegten und darauf angewiesenen Berliner Wörterbuch-Projekts zu sichern. Zu einer seiner wichtigsten Kontaktpersonen entwickelte sich der dänische Ägyptologe Hans Ostenfeldt Lange (1863–1943),369 mit dem ihn mehr verband als gemeinsame fachliche Interessen. Schon in der Vorkriegszeit war zwischen Erman und Lange eine Freundschaft entstanden, gegenseitige Besuche gemeinsam mit Ehefrauen und Kindern waren üblich. Darüber hinaus fühlte Lange sich Erman verpflichtet, weil dieser einer seiner wichtigsten Förderer war, was umso bedeutsamer war, als Langes ägyptologische Interessen in der dänischen Wissenschaftslandschaft kaum Resonanz zeigten. Das gegenseitige Vertrauen erlaubte offene Bekenntnisse, selbst wenn sie der Auffassung des andern nicht entsprachen. So durfte Lange seinen ersten ‚Kriegsbrief‘ an seinen „Freund“ einleiten mit: „Eine schreckliche Zeit ist eingebrochen; die Völkermassen sind in der größten Erregung. Was wir fürchten, aber doch gehofft hatten, dass sie geschehen würde, ist eingetroffen: ein europäischer Krieg mit dem Hass und dem Elend, der damit folgt.“370 Das neutrale Dänemark litt unter der Mobilisierung und der ökonomischen Misere, Lange mit Familie unter der Einquartierung von 15 Soldaten. Das kommende Elend ahnte Lange voraus und beschwor umso nachdrücklicher den Frieden innerhalb der „Res publica literaria“, den es trotz aller Widrigkeiten zu erhalten gelte. Dies aber war nicht einfach angesichts einer Fülle von negativen, durch den Krieg verursachten Erlebnisse, die letztlich als von Deutschland verschuldet galten. So befand sich der vom Kriegsausbruch überraschte britische Ägyptologe Alan Gardiner – auch er ein Schüler Ermans – auf der „Flucht“, tauchte am 2. August 1914 mit Ehefrau und drei Kindern bei Lange auf, wo er Neuigkeiten von Erman, auch vom freiwilligen Kriegsdienst des Sohnes Peter Erman, übermittelte. Gardiner reiste nach
368 In seiner „A History of Egypt“ (1905) hatte Breasted kriegerische Auseinandersetzungen zu berechtigten Mitteln zivilisierter Völker erklärt, um für den Erhalt ihrer Gesellschaft erforderliche Materialien zu erhalten. In späteren Arbeiten (1919) erklärte er die „enlighted exploitation“ etwa im Nahen Osten für gerechtfertigt. Lindsay J. Ambridge: Imperialism, 2013, S. 27 f. 369 Studierte in Kopenhagen, 1886 Assistenz-Bibliothekar an der Königlichen Bibliothek und deren Leiter ab 1901, gründete 1924 das ägyptologische Institut Kopenhagen. Who-was-Who, 2012, S. 308. 370 Lange an Erman, 10. August 1914. UBB NLE Lange.
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Schweden weiter, wartete dort auf eine günstige Gelegenheit zur Überfahrt nach England. Solche Vorkommnisse verstärkten Langes böse Ahnungen und trieben ihn an, Erman seine Freundschaft zu versichern – „wie es auch geht, werden meine Gefühle Ihnen und Ihrer Familie gegenüber sich nicht ändern können“ -, hoffend, dass „unsere Lieben“ und „unsere Kultur“ verschont blieben. Nach einem letzten Kartengruß vom September 1914 kam auch die briefliche Kommunikation zwischen Lange und Erman zum Erliegen. Als sie 1917 wieder in Gang kam, war auf beiden Seiten Vieles und Tragisches geschehen. Erman hatte ebenso wie Eduard Meyer, aber auch der französische Kollege Maspero und der britische Koptologe Walter Crum (1863–1944)371 einen Sohn bzw. Neffen im Krieg verloren, dem euphorischen Aufruf der deutschen Hochschullehrer war angesichts der niederdrückenden Kriegswirklichkeit Ernüchterung gefolgt. Dass er den Verlust seines ältesten Sohnes zu beklagen hatte, ließ Erman Lange jedoch etliche Zeit nicht wissen.372 Lange beließ es in seinen ersten Schreiben nicht bei persönlichen Nachrichten, sondern berichtete auch von Kollegen.373 Gegenüber dem im britischen Kriegsministerium beschäftigten Briten Crum hatte Lange seinen Plan einer „Zusammenkunft der deutsch-englischen ägyptologischen Freunde nach dem Krieg“ entwickelt und positive Resonanz erhalten. Crum hoffte auf ein baldiges Wiedersehen mit seinem „dear old friend Erman“. Dies war eine der wenigen positiven Nachrichten, andere ließen die internationale Isolation, die die deutschen Wissenschaftler zu erwarten hatten, ahnen. So wollte oder konnte sich der auch der Berliner Akademie wohlgesonnene Crum bei der Finanzierung seines koptischen Wörterbuchs nicht mehr auf diese stützen, sondern sich „finanziell internationalisieren“, denn für „ein Berliner Unternehmen“ würden die „Pariser Handschriften unzugänglich“ sein. Zu Recht wertete Lange dies als Beleg dafür, dass „die Klüfte auch in der Wissenschaft größer sind als je vorher“, was „ganz natürlich“ sei, „denn die Gelehrten sind wie nie vorher Kombattanten geworden und haben sich gründlich kompromittiert“. Ein Beleg dafür sei der deutsche Historiker Dietrich Schäfer,374 von dem Lange wusste, dass er „Redacteur eines neuen 371 Koptologe, studierte am Balliol College Oxford, dann in Paris, von 1889–90 bei Erman in Berlin, war neben Steindorff der führende Koptologe. Sein koptisches Wörterbuch erschien ab 1929. Who-was-Who, 2012, S. 136 f. 372 Im September 1918 fragte Lange, ob Peter noch „draußen an der Front“ sei. UBB NLE Lange. 373 Lange an Erman, 27. Februar 1917. UBB NLE Lange. 374 (1845–1929), Historiker, Schüler von Heinrich von Treitschke, ab 1903 Professur an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin und Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Verhinderte 1908 mit einem antisemitischen Gutachten die Berufung von Georg Simmel an die Universität Heidelberg, sympathisierte mit dem Alldeutschen Verband, unterstützte den uneingeschränkten U-Boot-Krieg, votierte für einen Siegfrieden, war Mitinitiator der annexionistischen
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Tageblattes der Alldeutschen geworden ist!“. Langes Missfallen an den öffentlichen Proklamationen der deutschen Wissenschaftler, deren politischen Ausrichtung sowie seine Prognosen hinsichtlich der Auswirkungen waren unmissverständlich. Obwohl er wusste, dass auch Erman das Manifest der Hochschullehrer unterzeichnet hatte, hielt er ihm die Freundschaft, wobei er ihm vor allem das Engagement für das Wörterbuch, das zu einer engen internationalen Zusammenarbeit und zu Freundschaften geführt hatte, zugutehielt. Positiv war auch, dass Erman sich 1915 anders als Eduard Meyer für eine gemäßigte Politik der Berliner Akademie gegenüber der französischen Académie geäußert und damit durchgesetzt hatte.375 Erman zweifelte nie an der Bedeutung, die die ununterbrochene Verbundenheit mit nicht-deutschen Kollegen auch und gerade für die zukünftige Entwicklung und Positionierung der deutschen Ägyptologie hatte. Außer freundschaftlichen Gefühlen war dies ein zentrales Motiv, die Verbindung zu Lange nicht abreißen zu lassen.376 Einig waren sie sich darin, dass der Krieg als „ein Verbrechen gegen die heiligsten Güter der Menschheit“ zu gelten, auch dass der Krieg noch kaum einzuschätzende, aber gewiss gravierende Folgen auf die Psyche der Kriegsteilnehmer hatte. So teilte Lange Ermans Sorgen um die Zukunft seines jüngeren Sohnes – „ich weiß, dass die, die von der Front zurückkehren, anders geworden sind, die meisten nicht besser. (…) Der größte Teil von der Jugend Europas wird wohl einfach durch den Krieg, wenn nicht verdorben, so doch mehr oder weniger untauglich gemacht“. Wie er von einem Freund wusste, waren die „jungen Franzosen“ größtenteils zu „Melancholikern“ geworden, und „dass die besten von den Engländern geistig gesprengt worden“. Im Vertrauen auf ihre Freundschaft richtete Lange Ermans Blick auf das Schicksal anderer Länder, wies darauf hin, dass die Bevölkerung allenthalben Frieden wünschte, „starke Kräfte“ dies aber zu verhindern suchten, womit er auf die deutsche Oberste Heeresleitung verwies. Diese betrachtete er als Kriegstreiber und -gewinnler, die mit der Fortführung des Krieges ihre ökonomischen Interessen verbanden. Die zu erwartenden Friedensbestimmungen sollten festschreiben, „dass alle private Fabrikation von Kriegs-
„Professorendenkschrift“ von 1915, beteiligte sich an Maßnahmen zum Sturz von Reichskanzler Bethmann Hollweg. Wenige Tage vor dem Waffenstillstand im November 1918 rief er zur „Massenerhebung“ zur Fortsetzung des Krieges auf. Gehörte nach dem Krieg zur DNVP und richtete sich agitatorisch gegen die Weimarer Republik. Karl-Ludwig Ay: Schäfer, 2005, S. 505 f. 375 Meyer wollte die französischen Mitglieder aus der Akademie ausschließen, Erman und Max Planck widersprachen. Jürgen von Ungern-Sternberg, Wolfgang von Ungern-Sternberg: Der Aufruf, 2013, S. 110. 376 Erman teilte Lange auch mit, dass sein Sohn Henri Anfang 1918 zum Kriegsdienst einberufen worden war. Lange an Erman, 22. Januar 1918. UBB NLE Lange.
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material verboten“ würde und „kein Mensch im Land (…) ökonomisch am Krieg interessiert sein“ dürfe. Ob Erman diese Auffassung teilte, ist nicht zu erkennen. Deutlich ist indes, dass er weitere Anknüpfung an die internationale Ägyptologenschaft suchte, vertrauensbildende Maßnahmen ergriff. Vermittelt über Lange ließ seine Ehefrau Gardiners Ehefrau Heddie Nachrichten zukommen, worauf Gardiner in der erhofften Weise reagierte, indem er seine Hoffnung versicherte, dass die „old personal ties“ bald wieder geknüpft werden könnten, „whatever unhappy differences may separate our respection country“. Ähnliches bewegte Walter Crum. Obwohl er an ein nahes Kriegsende nicht glaubte, äußerte er sich gegenüber Lange verwundert darüber, dass „die Stimmung in deutschen Gelehrtenkreisen durch angebliche englische Äußerungen von Gelehrten aufgestachelt“ sei, wollte nichts davon erfahren haben, dass man sich gegen eine Zusammenarbeit mit Deutschen sperrte. Mit dieser positiven Sicht ging Lange nicht konform. Seiner Meinung nach würde es sich erst später zeigen, „wie ungeheuer man sich gegenseitig missverstanden“ habe. Zeitungsmeldungen vertraute er aufgrund der herrschenden Zensurbestimmungen nicht, Referate betrachtete er als „sehr einseitig und gefärbt, ja ganz falsch“. Noch war im Mai 1918 entgegen Langes Erwartungen das Kriegsende nicht in Sicht, vielmehr standen deutsche Truppen in Finnland und es war zu befürchten, dass sie auch in Dänemark einrückten.377 Lange bangte, dass Dänemark dann ökonomisch, kulturell und politisch „ganz ins deutsche Fahrwasser“ gelangte, also seiner Unabhängigkeit verlustig ginge und die nachbarschaftlichen Beziehungen zu Deutschland zerstört würden. Überaus pessimistisch stimmte ihn der allenthalben herrschende Nationalismus, auch der zu beobachtende Hass, beides werde langfristige Folgen haben. Von dieser Gefühlslage nahm er seine deutschen Kollegen nicht aus, hatte Heinrich Schäfer und Ludwig Borchardt seit 1914 nicht geschrieben in der berechtigten Sorge, dass „die beiden nationalistisch erregt sind“. Erman und auch Kurt Sethe unterstellte er Ähnliches nicht, war Erman dankbar für dessen „Ton“ der Briefe und „die Stimmung, die dieselben tragen“. Nur dies könne der Menschheit eine bessere Zukunft bereiten, „nicht der Geist der Presse, der Politik, der Finanz usw.“. Als sich der Krieg auch im Juni 1918 noch fortsetzte, war Lange geradezu verzweifelt, sah für die Ägyptologie und die Wissenschaft düsterste Aussichten, glaubte kaum noch an nach dem Krieg mögliche internationale Kooperationen.378
377 Lange an Erman, 2. Mai 1918. UBB NLE Lange. 378 Lange an Erman, 5. Juni 1918. UBB NLE Lange.
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Dies wog umso schwerer für ihn, als er sich in einer isolierten Lage befand, kaum noch Kontakt zu Crum, Gardiner und Griffith haben konnte. Aus der Ferne nur konnte er die Aktivitäten der französischen Ägyptologen beobachten.379 Dennoch trieb ihn der Plan um, nach dem Krieg eine „herzliche Kooperation“ internationaler Museen und „einiger Ägyptologen“ zu installieren. Als Akteure stellte er sich vor allem Lacau, Grapow, Blackman und sich selbst vor. Finanzielle Unterstützung sollte von Dänemark kommen (etwa 10.000 Mark), Publikationen sollten „auf neutralem Grund“ geschehen, am besten in Kopenhagen. Auch waren in Dänemark Pläne im Gange, das koptische Wörterbuch zu finanzieren. Denn „wir Neutralen möchten ja gern nach dem Krieg Brücken bauen und in der Wissenschaft eine neue Annäherung bereiten“, was nicht leicht sein werde. Keineswegs waren Langes Pläne nur selbstlos und pazifistisch motiviert, sondern zielten auch darauf ab, Dänemark als attraktiven Wissenschaftsstandort und damit sich selbst langfristig als Wissenschaftler von Rang zu positionieren. Ihm war deutlich, dass die Weichen nach dem Krieg anders gestellt werden würden, weshalb eine frühzeitige Positionierung bedeutsam war. Zweifellos war Lange ein politisch denkender Mensch, stand den deutschen Sozialdemokraten erkennbar nah, was er vor Erman nicht verbarg, beispielsweise indem er diesen auf seine aktuelle, ihm wichtig und richtig erscheinende Lektüre der Überlegungen von Hans Delbrück hinwies und damit implizit seine Hoffnung ausdrückte, dass Deutschland Abstand nahm von seinem expansionistischen und annexionistischen Kurs, sich stattdessen auf Gebietserwerbungen vor allem in Afrika konzentrierte.380 Es verwundert nicht, dass Lange das Kriegsende als „Anfang der Genesung“ und Ende des Militarismus begrüßte, darauf hoffend, dass die noch auf „beiden Seiten“ bestehende „Bitterkeit“, zumal „hinter der Front“, „allmählich abnehmen“ werde, so dass auch in der Wissenschaft wieder mit dem Aufbau begonnen werden könne.381 Dänemark
379 Lacau hatte seines Wissens nach angefangen, religiöse Texte des Mittleren Reiches zu veröffentlichen, Publikationen, die angesichts fehlender internationaler Zusammenarbeiten etliche Defizite aufwiesen. 380 Lange an Erman, September 1918. UBB NLE, Lange. Delbrück (1848–1929), Historiker und Politiker, lehnte den aggressiven Militarismus von Kaiser Wilhelm II. ab, wandte sich auch gegen den Alldeutschen Verband. Nach dem Krieg griff er vor allem Ludendorff scharf an. Lange bezog sich auf die von Delbrück 1917 veröffentlichte Schrift „Versöhnungs-Friede. Macht-Friede. Deutscher Friede“. Darin sprach er sich gegen Annexionen Deutschlands in Europa aus, trat für Versöhnung ein. Deutlich plädierte er dafür, dass Deutschland sich größere Territorien (Kolonien) vor allem in Afrika sichern sollte, womit innereuropäische Konflikte vermieden und ökonomischer Nutzen erzielt würden. 381 Lange an Erman, 13. Oktober 1918. UBB NLE Lange.
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wolle zukünftig internationale wissenschaftliche Unternehmungen organisieren und finanzieren.382 Wesentlich problematischer als zu den Ägyptologen aus USA und neutralen Länder waren zwangsläufig die Beziehungen zu britischen Ägyptologen, galt England doch auch den meisten deutschen Ägyptologen als der meistgehasste Feind, was sich nicht zuletzt im dem auch von vielen deutschen Ägyptologen unterzeichneten Manifest der deutschen Hochschullehrer vom Oktober 1914 ausdrückte. Die Haltung der britischen Ägyptologen war meist deutlicher und differenzierter zugleich. Prominentester britischer Ägyptologe dieser Zeit war zweifellos Francis Ll. Griffith (1862–1934).383 Zwischen ihm und seinem deutschen ‚Gegenpart‘ Adolf Erman war die Beziehung längere Zeit eher kühl, baute sich aber tendenziell zu einer vertrauensvollen auf, wie die Anreden verraten. In seinen ersten Briefen (1888/89) sprach Griffith seinen deutschen Kollegen noch mit „Dear Sir“ an, später dann (um 1900) mit „Dear Professor Erman“ und schließlich mit „Dear Friend“.384 Dieses über Jahre entwickelte Vertrauensverhältnis löste sich mit Kriegsbeginn auf, was schon Griffith’ erster Nachkriegsbrief an Erman vom 30. November 1919 unschwer erkennen lässt. Weder hatte er eine Anrede noch enthielt er irgendeine, vor dem Krieg übliche persönliche Bemerkung. Vielmehr finden sich implizite Vorwürfe, etwa jener, dass wissenschaftliche Veröffentlichungen kaum mehr möglich seien, man auf bessere Zeiten hoffen müsse – „here at any rate“.385 Nach 1918 flossen Griffith’ Briefe an Erman nur noch spärlich, waren nüchtern formuliert und auf wissenschaftlichen Austausch reduziert. Mit deutlichen Aussagen hielt Griffith sich zurück, beschränkte sich 1920 auf die Beobachtung, in England herrsche nach wie vor „great bitterness of feelings“ gegenüber Deutschland. Es sollte Jahre dauern, bis das Eis zu schmelzen begann. Doch wurde Erman nie mehr zum „dear friend“, immerhin aber zu „my dear Erman“, dem Griffith 1926 erstmals wieder einen Besuch in Berlin abstattete und den er einlud, während des Orientalistenkongresses in Oxford im August/ September 1928 bei ihm zu wohnen.386
382 Bezüglich der Ägyptologie dachte er primär an das koptische Wörterbuch und eine vollständige Ausgabe der Sargtexte des Mittleren Reiches. 383 Studierte am Queen’s College (Oxford) 1879, Grabungen mit Flinders Petrie und Naville in Ägypten 1884–1888, später in Nubien 1910–1913; arbeitete am British Museum London 1888–1896, Assistent im Department für Ägyptologie am University College London 1891–1901, Dozent für Ägyptologie in Oxford 1901, dort Professor ab 1924. Who-was-Who, 2012, S. 227 f. 384 UBB NLE Griffith. 385 Griffith an Erman. UBB NLE Griffith. 386 Griffith an Erman, 31. Juli 1927. UBB NLE Griffith.
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Anders verhielt es sich bei Norman de Garis Davies (1865–1941),387 der eine Zeitlang in Marburg Theologie studiert hatte und dessen Verhältnis zu Erman ein vertrauensvoll-freundschaftliches war. Welche Haltung er angesichts des Krieges einzunehmen hatte, stand für Davies außer Frage. Selbstverständlich hatten Engländer ebenso wie Deutsche loyal gegenüber ihrem Heimatland zu sein. Genauso selbstverständlich aber war ihm, dass dies nicht zur Auflösung von Freundschaften führen durfte, denn diese zeichneten sich durch gemeinsame Ideale aus, die größeren Bestand haben sollten als kriegerische Auseinandersetzungen. „However it may end, international friendship still holding fast“, versprach er Erman am 16. September 1914, dessen diesbezügliche Sorgen er kannte.388 Davies war Realist und prophezeite frühzeitig, dass man nach dem Krieg mehr verloren als gewonnen haben werde. Bestand haben sollten aber Freundschaften. Dem entsprechend hielt er an der Beziehung zu Erman fest, erklärte ihn schon in seinem ersten Nachkriegsschreiben als seinen „Freund“.389 Dies war ebenso Ermans Bemühungen zu danken, der wiederholt freundschaftliche Signale ausgesandt hatte.390 Dennoch blieben bei Davies Vorbehalte. Nach dem Krieg bekannte er, „vom Deutschen Volke“ nie wieder so denken zu können „wie früher“. Davon nahm er seine deutschen Freunde aus, denn in ehrlicher Freundschaft sah er die „einzige Hoffnung und Rettung für die Menschheit“, auch wenn er es für überaus schwierig hielt, die vor dem Krieg bestehenden vertrauensvollen Beziehungen wieder aufzubauen.391 Ähnlich sah es der Koptologe Walter Crum, dessen Neffe an demselben Tag den Soldatentod starb wie Ermans Sohn. Bei aller Trauer verstand Crum dies auch als erneut gefestigten Bund zwischen sich und seinem Berliner Kollegen, an dessen Freundschaft ihm ungemein gelegen war.392 Deshalb sandte er, soweit es ihm möglich war, immer wieder „Lebenszeichen“, einmal aus dem belgischen Leiden, dann aus Lausanne und aus London. Wiederholt versicherte er Erman, dass „alte Freundschaftsgefühle sich ja nicht ändern, trotz der Hindernisse von heute“.393
387 Studierte in Glasgow, später in Marburg, Ehrenmitglied des Deutschen Archäologischen Instituts 1928. Seine Ehefrau Nina (1881–1965) brachte ihn zur Ägyptologie, die er daraufhin studierte. Arbeitete ab 1901 für die EES, später auch mit Breasted und Reisner, ließ sich ab 1907 fast dauerhaft in Theben nieder. Who-was-Who, 2012, S. 144 f. 388 UBB NLE Davies. 389 Davies an Erman, 3. August 1919. UBB NLE Davies. 390 So hatte er 1916 in einem Referat zu Walter Wreszinskis Atlas Davies sehr lobend erwähnt, was dieser positiv vermerkte. Davies an Erman, 3. August 1919. UBB NLE Davies. 391 Davies an Erman, 3. u. 17. August 1919. UBB NLE Davies. 392 Crum (aus Leiden, bei Boeser) an Erman, 18. Juli 1916. UBB NLE Crum. 393 Crum an Erman, 5. Dezember 1917. UBB NLE Crum.
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Abb. 10: Walter Crum mit Ehefrau
Welche politischen Haltungen die britischen Ägyptologen tatsächlich während und im Umfeld des Krieges pflegten, konnten ihre deutschen Kollegen zunächst nur vermuten oder Gerüchten entnehmen. Erst im Nachhinein enthüllten sich Facetten, so etwa durch die Schreiben des britischen Ägyptologen Arthur Weigall (1880–1934).394 Näher miteinander bekannt waren Erman und Weigall nicht. In seiner Position als Chief Inspector of Antiquities der ägyptischen Regierung in Ober-Ägypten (1905–1914) hatte Weigall Erman vor dem Krieg versichert, ihm jede nur mögliche Hilfe zukommen lassen, als dessen „unofficial agent in Egypt“ tätig sein zu wollen.395 Dies mag aus Bewunderung für Erman geschehen sein. Denn tatsächlich hatte Weigall diesen im Jahre 1900 noch als Schuljunge, vermittelt von deutschen Freunden, in Berlin kennengelernt. Nach dem Krieg zeigte Weigall keine Berührungsängste, bat Erman 1919, ihm einige Fotografien zukommen zu lassen, weil der Besuch ausländischer Museen ihm unmöglich
394 Studierte am New College (Oxford), Assistent von Flinders Petrie, arbeitete u. a. bei den Grabungen in Theben eng mit Robert Mond zusammen, zeigte insgesamt einen sehr individuellen Forschungszugang. Who-was-Who, 2012, S. 570. 395 Weigall an Erman, 14. November o. J. (um 1904). UBB NLE Weigall.
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sei.396 1914 hatte Weigall seine Position in Ober-Ägypten aufgegeben, konnte aus Krankheitsgründen aber nicht zur Armee. Er zog sich in das vom Krieg nicht tangierte Oxford zurück, lebte in der Nachbarschaft von Griffith, Grenfell,397 Hunt, Blackman,398 Sayce399 und Davies. Seine Nachkriegsbefürchtung war, dass Deutsche und Engländer sich wohl lange Zeit nicht würden treffen können. Umso mehr hoffte er auf einen zukünftigen „mutual meeting ground“ aller Ägyptologen. Bei Erman fielen solche Bemerkungen auf fruchtbaren Boden; er versorgte Weigall mit Büchern, gab Anfragen auch an Heinrich Schäfer weiter. Damit war eine Vertrauensbasis geschaffen, die Weigall veranlasste, sich genauer über die durchaus unterschiedlichen Haltungen seiner britischen Kollegen auszulassen.400 Seiner Darstellung zufolge zeigte sich Davies während des Krieges als „a very violent patriot“, der „breathed fire and smoke from his nostrils all the time“. Solches war Weigall fremd, weshalb Davies ihn für einen Weichling hielt, obwohl Weigall zu Beginn des Krieges einige „rather violent“ Artikel in Londoner Zeitungen veröffentlicht, diese Haltung aber später stark abgemildert hatte. Gänzlich anders äußerte sich Alan Gardiner, der konsequent seine „very lofty plane of thought“ beibehalten und betont hatte, nur denjenigen als seinen Landsmann zu betrachten, der dieselbe Lebenseinstellung wie er vertrete. Damit schockierte er seine Kollegen nicht wenig. Weigall gestand, dass Gardiner aus seiner Sicht letztlich im Recht gewesen war und auch deshalb zu seinen besten Freunden zählte. Gardiner bildete eher die Ausnahme. Arthur Hunt (1871–1934)401 ließ sämtliche Arbeiten an griechischen Papyri fallen und trat in die Armee ein, weil er dies als seine Pflicht betrachtete. Griffith war laut Weigall „as always non-committal“. Flinders Petrie (1853–1942)402 zeigte sich „wildly savage and rather reminded 396 Weigall an Erman, 15. Dezember 1919. UBB NLE Weigall. 397 Francis Algeron Wallace, 1st Baron Grenfell (1841–1925), britischer Soldat und HobbyArchäologe, Präsident der EES 1916–1919, bei der Armee im Sudan 1882–1889, Grabungen in Assuan 1886. Who-was-Who, 2012, S. 226. 398 Aylward Manley Blackman (1883–1956), studierte am Queen’s College (Oxford) unter Griffith, arbeitete 1906–1908 in Nubien unter Reisner, 1912 angestellt am Worcester College (Oxford), Professor für Ägyptologie Universität Liverpool 1934–1948, Mitglied des Vorstands der EES. Whowas-Who, 2012, S. 62. 399 Archibald Henry Sayce (1845–1933), Assyriologe, studierte am Queen’s College (Oxford), Professor für Assyriologie Universität Oxford 1891–1919, reiste häufig nach Ägypten, verbrachte die Winter dort, hatte enge Beziehungen zu vielen Ägyptologen. Who-was-Who, 2012, S. 489 f. 400 Weigall an Erman, 7. Januar 1920. UBB NLE Weigall. 401 Papyrologe, studierte am Queen’s College (Oxford), Professor für Papyrologie in Oxford (1913–1934), Grabungen in Ägypten 1895–1907. Who-was-Who, 2012, S. 269 f. 402 Ägyptologe, reiste 1881 erstmals nach Ägypten, wurde ab 1883/84 von Amelia Edwards, der Gründerin des Egypt Exploration Fund, mehrfach nach Ägypten zu Grabungen entsandt, besetzte später den ersten Lehrstuhl für Ägyptologie (am University College London).
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one of Fritz von Bissing“.403 Letzterer hatte zu Beginn des Krieges den Kollegen in Oxford geschrieben, dass „England was to be utterly destroyed and Oxford razed to the ground, and advised us all to fly for our lives, as he and his friends were going to slaughter man, woman and child“. Diese bösen Bemerkungen trug Weigall nicht nach, sondern erinnerte sich lieber daran, wie freundlich von Bissing ihn stets in Ägypten und München behandelt hatte. Auch wenn Weigall versicherte, mit Gewissheit seien sämtliche Beteiligten auf allen Seiten ehrlich davon überzeugt gewesen, in Verteidigung gehandelt zu haben, war dies wohl eher eine freundliche Geste gegenüber Erman und indirektes Verzeihen von dessen Verlautbarungen während des Krieges. Doch über Deutschland und die Deutschen zu triumphieren, lag nicht in Weigalls Interesse, wäre aus seiner Sicht ein Zeichen schlechten Geschmacks gewesen. Dennoch sollten diese freundlichen Bemerkungen nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Krieg vor allem zwischen englischen und deutschen Wissenschaftlern einschließlich der Ägyptologen tiefe Gräben riss. Schon kurz nach dem Aufruf „An die Kulturwelt!“, Oktober 1914, meldeten sich in England etliche Schriftsteller öffentlich zu Wort und verurteilten den Überfall Deutschlands auf Belgien ebenso aufs schärfste wie die öffentlichen Kundgebungen von Deutschen aus Kultur und Wissenschaft. Am 21. Oktober 1914 erschien in der ‚Times‘ eine Erklärung von 120 britischen Gelehrten. In diesem „Reply to German Professors. Reasoned Statement by British Scholars. Origin and Conduct of the War“ bedauerten die britischen Wissenschaftler die öffentlichen Äußerungen ihrer deutschen Kollegen, denen sie vielfach auch freundschaftlich verbunden waren.404 Weniger maßvoll, sondern eher vernichtend fiel die Reaktion auf die öffentlichen Verlautbarungen deutscher Künstler und Gelehrten in Frankreich aus. Im Herbst 1914 wurde sogar diskutiert, die Unterzeichner der Aufrufe aus der ‚Académie des Inscriptions et Belles-lettres“ auszuschließen, wozu es Anfang 1915 tatsächlich kam. Ausgeschlossen wurde Wilamowitz-Moellendorf, einige französische Mitglieder der Berliner Akademie traten aus dieser zurück. Zwar befürworteten beispielsweise Wilamowitz und Eduard Meyer scharfe Gegen-
403 Friedrich Wilhelm v. Bissing (1873–1956), deutscher Ägyptologe, studierte Klassische Philologie, Archäologie, Kunstgeschichte und Ägyptologie an der Universität Bonn (1892– 1896), danach bei Erman in Berlin; in Ägypten 1897, wo er am Kairo-Katalog von Maspero mitarbeitete; mit LB Grabung in Abu Gurob 1898–1901. Während des 1. WK produzierte er Propagandamaterial für Deutschland im besetzten Belgien, Professor für Ägyptologie Universität München 1906–1922, Universität Utrecht 1922–1926; 1925 Mitglied der NSDAP. Who-was-Who, 2012, S. 61 f. 404 Jürgen von Ungern-Sternberg, Wolfgang von Ungern-Sternberg: Der Aufruf, 1996, S. 95.
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maßnahmen, wurden aber von Max Planck und Adolf Erman zu Mäßigung veranlasst.405
2.3 Kriegsfolgen Die wohl in der Mehrzahl kriegsbegeisterten deutschen Ägyptologen, die vom deutschen Verteidigungskrieg überzeugt waren und ihren Hass vor allem gegen England richteten, bildeten in Deutschland nicht die Ausnahme, auch nicht innerhalb der Professorenschaft.406 Dennoch erstaunt dies angesichts der auf internationaler Zusammenarbeit fußenden wissenschaftlichen Arbeit und langjährigen kollegial-freundschaftlichen Beziehungen. Dabei waren vor allem Ägyptologen jüdischer Herkunft von Beginn an von einem „electrified enthusiasm“, wollten die Aussage Kaiser Wilhelms vom 5. August 1914 („Ich sehe keine Parteien mehr, nur doch Deutsche“) allzu gerne auch auf sich beziehen.407 Wie zu sehen war, schufen der Krieg und die allseitigen öffentlichen Verlautbarungen tiefes Misstrauen, wie manche Ägyptologen schon frühzeitig prophezeit hatten und wie es ähnlich auch in andern Disziplinen auftrat.408 Abzubauen war es allenfalls im Laufe von Jahren, obschon etliche sich unmittelbar nach Kriegsende die alte Freundschaft versicherten. Ebenso unverkennbar war, dass der Krieg die wissenschaftspolitischen Gewichte verschob. Nicht nur der dänische Koptologe Lange verfolgte das Ziel, die wissenschaftspolitische Neusortierung und die Ausgrenzung deutscher Wissenschaftler zu seinen bzw. Dänemarks Gunsten zu nutzen. Dies konnte weder Erman noch andern deutschen Ägyptologen verborgen bleiben. Dennoch und gerade deshalb mussten sie darauf bedacht 405 „Nach dem Ende des Krieges kam es freilich zum Boykott der deutschen Akademien auf englisches und französisches Betreiben hin für etwa zehn Jahre.“ Jürgen von Ungern-Sternberg, Wolfgang von Ungern-Sternberg: Der Aufruf, 1996, S. 97. 406 „Der Weltkrieg, ein ‚unvermeidliches Elementarereignis‘, veranlasst von der ‚infernalischen Einkreisung‘, ein ‚Deutschland aufgezwungener Daseinskampf‘ – das war die Grundüberzeugung praktisch aller deutschen Professoren zu Kriegsbeginn und vieler auch noch später. Einigendes Band über alle Gegensätze hinweg war das rauschhafte Erlebnis der spannungslosen Volksgemeinschaft während der ersten Kriegstage.“ Bernhard vom Brocke: Wissenschaft, 1985, S. 707 f. 407 Peter Pulzer: Jews, 2003, S. 194. 408 Capart schrieb am 12. September 1915 an von Bissing: „Un jour cependant, quand il n’y aura plus une seule vérité officielle et obligatoire, je demanderai à mes amis allemands s’il n’existe pas entre nous une barrière morale décidément infranchissable“. Zitiert nach: Jean-Michel Bruffaerts: Bruxelles, 2013, S. 213. Bei Orientalisten, Arabisten und Islamwissenschaftlern zeigte sich eine parallele Entwicklung wie bei den Ägyptologen, vgl. Ludmila Hanisch: Die Nachfolger, 2003, S. 86–90.
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sein, die internationalen Beziehungen so rasch wie möglich wieder anzuknüpfen, vertrauensbildend zu wirken. Schwierig bzw. unter veränderten Vorzeichen stehend war die erneute Anbindung an Nord-Amerika. Als Breasted sich 1921 erstmals wieder bei Erman meldete, hatte er scheinbar nur Positives zu vermelden, etwa dass sowohl er als auch sein Kollege Ludlow Bull (1886–1954)409 das Berliner Wörterbuch unterstützen wollten.410 Darüber hinaus hatte er seinen Freund, den wohlhabenden Kaufmann J.M. Wulfing, ebenfalls für das Unternehmen begeistern und zu finanzieller Unterstützung motivieren können.411 Auch Alltagssorgen hatte Breasted im Blick, ließ Erman über das „American Red Cross“ in Hamburg 200 Pfund Zucker zukommen, die er mit Schäfer und Möller teilen sollte. Als Breasted im September 1922 Besuch in Deutschland machte, beraumte er nicht nur Treffen bei Erman in Berlin, sondern auch bei seinem Freund Kurt Sethe in Göttingen an. Über die „American Express Company“ schickte er 1923 erneut Geld an Erman, wobei er die Schecks zu je 5 Dollar auf den Namen Käthe Erman ausstellte.412 Mehr als die Pflege der Beziehungen zu seinen deutschen Kollegen, denen er tatsächlich nicht unwesentlich seine Karriere verdankte, trieben ihn die Positionierung und nachhaltige Etablierung der amerikanischen Ägyptologie in Ägypten um. Als er Anfang 1924, versehen mit diversen, in England erhaltenen hochrangigen Empfehlungsschreiben in Ägypten erschien, war ihm klar, dass dort auch wieder Deutsche, die erst seit Kurzem wieder in Ägypten zugelassen waren, für ihn tätig sein würden.413 Das dortige Zusammentreffen 1925 mit Heinrich Schäfer und Kurt Sethe schien wieder ähnlich vertraut wie in der Vorkriegszeit. Entschieden wandte Breasted sich gegen die in England von Frankreich betriebene deutschenfeindliche Politik, was sich in erster Linie gegen den Franzosen Pierre Lacau, Leiter des Antikendienstes in Ägypten, richtete.414 Die Opposition
409 Amerikanischer Ägyptologe, studierte in Yale, Harvard und Chicago, 1923 erstmals in Ägypten, lehrte an der Yale Universität ab 1925. Who-was-Who, 2012, S. 92 410 Breasted an Erman, 21. Juni 1921. UBB NLE Breasted. 411 Breasted an Erman, 26. September 1921. UBB NLE Breasted. 412 Breasted an Erman, 18. Dezember 1923. UBB NLE Breasted. Er selbst und T. George Allen sandten jeweils 50 Dollar, was sie auch in den darauffolgenden Monaten fortsetzten. 413 Breasted an Erman, 4. Oktober 1924. UBB NLE Breasted. Bollacher war mit ihm bei der Grabung in Medinet Habu tätig. Im Sommer 1925 traf Breasted sich in London mit dem jungen Berliner Ägyptologen Rudolf Anthes, später Assistent von Ludwig Borchardt in Kairo. Bei seinem Ägyptenaufenthalt, 1925, wohnte Breasted im neuen Luxor „Headquarter“ der Amerikaner, pendelte zwischen Kairo und Luxor, während seine Ehefrau Frances in Luxor blieb. Breasted an Erman, 4. Juli 1925. UBB NLE Breasted. 414 Im Gegensatz zu Reisner, der mit Lacau befreundet war, versuchte Breasted dessen Position zu unterminieren. Dazu ausführlich: James F. Goode: Negotiating, 2007, S. 86–91.
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konnte er sich auch deshalb erlauben, weil sich infolge des Krieges die Gewichte innerhalb der internationalen Ägyptologie zugunsten der USA und zu Ungunsten Europas verschoben hatten, wie Lange bereits 1918 vorausgesehen hatte.415 Um ein Gegengewicht gegen die Dominanzansprüche vor allem Frankreichs zu schaffen, war für Breasted die Unterstützung seitens Deutschland von großem Interesse; diese galt es zu sichern. Trotz dieser erneuten Annäherungen war doch unverkennbar, dass die Vorkriegsunbefangenheit innerhalb der internationalen Ägyptologenschaft nach 1918 geschwunden war, sich teilweise auch nicht mehr oder nur nach Längerem wieder einstellte. Der Hass gegen England, wie ihn nicht nur Borchardt und Steindorff während des Krieges offen äußerten, war mit Kriegsende nicht unmittelbar ungeschehen und unausgesprochen zu machen, ließ zumal die britischen Ägyptologen trotz aller Loyalität, vor allem gegenüber Adolf Erman, reserviert bzw. vorsichtig bleiben. Dabei ist zu bedenken, dass auch die Unterzeichner der Manifeste von 1914 durchaus irrationalen Bedürfnissen folgten, dass der Hass auf beiden Seiten keineswegs allgemein ‚den Feinden‘ galt. Doch war er auf Seiten der Deutschen vor allem gegenüber England besonders „leidenschaftlich“, einem Land gegenüber, das man mit Grund glaubte fürchten zu müssen und dem man sich unterlegen fühlte.416 Dies traf auch auf die deutschen Ägyptologen zu, die in ihren britischen Kollegen zwar kooperative Partner fanden, aber ebenso die schärfsten Konkurrenten. Überlegen fühlte man sich hingegen den Amerikanern, die seitens der deutschen Ägyptologen mehr als ‚Lehrlinge‘ wahrgenommen wurden als als Partner auf Augenhöhe. Dass gerade sie es waren, die sich während des Krieges und in der Nachkriegszeit von den Deutschen emanzipierten und sie schließlich überflügelten, war eine von deutschen Ägyptologen mit Erstaunen wahrgenommene, auch in andern Disziplinen keineswegs ungewöhnliche Entwicklung, die zumal in Ägypten augenfällig wurde.417 Aufgrund der durch den Krieg verursachten Befindlichkeiten konnte es kaum erstaunen, dass die Neuetablierung des deutschen archäologischen Instituts in Kairo, die bei Kriegsende mehr als in Frage stand, vor allem von England und Frankreich zunächst wenig gewünscht war. Zu Recht galt dieses ebenso wie andere nationale Institute als „vorgeschobener Posten nationalbewusster For-
415 „Nach dem Krieg wird wahrscheinlich Amerika mehr als die ganze übrige Welt auf wissenschaftliche Zwecke opfern können und die besten von allen Ländern an sich saugen.“ Lange an Erman, September 1918. UBB NLE Lange. 416 Jürgen von Ungern-Sternberg, Wolfgang von Ungern-Sternberg: Der Aufruf, 1996, S. 110. Zu beobachten war die amerikanische Emanzipation von der deutschen Hegemonie vor allem auch in der Alt-Philologie. Bernhard vom Brocke: Wissenschaft, 1985, S. 679. 417 Vgl. dazu die Ausführungen von James F. Goode: Negotiating, 2007, S. 67–125.
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schung und Wissenschaft“, der Leiter ebenso wie der Diplomat als „Wahrer staatlichen Interesses“.418 Jenseits dieser politischen Erwägungen war man sich nach dem Krieg innerhalb der Wissenschaftswelt dennoch einig, dass die „Verunglimpfungen und Hassausbrüche“ zu weit gegangen waren, der Einzelne „in seinem Ehrgefühl zu tief verletzt und das gegenseitige Vertrauen zu bitter enttäuscht“ worden war. Als einer der wenigen Optimisten zeigte sich der Oxforder Altphilologe Gilbert Murray, der die „Gelehrtenwelt vereint voraussah wie die Krieger nach der Schlacht, froh, sich einander die Wunden verbinden zu können“.419 Es erstaunt nicht, dass Murray zu jenen britischen Wissenschaftlern gehörte, die sich unmittelbar nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten, 1933, intensiv für Verfolgte dieses Regimes einsetzten, darunter einige Schüler des von ihm geschätzten Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf.420 In ihrer Frustration zogen sich etliche deutsche Wissenschaftler, ähnlich wie Georg Steindorff, darauf zurück, dass man in Deutschland ohne internationale Zusammenarbeit und Anbindung hervorragend wissenschaftlich arbeiten könne, das Ausland sogar auf deutsche Wissenschaftler angewiesen sei. Dies war nicht zuletzt eine trotzige Reaktion darauf, dass die gesamte deutsche Wissenschaft etliche Jahre von internationalen Zusammenarbeiten ausgeschlossen blieb. Nicht zugelassen war sie bis teilweise Ende der 1920er Jahre in den zwei nach dem Krieg in Brüssel gegründeten Internationalen Wissenschaftsorganisationen – dem Internationalen Forschungsrat und der Internationalen Akademischen Union.421 Zu Letzterer gehörte seit Ende 1919 die dänische Akademie, zu der Erman wegen Lange zumindest inoffiziell Zugang hatte. Lange betonte gegenüber Erman, dass die Dänen als „Mittler und Förderer einer wirklichen ‚respublica literarum‘“ wirken wollten und jederzeit bereit seien, „Hand in Hand mit den deutschen Akademien zu arbeiten“.422 Dass sich die deutsche Forschung vorläufig allerdings weder in Ägypten noch in Vorder-Asien beteiligen konnte, bedauerte Lange zwar, hielt es aber für berechtigt. Erman reagierte darauf nicht beleidigt, sondern versuchte, mögliche weltanschauliche Differenzen aus dem Weg zu räumen oder zumindest so weit beiseite zu lassen, dass die kollegial-freundschaftliche Beziehung nicht gestört war. Er war sich dennoch unsicher, ob dies gelingen könnte, fragte Ende 1919 besorgt bei Lange nach, weshalb er nicht gleich auf seinen Brief geantwor418 Brigitte Schröder-Gudehus: Deutsche Wissenschaft, 1966, S. 38. 419 Brigitte Schröder-Gudehus: Deutsche Wissenschaft, 1966, S. 83. 420 Nach Oxford emigierten Eduard Fraenkel, Paul Maas und Felix Jacoby. 421 Brigitte Schröder-Gudehus: Deutsche Wissenschaft, 1966, S. 9. 422 Lange an Erman, 24. Dezember 1919. UBB NLE Lange. Die entsprechende Briefpassage ist von Erman mit Bleistift markiert. Lange lud Erman mit diesem Schreiben zu einem Besuch ein.
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tet habe, ob etwa allzu große weltanschauliche Differenzen der Grund seien. Dass die Anschauungen differierten leugnete Lange nicht, räumte aber Ermans Bedenken aus dem Weg.423 Ihm als überzeugtem Demokraten war die „preußische Denkart“ fremd, über viele Handlungsweisen der Deutschen während des Krieges war er „betrübt“, doch die Beziehung zu deutschen Freunden sollte dies nicht tangieren, außer diese hegten alldeutsche Annexionsgedanken, von denen er bei Erman nichts bemerkt hatte. Wie schon des Öfteren lud Lange Erman zu einem Besuch nach Kopenhagen ein, freute sich schon im Vorfeld auf den intensiven fachlichen Austausch unter Vermeidung jeden politischen Inhalts. Erman waren Reisen noch nicht gestattet, er revanchierte sich für Langes guten Willen mit der Zusendung diverser Schriften, die natürlich auch dazu dienten, die deutsche Ägyptologie nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Zusätzlich drückten Erman noch andere Sorgen. Er sah die geplante Drucklegung des „Wörterbuchs“ wegen fehlender Finanzierung in Gefahr. Lange wusste, dass die „Stimmung bei französischen, belgischen und einem großen Teil der englischen Gelehrten (…) für internationale Cooperation nicht günstig“ war und bot an, gegebenenfalls in Dänemark Geld aufzutreiben, was Erman dazu berechtigte, in seinen Wörterbuch-Berichten die Internationalität dieser Forschungsarbeit zu unterstreichen.424 Lange versprach, bei der von ihm geplanten Serie „Anecdota Coptica“ auch deutsche Wissenschaftler einbinden zu wollen. Wie sehr die Kriegserfahrungen nach wie vor belasteten, zeigten scheinbar am Rande eingestreute Berichte Langes, etwa über das Schicksal von Kollegen425 oder den Besuch des belgischen, seit 1925 als Leiter des Brüsseler Musée Royaux du Cinquentenaire tätigen Ägyptologen Jean Capart (1877–1947) in Kopenhagen. Dieser berichtete „Verschiedenes von Bissing und seinem Auftreten in Brüssel während der Okkupation“. Über Capart hatte Lange nur Positives zu berichten, über von Bissing, der in Belgien „viel Schaden“ angerichtet habe, nur Negatives. Obwohl von Bissing nicht zu den von Erman Favorisierten gehörte, waren Langes Bemerkungen feine Nadelstiche, indem von Bissing als repräsentativer Deutscher und Ägyptologe erschien. Tatsächlich waren von Bissings Engagement für die deutsche Kriegspropaganda in Belgien und seine Bemühungen zur Flamisierung der Universität Gent nicht gerade rühmlich,426 wurden aber von seinem Vater,
423 Lange an Erman, 25. Januar 1919 (beantw. 3. Februar 1919). UBB NLE Lange. 424 Parallel dazu versorgte er Erman und seine Mitarbeiter mit Materialien wie Fotografien und Texten. Lange an Erman, 2. März 1919, 11. April 1919. UBB NLE Lange. 425 Dass Wilhelm Spiegelberg seinen Lehrstuhl in Straßburg verlassen musste unter Zurücklassung seiner wertvollen Sammlungen, bedauerte Lange. Vom Verbleib des Petersburger Ägyptologen Golenischeff war seit Längerem nichts bekannt. 426 Peter Raulwing, Thomas Gertzen: Von Bissing, 2013, S. 47.
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Generaloberst Moritz von Bissing, der als General-Gouverneur in Belgien fungierte, gutgeheißen.427 Vertrauensbildend wirkten auch von Bissings Mitte 1916 angestellte Überlegungen „Über einen deutschen Angriff auf Aegypten“ nicht.428 Obwohl Lange durchaus Verständnis für die von Erman berichteten Nöte in Deutschland zeigte, hatte er mehr Mitgefühl mit den Franzosen.429 Nordfrankreich sei „verwüstet und ausgeplündert, die Deportationen (…) von Tausenden von Frauen und jungen Mädchen und die brutalen Formen, in denen sie vollzogen wurden“, hätten „böses Blut erregt“, ließen die Franzosen auf Rache sinnen. Die Gelehrtenwelt sei außer sich wegen der Behandlung mehrerer „alter Professoren“ in Lille. Dennoch betrachtete Lange den Versailler Vertrag als „Unglück für die ganze Welt“, für das vor allem Frankreich verantwortlich sei und der in England bereits Widerstand hervorrufe.430 Lange sah voraus, dass ein „verzweifeltes Deutschland“ eine Gefahr für „alle“ darstellte. Dennoch tangierte ihn in erster Linie die Not in Frankreich, das mehr Kriegsopfer als Deutschland zu beklagen hatte. Aber er wollte verstehen, „wie das alles gekommen ist, wie die heutigen Zustände sich entwickelt haben, und welche Wege das deutsche Volk zu gehen gedenkt“.431 Er bedauerte zutiefst die Zerstörung materieller und kultureller Werte in Frankreich und Belgien, die dort infolge des Krieges herrschenden furchtbaren Zustände. Der nach wie vor in Frankreich, Belgien und Deutschland herrschende Hass lasse eine „traurige Zukunft“ ahnen, finde sich vor allem unter den „Gelehrten“, sodass eine zukünftige Zusammenarbeit unmöglich scheine. Beleg für die zunehmend nationale Ausrichtung war ihm ausgerechnet Crum, dessen koptisches Wörterbuch jahrelang von der Berliner Akademie finanziell unterstützt worden war. Zwischenzeitlich war es ein „ganz englisches Unternehmen“ geworden. Auch Langes Vorschlag einer Zusammenarbeit von ihm, Blackman und Grapow war von Lacau zurückgewiesen worden, weil dieser nicht mit Deutschen arbeiten wollte. Dies war keine Einzelerfahrung, sondern tauchte in ähnlicher Form immer wieder auf und konnte von den ehemals neutralen Ländern, deren Bemühungen als verfrüht abgewiesen wurden, nicht ausgeglichen werden. Lange versuchte, zumindest über das Wörterbuch eine internationale Kooperation zu organisieren, hatte dabei zugleich
427 Besonders hervor tat er sich durch seine „Flamen-Politik“, indem er die alten flämischen Divergenzen mit den Wallonen zur Spaltung der belgischen Bevölkerung ausnutzen wollte. Diesem ‚Projekt‘ widmete er sich mit „großer Begeisterung“, wie Richard Merton in seinen Erinnerungen festhielt. Richard Merton: Erinnernswertes, 1955, S. 9. Vgl. zur Rolle v.Bissings in Berlgien Thomas Gertzen: „Der verlorene Sohn“, 2016. 428 Peter Raulwing, Thomas Gertzen: Von Bissing, 2013, S. 49. 429 Lange an Erman, 26. Juli 1919. UBB NLE Lange. 430 Lange an Erman, 12. November 1919. UBB NLE Lange. 431 Lange an Erman, 17. Juni 1919. UBB NLE Lange.
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den Nutzen für die dänische Ägyptologie im Blick. Deutliches Interessen an einer Zusammenarbeit mit den Deutschen signalisierte zunächst nur Alan Gardiner,432 parallel dazu dehnte Georg Steindorff seine Korrespondenz auch auf Lange aus.433 Gardiner sollte nicht der Einzige bleiben, der die Deutschen wieder einzubinden bereit war. Ähnliches strebte wenig später auch Davies an, damit die alten Wunden heilen könnten.434 Im Januar 1920 war der Weg dorthin noch hürdenreich. Manche amerikanischen Ägyptologen hatten die Namen ihrer deutschen Kollegen aus ihren Veröffentlichungen gestrichen, auch etliche Deutsche zeigten sich starr, mieden, wie etwa Heinrich Schäfer, für lange Zeit den Kontakt beispielsweise mit englischen Kollegen.435 Fast durchweg agierte und formulierte Lange gegenüber Erman im Gestus des gelehrigen Schülers. Doch zumal infolge des Krieges war aus ihm längst ein Meister geworden, der mehr Fäden in der Hand hielt, über größeren Einfluss verfügte als sein ehemaliger Lehrer und Mentor. Mitunter ließ er es diesbezüglich nicht an Klarheit fehlen, beispielsweise als die Büste der Nofretete zur Disposition zu stehen schien, er folglich sogleich dänisches Interesse anmeldete.436 Auch, dass er die Deutschen bedauerte, verschwieg er nicht, ebensowenig, dass er die Franzosen trotz allen Verständnisses für „unvernünftig“ hielt. Es war offenbar schwieriger, Frieden zu machen als Krieg zu führen, jedenfalls nach Auffassung Langes. Seine wissenschaftspolitischen Interessen verlor Lange zu keinem Zeitpunkt aus den Augen. Auch deshalb interessierte ihn, dass England offenbar seine Grabungen in Tell el-Amarna fortsetzen wollte. Unklar war, ob Gardiner dabei die treibende Kraft war und ob der von den Deutschen vorgegebene Standard würde gehalten werden könnten – woran sogar Quibell zweifelte.437 Außer Frage stand, dass Deutschen vorläufig keine Grabungsmöglichkeit im „Orient“ offen stand, für die Verkürzung der Frist wollte Lange als „Neutraler“ eintreten, obschon ihn immer mehr Zweifel an der Sinnhaftigkeit solcher Unternehmungen beschlichen. Der Krieg habe bewiesen, „wie oberflächlich die ganze Kultur gewesen ist, wie primitiv und naiv die Menschen denken, welche ungeheure Macht Suggestion und sogenannte öffentliche Meinung hat, wie wenig die Menschen verstehen, von der Geschichte zu lernen“. 432 Lange an Erman, 26. Juli 1919. UBB NLE Lange. 433 Lange an Erman, 12. November 1919. UBB NLE Lange. 434 Davies an Erman, (Luxor) 20. Januar 1920. UBB NLE Davies. 435 Davies beklagte mehrfach, nichts mehr von Schäfer zu hören. An Erman schrieb er (26. April 1924): „I have not heard from brother Schaefer for long time. I am afraid that he may be in revolt again and enduring the hard fate of those that ‚kick against the pricks‘“. UBB NLE Davies. 436 Lange an Erman, 17. April 1919. UBB NLE Lange. 437 Im Herbst 1921 waren noch keine aufsehenerregenden Ergebnisse zu verkünden, wie Lange Erman berichtete.
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Dennoch wollte Lange unbedingt wieder mit internationalen Kollegen zusammenarbeiten, bei den sich „freundlich und versöhnlich“ gebenden Engländern vermitteln. Hindernis war die Haltung der Franzosen, die sich wie Lacau „sehr steil und abweisend“ verhielten, wogegen die Engländer nur wenig tun konnten. Solches war auch noch im November 1921 zu vermelden, anlässlich eines Gesprächs Langes mit französischen Wissenschaftlern.438 Die internationale Zusammenarbeit unter Einschluss der Deutschen gelang auch Jahre nach Kriegsende nur wenig, zumal sich Letztere nicht immer willig zeigten. So war es für Lange gänzlich unverständlich, schmerzhaft und nicht nachvollziehbar, dass sich Heinrich Schäfer, mit dem er in Kairo einige Zeit erfreulich zusammengearbeitet hatte, noch immer abweisend verhielt.439 In mehrfacher Hinsicht wegweisend war, dass als Erster Alan Gardiner einen wirklichen Neubeginn umsetzte, 1921 zusammen mit seiner Ehefrau das Ehepaar Erman in Berlin besuchte. Diese praktische Umsetzung von Unterstützung kennzeichnete auch Gardiners spätere Verhaltensweisen, als es um die Versorgung und Rettung verfolgter Kollegen ging. Doch stand dieser Besuch am Ende einer unerfreulichen Auseinandersetzung mit Erman. Gardiner hatte, als es um die Grabungskonzession der EES für Tell el-Amarna ging, die Erman zu erzürnten Bemerkungen hinriss, mit scharfen Worten nicht gespart, Erman vorgehalten, völlig ignorant gegenüber den Folgen der durch Deutschland zugefügten Leiden Frankreichs, Belgiens und Englands zu sein. Dabei hob er auch auf die deutsche Professorenschaft ab, die sich größtenteils als die „most extreme Chauvinists“ gezeigt habe, die Internationalität der Wissenschaft vergessend, nun also nicht erwarten könne, dass dies keine Spuren hinterlasse.440 Zwar hielt Erman dem entgegen, auch die britischen, französischen und amerikanischen Professoren hätten sich keineswegs neutral verhalten, seiner Überzeugung nach solle die Wissenschaft unpolitisch sein, obendrein habe Deutschland schwer unter den Friedensbedingungen zu leiden, doch wirklich überzeugen konnte er Gardiner nicht.441 Dieser lenkte später zwar etwas ein, aber ein Rest Misstrauen blieb trotz aller Loyalitäts- und Freundschaftsbekundungen. Zweifel daran, dass Deutschland mittelfristig beispielsweise keinerlei Grabungsrechte zustanden, ließ Gardiner nicht.442
438 Lange an Erman, 29. November 1921. UBB NLE Lange. 439 Lange an Erman, 12. Juli 1921. UBB NLE Lange. 440 Gardiner an Erman, 13. August 1920. UBB NLE Gardiner. 441 Erman an Gardiner, 24. August 1920. UBB NLE Gardiner. 442 Zu der Auseinandersetzung vgl. Thomas Gertzen: Anglo-Saxon Branch, 2015, wobei jedoch nicht der größere Kontext miteinbezogen ist, die im GIO lagernden Korrespondenzen wohl nicht untersucht wurden.
2.3 Kriegsfolgen
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Im Rahmen seiner Möglichkeiten griff auch der Schweizer Ägyptologe JeanJacques Hess (1866–1949)443 helfend ein, bat seinen Kollegen Lange, nachdem er erfahren hatte, dass die Engländer Borchardts Haus in Kairo verkaufen wollten, dagegen Protest einzulegen.444 Doch war auch 1922 „this spirit of distrust“ noch nicht geschwunden, sodass „there is nothing for it but for the men of good-will to work and wait“, wie Davies an Erman schrieb.445 In Frankreich wurde der Deutschenhass nach Langes Beobachtung so weit vorangetrieben, dass er irgendwann Europa zugrunde richten musste. Vor der Wissenschaft machte dieser Hass nicht Halt und verhinderte „die natürlichen und notwendigen Verbindungen“.446 Dem Beispiel Gardiners folgend hatten die englischen Ägyptologen aber wieder Verbindung zu den deutschen aufgenommen – nur Quibell zeigte sich „unzugänglich“ und der Schweizer Naville richtete sein neuestes Buch gegen die ‚Berliner Schule‘. Mit Missfallen beobachtete Davies das Tun der Franzosen, attestierte ihnen „the worst spirit“, ihre Politik sei so übel wie ihre Ägyptologie.447 Nicht nur für die deutschen Ägyptologen löste sich die Isolation sukzessive. Auch der Däne Lange setzte Vieles daran, wieder internationale Fühlung aufnehmen zu können, nachdem seine ersten Versuche 1920 gescheitert waren. Seine Hoffnung setzte er 1922 auf Breasted, dem er Grapow als Mitarbeiter anbieten wollte.448 Im Juli 1922 konnte er als Vertreter der dänischen Akademie nach Paris reisen, wo er Gardiner, Hall, Griffith, Breasted, Capart und etliche französische Kollegen antraf.449 Von dem französischen Ägyptologen Alexandre Moret (1868–1938),450 den er „sehr nett und vernünftig“ fand, nahm er an, dass dieser die internationalen Beziehungen einschließlich zu Deutschland wieder aufnehmen wollte, was von französischen Politikern nicht gern gesehen werde. Umso erfreuter war er, als Moret Nachfolger Masperos am Collège de France wurde.451
443 Studierte in Berlin unter Brugsch und in Straßburg, Professor in Freiburg 1889–1908, Reisen nach Ägypten ab 1896, außerordentlicher Professor in Zürich 1918–1936. Who-was-Who 2012, S. 254. 444 Lange schrieb an Lord Allenby, der versprach, bei seinen weiteren Überlegungen Langes Argumente zu berücksichtigen. Lange an Erman, 7. Oktober 1921. UBB NLE Lange. 445 Davies (aus Oxford) an Erman, 2. August 1922. UBB NLE Davies. 446 Lange an Erman, 6. Dezember 1921. UBB NLE Lange. 447 Davies an Erman, 2. August 1922. UBB NLE Davies. 448 Lange an Erman, 31. März 1922. Breasted plante einen „Corpus der Sargtexte des MR“. 449 Lange an Erman, 15. November 1922. UBB NLE Lange. 450 Studierte in Lyon und Paris (u. a. bei Maspero), 1899–1938 Direktor der École des Hautes Études und Direktor des Musée Guimet, ab 1920 Professor an der Sorbonne und am Collège de France. Who-was-Who, 2012, S. 384. 451 Lange an Erman, 1. Mai 1923. UBB NLE Lange.
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Trotz dieser positiven Entwicklung verließen Lange die Sorgen um das zukünftige politische Schicksal Deutschlands nicht, zumal er in den in München auftauchenden „Fascisten“ eine ernsthafte Gefahr sah.452 Sie ließen ihn einen nächsten Krieg befürchten, der ganz Europa zu einer „Wüste“ machen, das „Ende der europäischen Civilisation“ bedeuten würde. In Kopenhagen fühlte sich Lange mit diesen Sorgen allein, war darüber hinaus wissenschaftlich isoliert, und an der Universität lag die Ägyptologie völlig danieder.453 Umso größer war die Freude, als Erman endlich einen mehrwöchigen Besuch bei ihm ermöglichte.454 Weniger schön war dann die Nachricht aus Ägypten, dass 1926 sämtliche Europäer aus ägyptischen Diensten entlassen werden sollten, auch die „Inspectoren und Ägyptologen“.455 Griffith hielt sich in Amarna auf, Davies hegte angesichts der Verlautbarung übelste Ahnungen – „one shivers to think of the Service in the hands of the little Egyptian rats who have to learn not only Egyptology but civilization between this and 1927“.456 Während die europäischen Ägyptologen noch mit sich und gegeneinander rangen, setzte der Amerikaner Breasted entscheidende Weichen, wie eingangs angedeutet. Im Mai 1919 war ihm seitens Rockefeller eine bedeutende finanzielle Unterstützung für Grabungstätigkeiten im Nahen Osten zugesichert worden, im Winter dieses Jahres machte er sich auf den Weg nach Ägypten. Er beschaffte sich zahlreiche Empfehlungsschreiben, die ihm den problemlosen Zugang zu Ägypten sicherten, so des Oxforder Orientalisten D.G. Hogarth, als ‚Entrée‘ zum damaligen „High Commissioner for Egypt and Sudan“, Sir Edmund Allenby.457 In Ägypten traf und besprach Breasted sich mit Antikenhändlern und Wissenschaftlern sowie vor allem mit ägyptischen und nicht-ägyptischen Politikern. Erkennbarerweise war man in Ägypten dem Amerikaner wohl gesonnen, ausführlich konnte er in Frage kommende Grabungsgebiete besichtigen und seine Ansprüche anmelden. Breasted suchte sich einen günstigen Zeitpunkt für seine erste Nachkriegsreise nach Ägypten aus. In der Frühphase der Zwischenkriegszeit genoss 452 Lange an Erman, 15. November 1922. UBB NLE Lange. 453 Wehmütig erinnerte er sich an die gemeinsam mit Sethe, Borchardt und Carl Schmidt verbrachten anregenden Stunden in Ermans Studierzimmer. Lange an Erman, 26. August 1923. UBB NLE Lange. 454 Erman akzeptierte die finanzielle Unterstützung Langes. Wegen einer Erkrankung musste er die Reise auf den Herbst 1923 verschieben. Lange an Erman, 31. August 1923, 18. September 1923. In der Folgezeit versorgte Lange die Familie Erman mit Lebensmitteln (13. November 1923). UBB NLE Lange. 455 Lange an Erman, o. D. (Weihnachten 1923). UBB NLE Lange. 456 Davies an Erman, (Luxor) 21. Januar 1924. UBB NLE Davies. Bei Davies hielt sich zu dieser Zeit das Ehepaar Gardiner auf. 457 Charles Breasted: Pioneer, 1943, S. 243.
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Nord-Amerika in Ägypten einen hervorragenden Ruf, vor allem, weil die nach Unabhängigkeit strebenden Ägypter ihre Hoffnungen auf den amerikanischen Präsidenten setzten. In den von Wilson formulierten politischen Prinzipien glaubten sie die Unterstützung von Unabhängigkeitsbestrebungen lesen zu können. Dies sollte sich zwar nicht bewahrheiten, wurde aber erst in den späten 1920er Jahren deutlich.458 Schon im April 1919 hatte der US-Vertreter in Kairo, Gary, das britische Protektorat über Ägypten anerkannt. Dennoch setzten ägyptische Politiker wie Zaghloul weiterhin ihre Hoffnungen auf die USA. Im November 1919 präsentierten die Leiter der ägyptischen Unabhängigkeitsbewegung ihre Anliegen vor dem US-amerikanischen Kongress, konnten aber auch dort ebensowenig wie bei Präsident Wilson wirkliche Unterstützung erreichen.459 Diese erhielten sie unerwarteterweise von J. Morton Howell, 1921 bis 1927 USVertreter in Kairo, der sowohl die britische Politik in Ägypten unter Lord Lloyd überaus kritisch sah als auch der Unabhängigkeitsbewegung große Sympathien entgegenbrachte. Diesem Umstand war es zu danken, dass die archäologischen Interessen Nord-Amerikas von der ägyptischen Öffentlichkeit und Politik zunächst weniger kritisch beobachtet und gesteuert wurden als jene von Frankreich und England beispielsweise, obwohl zumal Breasted keinen Hehl aus seiner Auffassung machte, dass die ägyptischen Altertümer am besten außerhalb Ägyptens aufgehoben und die Ägypter nicht zu wissenschaftlicher Arbeit geeignet seien.460 Zudem hatte Breasted unmittelbar nach dem Krieg begonnen, die ägyptologischen Netzwerke außerhalb der USA zu pflegen. Im Vorfeld seiner Ägyptenreise von 1919 hielt er sich monatelang in England auf, traf sich u. a. mit Griffith, Gardiner, Hogarth vom Ashmolean Museum in Oxford, Crum und auch Robert Mond. In Letzterem fand er einen großen Bewunderer seines Buches „Ancient Times“, in Gardiner einen Gleichgesinnten, mit dem er über die zukünftigen wissenschaftspolitischen Interessen in Ägypten und Strategien gegen die französische Antikenpolitik beraten konnte. In Lacaus Politik als Leiter des Antikendienstes in Ägypten sahen Breasted und Gardiner eine Gefahr für ihre eigenen Interessen, weil dieser an „Egypt for the Egyptians“ in einem Maße glaube, dass er die alten Bestimmungen aufzuheben gedenke. Die Folge würde eine Überflutung des Ägyptischen Museums in Kairo mit Altertümern sein, was auch deshalb problematisch sei, weil „the number of educated Egyptians who can appreciate such things is an insignificant handful“. Unglücklicherweise hatte sich auch Quibell,
458 Erez Manela: Goodwill, 2002, S. 72. 459 Erez Manela: Goodwill, 2002, S. 77. 460 Erez Manela: Goodwill, 2002, S. 80–82; Charles Breasted: Pioneer, 1943, S. 369.
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den Breasted noch von früheren Ägyptentagen kannte, dem Standpunkt Lacaus, dessen Assistent er in Kairo war, angeschlossen. Aus Breasteds Sicht waren die Engländer zu diesem Zeitpunkt noch zu keiner durchdachten Wissenschaftspolitik bezüglich Ägypten in der Lage, da es keine „commanding scholarly and statesman like figure capable of coping with the situation“ gebe, eine Folge vor allem des starren universitären Systems. Die einzigen wirklichen „statesmen like“ seien Gardiner und Hogarth. Von Budge und Petrie hielt er dagegen gar nichts, ihr Tun für destruktiv. Griffith war aus Breasteds Sicht „pitifully helpless“ und würde „get lost if it were not for his efficient wife“.461 Zweifellos betrachtete sich Breasted nach 1918 als die Speerspitze der Ägyptologie und wichtigster Wissenschaftspolitiker, eine Rolle, die er sowohl mittels der Kooperation mit internationalen Ägyptologen als auch Politikern auszuweiten gedachte. An die Einbindung seiner deutschen Kollegen dachte er dabei wohl weniger, erwähnt dies in den Briefen an seine Familie jedenfalls nicht. Auch um ein Gegengewicht gegen den sich ständig erweiternden Machtanspruch der amerikanischen Ägyptologen zu schaffen, gingen ab Mitte der 1920er Jahre die englischen und deutschen Ägyptologen wieder intensiver aufeinander zu. Sogar Heinrich Schäfer legte seine reservierte Haltung mehr und mehr ab, richtete an Davies geradezu rührende Schreiben, nachdem dieser ihm seine Gastfreundschaft für die Zeit des in Oxford stattfindenden Orientalistenkongresses angeboten hatte.462 Vor der Teilnahme am Kongress schreckte er 1928 jedoch noch zurück, weil er bei dieser Gelegenheit unweigerlich auf etliche Leute treffen würde, „die man lieber von hinten als von vorne sieht“. Außerdem glaubte er sich auch deshalb in England nicht unbefangen bewegen zu können, weil „im Rheinland englische Truppen zusammen mit den französischen Manöver abhalten“. Er würde also kaum in der rechten Verfassung sein, dem Ehepaar Davies ein angenehmer Gast zu sein. Davies sollte ihm dieses Fernbleiben von England verzeihen, auch auf seine Ehefrau diesbezüglich positiv einwirken. Trotz seiner freundschaftlichen Worte schwang bei Schäfer ein erhebliches Maß an Bitterkeit mit, wie seine Klagen über den belgischen Ägyptologen Capart zeigen.463
461 J. Breasted an Familie, 25. u. 26. September 1919. Letters from James Henry Breasted to his family, August 1919-July 1920. Ed. by John A. Larson (Oriental Institute Digital Archives. Number 1. The Oriental Institute of the University of Chicago). 462 Schäfer an Davies, 17. August 1928. GIO MSS Davies 4.12. 463 Schäfer bezeichnete Capart als „seichten Mann“, der sich über Gebühr „breit“ mache – „jetzt redet er mit wichtiger Miene hohle große Sprüche“.
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Abb. 11: Orientalistentag 1926 in Hamburg. Vordere Reihe 3.v.l. Mimi Borchardt, 5.v.l. Georg Steindorff, 3.v. r. Adolf Erman, 1.v. r. Eduard Meyer
Von diesen Entwicklungen und Geschehnissen waren die Ägyptendeutschen, als deren Repräsentant sich Ludwig Borchardt entwickelte, unberührt. Ihr ‚ägyptischer Traum‘ schien nach 1918 ausgeträumt. Doch hatten die ägyptischen Jahre deutliche Spuren hinterlassen, Interessen geweckt und gesteuert. So widmete sich die älteste Tochter des etliche Jahre in Kairo tätig gewesenen Arztes Engel – auch sie war Lehrerin an der deutschen Schule in Kairo gewesen – intensiv arabischer Kunst, publizierte sogar. Der frühere Hilfsprediger Sam Flury konzentrierte sich in dieselbe Richtung, wollte im Winter 1923 wieder in Kairo arbeiten, was er aber infolge von Zerwürfnissen mit Ali Bey Bahgat (1858–1924),464 dem Konservator des Museums für arabische Kunst in Kairo (1914 bis 1921), aufgab.465 Die Jahre zwischen 1914 und 1922/23 waren für die Ägyptendeutschen eine ungewollte Zäsur, eine Phase, in der sich bei den meisten ein deutlicheres politisches Bewusstsein entwickelte oder dies eine andere Richtung nahm. Dies war 464 Epigraph und Archäologe, ab 1901 Assistent von Max Herz (Konservator des Museums für arabische Kunst in Kairo), ab 1914 Nachfolger von Herz. Wurde 1919 der Korruption und Inkompetenz verdächtigt, musste seine Position 1921 aufgeben. http://dictionnairedesorientalistes. ehess.fr/document.php?id=253 (08.08.2013). 465 E. Walther an MB, 13. Januar 1923. SIK MB 82/3.
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nicht nur Resultat der Ausweisung aus Ägypten oder der Internierung. Als großes Unrecht wurde vor allem die Sequestrierung und schließlich Liquidierung deutschen Besitzes empfunden, Maßnahmen, die vielfach mit erheblichen finanziell-materiellen Verlusten oder Zerstörung von Existenzen einhergingen. Bei der Durchsetzung von Schadensersatzansprüche erwies sich der Weimarer Staat als kaum unterstützend. Auch daraus resultierten ähnlich wie in Palästina Verbitterung und Widerstand gegen die neue Republik.466 Als sich Deutsche wieder in Ägypten niederlassen durften hatten sie meist eine deutschnationale Haltung mit im Gepäck, formulierten deshalb auch nicht zufällig Bildung als ihren „Kernbereich der Repräsentation von und der Identifikation mit Auslandsdeutschen“.467 An Ludwig und Mimi Borchardt lässt sich eine typische, durch Krieg und Nachkriegserfahrungen geprägte konservativ-nationalistische Haltung beo bachten, was sich mit der Rückkehr nach Ägypten, 1923, nicht wandelte. Zumal Mimi Borchardt distanzierte sich kaum vom in der Nachkriegszeit entwickelten Freund-Feind Muster, entwarf zugleich ein idealtypisches Bild Deutschlands, vom dem sie ein Teil zu sein hoffte. Von der nichtjüdischen Gesellschaft wollte sie als Kulturvermittlerin gesehen und gewertschätzt werden, weshalb ihr die Pflege der ‚deutschen Kultur‘ ein zentrales Anliegen war. Nicht als Jüdin wollte sie in Erscheinung treten, sondern als Repräsentantin des von ihr idealisierten Deutschland. Es verdient unterstrichen zu werden, dass infolge des Krieges keinerlei Verbindung mehr zur amerikanischen Verwandtschaft bestand, von der Mimi Borchardt sich aus politischen Gründen abwandte. Primär hing dies mit Jakob Schiff zusammen, dessen Verhaltensweisen weder sie noch Ludwig Borchardt richtig einzuordnen verstanden, wie sich im Nachhinein herausstellen sollte. Denn tatsächlich hatten Schiffs Sympathien immer bei Deutschland gelegen, wobei er sich gleichzeitig auch seiner neuen Heimat gegenüber verpflichtet fühlte. Der auf ihm lastende politische Druck war erheblich, Unterstellungen von amerikanischer und Entente-Seite, dass er heimlich Deutschland unterstützte, waren an der Tagesordnung. Dennoch weigerte Schiff sich lange Zeit, überhaupt Kriegskredite zu vergeben, weder an die Entente noch an die Mittelmächte, noch jemals insbesondere an Russland. Keinen Zweifel ließ er daran, dass er den deutschen Militarismus und Expansionismus ebenso verurteilte wie den zunehmenden Antisemitismus. 1917 unterstützte Schiff Präsident Wilson und den Eintritt der USA in den Krieg, weil er sich angesichts der deutschen Kriegsführung von seinem Vaterland distanzierte. Dennoch blieb er trotz seines erheblichen 466 Ralf Balke: NSDAP, 1998, S. 221–250. 467 Rainer Münz, Rainer Ohliger: Auslandsdeutsche, 42002, S. 376.
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Engagements zugunsten der USA Zielscheibe antisemitischer und judenfeindlicher Angriffe.468 Von den Kämpfen, die Jakob Schiff auszutragen hatte, ahnte das Ehepaar Borchardt nichts, sondern beurteilte diesen nur anhand weniger Äußerlichkeiten, vor allem daran, dass er die deutsche Kriegsführung nicht finanziell unterstützte. Die Ächtung der amerikanischen Verwandtschaft sollte sich Jahre später als Fehler mit gravierenden Folgen erweisen. Nach dem Krieg war von allen Seiten erhebliche Aufbauarbeit zu leisten, vertrauensbildende Maßnahmen mussten ergriffen, aus dem Krieg stammende Denkmuster abgelegt werden. Nur so konnte die deutsche Ägyptologie wieder international anknüpfen, nur so konnten sich die Ägyptendeutschen später wieder in die internationale Gemeinschaft in Ägypten einfinden. Ein Restbestand an Misstrauen blieb, er ließ sich nicht rasch beiseite räumen. Für Ludwig Borchardt war der erzwungene Deutschlandaufenthalt nicht nur ein Verlust, wenngleich er auch wissenschaftliche Stagnation beinhaltete. Andererseits schuf er sich mit der Konzentration auf die Interessen der Ägyptendeutschen in diesem Kreis eine herausragende Position, wurde ihr Repräsentant und Sprachrohr. Diese herausgehobene Stellung sollte ihn ebenso wie seine Ehefrau in den Jahren bis 1933 tragen. Getragen von seinem Engagement zugunsten der Ägyptendeutschen war auch Max Meyerhof. Anders als Borchardt gab er zu keinem Zeitpunkt seine Anbindung an Ägypten bzw. an dortige Kollegen auf, was ihm letztlich die gelungene Rückkehr nach Ägypten sicherte. Dass Adolf Ermans Aktivitäten in eine andere Richtung wiesen, wurde beschrieben. Sein Anliegen war, der deutschen Ägyptologie ihre Internationalität zurückzugewinnen, auch sie zu entpolitisieren. Dieser Zielsetzung diente ein Großteil seiner Korrespondenz mit nicht-deutschen Kollegen, die in vielen Fällen seine Schüler gewesen waren. Das Erman’sche Konzept sollte sich als eines mit nachhaltigen Konsequenzen erweisen, wie sich in den Jahren nach 1933 zeigte. Aufhalten konnte Erman die durch und nach dem Krieg einsetzenden Entwicklungen innerhalb der Ägyptologie jedoch nicht. Nicht-deutsche Ägyptologen, die er meinte noch immer für Dilettanten halten zu können, hatten sich längst emanzipiert, den Deutschen vermeintlich zustehende Grabungsrechte in Ägypten – vor allem in Tell el-Amarna – verloren ihre Gültigkeit bzw. wurden an Briten, auch Amerikaner und Franzosen transferiert.
468 Naomi W. Cohen: Jacob Schiff, 1999, S. 189–209.
3 Rückkehr nach Ägypten Aufgrund der intensiven Kommunikation der Ägyptendeutschen während der ägyptenfernen Jahre sowie besonders deren mühsamem und frustrierendem Kampf um die Rückerstattung der 1914/15 zurückgelassenen Besitztümer war aus ihnen eine eingeschworene Gemeinschaft geworden mit Ludwig Borchardt als ihrem Sprecher. Etliche strebten die Rückkehr in ihre Wunschheimat Ägypten an. Offiziell möglich wurde dies erst 1923, jedoch unter ungleich ungünstigeren Bedingungen als vor dem Krieg, vor allem, weil Deutschen nicht mehr die Sonderrechte für Ausländer (Kapitulationen)1 zustanden. Entscheidende politische Weichen wurden damit gestellt, dass Deutschland am 28. Juni 1919 durch Artikel 147 des Versailler Vertrags das britische Protektorat über Ägypten vom Dezember 1914 anerkannte und damit unter anderem auf die Vergünstigung der Kapitulationen verzichtete.2 Eine Rückkehrerlaubnis ging damit noch nicht einher. Konsularisch wurde Deutschland in Ägypten von dem schwedischen Generalkonsul vertreten. Einen eigenen Konsul durfte Deutschland erst im April 1921 ernennen; der bis dahin als Gesandtschaftsrat fungierende Erich Schroetter trat im November 1921 dieses Amt an.3 Seinen ersten Antrittsbesuch stattete er dem ägyptischen Sultan ab, jedoch ohne zuvor den britischen Hochkommissar Allenby zu informieren; dies sorgte gleich zu Beginn der offiziellen Präsenz Deutschlands für erhebliche Verstimmung – auch in Berlin.4 1919/1920 waren die politischen Rahmenbedingungen für eine Rückkehr von Deutschen nach Ägypten noch keineswegs geklärt, dennoch bereiteten sich etliche bereits darauf vor. Dass sich das Land nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich und sozial verändert hatte, war zwar den Ägyptendeutschen vor allem durch die von Borchardt verbreiteten Meldungen bewusst, doch über Detailkenntnisse verfügten nur wenige. Insgesamt klangen die zur Verfügung stehenden Informationen nicht gänzlich entmutigend, etwa, dass laut Bericht aus Port Said vom 12. Juni 1919 in Ägypten enormer Holzmangel herrschte, da während des Krieges die Einfuhr schwach gewesen war und danach fast gänzlich aufgehört hatte, die ent-
1 Die Stellung der Ausländer in Ägypten basierte auf vertraglich zugesicherten Privilegien (= Kapitulationen), die u. a. Steuerbefreiung und Nichtunterwerfung unter ägyptische Rechtsprechung beinhalteten. Diese europäischen Gerichte waren zuständig bei allen Verfahren, die zumindest einen Angehörigen einer Kapitularmacht berührten. Gabriel M. Wilner: Mixed Courts, 1975. 2 Albrecht Fuess: Internierung, 1998, S. 336. 3 Zu den langjährigen und verwickelten Verhandlungen s. Mahmoud Kassim: Beziehungen, 2000, S. 97 ff. 4 Mahmoud Kassim: Beziehungen, 2000, S. 101. DOI 10.1515/9783110526127-004
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sprechende Nachfrage also hoch und lohnend, sich in diesem Bereich zu betätigen. Aus Alexandria wurde am 28. August 1919 von einer „kolossalen Nachfrage nach deutscher Ware“ berichtet.5 Von der Eröffnung einer kleinen Pension wurde abgeraten, da wegen der erheblich gestiegenen Preise nur noch wohlhabende Touristen in Ägypten auftauchten, die sich in den großen Hotels einmieteten. Konkrete Pläne verboten sich aber noch für mindestens zwei Jahre, denn so lange werde das Ägypten unter Druck setzende England der Einwanderung von Deutschen und Österreichern nicht zustimmen, so die Darstellung eines englischen Informanten vom 26. August 1919.6 Ungünstig klangen die Startbedingungen für deutsche bzw. nicht-ägyptische Ärzte, für Rechtsanwälte tendierten die Aussichten gar gegen null.7 Aus der Schweiz verlautete am 20. Oktober 1919, in Ägypten herrsche eine enorme Lebensmittelverteuerung, dabei ein Mangel an „continentalen europäischen Waren, absolute Kohlen- und Petroleumnot“. Zu beobachten sei auch eine „große Wohnungsnot, denn infolge der Revolution hätten sich alle Europäer vom Lande nach Cairo und Alexandrien geflüchtet“. Arbeitslöhne und Materialien seien so teuer, dass niemand mehr bauen wolle. Auch das Transportwesen sei gestört, oft führen tagelang weder Straßenbahnen noch Bahnen nach Matarieh und Heliopolis. Ganz aufgehört habe der „Touristenzuzug“.8 Positiv zu vermerken war der in Ägypten bestehende „allgemeine Hunger nach deutschen Waren“, wobei der Import zwar noch von hohen Einfuhrzölle stark behindert war, man es aber als Frage der Zeit betrachtete, wann die Zollbestimmungen geändert würden, zumal man in Ägypten „entschieden mehr Zutrauen zur deutschen Leistungsfähigkeit als z. B. zur französischen“ habe.9 Negativ waren mit Gewissheit die enorm gestiegenen Preise. Wirklicher Mangel herrschte in Ägypten nicht. Eine Zeitlang waren die Baumwollernten so günstig ausgefallen, dass es etliche „Fellachen“ zu Vermögen gebracht hatten. 1919/20 aber war die Ernte so schlecht, dass viele dieser „Milliardäre“ Bankrott anmelden mussten.10 Nach Auffassung der „Vereinigung der Deutsch-Ägypter“ klangen die Nachrichten aus Ägypten nicht so negativ, dass die Remigration unattraktiv erschien, auch wenn im Frühjahr 1920 von einer schweren Wirtschaftskrise Ägyptens, ausgelöst von einer im Februar 1920 einsetzenden Krise des Baumwollmarktes, die
5 Mitteilungen der „Vereinigung der Deutsch-Ägypter“, 29. September 1919. 6 Mitteilungen der „Vereinigung der Deutsch-Ägypter“, Oktober 1919. 7 Briefe aus Kairo, 12. September u. 7. Oktober 1919. Mitteilungen der „Vereinigung der DeutschÄgypter“. 8 Brief vom 20. Oktober 1919, Mitteilungen der „Vereinigung der Deutsch-Ägypter“. 9 Brief aus Karlsruhe vom 12. März 1920, Mitteilungen der „Vereinigung der Deutsch-Ägypter“. 10 Brief aus Kairo vom 4. März 1920, Mitteilungen der „Vereinigung der Deutsch-Ägypter“, 21. April 1920.
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Rede war.11 Zugunsten einer effizienteren Vorbereitung plante die „Vereinigung“ die Gründung eines „Deutsch-Ägyptischen Wirtschaftsausschusses“, der von zwölf Ägyptendeutschen geführt werden sollte. Völlig aussichtslos schien also eine erneute und erfolgreiche beruflichgeschäftliche Etablierung in Ägypten nicht, eine Zukunftsperspektive, an die die Ägyptendeutschen wieder zu glauben begannen. Im April 1920 trafen sich in Berlin etliche Mitglieder des „Deutschen Vereins in Kairo“ und beauftragten die früheren Vorsitzenden Prof. O. Dinkler, Max Meyerhof und A. Eschenbach (Rechtsanwalt) mit der Wahrnehmung ihrer Interessen, d. h. der Vertretung der Entschädigungsansprüche des Vereins, an dessen „Wiederaufleben“ man kaum zweifelte. Vertreten werden sollten zugleich die Interessen des „Kairoer Turnvereins“ und des „Liederkranzes“. Rechtsanwalt Eschenbach erhielt den Auftrag, sich mit dem Vorsitzenden des „Kairoer Unterstützungsvereins“ in Verbindung zu setzen. Als Vertreter des „Hilfsvereins Alexandrien“ und des dortigen „Kriegervereins“ traten die Herren Vogel und Stobbe auf. Der Kaufmann Rudolf Lindemann, bis 1914 Vertrauensmann der kaiserlichen Marine in Alexandria, sollte sich in Verbindung setzen mit dem Vorstand des „Deutschen Seemannsheims“ in Alexandria, L. Stobbe mit dem dortigen „Deutschen Sportverein“.12 1922 wandelten sich die politischen Rahmenbedingungen gravierend. Am 28. Februar 1922 erfolgte die Unabhängigkeitserklärung Ägyptens,13 woraus sich „auch für die Beziehungen zwischen Deutschland und Ägypten neue Perspektiven“ ergaben.14 Formal war Ägypten unabhängig, eine konstitutionelle Monarchie, die tatsächlich aber infolge der unilateral von England verkündeten „Declaration to Egypt“ nur eingeschränkt unabhängig war. Diplomatischen Beziehungen zwischen Ägypten und Deutschland stand aber prinzipiell nichts mehr entgegen, ersteres verband damit primär wirtschaftliche Interesse, und England stimmte mit der „positiven Haltung gegenüber einer deutschen Anerkennung Ägyptens zugleich der Einrichtung einer diplomatischen Vertretung“ zu.15 Allerdings behielt sich England die Kontrolle über die deutsch-ägyptischen Beziehungen vor, was darin seinen Ausdruck fand, dass die deutsche Vertretung in Ägypten 11 In einem Brief aus Alexandria vom 25. Juni 1920 hieß es, es sei eine „furchtbare Krisis in Ägypten ausgebrochen, die ärger ist als die vom Jahre 1907. Es sind Unsummen in dem Preissturz von Baumwolle und Waren verschlungen. Geschäftlich liegt alles brach“. Mitteilungen der „Vereinigung der Deutsch-Ägypter“, 25. Juni u. 30. Juli 1920. 12 Mitteilungen der „Vereinigung der Deutsch-Ägypter“, 21. April 1920. 13 Vorausgegangen waren politische und Bevölkerungsunruhen unter der Führung von Sa’ad Zaghloul. 14 Mahmoud Kassim: Beziehungen, 2000, S. 104. Der britische High Commissioner Allenby erklärte am 28. Februar 1922 das ehemalige britische Protektorat Ägypten für unabhängig. 15 Laut Schreiben vom 14. April 1922, s. Mahmoud Kassim: Beziehungen, 2000, S. 112.
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lediglich einen konsularischen und keinen diplomatischen Status erhielt.16 Die deutschen Bemühungen richteten sich in der Folgezeit auf die Revision dieser Bedingung, also die Interpretation von Artikel 147 ff des Versailler Vertrags. Die intensiven Verhandlungen mit der ägyptischen Regierung, vor allem aber mit dem als deutschfreundlich bekannten König Fouad, waren erfolgreich: Ab dem 15. Mai 1922 galt der deutsche Generalkonsul in Kairo als Geschäftsträger, das Generalkonsulat Kairo durfte sich als „Deutsche Gesandtschaft“ bezeichnen.17 Weiterhin gültig blieb indes die in Artikel 147 des Versailler Vertrags festgeschriebene Einschränkung, dass Deutschland in Ägypten auf das Kapitulationsrecht verzichten musste. Deutschland versuchte die ägyptische Regierung davon zu überzeugen, dass die alte Gerichtsordnung („Konsularjurisdiktion“) wiederhergestellt werden sollte, „bis ein neues ‚für alle Fremden gültiges Gerichtsverfassungsgesetz‘ in Ägypten geschaffen war“. Auch die in Artikel 148 verfügte Aufhebung sämtlicher alten Handelsbeziehungen zwischen Ägypten und Deutschland bedurfte der Neuinterpretation.18 Allzu Instruktives wusste Erich Schroetter 1922 nicht aus Ägypten zu berichten, lediglich von einer allgemeinen sommerlichen Stille, die „jetzt über dem in heiße afrikanische Sonnenglut gebadeten Kairo“ lagere, der „politischen Windstille“ entsprechend.19 Einschließlich Schroetter hielten sich alle wichtigen politischen Entscheidungsträger in Alexandria (oder Europa) auf, mit einschneidenden politischen Entscheidungen war also kaum zu rechnen. Durch ministerielle Erlasse vom 21. Juni war die Verbreitung der in Genf erscheinenden Zeitungen „Tribune de Genève“ und „Tribune d’Orient“ verboten worden, weil sie angeblich beleidigende Angriffe auf den ägyptischen König enthielten, außerdem „falsche und tendenziöse Nachrichten“ über Ägypten, „seine Regierung und seinen Herrscher, die geeignet sind, die Meinungen irrezuleiten und die öffentliche Ordnung zu stören“. Über Sa’ad Zaghloul und die andern auf die Seychellen verbannten Politiker sei in der ägyptischen Presse kaum etwas zu lesen. Doch offenbar erwarte man dauerhafte Lösungen am ehesten von Zaghloul, der deshalb unbedingt rasch zurückkehren müsse. Sollte er seinen gesundheitlichen Leiden erliegen, wäre der innenpolitische Frieden in Ägypten dauerhaft gestört. Ungünstig war, dass Lord Allenby Verhandlungen mit dem verhandlungsbereiten Zaghloul stets abgelehnt hatte. Auch in seinem an das Auswärtige Amt gerichteten Bericht vom 20. Juli 1922 konnte Schroetter nicht die Konsolidierung der innenpolitischen
16 Mahmoud Kassim: Beziehungen, 2000, S. 113. 17 Mahmoud Kassim: Beziehungen, 2000, S. 118. 18 Schreiben v. 15. Mai 1922, zitiert nach Mahmoud Kassim: Beziehungen, 2000, S. 122 f. 19 29. Juni 1922. PA AA R 77720.
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Lage vermelden.20 Der Vizepräsident der ägyptischen „Nationalistenpartei“, Ali Kamel, hatte am 11. Juli von Paris aus ein „heftiges Protesttelegramm“ an den britischen Premierminister Lloyd George gerichtet. Die Berliner Gruppe dieser Partei hatte einen Aufruf verbreitet, „in dem die Zusammenrufung eines egyptischen Nationalkongresses in einer der europäischen Hauptstädte angeregt wird“. Der Kongress sollte das Ziel haben, die volle Unabhängigkeit Ägyptens und des Sudan zu erreichen. Eine Abordnung ägyptischer Frauen war bei Lord Allenby vorstellig geworden, um die Freilassung Zaghlouls zu erreichen, konnte Allenby aber zu keinerlei Konzessionen bewegen. Beunruhigend war, dass es in Ägypten immer wieder zu Anschlägen kam, so im Juli einem Mordanschlag auf einen britischen Offizier.21 Am 7. September 1922 vermeldete Schroetter aus seiner Sommerresidenz in Alexandria, dass Sa’ad Zaghloul zwischenzeitlich nach Gibraltar verbracht worden war, alle andern Verbannten aber noch auf den Seychellen weilten. Die innenpolitische Lage in Ägypten war so angespannt, dass Lord Allenby auf seinen geplanten Europaurlaub verzichtete. Am 8. September wollte er sich nach Jerusalem begeben, um dort bei der feierlichen Proklamation des britischen Mandats über Palästina anwesend zu sein. Bis zum 5. Juli 1923 blieb in Ägypten das Kriegsrecht in Kraft. Erich Schroetter berichtete am 16. August 1923 nach Berlin, die Demission von Moheb Pasha als Unterrichtsminister, eine Funktion, die er nur zwei Tage ausgeübt hatte, habe keine Erschütterungen ausgelöst. Sein Nachfolger wurde der vorherige Unterstaatssekretär im Justizministerium, Ahmed Zaky Abul Séoud Pasha.22 Ministerpräsident und Innenminister war Yehia Ibrahim Pasha, Außenminister Mohamed Tawfik Rifaat Pasha, Finanzminister Ahmed Rechmat Pasha, Kriegs- und Marineminister El Lewa Mahmud Ammi Pasha. Deutsche erhielten die freie Einreise- und Niederlassungserlaubnis erst ab Oktober 1923,23 eine Erleichterung, die aber dadurch einen negativen Beigeschmack erhielt, dass sie nicht mehr wie bis 1914 unter das Kapitulationsrecht fielen, was als Zurücksetzung empfunden wurde.24 Vom unabhängigen Ägypten erwartete Deutschland, dass es die alten Privilegien wieder einräumte. Dies stieß beim ägyptischen Kabinett unter Zaghloul bzw. der Wafd Partei auf wenig Verständnis, denn diese verfolgten das Ziel, sämtliche „Kapitulationen“
20 PA AA R 77720. 21 Am 15. Juli 1922 wurde Oberst Pigott im Kasr el Nil Viertel von ein oder zwei Ägyptern angegriffen und durch mehrere Revolverschüsse schwer verletzt. Die Täter konnten nicht ermittelt werden. 22 PA AA R 77720. 23 Albrecht Fuess: Internierung, 1998, S. 336. 24 Vgl. Alfred Kaufmann: Deutschtum, 1926, S. 180.
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bzuschaffen, zu Zugeständnissen waren sie nicht bereit.25 Dies mag einer der a Gründe gewesen sein, weshalb Josef Mertens (1865–1934),26 seit dem 30. März 1923 Nachfolger Schroetters, sich wenig positiv über das Kabinett Zaghloul äußerte.27 Erst nach dem Rücktritt der Regierung Zaghloul und deren Neubildung unter Ahmad Ziwar Ende 1924 konnten erneut Verhandlungen aufgenommen werden. Ergebnis war der von dem deutschen Gesandten Mertens und dem ägyptischen Ministerpräsidenten Ziwar geschlossene deutsch-ägyptische Vertrag vom 16. Juni 1925, womit Deutschland endgültig auf die „Kapitulationen“ verzichtete, aber bis zur definitiven Regelung die Konsulargerichtsbarkeit beibehalten durfte. Die Verhandlungen hatten nun jedoch auf ägyptischem Boden stattzufinden.28 Kontinuierlich und detailliert berichtete auch Mertens über das politische Geschehen in Ägypten, vor allem über die Zusammensetzung des Kabinetts, wobei er vermerkte, dass mit der Ernennung Cattauis zum Finanzminister erstmals „ein Israelit“ ägyptischer Minister geworden sei.29 Dieser sei Mitinhaber eines angesehenen Bankhauses und an vielen „finanziellen Unternehmungen“ beteiligt; einer bestimmten Partei habe er sich nicht angeschlossen. Als Lord Allenby eher unfreiwillig Ägypten verlassen musste, waren die Deutschen darüber nicht unglücklich, wie Mertens bestätigte. Er habe die Deutschen bei den schwierigen Verhandlungen mit der ägyptischen Regierung „in keiner Weise unterstützt, obwohl dies zeitweise zweifellos im englischen Inte resse gelegen hätte. Die britische Residenz scheint im Gegenteil durch ihre Vertreter im Cententieux de l’Etat und im Justizministerium die Egypter darin bestärkt zu haben, uns unmögliche Forderungen zu stellen, um den Vertragsabschluss zu verhindern“.30 Außerdem habe Allenby „in der Frage der Liquidation unseres Eigentums auch die moralisch zweifelhaftesten Operationen des Public Custodian mit seinem Namen gedeckt“. Was von Allenbys Nachfolger Sir George Lloyd zu erwarten sein würde, wusste man noch nicht. Jedenfalls ging ihm wegen seiner Gouverneurstätigkeit in Bombay der Ruf eines „energischen Mannes“ voraus. 25 Albrecht Fuess: Internierung, 1998, S. 337. 26 Ab 1891 im diplomatischen Dienst, 1906–18 Generalkonsul in Konstantinopel, 1920 Geschäftsträger in Bulgarien, von Februar 1927 bis 1930 Gesandter in Luxemburg. 27 Bericht Schroetter an AA Berlin, 6. Februar 1924. PA AA R 77720. 28 Albrecht Fuess: Internierung, 1998, S. 337. 29 Ministerpräsident, Innen- und Außenminister war Ahmed Ziwar Pasha, Unterrichts- und Justizminister Ahmed Mohamed Kachaba Bey, Minister der Öffentlichen Arbeiten Asman Moharrem Bey, Landwirtschaftsminister Mohamed El Sayed Abou Ali Pasha, Finanzminister Youssef Cattaui Pasha, Verkehrsminister Nakhla Gorgui El Moutei Bey, Kriegs- und Marineminister Mohamed Sadek Yehia Pasha, Wakf-Minister Mohamed Sedki Pasha. Bericht Mertens, 27. November 1924. PA AA R 77720. 30 Bericht Mertens, 28. Mai 1925. PA AA R 77720.
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3.1 Die ‚deutsche Nachkriegs-Kolonie‘ Als sich der Hannoveraner Augenarzt Max Meyerhof am 22. Dezember 1922 in Triest auf der „Vienna“ einschiffte und am 26. Dezember 1922 in Alexandria eintraf, war er die erste deutsche Privatperson, der nach dem Krieg offiziell die dauerhafte Niederlassung in Ägypten gestattet wurde, was aber noch keineswegs identisch war mit genereller Zulassung. Angesichts seines jahrelangen Engagements zugunsten der Ägyptendeutschen, seiner Kämpfe um den Erhalt seiner Kairener Klinik, seiner Bibliothek und sonstigen Besitztümer sowie nicht zuletzt der Unterstützung, die er seitens ägyptischer, französischer und englischer Kollegen erfahren hatte,31 wäre zu vermuten gewesen, dass Meyerhof die Rückkehrmöglichkeit freudig begrüßte. Das war nicht der Fall, sein sehnsüchtiges Warten hatte sich in Abwehr gewandelt.32 Die aus Ägypten eintreffenden Nachrichten waren wenig erfreulich. Obwohl die meisten Ägypter offenbar sehr deutschfreundlich waren, waren gerade deshalb Denunziationen von anderen Seiten zu befürchten. Ein für einige Wochen in Port Said gestrandeter deutscher Kaufmann berichtete 1920, dass die „Ägypter auch heute noch enorm aufsässig sind, nachts in einem fort englische Offiziere und Soldaten überfallen, Zaghlûl Pascha göttlich verehren“. Europäer, besonders Deutschschweizer, würden gelegentlich „auf Denunziation oder wegen Verdacht hin als german plotters eingelocht“.33 Zudem hatte Meyerhof zwischenzeitlich in Hannover eine augenärztliche Praxis übernommen, die jedoch sehr schleppend anlief und kaum genug für das Zahlen seiner Untermiete abwarf.34 Seine Bücher und Instrumente ließ er vorläufig in Kairo, konnte das Wertvollste bei seinem Kollegen Peretz unterbringen lassen, für alles übrige sich die Transportkosten nicht leisten.35 31 Dabei schaltete auch er den ihm bekannten jüdischen Rechtsanwalt Leibovitz ein, der mit dem britischen Public Custodian befreundet war und unentgeltlich den Ägyptendeutschen half. Meyerhofs Kollege Peretz schlug ihm eine Praxisgemeinschaft vor und versorgte ihn laufend mit Informationen. In Kairo ansässige Kollegen bescheinigten ihm politisches Wohlverhalten. Auch der Schweizer Ägyptologe Naville und der schwedische Konsul Unander setzten sich für ihn ein. Meyerhof an LB, 25. April 1920. SIK LB. 32 Am 12. Mai 1920 schrieb er an LB, er habe die Hoffnung aufgegeben. SIK LB. 33 Meyerhof an LB, 4. Mai 1920. SIK LB. 34 Er konnte bei Leonore Berend (Witwe von Justizrat Emil Berend, Verwandter von MB) unterkommen. Meyerhof an LB, 30. Mai 1920, 18. November 1920. SIK LB. Sohn des Ehepaar Berend war der Kapellmeister und Intendant (Osnabrück, Münster) Fritz Berend (1889–1955), der 1939 ins englische Exil entkam. Leonore Berend wurde deportiert und ermordet. Lexikon verfolgter Musiker. 35 Meyerhof an LB, 23. Oktober 1921. Ein Hannoveraner „Großindustrieller“ erklärte sich bereit, Meyerhofs Sachen („so weit verpackungsfähig“) von seiner ägyptischen Baumwollfirma an den
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Als ihm am 10. Mai 1922 eine „Madam Callen“ aus Kairo mitteilte, „I am happy to tell you that I have obtained permission from the High Commissioner for you to return to Egypt. The Brit. Cons. Authorities of Hannover will be instructed to visa your passport for Egypt. There are no other formalities“, wusste er nicht, ob er davon überhaupt noch Gebrauch machen wollte.36 Gesundheitlich fühlte er sich nicht mehr auf der Höhe. Einziger Anreiz wäre, „für viele drüben etwas tun zu können, so weit das noch geht und nötig ist“. Als er sich schließlich für Ägypten entschied, sollte es nur für drei bis fünf Monate sein, erst nach genauer Überprüfung der „wirtschaftlichen und politischen Zukunft“ wollte er definitiv entscheiden. Denn „das Leben drüben“ dachte er sich „nicht mehr schön“.37 Sogar in letzter Minute wollte er sich wieder umentscheiden, denn der in seiner Kairener Klinik praktizierende syrische Zahnarzt weigerte sich auszuziehen.38 Nach derlei Komplikationen stand Meyerhof der Sinn nicht. Als auch dieses Problem gelöst zu sein schien, plante er seine Ausreise für den 22. Dezember 1922.39 Begierig warteten Meyerhofs Familie, Freunde und Bekannte in Deutschland auf Nachrichten aus Ägypten. Vom 17. Januar 1923 datiert ein erster Brief an Ludwig Borchardt.40 In Alexandria war Meyerhof von „alten Freunden“ herzlich, geradezu „stürmisch“ begrüßt, auch von „vielen alten orientalischen Bekannten und Patienten“ empfangen worden.41 Erste Unterkunft fand er bei einem befreundeten Kollegen. Seine ehemalige Klinik war zwar erhalten, rückerstattet erhielt er jedoch nur sechs Zimmer, allesamt in „entsetzlich verschmutztem Zustand“. „Dank der Ehrlichkeit meiner Diener“ waren seine Möbel und Instrumente vollständig erhalten geblieben. Nicht ein einziges Handtuch oder ein Operationskittel, nicht einmal Papier oder Blechbüchsen fehlten. Erwartungsgemäß hatte sich in Kairo ansonsten Vieles verändert, nicht nur das Straßenbild, das mit dem der Vorkriegszeit kaum noch zu vergleichen war. Dies schreckte Meyerhof nicht, führte ihn aber zu der Überlegung, seine Klinik an anderer Stelle ansiedeln zu wollen, auch ermutigt von etlichen Kollegen, die ihn ausnahmslos freundlich willkommen hießen. Zumal mit den französischen verstand er sich bestens, konnte mit ihnen sogar „ohne gegenseitige Verletzungen“
Dampfer bzw. zu Bianchi bringen zu lassen und ihm die Kosten „ad infinitum“ vorzustrecken. Meyerhof an LB, 4. November 1921. SIK LB. 36 Meyerhof an LB, 20. Mai 1922. SIK LB. 37 Meyerhof an LB, 20. Juni 1922. SIK LB. 38 Meyerhof an LB, 14. November 1922. SIK LB. 39 Die Ausreise verzögerte sich auch, weil seine jüngere Schwester am 17. November 1922 verstarb. Meyerhof an LB, 30. November 1922, 8. Dezember 1922. SIK LB. 40 Hannover, 8. Dezember 1922, Kairo (Sharia Bâb el-Sharky 1). SIK LB. 41 „leider mit zahllosen Küssen und Umarmungen“, wie er schrieb.
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über die Lage im Ruhrgebiet diskutieren. Bedrückend war hingegen die enorme Preissteigerung: „Das Leben ist hier 1 ½ bis 2 ½ mal teurer als vor dem Kriege, aber sinkende Preistendenz bei Geschäftsstillstand und Krisenstimmung“.42 Meyerhofs eigene Kosten waren erheblich, doch hoffte er diese durch höhere Honorare ausgleichen zu können, auch um damit den „150 jetzt hier praktizierenden Augenärzten kein Dorn im Auge zu sein“. Insgesamt sah es laut Meyerhofs Beo bachtungen in Ägypten noch alles andere als gut aus. Am 9. Januar 1923 machte er sich in Begleitung von Konsulatskanzler Friedrich Wilhelm Schulz43 erstmals auf den Weg nach Gesireh, um die in der Sharia El-Amir-Said gelegenen Borchardt’schen Villen in Augenschein zu nehmen. Auch an der Nil-Insel hatte der Bauboom nicht Halt gemacht, gleich eingangs der Straße fand sich ein neu erbautes, imposantes Wohnhaus. Während der neunjährigen Abwesenheit des Ehepaars Borchardt waren ihre Häuser nicht unbewohnt geblieben. Entgegen anderslautender Nachrichten44 war der letzte Bewohner Mohamed Muhibb Pascha, zu dieser Zeit ägyptischer Finanzminister,45 einigermaßen pfleglich damit umgegangen, hatte nur den Garten stark verkommen, den Teich vertrocknen, in einem Teil einen Gemüsegarten anlegen lassen. Im Innern waren die Häuser, abgesehen von den Badezimmern, recht gut erhalten, nur die Tapeten im Treppenhaus durchfeuchtet, teilweise verschimmelt und von der Wand abgelöst. Angesichts dessen, dass weder die Möbel noch die Bibliothek (einschließlich der Ebers-Bibliothek) erkennbar Schaden genommen hatten, wogen diese Mängel gering. Weniger erfreulich, aber nicht unerwartet war Meyerhofs Beobachtung, dass die französischen Ägyptologen Deutschen gegenüber äußerst negativ eingestellt waren, was zukünftiges ägyptologisches Arbeiten erschweren würde. Wie angekündigt ging es Meyerhof darum, möglichst rasch andern Deutschen die Rückkehr nach Ägypten zu ermöglichen. Dazu bedurfte es der Sondierung der 42 Auch der deutsche Gesandte Schroetter bestätigte am 5. April 1922, dass sich die Preise „für die meisten Gegenstände des täglichen Bedarfs seit der Vorkriegszeit verdoppelt, einzelne sogar verdreifacht“ hatten. PA AA R 77735. 43 F.W. Schulz (geb. 4. Juli 1880) war seit November 1921 in Ägypten, 1938 als Kanzler der Gesandtschaft tätig. 1938 war er Mitglied von NSDAP, NSV, RDB sowie des Deutschen Vereins Kairo, der Schulgruppe, des Unterstützungsvereins und der deutsch-evangelischen Kirchengemeinde. PA AA Gesandtschaft-Kairo 2a, 2b. 44 Der schwedische Generalkonsul Unander berichtete LB am 1. Dezember 1919, das Wohnhaus sei in schlechtem Zustand, die Ausbesserungen, die ein Herr Brandt 1918 durchgeführt habe, seien nicht nachhaltig gewesen. Unander erklärte sich bereit, die „Reinigung und nötige Instandsetzung“ des Hauses zu veranlassen, unter der Bedingung, dass er das Haus bei seinen Besuchen in Kairo bewohnen dürfe. Unander wohnte meist in Alexandria. DAIK Altakten Mappe A XXVIII. 45 Helmut Fischer: Bank Misr, 1994, S. 142.
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politischen Lage. Am 9. Januar 1923 begab Meyerhof sich zusammen mit seinem bewährten Kollegen Henri Peretz46 zu James Scott,47 offiziell um sich für die unbeschränkte Rückkehrerlaubnis zu bedanken, inoffiziell um „wegen anderer Landsleute anzufragen“. Er wurde „freundlich aufgenommen“, konnte aber nichts Verbindliches in Erfahrung bringen oder gar erreichen. Hinzu kam, dass die Deutschen in Ägypten von dem zwar gutmütigen, aber „gänzlich unbedeutenden“ Erich Schroetter, wie Meyerhof meinte, vertreten wurden.48 Innerhalb ägyptischer Diplomatenkreise waren die Deutschen zentrales Gesprächsthema, man beobachtete aufmerksam die Streitigkeiten „ehemaliger Ägyptendeutscher untereinander“, Liquidationen und Handelsangelegenheiten, war aber „wenig orientiert“ und verfügte über nur „wenig Material“. Landsleute hatte Meyerhof bis dahin kaum angetroffen, genau genommen nur zwei, die beide nur über die auf drei Monate befristete Aufenthaltserlaubnis verfügten. Borchardt stimmten Meyerhofs Berichte zuversichtlich. Wichtig war für ihn, dass Meyerhof umgehend Kontakte herstellte zu bestimmenden Diplomaten, etwa dem schwedischen Baron Harold de Bildt.49 Die aufgelisteten Schäden an seinen Immobilien bekümmerten ihn nicht, denn wesentlich war für ihn, „dass wir wieder drüben anfangen können zu arbeiten“.50 Dass dies tatsächlich stattfinden würde, war zu diesem Zeitpunkt noch keineswegs sicher. Denn auch in Deutschland waren die Pläne zur Wiedereinrichtung des deutschen ägyptologischen Instituts noch schwebend und Borchardts Position als zukünftiger Direktor stand in Frage. Erst am 29. September 1923 trafen sich die „reichsdeutschen Mitglieder 46 Augenarzt, wohnte in Garden City. Le Mondain Egyptien. 1939, S. 308. 47 Meyerhof nannte zwar nur „Mr. Scott“, meinte den in Ägypten tätigen US-Wirtschaftsattaché, der auch als Präsident des Rotary Clubs eine vermittelnde Rolle spielte. Er wohnte auf Zamalek. Le Mondain Egyptien, 1939, S. 340. 48 Erich Schroetter (1898–1989), in Kairo bis Februar 1923, 1950–1963 beim Bundesverteidigungsministerium. Anfang der 1960er Jahre liefen (Vor-)Ermittlungen bei der Zentralen Stelle und der Staatsanwaltschaft Berlin u. a. gegen Schroetter. Schroetters Nachfolger war Josef Mertens, dem Ende 1926 Eberhard von Stohrer folgte. Eckart Conze u. a.: Das Amt, 22010, S. 666. Meyerhof nannte den Namen nicht, in seinem Antwortschreiben (25. Januar 1923) fragte LB, ob Meyerhof im Hause Schroetter den schwedischen Vertreter von Bildt kennengelernt habe. 49 Geboren 1876, studierte an der Universität Uppsala. Le Mondain Egyptien, 1939, S. 126. 50 LB an Meyerhof, (Berlin) 25. Januar 1923. LBs ehemaliges Dienstpersonal (Ahmed und Chalil) hatte sich für den Erhalt der Besitztümer eingesetzt. SIK LB. Dieselbe Erfahrung machte das österreichisch-jüdische Ehepaar Joseph und Irma Lichtenstern. Den Krieg verbrachten sie in Österreich, J. Lichtenstern war in einer nicht bekannten militärischen Funktion tätig. Die ihnen gehörende „Villa Austria“ in Kairo-Maadi diente währenddessen britischen Soldaten als Wohnstätte. Wie die Lichtenstern’sche Tochter Annie später berichtete, war es dem Angestellten Mohammed al-Saul zu danken, dass keine Mobilien (nicht einmal Bettwäsche) abhanden kamen und das Haus in gutem Zustand zurück gegeben wurde. Samir Raafat: Annie Gismann, 1996.
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der Wörterbuch-Kommission“ zu einer Sitzung, deren einziger Tagungsordnungspunkt die „Neugestaltung des Deutschen Instituts für ägyptische Altertumskunde in Kairo“ war. Auch Borchardts Anwesenheit als „gegenwärtiger Direktor des Instituts“ war erwünscht neben jener der Professoren Eduard Meyer und Wilhelm Schultz sowie Vertretern des Auswärtigen Amtes und des Preußischen Kultusministeriums.51 Zu diesem Zeitpunkt standen die Zeichen für Borchardt allerdings bereits günstig, denn aus politischen Gründen war seine Rückkehr nach Ägypten angestrebt.52 Er nahm damit eine weit politischere Rolle ein als vor dem Krieg, seine Position sollte zu einem Instrument deutscher Außenpolitik werden. Von einem wirklichen Neuaufbau der ‚deutschen Kolonie‘ in Ägypten konnte zu Beginn 1923 noch nicht die Rede sein. Zwar erklärte sich der Weinhändler Streck, der vorher als Portier im Shepheard’s Hotel gearbeitet hatte, spontan bereit, dem „Bund der Auslandsdeutschen“ beizutreten und Meyerhof mit andern im Land lebenden Deutschen bekannt zu machen. Davon aber waren die meisten „wirtschaftlich schwach“ und besaßen nur die auf drei Monate befristete Aufenthaltserlaubnis.53 An eine grundsätzliche Rückkehrerlaubnis für die Deutschen war noch nicht zu denken, weshalb Meyerhofs Aktivitäten umso wichtiger waren. Fortlaufende Informationen für den „Bund der Auslandsdeutschen“ sagte er ebenso zu wie die Umarbeitung des Baedeker, worum der Leipziger Ägyptologe Georg Steindorff ihn gebeten hatte. Daneben taten sich andere Beziehungen auf. Zwischen Meyerhof und dem französischen Arabisten Giron,54 der als Dragoman für das französische Generalkonsulat arbeitete, bahnte sich eine erfreuliche Beziehung an, da der Franzose sich als „netter, vorurteilsfreier Mann“ erwies, mit dem man, ebenso wie mit den meisten in Kairo lebenden Franzosen, „vernünftig reden“ konnte. Bei allem Optimismus war dennoch die insgesamt recht düstere Lage Ägyptens kaum zu übersehen. Die zuvor üblichen Touristenströme hatten sich noch nicht wieder eingestellt, das „Geschäftsleben“ lag weitgehend danieder, was auch Meyerhof zu spüren bekam. Denn seine am 22. Januar 1923 eröffnete augenärztliche Praxis lief nur mühsam an. Kaum ein zahlungskräftiger und -bereiter Patient ließ sich blicken. Ein leichter Aufschwung zeigte sich lediglich auf dem Wohnungsmarkt. Meyerhof erhielt drei passable Angebote, musste nicht einmal Garantien vorweisen, weil man ihn als „guten Zahler und anspruchslosen Mieter“ kannte.
51 UBB NLE Schäfer. 52 LB führte im September 1923 Gespräche mit diversen deutschen Ministerien mit der Vorgabe, dass „in der Sache nicht nur wissenschaftliche, sondern auch politische Interessen in Frage stehen“. Empfehlungsschreiben an Reichsminister, 7. September 1923. PA AA R 77663. 53 Meyerhof an LB, (Kairo) 7. Februar 1923. SIK LB. 54 Wahrscheinlich identisch mit Noel Aimé Giron, der 1939 als französischer Konsul in Port Said ansässig war. Le Mondain Egyptien, 1939, S. 190.
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Nicht nur diesbezüglich befand Meyerhof sich in einer vergleichsweise günstigen Situation. Denn anders als „die meisten Deutschen und Österreicher“, die „gemein ausgekauft und bestohlen“ worden seien, so Meyerhof, musste er sein Vorkriegs Hab und Gut nicht verloren geben. Auch seine Praxis nahm, wie von Borchardt vermutet, trotz Verlegung in die Sharia Emad-El-Dine einen raschen Aufschwung. Parallel dazu häuften sich bei Meyerhof „Bettel- und Fragebriefe“.55 Eine Privatwohnung konnte er noch nicht anmieten, wohnte vorläufig in der Pension Morrisson. Ein paar Bücher und einen Eisschrank lieh er sich trotz des Widerstands der Borchardt’schen Angestellten aus dessen Privathaus. Laut Meyerhofs Erkundigungen war für Juni 1923 mit der „Indemnity Bill“ und danach mit der Aufhebung des „martial law“ zu rechnen,56 was bedeutete, dass Borchardt im Herbst des Jahres würde nach Ägypten zurückkehren können. Muhibb Pascha, der Noch-Bewohner des Borchardt-Hauses, war zum Finanzminister aufgestiegen und als ägyptischer Gesandter in Italien vorgesehen, so dass auf dessen baldigen Wegzug aus Ägypten zu hoffen war. Erste Anfänge einer neuen ‚deutschen Kolonie‘ zeichneten sich ab. Jeden Dienstag versammelte Meyerhof Deutsche und Österreicher, darunter Mitglieder der Gesandtschaft, zu einem Treffen bei „ehemals Dippmann“, eine Gruppe, die zwar noch längst keine „Ortsgruppe“ darstellte, aber immerhin einen Anfang. Unfreundlich war man den Deutschen in Ägypten nicht gesinnt, sondern eher interessiert an intensiveren Beziehungen. Aus den Kreisen ägyptischer Intellektueller kam sogar die Anfrage „einer Pflege der deutschen Sprache an egyptischen Bildungsstätten“, wie der Gesandte Schroetter dem Auswärtigen Amt in Berlin im März 1922 berichtete.57 Hintergrund seien nicht nur wirtschaftliche Interessen, sondern auch der Wunsch, junge Ägypter zum Studium oder zur Ausbildung nach Deutschland zu schicken. Wesentliche Unterstützung leistete in diesem Zusammenhang der an der Azhar Universität lehrende ägyptische Professor A. Enani, der im Herbst 1922 erstmals Deutschunterricht erteilte. Ziel war aber, nach Wegfall der Einreisebeschränkungen, deutsche Unterrichtende anzustellen, die Unterricht in Sprache, Literatur, Philosophie und technischen Wissenschaften erteilten sollten. Ende Juni 1923 brach Meyerhof zu seinem ersten ‚Heimaturlaub‘ auf, kehrte am 27. August zurück.58 Während dieser Zeit erreichte ihn die Nachricht, dass
55 Kairo, 31. Mai 1923 Meyerhof an LB. SIK LB. 56 Zusatzerklärung der „Declaration to Egypt“: „2. So soon as the Government of His Highness shall pass an act of Indemnity with application to all inhabitants of Egypt, martial Law as proclaimed on the 2nd of November 1914, shall be withdrawn“. Nach Mahmoud Kassim: Beziehungen, 2000, S. 105. 57 27. März 1922. PA AA R 77735. 58 Kairo, 20. Juni 1923, Bad Mergentheim o. D. (Juni 1923). SIK LB.
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Deutschen seit dem 5. Juli 1923 die unbefristete Niederlassung in Ägypten wieder gestattet war.59 Dass Borchardt plante, schon bald seine Arbeit in Ägypten aufzunehmen, war lediglich in der deutschen Gesandtschaft in Kairo bekannt. Ob diese Nachricht zumal in Ägyptologen- oder andern diplomatischen Kreisen sonderlich positiv aufgenommen würde, war zu bezweifeln. Denn seitens der französischen Ägyptologen Pierre Lacau (1873–1963)60 und Gustave Lefèbvre (1879–1957)61 war ein Neffe Georg Schweinfurths, Professor der Kunstgeschichte und lettischer Staatsbürger, sehr „unhöflich behandelt worden“. Lacaus „deutschfeindliche Stellung“ war Borchardt bekannt und wurde von dem englischen Ägyptologen Crum bestätigt.62 Verärgert zeigte sich der Amerikaner Breasted, weil u. a. Meyerhof in einer medizinischen Fachzeitschrift über dessen Papyrus Edwin berichtet hatte. Spannungsfrei waren die Beziehungen zwischen deutschen und nicht-deutschen Ägyptologen mithin auch in Ägypten nicht,63 was Meyerhof darin bestärkte, ‚vor Ort‘ an vertrauensbildenden Maßnahmen zu arbeiten, etwa durch die enge Verbindung zu Giron und Paul Girard, dem Bibliothekar des Institut Francais, auch zu Griffini,64 dem Bibliothekar der königlichen Bibliothek. Mitte Juni 1923 waren die ehemaligen Ägyptendeutschen ihrem Traum, wieder in ihre alte Heimat zurückkehren zu können, ein bedeutendes Stück näher gerückt. Trotz deutlich ungünstigerer Bedingungen als vor dem Krieg fanden sich bald wieder Deutsche in Ägypten ein. Die politische Lage schien einigermaßen ruhig, die Parlamentseröffnung sei „ohne lauten Enthusiasmus und ohne Aggressivität der Ägypter verlaufen“, berichtete Meyerhof, Allenby „sogar vor dem 59 Meyerhof freute sich besonders für Ernst von Recklinghausen, der sich als Vertreter für Continental in Ägypten aufhielt, aber wegen seiner nur 3-monatigen Aufenthaltserlaubnis dauernd von Kündigung bedroht war. E. v.Recklinghausen war ein Verwandter von Meyerhofs Vetter Wilhelm Spiegelberg (Ägyptologe). 60 Erstmals in Ägypten 1899, ab 1912 Direktor des IFAO in Kairo, ab Oktober 1914 Leiter des Antikendienstes (angetreten 1915), kehrte 1917 definitiv nach Ägypten zurück. Rückkehr nach Frankreich 1936. Who-was-Who, 2012, S. 205 f 61 1902–04 Arbeit in Ägypten, 1905–14 Inspektor des Antikendienstes für Mittel-Ägypten, 1915–19 Kriegsdienst, 1919–1928 Kustos des Ägyptischen Museums Kairo, ab 1928 in Frankreich. Who-was-Who, 2012, S. 318. 62 Crum hatte dies gegenüber Heinrich Schäfer ausgeführt, was LB zum Anlass nahm, detaillierte Strategien zur Re-Etablierung des deutschen Instituts in Kairo zu entwickeln. LB an Erman, (Berlin) 21. Juni 1919. UBB NLE Borchardt. 63 Erst seit dem 1929 in Berlin stattfindenden internationalen Archäologen-Kongress anlässlich des hundertjährigen Bestehens des DAI konnte wieder von einer internationalen Forschergemeinschaft die Rede sein. Klaus Junker: Archäologisches Institut, 1997, S. 15. 64 Gemeint war Eugenio Griffini, 1911 Professor für Arabisch in Mailand und als Mitglied Nr. 1367 der „Deutschen Morgenländischen Gesellschaft“ verzeichnet.
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arlament von der Menge mit Händeklatschen begrüßt“ worden.65 Etliche deutP sche Industrielle und „Schieber“ tauchten in Ägypten auf, einige dieser „Exemplare“ durfte Meyerhof ‚genießen‘. Auch alte Bekannte erschienen wieder, so der Architekt Rennebaum, der Ingenieur Jacob66 und der Kaufmann Hans Abel.67 Als das Ehepaar Borchardt im 1. November 1923 nach Kairo zurückkehrte, waren die Rahmenbedingungen für das neu zu etablierende archäologische Institut keineswegs geklärt. Borchardt focht heftig, um nicht wieder der bis 1914 geltenden Kontrolle durch die Berliner Wörterbuchkommission unterworfen zu sein, was auch Erman nicht für einen wünschenswerten Weg, sondern einen wenig effizienten „Notbehelf“ hielt. 68 Doch das Institut allein dem Auswärtigen Amt zu unterstellen, konnten und wollten die führenden deutschen Ä gyptologen – vor allem Steindorff und Schäfer – nicht akzeptieren. Erst Mitte 1926 wurde eine bindende Geschäftsordnung festgelegt, die zwar dem Auswärtigen Amt die Oberaufsicht zugestand, aber auch etliche Kontrollmöglichkeiten seitens einer beisitzenden Kommission vorsah.69 Verhindert werden konnte aber, dass das Kairener Institut dem zentralen Deutschen Archäologischen Institut unterstellt wurde. Dies fand erst 1929 statt, nachdem Borchardt in den Ruhestand getreten und Hermann Junker zu seinem Nachfolger ernannt worden war.70 Anders als erhofft war es Ludwig und Mimi Borchardt unmöglich, schon 1923 wieder ihre Villa zu beziehen und das Institut wie vor 1914 zu führen. Beide Häuser waren noch von dem „üblen“ Mohamed Mohebb Pasha bewohnt, so dass das Ehepaar sich zunächst im Hotel Continental, später dann in einem Hausboot am Nilufer vor den Villen einmietete. Bis August 1924 sollte dies
65 Rechtsanwalt Pflaum aus München wollte Meyerhof seine Aufwartung machen, woraus aber nichts wurde. Meyerhof an LB, 15. März 1923. SIK LB. 66 Während eines Treffens der Ägyptendeutschen (10. Februar 1915) in Berlin berichtete Jacob, dass er im Auftrag einer Akkumulationsfabrik in Bremerhaven und Danzig Akkumulatoren in U-Boote einbaute. Er wusste die „unglaublichsten“ Sachen von diesen Schiffen zu erzählen. LB an MB, 11. Februar 1915. SIK MB 34/2. 67 Verheiratet mit Marie Abel. 68 Erman an LB, (Berlin) 5. September 1923. UBB NLE Borchardt. 69 Susanne Voss: Geschichte, 2013, S. 202 f. 70 Um diese Angliederung bemühte sich vor allem der DAI-Leiter Gerhart Rodenwaldt (1886– 1945). Das „Institut war seit seiner Übernahme als Reichsanstalt des preußischen Staates, dann des deutschen Reiches (1874) eine ‚Stiftung‘ gewesen“, erhielt also aus der Staatskasse einen bestimmten Betrag, womit sämtliche Aufwendungen zu bestreiten waren. Problematisch war, dass bei einer angespannten Finanzlage die Gelder drohten gestrichen zu werden, was die Schließung bedeutet hätte. Durch die Umwandlung des Instituts in eine „etatisierte Reichsbehörde“, 1929, drohte dies zwar nicht mehr, aber das Institut war von ständigen Etatkürzungen betroffen. Klaus Junker: Archäologisches Institut, 1997, S. 17, 19.
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ihre häusliche Bleibe sein.71 Ansonsten sah Borchardt zukünftige „wesentliche Schwierigkeiten“ allenfalls von deutscher Seite auf sich zukommen. Die nichtdeutschen Kollegen begegneten ihm mit „Herzlichkeit, Freundlichkeit, Korrektheit, Kühle usw.“, besonders positiv Reisner, Quibell, Breccia (1876–1967),72 zwei weitere amerikanische Kollegen und Cecil Firth (1878–1931),73 freundlich immerhin Griffith, Campbell Edgar (1870–1938)74 und Norman des Garis Davies, korrekt bis kühl Howard Carter und Herbert Winlock (1884–1950).75 Vor allem der amerikanische, in Sakkara tätige Ägyptologe Firth erwies sich später als sehr kooperativ, hatte sich auch schon während Borchardts Abwesenheit um den Schutz von dessen Besitz verdient gemacht. Auch die Franzosen schienen nicht allzu feindlich gesinnt, Georges Foucart (1865–1943)76 für Gespräche offen, Pierre Lacau sicherlich „korrekt“ – „die Lage ist also, was das Verhältnis zu den Fachgenossen anlangt, genau dieselbe wir vor 1914“. Borchardt glaubte resümieren zu können, dass man „ohne wesentliche Behinderung“ werde arbeiten können „wie vor dem Krieg. Und mehr wollen wir nicht“. Ermans Befürchtung, dass man in Ägypten als „boche“ behandelt werde, zerstreute Borchardt. Schon im Januar 1924 werde man im Institut wieder Gäste aufnehmen können.77 Auch Monate später bezeichnete Borchardt die Stellung der Deutschen in Ägypten als „politisch und wirtschaftlich sehr günstig“, was ebenso für das Institut und seine Arbeit gelte. Vor allem König Fouad protegierte Deutsche zuungunsten von Engländern und Franzosen, was Borchardt nach Möglichkeit nutzen wollte, um einem „Deutschen zu einem gut bezahlten Posten im Service oder in einer 71 LB an A. Erman, (Kairo) 8. November 1923, 29. Mai 1924. UBB NLE Borchardt. 72 Italiener, 1903 erstmals in Ägypten, 1904–1931 Nachfolger von Botti als Direktor des GraecoRomanischen Museums in Alexandria, darauffolgend mehrere Grabungen in Ägypten. Who-wasWho, 2012, S. 79. 73 Britischer Ägyptologe, arbeitete für den Antikendienst in Ägypten, mit Reisner in Nubien (1907–10), organisierte 1912 das Assuan Museum, Inspektor des Antikendienstes in Sakkara 1913, Rückkehr nach England 1931. Who-was-Who, 2012, S. 190 f. 74 Britischer Ägyptologe, studierte am Oriel College Oxford, danach in München, ab 1900 Arbeit für den Katalog der Kommission am Ägyptischen Museum Kairo, 1905–20 Leitender Inspektor des Antikendienstes im Delta, 1920–25 Leitungsfunktion am Museum Kairo, im Ruhestand ab 1927. 75 Amerikanischer Ägyptologe, studierte in Harvard, führte Grabungen in Ägypten aus für das Metropolitan Museum New York 1906–1931, Direktor der Ägyptischen Expedition 1928–32, Kurator am Metropolitan Museum 1929–39 (Direktor 1932–39), Kriegsdienst 1917–19. Who-was-Who, 2012, S. 584. 76 Französischer Ägyptologe, Inspektor des Antikendienstes für Nieder-Ägypten 1892–94, Professor in Bordeaux, Aix-en-Provence bis 1910, Direktor des IFAO 1915–1928. Gestorben in KairoZamalek. Who-was-Who, 2012, S. 196. 77 LB an Erman, (Kairo) 8. November 1923, 29. Mai 1924. UBB NLE Borchardt.
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anderen Verwaltung“ zu verhelfen, obschon die Parole „Ägypten den Ägyptern“ herrsche.78 Im März 1924 waren auch Alexander Scharff (1892–1950)79 und seine Ehefrau in Kairo eingetroffen; er würde der erste Nachkriegsassistent Borchardts in Kairo sein, musste auf Weisung Heinrich Schäfers aber schon Mitte 1924 Ägypten wieder verlassen.80 Der Borchardt’sche Neuanfang in Ägypten war vielleicht weniger unangenehm als befürchtet. Die meisten internationalen Kollegen zeigten sich kooperationsbereit oder zumindest nicht allzu feindselig. Dennoch schmerzte, die Grabungskonzession für Tell el-Amarna verloren und dort englische Ägyptologen für die EES an der Arbeit zu wissen.81 Dagegen wurden ihm seitens Ägypten keine Hindernisse in den Weg gelegt, er hätte sie wohl auch nicht allzu ernst genommen. Denn in den politischen Bestrebungen Ägyptens sah er nichts als „Größenwahn der modernen Ägypter“, ein nicht ungewöhnliches Phänomen, zumal nicht bei einem „soeben ‚befreiten‘ Volke. Aber das gibt sich.“ Im Übrigen könne man Sa‘ad Zaghloul wohl keinen „größeren Gefallen tun, als ihm etwa als Repressalie einmal einen Haufen der durchgedrehten ägyptischen Studenten aus Deutschland zurückzuschicken“, Studierende, die der ägyptischen Regierung laut Borchardt „sehr unangenehm“ waren. Im Übrigen war er sich gewiss, dass die „neuen orientalischen Völker“ bald in „Barbarei“ verfallen würden, was Deutschland nur von Nutzen sein könne.82 Meyerhof nutzte seinen Sommerurlaub in Deutschland, um seine Familie, Freunde und Bekannte, so Curt Prüfer, den früheren Dragoman der deutschen Gesandtschaft in Kairo, in Heidelberg Julius F. Ruska (1867–1949),83 Viktor
78 LB an Erman, (Kairo) 21. März 1924. UBB NLE Borchardt. 79 Ägyptologe, stammte aus Frankfurt/M., studierte bei Erman und Sethe, 1923 Assistenzprofessor Universität München, Professor dort 1932–1950. Who-was-Who, 2012, S. 491. 80 LB an Erman, 31. Juli 1924. UBB NLE Borchardt. Nachfolger Scharffs war der Historiker Albert Ruck aus Heilbronn, dem Joseph Vogt von der Universität Tübingen, ab Januar 1925 der Berliner Studienrat Adolf Rusch (erteilte auch Deutschunterricht), 1926 wiederum Alexander Scharff, von Juni 1926 bis März 1927 Walther Wolf, von April 1927 bis Frühjahr 1929 Rudolf Anthes folgten. Herbert Ricke hielt sich von Januar 1926 bis Mai 1928 als Bauforscher im Auftrag der Deutschen Orient Gesellschaft im DAI Kairo auf. Susanne Voss: Geschichte, 2013, S. 194–198, 206–208, 219–221. 81 LB an Erman, (Kairo) 29. Mai 1924. UBB NLE Borchardt. 82 LB an Erman, (Kairo) 29. Mai 1924, 8. Juli 1924. UBB NLE Borchardt. 83 Deutscher Orientalist, Wissenschaftshistoriker und Pädagoge. 1924 richtete Viktor Goldschmidt in Heidelberg für ihn das „Institut für Geschichte der Naturwissenschaft“ ein. In demselben Jahr traf er dort mit Max Meyerhof zusammen, der Ruska „eine Reihe von Manuskripten aus Kairo zugänglich machte“. 1927 erhielt Ruska eine Honorarprofessur in Berlin; er emeritierte 1928. Claus Priesner: Ruska, Julius Ferdinand, 2005, S. 295–297.
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G oldschmidt (1854–1933),84 Hermann Ranke (1878–1953)85 und Gotthelf Bergsträsser (1866–1933),86 der einige Jahre später in Kairo tätig wurde, aufzusuchen.87 Länger als ihm lieb war hatte Borchardt mit dem Noch-Bewohner seiner Villen zu kämpfen; Mohamed Mohebb Pasha schien eine recht zwielichtige Gestalt zu sein.88 Bevor er 1926 zum ägyptischen Gesandten in Teheran ernannt wurde, war er vor 1914 „Mudir“ der Provinz Garbieh gewesen, hatte dort schon im Ruf gestanden, „Bestechungen zugänglich zu sein“.89 Im Frühjahr 1914 hatte er mit seiner Familie Urlaub in Europa gemacht, war wegen seiner bekannten engen Beziehungen zum Khediven Abbas Hilmi II nicht nach Ägypten zurückgekehrt, hatte die Kriegsjahre in Wien verlebt und war nach Abbruch seiner Beziehungen zu Abbas Hilmi nach Ägypten zurückgekehrt. 1923 wurde er Finanzminister im Kabinett Yehia Ibrahim Pasha, musste aber nach wenigen Monaten demissionieren, nachdem er durch bewusste Falschmeldungen eine Börsenkrise ausgelöst hatte. Auch während dieser Zeit wurde ihm Bestechlichkeit nachgesagt. Seine Freundschaft mit Sarwat Pasha und König Fouad verschaffte ihm schließlich die Gesandtenposition in Teheran, die er wegen des zu niedrigen Gehalts rasch aufgab.90 Wie der deutsche Gesandte Mertens betonte, stellte sich Mohamed Mohebbs Skrupellosigkeit besonders in seinen Differenzen mit Ludwig Borchardt heraus. Dieser warf Mohebb vor, bei seinem Auszug verschiedene Möbel und Beleuchtungskörper mitgenommen und trotz mehrfacher Aufforderungen nicht zurückgegeben zu haben. Diese Erfahrung bestätigte einmal mehr Borchardts Urteil über ägyptische
84 Studierte an der Bergakademie Freiburg (Sachsen), 1880 Promotion in Heidelberg, Habilitation 1888. Gründete in Heidelberg, wo er von 1888 bis 1933 tätig war, das Institut für Mineralogie und Kristallographie. 1933 Migration nach Österreich. „Berichte zu einzelnen jüdischen Dozenten an der Universität Heidelberg“, in: http://www.alemannia-judaica.de/heidelberg_jued_ dozenten.htm (18.07.2013). 85 Deutscher Ägyptologe, spezialisiert auf semitische Sprachen und Assyriologie. Während der NS-Zeit emigrierte er in die USA, wo er für das Philadelphia Museum arbeitete, kehrte noch während des Krieges nach Deutschland zurück. Who-was-Who, 2012, S. 455. 86 Deutscher Orientalist, 1919 Professor in Königsberg, ab 1922 in Breslau, 1923 in Heidelberg, 1926 in München. Weil er den Nationalsozialismus ablehnte, wechselte er 1933 an die Universität Kairo. Er kam bei einer Klettertour ums Leben. Als einige Jahre später auch seine Ehefrau starb, kümmerte sich der Münchner Ägyptologe Alexander Scharff um die beiden Töchter Bergsträsser, wie aus dessen Briefen an Alan Gardiner hervor geht. 87 Meyerhof an LB, (Heidelberg, Moltkestr. 8) 22. Juli 1924. SIK LB. 88 Im Sommer 1924 blieb LB in Kairo, weil der Mieter sich weigerte, wie vereinbart zum 1. August 1924 auszuziehen, weshalb er mit polizeilicher Hilfe unter Druck gesetzt werden musste. Danach musste etwa zwei Monate lang renoviert werden. MB weilte währenddessen mit Schwester und Mutter in Sellin auf Rügen. LB an Erman, 8. Juli 1924, 31. Juli 1924. UBB NLE Borchardt. 89 Bericht Mertens an AA Berlin, 3. August 1926. PA AA R 77720. 90 Bericht aus Teheran an AA Berlin, 9. September 1926. PA AA R 77720.
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Politiker, die er von wenigen Ausnahmen abgesehen für inkompetent und korrupt hielt. Bestätigt wurde dies auch, als die ägyptische Regierung nach dem Attentat auf Sa’ad Zaghloul, 1924, ohne gesetzliche Grundlage jeden Briefverkehr von und nach Deutschland streng kontrollieren ließ, was Borchardt als „Durchschnüffelung der Papiere ihrer politischen Gegner und der Leute, bei denen sie irgendeinen Zusammenhang mit dem früheren Vizekönig vermuten“ wertete. Borchardt zögerte nicht, sich offiziell über offensichtlich zensierte und geöffnete Briefe zu beschweren.91 Nachdem Wohnhaus und Institut wieder in Besitz genommen werden konnten, wurde auch die im Obergeschoss des Instituts liegende Wohnung wieder vermietet. Als Mieter Boehm92 nach nur wenigen Monaten verstarb, wünschte sich Borchardt, dass Meyerhof dort mit seiner Schwester einziehen sollte, wie dies schon kurz vor dem Krieg der Fall gewesen war.93 Dabei bedachte er nicht, dass Meyerhof nur maximal 15 £ monatlich für eine Wohnung ausgeben konnte, die Borchardt’sche also zu teuer war, während beispielsweise eine geräumige Wohnung in einem der Khedivalhäuser für nur 12 £ zu haben war. Hinzu kam, dass Meyerhof seiner Schwester das Zusammenleben mit ihr gänzlich unbekannten Personen, d. h. Assistenten des Instituts, nicht zumuten wollte, es aber nicht hätte vermeiden können. Die seinerzeitigen Mitbewohner waren ausnahmslos „feine, rücksichtsvolle Menschen“ gewesen, ob dies auf den neuen Assistenten Adolf Rusch94 auch zutraf, wusste man nicht. Meyerhofs Freund Enno Littmann (1875–1958),95 dessen Kommen geplant, aber lange Zeit in der Schwebe war, kam 91 LB an Erman, 31. Juli 1924. UBB NLE Borchardt. 92 Das Ehepaar Boehm hielt sich schon 1907 in Ägypten auf, übernachtete im März dieses Jahres im Shepheard’s Hotel in Kairo. Ella Boehm teilte MB mit, dass man wegen des Packens nicht zu Besuch habe kommen können. Am 4. Mai 1913 bedankte sich E. Boehm, wohnhaft in Freiburg, für die Beileidsbekundungen zum Tod ihres Mannes. Eventuell war der spätere Mieter ein Nachkomme von Prof. Boehm. SIK MB 53/4. 93 Meyerhof an LB, (Bad Mergentheim) 28. Juli 1925. LB berichtete Meyerhof (5. August 1925), Witwe „Briem“ werde Kairo verlassen und nach Deutschland zurückkehren. SIK LB. 94 LB war verärgert darüber, dass Rusch ohne sein Zutun zum Assistenten bestimmt worden war, was er Heinrich Schäfer anlastete. Schäfer hatte signalisiert, auf LB’s Wunsch hin Wolf als Assistenten entsenden zu wollen, obwohl er Rusch schon längst vorgesehen hatte. Informiert wurde LB lediglich vom AA. LB wertete Schäfers Verhalten als Machtdemonstration. „Nach den Vorkommnissen des letzten Jahres, an die ich ohne Ekel nicht zurückdenken kann, war diese ‚Ungeschicklichkeit‘ wohl nicht erforderlich“, schrieb LB am 12. Januar 1925 an Erman. UBB NLE Borchardt. 95 Deutscher Orientalist, 1906 ordentlicher Professor in Straßburg, ab 1914 in Göttingen, ab 1917 in Bonn, ab 1921 bis zu seiner Emeritierung 1951 in Tübingen. War u. a. Mitglied der Arabischen Akademie Kairo, wo er, ebenso wie in Alexandria, mehrfach als Gastdozent tätig war. Seine Mitarbeiter bei den Forschungen in Nordäthiopien und der italienischen Kolonie Eritrea waren Daniel Krencker und Theodor Lüpke. Rudi Paret: Littmann, Enno, 1985, S. 710 f.
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nicht als Mitmieter in Betracht, weil er nur für einige Monate in Ägypten bleiben und außerdem seine Familie mitbringen wollte. Borchardt hätte Littmann gerne als Mieter gesehen,96 doch auch ihm war laut Vermutung Meyerhofs die Miete zu hoch. Meyerhof ließ sich auch nicht umstimmen, als Borchardt die Reduktion der Miete vorschlug, wollte sich eher permanent eine Wohnung innerhalb seiner Klinik nehmen und seine Schwester in einer Pension einmieten.97 Wie knapp es um Meyerhofs Finanzen bestellt war, machte Borchardt sich wohl nicht deutlich, auch nicht, dass dieser zusätzlich seinen Verwandten Wilhelm Spiegelberg unterstützen musste, der wegen des Zusammenbruchs der Bank Ephraim Meyer in Hannover seiner sämtlichen Finanzmittel beraubt war. Trotz seines engen Budgets unterstützte Meyerhof auch darüber hinaus, zumal wenn es sich um in Not geratene ehemalige Ägyptendeutsche handelte.98 Sein ägyptisches Umfeld beobachtete Meyerhof sorgfältig, um die neu angekommenen oder noch zu erwartenden Deutschen umgehend informieren, vielleicht auch beraten zu können. Völlig unzufrieden machte ihn die Entwicklung der neu gegründeten Kairener Universität. Er verstand es als Brüskierung, dass deren erster Rektor, Ahmad Lutfi al-Sayyid (1872–1963),99 „hinter meinem Rücken 96 Laut Telegramm LB an Meyerhof (1925). SIK LB. 97 Meyerhof an LB, Kairo (Sh. Emad el-Din 9), 30. September 1925. SIK LB. 98 Beispielsweise Hedwig Amster-Dürre (in erster Ehe verheiratet mit dem Augenarzt Rudolf Amster, in zweiter mit Fritz Dürre, lebte bis 1915 in Kairo). Das Ehepaar Amster hatte in Kairo-Maadi gelebt, in unmittelbarer Nachbarschaft von Joseph und Irma Lichtenstern sowie von Erwin und Lucy de Cramer. Letztere war eine Tochter von Senator Guido Adamoli, der in Kairo für die „Caisse de la dette“ tätig war. Lucy de Cramer und Hedwig Amster waren begeisterte Musikerinnen und gaben häufig Vorstellungen bei der britischen Gesandtschaft. Kurz nach Ausbruch des Krieges verkauften Amsters ihre Immobilien und Mobilien. R. Amster wurde Berater des in Europa lebenden letzten Khediven. Samir Rafaat: Annie Gismann, 1996. Mit Ehemann F. Dürre lebte Hedwig eine Zeitlang in Finnland. Dürre verließ seine Ehefrau und war flüchtig. Hedwig drohte ab 1. Oktober obdachlos zu sein, ihr musste also geholfen werden. E. Kehren an MB, 29 Dezember 1920. SIK MB 67/6. 99 Lutfi war einer der einflussreichsten Intellektuellen Ägyptens, Mitbegründer der ägyptischen liberalen Nationalbewegung, Jurist und Journalist. Er war einer der größten Gegner des PanArabismus, indem er darauf bestand, dass Ägypter Ägypter seien und nicht Araber. Seine journalistische Tätigkeit gab er aufgrund der scharfen britischen Zensurbestimmungen während des Ersten Weltkriegs auf, wurde 1915 Direktor der National Bibliothek. Ende des Krieges gab er diese Tätigkeit auf, reiste 1919 als Mitglied der ägyptischen Delegation zu den Friedensverhandlungen nach Paris bzw. Versailles, um für die Unabhängigkeit Ägyptens einzutreten. Frustriert vom Verhandlungsverlauf und -ergebnis zog er sich aus der politischen Öffentlichkeit zurück, widmete sich sozialen und wissenschaftlichen Belangen. Von 1925 (11. Mai) bis 1932 und von 1935 bis 1937 bzw. 1941 war er Direktor der Universität Kairo. Darüber hinaus fungierte er als Erziehungs- und Innenminister, als Direktor der Gesellschaft für arabische Sprache, war Mitglied des Senats und Direktor des „House of Books“. Artikel „Ahmad Lutfi al-Sayyid“, in: http://www.britannica.com/ EBchecked/topic/351944/Ahmad-Lutfi-al-Sayyid (10.07.2013).
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einen alten emeritierten Schweden zum Dekan der naturwissenschaftlichen Fakultät“ berufen hatte. Noch mehr empörte ihn, dass der ägyptische Delegierte in Brüssel („obwohl eher aus Dummheit und Franzosenliebedienerei“) gegen die Wiederaufnahme der Deutschen in die internationale naturwissenschaftliche Vereinigung gestimmt hatte. Ähnlich wie Borchardt misstraute Meyerhof den neuen Machthabern in Ägypten, vertraute mehr dem früheren Sultan und nun König, Fouad I., nicht zuletzt, weil dieser sich bereit erklärt hatte, Druckkosten für das Berliner „Wörterbuch“ zu übernehmen.100 Borchardt teilte zwar Meyerhofs Urteil bezüglich der ägyptischen Politiker, musste ihn aber hinsichtlich des angeblichen schwedischen Emeritus an der Kairener Universität korrigieren. In Wirklichkeit handelte es sich um einen 32-jährigen schwedischen Wissenschaftler, was nichts an Borchardts Meinung änderte, dass die Universität von ignoranten, völlig kenntnislosen Menschen gesteuert werde.101 Einige Jahre später beklagte sich auch der für das Auswärtige Amt tätige Professor Moritz über Lutfi Bey, den er als einen „homo ambiguus et multiplex“ bezeichnete, vor allem wohl weil er deutschen Wissenschaftlern den Zugang zur Kairener Universität erschwerte bzw. fast unmöglich machte.102 Völlig ablehnend stand Lutfi Deutschen nicht gegenüber. Im Kontext der Gründung einer neuen Universität in Kairo wandte er sich an die deutsche Gesandtschaft, die ihr geeignete Wissenschaftler empfehlen sollte, weil der „Anteil der deutschen Gelehrtenwelt keineswegs hinter dem der anderen europäischen Länder zurückstehen dürfe“.103 Um die Deutschen ins rechte Licht zu rücken, bedurfte es der Unterstützungsarbeit von Max Meyerhof, der nicht nur als „ausgezeichneter Kenner der islamischen Wissenschaften“ bekannt war, sondern auch „mit einem großen Kreise hiesiger Wissenschaftler“ und „mit deutschen
100 Mitte 1923 schrieb Meyerhof an LB, er habe sich mit Griffini über die schwierige Finanzierung der Drucklegung unterhalten, woraufhin dieser den König angesprochen habe, der sich zur Kostenübernahme bereit erklärt habe. Erman zögerte, das Angebot anzunehmen. Meyerhof riet ihm, dies zu tun, denn man wisse nicht, wie lange Fouad noch König bleiben und Geld haben werde. Das Geld könne man ja deponieren. SIK LB. 101 5. August 1925 LB an Meyerhof. SIK LB. 102 Moritz an Freiherr v. Richthofen (Kairo), 12. März 1929. Moritz beklagte, Ende Februar 1929 sei von den Engländern durchgesetzt worden, dass an der philosophischen Fakultät die Vorlesungen über Geschichte und Geographie in englischer Sprache gehalten werden mussten. Proteste seitens französischer und italienischer Professoren ignorierte das ägyptische Unterrichtsministerium. Es war zu erwarten, dass die Regelung auch auf andere Fächer ausgedehnt würde, womit das Schicksal der deutschen Professoren, „die nicht arabisch vortragen können, besiegelt“ wäre. Moritz meinte, unter einer anderen Regierung werde die Maßregel wieder aufgehoben, was unter Unterrichtsminister Lutfi nicht zu erwarten sei. PA AA R 77736. 103 Bericht deutsche Gesandtschaft, (Kairo) 4. Juni 1925. PA AA R 63246.
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Gelehrten in ständigem Gedankenaustausch“ stand. Mit Lutfi war Meyerhof schon in vertrautem Kontakt gewesen, als dieser noch Leiter der staatlichen Bibliothek war. Daraus ergab sich, dass Lutfi sich Meyerhof gegenüber eingehend über seine Pläne bezüglich der Universität äußerte. Wunschkandidat von deutscher Seite war der Tübinger Orientalist Enno Littmann, der sich aber wenig geneigt zeigte, eine Professur in Kairo anzutreten.104 Statt seiner dachte die Gesandtschaft an die Orientalisten Josef Horovitz aus Frankfurt und Gotthelf Bergsträsser, zu dieser Zeit noch in Königsberg. Mit beiden stand Meyerhof auf Bitten von Lutfi in stetem Kontakt. Dekan der „Faculté des Lettres“ sollte ein Belgier werden. Auch mit andern Wissenschaftlern hatte Meyerhof bereits Kontakt aufgenommen, um gegebenenfalls die Professuren für Mathematik und Chemie besetzen zu können. In Frage kommende Kandidaten sollten sich stets zunächst an Meyerhof wenden, der als Vermittler zwischen deutscher Gesandtschaft und der Kairener Universität auftrat. Doch zeigten sich deutsche Wissenschaftler zunächst wenig geneigt, ihre wissenschaftliche Karriere zugunsten einer Tätigkeit in Kairo zu unterbrechen, zumal die dortige Universität keinen sonderlich guten Ruf hatte und dauernde Zwistigkeiten mit der Universität El Azhar zu befürchten waren.105 Auch in solchen Fällen hoffte man auf Meyerhofs vermittelnde Aktivitäten, zumal dieser deutsche Wissenschaftler in Ägypten zu etablieren versuchte. Andere Kollegen Borchardts fanden sich in Kairo ein, so der russische Ägyptologe Vladimir Golenischeff (1856–1947), von dem Borchardt erfuhr, dass er im Winter 1924 an der Kairener Universität Vorlesungen über ägyptische Sprache hielt, womit er sich angesichts seiner nur sechs Studenten kümmerlich seine Existenz sicherte.106 Borchardt gegenüber verhielt er sich zwar korrekt, aber wegen seiner während des Krieges entwickelten Deutschfeindlichkeit distanziert.107 Trotz vor allem Meyerhofs unentwegten Bemühungen gestalteten sich die deutschen Neuanfänge in Ägypten holprig. An alte Beziehungen musste nach Möglichkeit angeknüpft, neue Verbindungen mussten hergestellt werden. Sich der teilweise völlig neu strukturierten ägyptischen Gesellschaft zu versperren,
104 Die Gesandtschaft berichtete (10. November 1926), Littmann wolle die Professur nicht antreten. Er schlug den Orientalisten Schaade (Hamburg) vor, der vor 1914 Leiter der Kairener Bibliothek gewesen war. PA AA R 63246. 105 Deshalb verzichtete auch der Heidelberger Wirtschaftswissenschaftler Edgar Salin (1892–1974) auf eine Tätigkeit in Kairo. Dies mag MB bedauert haben, weil Salins Mutter Bertha eine Tochter von Philipp Schiff war. Dieser war einer der engsten Freunde ihres Vaters gewesen. Philipp Schiff war ein Bruder von Jakob Schiff, mit dem MB verwandt war. PA AA R 63246. 106 Dass er trotzdem Urlaub in Frankreich machen konnte, hing laut LB mit dem Vermögen der französischen Ehefrau zusammen. LB an Erman, (Kairo) 31. Juli 1924. UBB NLE Borchardt. 107 Susanne Voss: Geschichte, 2013, S. 204.
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wäre, trotz aller Kritik an ihr, mehr als ungeschickt gewesen, zumal es durchaus Integrationsangebote gab. So luden im Laufe des Frühjahrs 1927 deutschsprechende ägyptische Akademiker deutsche Kollegen wiederholt zum Tee. Diesen Einladungen hatten unbedingt Gegeneinladungen zu folgen, mahnte Meyerhof in einem Rundschreiben. Eine erste sollte am 23. Mai 1927 im deutschen „Klub Hansa“ erfolgen.108 Allmählich etablierten sich die Deutschen in Ägypten – 1923 waren es 123, 1926 etwa 400.109 Ähnlich wie Meyerhof und das Ehepaar Borchardt meinten zumal die Rückkehrer – beispielsweise Justizrat Eschenbach, Architekt Rennebaum und der Kaufmann Gustav Mez – beobachten zu können, dass ihr altvertrautes Ägypten nur noch teilweise existierte, grundlegende politische, wirtschaftliche und soziale Umwälzungen stattgefunden hatten. Vieles empfand man als „anders und weniger schön“, nicht einmal qualitativ hochwertige handwerkliche Arbeiten seien noch zu finden.110 Das Leben war nicht mehr „wie früher“, weniger „angenehm und behaglich“.111 Umso mehr schmerzte die Deutschen der Wegfall der Kapitulationen, der obendrein wirtschaftliche Nachteile brachte. Dennoch galt vielen Deutschen Ägypten als gesuchte Wahlheimat, blieb das „Traumland der europäischen Imagination“ schlechthin,112 das zwar durchaus orientalisch-exotisch wirkte, aber keineswegs abweisend-fremd. Ähnlich wie Emma Walthers Neffen113 zog es zumal Mediziner, Juristen und Kaufleute nach Ägypten, wenngleich es meist schwierig war, sich beruflich zu etablieren.114 Dennoch dachten Mitte der 1920er Jahre auch etliche ehemalige Lehrer der deutschen Schule Kairo an die Rückkehr nach Ägypten.115 Als Chefarzt des Diakonis108 Rundschreiben, 10. Mai 1927. SIK LB. 109 Albrecht Fuess: Internierung, 1998, S. 336. 110 E. Walther berichtete MB (13. Januar 1928) von den Beobachtungen des ehemaligen Hilfspredigers Flury, der sich im Mai und Juni 1927 in Ägypten aufgehalten hatte. SIK MB 82/3. 111 Olga Hasselbach berichtete MB (29. Dezember 1921), was sie von Rückkehrern erfahren hatte. Man mutmaßte, dass sich die Lage in Ägypten sogar noch verschlimmern werde. SIK MB 65/6. 112 Walter M. Weiss: Traumland Ägypten, 2004, S. 9. 113 Er wollte sich als Allgemeinmediziner in Kairo niederlassen, doch fehlte ihm das erforderliche Finanzkapital; außerdem gab es in Kairo keinen Bedarf an Allgemeinmedizinern. Der Neffe wollte in die Fußstapfen seines Vaters treten, der in Kairo „so schöne Erfolge“ gehabt hatte. Meyerhof riet von der Migration des jungen Arztes ab. E. Walther an MB, 1. Januar 1925. SIK MB 82/3. 114 Prof. Schmidt erhielt die ihm seitens der ägyptischen Regierung bindend zugesagte Stelle nicht. Auch in Deutschland wusste er keine adäquate berufliche Position zu erlangen. Er starb 1927 in Deutschland. E. Walter an MB, 10. Januar 1926, 13. Januar 1928. SIK MB 82/3. 115 So Frl. Taschner, die zwischenzeitlich zur Leiterin eines Kindererholungsheims in Nordwijk (bei Leyden, Holland) geworden war, dann Prof. Draeke, der frühere Hauslehrer der Familie Hasselbach, und Prof. Graefe, früherer Lehrer der deutschen Schule. E. Walther an MB, 10. Januar 1926. SIK MB 82/3.
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senhospitals (Victoria) wurde der Schweizer Hegi abgelöst von dem deutschen Arzt Dinkler, der vielen Ägyptendeutschen aus seiner Arbeit für den Deutschen Verein bekannt war.116 Anziehend dürfte auch gewirkt haben, dass etliche Beziehungen zu Ägyptern den Krieg unbeschadet überstanden hatten,117 dass Deutsche innerhalb der ägyptischen Gesellschaft nach wie vor keinen schlechten Ruf besaßen. Deshalb schreckten die Nachrichten über die unübersichtliche politische Lage oder den problematischen Arbeitsmarkt in Ägypten nicht unbedingt. Ermutigend wirkten auch die Ausführungen des deutschen Gesandten, der zumal Ärzten, Ingenieuren, Technikern, selbständigen Kaufleuten, Hotelwirten, für Hotels als Direktoren oder Oberkellner Tätigen gute berufliche Perspektiven in Ägypten zusicherte.118 Diese Einschätzung sollte sich wenige Jahre später deutlich wandeln. Wie das Auswärtige Amt 1926 verlauten ließ, war die Lage auf dem ägyptischen Arbeitsmarkt so ungünstig geworden, „dass dringend davon abgeraten werden muss, dorthin zu reisen, ohne dass Sie einen festen Anstellungsvertrag in Händen haben“.119 Gesucht waren ledige Monteure, was so problematisch nicht war, denn anscheinend arbeiteten „Deutsche sehr gern als Monteure in Ägypten und verzichten auf Zahlung des Heimatgehalts, wenn dies den offiziellen Tarifabmachungen in Deutschland entspricht“, wie die deutsche Gesandtschaft 1926 dem „Verein Deutsche Maschinenbau-Anstalten“ in Berlin berichtete.120 Zahnärzte, die sich in Ägypten etablieren wollten, durften ihren Beruf laut Gesetz vom 21. Februar 1920 nur ausüben, wenn sie ein Zahnarztdiplom einer anerkannten Fakultät und die Erlaubnis des ägyptischen Innenministeriums vorweisen konnten. Sollten Zweifel an der fachlichen Qualifikation bestehen, musste in Ägypten nochmals eine Prüfung abgelegt werden.
116 Dessen Ehefrau Annamaria war Mitglied des Frauenvereins. Dr. Hegi lebte und arbeitete nach wie vor im Hospital. E. Walther an MB, 9. Januar 1931. SIK MB 82/3. 117 E. Walther berichtete MB (29. Dezember 1929), die Ehefrau des ägyptischen Finanzministers Maher Pasha sei ihre ehemalige Schülerin. Er selbst hatte bei E. Walther Deutschunterricht gehabt. Das Ehepaar suchte für seinen Sohn eine deutsche Erzieherin, Walther sollte vermitteln. SIK MB 82/3. 118 Kairo, 5. April 1922. Handwerkern räumte er nur geringe Chancen ein, weil solche Arbeiten von „Eingeborenen“ ausgeführt würden. Die Lebenshaltskosten bezifferte er auf mindestens 30–35 LE monatlich. Ein Monteur verdiente bei freier Verpflegung und Unterkunft 4–6 LE wöchentlich. PA AA R 77735. 119 Diel (AA) an J. Utech (Hamburg), 29. Januar 1926. PA AA R 67075. 120 Wünschenswert wäre, dass „Monteure aus der eigenen deutschen Fabrik die Montage in Ägypten durchführen“. Denn mitunter könnten „erstklassige Maschinen“ nicht in Betrieb genommen werden, weil sie von den nichtdeutschen Monteuren falsch montiert wurden. Botschafter Mertens an AA, 30. April 1928. PA AA R 44081.
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Immerhin konnte im „Berliner Tageblatt“ vom 26. Februar 1926 von der „zielbewußten Aufbauarbeit“ der ‚deutschen Kolonie‘ in Kairo berichtet werden, eine mit rund 250 Mitgliedern zwar noch kleine, aber sehr rege Gemeinde.121 Besonders hervorgehoben wurden das Engagement und die Bedeutung von Ludwig Borchardt sowie Max Meyerhof, der sich neben seiner augenärztlichen Tätigkeit wissenschaftlicher Forschung widme, wobei er hauptsächlich die Privatbibliotheken reicher Grundbesitzer nutze und wertvolle Materialien fotografiere zwecks Zusammenstellung eines „corpus medicorum arabicorum“, der vom orientalischen Seminar der Universität Berlin herausgegeben werden solle. Den Genannten kam deshalb eine besondere Bedeutung zu, weil sie weit über die deutsche Gesellschaft Ägyptens hinaus bekannt und mit den ägyptischen Gegebenheiten seit Jahrzehnten vertraut waren. Zudem besaßen beide einen herausragenden wissenschaftlichen Ruf, was sie als Repräsentanten deutscher Kultur prädestinierte. Denn sowohl bei der deutschen Gesandtschaft als auch dem Auswärtigen Amtes galt es als zentrales Ziel, deutsche Kultur nach Ägypten zu transportieren, diese überhaupt bekannter zu machen.122 Für die Versorgung mit deutschsprachiger Literatur war gesorgt. Am 15. Januar 1926 eröffnete in Kairo die deutsche Buchhandlung N. Friedrich & Co. ein Ladengeschäft (Rue Maghraby 6), das sich auch bei Nicht-Deutschen großer Beliebtheit erfreute.123 Am besten verkauften sich Reiseführer wie der Baedeker und neuere Literatur. Ältere und philosophische Werke erwiesen sich als unverkäuflich. Zudem lagen zahlreiche deutsche Tageszeitungen und Zeitschriften vor.124 Besonders gefragt waren Kunstblätter, weshalb die Buchhandlung ein größeres Lager vom Verlag Seeman in Kairo anlegen wollte. Auch „Musikalien“ deutscher
121 Abendausgabe (Nr. 97). PA AA R 77735. An die Gesandtschaft in Kairo versetzt wurden im Februar 1926 der Amtsobergehilfe Hammes (Oslo), im Juli Konsulatssekretär Boll (Mährisch Ostrau) und Legationssekretär Schäfer-Rümelin (Paris), im August 1926 Gesandtschaftsrat Bruchhausen (Buenos Aires) und Gesandtschaftsrat Hans Pilger. Der Auslandsdeutsche 7/9 (1926), S. 227, 460, 528. 122 Dieser Zielsetzung folgte u. a. A. Hapkemeyer. 1926 gründete er in Kairo die Firma R. Buschmann&Co., die von dem deutsch-englischen Hermann Besser betrieben wurde. Deutsche Filme sollten an ägyptische Bildungseinrichtungen oder sonstige Interessierte verliehen werden. Gesandter Mertens empfahl dem AA eindringlich, das Unternehmen finanziell zu unterstützen, da die Filme langfristig die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Ägypten und Deutschland fördern würden. Kairo, 10. Juni 1926. PA AA R 77735. 123 Hans Pilger an AA, 24. September 1926. PA AA R 77736. 124 „Berliner Illustrierte“, „Die Woche“, „Leipziger Illustrierte“, „Velhagen und Klasings und Westermanns Monatshefte“, „Die Dame“, „Elegante Welt“, „Das Echo“, „Uhu“, „Scherl Magazin“, „Querschnitt“, „Die Koralle“, Kulturzeitschriften wie „Kunstwart“, „Kunst und Dekoration“, „Die blauen Bücher“ u. ä.
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Herkunft verkauften sich gut, obschon sie gegen den italienischen Verlag Ricordi zu kämpfen hatten und sich kaum Interessenten für deutsches Liedgut fanden, ausgenommen die deutschen Klassiker, die meist in französischer, englischer oder italienischer Übersetzung gesungen wurden. Gefragt waren die Ausgaben von Peters, Lietloff, Schott, Breitkopf und Haertel. Musikinstrumente verkauften in Kairo die Firmen J. Calderon (Rue Emad el Dine) und Jules Papaasian&Co (Rue Maghraby 7). Besonders gute Absatzmöglichkeiten zeichneten sich für deutsche Lehrmittel ab.125 Allenthalben wurde jedoch der zu hohe Preis für deutsche Bücher, besonders für deutsch-arabische Wörterbüchern beklagt und ebenso, dass nur an der Mädchenschule der Borromäerinnen Deutsch Hauptunterrichtssprache war. Immerhin wurden seit 1925 an zwei Regierungsschulen in Ägypten für ägyptische Schüler fakultativ Deutschkurse unter der Leitung des deutschen Studienassessors Volz angeboten; er erteilte zusätzlich privaten Deutschunterricht.126 Dieses Unterrichtsangebot war nicht ganz unproblematisch. Denn infolge des Krieges hatte sich der Kreis Deutschsprachiger erheblich reduziert und oftmals genügte der Gebrauch dieser Sprache, um „wegen des Verdachts der Sympathisierung mit den Mittelmächten ausgewiesen oder interniert zu werden“, wie Gesandter von Stohrer am 24. September 1926 dem Auswärtigen Amt gegenüber vermerkte.127 Zwar zählte die ‚deutsche Kolonie‘ in Ägypten im September 1926 wieder 400 bis 450 Personen, ein Umfang, der mit demjenigen der Vorkriegszeit jedoch noch längst nicht Schritt hielt. Folglich war auch das Interesse an deutschen Büchern, selbst wenn man die deutschsprachigen Ungarn, Tschechen, Italiener und Jugoslawen miteinbezog, nur mäßig. Als unbefriedigend empfand die Gesandtschaft 1926 den Anteil Deutscher am Kulturbetrieb Ägyptens, neidete vor allem Franzosen und Italienern ihre Vormachtstellung.128 Auch wenn dies eher unwesentlich schien, gehörte es doch in den Kontext des als zentrales Ziel der Deutschen formulierten, „die deutsche Sprache, deutsche Wissenschaft und deutsche Intelligenz in Egypten selbst zu
125 Der Buchhändler Friedrich hatte zusammen mit der Leipziger Firma Köhler&Volckmar eine Denkschrift erarbeitet, womit dem ägyptischen Unterrichtsministerium die Gründung eines Lehrmittelmuseums vorgeschlagen werden sollte. Die erforderlichen Einrichtungsgegenstände sollten zu besonders günstigen Konditionen geliefert werden. 126 Hans Pilger an AA, 24. September 1926. PA AA R 77736. 127 PA AA R 77736. 128 Für Winter 1927 waren Aufführungen des „Nibelungen Rings“ und der „Salomé“ (Strauß) vorgesehen. Stohrer beklagte (24. September 1926), dass der italienische Graf Visconti die Königliche Oper in Kairo für die gesamte Saison 1926/27 gepachtet hatte. Stohrer glaubte auf diesen Einfluss nehmen zu können, weil er ein Bewunderer deutscher Musik sei. PA AA R 77736.
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lehren und zu verbreiten“, einschließlich der Vorbereitung junger Ägypter auf ein Studium in Deutschland.129 Erwünscht war zudem, die Kenntnisse der ägyptischen Kaufleute in Buchführung, Bilanz „sowie in noch viel tagtäglicheren kaufmännischen Dingen“ zu fördern, weil diesbezüglich ein deutliches Manko bestehe.130 Zugunsten der Verbreitung deutscher Kultur erklärte von Stohrer 1926 Förderungsbedarf für: die Schule der Borromäerinnen, die Wiedereröffnung der deutschen Schulen in Kairo und Alexandria, „stärkere Heranziehung egyptischer Mediziner zu deutschen medizinischen Kursen, Erleichterung ihrer Reise nach Deutschland, Bäderpropaganda, Gewinnung von Prof. Littmann, Ermutigung deutscher medizinischer Autoritäten zu Vorträgen etc. in Egypten, desgleichen anderer deutscher Gelehrter, Unterstützung Prof. Berggrün, Werbung egyptischer Studierender für deutsche Hochschulen“. Bei der Auswahl von Vortragenden müssten die höchsten Maßstäbe angelegt werden, denn sie fungierten als „Träger deutscher Kultur im Orient“, wozu vor allem auch das Konservatorium Berggrün zu rechnen sei.131 Auch im darauffolgenden Jahr (1927) vermochten Deutsche in Ägypten sich noch längst nicht so zu positionieren wie sie es anstrebten und für angemessen hielten. Vor allem im medizinischen und krankenpflegerischen Bereich bestanden erhebliche Defizite, wohingegen die Franzosen auch in diesem Bereich dominierten. Die Chancen standen jedoch nicht schlecht, dass die Deutschen aufholten. Denn als Präsident der Société Royale des Médecins d’Egypte fungierte der „kluge und fortschrittliche“ Staatssekretär der Hygiene, Shahine Pasha,132 als Präsident der Société des Médecins d’Egypte der deutschfreundliche und in Deutschland sich fortbildende Arzt Aly Bey Ibrahim Assiuti,133 die beide die Interessen der Deutschen unterstützten.134 Ansonsten widmeten sich auch die Borromäerinnen der Krankenpflege, unterstützt von dem deutschen Arzt Michelberger. Die Schwestern arbeiteten im Hospital des griechischen Arztes Papayoannou, einem Nachbarn des Ehepaars Borchardt und Freund Meyerhofs.135 Die Kaiserswerther 129 Bericht Stohrer an AA, 24. September 1926. PA AA R 77736. 130 Bericht Stohrer an AA, 24. September 1926. PA AA R 77736. 131 Bericht Stohrer an AA, 24. September 1926. PA AA R 77736. Vgl. Auch Bericht v. Stohrer an AA, 23. Juni 1926. PA AA 77663. 132 Hassan Shaheen (geb. in Kairo) war Fellow der Royal Society of Medicine (London), Mitglied der British Medical Association, Professor für Medizin an der Universität Kairo, hatte teilweise in London studiert. 1939 wohnhaft in Kairo-Maadi. Le Mondain Egytien, 1939, S. 342. 133 Er war noch 1939 Präsident der Association Médicale d‘Egypte, zudem Vize-Direktor der Universität, Dekan der medizinischen Fakultät und Leiter des Kasr-el-Aini Krankenhauses in Kairo. Wohnhaft war er in Garden City. Le Mondain Egyptien, 1939, S. 103. 134 Bericht Stohrer an AA, 28. Mai 1927. PA AA R 77736. 135 Th. Papayoannou, gebürtiger Grieche, Direktor und leitender Chirurg des Krankenhauses Papayoannou in Giza. Le Mondain Egyptien, 1939, S. 305.
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Schwestern versahen ihren Pflegedienst in dem früheren deutschen Victoria Hospital in Kairo, das sich eines glänzenden Rufs erfreute und die Anstellung des deutschen Arztes Luchs plante. Rote Kreuz Schwestern gab es zwei, wovon eine bei einem Arzt in einer Privatklinik in Tanta arbeitete. Bei der Gesandtschaft hatte kurz zuvor Frau Schultz-Tornow, eine Oberin vom Roten Kreuz, vorgesprochen und die Errichtung einer deutschen Krankenschwesternschule, die nach „deutschen Grundsätzen“ geleitet werden sollte, angeregt, weshalb mit dem ägyptischen Staatssekretär der Hygiene verhandelt werden sollte.136 An der Universität unterrichtete nur ein deutscher Wissenschaftler, der Zoologe Jollos, als Sprachlehrer darüber hinaus Studienassessor Volz. Man hoffte, in Bälde Enno Littmann zur Annahme eines Rufs an die Universität veranlassen zu können. Denn „er dürfte bei seiner außergewöhnlichen Sprachkenntnis und Kenntnis der Mentalität der Egypter am besten berufen sein, auch über den Rahmen seiner Lehrfächer hinaus für deutsche Wissenschaft und deutsche wissenschaftliche Methoden zu wirken und für weitere deutsche Gelehrte den Boden vorzubereiten“.137 Für die Förderung deutscher Musik und die „Vorführung sonstiger deutscher künstlerischer Leistungen“ war seit 1926 der Direktor des Kairener Konservatoriums, M. Joseph Berggrün,138 zuständig. Parallel dazu erwog die Gesandtschaft, deutsche Theater und Orchester zu Tourneen nach Ägypten einzuladen, sorgte sich aber angesichts des Kostenaufwands und der vermutlich zu geringen Resonanz in Ägypten um die Finanzierbarkeit dieses Vorhabens.139 Herausragende und zentrale Bedeutung besaß laut von Stohrer die deutsche Ägyptologie, die er als „wichtiges Bindeglied zwischen der alten deutschen und der aufkeimenden egyptischen Wissenschaft“ verstand, obschon aus seiner Sicht zu diesem Zeitpunkt die Beziehungen zwischen dem Deutschen Institut für ägyptische Altertumskunde und den ägyptischen „Stellen“ „keine allzu erfreulichen“ waren. Umso mehr bemühte er sich, „die übrigen während des Winters hier sich aufhaltenden Egyptologen und ihre Eindrücke über ihre wissenschaftlichen Beziehungen kennen zu lernen“, in der Hoffnung, „dass die Herren bei ihrer Rückkehr im nächsten Winter noch enger mit der Gesandtschaft zusammenarbeiten“ würden, „um auf diese Weise ebenfalls für das Studium junger Egypter in Deutschland und eine wohlwollende Unterstützung unserer hiesigen egyptologischen Bestrebungen nutzbringend zu wirken“.140 136 Bericht Stohrer an AA, 28. Mai 1927. PA AA R 77736. 137 Bericht Stohrer an AA, 28. Mai 1927. PA AA R 77736. 138 War seit 1921/22 in Kairo. Bei ihm war der Pole Joseph Szule angestellt. 1934 übernahm Ignaze Tiegermann (geb. 1893, ab 1931 in Kairo) das Konservatorium, wegen seiner jüdischen Herkunft konnte er nicht nach Europa zurückkehren. 139 Bericht Stohrer an AA, 28. Mai 1927. PA AA R 77736. 140 Bericht Stohrer an AA, 28. Mai 1927. PA AA R 77736.
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Abb. 12: Deutsches Haus in Theben, 1927
An Ludwig Borchardts eminent wichtigem Tun und an seiner Position hegte von Stohrer keinerlei Zweifel. Auch seinem möglichen Nachfolger Hermann Junker attestierte er einen hervorragenden Ruf. Kaum verwunderlich ist, dass auch von Stohrer wiederum Max Meyerhof, dessen Bedeutung gewiss mit jener Borchardts gleichzusetzen und der „einer der größten Kenner arabischer Wissenschaft und Kunst“ sei, besonders hervorhob. Bedauerlich sei, dass er infolge des Krieges erhebliche Vermögensverluste habe hinnehmen müssen, so dass er gezwungen sei, fast seine gesamte Energie auf seine „umfangreiche Praxis“ zu verwenden und nur wenig Zeit für seine wissenschaftlichen Forschungen habe.141 Dennoch wollte von Stohrer versuchen, Meyerhof eine Lehrtätigkeit auf dem Gebiet der Arabistik zu verschaffen, was realisierbar schien, denn Meyerhof erfreute sich in Ägypten „hoher Wertschätzung“, war seitens der ägyptischen Regierung sogar zum ägyptischen Vertreter beim internationalen Ophtalmologenkongress in Den Haag bestimmt worden. Ähnlich wie seine Vorgänger hob auch von Stohrer Borchardt und Meyerhof als die wichtigsten Repräsentanten Deutschlands in Ägypten heraus. Sie seien nicht nur unverzichtbar für den Aufbau und die Gestaltung der ‚deutschen Kolonie‘, sondern ebenso deren wichtigste Kulturträger. Bedeutend waren die 141 Bericht Stohrer an AA, 28. Mai 1927. PA AA R 77736.
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beiden auch und gerade deshalb, weil Deutschland sich als ernstzunehmende Konkurrenz der die ägyptische Kultur bestimmenden Mächte Frankreich und England präsentieren wollte, weshalb dem Import deutscher Kulturgüter wie Literatur und Musik besondere Bedeutung beigemessen wurde. Anders als bei Frankreich, England und auch Italien sei der Import deutscher Kultur nicht mit dem „Makel“ des Selbstzwecks behaftet, so von Stohrer im Mai 1927, weshalb sich die Deutschen vor allem in den „gebildeten Kreisen des Islams“ hoher Anerkennung erfreuten, man der deutschen Wissenschaft und Kultur, Deutschland überhaupt eine „zivilisatorische Aufgabe“ zuerkenne.142 Gerade deshalb maß die Gesandtschaft der Verbreitung der deutschen Sprache größte Bedeutung bei – gedacht war beispielsweise auch an Deutschunterricht an der Khediven Schule. Dennoch konnte die sich zunehmend etablierende ‚deutsche Kolonie‘ nur mit Mühe an ihre Vorgängerin der Vorkriegszeit anknüpfen. 1929 lebten etwa 450 Deutsche in Kairo, vor 1914 waren es etwa 1000 gewesen. Die Handelsbeziehungen zwischen Deutschland und Ägypten erholten sich nach einem Tiefstand 1921 kontinuierlich. Bei der Einfuhr nach Ägypten rangierte Deutschland 1929 an vierter Stelle, bei der Ausfuhr nach Deutschland an fünfter.143 Vorteile versprach man sich von der Ende 1928 gegründeten Deutsch-Österreichischen Handelskammer, die unter dem Vorsitz des Siemensvertreters Wilhelm van Meeterens stand.144 Sie sollte „an den bevorstehenden Arbeiten anlässlich des neuen egyptischen Zolltarifs, der am 17. Februar 1930 in Kraft treten soll, aktiven Anteil nehmen“.145 Mehrere deutsche Ärzte hatten ihre Tätigkeit in Kairo aufgenommen, darunter ein Chirurg am Diakonissenhospital „Victoria“ und der Augenarzt Meyerhof, „der bereits lange vor dem Kriege in Kairo ansässig war“ und „in Gelehrtenkreisen einen hervorragenden Ruf als Arabist und Orientalist“ hatte. An der ägyptischen Universität hatte ein Deutscher den Lehrstuhl für Botanik inne, zwei deutsche Philologen waren als Lektoren für deutsche Sprache tätig. Zunehmend gefragt waren außer Ingenieuren, Monteuren, Ärzten und Kaufleuten auch deutsche Angestellte, wie sich etwa an einer Anfrage des Leiters der „Bank Misr“ von 1929 spiegelte – gesucht waren 15 Bankangestellte.146 Deutsche Konsulate bestanden in Alexandria, Kairo, Port Said und Suez, wobei das Kairener mit der Gesandtschaft zusammengelegt war. Die Konsuln von Alexandria und Kairo fungierten gleichzeitig als Konsularrichter, „da Deutschland durch das am 16. Juni 1925 mit Egypten abgeschlossene Abkommen praktisch 142 28. Mai 1927. PA AA R 77736. 143 Bericht Stohrer an AA, 3. Mai 1929. PA AA R 77735. 144 Gegründet wurde die Handelskammer auf Anregung des „Präsidialmitglieds des Reichsverbandes der Deutschen Industrie, Geheimrat Philipp Rosenthal“. Zum Vorstand gehörten zudem J. Prayer (Schriftführer), Max Rothschild (Schatzmeister, Chef der Firma Rothschild&Co.), Ludwig Lion (Beisitzer) und Rudolf Schirmer (2. Beisitzer). Wolfgang Schwanitz: Deutsche, 1994, S. 77. 145 Bericht Stohrer an AA, 3. Mai 1929. PA AA R 77735. 146 Anfrage beim AA, ob 15 Angestellte für die Bank vermitteln werden könnten. PA AA R 67075.
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mit geringen Ausnahmen in dieselben Rechte wieder eingesetzt worden ist, die es vor dem Kriege als Kapitulationsmacht genossen hatte“.147 Nachteilig wirkte sich die im Februar 1930 eingeführte Zollreform aus, die zu einer deutlichen Preiserhöhung führte, und vor allem das Verbot der ägyptischen Regierung von 1932, das wegen der herrschenden Arbeitslosigkeit „jeglichen Stellenantritt für ausländische Angestellte“ untersagte.148 Einreisegenehmigungen wurden nur noch in sehr seltenen Fällen und nach eingehender Prüfung der Vermögensverhältnisse des Antragstellers erteilt. Als Repräsentanten Deutschlands und dessen Kultur galten in besonderem Maße Ludwig Borchardt und Max Meyerhof, wie die jeweiligen Gesandten mehrfach gegenüber dem Auswärtigen Amt unterstrichen.
Abb. 13: Max Meyerhof (2.v. r.) mit Familie Uppenkamp in Kairo-Maadi, 1920er Jahre 147 Bericht Stohrer an AA, 3. Mai 1929. PA AA R 77735. 148 Stohrer an AA, 1. August 1930; Pilger (Gesandtschaft) an Reichsstelle für das Auswanderungswesen, 24. August 1932. PA AA 67075.
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Wichtig waren sie auch und gerade deshalb, weil sie durchaus mit der von Frankreich und England importierten Kultur konkurrieren konnten.149 Als Organisatoren und überaus aktive, leitende Mitglieder der ‚deutschen Kolonie‘ machten sich die beiden ebenso unverzichtbar wie Mimi Borchardt mit ihrem Engagement für Frauen und die deutsche Schule, ihren dem sozialen Zusammenhalt der Deutschsprachigen dienenden regelmäßigen Zusammenkünften in ihrem Garten.150 Das ‚Kolonieleben‘ schien ohne sie unvorstellbar. Zumal für Ludwig Borchardt bedeutete das Engagement für die Ägyptendeutschen jedoch noch weit mehr. In diesem Zusammenhang eroberte er sich eine Position, die er innerhalb der Ägyptologie nicht mehr zu erreichen vermochte. Denn Grabungskonzessionen von Rang konnte Deutschland entgegen der anfänglich positiven Einschätzung Borchardts nicht mehr erobern, was zwar wesentlich auf die ablehnende Haltung Lacaus, des französischen Leiters des ägyptischen Antikendienstes, zurückging, aber von ägyptischer Seite in ihrem Sinne funktionalisiert wurde.151 Denn die von Lacau an die Presse lancierten Berichte über die angeblich zweifelhaften Umstände bei der Fundteilung des Jahres 1913 ließen Ägypten die Rückgabe des „Kopfes der Königin“ fordern, andernfalls werde es keine weiteren deutschen Richter bei den Gemischten Gerichten zulassen und keinerlei Grabungskonzessionen an Deutschland vergeben.152 So dienten Borchardt die Aktivitäten im Kontext der ‚deutschen Kolonie‘ auch als Kompensation für den dauerhaften wissenschaftlichen Bedeutungsverlust bzw. die damit einhergehenden Zurückweisungen und Kränkungen. 3.1.1 Vereins- und Gemeinschaftsleben Wie schon im Vorfeld der Rückkehr und an den ersten Aktivitäten Meyerhofs erkennbar, war den Deutschen verstärkt daran gelegen, in Ägypten eine erkennbare, sich von der englischen oder französischen abgrenzende deutsche Identität herauszubilden. Dazu bedurfte es der Schaffung eigener Infrastrukturen in Form von Vereinen und Interessensverbänden, die zudem dazu gedacht waren, Zusammengehörigkeitsgefühl zu entwickeln bzw. zu festigen. Ägypten war für viele zwar eine vertraute Welt, blieb aber dennoch auch fremd und undurchschaubar. Dazu trugen nicht zuletzt die nach der formalen Unabhängigkeit verstärkt 149 Am 28. Mai 1927 beklagte v.Stohrer gegenüber dem AA, dass vor allem Frankreich in Ägypten nach wie vor die kulturelle Vormachtstellung innehabe. PA AA R 77736. 150 Davon wurde auch in der Presse in Deutschland berichtet. Wolfgang Schwanitz: Deutsche, 1994, S. 75. 151 Susanne Voss: Geschichte, 2013, S. 228 f. 152 Bericht Pilger (deutsche Gesandtschaft) an AA, (Kairo) 13. u. 26. Januar 1927. PA AA R 77663.
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uftauchenden sozialen Unruhen sowie der Ruf vieler Ägypter nach tatsächlicher a Unabhängigkeit bei. Das vor 1914 vertraute Ägypten existierte nicht mehr. Die ägyptische Welt mit ihrer sich emanzipierenden Bevölkerung wirkte beängstigend und nicht mehr berechenbar. Der Rückzug auf die geschaffenen deutschen Strukturen153 bot Sicherheit und Geborgenheit. Parallel zur ägyptisch-arabischen Welt entstand ein exterritoriales Deutschland, ausgestattet mit aus Deutschland Vertrautem und Bekanntem. Das bedeutete auch, dass Deutsche nicht unbedingt gezwungen waren, sich sozial auf ihre ägyptische Umgebung einzulassen, sondern im Kokon der ‚deutschen Kolonie‘ ein anregungsreiches Leben führen konnten. Gleichzeitig implizierte dies, dass etliche Deutsche sich bewusst von dem Anderen, als welche sie den Orient verstanden, abgrenzen wollten, was andererseits umsomehr zur kollektiven Identitätsbildung beitrug. Wie stark dieses Bedürfnis war, beweist die Intensität, mit der bereits die ersten Migranten am Aufbau entsprechender Strukturen arbeiteten, die sich im Februar 1926 bereits so weit etabliert hatten, dass von einem in Kairo bestehenden „Deutschen Verein“, einem diesem angeschlossenen „Deutschen Frauenverein“, einem „Club Hansa“ und dem „Liederkranz“ berichtet werden konnte.154 Mangels eigener Räumlichkeiten155 trafen sich der „Deutsche Verein“ und der „Deutsche Frauenverein“156 zunächst im „Club Hansa“, später in den Räumen der deutsch-evangelischen Gemeinde in Kairo-Boulac. Regelmäßige Treffen und Festveranstaltungen, etwa zu Weihnachten oder Karneval,157 förderten den Zusammenhalt,158 so dass die Vereine zu unverzichtbaren Sammelpunkten wurden. Unabdingbar waren Einsatz, Initiative und Idealismus engagierter Gemeindemitglieder, zu denen der aus Süddeutschland stammende und schon lange vor dem Ersten Weltkrieg in Ägypten ansässig gewesene Kaufmann Gustav Mez zählte. 153 Die ‚deutsche Kolonie‘ verfügte auch über eine eigene Begräbnisstätte. König Fouad I. überließ am 1. Januar 1932 per Dekret der Gemeinde ein Grundstück in Alt-Kairo, das dem besagten Zweck dienen sollte. Am 27. April 1937 wurde die deutsche Gesandtschaft als Besitzerin des Grundstücks registriert. Bis 1939 war der „Deutsche Verein“ mit der Verwaltung des Grundstücks beauftragt. Danach übernahm die Leiterin des „Deutschen Heims“ in Faggala (Hannah Freitag) diese Aufgabe. Jutta Zeppelzauer: Friedhof, 2002. 154 Der Auslandsdeutsche 4/9 (Februar 1926), S. 129. 155 Martha Wiesendanger an MB, (Donaueschingen) 30. Oktober 1927. SIK MB 82/2. 156 Der Frauenverein sollte den deutschen Frauen das Anknüpfen und die Pflege sozialer Beziehungen ermöglichen, meist in Kombination mit Wohltätigkeitsaktionen. E. Walther an MB, 9. Januar 1931. SIK MB 82/3. 157 Als „außerordentlich gelungen“ wurde die Weihnachtsfeier vom 26. Januar 1926 oder der Faschingsabend des Frauenvereins vom 13. Februar 1926 empfunden. Der Auslandsdeutsche 4/9 (Februar 1926), S. 129. 158 Ende 1929 veranstalteten LB und MB im Hotel National ein „schönes und erfolgreiches Wohltätigkeitsfest“. E. Walther an MB, 29. Dezember 1929. SIK MB 82/3.
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Seine Rührigkeit im „Deutschen Verein“ sowie im Kirchen- und Schulvorstand war enorm, allerdings auch sein Dominanzanspruch.159 So konfliktfrei wie erhofft gestalteten sich Vereins- und soziales Leben innerhalb der ‚deutschen Kolonie‘ nicht, denn ihre soziale Zusammensetzung war eine erkennbar heterogenere als vor dem Krieg. Längst nicht alle ehemaligen Ägyptendeutschen waren 1923 zurückgekehrt, weil sie sich andere Existenzen aufgebaut hatten oder aber infolge der Liquidierungen dazu nicht mehr in der Lage waren. Nach 1923 bestand der Großteil der ‚deutschen Kolonie‘ aus Kaufleuten, die hauptsächlich als Handelsvertreter und Kommissionäre arbeiteten; nicht wenige waren Angestellte deutscher und nichtdeutscher Firmen.160 Die Konflikte brodelten eine Zeitlang, kochten 1927 schließlich so weit hoch, dass Botschafter von Stohrer beim Auswärtigen Amt über „Schwierigkeiten im Vereinsleben“ berichtete.161 Auslöser war, dass neben dem Anfang 1925 gegründeten „Verein der Deutschen“ der „Club Hansa“, der auch Angehörigen anderer Nationalitäten offenstand, gegründet worden war. Da der Klub aufgrund seiner zahlungskräftigeren Mitglieder finanziell besser gestellt war, konnte er Räumlichkeiten anmieten und möblieren, was dem „Verein der Deutschen“ unmöglich und ein Ärgernis war. Die „Mißhelligkeiten“ führten dazu, „dass die jüngeren Elemente des ‚Vereins der Deutschen‘ sich von dem Vereinsleben absonderten und durch Gründung eines ‚Deutschen Gesangsvereins‘ versuchten, sich auf eigene Füße zu stellen“. Außer diesen drei Vereinen bestanden noch die „‚sogenannte Frauengruppe‘ des Vereins der Deutschen“ und der 1926 wieder ins Leben gerufene „Deutsche Unterstützungsverein“. Zusammen mit der deutsch-evangelischen Kirchengemeinde verfügte die ‚deutsche Kolonie‘ über immerhin sechs selbstständige Vereine. Gesandtschaftsrat Pilger bemühte sich um Konfliktbeseitigung, was zugunsten der Außendarstellung geboten schien. Auf seinen Vorschlag hin fungierte nur noch eine Person als Vorsitzender sowohl des Klubs als auch des Deutschen Vereins, eine Position, die zunächst der aus Frankfurt/Main stammende Rechtsanwalt Fritz Dahm,162 dann der Siemensvertreter Wilhelm van Meeteren bekleidete. Das Modell erwies sich als einigermaßen tragfähig, so dass im Winter 1926 ein gemeinsames Fest in Form einer Kirmes ausgerichtet werden konnte, dessen Erlös von LE 90,- dem Deutschen Unterstützungsverein
159 Etlichen Deutschen war Mez‘ Engagement recht, als Kenner Ägyptens wusste er bürokratische Hürden zu nehmen. Nach seinem Tod Mitte der 1930er Jahre ging seine Witwe in die Schweiz, Sohn Theo war bereits in den diplomatischen Dienst eingetreten, entwickelte sich zunehmend bezüglich der Unterstützung deutscher Interessen in Ägypten zur Kopie seines Vaters. 160 Bericht Stohrer an AA, 3. Mai 1929. PA AA 77735. 161 PA AA R 77735. 162 Gestorben 1934 in Kairo.
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zur Verfügung gestellt wurde. Daneben beteiligte sich die gesamte ‚Kolonie‘ im Dezember 1926 an einer Festveranstaltung zu Ehren von Offizieren und Kadetten des Schulschiffs „Hamburg“. Im März 1927 wurde im „Casino Ghesireh“ ein ähnliches Fest gefeiert, vor allem um „der Kolonie auch in gesellschaftlicher Beziehung den Platz zurückzuerobern, den sie vor dem Krieg gehabt hat“. Auch diese Veranstaltung hatte den Charakter einer Kirmes und eines „hier landesüblichen“ Kostümballs. Der Erlös sollte dem Fonds zum Erwerb oder zur Anmietung eines „Deutschen Hauses“ und dem Deutschen Unterstützungsverein zugutekommen.163 Jedenfalls war dies das erste Mal nach dem Krieg, so von Stohrer, dass „die Deutsche Kolonie in größerem Umfange mit Ausländern zusammengebracht“ werden konnte. Das Fest galt als der Durchbruch zur vollen gesellschaftlichen Anerkennung. Mit der Schaffung eines „Deutschen Hauses“ als Treff- und Versammlungspunkt aller deutschen Vereine wollten sich die Deutschen nach außen als geschlossene Einheit darstellen. Im Frühjahr 1929 war das Vorhaben noch nicht realisiert, lediglich ein einigermaßen großes, etwa hundert Personen Platz bietendes Vereinslokal vorhanden. Mitglieder der ‚Kolonie‘ oder durchreisende „Gelehrte“ hielten dort stets auf reges Interesse stoßende Vorträge.164 Unter dem langjährigen Vereinsvorsitz von Wilhelm van Meeteren vereinigten sich die verschiedenen deutschen Vereine mehr und mehr unter einem Dach. Ebenso wie der Deutsche Frauenverein schloss sich um 1929 auch der „Club Hansa“ dem Deutschen Verein an. Selbstständig blieben nur der Gesangsverein „Liederkranz“ und der „Deutsche Unterstützungsverein“.165 Um die Interessen und die Gemeinsamkeit noch mehr zu bündeln, richtete die ‚Kolonie‘ mit finanzieller Unterstützung der Gesandtschaft eine eigene Bücherei ein, „die alle Gebiete des deutschen Schrifttums umfasst“.166 Mit dieser organisatorischen Zusammenführung und auch den Aktivitäten der einzelnen Vereine war das Interesse an einer homogenen und positiven Außendarstellung, d. h. die indirekte Verbreitung ‚deutscher Kulturwerte‘ eng verbunden bzw. intendiert.
163 Eingeladen wurden neben dem diplomatischen Corps „offizielle egyptische Stellen“, insgesamt rund 700 Personen. Eingenommen wurden 400,- LE, wovon 300,- LE dem Hausbau-Fonds und 100,- LE dem Unterstützungsverein zugeführt wurden. 164 Bericht Stohrer an AA. PA AA R 77735. 165 Bericht Stohrer an AA, 3. Mai 1929. PA AA R 77735. 166 Bericht Stohrer an AA, 3. Mai 1929. PA AA R 77735.
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Getragen wurden Vereinswesen und -aktivitäten ganz wesentlich von Deutschen und Österreichern jüdischer Herkunft, wie etwa die Mitgliedslisten von 1931/32 zeigen.167 Ähnliches zeigte sich beim Vorsitz des Schulvereins.168 Ebenso wie der „Deutsche Verein“ war der „Deutsche Frauenverein“ eine Vorkriegsgründung (1911). Der Nachkriegs-Frauenverein, der formal eine Erweiterung des männlich dominierten „Deutschen Vereins“ darstellte, wurde 1927 gegründet. Ehrenvorsitzende war statutengemäß die Ehefrau des deutschen Gesandten, von 1927 bis 1936 also Marie-Ursel von Stohrer, Ehefrau Eberhard von Stohrers. Der Vorstand bestand aus neun Mitgliedern (Vorsitzende, stellvertretende Vorsitzende, Schriftführerin, Schatzmeisterin und fünf Beisitzerinnen).169 Vorstandssitzungen fanden jährlich statt. Mitglied der Frauengruppe konnte jede deutsche Frau werden, auch wenn sie mit einem „Ausländer“ verheiratet war. Der Frauenverein wollte „Sammelpunkt aller deutschen Frauen“ sein, die „gesellig einander näher“ gebracht werden sollten. Zentral war auch, „die Fühlung mit Deutschland und seinen kulturellen Bestrebungen (zu) erhalten und (zu) vertiefen und (…) Verständnis für Egypten und seine Bevölkerung (zu) eröffnen“. Frauen sollte bei ihrem „wirtschaftlichen Fortkommen in Egypten mit Rat und Tat“ zur Seite gestanden, „Bedürftige“ sollten unterstützt werden.170 Im Wesentlichen unternahm der Frauenverein den Zusammenhalt innerhalb der Kolonie fördernde Aktivitäten, etwa Besichtigungsfahrten bzw. -gänge durch Stadt und Umgebung, Veranstaltung von Familien-, Garten-, Weihnachts-, Neujahrsfesten, auch von Vorträgen. Eingebunden wurden die Kinder und Jugendlichen, indem sie beispielsweise Theaterstücke zur Aufführung bringen konnten.
167 Darunter LB, Ludwig Lion, M. Meyerhof, Edgar Morgenstern, Fritz Rosenauer, Martin Samter, Erwin Schlesinger, Hermann Wolff. DEG Kairo, Jahresbericht des Deutschen Vereins, 1931/32. 168 Die Schule wurde 1932/33 von 41 Kindern, davon sechs jüdisch, besucht. Vorsitzender des Schulvereins: Wilhelm van Meeteren, Stellvertreter: Walther Uppenkamp, Beirat: Ludwig Franck, Schriftführer: A. Blind, Kassenwart: Ritterhaus, Beisitzerinnen: MB (ab Mai 1933 Frau Boll) und (Johanna) Gertrud Ziegler (geb. Fritzel, geb. 1903 Mannheim, 1927 Heirat Karl Ziegler, seit 1927 in Kairo, wohnhaft in Sh. Ismail Pasha Mohammed auf Zamalek, in der Nachbarschaft von Borchardts. 1938 Mitglied der NS-Frauenschaft, der Schulgruppe des Deutschen Vereins Kairo und der deutsch-evangelischen Kirchengemeinde). Karl Ziegler (geb. 1898 Mannheim), Angestellter der Firma A. Blind in Kairo, seit 1924 in Kairo, gehörte keiner NS-Organisation an, nur den Kairener deutschen Vereinen. Söhne Karl Albert, Wolfgang Georg und Hermann Richard wurden zwischen 1928 und 1937 in Kairo geboren. PA AA Kairo-Gesandtschaft 2a, 2b. Pastor W. Karig war ebenfalls Beisitzer. DEG Kairo, Schulbericht 1932/33. 169 Schon vor 1933 gehörte dazu u. a. Frau Schöck, deren Ehemann als Ingenieur für die Förderung der ägyptischen Landwirtschaft arbeitete. Tochter Marianne Sikura-Schoeck lebt in Biberach an der Riss. 170 DEG Kairo B 27.
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Abb. 14: Mimi Borchardt, Gartenfest in ihrer Villa (Kairo), 1920er Jahre
Um nicht in Oberflächlichkeit oder sinnleeren Aktionismus zu verfallen, brachte der Frauenverein deutsche Zeitschriften in Umlauf und informierte die Frauen über in Ägypten herrschende wirtschaftliche, mitunter auch politische Verhältnisse. Als Angliederung oder Nachwuchsorganisation des Frauenvereins galt der „Jungmädchenverein“, dessen Inhalte sich zwar nicht exakt erschließen lassen, aber sicherlich der Tatsache, dass zunehmend ledige junge Frauen in Kairo tätig waren, Rechnung trug. ‚Seele‘ und wichtigster Motor des Frauenvereins war zweifellos Mimi Borchardt. Auf ihre Initiative ging nicht nur die Vereinsneugründung, sondern gingen auch dessen Aktivitäten zurück; von 1927 bis 1933 fungierte sie als Vereinsvorsitzende. Handlungsleitend war für sie das von ihrer Familie geweckte und geförderte Bestreben nach wohltätigem und sozialem Handeln sowie vor allem nach Förderung, Erhalt und Verbreitung ‚deutscher Kultur‘, um deren
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Fortbestand sie spätestens seit dem Krieg fürchtete. Aufgrund ihrer groß- und bildungsbürgerlichen Sozialisation einschließlich der Kenntnis mehrerer Fremdsprachen war Mimi Borchardt prädestiniert, die tragende Säule des Frauenvereins zu bilden. Welche Bedeutung ihr beigemessen wurde, belegen die zahlreichen an sie gerichteten Briefe, in denen sie auch während ihrer Europaaufenthalte auf dem Laufenden gehalten und um Rat gefragt wurde. Dass sie sich mit demselben Engagement auch dem Wiederaufbau der deutschen Schule in Boulac widmete, gehört in den Kontext ihres deutschnational ausgerichteten politischen Selbstverständnisses. Für Mimi Borchardt war Ägypten zweite Heimat, eine Umgebung, die sie kannte und in der man sie kannte. Während ihrer zahlreichen Ägypten-Jahre entwickelte sie sich zur kundigen Fremdenführerin, gewann durch den Kontakt mit Ägyptologen auch ägyptologische Kenntnisse. Gemeinsam mit ihrem Ehemann prägte sie die deutsche Vereinslandschaft in Ägypten maßgeblich, bildete ebenso wie ihr Ehemann eine wesentliche Stütze für die Ägyptendeutschen. Obschon Borchardt keine unumstrittene Persönlichkeit war, genoss er doch hohe Anerkennung; zudem verfügte er über detaillierte Lokalkenntnisse und Einfluss innerhalb Ägyptens. Mimi Borchardt war als typische Repräsentantin des deutsch-jüdischen Bürgertums, das „Bildung“ und „Erkenntnisstreben“ zu zentralen Werten erhob, eine ideale Besetzung als Vorsteherin des Frauenvereins. Bildung hatte die Aufgabe, „nationale, religiöse und wirtschaftliche Schranken zu transzendieren, und bot den Angehörigen einer Minderheit individuelle Aufstiegschancen“, wobei das Wertgefüge der christlichen Mehrheitskultur dennoch normativen Charakter behielt.171 Allerdings versuchte das gebildete deutsche Judentum auszublenden, „dass der hohe Akkulturationsgrad keineswegs die Akzeptanz der Bevölkerungsmehrheit“ erbrachte, weshalb eine besonders von Hermann Cohen verbreitete Weltsicht bevorzugt wurde, die Deutschtum und Judentum miteinander verband.172 Wie scheinbar diese Harmonie war, erfuhr auch Mimi Borchardt nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten. Mit ihrem Ausscheiden aus dem Frauenverein, 1933, verlor dieser seinen ursprünglichen Charakter und auch an Bedeutung. Zu den ältesten sozialen Einrichtungen der deutschen Kolonie gehörte der erwähnte, im März 1880 gegründete „Deutsche Unterstützungsverein“, der unter dem Leitspruch „Gedenket den Armen“ stand. Hilfsbedürftige Deutsche, die zufällig in Ägypten gestrandet oder irgendwann in Not geraten waren, wurden mit Geld, Lebensmitteln und sonstigen Hilfeleistungen unterstützt. Der Verein finanzierte sich nur zum geringeren Teil von Mitgliedsbeiträgen, in der H auptsache 171 Ulrich Sieg: Jüdische Intellektuelle, 2008, S. 33. 172 Ulrich Sieg: Jüdische Intellektuelle, 2008, S. 36.
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„von freiwilligen Stiftungen aus den Kreisen der im Winter in Egypten sich aufhaltenden deutschen Touristen und vornehmlich aus dem Ertrag eines seit drei Jahren alljährlich von der Deutschen Kolonie veranstalteten internationalen Fest“, das 1929 immerhin 600 LE eingebrachte.173 Ehrenvorsitzender des Vereins war 1931 und 1932 der Architekt J. Rennebaum, der sich schon vor 1914 um die ‚deutsche Kolonie‘ verdient gemacht hatte. Als Erster Vorsitzender fungierte L. Lion, als sein Stellvertreter Pfarrer Werner Karig, als Schriftführer F. Waldmann, als Kassenwart Hans Schroeder; Beisitzer waren E. Mendorf, Dr. Luchs und G. Schoeck.174 1932 zählte der Verein 112 Mitglieder, darunter auch der NSDAP Orts-, später Landesgruppenleiter Alfred Hess, ein Bruder von Rudolf Hess. Etliche Vereinsmitglieder waren jüdischer Herkunft, etwa Ludwig Borchardt, Jacques Calderon, Hector Liebhaber, Ludwig Lion, Max Meyerhof, Ernst Morawetz, Isaac Rofé, M. Rothschild, Martin Samter, Erwin F. Schlesinger, Hermann Wolff. Wesentliches Zentrum der ‚deutschen Kolonie‘ war die seit 1869 (mit Unterbrechungen) bestehende deutsch-evangelische Kirchengemeinde in Kairo-Boulac, die nicht zuletzt wegen der ihr angeschlossenen Schule und Gemeindegebäude, die Raum für Vereins- und sonstige Treffen boten, eine zentrale Rolle spielte. Im Jahre 1926 nahm Werner Karig in Kairo seine Tätigkeit als Pfarrer der deutsch-evangelischen Gemeinde auf. Für „deutsche Augen“ war es eine Freude, „wieder deutsche Schulwagen fahren zu sehen“ und dass zudem an ägyptischen „Regierungsschulen“ die deutsche Sprache unterrichtet wurde.175 Die erneute Etablierung von Kirchengemeinde und Schule waren nicht unproblematisch, obschon die Zeitschrift „Der Auslandsdeutsche“ – Publikationsorgan des „Vereins für das Deutschtum im Ausland“,176 für den Ludwig Borchardt seit 1914 aktiv war – im Februar 1926 die Neukonstituierung der evangelischen Gemeinde unter dem Vorsitz von Rechtsanwalt A. Eschenbach vermeldete.177 Zu diesem Zeitpunkt konnten die Deutschen noch nicht einmal über das 1912 eingeweihte Kirchengebäude selbst verfügen, sondern dieses nur in Absprache mit der britischen „Church Missionary Society“ nutzen; die angeschlossenen Wohnhäuser waren von amerikanischen Missionaren bewohnt.178 Eine Zeitlang schien es, als ob die Deutschen die ihnen bis 1914 gehörenden Gemeindeimmobilien für immer verloren geben müssten. Im Herbst 1931 bot die englische Regierung der
173 Berichts Stohrer an AA, 3. Mai 1929. PA AA R 77735. 174 DEG B 27. 175 E. Walther an MB, 10. Januar 1926. SIK MB 82/3. 176 1881 gegründet unter dem Namen „Verein für Deutschtum im Ausland“, ab 1908 „Verein für das Deutschtum im Ausland“. 1921 ca. 70.000 Mitglieder. 177 Der Auslandsdeutsche 4/9 (1926), S. 129. 178 Hans Dietrich Petersmann: Gemeinde, 1937.
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deutschen Gemeinde an, Kirche und Pfarrhaus zurückzugeben unter der Voraussetzung, dass die Gemeinde auf neun Zehntel des beschlagnahmten Vermögens verzichtete, ein Angebot, auf das nur wenige Gemeindemitglieder und Mitglieder der ‚deutschen Kolonie‘ einzugehen bereit waren, so dass diverse, von Pfarrer Karig geführte Verhandlungen mit dem Foreign Office in London erforderlich waren. Wesentliche Rückendeckung erhielt er innerhalb der ‚deutschen Kolonie‘ von den Juristen Walther Uppenkamp und Fritz Dahm sowie von Wilhelm van Meeteren und vor allem von Ludwig Borchardt, Direktor des „Deutschen Instituts für Ägyptische Altertumskunde“. Tatsächlich nahmen die Verhandlungen mit England erst dann eine positive Wende für Deutschland, als Borchardt sich einschaltete. Erfreut und überrascht berichtete Pfarrer Karig dem deutschen Generalkonsulat im Dezember 1931, mittlerweile intervenierten sogar die nichtchristlichen Mitglieder der ‚deutschen Kolonie‘ zugunsten der Rückgabe der Gemeindeimmobilien. Borchardt begründete sein Engagement mit dem „kulturellen Wert“, den die Immobilien aus seiner Sicht besaßen, und dem Interesse der gesamten ‚Kolonie‘ an dieser Angelegenheit.179 Borchardts Eingreifen und seinen weitreichenden politischen Beziehungen war es zu verdanken, dass die festgefahrenen Verhandlungen die entscheidende Wende nahmen.180 Am 30. September 1933 wurden das Pfarrhaus und die Schule in Kairo-Boulac sowie die Kapelle in Heluan, am 31. Dezember 1934 die Kirche und am 31. Dezember 1937 das Deutsche Heim in Kairo-Fagalla zurückgegeben.181 Die offizielle Rückgabe der deutschen Gemeindeimmobilien fand erst 1935 statt.182 Bescheiden waren die Anfänge der der Kirchengemeinde angeschlossenen Schule, die zunächst nur von einer Handvoll Schüler besucht wurde. Um den
179 Nach Gisela Fock: Geschichte, 2012, S. 127. 180 LB wandte sich u. a. an den Diplomaten Hilmar von dem Bussche-Haddenhausen (1876–1939), den er aus gemeinsamen Kairener Tagen kannte. Er legte ihm dar, dass die Engländer den Besitz der deutsch-evangelischen Gemeinde beschlagnahmt und einem Trust anvertraut hätten, der im August 1932 aufgelöst werden solle. Nach Auflösung würden die Immobilien wohl endgültig einer britischen Verwaltung unterstellt, wobei man sich auf Art. 438 des Versailler Vertrages berufe. Dessen Bestimmungen seien wohl kaum auf Ägypten übertragbar. Diese Argumentation überzeugte den Diplomaten, er wandte sich an Reichsaußenminister Konstantin von Neurath, unter Hinweis darauf, dass LB zu einer der einflussreichsten Persönlichkeiten in Ägypten zähle. Immerhin habe er es geschafft, dass das Archäologische Institut an Deutschland zurückgegeben worden sei. Gisela Fock: Geschichte, 2012, S. 127–129. 181 Nicht zurückgegeben wurden das von dem deutschen Generalkonsulat vor dem Krieg gemietete Haus sowie das Pensionatsgebäude. Auch das Kapitalvermögen wurde nur zu einem sehr kleinen Teil zurückerstattet. Gisela Fock: Geschichte, 2012, S. 129 f. 182 Werner Karig: Anfang, 1964, o. S.
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Schulbetrieb aufnehmen zu können und damit zugleich Tatsachen zu schaffen, stellte der erwähnte Kaufmann Gustav Mez seine Privaträume zur Verfügung. Geplant war, die frühere deutsche „Knabenschule“ wieder einzurichten, weshalb 1929 eine Schulgruppe des Deutschen Vereins eingerichtet wurde.183 Erst 1933 konnte der Schulbetrieb wieder in den alten Gebäuden in Boulac stattfinden. Für die ‚deutschen Kolonie‘ bildete die seit 1873 bestehende Schule eines ihres wichtigsten Aushängeschilder, weshalb ihre Re-Etablierung von besonderer Bedeutung war. Schulträger sollte der Deutsche Verein sein. Im Jahre 1930 wurden nur 20 Kinder unterrichtet. Leiterin der Schule war Elisabeth Anthes, Schwester des Ägyptologen und zeitweise Assistenten Ludwig Borchardts, Rudolf Anthes. Ihr folgte K. Ehmann. Es bedurfte eines besonderen pädagogischen Idealismus gepaart mit Ägyptenbegeisterung, um sich auf die Leitung der wieder gegründeten deutschen Schule in Kairo einzulassen. An beidem fehlte es Elisabeth Anthes nicht. Aus eigenem Antrieb wäre sie kaum auf den Gedanken gekommen, eine solche Stelle anzustreben. Den entscheidenden Anschub leistete Ludwig Borchardt, dem ebenso wie seiner Ehefrau ungemein an der Wiederbelebung der Schule gelegen war. Unterstützt wurden sie von Pfarrer Karig. Borchardt unterrichtete im November 1929 im Auftrag einer Elternversammlung184 seinen Kollegen und früheren Assistenten Rudolf Anthes, dass im Januar 1930 die Neueröffnung der Schule, zunächst nur mit den zwei untersten Klassen, stattfinden werde. Anthes‘ Schwester solle, falls sie sich für die Schulleiterinnenstelle interessiere, ihre Bewerbung an Abt. VI des Auswärtigen Amtes (Herr Böhme) richten.185 Ebenso wie Pfarrer Karig hielt auch Borchardt Elisabeth Anthes für die geeignete Kandidatin, die der Aufgabe, sowohl die Schulleitung als auch den gesamten Unterricht zu übernehmen, gewachsen schien. Nachteilig war, dass das Monatsgehalt mit LE 30 (zuzüglich LE 30 als Reisegeld) alles andere als üppig war. Unmittelbar nach Eintreffen des Borchardt’schen Telegramms reichte Elisabeth Anthes ihre Bewerbung ein, obwohl ihr Bruder das zu niedrige Gehalt moniert hatte.186 Ändern ließ sich dies freilich nicht; immerhin aber konnte man ihr eine Lehrerwohnung für LE 2 monatlich anbieten.187 Das gesamte Schulprojekt drohte ohnehin fast zu scheitern, denn beim Auswärtigen Amt konnte man nicht
183 Berichte Stohrer an AA, 28. Mai 1927, 3. Mai 1929. PA AA R 77736, R 77735. 184 Außer Pfarrer Karig waren LB und van Meeteren Mitglieder des Vorstandes. Die beiden Letzteren planten wegen anderweitiger Arbeitsbelastungen dieses Amt baldmöglichst niederzulegen. SIK LB. 185 Kairo, 20. November 1929. SIK LB. 186 Berlin, 27. November 1929. SIK LB. 187 LB an R. Anthes, 5. Dezember 1929. SIK LB.
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e insehen, weshalb für angeblich nur sechs Kinder eine Schule gegründet werden sollte.188 Es bedurfte einer erneuten Intervention Borchardts beim Auswärtigen Amt – von ‚nur‘ sechs Schülern war ihm nichts bekannt -, um den zuständigen Herrn, Otto Wolff, von der Berechtigung einer neuen deutschen Schule in Kairo zu überzeugen.189 Nur wenige Wochen nach der Neueröffnung der Schule bewies sich Elisabeth Anthes als gelungene Wahl – in Kairo hatte sie schon bald eine „gute Presse“, sie fühlte sich „sehr wohl“ an ihrer neuen Wirkungsstätte.190 Der zunächst für zwei Jahre vorgesehene Vertrag wurde verlängert, Elisabeth Anthes ging ganz in ihrer Arbeit auf, wobei sie nach Kräften nicht zuletzt von Mimi Borchardt unterstützt wurde.191 Nach 1933 gab sie ihre freundschaftliche Beziehung zum Ehepaar Borchardt ebenso wenig auf wie ihr Bruder Rudolf und das Pfarrerehepaar Karig.192 Mitte der 1930er Jahre wurde Elisabeth Anthes nach Deutschland zurückgesandt, erhielt dort allerdings keine ihren Fähigkeiten angemessene Position mehr, sondern wurde an einen abgelegenen Ort im Brandenburgischen delegiert. An der deutschen Schule zog ein neuer Geist ein bzw. setzte sich endgültig durch.193 Auch bei Nicht-Deutschen erfreute sich die deutsche Schule zunehmender Beliebtheit. So waren die beiden Schüler der ersten und zweiten Vorklasse des Jahres 1933, Edward und Nelly Perry, Kinder eines britischen Offiziers.194 Elf der insgesamt 41 SchülerInnen des Jahres 1933 waren Nicht-Deutsche bzw. nicht deutsche Muttersprachler. In der ersten Vorklasse waren von 12 Kindern nur sechs deutschsprachig, in der zweiten Vorklasse sieben von zehn, in der dritten Vorklasse sieben von neun.195 Acht Lehrpersonen fanden sich in diesem Jahr an der Schule, darunter Pfarrer Karig für den evangelischen Religionsunterricht
188 R. Anthes an LB, 18. Dezember 1929. SIK LB. 189 Laut LB (an Anthes) zählte Pfarrer Karig nicht unbedingt zu den Unterstützern der geplanten deutschen Schule. Luxor, 30. Dezember 1929; Berlin, 16. Januar 1930. SIK LB. 190 LB an R. Anthes, 26. April 1930. R. Anthes an LB, 5. Mai 1930. SIK LB. 191 Am 25. Mai 1932 berichtete LB an R. Anthes, vor ein paar Tagen habe seine Ehefrau das „bewusste Kinderfest“ im Garten ihres Hauses ausgerichtet, wobei sie von E. Anthes „tüchtig unterstützt“ worden sei. Zur Aufführung kam eine Art Ballett der Schulkinder. SIK LB. 192 Am 12. Mai 1934 schrieb LB an R. Anthes in Berlin, „neulich abends“ seien er und seine Frau mit Anthes‘ Schwester und „den Karigs“ zusammen gewesen. SIK LB. 193 Gewarnt wurden die Kinder vor dem überzeugt nationalsozialistisch denkenden Hausverwalterehepaar Höfels. Erich Höfels (geb. 1908 Berlin), seit 1928 in Ägypten, 1938 Mitglied der NSDAP, der DAF und des Deutschen Vereins Kairo; September 1936 Heirat mit Erna Sommer (geb. 1902 Brunichswalde), die 1938 Mitglied der NS-Frauenschaft und des Deutschen Vereins Kairo, seit 1931 in Ägypten war. PA AA Kairo-Gesandtschaft 2a, 2b. 194 DEG Kairo B 27. 195 DEG Kairo B 27 Verzeichnis der Schüler, 1933.
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und Pater Cyriacus für den katholischen.196 Doch trotz ihrer vielversprechenden Entwicklung konnte die deutsche Schule nur schwer an ihre früheren Erfolge anknüpfen, was sich beispielsweise in der Zahl der Schüler spiegelte.197 Neben der Schule der deutsch-evangelischen Gemeinde bestand die deutsche Mädchenschule der Borromäerinnen, die 1927 150 Schüler und Schülerinnen (davon 25 im Internat), 1929 etwa 160 Schülerinnen zählte. Den Schwestern waren nach dem Krieg ihre beschlagnahmten Besitztümer ausnahmslos zurückgegeben worden.198 In Alexandria besuchten ebenfalls etwa 150 Kinder die deutsche Schule der Borromäerinnen. Der Schule wurde während des Krieges zwar ihr Gebäude genommen, doch gab ihr die ägyptische Regierung nach dem Krieg ein weit besseres Gebäude als Ersatz zurück.199 Mit ihrem Engagement innerhalb der deutschen Vereine in Ägypten knüpften sowohl das Ehepaar Borchardt als auch Max Meyerhof an ihre Aktivitäten der Jahre 1914 bis 1922/23 in Deutschland an, verbanden damit zugleich auch deutschlandpolitische Interessen. Dabei ist nochmals der Blick zu richten auf das sogenannte Auslandsdeutschtum, das erst nach dem ersten Weltkrieg wirklich an Bedeutung gewann, wie sich auch an Borchardts Engagement im „Bund des Auslandsdeutschen“ spiegelt. Mitglieder dieses Zusammenschlusses waren überwiegend politisch konservativ, d. h. antirepublikanisch gesinnt, versuchten der wegen der „äußeren Machtlosigkeit abgelehnten Weimarer Republik das Gegenbild einer untergründig bereits existierenden, starken und eines Tages obsiegenden Nation entgegenzustellen“.200 Wesentliche Mittel waren die deutschen Vereine im Ausland mit ihren kulturellen und sozialen Aktivitäten, das Schulwesen, „ärztliche und religiöse Missionen, Industrie, Gewerbe und Technik“ sowie der „deutsche Handel“.201 All dies diente auch der „Propagandaarbeit“, die darauf abzielte, der ‚deutschen Kultur‘ wieder Weltgeltung zu verschaffen. Es ist unverkennbar, dass sich primär Ludwig und Mimi Borchardt an diesen Zielsetzungen orientierten bzw. diesen gemäß in Ägypten handelten. 196 Schulleiterin Anthes unterrichtete Deutsch, Geschichte und Erdkunde, Susi Mohnike Heimatkunde, Rechnen, Naturkunde, Handarbeit und Turnen. In sämtlichen Klassen war Käte Desdouits für den Französischunterricht zuständig, in Sexta auch für Erdkunde und Naturkunde. In Klasse Quinta unterrichtete der Engländer J.S. Sutherland Englisch, in Vorklasse 3 sowie in Sexta und Quinta Dr. M.K. Fayed Arabisch. Joseph Richter unterrichtete in allen Klassen Gesang. 197 1903/04 hatte die Schule 132 Schüler (52 Deutsche, 17 Engländer, 25 Österreicher, 12 Griechen, 10 Türken, 11 Italiener, 7 Franzosen, 6 Schweizer, 4 Amerikaner, 1 Däne, 1 Holländer, 1 Russe). Konfessionell war die Schule gemischt (66 evangelisch, 28 römisch-katholisch, 7 griechisch-orthodox, 5 armenisch-orthodox, 24 jüdisch, 2 muslimisch). Hans Dietrich Petersmann: Gemeinde, 1937. 198 In Kairo-Maadi, Villenkolonie südlich von Kairo, unterhielten die Borromäerinnen im Kloster des Heiligen Karl einen Kindergarten mit 32 Kindern. 199 Bericht Stohrer an AA, 28. Mai 1927. PA AA R 77736. 200 Eckard Michels: Deutsche Akademie, 2005, S. 23. 201 Eckard Michels: Deutsche Akademie, 2005, S. 24 f.
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3.1.2 Alltägliches Trotz diverser Hemmnisse und im Vergleich zur Vorkriegszeit häufigeren Unannehmlichkeiten war das Leben in Ägypten für die meisten Deutschen dennoch ein Idealzustand, ein wahr gewordener Traum, wie beispielsweise für den Juristen Walther Uppenkamp,202 der 1926 als Richter an das Gemischte Gericht203in Kairo berufen wurde. Überwiegend waren die Ägypter deutschfreundlich oder wurden zumindest so empfunden. Auch mit den Engländern war recht gut auszukommen, etliche von ihnen sprachen sogar deutsch.
Abb. 15: Walther Uppenkamp, 1920er Jahre
202 Uppenkamp war der einzige deutsche Richter am Gemischten Gericht. Während des Ersten Weltkriegs hatte er die Kinderkrankenschwester Eva geheiratet. 1926 migrierte er nach Kairo, ein Jahr später folgte ihm seine Familie. 203 In Ägypten tagende Gerichte seit 1876 für Nicht-Ägypter, die unter dem Schutz der Kapitulationen standen. Nach dem Vertrag von Montreux (1937) wurden sie sukzessive abgeschafft. Arthur Goldschmidt jr.: Dictionary, 1994, S. 187 f.
3.1 Die ‚deutsche Nachkriegs-Kolonie‘
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Richter Uppenkamp, repräsentativ für die Oberschicht der ‚deutschen Kolonie‘, zog 1927 in ein soeben fertiggestelltes Haus im neu entstandenen, eleganten südöstlichen Kairener Stadtteil Maadi,204 der schon vor dem Krieg zu einem der gesuchten Wohnort vieler Europäer wurde. Von dort war die Innenstadt, also auch Uppenkamps Arbeitsplatz und die deutsche Schule in Boulac, leicht per Bahn zu erreichen. Uppenkamps Nachbargrundstück war noch unbebaut, erster direkter Nachbar war der Schweizer De Rémy, dem der Schweizer Zahnarzt Rathgeb benachbart war. Dieser hatte sich ein Haus im Bauhausstil erbauen lassen, umgeben von einem großen Garten. In aller Regel gehörten zu jedem Haushalt diverse Angestellte, die auch in Zimmern und Kammern des Hauses oder der Wohnung lebten. Im Haushalt des Richters Walther Uppenkamp fanden sich vier Angestellte, im Borchardt’schen mindestens drei. Einige Ägyptendeutsche waren jedoch von existenzieller Not geplagt, so die Familie des aus Triest stammenden Arztes Giovanni Miceu, die vielfach finanziell von Mimi Borchardt unterstützt wurde, oder Familie Bergstrand, deren Existenz nur durch das unermüdliche, von der ‚deutschen Kolonie‘ oft misstrauisch beäugte Arbeiten von Isa Bergstrand einigermaßen gesichert werden konnte.205 Durchweg angenehme Wohn- und Lebensverhältnisse waren also nicht unbedingt repräsentativ und sogar der Gesandte von Stohrer beklagte sich über seine als zu beengt empfundene Wohnung; aber überwiegend befanden sich die Ägyptendeutschen in günstigeren Lebensumständen als dies zuvor in Deutschland der Fall gewesen war. Der Gesandtschaftsangestellte Peinert wohnte in einer Mietwohnung (neben Nr. 10) in Maadi, was die übliche Form des Wohnens darstellte. Die ‚Bessergestellten‘ ließen es nicht an sozialen Zusammenkünften in ihrer häuslichen Umgebung, vorrangig im Garten, fehlen. In aller Regel wurden die bei diesen Gelegenheiten gebotenen Speisen von „Groppi“ geliefert, einem österreichischen Unternehmen, das sich in gesamt Kairo eines hervorragenden Rufs 204 Kairo-Maadi bot Erwachsenen wie Kindern etliche Annehmlichkeiten. Der Stadtteil war noch wenig bebaut und üppig begrünt. Im vielbesuchten Sporting-Club (mit Schwimmbad) traf man Menschen unterschiedlicher Nationalitäten. Schwimmunterricht erteilte dort Bademeister Ibrahim. 205 Isa Bergstrand war Schwedin. In der ‚Kolonie‘ hieß es, sie vernachlässige ihre Kinder. Tatsächlich hatte sie wegen der erfolglosen Geschäftstätigkeit ihres Ehemannes kaum Zeit, sich um diese zu kümmern. In der Nähe der Pyramiden von Giza gründete und leitete Isa Bergstrand ein Waisenhaus (Medinet Tahsin el-Saha). Tochter Helfried lebte später in Schweden. Über den Werdegang des Sohnes ist nichts bekannt. Bergstrand erhielt 1960 für ihre Verdienste das Deutsche Verdienstkreuz am Bande. http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:WikiProjekt_Bundesverdienstkreuz/1960.
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erfreute. Gewohnte Speisen erhielten die Deutschen auch in etlichen deutschen Gaststätten, Medikamente in einer deutschen Apotheke. Neben deutschen Friseuren, wie beispielsweise dem Ehepaar Dorbeth,206 fanden sich deutsche Schneiderinnen, etwa die alleinstehende Frau Schwarz, die 1939 nicht nach Deutschland zurückkehrte.207 Kurzzeitigen Besuchern oder Touristen standen eine Reihe von ‚deutsch‘ geführten Pensionen zur Verfügung, so jene der Schwester Grete Hoffmeister. Aus dem Bedürfnis zahlreicher Nicht-Ägypter nach komfortablem, gehobenem europäischem Standard entsprechendem Wohnen entwickelte sich eine boomende Bauindustrie, ließ neue Wohnviertel entstehen. Auch vor Gesireh-Island, später Zamalek genannt, machte dieser Boom nicht Halt. Ursprünglich hatten sich dort nur wenige, um den im Rahmen der Eröffnung des Suez-Kanals erbauten Khediven Palast gruppierte Wohnhäuser befunden. Ansonsten stellte die Insel einen parkähnlich angelegten Garten und ein nicht bebaubares Feucht- bzw. Sumpfgebiet dar. Im nicht feuchten Ostteil der Insel waren die Borchardt‘schen Villen gelegen. Einige Mitglieder der ‚deutschen Kolonie‘ verstanden es, sich die Wertschätzung ‚höchster Stellen‘ zu erarbeiten, etwa der Siemens-Vertreter Friedrich Hartmann. Bei der Hochzeit von König Faruk, 1936, war er mitverantwortlich für die Beleuchtung, was sich angesichts der vielen und wechselnden Sonderwünsche der Veranstalter als kompliziertes Unterfangen erwies.208 Überhaupt hielt das ägyptische Königshaus durchaus enge Beziehungen zu einzelnen Mitgliedern der ‚Kolonie‘. König Fouad und seine Vorgänger luden regelmäßig beispielsweise das Ehepaar Borchardt und andere deutsche Ägyptologen zu Diners und Bällen ein. Geladen bei Fouad, später auch bei Faruk (und dessen Ehefrau Reine Nasli) waren des Öfteren Walther Uppenkamp, Ludwig Borchardt und Max Meyerhof. Von solch prominenter Aufmerksamkeit waren die meisten Mitglieder der Kolonie jedoch entfernt. Ägypten bot, außer der Besichtigung von Altertümern, eine Palette an Möglichkeiten. Vor allem nach Howard Carters spektakulärem Grabfund, 1922, gab sich die internationale Prominenz ein dauerndes Stelldichein in Ägypten. An
206 Tochter Lieselotte nahm sich nach einer Vergewaltigung das Leben. Die zweite Tochter heiratete Ernesto Melber, mit dem sie heute in Frankfurt lebt. 207 Sie wurde nicht interniert oder musste ins Deutsche Heim in Faggala umziehen. Dort wohnte sie 1955. PA AA R 127743. 208 Zu diesem Zeitpunkt erfreute König Faruk sich noch großer Beliebtheit. Hartmanns Tochter Marianne heiratete in zweiter Ehe in Ägypten den an der Universität Göttingen lehrenden Ägyptologen Dr. Spiegel. Sohn Peter, der ebenfalls die deutsche Schule besuchte (geb. um 1921), lebte später in Genf und arbeitete als Bildhauer.
3.1 Die ‚deutsche Nachkriegs-Kolonie‘
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equemlichkeiten fehlte es nicht, für Unterbringung und Versorgung der LuxusB klasse war gesorgt. Gesucht und häufig frequentiert wurden vor allem das Cecil Hotel in Alexandria, das Mena House in Kairo-Giza, der Winter Palace in Luxor und das Old Cataract in Assuan. Begründer der ägyptischen Hotellerie war der erwähnte Charles Baehler (1868–1937), der, als er 1889 nach Kairo migrierte, zunächst als Buchhalter für Samuel Shepheard, Besitzer des berühmten Kairener Shepheard’s Hotel, arbeitete und dieses bereits 1891 allein verwaltete.209 Zu Wohlstand gekommen kaufte er einige Hotels in Ägypten auf, gestaltete sie um und gründete 1906 die „Upper Egypt Hotels Ltd.“, wozu sieben Hotels in Kairo und Alexandria gehörten. Die wenig später von Baehler gegründete „Upper Egypt Hotels Co.“ stand unter der Verwaltung des Schweizers Anton Badrutt (1888–1967), der seit 1919 in Kairo lebte. 1920 war er Verwalter des Cataract Hotels in Assuan und hatte als Generaldirektor der Oberägyptischen Hotelgesellschaft insgesamt sechs Hotels in Luxor und Assuan unter seiner Aufsicht. Von 1920/21 bis 1934/35 betreute Badrutt gleichzeitig das Cataract Hotel und den Winter Palace. Das Shepheard’s Hotel in Kairo wurde von 1926 bis 1939 von dem Schweizer Alfred Elwert geführt. Die Gästeliste des Winter Palace belegt den Aufenthalt zahlreicher Prominenz, wozu in den Jahren 1925 und 1930 unter anderen der Schriftsteller Thomas Mann und der Schauspieler Alexander Moissi gehörten. Im März 1929 findet sich die Unterschrift des ungarisch-britischen Malers Philip de Laszlo (1869–1937), der für das Ehepaar Borchardt in den 1930er Jahren eine Rolle spielen sollte. Sicherlich hatten auch Mitglieder der deutschen Kolonie ein ebenso intensives Interesse an der antiken Kultur Ägyptens wie die erwähnten touristischen Besucher. Für die meisten war es nichts Ungewöhnliches, Reisen ins Landesinnere zwecks Besichtigung der pharaonischen Altertümer zu unternehmen oder die Ruhe der Wüsten und der Oasen zu genießen. Mitunter ging das Interesse darüber hinaus, etwa bei Walther Uppenkamp, dessen Hobby die Kultur des Moscheenbaus war. Ehefrau Eva konnte dem wenig abgewinnen, war Mitglied des ‚Deutschen Frauenvereins‘, betätigte sich karitativ, versorgte Kranke. Dennoch empfanden die meisten die kulturellen Angebote Ägyptens bzw. Kairos als vergleichsweise dürftig. Den lokalen Theatern vermochte man wenig abzugewinnen, verstand deren Angebote kaum als kulturellen, ästhetischen oder intellektuellen Genuss. Gesucht waren die ab und an von der Kairener Oper gebotenen Konzertveranstaltungen; über ein eigenes Ensemble verfügte die Oper nicht, war auf meist europäische Gastspiele angewiesen. Auf ihr Gastland und dessen unterschiedliche Kultur ließen sich die meisten Deutschen bzw. Österreicher nur partiell ein. Meist blieb man unter sich, bewegte sich in den eigenen vertrauten Kreisen. Zwangsläufig kamen Menschen wie der Augenarzt Meyerhof 209 André B. Wiese: Gästebuch, 1998, S. 243–266.
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enger mit der ägyptischen Bevölkerung in Kontakt als die meisten Vertreter deutscher Firmen. Nicht zwangsläufig war hingegen das ausgeprägte Interesse, das das Pfarrerehepaar Karig an der ägyptischen Kultur, Geschichte und Bevölkerung zeigte.210 Auch für den Juristen Walther Uppenkamp, der von Berufs wegen mit Menschen unterschiedlicher Nationalitäten, vor allem mit Ägyptern zusammentraf, war es eine Selbstverständlichkeit, sich mit seinem ägyptischen Umfeld auseinander zu setzen.211
3.2 Ägyptologen vor Ort – Steindorffs Erkundungsreise, 1925 Für die deutschen Ägyptologen hatte der Krieg unmittelbare berufliche Konsequenzen. Der Zugang zu Ägypten blieb bis 1923 versperrt, zu den Grabungsstätten auch darüber hinaus. Während des Krieges kam die Kommunikation mit internationalen Kollegen weitgehend zum Erliegen, danach musste ein Hauptinteresse sein, diese wieder anzuknüpfen und zu den gewohnten Kooperationen zurückzufinden. Adolf Erman arbeitete, wie gezeigt, schon vor Kriegsende an vertrauensbildenden Maßnahmen. Georg Steindorff wollte im Januar 1918 als erstes einen Schritt auf den britischen Ägyptologen Alan H. Gardiner zu tun.212 In diesem wie auch in andern Fällen ging es nicht nur um die Möglichkeit des fachlichen Austauschs, sondern auch darum, Gardiner als einen wichtigen und konstanten Unterstützer des Berliner Wörterbuchs zu sichern. Dies war umso bedeutender, als zu diesem Zeitpunkt noch völlig unklar war, ob das deutsche ägyptologische Institut in Kairo jemals würde wiedereröffnet werden können, obwohl Erman und Steindorff Mitte 1918 begannen, mit dem Auswärtigen Amt die Modalitäten zu verhandeln.213 Insgesamt hatte die deutsche Ägyptologie infolge des Krieges schwer gelitten. Es fehlte an Studenten, kompetentem Nachwuchs und erforderlichen Finanzmitteln. Auch das ließ zumal Steindorff an einer möglichen Neuetablierung eines deutschen ägyptologischen Instituts in Ägypten zweifeln. Er versuchte sich mit 210 Heti Karig zeichnete ihre Eindrücke nach. Gemeinsam mit ihrer Familie widmete sie sich intensiv ihrem ägyptischen Umfeld und dessen Kultur. Heti Karig: Tagebuchblätter, 1936. 211 Er diskutierte viel mit ägyptischen Kennern über den Moscheenbau. Engen Kontakt hatte er zu den deutschen Borromäerinnen in Bab-el-Louk und dem katholischen Geistlichen Cyriakus, was damit zusammengehangen haben könnte, dass Walther Uppenkamps Onkel Ludwig Uppenkamp lange als Franziskaner in China tätig gewesen war. 212 Steindorff an Erman, 30. Januar 1918. UBB NLE Steindorff. 213 Steindorff schrieb am 27. Juni 1918 an Erman, dem AA sollten ohne Rücksicht auf irgendwelche Personen Vorschläge unterbreitet werden, die darauf abheben sollten, dass das Institut eine wichtige „Hülfsstation der deutschen Ägyptenforschung“ sei. UBB NLE Steindorff.
3.2 Ägyptologen vor Ort – Steindorffs Erkundungsreise, 1925
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der Hoffnung zu trösten, dass die deutsche Ägyptologie auch ohne dieses vorwärts käme.214 Schließlich seien die großen Werke von Erman und Sethe auch ohne Ägyptenreisen entstanden. Man werde sich umorientieren und „von der archäologischen Ägyptologie, die wir der Entente überlassen müssen, zur philologisch-historischen zurückkehren“.215 Wie angedeutet, war Steindorffs Annäherung an Gardiner erfolgreich. Dieser schrieb „sehr erfreulich“ und zeigte ihn als den „famosen Menschen“, für den Steindorff ihn immer gehalten hatte.216 Einen ähnlichen wie den an Gardiner gerichteten Brief schickte Steindorff an den britischen Kollegen Crum, der ebenfalls umgehend antwortete, darin aber auch seine Besorgnis eines deutschen Konkurrenzunternehmens zu seinem in Arbeit befindlichen koptischen Handwörterbuch ausdrückte. Umgehend setzte Steindorff sich dafür ein, dass solche Konkurrenzen unterblieben, um die „guten Freunde im Ausland“ nicht „aufzuregen“.217 Weniger gern hörte Steindorff die Prophezeiungen des dänischen Kollegen Lange, dass es lange dauern werde, bis die internationalen Beziehungen wieder hergestellt sein würden. Diesen Pessimismus wollte Steindorff nicht teilen. Denn auf Dauer könnten die deutschen Ägyptologen und ihre Arbeit nicht boykottiert werden; ein „feindlicher“ Ägyptologe, der auf sprachlichem Gebiet arbeite, müsse zwingend auf die Sammlungen des Berliner Wörterbuchs zurückgreifen. Auch die Sammlungen der deutschen Museen seien einzigartig, könnten demnach nicht ignoriert werden. An der Zusammenarbeit führe also kein Weg vorbei, wenngleich die freundschaftlichen Beziehungen zu den französischen Ägyptologen ebenso wie vor dem Krieg immer noch vom französischen Chauvinismus getrübt seien. Außerdem, so triumphierte Steindorff gegenüber Lange, sei bekanntlich bei den ohne die Deutschen stattfindenden Ägyptologen Kongressen „nicht allzu viel herausgekommen“, was beweise, wie sehr man ihrer Mitarbeit bedürfe. Sobald es die Verhältnisse gestatteten, sollten wieder regelmäßige Treffen deutscher und nicht-deutscher Ägyptologen in Deutschland stattfinden, was laut Steindorff schon recht bald sein würde. Verbittert, wie manch‘ anderer Ägyptologe, war Steindorff auch angesichts der neuen politischen Rahmenbedingungen nicht, sondern arrangierte sich. Auch deshalb verweigerte er die von Ermans Tochter Doris Baensch empfohlene Lektüre von Ludendorffs Schriften; solche „apologetischen Literaten“ wollte er sich „vom Leibe“ halten. Vorerst hatte Steindorff sich mehr um den Wiederaufbau 214 Steindorff an Erman, 10. März 1919. UBB NLE Steindorff. 215 Steindorff an Erman, 21. Mai 1919. UBB NLE Steindorff. 216 Steindorff an Erman, 13. September 1919. UBB NLE Steindorff. 217 Steindorff an Erman, 13. September 1919. UBB NLE Steindorff.
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seines noch recht chaotisch ablaufenden Leipziger Studienbetriebs zu kümmern und seine Familie vor den Unruhen auf den Leipziger Straßen zu schützen.218 Schrittweise nahmen Steindorffs Beziehungen zu seinen nicht-deutschen Kollegen – beispielsweise Gardiner, Crum, Naville und DeBuck – wieder freundschaftlich-kollegiale Züge an, was die Glückwünsche zu seinem 60. Geburtstag bestätigten.219 Nicht zuletzt dies dürfte ihn ermutigt haben, eine erste Nachkriegsreise nach Ägypten zu planen und zu unternehmen, die zwar offiziell den Arbeiten an der Neuauflage des Baedeker dienen sollte, inoffiziell aber auf die Normalisierung und Festigung der Beziehungen zur internationalen Ägyptologenschaft abzielte. Als er im Februar 1925 die Reise antrat, dürften ihm die nach wie vor problematischen Lebensumstände der meisten in Ägypten lebenden Deutschen ebenso wie die sich drastisch veränderten politischen und sozialen Verhältnisse in Ägypten allenfalls durch Meyerhofs Berichte bekannt gewesen sein.220 Am 24. Februar 1925 bestieg Steindorff in Genua die „Saarbrücken“ und reiste komfortabel wie gewohnt in Richtung Ägypten, traf an Bord den deutschen Ägyptologen Hermann Junker (1877–1962)221 in Begleitung von Hofrat Holey aus Wien sowie die Ehefrau des befreundeten Berliner Kollegen Kurt Sethe (1869–1934).222 Am 1. März 1925 erreichte das Schiff Port Said, am 2. März fuhr Steindorff mit dem Zug weiter nach Kairo, wurde am Bahnhof von Max Meyerhof empfangen und zu seiner Unterkunft, dem vornehmen Shepheard’s Hotel gebracht. Unterschiede zur Vorkriegszeit meinte Steindorff bis dahin nicht wahrgenommen zu haben, fand das Hotel seit 1914 unverändert vor, wurde wie gewohnt von dem Schweizer Hoteldirektor Bähler „freudig“ begrüßt. 218 Im Frühjahr 1920 kam es in Leipzig zu zahlreichen Schießereien, es herrschte Chaos. Familie Steindorff flüchtete sich ins Familienleben, vor allem in das Zusammensein mit dem kleinen Enkelsohn Klaus Hemer. Auch angesichts der Kohleknappheit rückten die drei Generationen Steindorff eng zusammen in ihrem Haus in Leipzig-Gohlis. Im ägyptologischen Institut versuchte Steindorff die „ÄZ“ am Leben zu halten, was ihm kaum gelingen wollte, da auch die deutschen Kollegen nur wenig Unterstützung boten. Mehr Ärger als Freude hatte Steindorff mit der „Deutschen Morgenländischen Gesellschaft“, ebenso mit der Planung der Orientalistenversammlung, die im Herbst 1921 in Leipzig unter seinem Vorsitz stattfinden sollte. Steindorff an Erman, 30. März u. 29. April 1920. UBB NLE Steindorff. 219 Steindorff an Erman, 13. November 1921. UBB NLE Steindorff. 220 ÄMUL Steindorff Archiv, G. Steindorff „Aegypten-Reise 1925“. 221 Studierte zuerst katholische Theologie, dann Ägyptologie in Berlin unter Erman, beschäftigt an der Universität Wien ab 1907 (Professor 1912–1929), 1929–45 Direktor des Deutschen Archäologischen Instituts Kairo, Professor Universität Kairo 1933–39. Who-was-Who, 2012, S. 385 f. 222 Studierte 1888–92 Ägyptologie bei Erman, unterrichtete 1895–1900 an der Universität Berlin, Professor in Göttingen ab 1907, ab 1923 Nachfolger Ermans in Berlin. Neben Erman war er der bedeutendste philologisch orientierte Ägyptologe des frühen 20. Jahrhunderts. Who-was-Who, 2012, S. 502 f.
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Abb. 16: Georg Steindorff in Ägypten, 1912/14
Bei Borchardt meldete Steindorff sich nur telefonisch, Mimi Borchardt hatte er zufällig am Bahnhof kurz begrüßen können.223 Weil sich die Kollegen Heinrich Schäfer (1868–1957)224 und Kurt Sethe bereits seit dem 12. Februar in Oberägypten aufhielten, dort auch schon Breasted getroffen hatten, hielt es auch Steindorff nicht in Kairo. Am 3. März begab er sich auf die Reise nach Luxor, traf am Kairener Bahnhof einen „alten Freund“, den Kölner Leo Pfahl, der vor dem Krieg Direktor des Grand Hotel in Luxor und auch für die Versorgung der deutschen Grabungsteams verantwortlich gewesen war. In Luxor begrüßte ihn zuerst Mohareb Todrous, den er aus der Vorkriegszeit als Antikenhändler kannte, am Zug in Assuan empfing ihn Dr. E. Schacht, ein Bruder des Reichsbankpräsidenten Hjalmar Schacht. Auch in Assuan stieg Steindorff vornehm ab – im „Cataract-Hotel“. Ein „langer Berberiner“ erklärte ihm, dass die Kiste, die er 1914 in einem Depot der Stadt zurückgelassen hatte, noch an Ort und Stelle war.225 223 ÄMUL Steindorff Archiv, G. Steindorff „Aegypten-Reise 1925“, S. 13. 224 Studierte Klassische Philologie, später Ägyptologie bei Erman, arbeitete am Ägyptischen Museum Berlin, dessen Direktor er 1914–1934 war und zugleich Professor an der Universität Berlin. Who-was-Who, 2012, S. 490 f. 225 ÄMUL Steindorff Archiv, G. Steindorff „Aegypten-Reise 1925“, S. 14.
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Den 4. März verbrachte Steindorff mit einer per Esel unternommenen Tour durch die Umgebung von Assuan, traf den Leipziger Verleger Anton Kippenberg (1874– 1950)226 an der Bank und im Hotel Frau Krebs aus Heidelberg. Anschließend ging‘s mit dem Dampfer „Meroe“ auf eine mehrtägige Reise in Richtung NordSudan, während der Steindorff diverse Altertümer besichtigte und die Bekanntschaft machte mit dem in Kairo ansässigen Bauunternehmer Stross227 und dessen Ehefrau, die in den Sudan und von dort nach Eritrea reisen wollten. Stross war kein völlig Unbekannter – Sohn von Adolph Stross, der Steindorff 1895 durch Alexandria geführt hatte.228 An Land und Leuten zeigte Steindorff ansonsten nur mäßiges Interesse. Nur fiel ihm auf, dass auf dem Rathaus in Halfa nach wie vor sowohl die englische als auch die ägyptische Flagge gehisst waren, woraus er schloss, dass das Gebiet weiterhin als „Condominium“ galt, tatsächlich aber England „unumschränkt im Lande“ herrschte.229 Den Ort fand er „auffallend sauber“, wunderte sich, „vier Kirchen einschl. der Moschee“ vorzufinden. Am 11. März reiste er zurück nach Assuan, fand im Cataract Hotel reichlich Post aus Deutschland vor, darunter auch Todesnachrichten, machte Ausritte in die Umgebung. Ähnlich verliefen die darauffolgenden Tage, am 14. März ließ er die 1914 deponierten Kisten herbeiholen, fand alles unbeschädigt vor. Was mit dem Inhalt (primär Gebrauchsgegenstände wie Küchensachen, Zelte etc.) geschehen sollte, wollte er später mit Borchardt beraten. Am 15. März trat Steindorff die Rückreise an, die ihn über Edfu nach Luxor führte, wo er im Winter-Palace Hotel übernachtete und sich abends mit Mohareb Todrous und dessen Sohn Zekki traf, die ihn für den folgenden Tag zu einem üppigen Mahl einluden.230
226 1905–1950 Leiter des Insel-Verlags. Studierte ab 1898 an der Universität Leipzig, 1905 Heirat Katharina v.Düring (1876–1947) (arbeitete im Verlag als Übersetzerin und Herausgeberin), wohnte ebenso wie Steindorff in Leipzig-Gohlis. K. war stark antisemitisch. Curt Vinz: „Kippenberg“, 1977, S. 631–644. 227 Dr. ing. Walther Stross (gest. 1937), Österreicher, geb. in Banjodi Luca, verheiratet mit Dr. Laura Sthreblow aus Wien. Sohn: Robert A.F. Stross (geb. 1913 Alexandria), Ingenieur, 1938 wohnhaft in Bulkeley (Alexandria), arbeitete 1938 für die Firma Anderson & Clayton, Mitglied des Souha Sports Club und des Deutschen Sportvereins in Alexandria, hatte einen 1938 in Alexandria geborenen Sohn. Weil er zwei jüdische Großeltern hatte, galt Robert Stross 1938 als „Mischling“. PA AA Kairo-Gesandtschaft 2a. 228 Die Brüder Leopold und Emmanuel Stross gründeten 1865 ein Unternehmen in Kairo; es entwickelte sich zu einem der bedeutendsten Import- und Handelshäuser Ägyptens mit Zweigniederlassungen in Alexandria, Wien und Budapest. 1900 traten Emmanuels Söhne Rudolf (geb. 1872 Kairo), Karl und Oscar in das Unternehmen ein. Rudolf Agstner: Matrikelbuch, 1994, S. 73. 229 ÄMUL Steindorff Archiv, G. Steindorff „Aegypten-Reise 1925“, S. 24. 230 ÄMUL Steindorff Archiv, G. Steindorff „Aegypten-Reise 1925“, S. 36.
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Bis dahin hatte Steindorff sich in recht sicherem Fahrwasser bewegt; das sollte sich ab dem 17. März ändern. Bei seiner Besichtigung von Karnak traf er zufällig und erstmals auf einen, ihm aus der Vorkriegszeit bekannten französischen Kollegen – Georges Bénédite (1857–1926),231 Direktor des Louvre. Dieser begrüßte ihn unerwarteterweise mit „mon cher ami“, was wie ein gutes Omen wirkte.232 Für den folgenden Tag war nämlich im amerikanischen Grabungshaus (Chicago House) ein Treffen mit James Breasted geplant, der – vielleicht glücklicherweise – nicht anwesend war. Denn statt seiner traf Steindorff dessen Mitarbeiter Harold Nelson (1878–1954)233 an, in dem er einen Bewunderer fand, der schon 21 Jahre zuvor in Chicago seinen Vorträgen gelauscht hatte. Bei den Amerikanern traf Steindorff auch den Berliner Zeichner Alfred Bollacher und einen Photographen, der bei Dittrich in Kairo gearbeitet hatte. Diese positiven Anfänge der Kontaktnahme mit nicht-deutschen Kollegen mögen Steindorff zu weiteren Besuchen ermutigt haben. Bei seinem Besuch im Haus der Expedition des Metropolitan-Museums New York aß er mit Herbert Winlock (1884–1950)234 und dessen Ehefrau zu Mittag; der Empfang war herzlich, seit 1914 hatte man sich nicht mehr gesehen und gesprochen. Später gesellte sich der britische Fotograf Harry Burton (1879–1940),235 der das Tutanckamun Grab fotografiert hatte, dazu. Die Gespräche mit Winlock drehten sich bei weitem nicht nur um Fachliches, sondern auch um „allerlei Politisches“, waren aber nicht unangenehm.236 Auch der 19. März ging mit diversen Besichtigungen und Treffen altvertrauter Bekannten um, ebenso der folgende Tag.237 An diesem Tag aber standen auch 231 Jüdischer Herkunft, erstmals in Ägypten 1880, studierte Ägyptologie bei Maspero, arbeitete ab 1888 im Louvre, 1899–1914 Nachfolger von Maspero am Collège de France, zahlreiche Besuche in Ägypten, wo er 1926 starb. Who-was-Who, 2012, S. 53 f. 232 Anschließend besuchte er den ihm seit Jahren bekannten 80-jährigen Antikenhändler Mohammed Muhassib, der wie eine „Mumie thronte“. Er ließ sich einige Altertümer zeigen, suchte ein paar vorläufig aus. ÄMUL Steindorff Archiv, G. Steindorff „Aegypten-Reise 1925“, S. 38. 233 Amerikanischer Ägyptologe, studierte bei Breasted in Chicago, ab 1904 Unterrichtstätigkeit an Universität Beirut, ab 1924 dort Professor für Geschichte, Leiter des Dienstes für Epigraphik und Architektur des Oriental Institute in Luxor 1924–1947, Direktor des Oriental Institute 1942–43. Who-was-Who, 2012, S. 401. 234 Studierte in Harvard und Yale, führte 1906–1931 etliche Grabungen für das Metropolitan Museum durch, leistete während des Krieges bis 1919 Militärdienst, Kurator der Ägypt. Abteilung des Metropolitan Museum 1929–1939, dessen Leiter 1932–39. Who-was-Who, 2012, S. 584 f. 235 Archäologe und Fotograf, bei britischen Grabungen in Ägypten als Fotograf tätig 1910–1914, ab 1914 bei amerikanischen Grabungen. Who-was-Who, 2012, S. 96. 236 ÄMUL Steindorff Archiv, G. Steindorff „Aegypten-Reise 1925“, S. 41. 237 Vormittags Tal der Könige, nachmittags nochmals Todrous, abends im Savoy Hotel mit dessen Direktor Runkowitz und dem deutschen Arzt Lahmeyer.
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ichtige Besuche an, nämlich bei Breasted und englischen Kollegen. Während das w Treffen mit Breasted unspektakulär verlief, schaute Steindorff jenem mit dem britischen Kollegen-Ehepaar Davies mit gemischten Gefühlen entgegen. Bekanntermaßen war Nina de Garis Davies seit dem Krieg überaus deutschfeindlich. Davon spüren ließ sie Steindorff aber nichts, wie dieser erleichtert vermerkte. Dennoch wühlte ihn dieses Treffen auf, lange konnte er in dieser Nacht nicht zur Ruhe finden.238 Der Besuch hatte sich gelohnt, ein wichtiger erster Schritt zur Annäherung war getan, langsam begann das Eis zu schmelzen. Eine von Steindorff und Davies gemeinsam unternommene Besichtigung von Grabstätten war möglich (21. März), ebenso ein nochmaliges Treffen mit Breasted. In eine optimistisch stimmende Richtung wies auch das nicht geplante Zusammentreffen mit einem weiteren französischen Kollegen. Bei der Besichtigung der Felsengräber von Dêr el Medine fand Steindorff dort Bernard Bruyère (1879–1971)239 an, unter dessen Leitung die dortigen französischen Grabungen seit 1921 standen, und empfand ihn als „sehr angenehmen Mensch“.240 Auch das Verhältnis zu Bénédite blieb erfreulich, bei einem gemeinsamen Frühstück am 24. März war ein „sehr vernünftig(es)“ Gespräch über politische Themen möglich, wobei Steindorff vor allem Bénédites Ablehnung der Ruhrbesetzung positiv stimmte.241 Insgesamt gab diese erste Phase der Sondierung zu Optimismus Anlass. Nach seiner Rückkehr nach Kairo, wo Steindorff sich im ebenfalls noblen Continental Hotel242 einmietete, suchte er als erstes und sogleich Max Meyerhof auf. Die Stadt nahm er erst von da an genauer in Augenschein (25., 26. März), schlenderte durch die ihm kaum verändert erscheinenden Basare, traf hier und da auf alte Bekannte und auch auf neue Gesichter, was ihm vor allem dann nicht unlieb war, wenn es sich um Kollegen handelte. Dies war bei einem Abendessen am 25. März der Fall, bei dem sich die Bekanntschaft mit dem amerikanische Ägyptologen Albert Lythgoe (1868–1934),243 der mit seiner Ehefrau unterwegs war, ergab.
238 ÄMUL Steindorff Archiv, G. Steindorff „Aegypten-Reise 1925“, S. 44. 239 Ägyptologe, studierte unter Bénédite, besuchte Ägypten erstmals 1910, leistete 1914–18 Militärdienst und kam in Kriegsgefangenschaft, arbeitete ab 1921 für das Institut Francais in Kairo, blieb bis 1952 in Ägypten. Who-was-Who, 2012, S. 88. 240 ÄMUL Steindorff Archiv, G. Steindorff „Aegypten-Reise 1925“, S. 46 f. 241 ÄMUL Steindorff Archiv, G. Steindorff „Aegypten-Reise 1925“, S. 51. 242 Eines der besten Hotels von Kairo, bestand seit 1889, in der eleganten Qasr al-Nil Street am Opernplatz gelegen, gehörte seit 1924 dem Schweizer Charles Baehler. Grand Hotels, 2011, S. 119–131. 243 Studierte in Harvard, danach in Bonn, assistierte Reisner 1899–1904 in Ägypten, 1902–1906 erster Kurator für Ägyptische Kunst am Museum of Fine Art Boston, 1898–1906 Unterrichtstätigkeit in Harvard, ab 1906 am Metropolitan Museum of Art New York, gleichzeitig diverse Grabungen in Ägypten. Who-was-Who, 2012, S. 344.
3.2 Ägyptologen vor Ort – Steindorffs Erkundungsreise, 1925
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Der Aufenthalt gestaltete sich angenehm, regelmäßig fanden Treffen mit Meyerhof statt, mit dem Berliner Orientalisten Moritz Sobernheim saß Steindorff am 26. März im Semiramis Hotel zusammen. Während einer Tee-Pause tauchte am 27. März zufällig wiederum der rührige Meyerhof auf, begleitet von Borchardts Assistent Rusch und Breasted. Das Verhältnis zu Letzterem wurde ein so vertrautes, dass er und Steindorff sich duzten.244 Im Ägyptischen Museum, wo sich stets etliche internationale Ägyptologen aufhielten, traf Steindorff erwartungsgemäß viele ihm bekannte Kollegen, so am 28. März Quibell, Edgar und Lefebvre. Sie zeigten sich ihm gegenüber sehr „nett“.245 Ein Besuch bei Junker an seiner Grabungsstätte in Giza folgte am 30. März, dort erschienen auch Junkers Reisebegleiter Holey und das Hannoveraner Ehepaar Hölscher. Tags darauf führte Meyerhof durch das arabische Museum, die Bibliothek und die Basare, wo er sich wie an kaum einem andern Ort Zuhause fühlte, entführte Steindorff in ihm teils unbekannte Welten, was diesen aber auch den Niedergang der traditionellen Handwerkskunst beklagen ließ. Ebenso wie in Oberägypten und Nubien waren Steindorffs Erfahrungen in Kairo bis dahin durchweg positiv, von Animositäten zwischen deutschen und nicht-deutschen Ägyptologen oder Orientalisten hatte er so gut wie nichts zu spüren bekommen, sondern im Gegenteil freundschaftliches Entgegenkommen erfahren. Die Wirklichkeit der Nachkriegs-Wissenschaftspolitik holte ihn jedoch ein. Am 1. April 1925 begann in Kairo der internationale Geographenkongress – deutsche Teilnehmer waren nicht zugelassen. Mehr als er sich eingestehen wollte, war Steindorff davon frustriert, dass deutsche Wissenschaftler nach wie vor international ausgeschlossen waren. Mit größtem Missfallen registrierte er in Kairo „allerlei Kongressisten“, darunter den Kollegen Jean Capart aus Brüssel, umringt von jungen Damen, Steindorff freundlich grüßend. Von „Spannungen zwischen den Gelehrten der feindlichen Nationen und mir“ spürte er hingegen nichts.246 Um sich von dem Gefühl der Erniedrigung abzulenken, traf Steindorff sich am Eröffnungstag des Kongresses mit Vertretern verschiedener Kairener Museen, was ihn aber nicht wirklich entschädigte.247 Tröstend wäre gewesen, hätte er 244 ÄMUL Steindorff Archiv, G. Steindorff „Aegypten-Reise 1925“, S. 55. 245 Am 29. März lernte er in einem Café im Esbekije-Garten den Dichter Theodor Däubler kennen, der wie ein „wüster Strolch“ aussah, sich aber als „ungewöhnlich feiner und kluger Mensch“ erwies. Seit Monaten hielt er sich in Ägypten auf, erforschte das Land auf „einfachste Weise“ und mit „großem Verständnis“, so dass die Unterhaltung mit ihm für Steindorff ein „großer Gewinn“ war. ÄMUL Steindorff Archiv, G. Steindorff „Aegypten-Reise 1925“, S. 58. 246 ÄMUL Steindorff Archiv, G. Steindorff „Aegypten-Reise 1925“, S. 61. 247 Mit Hussein Effendi Raschîd, Konservator des Ägyptischen Museums, und Marcus Simaika Pasha, Gründer des Koptischen Museums. Beide wünschten ausdrücklich, sich mit Steindorff zu treffen.
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gewusst, dass die Organisation des Kongresses schon im Vorfeld zu etlichen diplomatischen und politischen Verwerfungen geführt hatte.248 Jedenfalls wünschte er den Kongressteilnehmern, einschließlich dem König, nichts Positives – „Gott verfluche ihre Väter!“249 Später trug ihm Legationssekretär Schmidt-Rölke zu, ein Vortrag eines Ägypters habe „unverschämte Angriffe und Bemerkungen“ über Paul Burchardt enthalten. In Kairo wollte Steindorff vorerst nicht bleiben, machte sich tagsüber auf nach Sakkara, setzte sich abends in Kairo zum Teetrinken allein zu „Sault“. Ohnehin war die Zeit des Abschiednehmens gekommen. Das Ehepaar Kippenberg, das Steindorff mehr als sechs Wochen begleitet hatte, reiste ab, diesem folgte Breasted, den Steindorff nicht mehr antraf, statt seiner in seinem Hotel von dem verzweifelten Leo Pfahl erwartet wurde. Infolge des Krieges hatte er seinen gesamten Besitz in Ägypten verloren und versuchte nun als mehr als 50-jähriger Mann, sich eine neue Existenz aufzubauen. Bei den „gegenwärtigen Verhältnissen“ war dies außerordentlich schwer, wie Steindorff, mit der Lebenswirklichkeit in Ägypten konfrontiert, einsehen musste.250 Das Ehepaar Davies traf aus Luxor ein, stieg ebenfalls im Continental Hotel ab. Zu den von da an regelmäßigen abendlichen Treffen kamen zudem Lythgoe, Winlock und Dunham, der Steindorff sehr sympathische Assistent von Firth in Sakkara, später auch der Ägyptologe Edgar, „ein netter, aber stiller Engländer“. Steindorff war erschöpft, zog sich ins Mena House in Giza zurück (6. April), wollte Abstand gewinnen von den vielfältigen Eindrücken. Junker und Rusch zeigten ihm die Grabungsstätten.251 Nach Kairo zurückgekehrt fühlte Steindorff sich ausgebrannt, kaum noch aufnahmefähig.252 248 Der Internationale Forschungsrat fasste am 26. Juli 1922 in Brüssel den Beschluss, Ägypten zum Beitritt aufzufordern, vor allem um den geplanten Geographenkongress in Kairo stattfinden lassen zu können. Der Kongress wurde auf Initiative König Fouads einberufen, sollte unter der Leitung der ‚Union Géographique internationale‘ in Übereinstimmung mit deren Statuten stattfinden. Der deutsche Gesandte in Kairo entrüstete sich über die seitens der ägyptischen Regierung am 22. Juni 1922 ergangene Einladung zum Kongress, die nicht mehr gelten sollte. Trotz allen diplomatischen Ringens blieben die Deutschen ausgeschlossen, entgegen dem ursprünglichen Vorhaben Ägyptens. Tatsächlich war der Kongress wenig erfolgreich und schlecht organisiert. Zu Unstimmigkeiten kam es, als der französische Delegierte beantragte, dem fast neunzigjährigen Georg Schweinfurth, dem Gründer der Jubilar-Gesellschaft, eine Grußbotschaft zukommen zu lassen. Über dieses Vorkommnis berichtete auch LB am 26. Juli 1925 dem AA. Brigitte Schröder-Gudehus: Deutsche Wissenschaft, 1966, S. 126–133. 249 ÄMUL Steindorff Archiv, G. Steindorff „Aegypten-Reise 1925“, S. 62. 250 ÄMUL Steindorff Archiv, G. Steindorff „Aegypten-Reise 1925“, S. 66. 251 Greenlees, der Assistent von Reisner, zeigte ihm die neuen Grabungen östlich der Cheopspyramide und das kurz zuvor entdeckte Grab der Snefru (8. April). 252 ÄMUL Steindorff Archiv, G. Steindorff „Aegypten-Reise 1925“, S. 74.
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Doch noch standen weitere Herausforderungen in Form von offiziellen Treffen bevor, ein Teil der Reise, der Steindorff ganz besonderes Unbehagen bereitete. Am 9. April 1925 stattete er der deutschen Gesandtschaft einen ersten Besuch ab, besprach sich mit dem Gesandten Mertens und dem „sehr unterrichteten“ Legationssekretär Schmidt-Rölke.253 Ein weiteres Mittagessen mit dem Gesandten folgte am 15. April; eingeladen waren auch Junker, Holey, ein deutscher Studienrat, das bei Borchardt eingemietete Ehepaar Briem (Vertreter der Siemens-Schuckert Werke) und ein weiteres Ehepaar. Man unterhielt sich anregend, war angetan von der „gewandten“ und „klugen“ Ehefrau des Gesandten. Tage später lud Legationssekretär Schmidt-Rölke Steindorff zum Frühstück und abends ins Shepheard’s Hotel ein.254 Erst am 9. April trafen sich Steindorff und Borchardt. Die beiden Borchardts erschienen gemeinsam mit dem Ehepaar Hölscher im Continental zum Tee. Steindorff hatte nicht unbedingt erwartet, dass sich das Treffen positiv gestalten würde, aber er unterhielt sich mit Borchardt „lange sehr nett und reibungslos“, so dass weiteren Treffen, und zwar auch bei Borchardt privat, nichts mehr im Wege stand.255 Regelmäßig arbeitete Steindorff vormittags im Museum, streifte dann durch die Stadt, ließ sich in der Muski-Straße im Café Groppi zum Tee nieder. Der 11. April aber barg eine Überraschung. Im Hotel wurde Steindorff von Howard Carter erwartet, der ihm Fotos von noch unbekannten Stücken des Tutanckamun Schatzes zeigen wollte. Es waren „ganz unerhörte Sachen“, die Steindorff zu sehen bekam – „der Verstand kann einem stehen bleiben. Das Wunderbarste ist eine Palastlampe aus Alabaster.“256 Auch war es ein Vertrauensbeweis, den Carter seinem deutschen Kollegen entgegen brachte. Ebenso erfreulich war die Zusammenkunft (12. April) mit dem Engländer Lyons, dem früheren Direktor des Survey Departments, der zwischenzeitlich Direktor des Technischen Museums beim Londoner South Kensington Museum geworden war. Von irgendwelchen „Reibungen“ war nichts zu spüren. Eine Freude war auch, dass der respekteinflößende, „sehr feine und kluge“ Monneret de Villard, Professor für Baugeschichte an der Universität Mailand, ihn aufsuchte.257
253 ÄMUL Steindorff Archiv, G. Steindorff „Aegypten-Reise 1925“, S. 75 f. 254 Das Essen war dort bekanntermaßen gut. Man traf dort den jungen Grafen Hubertus Blücher von Wahlstatt (geb. 1902, seit 1931 verheiratet mit Ursula von Siemens), Urenkel des berühmten Feldmarschalls. Laut Steindorffs Informationen verfügte er über großen Landbesitz bei Edfu (3000 Feidan), ließ seine Felder künstlich bewässern. 255 ÄMUL Steindorff Archiv, G. Steindorff „Aegypten-Reise 1925“, S. 75 f. 256 ÄMUL Steindorff Archiv, G. Steindorff „Aegypten-Reise 1925“, S. 78. 257 ÄMUL Steindorff Archiv, G. Steindorff „Aegypten-Reise 1925“, S. 81 f.
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Doch entspannend war diese Vielzahl von Treffen nicht. Ausgleich boten nur das Zusammensein mit dem sehr ortskundigen Meyerhof, der Steindorff ins abendlich-nächtliche Kairo entführte, oder kleinere Ausflüge mit dem Ehepaar Sethe. Doch mehr und mehr fiel Steindorff auch negativ Verändertes auf, etwa die deutliche englische Militärpräsenz auf der Zitadelle.258 Tatsächlich hatten Steindorffs unermüdliche Kontaktierungen besonders nicht-deutscher Kollegen Erfolg, man fasste wieder Vertrauen. Als ein solches war zu werten, dass der englische Ägyptologe Edgar ihm am 16. April im Museum Zutritt gewährte zu dem Raum von Carters Mitarbeiter Callender, der ihm die gerade aus Luxor eingetroffenen Stücke aus dem Tutanckamun Grab zeigte. Steindorff war gerührt von der ihm gegenüber gezeigten Offenheit und Großzügigkeit; er empfand „alle Fachgenossen“ als „ungewöhnlich warmherzig und freundschaftlich, besonders auch Bénédicte“. So bedauerte er, dass das Ehepaar Lythgoe bereits an diesem Tag abreiste. Intensiv arbeitete er mit Borchardt Berichte über Sakkara durch, weil die beiden dort zusammen mit Sethe ab dem 17. April sein wollten. Man blieb nicht nur unter sich, traf sich mehrfach mit dem Steindorff seit Langem bekannten Amerikaner Firth, „Chief-Inspector“ und Leiter der Grabungen, mit dem sich bestens zusammenarbeiten ließ. Später kam noch Monneret de Villard mit einer befreundeten Dame hinzu. Das gemeinsame Arbeiten führte Steindorff und Borchardt wieder zusammen.259 Voll der schönen und aufregenden Erlebnisse traten sie die Heimreise an, genossen den Anblick der im Dämmerlicht mit ihren Tieren heimkehrenden Bauern.260 Das neu entstandene Gemeinschaftsgefühl veranlasste Steindorff wohl auch, auf Borchardts Vorschläge bezüglich Antikenankauf einzugehen und seiner Einladung zum Vortrag von Firth im DAI zu folgen.261 Es verging kein Tag mehr, an dem man sich nicht traf, mal zusammen mit Sethe, mal mit Meyerhof oder alle gemeinsam. Überhaupt war vor allem Meyerhof 258 ÄMUL Steindorff Archiv, G. Steindorff „Aegypten-Reise 1925“, S. 85. 259 Sehr berührte Steindorff das unverhoffte Wiedersehen mit Kereim Hamdân, ein früherer Vorarbeiter bei der Mastabagrabung in Giza. Seinerzeit war er, wie Steindorff meinte „unschuldig“, zu Gefängnis verurteilt worden, weil er angeblich einen Soldaten verprügelt hatte. ÄMUL Steindorff Archiv, G. Steindorff „Aegypten-Reise 1925“, S. 89. 260 ÄMUL Sammlung Archiv, G. Steindorff „Aegypten-Reise 1925“, S. 92. 261 Am 18. April besuchten Steindorff und Heinrich Schäfer den Händler Girgis, um eine dort von LB gesehene lebensgroße Bronzestatue eines römischen Kaisers in Augenschein zu nehmen. Sie fanden ein „unsagbar“ dreckiges Haus vor, das mit „europäischer ‚Eleganz‘ ausstaffiert“ war. Die Statue war eigentlich nur ein Haufen Scherben, die Steindorff wenig beeindruckten und nicht den geforderten Preis von 2000 LE für wert hielt. Anschließend begleitete Steindorff Schäfer in dessen Wohnung in der Fahmi Straße bei den Borromäerinnen, in deren Haus sich auch deren deutsche Schule befand.
3.2 Ägyptologen vor Ort – Steindorffs Erkundungsreise, 1925
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ständig präsent, half aus, sorgte für Führungen, Mahlzeiten im deutschen Restaurant Flasch oder landestypische abendliche Unterhaltung.262 Abwechslung bot auch der von Borchardts Assistent Rusch initiierte, teils abenteuerliche Ausflug ins ober-ägyptische Mellawi, wo seit vier Jahren der syrische Arzt Nadîm praktizierte; er hatte in Deutschland studiert, sprach fließend Deutsch und hatte eine deutsch-schweizerische Krankenschwester angestellt.263 Nochmals begab Steindorff sich am 24. April nach Luxor, übernachtete wiederum im Winter Palace Hotel, traf sich erneut mit ihm bekannten Antikenhändlern.264 Auf der Rückreise führte er anregende Gespräche mit mitreisenden Engländern. In Kairo machte er sich sogleich auf den Weg zu Borchardt, besuchte anschließend den ehemaligen englischen Offizier Creswell, der als der beste Kenner islamischer Baukunst in Ägypten galt, besprach sich mit Leo Pfahl, ließ sich von Simaika koptische Kirchen und das von ihm 1910 gegründete koptische Museum zeigen, besuchte zusammen mit seinem früheren Schüler Ambrose Lansing (1891–1959),265 dessen Mutter und Ehefrau Farnall, den früheren Vertreter bei der „Caisse de la Dette Publique“, der an der Pyramidenstraße ein ansehnliches Anwesen besaß. Dort eingeladen war auch der britische Ägyptologe Quibell, der die Gruppe ins Expeditionshaus nach Lischt begleitete; Steindorff fand es seit seinem letzten Besuch, 1914, unverändert vor. In Kairo waren zwischenzeitlich etliche, mit der „Peer Gynt“ angereiste Deutsche eingetroffen, darunter das Steindorff bekannte Berliner Ehepaar Pohmer. Weitere offizielle Besuche waren abzustatten, so am 29. April beim „Survey Department“ zwecks Klärung diverser Fragen mit dem „Surveyor General“, im
262 Am 19. April führte Meyerhof in das „Théatre de Mille et une Nuits“ in der Nähe der Ataba, wo die Sängerin Tauhida – laut Steindorff nach wie vor die beste „arabische“ Sängerin Ä gyptens – eine Vorstellung gab. Enttäuschend fand er ihr Äußeres, aus der einst sehr schönen Frau sei ein „dicker Fettklumpen“ geworden. Die begleitende Musikkapelle war eher eine Belustigung, die anschließend auftretende Tänzerin ein Ärgernis. ÄMUL Steindorff Archiv, G. Steindorff „Aegypten-Reise 1925“, S. 95. 263 Auf der Rückfahrt von Derwa unterrichtete sie der Chauffeur, dass er wegen möglicher räuberischer Übergriffe die Autofahrt beschleunigen müsse; man erreichte das Haus des Arztes Nadîm unbeschadet. Obwohl Steindorff mitgenommen war, war er froh, nicht nur das PetosirisGrab gesehen, sondern auch ein „Stück Leben in Mittelaegypten“ erlebt zu haben. ÄMUL NL Steindorff, G. Steindorff „Aegyten-Reise 1925“, S. 102. 264 Moharreb und Sohn Zekki, Muhammed Muhassib. 265 Amerikanischer Ägyptologe, geboren in Kairo, studierte in Washington, 1912–14 in Leipzig bei Steindorff, ab 1911 tätig am Metropolitan Museum of Art New York. Who-was-Who, 2012, S. 308 f. Lansing hatte laut Steindorff an Gewicht zugelegt, trug einen Schnurrbart. Sehr sympathisch war ihm dessen gutaussehende amerikanische Ehefrau.
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Französischen Institut bzw. dessen umfangreicher Bibliothek bei Abbé St.PaulGirard. Zum Tee bei Creswell ließ Steindorff sich von dem Frankfurter Orientalisten Josef Horovitz (1874–1931)266 und dessen Ehefrau begleiten, die später auch mit Ahmed Lutfi, dem Rektor der Kairener Universität, zusammentrafen. Die letzten Tage seiner Reise verbrachte Steindorff überwiegend mit Einkäufen, Treffen mit Meyerhof (täglich), Hölscher und Borchardt, kleineren Arbeiten im Museum, kurzen Besichtigungstouren, Aufsuchen von Grabungsstätten und Antikenhändlern.267 Am 5. Mai reiste Steindorff von Kairo ab, wurde in Alexandria von Meyerhofs österreichischem Kollegen Osborne in Empfang genommen, ins Claridge’s Hotel und zum Abendessen ausgeführt. Später diskutierte er mit diesem in dessen Haus in dem östlich der Stadt gelegenen Villenvorort Carlton über den Baedeker, machte nicht nur Bekanntschaft von Osbornes Ehefrau, sondern traf auch Frau von Dumreicher, Witwe des 1924 in Kairo verstorbenen Rechtsanwalts André von Dumreicher268 an. Später (7. Mai) war er nochmals bei Osborne zu Gast, zeitgleich mit von Bülow, den er zuletzt in Basel getroffen hatte. Einen überaus freundlichen Empfang bereitete ihm am 6. Mai der ihm schon seit Langem bekannte italienische Archäologe und Museumsdirektor Evaristo Breccia (1876–1967).269
266 Sohn des Frankfurter Rabbiners Markus Horovitz (1844–1910), studierte ab 1892 in Berlin u. a. bei Eduard Sachau, ab 1902 Dozent Universität Berlin, Reisen in den Nahen Osten (u. a. nach Ägypten, wo er zu Besuch bei LB und MB war). 1907 Heirat Laura Schleier und Beginn Unterrichtstätigkeit am Anglo-Oriental College in Aligarh (Indien), 1915–1930 Professor für Semitische Sprachen an der Universität Frankfurt/Main am von Jakob Schiff gestifteten Lehrstuhl, parallel dazu Vorlesung an der Hebräischen Universität Jerusalem. Während des Ersten Weltkriegs war er in Indien in englischer Kriegsgefangenschaft. Gudrun Jäger: Orientalistik, 2004, S. 80–83; Ludmila Hanisch: Die Nachfolger, 2003, S. 79. 267 1. Mai: Besuch bei Lehnert&Landrock in der Sharia Maghraby, um Fotos auszusuchen, im Gasthof Flasch mit Hölschers als Gast von Meyerhof, Besuch von Borchardt, nochmals in den Gasthof Flasch, nachmittags zu LB. 2. Mai: Frühstück mit Dunham, Arbeit im Museum, Besichtigung der Grabungen in Foustat zusammen mit Hoteldirektor Landauer und Generalinspektor Wendler (geführt von Hassan Bey Raschîd, Konservator des arabischen Museums) und Konservator Hassan Effendi, abends Meyerhof. 3. Mai: u. a. bei Rowe im Reisner’schen Grabungshaus in Giza, Abendessen mit Meyerhof zusammen mit Leo Pfahl. 4. Mai: Moscheebesuche, Abschiedsbesuche bei Munari und Bolland von der Sudan Agency, Kauf von Teppichen bei Meyerhof, Besuch bei LB. 5. Mai: Bankgeschäfte, Besuch beim Gesandten Mertens, Abreise von Kairo nach Alexandria (verabschiedet von Meyerhof und Pfahl). 268 Bis 1910 Leiter des ägyptischen Kamel-Corps, ging 1916 nach England, um der Internierung in Ägypten zu entgehen. 269 Ab 1903 in Ägypten, Grabungen u. a. in Giza, 1904–1931 Nachfolger von Botti als Direktor des griechisch-römischen Museums in Alexandria, danach weitere Grabungstätigkeiten, 1939–1941 Rektor der Universität Pisa. Who-was-Who, 2012, S. 79.
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Steindorffs Abreise war für den 8. Mai geplant. An diesem Tag wanderte er nochmals durch die Stadt, besuchte Konsul Graf Podewils in seinem Haus und ließ sich anschließend von dem „Konsulats Kawassen“ zum Hafen bringen. An Bord der „Vienna“ traf er Hölschers und Winlock, in denen er ideale Reisegefährten fand, mit denen sich „prächtig“ diskutieren und plaudern ließ.270 Am 11. Mai 1925 legte die „Vienna“ in Venedig an, Steindorffs erste Nachkriegs-Ägyptenreise war zu Ende. Die Reise war fast durchweg ein Erfolg, schmeichelte Steindorffs Eitelkeit, bestätigte aber vor allem, dass ein solches Unternehmen mehr leisten konnte bezüglich der erneuten Anbindung an die internationale Ägyptologenschaft bzw. Wissenschaftswelt als manch‘ umfangreiche Korrespondenz. In Zusammenarbeit mit Borchardt leistete Steindorff einen großen Schritt in diese Richtung. Offene Feindlichkeit oder Abwehr schlugen ihm nicht entgegen, allenthalben wurde er freundlich aufgenommen und in aktuelle Arbeiten integriert. Deutlichste Annäherung fand an die amerikanische Ägyptologenschaft statt, gefolgt von der englischen. Die leitenden französischen Ägyptologen bekam Steindorff eigentlich nicht zu Gesicht oder wollte sich nicht mit ihnen treffen. Trotz aller Freundlichkeiten blieb doch deutlich, dass nach wie vor Ressentiments oder zumindest vorsichtige Zurückhaltung bestanden, die Steindorff nur teilweise abbauen konnte. Auf das zeitgenössische Ägypten ließ er sich allenfalls in Gestalt von ihm seit Langem bekannten Antikenhändlern ein, blieb ansonsten Zuschauer. Politisches nahm er entweder nicht wahr oder verbot sich jedes Urteil. Er blieb auf beobachtender Distanz, womit er auch innerhalb der Ägyptologenschaft nicht allein stand. Frappierend ist, wie sehr sich vor allem Wissenschaftler bzw. Forscher unterschiedlicher Nationen und Fachrichtungen ein Stelldichein in Ägypten gaben, welche Vielzahl verschiedener Vorhaben existierte. Auch insofern leistete die Steindorff’sche Reise Wichtiges, weil er Informationen erhielt, die ihm in Deutschland unzugänglich gewesen wären. Nicht zuletzt trat Steindorff als Vertreter der deutschen Wissenschaftswelt auf, als Repräsentant, der Kooperationsbereitschaft und -fähigkeit bewies, eine vermittelnde Instanz darstellte, was auch für die deutsche Gesandtschaft von Bedeutung war. Weshalb Steindorff sich über einen längeren Zeitraum der Anfangsphase von Ludwig Borchardt fern hielt, lässt sich nur mutmaßen. Wesentlicher Grund dürften die Zerwürfnisse gewesen sein, die aus Borchardts Vorkriegstätigkeit als Direktor des DAI entstanden waren, eine Position, die er einschließlich der
270 ÄMUL Steindorff Archiv, G. Steindorff „Aegypten-Reise 1925“, S. 125.
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tablierung des Instituts gegen Widerstände der kontrollierenden WörterbuchE kommission um Erman durchgesetzt und sich dabei oftmals über deren Weisungen hinweggesetzt hatte.271 Die Deutschlandjahre, 1914–1923, führten wohl nicht zur Entspannung. Dies lediglich auf die kontrovers geführten Diskussionen über das Für und Wider eines Deutschen Archäologischen Instituts in Ägypten zurückzuführen, wäre zu kurz gegriffen. Bezüglich Eigensinnigkeit und Sturheit standen Steindorff und Borchardt sich in nichts nach. Dissonanzen entwickelten sich sicherlich auch aufgrund unterschiedlicher politischen Haltungen. Wie beschrieben gehörte Borchardt zu den dauerhaft Kriegsbegeisterten und die Weimarer Republik Ablehnenden. Diametral entgegengesetzt war Steindorffs politische Haltung zwar nicht, aber in wichtigen Details unterschiedlich, beispielsweise indem er der Monarchie keineswegs nachtrauerte. Zu bedenken gilt, dass Steindorff sich schon allein infolge seiner Eheschließung in einem anderen sozialen Umfeld bewegte. Zwar war er seit seiner Studentenzeit zum Protestantismus konvertiert – ein Schritt, den Borchardt erklärtermaßen ablehnte -, doch war seine Ehefrau Elise eine Tochter des Berliner Rabbiners Julius Oppenheimer. Schwager Franz Oppenheimer, mit dem Steindorff eine enge Beziehung pflegte, war einer der maßgeblichsten Zionisten Europas. Steindorff teilte dies wohl nicht, war aber auch nicht gänzlich ablehnend, wie etwa das Ehepaar Borchardt. Am 16. Januar 1919 schrieb er an Franz Oppenheimer, er sei „deutschdemokratisch“ gesinnt und sicher kein „kommunistischer Monarchist“, als welchen er seinen Schwager betrachtete. Deshalb sei es vernünftiger, sich nicht weiter über Politik zu unterhalten.272 Im Gegensatz zu Steindorff waren Borchardt und seine Ehefrau deutschnational. In Ägypten dominierten die alten freundschaftlichen Bande zwischen Borchardt und Steindorff, vielleicht auch, weil Steindorff Borchardts unermüdliches Engagement zugunsten der deutschen Ägyptologie in einem andern Licht zu sehen begann. Denn dass trotz aller Zuvorkommenheit seitens nicht-deutscher Ägyptologen, Orientalisten oder Koptologen dennoch Vorbehalte gegenüber den deutschen bestanden – am ehesten von französischer Seite -, konnte Steindorff nicht ignorieren. Umso höher waren Borchardts Arbeiten, sein Engagement, seine Kämpfe und sein Durchhaltevermögen zu schätzen, trotz vor allem zu Beginn widriger Bedingungen.
271 vgl. dazu ausführlich Susanne Voss: Die Geschichte, 2013. 272 CZA Abt. A 161 Nr. 72, S. 3 f, zitiert nach Klaus Lichtblau: Chronik Franz Oppenheimer (30. März 1864–30. Sept. 1943), S. 70. (fb03.uni-frankfurt.de).
4 Die Zäsur – 1933 und die Folgen Die Ausweisung der Deutschen aus Ägypten, 1914, bewirkte nicht das völlige Auseinanderbrechen der ‚ägypten-deutschen Kolonie‘, sondern förderte einen engen Zusammenhalt mit der Zielsetzung, die Rückkehr nach Ägypten sowie Schadensersatz für beschlagnahmtes Gut und verlorene Vermögenswerte zu erreichen. Als sich etliche der ehemaligen Mitglieder der ‚deutschen Kolonie‘ gemeinsam mit neuen deutschen Migranten ab 1923 erneut in Ägypten niederließen, hatte der Aufbau der ‚Kolonie‘ enorme Bedeutung, wenngleich diese wohl nicht mehr so homogen war wie bis 1914. Möglicherweise standen bei den NeuMigranten wirtschaftliche Interessen mehr im Vordergrund als Ägyptenbegeisterung. Als erniedrigend wurde empfunden, dass Deutsche in Ägypten offiziell nicht mehr der Konsulargerichtsbarkeit unterstanden und lange Jahre um die Rückgabe der Gemeindeimmobilien kämpfen mussten, was auch innerhalb der ‚Kolonie‘ zu erheblichen Verwerfungen führte. Ebenso wie das Ehepaar Borchardt waren die meisten Ägyptendeutschen politisch konservativ ausgerichtet, meist Anhänger von „Rechtsparteien“, wie Botschafter Mertens am 13. August 1926 dem Auswärtigen Amt darlegte und damit begründete, weshalb die Beteiligung an der Feier zum Verfassungstag (11. August) mehr als mäßig ausgefallen war.1 Dies bedeutete nicht, dass sie zum Nationalsozialismus tendierten. Allerdings hatte Alfred Hess, Bruder von Rudolf Hess und Mitglied einer in Ägypten alteingesessenen Kaufmannsfamilie, schon 1926 in Kairo eine Ortsgruppe der Nationalsozialisten gegründet, die aber zunächst nicht allzu viel von sich reden machte. Dies sollte sich nach Januar 1933 rasch ändern. Bevor er sich der Parteiarbeit verschrieb, später auch den NSDAP Landesverband gründete, betrieb Hess in Kairo ein Lampengeschäft. Die Machtübergabe an die Nationalsozialisten im Januar 1933 polarisierte die ‚deutsche Kolonie‘ in Ägypten, führte zur Ausgrenzung etlicher ihrer Mitglieder, zu Misstrauen, Hass und Missgunst, schließlich zum Auseinanderbrechen der jahrelang bewährten sozialen Strukturen.
1 Hinderungsgrund war auch die Mitte August in den frühen Abendstunden herrschende Hitze, als Mertens die Feier eröffnete. Anstelle der 80 erwarteten deutschen Gäste erschienen nur 20. Die Feier in Alexandria war mit 55 Anwesenden besser besucht, laut Bericht von Konsulatsvertreter Quiring vom 12. August 1926. Die Alexandriner ‚deutsche Kolonie‘ umfasste etwa 150 Personen. Feiern fanden in Port Said (Bericht Konsul Pauling, 13. August 1926) und Suez (Bericht Konsul Meinecke, 13. August 1926) nicht statt, weil dort nur wenige Deutsche lebten. In Suez waren sämtliche Deutsche Angestellte der Firma Philipp Holzmann. PA AA R 77735. DOI 10.1515/9783110526127-005
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4.1 Nationalsozialismus am Nil Die Entwicklungen im nationalsozialistischen Deutschland wurden in Ägypten nicht nur mit großem Interesse verfolgt, sondern auch als Orientierung verstanden, als ein politisches Konzept eines omnipräsenten Staates, des Mythos Nation, des Rassegedankens und der Verherrlichung von Macht.2 Entsprechende Verlautbarungen in der ägyptischen Presse waren keine Seltenheit. So revanchierte sich ein ägyptischer Journalist, der im Sommer 1933 von Hitler empfangen worden war, mit einer Artikelserie, die dazu beitragen sollte, „das Misstrauen, das von jüdischer Seite zwischen Ägypten und Deutschland zu säen versucht worden war, wieder zu zerstreuen“. In der 1934 in Kairo erschienenen Hitler-Biografie wurde die Beherrschung Deutschlands durch die Juden, gegen die es nur das Mittel der Vernichtung gebe, geschildert.3 Der Korrespondent der Zeitung al-Balagh verfasste in Berlin Artikel für das ägyptische Publikum, die voller Bewunderung waren für die Errungenschaften der Nationalsozialisten. Ähnliches war von dem Journalisten Muhammad Husayn Haykal, der für Al-Hilal schrieb, zu lesen.4 Die aus Sicht der Ägypter bemerkenswerten Veränderungen in Deutschland schrieben sie auch den neuen Organisationsformen zu, denen sie Beispielcharakter zuwiesen.5 Die in Ägypten zu beobachtende Begeisterung für Nazi-Deutschland hatte mehrfache Ursachen. Ein gewachsenes, die Mehrheit der Bevölkerung betreffendes Demokratieverständnis hatte sich in Ägypten nicht entwickeln können, obwohl es seit 1922 eine konstitutionelle Monarchie war, die de facto aber weitgehend von England gesteuert und kontrolliert wurde.6 Als dauerhaft destabilisierend erwies sich der König, dem laut Verfassung umfassende Rechte zustanden, was König Fouad und sein Nachfolger Faruk (ab 1936) zu ihren Gunsten auszunutzen verstanden.7 König Fouad kooperierte, je nach politischer Situation, mal
2 Vgl. P.J. Vatikiotis: Modern History, 1969; N. Safran: Egypt, 1961; M. Khadduri: Political Trends, 1972. 3 1937 trat ein hoher ägyptischer Polizeioffizier als „Lobredner der deutschen Polizei“ auf, nach deren Vorbild er die ägyptische organisieren wollte. Klaus-Michael Mallmann/Martin Cüppers: Halbmond, 2006, S. 44 f. 4 Ami Ayalon: Egyptian Intellectuals, 1988, S. 393. 5 Ami Ayalon: Egyptian Intellectuals, 1988, S. 394. 6 Am 28. Februar 1922 verkündete der britische Hochkommissar Edmund Allenby die „Declaration to Egypt“. 7 Der König ernannte den Premierminister, den Präsidenten des Senats und die Hälfte der Senatoren. Er hatte das Recht, das Kabinett abzuberufen und das Parlament aufzulösen. Von diesen Rechten machte vor allem König Fouad mehrfach Gebrauch und sorgte auf diese Weise für permanente politische Instabilität.
4.1 Nationalsozialismus am Nil
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mit den Engländern, mal mit der Wafd Partei. Nach dem Rücktritt der Regierung Sa’ad Zaghloul, 1924, betrieben die nachfolgenden eine zunehmend „palastnahe“ Politik,8 was deutschen Interessen entgegen kam, weil Fouad und Faruk als sehr deutschfreundlich galten, sich später sogar mehrfach in Deutschland mit Adolf Hitler trafen.9 Der Gegensatz zwischen den Nationalisten und dem König blieb der wichtigste politische Faktor im Ägypten der Zwischenkriegszeit.10 Der liberale Nationalismus ägyptischer Prägung vermochte nicht, die britischen Truppen zu vertreiben und den Sudan zu befreien. Die regierende nationalistische Wafd Partei repräsentierte keineswegs die Mehrheit der Ägypter, sondern die Minderheit der neu entstandenen städtischen Elite.11 Die sich nach wie vor als fremdbestimmt verstehende städtische und ländliche12 Bevölkerungsmehrheit begegnete dem mit Protestkundgebungen. In diesem Kontext erschien der Nationalsozialismus „as a model for an effective and powerful regime und for a political orientation which might counteract British (and French) supremacy in the region“.13 Die in den späten 1920er Jahren in Ägypten einsetzenden Bevölkerungsunruhen resultierten außerdem aus dem zwischen den Weltkriegen sich abzeichnenden sukzessiven wirtschaftlichen Niedergang, Folge hauptsächlich des rapiden Preisverfalls für Baumwolle,14 dem Hauptexportartikel Ägyptens.15 Da die ägyptische Landwirtschaft fast ausschließlich auf Baumwollanbau ausgerichtet war, war sie überaus krisenanfällig. Infolge der sie bestimmenden feudalen Besitzverhältnisse16 entwickelte sich auf dem Land und mehr noch in den Städten eine Arbeiterklasse, die ein erhebliches Konfliktpotential beinhaltete. Arbeitslos gewordene Landarbeiter zogen in die Städte, die ebenfalls nicht ausreichend 8 Israel Gershoni, James P. Jankowski: Redefining, 1995, S. 2 bezeichnen das politische System Ägyptens der 1930er Jahre als „Palace-oriented dictatorship“. 9 1929 besuchte Fouad erstmals Berlin. 1930 erklärte er Emil Ludwig, er hege eine besondere Zuneigung für Deutsche. Albrecht Fueß: Internierung, 1998, S. 337; Mahmoud Kassim: Beziehungen, 2000, S. 269–288. Wolfgang Schwanitz: Deutsche, 1994, S. 75, 78. 10 Albrecht Fueß: Deutsche Gemeinde, 1996, S. 16. 11 Albrecht Fueß: Deutsche Gemeinde, 1996, S. 23. 12 Vgl. Reinhard Schulze: Kolonisierung, 1992, S. 11–54. 13 Shimon Shamir: The Influence, 1975, S. 201. 14 1928/29 und 1931/32 war ein drastischer Preisverfall für ägyptische Baumwolle zu verzeichnen. Das Preisniveau blieb bis Mitte der 1940er Jahre niedrig. 15 Seit den 1880er Jahren war Ägypten vollständig auf den Baumwollanbau konzentriert, was Fremdbestimmung und Abhängigkeit der ägyptischen Wirtschaft konsolidierte. Große Teile des Großgrundbesitzes waren an europäische Kredit- und Hypothekenbanken verpfändet. Camilla Dawletschin-Linder: Neue Wege, 1992, S. 71 f. 16 Der Landbesitz konzentrierte sich seit dem späten 19. Jahrhundert auf wenige Großgrundbesitzer. Infolge der Enteignung vieler bäuerlichen Kleinbesitzer entwickelte sich aus diesen eine Arbeiterklasse. Raouf Abbas Hamed: Arbeiterbewegung, 1992, S. 55.
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Erwerbsmöglichkeiten bieten konnten.17 Das so entstandene „Lumpenproletariat“ zeigte sich offen für Propaganda, die „magic solutions“ versprach und zu Gewaltmaßnahmen aufrief,18 verband ihre Protestkundgebungen mit dem Slogan ‚Ägypten den Ägyptern‘.19 Hinzu kam die stetig anwachsende Gruppe jener, die zwar universitär gebildet, aber dennoch erwerbslos war, da es an entsprechenden Positionen mangelte, weil diese bereits von Ausländern oder Mitgliedern von Minoritätengruppen besetzt waren – insgesamt eine Folge verfehlter britischer Bildungspolitik.20 Neue Erwerbsmöglichkeiten konnten kaum geschaffen werden. Universitäts- und Hochschulabsolventen entwickelten sich in den 1930er Jahren zur gewaltbereitesten Gruppe der ägyptischen Gesellschaft. Studentenunruhen und -proteste waren an der Tagesordnung. Die rasche Bevölkerungszunahme21 und die in den späten 1920er Jahren einsetzende Weltwirtschaftskrise verschärften die Krisensituation. Die Lebenshaltungskosten stiegen drastisch, gleichzeitig sanken die Löhne bei rasch steigender Arbeitslosigkeit. Streiks und Protestkundgebungen, die die gesamten 1930er Jahren durchzogen, wurden von der Polizei blutig niedergeschlagen. Die Krise gab „weitere Impulse dafür, die ausländische ökonomische und politische Beherrschung abzuschütteln“, was auch beinhaltete, dass Nicht-Ägyptern zunehmend abwehrend bis feindlich begegnet wurde.22 Vor diesem Hintergrund erklärt sich die Entstehung etlicher radikaler Bewegungen seit den späten 1920er Jahren. Sie propagierten antiliberale Konzepte, forderten die radikale Umformung der sozialen und politischen Ordnung. Überwiegend waren die Organisationsformen dieser Gruppen paramilitärisch, direkt oder indirekt beeinflusst von den faschistischen Parteien in Europa.23 Zu den einflussreichsten Gruppierungen gehörten die ägyptischen Muslimbrüder, „die Keimzelle des modernen Islamismus“, die um 1937 zu einer Mas-
17 Raouf Abbas Hamed: Arbeiterbewegung, 1992, S. 59. 18 Shimon Shamir: The Influence, 1975, S. 201. 19 In Kairo und Alexandria kam es im Laufe der 1920er Jahre mehrfach zu Streiks, die ab 1924 von Regierungsseite gewaltsam zurückgedrängt wurden. „Die Polizei attackierte die Gewerkschaften und verhaftete ihre Aktivisten.“ Raouf Abbas Hamed: Arbeiterbewegung, 1992, S. 63 f. 20 England schenkte dem Erziehungswesen Ägyptens keine Beachtung, überließ diesen Bereich weitgehend Frankreich. Auch als sich in den 1920er Jahren die Studentenproteste häuften, ignorierte England diesen Bereich bzw. die Hintergründe dieser Unruhen, obwohl sich die Zahl der Studenten merklich und schnell erhöht hatte. In den späten 1930er Jahren übernahm Italien die Rolle Frankreichs und steuerte das Schul- und Universitätswesen maßgeblich. 1930/31 wurden 4247 Studenten gezählt, 1935/36 7515. Haggai Erlich: British Internal, 1992, S. 103. 21 Vgl. Reinhard Schulze: Ägypten, 1990, S. 134–153. 22 Camilla Dawletschin-Linder: Neue Wege, 1992, S. 75. 23 Shimon Shamir: The Influence, 1975, S. 202.
4.1 Nationalsozialismus am Nil
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senorganisation heranwuchsen.24 Gegründet wurden sie 1928 von dem Prediger Hassan al-Banna, einem Freund des Mufti von Jerusalem. Während 1936 erst 800 Mitglieder gezählt werden konnten, waren es 1938 bereits 200.000. „Motor dieses Aufstiegs war die Mobilisierung für den arabischen Aufstand in Palästina, in der die judenfeindlichen Passagen des Koran mit den antisemitischen Kampfformen des Dritten Reiches verwoben wurden und Judenhass seine Umformung in den Djihad erlebte.“25 Boykottkampagnen und gewalttätige Demonstrationen mit den Parolen ‚Juden raus aus Ägypten und Palästina‘ waren die Folge. Als im Oktober 1938 in Kairo eine islamische Parlamentarierkonferenz ‚zur Verteidigung Palästinas‘ stattfand, verteilte man antisemitische Traktate, darunter arabische Versionen von ‚Mein Kampf‘ und der ‚Protokolle der Weisen von Zion‘. Organisiert waren die Muslimbrüder nach dem Führerprinzip, sie verlangten Einheit und Disziplin als die höchsten Qualitäten einer Diktatur sowie kriegerische Stärke und militärische Bereitschaft.26 Ebenfalls vom Nationalsozialismus beeinflusst war die in den frühen 1930er Jahren entstandene „Young Men’s Muslim Association“, die sich offen als Anhänger des Nationalsozialismus zu erkennen gab. Dasselbe hat zu gelten für das „Workers Syndicate“, das von Prinz Abbas Halim, einem Mitglied der Königsfamilie, gegründet wurde.27 Sogar die Wafd Partei bzw. ihr studentischer Ableger gründete 1935 eine am Nationalsozialismus orientierte Gruppe – die Blauhemden. Der Gründer dieser Bewegung, der Medizinstudent Mohamed Bilal, bekannte, wesentlich von den faschistischen Parteien in Deutschland und Italien inspiriert worden zu sein. Er organisierte die Blauhemden als paramilitärische ‚Geschwader‘. Als diese 1938 aufgelöst wurden, zählten sie mehrere tausend Mitglieder, die in den Jahren zuvor durch zahlreiche gewalttätige Auseinandersetzungen und Straßenkämpfe aufgefallen waren.28 Am engsten mit den Nationalsozialisten verbunden war die Bewegung „Junges Ägypten“ (offiziell 1933 gegründet von dem Journalisten Ahmad Hussain), die zunächst eine ultranationalistische Jugend-, Studenten- und Arbeiterpartei war. Die aktiven Mitglieder der Gruppe nannten sich ‚Kämpfer‘ (mujahids) und trugen grüne Hemden; man orientierte sich an europäischen Vorbildern, wie Faschistengruß, Uniformierung, Fackelzüge, Führerkult und die Neigung zu Straßenkämpfen erkennen ließen. Unterstützt wurde die Gruppe vom Königshaus und von anti-Wafd Kreisen. Aufgrund ihrer gewalttätigen Taktik vermochten die 24 Klaus-Michael Mallmann/Martin Cüppers: Halbmond, 2006, S. 44 f 25 Klaus-Michael Mallmann/Martin Cüppers: Halbmond, 2006, S. 45. 26 Shimon Shamir: The Influence, 1975, S. 202. 27 Shimon Shamir: The Influence, 1975, S. 203. 28 Shimon Shamir: The Influence, 1975, S. 203.
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‚Grünhemden‘ etliche ihre politischen Gegner einzuschüchtern. Im März 1938 wurde die Gruppe ebenso aufgelöst wie jene der ‚Blauhemden‘.29 Bemerkenswert ist das deutliche Bekenntnis Ahmad Hussains zum Nationalsozialismus, nicht hingegen zum faschistischen Italien. Im Stil der Nationalsozialisten wollte das „Junge Ägypten“ mit ‚Eisen und Schwert kämpfen‘.30 Im Juni 1934 besuchte Hussain den deutschen Botschafter Eberhard von Stohrer, um seine Sympathie für das ‚neue‘ Deutschland zu bekunden. 1936 sandten die Grünhemden eine Delegation zum Nürnberger Reichsparteitag,31 im Mai/ Juni 1938 besuchte Hassain Deutschland und war vollends begeistert von dem dortigen Geschehen, besonders von Adolf Hitler, dessen ‚Führerprinzip‘ ihm als Vorbild galt. Der Antisemitismus des ‚Jungen Ägypten‘ war mit jenem der Nationalsozialisten deckungsgleich. Er äußerte sich im Boykott von und Gewalttätigkeit gegenüber Juden. Gleichzeitig wurden die Araber in Palästina in ihren Kämpfen gegen Juden und den Zionismus unterstützt.32 Laut Hussain waren die Juden die Ursache des religiösen und moralischen Verfalls.33 Die Begeisterung des „Jungen Ägypten“ flachte seit der deutschen Okkupation der Tschechoslowakei im September 1938 ab, da dies ähnliche Vorgehensweisen gegenüber andern, wenig mächtigen Staaten befürchten ließ und deshalb verurteilt wurde.34 Von deutscher Seite wurde der Bewegung kein allzu großes Interesse geschenkt, Kontaktaufnahme war nicht angestrebt. Die beiden Besuche Hassains in Deutschland wurden so gut wie nicht beachtet. Direkte Kontakte zwischen Deutschland und dem „Jungen Ägypten“ bestanden demnach nicht, indirekte aber sehr wohl. Die pro-deutsch gesinnten ägyptischen Politiker, die sich vor allem um den König und Premierminister Ali Maher (1939–40) sammelten, arbeiteten eng mit Ahmad Hassain zusammen und unterstützten die Bewegung finanziell. Ägyptische Offiziere, die einen Spionagering zwecks Unterstützung Deutschlands gegründet hatten, wurden von General Aziz Ali al-Misri, einem engen Mitarbeiter Ahmad Hussains, geleitet. Etliche Offiziere waren dem „Jungen Ägypten“ verbunden.35 Die wesentlichste Verbindung zwischen dieser Bewegung und Deutschland war die ideologische.
29 Shimon Shamir: The Influence, 1975, S. 203 f. 30 Ami Ayalon: Egyptian Intellectuals, 1988, S. 394. 31 Klaus-Michael Mallmann/Martin Cüppers: Halbmond, 2006, S. 45. 32 Shimon Shamir: The Influence, 1975, S. 207. 33 Klaus-Michael Mallmann/Martin Cüppers: Halbmond, 2006, S. 46. 34 Shimon Shamir: The Influence, 1975, S. 204. 35 Mitglied des militärischen Spionagerings war u. a. Anwar al-Sadat. Shimon Shamir: The Influence, 1975, S. 207.
4.2 Ägyptendeutsche unterm Hakenkreuz
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Festzuhalten ist, dass sich sogar etliche ägyptische Intellektuelle von der aus ihrer Sicht erfolgreichen Politik der Faschisten und Nationalsozialisten fasziniert zeigten, Diktatur als einen Ersatz für Demokratie ansahen. Von Mitte der 1930er Jahre an wurde eine breite öffentliche Debatte geführt über die Vor- und Nachteile der politischen Systeme in Deutschland und Italien einerseits, Frankreich und England andererseits, wobei die Bedenken bezüglich eines demokratischen Systems zunahmen und Diktatur als eine Brücke zwischen Monarchie und Republik in Erwägung gezogen wurde.36 Verstärkte Unruhen tauchten von Mitte der 1930er Jahre in Ägypten auf, ausgelöst von der Invasion Italiens in Äthiopien (1935–36). Folge davon waren antiimperialistische Protestkundgebungen in Ägypten und Syrien im Winter 1935–36. Mit dem Generalstreik in Palästina und Revolten gegen das britische Mandat sowie das „Jewish National Home“ traten die Proteste im Frühjahr 1936 in eine neue, weit intensivere Phase.37 Von den Wahlen vom Mai 1936 bis Ende 1937 waren die Wafd Ministerien unter Mustafa al-Nahas an der Macht. König Faruk entließ Nahas am 30. Dezember 1937. Bis August 1939 war der Liberal-Sa’dist Muhammed Mahmud sein Nachfolger. Dieser sah sich mit erheblichen parteiinternen Konflikten konfrontiert, musste mehrfach das Kabinett personell umgestalten. Weder Nahas noch Mahmud hatten die Zeit und die Durchsetzungskraft, die Politik grundsätzlich umzugestalten, was wesentlich mit der Position des Königs zusammenhing, der im August 1939 schließlich seinen engsten Berater Ali Mahir als Premierminister durchzusetzen verstand.38
4.2 Ägyptendeutsche unterm Hakenkreuz Noch Wochen nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten schien innerhalb der ‚deutschen Kolonie‘ in Kairo wenig verändert. In verbindlich-freundlichem Ton richtete Ludwig Borchardt ein Schreiben an Eberhard von Stohrer, den er seit einigen Jahren nicht nur kannte, sondern mit dem er auch in diversen Zusammenhängen eng zusammengearbeitet hatte. Anlass war, dass Borchardt vom Enkel Richard Lepsius‘, der den Namen seines Großvaters trug, besucht worden war und deshalb bat, von Herrn von Reichert darüber einen Zeitungsartikel verfassen zu lassen. Für weitere Hinweise stünden er und seine Bibliothek jederzeit zur Verfügung. Wie üblich grüßte Borchardt am Ende des Briefes „von Haus zu Haus“.39 36 Ami Ayalon: Egyptian Intellectuals, 1988, S. 394 f. 37 James Jankowski: Egyptian Regional Policy, 1992, S. 82. 38 James Jankowski: Egyptian Regional Policy, 1992, S. 83 f. 39 Kairo, 30. März 1933. PA AA Gesandte Kairo, von Stohrer, 1927–1933.
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Äußerlich deutete nichts darauf hin, dass von Stohrer oder die deutsche Gesandtschaft, die Borchardt jahrelang als einen der wichtigsten Exponenten deutscher Kultur dargestellt hatten, ihre Beziehung zu ihm nach Januar 1933 unmittelbar abbrachen. Auch hielt von Stohrer weiter Kontakt zu dem damals noch in Jerusalem lebenden Historiker Hans Kohn,40 der ihn anlässlich seiner Ägyptenaufenthalte regelmäßig aufsuchte, und dem in Haifa lebenden Karl Loewy.41 Diesem gegenüber betonte er noch am 5. Juli 1932, mit ihm im Gedanken einer „überstaatlichen Lösung und internationalen Zusammenarbeit großen Stils“ übereinzustimmen, eine Überlegung, die von den „Staatsmännern“ bisher nicht aufgegriffen und die von Ludwig Bauer in seinem Buch „Morgen wieder Krieg“42 überzeugend dargelegt worden sei.43 Von Deutschland und auch Europa war der deutsche Gesandte räumlich so weit entfernt, dass er die politische Lage kaum einzuschätzen wusste. Ihn zog es immer weniger nach Deutschland, auch die Sommermonate verbrachte er lieber in Ägypten, genoss das Meer in Alexandria und Ausflüge in die Wüste. Allenfalls Besuche bei Loewy in Palästina zog er in Erwägung.44 Den in Deutschland sich vollziehenden politischen Wandel beobachtete er wenig begeistert, wie er am 5. Dezember 1932 seinem früheren Kollegen Landscho auseinandersetzte, beurteilte die Lage aber im Januar 1933 weit optimistischer.45 40 Kohn war Zionist, lieferte in den 1920er Jahren regelmäßig Berichte aus Palästina. Gudrun Krämer: Political Participation, 1987, S. 79. 41 Hans Kohn (1891–1971) aus Prag, während des Ersten Weltkriegs fünf Jahre in Russland interniert, danach wohnhaft in Paris und London, dort tätig für zionistische Organisationen, 1925 Migration nach Palästina, 1934 in die USA. Stohrer an Kohn, 13. Februar 1933. PA AA Gesandte Kairo, von Stohrer, 1927–1933. 42 „Morgen wieder Krieg“, erschienen 1931 bei Rowohlt. Kurt Tucholsky schrieb 1931 eine begeisterte Rezension. Kurt Tucholsky-Kritiken und Rezensionen-1931-Auf dem Nachttisch (www. textlog.de). Empfohlen wurde Bauers Abhandlung auch von Albert Einstein in seinem Buch „The World as I see it“. Ludwig Bauer (geb. 1878 Wien), österreichisch-schweizerischer Journalist, Schriftsteller und Pazifist. 43 Insgesamt fand von Stohrer Bauers Buch „widerwärtig“, vermutlich weil dieser überzeugend vor der Gefahr eines neuen Weltkriegs warnte. Loewy bedankte sich für die von Stohrer zugesandte Broschüre, auch für die Unterstützung seiner Arbeit insgesamt. Beide befürworteten die „Hegemonie der weißen Rasse“, allerdings weniger aus materiellen als aus ideellen Gründen. Laut Loewy kamen solche Anregungen „endlich auch von englischer Seite“. 44 Karl Loewy (gest. 1959), verheiratet mit der aus Breslau stammenden Judith Lichtenstein (1896–1976, verheiratet in erster Ehe mit Alfred Mann (1889–1937), Direktor der Breslauer Volkshochschule. Kinder dieser Ehe: Ilse, Bettina (1921–1997), Walther (1924–1988). Bettina lebte in England, verheiratet mit Michael Evans. Walther Mann migrierte 1939 nach Schweden, heiratete Ylva, Kinder: Ulf, Maria). PA AA Gesandte Kairo, von Stohrer, 1927–1933. 45 Kairo, 5. Dezember 1932. Stohrer an (Generaldirektor) B. Lewin in Madrid, 11. Januar 1933. Auch Lewin und sein Bruder glaubten Grund zu Optimismus zu haben. PA AA Gesandte Kairo, von Stohrer, 1927–1933.
4.2 Ägyptendeutsche unterm Hakenkreuz
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Allzu sehr beschäftigte ihn dies allerdings nicht. Weit mehr interessierten ihn seine Arbeiten in Ägypten, im Februar und März 1933 sollten zwei Kongresse stattfinden, ein Königsbesuch, das Anlaufen eines deutschen Kreuzers, ein deutschösterreichisches Operngastspiel und das Drehen eines deutschen Ufa-Films mit 50 deutschen Schauspielern. Auf dem Laufenden gehalten wurde von Stohrer hauptsächlich von dem amerikanischen Journalisten und Kriegsberichterstatter Karl Henry von Wiegand (1874–1961),46 der ihm von der zunehmend beunruhigenden Lage in Deutschland und politischen Entwicklungen berichtete.47 Mehr von Interesse waren für von Stohrer jedoch ägyptische Belange, etwa dass Ismail Sidky Pasha – aus Sicht von Wiegands „ein kleiner Mussolini Ägyptens“ – Verhandlungen mit England aufgenommen und sich die Wafd Partei, der von Stohrer keine sonderlichen Sympathien entgegen brachte, gespalten hatte.48 Von Ägypten abberufen werden wollte 46 Wiegand an Stohrer, (Berlin) 3. November 1932. PA AA Gesandte Kairo, von Stohrer, 1927–1933. Wiegand arbeitete 1911–1917 für United Press, ab 1917 für Hearst Newspapers, führte 1921 ein Interview mit Hitler und bezeichnete ihn als „Mann, der es ernst meint“. Er arbeitete mit Grace Drummond-Hay zusammen. Beide wurden im Zweiten Weltkrieg von den Japanern auf den Philippinen interniert. 47 Wiegand an Stohrer, 4. Juli 1932. Wiegand hielt nichts von dem „Gerede, dass wenn Hitler an die Macht kommt, er mit Russland abbrechen würde“, weil dies Deutschland in die „wirtschaftliche Katastrophe“ führen würde. PA AA Gesandte Kairo, von Stohrer, 1927–1933. 48 Ende 1932 meinte von Stohrer, die Wahlen in Deutschland würden „gut ausfallen“. Wiegand vermutete, sie würden keine Entscheidung bringen. Stohrer an Wiegand, (Kairo) 27. Oktober 1932. PA AA Gesandte Kairo, von Stohrer, 1927–1933. Für die Reichstagswahl vom 6. November 1932 vermutete von Wiegand richtig, dass Hitler „etwas verlieren“ werde, vermutlich „zwanzig Mandate“ (tatsächlich sank die Zahl der Mandate der NSDAP von 230 auf 196, was einem Verlust von 4,2 % entsprach. Im Juli hatten noch 37,3 % der Wähler für die NSDAP gestimmt, im November waren es 33,1 %. Die KPD legte 2,6 % zu. Weitere Wahlgewinnerin war mit einem Zuwachs von 2,4 % die DNVP.), die Kommunisten hingegen würden deutlich gewinnen, womit sie wahrscheinlich mit hundert Mandaten im neuen Reichstag vertreten sein würden. Von Wiegand glaubte nicht, dass die „Nazis und das Zentrum sich zusammenraffen und sich hinter die Regierung stellen, (…) solange von Papen Reichskanzler ist, aber die Sache ist möglich, wenn er von seiner Stelle scheidet“. Für gänzlich unwahrscheinlich hielt er, dass „Hindenburg Hitler zum Reichkanzler ernennen“ würde, da dieser offenbar „eine ziemliche Antipathie gegen Hitler“ habe, während möglicherweise Gregor Strasser (1892–1934, Reichsorganisationsleiter der NSDAP, Parteimitglied seit 1921, wegen Teilnahme am Hitler-Putsch zu 18 Monaten Festungshaft verurteilt, 1924 aus der Haft heraus zum Mitglied des Landtags für den „Völkischen Block“ in Bayern gewählt, 1924 bis 1933 Mitglied des Reichstags. 1932 kam es infolge unterschiedlicher Auffassungen bezüglich der Regierungsbeteiligung der NSDAP unter von Schleicher zum Bruch zwischen Hitler und Strasser, woraufhin sich Letzterer aus der Partei zurückzog. 1934 wurde er von der Gestapo verhaftet und von einem SS-Kommando erschossen. Klaus A. Lankheit: Strasser, 1998, S. 447 f) in die Regierung einziehen könnte. Grundsätzlich fielen dem politisch wohl unterrichteten von Wiegand, dessen Einschätzungen von Stohrer großes Vertrauen schenkte, Prophezeiungen schwer.
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von Stohrer auf keinen Fall, betrachtete das dortige politische Klima als friedlich – „nur streitet man sich alle paar Tage darüber, ob die Engländer bald mit Sidky verhandeln werden oder nicht“. Bezüglich Deutschland meinte er die Rückkehr von Papens prophezeien zu können, hielt das von von Neurath erzielte Verhandlungsergebnis mit John Simon für einen Erfolg.49 Seine „Lieblingslösung“ war ein „Zusammengehen Englands und Amerikas gegen Frankreich“.50 Von Stohrer blieb zuversichtlich, obwohl die Berichte von Wiegands immer pessimistischer klangen, nachdem er in Genf die „international intrigue and conflicting interests“ beobachtet hatte und zu dem Ergebnis gekommen war, dass von Neurath nur „a vague and nebulous promise of Gleichberechtigung“ erzielt habe.51 Den Weltfrieden sah von Wiegand in Gefahr, betrachtete Japan als eine Bedrohung, bedauerte sehr den Rücktritt von Papens. Am bedrohlichsten fand er das einsetzende „twilight of Hitler“, und er wusste wovon er sprach, weil er Gelegenheit gehabt hatte, sich in Berchtesgaden mit Hitler zu unterhalten. Dies ließ von Wiegand ahnen, dass „he soon would be the declining curve“. Im Februar 1933 wusste von Stohrer nicht einzuschätzen, wer das ‚Rad der Geschichte‘ „zurzeit eigentlich wirklich leitet – ich meine natürlich außer Hindenburg“, welche Rollen Hitler, von Papen und von Schleicher spielten. Aus Deutschland erreichten ihn kaum detailliertere Nachrichten. Dennoch befürchtete er, dass Hitler bzw. die Nationalsozialisten Einfluss auf „Personalien“ nehmen würden.52 All dies besorgte ihn jedoch deutlich weniger als innenpolitische Spannungen in Ägypten.53 Es freute ihn, dass „Deutschland einmal ‚Nein‘ gesagt hat und nicht ‚Ja‘ damit meint“, womit er von Neuraths Weigerung, wieder bei der Abrüstungskonferenz zu erscheinen, „bis Deutschlands Gleichberechtigung anerkannt ist und dass auch nein gesagt wurde zu der Vier-Mächte-Konferenz in Genf, nachdem Deutschland nach London eingeladen war“, meinte. Wiegand an Stohrer, (Berlin) 3. November 1932. PA AA, Gesandte Kairo, von Stohrer, 1927–1933. Zu den Wahlen 1932 vgl. Dirk Blasius: Weimars Ende, 2006, S. 79–88, 123–135. 49 Bezog sich auf die vom 2. Februar 1932 bis zum 11. Juni 1934 in Genf tagende Genfer Abrüstungskonferenz. Konstantin Freiherr von Neurath nahm 1932/33 daran teil. Die deutsche Delegation verkündete am 14. September 1932, sie werde erst nach der Anerkennung des Grundsatzes der Gleichberechtigung aller Nationen wieder an der Konferenz teilnehmen. Nach dahingehenden Konzessionen von Großbritannien, Frankreich, Italien und den USA kehrte Deutschland am 14. Dezember 1932 wieder zu den Verhandlungen zurück. 50 Kairo, 21. November 1932. PA AA, Gesandte Kairo, von Stohrer, 1927–1933. 51 Wiegand an Stohrer, 31. Dezember 1932. PA AA, Gesandte Kairo, von Stohrer, 1927–1933. 52 Stohrer an Wiegand, 13. Februar 1933. PA AA Gesandte Kairo, von Stohrer, 1927–1933. 53 Kabinettskrise in Ägypten, in deren Folge Justizminister Aly Maher, Verkehrsminister Tawfik Doss („unser gemeinschaftlicher Freund“) und der mit Stohrer „sehr befreundete“ Außenminister Abdel Fattah Yehia aus der Regierung ausschieden. Im Kabinett galt seither nur noch Präsident Sidkys Stimme; England schien weniger denn je gewillt, mit diesem zu verhandeln.
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Über den sich innerhalb der ‚deutschen Kolonie‘ vollziehenden Wandel äußerte sich von Stohrer nicht.
Abb. 17: Beerdigung, deutscher Friedhof in Kairo, 1930er Jahre
Entgangen sein dürfte er ihm nicht, abzulesen ist er beispielhaft an den schriftlichen Verlautbarungen des alteingesessenen Kaufmanns Gustav Mez, der sich gern als tonangebend in der Kolonie sah. Zornig ging er gegen die ‚Neuen‘ in der Kolonie an, weil sie angeblich das von ihm und andern alteingesessenen Ägyptendeutschen mühsam erarbeitete Werk zerstörten. Um dies zu verhindern und seine Position zu behaupten, ließ er seine Beziehungen spielen, rieb sich in Konflikten mit ‚Neuen‘ wie dem Pfarrerehepaar Karig auf, verwies Heti Karig schließlich ‚auf immer‘ seines Hauses. Mez‘ Angriffe bezogen sich jedoch nur vordergründig auf die angeblich desaströse Finanzverwaltung der deutsch-evangelischen Gemeinde, das zu hohe Gehalt des Pfarrers, dessen angeblich mangelnden Idealismus und Eigen-
Wegen des Ausscheidens von Ali Maher rückte König Fouad ebenfalls von Sidky ab. PA AA Gesandte Kairo, von Stohrer, 1927–1933. Kabinett im März 1933: Mahmoud Fahmy El Keissy (Innenminister, laut Stohrer „gewandt und klug“), Mohamed Allan (Landwirtschaftsminister, „energisch“), Aly El-Manzalabui (Wakfminister, „arbeitete maßgeblich mit an der ägyptischen Verfassung“). Ministerpräsident war im Mai 1933 Ismail Sidky Pasha, trat im September 1933 zurück. Abdel Fattah Yehia bildete ein neues Kabinett, das noch enger an den königlichen Hof angeschlossen war als das vorherige. PA AA R 77720.
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nützigkeit. Enthüllend ist ein Schreiben Mez‘ vom 18. Oktober 1933 an Rechtsanwalt Fritz Dahm (Kairo). Darin hielt er einführend betreffend der „Juden“ fest, dass das deutsche Konsulat gewiss über Verzeichnisse über alle Reichsdeutschen in Ägypten aus der Zeit bis 1914 verfüge, woraus „die Abtrünnigen“ – also Personen jüdischer Herkunft – „leicht festzustellen“ seien.54 Mez ging es darum, Material für die sich dokumentarisch gebende antisemitische Broschüre des Deutschen Vereins und die Argumentation beim an späterer Stelle näher beschriebenen „Kairoer Judenprozess“, die Rechtsanwalt Dahm wesentlich formulierte, zusammenzutragen.55 Den alten Jahresberichten der deutschen Schule seien die Namen der seinerzeit auf Malta internierten Deutschen zu entnehmen, so Mez weiter, „ob auch nur ein Jude interniert war“. Jederzeit könne er dazu weiteres Material liefern. Bekannt sei Dahm vermutlich, „dass die Juden in Genf sich als Minderheitsnation aufspielen wollten, aber abgewiesen wurden“. „Alles, was in den Gegnerzeitungen über die Lage in Deutschland geschrieben wird, (sei) Lüge“. In Wirklichkeit werde „kein Jude belästigt, die Regierung will nur ihren immer stärker werdenden Einflüssen ein Ziel setzen, jeder Jude kann friedlich seine Geschäfte betreiben, aber er soll sich (wie wir in Egypten) als Gast betragen, nicht Rechte sich anmaßen, die ihm nicht zustehen. (…) Dass bei der Judenfrage auch Unschuldige aus den Ämtern entfernt wurden, ist bedauerlich, aber ist uns Auslandsdeutschen, die sich nichts zu schulden kommen ließen, nicht auch alles genommen worden? Den Juden wurden nur Rechte entzogen, die sie sich angemaßt hatten.“ Mez konzedierte, dass Juden „alles genommen“ werden sollte, blendete dabei aus, dass etliche der 1914 ausgewiesenen und um ihren Besitz gebrachten Ägyptendeutschen jüdisch waren, dass er seinerzeit mit andern Pionieren der ‚deutschen Kolonie‘, etwa Ludwig Borchardt und Max Meyerhof, zugunsten der deutschen Gemeinschaft eng kooperiert hatte. Diese Erfahrungen und Gemeinsamkeiten schob er zur Seite, und ebenso, dass der nichtjüdische, aus Frankfurt stammende Rechtsanwalt Dahm auch nach 1933 weiterhin eine gemeinsame Anwaltskanzlei mit dem österreichisch-jüdischen Anwalt Hector Liebhaber betrieb. Sein Zorn auf das Pfarrerehepaar Karig speiste sich nicht zuletzt daraus, dass diese zu jenen Koloniemitgliedern zählten, die ihre sozialen Beziehungen nicht nach den neuen politischen Maßgaben ausrichteten, sondern weiterhin auch Ägyptendeutsche jüdischer Herkunft zu ihrem Freundeskreis zählten. Der ‚Fall Mez‘ ist paradigmatisch für den sich in der ‚deutschen Kolonie‘ vollziehenden Wandel, für die ab Januar 1933 einsetzende Polarisierung. 54 DEG Kairo B 23. 55 Öffentlich auftreten konnte, sollte oder wollte Dahm nicht, aber als beim Gemischten Gericht zugelassener Anwalt hatte er dem aus Deutschland herangeeilten Juristen Diewerge unterstützend zur Seite zu stehen.
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Ebenso wie andere Mitglieder der Kolonie mit jüdischer Herkunft sollte auch der österreichische Rechtsanwalt Hector Liebhaber ausgeschlossen werden, was sich als schwierig erwies wegen seiner langjährigen unentgeltlichen juristischen Arbeit für die deutsch-evangelische Gemeinde, seiner anerkannten fachlichen Kompetenz und der Beliebtheit, der er sich erfreute. Doch der „Judenprozess“ warf bereits seine Schatten voraus.
Abb. 18: Hector Liebhaber mit Ehefrau und Diakonissin Hanna Freitag
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Liebhaber reagierte auf Zurückweisungen unerwartet kämpferisch, zog sich nicht, die Ungereimtheiten in Mez‘ Brief übergehend, zurück. 1933 erinnerte er die deutsch-evangelische Gemeinde daran, dass sie seine unentgeltliche juristische Beratung stets gern und selbstverständlich in Anspruch genommen hatte, beiseiteschiebend, dass ein „als deutschfeindlich“ diffamierter Anwalt die „Interessen der deutschen evangelischen Gemeinde“ wahrnahm.56 Liebhaber verlangte eine Begründung dafür, dass er „ausgeschaltet werden sollte“, wie der Gemeindevorstand am 6. Juni 1933 beschlossen und Karig ihm am 7. Juni 1933 mitgeteilt hatte. Der Gemeindevorstand reagierte ablehnend und erklärte, die Angelegenheit für erledigt zu halten, was Liebhaber anders sah. Er teilte Legationsrat Hans Pilger und Schatzmeister Gottlob Schoeck seine Stellungnahme mündlich mit, woraufhin er am 24. Juni 1933 eine schriftliche Stellungnahme des Vorstands – bestehend aus Pfarrer Karig, Hans Pilger, Gottlob Schoeck, dem Kaufmann Heinrich Hapkemeyer57 als Schriftführer, Wilhelm Ritterhaus, Dr. Ludwig Franck und dem ‚Hess-Freund‘ Hans Schroeder von der deutschen Gesandtschaft – erhielt. Unterstützung erfuhr Liebhaber schließlich von seinem Kollegen und Freund Walther Uppenkamp, der in seiner Funktion als Nachlasspfleger des im Juni 1934 verstorbenen Fritz Dahm die Initiative ergriff und Liebhaber am 11. Juni 1934 mitteilte, nach seinem Dafürhalten solle er für seine Tätigkeit zugunsten der Gemeinde ein Honorar erhalten. Denn die Arbeit sei derart umfangreich, dass mindestens 125,- LE angemessen seien, was wegen des Wertes der übertragenen Grundstücke sogar weit unter den üblichen Sätzen liege. Uppenkamp glaubte, damit auch im Sinne ihres gemeinsamen Freundes Dahm zu handeln, der sich stets um die Rückgabe des „geraubten“ Kirchenbesitzes bemüht hatte. Eine Antwort Liebhabers liegt nicht vor, vermutlich reagierte er auf Uppenkamps Schreiben konziliant, unterstützte die Kirchengemeinde weiterhin. Diese Tätigkeit übte er noch in den 1950er Jahren aus. Für Uppenkamp war die Ausgrenzung Liebhabers nicht hinnehmbar, widersprach völlig seinem Sozialverhalten, auch weil er hoffte, das nationalsozialistische Deutschland von Ägypten fernhalten zu können.58 Dies versuchte zunächst auch der Gesandte von Stohrer, jedoch erfolglos. Am 6. Februar 1933 sah er sich veranlasst, dem Auswärtigen Amt in Berlin von 56 DEG Kairo B 23. 57 Geb. 1888 Osnabrück, seit 1924 in Ägypten. 1938 Mitglied der NSDAP, des Deutschen Vereins Kairo, der deutschen Handelskammer. 1939 ging er mit Familie ins Sudetenland, 1945 nach Osnabrück. Gemeindebrief Evangelisch-Lutherische Gemeinde Bozen Juli-September 2013. PA AA Kairo-Gesandtschaft 1a; mündliche Informationen von Sohn Andreas Hapkemeyer (September 2015). 58 Laut Aussage seiner Tochter Gisela Adämmer (Herbst 2013) weigerte er sich, Meldungen von antisemitisch motivierten Gewalttaten in Deutschland Glauben zu schenken und war schließlich überaus schockiert, als er die Augen nicht mehr davor verschließen konnte.
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einer seit einiger Zeit bestehenden Ortgruppe der NSDAP zu berichten, geleitet von Max Dittrich, einem Angestellten der Dresdner Bank Filiale in Kairo.59 Kurz nach der Machtübergabe trat Dittrich in Kairo in Aktion, forderte in einem Rundbrief die Mitglieder der ‚deutschen Kolonie‘ zum Parteibeitritt auf. Parallel dazu beschwerte er sich schriftlich bei der deutschen Gesandtschaft über die örtlichen Leiter der Dresdner Bank, die nur einem ungarischen Angestellten eine Gehaltserhöhung gewährt hätten. Von Stohrer sah sich zu einem Treffen mit Dittrich gezwungen und erfuhr dabei, dass dessen erklärtes Ziel war, die in der Bank angeblich herrschenden ‚Missstände‘ abzustellen, denn „vor allem müsse der Mangel einer deutschen Leitung als nicht im deutschen Interesse liegend tief bedauert werden“. Auf Nachfrage bezeichnete Bankdirektor Koloman Erdös60 den Angestellten Dittrich als gänzlich ungeeignet. Auf von Stohrers an Dittrich gerichtete Frage, ob dessen ablehnende Haltung gegenüber Erdös darauf beruhe, dass dieser Ungar und Jude sei, reagierte Dittrich ausweichend und versprach, „die Disziplin unter allen Umständen“ aufrecht zu erhalten. Allerdings wollte er Material zusammenstellen, „um dann eine innere Reorganisation durchzusetzen“. Um den Kontext des Geschehens zu verdeutlichen, erläuterte von Stohrer gegenüber Berlin die Vorgeschichte. Etwa im Dezember 1932 hatte Dittrich im Rahmen einer NSDAP Versammlung Beschwerden über die Dresdner Bank Kairo geäußert, was den Unwillen der Bankleitung hervorgerufen hatte. „Herr Erdös erbat damals die Ansicht der Gesandtschaft, da der Administrateur Délégue der Bank, Hassan Pasha Said, die Absicht geäußert hatte, nicht allein allen Bankangestellten jedwede politische Betätigung zu verbieten, sondern auch Herrn Dittrich fristlos zu entlassen“. Die Gesandtschaft wollte aus grundsätzlichen Erwägungen heraus die politische Betätigung von deutschen Bankangestellten nicht verbieten und bat die Bankleitung, Dittrich „ernstlich zu ermahnen und ihm darzulegen, dass es nicht im deutschen Interesse liegen könne, öffentlich gegen die Bank Stellung zu nehmen“. Die Bankleitung folgte dieser Empfehlung. Auch bei dem Gespräch mit von Stohrer sicherte Dittrich zu, nicht öffentlich Kritik an der Bank zu führen, zumal dies sich negativ auf das Bankgeschäft auswirken könne. Gleichzeitig aber sagte er an, alles tun zu wollen, „um den deutschen Charakter des Unternehmens durch eine andere Personalpolitik gewährleistet zu sehen“. Sein Plan war, Mitglieder der Bank zum Konsulat zu bestellen, um dort ihre Aussagen schriftlich festhalten zu lassen. Nachdem von Stohrer ihm entgegengehalten hatte, dass 59 PA AA R 77735. Gegründet wurde die Ortsgruppe 1926 von Alfred Hess, einem Bruder von Rudolf Hess. 60 Geb. 1884 Gyoer (Ungarn), verheiratet mit Marthe Ehrlich, studierte Rechtswissenschaften, Träger des österreichischen „Croix de Mérite militaire“ und des Ehrenkreuzes des ungarischen Roten Kreuzes, 1939 wohnhaft in Alexandria. Le Mondain Egyptien, 1939, S. 173.
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man nicht in dieser einseitigen Art verfahren könne und auch die Bankleitung werde befragen müssen, rückte Dittrich von seinem Vorhaben ab und erklärte, eine Materialsammlung anlegen zu wollen. Von Stohrer bat er, dem Bankdirektor nichts von seiner schriftlichen Beschwerde über die erhöhte Gehaltszahlung für einen ungarischen Bankangestellten mitzuteilen. Offenbar schien es von Stohrer wichtig, in Berlin diese ‚Vorgeschichte‘ Dittrichs offenzulegen, vermutlich um damit die Reaktionen auf dessen Rundschreiben erklärbar zu machen. Dieses, dem Dittrich das die „Sondermaßnahmen gegen die Juden fordernde Programm seiner Partei“ beigefügt hatte, brachte „in den jüdischen Kreisen der Kolonie große Erregung hervor“.61 Folge davon war, dass die Meinung vertreten wurde, die Bankleitung sei für die politische Betätigung ihrer Angestellten verantwortlich, weshalb die jüdischen Kunden zukünftig ihre Verbindung zur Bank abbrechen sollten. Dies wiederum ließ die Bankleitung überaus besorgt reagieren, weil sie „schwere Einbußen“ befürchtete. Um diesem alarmierenden Bericht die Spitze zu nehmen und in Berlin keinen Unmut auszulösen, bekannte von Stohrer abschließend, Dittrichs Beschwerde bezüglich der Personalpolitik der DOB, deren Nachfolgerin die Dresdner Bank war, sei keineswegs von der Hand zu weisen. Auch seitens der Gesandtschaft sei in der Vergangenheit mehrfach, allerdings erfolglos versucht worden, Missstände abzustellen und „die Überfremdung der lokalen Bankleitung zu beseitigen und der Bank einen neuen Geist einzuflößen“. Damit hatte die ‚Angelegenheit Dittrich‘ nicht ihr Bewenden. Denn das Rundschreiben mit beigefügtem Parteiprogramm der NSDAP erregte die Aufmerksamkeit und den Unmut der ägyptischen Juden.62 Die in Kairo erscheinende „jüdische Zeitung“ L’Aurore griff die Sache am 16. Februar 1933 auf, „in dem in der Form eines offenen Briefes an den stellvertretenden Ministerpräsidenten die Unterdrückung der national-sozialistischen Bewegung in Ägypten und die Ausweisung des Herrn Dittrich verlangt“ wurden. Damit sich das Auswärtige Amt ein entsprechendes Bild machen konnte, legte von Stohrer seinem Schreiben den Zeitungsartikel bei. Beruhigend bemerkte er abschließend, bei einem Treffen mit dem stellvertretenden Ministerpräsidenten (gleichzeitig Arbeitsminister) habe dieser die Angelegenheit nicht erwähnt. „Auch sonst hat die Regierung die Frage mir gegenüber bisher nicht angeschnitten, so dass sie wohl im Sande verlaufen wird, wenn – wie zu erwarten und wie Herr Dittrich neuerlich hier zugesagt hat – sich dieser in Zukunft etwas größere Zurückhaltung auferlegt.“
61 Stohrer an AA, 6. Februar 1933. PA AA R 77735. 62 Stohrer an AA, 23. Februar 1933. PA AA R 77735.
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Dass der Zeitungsartikel63 in nationalsozialistischen Kreisen auf Ablehnung stoßen würde, war vorhersehbar. Denn der Autor Jacques Maleh64 forderte in seinem „Cri d’Alarme“, dass dem Treiben Max Dittrichs Einhalt zu gebieten, die Etablierung einer nationalsozialistischen Partei zu verbieten und Dittrich auszuweisen sei. Dies habe zwecks Wahrung des sozialen Friedens in Ägypten sowie zum Schutze der nicht nationalsozialistisch denkenden und jüdischen Deutschen zu geschehen. Den Gesandten von Stohrer nahm der Autor ausdrücklich als einen „parfait gentleman qui préside avec dévouèment et une rare intelligence“ in Schutz.65 Das ‚Problem Dittrich‘ erledigte sich, als dieser am 11. März 1933 nach Deutschland zurückkehrte, wohin ihn die Parteileitung auf Empfehlung der NSDAP-Ortsgruppe Kairo zurückbeordert hatte.66 Anlass war, „dass Dittrich anscheinend infolge der Aufregungen der letzten Wochen nicht mehr vollkommen über seine geistige Urteilskraft verfügte und nicht nur sich selbst dauernd verfolgt und tödlich bedroht ansah, sondern auch sich in Hirngespinste außenpolitischer Art derart verlor, dass er nur noch in diesen Ideen lebte“. In Kairo wurde dies „streng geheim“ gehalten. Es war offenkundig, dass Dittrichs allzu forsches Auftreten zu diesem Zeitpunkt dem Ansehen Deutschlands in Ägypten schadete und derartigen Aufruhr verursachte, dass er aus dem Blickfeld gerückt werden musste. Der ‚Fall Dittrich‘ bildete den Auftakt zu weit erheblicheren und langlebigeren Spannungen, die aus dem Auftreten der Nationalsozialisten in Ägypten, vor allem aber den antisemitischen Aktionen in Deutschland und der Ankündigung des „Judenboykotts“ für den 1. April 1933 resultierten. Das ‚deutsche Leben‘ in Ägypten wandelte sich ab Januar 1933 massiv, was auch den ägyptischen Juden nicht entgehen konnte. Sie verfolgten die Ereignisse aufmerksam und besorgt, betrachteten die Nationalsozialisten unmittelbar als enorme Gefahr. Deshalb griffen sie zu dem probaten Mittel, den Deutschen wirtschaftlich zu schaden. Ein unkompliziertes Unterfangen konnte dies jedoch auch deshalb nicht sein, weil damit zugleich deutsche oder österreichischer Unternehmer jüdischer Herkunft existenziell bedroht wurden und infolge ihrer wirtschaftlichen Bestrebungen in einen kaum aufzulösenden Interessenskonflikt gerieten. Die Gemengelage wird etwa am Fall Goldstein erkennbar. Léon Goldstein hatte mit M. Abdel Sayed eine Offene Handelsgesellschaft für „chemische Produkte, 63 „Un grave danger. Le Hitlerisme en Egypte. Lettre ouverte à S. E. le président du Conseil p. i. et ministre de l’intérieur p. i.“. 64 Leiter der Zeitung „L’Aurore“. 65 PA AA R 77735. 66 Stohrer an AA, 13. März 1933. PA AA R 77735.
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chirurgische Instrumente und Spitalmöbel“ gegründet, war bis 1929 bei der „Société Anonyme des Droguéries d’Egypt“ angestellt. Seit seiner Niederlassung in Ägypten stand er den „deutschen Kreisen“ nahe, war auch Mitglied des Deutschen Vereins. Angesichts der gewandelten politischen Situation ab 1933 und der Ausgrenzung aus der ‚deutschen Kolonie‘ schloss Goldstein sich dem Boykott an. Sein Unternehmen erwies sich aber als so unverzichtbar, dass er gebeten wurde, wieder für Deutschland zu arbeiten und deutschen Fabriken Aufträge in Ägypten zu verschaffen, was er mit großer Zuverlässigkeit und Erfolg durchführte, wie ihm die deutsche Handelskammer attestierte und ihn zur Zusammenarbeit empfahl.67 Die deutsche Gesandtschaft in Kairo bezeichnete Goldstein als „tüchtigen Kaufmann“, über den nichts Nachteiliges bekannt sei. Dass man ihm diesen Ruf attestierte, hing wohl auch damit zusammen, dass Goldsteins Bruder eine wichtige Position bei der „Société Anonyme des Droguéries“ inne hatte und beide Brüder über Beziehungen zu „ägyptischen Regierungsteilen“ verfügten. Uneingeschränkt empfehlen wollte die Gesandtschaft Goldstein dennoch nicht, indem sie sein Unternehmen als ein weniger bedeutendes einstufte und bestritt, dass er eine Monopolstellung innehatte.68 Nicht nur der erwähnte Gustav Mez, sondern etliche andere, auch alteingesessene Mitglieder der ‚deutschen Kolonie‘ in Kairo bekannten sich sukzessive zum Nationalsozialismus, ob aus Überzeugung, Opportunismus oder andern Zwängen gehorchend. Der seit 1927 am deutschen Victoriahospital tätige Arzt Ludwig Luchs ging sogleich mit „fliegenden Fahnen zum Nazitum“ über, weshalb sein Berufskollege Meyerhof ihm die Freundschaft aufkündigte und Luchs‘ weinenden Ehefrau69 erklärte, dass er nicht nur als Jude, „sondern als überzeugter Demokrat die Nazi-Weltanschauung von Grund auf verwerfe, weil sie statt Liebe den Hass predigt und die Welt in neue Kriege stürzen müsse“.70 Mit Entsetzen vernahm der amerikanischen Ägyptologen George Reisner, dass auch sein Freund und Kollege Ludwig Borchardt gezwungen wurde, aus sämtlichen deutschen Vereinen in Kairo auszutreten, obschon er sich jahrelang wie kaum ein anderer um die Geschicke der Deutschen in Ägypten verdient gemacht hatte. Dies bewies aus Reisners Sicht die „incredible folly of these people and their utter unfitness to lead Germany in the present crisis“.71
67 8. April 1935. PA AA R 77762. 68 Haidlen (Deutsche Gesandtschaft) an AA Berlin, 20. April 1935. PA AA R 77762. 69 Annemarie, geb. 1895 in Heluan als Tochter des Arztes Oscar Dinkler. 70 Die drei Söhne des Ehepaars Luchs fielen im Krieg. Brieftagebuch Meyerhof, 24. Januar 1943, S. 30a (Privatbesitz). 71 Reisner an LB, 14. Mai 1933. Reisner hatte auch schon vom Suizid von Sophie Cohen erfahren. SIK LB.
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Laut Verzeichnis von 1938/39 gehörten von den 761 als deutsch geltenden Personen, die sich bis 1933 in Ägypten niederließen, 164 (21,6 %) der NSDAP und/ oder einer NS-Organisation (z. B. Deutsche Arbeitsfront (DAF)) an; 116 (15,2 %) waren gleichzeitig Mitglied einer NS-Organisation bzw. der Partei und eines deutschen Vereins (Deutscher Verein Kairo, Deutscher Frauenverein, Unterstützungsverein, Sprachgruppe, Sportverein, deutsch-evangelische Kirchengemeinde). 1938/39 war kein Mitglied eines deutschen Vereins in Ägypten jüdisch oder jüdischer Herkunft.72 Der von Donald McKale ermittelte Durchschnittswert von fünf Prozent Parteimitgliedern in der Gruppe aller im Ausland lebenden, nichtjüdischen deutschen Staatsbürger wurde sogar innerhalb der alteingesessenen Ägyptendeutschen deutlich überschritten.73 Die Gründe dafür weisen Parallelen etwa zu Palästina auf, wo 17 % der nichtjüdischen Deutschen Mitglieder einer NS-Organisation oder der Partei waren.74 Ebenso wie dort hatten zumal die Alteingesessenen den Ersten Weltkrieg als Zäsur erfahren. Bei der Wahrnehmung ihrer Rückerstattungs- und Schadensersatzinteressen fühlten sie sich von der Weimarer Republik alleingelassen, was zu Distanzierung und Abwehr sowohl gegenüber der Republik als auch der Weimarer Parteienlandschaft führte, die als unvereinbar mit der überwiegend deutsch-nationalen Einstellung der Ägyptendeutschen erschien. Die erhebliche Verbitterung über die von Deutschland wenig unterstützten Interessen der Ägyptendeutschen nach dem Ersten Weltkrieg belegt die Korrespondenz zwischen Mimi Borchardt und ihren Bekannten, Freunden und Familienangehörigen, belegen auch die deutschen nationalen Feierlichkeiten in Ägypten nach 1923, die in der ‚deutschen Kolonie‘ nur mit sehr mäßigem Interesse gefeiert wurden. Als besonders aktive Nationalsozialisten taten sich in Kairo der NSDAPOrtgruppenleiter Otto Krahn und Paul Schmitz hervor. Letzterer stammte aus Frankfurt am Main, lebte seit Mai 1934 in Kairo, wo er als Schriftleiter des „Völkischen Beobachter“ und der „Deutschen Allgemeinen Zeitung“ arbeitete.75 Der 1884 in Köln geborene Krahn war seit 1931 in Kairo ansässig, arbeitete als „Oberingenieur“ bei der Friedrich Krupp AG. Er war Mitglied der NSDAP, der DAF und des Deutschen Vereins Kairo, seine Ehefrau Emma der NS-Frauenschaft und des Deutschen Vereins Kairo.76 Krahn übernahm später die Nachfolge van Meeterens 72 PA AA Kairo-Gesandtschaft 1a, 2a, 2b. 73 Donald McKale: Swastika, 1977, S. 120. 74 Ralf Balke: NSDAP, 1998, S. 232. 75 Seit 1938 geschieden (2 Töchter), wohnte in der Sharia el Nabatat in Garden City (Kairo), laut eigenen Angaben nicht Mitglied der NSDAP, lediglich Mitglied des Deutschen Vereins Kairo. PA AA Kairo-Gesandtschaft 2a. 76 Sohn des 1852 in Daarz (Pommern) geborenen Hermann Krahn (gest. 1912) und der Antonie Kühnbaum (geb. 1853 Vierraden, gest. 1929), verheiratet seit September 1909, zwei Kinder.
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als Vorsitzender des Deutschen Vereins Kairo. Vorsitzender der NS-Ortsgruppe Port Said war der Kaufmann Eduard Wolters.77 Bis 1933 prägende Mitglieder der Kolonie, wie etwa das Ehepaar Borchardt, die Ärzte Schlesinger und Meyerhof, zogen sich gewollt und ungewollt aus der deutschen Gesellschaft zurück.78 Was für die Kinder unverständlich blieb, enthielt für die Erwachsenen die Botschaft, dass streng im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie gehandelt wurde. So etwa im Fall von Eva Peinert, Tochter eines Angestellten der deutschen Gesandtschaft. Turnusmäßig hätte ihr die Leitung des BDM zustanden, was ihr ohne Angabe von Gründen verweigert wurde. Um offene Erklärungen drückte man sich herum, wollte innerhalb der ‚deutschen Kolonie‘ nicht für Unruhe sorgen. Hinter vorgehaltener Hand hieß es, Eva Peinerts Mutter sei zu wenig „arisch“, wahrscheinlich eine „Vierteljüdin“.79 In Ägypten behinderte dieser Umstand Peinerts Karriere nicht, verhinderte aber seine Rückkehr nach Deutschland. Hans Schroeder sorgte dafür, dass er an die Deutsche Botschaft Bern versetzt wurde, wo die Familie während des gesamten Zweiten Weltkriegs blieben. Ob Schroeder auch in andern Fällen derart behilflich war, entgegen seiner per Parteimitgliedschaft manifestierten politischen Anschauungen und trotz seiner Freundschaft mit Alfred Hess, lässt sich nicht zuverlässig belegen.80 Der von Deutschland entsandte Hilfspfarrer Petersmann galt schon bald als Spitzel, vor Kontakt mit ihm wurde gewarnt. Das Pfarrerehepaar Karig, das sich bekanntermaßen dem Druck der Nationalsozialisten nicht beugte, empfing anonyme Drohbriefe. Als Werner Karig 1935 nach Deutschland zurückkehrte, erhielt er die von ihm angestrebte Pfarrstelle nicht, seine Karriere stagnierte. Für Bremen vermittelte Mimi Borchardt dem Ehepaar die entscheidenden sozialen Kontakte, nämlich zu Adolf Ermans Tochter und Schwiegersohn.81 Merkbar war der Wandel vor allem und zunächst im Umfeld der Schule. Kinder jüdischer Herkunft wurden zwar nicht unmittelbar ausgeschlossen, aber erheblichen Schikanen ausgesetzt, so dass sie schließlich der Schule fern blieben, meist Aufnahme fanden in der deutschen Schule der Borromäerinnen, etwa die beiden
Ehefrau Emma Maria Schlüter (geb. 1885) stammte aus Kiel, hatte die Höhere Mädchenschule besucht. PA AA Kairo-Gesandtschaft 2a. 77 Geboren 1896 Port Said, Sohn von Edmond Wolters (geb. 1860 Alexandria, gest. 1910 Port Said) und Hana Pencostu (geb. 1873 Constanza), besuchte die Deutsche Schule Kairo, zog 1935 von Alexandria nach Port Said. PA AA Kairo-Gesandtschaft 2a. 78 s. LB an Reisner und Steindorff Reisetagebuch 1936. 79 Das Ehepaar Peinert lebte seit 1921 bzw. 1922 in Kairo. Tatsächlich vermerkte die Gesandtschaft 1938 die jüdische Herkunft von Frau Peinert. PA AA Kairo-Gesandtschaft 2a. 80 Schroeder und Hess kannten sich seit ihrer gemeinsamen Schulzeit. 81 Ehepaar Schaal. Er war Schulleiter. Vgl. Briefwechsel H. Karig-MB. SIK MB 67/1.
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Töchter Eva und Marlies des Arztes Schlesinger. Mit dem Schulwechsel brachen die sozialen Beziehungen meist auseinander. Schlesingers wohnten beispielsweise in Garden City, unweit der Schule, die meisten andern Deutschen jedoch im weiter entfernten Kairo-Maadi. Die Eltern taten wenig, um die Beziehungen aufrecht zu erhalten. Erwin Schlesinger, der jahrelang als der wichtigste Arzt der ‚deutschen Kolonie‘ tätig gewesen war, zog sich gesellschaftlich zurück. Ende der 1930er Jahre verließ ihn seine nichtjüdische Ehefrau, ging nach Deutschland und reichte die Scheidung ein. Jahre später heiratete Schlesinger in zweiter Ehe ein ehemals bei der deutschen Gesandtschaft angestelltes „Fräulein Kegler“. Trotz der erkennbaren Spaltung der deutschsprachigen Gesellschaft wollten viele Nichtbetroffene den aus Deutschland eintreffenden Nachrichten beispielsweise über antisemitisch motivierte Verbrechen an Juden lange kaum Glauben schenken. Erst ab November 1938 war dies nicht mehr möglich.82 All dies geschah vor dem Hintergrund heftiger politischen Bewegungen in Ägypten. Schon am 24. März 1933 rief die in Ägypten erscheinende zionistische Zeitschrift „Israel“ zum Boykott deutscher Waren auf.83 Am 29. März 1933 gründete sich in Kairo unter dem Vorsitz des Rechtsanwalts Léon Castro die „Ligue contre l’Antisémitisme Allemand. Association formée par toutes les oeuvres et institutions juives d’Egypte“, die sich wenig später der „Ligue International contre l’Antisémitisme“ (LICA) anschloss, sich schriftlich sowohl an Hindenburg als auch die Französische Liga für Menschenrechte wandte und zahlreiche Artikel in der ägyptischen Presse veröffentlichte.84 Léon Castro rief in einem am 18. April 1933 in der ägyptischen Zeitung „La Voix Juive“ erschienenen Artikel zum Boykott sämtlicher deutschen Firmen und Institutionen auf.85 Flächendeckend wurden die Boykottaufrufe nicht befolgt, sie schädigten aber den Ruf der Deutschen nachhaltig und führten so weit, dass sich Amin Yahya Pasha, Bruder des früheren ägyptischen Außenministers und späteren Premierministers Abdel Fattah Yahya Ibrahim Pasha, bei Eberhard von Stohrer nach den Zuständen in Deutschland erkundigte.86 82 Am Tag nach der Pogromnacht (10. November 1938) blieb Walther Uppenkamp seinem Arbeitsplatz fern, sah sich außerstande, an einem solchen Tag zu arbeiten. Freunde und Bekannte hatten ihn von den Geschehnissen in Deutschland unterrichtet. Glauben wollte und konnte er dies nicht, hielt ihre Beschreibungen für einen Irrtum, für Missverständnisse und übertrieben. Nach und nach musste er seinen Irrtum einsehen. Aussage Tochter Gisela Uppenkamp-Adämmer (Herbst 2013). 83 Mahmoud Kassim: Beziehungen, 2000, S. 297. 84 Mahmoud Kassim: Beziehungen, 2000, S. 290 f, 293; Albrecht Fueß: Deutsche Gemeinde, 1996, S. 96. 85 Albrecht Fueß: Deutsche Gemeinde, 1996, S. 97. 86 Mahmoud Kassim: Beziehungen, 2000, S. 291 f.
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Angesichts dieser Situation drängte die Landesgruppe der NSDAP unter Leitung von Alfred Hess auf Gegenmaßnahmen.87 Gesandtschaftsrat Hans Pilger monierte daraufhin beim Auswärtigen Amt in Berlin, dass es in Ägypten an geeignetem Material fehle, um publizistisch gegen den Boykott vorzugehen. Das Material wurde erarbeitet, nach Ägypten gesandt und der ‚deutschen Kolonie‘ zugänglich gemacht. Auf dieser Basis wurde eine Broschüre mit dem Titel „Die Judenfrage in Deutschland“ verfasst, als deren Herausgeber Wilhelm van Meeteren, Leiter des „Deutschen Vereins“ und Geschäftsführer von Siemens Orient, firmierte. Die Drucklegung in deutscher und französischer Sprache übernahm der Druckereibesitzer Alexander Safarowsky,88 verantwortlich auch für die Druckwerke der deutschen und der österreichischen Handelskammer.89 Obwohl Pilger betonte, es handle sich um „durchaus sachlich gehaltenes Material“, war die Broschüre in Wirklichkeit ein antisemitisches Pamphlet, in dem behauptet wurde, die Juden seien in geistigen Berufen überrepräsentiert, nicht zu produktiver Arbeit fähig, lebten auf Kosten der werktätigen Bevölkerung, seien rassisch degeneriert, weshalb sie zu Geisteskrankheit und Verbrechen neigten.90 Wegen dieser Behauptungen reichte Umberto Jabès, in Kairo lebender Jude mit italienischer Staatsbürgerschaft, bei den Gemischten Gerichten Klage gegen van Meeteren und Safarowsky als Herausgeber und Drucker der Broschüre ein. Geklagt wurde wegen Beleidigung, Verbreitung von Rassenhass und Störung der öffentlichen Ordnung; ein Schadensersatz in Höhe von 101 LE91 wurde gefordert. Das Urteil sollte in acht ägyptischen Zeitungen, die die Beklagten auswählen durften, veröffentlicht werden. Als Anwalt von Umberto Jabès fungierte Léon Castro. Es ging den Klägern nicht um den Schadensersatz, sondern um einen politischen Prozess, der die nationalsozialistische Judenverfolgung zum Gegenstand hatte.92 In Ägypten erwuchsen den Nationalsozialisten vornehmlich seitens der Judenschaften lautstarke Gegner, was deutsche Kreise in Ägypten alarmierte. Eine der kritischen Stimmen war jene des Historikers und Publizisten Abdallah Inan; bereits 1934/35 verurteilte er sowohl den italienischen Faschismus als auch 87 Albrecht Fueß: Deutsche Gemeinde, 1996, S. 95. 88 Geboren 1880 in Cochem/Mosel, seit 1925 in Ägypten. Seine Tochter (geb. 1915 Kairo) lebte seit 1921 in Kairo. Mitglied einer NS-Organisation waren sie 1938/39 nicht. PA AA Kairo-Gesandtschaft 2a, 2b. 89 Albrecht Fueß: Deutsche Gemeinde, 1996, 102 f; Mahmoud Kassim: Beziehungen, 2000, S. 361. 90 Albrecht Fueß: Deutsche Gemeinde, 1996, S. 103. 91 Erst ab einem Streitwert von 100 LE war die Berufung gegen ein erstinstanzliches Urteil möglich. Das Geld sollte an ein Krankenhaus gespendet werden. 92 Albrecht Fueß: Deutsche Gemeinde, 1996, S. 109.
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den deutschen Nationalsozialismus als menschenverachtend und barbarisch. Ähnlich äußerten sich Taha Husayn, Abbas Mahmud al-Aqqad, Ibrahim al-Misri, Zaki Hakim und Amir Buqtur, die hauptsächlich in „Al-Hilal“ veröffentlichten. Die Kritiker bezeichneten die totalitären Systeme nicht nur als undemokratisch, sondern auch als Bedrohung für Demokratien.93 Auf größte Ablehnung stieß das nationalsozialistische Rassedenken, zu dessen Opfern auch Ägypter zu werden drohten, wie Abdallah Inan 1934 anmahnte.94 Angesichts der kritischen Stimmen in Ägypten erschien den meisten deutschen Vertretern vorsichtiges Agieren geboten. Alarmiert berichtete von Stohrer dem Auswärtigen Amt am 15. Juni 1936, die französischsprachige, auch von Ludwig und Mimi Borchardt regelmäßig gelesene Kairener Zeitung „La Bourse Egyptienne“ habe berichtet, in Deutschland sei beschlossen worden, Iraner, Iraker und Ägypter als Nicht-Arier einzuordnen, sie unterlägen also den Bestimmungen der Nürnberger Rassengesetze. Dies sei in Ägypten mit großem Unmut aufgenommen worden, eine Stimmung, der von Stohrer und andere Deutsche in Kairo versuchten entgegen zu arbeiten.95 Vicco von Bülow-Schwante, Leiter des Deutschland Referats im Auswärtigen Amt, versicherte am 18. Juni 1936, der erwähnte Zeitungsartikel sei unzutreffend, die Nürnberger Gesetze bezögen sich ausschließlich auf Juden. Der ägyptische Botschafter in Berlin erklärte daraufhin, Ägypter seien mit Deutschen gleichgesetzt. Bülow-Schwante legte dem Diplomaten dar, Eheschließungen zwischen ägyptischen Frauen und deutschen Männern seien zulässig, die Frauen erhielten deutsche Staatsbürgerschaft, wie auch die aus dieser Ehe hervorgehenden Kinder.96 Das Thema rückte nochmals ins Blickfeld im Zuge der Vorbereitung der Olympischen Spiele in Berlin. Zu diesem Anlass verfasste von Stohrer am 17. Juni 1936 eine umfangreiche Schrift „Betr. Jüdische Hetze gegen die Olympischen Spiele“. Darin beklagte er, dass die „Jüdische Presse“ weiterhin gegen Deutschland agitiere und behaupte, die Nürnberger Gesetze richteten sich auch gegen Ägypter. Trotz von Stohrers Überzeugungsarbeit zeigte sich der Präsident des ägyptischen Olympischen Komitees, der gleichzeitig Mitglied des Internationalen Olympischen Komitees war, überaus besorgt, zog sogar in Zweifel, ob Ägypter angesichts der Nürnberger Gesetze überhaupt an den Spielen teilnehmen sollten.97 Dies bekräftigte auch Mohamed Taher Pasha, ebenfalls Mitglied des Internationalen Olympischen Komitees, am 23. Juni 1936 gegenüber Berlin, woraufhin er von dort 93 Ami Ayalon: Egyptian Intellectuals, 1988, S. 396. 94 Ami Ayalon: Egyptian Intellectuals, 1988, S. 398. 95 Zitiert nach: Jeffrey Herf: Nazi Propaganda, 2009, S. 19. 96 Jeffrey Herf: Nazi Propaganda, 2009, S. 19. 97 Jeffrey Herf: Nazi Propaganda, 2009, S. 20.
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nmittelbar die Information erhielt, die Nürnberger Gesetze bezögen sich nicht auf u Ägypter und man sei sehr an der Teilnahme Ägyptens an den Spielen interessiert.98 Am 24. Juni 1936 zeigte sich von Stohrer in einem Schreiben an das Auswärtige Amt zum wiederholten Mal äußert verärgert über die Verlautbarungen der „jüdischen Presse“ in Ägypten, glaubte aber die ägyptischen Diplomaten davon überzeugt zu haben, dass die Nürnberger Gesetze auf Ägypter keine Anwendung fänden. Von Stohrers Besorgnis war nachvollziehbar, denn der Präsident des ägyptischen Olympischen Komitees, Prince Abdel Moneim, hatte verkündet, Ägypten werde nicht an den Spielen teilnehmen. Es bedurfte weiterer Bestätigungen seitens Berlin, dass nichtjüdische Ägypter gleichgestellt seien mit nichtjüdischen Deutschen, um die Ägypter schließlich zur Teilnahme an den Olympischen Spielen zu bewegen.99 Trotz der ausgefeilten propagandistischen Maßnahmen seitens der Deutschen schlug die Stimmung in Ägypten nicht gänzlich zu ihren Gunsten um. So musste Curt Prüfer, der vor dem Ersten Weltkrieg etliche Jahre als Dragoman für die deutsche Gesandtschaft in Kairo tätig und während dieser Zeit Mieter bei Ludwig Borchardt gewesen war, am 11. Oktober 1933 von Berlin aus berichten, dass laut Aussagen von Direktor Hans Mutzenberger100 ein für Dezember in Kairo geplantes Brahms-Wagner Fest hatte abgesagt werden müssen, obwohl von der deutschen Gesandtschaft in Ägypten das Fest als im „Interesse der deutschen kulturpolitischen Beziehungen zu Ägypten als besonders erwünscht“ bezeichnet worden war. Diese Beziehungen aber seien in jüngster Zeit „durch die lebhafte Agitation der internationalen Judenschaft in Ägypten besonders bedroht“.101 Von Stohrer bedauerte den Ausfall des Festes nicht sonderlich, auch stelle dies keine „ernste Gefährdung“ dar, da die „öffentliche Propaganda noch nicht begonnen“ habe.102 Wilhelm van Meeteren wollte es damit nicht auf sich beruhen lassen. Als Ersatz organisierte er über eine „ägyptische Privatgesellschaft“ für den 11. bis 14. Dezember in den Räumen der ägyptischen Musikgesellschaft eine Richard Wagner Gedenkfeier.103 Auftakt der Feier werde eine auf Französisch gehaltene Rede des „hiesigen Hofpoeten“ Khayri, eines „glühenden Wagnerverehrers“, bilden. Im Anschluss solle vom „Reich aus ein prima WagnerKonzert durch sämtliche Sender durch das Radio verbreitet werden, wobei sowohl in Deutschland als auch in Ägypten durch die Presse auf diese Darbietung als auf eine Sonderveranstaltung Deutschlands für Ägypten verwiesen werden müsste“. Der
98 Jeffrey Herf: Nazi Propaganda, 2009, S. 20. 99 Jeffrey Herf: Nazi Propaganda, 2009, S. 20 f. 100 Direktor der „Deutschen Kunstgesellschaft und Gesellschaft für deutsche Kultur“ in Berlin. 101 An Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda. PA AA R 77736. 102 Kairo, 21. Oktober 1933. PA AA R 77736. 103 Wilhelm van Meeteren (lettischer Konsul) an E. Mutzenberger (Berlin), 17. November 1933. PA AA R 77736.
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ägyptische Unterrichtsminister habe sein Erscheinen bereits zugesagt. Betont werden müsse die „Gemeinschaftlichkeit der Kulturinteressen zwischen beiden Ländern“. Weitere vertrauensbildende bzw. propagandistische Maßnahmen folgten. Der Automobilclub von Deutschland schlug im Februar 1934 vor, für Juni 1934 zwölf bis fünfzehn „Herren der ersten und einflussreichsten ägyptischen Kreise“ nach Deutschland zu einer achttägigen Deutschlandfahrt einzuladen.104 Auf diese Weise sollten „sehr einflussreiche Elemente“ von Ägypten Vertrauen zu Deutschland und der „heutigen Regierung“ fassen, wodurch die Beziehungen der beiden Länder erneut vertieft werden könnten. Mit Verzögerung, sich mit den anstrengenden fünf Beiramsempfängen entschuldigend, reagierte von Stohrer auf den Vorschlag, hatte zwischenzeitlich aber schon mit Tahir Pasha, einem Neffen des Königs, gesprochen.105 Dort traf die anvisierte Einladung auf begeisterte Zustimmung. Außer Tahir Pasha sollten Gabriel Talda Bey, der Eigentümer und Leiter von „Al Ahram“, der größten arabischen Zeitung, und Talaat Harb Pasha eingeladen werden. Da die innenpolitische Lage und die „Stellung des gegenwärtigen Kabinetts“ unklar waren, wollte man mit weiteren Nennungen abwarten. Am 27. April 1934 legte von Stohrer eine Liste möglicher ‚Kandidaten‘ vor. Von der Gesandtschaft vorgeschlagen wurde Dessouki, Dolmetscher der Gesandtschaft, da er als Vermittler und Übersetzer nützliche Dienste würde leisten können, von Stohrer brachte weitere neun Personen in Vorschlag.106 Wegen innenpolitischer Spannungen in Ägypten blieb das Zustandekommen der Reise zunächst im Ungewissen. Auch verwirrte, dass Schmidt-Rölke in Berlin das Ägypten-Referat niederlegte. Seine Nachfolge 104 E. J. Ruperti (stellv. Mitglied des Vorstands der Allianz und Stuttgarter Verein, Mitglied des Kuratoriums des Automobilclubs von Deutschland) an Stohrer, 5. Februar 1934. PA AA R 77736. 105 Kairo, 10. April 1934. PA AA R 77736. 106 Mohamed Tahir Pasha (Präsident des Königl. Ägypt. Automobilclubs u. Königl. Ägypt. Aero Clubs, Neffe des Königs, „in Deutschland erzogen“, Regierungsdelegierter bei allen sportlichen Veranstaltungen, „großer Sportsmann“, „sehr deutschfreundlich“), Mohamed Talaat Harb Pasha (Administrateur Délégué de la Banque Misr, „bedeutender ägypt. Financier und Wirtschafter, hat viele Industrien – zum Teil unter Zuziehung deutscher Sachverständiger u. deutschen Materials gegründet“), Ahmed Midhat Yeghen Pasha (früherer Außenminister, Président du Conseil d’Administration de la Banque Misr, „führender Financier“), Gaafar Wali Pasha (ehemaliger Kriegsminister, eventuell auch Innenminister), Hafez Hassan Pasha (ehemaliger Landwirtschaftsminister, „sehr deutschfreundlich, lernt zurzeit deutsch, großer Kenner landw. Fragen“), Hamed Chawarbi Pasha („Notabler“, „Großgrundbesitzer, früher wafdistischer Abgeordneter“), Gabriel Takla Bey (Eigentümer, Leiter der größten arabischen Zeitung der Welt („Ahram“), „sehr vermögend, in seinem Verhältnis zu Deutschland schwankend“). Atta Afifi Bey („Notabler“, früherer wafdistischer Abgeordneter, „junger, sehr bekannter, vermöglicher Politiker und Sportsmann“), Emine Yehia Pasha (Bruder des Ministerpräsidenten und Außenministers Abdel Fattah Yehia Pasha, bedeutender ägyptischer Industrieller in Alexandria). Der aus Sicht von Stohrers „sehr bedeutende“ Abdel Wahab Pasha, Unterstaatssekretär im Finanzministerium, musste ausgespart bleiben, weil er „in gewissen Gegensatz zum Hof“ geraten war.
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trat Hans Pilger an, dem Ägypten aus seiner dortigen langjährigen Tätigkeit für die Gesandtschaft vertraut war, assistiert von Curt Prüfer; beide erstatteten Bericht „über die letzten Vorkommnisse hier und auch einige gravamina, die ich gegen das Amt – nicht gegen Abteilung III – habe“, so von Stohrer am 25. April 1934.107 Die Planung der sogenannten Pasha-Reise hatte im Juni 1934 so weit Gestalt angenommen, dass sogar die Teilnahme am Nürnberger Parteitag im September 1934 ins Auge gefasst wurde.108 Unerfreulicherweise kommunizierten einige der vorgesehenen Teilnehmer nur unzuverlässig, informierten nicht über ihre aktuellen Aufenthaltsorte.109 Im Juli 1934 hatten zunächst zehn, dann nur sechs Personen ihre Teilnahme zugesagt, ein Reiseprogramm existierte noch nicht, beginnen sollte die Reise am 8. August 1934.110 Ein voller Erfolg wurde sie nicht. Einige der ägyptischen Teilnehmer hielten sich nicht an die vorgegebene Planung, reisten vorzeitig ab, brachten zusätzliche Gäste mit oder beschwerten sich über andere Teilnehmer.111 Trotz solcher Rückschläge galt es, sich die Gunst bekanntermaßen deutschfreundlicher ägyptischer Politiker zu sichern, so des im Oktober 1934 als Konsul nach Wien berufenen M. Sabry Mansour, der in Bonn promoviert hatte, die deutsche Sprache perfekt beherrschte, als „sehr deutschfreundlich“ galt und mit der Tochter des früheren österreichischen Gesandten in Ankara, Krahl, verheiratet war.112 Dennoch sahen sich etliche der in Ägypten niedergelassenen deutschen Unternehmen mit erheblichen Problemen konfrontiert. Konsens bestand darüber, dass verstärkte Reklameaktionen wenig zielführend sein würden, weil sie die Deutschen zu sehr in die Öffentlichkeit rückten.113 Nicht einmal im „Journal de Caire“ sollte geworben werden, denn wie Voulich, Direktor der „Allianz und Stuttgarter Verein AG“, erklärte, legte man Wert darauf, „jüdische Kundschaft zu bekommen“. Eine Anzeige in besagtem Journal, „das letzthin offensichtlich zu Ebenfalls nicht benannt wurde Hassan Said Pasha, Direktor der Dresdner Bank, da er zu den andern Vorgeschlagenen nicht recht zu passen schien. Kairo, 27. April 1934. PA AA R 77736. 107 PA AA R 77736. 108 Deutsch-Ägyptisches Komitee (Berlin) an Stohrer, 28. Juni 1934. PA AA R 77736. 109 Angeblich hielt sich Hafez Hassan in Bad Nauheim auf, Tahir Pasha in der Tschechoslowakei, Genaues wusste man nicht. 110 Vorgesehen waren die Besichtigung des Hebewerks Niederfinow, eine Fahrt zur Zugspitze und mit dem Zeppelin, für Taher Pasha ein Besuch bei Junkers, für Chaker Bey eine Fahrt mit dem Schienenzepp und die Elektrifizierung der Reichsbahn in München. Zusagen von: Mohammed Taher Pasha, Abdel Wahab Pasha (Staatssekretär im Finanz-Ministerium), Mohammed Chaker Bey (Generaldirektor der ägyptischen Eisenbahnen), Hafez Hassan Pasha (früherer Ackerbauminister), Mohammed Taher Bey (Augenarzt), Gabriel Takla Bey (Eigentümer von „Ahram“). Deutsch-Ägyptisches Komitee (Berlin) an Stohrer, 12. u. 19. Juli 1934. PA AA R 77736. 111 Koss (Sekretär des Deutschen Orient Vereins) an Pilger, 8. September 1934. PA AA R 77736. 112 Deutsches Generalkonsulat Genua an AA Berlin, 23. Oktober 1934. PA AA R 77720. 113 Aufzeichnung der Gesandtschaft Kairo (Pilger), 6. März 1934. PA AA R 77736.
4.2 Ägyptendeutsche unterm Hakenkreuz
235
uns umgeschwenkt sei“, könnte „die Juden verärgern und davon abhalten, (…) sich bei der Gesellschaft zu versichern“. Über diese Vorgehensweise beschwerten sich die Herausgeber des „Journal“ bei der Gesandtschaft, Pilger beraumte eine Besprechung mit mehreren Vertretern der Deutschen Kolonie an,114 konnte aber keine grundsätzliche Strategie entwickeln. Zwecks Förderung der deutschfreundlichen Gesinnung der Ägypter wollte die Gesandtschaft im Juli 1934 an 3000 Personen in Kairo und Alexandria „antisemitische Literatur“ senden lassen. Die Sendung sollte von Frankreich aus erfolgen, keinesfalls aus Deutschland.115 Als zweckmäßig galt das von Georges Saint-Bonnet verfasste Werk „Le Juif ou l’Internationale du Parasitisme, Edition Vita, 2 rue Fléchier Paris“, versehen mit einer Binde, die auf der vierten Innenseite das „Gebet eines Juden“ enthielt: „Herr gib mir selbst keine Reichtümer, aber lass mich neben Menschen wohnen, die reich sind“. Das Buch sollte an 500 Adressen in Ägypten geschickt werden,116 realisiert wurde es nicht, weil es dem Reichspropagandaministerium an den erforderlichen Mitteln fehlte, die vorhandenen zugunsten des Kairener Prozesses gegen den Deutschen Verein eingesetzt werden mussten.117 Die Versicherung „Allianz und Stuttgarter“ sagte der Gesandtschaft im Januar 1935 100 LE für Propaganda in der ägyptischen Presse zu.118 Ihr folgte der Werberat der deutschen Wirtschaft mit 10.000 RM. Zuständig für die Verteilung der Gelder sollte der Jurist Diewerge sein, der im Februar eigens in Kairo anreisen und sich mit Homeyer, Huecking, Uppenkamp, Albrecht und der NSDAP Landesgruppe besprechen wollte.119 Am 4. August 1938 überreichte Botschafter Ow-Wachendorf (Kairo)120 dem Auswärtigen Amt in Berlin eine „Aufzeichnung über die Geschichte und heutige Stellung des Judentums in Ägypten“, verfasst von dem in Kairo tätigen deutschen Rechtsanwalt J. G. Theiss.121 „Bemerkenswert“ sei, so der Autor, die „Zunahme der Juden im Verhältnis zur Bevölkerungsgesamtsumme, die nur als Folge einer Einwanderung des jüdischen Elements“ zu erklären sei. Berlin sollte veranlassen, diese Schrift in vervielfältigter Form den in Ägypten befindlichen deutschen Konsulatsbehörden und der dortigen NSDAP zuzusenden. Das Auswärtige Amt und die deutsche 114 Fast, Hapkemeyer, van Meeteren, Prayer, Schoeck. Alfred Hess ließ sich entschuldigen. 115 Stohrer an AA, 23. Juli 1934. PA AA R 77736. 116 Stohrer an AA, 8. August 1934. PA AA R 77736. 117 Reichspropagandaministerium an deutsche Gesandtschaft Kairo, 12. Dezember 1934. PA AA R 77736. 118 E. Voulich (Kairo) an Gesandtschaft, 25. Januar 1935. PA AA R 77736. 119 Vermerk Pilger vom 15. Februar 1935, Telegramm v. 12. Februar 1935. PA AA R 77736. 120 Geboren 1886 Hannover, seit 1936 als Gesandter in Kairo. 1938/39 gehörte weder er noch seine Ehefrau einer NS-Organisation an. PA AA Kairo-Gesandtschaft 2a. 121 Danach lebten die meisten Juden in Kairo (34.103), gefolgt von Alexandria (24.829) und Port Said (1.012). PA AA Nr. 5596 R 99404.
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4 Die Zäsur – 1933 und die Folgen
Gesandtschaft in Ägypten seien sehr an der „Geschichte und heutigen Stellung des Judentums in Ägypten“ interessiert. Schon 1935 wollte die NSDAP in Ägypten erfahren haben, dass vor allem Alexandria eine „Judenhochburg wie kaum eine andere Stadt der Welt“ sei, die Stellungen von Juden sollten Deutsche übernehmen.122 Auch wenn von Stohrer ausschließlich die ‚jüdische Presse‘ für die zunehmend kritische Haltung vieler Ägypter gegenüber Deutschland verantwortlich machte, dürfte ihm und seinem Nachfolger (ab 1936) von Ow-Wachendorf (1886–1939)123 bekannt gewesen sein, dass der Kreis der Kritiker weit darüber hinaus ging. Vor allem nach dem „Anschluss“ Österreichs im März 1938 schlug die Stimmung zu Ungunsten Deutschlands um, die Folgeereignisse beobachteten die Ägypter schockiert. Sogar Ahmad Husain von „Junges Ägypten“ wandte sich im Juli 1939 vollends von den Nationalsozialisten als Vorbilder ab.124 Deutschland galt in Ägypten nunmehr als aggressiv, rassistisch und Feind der Menschheit. Im Gegenzug bekannten sich die Ägypter – bzw. die Intellektuellen – mehrheitlich zur Demokratie, wie beispielsweise aus einem Artikel vom Juni 1939 hervorgeht, verfasst von Abbas Mahmud al-Aqqad für „Al-Hilal“.125 Deutschland versuchte gegenzusteuern und um die Gunst vor allem des Königshauses zu werben.126 Von Deutschland aus entwickelte die Orient Abteilung in Koordination mit dem Auswärtigen Amt Richtlinien für die Propaganda und politische Strategie für Ägypten, Afghanistan, Saudi-Arabien, Palästina, Syrien, Türkei, Indien, Iran, Sudan und Ceylon. Die Produktion von Radiosendungen, die über arabische Kanäle gesendet wurden, lag in der Verantwortung von Abteilung VII der Hörfunkpolitischen Abteilung, die eng mit der politischen Abteilung des Außenministeriums zusammenarbeitete. Eine Führungsposition besetzte dort seit Kriegsbeginn Kurt Munzel (1905–1986),127 Leiter der Abteilung ab 1942. Mit den ägyptischen Verhältnissen war Munzel bestens vertraut, von 1929 bis 1939 hatte er für die Deutsche Orient Bank
122 Wolfgang Schwanitz: Deutsche, 1994, S. 84. 123 Ab 1911 beim AA, 1931 Gesandter in Luxemburg, 1934 Generalkonsul in Kalkutta. Die Karawane, 2009, S. 91. 124 Ami Ayalon: Egyptian Intellectuals, 1988, S. 398 f. 125 Ami Ayalon: Egyptian Intellectuals, 1988, S. 399. 126 Hitler ließ König Faruk zu seiner Eheschließung, 1938, ein „Mercedes-Benz-Sport-Cabriolet“ schenken. Wolfgang Schwanitz: Deutsche, 1994, S. 83. 127 1939 Bevollmächtigter der Dresdner Bank, von 1939 bis 1944 als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter, später als Legationssekretär im Auswärtigen Dienst. Studierte nach 1945 islamische und semitische Philologie, Promotion 1948, 1947 bis 1949 Lektor für Arabisch und Türkisch an der Universität Erlangen, bis 1951 Assistent an der Universität Köln, 1951 Rückkehr in den Auswärtigen Dienst, 1953 bis 1955 den deutschen Vertretungen in Bagdad und Amman angehörend, ab November 1955 Legationsrat 1.Klasse bei der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Kairo. http://www.munzinger.de/search/portrait/Kurt + Munzel/09407.html (22.01.2014).
4.2 Ägyptendeutsche unterm Hakenkreuz
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(1929–31) und die Dresdner Bank (1931–39) gearbeitet, gleichzeitig an der Amerikanischen Universität Kairo studiert. Im April 1933 trat er der NSDAP bei.128 Ebenfalls sehr vertraut mit Ägypten und dem Nahen Osten insgesamt war Curt Prüfer, um dessen berufliches Fortkommen nach dem Ersten Weltkrieg sich besonders Max Meyerhof bemühte. Auch er konnte während der NS-Zeit seine Karriere deutlich ausbauen. Ab 1930 war er Dirigent der angloamerikanischen Abteilung des Auswärtigen Amts; im Februar 1934 wurde er von Ernst Wilhelm Bohle, Leiter der Auslandsabteilung der NSDAP, für die Position des Personalchefs der Abteilung ins Gespräch gebracht, 1936 ernannt. Stellvertretender Personalchef wurde im Januar 1937 Hans Schroeder, der im Dezember 1928 als Konsulatssekretär an die deutsche Gesandtschaft Kairo berufen worden war, dort dank der Protektion von Alfred und Rudolf Hess rasch Karriere machte. Im März 1933 trat er der NSDAP bei, wurde kurz danach Ortsgruppenleiter in Alexandria, 1934 Landesgruppenleiter von Ägypten.129 Für das Ehepaar Borchardt und auch für Meyerhof dürfte es eine weitere bittere Erfahrung gewesen sein, einen ehemals Vertrauten wie Curt Prüfer als Träger des nationalsozialistischen Regimes erleben zu müssen.
Abb. 19: Deutscher Dampfer „Emden“, 1939 in Port Said 128 Jeffrey Herf: Nazi Propaganda, 2009, S. 39. 129 Rudolf Hess förderte Schroeder auch in Deutschland. 1941 wurde er Ministerialdirektor und Leiter der Personal- und Verwaltungsabteilung. Eckart Conze, Norbert Frei, Peter Hayes, Moshe Zimmermann: Das Amt, 2010, S. 97 f.
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4 Die Zäsur – 1933 und die Folgen
Auch nach Ausbruch des Krieges und Ausweisung bzw. Internierung der Deutschen in Ägypten, blieb man in Deutschland über die Verhältnisse in Ägypten gut informiert.130 In der politischen Abteilung des Außenministeriums leitete Wilhelm Melchers die Politik gegenüber dem Mittleren Osten, Kurt Munzel das Büro in der Abteilung für Hörfunkpolitik. In Erwin Rommels Afrika Corps schrieben Konstantin Alexander von Neurath, Sohn des früheren deutschen Außenministers Konstantin von Neurath, und der Ägyptologe Hans Alexander Winkler arabische Flugblätter, die zur Verteilung in Nord Afrika und im Mittleren Osten bestimmt waren.131 Im April 1942 berichtete der deutsche militärische Geheimdienst, die Stimmung in Ägypten sei extrem anti-britisch. „Tausende“ hätten demonstriert und dabei „Rommel“ skandiert, weil man von diesem die Befreiung Ägyptens von den Engländern erhoffe. Flugblätter wurden verteilt, darunter das von Hans Alexander Winkler verfasste, der einer der engsten Berater von König Faruk war.132 Tatsächlich zeigte ein Großteil der Ägypter nach Ausbruch des Krieges in der Hoffnung auf Vertreibung der Engländer große Deutschenfreundlichkeit, wie Max Meyerhof mit Erschütterung beobachtete.133
4.3 Der ‚Prozess‘ Ein Teil der ägyptischen Juden reagierte rasch und konsequent auf die „Machtübernahme“ der Nationalsozialisten. Der von ihnen in die Wege geleitete sogenannte „Kairoer Judenprozess“ von 1933/35 schlug über Ägypten hinaus hohe Wellen. Auslöser war die von dem Vorsitzenden des „Deutschen Vereins“,
130 Im Oktober 1941 hatte Hitler eine Auseinandersetzung mit Ribbentrop und Propagandaminister Goebbels, wer die Verantwortung für die fremdsprachige Propaganda übernehmen sollte. 131 Jeffrey Herf: Nazi Propaganda, 2009, S. 9 132 Jeffrey Herf: Nazi Propaganda, 2009, S. 96. 133 1941 schrieb er: „Und das zucht- und disziplinlose Volk wünscht sich eine diktatorische Regierung und hat starke Sympathien für die Nazis! Die würden sich wundern, wenn sie nur mal vier Wochen eine Naziherrschaft erlebten. Aber der arabische Rundfunk von Berlin wird jeden Abend eifrig gehört, da wird den dämlichen Ägyptern versprochen, wenn sie die Engländer rausschmissen und die Deutschen hierher bekämen, so würden sie in voller Selbständigkeit eine rein arabisch-muselmanischen Staat aufrichten können, mit gleichem Einkommen für alle. Die Juden würden natürlich enteignet und nach Madagaskar geschickt, die christlichen Kopten nach Abessinien und alle Europäer in die respektiven Länder! Das gefällt den Dummköpfen natürlich und erst gestern und heute machten sie deutschfreundliche Demonstrationen in den Straßen.“ 1. Juni 1941: „Die Neigung der Ägypter zu den Deutschen nahm mit der Länge des Krieges ständig zu, von den höchsten Kreisen bis zu den niedersten.“ Brieftagebuch Meyerhof 1939–1945 (Privatbesitz).
4.3 Der ‚Prozess‘
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Wilhelm van Meeteren,134 herausgegebene antisemitischen Broschüre „Die Judenfrage in Deutschland“ (publiziert auf Deutsch, Französisch und Arabisch). Damit reagierte die ‚deutsche Kolonie‘ auf die bereits im März und April 1933 einsetzenden Protestkundgebungen und Boykottaufrufe der ägyptischen Juden, die auf die Verfolgung der Juden in Deutschland aufmerksam machen wollten.135 Die Aufrufe waren zunächst so erfolgreich, dass die wirtschaftlichen Interessen der Deutschen in Ägypten merklich beeinträchtigt wurden, weshalb sich die deutsche Gesandtschaft zu Gegenmaßnahmen veranlasst sah. Die von ihr initiierte Broschüre rief die jüdischen Gemeinden Ägyptens erneut auf den Plan.136 Einer ihrer prominentesten Vertreter, Umberto Jabès,137 strengte mit Unterstützung der Logen und der „Ligue Internationale Contre l’Antisémitisme Allemand“ vor dem Gemischten Gericht in Kairo einen Prozess an wegen Beleidigung, Störung der Öffentlichen Ordnung und Verbreitung von Rassenhass. Dahinter stand die Intention, die Weltöffentlichkeit über das Geschehen in Deutschland zu informieren und weltweite Proteste zu provozieren. Für die Kläger endete der Prozess negativ; die Klage wurde in erster (Juni 1933) und zweiter Instanz abgewiesen.138 Für die ägyptische Politik stellten sowohl der Prozess als auch die Aktivitäten der ägyptischen Juden eine problematische Herausforderung dar. Wirtschaftliche Interessen drohten tangiert, bilaterale Spannungen mit Deutschland hervorgerufen zu werden. Dies bedeutete, dass die deutschen Beklagten – in der Hauptsache van Meeteren – mit gewogenen Richtern bzw. einem günstigen Urteil rechnen durften. Schon im Vorfeld des Prozesses hatte die deutsche Gesandtschaft in Ägypten der dortigen Regierung gedroht, Deutschland werde seinen Baumwollhandel mit Ägypten abbrechen, sollte der Prozess einen ‚unerwünschten‘ Ausgang haben. ‚Vorreiter‘ bei der Gesandtschaft war Gesandtschaftsrat Hans Pilger, Schwiegersohn von van Meeteren.139 134 Geboren 1883, erhielt 1954 das Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland. http:// de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:WikiProjekt_Bundesverdienstkreuz/1954. 135 Gudrun Krämer: Minderheit, 1982, S. 262 ff. 136 Im März 1933 gründete sich die ägyptenweite „Ligue contre l’Antisémitisme Allemand, Association formée par toutes les oeuvres et institutions juives d’Egypte“ unter Vorsitz des Rechtsanwalts Léon Castro. 137 Jabès war Börsenmakler, wohnte 1939 in Kairo-Zamalek (rue Gezira el-Wosta). Le Mondain Egyptien, 1939, S. 222. 138 Begründung war, dass die Schrift sich nicht gegen einzelne Personen richtete, also auch nicht als persönliche Beleidigung gewertet werden könnte. Auf die Ehrverletzungsklage von Jabès ging das Gericht nicht ein. Die Schrift des Deutschen Vereins wurde dem Gericht nicht eingereicht. Ausführliche Analyse des Prozesses und seiner Folgen bei Albrecht Fueß: Deutsche Gemeinde, 1996, S. 102–119; Mahmoud Kassim: Diplomatische Beziehungen, 2000, S. 289–341. 139 Diese Verknüpfung von politischen und persönlichen Interessen findet in der relevanten Forschungsliteratur keine Erwähnung, scheint eher unbekannt. Die Information verdanke ich
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Innerhalb der ‚deutschen Kolonie‘ war die Haltung zu den deutschen Verlautbarungen und zum Prozess gespalten. Nachdem die Broschüre zur „Judenfrage“ veröffentlicht und sie den Gerichtsprozess ausgelöst hatte, teilten die miteinander befreundeten Juristen Hector Liebhaber140 und Walther Uppenkamp ihre Ablehnung gegen den aus Deutschland angereisten Juristen Diewerge, der aus früherer gemeinsamer Zeit in Kairo und als Nationalsozialist bekannt war. Aufgrund seiner jüdischen Herkunft hatte Liebhaber noch triftigere Gründe zur Ablehnung als Uppenkamp, der gleichwohl entsetzt war von dem nationalsozialistisch inspirierten Pamphlet und die Teilnahme am Prozess verweigerte. Ob er überhaupt zugezogen worden wäre, ist fraglich.141 Von Stohrer hatte hingegen bereits am 7. August 1933 beim Auswärtigen Amt die Entsendung eines „wirklich erstklassigen“ Juristen angemahnt, woraufhin das Reichspropagandaministerium Wolfgang Diewerge (1906–1977) mit der Ausarbeitung von Gutachten beauftragte.142 Ebenso wie Liebhaber ließ Uppenkamp sich lange nicht von seinem Vertrauen auf die in Deutschland bestehende verlässliche Rechtsordnung abbringen, was er in diversen öffentlichen Vorträgen, auch zum Völkerrecht, zum Ausdruck brachte. Damit stieß er jedoch bald an Grenzen, die ihm die in Ägypten aktiven Nationalsozialisten unter der Leitung zunächst von Alfred Hess setzten. An Berlin wurden kritische Berichte über Uppenkamp weitergeleitet, seine S tellung als
Frau Uppenkamp-Adämmer. Die engen Verbindungen (einschließlich nachbarschaftlichen Wohnens) zwischen den die ‚deutsche Kolonie‘ leitenden Persönlichkeiten ab 1933 thematisiert lediglich: Samir Rafaat: Goebbels, 1995. 140 Rechtsberatung und -beistand suchende Deutsche und Österreicher wandten sich in aller Regel an die Kanzlei Dahm&Liebhaber. Weshalb Dahm sich der Kanzlei von Liebhaber anschloss, lässt sich nicht ermitteln. Er ließ sich hauptsächlich aus gesundheitlichen Gründen in Ägypten nieder. An seinem Nierenleiden verstarb er 1934. In Kairo ehelichte er seine Haushälterin, die Schweizerin Jeanne Geissler. Mit großem Respekt sprach man in der deutschen Kolonie von Liebhabers Schwester Nelly, die fünf Jahre lang Klavierunterricht von Czerny erhalten hatte und in Kairo als die beste Klavierlehrerin galt. Ebenso wie Uppenkamp lebte Familie Liebhaber in Kairo-Maadi. 141 Aussagen seiner Tochter zufolge (Oktober 2011) wurden etliche ‚Berichte‘ über ihn nach Berlin gesandt. Er galt als ‚politisch unzuverlässig‘, war aber als Richter am Gemischten Gericht aufgrund seiner profunden Kenntnis des Französischen Rechts kaum zu ersetzen. Im Laufe der 1930er Jahre zog er sich wegen ständig vorhandener, mehr oder weniger latenter Bedrohungen gesellschaftlich zurück. 142 Mahmoud Kassim: Beziehungen, 2000, S. 363. Diewerge hatte am „Hitlerputsch“ von 1923 teilgenommen, war ab 1934 im Reichspropagandaministerium tätig, 1939 Leiter der Reichspropagandaabteilung Danzig, 1940 Oberregierungsrat, ab Herbst 1941 Leiter der Rundfunkabteilung im Reichspropagandaministerium. Nach 1953 war er Rechtsanwalt und Geschäftsführer in Wiesbaden. Ernst Klee: Personen Lexikon, 2003, S. 111.
4.3 Der ‚Prozess‘
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Richter am Gemischten Gericht war in Gefahr.143 Definitiv lässt sich zwar nicht klären, weshalb er seine Stellung halten konnte, vermuten lässt sich aber, dass sich der deutsche Gesandte von Stohrer sowie vor allem der Hess-Vertraute, Angestellte der Gesandtschaft und ebenso wie Uppenkamp tragende Persönlichkeit des Deutschen Vereins, Hans Schroeder, für ihn einsetzten. Denn ‚vor Ort‘ war es wichtig, den Zusammenhalt der ‚deutschen Kolonie‘ zu stabilisieren und nach außen zu zeigen. Außerdem wäre es schwierig gewesen, für Uppenkamp einen von Ägypten akzeptierten Ersatz zu finden. Denn die Rechtsprechung der Gemischten Gerichte erfolgte auf der Basis des Französischen Rechts, was Uppenkamp seit seinem Studium in Paris und Lyon ebenso geläufig war wie die französische Sprache.144 In Ägypten hatte er sich im Laufe seiner 1926 beginnenden Tätigkeit einen hervorragenden Ruf als einziger deutscher Richter beim Gemischten Gericht145 erworben, war mit einigen seiner Kollegen befreundet. Wäre Uppenkamp seiner Position enthoben worden, wäre dies auf Unverständnis und Misstrauen gestoßen, was wiederum dem Ruf Deutschlands geschadet hätte. Diewerge wurde unmittelbar aktiv. Im Oktober 1933 veröffentlichte er die Schrift „Die Deutsche Kolonie in Kairo setzt sich zur Wehr!“.146 Zusätzlich wandte sich der Deutsche Verein zwecks Unterstützung an den Essener Juristen Friedrich Grimm (1888–1959),147 der am 19. Oktober zusagte, vor dem Gemischten Gericht in Kairo das Plädoyer zugunsten des Deutschen Vereins halten zu wollen. Die 143 Korrespondenz dazu zwischen Uppenkamp, Pilger, Stohrer und AA Berlin ab August 1934. PA AA R 77762. 144 Aussagen von Frau Gisela Uppenkamp-Adämmer, September 2013. 145 Deutsche unterlagen nach 1923 nicht der ägyptischen, sondern der Konsulargerichtsbarkeit mit Sitz in Ägypten. Zuständig für Nicht-Ägypter waren die Gemischten Gerichte in Kairo und Alexandria. Das deutsche Konsulat in Alexandria listete am 22. September 1925 als bei den dortigen deutsche Konsulargerichten für Deutsche zugelassenen Rechtsanwälten auf: Fritz W. Dahm (Kairo, Rue Manakh 26), Hector Liebhaber (wie Dahm), Dr. Nicolas Anagnostopoulo (Alexandria, Rue Mahmoud Pasha El Falaki 5), Solon Anagnotopoulo (wie N. A.), Baron Wilhelm v. Egert (Alexandria, Rue de l’Hopital Ingène 6). Am 26. Februar 1926 wurden aufgeführt: Wilhelm v. Egert, Alexandre Polnauer (Alexandria, Rue Mahmoud Pasha El Falaki 9) sowie Dahm & Liebhaber in Kairo. Nicolas Anagnostopoulo wurde am 21. November 1925 in einem Hotel in Wien erschossen. Seine Ehefrau gab zu Protokoll, er sei von dem Schwager seiner österreichischen Ehefrau, einem österreichischen Offizier namens Katholik, umgebracht worden. Als die Witwe nach Alexandria zurückkehrte, verwehrte ihr der Bruder des Getöteten den Zutritt zur gemeinsamen Anwaltskanzlei und zum Wohnhaus, was die gesamte deutsche und österreichische Kolonie in Unruhe brachte. Auch der Zugang zum gemeinsamen Vermögen wurde der Witwe verwehrt. Angesichts des Verhaltens von Solon Anagnostopoulo brachen das deutsche und das österreichische Konsulat die geschäftlichen Beziehungen zu ihm ab. PA AA R 77762. 146 PA AA R 77735. 147 Verteidigte in den 1920er Jahren Thyssen und Röchling vor französischen Gerichten, war Anwalt des rechten Lagers, 1927 Honorarprofessor für internationales Privat- und Prozessrecht
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4 Die Zäsur – 1933 und die Folgen
‚deutsche Kolonie‘ werde nicht „schutzlos den jüdischen Angriffen und Verleumdungen gegenüberstehen, sondern einen Rechtsanwalt zur Seite haben, der nicht nur wegen seiner umfassenden ausländischen Rechtskenntnisse, sondern auch wegen seiner vornehmen Zurückhaltung und Sachlichkeit einen internationalen Ruf genießt“. Von Interesse sei, dass die ägyptische Presse intensiv die vom „Völkischen Beobachter“ verbreiteten Nachrichten zum „kommunistischen Treiben“ der „Pariser Judenanwälte Moro de Giafferi und Henri Torrès“148 verfolge. Im Zusammenhang mit dem „Kairoer Judenprozess“ nahm das Interesse deutscher Juristen an einer Tätigkeit in Ägypten erkennbar zu.149 Denn der Prozess schien eine willkommene Gelegenheit, sich zu profilieren und die eigene Karriere voranzutreiben. Nachdem Rechtsanwalt Fritz Dahm, der im Hintergrund und beratend für den Prozess gearbeitet hatte, Mitte 1934 verstorben war, erreichten mehrere Bewerbungsschreiben die deutsche Gesandtschaft in Kairo bzw. den dortigen Gesandtschaftsrat Hans Pilger. Auf Anfrage der Ortsgruppe der NSDAP Hamburg sandte Rechtsanwalt Stock von Dessau am 8. Oktober 1934 ein entsprechendes Schreiben nach Kairo.150 Er fragte an, ob die Gesandtschaft mit der „geplanten unmittelbaren schriftlichen Verhandlung mit Rechtsanwalt Lieber-Kairo zwecks meiner Zulassung als deutscher Anwalt vor den Gemischten Gerichten Ägyptens und einer evtl. Assoziierung mit ihm einverstanden“ sei. Außerdem wollte er erfahren, ob Kammergerichtsrat Uppenkamp „als ständiger deutscher Richter bei den Gemischten Gerichten Ägyptens tätig und Verwalter des Nachlasses des verstorbenen Rechtsanwalts Dahm“ sei. Auch mit ihm wollte in Münster, 1933 Mitglied des Reichstags, danach Botschafter in Paris. 1949 war er als Rechtsanwalt tätig, zusammen mit Achenbach Verfechter der „Generalamnestie“ für NS-Verbrecher. Ernst Klee: Personen Lexikon, 2033, S. 200 f. 148 Torrès (1891–1966), französischer Strafrechtler und Politiker. Sein Großvater Isaiah Levaillant gründete während der Dreyfus Affäre die „League of the Defense of Human and Civil Rights“. Schon früh schloss Torrès sich den Kommunisten an und arbeitete als Journalist. Vincent de Moro-Giafferi und César Campichi wurden bekannt als „Three Musketeers“. Nach der NSInvasion floh Torrès nach Süd Amerika, wurde aber wegen seiner linken politischen Gesinnung aus Brasilien und Uruguay ausgewiesen. Er emigrierte nach Kanada, dann in die USA, von wo aus er gegen das Vichy Regime arbeitete und de Gaulle unterstützte. Das Pétain Regime verurteilte ihn in Abwesenheit zum Tode. Nach dem Krieg kehrte Torrès nach Frankreich zurück. http:// en.wikipedia.org/wiki/Henri_Torres (10.02.2014) 149 29. Dezember 1934 Schreiben des Ref. Diewerge, betr. Devisengenehmigung für Ägypten. Es ging um eine etwaige Vergütung für die beiden Juristen Eberhard v. Thadden und Dr. Rieck, die eine „Informationsreise“ nach Ägypten angetreten hatten. Für Unmut sorgte, dass v. Thadden die Ansicht geäußert hatte, „der Kairoer Judenprozess werde durch einen Vergleich zwischen Nationalsozialismus und Judentum beendet werden. Von einer solchen Absicht ist hier nichts bekannt“. PA AA R 77762. 150 PA AA R 77762.
4.3 Der ‚Prozess‘
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Stock sich in Verbindung setzen. Keineswegs plante er, lediglich für die Dauer des Prozesses in Ägypten zu bleiben, sondern die langfristige Niederlassung, wie er der Auslandsorganisation der NSDAP (Rechtsamt Hamburg) am 8. Oktober 1934 mitteilte. Ohne die Zustimmung dieser Organisation und des Reichspropagandaministeriums zögerte Stock jedoch, direkt mit Hector Liebhaber in Verbindung zu treten, in dessen Kanzlei er eintreten wollte. Sein Zögern resultierte daraus, dass „bekanntlich Herr Liebhaber Jude ist“. Allerdings hatten Gesandtschaftsrat Pilger und die Auslandsorganisation der NSDAP ihm mitgeteilt, „dass angesichts des sehr loyalen Verhaltens von Herrn Liebhaber und seiner langjährigen Freundschaft mit Herrn Dahm Ihrerseits und seitens der genannten Ministerien grundsätzlich keine Bedenken dagegen bestünden, wenn der neue sich evtl. in Kairo niederlassende reichsdeutsche Anwalt, auch wenn er Mitglied der NSDAP ist, sich aus praktischen Gründen mit Herrn Liebhaber assoziiert, wie es Herr Dahm getan hatte, zumal ja der neue reichsdeutsche Anwalt in Kairo zwecks späterer Zulassung vor dem heimischen Berufungsgericht bei einem schon ansässigen ägyptischen Anwalt eine mehrjährige Probezeit durchmachen muss“. Zu Hector Liebhaber gab es also in Kairo keine Alternative. Außerdem – so Stock – wäre es wohl im Interesse des anhängigen Prozesses gegen die ägyptische Judenschaft, wenn sich ein „reichsdeutscher Anwalt“ vor Prozessbeginn in Ägypten kundig machte. Auch sei es im Interesse Deutschlands, „wenn in Ägypten vor den Gemischten Gerichten bald ein reichsdeutscher arischer Anwalt ständig zugelassen“ sei, „zumal jetzt überhaupt kein reichsdeutscher Anwalt mehr dort tätig ist und in früherer Zeit sogar mehrere gleichzeitig dort zugelassen waren“. Zu der gemeinsamen Anwaltspraxis von Liebhaber und Stock kam es nicht. Vielmehr trat die mit Kairo bestens vertraute Dr. Margarete Bitter151 – sie hatte bis 1914 mit ihren Eltern in Kairo gelebt – in dessen Kanzlei ein, obwohl Stock sich weiterhin um die Stelle bemühte. Das Auswärtige Amt beauftragte den besagten, überaus ehrgeizigen Juristen Wolfgang Diewerge152 mit der Vorbereitung und Durchführung des Prozesses. Der erwähnte, seit Jahren in Kairo ansässige Rechtsanwalt Dahm kam für diese Position nicht in Frage, war aber maßgeblich für die Prozessvorbereitung zuständig.153 151 Wurde nach Kriegsausbruch in Mansoura (Ägypten) interniert. 152 Für Diewerge bildete der Prozess den Beginn einer steilen Karriere, die er auch nach 1945 fortzusetzen verstand. Einen Teil seiner juristischen Ausbildung absolvierte er am Kairener Konsulargericht. Nach 1945 machte er als Persönlicher Assistent des FDP-Landesvorsitzenden Friedrich Middelhauve Karriere bei der FDP Nordrhein-Westfalens. 153 Dahm kam 1922, nachdem er in Frankfurt als Anwalt praktiziert hatte, als Gesandtschaftsattachée nach Ägypten. 1925 und 1926 war er Präsident des „Deutschen Vereins“ in Kairo. Zur Zeit des Prozesses war er bereits ein schwer kranker Mann. Mahmoud Kassim: Beziehungen, 2000, S. 372 ff.
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„Die deutsche Seite entschloss sich nach einigen Bedenken, den Prozess zum großen Schlag gegen die internationale jüdische ‚Hetz- und Greuelpropaganda‘ (so die deutsche Sprachregelung) aufzuwerten.“154
Abb. 20: Fritz Dahm, um 1933 in Kairo
Zur Prozessvorbereitung wandte sich Dahm unter anderem am 7. Juli 1933 an Max Naumann, Vorsitzender des VnJ.155 Aus der Sondernummer der Verbandszeitschrift vom Mai 1933 hatte er ersehen, dass der Verband und besonders Naumann selbst gegen „die Elemente des Judentums, die eine destruktive Tendenz hatten“, ankämpften. Von Interesse waren für Dahm nicht nur dieses Sonderheft, sondern auch alle andern Ausgaben, die dieses Ziel verdeutlichten. Die Ursache seiner Anfrage verhehlte Dahm nicht. In Ägypten habe die „Deutschenhetze (…) zum Teil geradezu groteske Formen angenommen“. Sie werde getragen „von Elementen, die das saubere Judentum selbst verurteilt“. Weil sie Gast in Ägypten sei, habe die ‚deutsche Kolonie‘ trotz erheblicher wirtschaftlicher „Schädigungen“ bisher Stillschweigen bewahrt, „teils einen rein sachlichen Abwehrkampf geführt“. Dazu gehörte, dass an alle Deutschen eine Broschüre versandt worden sei, „die die Deutschen selbst über die Ursachen des Anti-Semitismus in Deutschland aufklären sollte“. Dies habe der „hiesige Jude“ Umberto Jabès „zum Vorwand 154 Gudrun Krämer: Minderheit, 1982, S. 266. 155 SIK MB 73/2.
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genommen, um durch den Präsidenten der deutsch-feindlichen Liga, Herrn Rechtsanwalt Leon Castro,156 eine Klage auf Schadensersatz gegen den Deutschen Verein und gegen den deutschen Drucker der Broschüre zu erheben“. Er selbst, Dahm, vertrete als Vertrauensanwalt der Gesandtschaft die ‚deutsche Kolonie‘ in dem vor den Gemischten Gerichten anhängigen Prozess. „In diesem Prozess wäre es für mich von ganz besonderem Wert, Stimmen von solchen Juden zitieren zu können, die gegen die Ursache des heutigen Antisemitismus seit Jahren angekämpft haben. Ich nehme an, dass gerade Ihr Kreis diesen Kampf durchgeführt hat. Durch die Übersendung einiger Nummern, die gerade Ihre Bestrebungen klar zum Ausdruck bringen, würde der deutschen Sache daher ganz wesentlich gedient sein.“157 Bereitwillig stellte Naumann etliche Ausgaben der Verbandszeitschrift, die Flugschrift „Brennende Fragen“ und ein Exemplar der in London erscheinenden „antibolschewistischen“ Zeitschrift „The Investigator“ zur Verfügung, mit der „Ermächtigung, unser Material und nötigenfalls auch dieses Schreiben zu dem Zweck zu verwenden, den Sie im Auge haben, nämlich zur Bekämpfung deutschfeindlicher Bestrebungen und insbesondere zur Bekämpfung des Versuchs, durch Deutschenhetze und sonstigen Druck vom Ausland her die innerdeutschen Verhältnisse zu beeinflussen“. Es stelle durchaus keinen Widerspruch dar, dass die deutschen Juden derzeit materiell und seelisch sehr zu leiden hätten. „Wenn man sein ganzes Leben lang sich als nationaler Deutscher gefühlt und betätigt hat, ist es nicht leicht, sich auch weiterhin als Deutscher zu fühlen und zu betätigen, trotzdem man von einem Teil der deutschen Volksgenossen nichtjüdischer Abstammung als Fremder behandelt wird“. Trotzdem werde man „bei der Stange bleiben“ und daran arbeiten, dass die „deutsch-vaterländische Gesinnung derjenigen Juden, die nicht Ostjuden, Zionisten oder Internationalisten sind, auch unter den heutigen Verhältnissen aufrecht erhalten bleibt.“ Bei den führenden Nationalsozialisten glaube man im Übrigen bereits einen Gesinnungswandel zugunsten der Juden feststellen zu können.158 Eine Kopie seines Schreibens an Dahm sandte Naumann an Mimi Borchardt, die äußerst ungehalten reagierte. Sie bedaure es sehr, schrieb sie am 16. August 156 Castro war „avocat à la Cour“, wohnte 1939 in Kairo-Garden City. Auch Maurice Castro (geb. 1892 Kairo) war Rechtsanwalt, Träger des „Croix de Guerre“ Italiens, studierte Rechtswissenschaften in Paris. Mit seiner Ehefrau (geborene Morpurgo) wohnte er in Kairo-Garden City. Le Mondain Egyptien, 1939, S. 139. 157 Dahm fügte zu seiner Person an, dass er früher Anwalt am Oberlandesgericht Frankfurt gewesen war und nun am Kairener Cour d’Appel Mixte tätig sei. Er sei preußischer Staatsangehöriger. Die Materialien könnten an die deutsche Gesandtschaft (zu dieser Zeit in Bulkeley-Alexandria, Villa Rogers) oder an die Adresse der Kanzlei in Kairo geschickt werden. 158 Naumann an Dahm, 28. Juli 1933. SIK MB 73/2.
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1933, „dass Sie sich über die Vorgänge bei nur einseitiger Berichterstattung ein Bild gemacht und gehandelt haben. Es wäre vorsichtiger gewesen, Sie hätten sich vorher bei mir danach und nach Ihrem Korrespondenten erkundigt“. Innerhalb der folgenden Wochen werde sie wohl Gelegenheit finden, ihm genauere Mitteilungen zur Sache zu machen. „Sie werden dann wohl selbst über die ev. Folgen klarer sehen können.“159 Unterschiedlicher Auffassung waren Mimi Borchardt und Max Naumann nicht zum ersten Mal, obwohl sie aktives Mitglied des Verbandes war und ihn finanziell nicht unerheblich unterstützte.160 Im Jahre 1932 hatte Mimi Borchardt für gezielte Kampagnen gegen die Nationalsozialisten plädiert.161 Naumann hielt dies für unangebracht und überflüssig. Denn er glaubte nicht daran, „dass die Nazi allein oder auch nur maßgebend zur Macht gelangen“ und auch nicht, dass sie, wenn sie doch an die Macht kämen, „von ihnen der ernsthafte Versuch unternommen werden würde, ihre Agitations-Phrasen über Entrechtung der Juden in die Praxis zu überführen“. Nauheims Auffassung nach sollte der Verband Überzeugungsarbeit leisten anstatt gegen die Nationalsozialisten zu protestieren, was lediglich als „Jammern“ und „sich beschweren“ ausgelegt werde. Grundsätzlich unterschieden Nauheim und Mimi Borchardt sich allerdings nicht, indem beide davon überzeugt waren, dass deutsche Juden sich nicht an „jüdischen, sondern deutschen Gesichtspunkten orientieren“ sollten. Sie hielten es für falsch, „die Linksparteien zu wählen, deren ziellose und zum Teil korrupte Politik uns in die heutige Lage hineinmanövriert hat“. Zu „retten“ sei Deutschland nur, „wenn wir zu einer nationalen, dabei aber zu einer vernünftigen Politik kommen, wie sie heute von den Deutschnationalen, der Volkspartei und einem nicht unerheblichen Teil des Zentrums betrieben wird“. „Deutschfühlende Juden“ sollten wählen zugunsten der „deutschen Kultur und der deutschen Zukunft“. Dass Mimi Borchardt sich trotz ihrer Verbandszugehörigkeit anlässlich des Prozesses gegen Naumann stellte, ihm implizit gefährliche Naivität unterstellte, deutet auf ihre radikal gewandelte Sichtweise hin, was angesichts des in Kairo sich abspielenden Geschehens kaum verwundert. Auf welcher Seite die ägyptische Regierung stand, wurde schnell deutlich, indem sie der Gesandtschaft zusicherte, „künftig strenger gegen die antideut-
159 MB hielt sich zu dieser Zeit im Hotel Braunwald in Braunwald (Glarus) auf. SIK MB 73/2. 160 Am 27. Februar 1932 teilte sie Naumann (aus ihrem Sommerurlaub auf Sylt, Kurhaus in Kampen) mit, dass sie beiliegend einen Scheck in Höhe von RM 700,- zugunsten des VnJ schicke. Dabei betonte sie, wie recht Naumann gehabt habe, die Plakatierungsaktion für die Reichstagswahl erst in letzter Minute in Frankfurt durchzuführen. In Frankfurt war der CV nämlich sehr aktiv und hatte von den Aktionen des VnJ sehr abgeraten. SIK MB 73/2. 161 Naumann an MB, 3. August 1932. SIK MB 73/2.
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schen Aktivitäten auf ihrem Boden vorzugehen.“162 Öffentliche Kundgebungen und Boykottaufrufe der Juden Ägyptens sollten zukünftig unterbunden werden. Die ägyptische Presse reagierte ebenfalls kaum im Interesse der jüdischen Kläger. Den ägyptischen Juden wurde im Gegenteil vorgeworfen, „mit ihren Handlungen die ägyptische Volkswirtschaft zugrunde zu richten“.163 Bereits im Mai 1933 regte der ägyptische Innenminister, angesichts der verstärkten Zuwanderung deutschjüdischer Ingenieure und Ärzte, die Einführung von Einwanderungsbeschränkungen an. Zugleich lehnte die Regierung das Gesuch der ägyptischen Juden ab, verstärkt verfolgte deutsch-jüdische Intellektuelle aufzunehmen.164 Nachdem die Klage der ägyptischen Juden in erster Instanz abgewiesen worden war, sollte die Berufungsverhandlung im April 1935 stattfinden. Zu diesem Zweck übersandte der Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda an Gesandtschaftsrat Pilger in Kairo am 5. Mai 1935 „kleine Pressewinke für die Berichterstattung über die Berufungsverhandlung des Kairoer Judenprozesses“ vom 4. März 1935, verfasst von Diewerge.165 Das zuständige Gericht würde der Cour d’Appel in Alexandria sein. Geurteilt werde nach ägyptischem Recht, „das von einem französischen Rechtsanwalt verfasst ist“. Gerichtssprachen waren Arabisch, Englisch, Französisch und Italienisch. Eine große Rolle spiele die schriftliche Vorbereitung. Das Urteil erster Instanz sei mit einem „Sieg der deutschen Partei geendet, der von dem Gericht folgendermaßen begründet worden sei: ‚Aus diesen Gründen werden die Klagen des Herrn Umberto Jabès und die Nebenintervenienten auf Kosten des Klägers und der Nebenintervenienten für unzulässig erklärt und abgewiesen. Diese haben auch die Honorare der Anwälte des Beklagten in Höhe von 100 LE zu tragen. So verkündet in der öffentlichen Sitzung der ersten Zivilkammer von Kairo am Mittwoch, den 24. Januar 1934‘“. Diewerge empfahl, den Prozess zu bezeichnen mit dem „von der ersten Instanz eingebürgerten Schlagwort ‚Der Kairoer Judenprozess‘“. Wesentlich sei nicht, wo die Berufungsverhandlung stattfinde, sondern „zwischen wem er ausgefochten wird“. Aus diesem Grund dürfe man sich bei der Bezeichnung der Parteien nicht auf die Namen der Kläger beschränken, sondern müsse die „hinter dem Kläger stehenden Verbände des Weltjudentums, insbesondere die Weltliga zur Abwehr des Antisemitismus als verantwortliche Haupthetzer und Kläger (…) brandmarken“. Unbedingt sei hinzuweisen auf die internationalen Zusammenhänge „mit Paris, Amsterdam und Prag“ und ebenso „auf die Tatsache, dass die beratenden 162 Gudrun Krämer: Minderheit, 1982, S. 270. 163 Albrecht Fueß: Internierung, 1998, S. 342. 164 Albrecht Fueß: Deutsche Gemeinde, 1996, S. 95 f. 165 PA AA R 77762.
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Anwälte der Weltliga zur Abwehr des Antisemitismus de Moro Giafferi und Torrès in Paris bereits bei kommunistischen Kundgebungen sich unliebsam bemerkbar gemacht haben“. Aus juristischer Sicht sei mit dem „Sieg der deutschen Sache“ zu rechnen. Die „einzige Gefahr für die Verhandlung“ bestehe in der „von den Juden jetzt schon betriebenen uferlosen Vertagung“. Dies solle nach Möglichkeit betont werden. Daran anschließend wurden die Namen jener Personen genannt, die in den Prozessberichten vorkommen würden: Professor Grimm (Essen, MdR) als „Führer der deutschen Vertretung“, der auch das Hauptplädoyer halten sollte, sowie die beiden deutschen Beklagten van Meeteren und Safarowski. Die Namen der beiden Letzteren sollten nicht unbedingt genannt werden, sondern stattdessen „der von den Juden verklagte deutsche Verein“ oder „die deutsche Seite“. Des weiteren wurde aufgeführt Kamel Sedky Bey,166 ein ägyptischer Rechtsanwalt, „der auf deutscher Seite plädieren wird“ und Vizepräsident der ägyptischen Anwaltschaft war. Das Hauptplädoyer der Gegenseite würde Léon Castro, Vizepräsident der Weltliga zur Abwehr des Antisemitismus und Präsident „der jüdischen Boykottliga in Ägypten“, halten. Als Kläger würde Jabès auftreten, der laut Diewerge nicht gebürtig aus Ägypten stammte und die italienische Staatsbürgerschaft besaß. Vielmehr sei er der „Strohmann der Weltliga. Sein Vorleben ist keineswegs einwandfrei“. Noch nicht sicher war, wer als Richter auftreten würde. Wahrscheinlich würde, so Diewerge, der Niederländer van Ackere, dem man eine deutschfeindliche Einstellung nachsage, Präsident der Verhandlung sein. Öffentlich verlauten lassen sollte man dies nicht. Wichtig erschien Diewerge, dass „das Deutschtum in Ägypten (…) unter der Führung der Landesgruppe Ägypten der NSDAP fest organisiert (war). Es gibt keine Uneinigkeit und keine Splittergruppe. Der Begriff des Deutschtums in Ägypten kann daher stets geschlossen verwandt werden. Der Deutsche Gesandte in Ägypten heißt v.Stohrer, der Führer der Landesgruppe Schroeder“. Ferner sollte laut Diewerge „bei dem Kampf der deutschen Partei (…) jeder Hinweis auf eine materielle Unterstützung durch die Heimat“ vermieden werden. Erlaubt sein sollte „die Feststellung, dass sich im Dritten Reich das Auslandsdeutschtum im Vertrauen auf die Kraft der Heimat in viel stärkerem Maße zur Wehr setze als früher“. Bei der Frage der Notwendigkeit des Prozesses sollte die deutsche Seite darauf abheben, dass dieser eine „Taktlosigkeit gegenüber dem ägyptischen Gastvolk“ darstelle – „abgesehen von der Frechheit und Haltlosigkeit der Begründung in juristischer Hinsicht“. Zu betonen sei „die Störung des 166 Geboren in Galioub, „Avocat à la Cour, ex-vice-président de la Chambre des Députés, ancient bâtonnier, administrateur du Crédit Agricole d’Egypte, membre du Conseil de l’Assistance Publique, de la Croix Rouge Egypte, de la Soc. d’Economie Politique et du Wafd, membre du Conseil Economique de l’Etat“, wohnte in Kairo-Giza. Le Mondain Egyptien, 1939, S. 225.
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Friedens in dem Gastlande durch die Juden“, die die „Friedensliebe und Bewahrung der Disziplin“ der Deutschen gegenüberzustellen sei. Die Begriffe „Antisemitismus“ und „antisemitisch“ seien bei den Prozessberichten durch „Judenfeindschaft“ und „Judengegner“ zu ersetzen. Denn beim Gebrauch von „semitisch“ versuche die „jüdische Propaganda in Ägypten stets die Auslassungen als Angriffe auch gegen die Araber auszuschlachten“. Zu diesem Kontext gehörte, dass die Kläger nicht als „Ägypter“ bezeichnet werden sollten, sondern als „die in Ägypten lebenden Juden“ oder „in krasseren Fällen, die in Ägypten zugewanderten Juden“, womit der „Gegensatz zwischen der eingeborenen ägyptischen Bevölkerung und der jüdischen Bevölkerung“ unterstrichen werde. Darauf hinzuweisen sei unbedingt, „dass die aufmerksame Beobachtung der Judenfrage durch die Ägypter und Araber nicht eine Folge der deutschen Propaganda, sondern des Geschreies der in Ägypten lebenden Juden gegen den Nationalsozialismus ist, das die Araber zu einer Beschäftigung mit der Judenfrage veranlasste“. Zu unterbleiben habe zugunsten des Prozessausgangs jede Bemerkung zu den „Freiheitsbestrebungen und über die englische Stellung in Ägypten“. Ebenso wenig sollte über die Ablösung der Gemischten Gerichte durch ägyptische diskutiert werden. „Verunglimpfungen und Verächtlichmachung“ der jüdischen Rechtsanwälte hätten zu unterbleiben. Denn nach dem Prozess der ersten Instanz habe die deutsche Presse diese mitunter und zu Unrecht als „kümmerliche Winkeladvokaten“ beschrieben. Tatsächlich handle es sich um die „tüchtigsten Juden auf diesem Gebiet“, wenn auch ihre juristische „Vorbereitung“ nicht an die deutsche heranreiche. Auch habe man sich jeder Kritik an den Richtern zu enthalten. Diese seien zwar unterschiedlicher Nationalität, aber „solidarisch in ihrer Empfindlichkeit bei Bezweiflung ihrer Unparteilichkeit“. Rühmend hervorgehoben werden dürfe die vorbildliche Verhandlungsführung des Richters der ersten Instanz, des Italieners Palqui-Cao. Wegen des Prozesses erbat die deutsche Gesandtschaft von Berlin statistisches Material über die Beteiligung der Juden am Ersten Weltkrieg, das aber nicht unmittelbar geliefert werden konnte. Übersandt wurden zunächst zwei Aufsätze: „Wie jüdische ‚Heldentod‘-Statistiken zustande kamen“167 und „Die Juden als ‚Kämpfer‘ der britischen Armee 1914–1918“.168 Am 14. März 1935 lieferte das Reichspropagandaministerium „Die Juden im Heer. Eine statistische Untersuchung nach amtlichen Quellen. Von Otto Armin, München 1919“ und „Die jüdischen Gefallenen 167 Aus: „Angriff“, 24. Februar 1932. 168 Aus: „V. B.“, 4. August 1931). Hasenöhrl an Gesandtschaft, 6. März 1935. PA AA R 77736. Franz Xaver Hasenöhrl, ehemaliger Berufsoffizier, dann kaufmännischer Angestellter in Shanghai, gründete dort die Landesgruppe der NSDAP. Er hatte gute Verbindungen zu Rudolf Hess. Eckart Conze u. a.: Das Amt, 22010, S. 58.
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des deutschen Heeres, der deutschen Marine und der deutschen Schutztruppen 1914–1918. Hrsg. v. Reichsbund jüdischer Frontsoldaten, 1932“, am 28. Mai 1935 „Ranke: Partei und Staat, 1933“ und „Eckart: Hitler und die Deutsche Aufgabe“.169 Vor allem wegen seiner wirtschaftlichen Konsequenzen drohte der Kairener Prozess für die Deutschen zu einem Desaster zu werden. Um dem entgegenzuwirken hielt der Werberat der deutschen Wirtschaft massive Pressekampagnen in Ägypten für angeraten und ließ der deutschen Gesandtschaft deshalb 10.000 RM zukommen. In diversen ägyptischen Zeitungen sollten Inserate erscheinen, die „einen für die Durchführung des Prozesses unbedingt notwendigen Widerhall der deutschen Meinung“ schaffen sollten.170 Für einen Zeitraum von sechs Monaten stellten die in Ägypten ansässigen deutschen Firmen monatlich mindestens LE 68,- für denselben Zweck zur Verfügung. Der „hemmungslosen jüdischen Boykottpropaganda in Ägypten“ sollte „eine nicht nur in schönen Worten bestehende Gegenwehr“ entgegengestellt werden. Die deutsche Gesandtschaft bekräftigte am 27. Februar 1935, dass unbedingt an der Schaffung einer deutschfreundlichen Atmosphäre in Ägypten gearbeitet werden musste.171 Wichtig erschien, die ägyptische Presse entsprechend zu beeinflussen und zu lenken. Ein ‚Dorn im Auge‘ war der Gesandtschaft der Berliner Korrespondent der Zeitung „Al Ahram“, der „französische Jude Loutre“, den der Besitzer der Zeitung unverzüglich entlassen und durch einen von der Gesandtschaft empfohlenen Journalisten ersetzen sollte.172 Davon erhoffte man sich eine günstigere Berichterstattung über Deutschland. Einfluss auf diese Personalie glaubte die Gesandtschaft nicht zuletzt wegen der dem Zeitungsbesitzer 1934 spendierten Deutschlandreise („Pasha-Reise“) zu haben. „Al Ahram“ war deshalb von großer Bedeutung, weil ihr Leserkreis fast die gesamte „gebildete Welt“ in Ägypten, „d. h. die Welt, die hier so gut wie allein politisch ausschlaggebend ist“, umfasste. Darüber hinaus beeinflusse sie die Meinung in der gesamten arabischen Welt. Problematisch erschien, dass die Mehrzahl der für „Al Ahram“ arbeitenden Journalisten eher frankophil war, weshalb über gewisse, nicht näher erläuterte „Druckmittel“ nachgedacht wurde. Zwar war die Bereitschaft der deutschen Firmen, im Sinne der von der Gesandtschaft und dem Reichspropagandaministerium entwickelten Werbeplanung tätig zu werden, auf den ersten Blick erfreulich, zeigte auf den zweiten aber, dass sie nicht nur Zustimmung fand. So verweigerte die ägyptische Niederlassung der IG Farbenindustrie aus prinzipiellen Gründen, „die dem Wesen des Dritten Reiches genau zuwiderlaufen“, die Zusammenarbeit, konzedierte lediglich, 169 Hasenöhrl an Geheimrat Huecking (Kairo). PA AA R 77736. 170 14. Februar 1934. PA AA R 77736. 171 Von Homeyer an Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda. PA AA R 77736. 172 Tatsächlich wurde Loutre im Sommer 1935 durch den Ägypter Kemaleddin Galal ersetzt.
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fortan in solchen Zeitungen, die erkennbar deutschkritisch waren, nicht mehr für das Unternehmen inserieren zu wollen. Dies stieß auf herbe Kritik seitens der Gesandtschaft, führte aber keine Änderung herbei. Um die Werbekampagne zum Erfolg werden zu lassen, bedurfte es im Vorfeld der genauen Beobachtung der ägyptischen Presse. Seitens der deutschen Gesandtschaft glaubte man feststellen zu können, dass die „arabische“ Presse insgesamt eine deutschfreundliche Haltung zeigte. Lediglich „Al Mokattam“ hatte in den Wochen zuvor eine „etwas neutralere, also weniger günstige Stellung uns gegenüber eingenommen“. Offensichtlich beziehe sie „wie früher von französischer, jetzt auch von italienischer Seite Unterstützungen, die ihr eine solche Stellung allem Anschein nach zur Pflicht machen“. Die größte wafdistische Zeitung, „Al Gihad“, die „einen außerordentlich großen Einfluss auf die arabische Bevölkerung Ägyptens besitzt und fast als einziges Blatt Ägyptens eine unmittelbare Einflussnahme, von welcher Seite sie auch komme, unumwunden ablehnt, hat bisher aus ihrer allgemeinen Einstellung heraus die deutschen Dinge in durchaus günstigem Sinne behandelt“. Hintergrund dessen war, dass die deutsche Gesandtschaft bei der Dresdner Bank Kairo einen günstigen Kredit für die Zeitung, die eine deutsche Druckmaschine erwerben wollte, erwirkt hatte. Problematischer als die arabischsprachige Presse war die fremdsprachige. Der „gehässigste und einflussreichste Deutschenfeind in ihren Kreisen“, Margowitch, Besitzer der „La Bourse Egyptienne“, war kurz zuvor unerwartet gestorben, wie die Gesandtschaft erleichtert vermerkte. Die Nachfolge trat ein Triumvirat, bestehend aus einem „Juden, einem Griechen und einem Franzosen“ an, so dass der Gesandtschaft die Einflussnahme auf die Berichterstattung der Zeitung schwierig bis unmöglich erschien. Anders sah es bei der in Alexandria erscheinenden „Bourse Egyptienne“ aus, deren Redaktion der Gesandtschaft „die Einstellung der antideutschen Campagne“ angeboten hatte, falls sie dafür eine finanzielle Gegenleistung erhielte. Mit Erleichterung stellte die Gesandtschaft darüber hinaus das Einstellen der erst 1934 „mit jüdischem Kapital“ gegründeten, in französischer Sprache erscheinenden Zeitung „Echo d’Orient“ fest. Die dem Prinzen Lutfallah gehörende französischsprachige Zeitung „Journal du Caire“ bildete nur noch einen Ableger der „Bourse Egyptienne“, war insgesamt kaum von Bedeutung. Anders sah es bei der Ende 1934 gegründeten Zeitung „La Patrie“ aus, die eine wafdistische Zeitung und „in rein jüdischen Händen“ war. Aus ihrer Deutschfeindlichkeit machte sie keinen Hehl, veröffentlichte entsprechende Artikel. Über die Wafd Partei wollte die Gesandtschaft Druck auf die Redaktion ausüben lassen, um eine positivere Berichterstattung zu erreichen. Die in Alexandria erscheinende Wirtschaftszeitung „Journal du Commerce et de la Marine“ hatte bis dahin keinen deutschfeindlichen Kurs, die Beziehungen zur ‚deutschen Kolonie‘ waren hervorragend.
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Dagegen stand die einzige englischsprachige Zeitung, „Egyptian Gazette“, vor einem Besitzerwechsel. Die bisherigen Besitzer waren zwei „englische Juden in Manchester“, weshalb aus Sicht der Gesandtschaft die Berichterstattung der Zeitung über den Nationalsozialismus durchweg „unfreundlich“ war. Der zukünftige Besitzer war angeblich ein ‚Strohmann‘ des Foreign Office. Mit diesem zusammen wurden als Käufer „ein italienischer Jude (Procacia) und Besitzer einer großen Druckerei in Alexandrien und der Besitzer der Zeitung ‚Al Ahram‘, Takla Bey, genannt“. Vor allem von Letzterem erhoffte die deutsche Gesandtschaft einen Meinungsumschwung innerhalb der einflussreichen „Société de Publicité“, die bis dahin eine „bedingungslos deutschfeindliche Haltung“ gezeigt hatte. Auch Procacia galt nicht als ‚Problemfall‘, sondern als ein „vernünftig und sachlich denkender Mann“, der die „feindliche Einstellung seiner Rassegenossen gegenüber Deutschland“ nicht zu beeinflussen versucht hatte und weiterhin ein Konto bei der Dresdner Bank in Alexandria führte. Als der Gesandtschaft unproblematisch erschien auch die griechische Presse,173 die zumeist günstig über Deutschland berichtete, insgesamt aber ohnehin von geringer Bedeutung war. Den größten Einfluss hatte die deutsche Gesandtschaft auf die arabischsprachige Presse, die sie fast täglich mit Bildmaterial über Deutschland versorgte. Dieser Einfluss ging sogar so weit, dass einzelne Zeitungen „Karikaturen über Deutschland und seine führenden Persönlichkeiten“ vor der Veröffentlichung der Gesandtschaft zur Begutachtung vorlegten. Geplant war, diese Zeitungen mit in Deutschland erschienenen Karikaturen zu versorgen. Nachdem die Werbeaktion zunächst schleppend angelaufen war, zeigte sie Anfang 1936 Erfolge. Die Deutsche Handelskammer hatte die Anzeigenvergabe übernommen, auch vor allem finanziellen Druck auf solche Redakteure und Herausgeber ausgeübt, die Kritik an Deutschland geübt hatten.174 Unter der Androhung, zukünftig Werbeaufträge zu unterlassen, ließen sich etliche Zeitungen in 173 Mikes Anataleas, Herausgeber von „Anatoli“, bedankte sich am 14. Februar 1935 bei Friedrich v. Homeyer (deutsche Gesandtschaft) für dessen Zusendung von Büchern und des „Völkischen Beobachter“. Mehrere Artikel daraus hatte er übersetzen und in seiner Zeitung veröffentlichen lassen. PA AA R 77736. 174 Trotz einer „stillschweigenden“ Vereinbarung zwischen „Al Ahram“ und der Gesandtschaft hatte die Zeitung im Dezember 1935 einen „für Deutschland unangenehmen Aufsatz“ veröffentlicht. Unmittelbar darauf stoppten die Deutschen ihre Anzeigenaufträge. Der Besitzer der Zeitung legte danach größten Wert auf deutschfreundliche Berichterstattung. Auf die Zeitung „Gihad“ konnten Gesandtschaft und Handelskammer keinen Einfluss nehmen, weil diese eng mit der „Société Oriéntale de Publicité“ und der „Bourse Egyptienne“ verknüpft war, wo eher kritische Stimmen laut wurden. Der Zeitung sollte ein günstiger Kredit bei der Dresdner Bank gewährt werden, womit man glaubte ihre Haltung beeinflussen zu können.
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ihrer Berichterstattung beeinflussen und umstimmen. Aufsicht über die Werbekampagnen führten im Hintergrund die deutsche Gesandtschaft und die Landesgruppe der NSDAP.175 Die deutschen Anzeigen waren schließlich laut Gesandtschaft so erfolgreich, dass sogar Vertreter „zweier jüdischer Blätter“ („Patrie“ und „Bourse Egyptienne“) an die Deutsche Handelskammer mit der Bitte um Anzeigen herantraten. Letztere Zeitung galt den Deutschen als „übles jüdisches Hetzblatt mit gehässiger deutschfeindlicher Tendenz“, weshalb der Syndikus der Kammer an den Herausgeber der „Bourse“ schrieb, seine Auftraggeber würden ihn ins Irrenhaus sperren, wenn er Anzeigen in einer Zeitung schalten lasse, die jahrelang „keine andere Aufgabe“ gekannt habe, „als Deutschland und die deutschen Dinge zu beschimpfen und zu verleumden“. Die Herausgeber sicherten daraufhin eine baldige Kursänderung der Zeitung zu, die wohl auch eintrat. Wie die Gesandtschaft erfahren haben wollte, stand die Zeitung zu diesem Zeitpunkt in „starkem Gegensatz“ zu dem „größten jüdischen Deutschhetzer in Ägypten, Rechtsanwalt Leon Castro“. Sowohl der Kairener Prozess als auch die Prozessführung sowie die sich teilweise beeinflussen lassende Presse Ägyptens spiegelten die Leitlinien der Politik Ägyptens gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland. In erster Linie ging es politisch einflussreichen Kräften darum, weiterhin wirtschaftlich gewinnbringend mit Deutschland zusammenzuarbeiten, diesbezüglich jede Störung zu verhindern, sowie zweitens, mit der engen Kooperation mit Deutschland ein Gegengewicht zum englischen Einfluss in Ägypten zu schaffen. Es erstaunt also nicht, dass auch das Revisionsverfahren des Prozesses für die Klägerseite erfolglos verlief, d. h. die Klage abgewiesen wurde. Unter Ausnutzung der in Ägypten bestehenden Aversionen gegen die de facto englische Herrschaft arbeitete Deutschland in Ägypten verstärkt propagandistisch, auch um die vorhandenen deutschfreundlichen Haltungen zu erhalten und zu fördern. Ziel war, Ägypten enger an Deutschland zu binden, um damit Englands Einfluss zu schmälern oder zu beseitigen. Sämtliche Propagandaaktionen richteten sich auch, wie an den Einflussnahmen auf die ägyptische Presse abzulesen war, gegen Juden.176 Für die deutschen Propagandamaßnahmen in Ägypten war vor allem der erwähnte, mit dem Land bestens vertraute Curt Prüfer (ehemaliger Dragoman, dann Gesandtschaftsrat) zuständig.177 Deutschsprachige Radiosendungen wurden in Ägypten und angrenzende Länder übertragen. Leiter
175 Bericht deutsche Gesandtschaft (Homeyer) an AA, 19. Februar 1936. PA AA R 77736. 176 Mahmoud Kassim: Beziehungen, 2000, S. 350–361; Albrecht Fueß: Deutsche Gemeinde, 1996, S. 98 f. 177 Donald M. McKale: Curt Prüfer, 1987.
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der Auslandsabteilung des Auswärtigen Amts für den Mittleren Osten war, wie erwähnt, Wilhelm Melchers, der mit den ägyptischen Verhältnissen bestens vertraute Kurt Munzel leitete das Büro in der Abteilung Radio, das in arabischen Länder sendete.178 Trotz intensiver Propagandatätigkeit und gewisser Erfolge sahen die Gesandtschaft und das Auswärtige Amt dem zweitinstanzlichen Prozess mit einigem Bangen entgegen. Wäre der Klage stattgegeben worden, hätte dies „der Ausgangspunkt einer Rechtsprechung werden können, die jede Rechtfertigung der deutschen antijüdischen Gesetzgebung unmöglich gemacht hätte. Wenn das Urteil Schule gemacht hätte, so wäre nicht nur den deutschen, sondern allen Judengegnern in den verschiedenen Ländern der Mund geschlossen worden“.179 Allerdings waren auch die ägyptischen Juden keineswegs der einhelligen Meinung, dass der Prozess hatte geführt werden müssen. Ihre lange Zeit stabile rechtliche, soziale und wirtschaftliche Position begann schon in den 1920er Jahren brüchig zu werden, sodass sie sich verstärkt zu Loyalitätsbekundungen gegenüber Ägypten veranlasst sahen. Eine judenfeindliche Stimmung wie in Palästina galt es zu vermeiden.180 Deshalb verfolgten die ägyptischen Juden mehrheitlich die Strategie, sich bewusst bedeckt zu halten, weder Aufsehen noch Missfallen zu erregen. Wenngleich der von Jabès und Castro initiierte Prozess im Interesse der verfolgten deutschen Juden gedacht war, bedeutete er für die in Ägypten ansässigen Deutschen jüdischer Herkunft auch ein Dilemma. Exponierte Deutsche wie Ludwig und Mimi Borchardt fochten seit spätestens 1923 in Ägypten zugunsten deutscher Interessen, denen der Prozess erklärtermaßen zuwiderlaufen sollte, andere waren durch den Boykott deutscher Waren und den Prozess wirtschaftlich negativ betroffen. Van Meeteren und die anderen Initiatoren der Broschüre von 1933 waren Mitglieder des Deutschen Vereins und des Schulvereins, deren Haupt initiatoren und leitende Personen über Jahre Borchardt und Meyerhof gewesen waren. Noch 1934 gehörten Max Rothschild und Ludwig Lion – beide jüdischer Herkunft – zum Vorstand der „Vereinigte(n) Deutsche(n) und österreichische(n) Handelskammer für Ägypten“.181 178 Jeffrey Herf: Nazi Propaganda, 2009, S. 9, 39 f. Munzel arbeitete 1929–31 für die DOB in Kairo, 1931–39 für die Desdner Bank. Er trat am 1. April 1933 der NSDAP bei, 1941 in Beratungsabteilung des Islamischen Zentral Instituts in Berlin, ab 1942 Unterricht für Arabisch an Universität Berlin, Berater des AA ab April 1939, ab Dezember 1939 Mitarbeiter der Radio-Abteilung, die verantwortlich war für Sendungen in arabischen Ländern. 179 Bericht über den Kairoer Prozess, zitiert nach Mahmoud Kassim: Beziehungen, 2000, S. 373. 180 Gudrun Krämer: Political Participation, 1987, S. 71. 181 Jahresbericht 1933, Kairo 1934, S. 2, 58 f. Mitglieder jüdischer Herkunft: (Rechtsanwalt) H. Liebhaber, Grün Brothers, Lichtenstern & Co., Lion & Blum, John Löwenthal, Wirth & Oppenheimer.
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Der Prozess bedeutete jedoch das sukzessive Auseinanderbrechen der ‚Kolonie‘. Van Meeteren berichtete Ende 1933 dem sich besorgt zeigenden Deutschen Auslands Institut in Stuttgart, zu dem Borchardt etliche Jahre in enger Beziehung gestanden hatte, „über die Verhältnisse in der Kolonie, insbesondere über den großen jetzt in Gang befindlichen Prozess“.182 Alfred Hermann (1905–1967),183 stellvertretender Leiter des DAIK, berichtete Anfang 1934, derzeit halte sich „Pg Assessor Diewerge“ als Sonderberichterstatter des „Leon Castro-Prozesses“ im Institut auf. Dem Prozess konnte Hermann „beiwohnen“, wie Junker vermutet hatte, und mit „großer Erleichterung“ dessen Resultat vernehmen.184 Er hatte sich um den „Schutz der deutschen Vertreter auf dem Weg und zum Gericht“ gekümmert.185 Auch Ludwig Borchardt blieb die Broschüre des Deutschen Vereins nicht unbekannt, doch wollte er mit einem etwaigen Protest kein Aufsehen erregen, auch weil er von dem Boykottaufruf der ägyptischen Juden irritiert war. Seine Ehefrau reagierte dagegen eindeutig und offensichtlich gekränkt angesichts ihres jahrelangen Engagements zugunsten deutscher Interessen. Im April 1933 zog sie schließlich die Konsequenzen aus der zu beobachtenden nationalsozialistischen Durchdringung auch des deutschen Vereinslebens. Sie zog sich zurück, erklärte öffentlich und mit eindeutiger Begründung ihren Rücktritt vom Vorsitz des Frauenvereins – parallelen Verhaltensweisen Meyerhofs folgend.186 Nur wenige Mitglieder des Frauenvereins fanden den Mut zu Solidaritätsbekundungen wie sie die Übersetzerin und Sekretärin Emma Zingsen formulierte: „Weiß Gott, Sie haben Recht: Das Gefühl für solches Unrecht scheint in den führenden Deutschen erstickt zu sein! (…) Und alle drehen jetzt den Mantel nach dem Wind! Ich schüttle nur den Kopf“.187 Gesandtschaftsrat Pilger kommentierte dagegen Mimi Borchardts 182 Drascher (Deutsches Auslands Institut Stuttgart) an Junker (DAIK), 26. Oktober 1933. DAIK I,223. 183 Bis 1935 in Kairo, dann Leiter des Seminars für Ägyptologie der Universität Köln und Gründer der dortigen Sammlung. 184 Hermann an Junker, 9. Februar 1934. DAIK I,221–I,222. 185 Max Wegner (Berlin) an Hermann, o.D. (1934). DAIK I,221–I,222. Wegner hatte in Rom arrangiert, dass in den dortigen Räumen des Deutschen Instituts ebenso wie in Kairo NS-Veranstaltungen stattfinden konnten, sowohl der NSDAP als auch der SA. Wegner (1902–1998), klassischer Archäologe, 1942 bis 1970 Ordentlicher Professor an der Universität Münster als Nachfolger von Matz. 1992 wurde er mit dem „Bundesverdienstkreuz am Bande“ ausgezeichnet. http://www.uniprotokolle.de/nachrichten/id/45156/ 186 25. April 1933. SIK MB 63/7. Ihr Rundschreiben ließ MB auch in „La Bourse Égyptienne“ veröffentlichen. Ihre Äußerungen bestätigen ihre enge Beziehung zu Georg Solmssen. In seinem Brief vom 9. April 1933 an Urbig verwandte Solmssen teils identische sprachliche Wendungen. Ausführlich und mehrfach erklärte er gegenüber MB seine Standpunkte. SIK MB 77/2. Vgl. Harold James: Deutsche Bank, 1995, S. 337. 187 26. April 1933. SIK MB 63/7.
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4 Die Zäsur – 1933 und die Folgen
Aus- und Rücktrittsrundschreiben hämisch, machte aber ungewollt deutlich, dass ihr und der Rückzug anderer Ägyptendeutschen jüdischer Herkunft aus dem deutschen Vereinsleben eine nicht zu füllende Lücke hinterließen.188 In deutschen Ägyptologenkreisen blieben die Geschehnisse in Ägypten und im Umfeld Borchardts nicht unbekannt. Sein früherer Assistent Rudolf Anthes drückte Borchardt im Mai 1933 als einer der wenigen sein Mitgefühl aus. Zu dieser Zeit leitete seine Schwester Elisabeth noch die deutsche Schule, stand im engen Kontakt zum Ehepaar Borchardt, auf dessen Betreiben sie diese Stellung erhalten hatte und dem sie sich zu Dank verpflichtet fühlte. Letztlich erreichte der Prozess das von den Klägern intendierte Ziel nicht, sondern wirkte eher kontraproduktiv. Die ägyptische Regierung sah sich zu verschärften Maßnahmen gegen deutschfeindliche Aktionen aufgerufen, die ägyptischen Juden zogen sich aus öffentlichen Hilfsmaßnahmen zugunsten von vom nationalsozialistischen Deutschland Verfolgten zurück. Die Deutschen jüdischer Herkunft waren endgültig marginalisiert.
4.4 Juden und Jüdinnen Die von den ägyptischen Juden initiierten Boykottaufrufe gegen Deutschland alarmierten die Deutschen in Ägypten zu Recht, denn eine zu vernachlässigende kleine Gruppe waren diese nicht, sondern eine ab dem späten 19. Jahrhundert enorm an Umfang gewinnende mit wirtschaftlicher und politischer Bedeutung. Mit Stolz verwiesen und verweisen die ägyptischen Juden auf ihre durch Papyri belegte Präsenz in Ägypten schon zur pharaonischen Zeit, die Blüte der jüdischen Gemeinden während des Mittelalters, belegt durch die Geniza der Ben Ezra Synagoge in Kairo.189 Bewusstsein für und Stolz auf die eigene Geschichte drückte sich beispielsweise in der 1925 gegründeten „Société d’Études Historiques Juives d’Égypte“ aus, einem Diskussionsforum zur alten und modernen Geschichte der Juden Ägyptens.190 Anfang des 19. Jahrhunderts war der Umfang der jüdischen Bevölkerung allem Anschein nach noch gering. Ein Reisebericht von 1839 sprach von etwa 100 karaitisch-jüdischen Familien in Kairo, von etwa 1000 Juden in Alexandria; 188 Er bemerkte dazu am 13. Juli 1933, „letzten Endes würden alle Juden, die vom ‚Deutschtum‘ abgerückt seien wie u. a. Dr. Meyerhof, Dr. Schlesinger und das Ehepaar Borchardt ihre Haltung mit einer ‚Provozierung‘ von Seiten des ‚Deutschtums‘ erklären wollen und wieder versuchen, eine Annäherung herbeizuführen“. Albrecht Fueß: Deutsche Gemeinde, 1996, S. 101. 189 Liliane S. Dammond: Lost World, 2007, S. 4 f. 190 Dario Miccoli: Moses and Faruq, 2012, S. 2.
4.4 Juden und Jüdinnen
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größtenteils waren sie gebürtige Ägypter, nur wenige Einwanderer aus Europa.191 Diese Angaben waren jedoch eher geschätzt, denn in der Ausgabe der Zeitschrift „Der Orient“ vom 11. Januar 1840 hieß es, Berichten des britischen Orientalisten Edward William Lane (1801–1876)192 zufolge sei für 1836 von etwa 5000 Juden auszugehen;193 größtenteils fänden sie sich „in einem elenden, verschlossenen und schmutzigen Stadtviertel“ Kairos, wo es acht Synagogen gebe. Anders als die Kairener Juden machten jene Alexandrias laut Lane einen eher wohlhabenden und ‚europäischen‘ Eindruck. An anderen Stellen ist ebenfalls von insgesamt rund 5000 Juden Mitte des 19. Jahrhunderts die Rede, die überwiegend im jüdischen Viertel (harat al-yahud) in Kairo und in kleineren Gemeinden im Delta wohnten. Die Zuverlässigkeit dieser Angaben ist kaum zu überprüfen,194 auch hatten europäische Beobachter eine eingeschränkte Sichtweise oder nicht den notwendigen Zugang zur ägyptisch-jüdischen Gesellschaft. Der erste Bevölkerungszensus für Ägypten datiert von 1882, die erste Zählung der jüdischen Bevölkerung von 1897.195 Mit dem Bau des Suezkanals ab 1859, den boomenden Baumwollexporten in den 1870er Jahren und den damit zusammenhängenden wirtschaftlichen Möglichkeiten setzte bei der jüdischen Bevölkerung eine dynamische Entwicklung ein, wurden zahlreiche Migranten aus dem Osmanischen Reich und Südeuropa angezogen.196 Größtenteils behielten sie ihre nicht-ägyptische Staatsbürgerschaft bei, unterlagen somit den für Ausländer geltenden Bestimmungen des Kapitulationsrechts, das hieß u. a., dass sie als Ausländer bei strittigen Rechtsfällen nicht der ägyptischen Rechtsprechung unterworfen waren, sondern einem der nach französischem Recht urteilenden Gemischten Gerichte des Landes, und dass sie Steuervergünstigungen hatten.197 Belegt ist, dass 1897 25.200 Juden in Ägypten lebten198 – entsprechend 0,26 % der Gesamtbevölkerung (9.734.403), davon 12.693 mit ägyptischer, 12.507
191 Der Orient 1, 4. Januar 1840, S. 1. 192 Reiste wegen seines Tuberkuloseleidens 1825 erstmals nach Ägypten, widmete sich dort orientalistischen Studien, verfasste Reisetagebücher. 1833–35 erneut in Ägypten, 1836 Veröffentlichung von „Manners and Customs of the Modern Egyptians“, 1842 bis 1849 wieder in Ägypten. Who-was-Who, 2012, S. 309. 193 Der Orient 2, 11. Januar 1840, S. 9 ff. 194 Von der „Association Internationale Nebi Daniel“ sind für 1807 6000 Juden angegeben, für 1847 8500. http://www.nebidaniel.org/histoire.php?lang = en (27.09.2015). 195 Irmgard Schrand: Jews, 2003, S. 38. 196 Dario Miccoli: Moses and Faruq, 2012, S.2. 197 Die Gemischten Gerichte urteilten nach dem Code pénal und dem Code civil. Abgeschafft wurden diese Gerichte offiziell 1937, in der Praxis erst 1947. 198 12.691 waren männlich, 12.509 weiblich. Zeitschrift für Demographie und Statistik der Juden (AF), H. 10 (Oktober 1905), S. 15.
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mit n icht-ägyptischer Staatsangehörigkeit,199 24.973 in Unterägypten, 227 in Oberägypten, 11.489 in Kairo (davon 5691 ausländische, entsprechend 2,02 % der Gesamtbevölkerung), 9.946 in Alexandria (davon 5254 ausländische, entsprechend 3,11 % der Gesamtbevölkerung).200 Wie rasant der Bevölkerungsanstieg verlief, belegen die Zahlen für 1917/1920 mit rund 60.000 Juden201 und 1948 mit 70.000 bis 80.000,202 davon etwa 55.000 in Kairo, gefolgt von Alexandria und Suez. Der Umfang der jüdischen Bevölkerung dürfte schon 1947 tatsächlich bei mindestens 120.000 Personen gelegen haben, die zu etwa 65 % in Kairo lebten.203 Um die Wende zum 20. Jahrhundert war von überwiegend elenden Lebensumständen der Juden nicht mehr die Rede, eher von ihrer „günstigen materiellen Lage“, wie es 1902 hieß.204 Ihnen gehe es dank der „arabischen Toleranz und der wahrhaft vornehmen Ruhe des Mohamedaners“ so gut wie zu pharaonischen Zeiten. Ihre Begabungen könnten sie „ungehemmt entfalten“, auf jedem ihnen beliebenden Gebiet tätig werden, etwa an der Universität, im Finanzministerium, im Justizdienst oder im Post- und Eisenbahnwesen, wo sie „zahlreiche Posten in verantwortlichen Stellungen“ bekleideten. Sogar der Militär- und Polizeidienst stehe ihnen offen, einige Juden seien Offiziere, „obgleich der Koran allen Nichtmohamedanern das Waffentragen ausdrücklich verbietet“. Entsprechend gut seien die jüdischen Gemeinden finanziell ausgestattet, allein die Gemeinde Kairo verfüge über ein Barvermögen von 1 ½ Millionen Francs, besitze 20 große Häuser, unterhalte neben einem Rabbinat fünf Synagogen, zwei Krankenhäuser, eine Augenklinik, zwei Blindenanstalten, etliche, überwiegend Blinden zugute kommende Wohltätigkeitseinrichtungen.205 Von den 5.981 jüdischen Schülern und Schülerinnen des Jahres 1907 besuchten 46,06 % französische Schulen (der Alliance Israélite), 18,71 % österreichische (wo sie 84,37 % aller Schüler bildeten), mehr als 10 % deutsche, griechische und italienische. Von den 679 Schülern und Schülerinnen der deutschen Schulen waren 102 (15,02 %) jüdisch.206 199 4.348 italienische Staatsangehörigkeit, 3.352 französische, 1.465 österreichische bzw. ungarische, 1.075 griechische, 929 englische, 409 spanische, 314 russische, 233 persische und 382 sonstige. 200 Zeitschrift für Demographie und Statistik der Juden (AF), H. 10 (Oktober 1905), S. 15. 201 Zwischen 1907 und 1917 wuchs die jüdische Bevölkerung um 54,2 %, mehr als jede andere Bevölkerungsgruppe des Landes. Michael M. Laskier: Jews of Egypt, 1992, S. 5. 202 Rund 6.000 waren Aschkenasim. Michael M. Laskier: Jews of Egypt, 1992, S. 7. 203 Irmgard Schrand: Jews, 2003, S. 39. 204 Die (:Davidstern:) Welt 45 (7. Nov. 1902), S. 8. 205 Die Unterstützung Blinder war in Ägypten vorrangig wegen der im ganzen Orient verbreiteten ägyptischen Augenkrankheit. „Die (:Davidstern:) Welt“ 45 (7. Nov. 1902), S. 8. 206 Zeitschrift für Demographie und Statistik der Juden (AF), H. 11 (Nov. 1907), S. 174 u. (AF), H. 10 (Oktober 1905), S. 15. Die „Alliance Israélite Universelle“ (AIU) gründete bereits 1860 eine erste Schule in Ägypten, 1885 die Familie Menasce in Alexandria eine Jungenschule, die AIU 1897 eine koedukative Schule, eine Mädchenschule 1900. Dario Miccoli: Moving Histories, 2011, S. 1.
4.4 Juden und Jüdinnen
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Bis kurz vor der Wende zum 20. Jahrhundert stammten jüdische Migranten in der Hauptsache aus türkischen und syrischen Gebieten, aus Städten wie Istanbul, Smyrna, Saloniki, Aleppo und Damaskus. Sie zählten zu den Sephardim. Dies änderte sich mit den antijüdischen Pogromen in Russland, Rumänien, Polen und Griechenland, in deren Folge vom späten 19. Jahrhundert an aschkenasische Juden verstärkt Zuflucht in Ägypten suchten.207 Zugang zur etablierten ägyptischjüdischen Gesellschaft, die von sephardischen Juden dominiert und französischsprachig war, fanden sie nur mühsam.208 Die mehrfachen Einwanderungswellen von Juden verschiedenster Herkunft, ausgehend vom frühen 19. Jahrhundert bis 1917, schufen aus der ägyptisch-jüdischen Bevölkerung ein multikulturelles und -linguales Mosaik – „the Jews of Egypt’s main characteristic was their diversity, diversity in culture, ethnic origins, nationalities, rituals and languages“209 – das soziokulturell homogene Gemeinden nicht entstehen ließ. Vielmehr splitterte sich die ägyptischen Judenschaft auf in die Juden Ägyptens, Sephardim, Nord-Afrikaner, Aschkenasim und Karaiten.210 In Kairo vor allem sammelte sich jede der Gruppen in einem eigenen Stadtviertel, die obere Mittel- und die Oberschicht in den Vierteln Garden City, Zamalek, Giza und Abbasiya. Grob unterscheiden lassen sich drei ethnische Gruppen mit je eigenen Verhaltensregeln, Gewohnheiten, Sprachen und Ritualen: einmal die Juden jüdischarabischer Kultur – Rabbaniten und Karaiten211 -, die überwiegend zur sozialen Unterschicht gehörten, ägyptisch-arabisch sprachen im Unterschied zu jüdischen Migranten aus andern arabischen Ländern; zweitens die Sephardim,212 sie 207 Auswanderungsbewegungen gab es nach 1903 infolge des Kishinev Pogroms (1903) und auch seitens solcher russischen Juden, die dem Militärdienst entkommen wollten. Griechische Juden der Insel Korfu flohen 1898 wegen Ritualmordbeschuldigungen und anschließenden Verfolgungen nach Ägypten. Racheline Barda: The modern Exodus, o. J. 208 Irmgard Schrand: Jews, 2003, S. 39. 209 Racheline Barda: The modern Exodus, o. J., S. 2. 210 Michael M. Laskier: Jews of Egypt, 1992, S. 6. 211 Ihren Ursprung hatten sie wahrscheinlich im Baghdad des 18. Jahrhunderts. Sie akzeptierten ausschließlich den Pentateuch (Torah) als Glaubensgrundlage, lehnten die nachbiblische Tradition (Talmud) ab. Daraus leitet sich die Bezeichnung „Kara’im“ oder „bene mikra“ (Leser der Schriften) ab. Michael M. Laskier: Jews of Egypt, 1992, S. 6. 212 Die Sephardim waren mehrfach untergliedert. Auffallend war die schmale Oberschicht, europäisch orientiert und gebildet, die sich regelmäßig die Gemeindeleitungen teilte und über enge Beziehungen zum Khediven bzw. König verfügte (Familien Cattaui, Suarez, de Menasce, Piccioto, Mosseri, Kolo, Cicurel). Wirtschaftlich waren diese Familien sehr einflussreich, etwa in der Baumwollindustrie, im Transport- und Bankwesen, in der Landwirtschaft und im Immobiliengeschäft. Daneben gab es eine breite Mittel- und Unterschicht, die als Angestellte, Lehrer, Kaufleute und Händler arbeitete. Racheline Badra: The modern Exodus, S. 3.
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sprachen Ladino, auch Italienisch, Französisch, Türkisch und Griechisch; drittens die Aschkenasim (etwa 6000 in den 1920er und 1930er Jahren), sie stammten meist aus Osteuropa, in den 1930er Jahre aus Deutschland. Ihre Sprachen waren Jiddisch, Polnisch, Russisch, Deutsch.213 Neben diesen drei Großgruppen existierten gemischte, so die italienisch sprechenden, über Libyen nach Ägypten migrierten italienischen Juden; sie gehörten der Ober- und Mittelschicht an, waren überwiegend im Wirtschafts- und Bankensektor tätig. Dann eine kleine Gruppe griechischer Juden (Romaniot) und Juden von der Insel Korfu, die einen venezianischen Dialekt sprachen. Etwa zehn Prozent der ägyptischen Juden gehörten zur frankophonen Oberschicht, rund 20 Prozent zur ‚arabisierten‘ und unterprivilegierten Schicht, die sich in den „traditional Jewish areas“ fand. Die übrigen 70 % waren „made up of a mobile middle class mesmerized by Western culture, particularly the French culture.“214 5.000 bis 10.000 Juden besaßen in den 1930er Jahren die ägyptische Staatsbürgerschaft, 40.000 waren staatenlos, 30.000 italienischer, französischer, englischer oder anderer Nationalität, auch wenn sie in Ägypten geboren waren.215 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts fanden sich in Kairo 37 Synagogen, mehrere jüdische Orchester, drei jüdische Theater, rund ein Dutzend jüdischer Zeitungen (in verschiedenen Sprachen), je ein jüdisches Krankenhaus und Altersheim, zudem neben etlichen privaten Begräbnisstätten (etwa der Familien Ades, Cattaui, Levy, Mosseri und Sapriel) der große Friedhof Bassatine.216 Von den drei jüdischen Begräbnisstätten Alexandrias lagen zwei in Chatby, einer war in Mazarita; weitere jüdische Friedhöfe existierten in Mehalla el Cobra, je drei in Mansura und Mit Ghamur, je einer in Port Said, Suez, Ismailia, Damanhour, Tanta, Kafr El Zayat, Zifta und Zagazig.217 Mehr als 60 Synagogen waren in den 1930er Jahren in Ägypten zu finden, außerdem neun jüdische Schulen in Alexandria, fünf in Kairo, zudem je ein jüdisches, Juden wie Nichtjuden offenstehendes Krankenhaus.218 Eine größere jüdische Gemeinde, zu der etliche Deutsche und Österreicher gehörten, existierte auch in Port Said. Die Hafenstadt nahm erst mit der E röffnung 213 Zu Beginn des Ersten Weltkriegs wurden mehr als 11.000 russische und polnische Juden als „enemy subjects“ aus Palästina vertrieben; sie migrierten nach Alexandria, Kairo und Suez. Racheline Barda: The modern Exodus, S. 3 f. 214 Racheline Barda: The modern Exodus, S. 5. 215 „Sephardic Genealogy Resources“ (http://www.sephardicgen.com/egypt.htm (24.06.2009)). Michael M. Laskier: Jews of Egypt, 1992, S. 3. 216 Bassatine gilt als der älteste jüdische Begräbnisplatz nach jenem auf dem „Mount of Olives“ (Jerusalem). 217 „Sephardic Genealogy Resouces“ (http://www.sephardicgen.com/egypt.htm (24.06.2009)). 218 Abram Bey Adda gründete ein Hospital ausschließlich für die Behandlung von Augenkrankheiten, das er der Stadt Alexandria schenkte. Martin Gilbert: Ishmaels’ House, 2012, S. 164.
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des Suez-Kanals, 1869, eine raschere Entwicklung, zählte Mitte der 1930er Jahre etwa 105.000 Einwohner.219 Die jüdische Gemeinde bestand aus etwa 1000 sephardischen und aschkenasischen Mitgliedern, die sich vor allem hinsichtlich ihres häuslichen Sprachgebrauchs unterschieden, was aber Eheschließungen zwischen Sephardim und Aschkenasim keineswegs ausschloss. Die prominentesten jüdischen Familien waren Mouchly und Benderli. Die Synagoge „Ohel Moshé“ wurde von dem in Aden lebenden Großgrundbesitzer Benin errichtet.220 Präsident der aschkenasischen Gemeinde Kairo des Jahres 1926 war Emmanuel Grunfeld, aschkenasischer Oberrabbiner R. Aaron Mendel Kohn (Cohen),221 Präsident der 1887 gegründeten Kairener Maimonides Loge (nur aschkenasische Mitglieder) im Jahre 1924 der 1878 in Jerusalem geborene, seit 1904 in Kairo ansässige Augenarzt Baruch Sachs.222 Die Position des Oberrabbiners von Ägypten bekleidete von 1928 bis 1960 Haim Nahum (1872–1960).223 Herausragend waren seit dem späten 19. Jahrhundert die sephardischjüdischen Familien Cattaui, Suares und Menasce, die es zu Wohlstand, hohem Ansehen und politischem Einfluss brachten.224 Unter Ziwar Pasha fungierte 219 Das Handelszentrum mit mehreren eleganten Hotels („Grand Hotel de la Poste“, „Continental“, „Royal“, „Eastern Exchange“), exklusiven Läden und Banken lag in der Rue Fouad. Sylvia Modelski: Port Said, 2000, S. 59 f. 220 Sephardim sprachen zu Hause meist Französisch oder Arabisch, die Aschkenasim meist Jiddisch oder Deutsch. Sylvia Modelski: Port Said, 2000, S. 78 f. 221 Zu den Mitgliedern dieser Gemeinde gehörte der 1927 in Kairo ermordete Geschäftsmann Salomon Cicurel. 222 Jamie Lehmann Memorial Collection – records of the Jewish Community of Cairo, 1886–1961. Yeshiva University Archives, New York. http://libfindaids.yu.edu:808/xtf/view?docId = ead/Lehmann/lehmann (23.10.2013). Baruch Sachs lebte 1938 in Kairo (rue Emad el Din), zusammen mit seiner Ehefrau Regina Grünhut (geb. 1881 Bekescaba/Ungarn, Tochter von Dr. Lazar Grünhut) und fünf, in Kairo geborenen Kindern. Sohn Leo Sachs (geb. 1910) war Ingenieur und Chemiker, sein Zwillingsbruder Rudolf Augenarzt. Letzterer war verheiratet mit Germaine Sassoon (geb. 1912 Kairo, Tochter von Isaac Sassoon und Eugénie Alphandary). PA AA Gesandtschaft Kairo 2a. 223 Stammte aus Smyrna (Izmir), studierte an der Yeshiva von Rabbiner Ebbo in Tiberias, anschließend in Smyrna und Istanbul, erhielt das Diplom zum Oberrabbiner in Paris 1897. Nachdem Moses Cattaui die Jüdische Gemeinde Kairo reorganisiert hatte, berief er Haim Nahum als Oberrabbiner nach Ägypten. Nach dem Tode von Joseph Aslan Cattaui wurde Haim Nahum zum wichtigsten Sprecher der ägyptischen Judenschaft. An Inventory of the Jamie Lehmann Memorial Collection Records of the Jewish Community of Cairo, 1886–1961 (http://libfindaids.yu.edu:8082/ xtf/view?docId = ead/lehmann/lehmann, S. 4.) 224 Khedive Tewfik beauftragte 1888 Jacob Moise Cattaui, Felix Suares und Baron Jacques Levi Bohor de Menasce mit dem Bau der Eisenbahnlinie Kairo-Heluan. 1898 arbeiteten die Familien Cattaui und Menasce an der Einrichtung der ägyptischen Nationalbank mit, Menasce war Vorstandsmitglied der „Egyptian Delta Railway“ und besaß kaufmännische Unternehmen in Manchester, Liverpool, Paris und Istanbul. Felix Suares, der ebenfalls zur Cattaui Familie gehörte,
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1924/25 der in Ägypten geborene Joseph Aslan Cattaui (1861–1942),225 dessen Familie bis ins Ägypten des 18. Jahrhunderts zurückreichte, als Finanzminister, 1912 erhielt er den Titel Pasha, 1927 berief ihn König Fouad in den Senat, womit er einer der wenigen ägyptischen Juden war, die sich politisch engagierten. Cattaui definierte sich als Ägypter jüdischen Glaubens, vertrat eine konsequent antizionistische Position, war von 1924 bis 1942 Präsident der sephardisch-jüdischen Gemeinde in Kairo. Die Verbindung seiner Familie mit dem Königshaus war eng.226 Seine Nachfolge als Präsident der jüdischen Gemeinde trat von 1942 bis 1945 sein Sohn René an, der ebenfalls unter dem Motto agierte „Egypt is our homeland, Arabic is our language“ und Gegner des Zionismus war.227 Als Vorstandsmitglied der Ägyptischen Handelskammer fungierte ab 1925 Salvator Cicurel,228 dessen Vater Moreno Mitte des 19. Jahrhunderts von Izmir nach Ägypten migriert war; 1928 führte er das ägyptische Fechter Team bei den Olympischen Spielen in Amsterdam, erhielt 1937 den Titel Bey. Vertreten im Vorstand der sephardischjüdischen Gemeinde von Kairo war er von 1927 bis 1928 und von 1939 bis 1946, wurde 1946 Nachfolger René Cattauis als Leiter der Gemeinde.229 Andere Juden bzw. jüdische Familien taten sich als Schriftsteller und Künstler hervor, so im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts James (Yakub) Sanua.230 Zu förderte als Vorstandsmitglied der „Agricultural Bank of Egypt“ finanziell die landwirtschaftliche Entwicklung im Delta und betrieb ein bedeutendes Unternehmen zur Zuckerproduktion. Martin Gilbert: Ishmael’s House, 2010, S. 112. Zur jüdischen Prominenz in Ägypten vgl. Maurice Mizrahi: The Role, 1987, S. 85–93. 225 Verheiratet mit Alice Suarès, studierte Ingenieurwissenschaft in Frankreich, war später Leiter der Kom Ombo Company (Zuckerproduktion in der Provinz Assuan). In Zusammenarbeit mit u. a. der Familie Suares avancierte die Familie Cattaui zu einer der einflussreichsten Ägyptens. Eng der Familie Cattaui verbunden war Tal’at Harb, der 1920 die Bank Misr gründete und J.A. Cattaui zum Vizepräsidenten des Aufsichtsrats bestimmte. In der Zuckerindustrie und bei der Entwicklung des Eisenbahnwesens erwarb Cattaui sich große Verdienste. Joel Beinin: Dispersion, 2005, S. 45. 226 Auch die Söhne von J.A. Cattaui waren bis 1953 politisch aktiv, wurden in der Schweiz erzogen, hatten ebenfalls enge Bindung an das Königshaus. 227 Joel Beinin: Dispersion, 2005, S. 46. 228 Studierte bis 1912 in der Schweiz. Die Cicurel Kaufhäuser gehörten zu den vornehmsten der Stadt, waren bekannt für ihre importierten Waren und deren hohe Qualität. Salvator Cicurel verließ Ägypten 1957, migrierte nach Frankreich. Joel Beinin: Dispersion, 2005, S. 48 f. 229 1934 gehörte Cicurel zu den Gründungsmitgliedern der „Friends of the Hebrew University“ Jerusalem, obschon er kein Zionist war. Martin Gilbert: Ishamel’s House, 2012, S. 157; Joel Beinin: Dispersion, 2005, S. 48. 230 Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entwickelte sich der in Kairo geborene Sanua, Sohn eines italienischen Juden, zu einem der bedeutendsten und bekanntesten Schriftsteller Ägyptens, wurde zum Begründer des modernen ägyptischen Theaters, der seine Theaterstücke in gesprochener ägyptischer Sprache verfasste und sich großer Popularität erfreute. Sein Einfluss war
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Prominenz brachte es auch der 1881 aus Ungarn eingewanderte Max Herz Pasha (1856–1919);231 er arbeitete als Architekt für die ägyptische Regierung, war Direktor des „Islamic Art Preservation Committee“, sorgte für die Restaurierung zahlreicher Moscheen und war verantwortlich für den ägyptischen Pavillon bei der Weltausstellung in Chicago 1892. Spätestens seit den 1920er Jahren bestimmten die großen Geschäftshäuser jüdischer Besitzer das Straßenbild vor allem Kairos, vornehmlich jener in der Muski Straße.232 Zu Bedeutung gelangen auch einige jüdische Ärzte.233 Zahlreiche Juden waren in Vereinen unterschiedlicher Ausrichtung aktiv, so im 1859 gegründeten „Institut d’Egypte“, zu dessen Mitgliedern von 1939 auch Max Meyerhof und der Geschäftsmann I. G. Levy gehörten. Jüdische Mitglieder hatte 1939 des Weiteren die „Gesellschaft für Hygiene und Tropenmedizin“ (Alexandria),234 die „Königlichen Gesellschaft für Landwirtschaft“,235 die „Königlichen Gesellschaft für die Medizin Ägyptens“,236 die „Vereinigung der Landwirte Ägyptens“,237 die „Theosophischen Gesellschaft“,238 die „Jeunes d’Egypte Unis pour une Nouvelle Education Sociale“,239 die „Gesellschaft für Ägyptische Musik“.240 In den dem Sport gewidmeten Vereinigungen waren ebenfalls zahlreiche Juden vertreten,241 ebenso im Rotarier-Club Kairo, dem neben Max Meyerhof Salvator Cicurel als Ehrenschatzmeister angehörte,242 und dem Rotarier Club Alexandria, zu dem u. a. Robert J. Rolo und Baron Félix des Menasce gehörten.243
so groß, dass er 1878 wegen seiner Kritik an der Bestechlichkeit und dem extravaganten Lebensstil des Khediven sowie seiner Forderung ‚Ägypten für die Ägypter‘ ins Exil nach Paris geschickt wurde. Aus dem Exil kehrte er nicht mehr nach Ägypten zurück. Sein Vater Raphael Sanua war Berater des Khediven und seiner Familie. Martin Gilbert: Ishmael’s House, 2012, S. 112. 231 Herz musste als ungarischer Staatsbürger Ägypten mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs verlassen (30. November 1914. Er starb 1919 in Zürich.) István Ormos: Max Herz Pasha, 2009, S. 26–33. 232 Cicurel, Oreco, Chemla, Gattegno, Adés, Cohenca, Simon-Artz, Morums, Benzion. Victor D. Sanua: A Return, 1998, S. 3. 233 Maurice Fargeon: Medecins, 1939. 234 u. a. die Ärzte Hermann Schlesinger und Fritz Mainzer. 235 u. a. Albert Misrahi und René Cattaui. 236 u. a. Max Meyerhof, Balog und Hugo Picard. 237 u. a. als Vorstandsmitglieder S. Avigdor und Henry S.V. Mosseri. 238 Als Schatzmeister Théo Levi. 239 Als Generalsekretär Léon Cohen. 240 u. a. Richard Adler (Vorstandsmitglied der Bank Misr, Ehefrau war eine geborene Rolo. Le Mondain Egyptien, 1939, S. 87) und H. de Cattaui. 241 Le Mondain Egyptien, 1939, S. 51–61. 242 Im Vorstand war auch der amerikanische Ägyptologe George Reisner vertreten. Le Mondain Egyptien, 1939, S. 64. 243 Le Mondain Egyptien, 1939, S. 65 f.
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Zudem bot sich die Möglichkeit des Engagements in jüdischen Vereinen, so bei der W.I.Z.O. Kairo,244 der „Maccabi World Union (Egyptian Branch)“ in Alexandria245 und beim „Cercle de la Jeunesse Juive Maccabi“ in Alexandria.246 Bereits 1898 gründeten die Juden Alexandrias eine zionistische Vereinigung. Zwei Jahre später schrieben europäische Zionisten über ihre Beobachtungen in Kairo: „A vague idea of our movement flutters among the native Jews, not only in Cairo, but in all of Egypt“.247 1904 gab es zionistische Vereinigungen in Port Said, Suez, Tanta und Mansura. Darüber hinaus erschienen einige zionistische Zeitungen.248 Albert Mosseri rief 1920 die pro-zionistische Wochenzeitung „Israel“ ins Leben, die für die darauffolgenden zwanzig Jahre zur bedeutendsten jüdischen Zeitung in Ägypten wurde, obwohl die ägyptische Regierung dies mit Missfallen und Abwehr beobachtete.249 Obwohl aus Sicht vieler europäischer Beobachter in Ägypten geradezu paradiesische Zustände für Juden herrschten, entsprach dies nicht der vollen Wirklichkeit, wie etwa die „Fornarakis“ Affäre des Jahres 1881 belegt. Nachdem ein griechischer Junge einige Tage unauffindbar war, bezichtigten vor allem griechische und syrische Christen die Juden Alexandrias des Ritualmords, eine Anschuldigung, die auch nach dem Auffinden des Kindes weiterhin aufrecht erhalten wurde. Nur aufgrund massiver Intervention europäischer Juden und diplomatischer Kreise konnten größere Ausschreitungen verhindert werden. Erkennbar blieb indes, wie fragil die Stellung der Juden und wie virulent Antisemitismus tatsächlich waren.250 Die 1923 verkündete Verfassung Ägyptens erklärte in Artikel 3 gleiche Rechte für alle Ägypter, unabhängig von Herkunft, Sprache und Konfession, in Artikel 12 Religionsfreiheit, Artikel 13 erlaubte die freie Religionsausübung. Zugute kamen den Juden zudem, dass Präsident Sa’ad Zaghloul einen säkularen Staat propagierte, womit er die Wafd Partei auch für Juden so attraktiv machte, dass etliche sich nach 1922/23 ihr anschlossen, darunter der mit Zaghloul befreundete Jurist Léon Castro. 1922 gründete dieser die Wafd-Zeitung „La Liberté“.251 244 Präsidentin Frau Alexander mit Dr. Jofa Bloom als Schatzmeisterin und Iris Lévi als Sekretärin. 245 Präsident Jack Goar mit Albert Shama als Sekretär. 246 Präsident war Jack Goar (Wechselagent in Alexandria) mit Albert N. Mansour als Sekretär. 247 Martin Gilbert: Ishmael’s House, 2012, S. 135. 248 Martin Gilbert: Ishmael’s House, 2012, S. 135. 249 Martin Gilbert: Ishamel’s House, 2012, S. 155 f. 250 Das Kind war im Meer ertrunken, wie aus Europa herangezogene Ärzte nachweisen konnten. Vor allem in der griechischsprachigen Presse erschienen zahlreiche antisemitische Beiträge. Dario Miccoli: Moving Histories, 2011, S. 2 f. 251 Gudrun Krämer: Jews, 1989, S. 126.
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Aus all dem ließe sich ableiten, dass vor allem nach der Unabhängigkeitserklärung Ägyptens die Juden einen stabileren rechtlichen Status erlangen konnten. Die Wirklichkeit war eine andere. Mit dem schon vor und während des Ersten Weltkriegs an Schärfe gewinnenden Kampf um Unabhängigkeit geriet die Stellung der Juden zunehmend ins Blickfeld bzw. wurde kritisch hinterfragt. Gefordert wurde von ihnen, die 1927 zu drei Viertel keine ägyptische Staatsbürgerschaft besaßen und sich eher als „foreigners in the country of our birth“252 sahen, ein eindeutiges Bekenntnis zu Ägypten,253 etwa durch die Annahme der ägyptischen Staatsbürgerschaft, die dann gewährt wurde, wenn die erkennbare Bereitschaft, sich in die ägyptische Kultur zu integrieren, bewiesen schien einschließlich der Fähigkeit, mit Arabisch in Wort und Schrift umzugehen.254 Gleichzeitig erschwerte Ägypten allerdings nach 1923 und besonders nach Verkündung des Staatsbürgergesetzes von 1929 die Annahme der Staatsbürgerschaft, vor allem für Juden,255 indem die Kriterien für die Anerkennung als Ägypter so vage und für eine breite Auslegung offen formuliert waren, dass es nur wenigen Juden nach jahrelangem bürokratischem Kampf gelang, die ägyptische Staatsbürgerschaft zu erhalten.256 Andererseits verständigten Großbritannien und Ägypten sich mit der Unabhängigkeitserklärung darauf, dass Ersteres der Schutz von Ausländern und lokalen Minoritäten vorbehalten blieb. Dies bedeutete für die meisten Juden, dass sie zwar unter speziellem Schutz Großbritanniens standen, gleichzeitig aber mit der Kolonialmacht assoziiert wurden, obwohl sie überwiegend das „foreign stigma“ ablegen wollten, sogar Oberrabbiner Haim Nahum 1928 zur Annahme der ägyptischen Staatsbürgerschaft aufrief.257
252 Victor D. Sanua: A Return, 1998, S. s. 253 Rami Ginat: Egyptian Communism, 2011, S. 333. 254 1927 besaß ein Viertel der Juden keine Staatsangehörigkeit, ein Viertel die ägyptische, zwei Viertel die türkische, französische, italienische oder britische. Die jüdische Prominenz hatte ausnahmslos nicht-ägyptische Staatsbürgerschaft, z. B. Suarez und Mosseri (italienisch), Cattaui und Menasce (österreichisch). Shimon Shamir: The Evolution, 1987, S. 33 ff. 255 Irmgard Schrand: Jews, 2003, S. 39–43. Besonders problematisch war nach WW 1 die Situation der ehemals ‚ottomanischen‘ Juden; sie verloren nach dem Vertrag von Sèvres (1920) ihre sämtlichen Privilegien, was vor allem russische Juden betraf. Sie versuchten, die ägyptische Staatsbürgerschaft zu erhalten, was ihnen nur selten gelang. 256 Shimon Shamir: The Evolution, 1987, S. 48–49, 55 f. Vor allem für alteingesessene Juden war es überaus problematisch nachzuweisen, dass sie ununterbrochen seit 1848 in Ägypten lebten. Großes Hindernis waren auch die für die Antragsteller anfallenden hohen Kosten, die die meisten Juden nicht tragen konnten. Von 1929 bis 1949 erhielten nur 388 vormals ausländische Juden die ägyptische Staatsbürgerschaft. 257 Shimon Shamir: The Evolution, 1987, S. 53 f.
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Mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten in Deutschland setzte in Ägypten eine Welle von Antisemitismus ein, resultierend aus den Aktivitäten der lokalen NSDAP, weniger aus der ägyptischen National- oder islamistischen Bewegung. Auch deshalb reagierten die Juden äußerst alarmiert, organisierte die B’nai B’rith Loge schon im März und April 1933 Versammlungen in Kairo, Alexandria, Port Said, al-Mansura und Tanta, an denen Tausende Juden teilnahmen, darunter auch Oberrabbiner Haim Nahum Effendi. Zusätzlich erklärten die Vereinigung der Börsenmakler und der Angestellten in Alexandria sowie die Freimaurerlogen ihre Solidarität mit dem Kampf gegen den Antisemitismus.258 Protestschreiben wurden gesandt an Hindenburg, die MenschenrechtsLiga in Paris und die Vereinten Nationen in Genf. Aus der Protestbewegung ging die Gründung der „Ligue contre l’Antisémitisme Allemand“ hervor, deren Ziel es war, die in Ägypten lebenden Juden gegen Nazi-Propaganda und Verfolgung zu schützen. Das Leitungskomitee der Liga bestand aus Léon Castro, Simon Mani, Raphael Toriel und Abramino Menasce, die ausnahmslos nicht der jüdischen Elite angehörten. Im September 1933 schloss sich die Liga der kurz zuvor in Amsterdam gegründeten „Ligue Internationale contre l’Antisémitisme Allemand“ (LICA) an, als deren Vize-Präsident Léon Castro fungierte, wurde zudem eine Jugendorganisation der LICA gegründet, die 1934 bereits 650 Mitglieder hatte.259 Im Mai 1933 publizierten ägyptische Juden die Schrift „Anti-Semitism in Germany“; sie wurde sogleich von den ägyptischen Behörden beschlagnahmt. Als einschneidendste Maßnahme begriffen die ägyptischen Juden, zum Boykott deutscher Waren aufzurufen, was die Zeitschrift „Israel“ bereits im März 1933 vorschlug. Im April 1933 veröffentlichte Léon Castro den Aufruf in diversen ägyptischen Zeitungen und forderte auf, „to break all material, intellectual, and social links“ mit Deutschen – „The Germans hate you, despise them. The Germans reject you, reject them“.260 Wie erwähnt zeigte der Aufruf schnell die erwünschte Wirkung und provozierte entsprechende Gegenmaßnahmen von deutscher Seite, die der ägyptischen Regierung wirtschaftlich so bedrohlich erschienen, dass sie weitere anti-deutsche Aktionen auf ägyptischem Boden zu verhindern versprach. Wesentlich negativere Auswirkungen aber hatte das Ha‘avara Abkommen vom Mai 1933 zwischen zionistischen Organisationen in Palästina und dem
258 Gudrun Krämer: Jews, 1989, S. 130. 259 Zudem gründete im August 1935 Raymond Castro, Sohn von Leon Castro, die „Jeunesse Internationale contre l’Antisémitisme“ (JICA). Gudrun Krämer: Jews, 1989, S. 130 f. 260 Zitiert nach: Gudrun Krämer: Jews, 1989, S. 132.
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deutschen Wirtschaftsministerium,261 das 1935 unter anderem auch auf Ägypten ausgeweitet wurde. Die in der LICA organisierten Juden Ägyptens betrachteten das Abkommen als „a masterpiece of treason“,262 mussten sich aber im April 1935 überzeugen lassen, ihre Boykottmaßnahmen gegen Deutschland offiziell aufzugeben. Schon im Sommer 1933 hatte die britische Regierung Deutsche und Juden in Ägypten dazu aufgerufen, ihre Auseinandersetzungen zu beenden und verbot alle diesbezüglichen öffentlichen Kundgebungen. Der britische Hochkommissar warnte den Publizisten Jacques Maleh ernsthaft vor den Folgen, die fortgesetzte Boykottmaßnahmen und Protestkundgebungen für die ägyptischen Juden haben würden. Im August 1933 verbot die ägyptische Regierung sämtliche Boykottmaßnahmen oder Aufrufe dazu, verwarnte ein Jahr später aber auch die Deutschen, sollten sie sich zukünftig nicht rassistischer Proklamationen enthalten.263 Innerhalb der Judenschaft Ägyptens wurde zunehmend gegen die Aktionen der LICA Klage erhoben, weil sie den Interessen der Mehrheit der ägyptischen Juden widersprächen. Oberrabbiner Haim Nahum lehnte den Boykott im November 1933 offiziell ab, ebenso negativ sah er den von Jabès initiierten Gerichtsprozess und votierte wie die meisten ägyptischen Juden für eine Art Geheimdiplomatie. Nicht nur ihn trieb die Sorge um, dass die ägyptischen Juden infolge ihres exponierten Verhaltens selbst ins Visier von Verfolgern geraten könnten.264 Inoffiziell planten die ägyptischen Juden Hilfsmaßnahmen. Jene Alexandrias sammelten Geld, um damit in Palästina Grund und Boden zwecks Gründung einer Siedlung für Zuflucht suchende deutsche Juden zu erwerben.265 Als nach der Pogromnacht im November 1938 in Deutschland eine erneute Fluchtwelle von Juden nach Palästina und Shanghai einsetzte, bildeten die jüdischen Gemeinden von Alexandria, Kairo und Port Said Delegationen, um die Flüchtenden auf
261 „Ha‘avara“ bedeutet „Transfer“. Durch das Abkommen wurde die jüdische Mittelstandseinwanderung aus Deutschland nach Palästina gefördert. „Auf diese Weise wurden über die Jahre – das System blieb, obgleich mit Veränderungen, bis zum Kriegsbeginn in Kraft – Finanzflüsse von ca. 140 Millionen RM nach Palästina transferiert“, zugleich brach das Abkommen sämtliche gegen Deutschland gerichtete Boykottmaßnahmen jüdischer Organisationen. Patrick Farges: Jeckes, 2015, S. 85. 262 In einem Artikel in „L’Aurore“, zitiert nach: Gudrun Krämer: Jews, 1989, S. 134. 263 Bei einem Treffen der Deutschen am 20. April 1934 wurde laut das Lied „Juda verrecke“ gesungen. Gudrun Krämer: Jews, 1989, S. 135. Die deutsche Gesandtschaft ging 1934 gerichtlich gegen das von Maurice Fargeon publizierte Buch „Le tyrann moderne: Hitler où la verité sur la vie du Fuehrer“ vor. Fargeon war Schriftsteller und Jurist. Bei dem Gerichtsprozess wurde er von dem Rechtsanwalt und Richter am Gemischten Gericht, Felix Benzakein, vertreten. 264 Gudrun Krämer: Jews, 1989, S. 137 f. 265 Martin Gilbert: Ishamel’s House, 2012, S. 165.
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den in Port Said kurz vor Anker gehenden Schiffen mit Lebensmitteln, Medikamenten und andern Hilfsgütern zu versorgen.266 Besonders engagiert zeigte sich das örtliche Willkommenskomitee der „Union Féminine Israélite“, worunter sich einige Deutschsprachige befanden. Auch Bekhor Simhon, der Präsident der B’nai B’rith Loge, begab sich an Bord der Schiffe. Doch trotz der erkennbaren Not der Flüchtlinge war auch den Juden Port Saids zu diesem Zeitpunkt das Ausmaß der Bedrängung nicht völlig bewusst.267 Verstärkt unter Druck gerieten die ägyptischen Juden ab den späten 1920er Jahren zudem durch die Gründung (1928) der judenfeindlich gesinnten Muslimbrüder und der Bewegung „Junges Ägypten“ (Misr el-Fatah), Gruppen mit stark islamistischer bzw. ultranationalistischer Prägung.268 „According to this kind of narrative, being Egyptian did not mean only – or simply – to have Egyptian nationality, but to feel bonds of affection and loyalty to the land and its rulers,“ was man den Juden versuchte abzusprechen.269 Die Muslimbrüder schürten nicht nur den Hass auf den Zionismus als eine politische und nationale Bewegung, sondern gegen die Juden allgemein als „bearers of an alien and destructive religion and ideology.“270 Mit der arabischen Revolte in Palästina, 1936–1939, gewann diese judenfeindliche Bewegung zusätzlich an Dynamik, die Muslimbrüder riefen zum Boykott jüdischer Unternehmen und Kaufhäusern auf, obwohl deren Besitzer in der Mehrzahl keine Zionisten waren. In der Presse zirkulierten Artikel, die ähnliche antisemitische Stereotypen enthielten wie in Deutschland. Die Gruppierung „Junges Ägypten“ erklärte, die ägyptischen Juden seien keine wirklichen Ägypter und initiierten gewalttätige Übergriffe.271 Eine weitere Zäsur markierte der Vertrag von Montreux vom Mai 1937, indem dieser die Kapitulationen und Gemischten Gerichte abschaffte, sodass die Juden nicht-ägyptischer Nationalität ihren geschützten Status, der durch den Tod des bekanntermaßen judenfreundlichen König Fouad (1936) ohnehin brüchig geworden war, verloren. Die ägyptischen Juden befanden sich seit den 1920er, vor allem aber in den 1930er und 40er Jahre zunehmend unter Druck, ab 1933 in einem Dilemma zwischen Hilfsbereitschaft und berechtigter Sorge um die eigene Existenz. Dazu trugen nicht nur die Deutschen bei, dafür sorgte ebenso die ägyptische, überwiegend deutschfreundliche Regierung bzw. das Königshaus, zudem die britische, 266 Martin Gilbert: Ishamel’s House, 2012, S. 166. 267 Sylvia Modelski: Port Said, 2000, S. 80. 268 Joel Beinin: Dispersion, 2005, S. 61. Alec Nacamuli: Les Juifs, 2003, S. 8. 269 Dario Miccoli: Moses and Faruq, 2012, S. 2; Liliane Dammond: Lost World, 2007, S. 10 f. 270 Martin Gilbert: Ishamel’s House, 2012, S. 157. 271 Joel Beinin: Dispersion, 2005, S. 64. Gudrun Krämer: The Jews, 1989, S. 146.
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französische, italienische und sogar zionistische Seite in Palästina. Diese Gemengelage ließ es den Juden Ägyptens überwiegend geboten erscheinen, sich jeder politischen Äußerung und Aktivität zu enthalten, allenfalls ihre patriotische Gesinnung zu betonen und unter Beweis zu stellen.272 Konsequent gegen die deutsche antisemitische Propaganda in Ägypten setzten sich allerdings die B’nai B’rith Logen zur Wehr.273 Die gegen Einwanderer und Flüchtlinge zunehmend restriktive Gesetzgebung Ägyptens erschwerte den ägyptischen Juden die Möglichkeit von Hilfsmaßnahmen, verstärkte die Sorge um die eigene Existenz- und Zukunftssicherung angesichts des von islamistischen und ultranationalistischen Kreisen propagierten Antisemitismus in Ägypten.274 Als wirklich verlässliche Unterstützer konnten die ägyptischen Juden trotz ihres anfänglich fulminanten Kampfs gegen den Antisemitismus nicht gelten.
4.4.1 Deutschsprachige jüdischer Herkunft Ebenso wie in der Vorkriegszeit waren etliche Mitglieder der ‚deutschen Kolonie‘ nach 1923 jüdischer Herkunft. Daten liegen dazu nicht vor, sodass sich dies nur mittelbar erschließen lässt, etwa über die Angaben zu SchülerInnen der deutschen Schule. Von den für 1907 verzeichneten 679 deutschen Kindern waren 102 (15 %) jüdisch, von den 1331 österreichischen 1123 (84 %).275 Zu bedenken ist dabei allerdings, dass etliche der österreichischen Kinder aus ägyptischen Familien mit österreichischer Staatsangehörigkeit stammten.276 Überwiegend waren die Deutschen (und Österreicher) nach 1923 in den Städten Kairo, Alexandria und Port Said niedergelassen, als Mediziner, Juristen, Kaufleute, Wissenschaftler, Ingenieure, Handwerker oder in einem Dienstleistungsgewerbe. Exaktere Angaben ermöglichen die bisher kaum genutzten Melderegister der deutschen Gesandtschaft von 1938/39 – obschon sich offenbar nicht 272 Gudrun Krämer: Political Participation, 1987, S. 70, 72. 1934 und 1935 gründeten einige jüdische Journalisten und Schriftsteller, unterstützt von Joseph Aslan Cattauoui und Haium Nahum, die Association de la Jeunesse Juive Égyptienne und eine arabischsprachige Wochenzeitung (alShams), um die Jüdischen Gemeinden zu ‚ägyptisieren‘. 273 Gudrun Krämer: Political Participation, 1987, S. 77. 274 Im Juli 1939 wurde in der Hauptsynagoge in Kairo eine Bombe, versehen mit einem antisemitischen Begleitbrief, gefunden. Der Aufbau 5/13 (15. Juli 1939), S. 3. 275 Zeitschrift für Demographie und Statistik der Juden (alte Folge), H. 11 (Nov. 1907), S. 174. 276 Dazu gehörten die Familien Adda (35 Mitglieder), Benarojo (11), Belilios (13), Cattaui (38), Forte (29), Goldstein (31), Heffez (22), Ismalun (8), Mondolfo (10), Picciotto (24), Palacci (19), Rossano (19), Romano (19). Rudolf Agstner: Matrikelbuch, 1994, S. 37.
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alle Meldepflichtigen registrieren ließen.277 Demnach waren 1933 mindestens 761 erwachsene deutschsprachige Personen in Kairo, Alexandria, Port Said, Ismāilia, Assuan und Khartoum ansässig.278 Von diesen waren 99 (13 %) jüdischer Herkunft. Um eine verschwindend kleine Gruppe, zu der auch das Ehepaar Borchardt gehörte, handelte es sich mithin nicht. So gut wie keine Angaben liegen dazu vor, ob sich die als „jüdisch“ oder „mosaisch“ bezeichneten Personen an die sephardischen oder aschkenasischen Gemeinden (die karaitischen kamen nicht in Frage) Ägyptens anschlossen. Von Max Meyerhof ist bekannt, dass er ab den 1920er Jahren in stetem Kontakt zum ägyptischen Oberrabbiner stand, auch Beziehungen zur Kairener aschkenasischen Gemeinde unterhielt.279 Doch dürfte Meyerhof eine Ausnahme dargestellt haben.280 Die meisten deutschsprachigen Juden definierten sich weniger über ihre Zugehörigkeit zu einer jüdischen Gemeinde als vielmehr über jene zur ‚deutschen Kolonie‘. Damit korrespondiert die Außenwahrnehmung; zeitgenössische Darstellungen zur jüdischen Bevölkerung Ägyptens erwähnen die Deutschsprachigen nicht, weisen sie nicht als jüdisch aus. Bis 1938/39 existierten demnach offiziell keine Angaben zum Umfang der Gruppe Deutschsprachiger jüdischer Herkunft. Wichtig ist, dass die Melderegister von 1938/39 auch Angaben enthalten zu Herkunft, Erwerbstätigkeit, Wohnort, Zeitpunkt der Niederlassung in Ägypten, Zugehörigkeit zu einer Organisation und Konfession.281 Zusätzlich ist vermerkt, ob eine Person als „arisch“ galt oder als jüdisch, was mit einem roten „J“ gekennzeichnet wurde.282 Von den 1938/39 verzeichneten 215 Personen jüdischer Herkunft waren 99 bereits vor 1933 in Ägypten niedergelassen, überwiegend in Kairo. Über ihre Motive, nach Ägypten zu migrieren, lässt sich nur in Einzelfällen Auskunft geben, aber vermuten, dass berufliche Ambitionen ausschlaggebend waren. Nicht alle 277 Im PA des AA entdeckte ich im November 2014 bei den Konsulatsakten der deutschen Gesandtschaft die Meldekarten, die zum Teil mit Fotografien versehen sind. PA AA Kairo-Gesandtschaft 1a, 2a, 2b. Zuvor hatten lediglich Angaben von Zeitzeugen/innen zur Verfügung gestanden (u. a. Uppenkamp-Adämmer, Karig-Schuster, Peinert-Kunz, Schnyder-Rubensohn). 278 Albrecht Fueß: Deutsche Gemeinde, 1996, S. 95 gibt ca. 1200 Deutschsprachige in den 1930er Jahren an, davon etwa 450 in Kairo. 279 Vgl. seine Aufzeichnungen für die Jahre 1939–45: Brieftagebuch Meyerhof 1939–1945 (Privatbesitz). 280 Laut mündlicher Mitteilung der Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Kairo, Carmen Weinstein (gest. 2013), gab es so gut wie keine Verbindungen zwischen den Jüdischen Gemeinden Ägyptens und den jüdischen Exilanten (Interview März 2013). 281 s. Anhang 282 PA AA Kairo-Gesandtschaft 1a, 2a.
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Personen, deren jüdische Herkunft bekannt ist, tauchen auch in den Melderegistern auf, d. h. einige entzogen sich der Registrierungsaufforderung oder hatten die deutsche Staatsangehörigkeit zugunsten der ägyptischen bereits abgelegt oder Ägypten vor 1938 verlassen. Nicht verzeichnet sind etwa Jacques Calderon, Claire Schaade,283 Werner Leis, Max Meyerhof, Isaac Rofé, Rudolf Roser, Erwin F. Schlesinger, Albert und Wilhelm Seidemann sowie die meisten betreffenden Personen in Alexandria. Schaade hatte Ägypten vor 1938 verlassen, nicht hingegen Meyerhof, der kurz nach Januar 1933 die ägyptische Staatsangehörigkeit beantragte und erhielt. Ähnliches hat für den Arzt Schlesinger zu gelten sowie das Ehepaar Jacques und Käthe Calderon, die zu den bekanntesten Musik- und Instrumentenhändlern Ägyptens gehörten, ihre Handlung in der Emad el-Dine Straße Nr. 118 führten, ganz in der Nähe der Praxis ihres engen Freundes Meyerhof.284 Ebenso wie Calderon lebten auch Max und Renée Rothschild in Kairo-Maadi, errichteten dort vor 1939 südlich der 15. Straße zwei Villen für ihre Töchter Emilie (Emmy) und Elisabeth (Lilly).285 Als diese später nach Österreich remigrierten, übernahm der österreichisch-jüdische Rechtsanwalt Hector Liebhaber die weitere Verwaltung der Immobilien.286 Der 1878 in Eisenstadt/ Burgenland geborene Kaufmann Rothschild war seit 1904 in Kairo ansässig, seine Ehefrau wurde 1888 in Alexandria als Tochter von Aron und Adele Rosenfeld geboren. 1938 beantragte Familie Rothschild die ägyptische Staatsbürgerschaft.287 Diese besaß der in Kairo geborene Hector Liebhaber nicht,
283 Ehefrau von Arthur Schaade (Professor für Orientalistik an der Universität Kairo). 284 Das kinderlose Ehepaar lebte von den 1920er bis zu den 1960er Jahren in Kairo, bewohnte im Stadtteil Maadi, einem kulturellen Zentrum der Europäer, eine von ihm erbaute Villa in der 85. Straße. Herbert Ricke, späterer Assistent von LB in Kairo und dessen Nachfolger als Institutsleiter, berichtete am 28. September 1930, dass er bei Baronin Lipperheide das Ehepaar Calderon getroffen hatte. Diese erzählten ihm von ihren Hausbauplänen und fragten um seinen Rat als Architekt. Ricke war von den vorgelegten Plänen nicht begeistert, fand, es sei „wieder eine verpasste Gelegenheit, das erste anständige Haus in Madi erstehen zu lassen“. Ricke an MB. SIK MB 76/4. Testamentarisch bestimmte Calderon, dass nach seinem und dem Tod seiner Ehefrau seine Villa in den Besitz des Jüdischen Krankenhauses in Kairo übergehen sollte; diesem wurde 1956 nicht entsprochen. Maadi’s electic Villas and their stories. http://www.egy.com/maadi/maadivillas.php (04.03.2015). Schon vor seiner Niederlassung in Kairo hatte Calderon Bekanntschaft mit dem Berliner Ägyptologen Rudolf Anthes gemacht, Assistent LB’s in den 1920er Jahren in Kairo, später Direktor des Ägyptischen Museums in Berlin. Anthes beriet Calderon beim Erwerb von Artefakten, woraus sich im Laufe der Jahre eine bedeutende Sammlung entwickelte. Leo Spik Auktionen. http://www.leo-spik.de/archiv/651/skulp.html (04.03.2015). 285 Geboren 1914 in Kairo, besuchte das Lycée Francais in Kairo, wohnte 1938/39 bei den Eltern in Maadi. PA AA Gesandtschaft Kairo 2a. 286 Villa Tatin wurde an Ahmed al-Nahas, der beruflich mit Liebhaber verbunden war, verkauft. 287 Bemerkung in den Melderegistern. PA AA Kairo-Gesandtschaft 2a.
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weshalb er 1940 als „enemy alien“ interniert wurde. Auch er war in Kairo-Maadi ansässig, bewohnte dort bis zu seinem Tod in den 1970er Jahren eine kleine Villa in der 17. Straße. Als viele Juden in den 1950/60er Jahren Kairo verließen, beauftragten die meisten Liebhaber mit der weiteren Wahrnehmung ihrer Interessen in Ägypten, d. h. in der Hauptsache dem Verkauf ihrer Immobilien.288 Zu den ‚Maadiern‘ gehörte ebenso der seit 1929 in Ägypten als Schuhhändler tätige Richard Altmann;289 nach 1939 konvertierte er zum Islam, trennte sich von seiner Ehefrau Fanny Lifschitz290 und ehelichte eine Ägypterin. In der 1914 in Maadi (79. Straße) errichteten „Villa Sopri“ lebte der aus Österreich stammende, seit 1900 in Kairo als Arzt und Psychotherapeut niedergelassene Emil Max Lichtenstern (später Lister). Sein Bruder Joseph Max Lichtenstern, Leiter der „Egyptian Eagle Knitting Factory“, lebte seit 1893 in Ägypten, ließ sich in Maadi in der 12. Straße von dem österreichischen Architekten Edward Matasek die „Villa Austria“ errichten.291 Bis 1933 galten die Häuser Lichtenstern neben dem Borchardt‘schen Haus als Zentren des sozialen Lebens der ‚deutschen Kolonie‘. Zu einer gesuchten Adresse für deutschsprachige Juden wurde im Laufe der 1930er Jahre die von den Schwestern Lola und Marta Hochstein geführte Pension in der 15. Straße in Kairo-Maadi. Marta Hochstein, von Beruf Kunstgewerblerin, war 1930 bzw. 1932 zusammen mit ihrer Schwester, einer Gartenarchitektin, von Alexandria nach Kairo übergesiedelt; 1942 bemühte sie sich um die ägyptische Staatsbürgerschaft.292 Sie verheiratete sich in Ägypten, hinterließ später ihrer mit Adolf Levy verheirateten Tochter die Pension.293
288 Viele der entsprechenden Akten fanden sich nach Liebhabers Tod bei „clever lawyers who proceeded to cut deals with the absentee owners. And this is how much of the Maadi’s properties changed hands and legs.“ Maadi’s eclectic Villas. 289 Geboren 1905 Kattowitz. PA AA Kairo-Gesandtschaft 1a. 290 Tochter von Paul Lifschitz, dem bedeutendsten Immobilienmakler und -besitzer Maadis. Lifschitz erwarb zudem eine große Villa in der 13. Straße, die vorher Bernhart Louis Grumberg gehört hatte. Fannys Verwandte Elisabeth (Lotte) Altmann war die zweite Ehefrau von Stefan Zweig und beging mit diesem am 23. Februar 1942 in Brasilien Suizid. Fanny und Richard Altmann sind beerdigt auf dem deutschen Friedhof in Alt-Kairo. Maadi’s electic Villas. 291 Emil (geb. 1879 Wien) und Josef Max Lichtenstern (geb. 1876 Wien) waren Söhne von Simon Lichtenstern (geb. 1836 Bochnia, gest. 1905) und Eugenie Byk (geb. 1843 Budapest, gest. 1883). Emil L., seit 1929 verheiratet mit Katherina Fritzsche (geb. 1896 Leipzig), hatte zwei Kinder. Josef Max L., verheiratet mit Irma Kalman (geb. 1890 Wien), zwei Töchter. Tochter Annie Gismann lebte bis zu ihrem Tode, 1996, in der Villa. PA AA Gesandtschaft Kairo 2a. 292 Marta Hochstein (geb. 1888 Wien) und Lola Hochstein (geb. 1892 Wien), Töchter von Hermann Hochstein (gest. 1930) und Regina Goldberg (gest. 1904). PA AA Kairo-Gesandtschaft 1a. 293 Maadi’s eclectic Villas.
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Außer den Benannten waren in Maadi wohnhaft: Bernhard Walter Branbe (83. Straße),294 Marianne Demant (Avenue Menasse),295 Familie Liebhaber (17. Straße),296 Felix Modern mit Familie (18. Straße),297 Ernst Morawetz mit Ehefrau Gertrud und ab 1938 auch mit Mutter Emma (18. Straße),298 Familie Nissel (11. Straße),299 Familie Samter (14. Straße),300 Marie Smerd (12. Straße),301 Ilse Scheffel (Avenue Mosseri),302 die Witwe Melanie Schmeichler (Sharia Fouad),303 das Ehepaar Willner (Sharia Fouad),304 Egon Schnitzer (5. Straße,
294 Geboren 1904 in Heydekrug/Ostpreußen, verheiratet, Manager der Generalvertretung A. Scholl, kam im Januar 1935 von London nach Ägypten. PA AA Kairo-Gesandtschaft 1a. 295 Geboren 1919 Scharding/Inn, Tochter von Theodor Demant (geb. 1880 Czernowitz) und Marianne Pröll (geb. 1888 Prag). Letztere lebten seit Januar 1939 in der Pension Garden City in Kairo. Marianne Demant kam im Oktober 1938 von Linz/Donau nach Ägypten, lebte bei Haym Felix. Ihre Schwester Ruth Demant (geb. 1911 Linz), die ebenfalls im Oktober 1938 in Kairo eintraf, wohnte bei Miss Anna Berlin (Swedish Institute), Kasr el Nil in Kairo. PA AA Kairo-Gesandtschaft 1a. 296 Das war die Witwe Adelina Liebhaber geborene Luzzetto (geb. 1870 Kairo, Tochter von Cesare Luzzetto und Gaetanina Cavalli) mit ihrer Tochter Nelly (geb. 1898 Kairo). PA AA Kairo- Gesandtschaft 2a. 297 Felix Modern (geb. 1887 Wien, Sohn von Josef Modern und Mathilde Katz) mit Ehefrau Melitta Tans (geb. 1892 ungar. Brod) und Tochter Liselot (geb. 1921 Wien). Modern war Kaufmann, seit 1932 in Ägypten. 298 Ernst Morawetz (geb. 1903 Wien, Sohn von Valentin M. und Emma Fantl, geb.1875 Wittingen), Kaufmann, kam 1931 von Alexandria nach Kairo. Seine Ehefrau Gertrud (geb. 1903 Pola/Italien) war Tochter von Benno Sabeth und Adele Wollheim. PA AA Kairo-Gesandtschaft 2a. 299 Der Ingenieur Hans Nissel (geb. 1902 Beuthen) kam 1935 nach Ägypten, verheiratet, Söhne Raphael und Peter. PA AA Kairo-Gesandtschaft 2a. 300 Der bei „Bayr. Pharma“ angestellte Arzt Martin Samter (geb. 1898 Berlin, Sohn von Wilhelm Samter und Anna Lazarus) kam 1924 von Berlin nach Kairo, ebenso seine Ehefrau Louise Löbl (geb. 1899 Karlsbad). Die Söhne Thomas und Michael wurden 1929 in Kairo bzw. 1932 in Karlsbad geboren. PA AA Kairo-Gesandtschaft 2a. 301 Geboren 1889 in Wien als Tochter von Edmund Pollack und Paula Broch. Sie ist zwar als verheiratet angegeben, von dem Ehemann liegt aber keine Meldekarte vor. Marie Smerd kam im Dezember 1938 von Alexandria nach Kairo, lebte 1937 noch in Wien. PA AA Kairo-Gesandtschaft 2a. 302 Geboren 1928 in Wien als Tochter von Desiderius Scheffel und Anna Uhlik. Sie kam im September 1938 von Wien nach Kairo, war Schülerin an einer britischen Schule und wohnte bei ihrem Onkel L.G. Farthing. PA AA Kairo-Gesandtschaft 2a. 303 Geboren 1865 Apathien, Tochter von Sigmund Kaufmann und Rosalie Abeles, im November 1938 von Wien nach Ägypten, wohnte bei Familie Willner, d. h. bei Schwiegersohn und Tochter. PA AA Kairo-Gesandtschaft 2a. 304 Gerard Willner (geb. 1903 Bartenstein), seit 1934 verheiratet mit Dorothea Kaufmann (geb. 1899 Wien). Sie lebten seit 1934 bzw. 1933 in Kairo. Gerard Willner war Pianist, hatte bis Januar 1934 in Berlin gelebt. PA AA Kairo-Gesandtschaft 2a.
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Pension Hochstein),305 Familie Wolff (85. Straße)306 und das Ehepaar Zuker (12. Straße)307 Auch Isaac Liscovitch, einer der führenden Kairener Juweliere und etliche Jahre Präsident der aschkenasischen Gemeinde Kairo, lebte in einer 1937 errichteten Villa in der 85. Straße in Maadi. Das Ehepaar Meyr Biton und Regina Shama Levi ließ dort 1934 in der Mosseri Avenue eine Synagoge errichten.308 Nicht nur für Personen jüdischer Herkunft war Kairo-Maadi ein gesuchter Wohnort. Es finden sich dort beispielsweise auch seit 1935 Baron von Richter, Direktor der Dresdner Bank, seit 1926 Walther Uppenkamp, sowie Vertreter der deutschen Gesandtschaft, etwa Max Peinert, dessen Ehefrau Elisabeth Henius als „Mischling“ galt, auch Wilhelm van Meeteren.309 Man wohnte also Tür an Tür, versuchte sich nach Möglichkeit aus dem Weg zu gehen. Nur wenige blieben solidarisch wie beispielsweise das Pfarrerehepaar Karig, das sich von anonymen Drohbriefe nicht schrecken ließ und seine Beziehungen zu den ausgegrenzten Kolonie-Mitgliedern aufrechterhielt – etwa zu den Ehepaaren Borchardt,310 Picard, Schlesinger, Wolff, Schaade und Calderon. Jüdischen Kindern wurde der Schulbesuch nicht offiziell verwehrt, aber durch permanente Schikanen so erschwert, dass sie die deutsche Schule verließen.311 Der Rückzug in eine ägyptendeutsche Parallelwelt wird nachvollziehbar mit Blick auf die Affinität der deutschen Vereine und Organisationen zum Nationalsozialismus. Von den Frauen, die sich zwischen 1923 und 1933 in Kairo oder Alexandria niederließen, gehörten 1938/39 110 einer NS-Organisation und/oder einem lokalen deutschen Verein an. 34 (31 %) dieser Frauen waren eigenen Angaben zufolge Mitglied einer NS-Organisation, wobei das Eintrittsdatum nur in wenigen
305 Geboren 1898 in Wien, Sohn von Adolf Abraham Schnitzer und Anna Czwicklitzer. Er war ledig, arbeitete als „Generalvertreter von Textilfabriken“, kam im April 1937 von Athen nach Ägypten. PA AA Kairo-Gesandtschaft 2a. 306 Die mit dem aus Worms stammenden Zahnarzt Wolff (geb. 1888) verheiratete Zahnärztin Hedwig Wolff (geb. 1888 Worms) lebte seit 1911 bzw. 1925 in Kairo. Ihre Tochter Edeltraut Wolff (geb. 1918 Wiesbaden) arbeitete 1938 als Lehrerin an der britischen Schule in Kairo-Zamalek, ihr Sohn Hermann Wolff (geb. 1912 Kairo) war promovierter Jurist und kaufmännischer Angestellter bei „Thomas Cook & Son“ in Kairo. PA AA Kairo-Gesandtschaft 2a. 307 Leo Zuker (geb. 1875 Istanbul), Sohn von Jakob Zuker und Klara Bunczek, der Name seiner Ehefrau ist nicht angegeben. Er lebte seit 1902 in Kairo und arbeitete als Kaufmann. PA AA KairoGesandtschaft 2a, 2b. 308 Tochter Tania heiratete 1941 Joseph „Noussi“ Pardo. Maadi’s eclectic Villas. 309 Sie wohnten in der 10. Straße. PA AA Kairo-Gesandtschaft Kairo 1a, 2a. 310 Die Beziehung zu MB hielt das Ehepaar Karig bis 1948 aufrecht. Bericht von Gabriele Schuster-Karig und Joachim Karig (September 2011). 311 Mündliche Berichte Adämmer, Schuster, Kunz (September bis November 2011).
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Fällen vermerkt ist. Davon waren acht ausschließlich in einer NS-Organisation organisiert. Etwa ein Viertel der Frauen (26 = 24 %) war gleichzeitig Mitglied einer NS-Vereinigung und eines lokalen deutschen Vereins. Als Mimi Borchardt im April 1933 den Vorsitz des Frauenvereins, den sie seit 1925 ununterbrochen innegehabt hatte, niederlegte, mag sich eine solche Entwicklung bereits abgezeichnet haben. Jedenfalls ahnte Mimi Borchardt sie voraus und trat von ihrer Position zurück, obwohl sie am 27. Februar 1933 einstimmig als Vorsitzende wiedergewählt worden war.312 In ihrem Rundbrief an die Vereinsmitglieder erinnerte sie sowohl an die Prinzipien ihrer Tätigkeit als auch ihre Aktivitäten zugunsten der Neugründung der deutschen Schule Kairo. Angesichts dessen, dass sich die politischen Grundlagen ihres Arbeitens grundlegend gewandelt hatten, wollte Mimi Borchardt den Vereinsvorsitz nicht weiter wahrnehmen. Denn „nicht Feinde schnüren dem deutschen Volke die Lebensmöglichkeiten ab, sondern Deutsche tun es Deutschen. Deutsche werden von Deutschen ihrer Ansichten wegen in Haft genommen, in Konzentrationslager gebracht. Deutsche sprechen anderen Deutschen das Deutschtum ab, vernichten sie wirtschaftlich, nehmen ihnen die Ehre“, schrieb sie und kommentierte bitter, dass den meisten Deutschen offenbar „das Gefühl für solches Unrecht“ abhandengekommen sei. Indem sie weiterhin den Vereinsvorsitz führe, würde sie implizit dieses Unrecht gutheißen oder es schweigend dulden. Da sie dies nicht zu tun gedachte, legte sie den Vorsitz nieder, versprach aber, im Rahmen ihrer Möglichkeiten weiterhin zugunsten der „deutschen Kultur“ wirken zu wollen. Ihre Entscheidung teilte sie noch vor der Verteilung ihres Rundbriefs der Ehrenvorsitzenden von Stohrer, Ehefrau des deutschen Gesandten, mit.313 Bei den meisten Frauen löste Mimi Borchardts Entscheidung Schreck aus. Die Lehrerin Susi Mohnike und die Orientalistenehefrau Claire Schaade versuchten sie zur Revision zu überreden, scheiterten aber. Geradezu zornig reagierte Mimi Borchardt, als gegen ihren Willen ihr an die Frauengruppe gerichteter Abschiedsbrief an die Presse lanciert wurde. Sie vermutete üble Machenschaften, konnte aber schließlich ermitteln, dass der Sohn von Valerie Cohen gegen deren Willen den Brief weitergereicht hatte, allerdings nicht um Mimi Borchardt zu diskreditieren, sondern um auf Entwicklungen in Deutschland aufmerksam zu machen.314
312 Rundbrief von MB, 25. April 1933. SIK MB 63/7. 313 25. April 1933. SIK MB 63/7. 314 Valerie Cohen bedauerte das Verhalten ihres Sohnes sehr, entschuldigte sich am 5. Mai 1933 bei MB und erklärte gleichzeitig den Austritt aus dem Frauenverein, wie MB gefordert hatte. SIK MB 63/7.
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Die Nachfolge im Frauenverein trat Eva Schulz315 an, seit 1909 Ehefrau von Wilhelm Schulz,316 der seit 1921 als Kanzler der deutschen Gesandtschaft in Kairo tätig war. 1938 war Eva Schulz nicht nur Mitglied des Deutschen Vereins, sondern auch der NS-Frauenschaft. Ihr Ehemann war Mitglied der NSDAP, des NSV und des RDB. Sie wohnten in der El-Amir Fouad Straße in Zamalek, also unweit der Borchardt’schen Villen. Nicht deutlich anders sah es in der Vereinsumgebung Ludwig Borchardts aus. Die ihm aus der Tätigkeit im Deutschen Verein, dem Unterstützungsund dem Schulverein vertrauten Personen schwenkten, zumindest offiziell, auf nationalsozialistische Linie ein. Zu diesen Personen gehörten Willy Abel, Justus Arcularius, Otto Beckmann, Bergener, Albert Blind, Hans Burghardt, R. Fiedler, Werner Fliege, Heinrich Funke, Hermann Hansen, Hermann Junker, Werner Kaufmann, Otto Krahn, Max Lehmann, Werner Leis, Heinrich Lepique sen., Ludwig Luchs, Elisabeth Müller, Max Peinert, Wilhelm Rittershaus, Rudolf Roser, Erich Schuler, Wilhelm Schulz, Albert Seidemann, Franz Waldmann und Wilhelm Zirkowitz,317 die ausnahmslos außer dem Deutschen Verein auch einer NS-Organisation angehörten und/oder Mitglied der NSDAP waren.318 Dies stellte nicht nur ein Ärgernis und eine Enttäuschung dar, sondern auch eine Bedrohung. Denn wem von diesen scheinbar vertrauten Personen noch zu trauen war, war nur schwer erkennbar. Schon aus Vorsicht wäre es geboten gewesen, den deutschen Vereinen fern zu bleiben, was sich aber erübrigte, weil Borchardt und mit ihm wohl auch alle anderen ‚Betroffenen‘ offiziell ausgeschlossen wurde. Gleichwohl betraf das Misstrauen beispielsweise des Ehepaars Borchardt nicht jedes nichtjüdische Mitglieder der ‚deutschen Kolonie‘, auch wenn dieses Mitglied der örtlichen NSDAP war. So empfahlen sie ihrem Frankfurter Bekannten, dem Übersetzer und Literaten Albert Dreyfus, bei seinem Aufenthalt in Luxor im Februar 1937 sich von dem Fremdenführer Baldes führen zu lassen, ein Angebot, das dieser freudig annahm und von dessen positivem Ergebnis er überaus erfreut war.319 315 Geboren 15. Mai 1886 in Antwerpen, Tochter von Arthur Lava und Joanne Jongelinghs. PA AA Kairo-Gesandtschaft 2a. 316 Geboren 4. Juli 1880 in Breetz (Kreis Westprignitz), Sohn von Wilhelm Schulz und Bertha Doblog. PA AA Kairo-Gesandtschaft 2a. 317 Zirkowitz war auch nach 1933 für die Installationsarbeiten im Deutschen Haus in Theben zuständig, arbeitete dort nach Auftrag und in Anwesenheit von LB und MB. 318 Namenslisten der Mitglieder der Unterstützungsverein in: DEG Kairo. NS-Mitgliedschaften in: PA AA Kairo-Gesandtschaft 1a, 2a. 319 Dreyfus an LB und MB, 24. Februar und 16. März 1937. Dreyfus erinnerte dabei an die 1896 gemeinsam mit MB verbrachten Tanzstunden in Frankfurt. Dauerhaft hielt Dreyfus sich 1937 in Paris auf. SIK MB 61/1.
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Auch Max Meyerhof brach seine Beziehungen etwa zur Familie des Richters Uppenkamp nicht vollkommen ab, ebensowenig die Familie Wolff.320 Allerdings ging man mehr und mehr auf Distanz, blieb ‚unter sich‘, wie auch Georg Steindorff bei seinen Ägyptenreisen nach 1933 beobachtete. Ihre jüdische Herkunft machte etliche Mitglieder der ‚deutschen Kolonie‘ in ihrer Wahlheimat zu Exilanten, drängte sie in eine Parallelwelt. Misstrauen und Vorsicht gegenüber Personen, mit denen jahrelange eine enge Zusammenarbeit stattgefunden hatte und soziale Beziehungen gepflegt worden waren, waren vonnöten, wie sich den Tagebucheinträgen Meyerhofs und Randbemerkungen Borchardts entnehmen lässt. 1938/39 gab es in den lokalen deutschen Vereinen Ägyptens keine Mitglieder jüdischer Herkunft mehr. Erschwerend kam hinzu, dass auch die ägyptische Gesellschaft mehr und mehr zu antisemitischen Haltungen neigte, deren Auswirkungen sogar Max Meyerhof zu spüren bekam.321
4.4.2 Bedrohte Lebenswelt und Gegenwehr Nicht Feinde schnüren dem deutschen Volke die Lebensmöglichkeiten ab, sondern Deutsche tun es Deutschen. Deutsche werden von Deutschen ihrer Ansichten wegen in Haft genommen, in Konzentrationslager gebracht. Deutschen sprechen anderen Deutschen das Deutschtum ab, vernichten sie wirtschaftlich, nehmen ihnen die Ehre. Und das Gefühl für solches Unrecht scheint in den meisten Deutschen erstickt zu sein. (Mimi Borchardt an den Deutschen Frauenverein Kairo, 25. April 1933)
Wie angedeutet vollzog sich ab Januar 1933 innerhalb der ‚deutschen Kolonie‘ ein drastischer Wandel.322 Nationalsozialistische Aktivitäten gewannen an Intensität, nach außen sichtbar gemacht durch das Hissen von Hakenkreuzfahnen auf den Gebäuden der deutsch-evangelischen Gemeinde, wo auch ein ‚braunes Zimmer‘ für Versammlungszwecke eingerichtet wurde.323 Der erwähnte Kairener NSOrtsgruppenleiter Max Dittrich ließ im Februar 1933 an die Mitglieder der ‚deutschen Kolonie‘ per Rundschreiben das Programm der NSDAP verteilen, womit er für große Erregung sorgte.324 Zur ersten Jahresfeier der nationalsozialistischen „Machtübernahme“ ließ sich der aus Alexandria gebürtige Hitlerstellvertreter Rudolf Hess nicht nehmen, im deutschen Gemeindehaus Kairo als Festredner 320 Auskunft von Gisela Uppenkamp-Adämmer, September 2013. 321 Besonders eindrücklich nachvollziehbar an den Memoiren des ägyptischen Schriftstellers Abdel Hameed Gouda al-Sahar (1913–1974). Ahmed Zaki Osman: Autobiography?, 2014, S. 1–5. 322 Mahmoud Kassim, Diplomatische Beziehungen, 2000, S. 289 ff. 323 Vgl. Stefan Wild: National Socialism, 1985, S. 126–173. 324 Gudrun Krämer: Minderheit, 1982, S. 261.
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aufzutreten. Der deutsche Konsul Belgu veranstaltete anschließend eine Konferenz zur Geschichte des Nationalsozialismus.325 Am 11. März 1933 lud der Deutsche Verein Kairo seine Mitglieder zu einem „patriotischen Abend“, zu dem das Ehepaar Borchardt ebenfalls geladen war, sein Erscheinen aber ablehnte.326 Laut Wilhelm van Meeteren, dem Vereinsvorsitzenden, hatte dieser Abend das Ziel, die „patriotische Einstellung des Vereins“ zum Ausdruck zu bringen und sich zugleich gegen „einige sehr radikale Elemente“ abzugrenzen.327 Dieser „kleinen Gruppe“ sollte die Möglichkeit genommen werden, „noch mehr als bisher Mitläufer zu werben“. Die Versammlung war stark besucht; einhellig wurde die „Haltung der nationalsozialistischen Partei, Ortgruppe Kairo“, die ihr Erscheinen offiziell abgesagt und nur einen Beobachter entsandt hatte, verurteilt. Dies diente van Meeteren als Beweis, dass gerade „in solch unruhigen und die Gemüter erregenden Zeiten, wie wir sie augenblicklich in Deutschland und in Cairo durchmachen“, Bekundungen der „geschlossenen Einigkeit in der Kolonie“ überaus angebracht waren. Tatsächlich aber hatte der Wandlungsprozess bereits eingesetzt, weshalb sich nicht nur das Ehepaar Borchardt aus eigenem Antrieb und nach Aufforderung aus der Vereinsmitarbeit zurückzog. Denn derselbe Vereinsvorsitzende van Meeteren bekundete als Vorsitzender der deutsch-österreichischen Handelskammer im Jahresbericht 1933: „Wir blicken zurück auf das für die deutsche Zukunft entscheidende Jahr der Machtergreifung durch den Nationalsozialismus und den Führer des deutschen Volkes, Adolf Hitler. Das deutsche Volk ist einig wie nie zuvor und beseelt von dem felsenfesten Willen, unter Adolf Hitlers Führung den Nationalsozialismus durchzuführen, das dritte Reich aufzubauen.“328 Dies mag Mimi Borchardt in ihrer Entscheidung, den Besuch der Versammlung vom März 1933 abzulehnen, nochmals bestätigt haben. Denn weniger diplomatisch formuliert als ihr Ehemann hatte sie van Meeteren erklärt, es käme ihr vor wie die „Verleugnung meines ganzen Lebens, in welchem mir Deutschland das Heiligste war und ist“, einem solchen „patriotischen Abend“ beizuwohnen. Ihre gesamte Arbeit der Nachkriegszeit habe sie Deutschland gewidmet. Nun werde erwartet, dass sie, weil eine „nationale Regierung“ in Deutschland an der Macht sei, „in hörbaren Patriotismus ausbreche“, was ihr zuwider sei.329
325 „Journée allemande…“, in: Journal Suisse d’Egypte et du Proche-Orient (Febr.) 1934. 326 LB an van Meeteren, 13. März 1933. SIK MB 63/7. 327 Van Meeteren an LB, 13. März 1933. SIK MB 63/7. 328 Vereinigte Deutsche und Österreichische Handelskammer für Aegypten. Jahresbericht 1933, Kairo (Buchdruckerei Safarowsky) 1934, S. 19. Safarowsky druckte 1933 die Broschüre „Die Judenfrage in Deutschland“. 329 SIK MB 63/7.
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Vor dem DAI in Kairo-Zamalek (früher Gesireh) machte die Entwicklung nicht Halt. In seinen Räumlichkeiten fanden regelmäßig nationalsozialistisch orientierte Versammlungen und Treffen statt,330 gefördert von dessen stellvertretendem Leiter, dem Ägyptologen Alfred Hermann (1904–1967),331 der sich laut Ludwig Borchardt als „Oberdenunziant“ hervortat.332 Im Mai 1933 hielt der österreichische Prähistoriker Oswald Franz Menghin (1888–1973)333 im DAI eine flammende Rede zur „Rassenfrage“. Hermann berichtete am 9. Februar 1934 an die Zentrale in Berlin: „Die Zusammenarbeit von Institut und NSDAP ist weiter gut vonstatten gegangen. Nach der Feier vom 9. November in den Räumen des Instituts habe ich (…) einen Vortrag über ‚Überwindung des Liberalismus‘ (…) gehalten. Dann hat Pg Prof. Junker und ich die auswärtigen Pgs und deutschen Volksgenossen bei den Pyramiden führen können (…). Anschließend führte ich die Landesgruppenführer Hess und dessen Eltern durch das Museum. Wir hier tragen keine richtigen SA-Uniformen, aber Braunhemden. Jetzt haben wir als Gast im Institut (…) den Sonderberichterstatter des V. B. anlässlich des Leon Castro-Prozesse (d. i. der sog. „Kairoer Judenprozess“, Anm. d. Verf.), Pg Assessor Diewerge.334 (…) Sie sehen, auch wir haben zu unserem Teil uns Mühe gegeben, unser Tätigkeitsfeld in die große Erneuerungsbewegung einzugliedern.“335 Aus Deutschland angereiste prominente Nationalsozialisten – zu Beginn 1939 auch Joseph Goebbels336 – ließen sich zu Sehenswürdigkeiten führen,337
330 Z. B. fand am 9. November 1933 die von 250 Personen besuchte Totengedenkfeier der NSDAP im DAIK statt. DAIK DhiTh2. 331 Studierte in Leipzig, München und Marburg Literaturgeschichte, 1928–32 unter Schäfer in Berlin Ägyptologie, Assistent am Berliner Museum 1931–32, am DAIK 1932–35 als wissenschaftlicher Referent tätig (er redigierte dessen Mitteilungen 1933–1939), 1940–1945 als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter in der ägyptischen Abteilung der Staatlichen Museen in Berlin, ab 1941 Kriegsdienst (Dolmetscher), 1945–47 Kriegsgefangenschaft. 1949 angestellt am Hamburger Museum für Völkerkunde und Vorgeschichte, ab 1953 an der Universität Bonn. Außerordentlicher Professor 1963, Professor 1965. Who-was-Who, 2012, S. 253; Thomas Schneider: Ägyptologen, 2013, S. 165–168. 332 LB an Königsberger, 30. Juli 1937. SIK LB. 333 Setzte sich nach 1945 nach Buenos Aires ab, wurde dort Professor. Die Klage gegen ihn wurde fallengelassen. 334 Wolfgang Diewerge (1906–1977), 1923 Teilnehmer am „Hitlerputsch“, ab 1934 tätig im Reichs propagandaministerium, ab 1939 Leiter der Reichspropagandaabteilung Danzig, ab 1941 Leiter der Rundfunkabteilung im Reichspropagandaministerium. Ernst Klee: Das Personen-Lexikon, 2003, S. 111. 335 DAIK, Amtliche Korrespondenz, April 1933-März 1934. 336 Bei dieser Gelegenheit besuchte Goebbels etliche Basare, kaufte bei einem jüdischen Händler Silberwaren und Seidenstoffe im Wert von 320 Dollar. Der Aufbau 5/9 (15. Mai 1939), S. 2. 337 Das DAIK bot regelmäßig Führungen an. Zu Beginn 1938 waren zu Gast: Georg Leibbrandt (1899-Anfang 1980er Jahre; ab 1941 Abteilungsleiter im Reichsministerium für die besetzten
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Parteiversammlungen wurden abgehalten und gleichzeitig Spitzelsysteme etabliert,338 etwa unter dem Archäologen Willy Diemke,339 der seit 1935 im Gästetrakt des DAI, also unweit der Borchardt’schen Villen wohnte.
Abb. 21: Hermann Junker (6.v.l.) mit Gästen (1.v. r. Dittmann), Grabung in Merimde, Ägypten späte 1930er Jahre
Mimi Borchardt erschien es wie „ein böser Traum, von seinem vielgeliebten Vaterland ausgespien zu sein“. Angesichts der sich häufenden Schreckensmeldungen stgebiete), Hans Luther (1879–1962, Reichskanzler a.D., nach 1933 Botschafter in Washington, O 1937 in den Ruhestand versetzt), Theodor Kordt und Ehefrau (1893–1963, 1921 Eintritt in Auswärtigen Dienst, ab 1934 Gesandtschaftsrat in Athen, ab 1938 Botschaftsrat in London, ab 1939 in Bern), Kurt v. Boeckmann (1885–1950, ab 1933 Intendant des Deutschen Kurzwellensenders Berlin), Min.Rat Othmar Feßler (Verkehrsministerium Berlin), Edler v. Braunmühl (Wirtschaftsministerium Berlin). DAIK Vierteljahresbericht über die Tätigkeit des Deutschen Instituts für Ägyptische Altertumskunde, 1. Januar bis 31. März 1938. Karl Erich Born: „Luther, Hans“, in: Neue Deutsche Biographie 15 (1987), S. 544–547. „Theodor Kordt“, in: http://de.wikipedia.org/ wiki/Theordor_Kordt (16.02.2015). „Kurt von Boeckmann“, in: http://de.wikipedia.org/wiki/ Kurt_von_Boeckmann (16.02.2015). 338 Vom ‚Spitzelsystem‘ berichtet (Oktober 2011) Gisela Uppenkamp-Adämmer. 339 Geb. 1911 Königsberg, Sohn von Franz Diemke und Anna Knöpler, ab Oktober 1935 in Kairo. Laut eigener Angabe war er Mitglied der NSDAP und der SA sowie des Deutschen Vereins in Kairo. PA AA Kairo-Gesandtschaft 2a.
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konnte sie nicht mehr „Gleichmut“ bewahren, weil sie Deutschland liebte und „so durch und durch deutsch ist“.340 Die Entscheidung, sich aus der ‚deutschen Kolonie‘ zurückzuziehen, fiel beim Ehepaar Borchardt schon früh, wie die Korrespondenz zwischen Mimi Borchardt und ihrem in Rom lebenden Schwager enthüllt. Heinrich Borchardt konnte dem Bericht seiner Schwägerin über „die Lage“ in Kairo parallele Erfahrungen hinzufügen.341 Seine Bekannten waren allesamt „nicht arisch“ bzw. „die arischen mit einer furchtbaren anderen Großmutter oder anderem Großvater schwer belastet“. An „Vorträgen oder Veranstaltungen von deutschen Gesellschaften“ nahm man nicht teil, „um nicht mit den Leuten der aristokratischen Rasse, die urplötzlich ihr teutschteutsches Herz entdeckt haben oder entdecken mussten, zusammen zu treffen – trotzdem gerade die Gebildeten (bes. die ehem. Deutschnationalen darunter) schon in Deutschland vielfach recht bedauern sollen, dieser Richtung in den Sattel geholfen zu haben. Aber wir sind hier in Rom und nun braun bis aufs Hemd“. Eine Ausnahme bildeten die Vorträge des Archäologen Ludwig Curtius, die Heinrich Borchardt regelmäßig besuchte, obwohl er wissentlich auch dort keinen jüdischen Zuhörer antraf, „trotzdem ihre Anwesenheit behauptet wird“. Dort aber waren Juden sogar willkommen, weil Curtius bekanntermaßen „stark betont judenfreundlich“ war, so dass Heinrich Borchardt um dessen Stellung fürchtete, sich aber andererseits zur Anwesenheit verpflichtet fühlte. 1937 wurde Curtius seiner Stellung enthoben, was auch im Hause Borchardt bekannt wurde.342 Neben der Ausgrenzungserfahrung stellten auch die zahlreichen aus Deutschland in Ägypten eintreffenden Bittgesuche eine Bedrückung dar. Meyerhof erreichten allein in der ersten Hälfte von April 1933 17 „Anfragen von Ärzten, ob sie in Kairo/Ägypten Existenz finden könnten“.343 Dergleichen Gesuche wurden auch an als verlässlich betrachtete Nichtjuden gerichtet, etwa an den Juristen Walther Uppenkamp, der nicht als Anhänger der Nationalsozialisten galt. An ihn wandten sich vor allem Rechtsanwälte, die auf Betätigungsmöglichkeit in Ägypten hofften. Hilfe war in solchen Fällen jedoch kaum möglich, weil Ägypter und Engländer gleichermaßen die Immigration von deutschen Flüchtlingen zu unterbinden versuchten. Nur in Einzelfällen war Hilfestellung realisierbar. Vermittelt über die Kaiserswerther Diakonissinnen kam Mitte der 1930er Jahre Adda Spanier in den Haushalt Uppenkamp; in Düsseldorf hatte sie wegen ihrer jüdischen Herkunft nicht 340 MB an Stella Peyer, 22. April 1933. SIK MB 75/8. St. Peyer war die Witwe von Hermann Peyer (1866–1914). 341 Rom (Via Flamincia 16), 8. März 1934. SIK MB 59/5. 342 LB an Königsberger, 30. Juli 1937. SIK LB. MB hatte um 1934 eine Schwester von Königsberger als au-pair Mädchen an Curtius vermittelt. 343 MB an Stella Peyer, 22. April 1933. SIK MB 75/8.
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bleiben können. Offiziell arbeitete sie bei Uppenkamp als Privatlehrerin für die kränkelnde jüngere Tochter. Ohne weitere Erklärungen abgeben zu müssen, blieb sie dauerhaft bei der Familie. Möglicherweise stellte Uppenkamps Position als Richter am „Tribunal Mixte“ in Kairo einen gewissen Schutz dar. Adda Spaniers jüdische Herkunft wurde erkennbar, als sie den bei der Kairener Buchhandlung Lehnert & Landrock arbeitenden Österreicher Jan Joseph Pepino (1898–1975) heiraten wollte, was sich nicht realisieren ließ. Zwar mutmaßte Familie Uppenkamp, die verhinderte Eheschließung sei auf Adda Spaniers Herkunft zurückzuführen. Tatsächlich war es jene Pepinos,344 die sie unmöglich machte, obwohl auch eine nur religiöse Eheschließung denkbar gewesen wäre. Das Paar trennte sich wenig später, Pepino verließ noch vor September 1939 Ägypten.345 Dass Hilfsangebote gebündelt bzw. institutionalisiert werden mussten, war vor allem den beiden Ärzten Martin Samter und Max Meyerhof deutlich. Am 6. März 1939 richteten die beiden im Namen des „Jüdische Hilfskomitee Cairo“ ein Schreiben an Mimi Borchardt, das in demselben Wortlaut auch an andere deutschsprachige Juden erging. Am Sonntag, den 12. März 1939, vormittags um 10 Uhr, werde im Konferenzsaal der „Communauté Israélite Aschkenazi du Caire“ (rue El Amir Farouk, nahe am Midan Malika Farida, früher Ataba) die jährliche Generalversammlung stattfinden. „Angesichts der Tatsache, dass die jüdischen Gemeinden in Ägypten die von der ägyptischen Regierung anerkannten gesetzlichen Vertreter der Juden sind, ist es unsere Pflicht, diese Körperschaft durch unsere Interessenahme und Mitarbeit zu unterstützen“. Der Vorstand der Gemeinde lege „allergrößten Wert“ darauf, dass „unsere Mitglieder, sowie alle sonstigen hier befindlichen Juden, die Aschkenasim sind, zumindest an dieser Generalversammlung teilnehmen“. Dabei sei zu bedenken, dass „die ägyptischen Juden größte Anstrengungen gemacht haben, um den bedrängten Glaubensgenossen nach Möglichkeit zur Hilfe zu kommen“. Dies verpflichte dazu, „auch unsererseits unser Interesse zu zeigen“. Zudem sei es im Interesse jedes Juden und jeder Jüdin, sich bald als Mitglied der deutsch-jüdischen Gemeinde eintragen zu lassen.346
344 Sohn von Anton Pepino (geb. 1861 Wien, gest. 1924) und Magdalena v. Mach (geb. 1871). Er kam 1934 von Dresden nach Kairo, dort wohnte seine Schwester. PA AA Kairo-Gesandtschaft 2a. Auf abenteuerliche Weise gelang es ihm, sich in Europa dem Zugriff der Nationalsozialisten zu entziehen. Nach 1945 baute er Bibliotheken in Leipzig und Dresden auf, war auch politisch aktiv. Victor Klemperer erwähnte in seinen Tagebüchern zahlreiche Gespräche mit Pepino. Roman Rabe: Pepino, 2015, S. 1. 345 Adda Spanier verzichtete später auf jede engere Bindung an einen Mann. Bis 1945 blieb sie in Ägypten, interniert wurde sie nicht. Danach fand sie Anstellung als Realschullehrerin in Düsseldorf. 346 SIK MB 66/5.
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Dem Rundschreiben zufolge arbeitete zumindest die aschkenasisch-jüdische Gemeinde mit dem Hilfskomitee der deutschsprachigen Juden zusammen, bot Unterstützung. Dass das Komitee spätestens Mitte 1933 gegründet wurde, geht aus Erwähnungen Borchardts hervor. Max Meyerhof dürfte der maßgebliche Initiator gewesen sein, abzuleiten von seinen schon in den 1920er Jahren einsetzenden Aktivitäten innerhalb der aschkenasisch-jüdischen Gemeinde. Auch gehörte er ebenso wie der Archäologe Joseph Leibovitch (1898–1968) zu den ersten Mitgliedern der im November 1925 gegründeten „Société d’Études Historiques Juives d’Égypte“.347 Im Juni 1928 veranstaltete Meyerhof im Namen der „Société“ in Kairo eine Konferenz, die die Geschichte der jüdischen Mediziner Ägyptens im Mittelalter thematisierte, wobei er selbst den vielbeachteten Hauptvortrag hielt.348 Am 19. Dezember 1931 stellte er der „Société“ im Rahmen einer Vortragsveranstaltung und in Anwesenheit des ägyptischen Großrabbiners den Fund einer jüdischen Begräbnisstele aus griechischer Zeit vor. Anschließend schenkte er die Stele der jüdischen Gemeinde, um damit den Grundstein zu legen für eine jüdische Antikensammlung.349 Bei einer Festveranstaltung am 1. April 1935 in der Kairener Oper zu Ehren von acht Jahrhunderten Maimonides hielt Meyerhof einen Vortrag über dessen ärztliche Kunst.350 Auf der „Liste des Souscriptions en faveur du Keren Hayessod“ für das Jahr 1935 findet sich Meyerhof ebenso.351 Der ebenfalls für das Hilfskomitee verantwortlich zeichnende, aus Berlin stammende Arzt Martin Samter lebte seit 1924 in Kairo, wo er für Bayerisch Pharma tätig war. Wer außer Samter und Meyerhof dem Komitee angehörte, lässt sich nicht feststellen. Die beiden waren wohl die leitenden Persönlichkeiten. Unterstützt wurden u. a. in Ägypten sich aufhaltende Verfolgte, wie etwa die Familie Landshut, die Privatunterricht und Haushaltshilfe anbot, sich damit aber kaum ernähren konnte, sodass das Komitee helfend eingriff.352
347 Zum „Executive Committee“ gehörten: Hector Cattaui, Salomon Cicurel, Abramino Menasce, Isaac E. Nacamuli, J.H. Perez, Robert Simon Rolo und Leon Suares. Korrespondierende Mitglieder außerhalb waren George H. Cattaui (London), Meir Laniado, Abraham Almaleh und M.D. de Picciotto. http://www.farhi.org/Documents/bulletin_historical.htm. (25.03.2013) 348 „Conference du Dr. Max Meyerhof“, in: Israel (8. Juni) 1928, S. 1. 349 „Une intéressante découverte archaélogique“, in: Israel 25. Dez. 1931, S. 1. 350 Einladender war Ahmed Naguib El Hilali, Minister „de l’Instruction Publique“. Vortrag auch von Israel Wolfensohn, Professor für semitische Sprachen an der „École supérieure de Dar el Ouloum“. „La célébration du VIIIe centenaire de Maimonide“, in: Israel (28. März 1935), S. 3. Die „Israel“-Ausgabe vom 4. April 1935, S. 2, bezeichnet Meyerhof als „eminent Arabist et une des plus grandes autorité au Monde sur Maimonide“. 351 Beiträge leistete auch Martin Samter. „Israel“, 13. Juni 1935, S. 6. 352 Meyerhof an LB, 1935. SIK LB.
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Aus dem Rundschreiben geht ebenso hervor, dass sich vermutlich im Laufe der 1930er Jahre in Kairo eine deutsch-jüdische Gemeinde konstituiert hatte. Genauere Informationen liegen jedoch nicht vor. Trotz seiner glänzenden Verbindungen waren auch Meyerhofs Möglichkeiten begrenzt, nicht zuletzt wegen der größtenteils deutschaffinen ägyptischen Politik. Ägypten war nur in Ausnahmefällen gewillt, Verfolgten des Nazi-Regimes Zuflucht zu gewähren, was zwar in Ägypten, keineswegs aber in Deutschland oder andern europäischen Ländern allgemein bekannt war. Entsprechend mühsam war es für die Adressaten der Hilfegesuche, wiederholt erklären zu müssen, dass Ägypten sich nach Möglichkeit gegen Flüchtlinge abschottete, fast unerfüllbare Einwanderungsbedingungen formulierte. Darüber hinaus verfügten die meisten Hilfesuchenden über wenige oder gar keine Kenntnisse bezüglich der Lebensumstände in Ägypten generell und ihrer Adressaten im Besondern. So sah sich Mimi Borchardt veranlasst, etwa gegenüber ihren Bekannten bzw. Verwandten Hans Bab und Walter Behrens auf die in Ägypten herrschende „Fremdenfeindlichkeit“ hinzuweisen, die dafür verantwortlich sei, „dass auch europäische Ärzte, die schon lange im Lande leben und früher eine große eingeborene Patientenschar hatten, nicht mehr von dieser aufgesucht“353 wurden. Insgesamt würden die Ägypter „immer schroffer“.354 Noch deutlicher drückte sich Ludwig Borchardt aus, indem er den „jetzt eben ‚frei‘ gewordenen Ägyptern“ nachsagte, „alle Toleranz und Gastlichkeit, die man ihnen noch vor Kurzem nachrühmen konnte, beiseite geworfen“ zu haben, dass sie stattdessen nur noch „hemmungslosen Eigennutz“ kannten.355 Dies machte, zusätzlich zu den Barrieren wegen der offiziellen ägyptischen Politik, Unterstützungsbemühungen extrem schwierig. Fast resigniert teilte Mimi Borchardt ihrem Verwandten Walter Behrens Ende Dezember 1938 mit, dass „hier in dieses Land auch besuchsweise niemand mit einem ‚unvollständigen‘ Pass hereinkommt.“356 Andernfalls würde sie viele bei sich beherbergen wollen, auch etliche ihrer Freunde, für die sie ebenfalls nur wenig tun könne.357 Ähnlich ablehnend hatte sie schon Jahre zuvor reagieren und darauf hinweisen müssen, dass „die Ägypter schon seit Jahren ausländischen Ärzten Schwierigkeiten“ bereiteten.358 Sollte die Niederlassung gelingen, sei die Existenzsicherung dennoch enorm problematisch, weil man von den Patienten nur
353 MB an Hans Bab, 23. Mai 1939. SIK MB 53/1. 354 MB an Hans Bab, 23. Mai 1939. SIK MB 53/1. 355 Kairo, 20. Mai 1938 an den Kollegen C.E. Sander-Hansen (Kopenhagen). SIK LB. 356 22. Dezember 1938. SIK MB 53/2. 357 MB an Hans Bab, 23. Mai 1939. SIK MB 53/1. 358 MB an Stella Peyer, 22. April 1933. St. Peyer hatte angefragt, ob für ihre Tochter Jonny, eine junge Ärztin, Niederlassungsmöglichkeit in Ägypten bestünde.
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der ‚deutschen Kolonie‘ nicht bestehen könne, die andern Kolonien aber ihre eigenen Ärzte hätten und „der Einheimische, der früher einen großen Teil der Klientel ausmachte, geht erst, wenn er am Abschnappen ist und nichts mehr zu machen ist, zum Europäer“. Mit Blick auf das politische Geschehen in Ägypten wird Mimi Borchardts Bedrücktheit nachvollziehbar. Ende 1938 hatte sich die politische Lage in Ägypten bereits so weit zugespitzt, dass ein Gesetz entworfen wurde, womit der „Zuzug von Ausländern“ noch weiter eingeschränkt und „gleichzeitig eine noch wirkungsvollere gesetzliche Handhabe wie bisher gegen die Einwanderung jüdischer Emigranten“ eingeführt wurde, wie der deutsche Gesandte von Ow-Wachendorf dem Auswärtigen Amt berichtete.359 Des Weiteren war die Änderung des Staatsangehörigkeitsgesetzes in Planung, mit dem Ziel, die Annahme der ägyptischen Staatsangehörigkeit fast unmöglich zu machen. Aus Kontrollgründen sollten Ausweiskarten für alle im Land lebenden Ausländer eingeführt werden. Im Frühjahr 1939 erteilte die ägyptische Regierung Stellungsuchenden, zumal wenn es sich um jüdische Emigranten handelte, grundsätzlich keine Aufenthaltserlaubnis mehr.360 Diese Entwicklung hin zur weitgehenden Abriegelung gegen jüdische Flüchtlinge bzw. Einwanderer erstaunt angesichts des enormen, bereits unmittelbar mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten beginnenden Engagements der politisch keineswegs einflusslosen ägyptischen Juden. Tatsächlich schien es anfangs, als ob Ägypten eine Option für Zuflucht suchende Juden und Jüdinnen sein könnte. Eine am 4. Mai 1933 im „Berliner Tageblatt“ erscheinende Meldung, wonach Ägypten aus Deutschland ausgewanderte jüdische Ärzte und Rechtsanwälte aufnehmen wollte, weckte zunächst Hoffnungen. Die Londoner „Times“ ließ verlauten, die ägyptische Regierung habe beschlossen, 200 deutschen Ärzten und Rechtsanwälten die Erlaubnis zu erteilen, in Ägypten ihren Wohnsitz zu nehmen und ihren Beruf auszuüben.361 Die Reaktionen darauf ließen nicht auf sich warten. So fragte schon im Mai 1933 ein in Deutschland approbierter A potheker bei einer Auswan-
359 17. Oktober 1938. PA AA R 67075. 360 Anlass der Information war die Eingabe des Tschechen Felix Siebenschein an das deutsche Konsulat in Alexandria. Siebenschein, 42 Jahre alt, ledig und kinderlos, war Absolvent der Brünner Textilschule, arbeitete dann sieben Jahre lang bei Textilfirmen, brachte es zum Prokuristen, war vier Jahre lang Gesellschafter einer Bank, von 1931 bis 1939 bei den Ringhoffer-Tatra-Werken (Automobilfabrik) erster Verkaufsbeamter und Vorführer. Eingabe von Siebenschein (Brünn) und Schreiben von Beutler (Konsulat Alexandria) an Reichsstelle für Auswandererwesen, 28. April 1939. PA AA R 67075. 361 Reichsstelle für das Auswanderungswesen (Berlin) an deutsche Gesandtschaft Kairo, 9. Mai 1933. PA AA R 67075.
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derungsstelle an, „ob und in welchen Orten in Ägypten Aussichten für eine Niederlassung als Apotheker“ bestünden und erbat Kontaktadressen in Ägypten.362 Allerdings erwiesen sich die an Ägypten geknüpften Hoffnungen als trügerisch. Ende Mai 1933 ließ die deutsche Gesandtschaft Kairo wissen, dass die Zeitungsmeldung vom 4. Mai „unzutreffend“ sei. Nur in den seltensten Fällen erteile die ägyptische Regierung solchen Personen, die im Land ihren Beruf ausüben wollten, Einreisegenehmigungen. Sondervorschriften für Juden aus Deutschland existierten nicht. Zu bedenken sei, dass es derzeit sogar ein Überangebot an ägyptischen Ärzten gebe. Am 22. Mai 1933 hatte der ägyptische Innenminister angesichts der zahlreichen bei ihm eingetroffenen Einreisegesuche deutsch-jüdischer Ärzte erklärt, in Übereinstimmung mit der Regierung sämtliche Gesuche zum Schutz der einheimischen Ärzte abgelehnt zu haben.363 Wie problematisch die Situation tatsächlich war, verdeutlichten längere Ausführungen von Gesandtschaftsrat Hans Pilger.364 Laut Gesetz von 1929 mussten in Ägypten sich niederlassende und tätige Mediziner sowie Pharmazeuten nochmals eine Prüfung ablegen (in arabischer, französischer, englischer oder italienischer Sprache). Die bekanntermaßen schwere Prüfung war nur die erste Hürde, die weit höhere war die Erlangung der Niederlassungserlaubnis. Das Innenministerium prüfte jedes Gesuch genauestens und lehnte fast immer ab, falls genügend einheimische Fachkräfte, wie bei Apothekern beispielsweise, vorhanden waren. Die bestandene Prüfung bot demnach noch längst keine Gewähr. Nicht einmal die Einrichtung einer eigenen Apotheke wurde für gewöhnlich erlaubt. Käuflich zu erwerben war zu dieser Zeit lediglich die „Karlsbader Apotheke“, deren Besitzer der Fabrikdirektor Willy Thamm in Arnau/Elbe war. Ob in den Provinzstädten günstigere Bedingungen herrschten, entzog sich der Kenntnis der Gesandtschaft, die Verhältnisse in Alexandria waren mit den Kairenern identisch. Bereits im Juli 1933 lagen, laut Aussagen des Generaldirektors für das Passwesen, des Engländers Willis, „sehr“ zahlreiche Gesuche jüdischer Ärzte und Anwälte aus Deutschland vor.365 Die Gesuche wurden einer „scharfen Prüfung“ unterzogen. Erst in vier Fällen hatte man die Einreise- und Aufenthaltsgenehmigung erteilt. Die angebliche, von der ägyptischen Regierung dementierte Aufnahme von 200 Ärzten und Anwälten interpretierte Willis als „Versuchsballon von jüdischer Seite“. Zwischen Juden und Nichtjuden wurde laut Willis bei den Einreisegesuchen nicht unterschieden, sondern lediglich darauf 362 Reichsstelle für Auswanderungswesen (Berlin) an deutsche Gesandtschaft Kairo, 15. Mai 1933. PA AA R 67075. 363 Pilger an Reichsstelle für das Auswanderungswesen, 26. Mai 1933. PA AA R 67075. 364 An Reichsstelle für das Auswanderungswesen (Berlin), 1. Juni 1933. PA AA R 67075. 365 Deutsche Gesandtschaft an AA, 7. Juli 1933. PA AA R 67075.
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geachtet, dass „keinem Einheimischen die Arbeit dadurch entzogen würde“. Die ägyptischen Juden machten „alle Anstrengungen“, das ägyptische Innenministerium zur Milderung seiner Bestimmungen zu veranlassen. Zu erwarten war dies angesichts der Missstimmung beispielsweise der einheimischen „arabischen“ Ärzte, die den Zuzug der jüdischen Konkurrenten fürchteten, nicht. Normalerweise entschied die ägyptische Regierung über Visen- und Niederlassungsanträge, schaltete aber im Februar 1935 erstmals dabei die deutsche Gesandtschaft ein. Der bisherige leitende Arzt der Frauenabteilung am Stadtkrankenhaus Dresden, Dr. Wolf Zilz, erschien am 5. Juli 1933 bei der Gesandtschaft und erklärte, einen Vertrag mit dem Israelitischen Krankenhaus in Kairo geschlossen zu haben. Er sollte dort als Gynäkologe und Geburtshelfer tätig werden. Die ägyptische Regierung wollte ihm aber nur dann die Niederlassungserlaubnis gewähren, wenn er eine Bescheinigung der Gesandtschaft vorlegen konnte, dass diese keine Bedenken gegen die Niederlassung hatte. Die Bescheinigung wurde ihm ausgestellt, auch weil er von dem Vertreter der pharmazeutischen Abteilung der IG Farben „eingeführt“ wurde, sich ausweisen konnte und deshalb eine Nachfrage bei der Polizeibehörde in Deutschland überflüssig erschien. Dennoch erhielt Zilz die Niederlassungserlaubnis nicht, vermutlich, weil die zuständige ägyptische Stelle davon ausgegangen war, dass die Gesandtschaft einem Juden eine solche Bescheinigung nicht ausstellen würde, womit Ägypten dann seine Ablehnung hätte begründen können. Denn angesichts des massiven Eintretens der ägyptischen Juden für verfolgte deutsche Juden musste die ägyptische Regierung vorsichtig lavieren, ihre ablehnende Haltung möglichst als fremdgesteuert kaschieren. Für die deutsche Gesandtschaft bewies dieses Vorgehen, dass die ägyptische Regierung „an ihrer Stellungnahme in dieser Frage“ festhielt, nämlich Einwanderungen weitestgehend verhinderte. Dies kann als grundsätzliche, die gesamten 1930er Jahre von Ägypten verfolgte Politik gelten. Dabei ging es nicht in erster Linie um die Abweisung jüdischer Flüchtlinge, sondern um die grundsätzliche Zurückweisung von Emigranten, die als Konkurrenten auf einem stark angespannten Arbeitsmarkt galten und die zusätzlich politische Spannungen mit Deutschland heraufbeschwören konnten. Zu vermeiden galt dies auch, weil Ägypten in den 1930er Jahren noch nicht als stabiler Staat gelten konnte, obwohl es seit der „Declaration to Egypt“ vom 28. Februar 1922 formal als unabhängige konstitutionelle Monarchie galt, in der Praxis aber nach wie vor von England kontrolliert wurde. Unter Sa‘ad Zaghloul, der die nationalistischen Aufstände von 1919 geführt hatte, kämpfte die Wafd Partei gegen die englische Vormachtstellung, konnte sich letztlich aber nicht gegen den taktisch agierenden und unterschiedliche Koalitionen eingehenden
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König Fouad366 behaupten. Nach Zaghlouls Rücktritt, 1924, verfolgten die nachfolgenden Regierungen zunehmend eine „palastnahe“,367 also auch deutschfreundliche Politik. König Fouad und sein Nachfolger Faruk (ab 1936) pflegten die Nähe auch zum nationalsozialistischen Deutschland.368 Die Machtposition des Königs wurde zusätzlich dadurch gestärkt, dass die regierende Wafd Partei nicht die Mehrheit der Ägypter repräsentierte, sondern die Minderheit der neu entstandenen städtischen Elite.369 Auch dies rief Unruhen bei der sich nach wie vor als fremdbestimmt verstehenden städtischen und ländlichen Bevölkerungsmehrheit hervor.370 Erschwerend wirkte sich die gravierende ökonomische Krise,371 die nach den Boom-Jahren des Ersten Weltkriegs folgte, aus. Die sich sowohl auf dem Land als in den Städten gebildete Arbeiterklasse barg ein erhebliches Konfliktpotential, zumal der Arbeitsmarkt die rasch steigende Nachfrage bei gleichzeitig rasantem Bevölkerungswachstum bei weitem nicht bedienen konnte.372 Die Weltwirtschaftskrise ab den späten 1920er Jahren verschärfte die Krise in Ägypten nochmals.373 Die Lebenshaltungskosten erhöhten sich in demselben Maße wie die Löhne sanken und die Arbeitslosigkeit zunahm. Permanente soziale Unruhen, Streiks und Protestkundgebungen,374 die meist mit 366 Er hatte umfassende Rechte: Ernennung des Premierministers, des Präsidenten des Senats und der Hälfte der Senatoren, Recht zur Abberufung des Kabinetts und Auflösung des Parlaments. Von diesen Rechten machte König Fouad, dem an einer breiten Machtentfaltung gelegen war, mehrfach Gebrauch und sorgte damit für permanente politische Instabilität. 367 Israel Gershoni, James P. Jankowski: Redefining, 1995, S. 2 bezeichnen das politische System der 1930er Jahre als „Palace-oriented dictatorship“. 368 Albrecht Fueß: Zwischen Internierung, 1998, S. 337. Mahmoud Kassim: Diplomatische Beziehungen, 2000, S. 269–288. Der Gegensatz zwischen den Nationalisten und dem König blieb der wichtigste politische Faktor im Ägypten der Zwischenkriegszeit. Albrecht Fueß: Deutsche Gemeinde, 1996, S. 16. 369 Albrecht Fueß: Deutsche Gemeinde, 1996, S. 23. 370 Vgl. Reinhard Schulze: Kolonisierung, 1992, S. 11–54. 371 Wesentliches Problem der Wirtschaft Ägyptens war ihre seit den 1880er Jahren Abhängigkeit von in Monokultur angebauten und deshalb sehr krisenanfälligen Baumwolle. Überwiegend war der Großgrundbesitz an europäische Kredit- und Hypothekenbanken verpfändet. Camilla Dawletschin-Linder: Neue Wege, 1992, S. 71 f. „Der bäuerliche Kleinbesitz löste sich auf oder wurde enteignet, was eine Voraussetzung für die Entstehung einer Arbeiterklasse war.“ Raouf Abbas Hamed: Ägyptische Arbeiterbewegung, 1992, S. 55. 372 Raouf Abbas Hamed: Ägyptische Arbeiterbewegung, 1992, S. 59; vgl. Reinhard Schulze: Ägypten 1936–1956, 1990, S. 134–153. 373 1928/29 und 1931/32: drastischer Preisverfall für ägyptische Baumwolle. Das Preisniveau blieb bis Mitte der 1940er Jahre niedrig. 374 In Kairo und Alexandria kam es im Laufe der 1920er Jahre mehrfach zu großen Streiks, die ab 1924 von Regierungsseite gewaltsam zurückgedrängt wurden. Aktivisten der Gewerkschaften wurden willkürlich verhaftet. Raouf Abbas Hamed: Ägyptische Arbeiterbewegung, 1992, S. 63 f.
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dem Slogan ‚Ägypten den Ägyptern‘ verbunden waren, durchzogen die gesamten 1930er Jahre und wurden von der Polizei blutig niedergeschlagen. Die Krise gab „weitere Impulse dafür, die ausländische ökonomische und politische Beherrschung abzuschütteln“,375 was auch beinhaltete, dass Nicht-Ägyptern zunehmend abwehrend bis feindlich begegnet wurde. Mit dem Abkommen von Montreux (1937) wandelte sich die Einwanderungspolitik Ägyptens einschneidend. Laut Abkommen erhielten nur noch diejenigen Personen ein unbefristetes Niederlassungsrecht, die bereits seit mindestens fünf Jahren ununterbrochen im Land ansässig waren. War dies nicht der Fall, musste die Aufenthaltserlaubnis jährlich, teilweise sogar monatlich neu beantragt werden. Gewährung und Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis wurden zudem abhängig gemacht von einer vorhandenen Arbeitserlaubnis, die angesichts der herrschenden Arbeitslosigkeit schwer zu erlangen war. Die ägyptische Regierung verschärfte die Aufnahmebestimmungen für arbeitssuchende Ausländer ab 1937 nochmals.376 Obwohl Deutsche nach ihrer offiziellen Wiederzulassung in Ägypten als Ausländer ‚zweiter Klasse‘ galten, weil sie nicht mehr von den sogenannten Kapitulationen profitieren konnten,377 avancierte Deutschland im Laufe der 1920er und 1930er Jahre besonders beim Baumwollhandel zu einem der wichtigsten Handelspartner Ägyptens.378 Die in Ägypten herrschenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen der 1930er Jahre waren nicht sonderlich günstig. Dennoch richteten zumal verfolgte Ägyptologen, Orientalisten, Arabisten, Islamwissenschaftler oder Althistoriker ihr Interesse auf Ägypten, das vielen aufgrund ihrer wissenschaftlichen Tätigkeiten bekannt war und obendrein ein Land darstellte, dessen Sprachen die meisten beherrschten (Englisch, Französisch, Arabisch). Wie überaus problematisch es war, eine Niederlassungserlaubnis zu erhalten, war meist nur den schon längere Zeit im Land lebenden oder sich häufig dort aufhaltenden Personen bekannt. Mit großem Misstrauen beobachteten die ägyptischen Behörden Reisende und Besucher, die sich als Emigranten entpuppen konnten. Auch bei nur geringfügigen Zweifeln wurden keine Visa erteilt. Nur wenigen gelang die
375 Camilla Dawletschin-Linder: Neue Wege, 1992, S. 75. 376 Anita Müller: Schweizer, 1992, S. 165 f. 377 Vgl. deutsch-ägyptischer Niederlassungsvertrag vom 16. Juni 1925. §§ 147, 148 beinhalteten den Verzicht auf die Kapitulationen; die Konsulargerichtsbarkeit bestand weiterhin, Gerichtsort war anstelle von Leipzig aber Kairo. Wolfgang Schwanitz: Deutsche, 1994, S. 73. 378 Nach England war Deutschland der zweitwichtigste Importeur ägyptischer Baumwolle. Ihren ökonomischen Standard von 1914 hatten die Deutschen Ende der 1920er Jahre schon übertroffen. Wolfgang Schwanitz: Deutsche, 1994, S. 74.
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zeitlich befristete oder dauerhafte Niederlassung. Erfolgreich war sie tendenziell eher ab 1938. So waren von den 213 nachgewiesenen Personen jüdischer Herkunft der Jahre 1938/39 immerhin 116 (54,5 %) erst nach Januar 1933 zugewandert.379 Zu jenen, denen die Emigration nach Ägypten gelang, gehörte der Arzt Hugo Picard,380 der die Neue Poliklinik der Jüdischen Gemeinde Berlin geleitet hatte, wo er zugleich leitender Arzt der chirurgischen Abteilung mit Spezialgebiet Bauchchirurgie und plastische Chirurgie gewesen war.
Abb. 22: Hugo Picard in Kairo 379 Für acht Personen liegen keine Ankunftsdaten vor. PA AA Kairo-Gesandtschaft 2a, 2b. 380 Geboren 1888 Konstanz, verheiratet seit März 1933 mit Helene Obermann (geb. 1907 Schwelm), Sohn von Salomon Picard (1853–1925) und Eugenie Picard (geb. 1866). Studierte in
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Nachdem ihm im September 1934 die Lehrbefugnis entzogen worden war, meldete er sich im Oktober 1934 beim britischen Academic Assistance Council (AAC), gab als Referenzen Prof. Sauerbruch (Charité Berlin), Prof. Frey (Universitätsklinik Düsseldorf), Prof. Voellser (Universitätsklinik Halle), Prof. Beyerle (Universität Leipzig) und Prof. Voegeli (Universität Zürich) an, als bevorzugte Emigrationsziele Großbritannien und Ägypten.381 Ihm war bekannt geworden, dass das Jüdische Krankenhaus in Kairo, wo ab 1937 auch der Berliner Internist Max Rosenberg (1887–1943) als Internist tätig wurde,382 nach einem „first-class surgeon“ suchte, eine Position, um die er sich bereits 1933 beworben hatte – zu dieser Zeit war die Stelle noch für zwei Jahre besetzt. Der AAC sollte sich in Kairo für ihn verwenden, was offenbar geschah.383 Zusätzlich informierte das AAC Picard darüber, dass auch am Hospital in Bagdad mehrere deutsche Spezialisten für die Dauer von jeweils drei Jahren und einer Bezahlung von 100 £ monatlich sowie gestatteter zusätzlicher Privatpraxis gesucht würden.384 Im Juli 1935 war dem AAC dann bekannt, dass Picard seine Stelle in Kairo bereits im April 1935 angetreten hatte. Allerdings gehörte er zu jenen Exilanten, die seitens der deutschen Gesandtschaft in Ägypten unterstützt wurden. Gesandter von Stohrer setzte sich ebenso für ihn ein wie Hans Pilger, mit dem Picard auch auf der Überfahrt nach Ägypten zusammentraf und sich besprach.385 Picard blieb bis über 1945 hinaus in Kairo, wohnte im August 1945 in der Sharia El-Amir Said Nr. 11, also in einer der Borchardt’schen Villen, um diese vor anderweitigen Zugriffen
ünchen, unter Prof. Mehl in Heidelberg und Prof. Bier in Berlin, praktische pathologische AusM bildung 1913/14 bei Prof. Herxheimer in Wiesbaden, innere Medizin bei Prof. Goldscheider in Berlin. Im Krieg war er Truppenarzt, ab 1918 als Chirurg im Lazarett Ettlingen, danach Assistent an der Universitätsklinik Frankfurt/Main, ab 1920 am Krankenhaus Friedrichshain in Berlin, 1921 Assistent an der Charité bei Hildebrand, 1924 Oberarzt, 1926 Privatdozent an der Universität Berlin. Nach Hildebrands Rücktritt blieb er bei Prof. Sauerbruch an der C harité, ab 1929 Leiter der Chir. Poliklinik der Jüdischen Gemeinde Berlin am Bülowplatz. 1930 wurde er zum außerordentlichen Professor an der Universität Berlin ernannt, war Technischer Ratgeber der Sächsischen Serumwerke in Dresden. BLO SC MS SPSL 424; PA AA Kairo-Gesandtschaft 2a. 381 Auskunftsblatt vom 22. Oktober 1934. BLO SC MS SPSL 424. 382 Rosenberg hatte 25 Jahre lang die Innere Station des Westend Krankenhauses Berlin geleitet. Er, seine Ehefrau (Tochter des Generals von Bachmeister) sowie das Ehepaar Schlesinger gehörten zu den engsten Freunden Meyerhofs. Rosenberg ertrank im August 1943 beim Baden im Meer (Alexandria), wurde in Alexandria beigesetzt. Brieftagebuch Meyerhof, 29. August 1943, S. 42; Maurice Fargeon: Medecins, 1939, S. 44. 383 Hugo Picard an AAC, Berlin, 18. Oktober 1934. BLO SC MS SPSL 424. 384 AAC an Picard, 21. Juni 1935. BLO SC MS SPSL 424. 385 Stohrer an Picard, 14. Januar 1935. PA AA R 901 44081.
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zu schützen.386 Für Mimi Borchardt, die dem Ehepaar Picard erklärtermaßen freundschaftlich verbunden war, bedeutete dies eine Erleichterung. Neben seiner ärztlichen Tätigkeit widmete Picard sich der Wissenschaft,387 war Mitglied zahlreicher Organisationen und Teilnehmer etlicher Kongresse – beispielsweise dem Internationalen Chirurgenkongress 1935 in Kairo und, ebenso wie Meyerhof, der Konferenz des Rotary Club Kairo 1944. Der einzige nach Ägypten geflohene Arzt war er nicht. Aus Berlin kamen beispielsweise der Urologe Ladislaus Ballog mit seiner ebenfalls als Ärztin tätigen Ehefrau sowie der Urologe Jacob Bitschai (1894–1958),388 der sich in Alexandria niederließ.389 Zu nennen sind auch der österreichische Arzt Korn und der Berliner Chirurg Ludwig Levy-Lenz.390 Schon seit 1927 praktizierten in Kairo die beiden polnisch-jüdisch bzw. rumänisch-jüdischen Hautärzte Adelphang und Rubenstein, der Allgemeinmediziner Erwin Schlesinger sowie nicht zuletzt seit 1903 Max Meyerhof. Vor allem Letzterer setzte sich für verfolgte Kollegen ein, versuchte ihnen die Emigration nach Ägypten zu ermöglichen und Existenzgrundlagen zu verschaffen. Nicht aufgrund jüdischer Herkunft, sondern seiner politischen Gesinnung wegen verließ der Königsberger Professor für Islamwissenschaften, Joseph Schacht (1902–1969), Deutschland. Ab 1934 unterrichtete er an der Universität Kairo, obwohl „conditions there have changed very much from the older times, and not always for better“, wie er an den britischen Ägyptologen Percy Newberry schrieb.391 Dennoch wollte er so lange wie möglich in Ägypten bleiben.392 Ausschlaggebend dafür war nicht zuletzt der ihm freundschaftlich und beruflich eng
386 Angeblich wollte ein „ägyptischer Pascha“ einziehen, weshalb Picard „schleunigst“ die südliche Villa bezog und sich intensiv um Häuser und Garten kümmerte. Brieftagebuch Meyerhof, S. 12, 20 (Privatbesitz). 387 Darunter drei Publikationen zu Krebserkrankungen in Ägypten. 388 Geb. Odessa, studierte und arbeitete in Berlin, seit 1934 in Ägypten. Maurice Fargeon: Medecins, 1939, S. 33. 389 Zu Balog (geb. 1887) s. Brieftagebuch Meyerhof, S. 12 (Privatbesitz). 390 Geb. 1886/89, seit 1936 in Kairo, wurde laut AJR Information Vol. 4/No. 1 (Jan. 1949) 1949 in Kairo vom „mob“ ermordet. Andere Quellen weisen nach, dass er 1976 in Ägypten starb. 391 London (Thackeray Hotel, Great Russell street), 8. August 1939. GIO Newberry MSS 39/40. 392 Schacht war ein Schüler von Gotthelf Bergsträsser. Er nutzte die Teilnahme an dem Begräbnis des niederländischen Orientalisten Jan Wensinck, um Deutschland definitiv zu verlassen. 1937 bestellte ihn die Gestapo zu Vernehmung ein wegen in Kairo getaner deutschfeindlicher Äußerungen und Beziehungen zu jüdischen Gelehrten. Während seines Sommeraufenthalts in England wurde er vom Kriegsausbruch überrascht und konnte nicht nach Ägypten zurückkehren. 1943 wurde er aus dem Beamtenverhältnis entlassen, seine Ausbürgerung verfügt. Ludmila Hanisch: Die Nachfolger, 2003, S. 138.
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verbundene Max Meyerhof, der wesentlich zu seiner Migration nach Ägypten beigetragen hatte und dort mit ihm sowie dem Exilanten Paul Kraus zusammenarbeitete.393 Georg Steindorff, der seine letzten Ägyptenreisen 1933 und 1936 unternahm, traf sich bei diesen Gelegenheiten fast täglich mit Schacht, regelmäßiger allerdings noch mit seinem langjährigen Freund Meyerhof.394 Wie ungemein schwierig es war, sich als Flüchtling in Ägypten zu etablieren, belegt das Beispiel der Österreicherin Hilde Zaloscer (1903–1999), die ab Sommer 1936 in Alexandria lebte. Sie hatte in Wien Kunstgeschichte studiert, war von 1926 bis 1936 Schriftleiterin des Kulturmagazins „Belvedere“ gewesen. Vermittelt vom niederländischen Konsul in Österreich erhielt sie eine Anstellung als Haushälterin bei dem ägyptisch-jüdischen Arzt Ahmed el-Nakeeb, der auch für die Ausstellung des Visums sorgte.395 El-Nakeeb war Leiter des angesehenen jüdischen Al-Moassat Hospitals Alexandria,396 an dem auch der 1934 aus Berlin geflohene Urologe Jacob Bitschai und der aus Prag geflohene Radiologe Prof. Herrnheiser praktizierten.397 Hilde Zaloscer blieb nur wenige Monate in Nakeebs Haus, schlug sich danach mit allen möglichen Arbeiten durch. Zugang zur europäischen Gesellschaft Alexandrias fand sie, vermittelt von der Vorsitzenden Dr. Karbonenko, über den „Verein akademischer Frauen“. Dort lernte sie andere Emigrantinnen und Emigranten kennen, so die Künstlerin Hedwig-Maria Strasser-Huldschinsky und ihren Ehemann Kurt Huldschinsky (1883–1940),398 ein über die Grenzen Berlins hinaus renommierter Kinderarzt,399 der wegen seiner jüdischen Herkunft Deutschland verlassen musste, ab 1934 in Alexandria lebte, wo er gezwungenermaßen als 393 Zu diesem Kreis gehörte auch der Orientalist Eugen Mittwoch, an den Schacht sich in England stark anlehnte. Thomas F. Glick: Sarton Papers, 1999, S. 234, 236. 394 ÄMUL Reisetagebücher Steindorff 1933, 1936. 395 Hilde Zaloscer: Heimkehr, 1988, S. 57 f. 396 Erbaut 1933 von dem deutschen Architekten Kopp nach dem Muster des Berliner MartinLuther Krankenhauses, in Betrieb genommen 1935. Brieftagebuch Meyerhof, S. 40 (Privatbesitz). 397 Brieftagebuch Meyerhof, S. 10, 40 (Privatbesitz). 398 Sohn von Edwin Huldschinsky und Klara. Sein Onkel war der wohlhabende Industrielle und Kunstmäzen Oscar Richard Huldschinsky, dessen Sohn Paul (1889–1947) nach seiner KZ-Haft in Sachsenhausen (1938) 1939 nach Kalifornien emigrierte und dort in der Filmindustrie tätig wurde. Kurt und Hedwig-Maria Huldschinsky hatten eine Tochter (Eve Maria). Kurt Huldschinskys Schwester Gertrud Lisbeth Heller wurde 1943 in Theresienstadt ermordet. Thea Levinsohn-Wolf: Stationen, 1996, erinnert Huldschinsky unrichtig unter dem Namen Kohn. Dieser habe ein begrenztes Einreisevisum für Ägypten unter der Bedingung erhalten, dass er keine ärztliche Praxis ausüben würde. Nach dem Tod Huldschinsky 1940 arbeitete seine Witwe beim YMCA in Minieh (Oberägypten), dann am Hof des Maadi in Sudan. 1945 wanderte sie zu ihrer in Kanada lebenden Tochter aus. 399 Er entdeckte 1919 die Bedeutung von Ultraviolettstrahlen für die Behandlung von Rachitis.
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„eine Art Hühneraugenoperateur“ bei Scholl arbeitete. Seine Ehefrau vermietete Zimmer, sodass Zaloscer eine Zeitlang eine Bleibe fand. Später mietete sie ein kleines Dachzimmer bei einer ungarischen Emigrantin.400 Im Frauenverein lernte sie eine emigrierte Berliner Chemikerin kennen, die bei Walter Joel (1899–1991)401 im Labor des jüdischen Hospitals arbeitete. Bei Familie Joel traf sie die emigrierte Berliner Zahnärztin Eva. Wichtig wurde für sie die Bekanntschaft mit JacquesRené Fiechter, dem Leiter der Schweizer Schule und Präsident des Schweizer Kulturvereins, der sie in die ‚französische Kolonie‘ einführte und über den sie den emigrierten deutschen Musikhistoriker Hans Hickmann (1908–1968) kennenlernte.402 Ebenso wie Zaloscer lebte Hickmann „von der Hand in den Mund“, obwohl er mit Ägypten seit Jahren vertraut war – nach seinem Studium betätigte er sich dort mehr als zwanzig Jahre lang, 1932/33 im Auftrag des deutschen Programmarchivs. Weil er das nationalsozialistische Regime ablehnte, emigrierte er 1934 nach Ägypten, arbeitete als Dirigent, Organist, Pädagoge, Lehrer und Musikforscher. In Kairo baute er die Musikschule „Musica viva“ auf, schrieb Filmmusiken, Chorwerke, Kammermusik und Lieder.403 Zusammen mit Hilde Zaloscer rief er Mitte der 1930er Jahre einen Musik- und Kulturkurs ins Leben, der sich regen Zuspruchs erfreute. Als Exilant traf auch der Musiker Benno Bardi (Poswiansky) in Ägypten ein, nachdem er bis 1933 Leiter des von ihm 1918 gegründeten Konzertvereins GroßBerlin gewesen war. Auch als Komponist von Schauspielmusik und Autor wissenschaftlicher Beiträge hatte er sich hervorgetan. Mit Ägypten war auch er bekannt, hatte dorthin und in den Sudan als wissenschaftlicher Mitarbeiter der 1920 von Wilhelm Doegen gegründeten Lautabteilung für Sprach- und Musikaufnahmen an der Preußischen Staatsbibliothek Studienreisen unternommen, an der Universität Kairo unterrichtet, sogar einen Ruf an das Kairener Konservatorium erhalten. Er kehrte jedoch nach Berlin zurück, übernahm 1927 die Redaktion der „Berliner Konzertzeitung“, war ab 1928 außerdem Dirigent der Berliner Funkstunde, kehrte 400 Hilde Zaloscer: Heimkehr, 1988, S. 68 ff. 401 Geboren Bünde (Westfalen), bis 1932 Leiter des Pathologischen Instituts am Cäcilien Krankenhaus in Berlin, verließ in diesem Jahr aus politischen Gründen Deutschland, wurde Leiter der Pathologie des Jüdischen und Italienischen Krankenhauses in Alexandria. 1948 emigrierte er in die USA, arbeitete von 1949 bis 1969 am Oklahoma College of Medicine als Assistenzprofessor für Pathologie. Seine Eltern waren Julius Joel und Elisabeth Margarete Mühsam (1875–1958). Letztere war eine Schwester von Erich Mühsam, der also ein Onkel von Walter Joel war. 402 Hilde Zaloscer: Heimkehr, 1988, S. 76 ff. 403 1949 bis 1952 schrieb er regelmäßig für mehrere mitteldeutsche Rundfunksender. 1957 war er kurzfristig Direktor des deutschen Kulturinstituts in Kairo, kehrte 1957 nach Deutschland zurück, habilitierte sich an der Universität Hamburg, wo er anschließend Dozent war. Stephan Stompor: Künstler, Teil 2, 1994, S. 731.
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1932 nach Aufenthalten in Italien und Frankreich nach Berlin zurück. Wegen seiner jüdischen Herkunft und Mitgliedschaft in einer Freimaurerloge wurde er von den Nationalsozialisten verfolgt. Über Prag und Belgrad emigrierte er am 27. Juli 1933 nach Ägypten. Seine Ehefrau wurde in Berlin von der Gestapo verhaftet, konnte ihm aber später nach Ägypten folgen. In Kairo fand Bardi Anstellung in einem Filmstudio.404 Wie die deutsche Gesandtschaft am 8. März 1934 nach Berlin berichtete, plante er in Kairo die Gründung „eines philharmonischen Orchesters zur Pflege deutscher Musik“. Ob dies zustande kam, lässt sich nicht verifizieren.405 1939 verlor er seine Arbeitsstelle, weil von der das Filmstudio betreibenden „Banque Misr“ Fritz Kramp als neuer Direktor angestellt wurde. Parallel dazu entzog das deutsche Konsulat Bardi den Pass. Illegal ging er nach Palästina. Auf Musik versuchte auch das 1934 nach Kairo geflohene Ehepaar Willner eine neue Existenz aufzubauen. Mühsam ernährten sie sich von „Stunden geben“.406 Für Hilde Zaloscer war es ein Glücksfall, in Kairo den französischen Ägyptologen und Leiter des Service des Antiquités, Étienne Drioton, kennenzulernen. Er ermöglichte ihr die Abfassung eines Führers für Kairo, was ihr etwas Geld einbrachte. Während einer Reise nach Palästina, wo ihr Vetter Hugo bereits seit 1919 lebte, traf sie Paul Kraus, der Mitglied der „International-Press-Association“ (IPA) war und ihr möglich machte, regelmäßig Zeitungsartikel zu verfassen.407 In Alexandria lernte sie die Brüder Erik und Heinz Welsch kennen, Besitzer eines großen Baumwollunternehmens, die sie ebenso unterstützten wie Georg Haberfeld (Vertreter der Holzfirma Nasicka) und Pollak (Vertreter einer niederländischen Glasfirma).408 Zaloscer bewegte sich fast ausschließlich in Emigrantenkreisen, die „über die Politik in Europa“ aber wenig unterrichtet waren. Nur klangen die Briefe aus Österreich zunehmend bedrückend. Erst während ihres Paris-Besuchs im Sommer 1939, wo sie einen Teil ihrer zwischenzeitlich aus Österreich geflohenen Familie traf, erfuhr Zaloscer Genaueres. Sie selbst verfügte nur über eine befristete 404 Bardi emigrierte später in die USA, 1950 nach London. Stephan Stompor: Künstler, Teil 2, 1994, S. 731. 405 Deutsche Musiker waren in Ägypten nicht unbekannt. Im Juni 1869 war das 850 Plätze bietende „Teatro del Opera“ in Kairo mit einer Aufführung von „Rigoletto“ eröffnet worden. Im Dezember 1871 fand die Uraufführung von „Aida“ statt. Opernaufführungen wurden in aller Regel von ausländischen Ensembles geboten, mitunter mit deutschen Solisten, so 1901 „Tannhäuser“ und „Die Walküre“. Als Gastdirigent trat in den 1920er Jahren u. a. Arturo Toscanini auf. 1923 entstand das „Arab Music Institute Theatre“ mit 312 Sitzplätzen. In Alexandria wurden hauptsächlich Operetten und Vaudevilles aufgeführt, ab 1915 auch Operetten ägyptischer Komponisten (Sayyid Derwisch, Zakaryia Ahmad). Stephan Stompor: Künstler, Teil 2, 1994, S. 731 f. 406 Stephan Stompor: Künstler, Teil 2, 1994, S. 731. 407 Hilde Zaloscer: Heimkehr, 1988, S. 83. 408 Hilde Zaloscer: Heimkehr, 1988, S. 88 f.
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ufenthaltserlaubnis und fürchtete nach Ausbruch des Krieges, in Ägypten als A „enemy alien“ interniert zu werden. Aus diesem Grund ging sie eine Scheinehe mit einem Ägypter ein – eine Option, die auch einige andere Exilantinnen wählten -, nahm den Namen Samira Shukri an. Um sich nach dem baldigen Tod ihres Ehemannes finanziell über Wasser zu halten, vermietete sie während der Sommermonate ihre kleine Wohnung an Kairener Touristen. Ab 1940 teilte sie die Wohnung mit der im Jüdischen Krankenhaus arbeitenden deutschen Emigrantin Rita, bewegte sich hauptsächlich in Emigrantenkreisen.409 Weder Hilde Zaloscer noch Walter Joel, Kurt und Hedwig-Maria Huldschinsky sowie Hans Hickmann finden sich in den Melderegistern der deutschen Gesandtschaft. Auch erwähnt Zaloscer in ihrer Biografie nicht, dass es eine Meldeaufforderung gab. Dies lässt vermuten, dass lediglich in Kairo akribisch gearbeitet wurde, an andern Orten dagegen eher nachlässig. Zweitens ist daraus zu entnehmen, dass die Zahl der Emigranten und der deutschsprachigen Personen jüdischer Herkunft in Wirklichkeit deutlich höher war, als es den Melderegistern zu entnehmen ist. Denn auch der seit 1932 in Alexandria als Oberarzt der chirurgischen Abteilung des Jüdischen Krankenhauses410 tätige Fritz Katz ist nicht registriert, ebensowenig die dort von 1932 bis 1947 als Krankenschwester arbeitende Thea Wolf.411 Letztere erwähnt allerdings, dass sich das gesamte Krankenhauspersonal „geschlossen“ zum deutschen Konsulat begab „und um Eintrag des Buchstaben ‚J‘ bat“, womit zugleich die Beziehungen zur ‚deutschen Kolonie‘ und zum deutschen Konsulat als beendet galten.412 Ebenso wie Ludwig Borchardt nutzten die Jüdischen Krankenhäuser in Alexandria und Kairo ihre Möglichkeit, Fachpersonal von Deutschland oder Österreich einzustellen, also Verfolgten eine Emigrationsmöglichkeit zu bieten. Gegründet wurde das Alexandriner „Hôpital de la Communauté Israélite“ 1932 von der Stiftung „Baron Behor de Menasce“; es wurde ausschließlich von den jüdischen Gemeinden Alexandrias finanziert. Nicht zuletzt wegen der hervorragenden, als Flüchtlinge nach Ägypten gekommenen Ärzte galten die Jüdischen Krankenhäuser in Alexandria und Kairo als die besten des Nahen Ostens.413 Zu den Emigranten in Alexandria bzw. dem dortigen Jüdischen Krankenhaus gehörte außer dem erwähnten Walter Joel414 auch der zuvor an der Universität Rostock tätige Mediziner Fritz Mainzer, der die Leitung der Inneren Medizin 409 Hilde Zaloscer: Heimkehr, 1988, S. 99. 410 Präsident des Krankenhauses war Josef Aghion. 411 Vgl. ihre Biografie: Thea Levinsohn-Wolf: Stationen, 1996. 412 Thea Levinsohn-Wolf: Stationen, 1996, S. 35. 413 Irene Messinger: Schutz- und Scheinehen, 2014, S. 200. 414 Thea Levinsohn-Wolf: Stationen, 1996, S. 38 benennt ihn mit „Fritz“ Joel, was unrichtig ist.
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bernahm. Hinzu kamen sechs deutsche Krankenschwestern, eine deutsche ü Laborantin und eine deutsche Röntgenassistentin. Vor allem die Ärzte Katz und Mainzer genossen einen hervorragenden Ruf, wurden von hohen Staatsbeamten und sogar Mitgliedern des Königshauses konsultiert. Zugleich sorgten die beiden in Zusammenarbeit mit den Krankenschwestern und ägyptischen Hafenpolizisten dafür, dass in Alexandria ohne Visum eingereiste Flüchtlinge weiterer Verfolgung entgingen, ihre Versorgung sichergestellt und, falls erwünscht, ihre Weiterreise nach Palästina ermöglicht wurde.415 All dies mögen Gründe sein, weshalb sie ‚offiziell‘ nicht als Emigranten galten, sich der Meldeverpflichtung entziehen konnten oder aber ihre Daten nicht weitergeleitet wurden. Auch für Kairo finden sich Beispiele dafür, dass es einigen dort ansässigen Deutschen und Österreichern jüdischer Herkunft gelang, Bekannte, Freunde oder Verwandte nach Ägypten zu bringen. Eine Gesamtübersicht ist allerdings nicht möglich. Ein Beispiel ist jenes des aus Wien stammenden Ernst Morawetz, genannt „Ernie“,416 der seit 1929 zusammen mit seiner Ehefrau „Trude“ in Ägypten lebte und als Jurist für die Dresdner Bank arbeitete, nach seiner Entlassung als Gutsverwalter für einen ägyptischen Prinzen, während seine Ehefrau in Kairo ein Studio für gymnastischen Tanz eröffnete.417 Dass Morawetz nach 1933 nicht mehr für die Dresdner Bank arbeiten konnte, war eine Konsequenz daraus, dass sämtliche Angestellten einer NS-Organisation, meist auch der NSDAP angehörten, dem Vorhaben von Max Dittrich also entsprochen wurde. Noch Mitte der 1930er Jahre erkannten Ernst Morawetz‘ Mutter Emma und seine Schwiegereltern die Gefahr nicht, die ihnen in Europa drohte. Nach einem mehrwöchigen Besuch in Ägypten kehrten sie nach Hause zurück. Morawetz‘ Schwägerin und eine Freundin wurden während ihres auf vier Wochen angelegten Besuchs in Ägypten 1938 vom „Einmarsch der Deutschen“ überrascht, kehrten dennoch nach Wien zurück, weil sie sich „vor dem Ärgsten geschützt (fühlten), da sich die ganze Familie im Jahre 1934 (kurz vor dem später festgesetzten Stichtag) hatte r. k. taufen lassen“. Auch die Großeltern fühlten sich wegen ihrer tschechischen Staatsangehörigkeit sicher. Erst Ende 1938 entschloss sich Morawetz‘ zwischenzeitlich verwitwete Mutter zur Emigration nach Ägypten; nach dem Krieg kehrte sie nach Wien zurück.418 415 Thea Levinsohn-Wolf: Stationen, 1996, S. 55 f. 416 Schwester: Lilly Morawetz. 417 1928 Heirat von Richard mit Maria Weiß (Mutter Lotte, Schwester Anny Pringsheim). Benno Sabath: Leben, Teil 2. 418 Andere Verwandte wanderten nach Mexiko aus. „Richard ging allein weg – er war zunächst Musiker auf einem englischen Schiff und verbrachte dann die Kriegszeit mit Trude und Erni in
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Auch Hugo Picard war es möglich, seiner verwitwete Mutter Eugenie 1937 die Emigration nach Ägypten zu ermöglichen, 1941/42 migrierte sie zu ihrem zweiten Sohn nach Palästina.419 Aus Wien kam im Juni 1938 Jolanda Stross nach Kairo, wo sich bereits seit 1935 ihr Sohn Friedrich Goldscheider mit seiner Familie aufhielt.420 Auch einigen von Alice Engels Verwandten gelang es, sich nach Kairo zu retten. Sie war zusammen mit ihrem Ehemann Hermann Engel421 und den beiden Töchtern Ruth und Marion im Oktober 1936 von Berlin nach Kairo emigriert. Er arbeitete am Jüdischen Krankenhaus als Facharzt für orthopädische Chirurgie, ein zu dieser Zeit in Ägypten gesuchtes Fachgebiet. Alice Engel war eine Tochter des prominenten und wohlhabenden Frankfurter Kaufhausbesitzers Hermann Wronker und seiner Ehefrau Ida Friedeberg. Im November 1936 kam Alices Bruder, der Kaufmann Max Wronker, nach Kairo, dem im April 1937 zunächst seine Ehefrau Irma Lichter und im Dezember 1937 sein Sohn Erich422 folgten. Die Familien Engel und Wronker lebten in einer gemeinsamen Wohnung in der Sharia Aziz Osman in Kairo-Zamalek, unweit des Borchardt’schen Hauses. Ob man sich bereits aus Frankfurt kannte oder sich erst in Kairo kennenlernte, ist nicht zu erkennen, sehr wohl aber, dass zwischen den Familien eine nähere Bekanntschaft entstand. Eine vertrauensvolle Beziehung bestand gewiss zu Max Meyerhof, an den sich Alice Wronker-Engel im Kummer um
Kairo; seine Frau Maria (eine Christin) fuhr 1941 über Shanghai nach Australien, wo sie sich später wieder trafen.“ Nach dem Krieg wanderten Ernst Morawetz und seine Ehefrau nach Australien aus. „Sowohl Ernst aus Mexiko als auch Trude aus Ägypten (über Schweizer Freunde) haben sich bemüht, die Großeltern aus Prag wegzubringen. Abgesehen davon, dass die Großeltern ihren Kindern nicht zur Last fallen wollten, ob es überhaupt möglich gewesen wäre, sie nach Mexiko überzusiedeln – wer weiß?“ Benno Sabath: Leben. 419 Eugenie Picard geborene Picard, geboren 1866 Wangen, verheiratet mit Salomon Picard (1853–1925). Familie Picard wohnte in Kairo-Zamalek, 36 Sh. Amir Hussein. PA AA Kairo-Gesandtschaft 2a. 1944 hielt Hugo Picard sich in Palästina auf, weil seine Mutter sich dort auf Anraten von Meyerhof einer Augenoperation unterzog. Brieftagebuch Meyerhof, 17. Oktober 1944, S. 50 (Privatbesitz). 420 Jolanda Stross geborene Hecht geschiedene Goldscheider (geb. 1887 Reszopatk/Ungarn), Tochter von Jakob Hecht (1850–1920) und Berta Pickler (geb. 1870). Ihr Sohn Friedrich (geb. 1906 Wien) war ein Sohn aus der Ehe mit Camillo Goldscheider (geb. 1875 Pilsen), verheiratet seit 1935 mit Yvonne Mosseri (geb. 1907 Kairo, Tochter von Isaac Mosseri und Bida Jabès), kam über Athen nach Kairo. Er war angestellt bei der Firma „Ste. d’Avances Commerciales S.A.E., Branche Brüder Stross“. PA AA Kairo-Gesandtschaft 2a. 421 Geboren 1886 Hamburg, Sohn von Gustav Engel und Jenny Loewy, verheiratet seit 1921. PA AA Kairo-Gesandtschaft 2a. 422 Geboren 1921 Frankfurt/Main, 1936 in Paris, kam Dezember 1937 von London. PA AA KairoGesandtschaft 2a.
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ihre Eltern423 wandte. Diese hatten die Tochter 1938 in Kairo besucht, aber nicht dort bleiben wollen, weil der Vater zuerst seine Steuern und Schulden in Deutschland begleichen wollte. „Dort wurde er mit seiner Frau ins Gefängnis gesteckt, nach Monaten in das unbesetzte Frankreich abgeschoben und jetzt von dort deportiert, unbekannt wohin. Die Tochter hätte gewünscht, dass ihre Eltern Gift besessen hätten, um diesem Schicksal zu entgehen“, berichtete Meyerhof im März 1943.424
Abb. 23: Hermann Engel in Kairo
423 Hermann Wronker (geb. 1867 Kähne/Krs. Birnbaum) und Ida Friedeberg (geb. 1871 Birnbaum/Warthe). PA AA Kairo-Gesandtschaft 2a. Das Warenhaus Wronker hatte im Februar 1934 480 Angestellte. Die Frankfurter Immobilien der Familie wurden ab 1939 versteigert bzw. zwangsversteigert (vgl. Akten dazu im ISG Frankfurt). Dokumente, 1963, S. 181. Das Ehepaar Wronker wurde 1942 von Frankreich nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. 424 Brieftagebuch Meyerhof, 5. März 1943, S. 34 (Privatbesitz).
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Das Gästebuch der Familie Engel enthüllt die intensiven gesellschaftlichen Aktivitäten des Ehepaars.425 Unter den Gästen finden sich im März 1937 die Ehepaare Meyerhof und Schlesinger sowie Max Rosenberg, Kollegen Hermann Engels. Besonders aber scheint die Engel’sche Wohnung ein Treffpunkt für aus Palästina angereiste Emigranten, deutsch-jüdische und österreichisch-jüdische Emigranten in Ägypten sowie Mitglieder der ägyptisch-jüdischen Bevölkerung (besonders Mosseri und Cattaui) gewesen zu sein. Familie Engel blieb bis 1949 in Kairo, emigrierte dann nach New York. Seit 1933 lebte der bekannte Berliner Kinderheilkundler Jakob Bernhard Bendix (1863–1943)426 in Kairo, ebenso seine Tochter Alice, die sich mit dem Kairener Apotheker Weiser verheiratete. Laut Meyerhof verließ Bendix Deutschland definitiv erst 1939, weil er sich als „guter Deutscher“ nicht von seiner Heimat trennen wollte. In Kairo fühlte er sich durchweg unwohl, „schimpfte über alles und sehnte sich andauernd nach seinem Berlin zurück“.427 Die Einsicht, „wie schlimm die Verhältnisse für Juden und gerade die alten Leute dort geworden waren“, konnte er nicht gewinnen. In seiner Einsamkeit schloss er sich eng an das Ehepaar Meyerhof an, das den „großen, schlanken Mann, der wie ein pensionierter General aussah“, gerne um sich hatte. Kurz vor seinem Tod, Februar 1943, bestimmte Bendix, dass später „seine Asche nach Berlin geschickt werden sollte“, was laut Meyerhof „natürlich unmöglich“ war.428 Manche konnten auf Unterstützung von Freunden und Kollegen zurückgreifen, so der erwähnte Orientalist Paul Kraus, der seit 1929 mit Meyerhof bekannt war und auf seine Empfehlung hin 1936 nach Ägypten emigrierte. Dort war er als Privatdozent an der Universität tätig und als Mitarbeiter Meyerhofs, pendelte zudem häufig zwischen Ägypten und Palästina. Im Juni 1944 heiratete er in zweiter Ehe in Jerusalem Dorothee Metlitzki, hatte aber keine Chance, an der Universität Jerusalem eine Anstellung zu finden, musste ohne seine Ehefrau nach Kairo zurückkehren. Dort hatten sich die politischen Verhältnisse so zugespitzt, dass sein Mentor Taha Hussein seine Position aufgeben musste und Kraus ebenfalls entlassen wurde.429 425 LBI AR 25255/MF 737 Lili Wronker Family Collection. 426 Gestorben in Kairo. Bruder des Berliner Bankiers Fritz Bendix. Tochter Alice Weiser begründete Weiser Medica in Kairo. 427 Brieftagebuch Meyerhof, 5. März 1943, S. 34 (Privatbesitz). 428 Laut Meyerhof war die Beerdigung „trostlos öde, wie hier üblich“. Meyerhof schrieb einen Nachruf in einer Wochenschrift. Brieftagebuch Meyerhof, S. 34 (Privatbesitz). 429 Kraus hatte zunächst auch ein Angebot von der Universität Jerusalem, zog aber Kairo vor. Laut Thomas F. Glick: Sarton Papers, 1999, S. 233 und Joel L. Kraemer: Paul Kraus, 1999, S. 195 ff empfahl Louis Massignon Kraus dem Dean der Kairener Universität, Taha Hussein (1889–1973). Massignon hatte dort 1912 auf Empfehlung von Goldziher unterrichtet. Meyerhof berichtet
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Zu den Exilanten in Ägypten zählten zudem ab 1933 Gerson Goldhaber (Professor für Physik),430 ab 1937 Alois Robert Böhm (Ingenieur),431 ab 1942 Josef Dobretsberger (Politologe und Politiker),432 ab 1936 Siegmund Hirsch (Fabrikant),433 ab 1933 Clark Joel (Finanzexperte).434 Die meisten Exilanten ließen sich in Alexandria und Kairo nieder, nur einzelne etwa in der Hafenstadt Port Said. Dort traf 1939 aus Jerusalem die aus Berlin stammende Susanna Bornstein ein, wo sie wie in Palästina als Kindermädchen arbeitete.435 Andere dort lebende Exilanten waren Ernst Joachim (Pension Caftos, Sharia El Salam),436 Jutta Klein (Port Fouad, Villa Koq d’Oz),437 Lili Katz (Maison
ingegen, er habe Kraus die Migration nach Ägypten ermöglicht. Auf Meyerhofs Vorschlag ging h auch die Dissertation von Kraus‘ erster Ehefrau Bettina Strauss (Schwester von Leo Strauss) zurück. Das Paar hatte im Dezember 1936 in Kairo geheiratet, Bettina starb im Januar 1942 im Kindbett (Tochter Jenny wurde von Leo Strauss adoptiert). Äußerst schockiert reagierte Meyerhof auf die Nachricht von Kraus‘ Suizid am 12. Oktober 1944, unmittelbar nachdem Hussein ihm die Stellung an der Kairener Universität gekündigt, stattdessen eine an der Universität Alexandria angeboten hatte. Laut Meyerhof hatte Kraus „sehr glücklich“ gewirkt. Brieftagebuch Meyerhof, 17. Oktober 1944, S. 50 (Privatbesitz). 430 Geb. 1924 Chemnitz, Sohn von Karl Goldhaber (1933 mit Ehefrau nach Ägypten) und Ethel Frisch, 1941 in Palästina, 1948 in USA, heiratete 1947 Sulamith Löw (gest. 1965) und 1969 Judith Margoshes Golwyn. Jüdisches Museum Frankfurt, Sammlung Arnsberg: Jüdische Gemeinde Frankfurt, Bd. II/1, S. 390 ff. 431 Geb. 1892 Meran, katholisch, Eltern beide jüdisch, verheiratet mit Ruth Merker (gest. 1953) und Auguste Galitz. In Kairo Industrieberater in Zusammenarbeit mit Siemens-Orient, Aufbau einer Segelfliegerschule, 1939 Emigration nach Shanghai. Jüdisches Museum Frankfurt, Sammlung Arnsberg: Jüdische Gemeinde Frankfurt, Bd. I, S. 76 f. 432 1941–42 in Jerusalem mit Kontakt zum „Free Austrian Movement“, 1942–46 Professor an Giza Universität, Leiter der österreichischen Abteilung des brit. Political Intelligence Departments in Kairo. Jüdisches Museum Frankfurt, Sammlung Arnsberg: Jüdische Gemeinde Frankfurt, Bd. I, S. 133. 433 Geb. 1885 Halberstadt, verheiratet mit Mally Mainz (1865–1942), 1934 Errichtung eines Kupfer-Walzwerks in Palästina, 1936 in Ägypten nach der Emigration, Gründer und Geschäftsführer Ägypt. Kupferwerke Alexandria, Finanzierung durch Haavarah-Transfer und Bankiers Mosseri in Kairo. 1952 USA, 1961 Belgien. Jüdisches Museum Frankfurt, Sammlung Arnsberg: Jüdische Gemeinde Frankfurt, Bd. I, S. 301. 434 Geb. 1928 Berlin, Sohn von Walter Joel, verheiratet mit Ilse Moses u. 1959 mit Sunja Choi, studierte ab April 1933 am Lycée Francais Kairo, dann Lycée de l’Union Juive pour l’enseignement; 1945 Baccalaureat, 1946 USA. Jüdisches Museum Frankfurt, Sammlung Arnsberg, Bd. I, S. 334. 435 Geboren 1888 Berlin, Tochter von Philip Bornstein (1843–1891) und Jenny Barth (geb. 1859 Berlin). In Port Said arbeitete sie bei R.F. Shenson, in Jerusalem hatte sie bei Dr. Greenfeld gearbeitet. Bis Mai 1934 lebte sie in Hamburg. PA AA Kairo-Gesandtschaft 2a. 436 Geboren 1901 Wien, Sohn von Arthur Joachim (geb. 1864 Wien) und Eugenie Rothenstein (geb. 1874 Wien), seit Januar 1933 in Ägypten, tätig als Handelsangestellter für Klonaris Brothers. PA AA Kairo-Gesandtschaft 2a. 437 Geboren 1921 Greifswald, ledig, im Mai 1938 nach Ägypten. PA AA Kairo-Gesandtschaft 2a.
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Bassila, c/o Dr. Sanabary),438 der Zahnarzt Benjamin Rapp (Sh. Eugenie),439 Margot Rosenbaum (Maison Bassila, bei Dr. Sanaburg),440 Viktor Katz (Sh. Alam Mustapha/Sakkatini)441 und Berthold Blum (Rue Mokkatam).442 Bei Bornstein, Rapp, Rosenbaum, Katz und Blum ist in den Melderegistern zwar auf die jüdische Herkunft verwiesen, die Blätter sind aber nicht, wie in Kairo und Alexandria, mit einem roten „J“ gestempelt. Die Flüchtlinge erfreuten sich nicht immer großer Beliebtheit bei den Ägyptern oder waren ihnen willkommen, wohl auch, weil sie eine berufliche Konkurrenz darstellten. So erinnert sich der ägyptische Arztsohn Loeb Sachs beispielsweise an Hermann Engel und Hugo Picard als arrogante Personen mit erkennbarem Überlegenheitsgefühl gegenüber allen Nicht-Deutschen, jüdischen und nicht-jüdischen gleichermaßen – „they talked at you not to you“.443 Nur wenige empfand er als sympathisch, so den aus Österreich 1938 geflohenen Arzt Korn, der zum Islam konvertierte und die ägyptische Staatsbürgerschaft annahm. Ebenfalls zum Islam konvertierte der ehemals Berliner Chirurg Ludwig LevyLenz, was ein Grund dafür gewesen sein mag, dass Ludwig Borchardt keine hohe Meinung von ihm hatte. Offensichtlich erfreuten Korn und Levy-Lenz sich auch innerhalb der deutschsprachigen Ärzteschaft keiner Sympathie.444 Entscheidend für die Aufnahme in Ägypten war mit Gewissheit die berufliche Tätigkeit, die dem Land von Nutzen sein musste. Entscheidend war aber auch, in Ägypten ansässige Fürsprecher zu haben, Personen, die über genügend Einfluss, Reputation und entsprechende Netzwerke verfügten, um die Aufnahme eines Flüchtlings möglich zu machen. Eine zentrale Rolle spielte zweifellos Max Meyerhof, der sich in Ägypten eines hervorragenden Rufs sowohl als Arzt als auch als Wissenschaftler und nicht zuletzt als verlässliche Persönlichkeit erfreute. Seine Netzwerke waren vielfache. Zu vielen seiner ägyptischen und nicht-ägyptischen
438 Geboren 1909 Berlin, geschieden seit Mai 1937, Tochter von Leopold Grünberg (geb. 1864 Botzow) und Else Ehrlich (geb. 1876 Frankfurt/M.), im Juni 1937 von Berlin nach Ägypten. PA AA Kairo-Gesandtschaft 2a. 439 Geboren 1890 Buczacz/Polen, geschieden 1928, Sohn von Lippe Rapp und Sarah Chalen, 1934 von Alexandria nach Port Said, bis 1922 in Wien. PA AA Kairo-Gesandtschaft 2a. 440 Geboren 1894 Berlin, Tochter von David Joseph und Gertrud Podoloki verw. Schäfer geb. Ehrlich, heiratete 1930 Cerluri, kam 1934 aus Wien. PA AA Kairo-Gesandtschaft 2a. 441 Geboren 1912 Horazdovice/Tsch., Sohn von Karl Katz und Elsa Nettl, November 1936 nach Ägypten, tätig als Textiltechniker bei Leon Cohen. PA AA Kairo-Gesandtschaft 2a. 442 Geboren 1860 Hamburg, verheiratet mit Nina Rouher (geb. 1900 Avignon), Sohn von Salomon Blum und Pauline Ponges, 1935 nach Port Said, tätig als Kaufmann und Importeur deutscher Produkte. PA AA Kairo-Gesandtschaft 2a. 443 Liliane S. Dammond: Lost World, 2007, S. 53. 444 Liliane S. Dammond: Lost World, 2007, S. 53.
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Kollegen hatte er engen Bezug, als Wissenschaftler von Rang war er eng verbunden mit Schul- und Universitätswesen sowie mit der nationalen und internationalen Wissenschaftler-Gemeinde. Darüber hinaus pflegte er soziale Beziehungen innerhalb und außerhalb der deutschsprachigen Gemeinde und verfügte über langjährige Ägypten-Erfahrungen sowie nicht zuletzt über verwandtschaftliche Beziehungen zu Großbritannien. All dies ermöglichte ihm Hilfsmaßnahmen, jedoch nicht Hilfe in jedem Notfall, nicht einmal bei seiner eigenen engeren Verwandtschaft.445 Grundsätzlich war die Zahl jener, die Ägypten zunächst als gewünschtes Exilland anstrebten, größer als jene, die es tatsächlich erreichten. Dies galt beispielsweise für den Klassischen Archäologen Karl Lehmann-Hartleben (1894–1960), der wegen seiner jüdischen Herkunft am 29. September 1933 von der Universität Münster entlassen wurde und Kairo als Möglichkeit ansah.446 Zunächst hielten er und seine Familie sich 1934 auf Einladung eines Freundes in Rom auf; er forschte an verschiedenen archäologischen Instituten zu römischen Villen. Ein Einkommen hatte er nicht, sodass die finanziellen Reserven schon im August dieses Jahres fast aufgebraucht waren und er beim AAC in England um ein Stipendium oder eine andere Form der Unterstützung nachsuchte.447 Mehr als 50 £ konnte der AAC ihm nicht zukommen lassen.448 Im Februar 1935 machte Lehmann-Hartleben das AAC darauf aufmerksam, dass er Kairo für einen „appropriate place“ hielt, weil an der dortigen Universität die Klassische Archäologie nicht vertreten sei. Problematisch sei, „to find a way there to a personality qualified“. Auch sei es nicht empfehlenswert, den Weg über einen an der Universität unterrichtenden deutschen Ägyptologen – womit er Hermann Junker meinte – zu wählen, und zwar aus „special and personal political reasons“.449 Über Ägypten war das AAC wenig informiert; das 445 So konnte er seiner Frankfurter Verwandtschaft nicht beistehen. Seine 86-jährige Tante Agnes Meyerhof (Malerin) wurde Mitte 1942 nach Theresienstadt deportiert, wo sie wenige Tage nach ihrer Ankunft verstarb. Sein Verwandter Friedrich Wilhelm Meyerhof (Kommerzienrat) besuchte ihn 1938 in Kairo, kehrte auf sein Anraten nicht nach Deutschland zurück, sondern emigrierte nach Kuba. Er lebte 1943 mit seiner Schwester Louise in Hollywood (USA), unterstützte Agnes Meyerhof bis zu ihrer Deportation. Brieftagebuch Meyerhof, 5. März 1943, S. 34 ( Privatbesitz). 446 Sohn von Karl Lehmann (Professor für Rechtswissenschaften Universität Rostock und Göttingen, gest. 1918) und Henni Strassmann (1862–1937), verheiratet (1920) mit Elwine Hartleben (1894–1944), drei Kinder, studierte in Tübingen, München, Göttingen, Berlin u. a. bei Noack, Wilamowitz, Woelfflin, Promotion 1922 in Berlin, 1929 Professur für Klassische Archäologie an der Universität Münster. Lehmann-Hartlebens Großvater Wolfgang Strassmann war liberaler Stadtverordneter in Berlin und Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses gewesen. BLO SC MS SPSL 182K. 447 Lehmann-Hartleben an AAC, August 1934. BLO SC MS SPSL 182K. 448 AAC an Lehmann-Hartleben, 3. Dezember 1934. BLO SC MS SPSL 182K. 449 Lehmann-Hartleben an AAC, 15. Februar 1935. BLO SC MS SPSL 182K.
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Land war auch nicht in das Angebot der Carnegie Corporation eingeschlossen, die innerhalb des „British Empire“ Stipendien an emigrierte Wissenschaftler vergab. Man wollte versuchen, auf anderem Wege mit der Kairener Universität in Verbindung zu treten.450 Ob dies tatsächlich bzw. mit welchem Ergebnis geschah, lässt sich den Akten nicht entnehmen. Jedenfalls zerschlug sich Lehmann-Hartlebens Vorhaben. Wenig später erhielt er vom „Arts Graduate Center“ der Universität New York das Angebot, dort für die Dauer zunächst eines Jahres als „Visiting Professor“ zu arbeiten, finanziert vom amerikanischen „Emergency Committee in Aid of Displaced German Scholars“.451 Die ihm parallel dazu angebotene Forschungsstelle an der Universität Durham, die dazu eigens Gelder gesammelt hatte, bedauerte er seiner Schwester Eva Fiesel zuliebe nicht antreten zu können.452 Für die Stelle in Durham empfahl Lehmann-Hartleben seinen Schüler Otto Brendel,453 der Deutschland wegen seiner „non aryan“ Ehefrau ebenfalls hatte verlassen müssen und nur noch bis Herbst 1935 in Rom eine Anstellung hatte.454
4.4.3 Hilfe für Nahestehende – Beispiel Borchardt Und immer weiter fort – das ist es ja auch, dass wir so in alle Winde zerstreut sind – wann, wo werden wir uns wiedersehen?! Aber es nützt ja alles nichts, und wir wollen uns und einander nicht weich machen, sondern die Zähne zusammenbeißen und sagen: Durch! Nun gerade! Wollen sehen, wo die ‚Herzen‘ sind, auf welcher Seite. (Mimi Borchardt an Else Oppler-Legband, 3. März 1939)
Dass Ludwig Borchardt sich um seine in Deutschland lebenden Geschwister, Verwandten und Freunde sorgte, kann mit Gewissheit angenommen werden. Sein 450 AAC an Lehmann-Hartleben, 22. Februar 1935. BLO SC MS SPSL 182K. 451 Lehmann-Hartleben an AAC, Rom, 10. Mai 1935. BLO SC MS SPSL 182K. 452 Lehmann-Fiesel (1891–1937), Sprachwissenschaftlerin und Etruskologin. Auf Einladung des Linguisten Edgar H. Sturtevant ging sie 1934 zusammen mit ihrer Tochter Ruth an die Yale Universität, wurde später Visiting Professor am Bryn Mawr College in Pennsylvania. Otto Wilhelm von Vacano: Fiesel, Eva, 1961, S. 143. 453 Brendel (1901–1973), Sohn des Kirchenrats Rudolf Brendel, verheiratet mit Maria Weigert (1902–1994); studierte ab 1920 Archäologie bei Ludwig Curtius in Heidelberg, Promotion 1928, 1931 Assistent von Ludwig Curtius am DAI Rom, 1935 Kündigung wegen Ehe mit „nicht-arischen“ Frau. 1936 nahm er, wie von Lehmann-Hartleben vorgeschlagen, die Stelle an der Universität Durham als „Research Fellow“ an. Von einer Vortragsreise, 1938, in die USA kehrte er nicht mehr nach Europa zurück. http://de.wikipedia.org/wiki/Otto_J._Brendel (19.02.2015). 454 Lehmann-Hartleben an AAC, Rom, 21. Mai 1935. BLO SC MS SPSL 182K. Lehmann-Hartleben blieb in den USA, wurde Direktor des Institute for Fine Arts in New York. Zudem leitete er den von ihm begründeten Archaeological Research Fund.
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Bruder Heinrich (1867–1935) lebte zu dieser Zeit noch in Berlin, war von Beruf Architekt, unverheiratet und ohne Kinder. Schwester Else (1865–1940) war ebenfalls unverheiratet, hatte aber einen Pflegesohn (Walter), der der Familie nicht unerhebliche Probleme bereitete. Elses Zwillingsschwester Rose verstarb bereits im Jahre 1900, eine andere Schwester kurz nach der Geburt. Heinrich und Else Borchardt teilten sich in Berlin eine Wohnung, bis sich der Bruder kurz nach 1933 entschloss, seinen Wohnsitz nach Rom zu verlegen. Der jüngste der BorchardtGeschwister war Georg (1871–1943), ein zu dieser Zeit unter dem Namen Georg Hermann erfolgreicher Schriftsteller. Deutschland verließ er kurz nach 1933, ließ sich schließlich im niederländischen Hilversum nieder. In erster Ehe war er verheiratet mit der Pianistin Martha Heynemann (1875–1954), mit der er die Töchter Eva (1903–1994), Hilde (1904–1998) und Liese (1906–1987),455 in zweiter mit Alice Samter (1896–1926), mit der er die Tochter Ursula (1919–2012) hatte. Spätestens seit der Veröffentlichung von Georg Borchardts Roman „Jettchen Gebert“ (1906) war das Verhältnis zwischen dem ältesten und dem jüngsten Borchardt-Sohn gespannt, offenbar, weil zu viel Familiengeschichte in den Roman eingeflossen war. Auch verübelte Ludwig Borchardt seinem Bruder, dass dieser seinen Familiennamen ablegte, stattdessen den Vornamen des verstorbenen Vaters Hermann456 wählte. Zu fast gänzlichem Beziehungsbruch führten dann Georgs Trennung von seiner Ehefrau Martha und die zweite Eheschließung. Spannungsfrei war auch die Beziehung zwischen Ludwig Borchardt und seiner Schwester Else nicht. Sie galt als unberechenbar, neigte zu aggressiven Ausfällen und konfrontierte die Geschwister immer wieder mit Geldforderungen. Nachdem sie sich ab 1933 hauptsächlich wegen ihres Pflegesohnes eine Zeitlang in Rapallo aufgehalten, dort für zahlreiche Zerwürfnissen bis hin zu polizeilich-behördlichen Verwicklungen gesorgt hatte, war ihres Bleibens dort nicht länger. Nach Beratungen mit Heinrich Borchardt entschieden Ludwig und Mimi Borchardt Anfang 1935, dass Else nach Berlin zurückkehren und dort in der Obhut eines Altenheims leben sollte. Mit diesen Plänen war Heinrich Borchardt keineswegs einverstanden, weil er es nicht verantworten wollte, die Schwester
455 Verheiratet mit dem Journalisten Walter Kuhnberg (gest. 1988). 456 Eltern: Hermann Borchardt (1830–1890) und Bertha Levin (1835–1911). Über die Herkunft von Hermann Borchardt liegen nur vage Angaben vor; als seine Mutter wird Johanna Kasper (1807–1877) angegeben. Bertha Levins Eltern: Heinrich Levin (1787–1856) und Henriette Bentheim (1801–1871). Angaben nach Auskunft der Familie G. Rothschild (England). Als „Stammvater“ der Familie wird der aus Köslin stammende Baruch genannt. Aus der Umformung dieses Namens entstand der Name Borchardt, wie sich Zweige der Familie in Halberstadt und Berlin nannten. Ein anderer Familienzweig nannte sich nach dem Herkunftsort Köslin, so der Grammatiker Chajim Köslin (gest. 1832 Stettin). Paul J. Jacobi: Geschichtliche Grundlagen, 1975, S. 120 f.
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möglichen Verfolgungen auszusetzen. Diese Gefahr sahen Ludwig und Mimi Borchardt zwar, glaubten aber dennoch, dass Else in einer ihr vertrauten Umgebung besser aufgehoben sei als beispielsweise in Meran. Zudem meinten sie Elses finanzielle Transaktionen dort besser kontrollieren zu können und dass im Krankheitsfall Friedel Oppler-Rubensohn sorgen werde.457 Verzweifelt, aber vergebens versuchte Heinrich, seinen Bruder und dessen Ehefrau von ihren Plänen abzubringen, auch weil er davon ausgehen musste, dass diese sich ein falsches Bild von den in Deutschland herrschenden Zuständen machten. Dabei erinnerte er an die bekannten „Frankfurter Juden-Ausschreitungen“, die wie so viele andere Vorkommnisse bewiesen, dass „der Jude als vogelfrei anzusehen ist“.458 Mimi Borchardts Deutschlandbild musste er korrigieren. Während sie „das augenblickliche Deutschland (für) eine Zwangsanstalt für Jud und Christ“ hielt, befand er, dass dieses Deutschland für Christen oder Juden keineswegs dasselbe bedeutete. Für erstere sei es eine „leichte Haft“, für Juden aber „Zuchthaus“. Schließlich hielt er seiner Schwägerin vor, weiterhin zu Deutschland zu stehen, obwohl sie es in Wirklichkeit nicht mehr kenne.459 „Wir sind in eine Episode Deutschlands hineingeboren, in der es den Anschein hatte, als ob wir Juden willig in es aufgenommen würden. Dass ein Widerstreben aber vorhanden war, zeigt Dir Stöcker gut, zeigt die Nichtaufnahme der Juden ins Offizierskorps, sehr Vieles. (…) Nach dem Krieg gaben die Juden dann die Prügelknaben von 1918 ab, wurde aufs Kräftigste gegen sie gearbeitet und ganz besonders wurde die Jugend dafür genommen. Die Regierung in ihrem Legalitätstaumel – ich meine damit in ihrer Angst nur nichts zu tun, was irgendwie nicht gesetzlich sein könnte – also z. B. diese freie Meinungsäußerung über das Judenpack – tat so gut wie nichts dagegen. (…) Und jetzt? Die ganze, ganze Jugend steht gegen uns. Die Jugend ist die Zukunft – unsere Zukunft in Deutschland. Unser Kampf ist verloren. Es sind 16 Jahre, dass die Jugend ganz gegen uns ist, die Kinder von damals sind Männer und keine Hand hat dem Nachwuchs einen andern Weg gewiesen – es sei denn einer, der sich noch mehr von uns abwendet.“ Heinrich Borchardt sah die Zukunft in düstersten Farben, wagte es erstmals, gegen das noch immer schöngefärbte Deutschlandbild seiner Schwägerin zu opponieren. Dass sie sich ebenso Illusionen hingab wie ihr Ehemann, war für ihn evident. Der sonst so zurückhaltende und harmoniebedürftige Heinrich Borchardt hielt nicht mehr mit offenen Worten zurück, auch um die Argumente seines Bruders für die Rückkehr der Schwester nach Berlin zu entkräften. Ludwig Borchardt war bewusst, dass „die Juden, so lange diese Regierung an der Macht 457 MB an H. Borchardt, 28. Januar 1935. SIK MB 59/5. 458 H. Borchardt an MB, 9. Januar 1935. SIK MB 59/5. 459 H. Borchardt an MB, 7. Februar 1935. SIK MB 59/5.
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ist, aus allen Berufen herausgeworfen werden“. Andererseits meinte er sicher sein zu können, dass man in Deutschland nach wie vor leben könne, weil dies der „Normalbürger“ ja auch tue. Freilich mildere dies nicht den auf ihm lastenden Druck, denn „in Deutschland (werde) eine Kultur zerstört“, was ihn auch in Ägypten nicht „frei atmen“ lasse.460 Heinrich Borchardt hielt dem entgegen, dass Ludwig und Mimi Borchardt durchaus nicht als „Normalbürger“ zu betrachten seien; allein aufgrund ihrer Wohlhabenheit hätten sie eine völlig andere „Lebenssicht als der Normalbürger“. Anders als sein Bruder annehme, befände sich die Mehrzahl der gezwungenermaßen noch in Deutschland lebenden Juden in einem „Ghetto“, empfinde „wehrlose Wut über die tiefe Demütigung“.461 Dies war eine herbe Kritik, entbehrte aber nicht der Grundlage. Denn wenn Ludwig und Mimi Borchardt sich besuchsweise beispielsweise in Berlin aufhielten, mussten sie nicht mit einer billigen Unterkunft vorlieb nehmen, sondern stiegen im noblen Hotel Eden ab. Für „Normalbürger“ war dies ein unerschwinglicher Luxus, für das Ehepaar Borchardt eine Selbstverständlichkeit. Auch Anderes verwies auf Realitätsferne, so der mehrfach von Mimi Borchardt ihrem Schwager gemachte Vorwurf, er habe nicht regelmäßig geschrieben. Seinen Verweis auf die zunehmend rigide Briefzensur wollte sie zunächst nicht gelten lassen. Für Heinrich Borchardt war es eine mehrfache Befreiung, Deutschland verlassen zu können und in Rom zwar ein sehr bescheidenes, aber verhältnismäßig unbelastetes Leben führen zu können. Schwer hatte er unter dem mehr als zwanzig Jahre währenden Zusammenleben mit seiner Schwester Else gelitten, darüber kaum je mit seinen Geschwistern gesprochen. Vor allem Ludwig und Mimi Borchardt hielten stets eine schützende Hand über Else, zürnten Heinrich, wenn er nicht in ihrem Sinne mit ihr umging. Dass ein dunkles Geheimnis die Schwester jahrelang umschwebte, verschwieg Heinrich, Ludwig und Mimi Borchardt ahnten es, sprachen aber nicht darüber.462 Erst in Italien wagte es Heinrich, das Geheimnis zu lüften. Wie alle materiellen Güter wollte er auch diese Belastung von sich werfen, wenn auch schweren Herzens. Tatsächlich hatte Mimi Borchardt geahnt, dass die Beziehung zwischen Else und ihrem Pflegesohn mehr war als eine Mutter-Sohn Beziehung, aber nie ein Wort darüber verloren. Auch Heinrich fiel es schwer, die passenden Worte zu finden, sah sich aber in der Pflicht, seine Schwester vor den Erpressungen des Pflegesohnes zu schützen. Dies war nur möglich, wenn das Geheimnis keines 460 LB an H. Borchardt, (Deutsches Haus Theben) 2. Januar 1935. SIK MB 59/5. 461 H. Borchardt an MB, 18. Dezember 1934. SIK MB 59/5. 462 Wie H. Borchardt am 18. Dezember 1934 an MB schrieb, hatte er jahrelang geschwiegen, um seine Schwester nicht zu blamieren. Von den Erpressungen Walters wusste er nur zum Teil, weil Else sich heimlich mit dem Pflegesohn traf. SIK MB 59/5.
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mehr war und Else dem Zugriff Walter Borchardts entzogen wurde. Dass dies aber nicht notwendigerweise durch ihre Unterbringung in einem Berliner Altersheim geschehen musste, was Else als Demütigung und Schande verstand, stand für Heinrich Borchardt fest. Gegen den Willen seines Bruders und seiner Schwägerin aber konnte er sich nicht durchsetzen. Else zog wieder nach Berlin. Ihre Klagen rissen nicht ab, ihres Bleibens war nirgendwo lange, weil sie es verstand, sich an jedem Ort binnen Kurzem erbitterte Feinde zu machen. Auch konnte sie kaum auf Beziehungen zu Verwandten oder Freunden zurückgreifen, weil diese nie eng gewesen waren und etliche Deutschland schon verlassen hatten. Bis zu ihrem Tod im Jahre 1940 hielt sie sich in wechselnden Pflegeheimen Berlins auf. Georg Borchardt suchte nie die Nähe zu seiner Schwester. Im März 1933 emigrierte er in die Niederlande, fand Unterschlupf zunächst bei seinem Verleger Emanuel Querido in Amsterdam, dann in Laren und schließlich in Hilversum.463 Seine geschiedene Ehefrau Martha Heynemann verließ Deutschland zusammen mit Tochter Liese im April 1934, Tochter Ursula war schon im April 1933 zu ihrem Vater gebracht worden. Trotz erheblicher Bemühungen konnte Georg Borchardt in den Niederlanden nicht mehr an seine früheren Erfolge anknüpfen, was seine Finanzreserven rasch zur Neige gehen ließ. Wiederholt wandte er sich deshalb an seinen Bruder und seine wohlhabende Schwägerin in Kairo. Nur zögerlich ging Ludwig Borchardt auf die Bittgesuche des Bruders ein, weil er ihn für wenig initiativ, faul und bequem hielt, zudem dessen vorher gepflegten Lebensstil verurteilte. Auch klafften die politischen Überzeugungen der Brüder schon seit Jahren weit auseinander, stimmten lediglich in der Ablehnung des Zionismus überein.464 Dennoch hatte Georg Borchardt immer Wert darauf gelegt, dass seine Töchter Eva, Hilde und Liese den Kontakt zu ihren Kairener Verwandten pflegten – die Existenz von Tochter Ursula wurde von Ludwig und Mimi Borchardt konsequent ignoriert -,465 nicht zuletzt in der Hoffnung auf finanzielle Unterstützung. Besonders während und unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg sprangen Ludwig 463 Arpe Caspary: Biographische Monographie, o.J. Seit 1931 lebte Georg Borchardt in einer in der Künstlerkolonie Laubenheimerstraße in Berlin gelegenen Wohnung. Tochter Ursula zog Ende 1931 von Heidelberg nach Berlin, verbrachte dort, weil ihr Vater sich wenig um sie kümmerte, eine unangenehme Zeit. G. Borchardt teilte seine Wohnung mit seiner ersten Ehefrau und Tochter Liese, in demselben Haus lebte auch seine Tochter Hilde zusammen mit ihrem Freund Werner Liebmann von Köln. Shulamith’s Tapes (unveröff. Manuskript), o.J., S. 4–9. 464 „Der Zionismus und Palästina sind ein Zurückdrehen der Uhr um Jahrhunderte für den europäischen Juden – auch wenn scheinbar der Einzelne dort ganz nett und kultiviert noch ist“, schrieb G. Borchardt am 25. April 1936 an Tochter Hilde. Zitiert nach Laureen Nussbaum (Hrsg.): Georg Hermann, 1991, S. 94. 465 Ursula Borchardt (= Shulamit ben Dror): „I never knew Uncle Ludwig, the Egyptologist, because being straight-laced, he did not approve of Pep’s second marriage, and did not, therefore,
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und Mimi Borchardt wiederholt ein, um Martha Borchardt und ihren Töchtern in Neckargemünd den Lebensunterhalt zu sichern. Auf derartige Hilfe hoffte Georg Borchardt nun auch in seinem niederländischen Exil. Im Juli 1934 teilte er seiner seit Ende 1932 in Kopenhagen lebenden und in einem Antiquitätenladen arbeitenden Tochter Hilde466 die Schweizer Ferienadressen von Ludwig Borchardt und Heinrich Borchardt mit – von beiden erhoffte er sich Unterstützung.467 Doch Heinrich Borchardt, auf den Georg Borchardt große Stücke hielt, verfügte über ein nur begrenztes finanzielles Budget, bedurfte auch wegen seiner schwachen Gesundheit häufiger ärztlichen Betreuung. Als er im Mai 1935 in Rom unerwartet verstarb, erfuhr Georg Borchardt dies von seinem Bruder Ludwig telefonisch, hätte zwar die schriftliche Form für angemessen gehalten, wunderte sich aber nicht, weil er seinem Bruder das „Gemüt eines Schlächterhundes“ zuschrieb. Er spekulierte auf einen Teil von Heinrichs aus Bargeld, Antiquitäten und Immobilien bestehenden Erbe.468 Ob seine Geschwister ihm dies zukommen lassen würden, bezweifelte er angesichts der „Zartheit ihrer Herzen“. Die Vermutung war nicht unbegründet, seine Schwägerin ließ ihn wissen, dass Heinrichs Besitz „ziemlich bei Freunden und Bekannten herumgestreut“ sei. Schließlich stellte sich heraus, dass Heinrich seine Schwester Else testamentarisch zur Universalerbin erklärt hatte, allerdings mit der Einschränkung, dass sie ohne die Zustimmung von Ludwig und nach dessen Tod Mimi Borchardt süber nichts verfügen durfte. Als Nacherben waren Georgs Töchter Eva, Hilde und Liese eingesetzt.469 Im Ausland accept me. In his eyes, I was the reason for Peps having divorced Mu. Uncle Ludwig never ever wanted to get to see me, and, when the opportunity to meet me came up, refused to do so. (…) I never met Aunt Mimi, but know that she was from a wealthy family, with a major stake in a bank that is well known in the USA – Kuhn and Loeb.“ Shulamith’s Tapes (unveröff. Manuskript), o.J., S. 4. Von seiner Familie wurde G. Borchardt „Peps“ genannt, Martha Borchardt „Mu“. 466 Sie war Mitglied der Kommunistischen Partei, fühlte sich deshalb in Deutschland nicht mehr sicher und sah voraus, dass die Nationalsozialisten sie als Kommunistin und Jüdin verfolgen würden. In Kopenhagen wurde sie von Henning Aschenberg unterstützt; um die dänische Staatsbürgerschaft zu erhalten, ging sie eine Scheinehe mit Aschenberg ein. Ursprünglich hatte sie Schaufensterdekorateurin werden wollen (vielleicht inspiriert von Else Oppler-Legband); in Dänemark wurde sie zur Physiotherapeutin ausgebildet. Nach ihrer Scheidung heiratete sie Villum Hansen (1913–1987), der Mitglied der dänischen kommunistischen Partei war. Shulamit ben Dror (= Ursula Borchardt): Hilde, Villum, Heinz und Will (unveröff. Manuskript), o.J., S. 1. 467 28. Juli 1934. Zitiert nach: Laureen Nussbaum: Georg Hermann, 1991, S. 38. LB hielt sich in Zürich auf, Heinrich in Basel (Hotel Krafft am Rhein). 468 Von seiner Schwester Else Borchardt hielt Georg nicht viel. G. Borchardt an Hilde, 6. Mai 1935. Zitiert nach Laureen Nussbaum: Georg Hermann, 1991, S. 64. 469 Das Ordnen des Nachlasses in Rom übernahm der Berliner Vetter Heinrich Lewin. G. Borchardt an Hilde, 9. Juli 1936. Zitiert nach Laureen Nussbaum: Georg Hermann, 1991, S. 102.
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befanden sich einige Antiquitäten Heinrichs, was sich noch in Deutschland an Werten befand, wusste Georg nicht.470 Er nahm dies mit Bitterkeit auf, denn nur acht Tage vor seinem Tod hatte Heinrich ihm geschrieben, er hoffe, dass Georg nun endlich aus den Finanzsorgen herauskomme und ihn bald in Rom besuchen könne. Testamentarisch aber hatte Heinrich seinen jüngeren Bruder nicht einmal mit „einem alten Hut oder einem alten Topp“ bedacht.471 Ob Georg Borchardt jemals erfuhr, dass sein Bruder noch im Februar 1935 angesichts der Dauerquerelen mit seiner Schwester geplant hatte, sein Testament zu ihren Ungunsten zu ändern, lässt sich nicht überprüfen. Heinrich Borchardt war sich sicher, dass der Pflegesohn sich skrupellos an dem Erbe bereichern würde, falls Else nicht zumindest unter Vormundschaft gestellt würde, also nicht frei über das Geld verfügen konnte.472 Mag sein, dass Heinrich nicht mehr die Zeit fand, sein Testament zu ändern. In aller Offenheit hatte er noch im Februar 1935 seiner Schwägerin Mimi Borchardt gestanden, dass Else „die Giftwolke“ über seinem Leben war. Er hatte nur deshalb immer zu der Schwester gehalten, um dem letzten Willen seiner Mutter zu entsprechen.473 Georg Borchardts Finanzprobleme spitzten sich zu. Zinszahlungen, die er zuvor regelmäßig aus Polen erhalten hatte, trafen nur noch unregelmäßig und in geringer Höhe ein. Honorare erhielt er kaum noch, Film-, Theater- und Vortragsprojekte zerschlugen sich so rasch wie sie als Hoffnungsschimmer aufgetaucht waren. Tochter Hilde beauftragte er fortwährend, für die Verfilmung einzelner Romane zu sorgen, etwaige Zahlungen auszuhandeln. Aus all dem wurde selten etwas, weil Georg Borchardts Werke international kaum noch auf Interesse stießen. In Deutschland zählte er zu den geächteten Literaten, seine Bücher zu den verbrannten. Angesichts dieser Bedrückungen nahm er die Geburt seines zweiten Enkelkindes474 – im März 1936 hatte seine älteste Tochter Eva in Berlin Sohn Georg
470 G. Borchardt an Hilde, Herbst 1935. Zitiert nach Laureen Nussbaum: Georg Hermann, 1991, S. 68. 471 Später erfuhr G. Borchardt, dass sich einige Stücke aus Heinrichs Kunstsammlung in der Schweiz befanden. G. Borchardt an Hilde, 29. Dezember 1935. Zitiert nach Laureen Nussbaum: Georg Hermann, 1991, S. 78. 472 Angesichts der unübersichtlichen Geldtransaktionen seiner Schwester und der Tatsache, dass Pflegesohn Walter diese erpresste, wollte er sein Testament ändern. Alarmiert hatte ihn, dass Walter Borchardt herumerzählt hatte, ein Onkel von ihm sei verstorben und habe ihm 50.000 L hinterlassen. H. Borchardt an MB, 4. Februar 1935. SIK MB 59/5. 473 H. Borchardt an MB, 7. Februar 1935. SIK MB 59/5. 474 Ältestes Kind von Eva und Siegfried Rothschild war Beate (1931–1992), die 1957 Richard Sharples (geb. 1932) heiratete. Aus dieser Ehe gingen die Kinder Tony, Jeanette und John hervor. G. Borchardt an Hilde, 13. Juli 1936. Zitiert nach Laureen Nussbaum: Georg Hermann, 1991, S. 103.
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Hermann475 zur Welt gebracht – mit sehr gemischten Gefühlen auf, fragte sich, ob dies noch die Zeit sei, „um Menschen in die Welt zu setzen“.476 Immerhin schienen seine Tochter, ihr Ehemann Siegfried Rothschild (1895–1963)477 und die Kinder materiell einigermaßen gesichert, weil sie von Ludwig und Mimi Borchardt unterstützt wurden.478 Um den Bruder bzw. Schwager kümmerten sich die beiden nicht in demselben Maße, so jedenfalls vermutete es Georg Borchardt. Zweimal zwang er sich, bei seinem Bruder um eine finanzielle Zuwendung einzukommen, zweimal erhielt er enttäuschende Abfuhren.479 „Auf das Genaueste“ hatte er seine „hiesige Lage und meine hiesigen Einnahmen“ geschildert, damit sein Bruder ihn nicht für faul hielt und ihm deutlich wurde, dass Georgs „Bücher verbrannt sind“, er in Deutschland „gefährdet“ und fast 65 Jahre war, also „nicht mehr mit Schuhbändern hausieren gehen“ konnte. Dass sein Bruder und seine Schwägerin ihm feindlich gesinnt oder grundsätzlich nicht unterstützungsbereit waren, unterstellte Georg Borchardt nicht. Denn nachweislich halfen die beiden etlichen, ihnen wesentlich „ferner“ stehenden Menschen. Nur Georg Borchardt wusste nicht begreiflich zu machen, dass eine finanzielle Unterstützung ihn auf Dauer unabhängig machen und sichern würde. Mit einem dritten „Brandbrief“ an seinen Bruder hatte Georg Borchardt schließlich Erfolg. Ludwig Borchardt ließ seinem Bruder Geld zukommen, allerdings mit der Bemerkung, dass er unmöglich einen ständigen Zuschuss geben könne. „Er gibt, wie er schrieb, 1/3 seines Verbrauchs weg, an den größten Teil seines Vermögens in D kann er selbst nicht mal heran“.480 Aus Georg Borchardts Sicht war sein Bruder zu kaltherzig, um die wirklichen Nöte zu sehen und entsprechend zu handeln. Dass dies nicht der Fall war, legen Ludwig Borchardts Briefe offen. Seinem langjährigen Bekannten Alfred Wiener (1885–1964) schilderte er in Zürich bekümmert das Schicksal seines Bruders. Auch Mimi Borchardt ließ es nicht kalt, erstmals äußerte sie sich positiv über Georgs schriftstellerische Leistungen. Wirklich „überquer“ war man sich nicht.481
475 Erste Ehe mit Jenny Jarmin (Kinder: Debbie, Peter, David, Stephen), zweite mit Katjalene (Sohn Samuel). 476 8. März 1936 an Hilde. Zitiert nach Laureen Nussbaum: Georg Hermann, 1991, S. 87. 477 Stammte aus Schwetzingen, studierte Chemie in Heidelberg, wo er auch promoviert wurde (Angaben an Verfasserin durch seinen Sohn George Rothschild). 478 8. März an Hilde. Zitiert nach Laureen Nussbaum: Georg Hermann, 1991, S. 88. 479 G. Borchardt an Hilde, 13. Juli 1936. Zitiert nach Laureen Nussbaum: Georg Hermann, 1991, S. 103. 480 G. Borchardt war es zuwider, „bei den Unterstützungskomitees, die mir mal halfen früher vor zwei, drei Jahren, wieder rumzuschnorren“. G. Borchardt an Hilde, 23. Juli 1936. Zitiert nach Laureen Nussbaum: Georg Hermann, 1991, S. 104. 481 G. Borchardt an Hilde, 29. Oktober 1936. Zitiert nach Laureen Nussbaum: Georg Hermann, 1991, S. 111.
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Dies änderte sich im Laufe von Georg Borchardts Exiljahren. Anfang 1937 beklagte er, sein Bruder und seine Schwägerin wollten sich nicht bereitfinden, „die lausigen 60 Gulden (das sind 80 Mark heute!), die nötig sind, um die Karre hier im Laufen zu halten, wenigstens so lange, bis ich sie nicht mehr brauche (…) mir beizusteuern. Dabei wissen sie genau, ich sitze hier bei schlechter Gesundheit und ohne eine Hilfe, wasch mir das Geschirr, kaufe ein, schleppe mir die Kohlen und kehre – wenn überhaupt! – die Zimmer selbst“.482 Andererseits kümmerten sie sich intensiv vor allem um Eva Borchardt-Rothschild und ihre Familie, die Anfang 1938 zu Georg Borchardt nach Hilversum zogen. Siegfried Rothschild reiste am 26. Mai 1938 zwecks Vorbereitung der Emigration nach London.483 Reibungslos verlief dies nicht, Rothschild wurde die Einreise verweigert, obwohl er im Besitz eines Visums war. Unverrichteter Dinge kehrte er in die Niederlande zurück.484 Als Ludwig Borchardt wenige Wochen später unerwartet verstarb, verloren auch die Kinder von Georg Borchardt einen ihrer wichtigsten Unterstützer. Georg warf die Nachricht mehr aus der Bahn als er erwartet hatte.485 Eva Borchardt-Rothschild wusste, wie sehr ihrem Onkel Ludwig an ihr gelegen war und wie wichtig seine Unterstützung bei ihrer geplanten Emigration sein würde. Ab Januar 1933 hielt sie ihn kontinuierlich auf dem Laufenden, bat schließlich um seine Hilfe. Im Frühjahr 1933 hatten sie und ihre Familie Heidelberg ohne Zukunftsperspektive verlassen müssen.486 Ihren Onkel in Kairo bat sie, zugunsten von Siegfried Rothschild tätig zu werden. Dabei hatte sie zunächst
482 G. Borchardt an Hilde, 26. Februar 1937. Zitiert nach Laureen Nussbaum: Georg Hermann, 1991, S. 123. 483 G. Borchardt an Hilde, 17. Mai, 27. Mai 1938. Zitiert nach Laureen Nussbaum: Georg Hermann, 1991, S. 154 f. 484 G. Borchardt an Hilde, 27. Mai 1938. Zitiert nach Laureen Nussbaum: Georg Hermann, 1991, S. 156 f. Am 11. November 1938 berichtete G. Borchardt seiner Tochter Hilde, Siegfried R. halte sich seit ein paar Wochen in England auf, habe eine „sehr gute Stellung bei einer 104 Jahre alten chemischen Fabrik als der Leuchtfarbenchemiker“ erhalten. Im Dezember 1938 wartete Eva noch auf das „permit“, im Januar 1939 konnte sie ausreisen. Trotz des zermürbenden Wartens hatten die neun Monate Aufenthalt bei Georg Borchardt zumal den Kindern gut getan, Enkelin Beate fiel der Abschied sehr schwer. G. Borchardt an Hilde, 27. Dezember 1938, Februar 1939. Zitiert nach Laureen Nussbaum: Georg Hermann, 1991, S. 163, 167. Ob Georg Borchardt die tatsächlichen Hintergründe der Emigration kannte oder ob er glaubte, sie gegenüber seiner Tochter nicht erläutern zu müssen, lässt sich nicht klären. Zur Korrespondenz LB – Georg Borchardt gewährte das SIK keinen Zugang. 485 Unmittelbar danach erlitt Georg Borchardt eine Herzattacke (14. Oktober 1938 an Tochter Hilde). Zitiert nach Laureen Nussbaum: Georg Hermann, 1991, S. 158. 486 Eva R. hielt sich bei Bekannten in Ziegelhausen (Kleingemünderstraße 6b) bei Heidelberg auf, um ihren Vater zu besuchen und ihren eigenen Hausstand aufzulösen. E. Rothschild an LB, 8. Mai 1933. SIK LB.
4.4 Juden und Jüdinnen
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Ägypten im Blick, eine Hoffnung, die Ludwig Borchardt enttäuschen musste.487 Denn man lasse weder jüdische Ärzte noch Rechtsanwälte, geschweige denn Angehörige anderer Berufsgruppen ins Land.488 Vielmehr habe die „ägyptische Regierung (…) in einem ihr nahestehenden Blatte mitteilen lassen, dass sie unter den jetzigen misslichen Wirtschaftsverhältnissen hier gar nicht daran dächte, irgendwelche Erleichterungen für die Niederlassung fremder Ärzte zu schaffen, um nicht den zahlreichen einheimischen Konkurrenz zu schaffen. Bei Anwälten ist die Regierung nicht zu befragen, aber da ist ein Stagiaire von drei Jahren nötig, um zugelassen zu werden“. Immerhin habe sich ein jüdisch-ägyptischer Hilfsausschuss gebildet, der irgendwo und -wie Stellen schaffen wolle, „aber seine Tätigkeit bzw. sein Erfolg wird sich sicher nur in allerengsten Grenzen halten können“. Es ging Ludwig Borchardt nicht darum, seine Nichte zu entmutigen, sondern ihr Klarheit zu verschaffen und Enttäuschungen zu ersparen. Außerdem war er davon überzeugt, dass Siegfried Rothschild nichts allzu Negatives widerfahren würde, weil er ja am gesamten Weltkrieg teilgenommen habe und deshalb nicht schnell „abgebaut“ werde. Bis dieser Fall einträte, werde sich wieder manches geändert haben.489 Mag sein, dass er auch deshalb Ägypten nicht als ernsthafte Emigrationsoption ins Auge fasste, sich mit intensiven An- und Umfragen nicht allzu sehr exponieren wollte. Denn noch beobachtete Borchardt das politische Geschehen in Deutschland einigermaßen mit Gelassenheit, auf einen baldigen erneuten Wandel bauend, und stand mit dieser Haltung nicht allein. Sogar sein deutlich kritischerer Bruder Georg unterschätzte letztlich die vom nationalsozialistischen Deutschland ausgehenden Gefahren. Borchardts eigene Arbeiten wurden in Ägypten nach wie vor nicht behindert, regelmäßig nutzte er während seiner Grabungen im Dezember und Januar jeden Jahres das Deutsche Haus in Theben als Unterkunft, wenngleich niemals zeitgleich mit andern deutschen Wissenschaftlern.490 Dass sich auch für die in Europa befindliche Familie Borchardt die Situation zunehmend bedrohlich entwickelte, erfuhren Ludwig und Mimi Borchardt zunächst nur bruchstückhaft und brieflich. Nichte Eva hatte schon in Heidelberg einen ‚Vorgeschmack‘ auf das zu Erwartende erhalten. Bereits um 1930 war die Stimmung an der Universität antisemitisch aufgeladen. Professoren jüdischer Herkunft wurden unmittelbar nach Erlass des Gesetzes zur „Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ (7. April 1933) der Universität verwiesen. 487 Beiliegend Foto von Beate Rothschild. 488 LB an E. Rothschild, 19. Mai 1933. SIK LB. 489 MB sei noch „ganz auseinander“ wegen des Tods ihrer Schwester Sophie am 13. Mai 1933. 490 Jahresberichte des DAIK ab 1933. DAIK DhiTh2.
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Das präzisierende und erweiternde Gesetz vom 21. Januar 1935 führte zur grundsätzlichen Umstrukturierung der Universität. Nach dem Gesetz vom 15. September 1935 waren schließlich auch solche Lehrenden von Entlassung betroffen, die im Ersten Weltkrieg als Soldaten gedient hatten. Darüber hinaus galt die Ehe mit einem Juden oder einer Jüdin als hinreichender Grund für Entlassung. Ende 1936 waren infolge der erwähnten Gesetze 247 (24,3 %) Unterrichtende der Universität entlassen, darunter die Naturwissenschaftler und Professoren Otto Meyerhof, Arthur Rosenthal, Wilhelm Salomon Calvi, Gerta von Ubisch und auch Siegfried Rothschild.491 Zunächst stand die Familie Rothschild nicht gänzlich mittellos da, denn Siegfried erhielt eine befristete Anstellung bei der Berliner Auergesellschaft.492 Im Sommer 1936 trafen sie sich kurz mit Ludwig und Mimi Borchardt in Berlin.493 Dieses Treffen hatte nachhaltige Konsequenzen. Von da an setzte Ludwig Borchardt die ihm zur Verfügung stehenden Hebel in Bewegung, um seinen Verwandten Hilfe zukommen zu lassen, wobei er, wie auch in andern Fällen, vornehmlich auf ägyptologische Netzwerke zurückgriff, also auf zuverlässige Bekannte und Vertraute. Prominente Rollen spielten dabei neben Robert Mond (1867–1938)494 auch Alfred Wiener und David Cohen (1882–1967).495 Den Althistoriker und Papyrologen Cohen hatte Borchardt einige Jahre zuvor bei einem Kongress in Leiden kennengelernt, später mit ihm eine ägyptologische Ausstellung aus Privatbesitz zusammengestellt.496 Von 1924 bis 1926 besetzte Cohen eine Professur für Althistorie an der Universität Leiden, war dann bis 1953 ordentlicher Professor für Alte Geschichte an der Universität Amsterdam. Ab 1904 engagierte er sich in der zionistischen Bewegung, war Sponsor des jüdischen Jugendbundes und des zionistischen Studentenverbandes. Während der NS-Zeit gehörte er zum Vorstand des Judenrats der Niederlande, war Mitglied des Jüdischen Rats in Den Haag und Amsterdam. Ab 1933 war er Vorsitzender des 491 Arye Carmon: The Impact, 1976, 1976, S. 131–141. 492 Zurückgehend auf den Österreicher Carl Auer Freiherr von Welsbach (erfand 1885 den Glühstrumpf = „Auerstrumpf“), Unternehmen zur Herstellung von Gasglüh- und Metallfadenlampen. Nach 1920 erwarb sich das Unternehmen einen weltweiten Ruf als Hersteller von Pressluft-Atemschutzgeräten für Feuerwehren. 1934 wurde die Auergesellschaft an die Degussa angegliedert, entwickelte 1935 die Leuchtstoffröhre. 493 Von Berlin-Karlshorst (Gundelf Str. 25) aus unterrichtete Rothschild am 13. Juli 1936 LB von der Geburt des Sohnes Georg, Eva schickte am 16. August 1936 Fotos, die sie wegen der Abreise von LB und MB aus Berlin nicht mehr hatte übergeben können. 494 Zu Mond vgl. Kap. 1. 495 Überzeugter Zionist. J.C.H. Blom/ J.J. Cahen: Joodse Nederlanders, 1995, S. 298; R. Romijn: De Oorlog, 1995, S. 320–322, 328, 330–346; F.C. Brasz: Na de Tweede Wereldoorlog, 1995, 373 f. 496 Cohen wohnte in der van Breestraat 172, Amsterdam-Zuid.
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Unterausschusses Flüchtlinge des von ihm initiierten Komitees für besondere jüdische Angelegenheiten, gehörte ab 1934 dem ständigen Ausschuss der aschkenasischen Gemeinden an.497 Weil die Zeit drängte, wandte Borchardt sich zunächst an den ihm seit etwa vierzig Jahren bekannten und vertrauten Robert Mond, wie er Rothschild am 11. Februar 1937 von Kairo aus mitteilte. Ihm war bekannt, dass Mond in der chemischen Industrie Englands eine bedeutende Rolle spielte und besonderes Interesse an Photochemie hatte. Dass Mond sich nach wie vor in Wort und Schrift des Deutschen bediente, erleichterte die Kommunikation. Borchardt hatte richtig vermutet, dass Mond seine Unterstützung zusichern würde, was umso bedeutender war, als dessen Bruder Alfred während des Ersten Weltkriegs Minister gewesen war und er selbst als jemand galt, der sich „für die jüdischen Belange in Palästina besonders interessiert“. Auch deshalb sollte Rothschild auf Borchardts Rat hin in seinem Brief an Mond einige Bemerkungen über seine Haltung zum Zionismus einfließen lassen, obgleich er vermutlich kein Zionist sei. Mehr als ein vager Hoffnungsschimmer war dies dennoch nicht, auch wenn er für Rothschild eine erste Erleichterung bedeutete.498 Nur mühsam und langsam ließen sich die bürokratischen Hürden überwinden, was Borchardt von Kairo aus mit Ungeduld beobachtete. Nichte Eva wies beschwichtigend darauf hin, dass ihr Ehemann noch bis zum 1. April 1938 ein Stipendium der Auergesellschaft bezog, sich außerdem an die Philips Werke in Eindhoven gewandt hatte.499 Im Spätherbst 1937 reiste Eva zu ihrer Mutter und ihrer Schwester Liese nach Amsterdam-Zuid (Trompenburgstr. 36), wo sich zu dieser Zeit auch ihr Vater aufhielt und von wo aus sie Borchardt am 6. November berichtete, ihr Ehemann habe sich mehrfach bei Direktor Driesen in Frankfurt beworben, was sich aber zerschlagen habe, weil das Unternehmen von einem „Neuen“ übernommen worden sei. Gemeint war die Frankfurter jüdische Schule Philanthropin, dessen Direktor Otto Driesen von 1921 bis April 1937 war.500 Bis Ostern 1938 unterrichtete Rothschild vertretungsweise an einer Berliner Schule in der Großen Hamburgerstraße. Bei Philips in Eindhoven hatte er am 30. Juli 1937 bei dem Chemiker Jan Hendrik de
497 Zu Cohen vgl. Kap. 1. 498 S. Rothschild an LB, 7. März 1937. Zugleich wies er auf die desolate Situation und die zunehmend schlechte körperliche Verfassung seines Schwiegervaters hin, worüber man wahrscheinlich schon im Sommer 1936 in Berlin gesprochen hatte. SIK LB. 499 Den beiden Kindern ging es nach wie vor gut, Beate war mathematisch sehr begabt, Georg noch „entzückend blöd“. Eva legte Fotos bei. Eva Rothschild an LB, 12. August 1937. SIK LB. 500 Driesen, geb. 1875 Segnitz, arbeitete vor 1921 u. a. im Diplomatischen Dienst. Kurz vor Ausbruch des Krieges floh er nach Frankreich, wurde von dort zusammen mit seiner Ehefrau Paula nach Sobibor deportiert. Todesdatum ist unbekannt. ISGF S2 9454.
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Boer (1899–1971),501 Leiter der wissenschaftlichen Abteilung, angefragt, am 7. August Antwort erhalten. Deshalb sollte Ludwig Borchardt die Adresse von Cohen in Amsterdam angeben, Eva wollte ihn besuchen. Borchardt hatte diesen Besuch bereits angekündigt – „Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie Frau Dr. R. empfangen wollten“ -, auch „alle Einzelheiten“ ihrer Situation geschildert, damit Cohen Rothschilds Bewerbung unterstützen konnte und wollte, was nicht unwahrscheinlich war, denn Cohen setzte sich für die aus Deutschland vertriebenen Juden ein, was Borchardt, ebenso wie Alfred Wiener, sehr an ihm schätzte. Eva sollte Cohen nochmals das Nötige erklären, dabei aber bedenken, dass er Zionist sei. Ihre größte Hoffnung knüpfte zumal Eva Rothschild an die am 27. Februar 1937 an Robert Mond gerichtete Bewerbung. Dass sie Deutschland schnellstens verlassen musste, war ihr überdeutlich. Parallel kommunizierte Borchardt wegen Rothschilds Bewerbung mit „Philipp“,502 der etwas in dieser Angelegenheit unternehmen sollte.503 Mit Ungeduld und zunehmender Unruhe wartete er auf den Erfolg der Bemühungen. Schließlich gelang ihm, für Januar oder Februar 1938 ein Treffen mit Robert Mond zu arrangieren, was ihn wegen Monds offensichtlich prekärem Gesundheitszustand zusätzlich beunruhigte.504 Doch ließ er die Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen, erinnerte Mond an Rothschilds Bewerbung, die dieser versprach, an die zuständige Stelle weiterzuleiteten. Ob Mond überhaupt noch über genügend Einfluss verfügte, wusste Borchardt nicht einzuschätzen. Dennoch sandte er an seine Nichte Monds Adresse in Paris,505 damit sie ihn dort gegebenenfalls erreichen könnte. Von Bedeutung war, dass Mond ein besonderes Interesse an den sogenannten Leuchtfarben hatte, woran er schon 40 Jahren zuvor gearbeitet hatte. Für wenig klug hielt Borchardt Evas Entscheidung, sich mit Familie bei ihrem Vater Georg in Hilversum -„Ist denn in dieser gottverlassenen Stadt überhaupt ein Arbeitsfeld?“ – wohnlich niederzulassen, obschon seinem Bruder offenbar sehr daran gelegen war. Die Notlage seines Bruders sah Borchardt durchaus, war aber ratlos, wie er dauerhaft helfen könnte.506 501 War in der industriellen Forschung tätig, während des Krieges in den Niederlanden, dann in Großbritannien verantwortlich für ein Laboratorium zur Chemiewaffenabwehr. 502 Es ist unklar, um welche Person es sich dabei handelt, wahrscheinlich um Anton Frederik Philips (1874–1951), Mitgründer der Philips Werke. Den Vorstandsvorsitz gab dieser 1939 ab und emigrierte wenig später über England in die USA. Er war bekannt als Stifter von wissenschaftlichen und sozialen Einrichtungen. 503 11. November 1937. SIK LB. 504 1. März 1938 LB an Eva Rothschild. Kurze Zeit vorher war Mond Mitglied des Instituts geworden, weshalb er stolz das „C“ der Ehrenloge auf seiner Karte führte – „So sind die Leite!“, kommentierte LB. SIK LB. 505 Paris 44, Avenue d’Iena. 506 S. Briefwechsel zwischen LB und A. Wiener. SIK.
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Parallel dazu beriet Borchardt sich mit Alfred Wiener, mit dem er ohnehin seit vielen Jahren in brieflichem Austausch stand. Kennengelernt hatten sie sich um 1907 in Kairo, weil Wiener sich auf ärztlichen Rat nach Ägypten begab, dort nicht nur Borchardt, sondern auch den damals als Pfarrer der deutsch-evangelischen Gemeinde tätigen Orientalisten Paul Kahle kennenlernte, der ihn in Kairo finanziell unterstützte und mit dem ihm ebenso wie mit Borchardt eine lebenslange Freundschaft verband.507 Borchardt berichtete Wiener von seinem Treffen mit „Sir Robert“, der nicht nur alt geworden sei, sondern auch etwas sprunghaft in seinen Äußerungen, allerdings gutmütig und hilfsbereit wie immer. Vor allem Letzteres ließ Borchardt hoffen, dass die Unterredung beim „Jewish Information Office“508 und wegen der Unterstützung von dessen Leiter, dem Arabisten „W“,509 Erfolge zeigen würde. Sehr positiv hatte sich Robert Mond über David Cohen ausgesprochen. Borchardts Schreiben an Wiener war nicht die erste Gelegenheit, bei der er sich über seine persönlichen und politischen Sorgen aussprach. Wieners Erwiderungsschreiben belegt, dass man unter anderem bereits über Rothschild gesprochen hatte. Deswegen hatte Wiener sich mit David Cohen, mit dem er 1933 bis 1938 in Amsterdam eng zusammenarbeitete, in Verbindung gesetzt, wollte telefonisch nochmals nachhaken.510 Tatsächlich wurde die Überlegung, Robert Mond zwecks Unterstützung von Rothschild zu kontaktieren, auch von Alfred Wiener unterstützt, der Borchardt diesen Weg am 6. Dezember 1937 vorschlug.511 Die Gelegenheit sei günstig, weil Mond ihm erst kürzlich von seinen Grabungen in Ägypten erzählt habe, auch dass er Borchardt sehr gute kenne und hoch schätze. Dies sollte Borchardt auch nutzen, um bei Mond für Wieners Organisation zu werben und um sonstige Unterstützung zu bitten – „Es liegt mir natürlich daran, eine so interessierte und kenntnisreiche Persönlichkeit wie Sir Robert so stark wie möglich uns nahe zu bringen, (…) auch weil er, wie Sie wissen, in finanziellen Fragen wahrhaft großzügig ist. Wir brauchen auch diese Hilfe naturgemäß sehr nötig, ohne deshalb wertvolle und moralische Unterstützung geringer zu 507 Ben Barkow: Alfred Wiener, 1997, S. 6. 508 Gemeint war das von Alfred Wiener gegründete „Jewish Central Information Office“ (JCIO), bekannt als „Wiener Library“. Wiener gründete dieses Büro in den 1920er Jahren in Berlin, verlegte es 1933 nach Amsterdam und 1938 nach London (unter Verlust etlicher Materialien). Ziel war, Quellen zu sammeln über Nationalsozialisten, Antisemitismus und Verfolgte. Wieners Mitarbeiter waren u. a. C.C. Aronsfeld (1910–2002), Louis Bondy (1910–1993), Eva Reichmann geb. Jungmann (1897–1998), Kurt Zielenziger (1890–1944). 509 Alfred Wiener. 510 A. Wiener an LB, 6. November 1937. SIK LB. Cohen war bis 1938 Präsident des JCIO in den Niederlanden gewesen. Ben Bakrow: Alfred Wiener, 1997, S. 36. 511 SIK LB.
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s chätzen.“ Um Borchardts Verwandten das Leben in den Niederlanden zu erleichtern, versuchte Wiener Kontakte herzustellen beispielsweise zu dem Kunsthändler Jacques Goudstikker512 (Amsterdam), der auf dem internationalen Kunstmarkt, also in vielen Ländern der Welt bekannt sei und großzügig zur Linderung der Not deutscher Emigranten in Holland beigetrage.513 Davon sollten auch Borchardts Bruder und dessen Familie profitieren. Nicht nur weil er Wieners Anliegen, über Vorgänge in deutschen Gelehrtenkreisen zu berichten, entsprechen, sondern auch, weil er seinem Kummer über die neuere Entwicklung der Ägyptologie in Deutschland Luft machen wollte, äußerte Borchardt sich Wiener gegenüber auch dazu. Ihm war bekannt geworden, dass der Berliner Ägyptologe Hermann Grapow, nachdem er „Pg“ geworden war, die Nachfolge von Kurt Sethe angetreten und obendrein Borchardts Kollegen, den Leipziger Ägyptologen Georg Steindorff, zur „‚freiwilligen‘ Niederlegung der Leitung der ÄZ“ veranlasst hatte – „Umsonst ist der Tod!“. Am Museum sei ein Kunsthistoriker gemaßregelt worden, weil er irgendwo Max Friedländer als Autorität angeführt hatte. Davon hatte Ibscher, den Borchardt nicht immer für einen zuverlässigen Zeugen hielt, berichtet. Das Emigrationsvorhaben der Familie Rothschild nahm Anfang 1938 konkretere Gestalt an, wenn auch mit vielen Unwägbarkeiten versehen. Aus Karlshorst schrieb Eva am 14. März 1938 an Borchardt, ein Herr de Laszlo aus England habe sie besucht.514 Er sei Physiko-Chemiker und Direktor der „International Technical Development LTD“, habe sehr gute Arbeiten auf dem Gebiet der Elektronenbeugung gemacht. Das Zustandekommen des Treffens war auf Robert Monds Intervention zurückzuführen. Schon seit etlichen Jahren stand er mit de Laszlo in Verbindung. Der erwähnte Besuch ließ Familie Rothschild unmittelbar ihre Ausreise vorbereiten, auch wenn es schwer fiel, noch in Deutschland lebende Familienmitglieder zurücklassen zu müssen.515
512 1897–1940, niederländischer Kunsthändler. Seine wertvolle Kunstsammlung wurde von Nationalsozialisten, vor allem von Hermann Göring geplündert. 513 A. Wiener an LB, 22. Dezember 1937. SIK LB. 514 H. de Laszlo, Sohn des aus Budapest stammenden jüdischen Porträtmalers Philip Alexius de Laszlo (1869–1937). Letzterer war Sohn des Schneiders Adolf Laub (1842–1904) und dessen Frau Johanna Goldreich (1843–1915). 1891 änderte er seinen Familiennamen in de Laszlo, studierte Kunst in Wien, ging auf Studienreise nach München und Paris, migrierte 1907 nach England, lebte bis zu seinem Tode in London. Am 10. Juni 1900 heiratete er in Budapest Lucy Madeleine Guiness, die aus der einflussreichen Guiness-Familie stammte. Aus der Ehe gingen eine Tochter und fünf Söhne sowie 17 Enkelkinder hervor. 515 Kurz zuvor hatte sie Else Borchardt besucht, die körperlich sehr unbeweglich geworden sei, geistig aber rege. Von LB wollte Eva wissen, ob in der Borchardt Familie Linkshänder üblich seien. Sie selbst sei es (außer beim Schreiben) und auch der kleine Georg, Tochter Beate nicht.
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Umgehend antwortete Borchardt.516 Bereits am 31. März 1938 hatte de Laszlo ihm brieflich erläutert, weshalb er Siegfried Rothschilds Fähigkeiten und Fertigkeiten benötigte: „Owing to a demand which has recently arisen from Government circles for certain products for use in Air Raid shelters and the prevention of fire in houses, I have been investigating the possibilities of manufacturing these substances in Great Britain.“ Im Zuge seiner Nachforschungen habe er während seines kürzlichen Berlinbesuchs Rothschild mehrfach zu Besprechungen getroffen. Dieser verfüge gewiss über genügend Kenntnisse, um in England „luminous material“ herzustellen. Immerhin habe er drei Jahre lang für die Auer-Gesellschaft und vorher mit Prof. Vanino in Heidelberg zusammengearbeitet. Weshalb aber wandte sich de Laszlo mit dieser Erläuterung an Borchardt, dessen Adresse Siegfried Rothschild ihm übermittelt hatte? Tatsächlich ging es darum – und dies versetzte Borchardt unmittelbar in Alarmbereitschaft -, dass er Anteile an einer in England zu gründenden Firma, für die Rothschild arbeiten sollte, übernehmen sollte. Die Skepsis Borchardt ahnend, beschrieb de Laszlo seinen beruflichen Werdegang und empfahl, sich bei Robert Mond über ihn zu erkundigen. Rothschild wollte er mittels seiner Beziehungen zur britischen Regierung und zu in der Industrie tätigen Freunden zukünftig helfend zur Seite zu stehen. Die geschäftliche Seite des Unternehmens sollte de Laszlos Freund, der 55-jährige B. Parnall, übernehmen, der über langjährige geschäftliche Erfahrungen verfüge. Dieser werde 300 £ übernehmen, er selbst 200, Rothschild 300. Auditor sollte „Norman S. Hunt & Co“ sein, „Solicitors Heyman Isaacs Lewis & Mills“, die Bank „National Provincial Bank Ltd.“ Alles sei vorbereitet, die Familie Rothschild solle so schnell wie möglich nach England kommen. Es mag Borchardt ein wenig erleichtert haben, als de Laszlo ihn am 14. April 1938517 unterrichtete, sein Freund Robert Mond „informing me that he is prepared to take up 500 shares in the new Company which is being formed to utilize Dr. Rothschild’s knowledge“. Weil Rothschild am 1. Mai 1938 in England sein wollte, müssten bis dahin genügend „shareholders“ vorhanden sein. Rothschild schlug vor, dass Borchardt 1000 Anteile übernehmen sollte.518
516 5. April 1938. Er berichtete auch, dass er in Kairo den von der Universität Heidelberg entlassenen Geologieprofessor Wilhelm Salomon-Calvi (1868 Berlin-1941 Ankara), bei dem Eva in Heidelberg promoviert hatte, getroffen hatte. Er kam aus Ankara (-Yenisehír), um Urlaub in Ägypten zu machen. Eva freute sich, von ihm zu hören und dass er an sie gedacht hatte. Zusammen mit Siegfried war sie mehrfach und gerne in seinem Haus am Schloss-Wolfsbiennenweg zu Besuch gewesen. Seinen Briefen vom 14. und 18. April 1938 legte LB Kopien seiner Briefe an de Laszlo bei. SIK LB. 517 Research Laboratory, Wraysbury 62. SIK LB. 518 Seinen nächsten Brief sollte LB per Luftpost schicken, empfahl de Laszlo.
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Wie sehr Borchardt unter Hochspannung stand, beweist seine Reaktion auf de Laszlos Brief, den er noch am Tag seines Eintreffens erwiderte. Kürzlich habe er in Kairo Robert Mond getroffen, der zwischenzeitlich wohl wieder nach Paris abgereist sei und ihm umgehend schreiben wolle. Borchardt hoffte, dass Mond, da er sich vor langen Jahren selbst mit Photochemie befasst hatte, sich deshalb auch für Rothschild und das zu gründende Unternehmen interessierte, vor allem aber der Familie helfen wollte – dies war auch das erklärte Interesse von Borchardt selbst.519 In seinem vier Tage später an de Laszlo520 gerichteten Schreiben bat Borchardt sich wegen der zu übernehmenden Anteile Bedenkzeit aus, wollte den sich noch in Berlin aufhaltenden Rothschild kontaktieren, der aber erst nach seiner Ankunft in Amsterdam zu erreichen sei.521 Dass auch Mond sich an dem Unternehmen beteiligen wollte, erleichterte ihn. „So wird hoffentlich die Sache in Gang kommen, wenn Sie dort noch einige Teilnehmer finden.“ Dennoch vertraute er de Laszlo nicht völlig. Irritierend und „auffällig“ fand er dessen Drängen, wohinter sich eventuell seine lediglich geschäftlichen Interessen verbargen. Das Einholen weiterer Informationen erschien geboten, weshalb Borchardt sich am 2. Mai 1938 nochmals an Robert Mond in Paris522 wandte und ihm darlegte, erfahren zu haben, dass Rothschild zusammen mit de Laszlo die Herstellung leuchtender Farben, die wohl für die Verdunkelung bei Fliegerangriffen gedacht seien, aufnehmen wolle, und dass Mond dazu seine finanzielle Unterstützung zugesagt habe.523 Auch er selbst werde eine solche leisten, sobald er Rothschild kontaktiert habe. Um vollkommen klar zu sehen, solle Mond ihm Informationen über de Laszlo zukommen lassen.524 Mond war die Dringlichkeit von Borchardts Anfrage bewusst, er erwiderte schon am 6. Mai 1938.525 Bezüglich seines Freundes de Laszlo wollte er beruhigen.
519 SIK LB. 520 An „M.A., PH.D., Consultant in engineering physics, Thames House, Millbank, London SW 1“. 521 SIK LB. 522 Paris 44, Avenue d’Iena. 523 SIK LB. 524 Weil LB wusste und bestätigt fand, dass Mond auch am zeitgenössischen Ägypten interessiert war, lieferte er ihm hierzu Informationen: In Ägypten verenge sich die Lage ebenfalls. „Hier geht der Ärger mit den Eingeborenen weiter. Zur Zeit intrigiert Selim Hassan gegen Engelbach, den er der Trunksucht bezichtigte, um zu verhindern, dass sein Vertrag erneuert wird. Mir ist unverständlich, warum die englische Botschaft da nicht eingreift.“ Mond wollte diese Informationen sogleich an Adam Rowe, „der für mich in Atres ausgegraben hat“, weiterleiten (6. Mai 1938). SIK LB. 525 SIK LB.
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Er sei der Sohn eines bedeutenden Malers und einer der tüchtigsten britischen Physiker. Weiterhin betrieb die Familie Rothschild von den Niederlanden aus ihre Ausreise, die sich aber wegen der zahlreichen Formalitäten immer wieder verzögerte.526 Siegfried Rothschild hielt sich noch in Berlin auf, wartete auf die Auszahlung der Lebensversicherung. Nun sah auch Eva sich veranlasst, ihrem wenig unterrichteten Onkel Details über den beruflichen Werdegang ihres Ehemannes zu liefern. Wichtig war, dass dieser nach 1933 gemeinsam mit Professor Vanino ein Buch geschrieben hatte über ‚Herstellung und Anwendung von Leuchtfarben in der Technik‘. Unter dem Namen Rothschild durfte es zwar nicht mehr erscheinen, aber Vanino – „der ein sehr anständiger Mensch ist“ – hatte in einer Vorrede klargestellt, dass sein Mitarbeiter Rothschild die Hauptarbeit geleistet hatte. Anfang Januar 1937 hatte Vanino einen auf das Buch Bezug nehmenden Brief von de Laszlo mit der Bitte um Kontaktherstellung zu Rothschild erhalten. Vanino informierte Rothschild von dem Schreiben und empfahl ihm, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Rothschild wandte sich daraufhin an de Laszlo, schrieb ihm, dass er noch für die Auergesellschaft arbeitete, aber plante, am 1. April 1938 Deutschland zu verlassen, obwohl er noch nicht über weitere berufliche Perspektiven verfüge. „Darauf hörten wir nichts mehr und dachten die Sache sei eingeschlafen, wie so vieles andere auch“. Am 3. März 1937 traf ein kurzes Schreiben de Laszlos ein, dass er am darauffolgenden Freitag und Samstag in Berlin sein werde und mit Rothschild sprechen wolle. In Berlin war de Laszlo Gast von Direktor Meinthal (Deutsche Bank). Bei seinem Treffen mit Rothschild versicherte er sich von dessen Wunsch, zukünftig mit ihm zusammenzuarbeiten und sagte die Gründung einer Fabrikation zu. Laut Eva stand de Laszlo in Verbindung mit einem Geldgeber, doch fand sie es besser, wenn „nicht zu fremde Leute ihr Geld dabei hätten, ob wir nicht selber uns beteiligen wollten“. Zufällig traf an dem Tag des besagten Treffens ein Brief von Borchardt ein, mit Mitteilung, dass er mit Robert Mond gesprochen hatte. Aus diesem Grund und weil sie wussten, dass de Laszlos Eltern sehr mit Mond befreundet waren, empfahlen Rothschilds de Laszlo, sich mit Mond in der Angelegenheit zu unterreden. Auf Eva und Siegfried machte de Laszlo jedenfalls einen guten und vertrauenswürdigen Eindruck, sah aus wie ein „typischer Engländer“ – etwa 1,90 m groß, blond und blauäugig. Außerdem ließ er Rothschild „einen Blankoscheck da zur Besorgung einiger Instrumente und Chemikalien“. Über das „Londoner Comité“, bei Dr. Fränkel (jüdischer Besitzer einer großen Berliner Chemikalienfabrik) und bei Freunden in England zogen Eva und Siegfried sicherheitshalber Informationen über de Laszlo ein. Fränkel stand schon seit Längerem in
526 E. Rothschild an LB, 10. Mai 1938. SIK LB.
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Verbindung mit ihm. Übereinstimmend erfuhren sie, dass de Laszlo der Sohn des kürzlich verstorbenen Porträtmalers Laszlo war, dass er nicht rauchte und trank, verheiratet und Vater zweier Kinder war, in Wraysbury wohnte, wo er ein sehr gut ausgestattetes Privatlaboratorium besaß.527 Auch wurde er einhellig als zuverlässiger Mensch beschrieben, mehr Wissenschaftler als Geschäftsmann. Jahre zuvor hatte er fünf Jahre lang als Privatdozent und als Chefchemiker eines sehr großen Chemie-Unternehmens gearbeitet. All dies klang vertrauenserweckend. Dennoch fragte Eva sich, weshalb de Laszlo die beschriebenen, gewiss lukrativen Positionen aufgegeben hatte. Möglicher Grund sei das von seinem Vater hinterlassene, nicht unbeträchtliche Vermögen (angeblich 160.000 £). Möglicherweise liege dieses Vermögen fest und de Laszlo erhalte lediglich ein Legat. Anders sei nicht zu erklären, weshalb er nicht selbst finanzieren könne oder wolle. Gewiss bereiteten diese Ungewissheiten Eva und Siegfried einiges Kopfzerbrechen. Aber wirkliche Alternativen hatten sie nicht, zumal aufgrund neuer Gesetze auch der Aufenthalt in den Niederlanden fast unmöglich geworden war. Immerhin hatte de Laszlo versprochen, Rothschild nach England einzuladen, dort mit ihm zum Home Office zu gehen, für Arbeitsgenehmigung und Aufenthaltserlaubnis zu sorgen. Es sollte ein Vertrag für zwei Jahre gemacht werden mit einem Jahreseinkommen von 300 £ und mindestens 15 % Gewinnbeteiligung. „Wir selber wollen den Vertrag noch so erweitern, dass das Gehalt für die 2 Jahre bei einem Treuhänder deponiert werden soll und, im Fall von Aufenthaltsschwierigkeiten, uns vor der Zeit zusteht“, präzisierte Eva. Trotz der diversen Unsicherheitsfaktoren hielt Rothschild die Aussichten des geplanten Unternehmens für günstig. Denn bisher werde der Hauptbedarf an Leuchtfarbe, „deren Anwendungsgebiete sich gerade in letzter Zeit sehr erweitert haben“, von Deutschland und Frankreich gedeckt. Zur Anwendung sollten Leuchtfarben kommen zum Beispiel bei Fernsehern, Röntgenschirmen, Reklameröhren, Glühbirnen, Militär. Außerdem verfüge England über ein großes zollfreies Absatzgebiet, auch seien die Investitionen zur Fabrikation relativ gering. Man müsse mit einer Anlaufzeit von maximal einem Jahr rechnen. All diese Dinge hatte Rothschild, laut Evas Ausführungen, mit de Laszlo besprochen und „war angenehm überrascht, dass er nicht das Drängen des Kaufmanns zeigte, der nach ein paar Monaten schon Tausende rausschlagen will“. Als „angenehm“ empfand Eva de Laszlos „Einstellung zum Judentum“. „Wenn mein Mann nicht Jude wäre, hätte er sich nicht um ihn bemüht“, hatte de 527 „Er war Direktor einer kleinen Gesellschaft, die komplizierte chemische Produkte herstellte, die Gesellschaft hatte ein Kapital von 1000 £, ist absolut in Ordnung, wenn auch nicht sehr florierend. Diesen Posten will er aufgeben (resp. hat ihn inzwischen schon aufgegeben) und sich selbständig machen.“ SIK LB.
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Laszlo versichert und außerdem nachgefragt, ob sie eventuell von einem jüdischen Mechaniker wüssten, den er ebenfalls gerne einstellen würde. Obwohl das gesamte Unternehmen vor allem wegen der unklaren Handlungsmotive von de Laszlo mit diversen Unsicherheiten behaftet war, waren Eva und Siegfried Rothschild überaus erleichtert über die gebotene Möglichkeit. Dass Borchardt ausschlaggebend war für das Gelingen der Emigration, war ihnen bewusst. Doch zunächst war eine Zeit des Wartens zu überbrücken, eine Zeitspanne, in der Rothschilds sich mit ihren gepackten Koffern so gut es eben ging bei Georg Borchardt in Hilversum (Siriusstr. 59) einrichteten. Obwohl Borchardt sich bereit erklärte, Anteile für das geplante Unternehmen de Laszlos zu übernehmen, war dies noch längst nicht definitiv etabliert. Denn de Laszlo hatte nicht genügend Geld auftreiben können, was aber Rothschild nicht daran hindern sollte, einen Kurzbesuch in England abzustatten. Unter diesen Umständen bedeutete Borchardts finanzielle Unterstützung die wesentliche Hilfe, weil Rothschild damit Teilhaber des Unternehmens werden würde. Die Zeit drängte, denn seit dem „Anschluss Österreichs“ galten auch in den Niederlanden neue Fremdengesetze, was den Aufenthalt enorm erschwerte. Bei ihrer Einreise hatten die Rothschilds eine Aufenthaltsgenehmigung für acht Tage erhalten. Bei der Polizei gaben sie dann als Aufenthalt Georg Borchardts Adresse an, um Schwierigkeiten in Amsterdam zu umgehen. Bleiberecht hatten sie nur, wenn sie ein englisches Visum vorlegen konnten, andernfalls galten sie als „lästige Ausländer mit Kindern“ – „reizend“, wie Eva kommentierte. Damit Borchardt sich ein adäquates Bild von ihrer Situation machen konnte, vielleicht auch um ihm die tatsächlich herrschenden Bedingungen vor Augen zu führen, schilderte Eva detailliert ihre Migrationsgeschichte. Vage war nach wie vor, wie sich das von de Laszlo projektierte Unternehmen realisieren ließ. Er hatte eine Gesellschaft gegründet und fragte bei Borchardt an, ob er sich mit 1000 £, bei insgesamt benötigten 6000 £, beteiligen würde. Erreicht hatte er bis dahin lediglich eine Zusage von Robert Mond über 500 £. Es ist kaum verwunderlich, dass Borchardt das Unternehmen zunehmend nebulös erschien und er schließlich jede Teilhaberschaft verweigerte. Wie er Eva Rothschild am 14. Mai 1938 auseinandersetzte, wollte er damit keineswegs ihre Emigration behindern, sondern sich lediglich an keinem undurchsichtigen Geschäft beteiligen, weil ihm Geschäftliches ohnehin nicht liege.528 Nichtsdestotrotz wollte er weiterhin 1000 £ bereitstellen, eine Summe, die er Eva R othschild ohnehin als Legat zugedacht hatte und die er direkt an sie transferierte. Als Gegenleistung sollte die Nichte ihn weiterhin genau über ihre „Vertreibung“ –
528 SIK LB.
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„Auswanderung“ war laut Borchardt kein angemessener Begriff – auf dem Laufenden halten. Verständlicherweise löste die Borchardt’sche Zusage große Erleichterung bei Familie Rothschild aus. Am 2. Juni 1938 bat Eva um eine notarielle Bescheinigung, dass ihr Onkel bei ihrer Übersiedlung nach England 1000 £ zahlen werde.529 Weil Siegfried Rothschild baldigst nach England reisen wollte, hoffte er dort mit Hilfe von Borchardts Bescheinigung rasch eine Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten. Vier Tage benötigte Evas Brief, um bei ihrem Onkel anzukommen. Noch an demselben Tag schrieb dieser ihr, er werde die beglaubigte Zusicherung aus gutem Grund nicht senden. In Kairo lasse er grundsätzlich nichts beglaubigen, weil „es sonst stadtbekannt“ würde. Wichtiger aber sei, dass „die deutsche Nazi-Regierung, wenn sie von diesem Versprechen erführe, den Betrag Euch zur Zahlung der Reichsfluchtsteuer anrechnete“, womit er Recht hatte. Sobald Siegfried Rothschild außerhalb Deutschlands war, sollte er dies Borchardt mitteilen. Die besagte Summe wollte Borchardt dann bei einer englischen Bank einzahlen, versehen mit einem amtlichen Schreiben. Am 25. Juni 1938 wollten Ludwig und Mimi Borchardt in Alexandria die „Marco Polo“ besteigen, die sie nach Venedig bringen sollte. Anschließend waren sie unter der Adresse „Basel c/o Frl. stud. Käte Rubensohn, Dufourstr. 42, Dufourhaus“ zu erreichen.530 Auf welche Weise Ludwig Borchardt von der Schweiz aus die besagte Geldsumme nach England transferierte, lässt sich den Quellen nicht entnehmen. Dass er dies tatsächlich unternahm, kann als wahrscheinlich gelten,531 da ihm das Schicksal seiner Nichte sehr am Herzen lag und er wusste, wie die Zeit drängte. Vom schweizerischen Pontresina wollten Ludwig und Mimi Borchardt Mitte August nach Paris und anschließend nach England reisen. Ob dabei auch ein Kurzbesuch in Hilversum vorgesehen war, wie Georg Borchardt vermutete, lässt sich nicht nachweisen. Bekanntermaßen waren all diese Pläne zunichte, als Ludwig Borchardt während der Zugreise von der Schweiz nach Paris eine Herzattacke erlitt, an deren Folgen er am 12. August 1938 in Paris verstarb. Die für Paris arrangierten Treffen kamen ebenso wenig zustande wie die mit den britischen Kollegen Gardiner, Newberry und Davies in London bzw. Oxford. Eva und Siegfried Rothschild glückte die Auswanderung nach England Ende 1938 bzw. Anfang 1939. Ob Siegfried tatsächlich für das von de Laszlo geplante 529 SIK LB. 530 LB an Eva Rothschild, 19. Juni 1938. SIK LB. 531 Die in England lebenden Nachkommen von Georg Borchardt wissen von der bedeutenden finanziellen Unterstützung durch LB, kennen aber keine Details.
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nternehmen arbeitete, ist nicht sicher.532 Die Aufenthaltsgenehmigung dürfte U aber durch die von Ludwig Borchardt hinterlegten 1000 £ ermöglicht worden sein. Dass es sich dabei um einen vergleichsweise hohen Betrag handelte, zeigt beispielsweise, dass der AAC bzw. die SPSL eine Familie mit einer jährlichen Unterstützung von weniger als 300 £ bedachte. Mimi Borchardt unterstützte ebenso Mitglieder ihrer eigenen Familie; auch dabei fehlte ihr mitunter die Einsicht in die Dringlichkeit der Hilfe, wie im Fall ihres Vetters Berthold Oppler (1871–1943).533 Dass er sich immer mehr zurückzog, zurückziehen musste, wollte Mimi Borchardt nicht erkennen oder vermochte es nicht, obwohl sie sich anfangs noch in den Sommermonaten in der Schweiz treffen konnten. Den aufgrund der Briefzensur vorsichtig formulierten Schreiben ihres Vetters entnahm sie die dahinterstehende Tragik nicht unbedingt, meinte, „draußen ganz so informiert“ zu sein wie in Deutschland.534 Sie war überzeugt, dass der in München lebende und als Internist praktizierende Vetter allein schon wegen seiner nichtjüdischen Ehefrau keinen allzu großen Gefahren ausgesetzt sei. Doch Mitte 1933 musste er aus finanziellen Gründen seine Wohnung gegen eine kleinere und schließlich ein kleines Haus auf dem Land tauschen, gegenüber dem Vorjahr waren seine Einnahmen um 48 % zurückgegangen, und das war erst der Anfang.535 „Geselligkeit“ konnte nur noch in „allerengstem Kreise“ stattfinden, Berthold wollte dringend „unseren Grenzpfählen entfliehen“, was ihm angesichts der bei der Ausreise erlaubten nur 10 Reichsmark (RM) nicht möglich erschien.536 Bei den sommerlichen Treffen mit seiner Cousine hoffte er offen über seine Situation, seinen „freudlosen Alltag“ berichten zu können.537 Diese Möglichkeit war ihm 1936 genommen, weil sein Pass nur noch für Deutschland galt, er ohnehin gezwungenermaßen kurz vor der Schließung seiner Praxis stand.538 Um sich herum sah er nur noch „Elend und Kummer“, Geselligkeit fand nicht mehr statt, sodass er und seine Ehefrau Else sich fast gänzlich in ihr Haus 532 Seine Nachkommen haben keine Informationen zu de Laszlo, der Name ist ihnen unbekannt. Nachweislich war S. Rothschild bis zu seiner und der Internierung seiner Ehefrau für die Philips Werke tätig. 533 Sohn von Edwin Oppler und Ella Cohen (Schwester von MBs Vater Eduard Cohen). 534 MB an B. Oppler, 12. Juni 1933. SIK MB 74/6. 535 B. Oppler an MB, 17. Dezember 1933. SIK MB 74/6. Laut Verordnung von Reichsarbeitsminister Rudolf Seldte vom 22. April 1933, wodurch „nichtarischen“ und „kommunistischen“ Ärzten die Kassenzulassung entzogen wurde. 80 % der jüdischen Ärzte Münchens, die eine Kassenzulassung besaßen, waren davon betroffen, Berthold Oppler eingeschlossen. Axel Decroll: „Entjudung“, 2004, S. 75 536 Wegen der Zensur konnte er MB nicht von wirklich Wichtigem berichten, wie er schrieb. B. Oppler an MB, 8. Januar 1935. SIK MB 74/6. 537 B. Oppler an MB, 17. Dezember 1935. MB SIK 74/6. 538 B. Oppler, 23. Februar 1936. MB SIK 74/6.
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in Starnberg zurückzogen. Mehr und mehr verfiel Berthold Oppler in depressive Stimmungen, die sich verstärkten, als sein Bruder Alexander Anfang 1937 an den Folgen eines Schlaganfalls starb. Bei der Auflösung des Haushalts in Hannover traf ihn die Erinnerung an die unwiederbringlich vergangenen, glücklicheren Jahre so unvermittelt, dass er fast jede Lebensfreude verlor.539 Er beneidete seine Cousine Mimi, der die vergleichsweise Unbeschwertheit ihres Alltags nicht bewusst zu sein schien.
Abb. 24: Brüder Berthold und Sigmund Oppler, Söhne von Edwin und Ella Oppler, Vettern von Mimi Borchardt
Als Berthold Oppler im August 1937 gezwungen wurde, sein Haus in Starnberg, das einzige ihm verbliebene Refugium, zu verkaufen, war er außer Stande, davon seiner Cousine in Kairo zu berichten, tat dies erst Monate später mit dem Zusatz,
539 B. Oppler an MB, 26. März 1937. SIK MB 74/6. Ab dem 1. Januar 1938 war jüdischen Ärzten per Gesetz die Zulassung zu den Ersatzkassen genommen, die Approbation war ihnen schon am 30. September 1938 entzogen worden. Besonders erschwerend war, dass ab dem 15. September 1935 jüdische Familien keine nichtjüdischen Angestellten unter 45 Jahren mehr haben durften.
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dass er einem Gesetz vom 1. Januar 1938 zufolge seine Praxis schließen musste.540 „Ende September 1938 wurde ausnahmslos allen jüdischen Ärzten durch die ‚Vierte Verordnung zum Reichsbürgergesetz‘ die Approbation entzogen“, so auch Berthold Oppler.541 Im November 1938 wurde Berthold Oppler in das Konzentrationslager Dachau deportiert. Wenige Wochen nach seiner Freilassung wandte er sich an Mimi Borchardt.542 So schnell wie möglich wollten er und seine Ehefrau Deutschland verlassen, hofften auf die Schweiz, weil Berthold Oppler einen Teil seiner Assistentenzeit am Züricher Kantonsspital absolviert hatte und noch lose Beziehungen dorthin hatte. Hindernis war die geforderte „Hinterlegung“ eines bedeutenden Geldbetrages, den Berthold Oppler nicht aufbringen konnte. Für die USA wusste er keine Bürgschaft zu erlangen, sodass diese Möglichkeit, die auch wegen seiner fehlenden Sprachkenntnisse schwierig war, ausschied. Zudem wollte er seine 18 Jahre jüngere Ehefrau nicht in eine gänzlich fremde Welt verpflanzen, in ein entferntes Land, in dem sie womöglich keine neue Existenz würden aufbauen können. Daraus folgte sein Entschluss, weiterhin in Deutschland zu leben, wenn auch unter äußerst erschwerten Bedingungen. Hoffnung auf Besserung machte er sich nicht, gab sich auch nicht der Illusion hin, die ausgewanderten Verwandten, Freunde und Bekannten jemals wiederzusehen. Eine Bitte schloss Berthold Oppler diesem Brief nicht an. Auf Mimi Borchardt wirkte das von Resignation getragene Schreiben „beruhigend“,543 weil sie allzu sehr unter dem Eindruck des eigenen Kummers stand und weit entfernt war vom Geschehen in Deutschland.544 Ägypten betrachtete sie als ihre Heimat, plante auch nicht, weiterhin regelmäßig nach Europa zu reisen; Nord-Amerika hatte sie ohnehin noch nie gelockt. Nur im Sommer 1939 wollte sie nochmals nach Europa, um Freunde zu treffen – „wer weiß wann und ob man sich wiedersieht“. Es beruhigte sie, dass ihr Vetter mit seiner Ehefrau scheinbar ein ruhiges Leben führen konnte. Als sie über einen befreundeten Kollegen Opplers die Wirklichkeit von dessen Dasein erfuhr, auch, dass er seine Cousine um Hilfe bitten wollte,545 war sie zwar „sehr tief berührt“, konnte aber keinen schnellen Rat geben. In Ägypten
540 Else Oppler (Ehefrau von Berthold) an MB, 24. August 1937, B. Oppler an MB, 30. Dezember 1937. SIK MB 74/6. Bis Ende 1937 emigrierten nur 18 % der jüdischen Ärzte Münchens. Axel De croll: „Entjudung“, 2004, S. 79. 541 Axel Decroll: „Entjudung“, 2004, S. 80. 542 11. März 1939. SIK MB 74/6. 543 MB an Edwin Oppler, 20. März 1939. SIK MB 74/6. 544 MB an B. Oppler, (Kairo) 20. März 1939. SIK MB 74/6. 545 Schreiber an MB, 2. Januar 1939. SIK MB 79/1.
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seien „die Aussichten einer Einreise – oder gar Dauererlaubnis – null“, „Vertriebene“, die nicht nach Deutschland zurückkehren könnten, lasse man gar nicht erst ins Land.546 Auch die Schweiz als Aufnahmeland sei problematisch, weil dort für den Unterhalt gesorgt werden müsse, da Berthold Oppler „wohl nichts herausbringen“ dürfe. Unterhalten könne sie ihren Vetter aber unmöglich, denn sie habe „schon Verschiedene, die ich vollkommen unterstützen muss, andern habe ich ein Affidavit oder Beihilfen versprochen oder gegeben, sodass ich fast fürchte, dem bereits Zugesagten nicht nachkommen zu können“. Raten könne sie nur, dass ihr Vetter sich an eine der vielen „Vereinigungen zur Hilfe für die Vertriebenen“ in England wenden sollte, Adressen seien gewiss bei der Jüdischen Gemeinde München zu erhalten. Sie selbst beschäftige sich nicht mit der Unterbringung von Flüchtlingen, sei also wenig informiert. Auch habe sie aufgrund des Todes ihres Mannes „eine Menge anderer Pflichten zu erledigen“. Unverständlich war Mimi Borchardt die Sorge ihres Vetters, dass seine nichtjüdische Ehefrau ebenfalls würde die Vermögensabgabe leisten müssen. Dies betreffe bei „Mischehen“ nur die „jüdische Hälfte“, meinte sie.547 Eine Anfrage richtete Mimi Borchardt an Walter Segal, positive Resultate zeitigte sie wohl nicht. Berthold Oppler, der seit seiner KZ-Haft zunehmend depressiv wurde, setzte 1943 seinem Leben ein Ende. Für seine Brüder548 Sigmund (1872–1942) und Alexander (1869–1937)549 sorgte Mimi Borchardt so weit sie konnte, auch hatte ihre Schwester Sophie sie 1933 testamentarisch finanziell gut bedacht. Nur Mimi Borchardts Hilfe war es zu danken, dass Sigmund Opplers Sohn Edwin (geb. 1908) aus dem Konzentrationslager entlassen wurde und in die USA emigrieren konnte. Gleichzeitig sorgte Mimi Borchardt dafür, dass Sigmund und seine Ehefrau Aufenthaltserlaubnis in den Niederlanden erhielten, nachdem auch Sigmund in ein Konzentrationslager verschleppt und dort schwer misshandelt worden war.550 Für ihn hatte Mimi Borchardt im Dezember 1938 bei der „Bank of the Manhattan Company, New York“ ein Depot von 2000 Dollar angelegt, dass ihm bei der „Begründung einer neuen Existenz in USA zur Verfügung“ stehen sollte.551 Die Hilfe kam zu spät, Sigmund Oppler konnte das rettende Exil nicht mehr erreichen, 1942 nahm er sich das Leben.
546 MB an Schreiber, 6. Januar 1939. SIK MB 79/1. 547 Else Oppler hatte die ihr empfohlene Scheidung von Berthold Oppler abgelehnt. 548 Ernst Oppler (geb. 1867), Maler, starb 1929 in Berlin. 549 Bildhauer, verheiratet seit 1903 mit Alice Oppenheimer, Tochter Ellen (1905–1972), genannt Jo. 550 Edwin Oppler an MB, (New York) 17. Februar 1939. SIK MB 74/7. 551 MB an Amerikanisches Konsulat Hamburg, 13. Dezember 1938. SIK MB 74/12.
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Am Beispiel der Unterstützung für die nächste Familie wird deutlich, wie schwer sich Ludwig Borchardt und seine Ehefrau zu Beginn der NS-Zeit taten, die zunehmenden Gefahren zu erkennen. Es fiel ihnen nicht leicht, von ihren Ressentiments gegenüber Georg Borchardt Abstand zu nehmen und seine Hilfsbedürftigkeit anzuerkennen. Siegfried Rothschild wähnten sie wegen seiner Teilnahme am Ersten Weltkrieg in einer geschützten Position, Else Borchardt in Berlin besser aufgehoben als in Südtirol. Dies änderte sich erst mit den zunehmend beängstigenden Nachrichten von Verwandten, Freunden und Bekannten, auch mit der Zunahme der an sie gerichteten Hilfsgesuche. Mimi Borchardt dürften vor allem die Briefe ihrer Verwandten und Freundin Else Oppler-Legband (1875–1965)552 aufgerüttelt haben. Sie gehörte zu jenen, die früh die Gefahrensituation erkannten, entschied sich für das Exil in Meran, floh von dort nach Schweden, als auch Italien ab Ende 1938 kein gesicherter Standort mehr war.553 Ihre Warnungen blieben jedoch oftmals ungehört.554 Mehr als manche Verwandten lagen dem Ehepaar Borchardt die engsten Freunde am Herzen, in erster Linie Friedel Oppler (1878–1971),555 ihr Ehemann Otto Rubensohn (1867–1964)556 und ihre Tochter Käte (1914–1998).557
552 Tochter von Theodor Oppler und Julie Stern, Schwester von Friedel Oppler-Rubensohn, verheiratet 1904–1924 mit Paul Legband (1876–1942); Kunstgewerblerin, Bühnen- und Kostümbildnerin, Designerin, Architektin. 553 Zu Else-Oppler-Legband in Meran s. Stadt Meran Grundbuchamt, Stadtarchiv Meran Pratiche Relative Appartenenza „Razza Ebraica“ – Censimento ufficiali razza ebraica u. Adressbücher ab 1933 u. Immigrazioni 1932–1940 (1937: Nr. 448 Else Legband di Teodoro, 8/4/1937, Via Verdi 16). 554 Geradezu beschwörend versuchte sie, auf die in Chiusa d’Isarco (Südtirol) lebenden Berliner Verwandten Eiseck einzuwirken. Sie verließen Südtirol jedoch nicht, wurden interniert, schließlich in Konzentrationslager deportiert und ermordet. Briefwechsel E. Oppler-Legband mit MB. SIK MB 70/3–7. 555 Tochter von Theo Oppler und Julie Stern (Nürnberg). Theo O. war ein Bruder des Hannoveraner Architekten Edwin Oppler, der mit Eduard Cohens (Vater von MB) Schwester Ella verheiratet, also dessen angeheirateter Schwager war. 556 Sohn von Hermann und Rosa Rubensohn geb. Herrlich in Kassel. 557 Rubensohn und LB kannten sich schon lange (s. Kap. 1), intensivierten ihre Beziehung während der leitenden Arbeit Rubensohns für das Papyrus-Kartell. Oliver Primavesi: Papyruskartell, 1996, S. 175. 1907 bis 1910 war Rubensohn Lehrer in Breslau, 1911 bis Dezember 1914 Leiter des Pelizaeus Museums in Hildesheim, ab 1920 Lehrer in Berlin, ab April 1924 unterrichtete er am Prinz Heinrich Gymnasium (Berlin). Am 30. März 1909 heirateten Friedel Oppler und Otto Rubensohn in Berlin.
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Abb. 25: Mimi Borchardt mit Ehepaar Rubensohn in der Schweiz, Mitte 1930er Jahre
Anders als im Fall von Else Borchardt empfahlen sie zumindest der Tochter das Bleiben in Deutschland nicht, überzeugten die Eltern, dass Käte 1934 ihr Studium in der Schweiz aufnehmen musste.558 Dort auch Friedel und Otto Rubensohn eine dauerhafte Bleibe zu sichern, erschien zunächst nicht erforderlich und gewünscht, obwohl Otto Rubensohn ab 1935 zunehmend isoliert wurde, die „Deutsche Orientgesellschaft“ ihm im Mai 1938, die „Freunde antiker Kunst“ im Juni 1938 die Mitgliedschaft kündigten. Im November 1938 forderte ihn der Präsident des DAI Berlin, Martin Schede, brieflich auf, sein Reichsbürgergesetz nachzuweisen; seine Mitgliedschaft wurde ihm wenig später ebenso entzogen wie jene der „Gesellschaft der Wissenschaften“ in Göttingen.559 Zugang zu Museen und Bibliotheken hatte er nicht mehr. All dies führte nicht nur bei Käte Rubensohn, sondern auch bei ihren Eltern zu der späten Erkenntnis, dass sie Deutschland unbedingt verlassen mussten. Sehr lange hatten sie gezögert, die Warnungen von Friedels nach Meran emigrierten Schwester Else Oppler-Legband, dass die „Eisenklammern“
558 MB drängte darauf, Käte Rubensohn sofort nach dem Abitur in die Schweiz zu schicken. Im Winter 1933/34 hielt sie sich in Kairo auf, wechselte dann in die Schweiz. Amalie Bräutigam an MB, 4. August 1933, 5. April 1934. SIK MB 54/10. 559 Aubrey Pomerance: Rubensohn, 2015, S. 20–22.
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immer enger gezogen würden, ignoriert, nicht zuletzt wegen der bei Rubensohns lebenden Mutter Julie Oppler-Stern.560 Sogar gezürnt hatte Friedel der Schwester wegen ihrer frühzeitigen Emigration.561 Auch Mimi Borchardt zweifelte noch Mitte 1938, ob es „draußen“ wirklich „besser“ als in Deutschland wäre für Rubensohns, ihr Ehemann votierte dafür, „die Dinge laufen zu lassen.562 Else Oppler sah kommen, dass ihre Schwester und ihr Schwager irgendwann ausreisen müssten, „ohne irgend etwas mitnehmen zu können“.563 Ihre Warnungen verhallten lange ungehört, auch bei den im Südtiroler Chiusa d’Isarco lebenden Berliner Verwandten Ida und Hans Eiseck, für die schließlich jede Hilfe zu spät kam,564 aber auch bei Ludwig und Mimi Borchardt, die Elses Drängen – „auf was wartet Ihr?“ (…) dass es immer schlimmer wird und das weiß man ja“ – nur schwer nachvollziehen konnten, sich mehr um das Seelenheil von Käte Rubensohn sorgten.565 Otto Rubensohn verbat sich, „über Auswanderung auch nur zu korrespondieren, weil das schlimme Folgen haben könnte“, so dass Mimi Borchardt Mitte November 1938 in allergrößter Sorge war.566 Den Freunden Exil in Ägypten zu verschaffen, erschien so gut wie ausgeschlossen – „alles versteift sich mehr und mehr“. Währenddessen versagten Friedel Rubensohn fast die Kräfte, allzu lange hatten sie und ihr Ehemann sich resignierend in ihr Schicksal ergeben, an Auswanderung nicht denken wollen, Hilfsangebote von Schwester Else abgewiesen.567 Angesichts der Geschehnisse vom November 1938 wurde ihnen
560 Else Oppler-Legband an MB, 28. April 1938. SIK MB 70/7. 561 Else Oppler-Legband an MB, 12. Juni 1938. SIK MB 70/7. 562 MB an Else Oppler-Legband, (Kairo) 5. Juni 1938. Else Oppler-Legband an MB, 12. Juni 1938. SIK MB 70/7. 563 Else Oppler-Legband an MB, 28. Juni 1938. SIK MB 70/7. 564 Im Juli 1939 wurde Hans Eiseck gezwungen, die Provinz zu verlassen. Seine nichtjüdische Ehefrau und seine Tochter durften in Klausen bleiben. Hans E. ging zuerst nach Fiesole, im Oktober 1939 wurde sein Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis abgelehnt. Nach Ausbruch des Krieges wurde er in Montechiarugolo (Provinz Parma) und im Oktober 1940 in Civitella del Tronto (Provinz Teramo) interniert, von dort in ein Vernichtungslager deportiert und ermordet. Bis Ende 1938 verließen 192 in Meran lebende Juden die Stadt. 358 waren nach dem 12. März 1939, dem letzten Abreisetermin für ausländische Juden (Dekret vom 7. September 1938), noch dort. Cinzia Villani: Rassengesetzen, 2003, S. 40, 43. 565 Else Oppler-Legband an MB, 12. Juli 1938. SIK MB 70/7. Einige Wochen zuvor hatten sich Käte Rubensohn und Max Frisch nach mehrjähriger Beziehung getrennt, auch die Option einer Scheinehe zum Schutz Kätes schließlich verworfen. Käte zog daraufhin von Zürich nach Basel; sie litt unter der Trennung. Else Oppler-Legband brachte Verständnis für Max Frisch auf, sah die Diskrepanz zwischen der verwöhnten, recht komfortabel lebenden Käte und den um seine Existenz kämpfenden Max. z. B. Else Oppler-Legband an MB, 26. Juli 1938. SIK MB 70/7. 566 MB an Else Oppler-Legband, (Kairo) 13. November 1938. SIK MB 70/7. 567 Else Oppler-Legband an MB, 14. November 1938. SIK MB 70/7.
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Abb. 26: Else Oppler-Legband, um 1900
überdeutlich, dass sie Deutschland so schnell wie möglich verlassen mussten, Ägypten stellte keine Option dar, es war alles „gesperrt“, wie Mimi Borchardt in Erfahrung brachte.568 Auch Otto Königsberger saß in Deutschland fest, die Schweiz verweigerte ihm trotz Mimi Borchardts Intervention ein Visum. Ein „Hoffnungsstrahl“ zeichnete sich ab, als ein Schweizer Kollege Otto Rubensohns einsprang, mit Käte diverse Behördengänge durchstand, so dass zumindest eine Transiterlaubnis in Aussicht stand. Mimi Borchardt versicherte offiziell, für den Unterhalt des Ehepaars Rubensohn aufzukommen.569 Problem blieb allerdings die Unterbringung von Mutter Julie Oppler-Stern; man dachte daran, sie zu entfernten Verwandten von Otto Rubensohn zu bringen. Friedel warf ihrer Schwester unberechtigterweise vor, sie nicht mit nach Südtirol genommen zu haben.570 Else Oppler-Legband, der es im Januar 1939 gelang, eine Aufenthaltserlaubnis 568 MB an Else Oppler-Legband, (Kairo) 22. November 1938. SIK MB 70/7. 569 MB an Else Oppler-Legband, (Kairo) 28. November 1938. SIK MB 70/7. 570 Tatsächlich hatte Else Oppler-Legband diesen Vorschlag gemacht, wurde aber abgewiesen. Else Oppler-Legband an MB, 4. Dezember 1938. SIK MB 70/7.
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für Schweden zu erlangen, wollte die Mutter dorthin mitnehmen, was ihr auch bewilligt wurde.571 Käte Rubensohn erwirkte im Januar 1939 das Aufenthaltsrecht für ihre Eltern in der Schweiz; sie mussten allerdings nachweisen, Aussicht auf weitere Emigration zu haben.572 Offiziell erhielten Friedel und Otto Rubensohn am 15. März 1939 die Erlaubnis zur Auswanderung, mussten am 18. Dezember 1938 eine „Judenvermögensabgabe“ in Höhe von 18.400 RM und am 8. Februar 1939 „Reichsfluchtsteuer“ in Höhe von 14.002 RM leisten.573 Ihr Wunschziel war die Schweiz tatsächlich nicht. Lange Zeit hatten sie und Mimi Borchardt gehofft, Ägypten würde Asyl gewähren. Noch im Januar 1939 versuchte Otto Rubensohn dies durchzusetzen, darauf verweisend, dass er nur in Ägypten eine längst überfällige, höchst wichtige ägyptologische Untersuchung werde fertigstellen können. Mimi Borchardt sollte alles Erforderliche in die Wege leiten,574 was sie tat, indem sie am 5. April 1939 an das ägyptische Innenministerium schrieb und auf Rubensohns Forschungsinteresse in Ägypten verwies.575 Der sich in der Schweiz aufhaltende „Professor“ sei mit Ägypten vertraut, habe dort von 1902 bis 1907 im Auftrag der Königlichen Museen Berlin gearbeitet. Die für die geplante Publikation erforderlichen Materialien befänden sich im Borchardt Institut. Rubensohn und Ehefrau beantragten eine Aufenthaltserlaubnis für die Dauer eines Jahres, beginnend im Oktober 1939. Tatsächlich zog das ägyptische Innenministerium eine positive Entscheidung in Erwägung, befragte Rubensohn vor allem nach Details zur Finanzierung seines Lebensunterhalts und seines rechtlichen Status‘. Rubensohn konnte die Behörden beruhigen, seine Tochter besaß in der Schweiz eine Aufenthaltserlaubnis bis zur Beendigung ihres Studiums und zusätzlich ein Affidavit für Großbritannien.576 Er und seine Ehefrau waren seit dem 19. März 1939 als Emigranten in der Schweiz,577 erhielten eine Jahresrente in Höhe von 10.000 Schweiz. Franken,
571 Else Oppler-Legband an MB, 5. Januar 1939. SIK MB 70/7. Julie Oppler starb Mitte 1939 in einem Berliner Altenheim, kurz nach der Emigration des Ehepaars Rubensohn in die Schweiz. 572 Aubrey Pomerance: Rubensohn, 2015, S. 22 f. 573 Claims Resolution Tribunal. Case No. CV96–4849, S. 3. (14.12.2005). Finanzamt Berlin-Steglitz, 23. Februar 1939. Die Ruhegehälter sollten auf ein deutsches „Sonderkonto Versorgungsbezüge“ überwiesen werden. Jüdisches Museum Berlin, Sammlung Otto Rubensohn 2006/27/108. Mitnehmen konnte O. Rubensohn seine private Antikensammlung. Aubrey Pomerance: Rubensohn, 2015, S. 23. 574 O. Rubensohn an MB, 13. Januar 1939. Wenige Tage zuvor hatte MB die Urne LB’s im Garten ihrer Villa in Kairo beigesetzt. Im Deutschen Haus in Theben, wo MB sich danach aufhielt, glaubte Rubensohn sie aufgehoben, inmitten der vielen alten Bekannten, die mit ihr trauerten. Jüdisches Museum Berlin, Sammlung Otto Rubensohn 2006/27/171–183. 575 Jüdisches Museum Berlin, Sammlung Otto Rubensohn 2006/27/116. 576 O. Rubensohn an Generalkonsulat von Ägypten in Bern, 28. Juni 1939, als Antwort auf ein Schreiben des Konsulats vom 15. Juni 1939. Jüdisches Museum Berlin, Sammlung Otto Rubensohn 2006/27/121.
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ausgezahlt von der Bank Dreyfus Söhne & Co., finanziert von Mimi Borchardt. Ihr Anwalt versuchte, eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung für die Schweiz zu erwirken, ihre deutschen Pässe galten noch bis zum 15. Februar 1940. Ein sicherer Hafen war die Schweiz mitnichten, da eine Daueraufenthaltserlaubnis unerreichbar schien. Die Ägyptologen George Reisner und Étienne Drioton besorgten Rubensohn ein Visum für die USA.578 Dort hatte Gisela Richter, Kuratorin des „Classical Department of the Metropolitan Museum of Art“ New York, das vage Angebot gemacht, Rubensohn einige Zeit als Volontär zur Bearbeitung hellenistischer Terrakotten anzustellen, wofür allerdings keine Gelder bereit standen, Rubensohn sich also selbst finanzieren musste.579 Eine realistische Option war dies wohl kaum, trotz der in den USA lebenden nahen Verwandten.580 Auch der Aufenthalt in der Schweiz war mit großen Unsicherheiten behaftet, das Ehepaar Rubensohn erhielt stets nur für die Dauer von drei Monaten die Bewilligung. Ägypten vergab „prinzipiell“ nur Touristenvisa.581 All diese Vorhaben zerschlugen sich mit Ausbruch des Krieges. Sowohl Mimi Borchardt als auch das Ehepaar Rubensohn blieben in der Schweiz. Mimi Borchardt verfügte, dass ihre Freunde aus der Borchardt-Cohen Stiftung eine Jahresrente von 5.000 Schweiz. Franken erhielten und dieselbe Summe aus der Alpina Stiftung.582 Ein auch über 1945 hinaus gehendes, offizielles Aufenthaltsrecht in der Schweiz erlangte das Ehepaar Rubensohn nicht, obwohl nachgewiesen werden konnte, dass es in Deutschland keine dauerhafte Bleibemöglichkeit mehr gab. Ebenso wie Mimi Borchardt galten Friedel und Otto Rubensohn 1946 als Staatenlose.583 Das Exil in der Schweiz und damit ihre Rettung wären ohne die Hilfe ihrer Freunde Borchardt nicht zu erreichen gewesen. 577 Das Polizei-Departement Basel-Stadt erklärte Rubensohn am 24. Februar 1939, die am 5. Januar 1939 erteilte „Zusicherung“, d. h. Einwanderungserlaubnis, werde bis zum 5. Mai 1939 verlängert. Jüdisches Museum Berlin, Sammlung Otto Rubensohn 2006/27/108. 578 MB an Steindorff, 12. Mai 1939. ÄMUL NL Steindorff Korrespondenz 1939. 579 Val. Mueller an O. Rubensohn, 8. Februar 1939. Jüdisches Museum Berlin, Sammlung Otto Rubensohn 2006/27/108. 580 Seine Nichte Lili (Elisabeth) Grunewald lebte dort seit 1930; ihr Ehemann Alfred Landé war ein Pionier in der Entwicklung der Quantentheorie, unterrichtete an der Columbia Universität. Seine Schwester Julie Grunewald emigrierte 1938 ebenfalls nach Nord-Amerika. Eine jüdische Kindheit, 2009, S. 139. 581 MB an Steindorff, (Gstaad, Chalet Alpina) 5. August 1939. MB plante, im Oktober 1939 nach Ägypten zurückzukehren. ÄMUL NL Steindorff Korrespondenz 1939. 582 B. Peyer an MB, 30.09.1939. Die Alpina-Stiftung wurde von der Borchardt-Cohen Stiftung abgezweigt zugunsten von Rubensohn. Kurator war B. Peyer. Jüdisches Museum Berlin, Sammlung Otto Rubensohn, 2006/27/122. 583 Laut Besprechung O. Rubensohns vom 4. Februar 1946 mit einem Vertreter der Baseler Fremdenpolizei wurde das Gesuch abschlägig beschieden. Jüdisches Museum Berlin, Sammlung Otto Rubensohn 2006/27/171–183.
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Abb. 27: Ehepaar Friedel und Otto Rubensohn, Zürich, 1950er Jahre
Zweifellos lasteten die Sorgen um Nahestehende schwer auf Ludwig und besonders Mimi Borchardt, deren Leben noch weit mehr überschattet war. Am 13. Mai 1933 entschloss sich die von ihr sehr geliebte Schwester Sophie584 angesichts der
584 Am 13, Mai 1933 wurde Sophie Cohen von der Haushälterin Alice Bender „in ihrem Bett tot aufgefunden“. Der zugezogene Hausarzt Dr. Billigheimer bestätigte den Tod, konnte die
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von den Nationalsozialisten zu erwartenden Bedrohungen zum Suizid.585 Nur drei Jahre zuvor war Mutter Ida verstorben, hinterließ ihren beiden Töchtern ein beträchtliches Vermögen.586 Auf Mimi Borchardt entfiel ein Erbe von mehreren Millionen RM, Wertpapiere im Wert von rd. 1 ½ Millionen RM lagen größtenteils in den USA.587 Zudem sollte binnen eines Jahres eine „Kuhn-Cohen’sche“ Familienstiftung mit einem Grundkapital von 250.000 RM angelegt werden; den Vorstand der Stiftung sollten Mimi Borchardt, Mortimer Schiff (New York) und der Frankfurter Rechtsanwalt Eduard Baerwald bilden, die Zinsen des Stiftungskapitals den beiden Töchtern zukommen. Als Testamentsvollstrecker waren Ludwig Borchardt, der Frankfurter Bankier Julius Schlesinger und Eduard Baerwald eingesetzt. Auch Sophie Cohen hinterließ ein bedeutendes Vermögen (rd. 3 Millionen RM). Sie vererbte es nicht nur ihrer Schwester, sondern auch ihren Vettern Oppler sowie zahlreichen ihr nahe stehenden Personen sowie wohltätigen jüdischen Stiftungen in Frankfurt und Ahlem.588 Haus und Grundstück in der Feuerbachstraße 14 fielen Mimi Borchardt zu. „Das Wertvollste dieser Einrichtung ist eine große Gemäldesammlung, in der eine große Reihe berühmter und alter Gemälde enthalten ist“, stellte das Amtsgericht Frankfurt am 15. Mai 1933 fest; aufgeführt wurden 106 Gemälde.589 Zudem fand sich außer der „Hauseinrichtung“ eine „größere Bibliothek“, die zusammen einen Schätzwert von etwa 10.000 RM hatten, der vorhandene Schmuck wurde auf ca. 6.000 RM geschätzt, der Einheitswert des Hauses auf etwa 90.000 RM festgelegt. Eine erste Übersicht ging von einem Gesamtwert des Erbes von mindestens 2.249.152,80 RM aus.590 odesursache aber „nicht mit Bestimmtheit feststellen“. Der Leichnam wurde beschlagnahmt und T zum jüdischen Friedhof gebracht. Der Sachverwalter des Haushalts war der Kaufmann Paul Bernays (Feuerbachstr. 42). Polizeibericht Frankfurt, 13. Mai 1930. HHSTAW Abt. 469/6 65 VI 272/33. 585 In demselben Monat verstarb auch ihr in Murnau lebender Verwandter James Loeb. James Loeb, 2000, S. 7. 586 HHSTAW Amtsgericht Frankfurt Abt. 51 51/36 IV 201/30. Ida Kuhn-Cohen starb am 15. Januar 1930 im Sanatorium Kohnstamm in Königstein/Taunus. In ihrem Testament setzte sie die beiden Töchter zu gleichen Teilen als Erbinnen ein. Bei ihrer Eheschließung hatte MB 1.080.000 RM und eine Rente von 750.000 RM erhalten. Sollten beide Töchter beim Erbfall bereits verstorben sein, sollten Erben sein: a) Ludwig Borchardt, b) Cousine Laura Trier geb. Mayer in Köln, c) Cousine Rika Stern geb. Mayer in Mannheim, d) die ehelichen Abkömmlinge der verstorbenen Cousine Regine Löwe geb. Mayer, e) Stadtgemeinde Frankfurt, f) Israelitische Gemeinde Frankfurt, (e)-f) für gemeinnützige Zwecke und Gründung wohltätiger Stiftungen). LB sollte zudem 250.000 RM erhalten. Als Testamentsvollstrecker waren eingesetzt: MB, Sophie Cohen, LB. 587 Mitteilung von Rechtsanwalt A. Fuld, (Frankfurt) 25. März 1930. HHSTAW Amtsgericht Frankfurt Abt. 51 51/36 IV 201/30. 588 HHSTAW Abt. 469/6 65 VI 272/33 589 Über den Verbleib der Sammlung s. Thomas Buomberger, Raubkunst, 1998, S. 373–375. 590 Beigefügt ist eine nach Zimmern sortierte Liste zu vorhandenen Besitztümern.
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Für Mimi Borchardt stand fest, dass sie nicht im Besitz ihres Elternhauses bleiben, sondern es – wenn auch schweren Herzens591 – der Jüdischen Gemeinde Frankfurt schenken wollte, um daraus ein Altenheim zu machen. Als sie ein Jahr nach dem Tod ihrer Schwester wieder das Haus in der Feuerbachstraße betrat, das zwischenzeitlich von der Haushälterin Alice Bender sorgfältig weiter gepflegt worden war,592 glaubte sie, ihre Schwester werde jeden Augenblick eintreten.593 Einige Wochen hatte sie in Frankfurt mit der Wohnungsauflösung zu tun, wollte dann zur Konsultation ihres Arztes Bergmann nach Berlin. Wie Mimi Borchardt befürchtet hatte, zog sich die Übergabe ihres Elternhauses über Jahre hin. Ludwig und Mimi Borchardt stellten im Juli 1936 den Antrag auf Schenkung des Hauses an die Jüdische Gemeinde, die am 21. September 1936 um Genehmigung bat.594 Für die Behörden nicht erkennbar war, ob es sich bei Ludwig Borchardt um einen „Ausländer“ handelte, dessen Schenkung keiner devisenrechtlichen Genehmigung bedürfen würde. Der Frankfurter Polizeipräsident wollte erfahren haben, dass „Dr. B. in Kairo wegen seiner Verdienste um die deutsche Archäologie ehrenhalber die Doktorwürde erhalten habe, deutscher Ruhestandsbeamter und Reichsangehöriger sei“. Das Ehepaar Borchardt lebe seit 1900 nicht mehr in Deutschland, Steuerschulden seien nicht vorhanden. Erkennbarerweise waren die Behörden nur bruchstückhaft informiert, hatten aber ohnehin Bedenken, die Schenkung zu genehmigen. Denn „in staatspolitischer Hinsicht ist es nicht erwünscht, dass jüdischen juristischen Personen Deutscher Grund und Boden zufällt, mit dem sie ihren Machtbereich vergrößern“. Auch sei die Begründung des Antrags – Raumnot der Gemeinde – nicht stichhaltig, „denn gerade die jüdischen Einrichtungen werden in Anbetracht ihrer Stellung im heutigen deutschen Staate mehr denn je von inländischen wie auch von ausländischen Juden genügend unterstützt“. Werde die Schenkungsgenehmigung erteilt, würde dies wahrscheinlich nicht zur „Abwanderung“ der Juden führen, „sondern eine Zuwanderung auswärtiger Juden zur Folge haben“. Mit dieser Begründung lehnte der Frankfurter Polizeipräsident die Schenkung ab. Eine Entscheidung war damit 591 MB wollte so viel wie möglich verschenken. „Für die Wertheimer’schen Familienbilder habe ich mich schon mit Dr. Berolzheimer in Verbindung gesetzt und ich hoffe eine Bleibe für die zu finden. Hoffentlich gelingt es mir auch mit den Cohen’schen. Für einige Zimmer habe ich auch schon Menschen – im ganzen ist die Einrichtung ja nicht nach dem heutigen Geschmack, und so wird das vielleicht etwas schwer halten. Aber der Gedanke, das zu verauktionieren, worin man seine ganze Kindheit verbracht hat, ist mir unerträglich. Ich werde sehen, wie weit ich mit verschenken komme. Einiges wollen wir mitnehmen.“ MB an B. Oppler, 12. Juni 1933. SIK MB 74/6. 592 Im Haus lebte auch noch Sophies Freundin Dr. Elisabeth Schmitt. 593 MB an B. Oppler, (Frankfurt) 12. Juni 1934. SIK MB 74/6. 594 Polizeipräsident an Regierungspräsident in Wiesbaden, (Frankfurt) 22. Dezember 1936. ISGF Magistratsakten 47/69 Nr. 5800.
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nicht gefällt. Am 14. April 1937 teilte der Polizeipräsident dem Oberbürgermeister der Stadt mit, „die Eheleute Geh.Regierungsrat Prof. Dr. Ludwig Borchardt“ beabsichtigten, das Wohnhaus Feuerbachstraße 14 der „Israelitischen Gemeinde Frankfurt“ als Schenkung zu vermachen.595 Dies sei problematisch, weil dadurch der „Synagogengemeinde möglicherweise die Inanspruchnahme öffentlicher Wohlfahrtsmittel durch Juden vermindert oder entbehrlich“ gemacht werde. Zu einer „derartigen Stärkung“ und eventuell reduzierten Kontrollmöglichkeiten über die Juden wegen des „Fortfalls der öffentlichen Unterstützung“ wollte man nicht beitragen. Das Fürsorgeamt berichtete wenig später, die Jüdische Gemeinde habe noch nichts Näheres über die mögliche zukünftige Nutzung der Immobilie bestimmt. „Eine nennenswerte Entlastung der Fürsorge würde aber selbst bei Einrichtung eines Jugend- oder Altersheims wohl kaum eintreten.“596 Dieser Auffassung schloss sich der Oberbürgermeister am 12. Mai 1937 gegenüber dem Polizeipräsidenten an. Zwar gingen noch einige behördliche Schriftstücke hin und her, grundsätzlich aber konnte die Immobilie der Jüdischen Gemeinde überlassen werden. 1938 war das Haus nicht bewohnt, 1939 nur von Hausmeister Sommer.597 Im März 1939 zwang die Stadt Frankfurt die Jüdische Gemeinde, ihre sämtlichen Liegenschaften an sie zu verkaufen, um ihren „geldlichen Verpflichtungen gegenüber der Stadt und dem Staat“ nachzukommen. Insbesondere im Bereich Fürsorge hätten sich wegen des verstärkten Zuzugs von Juden erhebliche Schulden angehäuft.598 Gezwungenermaßen musste die Gemeinde auch die Immobilie Feuerbachstraße 14 abgeben. Der Einheitswert wurde auf 65.300 RM festgesetzt, der Verkaufspreis auf 36.000 RM, die monatlich von der Jüdischen Gemeinde zu zahlende Miete für das Altenheim auf 692 RM.599 Am 10. Mai 1939 beantragte der Frankfurter Radiohändler Johannes Wächtershäuser beim Oberbürgermeister den Kauf der Immobilie zum angegebenen Preis, was sich als schwierig erwies, weil die Grundstückbewertung neu vorgenommen werden musste. Grundstück und Wohnhaus wurden am 4. Oktober 1939 auf einen „Friedensneubauwert“ von 72.400 RM geschätzt, auf einen „Jetztwert“ von nur noch 26.000 RM.600 Die Diskrepanz zwischen dem schließlich im November 1939 595 ISGF Magistratsakten 47/69 Nr. 5800. 596 Fürsorgeamt an Oberbürgermeister, (Frankfurt) 30. April 1937. ISGF Magistratsakten 47/69 Nr. 5800. 597 ISGF MP 2382 Nr. 286 Adressbuch 1938, 1939. 598 Vorlage des Oberbürgermeisters an die Gemeinderäte, 30. März 1939. Dokumente, 1963, S. 258 ff. 599 Aufstellung des Bauamts Frankfurt. ISGF Gutachterausschuss für Grundstücksbewertung Nr. 2138. 600 Bemerkung: „Das Einfamilienhaus steht leer.“ ISGF Gutachterausschuss für Grundstücksbewertung Nr. 2138.
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festgelegten Wert von 43.200 RM und dem von Wächtershäuser angebotenen Kaufpreis erschien den Frankfurter Behörden nicht gerechtfertigt. Tatsächlicher Hinderungsgrund war, dass Wächterhäusers Nähe zu den Nationalsozialisten aus Sicht der NSDAP-Kreisleitung nicht groß genug erschien.601 Um schließlich den Kauf zu realisieren, verwies Wächtershäuser gegenüber der Ortsgruppe Süd der NSDAP darauf, dass die Jüdische Gemeinde bestrebt sei, die Immobilie in der Feuerbachstraße wieder zu erwerben, denn sie habe von der Gestapo die Genehmigung zur Errichtung eines Heims erhalten. „Ich weiß nicht, ob es mehr im allgemeinen Interesse liegt, dass das Haus in Zukunft der jüdischen Gemeinde oder mir gehört. Heil Hitler“.602 Dies tat seine Wirkung, Wächterhäuser kaufte das Haus, die Jüdische Gemeinde musste den Erlös auf einem nur der Stadt zugänglichen Sperrkonto deponieren.603 Die Porzellanmalerin Nora Gottfeld arbeitete ab dem 1. Juni 1940 als Pflegerin im „Jüdischen Altersheim Feuerbachstraße“, am 11. November 1941 wurde sie nach Riga verschleppt und in Kowno ermordet.604 Für 1941 ist als Nutzung des Hauses „Altersheim, jüdisch“ angegeben, als Bewohner sind Rabbiner Dr. Neuhaus und Leichenbestatter A.J. Sommer benannt,605 letzte Leiterin war Erna Blum.606 Das Haus nahm eine traurige Bestimmung, von der Mimi Borchardt wahrscheinlich nicht erfuhr. Offiziell galt es 1941 als Altersheim, war tatsächlich aber ein NS-Sammellager bzw. „Ghettohaus“.607 Überhaupt war Mimi Borchardt nur sehr wenig über die tatsächlichen Vorgänge in Deutschland bzw. Frankfurt informiert. Der Jüdischen Gemeinde, die 601 Vertraulicher Bericht, (Frankfurt) 8. Januar 1940. Geb. 1888 Bad Homburg, katholisch, verheiratet, Kaufmann, selbständig, zwei Kinder, wohnhaft Gutzkowstr. 67 in Frankfurt. „Arische Abstammung“, auch der Ehefrau, behauptet, aber nicht bewiesen. Nicht Mitglied der NSDAP oder einer ihrer Gliederungen, nur von DAF und NSV. Ihm wurden 1936 Schädigung von „Volksgenossen“ und „verläumderischer Beleidigung“ zur Last gelegt; beides konnte er als Denunziationen widerlegen. Trotzdem galt er als politisch unzuverlässig. ISGF Gutachterausschuss für Grundstücksbewertung Nr. 2138. 602 Wächtershäuser an NSDAP Ortsgruppe Süd, (Frankfurt) 17. Januar 1940. ISGF Gutachterausschuss für Grundstücksbewertung Nr. 2138. 603 Oberbürgermeister an Bauamt, (Frankfurt) 23. Februar 1940. ISGF Gutachterausschuss für Grundstücksbewertung Nr. 2138. Wächtershäuser verkaufte das Haus nach 1953, Besitzerin war 1955 Stephanie Taic. ISGF Adressbuch 1952, 1955. 604 http://www.juedische-pflegegeschichte.de/index.php?datald = 22599 (10.12.2015) 605 ISGF MP 2382 Nr. 282 Adressbuch 1941. 606 Sie wurde am 19. Oktober 1941 von Frankfurt in das Ghetto Lodz deportiert, zusammen mit ihrer Schwester Rosa Gutmann und ihrem Schwager Sigmund Gutmann. Dort verlieren sich ihre Spuren. http://www.juedische-pflegegeschichte.de/index.php?datald = 22597 (10.12.2015). 607 Jüdische Fürsorgeeinrichtungen, vor allem Alten- und Kinderheime, wurden ab Kriegsbeginn sukzessive zu „Ghettohäusern“, also Sammellagern, „in denen die jüdischen Frankfurter vor ihrer Deportation konzentriert wurden, bestimmt. Ute Daub: Konzentrierung, 1999, S. 352. Eine Entschädigung für das Haus Feuerbachstraße erhielt die Jüdische Gemeinde nach 1945 nicht.
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sie vom Verkauf der Immobilie Feuerbachstraße 14 in Kenntnis setzte, zürnte sie. Schließlich habe sie das Haus der Gemeinde nicht als „Kapitalanlage“ geschenkt, sondern unter der Voraussetzung, dass daraus, dem Willen ihrer Eltern gemäß, ein Altersheim entstehen würde.608 Die von der Gemeinde vorgetragene Begründung, das Haus eigne sich nur sehr beschränkt zu diesem Zweck und bedürfe etlicher Umbauten, die die Gemeinde aber finanziell nicht tragen könne, waren für sie nicht nachvollziehbar. Denn schließlich habe diese sich seinerzeit das Haus vor der Schenkung zusammen mit einem Architekten angesehen und dergleichen nicht erwähnt, was höchst ärgerlich sei. Dass die Gemeinde gezwungen war, diesen verschleiernden Brief an sie zu richten, war Mimi Borchardt nicht bekannt. In ihrer Verärgerung lehnte sie das Angebot der Gemeinde ab, ein eventuell zukünftig zu kaufendes Altersheim mit dem Namen Cohen zu verknüpfen. „Wenn Sie sagen, dass Sie das Haus nicht halten können, so kann ich Ihnen natürlich einen Verkauf nicht wehren. Ich muss aber wohl sagen, dass ich mich wundre, dass Sie das Geschenk damals überhaupt angenommen haben, da – wenigstens die Gründe, die Sie in Ihrem Brief anführen – alle schon bei der Schenkung Ihnen offensichtlich gewesen sein müssen.“ Dies aber war keineswegs der Fall, die Jüdische Gemeinde war spätestens nach November 1938 in größter Bedrängnis und außer Stande, die tatsächlichen Hintergründe brieflich zu offenbaren. Subjektiv war die Verärgerung Mimi Borchardts nachvollziehbar, objektiv traf sie die falschen Adressaten und war infolge fehlender Informiertheit nicht adäquat. Zweifellos war Mimi Borchardt enttäuscht, mit ihrer großzügigen Schenkung nicht die von ihren Eltern besonders gegenüber der Jüdischen Gemeinde Frankfurt gepflegte Wohltätigkeit fortführen zu können und gewürdigt zu sehen. Anzufügen wären noch etliche weitere Beispiele, die ebenso belegen, dass sowohl Ludwig als auch Mimi Borchardt ihr Möglichstes leisteten, um Nahestehenden Hilfe zu geben, obschon sie anfänglich diese Notwendigkeit nicht unbedingt erkannten. Auch wenn sie ‚nur‘ ein Drittel ihres Vermögens darauf verwandten, so war dies doch eine Menge. Eine ebenso große Rolle spielten die sozialen Netzwerke, die sie aktivierten. Mimi Borchardt selbst siedelte ihre Hilfen jedoch niedrig an, sie glaubte, nicht wirklich helfen zu können. Ihre Freundin und Verwandte Else Oppler-Legband musste sie daran erinnern, wie sehr sie in Wirklichkeit half. „Ohne Mittel wäre es mir ganz unmöglich etwas zu erreichen, diese Möglichkeiten verdanke ich doch nur Dir“, schrieb sie am 5. November 1938 nach Kairo, bereits auf gepackten Koffern sitzend, täglich auf die Flucht ins rettende Exil nach Schweden wartend.609 608 MB an Jüdische Gemeinde, 1939. SIK MB 66/1. 609 Sie erreichte ihr Ziel, wurde in Schweden zunächst von ihrer Bekannten Gerda v. Schinkel aufgenommen. SIK MB 70/7.
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4.4.4 Unterstützung und Gegenleistung Schon seit Ende des Ersten Weltkriegs verfolgte Mimi Borchardt besorgt den in Deutschland zunehmenden Antisemitismus. Anders als der Gründer des VnJ, Max Naumann, machte sie sich für öffentliche Aktionen und Verlautbarungen gegen Antisemitismus und Nationalsozialismus stark, stieß damit beim VnJ nicht unbedingt auf Verständnis. Zustimmung fand sie bei Adolf und Käthe Erman, als sie einen Aufsatz des österreichischen Germanisten Josef Nadler (1884–1963), der schon in den 1920er Jahren völkische und rassistische Ideen vertrat, zum Anlass nahm, sich öffentlich zum Thema Antisemitismus zu äußern. Die positive Resonanz der von ihr „tiefverehrten Menschen“ Erman bedeutete Mimi Borchardt viel, denn es war ein Urteil über ein Thema, zu dem sie „immer schon (…) Vieles zu sagen gehabt“ hatte, was sie tief bewegte und zu einem ihrer zentralen gehörte.610 Sie war dafür sensibilisiert und wollte sensibilisieren. Von Ägypten aus verfolgten sie und ihr Ehemann das politische Geschehen in Deutschland und Europa über die Nachrichten, die sie aus der „Neuen Zürcher Zeitung“ und der in Ägypten erscheinenden „Bourse Égyptienne“ erhielten.611 Der Machtwechsel in Deutschland ließ vor allem Mimi Borchardt Schlimmes befürchten, sie erste Unterstützungsmaßnahmen in die Wege leiten, etwa zugunsten jüdischer Wohltätigkeitsorganisationen in Frankfurt oder des von David Cohen in den Niederlanden betriebenen „Jewish Central Information Office“.612 Trotz der problematischen Bedingungen in Ägypten versuchten sowohl Meyerhof als auch das Ehepaar Borchardt, auch dort Hilfen zu realisieren. Wesentlich waren dabei die ihnen zur Verfügung stehenden sozialen und beruflichen Netzwerke, wenngleich Borchardt im Gegensatz zu Meyerhof eine eher polarisierende Persönlichkeit war und nicht einhellig als Sympathieträger galt. Dennoch ergänzten sich die Netzwerke von Meyerhof und Borchardt ideal. Denn Borchardt konnte zusätzlich auf die internationalen Ägyptologen-Netzwerke zurückgreifen, 610 MB an Ehepaar Erman, 24. August 1932. UBB NLE Borchardt. Der Beitrag von MB zum Thema „Juden und Deutsche“ erschien als Leserbrief in der „Deutschen Allgemeinen Zeitung“. SIK MB 82/8 611 MB an Zürcher Zeitung, 11. November 1938. SIK MB 82/8; Erwin Schlesinger an LB, 27. Juli 1934. SIK LB. Die „Bourse“ ließen sie sich stets an ihre Urlaubsorte nachsenden. 612 Cohen bat LB am 14. Dezember 1937, die Organisation, die mittlerweile auf 41 Niederlassungen weltweit angewachsen sei, weiterhin zu unterstützen. Dankesschreiben Cohen an LB, (Amsterdam) 14. Januar 1938. SIK LB. MB unterstützte in Frankfurt: Israelitische Waisenanstalt (Röderbergweg 37), Selbsthilfegruppe Jüdischer Kinder, Verein für Jüdische Krankenpflegerinnen (ihr Vater Eduard Cohen war lange Zeit Mitglied des Vereinsvorstands), Nothilfe zur Erhaltung des Schulwerkes der Israelitischen Religionsgesellschaft, Jüdische Wohlfahrtspflege. SIK MB 66/1, 66/7.
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eine Gruppe von ihm seit Jahren vertrauten, trotz punktueller Kritik gewogenen Personen, die ihm hohen Respekt entgegenbrachten. Zudem waren Borchardt diplomatische Kreise in Ägypten vertraut. Ab Januar 1933 häuften sich die eingehenden Hilfegesuche, auch seitens entfernter Bekannten. Gretchen Bollacher, Ehefrau des an zahlreichen deutschen und amerikanischen Grabungen beteiligten deutschen Malers Alfred Bollacher, fragte im Mai 1933 wegen einer Freundin ihrer Tochter an. Dora Jacobsohn (1908– 1983), Tochter des Berliner Rechtsanwalts Ernst Jacobsohn, befürchtete, ihr Medizinstudium in Deutschland nicht abschließen zu können. Gretchen Bollacher meinte, in Kairo eine Chance dazu sehen zu können. Mimi Borchardt fragte bei Max Meyerhof nach, der sich sehr für die „Entrechteten“ einsetzte und befand, dass Jacobsohn zwar ihr praktisches Jahr nicht in Ägypten würde leisten können, möglicherweise aber ihr Studium dort beenden.613 Mit „ähnlichen Fällen“ wurde Mimi Borchardt tagtäglich „bestürmt“, mit dem Schicksal „zerstörter Existenzen“ konfrontiert, hoffte aber, dass die aktuelle Situation in Deutschland nicht grundsätzlich auf dessen Reputation als Kulturnation zurückfalle. Ausrichten konnte sie oftmals wenig, auch nicht für Dora Jacobsohn.614 Gretchen Bollacher bat im April 1939 nochmals flehentlich, nicht nur für Dora, sondern für die gesamte Familie Jacobsohn etwas zu tun, darauf hoffend, dass Mimi Borchardt über Beziehungen zum deutschen oder einem andern Krankenhaus verfügte, sodass Dora wenigstens als Pflegerin unterkommen könnte.615 Für Gretchen Bollacher war das Schicksal dieser und anderer Familien eine „Tragödie“, sie litt mit allen von den Nationalsozialisten Verfolgten, versuchte im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu helfen.616 Gänzlich ausgeschlossen war auch in Ägypten Hilfe nicht. Wahrscheinlich mit Hilfe Meyerhofs gelang es Mimi Borchardt, die Tochter der ihr seit Langem bekannten, möglicherweise entfernt verwandten Camilla Jellinek von Heidelberg, zu vermitteln. Ihren Beruf als Ärztin konnte Paula Jellinek zwar in Ägypten nicht ausüben, sondern lediglich als „Masseuse“ arbeiten, aber ihr Leben war gerettet, wie die Mutter im April 1938 dankend nach Kairo schrieb.617 Ludwig Borchardt 613 MB an G. Bollacher, 4. Mai 1933. SIK MB 53/4. 614 D. Jacobsohn legte 1935 in Berlin ihr Staatsexamen ab. Später gelang ihr die Flucht nach Schweden. Ab 1948 war sie Professorin an der Universität Lund. Verheiratet mit Dr. Moische Finci. 615 G. Bollacher an MB, 24. April 1939. SIK MB 53/4. 616 G. Bollacher an MB, 18. Juni 1939. SIK MB 53/4. 617 Paula Jellinek, geb. 1891 Basel, Tochter von Georg Jellinek (1851–1911) und Camilla Wertheim (geb. 1860 Wien). SIK MB 66/7. Bis Februar 1938 hielt Paula J. sich in Wien auf, ab März 1938 in Kairo. Am 5. August 1938 heiratete sie in Kairo nach orthodox-armenischen Ritus den Ägypter Harant Hamandijian, wurde am 2. Mai 1939 aus dem deutschen Staatsverband ausgeschlossen. PA AA Kairo-Gesandtschaft 2a.
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vermittelte den Erfurter Juristen Dr. Schweriner an einen ihm bekannten französischen Juristen in Ägypten, der, weil er über gute Beziehungen zum ägyptischen Innenministerium verfügte, problemlos die Einreise- und Aufenthaltserlaubnis erwirken konnte.618 Schon früh trat Meyerhof der von dem Nationalökonomen J. Levy in Kairo gegründeten „Association des Amis de l’Université de Jerusalem“ bei, wurde deren engagierter Vizepräsident zugunsten der Medizinerausbildung in Jerusalem, versorgte die von Weill gegründete orientalistische Bibliothek, obwohl er erklärtermaßen kein Zionist war.619 Zu den von Borchardt genutzten Ägyptologen Netzwerken gehörte auch sein eigenes, 1930 gegründetes privates Borchardt Institut für Ägyptologie, um dessen Bestand er sich zunächst nicht glaubte sorgen zu müssen. Das Institut war ein geeignetes Instrument für Hilfeleistung, indem es die Anstellung weiterer Mitarbeiter ermöglichte, worüber Borchardt weitgehend unabhängig entscheiden konnte. Hinderungsgrund wäre allenfalls gewesen, dass ein ebenso qualifizierter ägyptischer Wissenschaftler zur Verfügung gestanden hätte, was nicht der Fall war, wie verschiedene Ägyptologen glaubwürdig bestätigten. Hilfreich war, dass Borchardt nach wie vor mit dem bis 1936 in Ägypten tätigen deutschen Gesandten von Stohrer auf recht gutem Fuß stand, seine Bemühungen von dieser Seite also nicht behindert wurden. Anfang 1933 nahmen Borchardts für mehrere Monate die Archäologin Rosie Stern bei sich auf, womit diese Zeit für die Entwicklung neuer Zukunftsentwürfe gewann. Im Mai 1933 bedankte sie sich brieflich aus Athen, wo sie am „Hilfswerk für die Heimatlosen“ teilnahm.620 Ähnliche kurzfristige Unterstützungen dieser Art folgten. Doch Borchardt war an langfristigen Maßnahmen gelegen – die Schaffung einer weiteren Mitarbeiterstelle am Institut bot sich an. Auf Initiative des Physikers Max Born (1882–1970) wurde er Mitte 1933, vermittelt über den Arzt Ferdinand Springer und den Architekten A. Breslauer, auf Borns Neffen, den Berliner Architekten Otto Königsberger (1908–1999), aufmerksam.621 Born hatte seine Professur an der Universität Göttingen bereits 1933 aufgegeben, eine Entscheidung, die von seinem Freund Albert Einstein sehr begrüßt wurde.622 Einstein
618 LB an Meyerhof, (Luxor) 19. Januar 1936. Meyerhof riet (21. Januar 1936), Schweriner nach Palästina zu vermitteln, da man in Ägypten die Notlage der Flüchtlinge ausbeute. SIK LB. 619 Meyerhof an LB, (Cortina d’Ampezzo) 1. September 1935, 24. November 1936, 24. Dezember 1936. SIK LB. 620 Athen (Hotel Cosmopolite), 10. Mai 1933. SIK MB 78/1. 621 F. Springer an A. Breslauer, 21. Juli 1933. LB war sogleich begeistert von dem Vorschlag. SIK LB. 622 30. Mai 1933. Einsteins Informationen nach sollte in Jerusalem ein physikalisches Institut aufgebaut werden, was zu fördern sei. Des Weiteren habe Niels Bohr Rockefeller kontaktiert,
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informierte gleichzeitig über die Gründung des AAC in England, wies auf die problematische Situation von Nachwuchswissenschaftlern hin, zu denen auch Otto Königsberger gehörte. Born gehörte dem Rat deutscher Professoren im Ausland an, der die „Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland“ über freie Stellen in der ganzen Welt informierte.623 Im Sommer 1933 traf er sich mit dem Ehepaar Borchardt in Zürich, vor allem um die Emigration seines Neffen nach Ägypten zu besprechen.624 Für Born gab es keinen Zweifel, dass er ebenso wie alle Deutschen jüdischer Herkunft Deutschland unmittelbar nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten verlassen und vom Ausland aus Verfolgten helfen musste.625 Als ein Haupt unglück betrachteten er und Einstein, „dass die saturierten Juden der bisher verschonten Länder wie ehedem die deutschen Juden sich der törichten Hoffnung hingeben, durch Schweigen oder patriotische Gebärden sich sichern zu können“.626 Dies führe dazu, dass sie die Aufnahme verfolgter deutscher Juden sabotierten, ähnlich wie sich vor Jahren die deutschen Juden gegen die Zuflucht suchenden Juden aus Osteuropa gesperrt hätten. Diese Haltung sei in den USA ebenso zu beobachten wie in Frankreich und England. Während eines Kuraufenthalts in Karlsbad im August 1936, kurz nachdem er an die Universität Edinburgh berufen worden war, traf Born sich mit Chaim Weizmann, der ihn während gemeinsamer Spaziergänge über die zionistische Bewegung unterrichtete.627 Wenig später wandte er sich von Edinburgh aus an Einstein mit Bitte um Hilfestellung für zwei verfolgte deutsche Wissenschaftler der vertriebene deutsche Wissenschaftler unterstützen sollte. Für Oxford habe Lindemann an London und Heitler gedacht. Für diese Zwecke habe sich eine Organisation „über alle englischen Hochschulen“ gebildet. Born wusste von Einstein, dass dieser nie sonderlich positiv über die Deutschen gedacht hatte, angesichts der derzeitigen Situation aber dennoch erstaunt war über „den Grad ihrer Brutalität und – Feigheit“. Einsteins Plan, eine Exil-Universität ins Leben zu rufen, stieß auf unüberwindbare Schwierigkeiten. Albert Einstein und Max Born, 1969, S. 159 f. 623 Zu diesem Rat gehörten auch Philipp Schwartz, Fritz Haber (Cambridge), Ernst Cassirer (Oxford), Leopold Lichtwitz (New York), James Franck (Kopenhagen), Peter Pringsheim (Brüssel), Hans Kelsen (Genf), Richard von Mises (Istanbul), Bernhard Zondek (Stockholm) und Hermann Weyl (Princeton). Johannes Feichtinger: Wissenschaft, 2001, S. 72. 624 Max Born an MB, 20.9.1938. SIK MB 53/4. 625 Eine Professur im indischen Bangalore schlug er, so seine Version, zugunsten seines Bleibens in Cambridge aus. Kein Verständnis brachte Born etwa für seinen Kollegen Franck auf (Bozen, 2. Juni 1933, an Einstein). Dieser wollte trotz zunehmender Bedrohung in Göttingen bleiben. Nicht zuletzt auf Borns Initiative hin knüpfte die Züricher Notgemeinschaft Verbindungen zu Russland und Indien (Born an Einstein, Cambridge, 8. März 1934). Albert Einstein und Max Born, 1969, S. 164, 167. 626 Princeton, 22. März 1934 an Born. Zitiert nach: Albert Einstein und Max Born, 1969, S. 169. 627 Born an Einstein, 24. August 1936. Albert Einstein und Max Born, 1969, S. 171 f.
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(Prof. R. Samuel, Hans Schwerdtfeger).628 Borns Ehefrau Hedi schloss sich in Cambridge den Quäkern an und agierte unermüdlich für Flüchtlinge. Wie Born am 31. Mai 1939 schrieb, „florierte“ ihr vor allem Frauen zugute kommender „Domestic Service“. Bis Mai 1939 gelang es auch Max Borns Schwestern und andern Verwandten, Deutschland zu verlassen. Zurück blieben einige „unglückliche Vettern“.629 Mimi Borchardt machte sich diese Informationen zunutze, verwies gegenüber Hilfesuchenden mehrfach auf die „Society of Friends“ der Quäker. Selbstverständlich trat Born auch für seinen Neffen Otto Königsberger ein, hielt ihn über die Situation verfolgter deutscher Wissenschaftler, Flucht-, Arbeitsund Lebensbedingungen innerhalb und außerhalb Deutschlands auf dem Laufenden. Das Angebot Borchardts, Königsberger als Mitarbeiter anzustellen, war ein Glücksfall und erster Rettungsanker, für beide Seiten eine ‚win-win‘-Situation. Doch währte die Ruhephase in Ägypten nicht lange. Ein als ausgeheilt geltendes Lungenleiden machte sich wieder bei Königsberger bemerkbar. Der mit Borchardt befreundete Arzt Schlesinger, der sich schon vor 1933 in Kairo niedergelassen hatte, aber wegen seiner jüdischen Herkunft nicht mehr nach Deutschland zurückkehren konnte, unterzog Königsberger eingehenden Untersuchungen. Eine „offene Tuberkulose“ wurde diagnostiziert und in Berlin verifiziert.630 Monatelange Kuraufenthalte in der Schweiz, schließlich mehrere Operationen waren erforderlich. Ein dauerhafter Aufenthalt in Ägypten schien nicht mehr in
628 Edinburgh, 24. Januar 1937. Prof. R. Samuel, Schüler von Franck und Born in Göttingen, emigrierte von Deutschland nach Indien (Moslim-Universität Aligarh), wo er als Nicht-Moslem mit erheblichen Schwierigkeiten konfrontiert war. Er war überzeugter Zionist, wollte nach Palästina, wo sich seine Ehefrau und sein Sohn bereits aufhielten, und sich um eine Stelle als Experimental-Physiker in Jerusalem bewerben, weshalb Einstein sich dort nachdrücklich für ihn verwenden und auf jeden Fall erwähnen sollte, dass Samuel Zionist war. Dies schien geboten, denn an der Jerusalemer Universität war laut Born eine „üble Clique“ bestimmend, die ein faules Leben führte, sich von dem fleißigen Samuel nicht stören lassen wollte. Einstein sollte energisch einschreiten, Weizmanns diesbezügliche Interventionen waren fruchtlos geblieben. Hans Schwerdtfeger, damals junger nichtjüdischer Mathematiker aus Göttingen, konnte wegen seiner Ablehnung des Nationalsozialismus in Deutschland keine Stelle finden. Born wollte besonders auch solchen Menschen helfen, Einstein sollte an Molotow, Prof. Schmidt oder Garbunow schreiben, Schwerdtfeger empfehlen. Samuel konnte nach Palästina vermittelt werden, Schwerdtfeger mit Borns Hilfe nach Australien, später nach Montreal (Canada). Albert Einstein und Max Born, 1969, S. 174–177. 629 Max Born zählte zu den wenigen deutschen Flüchtlingen in England, die nach Ausbruch des Krieges nicht als „enemy aliens“ interniert wurden, denn er hatte wenige Wochen vor Kriegsbeginn die britische Staatsbürgerschaft erhalten. Von seinen Mitarbeitern wurde unter anderen Klaus Fuchs zuerst auf der Isle of Man, dann in Kanada interniert. Born an Einstein, 15. Juli 1944. Albert Einstein und Max Born, 1969, S. 189, 200. 630 Schlesinger an LB, Kairo, 27. Juli 1934. LB an Schlesinger, Frankfurt, 30. Juli 1934. SIK LB.
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Frage kommen zu können. Borchardts unterstützten Königsberger dennoch weiterhin, finanzierten Operationen und Kuraufenthalte. Äußerst besorgt waren sie, als Max Born seinem Neffen eine Tätigkeit in Indien vermittelte, die Königsberger dennoch annahm.631 Allzu viele Alternativen hatte er nicht. In den Tagen nach der „Gleichschaltung Österreichs und den verlogenen Kampfmethoden, die sie herbeigeführt haben“, zog sich für ihn das Netz in Deutschland immer weiter zu. Er fühlte sich wie „Naturkatastrophen gegenüber“, hatte keinen „Einfluss und Anteil am Geschehen“.632 Weil Königsberger die Stelle bei Borchardt nicht unnütz blockieren wollte, empfahl er deren kurzzeitige Besetzung durch Walter Segal (1907–1985), mit dem er 1931 für einen Krankenhausbau in Berlin eng zusammengearbeitet hatte. Auch er musste Deutschland wegen seiner jüdischen Herkunft verlassen, nicht wissend, was mit den auf Mallorca lebenden Eltern und der Schwester geschehen würde. Borchardt ließ sich auf den Vorschlag ein, wollte sich aber vor der definitiven Entscheidung mit Segal in Genua treffen. Dass dies Segal vor größere Probleme stellen würde, da die Ausreise aus Spanien, wo er sich aufhielt, überaus schwierig war, war Borchardt nicht bewusst.633 Ihm war wichtig, Segal vor dessen Transfer nach Ägypten zu treffen, was geboten erschien, weil Segal zwar ausgezeichnete Zeugnisse hatte, aber einem eher unkonventionellen Elternhaus entstammte, das wenig mit dem großbürgerlichen von Königsberger gemein hatte. Vater Arthur Segal (geb. 1875) war ein nicht ganz unbekannter Kunstmaler, der seinen Sohn gemeinsam mit seiner Ehefrau Erna Chava (geb. 1879) entscheidend prägte;634 Künstler wie Tzara, Arp, Schwitters, Klee, Kandinsky und Mies van der 631 Von 1939 bis 1948 war er als „Chief Architect and Planner of Princely Mysore State“ tätig, von 1948 bis 1951 als „Federal Director of Housing“ der neuen indischen Regierung. Dabei sorgte er für die Unterbringung von Millionen von Flüchtlingen aus Pakistan, plante u. a. die Hauptstadt des indischen Bundesstaates Orissa, Bhunbaneswar. Born war von Oktober 1935 bis März 1936 als Gastwissenschaftler im indischen Bagalore tätig gewesen, eine dauerhafte Anstellung scheiterte an einem „engen Intrigennetz“ vor allem der dortigen britischen Wissenschaftler. Margit Franz: India, 2015, S. 72–74, 132; Rachel Lee: Negotiating Modernities, 2014. 632 Königsberger an LB, (Berlin) 13./14. März 1938. SIK LB. 633 Am 7. Oktober 1934 schilderte Segal Otto Königsberger die problematische Situation in Spanien. Mutter Erna Segal berichtete am 8. Oktober 1934 aus Palma de Mallorca: Bahn- und Schiffsverkehr funktionierten kaum, die Beschaffung eines Transitvisums für Frankreich war aber möglich. SIK LB. 634 Die Eltern Segals waren rumänisch-jüdischer Herkunft, Vetter und Cousine. Mutter Ernestine Chava kam als Jugendliche mit ihren Eltern nach Berlin, Vater Arthur verließ seine wohlhabend-bürgerliche Familie mit 17 Jahren, ging zunächst nach München, dann nach Berlin. Eheschließung 1904 in Berlin, 1907 Geburt von Sohn Walter, 1908 einer Tochter. Arthur S. unterrichtete Malerei, entwickelte sich zu einem Pionier der Kunsttherapie, weshalb u. a. Sigmund Freud auf ihn aufmerksam wurde, den Segal dann im September 1939 um eine Referenz
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Rohe zählten zu den Freunden der Familie. Schon vor 1933 bemühten sich Mendelsohn und Bruno Taut um Walter Segal als Mitarbeiter, 1926 Gropius.635 Dieser aber zog ein Studium in den Niederlanden vor,636 kehrte nach einem Besuch bei Le Corbusier und Lurcat an die Technische Hochschule in Berlin-Charlottenburg zurück, wo er bald die traditionelle Ruhe mit einem aggressiven Artikel über die Zustände an der Hochschule störte.637 1931 wechselte er zur Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich, beendete dort seine Arbeit bei Karl Moser, erhielt 1932 sein Diplom von der TH Berlin-Charlottenburg. 1932 forderte Bernhard Mayer Segal auf, in Ascona das Casa Piccola zu bauen.638 Bruno Taut bot ihm in demselben Jahr an, sich seinem Team in Moskau anzuschließen, worauf Segal sich einließ. Das Projekt löste sich bald auf, Segal blieb für ein weiteres Jahr in Ascona, wo er Anbauten und kleine Häuser entwarf. Den Auftrag von Bernhard Mayers Freunden für den Bau eines Hauses auf Palma de Mallorca nahm er an, entwarf ein paar Villen auf Mallorca und ein Restaurant auf Ibiza, wo er 1934 ländliche und städtische Häuser studierte und dazu eine ausführliche architektonische Studie verfasste.639 Überzeugend dürften auf Borchardt Segals gute Zeugnisse, etliche Empfehlungsschreiben, etwa von Gropius und Erich Mendelsohn, sowie die zahlreichen Stipendien640 und vielseitigen Erfahrungen gewirkt haben, obschon Borchardt mit der Aufnahme Segals gewiss über seinen bürgerlichen Schatten springen musste. Weniger war dies bei seiner Ehefrau der Fall, der Segals Künstlerumfeld im Elternhaus eher vertraut war.641 Otto Königsberger bezeichnete Segal 1988 als Perfektionisten, ein anderer Kollege attestierte ihm eine beeindruckende Selbstdisziplin, die er laut Julius Posener wohl von seinem Vater geerbt hatte.642
nlässlich der Eröffnung seiner Malschule in England bat. 1914 ging Familie Segal von Berlin a nach Ascona, wo sich ihr Status 1916 von Touristen zu politischen Flüchtlingen wandelte. 1920 kehrten sie nach Berlin zurück. John McKean: Segal, 1989, S. 27, 29. 635 John McKean: Segal, 1989, S. 11. 636 Segal fand die dortige Schule „reaktionär“, kam aber durch Oud in Kontakt mit der De Stijl Gruppe. Er interessierte sich für Dudok in Hilversum, Bijvoet, Duiker und Stam. 637 Den Text hatte er zusammen u. a. mit Julius Posener verfasst. 638 In der Schweiz erlernte er das Schreinerhandwerk. John McKean: Segal, 1989, S. 35, 37. 639 John McKean: Segal, 1989, S. 53, 57. 640 U. a. erhielt er 1929 den 3. Preis in einem Studentenwettbewerb, 1930 den 2. Preis in einem Studentenwettbewerb, der sogar veröffentlicht wurde. Stark beeinflusste Segal Konrad Wachsmanns Buch „Holzhausbau“. John McKean: Segal, 1989, S. 31. 641 Ihr in Murnau niedergelassener, mit MB in stetem Kontakt stehender Verwandter James Loeb bewegte sich in denselben Kreisen wie Segal. Auch hatte MB durch ihre Verwandte und Freundin Else Oppler-Legband Bezug zu diesen Künstlerkreisen. 642 John McKean: Segal, 1989, S. 31–33.
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Irritierend bzw. anders waren Segals Weltanschauungen. Im Wohnungsbau etwa sah er mehr als eine architektonische Herausforderung, vielmehr die Möglichkeit, „guten Wohnraum für alle“ zu schaffen, was seinem zentralen Interesse Chancengleichheit entsprach.643 Segal „glaubte an die Macht der Vernunft. Sein gesunder Menschenverstand war ungewöhnlich gut entwickelt. (…) Seit seiner Kindheit gab es bei Walter Segal keinen Raum für Bluff.“644 Es war sein Anliegen, das menschliche Verhalten zu verstehen, weshalb er sich intensiv mit anthropologischen Themen auseinandersetzte.645 Charakteristisch für ihn waren seine Bescheidenheit und Fähigkeit zu asketischem Leben, was ihn für eine Tätigkeit in Ägypten prädestinierte.646 Dort aber belasteten ihn die Sorgen um seine Eltern, auch wenn das Verhältnis zu seinem Vater, für dessen intellektuell begrenzte Philosophie er wenig Verständnis aufbringen konnte, nie ganz spannungsfrei gewesen war. Arthur Segal kannte diese Gegensätze und empfand es als Erleichterung, als sein Sohn von Mallorca nach Ägypten wechselte, meinte auch, dass er sich wohl nie auf seinen Sohn würde stützen können. Dass er damit falsch lag, sollte sich wenige Jahre später erweisen, als Walter Segal seine Familie in den ‚sicheren Hafen‘ England zu bringen verstand.647 Zunächst erwies sich Segals Einreise nach Ägypten als problematisch. In Unkenntnis der in Spanien herrschenden Bedingungen hatte Borchardt in einem für das ägyptische Konsulat in Madrid bestimmten Schreiben angegeben, Segal 643 John McKean: Segal, 1989, S. 11. 644 John McKean: Segal, 1989, S. 11. 645 Dabei spielten die Prägung der Kindheit eine Rolle, „die Bewegungen des Monte Veritá und des Schweizer Dada während des Krieges 1914–18, des Berlin in den frühen Zwanzigern und die europäischen Architekturströmungen der späten zwanziger Jahre“. Segal lebte lange in Ascona, wo um 1900 um ein kleines Fischerdorf eine utopische Kolonie entstand, deren Zentrum Familie Segal war. Um diese sammelten sich u. a. Lou-Lou Albert-Lazard (Paris), Hans Arp (Zürich), Tristram Tzara und Hans Richter, Hugo Ball und Emmy Hennings (Gründer des Dada), die Schriftsteller Leonhard Franck und Eli Ludwig. 1917 kam der Maler Alexi Jawlensky (der für kurze Zeit mit Segal Mutter ‚durchbrannte‘). Walter Segal genoss eine freie Erziehung, mit 14 Jahren legte er sich auf den Berufswunsch Architekt fest. Nach der Rückkehr nach Berlin, 1920, schloss Segal sich der „November-Gruppe“ an, war Mitglied des Komitees und im Mittelpunkt des Berliner künstlerischen Milieus, wozu u. a. Mies van der Rohe, Häring und Hilberseimer gehörten, die meisten Avantgarde-Künstler der Nachkriegsjahre. Das Segal’sche Haus wurde zu einem bekannten Avantgarde-Treffpunkt Berlins, W. Segal hielt sich aber auf Distanz. „Für Segal waren Deutsche eine ‚schwerblütige Rasse‘. Und das Schwärmerische, das sich in einer fürchterlichen Logik vom frühen 19. Jahrhundert bis in den Nazismus und darüber hinaus fortentwickelte, schreckte ihn.“ John McKean: Segal, 1989, S. 21, 23 f, 27. 646 „Sein ganzes Leben hindurch beobachtete Segal, wie wir in einer Wohnung leben.“ Er vermied es, „sich durch ‚Dinge‘ zu Boden drücken zu lassen“, trug für Reisen nur einen kleinen Rucksack mit sich, hatte überhaupt nur wenig materiellen Besitz. John McKean: Segal, 1989, S. 17. 647 John McKean: Segal, 1989, S. 29.
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werde wegen eines festen Vertragsverhältnisses und für längere Dauer in Ägypten bleiben. Da aber das Konsulat Aufenthaltsgenehmigungen für nur maximal drei Monate und zu Erholungs- und Studienzwecken erteilte, konnte Segal dieses Schreiben nicht verwenden. Er hoffte, dass seine tatsächlichen Ausreisegründe nicht aufgedeckt würden.648 Als die Migration schließlich glückte, erwies sich die Tätigkeit am Borchardt Institut als nicht völlig auf Segals Interessen und Fähigkeiten zugeschnitten. Zumal die erforderliche Verwaltungsarbeit behagte ihm wenig. Doch musste er sich besonders während der sommerlichen Abwesenheit des Ehepaars Borchardt649 um die Aufrechterhaltung des Instituts kümmern, gleichzeitig seine eigenen Studien zu altägyptischen Stühlen vorantreiben. Auf diese Weise traf er auf Bekannte und lernte ihm bis dahin unbekannte Ägyptologen kennen, so im Juni 1935 den Franzosen Georges Posener und im August 1935 Foucart.650 Im Museum ließ er sich von Gauthier und Brunton helfen. In regelmäßigen Abständen schaute der Arzt Schlesinger im Institut vorbei, auch um für die Auszahlung der Gehälter an die Angestellten zu sorgen. Der exilierte Politologe Siegfried Landshut (1897–1968)651 nutzte zusammen mit seiner Familie den Borchardt’schen Garten, erntete die Weintrauben. Im Sommer 1935 entschloss sich die Familie, Ägypten zu verlassen und nach Palästina zu migrieren, wie Schlesinger durch den Musiker und Emigranten Benno Bardi652 in Erfahrung brachte.653 Segal erfuhr, dass der deutsche Gesandte von Stohrer nach Bukarest versetzt werden sollte, was Borchardt in der Schweiz bereits zugetragen worden war.654 648 Segal an LB, Palma, 10. November 1934. SIK LB. 649 Borchardts hielten sich im Juni 1935 in Klosters (Grand Hotel Vereina) in der Schweiz auf, dann in Basel, im August 1935 in Pontresina (Hotel Saratz) und in Zürich, dann in Berlin (Edenhotel). SIK LB. 650 Segal an LB, (Kairo) 28. Mai u. 20. August 1935. SIK LB. 651 Bekannt v. a. als Entdecker und Herausgeber der Frühschriften von Karl Marx. Sohn von Samuel Landshut (Architekt) und Suzette Cohn, verheiratet (1921) mit Edith Hess, drei Kinder. Studierte Nationalökonomie, Soziologie und Philosophie in Freiburg und Heidelberg, 1925 bis 1927 Assistent am Institut für Auswärtige Politik in Hamburg, dann Assistent am Sozialökonomischen Seminar der Universität Hamburg. Wegen seiner jüdischen Herkunft entlassen, Emigration nach Ägypten 1933, dort bis 1936, danach in Palästina, wo er an der Hebräischen Universität in Jerusalem arbeitete. 1945 bis 1948 erneut in Ägypten, 1951 in Hamburg Professor für Politische Soziologie und Politische Wissenschaft. http://de.wikipedia.org/wiki/Siegfried_Landshut (23.01.2015). 652 In den Melderegistern von 1938/39 ist er nicht verzeichnet. Dort findet sich lediglich Margarete Bardi (geb. 1888 Gera), Tochter von Louis Hirsch, Malerin, die 1934 aus Berlin nach Kairo migrierte. Wohnhaft war sie in der Rue Cemboni in Zamalek. PA AA Kairo-Gesandtschaft 2a. 653 Segal an LB, Kairo, 30. August 1935. Am 4. Oktober 1935 berichtete Segal, er habe von Schlesinger erfahren, dass Landshut nach Deutschland zurückgekehrt sei. SIK LB. 654 Segal an LB, (Kairo) 6. September 1935. LB an Segal, 11. September 1935. LB kommentierte dies: „Er war lange genug da – für ihn, denn so ist er nicht in seiner Karriere weitergekommen.“ SIK LB.
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Das Ehepaar Borchardt hielt sich im September 1935 in Berlin auf, war so in Eile, dass Borchardt den beabsichtigten Besuch bei dem ihm sympathischen Dörpfeld ausfallen lassen musste. Die Erlebnisse in Berlin waren so aufrührend, dass Borchardt entschied, nicht am anstehenden Orientalistenkongress in Rom teilzunehmen.655 Wesentlicher Grund dürfte gewesen sein, dass dem Leipziger Kollegen Georg Steindorff die Kongressteilnahme seitens des Ministeriums verweigert worden war und Borchardt sich durch seine Nicht-Teilnahme solidarisch erklären wollte.656 Von Kairo aus verfolgte Segal mit großer Sorge das politische Geschehen in Spanien, wo sich seine Eltern noch aufhielten. Es war von großen Unruhen auf den Balearen die Rede, Palma sei von fünf spanischen Bataillonen besetzt worden. Angesichts dessen nahm das Ehepaar Borchardt von seinen Urlaubs plänen für Spanien Abstand und plante für Oktober 1935 die Rückkehr nach Ägypten.657 So gut es ging konzentrierte sich Segal auf seine in Ägypten gefragten Aufgaben, nahm an einer Grabung am Grabtempel von Thutmosis III. teil, forschte zu ägyptischen Stühle, hauptsächlich aus dem Grab des Tut-anch-Amun, die Howard Carter erst wenige Jahre zuvor entdeckt hatte und die Segal dann Jahre später selbst in London baute.658 Mit dieser Untersuchung wollte Segal sich ein Sprungbrett zu einer ägyptologischen Karriere verschaffen.659 Zustande kam die geplante Monographie nie, auch weil Segals Vertrag in Ägypten auf wenige Monate befristet war und er später keine Zeit mehr fand. Kurz nach der Rückkehr von Ludwig und Mimi Borchardt nach Ägypten lief Segals Vertrag aus, im November 1935 begab er sich nach Palästina, weil ihm der in Jerusalem lebende Architekt Erich Mendelsohn eine Zusammenarbeit angeboten hatte, was Segal skeptisch aufnahm und schließlich ablehnte.660 Dennoch
655 LB an Segal, 13. September 1935. SIK LB. 656 Steindorff war „ziemlich deprimiert“, weil er gerne am Kongress teilgenommen hätte. Ihm fehlte aber die „Courage, die Schwierigkeiten, die sich einer Englandreise in den Weg stellten, aus dem Weg zu räumen“, obwohl er sich mit den britischen Kollegen Gardiner, Newberry, Crum, Herbert Thompson, Gunn, Davies, Miss Moss sowie Mrs. Griffith im Herbst 1935 für zwei Wochen in England treffen wollte. Steindorff an Gardiner, (Leipzig) 14. August 1935 und Lac de Como (Grand Hotel Britannia Excelsior Cadenabbia) 4. September 1935. GIO AHG/42.308.47. 657 Segal an LB, (Kairo) 20. September 1935. LB an Segal, (Berlin) 25. September 1935. SIK LB. 658 John McKean: Segal, 1989, S. 53. 659 John McKean, Segal, 1989, S. 59. Seine Arbeit war „peinlich genau, gründlich und überlegt. In den Worten eines modernen Experten: ‚Man kann ohne Übertreibung sagen, dass seine Aufzeichnungen über die Tut-ench-Amon Stühle und Höcker unschätzbar sind.“ Marianne EatonKrauss‘ Brief an John McKean vom 8. Juni 1988, in: John McKean, Segal, 1989, S. 59. 660 John McKean, Segal, S. 59
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nutzte er die zehn, ihm in Palästina zur Verfügung stehenden Tage intensiv.661 Von Land und Leuten war er tief beeindruckt, zugleich auch bedrückt, weil „eine solche Menge von Juden in diesem orientalischen Pulverfass konzentriert werden muss“, wohl wissend, dass für die meisten Emigranten die Niederlassung in Palästina alternativlos war.662 Von Mendelsohn war Segal schwer enttäuscht; er machte auf ihn „menschlich und künstlerisch (…) einen sehr schlechten Eindruck“, der sich durch Mendelsohns Eingangsfrage, ob Segal mit seinem „ägyptischen Blödsinn“ endlich fertig sei, noch verstärkte. Zudem missfiel Segal Mendelsohns Freundschaft mit dem Ägyptologen Friedrich von Bissing. Auch Mendelsohns Ehefrau machte keinen besseren Eindruck, sie pflegte einen Briefwechsel „mystischer Natur“ mit einem deutschen Ägyptologen, wobei es sich um den nachweislich nationalsozialistisch gesinnten Siegfried Schott (1897–1971)663 handelte,664 wie Segal herausfand und Frau Mendelsohn mitteilte. Obendrein stellte sich heraus, dass Mendelsohn sich „unter den länger im Lande lebenden Leuten“ schon recht unbeliebt gemacht hatte und „trotz seines Könnens“ als „unerwünscht“ galt. Anfang Dezember 1935 reiste Segal nach Palma de Mallorca, um sich um seinen erkrankten Vater zu kümmern, wollte aber am 11. Januar 1936 nach London weiterreisen, dort am 15. Januar eintreffen. In Berlin hatte zwischenzeitlich sehr erfolgreich eine Ausstellung der Werke Arthur Segals stattgefunden, worum sich vor allem Adolf Behne (1885–1948)665 verdient gemacht und damit erheblichen Gefährdungen ausgesetzt hatte. Auch die anschließende Ausstellung von Schülern Segals verzeichnete großen Erfolg. 661 Segal an LB, (Jerusalem) 17. November 1935. SIK LB. 662 Segal an LB, (Palma) 14. Dezember 1935. SIK LB. 663 Studierte Ägyptologie unter Ranke in Heidelberg, später bei Junker, Sethe und Kees; Assistent am Berliner Museum, 1930/31 am DAI Kairo, 1931–1937 Epigraph für die Amerikaner im Chicago House in Luxor, nach Rankes Emigration dessen Nachfolger in Heidelberg, 1941 an der Universität Göttingen, 1943–1945 Universität Heidelberg, Professor für Ägyptologie 1952–1956, Nachfolger von Kees in Göttingen 1956–1965, Mitglied zahlreicher Akademien. Seit November 1932 war Schott Mitglied der NSDAP, gehörte später diversen NS-Organisationen an. Keith C. Seele (Chicago) vermerkte 1950, Schott sei Ortsgruppenleiter der NSDAP in Luxor gewesen. Whowas-Who, 2012, S. 495. Thomas Schneider: Ägyptologen, 2013, S. 181. 664 Ludwig Keimer schrieb am 21. September 1949 an J. Cerny (Oxford): „Schott a été certainement un nazi convaincu et militant, mail il m’a toujours très bien traité en dépit de mon attitude franchement anti-nazi!“ GIO MSS Cerny 21.1260. 665 Architekt, Architekturpublizist und Wissenschaftler sowie ein Wortführer der Avantgarde, lehrte bis zu seiner Entlassung 1933 an der Universität Berlin, war danach Autor in Deutschland, 1945 bis 1948 Professor an der staatlichen Hochschule für Bildende Kunst Berlin. Eine zentrale Forderung Behnes war jene nach Schaffung einer neuen volksnahen Kunst und Architektur. http://de.wikipedia.org/wiki/Adolf_Behne (23.02.2015).
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Auf ägyptologischem Gebiet hinterließ Segal kaum Spuren, womit Ludwig Borchardt möglicherweise auch nicht gerechnet hatte. Andere Spuren hinterließ er aber durchaus, in erster Linie bei Mimi Borchardt. Intensiv hatten sich die beiden über das Wesen und die Ursachen von Antisemitismus auseinandergesetzt.666 Daran zurückdenkend, empfahl Segal Mimi Borchardt die Lektüre von Leo Pinskers667 Schrift „Autoemanzipation“ (1882). Unter den radikal veränderten Bedingungen fielen Pinskers Überlegungen bei ihr auf fruchtbaren Boden, was vor 1933 undenkbar, weil ihrem Denken diametral entgegengesetzt gewesen wäre. Letztlich spendeten ihr diese Worte eine Form von Trost angesichts der Erniedrigung, als die sie die Ausgrenzung aus der deutschen Gesellschaft und damit auch aus der deutschen Kultur empfand, deren Verteidigung ihr Hauptinteresse seit dem Krieg gegolten hatte. Ein solches Interesse prangerte Pinsker an, bezeichnete es als Anpassung an die umgebende Gesellschaft und folgenreiches Fehlverhalten der Juden, weil sie sich damit ihrer „traditionellen Originalität“ entäußerten. Ihrer Bemühungen zum Trotz würden sie dennoch nicht als „ebenbürtige Eingeborene“ anerkannt, sondern ausgegrenzt und erniedrigt.668 Laut Pinsker konnten die Juden ihre verlorene Ehre nur zurückgewinnen, indem sie sich einen eigenen Nationalstaat schufen. Mit dieser Konsequenz gingen jedoch weder Segal noch Mimi Borchardt konform. Gleichwohl bedeutete für Mimi Borchardt Pinskers Aufruf an die Juden, sich auf den eigenen Stolz zu besinnen, ein „Band unseres nationalen Selbstbewusstseins“ zu entwickeln, und so die „moralische Würde“ wiederzugewinnen, Trost und Perspektive zugleich.669 Segal interpretierte Antisemitismus weit nüchterner, als ein Resultat von „Neid, Minderwertigkeitskomplexen und noch einer Reihe ähnlicher erfreulicher Eigenschaften (…), mit denen ja unsere ‚nordischen‘ Mitbürger so reichlich gesegnet sind“. Pinskers Schriften waren ihm ebenso vertraut wie jene von Theodor Herzl und Achad Haam, für Mimi Borchardt waren sie ‚Neuland‘; sie eröffneten ihr neue gedankliche Möglichkeiten und das Entwickeln anderer Handlungsmodelle. Auf diese Weise hinterließ Segal langfristig sehr deutliche Spuren in Kairo und eroberte sich das Vertrauen von Mimi Borchardt.
666 Segal an MB, 14. Dezember 1935. SIK LB. 667 Jehuda Löb Pinsker (= Leo Pinsker), Arzt und Journalist, geb. 1821 Tomaszów Lubelski (Russland), gest. 1891 Odessa. Galt als Vorläufer und Wegbereiter des Zionismus. Zunächst befürwortete er die Assimilation der Juden, betonte später die jüdische Nationalität, jüdische Selbständigkeit und Emanzipation. In „Autoemanzipation“ forderte er einen jüdischen Nationalstaat, was aus seiner Beobachtung des in Europa zunehmenden Antisemitismus resultierte. http://de.wikipedia.org/wiki/Leo_Pinsker (24.01.2015). 668 Leo Pinsker: Autoemanzipation, 1917, S. 10 f. 669 Leo Pinsker: Autoemanzipation, 1917, S. 18.
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Tatsächlich schaffte es Segal im Januar 1936 nach England, schrieb von dort am 15. Februar 1936 erstmals nach Kairo und wurde für Borchardts zu einer wichtigen Brücke.670 Zwar arbeitete Segal nebenher noch an seiner ägyptologischen Untersuchung,671 hatte aber gute Aussichten, als Architekt tätig werden zu können. Eine Aufenthaltserlaubnis hatte er ohne Probleme erhalten. Doch bequem war sein Leben nicht, auch nicht, als er im November 1936 seinen Wohnsitz an den Brunswick Square in London verlegen konnte. Schwer drückten ihn die Sorgen um Eltern und Schwester, denen schließlich doch die Emigration von Mallorca nach England glückte, nachdem sie ab Juli 1936 „ununterbrochen in einer Atmosphäre von Schrecken und Terror gelebt (hatten) und Augenzeugen von allen möglichen entsetzlichen Ereignissen“ geworden waren.672 Mitte Oktober 1936 gelang ihnen die Ausreise. In England fühlten sie sich ebenso aufgehoben und sicher wie ihr Sohn, doch zweifelten sie gemeinsam, ob das Gefühl der Fremdheit jemals schwinden würde.673 Beruflich etablierte sich Segal mehr und mehr, beantragte im Mai 1936 beim Home Office eine Arbeitserlaubnis als selbständiger Architekt, konnte Empfehlungen etlicher englischen Kollegen beilegen, wurde unterstützt vom Sekretär des „Royal Institute of British Architects“. Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigung hatte er für ein Jahr mit der Option auf Verlängerung. Im September 1936 konnte er sein eigenes Architekturbüro eröffnen, konzentrierte sich zunächst auf Möbelbau, später auch auf Bauplanung. In die englische Mentalität dachte Segal sich immer mehr hinein, begann zu verstehen, warum auch in der Architektur Vieles nicht möglich war, was in Deutschland als Selbstverständlichkeit galt. All dies waren für das Ehepaar Borchardt wichtige Informationen, waren sie doch ständig bemüht, Fluchtoptionen für Verfolgte zu eruieren. 670 London WC 1 (23, Torningtonsquare). SIK LB. 671 Im British Museum unterstützte ihn Shorter, der ihn weiterempfahl an Tandy vom Natural History Museum. 672 Dazu gehörten „Bombardements, Beschießungen durch die Kriegsschiffe der Catalanen, Kämpfe in der unmittelbaren Nachbarschaft und endlose Hinrichtungen tags und in der Nacht, dazu die ständigen Bedrohungen und Belästigungen, (…) weiter die ewigen Verdächtigungen, denen oft ganz unschuldige und harmlose Ausländer auf Grund irgendeiner Denunziation zum Opfer fielen“. Der Leiter eines englischen Landerziehungsheims wurde unter Spionageverdacht verhaftet, „da eine seiner Schülerinnen einen Plan des Hauses ihrer Eltern gezeichnet hatte, und die faschistischen Analphabeten das für eine gefährliche Angelegenheit hielten“. Bei den Gefechten mussten mehr als tausend Menschen ihr Leben lassen, Hunderte wurden hingerichtet. Etliche Ausländer mussten Mallorca Hals über Kopf unter Zurücklassung ihrer gesamten Habe verlassen, „darunter viele, die das schon einmal in Deutschland kennen gelernt hatten“. Auch der Antisemitismus hatte laut Darstellung der Eltern Segal stark zugenommen. Davon waren sie selbst zwar wegen ihrer großen Beliebtheit kaum betroffen, mussten aber Schlimmes beobachten. Segal an LB, 9. November 1936. SIK LB. 673 Segal an LB, 22. November 1936. SIK LB.
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Sorgen bereitete ihnen der erneut schwer erkrankte Otto Königsberger, den Segal seit 1932 nicht mehr getroffen hatte.674 Segal strebte trotz aller Widrigkeiten an, möglichst lange in England bleiben zu können, obwohl er nicht zu überlegen wagte, wie sich das „europäische Krebsgeschwür“ zukünftig auswirken könnte. Er schätzte das ihm wieder mögliche Gefühl der „Unbefangenheit in jeder Hinsicht“ und die Wertschätzung, die er in England erfuhr. Während er sich im Februar 1937 beruflich mit der Konstruktion eines eher anspruchslosen „brick“-Landhauses im Nordwesten Londons und mitunter mit altägyptischen Stühlen beschäftigte,675 erreichten Segal immer mehr Anfragen und Hilfegesuche.676 So war einer seiner Bekannten von Dr. W. Zaher in Kairo eine Stellung als Laborantin durch den nach Kairo emigrierten Berliner Arzt LevyLenz angeboten worden. Ob es sich um ein seriöses Angebot handelte, sollten Erwin Schlesinger und Herbert Ricke herausfinden. Borchardt reagierte prompt und äußerte seine keineswegs hohe Meinung von Levy-Lenz.677 In Berlin sei er „Assistent vom Verschönerungs-Joseph“ gewesen, habe marktschreierisch gearbeitet und „sei wohl ziemlich unten durch“. Bei Zaher handle es sich um einen in Deutschland ausgebildeten ägyptischen Chemiker, der gut Deutsch spreche, ein „Laboratorium“ besitze, überhaupt sehr wohlhabend, aber auch „ganz anständig zu sein“ scheine – „also einer von den anständigen Ägyptern“. Segals Bekannte sollte sich auf das Angebot einlassen, was offenbar geschah. Borchardt war erkennbar gut informiert bzw. wusste sich Informationen zu beschaffen. Dass bei ihm die Möglichkeit einer Anstellung bestand, sprach sich in inte ressierten Kreisen herum. So erhielt Segal, wie er in seinem Brief vom 23. März 1937 berichtete, Besuch von dem Architekten Karl Wilhelm Ochs,678 der sich für die Mitarbeiterstelle bei Borchardt interessierte. Auf Segal machte Ochs einen sehr guten Eindruck, doch zweifelte er, ob Borchardt sich für ihn entscheiden würde,
674 Laut Otto Königsberger, in: John McKean: Segal, 1989, S. 59, ließ Segals Interesse an der ägyptologischen Arbeit rapide nach. 675 Ende 1936 nahm er an einem internationalen Architektenwettbewerb teil. Sein Entwurf wurde „commended“, also „zum Ankauf empfohlen“ (Segal an LB, 23. März 1937). Besonders stolz machte ihn, dass „wir“ die einzigen „Ausländer“ gewesen waren, die am Wettbewerb teilgenommen hatten. Mit „wir“ meinte er Eva Bradt, eine Studentin der Architectural Association, mit der zusammen er den Wettbewerbsbeitrag entwarf. Dies war der Beginn der Lebensgemeinschaft von Segal und Bradt. Ihr zuliebe folgte Segal dem von Bruno Taut (gest. 1938) Ende 1937 gemachten Angebot nicht, nach Istanbul zu kommen, um dort zu entwerfen und zu unterrichten. SIK LB; John McKean: Segal, 1989, S. 59. 676 Segal an LB, (London, 22 Brunswick Sq.) 4. Februar 1937. SIK LB. 677 Kairo, 11. Februar 1937. SIK LB. 678 Karl Wilhelm Ochs (1896–1988), deutscher Architekt und Hochschullehrer, studierte Architektur an der TH Stuttgart. Hans Vollmer: „Ochs, Karl Wilhelm, 1956, S. 504.
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da er verheiratet war. Schließlich lag es wohl nicht an Borchardt, dass Ochs, der von Alfred Breslauer679 sehr empfohlen worden war, nicht in Kairo tätig wurde. Eigentlicher Grund war das zu niedrige Gehalt.680 Dass Borchardt nach einem weiteren Mitarbeiter suchte, hing auch damit zusammen, dass Otto Königsberger im April 1937 nach wie vor nicht arbeitsfähig war, kurz vor Operation und „Nachkur“ in Davos stand. Ende April 1937 wurde er im Kantonsspital St.Gallen operiert.681 Einzige Entlastung für ihn war, dass zwei seiner Schwestern in England verheiratet, also in Sicherheit waren, und dass sein jüngerer Bruder Helmut (1918–2014) würde dort studieren können.682 Dass die Situation in England durchaus mit etlichen Problemen behaftet war, konnte Königsberger nur ahnen.683 Tatsächlich emigrierte Segal zu einem noch recht günstigen Zeitpunkt nach England. Bis 1938 war die Situation für emigrierte Architekten einigermaßen gut. Nach einem bestimmten Kriterienkatalog vergab das „Royal Institute of British Architecture“ (RIBA) die Arbeitserlaubnisse. Hofiert wurden „Berühmtheiten wie Erich Mendelsohn und Walter Gropius“, von denen man sich Anstöße für die eigene Architekturentwicklung erhoffte.684 Angesichts der äußerst beschränkten Auftragssituation verließen etliche Emigranten England allerdings bald. Auch Segal hatte hart um seine Existenzsicherung zu kämpfen, denn er gehörte weder 679 Alfred Breslauer (1866–1954), Architekt, studierte Architektur in Berlin, war nach dem Studium als Referendar und Assessor im preußischen Staatsdienst in Berlin tätig, wurde 1897 Mitarbeiter des Architekten Alfred Messel, 1901–1934 selbstständiger Architekt zusammen mit seinem Schwager Paul Salinger. Im Dezember 1933 Ausschluss aus der Preußischen Akademie der Künste. Verheiratet mit Dorothea Lessing, Tochter des Kunsthistorikers Julius Lessing. Hans Vollmer: Breslauer, Alfred, 1956, S. 586. 680 LB an Segal, (Kairo) 12. April 1937. 681 LB an Segal, 6. Mai 1937. SIK LB. 682 Segal an LB, (London) 23. Juni 1937. SIK LB. 683 Helmut wurde auf Betreiben von Otto Königsberger 1934 zur Adams Grammar School (New port, Shropshire) geschickt. In der Nähe lebte seine älteste Schwester Marianne. Im Mai 1940 wurde er interniert, obwohl er das Caius College absolviert, ein Country scholarship und Cambridge Exhibition von der Adams Grammar School erhalten hatte. An der Universität hatte er mit „first grade honours“ abgeschlossen. Juli bis September 1940 war er in Kanada interniert, kehrte im Januar 1941 nach England zurück und wurde kurz danach aus der Internierung entlassen. Trotz aller Bemühungen konnte er nirgendwo eine Anstellung finden, oftmals mit der Begründung, dass „enemy aliens“ nicht angestellt würden. 1944 bis 1945 diente er in der Royal Navy, erfuhr aber auch dort Diskriminierung. Auch Marianne Königsberger hatte als Zahnmedizinerin mit Problemen zu kämpfen, durfte in England nicht praktizieren. Sie arbeitete als au-pair in einer Familie in Edinburgh, verfügte über keinerlei Einkommen. Für sie setzte sich der Geistliche Smyth ein, dessen Frau Jahre zuvor Gouvernante im Hause Königsberger in Berlin gewesen war. Im Januar 1935 versprach die „Society of Friends“ (Quäker), für die Max Borns Ehefrau aktiv war, Marianne Königsberger zu helfen. BLO SC MS SPSL 511. 684 Bernhard Nicolai: Architektur, 1998, S. 696.
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zur Elite der deutschen Architekten noch zu den etablierten.685 Mit Kriegsbeginn kam in England die private Bautätigkeit weitgehend zum Erliegen, was Segals Situation erschwerte. Ab etwa 1940 arbeitete er mit Bertram Carter, entwarf auf dem Land eine Reihe von Gaststätten für die Arbeiter der aus den städtischen Zentren evakuierten Fabriken und Stahlbeton-Luftschutzräume. Gleichzeitig veröffentlichte er in Architekturzeitschriften.686 Trotz der Erfolge, die Segal in England zu verzeichnen hatte, hoffte Ludwig Borchardt, dieser werde auch seine ägyptologischen Arbeiten weiterverfolgen und veranlasste, dass Reisners Mitarbeiter Smith ihm etliche Unterlagen zukommen ließ.687 Völlig uneigennützig war dies nicht. Denn Borchardt war auch daran gelegen, dass Segal in englischen Architekturzeitschriften seine und Königsbergers Pläne für ein neues Museum in Kairo veröffentlichen ließ, allerdings ohne Namensnennung.688 Segal kontaktierte den ihm gut bekannten G.D. Hornblower, Vizepräsident der EES und, wie er meinte, früherer Gesundheitsminister in Ägypten.689 Hornblower versprach, sich um die Publikation zu kümmern. Darüber hinaus wollte Segal für die Veröffentlichung, versehen mit einem Kommentar seinerseits, in den Zeitschriften „Studio“, „The Architectural Review“ und „The Architect’s Journal“ sorgen. Ihm selbst kamen seine arbeitsaufwändigen Wettbewerbserfolge insofern zugute, als das Home Office keine Probleme machte, als es um die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis ging. Borchardt drängelte nicht mehr sonderlich wegen Segals stagnierender ägyptologischen Untersuchung, wollte aber gegebenenfalls für deren Veröffentlichung sorgen.690 Die ZÄS kam dafür nicht mehr in Frage, so Borchardt, „seitdem Nazi-Grapow Steindorff gezwungen hat,
685 Er entwarf zunächst Möbel für Gordon Russell, Heals, Gerard Holto, stattete Schlafzimmer und Küchen aus. 686 1938 bis 1948, als Segal keine Möglichkeit zu bauen hatte, widmete er sich der Bauforschung und dem Studium von Entwurfsproblemen. John McKean: Segal, 1989, S. 59, 73. 687 LB an Segal, Kairo, 12. April 1937. SIK LB. 688 Es sollte entstehen an der Stelle, „wo jetzt die englischen Kasernen stehen, nach Abzug der Engländer (wann?) nicht vom Finanzministerium an den Tierschutzverein oder so etwas, so nützlich das sonst wäre, verkitscht wird, sondern dass dahin einmal wirklich Museen kommen, sei es auch in x Jahren“. LB an Segal, (Kairo) 6. Mai 1937. SIK LB. 689 Segal an LB, (London, 22 Brunswick Sq.) 23. Juni 1937. LB berichtigte (11. Juli 1937), der ihm aus der Zeit vor 1914 bekannte Hornblower sei seines Wissens „Inspector“ „im Interior“ gewesen, von einer Position als Gesundheitsminister wisse er nichts. Segal sollte Hornblower und seine Ehefrau grüßen. LB an Segal, (Champéry) 11. Juli 1937. SIK LB. George David Hornblower (1864–1951) war im ägyptischen Innenministerium angestellt gewesen. In Ägypten entstand sein Interesse an Ägyptologie. Who-was-Who, 2012, S. 265. 690 LB an Segal, (Champéry) 11. Juli 1937. SIK LB.
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die Leitung ‚freiwillig‘ niederzulegen, jetzt gleich – d. h. für bessere Leute ausgeschaltet“.691 Dass es nie zu einer Veröffentlichung kam, dürfte seinen Grund im unerwarteten Tod Ludwig Borchardts im August 1938 gehabt haben. Zweifellos hatte Segal in England mehr zu leisten, als er Ludwig und Mimi Borchardt verriet. Seine Eltern konnten sich nur mühsam in England eingewöhnen, Vater Arthur Segal hatte gesundheitliche Probleme, konnte aber schließlich sogar wieder erfolgreichen Unterricht erteilen.692 Angesichts des politischen „Ringsherum“ versagte sich Segal jede Klage, empfand es aber mitunter als „aussichtslos, dass man sich hier so nach und nach eine gute Arbeit aufbaut“.693 Sobald es die weltpolitische Lage erlaubte, wollte er nochmals Ägypten und das Ehepaar Borchardt besuchen.694 Mit größter Aufmerksamkeit verfolgte Ludwig Borchardt Segals Berichte und Nachrichten. Anders als Jahre zuvor sparte er nicht mit Lob für das „englische fair play“, fragte dann mehrfach nach, ob Hornblower in seiner Sache aktiv geworden sei.695 Dies war zwar der Fall, aber mit mäßigem Erfolg. Die von Segal erwähnten Zeitschriften zögerten eine derartige Publikation hinaus, so dass Segal erwog, sie der „Times“ für ihre „letters to the editor“ vorzuschlagen.696 Die guten Nachrichten über Segals Etablierung in England erreichten Borchardts, Herbert Ricke und den kurzfristig angestellten, aus Haifa kommenden Dr. Spittel in Assuan, wo sie auf Elephantine den Chnumtempel untersuchten.697 Segal kannte Spittel aus gemeinsamen Studienjahren in Berlin, hatte ihn aber bei seinem Aufenthalt in Palästina nicht getroffen, wusste nicht einmal, dass er sich in Haifa aufhielt.698 Eine wirkliche Arbeitshilfe
691 Bis Ende 1938 wollte Segal die Untersuchung fertigstellen. LB an Segal, (Kairo) 17. November 1937, Segal an LB, 10. Februar 1938. SIK LB. 692 Im September 1937 sandte Arthur Segal an MB einen Prospekt seiner neuen Malschule, die in diesem Monat offiziell eröffnet werden sollte. Am 28. Dezember 1937 schrieb W. Segal an LB, die Schule seines Vaters habe einen „sonderbar guten Erfolg“, es gebe 27 Schüler. Seine Schwester habe die schwer zu erlangende Erlaubnis erhalten, als Schneidermeisterin zu arbeiten. SIK LB. 693 Segal an LB, 23. Juni 1937. SIK LB. 694 Segal an LB, 28. Dezember 1937. SIK LB. 695 LB an Segal, (Champéry, Chalet des Frènes, Schweiz) 11. Juli 1937 u. (Kairo) 17. November 1937. SIK LB. 696 Segal an LB, (London) 28. Dezember 1937. SIK LB. 697 LB an Segal, (Elephantine) 15. Januar 1938. SIK LB. 698 Wie Segal am 10. Februar 1938 an LB schrieb, hatte ihm sein Kollege Kahane („Sohn des Reinhardtdramaturgen“) in Palästina „ausführlich erzählt, wer von früheren Bekannten aus der T.H. Charlottenburg“ sich dort aufhielt, Spittel aber nicht erwähnt. SIK LB.
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war Hans Spittel (geb. 1909) nicht, wie Mimi Borchardt ihrer Verwandten Ida Eiseck in deren Südtiroler Exilort Chiusa d’Isarco schrieb.699 Tatsächlich war es auf die dringlichen, mehrfachen Bitten dieser Verwandten zurückzuführen, dass Borchardt auf Spittel aufmerksam wurde und ihn an sein Institut holte. Er war ein Sohn des dienstentlassenen Senatspräsidenten des Berliner Kammergerichts, Max Spittel (1876–1942), und dessen Ehefrau Berta Goldmann (1884–1942).700 Als Borchardt bei Spittel anfragte, war dieser bereits mit seiner Ehefrau nach Palästina geflohen. Sie ernährten sich kümmerlich, er hatte eine Halbtagsstelle, sie arbeitete als Dienstmädchen.701 Überzeugend war die Arbeitsleistung Spittels in Ägypten nicht, aber darum ging es in diesem Fall wohl weniger als um das Leisten von Hilfe. Auch in Borchardts anvisiertes Museumsprojekt kam wenig Bewegung und verlor für ihn zunehmend an Bedeutung, da er es angesichts der turbulenten politischen Ereignisse in Ägypten eher ruhen lassen wollte.702 Den Kontakt zu Segal ließ das Ehepaar Borchardt nach 1935 nicht abreißen. Dass Borchardt ihn auch als Informanten betrachtete, beweisen seine Anfragen. Weil die Tochter seines Berliner Großneffen („Rechtsanwalt und Notar, Dr. jur., Leutnant d. R.“) schon seit geraumer Zeit erfolglos versuchte, sich in England als Schneidermeisterin niederzulassen, sollte Segal darüber informieren, wie seine Schwester die Arbeitserlaubnis für eben diesen Beruf erlangt hatte. Segal antwortete umgehend und ausführlich, konnte aber den ‚Königsweg‘ zu Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigung in England nicht bezeichnen. Vonnöten waren aus seiner Sicht gute Englischkenntnisse, möglichst viele Referenzen von englischer Seite und vor allem Beharrungsvermögen.703 Inwieweit Borchardt auch in andern Fällen auf Segals Informationen und Hilfestellungen zurückgriff, lässt sich nur mittelbar erschließen. Von der Schweiz aus fragte er jedenfalls kaum an, obwohl ein unzensierterer brieflicher Austausch möglich gewesen wäre als von Ägypten aus. Mag sein, dass Segal auch ohne konkrete Anfragen wusste, welche Informationen vonnöten waren. Darauf deuten zumindest seine detaillierten Ausführungen zur Situation emigrierter und emigrationswilliger Architekten hin. Als Mimi Borchardt nach Fluchtmöglichkeiten für ihre langjährige Bekannte, die Berliner
699 Ida Eiseck an MB, November 1938. SIK MB 62/6. 700 Das Ehepaar wurde am 15. August 1942 von Berlin nach Riga deportiert und dort ermordet. Sohn Helmut (geb. 1911, Musiker) gelang die Flucht nach Australien, er starb 1969 in Perth. 701 Ida Eiseck an MB, 14. August 1938. SIK MB 62/6. 702 Gedacht war es wohl als Weiterentwicklung des von James Breasted einige Jahre zuvor entwickelten Museumsprojekts. 703 Segal an LB, (London) 10. Februar 1938. SIK LB.
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Kunsthistorikerin Hedwig Fechheimer, suchte, wandte sie sich ebenfalls an Segal. Dieser wurde sogleich aktiv, suchte Fritz Demuth704 von AAC auf und erfuhr, dass bezüglich Fechheimer die größten Schwierigkeiten aus dem Weg geräumt seien, eine genügend große Garantiesumme für sie bereit stand.705 Bearbeitet wurde die Angelegenheit von Dr. Bing vom Warburg Institut. Wie alle Briefe Segals war auch dieser an Mimi Borchardt gerichtete voller detaillierten Angaben, einschließlich der Nennung wichtiger Personen beim AAC und beim Warburg Institut. Insofern erstaunt Mimi Borchardts wiederholte Klage, sie lebe zu sehr an der „Peripherie“, um über genaue Informationen zu verfügen und rasche Hilfe leisten zu können. Tatsächlich war es nicht nur Segal, der die beiden Borchardts kontinuierlich auf dem Laufenden hielt und ein wichtiges Bindeglied zu Großbritannien bildete. Zu diesen Personen gehörte auch die Berliner Koptologin Dora Zuntz (1907–1997),706 die seit ihrem DAI-Stipendium 1931/32 in Ägypten707 vor allem zu Mimi Borchardt in enger Beziehung stand. Nach 1933 schrieb sie regelmäßig und eingehend über das Geschehen in ihrem Umfeld, das Befinden von ihr und ihrer Familie. Ihre Geschwister waren die Hethitologin Leonie Zuntz (1908–1942) und der Althistoriker Günther Zuntz (1902–1992). Nur kurz nach dem Machtwechsel in Deutschland wurde die gynäkologische Klinik von Dora Zuntz‘ Vater Leo wegen dessen jüdischer Herkunft geschlossen und Günther Zuntz ebenso dienstentlassen wie seine Schwester Dora. Zwar herrschte nicht unmittelbar Not im Hause Zuntz, aber das Geld wurde knapp. Dora besann sich auf das den Eltern gehörende Ferienhaus im bayerischen Bischofswiesen, funktionierte es in eine Ferienpension um und wurde „Pensionsmutter“.708 Resignierend in ihr Schicksal fügte sie sich nicht, sondern nutzte ihre nicht-deutschen Beziehungen. Wie sie Mimi Borchardt schrieb, würde im Oktober 1933 der „sehr junge“ Engländer Colin Henderson Roberts (1909–1990)709 in Kairo sein und „Grüße“ übermitteln. Dieser sei Papyrologe und stamme aus einer „sehr begabten Familie“. Kennengelernt hatten sie sich 1933, als Roberts 704 Fritz Demuth (Jurist an der Handelsschule Berlin), Vorsitzender der „Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland“, die 1933 von Philipp Schwartz (Anatom und Pathologe an der Universität Frankfurt/Main) ins Leben gerufen wurde und mit dem AAC zusammenarbeitete. 705 Segal an MB, 31. März 1939. SIK MB 77/1. 706 Mutter Edith (nichtjüdisch), Großvater Nathan Zuntz (Arzt). Familie Zuntz war protestantisch. 1929 promovierte Dora Zuntz mit einer Arbeit über Frans Floris. 707 Sie hielt sich vom 27.10.1931 bis zum 24.2.1932 in Ägypten auf, studierte während dieser Zeit vor allem die koptischen Denkmäler, bereiste oberägyptische und nubische Ruinenstätten. DAIK DhiTh. 708 D. Zuntz an MB, 24. September 1933. SIK MB 82/9. 709 Klassischer Philologe und Koptologe, 1954–1974 „secretary of the delegates“ von Oxford University Press (Oxford). J.W.M. Thompson: Roberts, 2004.
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auf Vermittlung Alan Gardiners als Schubarth-Schüler in Berlin weilte, sich von Hugo Ibscher schulen ließ und als „Pensionär“ bei Familie Zuntz („wie Kind im Haus“) wohnte.710 Man verstand sich gut und Roberts suchte Familie Zuntz nach 1933 mehrfach in Bayern auf. Zu dieser Zeit studierte er noch am St. Johns College in Oxford; später wurde er Koptologe und Leiter der angesehenen Oxford University Press. Dora Zuntz war nicht allein mit ihrem Kummer über die berufliche Ausgrenzung und Perspektivlosigkeit, die ihr das Leben schwer und ziellos erscheinen ließen.711 Wo sie konnte, wollte sie zumindest Ludwig und Mimi Borchardt unterstützen, auch weil sie voll Vertrauen und Dankbarkeit an ihnen hing.712 Nur zwei Monate hielt sie sich im Winter 1934 in Berlin auf, weil sie in Bayern auf Winterurlauber als Einnahmequellen hoffte. Zusammen mit einer Hausmeisterin erledigte sie sämtliche Arbeiten. Tröstlich und zugleich schmerzlich war, wie sehr in Deutschland die verbliebenen Freunde „umso fester und liebevoller aneinander“ hingen. Voller Kummer betrachtete sie ihre Schwester Leonie, die nach einem in München mit „magna cum laude“ bestandenen Doktorexamen nun in Padua als au-pair Mädchen arbeitete, wobei sie nebenher ab und zu für Prof. Devoto tätig sein konnte. Nicht deutlich besser ging es ihrem Bruder Günther, der am Reston College in England „au-pair sozusagen“ unterrichtete, während seine Ehefrau und die drei gemeinsamen Kinder noch in Freiburg weilten. Die Eltern Zuntz flüchteten sich in das „liebevolle füreinander Dasein, Bücher und Musik“ als „angenehme Narkotika“. Dora Zuntz sehnte sich zurück nach Ägypten, zu ihrer Arbeit und ihren Forschungen, auch nach in Kairo gewonnenen Freunden wie etwa Max Meyerhof. Dennoch war sie sich durchaus bewusst, dass auch in Ägypten nicht mehr die Idylle herrschte, die sie seinerzeit vorgefunden hatte. Darauf deutet jedenfalls ihre Frage hin, ob Borchardts nun auch nichts mehr von den „Ma’adî-ern“ hörten, womit sie auf die dort wohnhaften nichtjüdischen Familien anspielte, die zu den Deutschen jüdischer Herkunft auf Distanz gegangen waren. Colin Roberts besuchte das Ehepaar Borchardt tatsächlich in Kairo, wovon er Dora Zuntz bei seinem anschließenden Besuch in Bischofswiesen berichtete. Bei einem Kurzbesuch in Berlin hoffte sie zwar auch Borchardts zu treffen, mutmaßte aber, dass sie nun Deutschland weitgehend fern blieben. In Bischofswiesen setzte sie alles daran, Pensionsgäste anzuziehen, was ihr aber nur mäßig
710 Am 9. August 1934 bedankte Colin Roberts sich bei Gardiner für dessen Vermittlung. Er wohnte bei Dr. Zuntz, Berlin NW 21, Alt-Moabit 97. GIO AHG/254.9. 711 12. Februar 1934. SIK MB 82/9. 712 Berlin, 20. November 1934. SIK MB 82/9.
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glückte.713 Parallel dazu bereitete sie eine Publikation vor, wozu ihr die erforderlichen Forschungsmaterialien weitgehend fehlten. Über Uvo Hölscher hatte sie beim Chicago House nach Fotos von koptischen Fresken in Medinet-Natû nachfragen lassen, aber keine Antwort erhalten, weshalb sie Borchardt bat, dort nachzuhaken. Im April 1935 wollte Dora Zuntz kurz ihre Eltern besuchen, wobei sie mit Erstaunen hörte, dass Borchardts ebenfalls einen Berlinbesuch anvisierten, hauptsächlich um sich mit Rubensohns zu treffen.714 Diese waren auch Dora Zuntz bekannt, zumal sie sich hin und wieder mit der Rubensohn Tochter Käte traf. Ähnlich wie Walter Segal war Dora Zuntz unermüdlich aktiv, wobei sie jedoch wesentlich ungünstigere Bedingungen hatte. Umso erfreulicher war, dass ihre Bemühungen von dem Erfolg gekrönt wurden, dass sie eine Einladung für einen dreiwöchigen Londonaufenthalt (einschließlich „Billet“) erhielt. Dieser sollte ihr Leben entscheidend verändern, es in eine gänzlich neue Richtung lenken. Als sie sich im September 1935 wieder bei Mimi Borchardt meldete, wie immer auch Max Meyerhof grüßte, hatte sich in der Familie Zuntz Etliches verändert.715 Doras Bruder Günther hielt sich, ausgestattet mit einem kleinen Stipendium, in Kopenhagen auf, wollte angeblich seine Familie nachkommen lassen, was aber wohl nicht den Tatsachen entsprach. Schwester Leonie hatte ein Unterkommen in Oxford gefunden, Dora sich mit Brian Roberts (1906–1988),716 dem Bruder von Colin Roberts‘, verlobt. Dieser war Chefredakteur bei der „Daily Mail“, laut Dora Zuntz einer „grässlichen, aber gut gehenden Zeitung“. Kennengelernt hatte sie ihn während ihres Englandaufenthalts. Überschwängliche Freude, eine „strahlende, sorglose Brautzeit“ wollten dennoch nicht bei ihr aufkommen.717 Denn sie bedrückte, wie viele ihrer „arischen und nicht arischen“ Freunde Deutschland mittlerweile verlassen hatten, so dass es auch um ihre Eltern zunehmend „öde“ wurde. Vielleicht ahnte sie auch, dass für sie besonders nach der Eheschließung kaum berufliche
713 Bischofswiesen, 24. Januar 1935. SIK MB 82/9. 714 Bischofswiesen, 6. März 1935. SIK MB 82/9. 715 25. September 1935. SIK MB 82/9. 716 Ältester Sohn von Robert Lewis Roberts (1875–1956, Präsident der „Master Builder’s Association“ London) und Muriel Grace, studierte am St.John’s College Oxford. Am 25. Juli 1935 heirateten B. Roberts und D. Zuntz, adoptierten später ein Kind. Seine Karriere als Journalist begann Roberts bei der „Oxford Mail“, wechselte 1933 zur „Daily Mail“ als „sub-editor“, ging 1939 zum „Daily Telegraph“. Als der „Sunday Telegraph“ 1961 gegründet wurde, wurde er zum „managing editor“, 1966 leitender Herausgeber. Neben seiner journalistischen Tätigkeit war er ein begeisterter Farmer auf seinem Gut Old Foxhunt Manor, Waldron (Heathfield, Sussex). Er starb dort am 2. Juni 1988, hinterließ seine Ehefrau Dora und einen Sohn. J.W.M. Thompson: Roberts, 2004. 717 Alles war bestens vorbereitet: Wohnung (London, North Wood Hall, Hornsey Lane, High Gate N6); Möbel hatte B. Roberts schon im Juli 1935 ausgewählt, die übrige Aussteuer wie Wäsche, Silber, Kristall und Teppiche sollten aus Berlin herantransportiert werden.
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Perspektiven bestehen würden, ähnlich wie es später beispielsweise der Archäologin Käthe Bosse erging, die den britischen Archäologen Griffith ehelichte. Vater Zuntz hatte in Berlin noch reichlich Arbeit, aber die Mutter grämte sich in der vereinsamten Wohnung und im für sie leeren Berlin. Weil das Ferienhaus in Bischofswiesen als englischer Privatbesitz galt, konnte dieser der Familie nicht genommen werden, obschon die Eltern ihn immer weniger aufsuchten. Anfang Oktober 1935 sollte Mutter Zuntz zwecks Ausstattung der Wohnung nach London reisen, der Vater dann zur Hochzeit nachkommen. Von England aus hielt Dora Zuntz den Kontakt zu Borchardts aufrecht, die sich im Winter 1935/36 auf eine längere Reise bis in den Norden Sudans begaben.718 Währenddessen gewöhnte Dora Zuntz sich nur mühsam an die unregelmäßige Lebensweise, wie ihn der Beruf ihres Ehemannes mit sich brachte.719 Im Dezember 1935 hielt sie sich vier Tage in Berlin auf, reiste dann mit den Eltern nach Bischofswiesen, wo die Mutter so schwere Herzattacken erlitt, dass man nach Berlin zurückkehren musste. Doras Geschwistern ging es trotz gelungener Flucht nicht gut. Leonie hatte am Somerville College, dem „besten Frauen College in Oxford“, eine „Art Freistelle“, Günther ein halbes Stipendium in Dänemark. Die drei Geschwister trafen sich anlässlich eines Vortrages, den Günther in Oxford hielt, Leonie und Dora regelmäßig, weil die Entfernung zwischen London und Oxford leicht zu überbrücken war. Ähnlich wie bei Walter Segal besannen sich Borchardts auch auf Dora Zuntz, als sie Unterstützung erfragen mussten. Käte Rubensohn sollte sich 1936 auf Betreiben von Mimi Borchardt eine Zeitlang in England aufhalten, wozu sie eine zuverlässige Anlaufstelle benötigte, Dora Zuntz‘ Unterstützung also gesucht war.720 Diese traf sich zu Ostern 1936 mit der gesamten Familie in London, Mutter Zuntz sollte dort eine Zeitlang bleiben. Leonie plante eine Reise nach Berlin, wollte dann gemeinsam mit den Eltern nach Bischofswiesen, wo ab dem 20. September 1936 die gesamte Familie eintraf. Es sollte das letzte Treffen dieser Art sein. Im Januar 1937 erkrankte Leo Zuntz schwer; er starb am 11. Februar 1937.721 Auf Dora Zuntz lastete die unübersichtliche, oft aussichtslos erscheinende Situation schwer. Besonders die Mutter, die sich im Frühjahr 1937 bei Leonie in Oxford aufhielt und anschließend in Bischofswiesen, war eine enorme Belastung, weil sie immer mehr in Depressionen verfiel und tägliche Briefe erwartete.722 In England musste Dora unentwegt um sie sein und sie unterhalten. Die Berliner 718 Man sandte sich gegenseitig Neujahrwünsche für 1936. SIK MB 82/9. 719 London, 26. Februar 1936. SIK MB 82/9. 720 London, 14. Juli 1936. SIK MB 82/9. 721 25. Februar 1937 (beantw. 7. März 1937). SIK MB 82/9. 722 London, 2. August 1937. SIK MB 82/9.
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Wohnung lösten die Töchter Zuntz schließlich auf, obwohl sich die Mutter nach wie vor nicht entschließen konnte, ganz nach England überzusiedeln, auch um ihr Vermögen nicht zu verlieren. Auch Leonie Zuntz wurde mehr und mehr zum Problemfall, obwohl Dora keine Details offenlegte und sie in Oxford wohl etabliert zu sein schien.723 Bruder Günther hielt sich, wenn auch knapp, so doch einigermaßen über Wasser. Glücklich und entspannt war Dora Zuntz mitnichten, zumal auch ihr Ehemann überbeansprucht war von seiner journalistischen Arbeit, kaum Zeit mit seiner Ehefrau verbringen konnte. Diese aber benötigte mehr denn je eine vertraute Person, denn auch sie durchlitt Phasen tiefer Depression, weil alles ihr Vertraute zerschlagen war und sie keine Zukunftsmodelle zu kreieren wusste. Gegenüber Mimi Borchardt formulierte sie ihre Ängste und Sorgen rückhaltlos, die einfühlsamen Ermutigungen aus Ägypten brauchte sie dringend. Denn in ihrem englischen Alltag war sie diejenige, die stets energisch und gut organisiert zu sein, für ihre Angehörigen eine neue Welt aufzubauen hatte. Zwar wollte sie ganz für ihren Ehemann da sein, doch war ihr dieses Lebenskonzept fremd – „wenn er auch weiß, dass es noch immer ein Versuch und ein Zusammennehmen ist“. Mimi Borchardt war gewiss eine verständnisvolle Zuhörerin, aber dennoch kaum in der Lage, die Nöte der erzwungenen Emigration tatsächlich nachzuvollziehen. Denn ihr alltägliches Leben in Ägypten war nur teilweise negativ tangiert. Nach wie vor unternahm sie gemeinsam mit ihrem Ehemann und dessen Assistent Herbert Ricke regelmäßig Grabungen in Oberägypten und Nubien sowie ausgedehnte Reisen, erholte sich in den Sommermonaten in einem Schweizer Hotel, womit sie sich, wie im Sommer 1937, der „wahnsinnigen“ Welt zu entziehen suchte.724 Solche Privilegien waren der Zuntz Familie zwar nicht vergönnt, doch auch sie konnte noch 1937 ihr bayerisches Ferienhaus als Refugium nutzen. Leonie, Dora und ihr Ehemann kehrten erst im Herbst 1937 nach England zurück. Nur gab der Gemütszustand der noch in Berlin lebenden Mutter derart Anlass zur Sorge, dass der Schwiegersohn so lange Druck auf sie ausübte, bis sie sich zur definitiven Emigration nach England entschloss. Dora Zuntz belastete das politische Geschehen in Deutschland, ließ sie mitunter verzweifeln angesichts der offenkundig zunehmenden Bedrohungen, denen gegenüber sie sich als völlig machtlos empfand und die von „vielen Blinden“ immer noch nicht als solche wahrgenommen würden.725 Sie trat die
723 So war sie Mitglied der „Oxford Ladies Musical Society“, die regelmäßig Konzerte in der Stadt gab. BLO SC MS Top.Oxon. 724 D. Zuntz an MB, (London) 25. September 1937. SIK MB 82/9. 725 D. Zuntz an MB, (London) 4. April 1938. SIK MB 82/9.
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‚innere Emigration‘ an, suchte den völligen Rückzug.726 Dass auch das Haus in Bayern aufgegeben werden musste, war deutlich, obschon der Verkaufserlös als verloren galt. Ohnehin bot Bischofswiesen nicht mehr die gewohnte Ruhe, war ein Ort geworden voller „Kasernen, Soldaten und Arbeitshorden, Schieß- und Klettermanövern, Barrikaden und Krasker, dass es einem ins Herz schneidet“. Immerhin hatte Leonie Zuntz‘ Position in Oxford sich einigermaßen gefestigt; bei der renommierten Oxford University Press hatte sie eine feste Anstellung als Korrektorin orientalischer Bücher erhalten, eine Arbeit, die sie bei aller Anstrengung doch auch in Kontakt brachte zu den „sehr gebildeten und netten“ Verlagsmitarbeitern. Günther Zuntz war ein zweijähriges Stipendium zugesichert worden. Nach wie vor hatte Brian Roberts „rasend zu tun“, man sah sich wenig. Anfang 1938 hielt Dora einen Vortrag in der EES, woran sie sich später nicht erfüllende Hoffnungen bezüglich ihrer eigenen beruflichen Etablierung knüpfte. Grundsätzlich war ihr die „Positivität“, wie sie sie an Ludwig Borchardt bewunderte, abhanden gekommen. An ein Treffen mit dem Ehepaar Borchardt war im Sommer 1938 nicht zu denken, weil diese in die Schweiz und nach Italien reisen wollten. Dass dies die letzte Möglichkeit gewesen wäre, Ludwig Borchardt wiederzusehen, erfuhr Dora Zuntz einige Monate später und auch, dass Mimi Borchardt es als ihr einziges Lebensziel verstand, das „Werk“ ihres verstorbenen Ehemannes fortzusetzen, woraus sie die Kraft schöpfte, im Januar 1939 mit Herbert Ricke nach Luxor zu Grabungsarbeiten aufzubrechen.727 Dass dies sie an die Grenzen ihrer psychischen Belastbarkeit bringen würde, erlebte Mimi Borchardt erst in Luxor, wo „die Seele meines Mannes noch viel mehr um (ging) als in Kairo“. Die Urne mit der Asche ihres Ehemannes hatte sie problemlos nach Kairo überführen lassen können, was Dora Zuntz hoffen ließ, dass eine solche Urnenüberführung ihr auch im Fall ihres Vaters gelingen würde.728 Ebenso wie Dora Zuntz trieben Mimi Borchardt Sorgen um noch in Deutschland lebende Verwandte und Freunde um. Deshalb bat sie Dora Zuntz nochmals um Hilfe, und zwar vor allem zugunsten zweier Personen – „unter unzähligen, die sich an mich gewandt haben“. Einmal für die von ihr auch gegenüber Segal
726 Sie plante, auch wegen der Mutter, den Bau eines kleinen Hauses, umgeben von einem Garten, eingefasst von einer hohen Mauer. Dort wollte man ein friedliches Leben führen mit vielen Büchern, umgeben ausschließlich von vertrauten Personen, bereichert durch Museumsbesuche und Konzerte. 727 Am Westufer wollten sie und Ricke nur noch kurz bleiben, dann auf die andere Seite wechseln und den Tempel zu Ende graben („vor dem Eingang des Muttempels, den mein Mann letztes Jahr angefangen hat“). MB (Luxor-West) an D. Zuntz, 22. Januar 1939. SIK MB 82/9. 728 Die Überführung glückte ihr nicht. Leo Zuntz ist auf dem Südwest Friedhof Stahnsdorf (evangelisch) beerdigt. Hans-Jürgen Mende: Lexikon, 2006, S. 481.
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erwähnte Kunsthistorikerin Hedwig Fechheimer, die Dora Zuntz, wenn nicht sogar persönlich, so doch aus ihrer wissenschaftlichen Arbeit kannte. Über dänische Bekannte hatte diese Mimi Borchardt einen Brief zukommen lassen und gebeten, ihr bei der Ausreise aus Deutschland zu helfen. Fechheimer fehlten sämtliche finanziellen Möglichkeiten, auch jene zur wissenschaftlichen Arbeit waren ihr längst abgeschnitten. Da sie seitens den USA und den Niederlanden nur Absagen erhalten hatte, setzte sie, auf die Unterstützung Mimi Borchardts bauend, ihre Hoffnung auf England. In Ägypten befand Mimi Borchardt sich aus ihrer Sicht zu sehr an der „Peripherie“, um praktische Hilfe leisten zu können, so dass ihr lediglich die finanzielle blieb, die aber mittlerweile infolge der Unterhaltung ihr „sehr Nahestehender“ sehr limitiert war. An welche englischen Institutionen oder Vereine sich Fechheimer, die hauptsächlich begonnene wissenschaftliche Untersuchungen zu Ende bringen wollte, wenden könnte, wusste Mimi Borchardt ihrem Bekunden nach nicht, bedurfte des Rats von Dora Zuntz. Es war ihr bekannt, dass der Nachweis zu erbringen war, den Lebensunterhalt aus eigenen Mitteln bestreiten zu können, was für Fechheimer vermutlich ein Problem darstellte. Deshalb sollte Dora Zuntz in Erfahrung bringen, ob in England eine „charitative Stelle“ existierte, die Geld vorstreckte oder gewährte. Bekannt war Mimi Borchardt, dass es in London eine Anlaufstelle für „vertriebene Akademiker“ gab, die sie für eine Art Stellenvermittlung hielt, die nicht für finanzielle Unterstützung sorgte. Offensichtlich war Mimi Borchardt nur wenig informiert über in Großbritannien existierende Hilfsorganisationen, kannte weder den AAC bzw. die SPSL, obwohl auch Segal diese in seinen Briefen benannt hatte. Zweiter akuter ‚Problemfall‘ war Mimi Borchardts Vetter Berthold Oppler. Infolge der zehntägigen Lagerhaft im November 1938 schien er „völlig gebrochen“ zu sein. Dora Zuntz sollte sich in England nach einer Organisation umsehen, die den Unterhalt von Berthold Oppler übernehmen würde, auch wenn Mimi Borchardt diese Option für unwahrscheinlich hielt. Doch unversucht lassen wollte sie sie nicht.729 Tatsächlich waren Mimi Borchardts Finanzmittel zu diesem Zeitpunkt bereits reduziert, weil ihre deutschen Konten gesperrt waren und sie keinen Zugriff auf ihre amerikanischen zu haben schien. Zu sehen ist aber auch, dass es für Mimi Borchardt nie zur Disposition stand, die finanzintensiven Grabungstätigkeiten zugunsten von Hilfsmaßnahmen für Verfolgte aufzugeben oder zu reduzieren. Des Weiteren erhellt der Briefwechsel sowohl mit Dora Zuntz als auch mit Walter Segal, wie wenig sie über beispielsweise in England existierende
729 Mit diesem Brief endet die im SIK überlieferte Korrespondenz zwischen MB und D. Zuntz. Es ist anzunehmen, dass sie eine Fortsetzung fand, worüber aber keine Nachweise existieren.
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ilfsorganisationen unterrichtet war, obwohl sie keineswegs von sämtlichen H Informationsquellen, wie sie etwa ihr sehr informierter und aktiver Freund Max Meyerhof darstellte, abgeschnitten war. Doch nutzte sie diese Möglichkeiten wenig, allenfalls, wenn sie unmittelbar betroffen war. Die ‚Peripherie‘, als welche sie ihr ägyptisches Umfeld häufig bezeichnete, hatte sich offenbar eher in ihrem Bewusstsein eingenistet, als dass sie tatsächlich existierte. Auch Dora Zuntz versuchte sich in England ein unantastbares Refugium zu schaffen, was ihr angesichts der Probleme ihrer Familie nicht gelingen konnte. Mimi Borchardt gegenüber deutete sie Probleme nur an, lieferte aber keine Details beispielsweise zu Leonie und Günther Zuntz. Kein Wort verlor sie über Günthers problematische Ehe und dass er versucht hatte, mit seiner individuellen Migration nach Dänemark auch seine für ihn eine Belastung darstellende Familie hinter sich bzw. in Deutschland zurückzulassen. Als sowohl Leonie als auch Günther Zuntz mit Familie schließlich in Oxford niedergelassen waren, hielt Günther wohl durchaus Kontakt zu seinen Schwestern und seiner Mutter, inte grierte seine Ehefrau und Kinder aber kaum.730 Dabei schwebte Günthers jüdische Ehefrau Eva Hempel durchaus in Lebensgefahr, solange sie sich in Deutschland aufhielt. Von Beginn an hatte sich vor allem Günthers Mutter Edith Zuntz – sie war nicht-jüdischer Herkunft – gegen die Eheschließung gestellt, sie als Mesalliance und Karrierehindernis für ihren Sohn begriffen.731 Diesem Urteil schlossen sich die Schwestern Zuntz offenbar an. Es bedurfte der Intervention von Vater Leo Zuntz, um den Sohn zu überzeugen, dass er seine Familie nach Dänemark und später nach England bringen musste. Ob Mimi Borchardt von diesen Problemen ahnte oder sogar informiert war, erscheint eher unwahrscheinlich. Erkennbar wird, dass sowohl Ludwig als auch Mimi Borchardt über etliche Kontakte nach England beispielsweise verfügten, dort wichtige Informanten und Helfer hatten und im Falle Ludwig Borchardts durchaus informiert waren über die in Großbritannien herrschenden Verhältnisse.732 Denn ebenso meldeten sich in Kairo wieder alte Bekannte, aber nicht weil sie selbst von den Geschehnissen in Deutschland betroffen waren, sondern um ihre Hilfe anzubieten. Dazu gehörte das Ehepaar Therese und Rudolph Said-Ruete, das Borchardts aus gemeinsamen Tagen aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg bekannt war. Rudolph Said-Ruete war 1906 bis 1910 Direktor der Deutschen Orientbank in Kairo, migrierte 1910 mit seiner Familie nach London. Während des Ersten Weltkriegs lebte die Familie 730 Zu Günther Zuntz und seiner Familie vgl. die Erinnerungen seiner Tochter: Irene Gill: Oma, 2006. 731 Irene Gill: Oma, 2006, S. 121–135. Nach dem Krieg trennte Günther sich von Ehefrau und Familie. 732 Dies geht v. a. aus der Korrespondenz zwischen Königsberger und LB hervor. SIK LB.
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in der Schweiz, ab 1920 wieder in London.733 Der Kontakt zwischen den beiden Ehepaaren war zwar lose, riss aber nie ab.734 Von Bedeutung war zudem, dass Therese Said-Ruete eine Nichte735 war des erwähnten britisch-deutschen Chemikers, Ägyptologen und langjährigen Bekannten Borchardts, Robert Mond. Bereits im August 1933 schlug Therese Said-Ruete ein Treffen in ihrem Feriendomizil in der Schweiz vor.736 Ob Ludwig und Mimi Borchardt zu diesem Zeitpunkt bereits der volle Ernst der politischen Lage deutlich war, ist eher zu bezweifeln. Inwieweit sie auch diese Verbindung zu England nutzten, erhellen die zugänglichen Quellen nicht.737 Gewiss ist, dass Borchardts Geschwister und deren Familien im Laufe der folgenden Monate intensiv berichteten, ebenso langjährige Freunde und Kollegen. Homogen waren dieser Berichte nicht. So waren die von Clara Sobernheim bis 1939 gelieferten Nachrichten sicherlich nicht unbedingt repräsentativ, aber dazu angetan, das Ehepaar Borchardt teilweise in einer trügerischen Sicherheit zu wiegen. Clara war die Ehefrau des Ludwig Borchardt seit vielen Jahren sehr vertrauten Orientalisten und Althistorikers Moritz Sobernheim (1872–1933),738 der im Gegensatz zu ihm Zionist, aber ebenfalls Mitglied der „Gesellschaft der Freunde“ war, dessen Vorstand er zwischen 1923 und 1931 angehörte. 1918 wurde Sobernheim als Sachbearbeiter für jüdische Angelegenheiten ins Auswärtige Amt berufen, dort später zum Legationsrat befördert. Sowohl in diesem Zusammenhang als auch aufgrund gemeinsamer wissenschaftlichen Interessen entwickelte sich zwischen Ludwig Borchardt und Moritz Sobernheim eine zunehmend 733 Das Ehepaar Said-Ruete lebte 1906/07 in Kairo, ab 1908 teilweise, ab 1910 dauerhaft in London. SIK MB 77/3. Rudolph Said-Ruete: Teilskizze, 1932, S. 27. 734 Rudolph Said-Ruete stand laut Bestandsübersicht bis 1937 in brieflichem Kontakt mit LB. SIK LB. 735 Tochter von Alfred Mond (1868–1937, Bruder von Robert Mond) und Violet Goetze, Enkelin von Ludwig Mond. 1901 heiratete sie R. Said-Ruete (geb. 1869 Hamburg), Sohn von Rudolph Heinrich Ruete (1839–1870) und Salme bint Said Bin Sultan (1844–1924). Kinder: Werner (geb. 1902 Berlin), Olga (geb. 1910 London). Rudolph Said-Ruete: Teilskizze, 1932, S. 13. 736 Bürgenstock (Park Hotel), 15. August 1933. Th. Said-Ruete an MB. SIK MB 77/3. 737 Einsicht in die Korrespondenz zwischen Rudolph Said-Ruete und LB wurde seitens des SIK nicht gestattet. 738 Sohn des Bankiers Adolf Sobernheim (1840–1880) und dessen Ehefrau Anna Magnus (1850–1908), die eine Tochter des Bankiers Meyer Magnus war, Stadtrat und Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Berlin. 1883 ehelichte Anna in zweiter Ehe den Berliner Bankier Eugen Landau (1852–1935), Vater von Eugen Freiherr von Landau. Geschwister von Moritz Sobernheim: Bankdirektor Curt Sobernheim (1871–1940), Medizinhistoriker und Bakteriologe Georg Sobernheim (1865–1963), Bankier und Besitzer der Schultheiß Brauerei Walter Sobernheim (1869–1945), Frieda Sobernheim (verheiratet mit Georg Hahn (1864–1953), Besitzer der Hahn’schen Röhrenwerke im westfälischen Großenbaum). Heike Stange: Familie Sobernheim, 2015, S. 11 f.
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freundschaftliche Beziehung. Da man sich regelmäßig zumindest während der Sommermonate in Berlin oder auch in den jeweiligen Urlaubsorten traf, war die briefliche Kommunikation erst von dem Moment an erforderlich, als wesentliche Informationen auf kürzestem Weg ausgetauscht werden mussten und das Ehepaar Borchardt nicht mehr regelmäßig in Berlin auftauchte, was ab Januar 1933 der Fall war. Nach dem unerwartet frühen Tod von Moritz Sobernheim am 5. Januar 1933739 intensivierte dessen Witwe Clara (1888–1963) die Beziehung zu Mimi Borchardt. Die beiden Frauen kannten sich bereits seit Kindestagen. Denn Clara Sobernheims in Frankfurt lebender Vater Ludwig Schiff (1855–1922)740 gehörte ebenso zum engeren Freundeskreis von Mimi Borchardts Eltern wie dessen auch in Frankfurt ansässiger Bruder Philipp Schiff. Der dritte der Schiff-Brüder, Jakob Schiff, stand der Familie Cohen-Kuhn sogar verwandtschaftlich nahe, wie eingangs ausgeführt. Des Weiteren war Clara Sobernheim eine Cousine des einflussreichen, in England lebenden Otto Schiff (1875–1952).741 Nach dem Tod ihres Ehemanns742 lastete die Verantwortung für ihre Kinder und ihre Mutter allein auf Clara Sobernheim. Dass ihres Bleibens in Deutschland nicht sein konnte, war ihr rasch bewusst. Sie erwog die Emigration nach England oder in die USA. Ebenfalls frühzeitig verließen die beiden Söhne Manfred (1913–2000) und Rudolf (1910–1994) Deutschland; Tochter Marianne (geb. 1915) blieb bei der Mutter, die bis 1938 ein unstetes Leben zwischen der Schweiz, Frankreich, England und den USA führte. Erst im April 1938 emigrierte die gesamte Familie nach New York, wo Rudolf Sobernheim bereits seit 1934/35 lebte. Nur wenige Monate nach dem Tod ihres Mannes verließ Clara Sobernheim ihre Berliner Wohnung, obwohl sie glaubte, weder die Bibliothek ihres Mannes noch ihre Gläsersammlung behalten zu können. Wichtiger aber war ihr, eine gesicherte Bleibe für ihre Kinder zu finden, was ihr mit Hilfe ihrer Verwandtschaft gelingen sollte. Dank Otto Schiff erhielt Sohn Manfred eine Arbeitserlaubnis in 739 Beigesetzt auf dem jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee. Hans-Jürgen Mende: Lexikon, 2006, S. 155. 740 Geschwister: Adelheid Geiger (geb. 1845 Frankfurt), Hermann Schiff (geb. 1851 Frankfurt), Jakob Schiff (1847–1920) und Philipp Schiff (1841 Frankfurt–1925, verheiratet mit Bertha (geb. 1852); Kinder: Ernst Heinrich (geb. 1881), Karl Isidor (geb. 1878), Paula (geb.1871, verheiratet mit Alfred Salin (geb. 1875)). Claras Mutter Emma Clothilde Schiff-Hellmann lebte ab 1935 in Paris. 741 Sohn von Philipp Schiff und Bertha Dreyfus. Philipp war einer der drei Söhne des Moses Jakob Schiff und der Clara Niederhofheim in Frankfurt. Philipp Schiffs Brüder: Jakob Schiff und Ludwig Schiff (Vater von Clara Sobernheim). 742 Sobernheim war an einer „Magenvergiftung“ gestorben, wie Clara am 6. Januar 1933 MB mitteilte. SIK MB 77/7.
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England, arbeitete in Schiffs Unternehmen in London.743 Vermittelt von Claras in New York lebendem Vetter John Schiff erhielt Sohn Rudolf Sobernheim die Einwanderungsgenehmigung für Kanada, wo er Jura studieren wollte, um später als Anwalt arbeiten zu können. Tochter Marianne lebte bei der Mutter, war stets gesundheitlich fragil.744 Vor allem deshalb machte Clara Soberheim mit ihr etliche ausgedehnte Reisen ins Schweizer Bergland oder Kuren, so im Januar 1934 in der Schweiz, Mitte 1934 in Aix-Les-Bains und Villars-sur-Ollon, im Herbst 1934 in Andermatt,745 im Januar, Februar und März 1936 in Arosa, Adelboden und Rom,746 Ende 1936 in Lenk und Zermatt, Dezember 1936 in den Schweizer Alpen,747 Januar 1937 in Pontresina,748 März 1937 in Arosa,749 September 1937 in Rom,750 November/ Dezember 1937 und Januar 1938 in Rapallo, Perugia und Arosa.751 Als Daueradresse wählte sie Bern, wo sie postalisch bei der Pension Bois Fleury zu erreichen war. Doch sollte die Schweiz nicht der bleibende Wohnsitz sein. Zunächst überlegte Clara Sobernheim, ob dafür London in Frage käme, das sich auch als zukünftiger Studienort für die Tochter eignen könnte. Von April bis August 1934 sah sie sich die Stadt gemeinsam mit ihrer Tochter genauer an.752 Wirklich begeistert war man nicht von England, auch weil Sohn Manfred sich dort nicht wohl fühlte und die Lebenshaltungskosten sehr hoch waren. Dennoch entschied man, dass Tochter Marianne ab Januar 1935 in England sein sollte, um sich auf das englische Gymnasialexamen vorzubereiten und ab Herbst 1935 eine Ausbildung am „Froebel Trainings College for Teacher“ in Roehampton753 zu beginnen. Trotz
743 C. Sobernheim an MB, (Paris, Rue Balsac, Hotel Balsac) 12. Dezember 1933. SIK MB 77/7. 744 Zwei Nasenoperationen im Sommer 1933. 745 In Andermatt machte Sohn Manfred mit Mutter und Schwester Urlaub. C. Sobernheim an MB und LB aus Aix-Les-Bains (1934), Bern, 20. Dezember 1934 (beantw. 28. Dezember 1934). SIK MB 77/7. 746 In Arosa besaßen Freunde von C. Sobernheim ein kleines Châlet. C. Sobernheim an MB, (Kleine Scheidegg, Hotel Bellevue & des Alpes) 16. März 1936 (beantw. 10. Dezember 1936). SIK MB 77/7. 747 C. Sobernheim an MB, 16. Dezember 1936. SIK MB 77/7. 748 C. Sobernheim an MB, 24. Dezember 1936. SIK MB 77/7. 749 C. Sobernheim an MB, 17. März 1937. SIK MB 77/7. 750 C. Sobernheim und Tochter wollten in der Nähe von Rom Schwefelbäder nehmen, 23. bis 27. August 1937 in Basel sein, bis zum 30. August in Zürich (Hotel St.Peter), dann in Bern. C. Sobernheim an MB, (Amsterdam) 14. August 1937. SIK MB 77/7. 751 C. Sobernheim an MB, (Perugia, Hotel Bonfani) 2. November 1937 (beantw. 17. Dezember 1937) u. (Bern) 15. Dezember 1937. SIK MB 77/7. 752 C. Sobernheim an MB, 20. September 1934. SIK MB 77/7. 753 Froebel College, gegründet 1892 unter dem Namen „Froebel Educational Institute“ in West Kensington (Talgarth Road), zog 1921 nach Roehampton (Grove House) um. Erste Schatzmeisterin: Claude Goldsmid-Montefiore, sorgte ab 1917 für die Finanzierung. Ab 1920 dauerte die
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ihres Unbehagens war Clara Sobernheim deshalb gezwungen, ebenfalls nach England zu migrieren, denn ihre Tochter konnte nur dann an dem College studieren, wenn ihre Mutter sich verpflichtete, ihr eine Wohnmöglichkeit zu bieten. Für kurze Zeit konnte Marianne bei einer befreundeten Familie untergebracht werden. Die Ausbildungspläne scheinen sich zerschlagen zu haben, Näheres erläuterte Clara Sobernheim nicht dazu, weshalb die Tochter entgegen der ursprünglichen Planung Mitte 1935 eine musikalische Ausbildung in Bern mit der Option eines späteren Studiums begann; 1936 hieß es, das Berner Konservatorium wolle sie als Berufsschülerin annehmen und sie in theoretischen Fächern ausbilden, sofern sie eine vorherige Aufnahmeprüfung erfolgreich absolvierte.754 Möglicherweise konnten sie sich mit England als neuem Wohnsitz nicht anfreunden oder Clara Sobernheim wollte sich räumlich nicht zu sehr von ihrer kränkelnden, in Paris lebenden Mutter entfernen.755 Möglich wäre auch, dass die Entscheidung gegen England mit Sohn Manfred zusammenhing, der Ende 1935 seinen Lebensunterhalt in London noch nicht allein finanzieren konnte. Auch hielt sich ihr Schwager Walter Sobernheim (1869–1945) mit seiner Ehefrau Gertrud überwiegend in Paris und in der Schweiz auf.756 Darüber hinaus war Clara Sobernheim von Kriegsangst erfasst, Mitte 1936 fühlte sie sich in der Schweiz einigermaßen sicher.757 Nach England reiste sie noch einmal kurz, weil Sohn Manfred seine für Herbst 1936 vorgesehene Emigration nach New York vorbereitete. Grund war, dass er in England als „naturalisierter Ausländer“ aufgrund neuerer Gesetze nicht Börsenmakler werden konnte. Im Oktober 1936 wechselte er nach New York, arbeitete auch dort für das Unternehmen seines Verwandten Otto Schiff. Im Unterschied zu England war es ihm in den USA möglich, Partner einer Börsenmaklerfirma zu werden. Dass er den Schritt nach New York überhaupt wagte, hatte er seinem Verwandten Otto Schiff zu danken, der sich sehr für den Sohn seiner Cousine einsetzte, so dass deren Ausbildung drei Jahre, ein Jahr länger als die übliche Lehrerausbildung, weil Studien zu Natur, Musik und Kunst mit besonderer Intensität betrieben wurden. University of Roehampton. London. Friedrich Froebel (http://www.roehaampton.ac.uk/Colleges/Forbel/Foebel-History/). 754 C. Sobernheim an MB, 16. März 1936. SIK MB 77/7. 755 C. Sobernheim an MB (London W 2, Marlborough Court, 100 Lancaster Gate) 4. Dezember 1935 (beantw. 10. Februar 1936). SIK MB 77/7. 756 Gertrud Sobernheim starb am 16. Juni 1938 in Paris. Martin Sobernheim, Sohn von Walter und Gertrud Sobernheim, lebte zeitweise in London, meist in Frankreich und der Schweiz. Walter Sobernheim emigrierte 1941 nach New York, seine Tochter Lotte Just ab Mai 1941 in Montevideo (Uruguay). Heike Stange: Familie Sobernheim, 2015, S. 51 ff, 56, 58. 757 Das Weihnachtsfest 1935 verbrachte C. Sobernheim mit den Kindern Manfred und Marianne sowie ihrer aus Paris angereisten Mutter in Bern. C. Sobernheim an MB, 16. März 1936. SIK MB 77/7.
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Sorgen überflüssig waren. Kaum in New York niedergelassen, verlobte er sich mit einer Amerikanerin.758 Da 1937 aus Clara Sobernheims Sicht die Kriegsgefahr gebannt schien, plante sie für Juni 1937 ein kurzes Treffen mit ihrem aus New York angereisten Sohn Rudolf in Southampton und in den Niederlanden.759 An die USA als mögliche zukünftige Bleibe dachte sie zu Beginn wenig, zumal Sohn Rudolf zunächst nicht etabliert war und sich in seinem ersten Emigrationsland Kanada nicht wohl fühlte.760 Er migrierte bald in die USA, um an der Columbia Universität in New York Jura zu studieren. Von Vorteil war, dass die Verwandten versprochen hatten, ihn als „Law Clerk“ unterzubringen, wenn er ein gutes Examen ablegen würde. Später sollte er sich als Anwalt selbständig machen können.761 Tatsächlich legte er 1935 hervorragende Examina ab, wurde sogar in den Vorstand der „Columbia Law Review“ gewählt.762 Bis 1937 sollte das Studium dauern, bis 1939 musste er dann als „Law Clerk“ arbeiten, um sich anschließend als Anwalt mit amerikanischer Staatsangehörigkeit niederlassen zu können.763 Erst mit der Emigration des zweiten Sohnes nach New York und der Anstellung von Sohn Rudolf bei einem Anwalt rückten die USA Ende 1937 verstärkt in den Blickpunkt von Clara Sobernheim. Gemeinsam mit Mutter und Tochter wollte sie im Dezember 1937 die Reise dorthin antreten, allerdings im Januar 1939 zurückkehren.764 Als sich die drei Frauen schließlich entschlossen, sich am 6. oder 8. April 1938 einzuschiffen, „um ein neues Kapitel unseres Lebens“ zu beginnen, überkam sie eine gewisse Erleichterung angesichts der sich in Europa zuspitzenden „Lage“.765 Zwar konnte die Überfahrt wegen der schwachen Gesundheit von Marianne Sobernheim nicht wie geplant angetreten werden, stattdessen erst im Mai 1938 stattfinden, aber in Aufregung versetzte dies Clara Sobernheim nicht.766 In den USA, wo sie „räumlich weit weg von allem“ sein würde, hoffte sie wieder zur Ruhe zu kommen. Kaum in New York angekommen, fand sie die städtische 758 C. Sobernheim an MB, (Basel, Hotel Euler) 7. August 1937. Die Braut von M. Sobernheim war „Wohlfahrtspflegerin“, das Paar trennte sich vor Mai 1938. SIK MB 77/7. 759 C. Sobernheim an MB, (Arosa, Pension Anita), 17. März 1937. SIK MB 77/7. 760 C. Sobernheim an MB u. LB, 1934. SIK MB 77/7. 761 C. Sobernheim an MB, 20. September 1934. SIK MB 77/7. 762 C. Sobernheim an MB, 2. September 1935. SIK MB 77/7. 763 C. Sobernheim an MB, 4. Dezember 1935. SIK MB 77/7. 764 C. Sobernheim an MB, 7. August 1937. SIK MB 77/7. 765 C. Sobernheim an MB, (Bern) 15. Dezember 1938. SIK MB 77/7. 766 Mit ihrer Tochter machte sie eine Erholungsreise. In New York war sie unter der Adresse ihres Sohnes Rudolf (302 West 78 street, New York City) zu erreichen. MB hatte bereits aus Luxor zur bevorstehenden Überfahrt gratuliert. C. Sobernheim an MB, (Bern) 26. Februar 1938. SIK MB 77/7.
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Umgebung „scheußlich“, suchte sich ein kleines Haus in dem Städtchen Rye, dessen Umgebung sie an den Berliner Wannsee erinnerte.767 Auch der amerikanischen Bevölkerung brachte sie wenig Sympathie entgegen, sie bot ihrer Meinung nach keinen „erbaulichen Anblick“. Unmittelbar überfielen sie Heimweh und Sehnsucht nach Europa.768 Manfred Sobernheim arbeitete kurzfristig für geringen Lohn in einem Exportunternehmen,769 Sohn Rudolf in einem Anwaltsbüro und wissenschaftlich,770 Tochter Marianne studierte Musik.771 Bedrückend war der Gedanke an in Europa zurückgebliebene Verwandte und Freunde, beispielsweise an den noch in Berlin lebenden Schwager Georg Hahn, der sein Haus hatte verkaufen müssen und auf gepackten Koffern in zwei Zimmern einer Pension ausharrte.772 Berichte von soeben in Nord-Amerika angekommenen Migranten verstärkten die Sorgen. Dennoch sehnte sich Clara Sobernheim nach Europa, konnte sich an Land und Leute nicht gewöhnen, fühlte sich wie in einem „Schwebezustand“.773 Es schien ihr unmöglich, in New York Wurzeln fassen zu können. Da ihr berufsbedingte Verbindungen fehlten, fand sie nur schwer Kontakt. Ab und an besuchte sie Ausstellungen und Museen oder Kinovorstellungen. Angesichts ihres Jahre andauernden unsteten Lebens bildete der briefliche Austausch für Clara Sobernheim eine bedeutende Konstante. Darüber hinaus betrachtete sie Mimi Borchardt als mögliche Vermittlerin, obwohl 1935 und 1936 keine Treffen zustande kamen,774 im August 1937 nur ein kurzes in Bern möglich war.775 Die in Kairo stattfindenden Vermittlungen waren aber gewiss von derselben Bedeutung.
767 C. Sobernheim an MB, (New York, The Franconia, 20 West 72 street) 31. Mai 1938 (beantw. 5. Juli 1938). SIK MB 77/7. 768 C. Sobernheim an MB, (Rye, NY, 21 Brown Avenue) 6. November 1938. SIK MB 77/7. 769 Später konnte er sich als Börsenmakler etablieren, lebte in Arlington (VA, USA). 770 In den folgenden Jahren arbeitete R. Sobernheim als Jurist, wurde Mitglied des „Defense Department’s Armed Services Board of Contract Appeals“, trat 1979 der Labor Party bei, ging 1985 als „Chairman of the Board of Contract Appeals of the Labor Department“ in Ruhestand. Ab 1951 lebte er in Washington. 771 Weitere Informationen über sie liegen nicht vor. 772 Verheiratet mit Frieda Sobernheim, Schwester von Claras Ehemann Moritz. Das Ehepaar hatte Pässe beantragt, aber C. Sobernheim bezweifelte, dass man sie „herauslassen“ würde. C. Sobernheim an MB, (Rye) 13. März 1939. SIK MB 77/7. 773 C. Sobernheim an MB, (Rye) Januar u. 13. März 1939. SIK MB 77/7. 774 C. Sobernheim an MB, (Bern, Pension Bois Fleury), 16. Dezember 1936. C. Sobernheim wollte sich im Sommer 1937 für einige Zeit in den Schweizer Bergen aufhalten, hoffte, dort LB und MB anzutreffen (17. März 1937). SIK MB 77/7. 775 Zu dieser Zeit hielten sich LB und MB in Champéry auf, gingen am 11. September 1937 nach Bern (Schweizer Hof), wollten am folgenden Tag weiterreisen. Abends trafen sie sich in Bern mit C. Sobernheim. MB an C. Sobernheim, (Champéry, Châlet des Frênes) 24. August 1937; C. Sobernheim an MB, (Basel, Hotel Euler) 25. August 1937. SIK MB 77/7.
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Ihren Neffen Martin Sobernheim, der sich 1934 auf einer Mittelmeerfahrt befand und Kairo einen kurzen Besuch abstatten wollte, schickte Clara Sobernheim zum Ehepaar Borchardt, das den jungen Mann mit „guten Ratschlägen“ versorgen sollte.776 Ebenso wie um Martin Sobernheim sollten sich die beiden um Hans Philipp kümmern, einen Freund Manfred Sobernheims.777 Seit Herbst 1934 hielt er sich angeblich aus geschäftlichen Gründen in Kairo auf, wo er sich auf Clara Sobernheims Empfehlung hin mit dem Ehepaar Borchardt traf, das ihn maßgeblich bei seiner Emigration nach Süd-Amerika unterstützte,778wofür Clara Sobernheim sich später bedankte.779 Anfang 1937 erschien Albert Dreyfus, ein „alter Freund unserer Familie“, in Kairo, überbrachte Briefe von Clara Sobernheim und wurde auf ihre Empfehlung hin „freundschaftlich“ empfangen,780 und mit dem Fremdenführer Balder nach Oberägypten auf Besichtigungsreise geschickt.781 Des Weiteren galt Clara Sobernheims Interesse der Pflege gemeinsamer Beziehungen, etwa zu Magnus Hirschfeld (1868–1935),782 mit dem sie über ungeklärte Nachlassfragen diskutierte, dessen Vorträge sie besuchte, ähnlich wie 776 C. Sobernheim an MB, (London, Cumberland Hotel, Marble Arch) 20. September 1934 (beantw. 12. November 1934). SIK MB 77/7. 777 C. Sobernheim an MB, (Bern) 18. Mai 1935 (beantw. 6. Juni 1935). SIK MB 77/7. 778 Hans Philipp schrieb am 21. Mai 1938 von Mailand an LB, er wolle dort sechs bis acht Wochen bleiben, sich einen Job suchen, um sich seine Lebenshaltungskosten zu verdienen und sein vorhandenes Geld für die Überfahrt nach Kolumbien zu nutzen. Ein Visum würde er sicher erhalten, wollte im August 1938 in Kolumbien sein. Dass er dieses Ziel überhaupt erreichen würde, verdanke er allein der Unterstützung durch LB und MB. Am 4. Dezember 1938 schrieb er aus Bogotá an MB, bedankte sich nochmals für LB’s Hilfe, denn nur durch sie habe er seinem Leben eine „neue Basis“ geben können. In Kolumbien hatte er eine leidlich gute Position in einem großen Unternehmen. Seine Eltern waren noch in Berlin und in großer Gefahr. Ihre Überfahrt nach Kolumbien und ihren Lebensunterhalt dort könnte er finanzieren. Für die Einreise seien aber 500 Pesos, entsprechend 120 £ erforderlich. Dieses Depot werde nach zwei Jahren zurückerstattet. Die Summe könne er nicht aufbringen. MB sei seine einzige Hoffnung. MB schrieb (27. Dezember 1938), sie sei am Ende ihrer „finanziellen Leistungskraft“, könne also nicht helfen. Philipp solle überlegen, ob er unterstützungsbereite Freunde in den USA habe. Prof. Dr. Hans Philipp war wohl ein Sohn oder Enkel von Virginia Philipp geb. Schinkel (gest. 1930). Geschwister waren Wolfgang Philipp und Maria Philipp. Weitere Informationen liegen nicht vor. SIK MB 75/2. 779 C. Sobernheim, (Rye) 6. November 1938. SIK MB 77/7. 780 C. Sobernheim an MB, (Paris, Hotel Cécilia, Avenue Mae Malon) 25. Januar 1937. SIK MB 77/7. 781 Ob der Ägyptenaufenthalt von Albert Dreyfus tatsächlich nur eine ‚Bildungsreise‘ darstellte, lässt sich seinen Briefen nicht entnehmen. In Luxor verbrachte er dank der Führung von Balder schöne Tage (an MB, 24. Februar 1937), fand im Hause Borchardt herzliche Aufnahme, dachte zurück an die vor 43 Jahren gemeinsam mit MB erhaltenen Tanzstunden bei Frau Schmidt. Er hoffte, LB und MB bald in Paris begrüßen zu können, wie er am 16. März 1937 noch aus Kairo (Hotel de Paris, Rue El Maghraby) schrieb. SIK MB 61/1. 782 Sohn des Kolberger Arztes Hermann Hirschfeld, studierte 1888–1892 Sprachwissenschaft und Medizin. In Magdeburg eröffnete er seine erste naturheilkundliche und allgemeinmedizinische
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jene von Wolley über Grabungen in Ur.783 Das Ehepaar Borchardt wollte sich im Februar 1935 mit Hirschfeld treffen, der sich auf seiner Rückreise von Persien einige Tage in Ägypten aufhalten wollte. Über Borchardts ließ Enno Littmann, der sich Anfang 1937 in Kairo aufhielt, Grüße an Clara Sobernheim ausrichten. In demselben Schreiben berichtete Mimi Borchardt wohl auch von einem Herrn Fischer, den Clara Sobernheim nicht kannte, und von dem in Kairo lebenden Orientalisten Joseph Schacht, der ihr bekannt war.784 Der briefliche Austausch galt zudem der Versicherung gemeinsamer Inte ressen und dem Gedankenaustausch vermittelt über gemeinsame Lektüre. So empfahl Clara Sobernheim Mimi Borchardt die Lektüre von „Gerechtigkeit“ von Friedrich von Oppeln-Bronikowski, das aus ihrer Sicht nie die erwünschte Resonanz erreicht hatte und das sogar Ludwig Borchardt „nett und anerkennend erwähnt“, obwohl Oppeln-Bronikowski sich nach dem Ersten Weltkrieg im Bürgerrat der Stadt Berlin und in der DNVP sowie für die Juden engagierte. Von 1920 bis 1923 arbeitete Oppeln-Bronikowski im Auswärtigen Amt, wo er Borchardt kennenlernte. 1920 verfasste er die Broschüre „Antisemitismus? Eine unparteiische Prüfung des Problems“ und 1932 „Gerechtigkeit. Zur Lösung der Judenfrage“, versehen mit einem Geleitwort von Ricarda Huch. Letztere Schrift, worin von Oppeln-Bronikowski deutlich Stellung bezog gegen den Antisemitismus, führte 1932 zu seinem Ausschluss aus der DNVP; 1933 wurde die Schrift „Gerechtigkeit“ von der Gestapo beschlagnahmt und verboten.785
Praxis, um 1895 zog er nach Berlin, gründete dort 1897 das Wissenschaftlich-Humanitäre Komitee, dessen Ziel es war, Sexualität zwischen Männern zu entkriminalisieren. 1899 bis 1923 Herausgeber des Jahrbuchs für sexuelle Zwischenstufen, 1908 Gründung der Zeitschrift für Sexualwissenschaft, ab 1907 auch als Gutachter vor Gericht tätig. Gründete 1918 die Dr. Magnus-Hirschfeld-Stiftung (Grundlage des späteren Instituts für Sexualwissenschaft, das er 1919 gemeinsam mit dem Dermatologen Friedrich Wertheim und dem Nervenarzt und Psychotherapeuten Arthur Kronfeld eröffnete). Organisierte zahlreiche Kongresse. Wiederholt wurde er Opfer gewalttätiger Übergriffe, für die Nationalsozialisten war er schon frühzeitig ein Feindbild. Aufgrund der zunehmenden Bedrohungen folgte er 1931 einer Einladung zu Vortragsreisen in den USA, reiste anschließend nach Asien und in den Orient. Nach Deutschland kehrte er nicht mehr zurück, ließ sich in der Schweiz, später in Paris und Nizza nieder. Sein Institut für Sexualwissenschaften wurde von den Nationalsozialisten einschließlich sämtlicher Unterlagen (die auch etliche in Behandlung befindliche Nationalsozialisten betrafen) zerstört. http://de.wikipedia. org/wiki/Magnus_Hirschfeld (08.09.2014). 783 C. Sobernheim an MB, 20. Dezember 1934. SIK MB 77/7. 784 C. Sobernheim an MB, 17. März 1937. SIK MB 77/7. 785 (1873–1936), stammte aus einer Familie von Militärs, er selbst musste diese Karriere wegen eines Reitunfalls aufgeben, studierte Philosophie, Psychologie, klassische Sprachen und Kultur, arbeitete als freier Schriftsteller und Übersetzer. In seinen Schriften setzte er sich mehrfach für Juden und jüdische Kultur ein. Kurzbiografie von Oppeln-Bronikowski in: www.schneesturmverlag.de (08.09.2014).
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Zweifellos litt Clara Sobernheim unter dem erzwungenermaßen unsteten Leben. Dennoch war sie gewiss keine „Normalbürgerin“ im Sinne von Heinrich Borchardt. Von ungeschmälertem Interesse blieben für sie der Besuch von Ausstellungen und Vorträgen sowie Besichtigungsreisen, die sie sich nach wie vor leisten konnte. In Brüssel besuchte sie 1935 Ausstellungen, ebenso 1936 in London im Burlington House die Jubiläumsausstellung der British School of Archaeology Athen, im Sommer 1936 in Paris eine Cézanne- und in Rotterdam eine Hieronymus-Ausstellung,786 im August 1937 in Amsterdam eine Franz Hals Ausstellung mit anschließender Besichtigung der Stadt Leiden.787 Im Winter 1937/38 nahm sie an kunsthistorischen Seminaren teil und sorgte sich, ob sie in der „neuen Welt wieder in Kontakt mit diesen Dingen“, die sie so „glühend“ interessierten, kommen würde. Ludwig Borchardt bewunderte und beneidete sie um seinen Elan und seine wissenschaftlichen Arbeiten, hielt es aber für fraglich, ob sie selbst noch einmal nach Ägypten würde reisen können.788 Wie ihre zahlreisen Reisen, die bei weitem nicht nur dem Besuch der in Paris lebenden Mutter oder dem in England lebenden Sohn galten, zeigen, litt Clara Sobernheim keine wirtschaftliche Not, auch wenn ihr Leben nicht mehr so üppig ausgestattet war wie vor 1933. Privilegiert war sie aber auch deshalb, weil sie über ausgezeichnete Beziehungen zu England und den USA verfügte, verwandtschaftliche Verbindungen, die sich bewährten. Im Wesentlichen rankten sich diese Beziehungen um die einflussreiche Familie Schiff, zu der auch Mimi Borchardt in verwandtschaftlicher Beziehung stand, die sie aber seit dem Ersten Weltkrieg nicht mehr nutzen konnte. Weil sich die amerikanische Schiff-Familie während des Krieges „so antideutsch benommen hatte“, hatte Mimi Borchardt mit ihr gebrochen. Jakob Schiff hatte ab 1911 seinen politischen Einfluss geltend gemacht, um eine antirussische Politik zugunsten der dort verfolgten Juden durchzusetzen. Während des Krieges stand er auf Seiten der Alliierten. Die ‚Gräben‘ waren so tief, dass die Beziehungen abgebrochen wurden. Eine vermittelnde Instanz, wie sie beispielsweise der bereits 1910 verstorbene Eduard Cohen dargestellt hatte, existierte nicht, fand sich auch in der in den USA aufgewachsenen Mutter Mimi Borchardts, Ida Kuhn-Cohen, nicht. In den 1930er Jahren stand Mimi Borchardt noch nicht einmal in loser Verbindung mit der amerikanischen Verwandtschaft, kannte die jüngere Generation überhaupt nicht. Die ältere war, „mit Ausnahme von zwei Witwen, die aber gesellschaftlich auch gar keine Rolle spielen, ausgestorben“.789 786 C. Sobernheim an MB (Bern) 24. Dezember 1936. LB und LB wohnten zu dieser Zeit im Deutschen Haus in Theben. SIK MB 77/7. 787 C. Sobernheim an MB, 14. August 1937. SIK MB 77/7. 788 C. Sobernheim an MB (Bern) 26. Februar 1938. SIK MB 77/7. 789 MB an Ida Eiseck, (Zürich) 2. Oktober 1937. SIK MB 62/6.
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Mit Gewissheit war Clara Sobernheim für Ludwig und besonders Mimi Borchardt eine schon früh einsetzende Informationsquelle, sowohl bezüglich der Lebensbedingungen von Juden in Deutschland als auch der Arbeits- und Lebensmöglichkeiten von Migranten in England und in Nord-Amerika. Darüber hinaus erfuhr Mimi Borchardt, dass Otto Schiff in England eine der wesentlichen Persönlichkeiten bezüglich Hilfsmaßnahmen für verfolgte Juden war. Auch in den USA tat sich Mimi Borchardts Verwandtschaft durch Hilfsmaßnahmen hervor. Der in die Familie Loeb eingeheiratete Bankier Felix Warburg gehörte 1933 zu den Gründern des „Emergency Rescue Committee in Aid of Displaced German Scholars“ (EC). Tatenlosigkeit angesichts fehlender Beziehungen war mithin kein Muss. Der dennoch oftmals wiederholte Hinweis auf das allzu abseitige Leben in Ägypten resultierte gewiss auch aus dem gesicherten Wohlstand und verhältnismäßig unbehinderten Alltag in Ägypten. Beides verstellte den Blick nachweislich nicht völlig, vernebelte ihn aber mitunter. Es gab auch andere, weniger vergleichsweise entspannte Berichte als die von Clara Sobernheim. Etwa jene des Ehepaars Eliassow. Dora Eliassow geborene Rosenberg790 war die Ärztin von Ludwig Borchardts Bruder Heinrich gewesen. Anfang 1937 emigrierte sie zusammen mit ihrem Ehemann, dem aus Königsberg stammenden Physiker Alfred Eliassow (1883–1972),791 nach New York.792 Im März 1937 hatten beide das Ehepaar Borchardt in Kairo besucht. Dora Eliassow schien eine verlässliche Ansprechpartnerin. Auf Mimi Borchardts Anfrage von Mitte 1938 zugunsten ihres Verwandten Fritz Berend antwortete sie umgehend, bedauerte, sich nicht direkt an den sich noch in Italien aufhaltenden Berend wenden zu können, weil die deutschen Emigranten in Italien von der deutschen Gestapo überwacht würden.793 Die weiteren Auskünfte von Dora Eliassow klangen wenig ermutigend. Berend würde nur dann ein amerikanisches Visum erhalten, wenn er ein US-Bankkonto mit einem Guthaben von mindestens 5.000 Dollar nachweisen könnte, es sei denn, ein US-Bürger stellte eine Zusatzbürgschaft aus. Letzteres erschien unwahrscheinlich, da „alle Leute in New York gerade schon so stark in Anspruch genommen worden sind, dass es hier fast unmöglich ist, eine Zusatzbürgschaft für einen dem Bürgen Unbekannten zu bekommen“. Zu Musikerkreisen und -hochschulen, die für Fritz Berend von Bedeutung waren, hatte das Ehepaar Eliassow keinerlei Beziehungen. Ausge790 Tochter von Meta Rosenberg-Wolfram (gest. 1937 in Aachen), Schwester von Hans Rosenberg in Aachen (1907–1943, verheiratet mit Marianne Rosenthal), Luise Rosenberg-Schwab (verheiratet mit Dr. Kurt Schwab, wohnhaft in New York).„Aufbau“, 19. November 1943. SIK MB 76/6. 791 Bruder des Arztes Walter Eliassow (geb. 1891 Königsberg). 792 Briefwechsel zwischen Dora Rosenberg-Eliassow in: SIK MB 76/6. 793 Rosenberg-Eliassow an MB, (Kew Gardens, New York) 16. August 1938. SIK MB 76/6.
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nommen von den rigiden Einwanderungsregeln waren „research worker“, deren wissenschaftliche Forschungstätigkeit keine Bürgschaft erforderlich machte. Diese Informationen konterkarierten die von Clara Sobernheim eingetroffenen Berichte, die eher eine luxuriöse Normalität widerspiegelten, eine Form der ‚Normalität‘, wie sie auch Ludwig und Mimi Borchardt weitgehend aufrecht erhielten. Die dank des Schiff’schen Einflusses fast unproblematische Emigration und Etablierung der Familie Sobernheim weckten wenig Gespür für die in aller Regel mit großen Schwierigkeiten einhergehende Auswanderung, repräsentierten nicht den üblichen Fall. Andere das Ehepaar Borchardt erreichende Briefe bildeten ebenfalls eine sich von Clara Sobernheims und Dora Zuntz‘ unterscheidende Wirklichkeit ab. So berichtete Bernhard Spinak (1884–1963), seit 1920 Besitzer des Sanatoriums Kohnstamm in Königstein/Taunus und dort von 1925 bis 1930 betreuender Arzt von Mimi Borchardts Mutter, von enormen Bedrohungen. Im Sanatorium, das er bis 1937 leitete, hatte sich die Arbeit extrem gehäuft; den zuvor in Bühlerhöhe tätigen Arzt Dr. H. Weiss hatte Spinak zusätzlich eingestellt. In größter Sorge war er wegen seines in Warschau lebenden alten Vaters, den er dort im Januar 1937 besuchte.794 Im Oktober 1938 musste Spinak das Sanatorium in Königstein schließen und verkaufen. Da er polnischer Staatsbürger war, wurde er verhaftet, ohne Gepäck und Geld über die Grenze nach Polen gebracht, fand glücklicherweise Unterkommen bei Verwandten in Warschau.795 Dies waren für ihn überaus bittere Erfahrungen, nachdem er sich in Deutschland dreißig Jahre lang als Mediziner um das Wohlergehen von Menschen verdient gemacht hatte.796 Wo Spinak seinen Lebensabend verbringen sollte und konnte, war nicht abzusehen. Möglicherweise stellte Palästina eine Option dar, weshalb er sich ab Februar 1939 dort als „Tourist“ aufhalten wollte. Plötzlich aber wurde die Zeit knapp. Ob die Reise über Constanza (Rumänien) nach Alexandria und von dort nach Tel Aviv wie geplant durchführbar war, war fraglich.797 Spinak erreichte sein Reiseziel, berichtete im Mai 1939 von seiner Ankunft in Palästina und dass es ihm in Tel Aviv gut gefiel.798 Schon am 23. Mai wollte er das Land aber wieder verlassen, mit der Transsylvania nach Alexandria aufbrechen und dort am 25. Mai ankommen. Zeit, um einen Abstecher 794 Königstein (Sanatorium für Nerven- und Stoffwechselkrankheiten), 6. Januar 1937. Zusätzlich berichtete er, dass Dr. Max Friedemann, Mitbesitzer des Sanatoriums, geheiratet habe. SIK MB 77/8. 795 Warschau (Miedowa 9), 14. Dezember 1938. SIK MB 77/8. 796 Angesichts dieser Bedrückungen konnte MB froh sein, so Spinak, dass ihre Mutter dies nicht mehr erleben musste und ihre Schwester im Mai 1933 „das Leben von sich gestoßen“ hatte. MB an Spinak, 25. Dezember 1938. SIK MB 77/8. 797 Warschau, 10. April 1939. SIK MB 77/8. 798 Tel Aviv (c/o Frank, 16 Dizingoff str.), 18. Mai 1939. SIK MB 77/8.
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nach Kairo zu machen, würde nicht bleiben. Spinaks Plan war, im Sommer 1939 in die Schweiz oder nach Frankreich zu gehen. Polen stellte für ihn keine Option dar, da er es als äußerst problematisch begriff, „auf diesem Vulkan als Jude nochmals neu anzufangen“. Was ihn schließlich dazu bewog, in die USA zu emigrieren, lässt sich nicht nachvollziehen. Spinak ließ sich in Kalifornien nieder, musste wieder ganz von vorne anfangen, wurde aber wieder als Arzt tätig.799 Ähnlich klangen andere Berichte, etwa jene der Familie Stern-Kolmar, Verwandte Mimi Borchardts mütterlicherseits. Grete Kolmars Ehemann war etliche Jahre eine der führenden Persönlichkeiten des Mannheimer Theaters gewesen, wurde wegen seiner jüdischen Herkunft seiner Stellungen enthoben. Gretes Brüder Paul und Ernst Stern erlebten Ähnliches. Der Bühnenmaler Ernst Stern, der zur Prominenz seines Berufsstandes zählte, verlor seine Stellung in Berlin.800 Er konnte nach England emigrieren, lebte dort aber in größter Not, so dass sein Bruder Paul, dessen Finanzmittel ebenfalls zur Neige gingen, ihn monatlich mit 10 RM unterstützen musste.801 Hilfesuchend bei seiner Verwandten einzukommen, sich auf die gemeinsame Familie berufend, war für Paul L. Stern kein Leichtes, doch allzu viele alternative Optionen hatte er nicht. Nach seiner Kenntnis war Mimi Borchardt seit 1933 Universalerbin von Kuhn, also wohlhabend und in der Lage, Ernst Stern und dessen 23-jährigen, ebenfalls in London lebenden Neffen Hanns Kolmar (Sohn von Grete) finanziell zu unterstützen.802 In Abraham Kuhns Testament sei verfügt, dass unverschuldet in Not geratene Familienmitglieder „vom jeweiligen Nutznießer“ unterstützt werden müssten. Mimi Borchardts Reaktion auf dieses Schreiben war brüsk. Universalerbin sei sie nicht, habe auch keinen Brief von Paul Sterns Schwester Grete Kolmar erhalten, 799 In Kalifornien war er betreuender Arzt des Schriftstellers Franz Werfel. Laut Entschädigungsakten lebte Spinak noch 1954 in Los Angeles (802, N.Vermont Ave), er starb 1963 in Luzern. Verhandelt wurde 1949/50 über die Entschädigung betreffend das Kohnstamm’sche Sanatorium, dessen Besitzer Spinak bis 1939 gewesen war. Im Februar 1939 verkaufte er es an den Arzt Herbert Kaltenbach (geb. 1889 Halle/Saale, 1933–1936 Mitglied der SA und Obertruppführer). Dieser verlangte von Spinak eine Entschädigung, weil er 1941 die Wertzuwachssteuer in Höhe von 14.193,54 RM gezahlt hatte, die Spinak nicht leisten konnte. Am 13. September 1950 urteilte die Wiedergutmachungsbehörde in Wiesbaden, Kaltenbachs Ansprüche seien abgegolten, weil Spinak 1939 nicht die freie Verfügung über den Kaufpreis gehabt habe. HHSTAW Abt. 658 Nr. 186; s. auch die Akten betr. die Israelitische Kultusgemeinde Königstein im HHSTAW Abt. 518 Nr. 1219. 800 E. Stern arbeitete lange für Max Reinhardt (Berlin) als Bühnenbildner. Nach Aufenthalten in Holland, Paris und in Hollywood lebte er 1935 in London, hatte dort 1933 die Revue „Casanova“ von Erik Charell im Coliseum ausgestattet. In London fand er nur Aufträge für Revue- und Operetten-Ausstattungen, 1942–1944 war er Bühnenbildner eines Shakespeare-Zyklus. Er starb 1954 in London. Stephan Stompor: Künstler, Teil 1, 1994, S. 313 f. 801 Paul Stern an MB, (Mannheim, Nietschestr. 32), 12. Juni 1935. SIK MB 78/1. 802 E. Stern und H. Kolmar wohnten in London W2, 71 Linden Gardens.
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was nachweislich nicht den Tatsachen entsprach.803 Der besagte Passus im Testament ihres Großvaters existiere nicht. Jede Hilfestellung lehnte sie ab, denn sie sei mit der Unterstützung ihr näher stehenden Personen bis an ihre Grenzen belastet. Milder verfuhr sie mit der Verwandtschaft väterlicherseits. Mehrfach wandte sich der erwähnte, in Osnabrück und Münster tätig gewesene Dirigent und Pianist Fritz Berend direkt und indirekt an sie, in der Hoffnung, dass Ägypten eine Fluchtmöglichkeit böte. Dies verneinte Mimi Borchardt gänzlich, unterstützte Berend aber finanziell.804 Italien konnte er noch rechtzeitig verlassen, Ende 1939 nach London emigrieren. Er schloss sich dort dem Freien Deutschen Kulturbund an, konnte aber nicht mehr an seine früheren Erfolge anknüpfen.805 Jedem Hilfegesuch entsprachen Ludwig und Mimi Borchardt nicht, schätzten mitunter das Maß der Bedrohung und Verfolgung falsch ein. Dennoch leisteten sie Erhebliches. Sobald angefragt war, ihr Haus Verfolgten zu öffnen, zögerten sie damit nicht, standen mit Rat und oftmals finanzieller Tat bereit. Ein Beispiel neben den bereits erwähnten war der entfernte Verwandte und Architekt Helmut Wolff, der sich nach der Emigration nach Amsterdam ebenso wie seine Ehefrau als Fotograf betätigte. Im Auftrag der Rotterdam’schen Lloyd sollte er im Frühjahr 1938 in Ägypten Farbaufnahmen machen. Doch verweigerte das ägyptische Konsulat in Den Haag die erforderlichen Visa, befürchtend, dass das Ehepaar Wolff nach Ägypten emigrieren wollte. Erst Borchardts Intervention in Kairo sorgte für die Gewährung der Visa. Wolff und seine Ehefrau konnten für ein paar Tage nach Ägypten reisen und hatten vor allem Gelegenheit, sich in Kairo ausführlich mit dem Ehepaar Borchardt zu beraten.806 In Kairo vermittelten Borchardts an Bekannte und Freunde, beispielsweise an Max Meyerhof, um Informationen weitergeben oder Hilfe geben zu können. Das Borchardt’sche Haus bildete offensichtlich Anlaufstelle und Informationszentrale, 803 Zürich, 27. Juni 1935. SIK MB 78/1. G. Kolmar schrieb mehrfach an MB. 804 Die Verwandte Ida Eiseck berichtete MB im September 1937 von ihrem Exil in Chiusa d’Isarco (Südtirol) aus, Fritz Berend halte sich seit einiger Zeit bei ihnen auf. In Deutschland habe er aus Furcht vor Denunziationen nicht bleiben können. Berend wollte nach Italien gehen, obwohl er die USA bevorzugte. MB hatte Berend seit dem Krieg nicht mehr gesehen, wollte ihm helfen, weil sie die neuesten Nachrichten schockierten. Sie überwies Berend im November 1937 1000 Franken auf ein Schweizer Konto. Berend konnte sich einige Zeit in Settignano (Florenz) bei Freunden aufhalten, wo ihn Ida Eiseck mehrfach besuchte. Vergeblich hoffte er auf die Unterstützung seitens bekannter Kollegen. Ablehnend reagierten Bruno Walther und Bush. Mit Toscanini war Berend nicht bekannt. Wie MB am 16. September 1938 an Ida Eiseck schrieb, war Ägypten sehr Europäer-feindlich und verweigerte jede Einreise. Im März 1939 wurde Berends Einreiseantrag für Australien abgelehnt. Wenig später gelang ihm die Flucht nach Großbritannien. SIK MB 62/6. 805 Stephan Stompor: Künstler, Teil 1, 1994, S. 328 ff. 806 H. Wolff an LB, 25. April 1938; LB an H. Wolff, 28. April 1938. LB erklärte, die Ägypter lebten in der „Angst, ein Europäer könne ihnen Arbeit wegnehmen“. SIK LB.
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eine Rolle, deren Bedeutung kaum zu überschätzen ist und jener des EngelWronker’schen Hauses ähnlich war. Diese Rolle dürfte auch nach Borchardts Tod weiterbestanden haben, obwohl Besuche in Ägypten immer schwieriger wurden und Mimi Borchardt von einem „solches Grauen“ erfasst wurde, dass sie es glaubte, kaum noch ertragen zu können. Sie wähnte sich wie in einem bösen Traum, hoffte endlich aufwachen zu dürfen.807 Das sie zu erdrücken drohende „private Leid“ drängte sie zurück. Ihr Leid war groß. An Ludwig Borchardts vorläufiger Beisetzung hatten nur sie und die in der Schweiz studierende Käte Rubensohn teilnehmen können. Alle ihre Freunde waren ohne Pass, konnten also nicht mehr reisen. Ein glücklicher Zufall fügte es, dass sie einen Platz auf einem Schiff, das sie nach Ägypten zurückbringen würde, erhielt. Als ihr Lebensziel formulierte sie, trotz der „unruhigen, undurchsichtigen Zeiten“ das „Werk“ Ludwig Borchardts fortsetzen zu wollen, um das von ihm Geschaffene für die Wissenschaft zu erhalten und ihm zugleich eine Form von Denkmal zu setzen.808 Ähnliches motivierte Borchardts Nachfolger Herbert Ricke, zu dem Mimi Borchardt im Laufe der Jahre ein mütterliches Vertrauensverhältnis entwickelte.809 Parallel dazu war Mimi Borchardt erklärtermaßen bestrebt, im Rahmen des ihr Möglichen Verfolgten zu helfen. Dieselbe Zielsetzung hatte ihr Ehemann verfolgt, dabei erfolgreich sein privates Institut als Instrument eingesetzt. Sämtliche von ihm zusätzlich zu seinem Assistenten Ricke herangezogenen Mitarbeiter waren jüdischer Herkunft; Borchardt sicherte nicht nur kurzfristig ihre Existenz, sondern ebenso ihre berufliche Etablierung und Weiterentwicklung; vor allem aber rettete er sie vor lebensbedrohlicher Verfolgung. Bei all dem war ihm bewusst, dass auch er in Kairo von nationalsozialistisch orientierten Deutschen beobachtet wurde.
4.5 Ägyptologisch-orientalistische Netzwerke Die internationale soziale Vernetzung des Ehepaars Borchardt resultierte ebenso wie bei Max Meyerhof aus Familie, Berufstätigkeit, politischen, sozialen und kulturellen Interessen, die nicht zuletzt mit dem jahrzehntelangen Leben
807 MB an C. Sobernheim, 3. Dezember 1938. SIK MB 77/7. 808 MB an C. Sobernheim, 3. Dezember 1938. SIK MB 77/7. 809 Vgl. Briefwechsel MB-Ricke. SIK MB 76/4 + 5. Meyerhof riet MB nach Ausbruch des Krieges, nach Kairo zurückzukehren. MB lehnte ab, weil sie bei Ricke und Familie, bei denen sie lebte, bleiben wollte. Als ein „ägyptischer Pascha“ in die Borchardt’schen Villen einziehen wollte, bezog Hugo Picard „schleunigst“ die südliche und verwaltete beide Villen, steckte auch erhebliche Mittel in die Verschönerung des Gartens. Brieftagebuch Meyerhof, S. 20 (Privatbesitz).
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z wischen Okzident und Orient zusammenhingen. Selbstverständlich waren die Bindungen an Personen des eigenen beruflichen Netzwerks – in dem Fall vor allem des ägyptologisch-orientalistischen – besonders eng, oft auch vertrauensvoll. Zwar hatte der Erste Weltkrieg zu einem Bruch geführt, doch sorgten vertrauensbildende Maßnahmen wie jene von Georg Steindorff, gemeinsame Arbeiten und Interessen sukzessive für die erneute Stabilisierung der üblicherweise engen Beziehungen innerhalb der deutschen und internationalen Ägyptologen- bzw. Orientalistenschaft. Wesentlichen Anteil daran hatte Adolf Erman mit seinem international angelegten Berliner Wörterbuchprojekt. Um Erman rankte sich ein Netzwerk von deutschen, britischen, amerikanischen, dänischen, niederländischen, belgischen, französischen, polnischen und tschechischen Ägyptologen mit primär philologischer Ausrichtung, die sich ihrem ‚Lehrer‘ zu Dankbarkeit und Loyalität verpflichtet fühlten.810 Ermans Bindekraft resultierte auch aus seiner Fähigkeit, Menschen unterschiedlicher Herkunft zusammenzuführen, jede Person in ihrer Besonderheit zu würdigen und zu fördern, ohne vorschnelle Urteile abzugeben; er war großzügig, im eigentlichen Sinne tolerant, integrativ, vermittelnd und konnte ebensogut verzeihen wie eigene Fehler eingestehen. Die Kombination von wissenschaftlicher Kompetenz und menschlichen Qualitäten machte, wie die Korrespondenz nahelegt, Ermans Anziehungskraft aus, trug ganz wesentlich zum Überwinden der Gräben nach 1918 bei. Mit Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland gewannen in Ägypten stattfindende Treffen von Ägyptologen und Orientalisten eine zusätzliche, eine andere Qualität und Ausrichtung. Verfolgten war es möglich, sich unter dem ‚Deckmantel‘ wissenschaftlicher Forschung mit internationalen Kollegen zu treffen, zu beraten, um Hilfe nachzusuchen, was durch brieflichen A ustausch angesichts verschärfter Zensur nicht machbar war. Es waren nicht wenige, die Verfolgung ausgesetzt waren, aber auch nicht wenige, die unmittelbar Hilfe leisten wollten.
810 Dem Who-was-Who, 2012, ist zu entnehmen, welche Ägyptologen einen Teil ihrer Ausbildung bei Erman in Berlin erhielten: u. a. die Briten Harold Bell (1879–1967), Walter Crum (1865–1944) und Alan Gardiner (1879–1963), die Amerikaner James Breasted (1865–1935), George Reisner (1867– 1942), Keith Seele (1898–1971) und Caroline Ransom-Williams (1872–1952), die Niederländer Pieter Boeser (1858–1935), Adriaan DeBuck (1892–1959), Lukas Cazemier (1899–1975), Gerardus van der Leeuw (1890–1950) und Willem van Wijngaarden (1893–1980), der Tscheche Jaroslav Cerny (1898–1970), die Dänen Wolja Erichsen (1890–1966) und Hans O. Lange (1863–1943), die Franzosen Henri Gauthier (1877–1950) und Gustave Jéquier (1868–1946), die Russen Alexandre Piankoff (1897–1966) und Hans Polotsky (1905–1991), die Polen Antony Smieszek (1881–1943) und Tadeusz Walek-Czernecki (1889–1949). In München studierten der Brite Campbell Edgar (1870–1938), der Amerikaner William Edgerton (1893–1970), in Göttingen die Briten Arthur Evans (1851–1951), Frederick Green (1869–1949) und Bertha Porter (1852–1941), in Leipzig der Amerikaner Ambrose Lansing (1891–1959), der Schwede Otto Smith (1864–1935). Diese Liste stellt nur einen Auszug dar.
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Zum Nationalsozialismus Stellung zu beziehen war unumgänglich, besonders für deutsche Ägyptologen. Zu unmissverständlichen Loyalitätsbekundungen gegenüber verfolgten Kollegen rangen sich jedoch nur wenige der nicht unmittelbar negativ betroffenen deutschen Kollegen durch. Auch dies mag Borchardt dünnhäutig gemacht haben, sogar gegenüber dem ihm sehr vertrauten Rudolf Anthes (1896–1985), seinem ehemaligen Assistenten in Kairo. Dieser sicherte Borchardt am 1. Mai 1933 zu, an seinen „allgemeinpolitischen Aufgaben“ auch zukünftig nichts ändern zu wollen, selbst wenn dies bedeute, „dass wertvolle Teile unseres Volkes von der Aufbauarbeit ausgeschaltet werden sollen“.811 Solche nebulösen Aussagen stießen bei Borchardt auf wenig Verständnis. Vor allem angesichts der Entscheidung seiner Schwägerin Sophie, sich am 13. Mai 1933 wegen der zu befürchtenden Maßnahmen der Nationalsozialisten das Leben zu nehmen, fand er Anthes‘ Bemerkungen „delphisch“, wahrscheinlich sogar verdächtig.812 Erschrocken ruderte Anthes zurück bzw. in eine erkennbarere Richtung. Das „Vorgehen des Volkes und der Regierung gegenüber den Juden“ lehne er vollkommen ab, das Verhältnis zwischen ihm und Borchardt müsse ein so vertrauensvolles bleiben wie während der vergangenen Jahre, die „schweren Erlebnisse“ Borchardts in Kairo und den Tod seiner Schwägerin bedaure er zutiefst.813 Von besonderen Ereignissen in Kairo hatte Borchardt aber nichts berichtet; sie mussten Anthes zugetragen worden sein, wahrscheinlich von seiner Schwester Elisabeth, durch Vermittlung Borchardts Leiterin der deutschen Schule in Kairo. Gemeint waren wahrscheinlich die Aktionen der nationalsozialistisch gesinnten Deutschen in Kairo, der Ausschluss Borchardts aus den deutschen Vereinen, der Rücktritt Mimi Borchardts vom Vereinsvorsitz des Frauenvereins. Anthes Befürchtung, dass die deutsche Ägyptologie sehr bald Schaden und eine andere Richtung nehmen würde, sollte sich bewahrheiten. Ihn wunderte die Aufwertung der Prähistorie nicht, denn die „Wissenschaft der Analphabeten“ sei „obenauf“, wie er Borchardt am 19. Februar 1934 schrieb, Ähnliches sei in der Ägyptologie zu beobachten.814 Die Nähe zu Borchardt, die offiziell untersagt worden war815 und von etlichen deutschen Ägyptologen816
811 Anthes an LB. SIK LB. 812 LB an Anthes, 22. Mai 1933. SIK LB. 813 Anthes an LB, 31. Mai 1933. SIK LB. 814 Anthes an LB. SIK LB. 815 An H.O. Lange schrieb LB am 13. November 1937, in Berlin werde den jungen Ägyptologen, die einen Aufenthalt in Ägypten planten, verboten, „mit einem gewissen Borchardt in Berührung zu kommen“. SIK LB. 816 Der nachweislich nationalsozialistisch orientierte Siegfried Schott besuchte LB trotzdem. LB an Anthes, 10. Januar 1937. SIK LB.
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folglich gemieden wurde,817 suchte er weiterhin, traf sich mit ihm beispielsweise im Oktober 1934 in Berlin.818 Ebenso hielt er engen Kontakt zu Erman und berichtete Borchardt darüber, um dessen diesbezügliche Besorgnis er wusste.819 Für Anthes blieben seine Loyalität und sein Festhalten an seinen Überzeugungen nicht ohne Folgen, berufliche Konsequenzen, deren er sich von Anfang an bewusst war und die er in Kauf nahm.820 Auch Borchardt war deutlich, dass Anthes als Freimaurer und wegen „politischer Unzuverlässigkeit“ eine weitere Karriere versperrt sein würde, was ihn umso mehr entsetzte, als stattdessen fachlich wesentlich unfähigere Ägyptologen wie beispielsweise Günther Roeder in höhere Positionen aufrückten, weil sie sich dem NS-Regime andienten.821 Speziell von Roeder hielt Borchardt nichts, weder menschlich noch fachlich, sah in ihm einen inkompetenten „Schmalzengel“. Sogar um den Verbleib der Büste der Nofretete in Berlin musste man fürchten.822 Um Nachwuchs-Ägyptologen war es in Deutschland laut Borchardt und einigen seiner nicht-deutschen Fachkollegen schlecht bestellt.823
817 LB berichtete Anthes am 12. Mai 1934, der sich in Ägypten aufhaltende Hermann Grapow habe nicht einmal auf Herbert Rickes (Assistent von LB) schriftliche Anfragen geantwortet. LB hielt es für zwecklos, sich an ihn zu wenden. Am 28. Juni 1937 schrieb LB an Anthes, Grapow reagiere auf Anfragen überhaupt nicht mehr. SIK LB. 818 Anthes lud LB am 5. Oktober 1934 ein. Anthes an LB 23. Oktober 1934. SIK LB. 819 Am 16. Mai 1936 berichtete Anthes von seinem Besuch bei Erman, dessen Hinfälligkeit wegen eines Armbruchs zugenommen habe. Er werde zu Hause von einer Krankenschwester versorgt. Sein Gedächtnis sei noch immer „vorzüglich“. LB möge Erman unbedingt „Zeichen echter Anhänglichkeit und Freundschaft“ zukommen lassen, dies werde ihn sehr erfreuen, „im Gegensatz zu der Art, wie er sich sonst gern gab“. LB sorgte sich um Erman, bedauerte sehr, dass diesem „seine alten Tage so vergällt“ wurden. LB an Anthes, 27. Mai 1936. SIK LB. 820 Bis zu ihrer Auflösung im Juli 1935 war Anthes Mitglied der altpreußischen Freimaurerloge „Feßler zur ernsten Arbeit“. Dies versperrte ihm jede Möglichkeit, als Leiter des Berliner Museums berufen zu werden. Am 29. Dezember 1936 meinte er gegenüber LB, den Höhepunkt seiner Karriere wohl überschritten zu haben. Dennoch weigerte er sich, seine Überzeugungen aufzugeben. SIK LB. Anthes war seit 1932 Kustos der ägyptischen Sammlung der Staatlichen Museen Berlin. 1939 wurde er suspendiert wegen „Verletzung des Treueeides als Beamter auf den Führer“, in demselben Jahr zur Wehrmacht eingezogen, 1945 war er für einige Zeit in russischer Kriegsgefangenschaft. Thomas Schneider: Ägyptologen, 2013, S. 151. 821 Roeder war bis dahin Leiter des Hildesheimer Pelizäus Museums, vorgesehen als Direktor des Berliner Museums. LB an Anthes, 20. Januar 1937. SIK LB. 822 LB fragte Anthes am 20. Januar 1937, ob die Gerüchte, dass „unsere liebe Frau aus Berlin“ nach Kairo gebracht werden solle, einen Wahrheitsgehalt hätten. SIK LB. 823 LB an H.O.Lange, 13. November 1937. SIK LB. Crum an Erman, 22. Dezember 1934. Davies an Erman, 20. Mai 1934. UBB NLE Crum, Davies.
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Ebenso wie Steindorff und Erman stürzte Borchardt sich in Arbeit, intensivierte seine privat finanzierten Grabungstätigkeiten.824 Es war sein Versuch, zu einer Normalität zu finden, die es doch immer weniger gab. Dass auch er jüdischer Herkunft und deshalb Verfolgung ausgesetzt war, fiel im ägyptischen Umfeld den wenigsten internationalen Kollegen auf, war allenfalls den enger vertrauten wie Reisner präsent.825 Langjährige Kollegen wie Uvo Hölscher hielten dem Ehepaar Borchardt die Treue, genossen in „aufrichtiger Dankbarkeit“ ihre Gastfreundschaft – doch „ob zum letzten Male?“ -, versicherten sie der „alten Freundschaft“, hofften auf ein „Wiedersehen in Hannover“.826 Ähnliches ließen die ehemaligen Mieter Borchardts, das Ehepaar Elisabeth und Hans Kehren, verlauten.827 Wie sehr Borchardt die Nähe zu Vertrauten suchte, zeigt eindrücklich sein Briefwechsel mit Adolf Erman. Spannungsfrei war während der vorhergehenden Jahrzehnte die Beziehung zwischen ihnen nicht gewesen, wenn auch stets von gegenseitigem Respekt getragen. Bis 1933 korrespondierten sie regelmäßig, aber nicht intensiv. Dies änderte sich mit Beginn der NS-Zeit grundlegend. In rascher Abfolge lieferte Borchardt neueste Nachrichten, von seinen Beobachtungen, seinem Tun und Befinden, seinem Umfeld in Ägypten.828 Nun dürfte Erman Borchardts oft brüskierende Offenheit zu schätzen gewusst haben. „Neid, Feigheit und Dummheit“ seien die „Haupttriebfedern des menschlichen Tuns“, wie sich „leider wieder schrecklich bewahrheitet“ habe, stellte Borchardt angesichts der aktuellen Ereignisse im Umfeld der Kairener ‚deutschen Kolonie‘ im April 1933 fest, wohl wissend, dass seine Briefe vermutlich geöffnet werden würden.829 Ihn wunderte nicht, dass sein Nachfolger, der ‚linientreue‘ Hermann Junker, die Nachfolge Percy Newberrys als Lehrender an der Universität Kairo antreten würde. Mit Georg Steindorff, der in Ägypten unterwegs war, traf und besprach
824 Für Winter 1934/35 und 1935/36 plante er Grabungen in Theben, zudem für 1935 eine Reise in den nördlichen Sudan, wollte am 28. Dezember 1936 nach Luxor aufbrechen, um in Karnak und Dendera zu arbeiten. LB an Anthes, 19. November 1934, 21. November 1935, 19. Dezember 1936. SIK LB. 825 Im am 9. Dezember 1938 erschienenen Nachruf im „The Jewish Chronicle. The Organ of the British Jewry“ hieß es: „Few people knew that Dr. Borchardt was a Jew. Yet he was proud of his origin; and his lasting scientific attainment, enhanced by his intellectual honesty and personal charm, shed glory on the long roll of those foreign Jewish scholars who have devoted their life and talent to the progress of Egyptology“. SIK LB. 826 Einträge Hölscher im Gästebuch, 23.-29. April 1933, 16.-16. März 1935, 4. April 1936. SIK LB. 827 Eintrag im Gästebuch, 10.-12. April 1935. SIK LB. 828 Briefwechsel in: UBB NLE Borchardt. 829 LB an Erman, 13. April 1933, 19. Juni 1933, 3. Juli 1933. Auch Ermans Briefe an LB wurden geöffnet. UBB NLE Borchardt.
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er sich regelmäßig. Ob er weiterhin über die deutsche Reichsdruckerei würde drucken lassen können, zog Borchardt bald in Zweifel.830 Grundsätzlich aber wollte er eher Hoffnung gebende Zeichen sehen als entmutigende, etwa darin, dass „Jom el-arba“ (Eugen Mittwoch)831 – Orientalist, Dozent am Seminar für Orientalische Sprachen in Berlin und Leiter der Arabischen Abteilung der „Nachrichtenstelle für den Orient“ in Berlin seit 1918832 – trotz seiner jüdischen Herkunft allem Anschein nach weiterhin an der Universität unterrichten durfte, weil er der Einzige war, der „in Deutschland Äthiopisch lehren“ konnte.833 Dass dies nicht auf einen grundsätzlichen Wandel verwies, sondern zunehmende Bedrohung – auch für Eugen Mittwoch – die Regel war, wurde Borchardt spätestens bewusst, als Adolf Erman 1934 von der Universität und der Akademie ausgeschlossen wurde, obwohl er „gerade für Universität – und Akademie – eine solche Hochachtung gehabt“ und beiden „so viel Arbeitskraft“ gewidmet hatte.834 Trost war Mimi Borchardt, dass „Erman der deutschen Ägyptologie die Weltstellung gemacht hat, die sie jetzt besitzt“, woran der Ausschluss nichts ändern werde. Beim DAI schien sich Vergleichbares anzukündigen, Steindorffs Ausschluss bevorzustehen. Stillschweigend hinnehmen wollte Borchardt all dies nicht, sorgte für Bekanntgabe in Ägypten, um die Ägyptologen am DAI Kairo der „Schande“ preiszugeben. Auf Ermans „Geltung in der Welt“ werde der Ausschluss keinen Einfluss haben, versicherte er. Überaus bedauerlich sei, dass, wie das von Erman „angeführte Beispiel der ‚Forschungen und Fortschritte‘ zeigt, dabei die deutsche wissenschaftliche Weltgeltung leidet“, was längst nicht nur die Ägyptologie betreffe, ein Befund, den Erman bei seinem Nachruf auf Kurt Sethe nochmals anzubringen verstand.835 830 LB an Erman, 3. Juli 1933. UBB NLE Borchardt. 831 (1876–1942), deutscher Semitist, Spezialist für äthiopische Sprache und altsüdarabische Epigraphik, 1894–1899 Studium in Berlin, 1905 Habilitation, 1907 Lehrer am Seminar für Orientalische Sprachen in Berlin, Mitarbeit in der Nachrichtenstelle für den Orient, 1917 Professur in Greifswald, 1919 Professur in Berlin, ab 1928 Direktor des Seminars für Orientalische Sprachen (abgesetzt 1933). 1935 Entlassung aus dem Universitätsdienst, 1938 Emigration über Frankreich nach England. Mittwoch arbeitete zusammen mit Joseph Schacht für die BBC und den Secret Service. Ludmila Hanisch: Die Nachfolger, 2003, S. 198. 832 Die „Nachrichtenstelle“ wurde im Herbst 1914 von Max v. Oppenheim für das Auswärtige Amt aufgebaut. Dieser organisierte die deutsche Propaganda im Nahen Orient. Oppenheims Nachfolger war Eugen Mittwoch, „unter dessen Leitung die Nachrichtenstelle aufgrund ihrer umfangreichen Tätigkeit zur zentralen amtlichen Propaganda-Organisation für den Orient wurde“. Ab Oktober 1918 nannte sich die Nachrichtenstelle „Deutsches Orient-Institut“. Jürgen Kloosterhuis: Friedliche Imperialisten, Teil 1, 1994, S. 440–442. 833 LB an Erman, 11. November 1933. UBB NLE Borchardt. 834 LB an Erman, 25. Mai 1934. UBB NLE Borchardt. 835 LB an Erman, (Frankfurt) 24. Juni 1934. LB schrieb in größter Eile, weil er mit der Auflösung des Hausstandes in Frankfurt (Feuerbachstraße) befasst war. UBB NLE Borchardt. Abschließend
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Es bedurfte nicht unbedingt Borchardts Verlautbarungen, um auf das Schicksal Adolf Ermans aufmerksam zu machen. Schon im Mai 1934 hatte dessen ehemaliger Schüler, der britische Koptologe Walter Crum, durch dessen Brief davon erfahren, war völlig sprachlos und ebenso wie „viele andere, nicht bloß im Ausland“ voller Mitgefühl.836 Auf die Diskussion um die Nachfolge Kurt Sethes reagierte Borchardt mit Häme, führte die Tatsache, dass Junker und Kees als Favoriten galten, auf deren Position als „PG“ bzw. „Stahlhelm“ zurück.837 Sethe würde entsetzt haben, vom „Regisseur der ‚Wiener Operette‘“, also Junker, als seinem Nachfolger zu erfahren.838 Jedenfalls sorgte Borchardt dafür, dass Erman einen kurzen Beitrag in der vom Institut Francais in Kairo herausgegebenen „Mélanges Maspero“ veröffentlichen und auf diese Weise seine zentrale Botschaft verbreiten konnte. An den Ersten Weltkrieg, damit verbundenes erfahrenes Leid erinnernd wiederholte dieser sein altes Credo, „dass die Wissenschaft mit den Zwistigkeiten der Völker nichts zu tun hat. Sie steht über den Völkern und von allem, was Politik heißt, soll sie sich fern halten“.839 Von nicht-deutschen Fachkollegen hatte Borchardt nur Positives nach Berlin zu berichten, nahm auch die französischen nicht mehr aus. Nur selten fand er bei seinen unregelmäßigen und hektischen Deutschlandbesuchen Gelegenheit, Erman in Berlin aufzusuchen. Dass sie bei ihrer Korrespondenz die Worte vorsichtig zu wählen hatten, bedurfte kaum der Erklärung. Ausführlich ließ Borchardt sich auch deshalb über seine wissenschaftlichen Tätigkeiten und Fortschritte aus, berichtete von in Ägypten stattfindenden Grabungen und wissenschaftspolitischen Entwicklungen. Dies diente nur zum geringeren Teil dazu, Erman auf dem Laufenden zu halten. Vielmehr sollten Verbundenheit und Solidarität signalisiert werden, was umso bedeutsamer war, als Erman unter dem offiziellen Ausschluss aus der deutschen Ägyptologenschaft litt. Untätig blieb Erman trotz seiner sich rapide verschlechternden Sehkraft und zunehmenden Hinfälligkeit nicht. Er wusste um die Loyalität vieler nichtdeutschen Ägyptologen ihm gegenüber, hatte sie unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg oftmals bewiesen gefunden. Nun versuchte er, sie wieder um sich zu
schrieb Erman: „Auch dürfen wir hoffen…“, womit er seinen berechtigten Zukunftssorgen erkennbar, aber versteckt Ausdruck gab, wie Crum bestätigte. Crum an Erman, 23. August 1935. UBB NLE Crum. 836 Crum an Erman, 18. Mai 1934. Erman vermerkte am Rand des Briefes „Entlassung“. UBB NLE Crum. 837 LB an Erman, 17. August 1934. UBB NLE Borchardt. 838 Junker und Kees lehnten die Stelle ab. 839 Mélanges Maspero. I. Orient Ancien, Le Caire 1935–1938, S. XLVf.
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scharen, ihnen seine unverbrüchliche Freundschaft zu versichern.840 Ein Leichtes war das nicht. Walter Crum, der anfangs sogar glaubte, Hitler als „beachtenswert“ etwas abgewinnen zu können, änderte seine Meinung angesichts der in England eintreffenden und in der „Times“ erscheinenden Berichte rasch. Von der Entlassung Polotskys und weiteren 23 Professoren der Universität Berlin kam ihm zu Ohren. Aus all dem schloss er, dass Deutschland ein Land zu sein scheine, das „man vorläufig lieber nicht besucht“.841 Von einem Besuch bei Erman sah er, anders als Alan Gardiner, vorläufig ab, deutete brieflich nur vorsichtig Meldungen in der britischen Presse an.842 Nachdem er sich im Spätsommer 1933 doch zur Reise nach Berlin durchgerungen, sich ausführlich mit Erman unterhalten hatte, gewannen seine Briefe zensurbedingt einen andern Charakter, die Zusendung von Zeitungsartikeln musste er zu seinem Bedauern gänzlich unterlassen. Doch hatte Erman ihm geraten, nicht mit „Lärm und Geräusch“ auf die Zustände in Deutschland aufmerksam zu machen, es sei „vergeblich“.843 „Interessante Ereignisse und Fragen“ musste Crum als „nicht mehr brieffähig“ aussparen, sich mit „unschuldigen Allgemeinreden begnügen“, konnte allenfalls zwischen den Zeilen nach dem Ergehen verfolgter Kollegen fragen.844 Dennoch wusste er sein Entsetzen über die Geschehnisse in Deutschland und die rasante Abwärtsentwicklung der deutschen Ägyptologie kaum zu verbergen.845 Um Erman seine kritische Haltung und politische Aufmerksamkeit zu signalisieren, verwies er zwecks Umgehung der Briefzensur auf seine aktuellen Lektüren, etwa von Joseph Roth und Thomas Mann, kritisierte andererseits die in Deutschland publizierte Schrift „Geschichte auf rassischer Grundlage“ als „merkwürdige Belee(h)rung“.846 Sobald er in Berührung kam mit emigrierten oder verfolgten deutschen Fachkol-
840 Beispielsweise gegenüber W. Crum erörterte er den Wert der Freundschaft, was dieser bestätigte. Crum an Erman, 22. November 1934. UBB NLE Crum. 841 Crum an Erman, 5. März 1933, 3. April 1933, 3. Mai 1933. UBB NLE Crum. 842 Crum an Erman, 2. Juni 1933, 3. Juli 1933. UBB NLE Crum. 843 Crum an Erman, 7. September 1933. UBB NLE Crum. 844 Wiederholt fragte er nach dem Verbleib des von ihm sehr geschätzten Polotsky, später auch nach Georg Steindorff. Mit Erleichterung hörte er im Herbst 1934 von Polotskys Emigration. Crum an Erman, 29. Oktober 1933, 12. April 1934, 18. Mai 1934, 27. Mai 1934, 1. Juli 1934, 22. November 1934, 17. September 1935. UBB NLE Crum. 845 1889 hatte er gemeinsam mit Sethe, Schäfer, Spiegelberg, Lange und Jéquier das Erman’sche Kolleg besucht, bewunderte seitdem vor allem Sethe wegen dessen „Wissen und Vielseitigkeit“. Die durch dessen Tod gerissene Lücke ließ sich laut Crum im nationalsozialistischen Deutschland nicht füllen. Crum an Erman, 16. Juli 1934. UBB NLE Crum. 846 Mehrfach erwähnte er Pfarrer Niemöller, über den die britischen Zeitungen ebenso häufig berichteten wie über „die kirchlichen Sachen von da drüben“. Verfasser der „Geschichte“ war J. von Loers, verlegt bei Reklam. An etlichen Beispielen illustrierte Crum, wie lächerlich er die
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legen, ließ er es wissen.847 Als er vom Ausschluss Ermans von der Universität und der Akademie erfuhr, konnte er trotz Zensur nicht an sich halten, erklärte „die Welt – oder Teile davon“ als „schier verrückt geworden in den letzten Zeiten“, ein Urteil, das sich angesichts des auch an den britischen Universitäten bekannt gewordenen „Bekenntnis der Professoren an den deutschen Universitäten zu Adolf Hitler“ bestätigte.848 Dass seitens Großbritannien verfolgte deutsche Wissenschaftler unterstützt wurden, erläuterte Crum ausführlich. Von den 650 angekommenen hätten schon 248 feste Anstellungen, die britische Judenschaft habe dazu 10.000 £ beigesteuert, weitere 28.000 £ stammten aus „nicht-jüdischen Quellen“.849 Besonders freute Crum, dass der von der Universität Freiburg entlassene Alt-Philologe Eduard Fränkel eine Professur in Oxford erhalten sollte. Gleichzeitig klagte er sich an, selbst nicht zugunsten Verfolgter tätig zu werden, stattdessen „behaglich, beim Feuer (zu) sitzen“, sich nicht zu rühren. Dies belastete ihn umso mehr, als er beispielsweise von Steindorff im Herbst 1935 einen „traurigen und besorgten Brief“ erhielt, auch einen baldigen Krieg befürchtete.850 Steindorffs Besuch vom Juli 1936 tat ein Übriges, um Crum pessimistisch in die Zukunft sehen zu lassen.851 Erwartungsgemäß hielt Norman de Garis Davies sich bei seinen brieflichen Äußerungen weit weniger zurück als etwa Crum. Als sehr politisch denkender Mensch hatte er sich schon während des Ersten Weltkriegs erwiesen, sich gemeinsam mit seiner Ehefrau zu einem vehementen Deutschenfeind entwickelt. Dies versperrte ihm nach dem Krieg keineswegs den Zugang zu deutschen Ägyptologen, er machte vielmehr alle Anstrengungen, wieder an die Vorkriegsvertrautheit
Schrift fand. Crum an Erman, 28. Februar 1934, 7. März 1934, 12. April 1934, 3. Februar 1935. UBB NLE Crum. 847 In Bath besuchte ihn im Frühjahr 1934 Abraham E. Yahuda (1877–1951), der sein Schicksal beklagte, von der Ägyptologen- und Archäologenwelt ausgeschlossen worden zu sein. Yahuda studierte Semitistik in Heidelberg und Straßburg, in Berlin unter Nöldecke, unterrichtete 1904– 1914 an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin, 1914 bis 1922 Universität Madrid, ab 1942 Professor an der New School of Social Research in New York. Mit Dora Zuntz stand Crum seit einiger Zeit in losem Kontakt, durch eine Zeitungsanzeige erfuhr er 1935 von ihrer Hochzeit in England. Crum an Erman, 12. April 1934, 28. Juli 1935. UBB NLE Crum. 848 Crum an Erman, 18. Mai 1934, 1. September 1934. UBB NLE Crum. 849 Crum an Erman, 9. März 1935. UBB NLE Crum. 850 Crum an Erman, 25. Oktober 1935, 21. Dezember 1935. Crums Bruder wurde als Militärangehöriger nach Ägypten geschickt, Crum befürchtete einen Krieg Großbritanniens gegen Italien. Anfang 1936 wurde auch sein Neffe, ein Artillerist, nach Ägypten geschickt, befand sich an der italienisch-libyschen Grenze in Marsa Matruh. Crum an Erman, 30. Dezember 1935, 19. Januar 1936, 10. Februar 1936. UBB NLE Crum. 851 Crum an Erman, 16. Juli 1936. UBB NLE Crum.
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anzuknüpfen, wie zumal Adolf Erman, auch Georg Steindorff bei seiner Ägyptenreise 1925 erlebte. Das „present régime“ in Deutschland hielt Davies, wie er im Mai 1934 an Erman schrieb, für „intolerable“, empfand es als unerträglich, dass seine deutschen Freunde sich nicht mehr offen äußern, andererseits englische Freunde ihren deutschen keine ehrlichen Botschaften mehr zukommen lassen konnten, ohne diese zu gefährden.852 Die vom nationalsozialistischen Deutschland ausgehende Gefahr sei weit größer als jene von 1914. Obwohl er die Demokratie ebenso ablehnte wie den Kommunismus kam er zu dem Schluss, dass „there may be something worse“. Davies überlegte ernsthaft, die ihm von der Berliner Akademie der Wissenschaften verliehene Medaille zurückzugeben, auch als Reaktion auf den Ausschluss Ermans. Aus Solidarität wünschte er sich ebenfalls eine jüdische Urgroßmutter, versprach, all jenen Freunden größten Respekt zu zollen, die wegen ihrer Ablehnung des Nationalsozialismus mit „mild concentration camp“ bestraft würden. Mit diesem Bekenntnis glaubte er nicht nur für die britische Ägyptologenschaft zu sprechen. Ebenso wie Crum wollte Davies einen Besuch in Berlin abstatten, hatte aber wenig Lust auf ein Wiedersehen mit Deutschland.853 Zu den zentralen Persönlichkeiten auf britischer Seite gehörte mit Gewissheit Alan Henderson Gardiner, ein in London, später in Oxford lebender Ägyptologe, der wie kaum ein anderer die britische Ägyptologie bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts prägte. Auch er hatte etliche Jahre bei Erman in Berlin studiert, dort mit seiner Ehefrau Heddie von Rosen, einer Wienerin jüdischer Herkunft, und den drei gemeinsamen Kindern gelebt. Spätestens seit dieser Zeit kannten auch Ludwig und Mimi Borchardt Gardiner, trafen ihn hin und wieder in Europa oder in Ägypten, schätzten seinen unabhängigen Status und seine Verbundenheit mit deutschen Ägyptologen, fühlten sich ihm wegen der Unterstützung deutscher Ägyptologen in Ägypten ab 1923 verbunden. Konkurrenz- und Wettbewerbsdenken lagen Gardiner fern; er suchte das gemeinsame Streben zugunsten der Wissenschaft. Während des Ersten Weltkriegs hatte er sich nicht zu einem furiosen Deutschenfeind entwickelt, war seiner pazifistischen Grundhaltung treu geblieben, was das Wiederanknüpfen der Beziehungen nach dem Krieg erleichterte. Zu Beginn der NS-Zeit versuchte Gardiner an seinem schon während des Ersten Weltkriegs formulierten Prinzip festzuhalten, „to express no opinion of political matters“. Deshalb wollte er auch gegenüber Erman über die Themen schweigen, „which I would gladly have written to you“.854 Dass er Erman dafür
852 Davies an Erman, 20. Mai 1934. UBB NLE Davies. 853 Davies an Erman, 13. Dezember 1935. UBB NLE Davies. 854 Gardiner an Erman, 16. Juli 1934. UBB NLE Gardiner.
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Abb. 28: Brief Adolf Ermans an Norman de Garis Davies
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dankbar war, auch während „the years of Great Jolly“, also des Ersten Weltkriegs, die internationale wissenschaftliche Zusammenarbeit nach Möglichkeit aufrecht erhalten, an den „old ideals and the old purpose of life when the majority were monthing hatred and idiocy“ festgehalten zu haben, verschwieg er dagegen nicht.855 Seine Dankbarkeit und Solidarität drückte Gardiner darin aus, dass er seinem früheren Lehrer sein 1937 erschienenes Werk widmete.856 Eine langjährige Freundschaft verband Ludwig Borchardt mit seinem amerikanischen Kollegen George Reisner (1867–1942) – auch er hatte eine Zeitlang bei Erman studiert. Von 1914 bis 1923 machte er sich verdient um den Schutz von Borchardts Besitz in Kairo. Die meiste Zeit seines Berufslebens verbrachte Reisner in Ägypten, leitete Grabungen im Sudan, Oberägypten und besonders in Giza.857 Vom dortigen Harvard Camp schrieb er am 25. Mai 1938 an Borchardt, noch sehr genau erinnere er sich an seine erste Ankunft in Kairo am 23. Oktober 1898; sogleich habe er sich in die Pension von Frau König begeben und am nächsten Tag ihn, Ludwig Borchardt, kennengelernt. Gemeinsam arbeiteten sie am Katalog für das Ägyptische Museum, ein Jahr, das für Reisner „one of the happy years in my life“ bedeutete. Borchardt fühlte er sich zu Dank verpflichtet für dessen „guidance and support“ und auch dafür, dass es während der vierzig Jahre ihrer Freundschaft nie ein „personal disagreement“ gegeben hatte. Reisner bewunderte Borchardt für dessen Engagement zugunsten der Ägyptendeutschen und der ‚deutschen Kolonie‘ in Kairo, war, wie erwähnt, entsprechend entrüstet über die Ereignisse ab 1933 in Kairo. Auch Georg Steindorff und Reisner kannten sich seit Jahrzehnten, blieben sich aber fremder.858 Weder den britischen noch den amerikanischen oder andern nicht-deutschen Ägyptologen konnten die Geschehnisse in Deutschland unbekannt bleiben. In Ägypten gab es genügend Gelegenheiten des Austauschs, was Borchardt ebenso wenig ungenutzt ließ wie Steindorff bei seinen Ägyptenreisen 1933 und 1936.859 Für Borchardt galten als verlässliche britische Kontaktpersonen außerdem Percy Newberry, der erwähnte Chemiker Robert Mond und Neville Jonas Laski (1890–1969).860 Als sich die ehemalige amerikanische Schülerin Ermans, Caroline Ransom-Williams, 1936 in Ägypten aufhielt, traf sie sich mit Borchardt, beriet sich am 27. März
855 Gardiner an Erman, 17. Dezember 1936. UBB NLE Gardiner. 856 Gardiner an Käthe Erman, 7. April 1937. UBB NLE Gardiner. 857 James F. Goode: Negotiating, 2007, S. 86. 858 Steindorff und Herbert Ricke gratulierten Reisner brieflich zu seinem 70. Geburtstag. Reisner an LB, 18. Oktober 1937. SIK LB. 859 s. Briefwechsel LB mit Erman. UBB NLE Borchardt. 860 Entstammte einer ungarisch-jüdischen Familie, Jurist, 1933 bis 1939 Präsident des „London Committee of Deputies of British Jews“.
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mit ihm in seinem Garten.861 Es gab Vieles zu beklagen, vor allem das Schicksal von Adolf Erman, dessen jahrzehntelange Mühen zugunsten der Wissenschaft in Deutschland ebenso mit Füßen getreten wurden wie jene von Borchardt und Steindorff. Kurz darauf beriet Ransom-Williams sich auch mit Steindorff, der beängstigende Berichte aus Deutschland lieferte, diese auch seinem späteren Gastgeber in Luxor, Norman de Garis Davies, und Nelson im Chicago House lieferte. RansomWilliams wurde unmittelbar deutlich, dass es nicht die Zeit war, sich ausschließlich auf die Wissenschaft zu konzentrieren. Sie nahm etliche Ungelegenheiten in Kauf, um auf ihrer Rückreise in die USA einen Zwischenstopp in Deutschland einlegen, Erman in Berlin besuchen zu können. Der briefliche Kontakt zwischen ihnen war nie abgerissen, doch zu einem Deutschlandbesuch hatte Ransom-Williams seit vielen Jahren keine Gelegenheit gefunden. Vor dem Hintergrund des politischen Geschehens in Deutschland und der Gefahr, in der Erman vermutlich schwebte,862 gab es kein langes Überlegen. Dass die Nationalsozialisten Erman offenbar als „NonAryan“ einstuften, mutete Ransom-Williams geradezu absurd an, ließ sie wegen der zu befürchtenden Folgen nicht ruhen.863 Gardiner bestätigte ihr im August 1934, dass Erman wegen seiner jüdischen Herkunft von der Universität ausgeschlossen worden und zu befürchten war, dass seine Pension gestrichen wurde.864 RansomWilliams wollte Hilfe anbieten, als Mittlerin und Informantin tätig werden. Sorgen machte sie sich auch um Walter Wreszinski und Hermann Ranke.865 Für sich persönlich suchte Erman nie um Hilfe nach. Das Schicksal anderer, die weit größeren Gefahren als er ausgesetzt zu sein schienen, lag ihm mehr am Herzen. Zu diesen gehörte sein ehemaliger Schüler Walter Wreszinski (1880–1935),866 Professor für Ägyptologie und die Geschichte des Alten Orient an der Universität Königsberg, den mit Erman mehr als nur gemeinsame wissenschaftliche Interessen verbanden. Mit seinen ägyptologischen Fähigkeiten hatte Wreszinski nie völlig
861 Für ihre Studien nutzte Ransom-Williams die Bibliothek im Französischen Institut bei Jouguet, weil die Bibliotheken im DAI oder im Borchardt Institut für sie eine zu lange Anreise erforderten. Ransom-Williams an Erman, 29. März 1936. UBB NLE Ransom-Williams. 862 Er galt wegen seiner Großmutter als Person jüdischer Herkunft; die Großmutter konvertierte kurz nach 1800 vom Judentum zum Christentum. 863 Ransom-Williams an Erman, 19. Juli 1934. UBB NLE Ransom-Williams. 864 Ransom-Williams an Gardiner, (Toledo/Ohio) 17. August 1934. GIO MSS AHG/42.370. 865 Sie hatte vom Tod des 21-jährigen Sohnes Rankes erfahren, wusste nichts Genaues, ahnte aber Schlimmes. Tatsächlich beging Albrecht Ranke Suizid. Ransom-Williams traf Rankes Sohn Rolf mit Ehefrau in Ägypten, wie sie am 30. Juli 1936 an Gardiner schrieb. GIO MSS AHG/42.370. 866 Studierte 1898–1904 bei G. Steindorff in Leipzig und Erman in Berlin, 1900–1906 Hilfsarbeiter von Erman beim Wörterbuch, 1904 Promotion, 1908–1909 Grabungen der DOG in Ägypten sowie Studienreise durch Ägypten und Vorderasien, 1909 Privatdozent für Ägyptologie und alt orientalische Geschichte in Königsberg, 1916–1934 Professor in Königsberg. BLO SC MS SPSL 567/3.
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berzeugen können, umso mehr aber schätzte Erman dessen charakterliche Qualiü täten, sogar so sehr, dass er nach dem Ersten Weltkrieg seinen phasenweise schwierigen Sohn Henri nach Königsberg unter die Obhut von Wreszinski schickte.867 Laut ministerieller Mitteilung vom 23. September 1933 wurde Wreszinksi aufgrund seiner jüdischen Herkunft seiner Professur in Königsberg enthoben, sollte stattdessen an einer anderen, noch nicht benannten Universität tätig werden, sein Gehalt vorläufig weiterbeziehen.868 Welche Universität für ihn in Frage kommen könnte, ließ sich auch nach längerem Hin und Her nicht klären, da sich überall Widerstände regten. Eine zermürbende Zeit der Ungewissheit begann.869 An der Universität Königsberg zeigten Wreszinskis Kollegen die „scheußliche Fratze bodenlosen Hasses“, nur die „verständnisvollen Worte“ Ermans bewiesen, „dass die menschliche Natur nicht völlig verwildert ist“.870 Die „besonders fanatisierte Bevölkerung“ Ostpreußens ließen Wreszinski Böses erleben und beo bachten, vor allem der „Mittelstand“ benahm sich übelst, „der wild gewordene Philister, und von ihm besonders kläglich die Akademiker, deren große Zahl sich einfach vom Futterneid zu den unglaublichsten Sachen hat hinreißen lassen“. In seinem Kollegenkreis sah es zwar „etwas besser“ aus als bei den Rechtsanwälten und Ärzten, „aber schön war und ist es auch nicht“. Hinzu kamen materielle und Zunkunftssorgen, die Entlassung schien unabwendbar, er würde „in so verhältnismäßig jungen Jahren den festen Rahmen der Tätigkeit“ verlieren, seine Wohnung aufgeben, seine Bibliothek verkaufen und damit wissenschaftliches Arbeiten aufgeben müssen, weil die Staatsbibliothek keine ägyptologische Abteilung besaß. Tochter Ruth war im zweiten klinischen Semester ihres Medizinstudiums, benötigte also noch zwei bis drei Jahre bis zum Staatsexamen, würde es wohl nicht in Deutschland ablegen können. Sohn Rolf hatte das Studium der Rechtswissenschaften zugunsten der Medizin aufgegeben, um von Deutschland unabhängig zu sein, wollte am 21. April 1933 in die Schweiz reisen, um Studienmöglichkeiten zu eruieren, dann eventuell zusammen mit seiner Schwester nach Frankreich weiterreisen. Der Abschied von Deutschland fiel den Kindern schwer, „und wir Alten sind auch nicht gerade glücklich, sie unter Umständen dauernd entbehren zu sollen“. Lore Wreszinski (1890–1982)871 ließ sich ihren
867 UBB NLE Wreszinski. 868 Preußischer Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung an W. Wreszinki. (Akten der Universität Königsberg, zur Verfügung gestellt von Walter F. Wreszinski, Schweiz). 869 Ausführlich zu Wreszinski: Alexander Schütze: Ein Ägyptologe, 2013, S. 333–344. 870 Wreszinski an Erman, 18. April 1933. UBB NLE Wreszinski. 871 Geborene Oppler, lernte in Sao Paulo ihren zweiten Ehemann, den Buchbinder Hans Loepert kennen. Kinder: Ruth (1913–1995) und Rolf (1914–1991). (Brief Walter Felipe Wreszinski an C.K.H., 19. August 2014).
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Kummer nicht anmerken, wurde aber immer „schmaler“. Mitunter vergaßen sie ihr eigenes Leid, weil um sie „so viele Leute zusammengebrochen und hilfsbedürftig“ waren. Kaum hoffte Wreszinski, dass sich für Juden die „Lebensmöglichkeiten“ zukünftig wieder besserten. Er wollte sich wie so viele Juden eine „neue Heimat“ suchen. Zahlreiche junge Juden hatten Deutschland bereits verlassen, würden im Ausland eher nicht „Lobredner deutscher Menschlichkeit“ sein. Wreszinskis böse Ahnungen waren berechtigt. Friedrich Hoffmann, Kurator der Universität Königsberg, hatte am 19. Juni 1933 dem Referenten für Wissenschaft im Reichserziehungsministerium brieflich Vorschläge unterbreitet, wie die Universität personell im nationalsozialistischen Sinn umgestaltet werden sollte, unter anderem durch die Streichung der Ägyptologie und die „Entfernung des Nichtariers Wreszinski“.872 Um Abstand zu gewinnen, reiste das Ehepaar Wreszinski am 3. August 1933 zunächst nach Baden-Baden zu Wreszinskis Schwester, die dort bei ihrem Sohn, dem Generalmusikdirektor Ernst Mehlich (1888–1977),873 lebte.874 Auch er stand kurz vor der Entlassung und wollte sich mit den Verwandten beraten, „ob er seine Gewandtheit in vier Sprachen künftig besser als Hotelportier oder als Schlafwagenschaffner verwerten“ sollte, „denn mit dem Dirigieren wird’s wohl kaum wieder etwas werden“. Wreszinskis Schwester war 73 Jahre alt, galt früher als „sehr verwöhnt und anspruchsvoll, wird sich wohl bei uns sehr bescheiden müssen“. Tochter Ruth lag wegen Gelbsucht im Krankenhaus, sollte später zu Verwandten nach Zürich gehen.875 Dass er im Oktober 1933 definitiv entlassen werden würde, war Wreszinski hintertragen worden, aber noch nicht offiziell. Zweifel daran hegte er nicht, denn „Königsberg wird Reichsuniversität mit politischer Schulung. (…) Da tauge ich freilich nicht hin.“ Was aus seinen Kindern werden würde, wusste er nicht, auch nicht, wie er weiterhin ihr Studium finanzieren sollte. In seiner Verzweiflung richtete sich seine Hoffnung auf den amerikanischen Kollegen Breasted, der ihn für Arbeiten in Sakkara, die Wreszinski aus eigenen Forschungen kannte, engagieren könnte.876 Es war kein Leichtes, sich einem
872 Alexander Schütze: Ein Ägyptologe, 2013, S. 340. 873 Sein Vertrag als Generalmusikdirektor in Baden-Baden wurde im Oktober 1933 gekündigt. Im Dezember 1933 emigrierte er nach Brasilien, wo er als „Ernesto Mehlich“ 1934 begann, ein erstes städtisches Sinfonieorchester in Sao Paulo aufzubauen. 874 Wreszinski an A. Erman, 2. August 1933. UBB NLE Wreszinski. 875 Zur Witwe eines Neffen Wreszinskis, die dort mit ihren zwei Kinder lebte und sich kaum zu ernähren wusste. 876 Mit Gräbern und Wandbildern glaubte er sich bestens auszukennen, seine Ehefrau fotografiere besser „als die Leute von seinem Luxorstaff“, wie die Bände zu Medinet Habu bewiesen.
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merikanischen „Field-Director“ anzudienen, aber die Zeit für solche Eitelkeiten a war vorbei. Nur direkt bei Breasted „in eigener Sache“ anzufragen, fehlte Wreszinki der Mut – es wäre übel, „als älterer Mann einen direkten refus zu bekommen“. Erman, der Breasted sehr nahe stand,877 sollte dies übernehmen; Ende September 1933 wollte man sich in Berlin treffen. Unwahrscheinlich schien es nicht, dass Breasted helfend eingreifen würde. Aus Deutschland hatten ihn seitens Erman und anderen deutschen Kollegen längst schockierende Nachrichten, die von Berichten seines in Heidelberg studierenden Sohnes ergänzt wurden, erreicht.878 Geradezu unter Schock stand er wegen des Suizids des Marburger Sprachwissenschaftlers Hermann Jacobsohn879 im April 1933. Spontan sann Breasted auf mögliche Hilfe für dessen Sohn Helmuth (1906–1994),880 der in Berlin bei Kurt Sethe Ägyptologie studiert, sein Studium aus finanziellen Gründe aber hatte unterbrechen müssen.881 Breasted wollte ein „fellowship“ an der Universität Chicago erwirken, obwohl er seit Juli 1933 im Ruhestand, also nicht mehr an der Universität tätig war.882 Dies ließ auch Wreszinski hoffen, für den Erman sich nachdrücklich bei Breasted einsetzte – sein „armer Freund“ werde eine „Förderung für Ihr großes Unternehmen“ in Sakkara sein.883 Doch Breasted reagierte ablehnend, die Grabungsteilnehmer für Sakkara seien bereits festgelegt, zusätzliche Gelder könnten
877 1894 legte Breasted bei Erman sein Doktorexamen ab. 1899 nahm er zusammen mit Erman, LB und Steindorff am Orientalistenkongress in Rom teil, verbrachte mit ihnen die meiste Zeit im Restaurant „Fiorelli“. Breasted an Erman, 1. November 1935. UBB NLE Breasted. 878 Breasted an Erman, (Valley Ranch, New Mexico) 12. August 1933. UBB NLE Breasted. 879 Geb. 1879 Lüneburg, gest. 27. April 1933 Marburg, verheiratet mit Margarete Flemming, ab 1911 Professor für vergleichende Sprachwissenschaft in Marburg, ab 1922 ordentlicher Professor, ab 1928 Dekan der Fakultät, Entlassung wegen jüdischer Herkunft am 25. April 1933. Zwei seiner Schwestern wurden von den Nationalsozialisten ermordet. Lexikon deutsch-jüdischer Autoren, Bd. 12, München 2005, S. 340–343. 880 Im August 1939 hielt er sich noch in Marburg auf, wohnte mit seiner Mutter in einer kleinen Pension. Bei Gardiner bedankte er sich für die Zusendung wissenschaftlichen Materials und bat, ihm bei der Suche nach einer Anstellung („assistant lecturer“, Museum, Bibliothek) oder einem Stipendium außerhalb Deutschlands zu helfen. Als „half-aryan“ habe er in Deutschland keinerlei berufliche Perspektiven. Jacobsohn an Gardiner, 15. August 1939. GIO MSS AHG/42.154. Jacobsohn wurde nach 1945 zum Begründer der Ägyptologie an der Universität Marburg. 881 Der Ägyptologe Alexander Scharff ermöglichte ihm, im ägyptologischen Seminar der Universität München seine Forschungen fortzusetzen, dort Mitte 1938 zu promovieren. Im Vorwort zu seiner Dissertation „Die dogmatische Stellung des Königs in der Theologie der Alten Ägypter“ (Verlag J.J. Augustin/Glückstadt, Reihe „Ägyptologische Forschungen“, hrsg. v. Alexander Scharff) bedankte er sich besonders bei Scharff. 882 Breasted an Erman, 12. September 1933. UBB NLE Breasted. 883 Erman an Breasted, 6. August 1933. UBB NLE Breasted.
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nicht investiert werden.884 Zwar versicherte Breasted, grundsätzlich Wreszinski helfen zu wollen, Konkretes offerierte er jedoch nie, beließ es bei vagen Formulierungen.885 Am 26. Oktober 1934 erhielt Wreszinski die Mitteilung, dass er in den Ruhestand versetzt sei, seine Dienstbezüge im Dezember 1934 eingestellt würden.886 Offiziell trat seine Entlassung am 1. Februar 1935 in Kraft, ein Ruhegehalt wurde festgelegt, ob es zur Auszahlung kam, ist unklar.887 Schon am 15. November 1934 hatte Wreszinski seine Unterlagen beim AAC eingereicht, als Referenzen Adolf Erman, Museumsdirektor Heinrich Schäfer (Berlin), Alan H. Gardiner (London), Max Meyerhof (Kairo), Museumsdirektor Jean Capart (Brüssel), James Breasted (Chicago) und Ludwig Borchardt in Kairo benannt.888 Seine finanziellen Mittel würden für einige Jahre reichen, denn noch rechnete Wreszinski damit, sein Ruhegehalt von mehr als 7000 RM in fast voller Höhe zu erhalten. Damit wollte er das Studium seiner Kinder in Italien finanzieren. Vorrangig strebte er Ägypten als Emigrationsland an, glaubte auch in Italien Arbeitsmöglichkeiten finden zu können. Auch den Fernen Osten oder Süd-Amerika wollte er nicht ablehnen, nur tropische Länder oder Russland. Das AAC wandte sich wegen Wreszinski an Max Meyerhof in Kairo, Generalsekretär Walter Adams kannte ihn von einem Kongress zur Wissenschaftsgeschichte in Portugal. Meyerhof, dem Wreszinski seit vielen Jahren bekannt war, sollte in Erfahrung bringen, „in whom the Egyptian authorities might take an interest“.889 Im Vordergrund standen dabei nicht Wreszinskis ägyptologische Kenntnisse, sondern die von ihm entwickelte fotografische Technik, die besonders bei Aufnahmen von Wandmalereien in Grabkammern erfolgreich war. Meyerhofs quasi privates Intervenieren hielt man in diesem Fall für erfolgversprechender als eine offizielle Anfrage. Parallel dazu fragte das AAC bei James Breasted in Chicago an, er kenne Wreszinski seit seinen Studienjahren in Berlin, das Oriental Institute 884 Breasted an Erman, 12. September 1933. UBB NLE Breasted. 885 Breasted an Erman, (Chicago) 4. Mai 1934. Breasted war zu dieser Zeit sehr in Anspruch genommen von der Erkrankung seiner Ehefrau Francis. Sie starb am 15. Juli 1934, wovon Breasted Erman noch an demselben Tag berichtete (Brief auf Deutsch, alle andern an Erman auf Englisch). UBB NLE Breasted. 886 Das Ministerium teilte dem Universitätskurator mit (o. D.), da der Erlass vom 26. September 1934 erst am 2. Oktober Wreszinski zugestellt worden sei, erhalte er seine Dienstbezüge bis Ende Januar 1935. Akten der Universität Königsberg, zur Verfügung gestellt von Walter F. Wreszinski, Schweiz. 887 Bericht des Kurators der Universität Königsberg, 5. Dezember 1934. Akten der Universität Königsberg, zur Verfügung gestellt von Walter F. Wreszinski, Schweiz. 888 BLO SC MS SPSL 567/3. 889 W. Adams an Meyerhof, 16. November 1934. BLO SC MS SPSL 567/3.
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Chicago und die Königsberger Ägyptologie kooperierten schon seit Jahren. Auch war Wreszinski seit 1931 Herausgeber der „Orientalistischen Literaturzeitung“, laut Breasted „the most valuable of all periodicals representing this field“.890 Der Amerikaner sollte raten, wie Wreszinski zu helfen wäre.891 Dass dieser schon Monate zuvor jede Unterstützung Wreszinskis seinerseits für unmöglich erklärt hatte, wusste das AAC nicht.892 Bei dieser Linie blieb er, auch nachdem Wreszinskis Entlassung definitiv war und deutsche Freunde ihm „with great concern“ davon berichtet hatten.893 Meyerhof zog die vom AAC erbetenen Erkundigungen ein, sie fielen allesamt negativ aus. Der Lehrstuhl für Ägyptologie an der Kairener Universität war noch für weitere drei Jahre besetzt, eine andere Position ließ sich nicht finden.894 Das AAC initiierte eine weitere Anfrage, diesmal bei E.J. Passant vom Sidney Sussex College.895 Zudem hatte es erfahren, dass Sir Ernest Wallis Budge der Universität Cambridge für die Entwicklung der Ägyptologie eine Summe von fast 22.000 £ gespendet hatte, woraus man die Hoffnung schöpfte, dass auch Wreszinski mit diesen Geldern unterstützt werden könnte. Dies schien umso erforderlicher, als dieser von einer sehr kleinen Pension leben musste, wie sein Freund Friedrich Adolf Paneth (1887–1958)896 vom Imperial College London wusste und bat, eine Möglichkeit für Wreszinski in Ägypten zu finden, wo seine fotografische Technik von großem Nutzen sein würde. Auch an Althistoriker J.L. Brierly (1881–1955)897 in
890 Breasted an AAC, 21. Dezember 1934. BLO SC MS SPSL 565/3. 891 AAC an Breasted, 6. Dezember 1934. BLO SC MS SPSL 565/3. 892 Breasted an Erman, 12. September 1933. UBB NLE Breasted. 893 Breasted an Erman, (Chicago) 4. Mai 1934. Nach einer längeren Nahost- und Ägyptenreise im Herbst 1935 verstarb James Breasted unerwartet am 2. Dezember 1935. Todesanzeige James Henry Breasted (17. Aug. 1865–2. Dez. 1935). UBB NLE Breasted. 894 Meyerhof an W. Adams, 14. Dezember 1934. BLO SC MS SPSL 565/3. 895 Skepper (AAC) an Passant, 17. Januar 1935. BLO SC MS SPSL 567/3. 896 Österreichischer Chemiker, arbeitete am Physikalischen Institut der Universität Wien, 1913 Forschungsstudent in Glasgow und Manchester, 1914–16 Assistent am Wiener Institut für Radiumforschung, ab 1917 Assistent an der Deutschen TH in Prag, 1919 a. o. Professor in Hamburg für analytische Chemie, ab 1922 Universität Berlin. 1929 Professor für Chemie und Direktor des Chemischen Laboratoriums der Universität Königsberg. Wegen seiner jüdischen Herkunft wurde er im April 1933 beurlaubt, von einer wissenschaftlichen Tagung in London kehrte er nicht mehr nach Deutschland zurück und erwarb die britische Staatsbürgerschaft. Mehrere Jahre arbeitete er am Imperial College of Science and Technology in London, 1938 Lektor an der Universität London, 1939–1953 Professor für Chemie an der Universität Durham. Verheiratet ab 1913 mit Else Hartmann, Tochter des österreichischen Historikers Ludo Hartmann. Bernd Wöbke: „Paneth, Fritz Adolf“, in: Neue Deutsche Biographie 20 (2001), S. 28–30. 897 Studium am Brasenose College Oxford, 1920 Professur für Rechtswissenschaften an der Universität Manchester, 1922 Lehrstuhl für Völkerrecht am All Souls College Oxford, wo er bis
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Oxford wandte sich das AAC am 17. Januar 1935, ebenfalls wegen der von Budge gestifteten Summe, schlug zudem dem „University Bureau of the British Empire“ in London vor, Wreszinski als Repräsentanten nach Ägypten zu schicken, falls die Universität dort tatsächlich archäologische Grabungen anstrebte. Finanzieren sollte die Carnegie Corporation.898 Währenddessen wuchs Wreszinskis Verzweiflung, seinem Freund Paneth offenbarte er sich am 4. März 1935.899 Zwar hatte dieser angeboten, ihn „an irgendein Institut des Greater Britain“ zu vermitteln, doch was er an der „Universität Kanada oder in Indien oder sonstwo“ würde leisten können, war Wreszinski schleierhaft; hinter dergleichen Vorschlägen vermutete er die Zielsetzung, ihn möglichst von England fernzuhalten. Nur strebte er nicht nach England, sondern nach Ägypten, wo er in den Gräbern auf spezielle Weise fotografieren und damit „Bleibendes“ leisten wollte. Als ‚Ausstattung‘ benötigte er dabei seine Ehefrau als „technische Helferin und etliche Diener usw. für die Gerüste und die persönlichen Dienste, Küche und dergl.“, womit zugleich ein höheres Stipendium begründet werden könnte. Noch glaubte Wreszinski sicher auf die Empfehlung seiner britischen Kollegen rechnen zu können, obschon die ihm am meisten vertrauten Griffith und Peet (1882–1934)900 kurz zuvor verstorben waren, er deren Nachfolger Stephen Glanville (1900–1956)901 und Aylward Blackman (1883–1956)902 kaum kannte und sein „alter
1947 blieb. Er war Mitglied verschiedener Komitees des Völkerbunds, wurde 1948 als eines der Gründungsmitglieder in die Völkerrechtskommission gewählt. In Oxford beriet er ehrenamtlich die Colleges Somerville und St. Hilda’s, 1932 bis 1955 Friedensrichter in Oxford, setzte sich während beider Weltkriege für Flüchtlinge ein. http://de.wikipedia.org/wiki/James_Leslie_Brierly (16.07.2014). 898 AAC an University Bureau, 1. März 1935. BLO SC MS SPSL 567/3. Die Carnegie Corporation of New York wurde 1911 von Andrew Carnegie gegründet. Unter der Leitung von Frederick P. Keppel, 1923–1941, konzentrierte sie sich auch auf Erwachsenenbildung. 1927 bereiste Keppel das subsaharische Afrika, empfahl die Gründung und Förderung öffentlicher Schulen in Ostund Süd-Afrika. “Carnegie Corporation of New York”, in: http://en.wikipedia.org/wiki/Carnegie_ Corporation_of_New-York (23.02.2015). 899 BLO SC MS SPSL 567/3. 900 Studierte am Queen’s College in Oxford, 1913–28 Dozent für Ägyptologie an der Universität Manchester, 1920–33 Brunner Professor für Ägyptologie an der Universität Liverpool, unterrichtete Ägyptologie in Oxford 1933–34, Fellow des Queen’s College Oxford 1933. Who-was-Who, 2012, S. 420. 901 Studierte am Lincoln College Oxford, Teilnehmer der britischen Amarna Grabung 1923, 1924 Assistent des Department of Egyptian and Assyrian Antiquities am British Museum in London, ab 1933 Dozent bzw. Professor für Ägyptologie am University College Cambridge. Who-was-Who, 2012, S. 214. 902 Studierte am Queen’s College Oxford bei Griffith, graduierte 1906, danach in Nubien u. a. als Assistent Reisners, 1912 Laycock fellow für Ägyptologie am Worcester College Oxford, 1934–48
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Freund“ Alan Gardiner „freier Gelehrter ohne akademische Stellung“ war. Dennoch wollte er Blackman bitten, ihn von Oxford aus zu unterstützen. Paneth sollte beim AAC „eruieren, ob eine solche Arbeit in Ägypten auch im Rahmen dessen liegt, was die Carnegie Coporation unterstützt“. Ein halbes Jahr lang wollte Wreszinski in Ägypten fotografieren und kopieren, anschließend in seiner Bibliothek den Druck vorbereiten. Seiner Ehefrau würde es eine besondere Freude sein, in Ägypten arbeiten und die Früchte ihrer jahrelangen Arbeit ernten zu können. Wreszinskis Hoffnungen wurden rasch zunichte gemacht. Das „Universities Bureau of the British Empire“ in London vermeldete dem AAC am 7. März 1935, von einer „Empire University“, die sich an einer ägyptologischen „Expedition“ in Ägypten beteilige, wisse man nichts.903 Das AAC solle Professoren der Ägyptologie in Liverpool, London und Oxford kontaktieren, nämlich Blackman, Glanville und Arthur Hunt (1871–1934).904 Gegenüber dem AAC bekundete der angefragte Hugh Last von der EES grundsätzliche Unterstützungsbereitschaft für Wreszinski.905 Meyerhof in Kairo ließ das Schicksal seines Königsberger Freundes nicht ruhen; im März 1935 kontaktierte er das AAC, wies darauf hin, dass Wreszinski ein international bekannter und renommierter Ägyptologe sei, der „in different domains of his special science“ gearbeitet habe, den vor der Fertigstellung stehenden „Atlas zur ägyptischen Kulturgeschichte“ herausgeben werde.906 Auch sei er „very intelligent“, ein „lovable companion“, seine mit ihm zusammenarbeitende Ehefrau Lore „very clever in many branches of Art and Archaeology“. Das AAC setzte sich für Wreszinski ein, verhandelte mit der Carnegie Coporation, obwohl die Aussichten ungünstig erschienen, fragte bei H. Sabry Bey, dem ägyptischen Minister in London an, der versprach, sich nach Unterstützungsmöglichkeiten von ägyptischer Seite umzusehen.907 Meyerhof sollte sich in ähnlicher Weise umtun. Glanville, den Wreszinski direkt angesprochen hatte, erklärte im April 1935, nichts für ihn tun zu können. Überhaupt sei von britischer Seite kaum Hilfe möglich. Wreszinski solle sich an den Direktor des Archäologischen Museums in Toronto wenden.908
Brunner Professor für Ägyptologie an der Universität Liverpool, 1936–48 „special Lecturer“ für Ägyptologie an der Universität Manchester, 1922–35 Mitglied und Vorstands der EES. Who-wasWho, 2012, S. 62. 903 BLO SC MS SPSL 567/3. 904 AAC an Hunt, Blackman und Glanville, 21. März 1935. BLO SC MS SPSL 567/3. Hunt studierte am Queen’s College Oxford, 1913–1934 Professor für Papyrologie in Oxford. Who-was-Who, 2012, S. 269. 905 AAC an Hugh Last, 26. März 1935. Last an AAC, 29. März 1935. BLO SC MS SPSL 567/3. 906 Kairo, 10. März 1935. BLO SC MS SPSL 567/3. 907 AAC an Meyerhof, 18. März 1935; AAC an H. Sabry, 20. März 1935. BLO SC MS SPSL 567/3. 908 Glanville an AAC, 4. April 1935. BLO SC MS SPSL 567/3.
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So wurde der ‚Fall Wreszinski‘ hin und her geschoben, jede angefragte Stelle delegierte sie mit unterschiedlicher Begründung an eine andere. Von der Hand zu weisen war nicht, dass auch für die Förderung ägyptologischer Vorhaben die Gelder nicht mehr so üppig flossen, sogar die Rockefeller Foundation in den USA infolge der herrschenden Finanz- und Wirtschaftskrise deutlich geringere Summen zur Verfügung stellte als Jahre zuvor, was vor allem den ehrgeizigen James Breasted schmerzte.909 Dennoch konnte von wirklicher Finanznot zumal bei den Amerikanern nicht die Rede sein.910 Bevor sich irgendeine Option realisierte bzw. sämtliche Möglichkeiten zerschlugen verstarb Wreszinski im April 1935 an den Folgen eines Herzinfarkts, seine Beisetzung wurde offiziell gemieden.911 Seine letzten Lebensmonate waren gekennzeichnet vom Kampf um Existenz und Zukunft für sich und seine Familie, auch von der Enttäuschung über die sehr zögerliche Hilfsbereitschaft seiner internationalen Kollegen. Zuspruch erhielt er kontinuierlich von Adolf Erman, auch von Max Meyerhof. Mit dem Tod ihres Mannes geriet Lore Wreszinski in umso größere Bedrängnis. Wenig war geregelt, auch nicht der Verbleib von Wreszinskis Bibliothek. Sie musste dringend verkauft werden, denn Lore Wreszinski benötigte Geld für ihre Auswanderung, befürchtete, dass sie in Deutschland keinen angemessenen Preis würde erzielen können, kannte aber keinen ausländischen Interessenten. Sie wandte sich an Alan Gardiner, den sie Jahre zuvor im Deutschen Haus in Theben kennengelernt hatte; er zeigte sich zu jeder Unterstützung bereit, vermittelte den Verkauf an Harrassowitz in Leipzig.912 Einige Monate später sorgte er u. a. mit einem Leumundszeugnis dafür, dass der 27-jährige Rolf Wreszinski, der eine kaufmännische Ausbildung in einer pharmazeutisch-chemischen Fabrik913 909 Anfang 1925 plante er, Vertreter der USA in Ägypten zu werden, wobei er von dem US-Vizepräsidenten Charles Dawes unterstützt wurde. Obwohl daraus nichts wurde, konnte er die ägyptische Regierung zur Änderung ihrer Antiken-Politik veranlassen. Damit stellte er sich deutlich gegen den Franzosen Pierre Lacau, Leiter des Antikendienstes. Mit der Begründung, „orientals“ hätten jahrhundertelang ihre Monumente vernachlässigt und zerstört, führte er Antiquitäten nach Nord-Amerika aus. James F. Goode: Negotiating, 2007, S. 89. 910 James F. Goode: Negotiating, 2007, S. 120–125. 911 Paneth an AAC, 18. April 1935; Meyerhof an AAC, 29. April 1935. BLO SC MS SPSL 567/3. Wegen seines schweren Herzleidens hatte Wreszinski im Juli 1934 in Bad Nauheim eine Kur gemacht, was ihn hinderte, einen Beitrag zu den ‚Mélanges Maspero‘ zu verfassen. Mélanges Maspero. I. Orient Ancien, Le Caire 1935–1938, S. XLVI. Für LB kam Wreszinskis Tod nicht ganz unerwartet. Er hatte ihn im Herbst 1934 im Berliner Museum getroffen, es schien ihm „schon recht schlecht zu gehen“. LB an Erman, 22. April 1935. UBB NLE Borchardt. Thomas Schneider: Ägyptologen, 2013, S. 141. 912 L. Wreszinski an Gardiner, (Königsberg, Brahmsstr.19) 1935, (Königsberg, Hufenallee 49), 13. Juni 1935. (Berlin-Halensee, Carionweg 2), 3. März 1936. GIO MSS AHG/42.382.7 + 6 + 5. 913 Zweigniederlassung des Berliner Unternehmens „Medicinische Produkte“, gehörte einem Neffen von Walter Wreszinski.
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in Amsterdam absolvierte, ein „permit“ für England erhielt, damit er in der Zweigniederlassung des Unternehmens in London tätig werden, also emigrieren konnte.914 Auch über Ruth Wreszinski leitete Gardiner „favorable information“ an offizielle Stellen weiter, was ihr ermöglichte, den Lebensunterhalt für sich und ihre Familie in England zu bestreiten.915 Später emigrierte sie nach Bolivien, wo sie 1948 als Ärztin, ihr Ehemann als Importkaufmann arbeitete. Gardiner streckte Heinrich Schäfer Devisen vor, damit dieser den Wreszinski’schen Atlas erwerben konnte.916 Als Vermittlerin trat dabei Käthe Bromberg auf, eine ehemalige Schülerin Wreszinskis, die sich im Dezember 1938 für einige Tage in London aufhielt und mit Gardiner traf.917 Auch Lore Wreszinski gelang die Flucht. 1939 lebte sie in Brasilien, erlernte die Buchbinderei, eröffnete in Sao Paulo einen kleinen Laden, der ihr ein bescheidenes Leben ermöglichte. Zwei Bände des Wreszinski’schen Atlas, die ihr Ehemann als Arbeitsexemplar benutzt hatte, befanden sich noch 1948 in ihrem Besitz.918 Alan Gardiner, der sie nach dem Tod ihres Mannes rückhaltlos und entscheidend unterstützt hatte, war sie zutiefst dankbar.919
914 Rolf Wreszinski wohnte in Amsterdam (1e Helmerstraat 64). L. Wreszinski an Gardiner, 3. März 1936. GIO MSS AHG/42.382.5. 915 L. Wreszinski an Gardiner, (Rio de Janeiro) 31. Oktober 1948. GIO MSS AHG/42.382.2. 916 Die Devisen sollten an Schäfer in Berlin-Steglitz (Im Gartenheim 3) geschickt werden. L. Wreszinski an Gardiner, (Berlin-Halensee, Carionweg 2) 22. Juni 1936. GIO MSS AHG/42.382.4. 917 L. Wreszinski an Gardiner, (Berlin-Charlottenburg) 17. Dezember 1938. GIO MSS AHG/42.382.3. 918 Da L. Wreszinski-Loepert (Sao Paulo, 525 rua Tamandaré App. 42) keine Verwendung dafür hatte, wollte sie dorthin verkaufen, wo die Bücher von Nutzen wären. Sie ließ den Brief von ihrer Freundin Dr. Erna Simion weiterleiten, die alle weiteren Verhandlungen führen sollte. Gardiner wandte sich umgehend an Simion. Wegen des Atlas’ besprach er sich mit dem tschechischen Ägyptologen Cerny (Oxford), der die Werke bereits besaß, deshalb Empfehlungen an Glanville (Cambridge) weiterleiten wollte. Rio de Janeiro, 31. Oktober 1948. Gardiner an L. Wreszinski, (Oxford) 24. November 1948. GIO MSS AHG/42.382.1 + 2. Erna Simion (geb. 1890 Berlin, gest. 1989 London), Tochter von Leonhard Simion (Verlagsbuchhändler) und Louise, Volkswirtin, Promotion 1919 in Marburg bei Walter Troeltsch, arbeitete eine Zeitlang als Sekretärin an der Berliner Handelskammer, dann für den „Bund Deutscher Frauenvereine“. In den späten 1920er Jahren Mitarbeiterin der Zeitschrift „Deutscher Volkswirt“, ehrenamtlich für den „Bund der Nationalökonominnen“ tätig. Sie, ihr Bruder Fritz und ihr Sohn Ernst emigrierten im August 1939 nach England, ihre umfangreiche Bibliothek wurde einer Spedition übergeben, kam aber nie an ihrem Bestimmungsort an. Die Bücher wurden beschlagnahmt und 1942 in Berlin versteigert. E. Simions Schwester Frida nahm sich 1943 angesichts der bevorstehenden Deportation das Leben. 1939/40 war E. Simion in England interniert, arbeitete 1941 bis 1945 als „reference Librarian“ für die deutschsprachige Tageszeitung „Die Zeitung“, einige Zeit auch für das amerikanische „Office of War Information“. Bernd Reifenberg: Private Ermittlungen. Ein Buch als Zeuge, in: SiegelOnline (http://www.spiegel.de/einestages/private-ermittlungen-a-946574.html 27.02.2015). 919 L. Wreszinski-Loepert an Gardiner, (Rio de Janeiro, 525, rua Tamandaré Ap. 42) 31. Oktober 1948. GIO MSS AHG/42.382.2.
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Das Schicksal Walter Wreszinskis rüttelte auf, jedoch noch nicht so sehr, dass es allgemeine Hilfebereitschaft auslöste. Nur Alan Gardiner fand sich zu umfassender Unterstützung von Wreszinskis Familie bereit, vielleicht auch, weil er wegen der österreichisch-jüdischen Familie seiner Ehefrau besonders sensibilisiert und betroffen war. Aufgerüttelt fühlten sich etliche dänische Ägyptologen, die, wie beispielsweise C.E. Sander-Hansen, wegen ihrer Mitarbeit am Wörterbuch sogar über Anschauung ‚vor Ort‘ verfügten. Als Mittlerin sandte H.O. Lange Ende 1937 die schwedische, sich für einige Zeit in Kairo aufhaltende Bildhauerin Hornemann zu Borchardt, auch sein Kollege Iversen würde bald dort eintreffen. Lange war mehr als beunruhigt, vor allem nachdem er von Steindorff erfahren hatte, „wie brutal er behandelt worden“ war und dass Grapow die Nachfolge von Sethe angetreten hatte.920 Borchardt wusste nachzutragen, dass „den jungen Leuten, die hierher kommen“, schon in Berlin verboten werde, „mit einem gewissen Borchardt in Berührung zu kommen“.921 Borchardt traf sich sowohl mit der Bildhauerin als auch mehrfach mit Iversen, die umgehend nach Kopenhagen berichteten. Offensichtlich diente das Borchardt’sche Haus als Kommunikationszentrale, als ein Ort, an dem ungestört beraten werden konnte. Im Mai 1938 fragte Sander-Hansen bei Borchardt wegen des österreichischen Orientalisten Gustav E. von Grünebaum (1909–1972)922 an, der wegen seiner jüdischen Herkunft seine Stellung verloren hatte und für den sich in Kopenhagen bereits erfolglos die Kollegen Joh. Pedersen und Arthur Christensen eingesetzt hatten.923 Borchardt, der Sander-Hansens Engagement zugunsten der „Opfer der Judenverfolgung“ sehr begrüßte, schaltete sogleich Max Meyerhof ein, um Grünebaum eine Anstellung an der Kairener Universitätsbibliothek zu verschaffen, hielt dieses Bemühen aber im Grunde für aussichtslos. Denn „bei dem jedes Maaß übersteigenden Nationalismus, der hier herrscht“ sei „für Europäer kein Platz zu finden“, die „eben ‚frei‘ gewordenen Ägypter (hätten) alle Toleranz und Gastlichkeit, die man ihnen noch vor Kurzem nachrühmen konnte, bei Seite geworfen und kennen
920 Lange an LB, 8. November 1937. SIK LB. 921 LB an Lange, 13. November 1937. SIK LB. 922 Arbeitete am Wiener Orientalistischen Institut. Österreichischer Orientalist, 1931 Promotion in Wien, 1936–38 Assistent am Orient-Institut in Wien, 1938–1942 Assistenzprofessor in New York, 1943–1957 Dozent, dann Professor in Chicago, 1957–1972 Professor in Los Angeles. Grünebaum gehörte mit Robert Anhegger, Richard Ettinghausen, Joseph Schacht und Paul Wittek zu jenen Orientalisten, die ihrer zu erwartenden Entlassung zuvorkamen und sich frühzeitig zur Emigration entschlossen. Ekkehard Ellinger: Deutsche Orientalistik, 2003, S. 123; Ludmila Hanisch: Die Nachfolger, 2003, S. 188. 923 Kopenhagen, 12. Mai 1938. SIK LB.
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nur noch den hemmungslosen Eigennutz“. Zu Arabistenkreisen hatte Borchardt keinen Kontakt. An Sander-Hansen übermittelte er einen Bericht über in Frage kommende Hilfsorganisationen, Informationen, die Grünebaum nicht per Post zukommen sollten. Trotz ihrer Bemühungen erreichten Borchardt und Meyerhof in Ägypten nichts für Grünebaum. 1938 emigrierte er nach Nord-Amerika, war von 1938 bis 1943 am Asia Institute in New York tätig, ab 1943 an der University of California in Los Angeles.924 Wie überaus problematisch für ihn der Neuanfang in den USA tatsächlich war, erfuhr Steindorff, als auch er sich im amerikanischen Exil zurechtfinden musste.925 Seiner Stellung in Berlin enthoben wurde auch Hans Jakob Polotsky (1905– 1991),926 wie Walter Crum mit Entsetzen vernahm. Anders sahen es Berliner Fachkollegen. Hugo Ibscher attestierte Polotsky „Größenwahn“ gepaart mit Faulheit, weshalb es nicht wundere, dass der Berliner Akademie die Geduld reiße und ihn entlasse. Offiziell heiße es dann, „man hätte das getan, weil er ein Jude ist“.927 Polotsky gelang die Emigration nach Palästina, 1939 dankte er Gardiner für dessen Unterstützung und die Möglichkeit, in der JEA zu publizieren.928 Gardiner versorgte den Kollegen weiterhin mit dringend benötigter Literatur, obwohl die Ägyptologie in Jerusalem nur auf geringes Interesse stieß.929 Wegen der jüdischen Herkunft seiner Ehefrau Marie Stein (1873–1964) und Unterstützung eines „Fahnenflüchtigen“ wurde Hermann Ranke am 30. November 1937 von der Universität Heidelberg in den Ruhestand versetzt, nachdem ihm schon am 1. Juni 1937 die Lehrtätigkeit untersagt worden war. Etliche Schicksalsschläge hatte er schon zuvor zu verkraften gehabt, den Tod
924 Laut Akten des AAC meldete Grünebaum sich als lediger „Researcher“ an der Universität Wien und „Librarian“ der Nationalbibliothek mit Spezialkenntnissen zum Islam, Arabisch, Turkologie und Neu-Persisch. BLO SC MS SPSL 77/1. Ekkehard Ellinger: Deutsche Orientalistik, 2003, S. 485. 925 In der Fotosammlung des Nachlass Steindorff (ÄMUL) finden sich Fotografien von Giselle Grünebaum mit den Töchtern Tessa und Claudia während der Schiffsüberfahrt 1938. Brieflich berichtete Steindorff an verschiedene Adressaten von Treffen mit der Familie Grünebaum. 926 Sohn russischer, in Berlin lebender Eltern, Studium 1924–28 in Berlin bei Sethe, in Göttingen bei Kees, dann Assistent in Göttingen, Emigration 1934, 1934 bis 1951 Hebrew University Jerusalem, 1952 in Chicago, 1959–60 Brown University, 1967–68 in Kopenhagen, 1985 in Yale und 1990 in Berlin. Gründungsmitglied der Israel Academy of Sciences and Humanities. Who-wasWho, 2012, 439 f. 927 Ibscher an Gardiner, 25. Januar 1933, 27. Oktober 1933. GIO MSS AHG/42.150.47 + 44. 928 Polotsky an Gardiner, (Jerusalem, 13 Gaza Rd.) 12. August 1939. GIO MSS AHG/42.240.2. 929 Bis 1948 hatte Polotsky so gut wie keine Studenten, der einzige, der 1948 sein Studium bei ihm beginnen wollte, „got stranded in Tel-Aviv at the outbreak of the present disturbances“. Polotsky an Gardiner, (Jerusalem) 29. Februar 1948. GIO MSS AHG/42.240.1.
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seiner Tochter (1927) und den Suizid eines seiner Söhne (1934). Auf Gardiners Beileidsschreiben erwiderte er bitter, der Kollege solle sich seiner Kinder erfreuen, so lange er sie habe. Es gebe darauf „kein Anrecht, und alles, was wir haben, ist ein freiwilliges Geschenk der Götter“.930 Dass auch ihm die Entlassung drohte, ahnte Ranke lange nicht, hatte allerdings Verständnis für Kollegen, die sich nicht mit dem nationalistischen Regime arrangieren konnten und wollten, so der Ägyptologe Kurt Pflüger (1910–1994), den er 1936 seinen britischen Kollegen empfahl. Pflüger wollte Deutschland aus politischen Gründen verlassen.931 Laut Ranke war er ein begabter und fleißiger Wissenschaftler, hatte bei Sethe seine Dissertation begonnen und fast vollendet, dann aber Deutschland verlassen und bei Jean-Jacques Hess in Zürich studiert. Gardiner sollte Pflüger unter seine Fittiche nehmen und fördern. 1936 emigrierte der Heidelberger Ägyptologe nach Großbritannien, war einige Zeit in seinem Fach, dann bis zu seiner Pensionierung für die BBC tätig. Ranke dagegen glaubte sich seiner Position sicher sein zu können. Ende 1936 kündigte er für Frühjahr oder Sommer 1937 seinen Besuch in England an, hegte Zweifel nur wegen eventueller Devisenprobleme. Ein Jahr später musste auch er fliehen, fand schließlich eine Stellung in Philadelphia.932 Von seiner deutschnationalen Haltung vermochte er auch im Exil kaum abzurücken, sodass sich wohlmeinende amerikanische Kollegen veranlasst sahen, ihn zu warnen. „I thought I ought to tell him that it is not advisable for him to tell anyone in this country that he expects to see the Germans win“, schrieb Herbert Winlock (1884–1950), der sich auch um exilierte Freunde Steindorffs kümmerte,933 und ebenso beispielsweise um Otto Neugebauer, früherer Schüler Sethes, im Dezember 1939 an Gardiner.934
930 Heidelberg, 21. Oktober 1934. GIO AHG/42.246.16. 931 Ranke an Gardiner, 22. November 1936. GIO MSS AHG/42.246.13. 932 Ranke verließ Deutschland ungern, im Mai 1942 kehrte er nach Deutschland, 1945 nach Heidelberg zurück, was von Steindorff verurteilt wurde. Am 28. Juli 1945 schrieb Ranke einen ersten, in Heidelberg verfassten Brief an Gardiner. GIO MSS AHG/42.246.12. Am 1. Juni 1946 wurde er förmlich emeritiert, 1947/48 zum Dekan der Philosophischen Fakultät ernannt; 1948 ging er nochmals nach Philadelphia, 1950–52 als Gastprofessor an die Universität Alexandria (Ägypten). Thomas Schneider: Ägyptologen, 2013, S. 139 f. 933 Das Leipziger Ehepaar Grünewald emigrierte etwa zeitgleich mit Steindorff. Winlock versuchte den Arzt Grünewald mit dem Rockefeller Institut in Verbindung zu bringen, Unterstützung bot auch Mrs. Bull. Später wurde Grünewald eine Stellung am Massachusetts General Hospital in Boston angeboten. Winlock an Gardiner, 10. Februar 1940, 27. März 1940. GIO MSS AHG/42.375.20 + 19. Prof. Grünewald war einer der angesehensten Ärzte Leipzigs. Eva Kassewitz de Vilar: Vater, 2004, S. 39. 934 Winlock an Gardiner, 30. Dezember 1939. GIO MSS AHG/42.375.21.
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infache Unterfangen waren dies nicht angesichts der wirtschaftlich angespannten E Lage in den USA und auch mitunter unvorsichtigen Äußerungen der Exilanten.935 In Frankreich wurde der französische Ägyptologe Georges Posener (1906– 1988)936 zum Verfolgten der Nationalsozialisten. Er hatte an der Sorbonne Geschichte und Geographie studiert, von 1925 bis 1931 an der École Pratique des Hautes Études Ägyptolologie bei Scottas, Lefebvre, Weill und Moret, war ab 1931 Mitarbeiter am Institut Francais in Kairo. Nur kurz nahm er als Leutnant der französischen Armee 1939 am Zweiten Weltkrieg teil, wurde von den Deutschen gefangengenommen, konnte aber entkommen, sich an wechselnden Orten versteckt halten und für die Resistance tätig sein. Trotzdem schaffte er es, hin und wieder mit seinen britischen Kollegen in Kontakt zu treten, mitunter vermittelt durch seinen nach New York emigrierten Bruder Vladimir.937 Die Anbindung an die Ägyptologenschaft und die Möglichkeit zu Publikationen sollte nicht verloren gehen. Details zu seinem Verbleib wurden allerdings erst bekannt, als er sich im Herbst 1944 an Gardiner wandte.938 Seit seiner Flucht im Juni 1940 hatte er sich eine Zeitlang in Belgien versteckt gehalten, anschließend ein extrem zurückgezogenes Leben führen müssen. Mehrmals hatte er seine Identität und den Wohnort gewechselt, um Verfolgungen zu entgehen, dennoch das Studium von Texten fortgeführt und darüber ein kleines, Gardiner gewidmetes Buch geschrieben. Unbedingt suchte er nach neuen Nachrichten aus der Ägyptologenschaft. Mit Gardiner konnte er erst ab Januar 1945 wieder ungehindert seine Korrespondenz aufnehmen.939 Die Prominenz der deutschen Ägyptologenschaft war in besonderem Maße von Verfolgungen betroffen, allen voran die Pioniere Adolf Erman, Georg Steindorff und Ludwig Borchardt. Ihrer Stellung enthoben wurden auch Hermann Ranke und Walter Wreszinski. Nachrücker waren jene Ägyptologen, die sich mit dem nationalsozialistischen Regime arrangierten oder sogar dessen Anhänger waren. Hermann Grapow wurde 1938 als Nachfolger Kurt Sethes ordentlicher 935 „Incidentally, Neugebauer calls himself an Aryan, but as I claim that word really means nothing but Persian, I advised him to call himself merely anti-Nazi. Armenians and Persians are not very popular here and anti-Nazis are.“ Winlock an Gardiner, 10. Februar 1940. GIO MSS AHG/42.375.20. 936 Geboren in Paris, Sohn von Solomon Posener (russischer Jurist und Journalist) und Esther Sidersky. Die Familie remigierte nach der Revolution, 1917, nach Russland, kehrte 1921 nach Frankreich zurück. 1945 bis 1976 war er Leiter der Abteilung für Geschichte und ägyptische Archäologie an der École Pratique in Paris. 937 Posener an Gardiner, 3. Oktober 1939. Vladimir Posener an Gardiner, (New York, 51 Manhattan Ave), 16. Juli 1942. GIO MSS AHG/42.241.69 + 68. 938 Paris, 22. September 1944. GIO MSS AHG/42.241.67. 939 Wie Posener erfahren hatte, war Gardiners Sohn John noch in Gefangenschaft. Posener an Gardiner, (Paris, 14 rue de l’Amorique) 8. Januar 1945. GIO MSS AHG/42.241.66.
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Professor in Berlin, 1937 war er in die NSDAP eingetreten. Steindorffs Assistent Walther Wolf erhielt seine Berufung zum außerordentlichen Professor in Leipzig 1934. Siegfried Schott (1897–1971), „seit 1932 Mitglied der NSDAP, vertrat seit 1938 die Professur in Heidelberg, nachdem Hermann Ranke entlassen worden
Abb. 29: Ehepaar Käthe und Adolf Erman mit Enkelin, um 1935 in Berlin-Dahlem
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war“.940 Laut Alexander Schütze profitierten Grapow und Wolf auch davon, dass Ägyptologen wie Hermann Junker, der seit 1933 Mitglied der NSDAP war, und Hermann Kees, Mitglied der SA und seit 1937 der NSDAP, nicht zur Verfügung standen.941 Dass die verfolgten Ägyptologen Deutschland noch rechtzeitig verlassen oder geschützt werden konnten, auch im Exil Unterstützung fanden, war internationalen Netzwerken von Ägyptologen zu danken, beruflich-sozialen Beziehungen, die sich über Jahrzehnte aufgebaut hatten. Allerdings kam die Unterstützung nicht jedem Ägyptologen gleichermaßen zugute, vor allem nicht den weiblichen und den weniger prominenten, wie an späterer Stelle ausgeführt werden wird.
4.5.1 Borchardts Institut Schon bevor Ludwig Borchardt im Januar 1929 die Altersgrenze zu seiner Pensionierung erreichte setzte ein zähes Ringen um seine Nachfolge und den zukünftigen Zuschnitt des DAI Kairo ein.942 Das Institut betrachtete er als sein Lebenswerk und wollte entsprechend Einfluss nehmen auf seine weitere Entwicklung. Steindorffs Zustimmung bezüglich der Schwerpunktsetzung auf Bauforschung, die allein die „durch den Krieg verloren gegangene Stellung in Ägypten wiedergewinnen“ könne, glaubte er zwar zu haben, konnte sich aber letztlich auch wegen Heinrich Schäfers Widerstand nicht durchsetzen.943 Im Sommer 1927 wurde Hermann Junker zum Nachfolger Borchardts bestimmt, auch das bis dahin unabhängig agierende Institut im Oktober 1928 dem Archäologischen Institut des Deutschen Reiches unterstellt. Da sich Borchardts Bestreben, der Bauforschung weiterhin eine zentrale Stellung im DAI Kairo zuzuweisen, als nicht durchsetzbar erwies, ergriffen er und seine Ehefrau schließlich 1930 die Initiative zur Gründung einer „Stiftung für Bauforschung in Ägypten“, in die ihr gesamtes Vermögen einfließen sollte und die 1931 im Kanton Schaffhausen (Schweiz) offiziell registriert wurde.944 Parallel dazu kündigte Borchardt dem DAI den Mietvertrag für die von diesem genutzte, Borchardt gehörende und seinem Wohnhaus direkt benachbarte Villa, weil er das Haus für sein privates
940 Alexander Schütze: Ein Ägyptologe, 2013, S. 341 f. 941 Alexander Schütze: Ein Ägyptologe, 2013, S. 342. 942 Ausführlich dazu: Cornelius v. Pilgrim: Ludwig Borchardt, 2013, S. 244 ff. 943 Zitiert nach: Cornelius v. Pilgrim: Ludwig Borchardt, 2013, S. 245. 944 Cornelius v. Pilgrim: Ludwig Borchardt, 2013, S. 247.
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Institut benötigte. Herbert Ricke, der bereits 1926 für sechs Monate als sein Mitarbeiter tätig gewesen war, wurde ab Juni 1931 Borchardts Assistent, ab 1938 sein Nachfolger.945
Abb. 30: Ludwig Borchardt, Ägypten, etwa 1937
945 Als Direktor des DAI Kairo hatte LB u. a. die Assistenten Alexander Scharff (1926) und Rudolf Anthes (April 1927-Februar 1929).
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Nachdem Borchardt längere Zeit die Position seines Kairener Instituts für gesichert gehalten hatte, geriet diese Gewissheit spätestens mit der Verordnung vom 26. April 1938, wonach sämtliche Reichsdeutschen im In- und Ausland sich registrieren zu lassen und Personen jüdischer Herkunft ihre sämtlichen Vermögenswerte anzumelden hatten, ins Wanken. Alarmiert reagierte das Ehepaar Picard, war sich unsicher, ob auch die Vermögenswerte im Ausland angegeben werden mussten, berieten sich darüber mit Picards Kollegen Meyerhof und Rosenberg.946 Die Befürchtung war, dass die Pässe entzogen würden, sollte man der Aufforderung nicht oder ungenügend nachkommen. Obwohl man sich in Ägypten vergleichsweise wie in einem „El Dorado“ lebend wähnte, also in deutlich größerer Sicherheit als in Deutschland oder Österreich, nahm die Nervosität allenthalben zu, weil man in eine „recht düstere Zukunft“ blickte.947 Borchardt beriet sich mit Meyerhof, nachdem ihm der Goering’sche Erlass „in seiner Gemeinheit (…) über den Raub der deutsch-jüdischen und soweit angängig auch ausländisch-jüdischen Vermögen“ bekannt geworden war.948 Es werde verlangt, „dass auch alle im Auslande wohnenden jüdischen Deutschen, auch die, die eine andere Staatsangehörigkeit seit 33 angenommen haben, auch die, die ausgewandert sind (natürlich nackt von den Nazis vorher ausgezogen!) ihr in- und ausländisches Vermögen“ anmeldeten, „d. h. den Raub nachzuweisen“ hätten. „Das träfe von unsern Kairener Bekannten eigentlich alle. Die Ägypter (Sie und Schlesinger z. B.), die alten Mitglieder der Kolonie (uns und Lion), die neuen (Samter, Picard, Rosenberg, Geschäfte wie Rivoli usw., die Alexandriner kenne ich nicht im Einzelnen, aber es wird dort gewiss auch genug geben.).“ Meyerhof sollte unverzüglich mitteilen, was er zu tun gedachte. „Werden Sie anmelden?“ Laut Meyerhofs Informationen wollten „die hiesigen Leute ihre Erklärungen alle zum 31. 10. abgeben (…), soweit sie es überhaupt tun“, denn man befürchte den Entzug der Pässe.949 Er riet Borchardt, eine „für das Ausland x-beliebige Erklärung“ abzugeben, hielt es für ausgeschlossen, „dass die Westmächte und ihre Anhänger, zu denen vorläufig auch Ägypten gehört, diesen schamlosen Rechtsbruch mitmachen“.950 Keineswegs wollte Meyerhof sein Vermögen anmelden, hatte auch keine Aufforderung erhalten.951 Sollte diese eintreffen, würde er nicht reagieren; 946 Helen Picard an MB (in der Schweiz), 14. Juli 1938. SIK MB 75/7. 947 Helen Picard an MB, (Ascona) August 1938, (Moulay) September 1938, (Ascona) 26. September 1938. SIK MB 75/7. 948 LB an Meyerhof, 8. Juli 1938. SIK LB. 949 Meyerhof an LB, (Kairo) 22. Juli 1938. SIK LB. 950 „Bisher hat sich nur Italien bereitgefunden, dem Axenfreund bei dieser Vorbereitung zum offenen Raub einige Dienste zu leisten, wie es ja auch seit einigen Tagen die Rassenfrage auf das Tapet bringt.“ 951 Meyerhof an LB, (Kairo) 13. Juli 1938. SIK LB.
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asselbe wollte Schlesinger tun. „Im schlimmsten Falle können sie unseren Frauen d das Visum nach Deutschland verweigern, da wir beide entschlossen sind, den Fuß nicht wieder auf den Boden des Dritten Reiches zu setzen“. Ebenfalls nicht reagieren wollte Lion, Hugo Picard nicht anmelden, was er noch in Deutschland hatte, „da er ja sein ganzes Hab und Gut im Meer verloren hat“. Der Arzt Hermann Engel und seine Frankfurter Ehefrau Alice (Wronker) wollten dagegen ihr Vermögen angeben, weil sie „noch zu viele Interessen und Verwandte in Deutschland“ hatten. Einige Österreicher hatten ihre Vermögen in Ägypten „Freunden zu treuen Händen übermacht“, die darüber Stillschweigen wahren würden. Rivoli hatte nichts mehr in Deutschland, Lion sich mit seinem Angestellten Dolle assoziiert, sodass sein „Geschäft“ als „arisch“ galt – „so lange es dauert“. Meyerhof hatte ihm geraten, die ägyptische Staatsbürgerschaft anzunehmen, „damit er nicht eines Tages aus seinem Geschäft hinausgesetzt werden kann“. Den nichtjüdischen Ehefrauen von Picard und Rosenberg untersagte das deutsche Konsulat die Einreise nach Deutschland, dem Geschäftsmann Eckmann in Alexandria wurde kein neuer Pass mehr ausgestellt, der Konsul riet ihm zur Annahme der ägyptischen Staatsbürgerschaft. Bezüglich Borchardt meinte Meyerhof, als „Reichsbeamter in Pension (…) (werde er) wohl einiges anmelden müssen. (…) Sollte einmal die Ablieferung oder dergl. in Frage kommen, so können Ihnen die Leute ja den Buckel runterrutschen; können Ihnen Pension und das etwaige Sperrkonto in Deutschland und den Pass abnehmen, aber weiter nichts“. Nachfragen Picards hatten ergeben, dass sich nirgends eine Vorschrift betreffend das im Ausland befindliche Vermögen fand und ein Alexandriner Rechtsanwalt „diese Nachrichten für Panik“ hielt. Anders sahen Borchardts Informationen aus, wonach auch das im Ausland befindliche Vermögen angegeben werden musste, und zwar bis spätestens 31. Oktober 1938. Hingegen sei auch klar, dass „die fremden Länder dem 3. Reich in dieser Sache keine Rechtshilfe so ohne weiteres leisten werden, also die Einziehung der Vermögen im Auslande nicht möglich sein wird“.952 Doch Borchardt traute Ägypten nicht, hielt es für erpressbar – „wenn das 3. Reich durch Versprechungen – etwa große Baumwollkäufe – die fremden Länder lockt?“ Auf jeden Fall rechnete er mit der „Wegnahme des Inlandsvermögens“. Meyerhof sollte anregen, „dass die Evian-Mächte Erlasse nach Göringschem Muster loslassen, wonach zur Deckung der durch die Vertreibung entstandenen Unkosten für deren Unterbringung zunächst einmal alle ‚arischen‘ deutschen ihr In- und Auslandsvermögen schlagartig anzumelden haben, damit man später darauf zurückgreifen kann. Enteignet sollen sie nicht werden, aber die ‚Vertriebenen-Anleihe‘, die man anscheinend auflegen will, zu pari dafür bekommen. Schon die Drohung mit solchen Erlassen wird m.A. den Nazis die ihnen so gewohnte Angst machen“. 952 LB an Meyerhof, (Zürich) 20. Juli 1938. SIK LB.
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Dass er unverzüglich handeln musste, stand für Borchardt außer Frage. Ihrer Registrierungspflicht bei der deutschen Gesandtschaft waren er und seine Ehefrau bereits vor ihrer Abreise nach Europa nachgekommen, bezüglich der Angaben zu ihrem Vermögen zögerten sie. Zu Recht befürchtete Borchardt, dass sein Institut nicht vor dem Zugriff Deutschlands geschützt war, solange es nicht formal außerhalb Ägyptens angesiedelt war. Ein solcher Transfer hatte unmittelbar stattzufinden und konnte nur mit Hilfe verlässlicher nicht-deutschen Kollegen gelingen. In Frage kamen George Reisner für Harvard, H.O. Lange für Kopenhagen sowie Norman de Garis Davies und Alan Gardiner für Oxford. Mit Reisner, der sich permanent in Kairo aufhielt, besprach Borchardt sich meist mündlich, erst von der Schweiz aus brieflich. Obwohl Reisner sich sehr bemühte, Borchardt auch riet, sicherheitshalber die britische oder die ägyptische Staatsbürgerschaft zu beantragen, blieb das Ergebnis unbefriedigend. Wie von Reisner erwartet stellten die amerikanischen Behörden problematische Bedingungen bezüglich Emigration und Staatsbürgerschaft, eine rasche Transferierung des Instituts und schnelles Erlangen der amerikanischen Staatsbürgerschaft erschienen unrealistisch.953 Auch bot sich die Universität Harvard nicht wirklich als idealer Standort an.954 Ende September 1938 zerschlug sich diese Option endgültig.955 Am 30. Juli 1938 wandte Borchardt sich von der Schweiz aus an Lange in Kopenhagen, trug ihm sein Anliegen vor, das Institut einer Einrichtung eines „vor den Nazis sicheren Staates“ zu übergeben.956 Die Staatsbürgerschaft des aufnehmenden Landes wollten er und seine Frau gleichzeitig erwerben. Da Borchardt die relevanten dänischen Bestimmungen nicht kannte, sollte Lange als Vermittler auftreten. Tatsächlich setzte Lange alle möglichen Hebel in Bewegung, obwohl bei ihm infolge des Ersten Weltkriegs noch immer ein leichtes Misstrauen gegenüber Borchardt bestand. Andererseits war ihm bekannt, dass das etliche Jahre im Zentrum der ‚deutschen Kolonie‘ stehende Ehepaar Borchardt seit 1933 davon ausgeschlossen war und ziemlich isoliert lebte.957 Ausschlaggebend aber war, dass Lange schon seit Jahrzehnten größtes Interesse daran hatte, ein ägyptologisches Institut an der Universität Kopenhagen zu etablieren und sich ihm nun diese Chance bot. Zu seinem Erstaunen traf er weder bei der Universität noch beim dänischen Außen- und Innenministerium auf positive Resonanz, weil man dort
953 Cornelius v. Pilgrim: Ludwig Borchardt, 2013, S. 258 f. 954 Der Präsident der Universität, James Bryant Conant, distanzierte sich nie vom Nationalsozialismus, unterhielt kontinuierlich enge Beziehungen zu deutschen Nationalsozialisten. Auch war Antisemitismus sehr an der Universität verbreitet. Stephen H. Norwood, 2004, S. 1–32 955 Reisner an MB, 31. August 1938, Reisner an Edgell, 30. September 1938. SIK LB. 956 Zitiert nach: Lars Schreiber Pedersen: Langes kamp, 2007, S. 202. 957 Lars Schreiber Pedersen: Langes kamp, 2007, S. 201.
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vor allem wegen Borchardts jüdischer Herkunft diplomatische Schwierigkeiten mit Deutschland befürchtete. Lange ließ zwar nicht locker in seinen Bemühungen, die er auch nach Borchardts Tod fortsetzte, doch zog sich die Sache sehr in die Länge. Auch Mimi Borchardt war nicht von Kopenhagen als möglichem Standort des Instituts überzeugt, diskutierte dies später eingehend mit Herbert Ricke.958 Ricke hatte sich, kaum dass er von Borchardts Tod erfahren hatte, sofort an dessen Vertrauten George Reisner um Rat und Hilfe gewandt, wurde von dort an den ägyptischen Juristen Dr. Hyam als Nachlassverwalter weiterempfohlen.959 Auch bei dem französischen Ägyptologen Étienne Drioton wurde er vorstellig, um sich dessen Unterstützung zu versichern.960
Abb. 31: Mimi Borchardt und George Reisner, Mitte 1930er Jahre 958 Lars Schreiber Pedersen: Langes kamp, 2007, S. 216 f. 959 Ricke an MB, 20. August 1938, 17. September 1938. SIK MB 76/5. 960 LB hätte sich sehr über Driotons Verhalten gefreut, versicherte MB Ricke (Zürich, 21. September 1938). SIK MB 76/5.
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Von Kopenhagen riet Ricke ab, denn Lange wolle das Institut „mit Haut und Haaren fressen“, es nach den eigenen Ideen verändern. Als Philologe sei ihm Bauforschung gleichgültig.961 Im Institut anstellen werde er nur Dänen, von „Flüchtlingen“ habe er bezeichnenderweise nichts erwähnt, so dass auch für Otto Königsberger diese Möglichkeit wegfalle. Darüber hinaus empfand Ricke Langes Zudringlichkeit als peinlich, er werde das Haus verkaufen wollen, nur „nordische“ Ägyptologen einquartieren, an der Universität einen Verwaltungsrat einrichten, der die wissenschaftliche Verantwortung übernehmen solle. Dieser würde dann bestimmen, in welch geringem Umfang die Bauforschung finanziert werde und in welch großem die Archäologie. Das gesamte Finanzkapital des Instituts wolle er nach Dänemark transferieren. Aus all dem gehe deutlich hervor, dass es Lange nicht um die Rettung des Borchardt Instituts gehe, sondern um das zu erwartende großzügige Geschenk. Ruft man sich Langes schon in der Spätphase des Ersten Weltkriegs einsetzende Bemühungen zugunsten der Positionierung der dänischen Ägyptologie ins Gedächtnis, erscheinen Rickes Gegenargumente plausibel. Jahrelang verfolgte Lange das Ziel, Kopenhagen zum bedeutenden Standort der philologisch ausgerichteten Ägyptologie zu etablieren, auch unter Ausnutzung des erzwungenen Rückzugs der Deutschen infolge des Krieges. Erkennbar anders oder günstiger waren laut Ricke auch in den USA die Bedingungen nicht. Positiver lägen sie dagegen in England, denn dies sei im Begriff, ein eigenes Institut in Ägypten zu eröffnen, das möglicherweise mit dem Borchardt Institut verknüpft werden könne. Die Kosten für Archäologen würden dann von England getragen, die Bibliothek könne von allen genutzt werden. Auch seien die Engländer nicht solch kleinliche Verhandlungspartner. Ricke riet, mit Gardiner in Verhandlung zu treten. Da Ricke sich erklärtermaßen als Sachwalter Borchardt’scher Interessen verstand, kann davon ausgegangen werden, dass er ganz in dessen Sinne argumentierte und handelte, Kopenhagen und Harvard als mögliche Standorte des Instituts also ausschieden. Attraktiv erschien Oxford, und das nicht nur Herbert Ricke, sondern zuvor auch Ludwig Borchardt. Mit den dortigen Gegebenheiten war er vergleichsweise vertraut, innerhalb britischer Ägyptologenkreise genoss er eine hohe Reputation, zu etlichen dieser Kollegen pflegte er seit vielen Jahren vertrauensvolle Beziehungen, kannte zudem wichtige britische Behördenleiter bzw. Politiker. All dies war in Harvard und Kopenhagen nicht gegeben. Zusätzlich hielten sich in Oxford schon seit einiger Zeit aus Deutschland geflohene, Borchardt näher bekannte
961 Ricke an MB, 23. September 1938. SIK MB 76/5.
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Archäologen und Archäologinnen auf, so Paul Jacobsthal, Elise Baumgärtel, Käthe Bosse und Leonie Zuntz. All dies dürfte den Ausschlag dafür gegeben haben, dass Borchardt sich am 10. August 1938 von Zürich aus an Norman de Garis Davies wandte, davon ausgehend, dass diesem das politische Geschehen in Deutschland bekannt war einschließlich der „Göringschen Erlasse betreffs Anmeldung des Vermögens jüdischer Deutscher im In- und Auslande zwecks Beschlagnahme für den Vierjahresplan des 3. Reiches“.962 Dies sei nichts anderes als „Raub“, betonte Borchardt, und werde dadurch noch „verschlimmert“, dass „die zu Beraubenden noch weiter gehetzt“ würden, indem „das 3. Reich mit Italien und Ägypten dafür Verträge auf Rechtshilfe abgeschlossen hat“.963 Nicht nur fürchte er um die Existenz seines „Instituts für ägyptische Bauforschung und Altertumskunde“, sondern sehe voraus, dass er und seine Ehefrau zukünftig „in andern Ländern staatenlos herumirrend“ leben müssten. Glücklicherweise sei er finanziell so weit gesichert, dass man ihnen lediglich ihre in Deutschland und Ägypten liegenden Vermögen nehmen könne, alles andere aber vor dem Zugriff Deutschlands sicher sei. Nur werde man das Institut beschlagnahmen und vernichten. Es wäre „der Wissenschaft, der es auch nach unserm Tode, reichlich von uns bedacht, dienen sollte, verloren“. Um dies zu verhindern wolle er das Institut „einem mächtigen, von Einflüssen des 3. Reiches freien Staate geben und gleichzeitig das Bürgerrecht dieses Staates für uns beide erwerben“. Es sei höchste Eile geboten, „denn bei der Schlagartigkeit des 3. Reiches ist mit einer sehr schnellen Beschlagnahme in Ägypten zu rechnen“. Reisner und Lange bemühten sich sehr, und zwar primär „unsretwegen“, mit beiden stehe er gut. Nur seien die USA oder Dänemark keine machbaren Optionen, weil der Erwerb der Staatbürgerschaft sehr schwierig und langwierig sei, in Dänemark werde er frühestens im März 1939 möglich sein. Von Davies erbat Borchardt, bei den zuständigen britischen Stellen zu „sondieren“, ob sich „in England eine Möglichkeit schneller Erledigung finden“ ließe. „Nach dem mir vom hiesigen Generalkonsulat mitgeteilten Gewohnheitsregeln für solche Einbürgerungen sollte sich eine Möglichkeit finden, namentlich, da der Staatssekretär (Homeoffice?) allein darüber zuständig ist und keine Rechenschaft zu geben braucht. Mir scheint, dass durch Empfehlungen und U nterstützungen 962 LB an Gardiner. LB und MB wohnten im vornehmen Hotel „Bellerive au Lac“. GIO MSS AHG/42.34.19. Nicht korrekt ist demnach die Darstellung von Cornelius v. Pilgrim: Ludwig Borchardt, 2013, S. 260, dass sich erst MB an die britischen Ägyptologen wandte, und zwar nach dem Tod ihres Ehemannes. 963 Dabei bezog er sich auf eine Information Reisners, wonach eine Übereinkunft zwischen der ägyptischen und der deutschen Regierung getroffen worden sei bezüglich des Status der Deutschen in Ägypten, womit allein das deutsche Konsulat befasst sei, und dem Besitz Deutscher in Ägypten. Zitiert nach Cornelius von Pilgrim: Ludwig Borchardt, 2013, S. 259.
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unserer englischen Freunde es da doch möglich sein könnte, die Angelegenheit zu einem schnellen und guten Schluss zu bringen“. Zu diesen Freunden rechnete Borchardt den Diplomaten Rennell Rodd (1858–1941),964 der sich nach dem Ersten Weltkrieg sehr für ihn und das deutsche Institut eingesetzt habe, Sir Henry Lyons (1864–1944),965 Alan Gardiner und die Mitarbeiter des Griffith Instituts. Als einen seiner engsten Freunde betrachtete er Davies. Am 15. August 1938 wollten Ludwig und Mimi Borchardt in London eintreffen, um sich mit diesem und andern Vertrauten zu beraten. Bis dahin sollte Davies Stillschweigen bewahren, vor allem gegenüber „Plappermäulern“ wie beispielsweise Hugo Ibscher. Die formale Transferierung des Instituts nach Großbritannien bzw. Oxford war aus verschiedenen Gründen naheliegend, nicht zuletzt, weil wenig Gefahr bestand, dass es von philologisch orientierten Ägyptologen vereinnahmt werden würde. Die Organisation der Ägyptologie hatte in Großbritannien einen anderen Zuschnitt als in Deutschland, was dem Institut zugute kommen würde. Deutlich später als in Deutschland entstand in Großbritannien eine institutionalisierte Archäologie (einschließlich Ägyptologie), bis ins frühe 19. Jahrhundert war sie ausschließlich auf die Unterstützung durch private Sponsoren angewiesen, weshalb die Pflege von Netzwerken eine bedeutende Rolle spielte.966 Trotzdem besaß archäologische Forschung für Großbritannien einen hohen Stellenwert; sie sorgte für internationale Reputation, stellte eine wichtige kulturelle Transferleistung dar und ein Mittel, „national or political aims“ zu verfolgen. Mit der überwiegend privaten Finanzierung unterschied sich die britische Archäologie erkennbar von der primär staatlich finanzierten Deutschlands und Frankreichs, war aber der amerikanischen ähnlich.967 Erstmals konnte sich 1907 in Großbritannien ein universitäres Institut für Archäologie etablieren, das ebenfalls überwiegend von privaten Geldgebern unterhalten wurde.968
964 Studierte am Balliol College Oxford, ab 1883 im diplomatischen Dienst, war an den britischen Botschaften in Berlin, Rom, Athen und Paris tätig, 1894–1902 Generalkonsulat Ägypten, während des Ersten Weltkriegs als Vertreter Großbritanniens in Italien, 1921 Mitglied der britischen Völkerbunddelegation. 965 Geologe und Direktor des Science Museum London. 1890 in Kairo. 966 Dies änderte sich mit der Gründung der Britischen Akademie (1902) und des Leverhulme Trust (1925) teilweise. Amara Thornton: Sponsorship, 2013, S. 2, 4. 967 Von deutscher und französischer Seite wurde die von Wirtschaftsmagnaten und Privatpersonen gesponsorte britische Archäologie mit Misstrauen beobachtet, wenngleich auch deutsche Grabungen oftmals nur mit Hilfe von privaten Geldgebern möglich waren. Das Misstrauen resultierte in der Hauptsache daraus, dass die britische Archäologie erklärtermaßen auch politische Ziele verfolgte. Amara Thornton: Sponsorship, 2013, S. 4, 8. 968 Gegründet von John Garstang an der Universität Liverpool (hatte dort 1907 eine Professur für Methodik und Didaktik). Er leitete zudem Grabungen in Ägypten, Asien, Sudan und
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Dies erklärt, weshalb dem Industriellen Robert Mond, ab 1903/04 einer der Hauptsponsoren, eine so eminent wichtige Position innerhalb der britischen Archäologie/Ägyptologie zuwuchs. Die eigentliche, im Vergleich zu Deutschland späte Geburtsstunde der britischen Ägyptologie steht in enger Verbindung mit Amelia Ann Blanford Edwards, die, angeregt von einer Ägyptenreise 1873/74, am University College London (UCL) den Lehrstuhl für Ägyptologie – den ersten in Großbritannien überhaupt – installierte bzw. ihn testamentarisch verfügte.969 Auf ihre Initiative hin entstand 1882 der „Egypt Exploration Fund“ (EEF), später Egypt Exploration Society“ (EES) genannt, der 1883 den Ägyptologen William Mathew Flinders Petrie zu Grabungen ins Nildelta sandte. Petrie besetzte nach Edwards Tod, 1892, den Lehrstuhl für Ägyptologie am UCL, stellte dort als Lehrbeauftragte zudem die Oxfordabsolventen Francis Llewellyn Griffith, Walter Ewing Crum und James Quibell an.970 Griffith wechselte 1901 als „reader“ nach Oxford, zu seinen späteren Studenten gehörten u. a. Alan H. Gardiner und Herbert Thompson.971 Oxford entwickelte sich mit Griffith rasch zu einem Zentrum der britischen Ägyptologie. Tätig waren dort u. a. Percy Newberry, Norman de Garis Davies und seine Ehefrau Nina sowie später Alan Gardiner, um nur diejenigen zu nennen, mit denen Borchardt in enger Beziehung stand. Zweites Zentrum blieb das UCL in London; es galt 1913 als „all-round centre for Egytian archaeology and philology“.972 Nachfolger Petries973 wurde 1933 der alästina, bildete zwischen 1919 und 1926 als erster Direktor der British School of Archaeology in P Jerusalem zukünftige Archäologen aus, arbeitete als Direktor des Department of Antiquities in Palästina eine Antikengesetzgebung aus. Sponsoren waren u. a. die Industriellen Henry Wellcome, William Hesketh Lever, Ludwig und Robert Mond sowie John Brunner von der Brunner&Mond Company in Liverpool. Amara Thornton: Sponsorship, 2013, S. 5–7. 969 Laut testamentarischer Bestimmungen sollte dieser Lehrstuhl nach Oxford verlegt werden, falls den Bestimmungen nicht entsprochen wurde. Ebenso sollte die ägyptologische Sammlung Edwards von London ins Ashmolean Museum nach Oxford gebracht werden. Rosalind M. Janssen: The First, 1992, S. 1, 3. In Deutschland wurde bereits 1846 der erste Lehrstuhl für Ägyptologie (Berlin) eingerichtet. 970 Petrie war bereits 1880 in Ägypten gewesen, um die Pyramiden von Giza zu untersuchen. Griffith nahm ab 1884 mehrfach an Grabungen zusammen mit Petrie und Naville in Ägypten teil, reiste 1886 mit Petrie durch Oberägypten. Ab 1888 war er Assistent im „Department of British and Medieval Antiquities and Ethnography“ am British Museum. Crum studierte nach seinem Studium in Oxford zwei Jahre in Berlin, spezialisierte sich auf Koptisch. Rosalind M. Janssen: The First, 1992, S. 1, 4, 6. 971 Thompson war einer der führenden zeitgenössischen Demotisten. Rosalind M. Janssen: The First, 1992, S. 13. 972 Rosalind M. Janssen: The First, 1992, S. 14. 973 1934 ließ er sich von dem Maler Philip de Laszlo porträtieren. Dessen Sohn spielte für Borchardts Nichte Eva Borchardt-Rothschild eine wichtige Rolle bei ihrer Emigration. Rosalind M. Janssen: The First, 1992, S. 26.
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Oxfordabsolvent und Griffith-Schüler Stephen Glanville, der 1923 erstmals an Grabungen für die EES in Tell el-Amarna teilgenommen hatte.974 Aus dem UCL gingen führende Vertreter des Fachs hervor, so Myrtle Broome, Guy und Winifred Brunton sowie Reginald Engelbach; Sidney Smith wurde „Keeper of Oriental and Egyptian Antiquities“ am British Museum, später Professor für komparative und semitische Sprachen an der „School of Oriental and African Studies“ an der London University.975 Am UCL studierte ab 1921 auch der Niederländer Henri Frankfort, der später für die EES Grabungen im oberägyptischen Tell el-Amarna, in Abydos und Armant durchführte.976 Nach 1933 setzte er sich, selbst jüdischer Herkunft, für verfolgte Archäologen ein, etwa für die Scharff-Schülerin Käthe Bosse. Zu dem August-Treffen 1938 von Borchardt mit seinen britischen Kollegen sollte es nicht mehr kommen. Borchardt starb wenige Tage zuvor auf dem Weg von der Schweiz nach Paris, von wo aus er hatte nach England weiterreisen wollen. Davon aber wusste Alan Gardiner noch nicht, als er am 15. August 1938 einen Brief an Borchardt richtete und damit bestätigte, dass dieser auf die richtigen Unterstützer gesetzt hatte.977 Intensiv hatten sich Gardiner, Davies und andere britische Kollegen beraten und einen validen Plan ausgearbeitet, den sie Borchardt unterbreiten wollten. Größte Hürde war auch in England das Erlangen der Staatsbürgerschaft. Laut Gardiner hatte sich die Zahl der Anträge derart erhöht, dass an Ausnahmen kaum noch gedacht werden konnte, es sei denn, man habe Bedeutendes einzubringen, was bei Borchardt wahrscheinlich der Fall sei. Dabei dachte er an Folgendes: Etwa 1936 war das Foreign Office auf ihn zugekommen mit der Frage, ob er jemanden kenne, der eine „British School of Archaeology“ in Ägypten finanzieren könne. Zu dieser Zeit hatte Gardiner noch keinen diesbezüglichen Vorschlag machen können, aber versprochen, sich umzutun. Nun schlug er Borchardt vor, sein Haus, seine Bibliothek und genügend Finanzmittel zu benanntem Zweck zur Verfügung zu stellen, wobei er sein Anrecht, lebenslang als Institutsdirektor zu fungieren, nicht aufgeben müsse. Als Gegenleistung werde er sofort die 974 1935 erhielt er den Professorentitel und ein Jahresgehalt von 1000 £, seine Position bekleidete er bis zu seinem Tod im April 1956. Rosalind M. Janssen: The First, 1992, S. 27 f, 31, 53. 975 In den 1930er Jahren kopierte Myrtle Broome zusammen mit Amice Calverly die Wandgemälde von Seti I in Abydos. Engelbach unterstützte Petrie bei seinen Grabungen 1911–14; später wurde er „Chief Keeper“ des Kairo Museum. Rosalind M. Janssen: The First, 1992, S. 14. 976 Nach seiner Promotion im niederländischen Leiden war Frankfort von 1929 bis 1937 Leiter der Irak Expedition des Oriental Instituts, danach Professor in Chicago, ab 1959 Direktor des Warburg Instituts und Professor für Geschichte der vorklassischen Antike an der Universität London. Rosalind M. Janssen: The First, 1992, S. 23. 977 GIO MSS AHG/42.34.17.
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aturalisation erhalten. Damit das Ganze nicht wie ein Trick aussehe, woraus N sich eventuell eine Angriffsfläche für Deutschland und Ägypten ergebe, sollte Borchardt das Ganze als Dankbarkeits-Geschenk deklarieren. Beim Foreign Office hatte Gardiner bereits einen Hinweis auf die mögliche neue Entwicklung gegeben, allerdings ohne Namensnennung. Für die Zeit von Borchardts Aufenthalt in London hatte Gardiner Treffen mit einer einflussreichen Persönlichkeit des Foreign Office arrangiert – gemeint war wohl Stephen Gaselee (1882–1943)978 -, wollte bei der Gelegenheit von der Sache berichten und dann Borchardt zu einem Gespräch mit dem Betreffenden dazubitten. Das Vorhaben war realistisch, die schnelle Naturalisation von Ludwig und Mimi Borchardt schien ebenso in greifbarer Nähe wie der formale Transfer des Borchardt Instituts nach Oxford. Borchardts Tod machte diese Pläne zunichte oder zumindest schwierig, denn mit seiner Präsenz und Reputation stand und fiel die Zustimmung sowohl des Foreign als auch des Home Office. Im Foreign Office war der Name Borchardt offenbar doch durchgesickert, vermutlich über E. Harding vom Colonial Office.979 Gaselee empfahl, dass Mimi Borchardt so schnell wie möglich nach England kommen und die Angelegenheit mit ihm und Gardiner beraten sollte. Ob das Home Office ihr sofort die Staatsbürgerschaft als Gegenleistung für ihr ‚Geschenk‘ verleihen würde, war fraglich. Vielmehr war zu vermuten, dass das Office auf die übliche Regelung bestehen würde, nämlich dass der Antragsteller während der vergangenen acht Jahre mindestens vier auf britischem Territorium verbracht haben musste. Möglicherweise werde man ihr das Wohnrecht in England oder andern britischen Ländern zugestehen. Diese Fragen müssten zwischen den entsprechenden Stellen in England und Ägypten diskutiert werden. Im Übrigen, so vermerkte Gaselee, habe er bisher noch von keinen bilateralen Abkommen zwischen Ägypten und Deutschland gehört, die letzterem den Zugriff auf den Besitz von in Ägypten lebenden Deutschen ermögliche. Gaselee wollte der Sache nachgehen – „I hope that it is not true“. Doch blieb das Borchardt-Projekt „difficult and complicated“.980 Auf sich allein gestellt bedurfte Mimi Borchardt, die sich vollkommen am Ende wähnte,981 besonders der Unterstützung seitens Gardiner. Denn es türmten sich immer neue und unerwartete Hindernisse auf. Gardiner und Davies hatten die Rollen, die das Foreign und das Home Office vor allem nach dem Tod Borchardts spielten, falsch eingeschätzt und unterschätzt. 978 Gaselee war Diplomat, Schriftsteller und Bibliothekar, im Foreign Office „keeper of the papers“. 979 Gaselee an Gardiner, 17. August 1938. GIO MSS AHG/42.34.16. 980 Gaseleee an Gardiner, 18. August 1938. GIO MSS AHG/42.34.15. 981 MB an Else Oppler-Legband, 13. September 1938. SIK MB 70/7.
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Verzweifelt wandte sich Mimi Borchardt an Gardiner, denn „das Einzige, was mich überhaupt jetzt aufrecht erhält ist, dass sein Lebenswerk erhalten bleibe“.982 Sie wusste ebenso wie Herbert Ricke,983 dass sie in Davies und Gardiner die treuesten Unterstützer hatte. Am 23. August 1938 riet Davies ihr, zuerst die Erbschaftsangelegenheit zu regeln.984 Denn mit Brief von demselben Tag hatte sie ihm berichtet, sie erwarte jemanden aus Kairo – gemeint war der von Reisner empfohlene Edward Hyam985 -, der festgestellt habe, dass die Erbschaft noch nicht endgültig geregelt sei. Glücklicherweise hatte Ludwig Borchardt vorausschauend gehandelt. Schon vor der geplanten Englandreise hatte er, wissend, dass Eile geboten war, „der ‚Stiftung‘, von der er Ihnen schrieb, und die vor 10 Jahren von uns errichtet wurde, als eine ‚Schweizer Stiftung‘, jetzt schon übertragen das, was sie erst nach unserem Tode testamentarisch erhalten sollte“. In der Stiftungsurkunde seien die Bedingungen formuliert, dass sie und ihr Ehemann Zeit ihres Lebens die Nutznießung der Einkünfte aus den Wertpapieren behielten. Daraus sei das Institut zu unterhalten. Zudem bestünden Legate für die Zeit nach ihrem Tod, die aber einen bestimmten Prozentsatz des Vermögens nicht überschritten. „Außerdem enthält die Stiftungsurkunde noch die Bedingung, dass die Stiftung derjenigen wissenschaftlichen Institution übertragen werden soll, deren Staat uns in seine Gemeinschaft aufnimmt“. Die Übertragung auf die Schweiz sei nur als Zwischenlösung gedacht, „um der Gefahr zu entgehen, von der Ludwig Ihnen schrieb, und die er so, wie Sie ja auch, fürchtete. (…) Eine Schweizer ägyptologische Stiftung kann ja nur eine Zwischenlösung sein, weil für Ägyptologie hier kein Feld ist, und das Erwerben der Schweizer Nationalität heute unmöglich“. Des Weiteren sei ihr Ehemann damit beschäftigt gewesen, die Satzungen der Stiftung den neuen Bedingungen gemäß umzuarbeiten. Diese Arbeit habe er nicht mehr vollenden können. Diese Satzungen bezögen sich auf die Arbeit des „Instituts für ägyptische Bauforschung und Altertumskunde“, auf die Arbeitsweise, die Art, wie die Mitarbeiter zu wählen seien, auf Stipendiaten, Grabungsmöglichkeiten, die Bibliothek. Als seinen Nachfolger habe Borchardt Herbert Ricke vorgesehen. All dies sollte bei dem geplanten Englandaufenthalt mit Davies und den „andern dafür in Betracht kommenden Freunden und Stellen besprochen werden“. Über den Vertrag zwischen Ägypten und Deutschland sei sie zu ungenau unterrichtet.986 982 MB an Gardiner, 24. August 1938. GIO MSS AHG/42.34.12. 983 Ricke an MB, (Kairo) 23. September 1938. SIK MB 76/5. 984 MB an Davies, 24. August 1938. GIO MSS AHG/42.34.11. 985 „Barrister-at-law“, verheiratet mit Edith, wohnte in Kairo-Zamalek (rue Shagaret-el-Dor). Le Mondain Egyptien, 1939, S. 216. 986 Es gehe wohl um einen im Mai 1938 geschlossenen Konsularvertrag zwischen Deutschland und Ägypten, der die Konsulargerichtsbarkeit aufhebe, der aber dem Konsul einige wichtige Kompetenzen lasse.
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Wenige Tage später reiste sie für vier Tage nach London, um sich mit Gardiner, Davies und andern Vertrauten zu beraten. Das Treffen war ihr ungemein wichtig, „aus dem Gefühl heraus, dass es brieflich unmöglich ist, die grundsätzlichen Fragen mit all’ ihren Schwierigkeiten zu behandeln; dass es dazu erst einmal einer mündlichen Aussprache bedarf, wie mein Mann sie ja auch suchte“.987 Am 1. September 1938 traf sie sich in Zürich erneut mit dem eigens aus Ägypten angereisten Juristen Hyam, verhandelte auch weiter mit Lange (Kopenhagen), der ihr aber zunehmend „kleinlich“ vorkam und von dem sie schließlich Abstand nahm.988 Aussichtslos erschien das Oxford-Projekt noch nicht, sogar Gaselee war optimistisch, nur Davies eher pessimistisch.989 Gaselee versprach, auf das „Egyptian Department“ des Foreign Office einwirken und auf die Notwendigkeit von Mimi Borchardts Naturalisation verweisen zu wollen. Von der britischen Botschaft in Kairo erwartete er baldige positive Nachrichten, obwohl während der Sommermonate die Botschaft nach Alexandria verlegt und kaum gearbeitet wurde. Wochen zermürbenden Wartens vergingen, ohne dass irgendeine Bewegung in die Angelegenheit kam. Unruhig fragte Mimi Borchardt bei Gardiner wegen möglicher neuer Entwicklungen an, ob die Herren des Foreign Office sich irgendwie bezüglich der von ihr hinterlegten Unterlagen geäußert hätten.990 Gardiner hakte bei Gaselee nach, der ihm nun allerdings mitteilte, dass „things do not look very hopeful“.991 Das Home Office hatte signalisiert, im Fall von Mimi Borchardts beantragter Naturalisation keine Ausnahme machen zu wollen, außer sie wäre bereit, sich ein Haus auf Zypern zu kaufen und dort die meiste Zeit zu verbringen. Als Ausweg betrachtete Gaselee die Ausstellung eines „Nansen Passes“.992 Aus Kairo sei man über das Testament Ludwig Borchardts informiert worden, anscheinend vertrete der Kairener Jurist Hyam Mimi Borchardt bezüglich ihrer Besitzungen, habe das Testament bereits dem deutschen Konsulat übergeben 987 MB an Gardiner, 27. August 1938. GIO MSS AHG/42.34.8. 988 MB an Ricke, 19. September u. 26. September 1938. SIK MB 76/5. 989 Gaseleee an Gardiner, 27. August 1938. GIO MSS AHG/42.34.7. 990 MB an Gardiner, (Zürich) 17. September 1938. GIO MSS AHG 42.34.6. 991 Gaselee an Gardiner, 24. September 1938. GIO MSS AHG 42.34.5. 992 Benannt nach Fridjof Nansen, Hochkommissar des Völkerbundes, gilt als Passersatz für staatenlose Flüchtlinge, eingeführt am 5. Juli 1922 und von 31, später 53 Staaten anerkannt, wurde von den Behörden desjenigen Staates ausgestellt, in dem sich der Flüchtling aufhielt, hatte eine Geltungsdauer von einem Jahr, gestattete die Rückkehr in das Gebiet des ausstellenden Staates. 1938 gab es rund 250.000 Inhaber des Passes. http://bio.bwbs.de/bwbs_biografie/ Nansen-Pass_G1207.html (28.03.2013); http://universal_lexikon.deacademic.com/179496/Nansenpass (28.03.2013).
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und sehe derzeit nicht die Gefahr, dass die deutschen Behörden die Konfiskation von Borchardts Besitz anstrebten. Mimi Borchardt war sich sicher, dass sie angesichts eines drohenden Krieges nicht mehr allzu lange in der Schweiz (Zürich) bleiben konnte, wenn sie die Rückkehr nach Ägypten noch möglich machen wollte.993 Ihre Hoffnung auf Erlangen der britischen Staatsbürgerschaft schwanden zusehends.994 Immerhin hatte sie noch ihren deutschen Pass, „aber man kann ja natürlich nicht wissen, ob der einem, wenn man sich irgend einem Befehl widersetzt, nicht entzogen wird. Vielmehr kann man wissen, dass das der Fall sein wird“.995 Diese Befürchtung wurde auch dadurch genährt, dass Otto Königsberger befohlen worden war, Deutschland bis Mitte Oktober 1938 zu verlassen.996 Ende September 1938 plante sie die Rückkehr „nach Hause“, nach Ägypten, wohl wissend, dass es immer weniger Schiffs- oder Flugmöglichkeiten gab.997 In Kairo war noch nicht alles geregelt, aber die Konfiskation des Instituts schien nicht zu befürchten zu sein, umso mehr ein Krieg. In Kairo standen Mimi Borchardt sowohl Herbert Ricke als auch George Reisner stets zur Seite. Letzterer versprach, sich schlimmstenfalls zusammen mit Schlesinger um das Institut kümmern zu wollen.998 Wie Davies befürchtet hatte, waren Gaselees weitere Bemühungen wenig erfolgreich. Ein Nansen-Pass kam für Mimi Borchardt nicht in Betracht, weil sie noch die deutsche Staatsbürgerschaft besaß.999 Erst wenn ihr diese genommen würde, könnte sie diesen Pass beantragen, so Gaselee, was ihr freilich nicht zu wünschen sei, auch weil sie „in theory a German“ bliebe, tatsächlich aber staatenlos wäre. Gaselee sah nur noch die Möglichkeit, dass Mimi Borchardt entweder ihren Wohnsitz auf Zypern nahm oder die ägyptische Staatsbürgerschaft
993 „Inzwischen weiß man ja überhaupt nicht, was der nächste Tag bringen wird – nur kann es – geschehe was da wolle, nichts Gutes mehr sein.“ MB an Gardiner, 25. September 1938. GIO MSS AHG/42.34.4. MB an Else Oppler-Legband, (Zürich, Hotel Bellerive au Lac) 3. Oktober 1938. MB konnte per Zufall für den 6. Oktober 1938 eine Schiffspassage erlangen. In Venedig wurde sie von Else Oppler-Legband verabschiedet. SIK MB 70/7. 994 Die Sache mit dem Nansen-Pass verstand sie nicht so recht, konnte darin kein Äquivalent für die Naturalisation sehen. 995 MB an Gardiner, 29.September 1938. GIO MSS AHG/42.34.3. 996 Die genaueren Hintergründe kannte MB nicht, auch Königsberger war von der Anordnung überrascht. Er wollte dann nach Davos. MB an Ricke, 21. September 1938. SIK MB 76/5. 997 MB an Ricke, 30. September 1938. SIK MB 76/5. 998 Ricke an MB, 29. September 1938. Ricke wollte auf keinen Fall nach Deutschland zurückkehren, ganz sicher nicht auf dessen Seite kämpfen, sondern nach Griechenland fliehen. Seine Familie wollte er dann bei Reisner lassen. SIK MB 76/5. 999 Gaselee an Gardiner, 26. Oktober 1938. GIO MSS AHG/42.34.2.
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beantragte – wozu ihr auch Reisner, Meyerhof und Ricke schon geraten hatten.1000 Keine von beiden war eine optimale Lösung. Sollte Mimi Borchardt Ägypterin werden, würde laut Stiftungssatzung das Institut dem ägyptischen Staat zufallen, was ihr aber eventuell lieber wäre als die Schweiz oder Deutschland, so Gaselee. Zu ihren Gunsten erwirken konnte er auch zukünftig nichts. Das Home Office beharrte laut Gardiners Schreiben vom 15. Dezember 1938 weiterhin auf den formulierten Bedingungen zur Erlangung der britischen Staatsbürgerschaft, für Mimi Borchardt, die sich im Laufe ihres Lebens immer nur für kürzere Zeit in England aufgehalten hatte, waren sie unerfüllbar.1001 In Ägypten beruhigten sich dagegen die Gemüter, das Institut schien außer Gefahr, war laut Mimi Borchardt dort nicht schlechter gestellt als in europäischen Ländern. Anderslautenden Gerüchten zum Trotz besitze der deutsche Konsul in Ägypten keine Jurisdiktionsrechte, so dass sie gerichtlich lediglich von Ägypten belangt werden könne, also nur bei „kriminellen Fällen“. Es blieb aber die Unsicherheit über die zu erwartende zukünftige Entwicklung, man war gewarnt angesichts der „unfasslichen“ und unerwarteten Dinge, die in den Monaten zuvor geschehen waren. Dies war für Mimi Borchardt die Veranlassung, entgegen ihrer noch in London getanen Äußerungen die ägyptische Staatsangehörigkeit zu beantragen.1002 Einfach war auch dieses Vorhaben nicht, denn in Ägypten waren zu dieser Zeit Naturalisationen untersagt, man arbeitete an einer diesbezüglich neuen Gesetzgebung. „An höherer Stelle“ versicherte man ihr, das neue Gesetz werde auf sie positive Anwendung finden. Wann es erlassen werde, wisse man angesichts der Langsamkeit der ägyptischen Behörden freilich nicht. Mimi Borchardt hoffte, es geschehe, bevor das Institut von „anderer Seite (…) doch noch zerstört wird“. An Ägypten durfte das Institut niemals fallen, das stand für sie fest. Deshalb überlegte sie zusammen mit Ricke, „ob wir nicht doch noch in irgendeiner Form eine Abmachung mit englischen dafür in Frage kommenden Stellen treffen könnten?“.1003 Wenn schon das Foreign Office dafür nicht mehr in Frage käme, dann doch eventuell eine Universität1004 oder ein anderes Institut. Das wäre dann 1000 Ricke an MB, 23. September 1938. Ricke gab zu bedenken, das mit der ägyptischen Staatsangehörigkeit MB’s eventuell die Einreisegenehmigung für weitere Mitarbeiter schwierig würde. SIK MB 76/5. 1001 MB an Gardiner, 28. Dezember 1938. GIO MSS AHG/42.33.11. 1002 MB an Gardiner, (Kairo) 28. Dezember 1938. GIO MSS AHG/42.33.11. Unzutreffend ist demnach die von Cornelius v. Pilgrim: Ludwig Borchardt, 2013, S. 262 getroffene Feststellung, MB habe „die Frage einer neuen Staatsbürgerschaft“ nicht weiter verfolgt. 1003 MB an Gardiner, (Kairo) 28. Dezember 1938. GIO MSS AHG/42.33.11. 1004 LB hatte die Angliederung des Instituts an eine Universität stets abgelehnt, wie Ricke an MB schrieb (23. September 1938). SIK MB 76/5.
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allerdings keine „vollkommene Überführung“, wie man ursprünglich geplant habe, sondern lediglich eine Beteiligung in irgendeiner Form „(nicht finanziell, vielleicht durch Sendung eines Stipendiaten oder so ähnlich) und die Interessierung ihres hiesigen Konsuls, später könnte das natürlich noch ausgebaut werden, was genau überlegt und besprochen werden müsste – selbstverständlich auch mit dem juridischen Ratsmitglied der jetzigen Schweizer Stiftung“. Auf diese Weise könnten das Werk und die Tradition ihres Mannes gewahrt, zugleich eine nützliche Arbeit für England geleistet werden. Weiterhin stand Gardiner mit Rat und Tat zur Hilfe, auch er wollte das Borchardt-Projekt noch nicht verloren geben. Im Sommer 1939 wollten er und Mimi Borchardt sich nochmals treffen, vorausgesetzt das „Grundsätzliche“ wäre bis dahin geklärt. Mimi Borchardt war dem britischen Kollegen ihres Ehemannes enorm dankbar, bot ihm vielleicht auch deshalb die Abusir-Papyri1005 zum Kauf an, Kostbarkeiten aus dem Besitz ihres Mannes, an denen Gardiner schon lange sehr interessiert war.1006 Die Papyri befanden sich im Safe einer Schweizer Bank, wo sie auch fürs erste bleiben sollten. Keinem andern Ägyptologen wollte Mimi Borchardt die Papyri lieber überlassen als Gardiner, bot ihm an, sich die Sache in Ruhe zu überlegen. Tatsächlich benötigte Gardiner diesen zeitlichen Spielraum, denn ihm fehlte ausnahmsweise das für den Kauf erforderliche Finanzkapital. Sein Vermögen setzte er für die Rettung der jüdischen Familie seiner österreichischen Ehefrau ein, was für Mimi Borchardt kein fremdes Unterfangen war. Sie hoffte, Gardiner 1005 Erste Teile der Abusir-Papyri tauchten Ende des 19. Jahrhunderts auf, wurden von den Ägyptologen Petrie, Maspero und Naville erworben. Während der Grabungen LB’s in Abusir wurden 1903 weitere Papyri entdeckt. Wann genau oder ob überhaupt Gardiner die Papyri erwarb, lässt sich nicht feststellen. Das British Museum (London) erwarb sie 1950 mit der Angabe „purchased from Prof. Ludwig Borchardt“. Als vorheriger Besitzer ist Henri Edouard Naville angegeben. http://www.britishmuseum.org/research/search_the_collection_data... (28.03.2013). 1006 Am 14. August 1934 hatte LB bereits wegen dieses Naville’schen Teils der Abusir-Papyri mit Gardiner verhandelt. Am 6. August 1938 schrieb er ihm, die „Sachlage“ habe sich seit ihrer letzten Besprechung völlig verändert, Gardiner könne die Papyri nun haben. Ursprünglich hatte LB sie dem Berliner Museum geben wollen, was aber nicht mehr in Frage kam. Dass er sie selbst bearbeiten könnte, hielt er für unrealistisch. Laut Navilles Zählung handelte es sich um 30 Bruchstücke. Ibscher hatte sie vor Jahren unter Glas (15 Platten) gelegt. LB selbst hatte nicht wenig für die Papyri bezahlt und veranschlagte als seinen Verkaufspreis 1.300 £. Laut LB befanden sich die Papyri in einer Schweizer Bank. Zudem bot LB „aramäische Leder“ für 1.500 £ an, die er auch schon Drioton angeboten hatte, der nicht den Mut gefunden hatte, sein „Komité“ zu fragen. Am liebsten wollte LB die Leder an das British Museum geben, Gardiner sollte vermitteln. LB wollte diese Dinge vor seinem Tod regeln. Seine Bedingung war, dass über den Erwerb und die Herkunft strenges Stillschweigen gewahrt wurde und Eugen Mittwoch als Erster darüber schreiben bzw. publizieren durfte. GIO MSS AHG/42.32.1, AHG/42.34.20.
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werde seine Verwandten „bald glücklich aus der Hölle“ retten können. Auch bei ihr rückte „durch die letzten entsetzlichen Geschehnisse“ zunehmend Anderes in den Vordergrund, „Viele, Viele“ wandten sich an sie um Hilfe, „und natürlich hilft man, wo man kann, aber es ist doch ein Tropfen auf den heißen Stein, und so Vielen kann man die erbetene Hilfe nicht einmal gewähren“. Die für Januar 1939 vorgesehene Grabungsreise nach Luxor, um den 1937/38 nicht ganz freigelegten Mut-Tempel fertig auszugraben, gab sie jedoch nicht auf. Unerwarteterweise bemühte sich Gaselee weiter um das Borchardt-Projekt, bat Lloyd brieflich, beim British Council anzufragen, ob dieses ein aktives Interesse an „Frau Borchardt’s proposed Archaeological Institute“ habe.1007 Das Council zeigte sich überaus zögerlich, verlangte präzisere Unterlagen. Gaselee schlug vor, dennoch nochmals an das Council heranzutreten, sobald Mimi Borchardt und Hyam ein „more definite scheme for British participation“ ausgearbeitet hätten. Parallel dazu liefen die Institutsarbeiten in Ägypten „ungestört“ weiter, wie Mimi Borchardt kurz vor ihrer Abreise in die Schweiz im Juni 1939 berichtete.1008 Es konnte sogar ein junger „architektonischer Mitarbeiter, dessen Bleibens in Deutschland nicht länger war“, angestellt werden. Die Rede war von dem aus Breslau stammenden Architekten Otto Stenzel, der laut Melderegister als ‚nur‘ „57 % arisch“ galt.1009 All dies ließ Mimi Borchardt hoffen, dass sie auch zukünftig von den deutschen Behörden nichts zu befürchten haben würde. In der Schweiz sollte noch im Juni 1939 eine Unterredung zwischen ihr, Herbert Ricke und dem Rechtsanwalt Peyer-Reinhardt, dem „augenblicklich einzigen Mitglied des Rats der Stiftung“, stattfinden. Denn der Stiftung obliege die Unterhaltung des Instituts, so Mimi Borchardt, und nur in Schaffhausen, dem Sitz der nunmehr Schweizer Stiftung, könne sie alle diese und das Institut betreffende juristischen Fragen besprechen. Diesbezüglich sei Gaselee, zu dem Gardiner seinerzeit die Verbindung hergestellt hatte, falsch unterrichtet. Hyam sei für diese Dinge nicht zuständig, sondern nur mit der Nachlassregelung in Kairo befasst. Mimis Borchardts Hauptinteresse war, dass das Institut kein „deutsches werden kann und darf, es nur einzig und allein der Wissenschaft als solcher, wie mein Mann es wollte, geweiht sein soll“. Dennoch sollte die Verankerung in der Schweiz ihrer Auffassung nach nur eine vorläufige sein, denn dort sei die „Basis für die ägyptologische Wissenschaft zu 1007 Gaselee an Gardiner, 21. April 1939. GIO MSS AHG/42.34.1. 1008 Ihre Adresse in der Schweiz: c/o Prof. Rubensohn, Dufour-Haus, Dufourstr. 42, Basel. MB an Gardiner, 8. Juni 1939. GIO MSS AHG/42.33.10. 1009 Geb. 20. Mai 1913, Sohn von Julius Stenzel (1883–1935, Ordinarius für Antike Philosophie, Universität Kiel) und Berta St.-Mugdau, bis Februar 1939 in Wiesbaden. Seine Meldung beim Konsulat datiert vom 7. März 1939. PA AA Kairo-Gesandtschaft 2a.
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schmal“. Sie wollte „Mittel und Wege suchen und finden, wie sie nach meinem Tod verbreitert werden kann“. Dabei dachte sie vor allem an England, „wo alle Voraussetzungen bestehen“. Allerdings könne sie nur von Peyer-Reinhardt erfahren, wie dies juristisch zu bewerkstelligen sei. Ob und unter welchen Bedingungen diese Planung auch von englischer Seite begrüßt werde, wollten Mimi Borchardt und Herbert Ricke im Juli 1939 in London mit Gardiner besprechen, dabei auch das Papyri-Thema nochmals aufgreifen. Monatelang kreisten Mimi Borchardts Gedanken in der Hauptsache um das Institut bzw. die Sicherung von dessen Existenz. Das Lebenswerk Ludwig Borchardts sollte erhalten und gerettet werden, dies betrachtete sie auch deshalb als ihre „Pflicht“, weil sie damit die „Tradition aufrecht erhalten“ wollte und nicht alles untergehen ließ „in Kampf und Gewalttaten“. Zaghaft hoffte sie, dass der „Höhepunkt der Krise der Ethik“ erreicht sei, vielleicht sogar schon überschritten, wollte dann aber beim Gedanken an die vielen Menschen, die bereits „in jeder Beziehung heimatlos geworden“ waren, ihren eigenen Worten kaum Glauben schenken. Die Ereignisse überstürzten sich und auch Gardiner fand nur wenig Zeit für Anderes als seine familiären Probleme.1010 Das für Juli 1939 anvisierte Treffen in London musste hinausgeschoben werden. Immerhin hatte Peyer, der Sohn und Nachfolger des plötzlich verstorbenen Peyer-Reinhardt, keine grundsätzlichen Bedenken gegen eine zukünftige Zusammenarbeit der Stiftung mit England geäußert.1011 Da eine detailliertere Planung zwar wünschenswert, aber zu diesem Zeitpunkt nicht allzu dringlich war, suchte auch Mimi Borchardt eine Möglichkeit, sich von den Strapazen der vergangenen Monate zu erholen. Für Mitte Juli 1939 mietete sie in Gstaad (Kanton Bern) das kleine „Chalet Alpina“, wo sie zusammen mit Friedel und Otto Rubensohn, denen wenige Monate zuvor die Ausreise von Deutschland in die Schweiz geglückt war, sowie dem Ehepaar Ricke einige Monate verbringen wollte. Als Termin für ein Treffen in London schlug sie das letzte Drittel des September 1939 vor, wobei sie einschränkte, dass man abwarten müsse, wie sich die politischen Ereignisse entwickelten – „ob bis dahin nicht schon die ganze Welt in Flammen steht“. Letzteres traf ein, und die Möglichkeit eines Treffens in England rückte in weite Ferne. Mimi Borchardt war die Rückkehr nach Ägypten versperrt, sie sollte das Land niemals wiedersehen. Im Kairener Institut hielten Otto Stenzel und Bernhard Grdseloff, der bis zu seinem Tod im Jahre 1950 dort blieb, die Arbeiten aufrecht.
1010 Im Juli 1939 glückte seinem Schwager und seiner Schwägerin die Ausreise aus Wien. MB an Gardiner, 6. Juli 1939. GIO MSS AHG/42.33.9. 1011 MB an Gardiner, 6. Juli 1939. GIO MSS AHG/42.33.9.
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Erst im Herbst 1941 meldete sich Mimi Borchardt von Zürich aus wieder bei Gardiner, nachdem sie am 26. September 1939 eine Radiosendung über den in London stattgefundenen „congress of all free men of science“ gehört hatte.1012 Ungeduldig warteten sie und Ricke darauf, „to once again take up work in a peaceful and better world“. Seinerzeit sei er, Gardiner, klüger gewesen als sie, indem er ihr Treffen auf den Herbst verschoben und überhaupt zu Vorsicht gemahnt habe. Nach Ägypten habe sie trotz aller Bemühungen nicht zurückkehren können, vor allem, weil Ricke die Einreise verweigert worden sei. Im Übrigen sei es sehr schwierig gewesen, in der Schweiz Aufenthaltserlaubnis zu erhalten, mehr noch für Ricke als für sie. Sein einziger Wunsch sei, bald nach Ägypten zurückkehren und seine Arbeit fortsetzen zu können. Immerhin seien ihre Kairener Häuser und die Bibliothek in Ordnung, weil sie ja als Schweizer Besitz gälten. Außerdem lebten Freunde von ihnen – gemeint war das Ehepaar Picard – im Haus. Wehmütig dachte Mimi an die Treffen mit altvertrauten Freunden, hoffte, sie ließen sich irgendwann wiederholen und vor allem, dass sie nicht völlig in Vergessenheit geriet. An alle, besonders aber an das Ehepaar Davies und an den tschechischen Ägyptologen Czerny trug sie Grüße auf. Mimi Borchardts Hoffnung auf eine Rückkehr nach Ägypten wurde enttäuscht. Mehr noch litt sie unter der erzwungenen Isolation. Zu alten Freunden, etwa George Reisner, konnte sie keinen Kontakt aufnehmen, nicht einmal brieflich. Den Fleck, auf dem sie lebte, empfand sie als unerträglich klein, auch wenn sie die Schweizer Natur liebte. Sie fühlte sich und war „encircled tightly“, wie sie Gardiner schrieb.1013 Erst im Mai 1945 glaubte sie wieder hoffen zu können, war überzeugt, bald nach Kairo zurückkehren zu dürfen.1014 Mit ihr hoffte Herbert Ricke, bei dem Mimi nach wie vor lebte. Um die berufliche Zukunft Rickes war Mimi Borchardt in erster Linie besorgt, sein freiwilliges Exil, die daraus erwachsenen Nachteile rief sie ins Gedächtnis, damit Gardiner zwecks Rückkehr Rickes nach Ägypten bei den entsprechenden britischen Behörden intervenierte. Ob sie hoffte, Gardiner würde auch in diesem Fall seinen Einfluss wirksam machen können? Ob sie voraussah, welche Rolle Gardiner innerhalb der Nachkriegs-Ägyptologie zuwachsen würde? Vermutlich ahnte sie es, weil sie seine internationale Reputation, seine Integrität, sein unbedingtes Interesse an der Wissenschaft, auch seine Bewunderung für die deutsche Ägyptologie sowie seine Nähe zu ihr kannte. 1012 MB Adresse in der Schweiz: Zürich 6, Bolleystr. 48. MB an Gardiner, 27. September 1941. GIO MSS AHG/42.33.8. 1013 In einem der Kairener Borchardt Häuser lebten noch im März 1945 ihre Freunde Picard, die ab und an telegrafisch berichteten. MB an Gardiner, 19. Januar 1942, 15. März 1945. GIO MSS AHG/42.33.6 u. 7. 1014 MB an Gardiner, 9. Mai 1945. GIO MSS AHG/42.33.4 u. 5.
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Nachdem Mimi Borchardt die deutsche Staatsangehörigkeit aberkannt worden war, hatte sie keine neue mehr annehmen können, war also staatenlos, wie ihr Ehemann geahnt hatte. Das Borchardt Institut war ein schweizerisches geworden und hatte deshalb während des Krieges einen geschützten Status. Gebäude, Mobiliar, Bibliothek und alles weitere blieben „untouched“. Nichts mehr ersehnte sich Mimi Borchardt, als dorthin mit Hilfe Gardiners zurückkehren zu können. Er sollte ihr und Ricke Visen besorgen, obwohl man nicht wusste, ob „enemy subjects“ grundsätzlich ferngehalten wurden.1015 Gardiner sollte ihr entsprechende Hinweise geben, entweder sofort oder nachdem er im Herbst in Ägypten gewesen sei. Des Weiteren setzte Mimi Borchardt sich mit dem amerikanischen Ägyptologen Harold Nelson (1878–1954)1016 vom Oriental Institute Chicago in Verbindung, damit er ihr bei der Freigabe ihrer gesperrten amerikanischen Konten helfe. Sukzessive begannen sich ab 1945 die lange versperrten Kontaktmöglichkeiten wieder aufzubauen, alte Bekannte wie der Ägyptologe Adriaan DeBuck (1892– 1959)1017 und seine Ehefrau aus dem niederländischen Leiden kamen zu Besuch und berichteten auch aus der Welt der Ägyptologen, was Mimi jahrelang bitter vermisst hatte.1018 Weil Gardiner mit den Vorbereitungen seiner Ägyptenreise und der Lösung familiärer Fragen zu tun hatte, reagierte er mit Verzögerung,1019 setzte sich aber für Mimi Borchardt und Herbert Ricke ein. Ob er dabei in der Hauptsache auf seine persönlichen sowie beruflichen Beziehungen zurückgriff und weniger auf offizielle Hilfe durch die englische Botschaft, wie Mimi Borchardt es gewünscht hatte, lässt sich nicht verifizieren, ist aber nicht unwahrscheinlich.1020 Mimi Borchardt ahnte, dass bedauerlicherweise „public official help is only offered,
1015 Die Schweizer Behörden hätten dies aufgrund der wissenschaftlichen Bedeutung des Borchardt-Instituts respektiert, schrieb MB. Auch sei ihr unbekannt, wie weit der englische oder der Einfluss von Ausländern wie Pierre Jouguet (1869–1949) in Kairo (französischer Hellenist und Ägyptologe, 1894 erstmals in Ägypten, wieder 1897 und 1901; 1928–1940 Professor an der Universität Kairo. Who-was-Who, 1995, S. 221) und Jean Capart (belgischer Ägyptologe, hielt sich während der 1920er Jahre häufig in Ägypten auf) in Ägypten noch eine Rolle spielte. 1016 Amerikanischer Ägyptologe, arbeitete 1924–1947 im Auftrag des Oriental Institute Chicago in Luxor. 1017 Niederländischer Ägyptologe, studierte u. a. bei Kurt Sethe in Göttingen, 1917–1921 bei Erman in Berlin. 1018 Das Ehepaar hatte sehr unter dem Krieg gelitten, ihn aber physisch heil überstanden. MB an Gardiner, 5. September 1945. GIO MSS AHG/42.33.3. 1019 Sein jüngster Sohn John war in japanische Gefangenschaft geraten. Es dauerte Monate, bis er im Herbst 1945 nach England zurückkehren konnte. 1020 MB an Gardiner, 30. Oktober 1945. GIO MSS AHG/42.33.2.
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if the country which offers it has some advantage“, obwohl Wissenschaft international sein sollte. In Wirklichkeit sei dies kaum der Fall, was sie gezwungen habe, das Borchardt Institut in der Schweiz anzusiedeln. Zukünftig aber solle das Institut international arbeiten, sowohl englische als auch solche Wissenschaftler unterstützen, deren Herkunftsland kein eigenes Institut in Ägypten unterhielt.1021 Da es Ende 1945 noch keinen Postverkehr zwischen der Schweiz und Deutschland gab, erreichten Mimi Borchardt so gut wie keine Nachrichten von dort, sodass sie Gardiner nicht über neuere Entwicklungen innerhalb der deutschen Ägyptologie unterrichten konnte. Gerüchteweise hatte sie erfahren, dass Alexander Scharff (1892–1950), früherer Assistent ihres Ehemanns, Dekan an der Universität München geworden war und Hermann Ranke (1878–1953)1022 seine Arbeit an der Universität Heidelberg wieder aufnehmen würde. Über den Fortgang der Arbeit am Berliner Wörterbuch wusste sie nichts, da sie seit Ermans Tod und Rubensohns Emigration keinerlei Kontakt mehr mit Berlin hatte. Den Niedergang der Wissenschaft infolge der nationalsozialistischen Herrschaft bedauerten sie und Gardiner gleichermaßen. Ebenso wie bei Georg Steindorff bewährte sich der Zusammenhalt innerhalb der internationalen Ägyptologenschaft auch bei Borchardt, als sein privates Forschungsinstitut drohte von den Nationalsozialisten geraubt zu werden. George Reisner verwandte sich bei der amerikanischen Regierung für seinen deutschen Kollegen, ebenso H.O. Lange bei der dänischen, wenngleich auch stark von Eigeninteressen gesteuert. Der Franzose Étienne Drioton überwand ebenfalls alte Konkurrenzmuster, unterstützte Borchardt und seine Ehefrau nach Kräften. Wirklich nachhaltig agierten die Briten, die seit jeher enge Bezüge zur deutschen Ägyptologie hatten; sie ließen in ihren Bemühungen auch nach Borchardts Tod nicht nach. Die während des Ersten Weltkriegs entstandenen gegenseitigen Ressentiments – Borchardt gerierte sich als vehementer Englandfeind, Davies als Deutschenfeind – gehörten endgültig der Vergangenheit an. Wesentliche Hürden waren die allenthalben zunehmend restriktiv gehandhabten 1021 Der Schweizer Ägyptologe Gustave Jéquier (1868–1946, studierte in Genf, ging als Franzö sischlehrer nach Assiut/Ägypten, studierte anschließend Ägyptologie in Paris; 1945–1972 arbeitete er fast ununterbrochen am Französischen Institut in Kairo. Who-was-Who, 2012, S. 577) unterstützte Ricke, stellte ihm seine Bibliothek zur Verfügung. Ob er angesichts seiner angegriffenen Gesundheit nochmals nach Ägypten gehen würde, war fraglich. Ihm konnte Ricke sich also nicht anschließen, wie Gardiner gehofft hatte. Andere Schweizer waren auf dem Weg, so Henri Wild (1902–1983, deutscher Ägyptologe, studierte in Halle und Berlin, ab 1923 angestellt an der Universität München. Who-was-Who, 2012, S. 491 f) und ein junger klassischer Archäologe, die beide am Institut Francais arbeiteten. MB an Gardiner, 27. Dezember 1945. GIO MSS AHG/42.22.1. 1022 Studierte in München und Berlin (bei Erman). Während der NS-Zeit lebte und arbeitete er in Philadelphia, kehrte 1942 nach Deutschland zurück. Who-was-Who, 2012, S. 455.
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inwanderungs- und Naturalisationsbedingungen. Im Fall von England verhinE derten sie nach Borchardts Tod den raschen Transfer des Instituts nach Oxford, mit Ausbruch des Krieges wurde er unmöglich, so dass das Institut trotz anderer Pläne von Ludwig und Mimi Borchardt letztlich bei der Schweiz verblieb, aber dem Zugriff der Nationalsozialisten entzogen war.
4.5.2 Wirklichkeiten des Exils – Beispiel Oxford The achievements of exile are permanently undermined by the loss of something left behind forever. (Edward W. Said „Reflections on Exile“, 2000)
Dass Ludwig und Mimi Borchardt auch und gerade Oxford als möglichen Standort ihres Instituts anstrebten, erscheint angesichts ihrer engen Verbindungen mit dort tätigen britischen Wissenschaftlern naheliegend. Die Stadt bot sich aber auch an, weil sie wie kaum eine andere geprägt war von akademischem Leben, angesehenen Colleges und wissenschaftlichen Einrichtungen.1023 Außerdem bestanden seit Jahrzehnten enge Beziehungen zwischen Oxford und einigen deutschen Universitätsstädten, etwa Heidelberg und Berlin. Neben London gehörte Oxford zu einem der gesuchtesten Emigrationsziele verfolgter Wissenschaftler, nicht zuletzt, weil es eine Fortsetzung der wissenschaftlichen Tätigkeit möglich zu machen schien, nicht wissend, dass die von Percy Newberry gemachte Bemerkung, vor der beruflichen Unterbringung und Versorgung geflohener deutscher Wissenschaftler müssten erst die britischen in Stellungen gebracht werden, durchaus repräsentativ war. Das Ehepaar Borchardt erreichten indes eher positive und vielversprechende Meldungen über Oxford, etwa jene der Geschwister Zuntz. Leonie Zuntz hatte wohnliche Aufnahme im „Somerville College for Women“ gefunden, ebenso die Gießener Archäologin Margarete Bieber (1879–1978), später die Borchardt bekannte Erman und Sethe Schülerin Elise Baumgärtel aus Berlin, die Scharff-Schülerin Käthe Bosse und die Klassische Philologin Lotte Labowsky.1024
1023 Thomas Weber: Our Friend, 2008, S. 17 f. 1024 Dort im Januar 1939: Gemma Barzisi (Gynakölogin, Italien), Käthe Bosse, Gertrud Hauser (Klassische Philologin, Österreich), Marie Jahoda (Soziologin, Österreich), Susanne Kann (Physiologin, Österreich), Gertrud Kwaszewska (Medizinerin, Österreich), Lotte Labowsky. Im Januar 1939 hielten sich nur Bosse, Jahoda und Labowsky in England auf, die andern noch in ihrem jeweiligen Heimatland. BLO SC MS SPSL 129/1. Im Frauen-College Lady Margaret Hall kam die Erziehungswissenschaftlerin Elisabeth Blochmann unter. BLO MS SC SPSL 77/2 + 3, 79/2.
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Weitere geflohene Wissenschaftler waren bereits in Oxford oder kamen im Laufe der späteren 1930er Jahre, so der Marburger Archäologe Paul Jacobsthal, die Klassischen Philologen Ferdinand Alexander, Carl Oskar Brink, Eduard Fränkel, Felix Jacoby, später Paul Maas, Rudolf Pfeiffer, Richard Walzer und S. Weinstock sowie der Orientalist Paul Kahle, die Philologen Fritz Heinemann, Georgij Katkov, F. Waismann und Edgar Wind.1025 Im Frühjahr 1939 hatten sich 27 aus Deutschland bzw. Österreich geflohene Wissenschaftler in Oxford etabliert, eine Zahl, die mit Kriegsausbruch anstieg.1026 Einige fanden tatsächlich eine ihrer fachlichen Kompetenz entsprechende Beschäftigung, existenzielle und Zukunftssicherung war sie oftmals nicht. Denn weder die Colleges noch Museen stellten zunächst die erforderlichen Gelder bereit. Finanziell unterstützt wurden die exilierten Wissenschaftler ausschließlich vom „Academic Assistance Council“ (AAC).1027 Einfach war es nicht, diese Unterstützung, die keineswegs üppig war, zu erhalten. Käthe Bosse musste von Juli 1937 bis Juli 1938 mit den ihr zugewiesenen 130 £ pro Jahr auskommen, auch noch, nachdem sie Anstellung bei Oxford University Press gefunden hatte. Wie Mimi Borchardt richtig vermutete und aus Berichten von Nahestehenden wie Walter Segal oder Dora Zuntz ableiten konnte, später dann aus eigener Erfahrung wusste, waren auch in Großbritannien die Zugangs- und Lebensbedingungen
1025 In Oxford auch: H.C. Epstein (Physiker), F.R. Munz und Otto Pick (beide Zahnmediziner), Otto Neubauer (Pharmazeut), J. Turta (Chirurg), Hartmann Blaschko (Physiologe, pharmazeutisches Labor), Edith Bülbring (Pharmakologin, pharmazeutisches Labor), Fritz Burchardt (Wirtschaftswissenschaftler, All Souls College), Heinrich Cassirer (Philosoph, Corpus Christi College), Ernst Chain (Biochemiker, pathologisches Institut), Hans Epstein (Physiker, Clarendon Labor), Werner Falk (Soziologe, New College), Karl Forchheimer (Wirtschaftswissenschaftler, Institut für Statistik), Paul Glees (Anatom, Department for Human Anatomy), Richard Goldschmidt (Psychologe, Institute for Oxford Psychology), Max Grünhut (Jurist, All Souls College), Stefan Jellinek (Pathologe, Queen’s College), Raymond Klibansky (Philosoph, Oriel College), G. Katkov (Philosoph, All Souls College), Heinrich Kuhn (Physiker, Clarendon Labor), Nikolaus Kürti (Physiker, Clarendon Labor), Wolfgang von Leyden (Philosoph, Clarendon Press), Kurt Mandelbaum (Wirtschaftswissenschaftler, Institut für Statistik), Hans Mars (Wirtschaftswissenschaftler, University College), Kurt Mendelssohn (Physiker, Clarendon Labor), Otto Pächt (Kunsthistoriker, Bodleian Library), Fritz Pringsheim (Jurist, Merton College), Tuljan Rzoska (Biologe, Zoologisches Museum), Ernesto Seijo (Chemiker, Dyson Perrins Labor), Franz Simon (Physiker, Clarendon Labor), Josef Steindl (Wirtschaftswissenschaftler, Balliol College), Georgas Ungar (Physiologe, Department of Human Anatomy), Friedrich Waismann (Philosoph, Magdalen u. All Souls College), Gerhard Weiler (Chemiker, Dyson Perrins Labor), Egon Wellesz (Musikwissenschaftler, Lincoln College), Martin Wolff (Jurist, All Souls College). BLO MS SC SPSL 77/2 + 3, 79/1 + 2. 1026 Paul Addison: Oxford, 1994, S. 173. 1027 In Oxford lebende Mitglieder: H.A.L. Fisher (New College), J.S. Haldane (Cherwell), William S. Holdsworth (All Souls College).
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für Flüchtlinge nicht sonderlich günstig und verschlechterten sich zunehmend. Allerdings konzentrierte sich Mimi Borchardt lange Zeit so stark auf Ägypten, um ihren Freunden Otto und Friedel Rubensohn dort eine dauerhafte Bleibe verschaffen zu können, dass sie sich lange nicht allzu intensiv mit Großbritannien als möglichem Exilland befasste. Tatsächlich spielte dort ein entfernter Verwandter von ihr eine entscheidende Rolle. Die „Machtübernahme“ der Nationalsozialisten versetzte die Mehrzahl der britischen Juden in höchste Alarmbereitschaft und ließ sie Hilfsmaßnahmen planen. Federführend war dabei der 1871 in Frankfurt/Main geborene, seit 1896 in England lebende Börsenmakler Otto Schiff,1028 Neffe des New Yorker Bankiers Jakob Schiff und Bruder des seit etwa 1900 ebenfalls in England lebenden Ernst Schiff. Die Schiff-Familie gehörte zur Verwandtschaft Mimi Borchardts mütterlicherseits,1029 war international bekannt für ihre ausübende Wohltätigkeit.1030 Seit 1922 war Otto Schiff Präsident des „Jews‘ Temporary Shelter“ (JTS), einer Vereinigung, der auch Ernst Schiff angehörte und die enge Beziehungen zum britischen Home Office entwickelte. Dies zahlte sich ab 1933 aus, als es um die Initiierung umfassender Hilfsmaßnahmen ging.1031 Kurz nach der „Machtergreifung“ kontaktierte Schiff den Berliner Rabbiner Leo Baeck, der Schiffs düstere Befürchtungen teilte, besprach mit ihm mögliche Hilfsaktionen. Weitere britische Juden schlossen sich der Initiative an, darunter Alice Model und die aus einer Frankfurter Bankiersfamilie stammende Gründerin des B’nai B’rith Mädchen Vereins in Stepney, Anna Schwab.1032 Diese waren zugleich die ersten Mitglieder des von Otto Schiff gegründeten „Jewish Refugees Committee“ (JRC).1033 Die meisten britischen Juden gaben sich jedoch Illusionen über Dauer und Tragweite der politischen Umwälzungen in Deutschland hin, waren ebenso wie Otto Schiff überzeugt, dass die NS-Herrschaft ein rasches Ende finden würde. 1028 Anthony Grenville gibt als Geburtsdatum 1875 an. Schiff wurde nach seiner Emigration nach England Partner des Bankhauses „Bourke, Schiff & Co.“. Er lebte in Mayfair, wo er 1952 starb. Anthony Grenville: Otto Schiff, 2014, S. 1. 1029 Wie in Kap. 1 dargestellt stieg Jakob Schiff auf Vermittlung von MBs Großvater Abraham Kuhn als Mitarbeiter in die New Yorker Investment-Bank Kuhn-Loeb & Co. ein, heiratete dann in die Familie ein. Jakob Schiffs in Frankfurt lebender Bruder Philipp war einer der engsten Freunde von MBs Vater. 1030 Während des Ersten Weltkriegs unterstützten sie Tausende, in England Zuflucht suchende Flüchtlinge aus Belgien. Amy Zahl Gottlieb: Men of Vision, 1998, S. 7 f. 1031 Anthony Grenville: Otto Schiff, 2014, S. 1. 1032 Darunter: Ernest Mainz, Eric Turk (Mitglieder des Vorstands des JTS), Bernard Davidson, Frank Lazarus, E.L. Rawson, Cissie Laski (Ehefrau von Neville Laski). Amy Zahl Gottlieb: Men of Vision, 1998, S. 9 f. 1033 Später „German Jewish Aid Committee“ genannt.
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Bald zeichnete sich ab, dass punktuelle Hilfsmaßnahmen unzureichend waren, das JRC grundsätzlicher agieren musste, wobei es vor allem um permanente Aufenthaltsrechte, Arbeitserlaubnisse, Niederlassungs- bzw. Wohnmöglichkeiten ging.1034 Das JRC trat in Abstimmung mit Neville Laski, dem Präsidenten des „Board of Deputies of British Jews“, in Verhandlungen mit dem Home Office und der Ausländerbehörde, was umso dringlicher war, als in der britischen Öffentlichkeit verstärkt antisemitische und fremdenfeindliche Stimmen laut wurden und Aufrufe zum Boykott deutscher Waren kaum oder sogar gegenteilige Resonanz zeigten.1035 Lord Winterton, Chancellor of the Duchy of Lancaster, ließ im Oktober 1938 öffentlich verlauten, die finanzielle Unterstützung des „Co-ordinating Committee for Refugees“ seitens der Regierung für unmöglich zu halten, weil dies einen Proteststurm im Lande auslösen würde: „an immediate outcry from all anti-alien and anti-Semitic elements in this country that the Government were subsidizing the admission of aliens at a time when there was widespread unemployment and economic distress among our own people“.1036 Antisemitismus und Rassismus waren der britischen Gesellschaft nicht fremd. „The anti-Semitism of many MPs and even members of the government in Britain is well known. Chamberlain himself said: ‘No doubt Jews aren’t a lovable people; I don’t care about them myself.’“1037 Trotz solcher Widerstände führten vor allem Neville Laski als Vorsitzender des JRC und Leonard Montefiore als Präsident der „Anglo-Jewish Association“ unermüdlich Verhandlungen mit dem Home Office, schlugen vor, dass die britische Judenschaft sämtliche Kosten trüge, die die jüdischen Flüchtlinge aktuell und zukünftig verursachen würden. Dem stimmte die britische Regierung zu und delegierte damit die Verantwortung für die „German-Jewish refugees“ allein an die britische Judenschaft.1038 Im Mai 1933 gründete diese unter der Leitung der benannten Vertreter den „Central British Fund for German Jewry“ (CBF), der im Juni seinen Sitz im „Jewish Communal Centre“ (Woburn House) in Bloomsbury nahm.1039 Vorrangige Zielsetzung war das Einwerben von Geldern, die der Unterstützung von Flüchtlingen dienen sollten.1040 1034 Für Letzteres setzten sich vor allem Anna Schwab, Olga Epstein, Selma Heinemann und Sophie Taubkin als Mitglieder der Frauenabteilung der B’nai B’rith Loge ein. 1035 Amy Zahl Gottlieb: Men of Vision, 1998, S.12, 14, 20. 1036 Zitiert nach: Gerhard Hirschfeld: Durchgangsland, 1996, S. 64 f. 1037 Jeremy Seabrook: Refugee, 2009, S. 25. 1038 Amy Zahl Gottlieb: Men of Vision, 1998, S. 13, 18. 1039 Amy Zahl Gottlieb: Men of Vision, 1998, S. 29. 1040 Die ersten Aktionen verliefen vielversprechend: Bei der ersten größeren Spendenaktion konnten 69.900 £ bei 42 britischen Juden gesammelt werden. Ende 1933 war eine Spendensumme von 250.000 £ erreicht. Amy Zahl Gottlieb: Men of Vision, 1998, S. 30 f.
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Parallel dazu sahen sich etliche britische Akademiker in der Pflicht, für verfolgte deutsche Wissenschaftler einzutreten. Nachdem der aus Ungarn stammende, von der Universität Frankfurt/Main entlassene Pathologe Philipp Schwartz1041 im April 1933 in Zürich die „Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland“1042 gegründet hatte, die nach Schwartz Emigration nach Istanbul unter der Leitung von dem auch von Walter Segal erwähnten Fritz Demuth (1876–1965)1043 stand, gründeten im Mai 1933 führende englische Wissenschaftler in London den erwähnten AAC. Initiiert wurde dieser in erster Linie von Sir William Beveridge, Direktor der „London School of Economics and Political Science“ (LSE) der Universität London, der im Mai 1933 in Wien von den Verfolgungen, denen Deutsche jüdischer Herkunft oder Gegner der Nationalsozialisten ausgesetzt waren, erfahren hatte. Beveridge und sein Kollege Lionel Robbins beschlossen, sofort ein Hilfsprogramm für verfolgte Akademiker zu initiieren.1044 Bereits nach der ersten öffentlichen Erklärung des AAC wurde dieser von mehr als 40, meist prominenten, sich gegenseitig bekannten britischen Akademikern unterstützt, eine Folgeerscheinung, die Beveridge angesichts seiner Prominenz erwartet hatte.1045 Nachdem Albert Einstein im Oktober 1933 in der Royal Albert Hall in London eine aufsehenerregende Rede gehalten hatte, offerierten sämtliche Angestellten der LSE ein bis drei Prozent ihres Gehalts zwecks Unterstützung des AAC.1046 Diese ab 1937 als SPSL firmierende Hilfsorganisation wurde
1041 Seine Anträge von 1952 und 1957 zur Wiederaufnahme an der Universität Frankfurt/Main wurden von der medizinischen Fakultät abgelehnt. In Defence, 2011, S. 140. 1042 1936 verlegte die „Notgemeinschaft“ ihren Sitz nach London. 1043 Liberaler Wirtschaftspolitiker, bis 1933 Syndikus der Industrie- und Handelskammer Berlin und geschäftsführendes Mitglied des Kuratoriums der Handelshochschule Berlin, Mitglied der DDP, 1933 Emigration in die Schweiz, 1936 nach England, dort auch Mitwirkung am Deutschlandprogramm des Central European Joint Committee. War zunächst als Nachfolger von Schwartz in Zürich tätig, arbeitete ab 1937 federführend für die SPSL. 1951 berichtete er, bis zum Beginn des Krieges hätten sich 2600 verfolgte Wissenschaftler bei der SPSL registrieren lassen, davon 500 vermittelt in Großbritannien, 1200 in den USA, 900 anderswo. In Defence, 2011, S. 139. 1044 Erster Präsident des AAC war der Physiker und Nobelpreisträger Lord Rutherford (Cambridge); zum Vorstand gehörten u. a. der Physiologe A.V. Hill, Sir Frederick Kenyon (Direktor des British Museum) und der Ökonom John Maynard Keynes. Generalsekretär des AAC war Walter Adams, späterer Direktor des LSE. Jeremy Seabrook: Refuge, 2009, S. 28. 1045 Jeremy Seabrook: Refuge, 2009, S. 29. 1046 Zu den Unterstützern gehörte u. a. der Geschäftsmann Simon Marks (half auch mittels seines Unternehmens, das in der Zwischenkriegszeit enge Beziehungen zu Deutschland aufgebaut hatte, zahlreichen jüdischen Flüchtlingen), der sofort 2.500 £ spendete und dieselbe Summe der CBF; dies setzte er in den darauffolgenden Jahren fort. Ulrike Walton-Jordan: Jewish Refugees, 2002, S. 119–127; Amy Zahl Gottlieb: Men of Vision, 1998, S. 42 f.
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ebenfalls vom CBF unterstützt.1047 An Unterhaltsgeld sollten einem Ehepaar 250 £, einer Einzelperson 182 £ zur Verfügung gestellt werden. Das AAC hatte etwa 2000 Beitrag zahlende Mitglieder. In den ersten drei Jahren seines Bestehens verschaffte es 57 Wissenschaftlern dauerhafte und 155 befristete Anstellungen.1048 Verfolgten Studenten sollte zudem vom „International Student Service“ geholfen werden können, jüdischen Flüchtlingen vom „Council for German Jewry“, dem „Jewish Aid Committee“ und dem „Jewish Refugees Committee“, die die Hauptlast der Unterstützung trugen.1049 Weitere Hilfsorganisationen waren das „Christian Council for Refugees“ und die von den Quäkern getragene „Society of Friends“.1050 Obschon sich auch einflussreiche jüdische Persönlichkeiten, wie etwa Sir Herbert Samuel, für die Belange der Verfolgten einsetzten und auf die von NaziDeutschland ausgehenden Gefahren aufmerksam machten, verfolgte die konservative britische Regierung gegenüber Deutschland eine „Appeasement“- und eine restriktive Einwanderungspolitik, die aus der Sorge um den sozialen Frieden resultierte.1051 Die Zahl der in England Zuflucht suchenden Juden stieg vor allem nach den Nürnberger Gesetzen 1935 und der Pogromnacht vom November 1938 rasch.1052 Durchweg willkommen waren die Flüchtlinge nicht, vor allem, weil sie als
1047 Der AAC stellte sich zur Aufgabe: Erstellen eines Registers über Anstellungsmöglichkeiten verfolgter Akademiker an britischen Universitäten, Leisten von Unterhaltsgeld. Antragsformulare wurden konzipiert, worin die Antragsteller Angaben zu ihrer Person, ihrem beruflichen Werdegang und ihrer aktuellen Situation machen sollten. Amy Zahl Gottlieb: Men of Vision, 1998, S. 43. 1048 Einige renommierte deutsche Wissenschaftler wurden am Clarendon Laboratory der Universität Oxford angestellt, eine Forschungseinrichtung, die daraufhin binnen weniger Jahre weltweite Reputation erlangte, vor allem wegen der Forschungen von Franz Simon, Kurt Mendelssohn, Nicholas Kürti und Heinz London. Mario Kessler: Arthur Rosenberg, 2008, S. 188; Georgina Ferry: A Refuge, 2009. 1049 Mario Kessler: Arthur Rosenberg, 2008, S. 187. 1050 Einige Parlamentsabgeordnete setzten sich für Flüchtlinge ein, darunter vor allem Eleanor Rathbone, Josiah Wedgwood und Philip Noel-Baker. Rathbone engagierte sich später sehr für die Freilassung internierter jüdischen Flüchtlinge. 1051 Mario Kessler: Arthur Rosenberg, 2008, S. 187. Die Befürchtung war, dass die aufgrund der Zuwanderer steigende Arbeitslosigkeit soziale Unruhen nach sich ziehen könnte. Die Arbeitslosenquote lag 1937 bei 10,8 %, 1938 bei 13,5 %. Vgl. Gerhard Hirschfeld: Durchgangsland, 1996, S. 65. 1052 1933 bis 1941 flohen rund 65.000 Juden und Jüdinnen nach England (9 % aller Flüchtlinge). Die weitaus meisten (rund 170.000) fanden sich in den USA (24 %). In England stellten die jüdischen Flüchtlinge mehr als 20 % der jüdischen Bevölkerung dar, während es in den USA nur knapp 4 % waren. Zahlen nach: Arieh Tartakower: The Jewish Refugees, 1942, S. 316.
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onkurrenten auf einem sehr angespannten Arbeitsmarkt wahrgenommen K wurden. Gesucht waren sie als Hausangestellte, was sich in den Zahlen widerspiegelt – im September 1939 waren 42,3 % der jüdischen Flüchtlinge als weibliche „domestic servants“ registriert.1053 Die Unterstützung der exilierten Wissenschaftler war auch deshalb problematisch, weil in Großbritannien nur eine sehr begrenzte Zahl von Universitäten und Forschungseinrichtungen existierte. Die britische „Wissenschaftslandschaft“ war auf eine Emigrationswelle nicht vorbereitet, „ein Problem, mit dem die deutschen Gelehrten, die in einer ganz anderen intellektuellen Tradition aufgewachsen waren, zu kämpfen hatten“.1054 Für Hochschulangehörige waren die Aussichten trotz der Bemühungen des AAC dürftig. Zwischen 1929 und 1939 war an britischen Hochschulen die Zahl der Dozenten und Studenten nur unwesentlich gestiegen (3504/3994 bzw. 45.603/50.002), auch bot das begrenzte Ausbildungssystem nur geringe Aufnahmekapazitäten.1055 Weiteres Problem bildete die sich stark von der deutschen unterscheidende akademische Ausbildung. Dies stellte „insbesondere die deutschen Geistes- und Sozialwissenschaftler, sofern ihnen überhaupt die intellektuelle Ausbildung der künftigen ‚nationalen Elite‘ anvertraut wurde, vor große Anpassungsschwierigkeiten“.1056 Postgraduierte Studiengänge, auf die die deutschen Hochschullehrer eher fokussiert waren, existierten kaum. Zusätzlich wandte sich die „Association of University Teachers“ (AUT) ähnlich wie das AAC bzw. die SPSL ausdrücklich gegen die dauerhafte Anstellung von Emigranten.1057 Um erweiterte Anstellungsmöglichkeiten zu schaffen, finanzierte der CBF Stipendien, so dass wissenschaftliche Institute und Einrichtungen sowie Kliniken und Labore verfolgte Wissenschaftler anstellen konnten.1058 Grundsätzlich betrieben die auf Wissenschaftler ausgerichteten Hilfsorganisationen jedoch eine Politik, die auf die Weiterwanderung der ‘refugee scholars’ abzielte, England also als Transferland verstanden wissen wollte, was den allgemeinen politischen Leitlinien entsprach. Trotz diverser Spannungen mit dem amerikanischen „Emergency Committee in Aid of Displaced German Scholars“
1053 Arieh Tartakower: The Jewish Refugees, 1942, S. 342. 1054 Mario Kessler: Arthur Rosenberg, 2008, S. 188. 1055 Gerhard Hirschfeld: Durchgangsland, 1996, S. 61. 1056 Gerhard Hirschfeld: Durchgangsland, 1996, S. 61 f. 1057 Gerhard Hirschfeld: Durchgangsland, 1996, S. 66. 1058 Allein für das Jahr 1933 leistete der CBF diesbezügliche Finanzhilfen in Höhe von 8.000 £, die Haendler Charity stellte 4.000 £ zur Verfügung. Das „Joint Foreign Committee of the Board of Deputies“ und die „Anglo-Jewish Association“ gründeten zudem ein „Jewish Academic Committee“ zwecks Unterstützung von auf judaistische Studien spezialisierte Wissenschaftler, blieb damit aber erfolglos. Amy Zahl Gottlieb: Men of Vision, 1998, S. 43.
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hielt der AAC bzw. die SPSL an dieser Politik fest, gewährte Stipendien und Darlehen insbesondere dann, wenn sie zur Übersiedlung in die USA dienten.1059 Weitere Hürde war für emigrierte Hochschullehrer die oftmals fehlende soziale und berufliche Integration sowie „eine mitunter negative Erfahrung des ausgeprägten englischen Gesellschaftssystems“.1060 Das vielfach vorhandene „britische Unverständnis des nationalsozialistischen Aggressionspotentials und die innenpolitischen Reflexe hierauf“ verstärkten zusätzlich das Bestreben, Großbritannien nach Möglichkeit verlassen zu wollen. Bleibechancen hatten ohnehin eher Naturwissenschaftler und Mediziner als Geistes- und Sozialwissenschaftler. Von wenigen Ausnahmen abgesehen vermochte sich die erste Generation der Geistes- und Sozialwissenschaftler (abgeschlossenes Studium und Anstellung an einer wissenschaftlichen Einrichtung) nicht an britischen Universitäten zu etablieren, was vor allem für Historiker galt; sie bemühten sich um eine Anstellung im Schul- oder Bibliotheksdienst oder im Medienbereich.1061 Nach Oxford drangen schon früh Nachrichten über die Lebenswirklichkeit in NS-Deutschland, vermittelt beispielsweise von dem Journalisten und Juristen Rudolf Olden (1885–1940),1062 der in Deutschland wegen seiner jüdischen Herkunft und aus politischen Gründen verfolgt, in Oxford vor allem von dem 1059 AAC/SPSL gingen davon aus, dass die britische akademische Landschaft im Vergleich zu jener der USA nur geringe Möglichkeiten bot, was ab 1935 zu Spannungen mit den USA führte, die sich im Februar 1939 anlässlich der Informationsreise von David Cleghorn Thomson (Generalsekretär der SPSL) in die USA zuspitzten. Das amerikanische Komitee missbilligte, dass sich die Briten offenbar der Emigranten entledigen wollten, obwohl auch in den USA eher dürftige Aussichten im akademischen Bereich bestanden. Thomson hielt weiter daran fest, Großbritannien als ein „clearing house country“ zu betrachten, die USA als Zielland. Gerhard Hirschfeld: Durchgangsland, 1996, S. 67. 1060 Gerhard Hirschfeld: Durchgangsland, 1996, S. 62. 1061 Nach 1933 emigrierten 55 verfolgte Historiker nach Großbritannien, davon 46 jüdische. „Von den vierzehn Professoren oder Privatdozenten, die während der dreißiger Jahre nach England emigrierten, vermochten nur sieben eine vorübergehende Anstellung zu finden“ (u. a. Arthur Rosenberg (Liverpool), Hans Rosenberg (London), Martin Weinbaum (Manchester)). Nur drei dieser vierzehn Professoren fanden eine dauerhafte Anstellung (die Althistoriker Victor Ehrenberg und Fritz Heichelheim, der Mediävist Hans Liebeschütz). Erfolglos gebliebene Historiker verließen Großbritannien, weil sie in den USA auf bessere Chancen hofften, so Valentin England, Hans Rothfels, Fritz Epstein, Friedrich Engel-Janosi, Hans Baron, Felix Gilbert, Georg-Wolfgang Hallgarten. Im Schul- oder Bibliotheksbereich versuchten Elsbeth Jaffé, Jenny Schwarz und Ellen Littmann unterzukommen. Gerhard Hirschberg: Durchgangsland, 1996, S. 68 f. 1062 Sohn des Schriftstellers Johann Oppenheim (seit 1891 Hans Olden) und dessen Ehefrau (Elsa) Rosa Stein (Schauspielerin), Bruder des Journalisten und Schriftstellers Balder Olden, Halbbruder des Historikers Peter Olden, entfernt verwandt mit dem Frankfurter Maler Moritz Oppenheim. Nach Studium und Kriegsteilnahme wurde Olden journalistisch tätig, u. a. bei pazifistischen („Der Friede“, „Der neue Tag“) und anderen Zeitschriften („Er und Sie“), 1926 vom Berliner Verleger Theodor Wolff in die Redaktion des „Berliner Tageblatts“ nach Berlin geholt,
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lassischen Philologen Gilbert Murray (1866–1957)1063 und dessen Ehefrau Lady K Mary unterstützt wurde. Politische Wirkung erreichten Oldens zahlreiche öffentlichen Vorträge in Oxford1064 kaum, obschon Murray sogar Übersetzung und Publikation der Vorträge vorantrieb. Der Rechts- und Altertumswissenschaftler James Brierly vermutete, Oldens zu hohe Erwartungen an das Publikum seien für die geringe Resonanz verantwortlich. Diese verwies aber hauptsächlich auf die Grenzen der in Großbritannien vorhandenen Bereitschaft, sich mit der Lebenssituation der Flüchtlinge und den tatsächlich vom nationalsozialistischen Deutschland ausgehenden Bedrohungen auseinanderzusetzen. Nur wenige britische Zeitungen, darunter der „Manchester Guardian“ und „New Statesman and Nation“, waren bereit, Oldens Artikel zu veröffentlichen.1065 Auch seine Publikationen, dort Chefredakteur und Stellvertreter Wolffs. Er schrieb für die Zeitschriften „Die Menschenrechte“, „Das Tage-Buch“ und „Die Weltbühne“. 1926 wurde er zudem als Rechtsanwalt zugelassen, verteidigte 1931 erfolgreich den Schriftsteller Carl von Ossietzky. 1931 berief ihn die Liga für Menschenrechte in ihren Vorstand. Nachdem Olden am 17. Februar 1933 auf einer Versammlung des Schutzverbands deutscher Schriftsteller gesprochen hatte, verließ er, von Freunden gewarnt, Deutschland, um der drohenden Verhaftung zu entgehen. Er emigrierte nach England, 1936 wurde ihm die deutsche Staatsangehörigkeit aberkannt. In London fungierte er als Sekretär des P.E.N. Clubs. Bei Kriegseintritt wurde er interniert. Bereits schwer erkrankt nahm Olden 1940 den Ruf als Dozent an die New School of Social Research an. Der britische Passagierdampfer „City of Banares“, mit dem das Ehepaar Olden den Atlantik überqueren wollte, wurde am 18. September 1940 von einem deutschen U-Boot versenkt. Dabei starben 248 Menschen, darunter das Ehepaar Olden. http://de.wikipedia.org/wiki/Rudolf_Olden (16.07.2014). 1063 Galt als einer der bedeutendsten Wissenschaftler der Sprache und Kultur des Antiken Griechenland, studierte am St.John’s College Oxford, 1889–1899 Professor für Griechisch an der Universität Glasgow, ab 1908 Regius Professor für Griechisch an der Universität Oxford, unterbrochen zwischen 1925–26 als Charles Elliot Norton Lecturer an der Harvard Universität. Politisch tätig als Liberaler, ab 1916 Vize Präsident der League of Nations Society (schrieb ab 1917 vielbeachtete Artikel in der „Daily News“), Mitglied der Rationalist Press Association. Verheiratet mit Mary Howard (1865–1956), Tochter von George Howard, 9th Earl of Carlisle, fünf Kinder, darunter die Schriftstellerin Rosalind Toynbee (1890–1967) und der Jurist Stephen Murray (1908–1994). Francis West: Gilbert Murray, 1984, S. 25–58. 1064 Während des Trinitiy Term (April-Mai) 1936 hielt Olden an der Oxford University etliche Vorträge. Am 30. November 1938 sprach er an der Universität über die Lebensbedingungen der Juden in Deutschland, im November 1939 im Somerville College über „Germany and the Jews“ (Jewish Chronicle, 3. November 1939, p. 27), im April 1940 anlässlich der ersten, im Rhodes House in Oxford stattfindenden Konferenz des „Council for the Education in World Citizenship“. Die „Oxford Mail“ bezeichnete Olden als einen Vertreter des ‘anderen’ Deutschland, jenes von Goethe und Einstein. Charmian Brinson, Marian Malet: Rudolf Olden, 1995, S. 53 f. 1065 Im Herbst 1935 lebte das Ehepaar Rudolf und Ika Olden im „cottage“ des Ehepaars Murray. Olden sandte unverwandt Artikel an verschiedene britische Zeitungen, in denen er die Gewalt exzesse der Nationalsozialisten beschrieb. Veröffentlicht wurden sie kaum. Charmian Brinson, Marian Malet: Rudolf Olden, 1995, S. 42 f.
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so „Hitler the Pawn“, erreichten das britische Interesse kaum.1066 Die Bedeutung Oldens erkannte der politisch engagierte Gilbert Murray, der sich schon während des Ersten Weltkriegs als vermittelnde Instanz profiliert, stets enge Beziehungen zu seinen Berliner Fachkollegen Eduard Meyer und Wilamowitz-Moellendorf unterhalten hatte, dem Königsberger Altphilologen Paul Maas privat sehr verbunden war; 1937/38 gehörte er einer sich regelmäßig in Oxford treffenden Gruppe von Wissenschaftlern, Politikern und Journalisten an, die sich kritisch mit der ‚Appeasement-Politik‘ Großbritanniens auseinandersetzten und politische Beratungen anboten.1067 In Oxford standen bei weitem nicht alle Türen offen. Erst im Januar 1939 gründete sich ein „Refugee Committee“ mit W.R. Greenshields als „Secretary“. Ziel war es zunächst, auch Wissenschaftlern im Alter von mehr als 60 Jahren eine Unterstützung zukommen zu lassen, damit sie von den sich vor Ort bietenden Möglichkeiten profitieren könnten. Vom AAC, das 1937 in der „Society for the protection of science and learning“ (SPSL) aufgegangen war, wurde dieses Vorhaben nicht favorisiert.1068 Nachdem das Komitee am 14. März dennoch eine diesbezügliche Beratung im St. Hilda’s College abgehalten hatte, zeigte sich die SPSL dafür offen, ein Hostel für ältere Wissenschaftler einzurichten.1069 Konkrete Gestalt nahm das Vorhaben nicht an.1070 Immerhin konnten im Oktober 1939 20 zu unterstützende Personen bzw. Familien identifiziert werden, darunter auch Leonie und Günther Zuntz.1071 Von einigen war ihr Aufenthalt unbekannt, etwa von Friedrich Brassloff, Fritz Burchardt, Rudolf Pfeiffer und Günther Zuntz.1072 1066 Charmian Brinson, Marian Malet: Rudolf Olden, 1995, S. 48. 1067 In der Gruppe war vor allem die akademische Prominenz Oxfords vertreten. Es ging eher um die grundsätzlichen Leitlinien der britischen Politik gegenüber Deutschland als um die Frage des Umgangs mit Emigranten bzw. Flüchtlingen. Sidney Aster (Hrsg.): Appeasement, 2004, S. 239–242. 1068 Oxford Ref. Com. an SPSL, 9. Januar 1939; Antwort v. 23. Januar 1939. BLO SC MS SPSL 120. 1069 Esther Simpson (SPSL) an Grienshields, 27. April 1939. BLO SC MS SPSL 120. 1070 Eingerichtet wurden ein Hostel für 29 Jungen (16 bis 18 Jahre), ein kleineres für acht tschechische Mädchen und ein Ehepaar. Simpson an Grienshields, 28. April 1939. BLO SC MS SPSL 120. 1071 Käthe Bosse, Friedrich Brassloff, Karl Oscar Brink, Fritz Burchardt, Karl Forchheimer und Ehefrau, Richard Goldschmidt, Ludwig Guttman mit Ehefrau und Kindern, Karl Helleiner mit Ehefrau, Stefan Jellinek mit Ehefrau und Sohn, Lotte Labowsky, Heinrich Liepmann mit Ehefrau, R. Pfeiffer, Sigmund Rohatyn, Hans Rothfels mit Ehefrau und Kindern, Ilse Sachs, Fritz Schulz mit Ehefrau und Kindern, Joseph Steindl, Richard Walzer, Heinrich Zimmer mit Ehefrau und Kindern, Günther Zuntz mit Ehefrau, drei Kindern und Schwester. BLO SC MS SPSL 120. 1072 Man wusste von andern in Oxford lebenden Wissenschaftlern, verfügte aber über keine Informationen. Später hinzugefügt: Paul Maas, Leo Reich, Franz Rosenthal, andere folgten. Oxford Ref.Com. an SPSL, 7. Oktober 1939. SPSL an Grienshields, 11. Oktober 1939. BLO SC MS SPSL 120.
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Die Integration deutscher Wissenschaftler in das sehr spezielle universitäre Systems Oxfords erwies sich als einigermaßen schwierig. Das akademische Leben spielte sich in der Hauptsache in den einzelnen selbstverwalteten, auf untergraduiertes Studium konzentrierten Colleges ab, einer „federation of independent colleges“.1073 Diese rekrutierten sich meist aus den eigenen Reihen. Religionszugehörigkeit, politische Anschauung und Weiblichkeit waren die überwiegenden Gründe für Ausschluss aus dem Collegesystem.1074 Einige Colleges waren bekannt für ihre wissenschaftlichen Schwerpunkte, so Exeter für Sozial-Anthropologie, Corpus Christi für Klassische Philologie, Queen’s für Papyrologie.1075 Das dominierende College-System – die Universität Oxford war finanziell schlecht ausgestattet und konnte sich, anders als in Cambridge, nicht gegenüber den Colleges emanzipieren1076 – war ursächlich für akademischen Konservativismus und „Oxford’s great refusals“, so gegen die Fächer Psychologie, Ökonomie und Soziologie sowie fehlende „degree-courses“ für Untergraduierte beispielsweise in Sozialanthropologie, Archäologie und Kunst.1077 Andererseits stellten die Untergraduierten mit fast 90 % die Mehrzahl der Studierenden dar, auch weil es kaum eine Möglichkeit zum postgraduierten Studium gab. Daraus resultierte, dass von potentiellen Fellows eher Unterrichts- als Forschungsfähigkeiten erwartet wurden. So waren 20 der 198 männlichen ‘tutorial fellows’ des Jahres 1937 (davon elf in „classics“) ehemalige Schullehrer.1078 Wissenschaftliche Ausbildung war dem Ziel, „cultivating tolerance, articulateness, sociability and qualities of leadership and organization“, nachgeordnet.1079 Die Colleges wurden als eine Art zweite Familie und zweites Zuhause verstanden.1080 Erst ab den frühen
1073 Thomas Weber: Our Friend, 2008, S. 31. 1074 Die College-Selbstverwaltungen bestanden aus nur wenigen Personen. Ein Fünftel der 198 männlichen „tutorial fellows“ von Christ Church des Jahres 1937 bestand aus ehemaligen Undergraduates des Colleges, bei Balliol waren es sogar 14 von 26. 137 der 198 Fellows von Christ Church verbrachten ihr gesamtes akademisches Leben in Oxford, 92 davon in derselben Position. Brian Harrison: College Life, 1994, S. 85 ff. 1075 Brian Harrison: College Life, 1994, S. 88. 1076 J.B. Morrell: Non-Medical Sciences, 1994, S. 141. 1077 Brian Harrison: College Life, 1994, S. 89. 1078 Brian Harrison: College Life, 1994, S. 90, 92. 1079 Daraus definierten sich die Aufgaben der Unterrichtenden, private Treffen und Veranstaltungen waren eine Selbstverständlichkeit. So traf man sich bei Murray in Boars Hill oder zu Wanderungen mit Kenneth Bell, Tutor für Geschichte am Balliol, oder zu gemeinsamen Kinobesuchen mit John Bell, Tutor für Alte Geschichte am Queen’s College. Brian Harrison: College Life, 1994, S. 93. 1080 Brian Harrison: College Life, 1994, S. 102.
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1930er Jahren setzte ein langsamer Wandel ein, die Unterschiede zwischen den einzelnen Colleges wurden signifikanter.1081 Spitzenpositionen nahmen weiterhin Balliol und Christ Church ein.1082 In den Jahren 1914 bis 1939 publizierten Mitglieder der Colleges zahlreiche Forschungsergebnisse, vor allem in den Geistes- und Sozialwissenschaften, wozu auch Berichte über Grabungen gehörten.1083 So erlangten Wissenschaftler wie die Papyrologen Harold Idris Bell, A.E. Cowley und Edgar Lobel sowie der Klassische Archäologe J.D. Beazley Prominenz. Oxfords Numismatiker, Archäologen und Kunsthistoriker sorgten für die Ausstattung der Ashmolean Museums, dem sich im Jahre 1939 das Griffith Institut für Ägyptologie anschloss.1084 Weitere wissenschaftliche Förderung leistete Oxford University Press mit wegweisenden Veröffentlichungen. Die Lehre in Philosophie konzentrierte sich zwischen 1914 und 1939 überwiegend auf Aristoteles. Das wissenschaftliche Interesse an Europäischer Geschichte war schwach, stark hingegen am Bereich Internationale Beziehungen. Klein blieb die Juristische Fakultät.1085 Die wissenschaftliche Ausrichtung Oxfords kam zumal deutschen Klassischen Philologen, Althistorikern, auch Orientalisten, Islamwissenschaftlern und Ägyptologen entgegen; Griechisch und Latein gehörten üblicherweise zu den Pflichtfächern.1086 Die akademischen Beziehungen zwischen Oxford und deutschen Universitäten waren freundschaftlich. Schon im späten 19. Jahrhundert war es für junge Wissenschaftler Oxfords üblich, einige Zeit an deutschen Universitäten oder Forschungseinrichtungen zu verbringen, so dass etliche der herausragendsten Gelehrten einen Teil ihrer akademischen Ausbildung in Deutschland genossen hatten, nicht zuletzt, weil diese vielfach als modellhaft für in Oxford 1081 Jedes College hatte eine je eigene Reputation. So galt Christ Church als „traditionally both grand and liberal“, Magdalen als „clever, rich and progressive“, New College als „earnestly rational“, Trinity als „monumentally public school and sporting“, University als „tolerant and easy-going“. Balliol stand für „brain-power and wordly influence“. James Morris: Oxford, 1965, S. 80. 1082 Von den 168 Parlamentariern der Jahre 1905 bis 1940 hatten 53 in Oxford studiert, davon 14 in Balliol und 9 in Christ Church. Brian Harrison: College Life, 1994, S. 106 f. 1083 Darunter K.S. Sandfords Studien zum palaeolitischen Menschen im Niltal (1929–39), A.M. Blackman zu Meir, R.C. Thompson zu Abu Shahrain, S.H. Langdon zu Kish. Robert Currie: Arts and social studies, 1994, S. 133. 1084 Robert Currie: Arts and social studies, 1994, S. 133. 1085 Robert Currie: Arts and social studies, 1994, S. 136 f. 1086 „The most popular subject was Greats – a mixture of Greek, Latin, Ancient History, and Political Theory“. Zunehmende Bedeutung gewann zudem Moderne Geschichte, denn dieses Studium prädestinierte für eine spätere Karriere als Politiker und Führungspersönlichkeit. Zur der britischen Delegation in Versailles 1919 gehörten 10 ehemalige Geschichts-Studenten des Balliol College. Thomas Weber: Our Friend, 2008, S. 30.
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anvisierte Reformen galt.1087 Andererseits studierten etliche Deutsche in Oxford, sie bildeten die größte Gruppe der nicht-britischen Studenten.1088 Austauschprogramme taten ein weiteres, um die Beziehungen zwischen Oxford und deutschen Universitäten zu intensivieren. Britische Zeitungen betrachteten den Austausch als wünschenswert, bestanden aber ebenso wie die deutschen und der deutsche Botschafter in Großbritannien darauf, dass die Programme ausschließlich pädagogische und wissenschaftliche Ziele verfolgten.1089 Zu den intensiven Unterstützern des deutsch-englischen akademischen Austauschs gehörten unter anderen Wernher von Ow-Wachendorf, der ab 1936 als deutscher Botschafter in Kairo fungierte, und der mit Borchardt aus gemeinsamer Kairener Zeit vertraute Ottmar von Mohl, dessen Sohn in Oxford studierte.1090 Vom späten 19. Jahrhundert an öffneten sich die Colleges in Oxford auch jüdischen Studenten.1091 Trotz dieser Öffnung studierten diese zumindest bis zum Ersten Weltkrieg mehrheitlich in Deutschland, so dass deren Zahl in Oxford und Cambridge auch im Vergleich zu Deutschland verhältnismäßig niedrig blieb.1092 Grund dafür war nicht zuletzt der meist verdeckt artikulierte Antisemitismus, der im Umfeld des Ersten Weltkriegs an Schärfe gewann und bis zu den 1087 Die Nähe zur deutschen Wissenschaft dokumentierte sich auch in der „Oxford German Literary Society“, gegründet 1909 von dem Oxforder Germanistikprofessor Hermann Fiedler. Die 150 Mitglieder von 1911 waren etablierte Wissenschaftler und Studenten. Die gesamte akademische Welt Oxfords unterstützte die Vereinigung; ihre Treffen waren gut besucht, deutsche Sprache und Literatur erfreuten sich schon vor dem Ersten Weltkrieg zunehmender Beliebtheit. Thomas Weber: Our Friend, 2008, S. 55 f. 1088 Zwischen 1900 und 1914 stieg die Zahl der deutschen Studenten in Oxford um 371 %. Thomas Weber: Our Friend, 2008, S. 54 f, 67. 1089 Der Austausch wurde organisiert von „Deutsche Freie Studentenschaft“ und dem „AngloGerman Student’s Committee“, worüber die Times und die Vossische Zeitung begeistert berichteten. Im Oktober 1908 wurde mit Unterstützung des deutschen Botschafters von Metternich der „Deutsche Wissenschaftliche Verein – Anglo-German Society“ in Oxford gegründet. Thomas Weber: Our Friend, 2008, S. 73 ff, 76. 1090 Thomas Weber: Our Friend, 2008, S. 80. 1091 Samuel Alexander vom Lincoln College war 1882 der erste jüdische „Fellow“ der Universität Oxford; erster jüdischer Professor war 1883 der Mathematiker James Joseph Sylvester. Parallel dazu wurde der ungarisch-österreichische Adolf Neubauer „sublibrarian“ der Bodleian Library, zugleich „reader“ für Rabbinisches Hebräisch sowie „honorary fellow“ des Exeter College (1890). Es entstanden darüber hinaus die „Oxford Society of Historical Theology“ und eine zionistische Vereinigung. Solomon Lazarus Lee (später Sidney Lee), der in Balliol studiert hatte, war Herausgeber des „Dictionary of National Bibliography“, die von Oxford University Press veröffentlicht wurde. Thomas Weber: Our Friend, 2008, S. 190 f. 1092 Laut Thomas Weber: Our Friend, 2008, S. 192, 198 hatten von den 540 prominentesten britischen Juden, die 1911 im Jewish Year Book aufgelistet wurden, die meisten in Deutschland studiert, nur 25 in Oxford.
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1930er Jahren innerhalb der Studentenschaft der Oxford University die Norm darstellte.1093 Zwar wurde Juden die akademische Ausbildung nicht verwehrt, aber von einer akademischen Karriere blieben sie weitgehend ausgeschlossen. „In short, Oxford accepted the short-term presence of Jews in the Senior Common Rooms of its colleges but not their presence as full members“.1094 So blieb Oxford lange Zeit für jüdische Studenten und Wissenschaftler ein „uncongenial place“.1095 Oxford bot exilierten Wissenschaftlern zwar vergleichsweise günstige Bedingungen, war aber für Juden auch wegen der kaum vorhandenen eingesessenen jüdischen Bevölkerung kein sonderlich idealer Standort.1096 Ab 1933 erfuhr die jüdische Bevölkerung infolge des Zuzugs von Flüchtlingen einen raschen Zuwachs.1097 Für Juni 1939 wurde eine Zahl von 300 deutschen Juden angegeben, womit sich die jüdische Bevölkerung im Laufe eines Jahres verzehnfacht hatte. Die jüdische Gemeinde bemühte sich, den Flüchtlingen Unterstützung in unterschiedlichster Form zukommen zu lassen, koordiniert von einem Unterstützungskomitee unter Leitung von Charles Gabriel Seligman (1873–1940).1098 Die 1093 Gerade an Orten mit niedrigem jüdischen Bevölkerungsanteil, wie etwa in Oxford, war Antisemitismus wesentlich verbreiteter als an solchen mit höherem. Tony Kushner: The Persistence, 1989, S. 99, 104; Thomas Weber: Our Friend, 2008, S. 199 f. 1094 Thomas Weber: Our Friend, 2008, S. 200. 1095 Thomas Weber: Our Friend, 2008, S. 202. 1096 O.J. Simon behauptete 1910, um 1880 der einzige in Oxford lebende Jude gewesen zu sein. 1923 nahmen durchschnittlich sechs Personen an den wöchentlichen Gottesdiensten teil. Jewish Chronicle, 29. July 1910 (p. 16 f), 19 May 1939 (p. 43 f). 1097 1939 wurde eine Zionistinnengruppe gegründet, Vorsitzende war Rudolf Oldens Ehefrau Ika; Vorträge wurden gehalten, z. B. über die Lebensbedingungen in Palästina oder „The Escape from Domestic Service“. Erstes Treffen Ende Mai 1939 im Clarendon Hotel, Schatzmeisterin Mrs Alleyn, Schriftführerin Mrs Leah Leverton, Beisitzerinnen Mrs Silkin und Mrs Ettinghausen, Ehefrau von Walter Ettinghausen. (W. Ettinghausen (= Walter Eytan, 1910–2001), Sohn von Maurice Ettinghausen. Die Familie verließ Deutschland während des Ersten Weltkriegs, Maurice E. besaß ein Antiquariat in der Turl street in Oxford. Walter E. studierte am Queen’s College Oxford, unterrichtete ab 1934 mittelalterliches und modernes Deutsch. Ab 1933 unterstützte er intensiv jüdische Flüchtlinge, arbeitete ab Sommer 1940 für den britischen Geheimdienst in Bletchley Park, ließ sich 1946 in Palästina nieder, war Sprecher der Jewish Agency, gründete 1947 eine Diplomatenschule, arbeitete ab 1948 im israelischen Außenministerium, 1960–1970 israelischer Botschafter in Frankreich, dann Berater des Außenministers.). Jewish Chronicle, 2 June 1939, p. 37. Den Vortrag zum „Domestic Service“ hielt im April 1940 Fanny Nadler. Jewish Chronicle, 5. April 1940, p. 26. 1098 Er hatte 1913–1934 den Lehrstuhl für Ethnologie an der University of London inne. Norman Fastenau: Charles Seligman. Dr. Hauer von Freiburg i. B. wurde im August 1939 zum Warden des „Refugee Committee’s Boys’ Hostel“ ernannt. Jewish Chronicle, 11 August 1939, p. 23.
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Synagoge in der Richmond Road1099 blieb während des ganzen Jahres geöffnet, ebenso der dieser angeschlossene Versammlungsraum. Seit Beginn 1939 gab es zudem einen unter der Leitung von Vera Ettinghausen stehenden, stark frequentierten Jufra Club für deutsche Jüdinnen.1100 Schwierig wurde mit der steigenden Zahl von Flüchtlingen die Finanzierung, da die meisten Emigranten nicht in der Lage waren, irgendwelche Finanzbeiträge zu leisten.1101 Im Februar 1940 wurden in Oxford etwa 700 Flüchtlinge gezählt, weitere 300 in der unmittelbaren Umgebung.1102 Während des Rosh Hashanah Gottesdienstes im Oktober 1940 fanden sich etwa 500 Personen in der Synagoge und in der Gemeindehalle in der Woodstock Road ein.1103 Im März 1941 zählte die Jüdische Gemeinde mehrere tausend Personen.1104 Die Gemeindeleitung tat ihr Möglichstes, um Anregungen und Unterhaltung zu bieten.1105 1099 Stark frequentierte Gottesdienste fanden im November 1939 im Gedenken an die Pogromnacht 1938 statt. Ansprachen hielten Karl Rosenthal (1885–1952, ab 1924 Rabbiner in Berlin, Präsident der Geiger-Loge, Mitglied des Führerrats des Jüdischen Frontbundes. Im November 1938 ins Konzentrationslager Sachsenhausen verschleppt, emigrierte danach in die Niederlande, 1939 ohne Familie nach Oxford, wo er sich der Liberal Congregation anschloss. Rosenthals Sohn wurde im Konzentrationslager Mauthausen umgebracht, seine Ehefrau überlebte das Konzentrationslager Bergen Belsen. 1945 emigrierte Rosenthal nach Wilmington (USA), wo er als Rabbiner fungierte. LBI N.Y. AR 909 Karl Rosenthal Collection 1915–1976) und Max Eschelbacher (1880–1964, Sohn des Rabbiners Josef Eschelbacher (1876–1916), Jurist, Rabbiner und Autor, verheiratet mit Bertha, Tochter des Heilbronner Rabbiners Ludwig Kahn. Söhne: Joachim Leo (1911–1958), Hermann Friedrich (1912–2005), Josef Ludwig (1919–1968), Tochter: Maria Hanna (später Nancy Wolfson, geb. 1921). Ab 1906 war Eschelbacher Rabbiner in Bruchsal, ab 1910 in Freiburg/Breisgau, ab 1912 als Nachfolger von Leo Baeck in Düsseldorf. Während der Novemberpogrome 1938 wurde er inhaftiert, konnte im Januar 1939 nach England emigrieren.). Jewish Chronicle, 17. November 1939, p. 21. 1100 Dort im Juli 1939 Vortrag von F.H. Heinemann (Ehefrau von Fritz Heinemann (1889–1970), er studierte Philosophie in Cambridge, Marburg, München und Berlin, 1930 bis 1933 a. o. Professor an der Universität Frankfurt/Main, emigrierte 1933 nach Amersfoort, dann nach Paris (Sorbonne) und in die Türkei, 1937 nach England, lehrte 1939–1956 am Manchester College in Oxford, ab 1957 als Emeritus an der Universität Frankfurt/Main tätig. Samuel Hugo Bergman: Heinemann, Fritz, 2013) über „The German Housewife in England“, in demselben Monat eine Ausstellung von Ilse Koch zu klassischem und modernem Tanz. Jewish Chronicle 28 July 1939, p. 27. 1101 100 Personen leisteten bis Juli 1939 Beiträge von gesamt 60 £ zur Unterstützung der Emi granten. Positive Auswirkungen hatte, dass sich im Juli 1939 das Ehepaar Roth in Oxford niederließ – Cecil Roth unterrichtete an der Universität „Post-Biblical Jewish Studies“. Jewish Chronicle, 28 July 1939 (p. 27), 30 June 1939 (p. 32). 1102 Jewish Chronicle, 2. Februar 1940, p. 15. 1103 Jewish Chronicle, 11 October 1940, p. 17. 1104 Jewish Chronicle, March 1941. 1105 Tanz-, Kino- und Musikveranstaltungen fanden statt, im Mai 1940 Klavierkonzert von Ruth Marschall (vorher Heidelberg). Für Treff- und Versammlungsmöglichkeiten wurde gesorgt, eine ausreichende Menge koscheren Fleisches zur Verfügung gestellt. Jewish Chronicle, 17 May 1940, p. 13.
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Mit dem rasch zunehmenden Umfang der jüdischen Bevölkerung steigerte sich allerdings auch der verdeckt oder offen auftretende Antisemitismus. Es kam zu beleidigenden und körperlichen Angriffen auf Juden, auch zu erzwungenen Konversionen etwa bei „domestic servants“.1106 Auch die akademische Welt Oxfords geriet zunehmend in Aufruhr. Hatte noch die öffentliche Erklärung der „Oxford Union“ vom 9. Februar 1933, „that this House will in no circumstances fight for its King and Country“, für großes Erstaunen gesorgt und die Union wie eine „nursery of pacifist“, eine Gruppe angeblich kommunistischer Jugendlichen erscheinen lassen, zeigte sich schon unmittelbar vor Kriegsausbruch eine deutlich gewandelte Haltung.1107 Mit den deutschen Bombenangriffen auf England und den anschließenden Evakuierungen vor allem aus London in die nähere Umgebung breitete sich angesichts der großen Zahl auch jüdischer Evakuierten nicht nur Verstörung, sondern auch eine Welle von Antisemitismus in Oxford aus. „In this process of distortion, the term evacuee and Jew could be used interchangeably, and Jews were blamed for all problems that evacuation had caused.“1108 Weil die Stadt von Bombardierungen verschont blieb, bildete sie einen Magnet zumal für exilierte Politiker und Wissenschaftler aus Europa, was der Stadt ein gänzlich verändertes Erscheinungsbild verschaffte.1109 Schon kurz nach Kriegsausbruch wurden 477 in Oxford lebende Flüchtlinge als „enemy aliens“ interniert. Als einer der bedeutendsten Kritiker dieser Vorgehensweise tat sich erneut Gilbert Murray hervor, der die Internierung als „the reaction of the average ignorant and unthinking man, who see no difference between one German and another“, bezeichnete.1110 Ein ‚sicherer Hafen‘ war Oxford durchaus, aber nicht unbedingt einer, der auch eine berufliche Zukunft ermöglichte. Die Colleges hielten zumeist ihre Reihen dicht geschlossen, schotteten sich lange gegen die geflohenen Wissenschaftler ab. Doch es gab Ausnahmen. Eine davon war das „Somerville College for women“, wo auch, wie erwähnt, Leonie Zuntz Aufnahme fand. Tatsächlich
1106 Ein stetes Ärgernis bzw. eine Herausforderung für etliche Nicht-Juden bildete der Verkauf von koscherem Fleisch in der Markthalle. Mehrere Berichte darüber in Jewish Chronicle, z. B. am 31. October 1941 (p. 17), 7. November 1941 (p. 19). 1107 Als die einzelnen Colleges Pläne zur Nutzung ihrer Gebäude während eines Krieges ausarbeiteten. Paul Addison: Oxford, 1994, S. 167, 171. 1108 Allein am 15. September flohen 25.000 Personen nach Berkshire, Buckinghamshire und Oxfordshire. In Oxford trafen 20.000 Evakuierte ein, wovon viele aus Londons East End stammten und jüdisch waren. Tony Kushner: The Persistence, 1989, S. 73. 1109 Paul Addison: Oxford, 1994, S. 178. 1110 Zitiert nach Paul Addison: Oxford, 1994, S. 174.
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war dieses College eines der ersten, wenn nicht sogar das erste, das sich erklärtermaßen für verfolgte Wissenschaftlerinnen einsetzen wollte, obwohl es eines der finanziell dürftig ausgestatten Einrichtungen war. Nicht zuletzt hing dies mit der Geschichte von Somerville zusammen. Es hatte einen langen, von Gilbert Murray unterstützten Kampf durchzustehen gehabt, bis es als Ausbildungsstätte anerkannt wurde, denn weiblichen Studierenden verweigerte die Universität bis weit ins 20. Jahrhundert hinein einen akademischen Abschluss.1111 Weibliche Studierende und Lehrende kannten mithin aus eigener Erfahrung den problematischen Status einer tendenziell nicht-willkommenen Minderheit und wussten, wie schwierig es zumal für Frauen war, sich als Wissenschaftlerinnen zu etablieren. Bewusst war dies vor allem Helen Darbishire (1881–1961), der Leiterin des Colleges von 1931 bis 1945. Daraus leitete sie die Notwendigkeit von praktischer Unterstützung für verfolgte Wissenschaftlerinnen ab. So berichtete sie am 24. Oktober 1933 dem Council ihres Colleges von zwei „eminent German women scholars“, die in Deutschland wegen ihrer jüdischen Herkunft ihrer Positionen enthoben worden seien.1112 Das College habe beschlossen, der Göttinger Mathematikerin „Fraulein“ Noether und der Gießener Archäologin Margarete Bieber ein Angebot bezüglich einer vorläufigen Anstellung zu machen. Der AAC war darauf vorbereitet, in den beiden Fällen ein Stipendium in derselbe Höhe des vom Somerville College offerierten Gehalts zu gewähren. Darbishire hoffte, mittels eines „fund for subscriptions“ die Bezahlung seitens des College noch anheben zu können. Noch in demselben akademischen Jahr sollten Noether und Bieber ihre Arbeit am College aufnehmen.1113 Die andern „womens colleges“ in Oxford stimmten zu, dass Bieber während des Hilary und Trinity terms jeweils zwei Stunden unterrichten sollte. Auch standen für sie Vorlesungen im Ashmolean Museum in Aussicht. Unterkunft fand Bieber bei der im College wohnenden Miss Bruce. Der Beschluss war, Bieber ein „Honorary Research Fellowship“ für das akademische Jahr 1933/34 anzubieten, das mit 25 £ seitens des College dotiert werden sollte. Damit wollte Darbishire es nicht belassen; sie initiierte diverse „Fundraisings“, die jedoch nur wenig einbrachten, aber zur Unterstützung bedürftiger deutscher Wissenschaftlerinnen eingesetzt wurden.1114 1933 und 1934 waren dies vorrangig Margarete Bieber und die Sozialwissenschaftlerin Charlotte 1111 Thomas Weber: Our Friend, 2008, S. 171. 1112 Verwiesen wird auf die „Jewish nationality“ der beiden Frauen. SCA Somerville College Minutes of Council 4, p. 332. 1113 Zwischenzeitlich war verlautet, dass Noether verpflichtet sei, einem Lehrauftrag in den USA nachzukommen. 1114 Council meeting, 21. Nov. 1933. SCA Minutes of Council 4, p. 334.
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L eubuscher.1115 Im Januar 1939 waren es 12 Wissenschaftlerinnen, die vom Somerville College unterstützt wurden.1116 Helen Darbishire und ihren Kolleginnen war bewusst, dass ihre Hilfsmaßnahmen kaum mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein sein konnten. Dennoch versuchten sie besonders solchen Wissenschaftlerinnen zu helfen, „to whom study in Oxford would be most valuable, and whose future, through this opportunity, is likely to be improved and secured“.1117 Ein gesondertes Komitee sollte die entsprechenden Frauen auswählen, die dann mit einem Stipendium von 150 £ seitens der SPSL bedacht werden sollten. Verpflegung und Wohnmöglichkeit wollte das College offerieren. Ausgewählt wurden1118 die deutsche Ägyptologin Käthe Bosse,1119 die deutsche Historikerin Lotte Labowsky1120 und die österreichische Altphilologin Gertrud Herzog-Hauser.1121 Mit Ausbruch des Krieges änderten sich auch für das Somerville College die Bedingungen. Helen Darbishire entschied im November 1940, dass das College
1115 5. Juni 1934. SCA Minutes of Council 4, p. 364, 374. 1116 Hauptsächlich unterstützt über SPSL: Käthe Bosse (27 Jahre, jüdischer Herkunft), Lotte Labowsky (jüdischer Herkunft), Hedwig Hintze (Moderne Geschichte, Deutsche jüdischer Herkunft, Protestantin), Maria Jahoda (Soziologin, Österreicherin jüdischer Herkunft), Susan Kann (Biologin), Castelnovo, Lawish-Ossenitz, M. Stein, Kwaszewska, Barzilai. Von BFUW unterstützt wurde die Physikerin M.A. Schirmann (Österreicherin jüdischer Herkunft), von BFUW und SPSL Gertrud Herzog-Hauser (jüdischer Herkunft, Katholikin). SCA Minutes of Council 5, p. 90. 24. Januar 1939. H. Hintze konnte in ihrem Zufluchtsland der drohenden Deportation offenbar kaum noch entkommen, da sie trotz eines Rufs als Professorin der New School for Social Research in New York (finanziert von der Rockefeller Foundation) und Unterstützung seitens Edgar Bonjour (Schweiz) nicht mehr rechtzeitig sämtliche Formalitäten abwickeln konnte, um in die USA ausreisen zu können. Ob sie 1942 freiwillig aus dem Leben schied oder einem bis dahin unerkannten Herzleiden erlag, ist ungeklärt. Vgl. Otto Hintze, Hedwig Hintze: Verzage nicht, 2004, S. 15–39. 1117 24. Januar 1939. SCA Minutes of Council 5, p. 90. 1118 14. Februar 1939. SCA Minutes of Council 5, p. 93. 1119 Sie hatte ihre Arbeit bereits im Griffith Institut des Ashmolean Museums aufgenommen und erhielt bis Ende Dezember 1939 £ 50. 1120 Lebte bereits in Oxford, wo sie mit Raymond Klibansky am „Corpus Platonicum“ arbeitete. Verpflegung erhielt sie im Somerville College. Ihre Förderung war als langfristige angelegt. 1121 Lebte noch in Österreich, sollte bis Ende Juli beherbergt werden und eine Unterstützung von £ 25 bekommen. Dies hing davon ab, ob sie mit ihrem Ehemann und ihrem Kind nach Aus tralien würde ausreisen können, was zu diesem Zeitpunkt als wahrscheinlich galt. Zu dieser Emigration kam es kriegsbedingt nicht. Herzog-Hauser migrierte zusammen mit ihrem Sohn Heinrich (geb. 1932) in die Niederlande, wo sie sich während der gesamten NS-Zeit versteckt hielt. Ihr Ehemann, der Künstler Carry Hauser, wanderte in die Schweiz aus, wo er bis 1945 blieb. Herzog-Hauser hatte u. a. in Berlin bei von Wilamowitz-Moellendorf studiert. Das Somerville College unterstützte sie weiterhin; dessen Council entschied am 28. November 1939, ihr sollten 10 £ ins niederländische Exil geschickt werden. SCA Minutes of the Council 5, p. 109.
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auch während der Ferienzeiten geöffnet bleiben sollte, um „visitors“ eine Bleibe zu bieten, d. h. „civil defence workers“, „academic refugees and others who could not afford to pay their full charge“.1122 Weiterhin wurden exilierte Wissenschaftlerinnen unterstützt, so Mitte 1941 die Ägyptologin Elise Baumgärtel mit einem „research grant“ vom Griffith Institut; Wohnung und Verpflegung für Baumgärtel und ihre drei Töchter stellte wie schon 1940 das Somerville College.1123 Auch Lotte Labowsky wurde weiter unterstützt, schließlich Hilfsarbeiterin an der Bibliothek des Colleges. Üppig war die Entlohnung mit 25 £ nicht.1124 Auch Elise Baumgärtel durfte das College noch 1942 als Unterkunft in Anspruch nehmen, sie erhielt zudem Unterstützung vom Griffith Institut.1125 Die Motive von Helen Darbishire, sich intensiv für Flüchtlinge einzusetzen, lassen sich nicht genau ermitteln. Sie selbst äußerte sich nicht explizit dazu, auch nicht im Rahmen der von ihr initiierten Gründung der „Oxford Association of International Friendship“.1126 Wesentlich dürften religiöse Gründe gewesen sein und die Überzeugung, dass das College ein Ort umfassenden Lernens sein sollte jenseits von Karriere- und Konkurrenzdenken.1127 Sie begriff das College nicht als „Ivory Tower“, sondern als Ort vielseitigen, auch sozialen Lernens einschließlich religiöser Toleranz.1128 Wissenschaftlerinnen, die mit Leidenschaft ihrer Forschung nachgingen, den Verfolgungen der Nationalsozialisten preiszugeben, wäre für Darbishire gleichbedeutend gewesen mit Verrat an ihren eigenen Idealen. Hinzu kam, dass Darbishire von Frauen ein selbstbestimmtes Leben als Ideal forderte – „to create her own character“, wie sie 1937 schrieb.1129 Die Bewunderung für die deutschen Wissenschaftlerinnen, die trotz aller Hindernisse nicht bereit waren, ihre wissenschaftlichen Interessen aufzugeben, ließ Helen Darbishire sie unterstützen. Es dürfte ihr Bewunderung abgerungen haben, mit welcher Zähigkeit beispielsweise Elise Baumgärtel ihre wissenschaftlichen Ziele verfolgte, obschon sie alleinerziehende und -verantwortliche Mutter dreier Töchter war. Für Darbishire waren Baumgärtel und Käthe Bosse gewiss der Idealtyp 1122 26. November 1940. SCA Minutes of the Council 5, p.126. 1123 30. Juni 1941. SCA Minutes of the Council 5, p.140. 1124 25. November 1941. SCA Minutes of the Council 5, p.147. Zum Vergleich: die Leiterin des Colleges bezog ein Jahresgehalt von 600 £, ein männlicher Kollege von 800 £. 1125 27. Oktober 1942. In der Folgezeit machte sich Labowsky in der Bibliothek so unabkömmlich, dass ihr Mitte 1943 ein Stipendium von jährlich 150 £ für die am 1. September beginnende Stelle als Bibliothekarin gewährt wurde, einschließlich einer täglichen Mahlzeit im College. 22. Juni 1943. SCA Minutes of the Council 5, p. 162, 180. 1126 Vgl. Vera Farnell, E.M.J.: Helen Darbishire, 1962, S. XIIf. 1127 Helen Darbishire: Address, 1962, S. 3. 1128 Helen Darbishire: Address, 1962, S. 6. 1129 Helen Darbishire: Character, 1962, S. 31.
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Wissenschaftlerin, auch vorbildhaft in ihrem College. Deshalb erstaunt es nicht, dass sie die aufgenommenen Wissenschaftlerinnen ausdrücklich in den „Senior Common Room“ einlud, was soziale und akademische Integration bedeutete.1130 Dennoch war die Wirklichkeit des Exillebens auch in Oxford oftmals bedrückend, wie das Beispiel der Archäologin Margarete Bieber1131 zeigt. Bis zum 30. Juni 1933 war sie außerordentliche beamtete Professorin an der Universität Gießen. Mit ihrer Entlassung hatte sie keineswegs gerechnet, noch für den 25. Juni 1933 bei der Römisch-Germanischen Kommission in Frankfurt ihr Kommen zusammen mit einer Gruppe Studenten angekündigt. Fünf Tage später teilte sie ihren Frankfurter Kollegen mit, ab dem 1. Juli 1933 sei sie „abgebaut“.1132 Weil ihr nach nur zweijährigen Tätigkeit als außerplanmäßige Extraordinaria eine Pension verweigert wurde, wandte sie sich im September 1933 hilfesuchend an den nach London emigrierten Althistoriker Fritz Heichelheim. Im Oktober wollte sie zusammen mit ihren Angehörigen nach London oder Oxford übersiedeln, „denn verhungern kann man überall, aber wenigstens wird man im Lande der Gentlemen nicht den Kränkungen ausgesetzt sein, die ich in letzter Zeit hier erfahren habe“.1133 Die Flucht nach England fiel ihr nicht leicht; bei ihren Gießener Studenten erfreute sie sich großer Wertschätzung, wie diese am 4. Juli 1933 schriftlich bekundeten.1134 Heichelheim wandte sich an das AAC, dieses dann an das Somerville College in Oxford, das Bieber am 6. Oktober 1933 zum „Honorary Research Fellow“ ernannte und Unterkunft anbot. Mit dieser Ernennung ging eine Unterrichtsverpflichtung einher. Die Bezahlung war minimal.1135 Zu unterhalten hatte Bieber außer sich selbst ihre siebenjährige Adoptivtochter Inge und die seit 18 Jahren bei ihr lebende, für die Tochter sorgende Waise Frl. Freytag. Um weiterhin als Wissenschaftlerin aktiv und in Kontakt mit Fachkollegen sein zu können, arbeitete Bieber zusätzlich unentgeltlich am Ashmolean Museum in Oxford, unterrichtete 1933/34 zudem am St. Hilda’s College. Dennoch waren die beruflichen Perspektiven in Oxford bzw. England dürftig; Bieber ging im Mai 1934 auf das Angebot ein, als „Visiting Reader“ am Barnard College der Columbia Universität New York tätig zu werden.
1130 Helen Darbishire: Character, 1962, S. 32. 1131 Geb. 31. Juli 1879 in Schönau (Westpreußen). BLO SC MS SPSL 181/1. 1132 RGK Frankfurt Nr. 364. 1133 Bieber an Heichelheim, (Gießen) 24. September 1933. BLO SC MS SPSL 181/1. 1134 Die 49 namentlich unterzeichnenden Studenten schätzten sie nicht nur wegen ihrer fachlichen Kompetenz, sondern auch ihrer „wahrhaft vaterländischen Gesinnung“. Sie bekannten, sich „mit Stolz“ als ihre Schüler bezeichnen zu dürfen. BLO SC MS SPSL 181/1. 1135 Für jeden der drei Unterrichtsterms sollte Bieber 24 £ erhalten, pro Jahr also 72 £. Somerville College an SPSL, 24. Oktober 1933. BLO SC MS SPSL 181/1.
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Für England als dauerhafte Bleibe entschied sich hingegen die mit Dora Zuntz befreundete Ägyptologin Elise Baumgärtel (1892–1975). Schon vor ihrer Flucht nach England war ihr Leben kein leichtes gewesen, an zähen Kampf war sie gewöhnt.1136 Nachdem ihr in Deutschland bereits im Juli 1933 jede weitere berufliche Karriere unmöglich gemacht worden war, floh sie 1934 unter Zurücklassung ihrer Töchter nach England, wurde dort von verschiedenen Seiten unterstützt, etwa von John L. Myres (Oxford), was aber ihren Lebensunterhalt nicht zu sichern vermochte.1137 Mühsam hielt sie sich über Wasser, obwohl ihre Lage „pretty hopeless“ erschien und die Sorgen um die Töchter sie zu erdrücken drohten.1138 Damit nicht genug verlor sie 1934 durch betrügerische Machenschaften in Deutschland ihr gesamtes verbliebenes Vermögen.1139 Gegen freie Unterkunft und Verpflegung erteilte sie privaten Lateinunterricht in Oxford, unterrichtete auch am University College London. Die Arbeit für Myres musste sie aufgeben, weil dieser die Notlage Baumgärtels und die von der SPSL gewährten Gelder offenkundig überwiegend zu seinem Vorteil nutzte.1140 Ende 1934 wusste sie immerhin ihre Töchter in Sicherheit.1141 In dem Ägyptologen Stephen Glanville fand sie einen Unterstützer, doch auch seine finanziellen Möglichkeiten tendierten gegen Null, so dass Baumgärtel lediglich „honorary work“, also unbezahlte Arbeit am University College London versehen konnte. Glanville wandte sich an Robert Mond, der ab 1936 die Arbeiten Baumgärtels am University College schließlich finanzierte.1142 Gleichzeitig war sie am University College als „un-paid lecturer“ tätig, einen bezahlten mit nur annähernd den Fähigkeiten von Baumgärtel konnte sich das College nicht leisten.1143 1136 Tochter des Berliner Architekten Rudolf Goldschmidt und seiner Ehefrau Rose Hoeniger, studierte in Berlin Ägyptologie bei Erman und Sethe, danach bei Wreszinski in Königsberg (Promotion 1927). 1914 heiratete sie den Kunsthistoriker und Verlagsbuchhändler Hubert Baumgärtel, mit dem sie trotz der drei gemeinsamen Töchter eine unglückliche Ehe führte, die 1929 geschieden wurde. Seinen Unterhaltsverpflichtungen kam der geschiedene Ehemann nie nach. Mehrfach erhielt sie Stipendien, so 1930, um in Mittel-Ägypten und Hermopolis (unter G. Roeder) forschen zu können, aber eine feste Anstellung fehlte. Lebenslauf in: BLO SC MS SPSL 180/2; Renee Friedman: Baumgärtel, o. J., o. S. 1137 BLO SC MS SPSL 180/2. 1138 C.G. Seligman (Oxford) an SPSL, 18. September 1934. Baumgärtel an SPSL, 23. Juli 1934. BLO SC MS SPSL 180/2. 1139 Vermerk SPSL, 28. September 1934. BLO SC MS SPSL 180/2. 1140 Seligman (Oxford) an SPSL, 29. März 1935. BLO SC MS SPSL 180/2. 1141 Tochter Chris Brigitte (Glepen) arbeitete als au-pair in Holland, Tochter Ingeborg (Mayer) wurde in der Schweiz zur Gärtnerin ausgebildet, die jüngste (Lieselotte Field) besuchte, ausgestattet mit einem Stipendium des Jewish Committee, eine Schule in Wimbledon. Vermerk SPSL, 28. September 1934. BLO SC MS SPSL 180/2. 1142 Jahresgehalt 300 £. BLO SC MS SPSL 180/2. 1143 Glanville an Aliens Department, 5. Mai 1938. BLO SC MS SPSL 180/2.
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Mit dem Ausbruch des Krieges endete auch diese einigermaßen gesicherte Phase, Monds Witwe fand sich angesichts der gewandelten Umstände nicht mehr zu weiterer Finanzierung bereit.1144 Baumgärtels Gesuche an die SPSL blieben erfolglos. In ihrer Not wandte sie sich an das bewährte Somerville College in Oxford und fand dort tatsächlich Unterkunft, aber keine weitere finanzielle Hilfe. Auch war ihrer ältesten Tochter ihre Stellung als Krankenschwester gekündigt worden, weil sie als „alien“ nicht mehr länger tragbar schien.1145 Helen Darbishire sorgte im Oktober 1940 schließlich für die Bereitstellung kleinerer Geldbeträge, das Jewish Committee Oxfords stellte ebenfalls kleinere Summen zur Verfügung.1146 Baumgärtel revanchierte sich mit kostenloser Arbeit im Ashmolean Museum. Das 1939 gegründete Griffith Institut sprang schließlich ein und finanzierte Baumgärtel mit 300 £ jährlich, eine vergleichsweise üppige Summe. Doch Mitte 1943 endete auch dies, zudem in einer für Baumgärtel äußerst ungünstigen Situation – sie musste nicht nur sich selbst, sondern auch ihre älteste Tochter und deren Familie unterhalten.1147 Nur phasenweise gelang es Baumgärtel danach, kleinere Stipendien zu erhalten. Schließlich offerierte ihr das Ministry of Labour eine Stelle beim „Permanent Committee on Geographical Names of British Official Use“ (Admiralität), Baumgärtel lehnte ab, weil dies sie zu weit von ihrer eigentlichen Tätigkeit entfernen würde, auch deutlich zu schlecht bezahlt sei, einer Ausbeutung gleichkomme.1148 Freunde machte Baumgärtel sich damit nicht, sogar Mary Murray zeigte sich verstört, ebenso der Direktor des Ashmolean Museums und nicht zuletzt die SPSL.1149 Nur mit größter Mühe gelang es Baumgärtel, die Zeit bis Kriegsende zu überstehen. Im Vergleich zu Baumgärtel war Dora Zuntz von außen betrachtet ein problemloser ‘Fall’, denn nach ihrer Eheschließung mit Brian Roberts sah sich auch die SPSL nicht mehr in der Pflicht, obschon Dora Zuntz dringlich um Vermittlung gebeten, angesehene Wissenschaftler, darunter Max Meyerhof, als Referenzen angegeben hatte.1150 Ihre Karriere fand ein Ende. Auf Max Meyerhof setzte auch ihr Bruder Günther, glaubte durch seine Vermittlung Zuflucht in Ägypten finden zu können. Denn immerhin, so führte er der SPSL gegenüber
1144 Gesuch E. Baumgärtels an SPSL um Gewährung von Unterstützung, 3. April 1940. Ihre älteste Tochter arbeitete als Krankenschwester in Paddington, die zweite war verheiratet und lebte in New York, die jüngste besuchte noch eine Schule. BLO SC MS SPSL 180/2. 1145 Glanville an SPSL, 23. Juni 1940. BLO SC MS SPSL 180/2. 1146 Darbishire an SPSL, 3. Oktober 1940, Vermerk SPSL 2. Oktober 1940. BLO SC MS SPSL 180/2. 1147 Baumgärtel an SPSL, 3. Juni 1943. BLO SC MS SPSL 180/2. 1148 Baumgärtel an Salaman, 23. März 1944. BL SC MS SPSL 180/2. 1149 SPSL an Ruth Fellner, 22. März 1944. BLO SC MS SPSL 180/2. 1150 BLO SC MS SPSL 570.
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aus, habe sein Vater seinerzeit den „jetzigen Kaiser in Abessinien“ beraten.1151 Doch weder konnte diesbezüglich etwas für ihn getan werden noch seitens der SPSL, die sich nur für Universitätslehrer zuständig sah, obwohl Günther Zuntz über ausgezeichnete Beziehungen verfügte, beispielsweise befreundet war mit der Schwester von Otto Meyerhof, der sich deshalb für ihn einsetzte.1152 Für ihn verwandte sich auch Colin Roberts, der Schwager seiner Schwester Dora, der am St. John’s College Oxford studierte.1153 Mehrfach traf Zuntz sich mit Eduard Fränkel und Dodds in Oxford. Doch trotz seiner offenkundig guten Beziehungen zu einflussreichen Persönlichkeiten ließ sich über die SPSL keine Position finden. Schließlich sammelten Dodds, Roberts und Fränkel Gelder, um Zuntz ab Herbst 1938 eine Tätigkeit und damit einen ersten Einstieg in Oxford zu ermöglichen.1154 Von außen betrachtet gelang der jüngsten der Zuntz Geschwister, der Hethitologin Leonie (1908–1942), ein guter Einstieg in Oxford, denn immerhin wurde sie schließlich als „proof reader“ bei der renommierten Oxford University Press angestellt.1155 Doch trotz dieser Existenzsicherung, sozialer und kultureller Einbettung in die Gesellschaft Oxfords, war sie zutiefst unglücklich. Als Violinistin gehörte sie der „Oxford Ladies Musical Society an“, nahm Spanischunterricht, hatte soziale Beziehungen auch außerhalb der Emigrantengesellschaft. Aber sie konnte es nicht verwinden, jede Aussicht auf eine akademische Karriere aufgeben zu müssen und ihre einstige soziale Stellung verloren zu haben. Sie litt unter den Sorgen um Freunde und Verwandte in Deutschland, sorgte sich um ihre stets leidende Mutter Edith. Nicht zuletzt missfielen ihr die Arbeitsbedingungen bei der OUP.1156 Vielleicht auch deshalb, weil sie sich zunächst größeren Hoffnungen hingegeben hatte, anfangs von den Professoren R. Livingstone (Präsident Corpus Christi, Oxford) und J.L. Myres (Oxford University) unterstützt wurde. Als „honorary reader“ für Hethitisch war sie an der Oxford University tätig, wurde im April 1935 von dem Assyriologen S. Langdon vom Jesus College Oxford gebeten, dort zu
1151 G. Zuntz an SPSL, 27. März 1933. BLO SC MS 570. 1152 Herbert Oppenheimer (Cousin von Mrs. Frank, der Schwester von Otto Meyerhof) an SPSL, 1. November 1934. BLO SC MS SPSL 570. 1153 Roberts setzte sich mit dem nach Oxford geflohenen Eduard Fränkel in Verbindung und sandte Empfehlungsschreiben an die SPSL. 2., 4. November 1934. BLO SC MS SPSL 570. 1154 Tatsächlich lehrte Zuntz von diesem Zeitpunkt an in Oxford, vor allem am St. John’s College, wurde finanziert vom Hall-Houton fund, der British Academy und den American learned soecieties. G. Zuntz an SPSL, 7. Juli 1941. BLO SC MS SPSL 570. 1155 Als Nachfolgerin von Ilse Lichtenstaedter, die in die USA emigrierte. 1156 OUPA Frances Maud Williams: One of those people. A Memoir, o.D., S. 3.32. Williams war eine Kollegin von L. Zuntz bei OUP und mit ihr befreundet.
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unterrichten, weil ihr Fach dringend gesucht sei.1157 Auch setzte sich ihr Schwager Colin Roberts nachdrücklich für sie ein. Doch im Mai 1936 hatte sie noch immer keine bezahlte Anstellung finden können, stets unbezahlten U nterricht oder geringfügig bezahlten Privatunterricht, etwa für die Familie Langdon, erteilen müssen. Alle beruflichen Ambitionen zerschlugen sich, so dass Leonie Zuntz eigentlich hätte erleichtert sein müssen, ab Februar 1938 eine vergleichsweise sichere Position bei Oxford University Press zu erhalten. Doch das war sie nicht, denn mit der Tätigkeit bei OUP blieb sie weit unter ihren intellektuellen Möglichkeiten.1158 Zu konstatieren ist, dass zwar beispielsweise Margarete Bieber in Oxford vergleichsweise willkommen geheißen wurde, dies aber nicht unbedingt üblich war. Etliche der geflohenen WissenschaftlerInnen fühlten sich ausgebeutet und wurden es mitunter auch, für zahlreiche Frauen war die Flucht identisch mit Abbruch oder zumindest Einbruch der akademischen Karriere. Mitunter bestanden auch politische Bedenken gegenüber Exilanten, so bei dem aus Frankfurt/Main stammenden Altphilologen Paul Maas (1880–1964), der bis zu seiner Entlassung im April 1934 eine Professur an der Universität Königsberg bekleidete und einer der angesehnsten Vertreter seines Fachs war.1159 Mühe bereitete dem AAC, dass er als „extreme nationalist“ galt, sich seit dem Krieg vielen nicht-deutschen Kollegen gegenüber sehr abweisend verhalten hatte. Diese waren zunächst wenig bereit, Maas einzuladen – „even if we had the means of securing his collaboration“, so Professor Henri Grégoire (Brüssel) 1936 an das AAC.1160 Maas selbst strebte lange Zeit seine Emigration nicht an. Schließlich wurden die britischen Kollegen und das AAC doch tätig, meinten die begründeten Vorbehalte gegen Maas entkräften oder zumindest beiseitelassen zu können. Eine Tätigkeit bei Oxford University Press und am Balliol College wurden Maas im Dezember 1938 und Januar 1939 angeboten; seine Familie hielt sich bereits in Dänemark auf. Allzu üppig war mit 180 bis 200 £ das Maas zur Verfügung stehende Jahresgehalt nicht.1161 Anstellung fand er bei Oxford University Press. 1157 Langdon an SPSL, 2. April 1935. BLO SC MS SPSL 570. 1158 Hinzu kam Liebeskummer. Vor ihrer Emigration war ihre Eheschließung mit Elias Bickermann (1897–1981, ab 1929 in Berlin Privatdozent im Fach Alte Geschichte) geplant gewesen, was sich angesichts ihrer und Bickermanns Flucht zerschlug. 1159 Vgl. Eckart Mensching: Paul Maas, 1987. 1160 24. August 1936. BLO SC MS SPSL 295. 1161 Am 5. Juni 1940 wurde Maas interniert, am 29. August entlassen. Er beantragte nie die britische Staatsbürgerschaft. Als er 1951 von der bundesdeutschen Regierung die Zahlung seiner Pension beantragte, wurde dies abgelehnt, weil Königsberg nicht mehr zu Deutschland gehörte. Schreiben Gilbert Murray (Oxford) an SPSL, 20. September 1951. BLO SC MS SPSL 295.
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Keineswegs leicht waren die Anfänge in Oxford auch für den Archäologen Paul Jacobsthal (1880–1957),1162 der seit 1915 Ordinarius an der Universität Marburg gewesen war und wegen seiner jüdischen Herkunft mit Wirkung vom 1. Januar 1936 entlassen wurde. Im Oktober 1935 emigrierte er mit seiner Ehefrau nach Oxford. Zwar stand Jacobsthal seit vielen Jahren in enger Verbindung mit seinen britischen Kollegen, ein adäquates Arbeitsangebot wurde ihm aber zunächst nicht gemacht. Als sein Unterstützer tat sich schließlich der Archäologe Beazley hervor, der wegen seiner jüdischen Ehefrau1163 eher sensibilisiert war für das Schicksal der Flüchtlinge als etliche seiner Kollegen, die, obschon Gegner des nationalsozialistischen Deutschland, Flüchtlinge möglichst fernhalten wollten.1164 Erst nachdem die SPSL die finanzielle Unterstützung für Jacobsthal zugesichert hatte – seine Pension von 330 RM lag auf einem für ihn nicht erreichbaren Sonderkonto in Deutschland -, wurde er für ein Jahr von Christ Church angestellt. Mit etlichen Mühen konnte er sich dort etablieren, stetes Problem blieb jedoch seine Bezahlung.1165 In enger Beziehung stand er zu seinem mit Hilfe von Gilbert Murray nach Oxford geflohenen Kollegen Eduard Fränkel (1888–1970).1166 1939 kam der mit beiden befreundete Kollege Felix Jacoby (1876–1959) hinzu. Sonderlich beliebt und willkommen waren die „refugees“ in Oxford nicht. Die „cleverness“ der ambitionierten Flüchtlinge missfiel – „the distressing thing about these refugees, so obsessed with their ‘cleverness’, was that they really were good people: we poor islanders could appreciate their merits, while writhing under their pretensions“, wie eine Zeitgenossin in Oxford befand.1167 Ihr Benehmen wurde als unangemessen empfunden, oft als taktlos und anmaßend. Auch stellten sie eine Konkurrenz dar und eine finanzielle Belastung. Der in Oxford etablierten Gesellschaft waren sie nicht zuzuordnen, hielten auch meist an ihren eigenen Modellen fest, die nicht mit jenen der britischen Gesellschaft kompatibel waren. Zwar waren die deutschen Wissenschaftler oftmals aufgrund ihrer Reputation erwünscht, obwohl man ihre Konkurrenz fürchtete. Doch wollte man ihre Finanzierung nicht übernehmen. Besonders schwierig war die Situation von Wissenschaftlerinnen.1168 1162 Studierte u. a. bei Wilamowitz-Moellendorf. 1163 Marie Blumenfeld. 1164 Charles Singer an SPSL, 6. November 1935. BLO SC MS SPSL 182/2. 1165 Unterlagen der SPSL zu Jacobsthal in BLO SC MS SPSL 182/2. 1166 Besuchte in Berlin ebenso wie LB das Askanische Gymansium, studierte bei Eduard Meyer und Wilamowitz-Moellendorf, wurde zum Sommersemester von der Universität Freiburg entlassen. In Oxford unterrichtete er ab 1935 am Corpus Christi College. 1167 OUPA Frances Maud Williams: One of those people. A Memoir, o.D., S. 3.36. 1168 Analyse von Dr. Martin Maw, leitender Archivar von OUP (November 2013).
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Als konsequenter Unterstützer und Förderer tat sich Kenneth Sisam, Leiter der OUP, hervor,1169 ebenso Mary Murray,1170 Ehefrau des Altphilologen Gilbert Murray. Immerhin aber bot Oxford die Nähe zur Wissenschaft, wenn auch oft nur beobachtend. Wie erwähnt zog es etliche Bekannte und Kollegen von Ludwig und Mimi Borchardt in die Universitätsstadt an der Themse. Zu dem Orientalisten Joseph Schacht (1902–1969) standen sowohl sie als auch Max Meyerhof und Georg Steindorff in enger Beziehung, nachdem dieser 1934 aus politischen Gründen nach Ägypten emigriert war.1171 In England vom Kriegsausbruch überrascht, weigerte er sich 1939, nach Deutschland zurückzukehren; er ließ sich 1939 in Oxford nieder, hielt enge Beziehungen zu Paul Kahle.1172 Dieser hatte bereits Monate zuvor mit seiner Familie nach England emigrieren müssen, wurde unterstützt von Gilbert Murray, arbeitete größtenteils an der Bodleian Library in Oxford. Die Archäologinnen Baumgärtel, Bieber und Bosse wurden bereits erwähnt. Außer Leonie Zuntz tauchte auch ihr Bruder, der Althistoriker Günther Zuntz mit seiner Familie und seiner verwitweten Mutter in Oxford auf, lebte dort mehrere Jahre. Der Archäologe Dietrich von Bothmer weilte 1939 ebenfalls für einige Zeit in Oxford, emigrierte dann nach Nord-Amerika, wo er mit Georg Steindorff in engeren Kontakt kam. Eine Art Wiedersehen gab es für die vor ihrer Emigration in Deutschland eng zusammenarbeitenden Paul Jacobsthal, Margarete Bieber und Gerhard Bersu (1889–1964). Für Ludwig Borchardt, der gewiss von der auch problematischen Situation in Oxford wenig wusste, dürfte es eine zusätzliche Rückversicherung dargestellt haben, dass sich etliche seiner deutschen Kollegen und Bekannten als Exilanten
1169 Stammte gebürtig aus Neuseeland und gehörte der Gesellschaft Oxfords nie wirklich an. Zusammen mit der Rockefeller Foundation sorgte er nachhaltig für die finanzielle Unterstützung exilierter Wissenschaftler in Oxford. Dazu gehörten, zugunsten von Publikationen: Fritz Schulz (Althistoriker, Berlin), R.Pfeiffer (Archäologe, München), F. Jacoby (Althistoriker, Kiel), E.J. Wellesz (Byzant. Geschichte), M. Wolff (Internat. Recht, Berlin), W. Levison (Historiker), Segre (Mathematiker), J. Schacht (Islam. Recht, Königsberg), P. Kahle (Orientalist, Bonn), O. Skutsch (Althistoriker), Paul Maas (Altphilologe, Königsberg). Die Regeln der Foundation verboten es den Wissenschaftlern, sich bei ihr zu bedanken. OUPA OPGE 000345. 1170 Briefe an Sisam 1940. OUPA Pkt 150 (2) K. Sisam 1940–41. 1171 War Professor in Königsberg, spezialisiert auf Islamisches Recht. 1172 Schacht an Brill Verlag (Leiden), 31. Juli 1946. BLO SC MSS Dr. Schacht 9.
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in Oxford aufhielten und in verschiedenen wissenschaftlichen Einrichtungen tätig waren, wenn auch meist unter schwierigen Bedingungen.
4.5.3 Steindorffs Flucht Zu den international renommiertesten Ägyptologen gehörte der seit 1893 an der Universität Leipzig lehrende und dort 1923/24 als Rektor fungierende Georg Steindorff (1861–1951);1173 vierzig Jahre lang war er Herausgeber der „Zeitschrift für Ägyptische Sprache und Altertumskunde“ (ZÄS), Mitglied der Wörterbuchkommission, des Aufsichtsrats der Kairener Abteilung des DAI und der Sächsischen Akademie der Wissenschaften.1174 Auch er war wie Borchardt, Ranke, Wreszinski und Sethe ein Schüler Ermans. Wegen seiner jüdischen Herkunft – während seiner Studentenzeit konvertierte er 1884 vom Judentum zum P rotestantismus1175 – gehörte er zu den von den Nationalsozialisten Verfolgten.1176 Beispielhaft lassen sich bei Steindorff die Stadien des sich über Jahre hinziehenden Bewusstwerdungs- und Loslösungsprozesses nachvollziehen, von der anfänglicher Selbstgewissheit und dem scheinbar, für die Leipziger soziale Oberschicht jüdischer Herkunft weiterhin ‘normalen’ Leben1177 über erste Zweifel, beginnende und sich steigernde Ängste, sich häufende niederschmetternde Erlebnisse, Aktivierung sozialer und beruflicher Netzwerke bis hin zur Gewissheit, Deutschland verlassen zu müssen. Augenfällig wurde der radikale Wandel im Leben Steindorffs nicht zuletzt bei seiner Ägyptenreise 1936, als er nicht mehr großzügig alimentiert in Ägypten auftauchen konnte, sondern auf die Gunst privater Gastgeber angewiesen war. Niedergelegt ist dies in den von Steindorff nachgelassenen Briefen, Reisetage- und Notizbüchern.1178
1173 Sohn des Ehepaars Louis Steindorff (Kaufmann) und Helene Ehrmann (Leiterin einer Näherei), Dessau. Geschwister: Paul, Kurt, Else, Lucie. Zu Steindorff s. Susanne Voss/Dietrich Raue (Hrsg.): Georg Steindorff, 2016. 1174 Dietrich Raue: Georg Steindorff, 2013, S. 345 f. 1175 Zur Konversion Steindorffs s. Thomas Gertzen: The Conversion, 2015. 1176 Vgl. Thomas Schneider: Ägyptologen, 2013, S. 127–135. 1177 Vgl. die Memoiren der in Leipzig aufgewachsenen und mit der Familie Steindorff bekannten Arzttochter Eva Kassewitz de Vilar: Wenn Du es doch erlebt hättest, 2004. 1178 Nachlass Steindorff im ÄMUL.
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Abb. 32: Georg Steindorff, Mitte 1930er Jahre in Leipzig
Auch Steindorff hatte sich während des Ersten Weltkriegs zu englandfeindlichen Äußerungen hinreißen lassen, gehörte jedoch zu den ersten deutschen Ägyptologen, die schon vor Kriegsende den Austausch mit den internationalen Kollegen suchten, in der Erkenntnis, dass nicht wissenschaftliche Isolation, sondern internationale Kooperation die Zukunftsperspektive darstellte. Neben Recherchen für
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den Baedeker motivierte dies seine erste Nachkriegs-Ägyptenreise, 1925, ein Aufenthalt, bei dem das Eis zwischen ihm und etlichen internationalen Ägyptologen und Orientalisten zu schmelzen begann, zu den amerikanischen Kollegen sogar Freundschaftliches entstand. Dies konnte Steindorff auch deshalb gelingen, weil seine Position eine unproblematischere war als jene Borchardts, für den in seinem ägyptischen Umfeld das Zusammentreffen mit internationalen Kollegen zu einem Alltag gehörte, der allein schon wegen der Konkurrenz um Grabungsmöglichkeiten und -konditionen etlichen Konfliktstoff beinhaltete. Die Nähe zwischen Steindorff und dem ebenfalls philologisch ausgerichteten Engländer Alan Gardiner entwickelte sich schon früh, festigte sich, als dieser ab 1903 in Berlin etwa zehn Jahre lang am Erman’schen Wörterbuch mitarbeitete. Der Krieg vermochte die vertrauensvolle Beziehung nicht aufzulösen, kontinuierlich berichtete Steindorff dem Kollegen vom Geschehen innerhalb deutscher Ägyptologenkreise.1179 Auf wissenschaftliche Arbeiten war Steindorff nicht ausschließlich konzen triert und fixiert, aufmerksam verfolgte er stets sein politisches Umfeld. Schon vor der Machtübergabe an die Nationalsozialisten nahm er mit größter Besorgnis den zunehmenden politischen Rechtsruck in Deutschland wahr, das „Nachlaufen der Jugend hinter Hitler“.1180 Nur wenige Wochen nach dem Regimewechsel brach Steindorff fast überhastet zu einer Ägyptenreise auf, offiziell wegen der Anuba-Publikation, inoffiziell zwecks Kontaktierung internationaler Kollegen.1181 Schon zu diesem Zeitpunkt drückten ihn „manche Sorgen“, wie er seinem britischen Gastgeber und Kollegen Percy Newberry, der ihm über Einiges hinwegzuhelfen versuchte, gestand.1182 Bei seiner Rückkehr Anfang April 1933 fand er in Leipzig zwar noch alles wie gewohnt vor, traute aber dem Schein nicht.1183 Persönlich war er von der „nationalen Revolution“ noch
1179 Etwa 1929, dass er eine Professur besetzen wollte, wobei er Hermann Junker für den geeignetsten Kandidaten hielt, der aber noch in Kairo gebunden und unabkömmlich sei, was sich hoffentlich in absehbarer Zeit ändern würde. Steindorff meinte, Grapow solle zugunsten der Arbeiten am Wörterbuch nach Berlin gehen. Walter Wreszinski komme wegen seiner technischen Ausrichtung für die Position nicht in Frage. Disponibel seien nur Hermann Kees und Günther Roeder, die Steindorff nicht kommentierte. Steindorff an Gardiner, 1929. GIO MSS AHG/42.308.67. 1180 Steindorff an Gardiner, diverse Briefe 1930–1933. GIO MSS AHG/42.308.66 ff. 1181 ÄMUL NL Steindorff Reisetagebuch 1933. 1182 Sein Leipziger Kollege Witkowski wurde infolge von Denunziationen („undeutsche Gesinnung“) entlassen. Die „Ausschaltung der Nicht-Arier“ stand in Sachsen zwar noch aus, aber Steindorff wollte „so schnell wie möglich Schluss machen“. Sein „Dasein“ machte ihm keine Freude mehr. Der Sohn seiner Schwester in Lübbecke (Landgerichtsrat und Lektor an der Universität Köln) wurde entlassen. Sein Schwiegersohn Hemer war wirtschaftlich in größter Not. Steindorff an Erman, 16. Mai 1933. UBB NLE Steindorff. 1183 Steindorff an Gardiner, 31. Mai 1933. GIO MSS AHG/42.308.64.
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nicht betroffen, um ihn herum aber sah es „böse“ aus und ließ ihn sorgenvoll in die Zukunft blicken. Seit 1932 war Steindorff emeritiert, wurde aber, weil Gelder für die Neubesetzung des Lehrstuhls fehlten, noch von der Vorgängerregierung gebeten, seine Tätigkeit einschließlich aller Rechte und Pflichten bis zum 31. März 1934 fortzuführen. Was ihn damals gefreut hatte, wurde ihm ab Januar 1933 zur Belastung. Unter den herrschenden Bedingungen wollte er sich so schnell wie möglich zurückziehen, leitete sogleich die erforderlichen Schritte ein. Wichtig war ihm dabei, dass der Lehrstuhl einschließlich der Assistentenstelle für die Ägyptologie erhalten blieb und verhindert wurde, „dass (er) etwa mit einem wilden Rassenforscher oder sonst einem nordisch-atlantischen Urmonotheisten besetzt“ wurde.1184 Tröstende Worte fand Steindorffs ehemaliger Lehrer und Freund Adolf Erman, dem das politische Geschehen in Deutschland, noch nicht wissend, dass auch er bald direkt betroffen sein würde, so sehr „wirklich ans Herz“ ging, dass er wünschte, es nicht mehr hätte erleben zu müssen.1185 Seinem früheren Schüler versicherte er, „dass uns die ‚Arier‘ nicht lieber sind als die ‚Nichtarier‘ – im Gegenteil“. Den ‚beurlaubten‘ Leipziger Kollegen Steindorffs, Witkowsky, bat er zu grüßen. Sein vollstes Mitgefühl galt zudem Steindorffs Tochter Hilde, ihrem nichtjüdischen Ehemann Franz Hemer und deren drei Söhnen, die unmittelbar Verfolgungen zu erdulden hatten. Franz Hemer stammte von rheinischen Weinbauern ab, als Pelzhändler geriet er in „große Nöte“ wegen seiner wichtigen geschäftlichen Beziehungen zu England und Belgien, seine treuesten Freunde hatten unter dem Druck des Handelsboykotts die Geschäfte mit ihm einstellen müssen. Weil er sich eben erst ein Haus in Leipzig gebaut hatte, zögerte er seine Emigration immer wieder hinaus.1186 Bei den meisten nächsten Verwandten Steindorffs häuften sich die Sorgen, einige seiner Freunde waren bereits ausgewandert. Wider besseren Wissens und anderer Erfahrungen hoffte Steindorff dennoch auf den baldigen radikalen Umschwung der politischen Situation in Deutschland – auch darin war er Borchardt nicht unähnlich. Dennoch flammte parallel dazu schon Mitte 1933 erstmals der Gedanke an Emigration auf.1187 Zukünftiges Unheil ahnend schlug Steindorff parallel dazu der „Vereinigung Sächsischer Höherer Staatsbeamter“ vor, aus dessen Gesamtvorstand auszuscheiden, da sich infolge der „nationalen Erhebung viele Verhältnisse geändert“ hätten, er „nicht-arischer Herkunft“ sei, es aber niemals an einer „deutschen und nationalen Gesinnung“ habe fehlen lassen.1188 1184 Steindorff an Gardiner, 31. Mai 1933. GIO MSS AHG/42.308.64. 1185 Erman an Steindorff, 18. Mai 1933. ÄMUL NL Steindorff Korrespondenz 1933. 1186 Steindorff an Gardiner, 31. Mai 1933. GIO MSS AHG/42.308.64. 1187 Erman an Steindorff, 18. Mai 1933. ÄMUL NL Steindorff Korrespondenz 1933. 1188 Steindorff an Gesamtvorstand, 11. Juni 1933. ÄMUL NL Steindorff Korrespondenz 1933.
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Beruhigend wirkte, dass langjährige, nicht unmittelbar negativ betroffene Kollegen ihm die Freundschaft hielten. Ende April 1933 besuchte ihn der in Berlin lehrende Kurt Sethe, intensive Aussprachen mit dem „besten Freund“ waren vonnöten. Doch Sethes Beurteilung von Hitler, den er für einen „starken sittlichen Charakter“, einen „Mann von ebenso klugem Geist wie von großem Wissen und starkem Willen“ hielt, dürften sich nicht mit Steindorffs Meinung gedeckt haben; ebensowenig ging er mit Sethes Wunsch konform, dass Hitler die „ungeheure Masse von Menschen, die er hinter sich gebracht hat, (…) fest in der Hand behalten“ möge.1189 Lediglich den „Antisemitismus mit seinen Auswüchsen“ hielt Sethe für „etwas höchst Unerfreuliches“, meinte aber, es räche sich nun, „dass die Machthaber der Weimar’schen Republik, namentlich die Sozialdemokraten, die Ostgrenzen so weitherzig offen hielten – und die unlauteren ostjüdischen Elemente, die so viel Kriminelle enthalten, nicht nur hineinließen, sondern in jeder Weise passierten und bevorzugten“. Dies habe „Hass“ und „Brotneid“ entfesselt, worunter nun auch die „anständigen und wertvollen Elemente des Judentums zu leiden“ hätten. Trotzdem hoffte Sethe, dass bald eine „Scheidung von Schafen und Böcken“ stattfände und wieder „Ruhe und Ordnung“ einkehrten. Als besonders empörend empfand er die im Ausland stattfindende Hetze gegen die „Umgestaltung der Dinge in Deutschland“, womit den deutschen Juden der „denkbar schlechteste Dienst“ erwiesen werde. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass diese Bemerkungen die enge freundschaftliche Beziehung zwischen Sethe und Steindorff beeinträchtigt hätte, vielleicht auch, weil Steindorff sich noch nicht als Zielscheibe von Antisemitismus sah und sicher nicht denselben Bedingungen wie ‚Ostjuden‘ glaubte ausgesetzt zu sein. Es traf ihn hart, als Sethe nur wenige Monate später verstarb.1190 Obwohl er sich am liebsten von der „üblen Welt“ zurückziehen wollte, galt es, intensiv die Beziehungen zu andern langjährigen Kollegen zu pflegen, sie nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, zumal jene, die ebenfalls von der nationalsozialistischen Politik unmittelbar betroffen waren.1191 Zu diesen zählte Ludwig Borchardt, 1934 sollte er anlässlich seines 70ten Geburtstags seitens deutscher und internationaler Ägyptologen eine besondere Ehrung erfahren, was Steindorff von Leipzig aus koordinierte. Vor allem bei den nicht-deutschen, aber auch bei einigen deutschen1192
1189 Sethe an Steindorff, 10. April 1933. ÄMUL K 22. 1190 Steindorff an Gardiner, 31. Mai 1933. GIO MSS AHG/42.308.64. 1191 Steindorff an Erman, 18. Februar 1934. UBB NLE Steindorff. 1192 Alexander Scharff, 1924 Assistent von LB in Kairo, versicherte gegenüber Steindorff, dass er LB „mit das Allermeiste verdanke und daran hat der weißhaarige Dickkopf drüben den meisten
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Ägyptologen war die Bereitschaft groß, sich auch finanziell an der Ehrung zu beteiligen – es waren schließlich mehr als „60 Herren“.1193 So sehr dies Steindorff freute, so sehr war er doch auch wegen anderer Vorkommnisse besorgt. Ihm war nämlich vor Augen gekommen, dass Gardiners Sohn einen offenen Brief an „führende Persönlichkeiten“ gerichtet und damit seine Nähe zum Nationalsozialismus offengelegt hatte. Dies weckte nicht nur Gesprächsbedarf, sondern auch Befürchtungen hinsichtlich der Haltung des Vaters.1194 Rolf Gardiner (1902–1971) unterhielt enge Beziehungen zur deutschen bündischen Jugend,1195 reiste häufig zu Treffen und Vorträgen über naturnahe Landwirtschaft nach Deutschland, unterstützte das von seinem Freund Georg Götsch (1895–1956) in Frankfurt/Oder gegründete „Musikheim“, förderte den Jugendaustausch zwischen Deutschland und Großbritannien.1196 In den frühen 1930er Jahren bewunderte er Hitler, sah im Nationalsozialismus die Basis für ein vereintes Europa.1197 Auch hatte sein Gedankengut deutlich rassistisch-antisemitische Anklänge, trotz der jüdischen Herkunft seiner Mutter.1198 Den „Anschluss“ Österreichs 1938 begrüßte er.1199 In seinem in „New English Weekly“ erscheinenden Artikel vom Juni 1933 verteidigte Rolf Gardiner den Nationalsozialismus in Deutschland als eine soziale Revolution, als den Frühling einer „new renaissance“, den er bewunderte.1200 Dies wiederholte er 1933 in seinem Essay „Die deutsche Revolution von England gesehen“ zur in Berlin erscheinenden Schrift „Nationalsozialismus vom Ausland gesehen“, worauf Steindorff Bezug nahm. Nicht nur Deutschland, sondern die
nteil; das werde ich ihm nie vergessen und freue mich, wenn sein 70. Geb.Tag nicht völlig teilA nahmslos vorübergeht“. Scharff an Steindorff, 11. Juli 1933. ÄMUL NL Steindorff Korrespondenz 1933. 1193 Steindorff an Erman, 22. August 1933. UBB NLE Steindorff. 1194 Steindorff an Gardiner, 15. August 1933. GIO MSS AHG/42.308.63. 1195 Unter anderem zu Hans Dehmel, dem Sohn von Steindorffs Schwägerin. Mike Tyldesley: German Youth Movement, 2006, S. 22. 1196 Graduierte 1924 in Cambridge. Aus der von seinem Onkel, dem Komponisten Balfour Gardiner, geerbten Farm „Springhead Estate“ in der Nähe von Shaftesbury/Dorset machte er 1927 ein Zentrum für alternative, naturnahe Landwirtschaft und rief dort „Land Service Camps for Youth“ ins Leben. Rolf Gardiner ist der Vater des Dirigenten und Chorleiters Sir John Eliot Gardiner (geb. 1943). 1197 Richard J. Moore-Colyer: Rolf Gardiner, 2001, S. 196, 198. 1198 „His writings and his friendships with many of the anti-Semitic Right, despite his protestations against Nazi racial theory, raise serious questions as to his true political, social und racial values (…).“ Richard J. Moore-Colyer: Rolf Gardiner, 2001, S. 199 f. 1933 und 1939 sprach er sich dezidiert vor allem gegen „Ostjuden“ aus. Richard Griffiths: Fellow Travellers, 1983, S. 74 f, 327. Seine Mutter Hedwig von Rosen war Tochter eines österreichisch-ungarischen Juden und einer Finnin. 1199 Richard Griffiths: Fellow Travellers, 1983, S. 321. 1200 Mike Tyldesley: German Youth Movement, 2006, S. 30.
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gesamte europäische Welt sollte nach Gardiners Überzeugung von dieser Revolution profitieren, die „discipline of togetherness“ erleben.1201 Als sein an Goebbels 1934 gerichteter Brief zwecks Unterstützung von Götschs „Musikheim“ von dem Adressaten aus Propagandazwecken veröffentlicht wurde, bezeichnete die britische Presse Gardiner als Nationalsozialisten bzw. Unterstützer des nationalsozialistischen Deutschland, womit sie nicht falsch lag. Steindorffs Bedenken und aufkeimendes Misstrauen waren mithin begründet. Schriftlich äußerte Alan Gardiner sich Steindorff gegenüber nicht über seinen Sohn, mag sein, dass es ein Thema bei Treffen in England war. 1933 kam Steindorff nach wie vor seinen Lehrverpflichtungen nach, auch wenn sie ihm nicht mehr behagten und er den 1. April als den Tag seines endgültigen Rücktritts herbeisehnte.1202 Wer seine Nachfolge antreten würde, war ungeklärt, geeigneter Nachwuchs in Deutschland rar, was Steindorff neidvoll auf England blicken ließ.1203 Mehr als er wünschte sorgte der Tod von Kurt Sethe, 1934, für Aufruhr. Dem in Bremen lebenden Sohn Heinz stand Steindorff wegen des Nachlasses helfend zur Seite. Auch in diesem Fall wollte sich so recht kein Nachfolger finden lassen, es mangelte an geeignetem Nachwuchs, sah sogar „schlimm“ damit aus.1204 Steindorff befürwortete, dass Hermann Grapow schon allein wegen der Sicherung der Wörterbucharbeit nach Berlin gehen sollte, befürchtete aber, dass man Kees und Junker den Vorzug geben würde. Beide fand er bedenklich, Junker wegen der von ihm vertretenen „Wiener Schule“ und weil er ihn für einen schwer zu durchschauenden „merkwürdigen Heiligen“ hielt, der in Kairo die Nähe zu Nationalsozialisten pflegte und keine ausführlichen Berichte lieferte,1205 Kees kommentarlos. Wirklicher Grund dürfte gewesen sein, dass beide zwischenzeitlich der NSDAP beigetreten waren. An die Zuziehung nicht-deutscher Kandidaten war unter den Nationalsozialisten nicht mehr zu denken. Zwischen den Zeilen wusste Gardiner die Nöte seines deutschen Kollegen herauszulesen, bot ihm für den Bedarfsfall seine Hilfe an.1206 Im Frühherbst 1934 hielt Steindorff sich zwecks Sondierung der Lage bei seinem englischen Kollegen Percy Newberry in Winkworth Hill unweit von Oxford auf, wandte sich bei dieser Gelegenheit auch an Gardiner, auf dessen Hilfsangebot zurückkommend. 1201 Richard Griffiths: Fellow Travellers, 1983, S. 145. 1202 Er wollte es sein letztes Semester sein lassen. Steindorff an Gardiner, 8. Dezember 1933. GIO MSS AHG/42.308.62. 1203 In Oxford hatte Peet die Nachfolge von Griffith angetreten, in London Glanville von Petrie. 1204 Steindorff befand, in England sei die Situation deutlich besser. In Oxford habe man in Gunn einen guten Ersatz gefunden. Steindorff an Gardiner, 12. August 1934. GIO MSS AHG/42.308.61. 1205 Steindorff an Erman, 18. Februar 1934. UBB NLE Steindorff. 1206 Vorläufig meinte Steindorff sie noch nicht unbedingt zu benötigen. Steindorff an Gardiner, 1. September 1934. GIO MSS AHG/42.308.58.
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teindorffs seit 1923 in New York lebender Sohn Ulrich1207 benötigte dringend S Geld bzw. Devisen, Gardiner sollte ihm „schleunigst“ 24 £ (= 300 RM) schicken. Weder von Deutschland noch von England aus konnte Steindorff selbst Geld transferieren, auch das baldige Begleichen der Schuld nicht versprechen. Er würde verstanden haben, wenn Gardiner deshalb die Unterstützung ablehnte. Erwartungsgemäß war dies nicht der Fall. In England konnte Steindorff dann offene Gespräche führen, seine Sorgen mitteilen, mit Gardiner und dessen Vater Zukunftspläne besprechen. Kaum nach Deutschland zurückgekehrt, türmten sich neue Probleme und Ärgernisse auf, etwa dass Steindorffs ehemaliger Assistent, der erklärte Nationalsozialist Walther Wolf (1900–1973),1208 für den Leipziger Lehrstuhl vorgesehen war, worauf auch Erman nur noch resignierend zu reagieren vermochte und Alexander Scharff rhetorisch fragte, ob Wolf wohl auch vor dem 30. Januar 1933 das Antrittsthema „Individuum und Gemeinschaft in der ägyptischen Kultur“ gewählt haben würde, Thutmosis III. als „Führerpersönlichkeit“ herausarbeitend, obwohl die altägyptische Kultur „so unendlich verschieden von allem sei, was uns heute bewegt und nicht bewegt“.1209 Dies war, trotz der erkennbaren Unbeugsamkeit Scharffs,1210 ein weiterer Mosaikstein in dem insgesamt von Steindorff als immer unerfreulicher empfundenen Leben in Deutschland.1211 Die „Alarmrufe ‚Krieg-Krieg‘“ schienen zwar verstummt und die „Köpfe kühler geworden“, die „Saar-Unruhe“ schien ein baldiges Ende zu finden, doch klar sehen konnte Steindorff nicht, wie sich „die äußere und besonders auch die innere Politik bei uns gestaltet“. Nur wollte er in Ruhe arbeiten können, ein Refugium, in das er sich ähnlich wie Borchardt zurückzog. Ü bersehen konnte er jedoch nicht, wie auch seine beiden Enkel-
1207 Adresse: 15 Oak Drive, Greak Neck, New York. 1208 Studierte bei Ranke in Heidelberg, bei Sethe in Göttingen und Berlin, 1926–1927 Assistent von LB in Kairo, ab 1928 Assistent von Steindorff in Leipzig, Professur in Leipzig ab 1934, He rausgeber der ZÄS als Nachfolger von Steindorff ab 1937, ab 1949 Professor in Münster. Who-wasWho, 2012, S. 587. 1209 Steindorff an Gardiner, 20. September 1934. GIO MSS AHG/42.308.57. Erman an Steindorff (10. Januar 1934): „Die Devise lautet heut: denn alles war besteht, ist wert dass es zu Grunde geht.“ Scharff an Steindorff, 6. Dezember 1934. ÄMUL NL Steindorff Korrespondenz 1933. 1210 1935 war Scharff einer von etwa 250 Professoren, die das Stiftungsfest der Universität München boykottierten, was er in einem Schreiben an das Kultusministerium mit der fehlenden Qualifikation des Festredners (NS-Parteiphilosoph Wolfgang Schultz) begründete. Ebenfalls 1935 lieferte er mit seiner Rezension zu Walther Wolfs „Individuum und Gesellschaft“ einen Verriss dieser Arbeit. Bei ihm promovierten 1935 Käthe Bosse und 1937 Helmuth Jacobsohn, er sorgte zudem für die Veröffentlichung der Dissertationen, auch der von Otto Königsberger. Thomas Schneider: Ägyptologen, 2013, S. 148 f. 1211 Steindorff an Gardiner, 11. Dezember 1934. GIO MSS AHG/42.308.53.
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söhne ein Stück weit unter den Einfluss der Nationalsozialisten gerieten, von „halbwüchsigen Jünglingen über die alten Germanen und den neuen Staat unterrichtet“ wurden.1212 In diesen Bedrängnissen taten Briefe von mitfühlenden und -denkenden Kollegen außerhalb Deutschlands gut, bildeten einen Hoffnungsschimmer für die Zukunft.1213 Allzu sehr eingeschränkt war Steindorffs Leben dennoch zunächst nicht. Ostern 1935 verbrachte er mit seiner Ehefrau an der Riviera, besuchte anschließend den Papyrologenkongress in Florenz, wo sich etliche Bekannte einfanden.1214 Im September 1935 wollte er am Orientalistenkongress in Rom teilnehmen,1215 meinte auch, sich solche Planungen wieder erlauben zu können, weil „derzeit“ die „Welt ja nicht mehr so sehr voller Teufel“ sei.1216 Dies ließ ihn auch eine weitere Englandreise ab dem 5. September 1935 anvisieren.1217 Besuchen wollten er und seine Ehefrau die befreundeten Kollegen Gardiner, Newberry, Crum und Sir Herbert Thompson in Bath, auch Gunn und Davies sowie Mrs Griffith und Miss Moss in Oxford. Gardiner sollte die Termine managen, wollte dies liebend gerne und zugleich Gastgeber des Ehepaars Steindorff in seinem Haus in Brambridge Park sein. Nicht nur durch Steindorff erfuhr er vom radikalen, sich innerhalb der deutschen Ägyptologenschaft vollziehenden Wandel, zögerte aber, seine Loyalität und finanzielle Unterstützung aufzugeben. Für die Fortsetzung der Arbeiten zur Herausgabe des Pyramidenkommentars stiftete er erneut 100 £, Steindorff dankte es ihm und versicherte, einen Teil der Gelder an den Dänen Sander-Hansen weiterzuleiten, einen anderen an Grapow.
1212 Klaus Hemer zeigte sich dabei kritisch, der jüngere Thomas nahm alles „begeistert auf“. Steindorff an Erman, 18. Februar 1934. UBB NLE Steindorff. Zu „Erziehung der Jugend“ vgl. dazu George L. Mosse: Der nationalsozialistische Alltag, 1978, S. 285–310. 1213 Der amerikanische Kollege H.E. Winlock (Metropolitan Museum of Art, New York) schrieb am 15. Juli 1933 an Steindorff: „I often wonder nowadays how you are and how everything goes with you. You realize without question that you have my very best wishes and most sincere hope that you are surviving these extraordinarily unfortunate times“. ÄMUL NL Steindorff Korrespondenz 1933. 1214 Er traf Bell und einen klassischen Philologen aus Newcastle, der früher an der Universität Kairo gewesen war. 1215 Sein Antrag beim Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung datiert vom 29. Juni 1935. Vorgesehen war sein Vortrag „über die von mir 1912–1914 für die Ernst von Sieglin-Expedition und 1930–1931 im Auftrage und auf Kosten der Staatlichen Ägyptischen Altertümerverwaltung ausgeführten Ausgrabungen in Nubien“. ÄMUL NL Steindorff K16 1935. 1216 Steindorff an Gardiner, (Leipzig) 18. Juni 1935. GIO MSS AHG/42.308.50. 1217 Steindorff an Gardiner, 4. August 1935. GIO MSS AHG/42.308.49.
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Noch ahnte niemand, dass auch für Steindorff das Jahr 1935 die entscheidende Wende bedeuten sollte. Seine Englandreise sagte er am 14. August 1935 ab, und dabei sollte es nicht bleiben. Auch jede weitere Reise würde ihm 1935 unmöglich sein.1218 Das zuständige Ministerium erteilte ihm keine Reisegenehmigung, die er als Beamter für Auslandsreisen benötigte. Am Orientalistenkongress in Rom konnte er also ebenfalls nicht teilnehmen, was seine britischen und amerikanischen Kollegen nicht wenig erzürnte,1219 wie sie auch über die ausgefallene Englandreise Steindorffs verwirrt und besorgt waren.1220 Dessen Gedanken kreisten primär um familiäre Probleme; Tochter Hilde Hemer1221 verließ Leipzig, zog sich an den Comer See zurück, wo ihre Eltern sie im September 1935 besuchten. Dort wurde Steindorff nach Verkündung der Nürnberger Gesetze (15. September 1935)1222 schlagartig seine bedrohte Lebenssituation deutlich, auch, dass er keineswegs einen ihn vor Verfolgung schützenden Sonderstatus innehatte. Er fühlte sich „völlig gelähmt“, seiner Familie war der „Lebensfaden abgeschnitten“, ihre „Lebensfreude und auch meine Arbeit (waren) vernichtet“.1223 In seiner Verzweiflung wandte er sich nicht nur an Erman, sondern auch an seine englischen Freunde, etwa an Essie Newberry, Ehefrau von Percy Newberry.1224 Die Wochen nach der Gesetzesverkündung erlebte Steindorff als die „most exciting in my life“; ihm wurde klar, dass „we have to change our whole mind and to change our life“. Welche Veränderungen stattzufinden hatten, war zunächst undeutlich, auch weil sie mit den Plänen der Tochter abgestimmt werden mussten. Gänzlich undenkbar war für Steindorff, dass sein Schwiegersohn seine Kinder eine jüdische Schule besuchen lassen würde; vermutlich werde er ein englisches College 1218 GIO MSS AHG/42.308.48. 1219 Davies an Newberry, 16. Oktober 1935. GIO MSS Newberry 11/74. James Breasted an Steindorff, 31. Oktober 1935. ÄMUL NL Steindorff K16 1935. Breasted bedauerte, nicht wieder wie 1899 mit seinen deutschen Kollegen in Rom zusammengetroffen zu sein. Ohne Steindorff fühlte er sich „very lonely“. Einziger deutscher Teilnehmer war Friedrich von Bissing, kein Engländer nahm teil. 1220 Laut Newberry war Steindorff in größter Sorge – „what a world we are living in!“. Newberry an Davies, 19. Oktober 1935. GIO MSS Davies 4.9. 1221 1892–1982, 1917 Eheschließung mit Franz Hemer, der ebenso wie Hilde große musikalische Begabung besaß. 1938 reichte Franz Hemer die Scheidung ein, nachdem zuvor der älteste Sohn nach England geschickt worden war und Hilde Hemer mit den beiden jüngeren Söhnen die Emigration in die USA organisiert hatte. Elke Blumenthal: Hilde Hemer, 2011, S. 58. 1222 Dazu gehörten u. a. „Reichsbürgergesetz“ und „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“. Letzteres erklärte u. a. zwischen Juden und Nichtjuden geschlossene Ehen für ungültig und verboten (§1). 1223 Steindorff an Erman, 20. September 1935. UBB NLE Steindorff. 1224 3. Oktober 1935. GIO MSS Newberry 42/18.
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oder eine Schule in der Schweiz suchen, seiner Ehefrau ebenfalls zur Emigration raten. Steindorff war verzweifelt – „what a misfortune to change one’s country, and how difficult to do so on my age. What shall we do? Shall I stay in Germany as a third class German?“ Sicher war, dass Steindorff am 1. April 1936 seine Leipziger Wohnung aufgegeben haben musste sowie keine Dienstboten unter 45 Jahren anstellen durfte.1225 Nur wenig vermochten mitfühlende Worte von Kollegen die sich rasch zuspitzende Notsituation zu lindern. Doch taten Bekenntnisse gut wie jene des Archäologen Herbert D. Schaedel (geb. 1912),1226 die Treue halten und notfalls tatkräftig unterstützen zu wollen, oder die Aufforderung des Leipziger Germanisten Theodor Frings (1886–1968),1227 Steindorff solle zu seiner „Kraft“ zurückfinden, denn auch seinen Freunden habe er „einen Glauben zu erhalten“, oder Adolf Ermans Ratschlag, sich vor der Welt abzuschließen und aufs Arbeiten zu verlegen.1228 Innere Ruhe und Ausgeglichenheit konnte all dies nicht zurückbringen, auch weil sich Zurückweisungen mehrten.1229 Darüber hinaus machte ihn die internationale Politik höchst besorgt, ließ ihn einen baldigen Krieg befürchten. Angesichts all dieser wachsenden Probleme war auch für Steindorff an wissenschaftliches Arbeiten nicht mehr zu denken. Es drängte ihn, sich mit Gardiner, Newberry und andern britischen Kollegen zu treffen. Ob für diese jedoch das Ausmaß der Bedrohung und auch der Kränkung nachvollziehbar war, konnte Steindorff nicht sicher wissen. Bei Erman konnte er sich dessen gewiss sein, zumal auch er tiefe Verletztheit erkennen ließ.1230 Trotz der Briefzensur schilderte er ihm gegenüber in aller Deutlichkeit seine Gefühlslage.1231 1225 Die seit 15 Jahren im Hause Steindorff arbeitende Frieda Bachmann war erst 43 Jahre alt, der Koch noch jünger. Bachmann begleitete das Ehepaar Steindorff später ins Exil. §3 des „Gesetzes zum Schutze des deutschen Blutes (…)“ verbot die Beschäftigung von Angestellten unter 45 Jahren unter Androhung von Gefängnis- und Geldstrafe. 1226 Referent am DAIK und Assistent von Walther Wolf. Nach dem Krieg kehrte Schaedel nicht zur Ägyptologie zurück, lieferte aber ein entlastendes Gutachten für Walther Wolf an die Universität Münster. Thomas Schneider: Ägyptologen, 2013, S. 183. 1227 1927 bis 1957 Professor in Leipzig, unterzeichnete 1933 das „Bekenntnis der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler“, 1946–1965 Präsident der Sächsischen Akademie der Wissenschaften (Leipzig). 1228 Schaedel an Steindorff, 20. September 1935. Frings an Steindorff, 27. September 1935. Erman an Steindorff, 23. September 1935. ÄMUL NL Steindorff K16 1935. 1229 Steindorffs Antrag, im Wintersemester 1935/36 und Sommersemester 1936 Vorlesungen abhalten zu können, wurde abgelehnt. Thomas Schneider: Ägyptologen, 2013, S. 129. 1230 „Bei dem was Sie schreiben habe ich auch an alle die aus unserer Familie gedacht, die in den Freiheitskriegen 1866, 1870 und im Weltkrieg gefallen sind.“ Erman an Steindorff, 23. September 1935. ÄMUL NL Steindorff K16 1935. 1231 Steindorff an Erman, 20. September 1935. UBB NLE Steindorff.
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Stets hatte er sich voller Stolz als „civis Germanus“ empfunden, musste nun aber erfahren, dass ihm dies aberkannt und er mit „russischen und galizischen Rassegenossen in ein Ghetto gesperrt“, mit diesen gleichgestellt wurde. „Unstet und flüchtig“ werde er zukünftig „vaterlandslos durch die Welt wandern müssen“. Ein Bleiben in Leipzig, wo er „40 Jahre ehrlich gearbeitet habe und an der mir alle Ehren erwiesen worden sind“, erschien ihm unmöglich. Wichtig war für Steindorff vor allem, dass er sich niemals seinen Stolz würde brechen lassen, bemitleidet werden wollte er nicht. Nur hatte er seit Verkündung der Gesetze gelernt zu hassen. Dennoch bröckelte seine Zuversicht zusehends, Mutlosigkeit und Niedergeschlagenheit machten sich breit.1232 Steindorff fehlte die psychische Kraft, sich den bei einer Englandreise zu erwartenden Schwierigkeiten und Hindernissen zu stellen. Es dürfte ihn einige Überwindung gekostet haben, wiederum bei Gardiner wegen Geld anzufragen, Sohn Ulrich1233 benötigte dringend 20 £, Gardiner sollte die Summe von dem Guthaben, das Steindorff bei ihm hatte, abziehen. Damit verblieben nur noch 10 £ Guthaben, Devisen, die Steindorff unbedingt benötigte. Die erfreulichen Ereignisse im deutschen Leben des Georg Steindorff reduzierten sich, eines der wenigen Glanzlichter war der 70. Geburtstag seiner Ehefrau, den man Anfang 1936 feierlich im Kreise der Familie beging – „von allem übrigen schweige des Sängers Höflichkeit“.1234 „Abgesehen von einigen fühlbaren Nadelstichen“ hatte man ihm bis dahin aber noch „kein Haar gekrümmt“. Um welche „Nadelstiche“ es sich handelte, konnte Steindorff aufgrund der Briefzensur nicht ausführen, doch dürfte es Gardiner kaum schwergefallen sein, sich Steindorffs Lebensumstände auszumalen, ein Leben, das ab Herbst 1935 geprägt war von Zurückweisungen und Enttäuschungen, auch von Reiseplanungen und Vorbereitung der Emigration. Ende Februar 1936 wollte Steindorff nochmals nach Ägypten aufbrechen, seine Ehefrau währenddessen für zwei Monate Sohn Ulrich in Kalifornien besuchen. Etwa im Juni wollten sie gemeinsam nach England, sich für ein paar Wochen bei Newberry „einnisten“.1235 Ob die Pläne realisierbar waren, wagte Steindorff kaum zu hoffen, obwohl er nicht an einen von den Politikern in Bälde entfachten „Weltbrand“ glaubte. Andererseits erstaunte es ihn, „wie viele Menschen (wenigstens in Deutschland) das unermessliche Unglück von 1914–18 vergessen haben“. Nord-Amerika war für Steindorff durchaus eine denkbare Option, er verband damit schönste Erinnerungen an seine mehr als dreißig Jahre zurückliegende 1232 Steindorff an Gardiner, (Como, Grand Hotel Britannia Excelsior Cadenabbia) 4. September 1935. GIO MSS AHG/42.308.47. 1233 The Sutton, 330 East 56th street, New York. 1234 Steindorff an Gardiner, 15. Januar 1936. GIO MSS AHG/42.308.46. 1235 Steindorff an Gardiner, 15. Januar 1936. GIO MSS AHG/42.308.46.
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Reise. Elise Steindorff reiste am 24. Februar 1936 ab, Georg Steindorff folgte einer Einladung ägyptischer Freunde1236 und machte sich auf nach Ägypten, nutzte zuvor nochmals Gardiners Vermittlerdienste.1237 Von Kairo aus ließ er Gardiner seine genauen Reisepläne wissen; bis zum 8. Mai 1936 wollte er in Ägypten bleiben, kurz nach Leipzig zurückkehren, dann nach England reisen, um sich ausführlich mit Gardiner zu besprechen.1238 Wie zentral bezüglich der Planung seiner zukünftigen Lebensgestaltung die Englandreise für Steindorff war, beweisen seine von Kairo aus an Gardiner gerichteten Briefe.1239 Zusätzlich musste dieser ihn dringend aus seiner Devisennot befreien, ihm 7 £ schicken, sollte aber auf keinen Fall in seinen nach Leipzig geschickten Briefen etwas davon erwähnen.1240 Trotz aller Reiseanstrengungen und ungewohnten Unterbringung bei Freunden genoss Steindorff die Freiheit in Ägypten, wurde auch von etlichen seiner langjährigen nicht-deutschen Kollegen sehnlich erwartet.1241 Nach Deutschland kehrte er am 16. Mai 1936 zurück. Diese letzte von Steindorff unternommene Ägyptenreise hatte über weite Strecken einen anderen Charakter als alle seine vorherigen, angefangen damit, dass er nur eine Schiffsreise 2. Klasse in Anspruch nehmen konnte.1242 Auch stellte Steindorff, wissend um seine prekäre Lage, gänzlich andere Beobachtungen an, kreisend um die Rolle der Juden. Laut seiner Beobachtung waren neun Zehntel seiner Mitreisenden sich auf dem Weg nach Palästina befindende Juden; Steindorff empfand sie als „fürchterliche Volksgenossen“. Er gab sich nicht zu erkennen, wohl auch nicht gegenüber dem Berliner Ehepaar „Prof. Rosenstein (der Name sagt alles)“,1243 die ebenfalls auf dem Weg nach Palästina und Ägypten
1236 Nicolas und Eveline Pierrakos, Pont des Anglais, 127 Rue Khedive Ismail, Giza. Pierrakos war Weinproduzent und -händler, Sohn Nestor wurde sein Nachfolger und stieg zudem in den Kaffeehandel in Kenia ein. Nestor Pierrakos: Maktoub, 2012. 1237 Steindorff an Gardiner, 21. Januar 1936. Steindorff wollte Gardiner anonym zwei Päckchen zuschicken, die an Schwiegersohn Hemer weitergeleitetet werden sollten. Darin enthalten waren „ein paar dürftige Ostraka, die in Aniba von mir gefunden worden sind“. Damit meinte Steindorff vorläufig nichts mehr anfangen zu können. GIO MSS AHG/42.308.45. 1238 Steindorff an Gardiner, 16. April u. 8. Mai 1936. GIO MSS AHG/42.308.44. 1239 GIO MSS AHG/42.308.43. 1240 GIO MSS AHG/42.308.47. 1241 George Reisner bot ihm seine Gastfreundschaft an und versicherte, dass „every face lights up at the prospect of seeing you again. Looking forward to your return to us.“ Reisner an Steindorff, (Kairo) 22. Dezember 1935. ÄMUL NL Steindorff K16 1935. 1242 ÄMUL NL Steindorff, Reisetagebuch Ägypten 1936. 1243 Paul Rosenstein (1875–1964) war Urologe an der Berliner Charité gewesen, 1940 emigrierte er nach Brasilien. ÄMUL NL Steindorff, Reisetagebuch Ägypten 1936, S. 2.
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Abb. 33: Georg Steindorff mit Ehepaar Elise und Max Meyerhof auf Zypern, 1936
waren. Rosenstein hoffte auf eine Anstellung als Chirurg an einem neu erbauten Krankenhaus, das aber noch nicht fertiggestellt zu sein schien. Nicht nur die Mitreisenden sorgten bei Steindorff für ungute Gefühle, ihn bedrückte auch die Unsicherheit, „wie alles in Ägypten sich gestalten wird“, alles
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erschien ihm „nebelhaft“ und abenteuerlich, was nicht zuletzt mit Borchardts Berichten über das Geschehen innerhalb deutscher Kreise in Ägypten zusammengehangen haben dürfte.1244 Zwar wurde er von Meyerhof und Pierrakos am 26. Februar 1936 in Kairo in Empfang genommen und fand bei Letzterem eine luxuriöse Unterkunft, doch bewegte er sich nicht mit der gewohnten Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit. Anders als bei seinen vorherigen Reisen musste er sich als Gast nach den Wünschen anderer richten. Häufig ‚flüchtete‘ er zu Borchardt, Meyerhof und Schacht, suchte bei ihnen das offene Gespräch. Besuche bei andern deutschen Bekannten wie van Meeteren, Uppenkamp und dem Gesandten von Stohrer ließ er nicht aus, hielt sich dort aber zurück. In Oberägypten suchte er die Nähe besonders von Nora und Norman de Garis Davies. Vor allem trieben ihn Überlegungen zur jüdischen Bevölkerung um. Bei einem Hochzeitsempfang traf er auf den ägyptischen Rechtsanwalt Charles Chalom („der Name sagt alles“), eine Gesellschaft, die ihm wenig behagte, denn sie bestand „fast ausschließlich (aus) Juden der oberen Schichten aus Kairo und andrien“, der „Rassetypus“ erschien ihm „unverkennbar“.1245 Mit einem Alex Mann aus Alexandria unterhielt er sich „über ein Problem, das mich hier früher schon sehr beschäftigt hat: woher kommen alle diese Juden? Wohl je 30–40 Tausend in Kairo und Alexandrien“. Auch ein Abendessen bei dem Bankier Elie Mosseri (1879–1940) empfand Steindorff als „wenig erfreulich“. Er sei „ein gerissener Finanzier, angeblich Millionär, der aber den Kommunisten spielt“.1246 In Wirklichkeit stand hinter Steindorffs Missfallen, dass er spätestens seit Verkündung der Nürnberger Gesetze ebenfalls als Jude galt, sich insofern nicht mehr von den ägyptischen Juden unterscheiden und distanzieren konnte. Immerhin gehörte die aus Livorno stammende Familie Mosseri zu den angesehensten, wohlhabend sten und einflussreichsten Ägyptens, gründete u. a. die Bank Mosseri, leitete die größten Hotels des Landes, erbaute 1929 das King David Hotel in Jerusalem. Weitere unangenehme Beobachtung war, dass sowohl Meyerhof als auch Borchardt sich von ihrem bisherigen deutschen Kreis gänzlich distanziert hatten, man im Hause van Meeteren aber so tat, „als ob in der Welt nichts geschehen wäre. Früher standen bei solchem Thee Meyerhofs und Borchardts im Mittelpunkt; sie haben sich völlig zurückgezogen und haben ihren eigenen kleinen Kreis“, der hauptsächlich aus Max Meyerhof, Joseph Schacht, Ludwig Keimer, George Reisner, Jacques Calderon und einigen nicht-deutschen Ägyptologen/Orientalisten bestand.1247 An ihrem „Brauch“, jeden Freitag „offenen Tisch“ zu halten, hielten 1244 ÄMUL NL Steindorff, Reisetagebuch Ägypten 1936, S. 2 f. 1245 ÄMUL NL Steindorff, Reisetagebuch Ägypten 1936, S. 37. 1246 ÄMUL NL Steindorff, Reisetagebuch Ägypten 1936, S. 12. 1247 ÄMUL NL Steindorff, Reisetagebuch Ägypten 1936, S. 37.
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Borchardts fest, „jetzt finden sich freilich nur noch wenige ein; außer mir waren lediglich die Hausgenossen da, Rickes und der zweite Assistent Dr. Königsberger“.1248 Tatsächlich spiegelte dies auch Steindorffs Wirklichkeit, die ihn im scheinbar entlegenen Ägypten in Gestalt des Leipziger Althistorikers Helmut Berve (1896–1979), mit dem er stets einen kollegial-freundlichen Umgang gepflegt hatte, einholte. Berve war überzeugter Nationalsozialist, hielt ab 1933 vielbeachtete nationalsozialistisch inspirierte öffentliche Vorträge, war 1933 bis 1935 Dekan der Philosophischen Fakultät der Universität Leipzig, 1936 bis 1939 Prorektor und von 1940 bis 1943 Rektor der Universität.1249 Am 1. Mai 1936 erreichte Steindorff ein „sehr gewundener, heißhändiger“ Brief Berves: „Abschied von mir, da der Verkehr für einen Pg untragbar sei, dazu die Mitteilung, dass er aus dem gleichen Grunde aus dem Kränzchen ausscheiden müsse“.1250 Völlig unvorbereitet kam diese Ankündigung nicht. In Kollegenkreisen hatte sich schon seit Längerem Berves politische Haltung, die sich auch in seinen wissenschaftlichen Arbeiten spiegelte, herumgesprochen. Nicht nur Alexander Scharff mokierte sich über Berves wissenschaflichen Ansatz.1251 Nun legte dieser Steindorff auseinander, dass sich in den „letzten Jahren die Nichtarierfrage zugespitzt“ habe und „dass sich aus den geänderten Verhältnissen gewisse notwendige Konsequenzen ergaben wie das Ausscheiden bisher verbliebener Herren aus ihrem Amt bzw. das Ausscheiden aus dem Kreis der Emeriti“.1252 Er könne es „der Partei“ gegenüber nicht mehr „verantworten, in einem persönlichen Verkehr mit den ausgeschiedenen nichtarischen Herren zu stehen“, müsse sich „nunmehr auch persönlich deutlich distanzieren“. Seine „privaten Gefühle“ habe er hintanzustellen, müsse dem „höheren Gesetz gehorchen“. Aus diesem Grund werde er aus dem „Kränzchen“ ausscheiden, hoffe aber, dass Steindorff seiner nicht „in Bitterkeit gedenken werde“. Da Steindorff nicht wollte, dass sich das von ihm ins Leben gerufene „Kränzchen“, bestehend unter anderem aus Klinger, Hermann Heimpel (1901–1988)1253 und Wolfgang Schadewaldt (1900– 1974),1254 um seinetwillen auflöste, wandte er sich brieflich an Alfred Körte (1866– 1946),1255 um keine voreilige Entscheidung zu treffen. Dennoch war ihm angesichts 1248 ÄMUL NL Steindorff, Reisetagebuch Ägypten 1936, S. 44. 1249 Stefan Rebenich: Helmut Berve, 2001, S. 474 1250 ÄMUL NL Steindorff, Reisetagebuch Ägypten 1936, S. 65. 1251 „Dass Koll. Berve gegen die Verkoppelung zweier Kulturgebiete ist, wundert mich insofern, als er doch Althistoriker ist, und ein solcher hat doch gerade die Pflicht, über Ägypten-Babylonien usw. usw. zu lesen, wie es bei uns hier B’s Lehrer Otto immer tut“. Scharff an Steindorff, 6. Dezember 1934. ÄMUL NL Steindorff Korrespondenz 1933. 1252 Berve an Steindorff, 18. April 1936. ÄMUL NL Steindorff Korrespondenz 1936. 1253 Historiker, 1934–1941 Professor in Leipzig. 1254 Altphilologe, ab 1934 Professor in Leipzig. 1255 Altphilologe, ab 1917 Professor in Leipzig.
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der erkennbaren Nähe der Benannten zum Nationalsozialismus und trotz eines entschuldigend-erklärenden Schreibens Schadewaldts klar,1256 dass ihm zukünftig dieser Kollegenkreis verschlossen sein würde; er war gewillt, „über alles hinweg(zu) kommen und auch noch über anderes mit Bismarckischer Schnuppigkeit“.1257 Bei all dem konnte es ein nur geringer Trost sein, dass er während seiner Rückreise von Ägypten nach Europa in die Gesellschaft von Friedrich von Bissing und dessen Ehefrau, Frau Hartmann, von Stohrer, Hans Schroeder und seiner Familie mit „großer Freundschaft und Herzlichkeit“ aufgenommen wurde.1258 Nur wenige Monate nach seiner Rückkehr brach Steindorff gemeinsam mit seiner Ehefrau erneut auf, diesmal nach England. Am 17. Juli 1936 kehrten sie nach Deutschland zurück.1259 Mit Gardiner und andern britischen Ägyptologen1260 waren zahlreiche Gespräche geführt worden, weiterhin versorgten diese ihn mit neuerer Literatur, um ihn auf dem Laufenden und integriert zu halten. Wichtiger war, dass sie die erforderliche finanzielle Unterstützung bzw. finanzielle Transaktionen organisierten.1261 Auch andere Verfolgte bauten auf die Hilfsbereitschaft der britischen Kollegen, so der 1935 nach Ankara emigrierte Leipziger Orientalist Benno Landsberger (1890–1968),1262 der über Steindorff brieflich nicht mitteilbare Anfragen weiterleiten ließ.1263 1256 Schadewaldt erklärte ebenfalls seinen Austritt aus dem „Kränzchen“, was er als „Opfer“ empfinde. Doch könne er Berve „nicht allein gehen lassen“. Er hoffe auf Steindorffs „Verständnis“. Schadewaldt an Steindorff, Juli 1936. ÄMUL NL Steindorff Korrespondenz 1936. 1257 ÄMUL NL Steindorff, Reisetagebuch Ägypten 1936, S. 65. 1258 ÄMUL NL Steindorff, Reisetagebuch Ägypten 1936, S. 75. 1259 Steindorff an Gardiner, 24. Juli 1936. GIO MSS AHG/42.308.41. 1260 Vor allem Gardiner und Newberry organisierten die Aufenthalte von Georg und Elise Steindorff. Gardiner an Newberry, 15. Juni 1938, 17. Juni 1938. GIO MSS Newberry 18/68 + 69. 1261 Nora Griffith bat Newberry am 23. Juni 1936, ihr die Reisedaten von Ehepaar Steindorff mitzuteilen. „I understand one has to ‚frank‘ them any where.“ Sie wollte den Transport mit dem Auto übernehmen und die Bahntickets kaufen. Zusätzlich wollte sie ein Treffen Steindorffs mit dem nach England geflohenen Berliner Journalisten und Rechtsanwalt Rudolf Olden (1885– 1940), der von Gilbert Murray in Oxford beherbergt wurde, arrangieren (an Newberry, 27. Juni 1936). GIO MSS Newberry 21/71 + 72. Aus einem fälschlicherweise bei N. Griffith gelandeten, von Steindorff an Newberry gerichteten Schreiben ging hervor, dass Letzterer Finanztransaktionen für Steindorff tätigte (N. Griffith an Newberry, 31. Juni 1936). GIO MSS Newberry 21/73. 1262 Landsberger (1890–1968), ab 1920 Privatdozent in Leipzig, dort 1926–1928 a. o. Professor für Orientalistik, 1928 ord. Professor in Marburg, ab 1929 in Leipzig. 1933 wurde er wegen seiner jüdischen Herkunft aus dem Universitätsdienst entlassen und folgte 1935 einem Ruf an die Universität Ankara. 1948 wechselte er an das Oriental Institute Chicago, wo er 1955 emeritierte. Er galt als einer der führenden Vertreter der Orientalistik. Wolfram von Soden: „Landsberger, Benno“, in: NDB 13 (1982), S. 516–517. Laut Johannes Renger: Altorientalistik, 2001, S. 252–254, wurde Landsberger wegen seiner Teilnahme am Ersten Weltkrieg erst 1935 entlassen. 1263 Steindorff an Gardiner, 1. August 1936. GIO MSS AHG/42.308.40.
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Steindorff verlor zunehmend an Langmut, versuchte den Blick von der sich wandelnden deutschen Ägyptologie abzuwenden, was ihm nicht gelingen wollte. Man rede derzeit viel über Methoden und zerbreche sich den Kopf über „‚weltanschauliche‘ Ziele der Ägyptologie“, schrieb er am 3. Februar 1937 an Gardiner; viel zu halten sei von diesen Neuerungen nicht.1264 Man täte besser daran, die Texte zu untersuchen oder die Resultate zusammenzufassen, „ohne über Methodik philosophisch zu grübeln“. Die Kollegen Kees und Grapow reihte er nicht in diese neue Richtung ein, was möglicherweise der Zensur geschuldet war. Im Grunde hatte Steindorff sich schon von der deutschen Ägyptologie verabschiedet, am 11. Februar 1937 wollte er zusammen mit seiner Ehefrau Sohn Ulrich in Kalifornien besuchen, im Mai Chicago, Baltimore, New York und Boston einen Besuch abstatten, erst im Juni nach Leipzig zurückkehren. Die Amerikareise dauerte zehn Wochen und ließ für die Zukunft zumindest hoffen.1265 Dennoch war Steindorff „unsagbar traurig“ angesichts der politischen Entwicklungen in Deutschland. Besonders nahm ihn „das Leiden unseres Erman“ mit – er starb im Juli 1937. Gardiner ging es ähnlich, von Ermans Tod war er tief getroffen, in der „Times“ veröffentlichte er einen Nachruf.1266 Als „sehr gut und herzlich“ empfand Steindorff auch Reisners „Gedächtnisworte“ in der „Egyptian Gazette“. Ein Schlag ins Gesicht waren dagegen die deutschen Nicht-Reaktionen – deutsche Zeitungen erwähnten ihn, wenn überhaupt, nur kurz und „meist mit falschen Daten und Angaben“. Ausnahme war Rudolf Anthes, ehemaliger Assistent Borchardts in Kairo, der in der „Deutschen Allgemeinen Zeitung“ einen Nachruf veröffentlichte. „Grapow, Junker etc., die Erman so viel verdanken“, ließen nichts verlauten, wie Steindorff bitter vermerkte. Ihm selbst war die Tagespresse „verschlossen“, weshalb er Erman in der ZÄS gedenken wollte. Dazu und zum nationalsozialistischen Zeitgeist passend tauchten auch in Steindorffs direktem Umfeld diverse neuere ägyptologische Veröffentlichungen auf, die gewiss nicht nur bei ihm Unmut hervorriefen. Sein Nachfolger Wolf publizierte das „grüne Heft“ über „Wesen und Wert der Ägyptologie“, Steindorff bewertete es vernichtend: „Seine Geschichtsphilosophie ist dilettantisch, neugewonnene ‚Weisheit‘ mit viel Selbstbewusstsein vorgetragen. Er baut Phantome auf, gegen die er ankämpft.“1267 Besonders übel stießen Wolfs Kritik an Erman und die Geringschätzung auf, mit der er diesen behandelte. „‚Korporale gewinnen, was Generäle verlieren‘, hat ein großer deutscher Dichter einmal geschrieben. 1264 GIO MSS AHG/42.308.35. 1265 Steindorff an Gardiner, (Leipzig) 13. Juni 1937. GIO MSS AHG/42.308.34. 1266 Steindorff an Gardiner, (Leipzig) 19. Juli 1937. GIO MSS AHG/42.308.33. 1267 Steindorff an Gardiner, 19. Juli 1937. GIO MSS AHG/42.308.33.
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(…) Ich möchte wissen, wo der von Wolf (er folgt darin Kees) erhobene Vorwurf zutrifft, dass Ermans Auffassung der äg. Religion (von der ‚Aufklärung‘ beeinflusst) auch seine ganze Auffassung der äg. Kultur beeinflusst habe.“ Dass Wolf sich schließlich sogar aufschwang, die Aufgaben der Ägyptologie zu formulieren, empfand Steindorff als lächerlich, denn auf Wolfs Leistungen warte man noch immer. Steindorff vermutete, dass Wolf sich mit seiner Schrift nur an die jüngeren deutschen Ägyptologen wenden und diesen „‚neue‘ Wege zeigen“ wollte; wo aber diese Jungen zu finden waren, wusste niemand. Trotz seiner erheblichen Verärgerung sah Steindorff schließlich von einer Besprechung von Wolfs Schrift ab. Es war nicht die Zeit, sich allzu sehr zu exponieren und damit eventuell auch die Familie in Gefahr zu bringen. Es verwundert nicht, dass es Steindorff angesichts der dauernden Kränkungen und Zurückweisungen nur „recht-mäßig“ ging. Er sehnte sich nach Treffen in England, die 1937 nicht mehr machbar waren. Auch innerhalb Deutschlands wurden Reisen problematisch, nur nach Mühen hatte er der sehr schlicht gehaltenen Trauerfeier Ermans beiwohnen können. Zusätzlich hielt Berlin weitere Bedrückungen bereit – das Treffen SteindorffGrapow. Daran anschließend beschloss Steindorff, von der Leitung der ZÄS, die er immerhin 43 Jahre lang innegehabt hatte, ‚zurückzutreten‘ und die Mitarbeit an der Zeitschrift „schweren Herzens“ aufzugeben.1268 Eine wirklich freie Entscheidung war dies nicht, in Wirklichkeit drängten Grapow und Wolf Steindorff hinaus, wie er 1946 bestätigte.1269 Zusätzlich war ihm damit eine wichtige Veröffentlichungsmöglichkeit verschlossen. Diese aber suchte er weiterhin und bat Gardiner, ihm im „Journal“ eine Möglichkeit zu eröffnen, schickte auch gleich zwei Aufsätze mit, die in England übersetzt werden sollten.1270 Ein leichter Schritt war auch dies nicht und gewiss ein kränkender, weshalb Gardiner darüber Stillschweigen bewahren sollte. Der letzte „Schlag“ war es nicht. Wenig später wurde „allen Nichtariern die Benutzung der öffentlichen staatlichen und Universitätsbibliotheken versagt“.1271 Steindorff konnte also weder den Lesesaal einer Bibliothek benutzen noch Bücher entleihen, was ihn trotz seiner gut ausgestatteten Privatbibliothek stark einschränkte. Ob ihm auch die Bibliothek des ägyptologischen Instituts, die er selbst geschaffen hatte, verschlossen werden würde, wusste er zu diesem Zeitpunkt nicht zu sagen, befürchtete es aber. Die Fortführung wissenschaftlicher Arbeiten schien jedenfalls kaum noch machbar.1272 In seiner Not 1268 Leipzig, 9. August 1937. GIO MSS AHG/42.308.32. 1269 Henning Franzmeier, Anke Weber: Deutsche Ägyptologie, 2013, S. 120 f. 1270 Leipzig, 9. August 1937. GIO MSS AHG/42.308.32. 1271 Steindorff an Gardiner, 9. August 1937. GIO MSS AHG/42.308.32. 1272 Steindorff bezweifelte auch, dass er in Deutschland die von ihm verfasste Neuauflage der koptischen Grammatik würde veröffentlichen können.
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schlug Steindorff Gardiner bzw. der EES Tauschgeschäfte vor, ein für ihn überaus deprimierendes Unterfangen.1273 Die britischen Kollegen taten ihr Möglichstes; für die von Steindorff für August 1938 geplante sechstägige Englandreise arrangierten Gardiner, Newberry und andere Kollegen alles Erforderliche.1274
Abb. 34: Percy Newberry
1273 Steindorff an Gardiner, (Leipzig) 29. August 1937. GIO MSS AHG/42.308.31. 1274 Steindorff, der sich im Juni 1938 bei seinem Sohn in Kalifornien aufhielt, dankte seinen britischen Kollegen. Steindorff an Gardiner, (Burbank, 4216 Rowland Ave, Toluca Lake) 29. Juni 1938, GIO MSS AHG/42.308.30.
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Als erstes sollte Gardiner besucht werden, wobei auch Davies1275 zugegen sein sollte, dann Newberry in Winkworth Hill, schließlich Crum in London. Mit diesen Kollegen wollte Steindorff die Pläne für seine nächste Zukunft in aller Offenheit besprechen. Gardiner dachte über diesen engeren Rahmen hinaus, er lud zusätzlich weitere Kollegen, vor allem aber Steindorffs Schwiegersohn und Enkel (Franz und Klaus Hemer) ein.1276 Georg und Elise Steindorff sahen sich Gardiner gegenüber zu größtem Dank verpflichtet; es fiel schwer, mit weiteren Bitten an ihn heranzutreten, aber es schien unumgänglich. Elise Steindorff benötigte für den 22. August 1938 dringend eine „Flugkarte“ nach Mailand (10 £), deren Finanzierung ihr Gardiner schon früher angeboten hatte. In Como wollten sich Mutter und Tochter treffen. Gardiner zögerte nicht, er übernahm die Finanzierung.1277 Noch in England erreichte Steindorff die Nachricht vom Tod Ludwig Borchardts, er hatte neben Schäfer und Sethe zu seinen ältesten Freunden gehört – „ich kannte ihn genau mit all seinen großen Vorzügen und seinen großen Schwächen und werde ihn sehr vermissen.“1278 Um Mimi Borchardt, die ja stets „regsten verständnisvollen Anteil“ an Borchardts Wissenschaft genommen habe, sorgte er sich. Doch blieb nicht lange Zeit, sich um andere Schicksale zu kümmern. Während Steindorff in Leipzig weilte, türmten sich andernorts neue Probleme auf.1279 Elise Steindorff war noch in Como bei Tochter Hilde, weil die „italienischen Maßnahmen alle Zukunftspläne über den Haufen geworfen“ hatten.1280 Aber es gab Licht ‚am Ende des Tunnels‘ – Sohn Ulrich hatte das ersehnte Affidavit für die USA geschickt; Steindorff reichte am 2. September 1938 sein Einwanderungsgesuch ein, was freilich noch nicht gleichbedeutend war mit Rettung.1281 Ihm war zugesagt, seine Bibliothek mitnehmen zu dürfen, was deshalb von enormer Bedeutung war, weil er auf deren Grundlage seine „neue wirtschaftliche Existenz“ aufbauen wollte. 1275 Davies nahm großen Anteil an Steindorffs Schicksal, auch wenn er sich mitunter über dessen pausenloses Klagen mokierte. Erleichtert erfuhr er von der vermutlich gelingenden Emigration nach USA. Davies an Newberry, 22. November 1938, 4. Dezember 1938, 1. Juni 1941. GIO MSS Newberry 11/87b + 91 + 95. 1276 Elise Steindorff an Gardiner, (Winkworth Hill, Hascombe 48) 16. August 1938. GIO MSS AHG/42.308.29. 1277 Steindorff an Gardiner (Winkworth Hill) 19. August 1938. GIO MSS AHG/42.308.28. 1278 Steindorff an Gardiner (Winkworth Hill) 19. August 1938. GIO MSS AHG/42.308.28. 1279 3. September 1938. GIO MSS AHG/42.308.27. 1280 Bis spätestens März 1939 mussten alle Deutschen jüdischer Herkunft Italien verlassen haben. 1281 Steindorff an Gardiner, 3. September 1938. GIO MSS AHG/42.308.27.
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Mittlerweile war der Gedanke an Auswanderung für Steindorff nur noch positive Perspektive, auch weil sich die „Enttäuschungen“ häuften. Sein Nachfolger Wolf hatte ihm eindeutig gezeigt, „wes Wesens Kind er ist und welcher ‚wissenschaftliche‘ Geist in Zukunft die ÄZ1282 beherrschen wird. (…) W und Grapow: pat nobile fratrum!“.1283 Nicht einmal der langjährige Kollege und Freund Heinrich Schäfer, der eine gewisse Nähe zum Nationalsozialismus entwickelte,1284 hielt unverbrüchlich zu Steindorff, sondern hielt ihm vor, sich gegenüber Walther Wolf „in Taten und Worten“ ungerecht zu verhalten. Denn dieser handle nicht etwa aus „Bosheit“, sondern weil er dazu gezwungen sei.1285 Steindorffs Reaktion ließ es an Klarheit nicht fehlen. Schäfers scheinheiliges „Mitleid“ brauche er nicht, er verlasse Deutschland „erhobenen Hauptes im Bewusstsein, gut gelebt zu haben, allzeit meinen Pflichten getreu, meinem neuen, dem letzten Ziel entgegen“.1286 Es berühre ihn wenig, „wenn die Kleinen und ganz Kleinen, die noch vor Kurzem auf dem Bauche vor mir gelegen haben, jetzt mit Steinen nach mir werfen“. Sein Verhalten gegenüber Wolf, dessen „Weltanschauung“ ihm schon vor dessen Kommen nach Leipzig bekannt gewesen sei und die ihre Zusammenarbeit lange nicht behindert habe, müsse er mitnichten entschuldigen. Dessen „Rückzug“ habe er sogar als eine „Notwendigkeit“ anerkannt, stets dessen „ritterliches Verhalten mir gegenüber gerühmt“. Erst als er im August 1938 nach Leipzig zurückgekehrt sei, seien Konflikte zwischen ihnen entstanden, die Gründe dafür kenne er nicht. Dadurch erst sei Wolf ihm in einem „Lichte“ erschienen, „das ich nicht für möglich gehalten hätte“. Besser täte Schäfer daran, nicht Wolf zu entschuldigen, sondern diesem eine Entschuldigung abzuverlangen, etwa, weil er entgegen seinem Versprechen keine ZÄS-Exemplare mehr an Steindorff schickte.1287 Für Mimi Borchardt hingegen stellte Wolfs Verhalten gegenüber Steindorff nichts Unerwartetes dar, auch über Grapow und Kees wunderte sie sich nicht. In „dieser Zeit“ müsse man schon ein „ganzer Kerl sein, um nicht umzufallen, was leider auf wenige zutreffe, etwa auf Rudolf Anthes.1288 Die Monate September bis Dezember 1938 waren für Steindorff und seine Familie hektisch, nervenaufreibend, frustrierend und voller Veränderungen. Für
1282 = ZÄS. 1283 Steindorff an Gardiner, 3. September 1938. GIO MSS AHG/42.308.27. 1284 Er benutzte ein Zitat aus Hitlers „Mein Kampf“ als Motto seiner Studie über „Das altägyptische Bildnis“ (1936). Thomas Schneider: Ägyptologen, 2013, S. 123. 1285 Schäfer an Steindorff, 13. Januar 1939. ÄMUL NL Steindorff Korrespondenz 1939. 1286 Steindorff an Schäfer, 14. Januar 1939. ÄMUL NL Steindorff Korrespondenz 1939. 1287 Ähnlich wie Schäfer wies auch Grapow Steindorff die „Schuld“ für die „Trübung in unseren Beziehungen“ zu. Zitiert nach Thomas Schneider: Ägyptologen, 2013, S. 129. 1288 MB an Steindorff, 5. August 1939. ÄMUL NL Steindorff Korrespondenz 1939.
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Steindorff war klar, dass „unter den obwaltenden Umständen“ ihres Bleibens in Deutschland nicht mehr war. Mit allen Kräften betrieb er den „Exodus, (…) nur geht alles nicht so schnell wie wir möchten, und manchmal versagen die Nerven“.1289 Doch er hatte einflussreiche Fürsprecher, etwa in dem Ägyptologen Reisner, der sich intensiv und erfolgreich für Steindorffs Einbürgerung in den USA einsetzte.1290 Nach zahlreichen Aufregungen gelang Steindorffs Tochter Hilde die Ausreise nach Nordamerika, zusammen mit ihrem 16jährigen Sohn Thomas und ihrem siebenjährigen Sohn Rolf. Sie ließ sich zunächst im kalifornischen Burbank nieder, wohnte dort in derselben Straße wie ihr Bruder Ulrich und erwartete nervös die Ankunft der Eltern. Am 16. Dezember sollten sie in Berlin ihr Visum für die Auswanderung erhalten, aber noch fehlten ihnen die Pässe, die ihnen abgenommen worden waren. Aus der „Akademie der Wissenschaften“, der Steindorff 40 Jahre lang als ordentliches Mitglied angehört hatte, war er ‚ausgeschieden‘, „beim ‚Archäologischen Institut des Deutschen Reiches‘ werden gleiche Maßnahmen ergriffen“.1291 Damit konnte Steindorff sich abfinden. Schwerer wog, dass er, sobald er ohne Zustimmung des Ministers seinen Wohnsitz ins Ausland verlegte, vermutlich „aller Ansprüche auf meine Pension verlustig“ ging, was der Fall sein würde, weil die Zustimmung nicht erteilt werde. Es erfüllte Steindorff mit Bitterkeit, nach 50 Jahren als Staatsdiener Deutschland „ohne einen Pfennig“ verlassen zu müssen. Immerhin durften sie ihren gesamten Hausrat und seine Bibliothek mitnehmen. Was aber in Amerika werden würde, wusste er nicht, auch wenn seine dortigen Freunde sich bemühten, „mir in USA zu helfen und mir eine wissenschaftliche Arbeitsmöglichkeit an einem Museum oder durch Vorträge und Vorlesungen zu verschaffen“. Dunham, Wilson, Winlock und Ranke taten ihr Bestes und es schien, „dass etwas Günstiges zu Stande kommt und ich nicht ‚barfuss und bloss‘ (…) auf der Straße zu sitzen brauche“.1292 Ob sich alles zum Positiven wenden würde, wusste niemand. Auf ihrem Weg in die USA wollte das Ehepaar Steindorff nach Möglichkeit einen Stopp in England einlegen, um nochmals die Freunde zu treffen, auch den Enkelsohn Klaus Hemer, der sich mittlerweile einigermaßen in England eingelebt hatte. In diesem Fall blieb der Plan nicht nur ein schöner Traum, allerdings erst, nachdem in Leipzig zahlreiche zermürbende und verunsichernde behördliche Hürden überwunden waren. Am 8. März 1939 räumte das Ehepaar Steindorff seine Leipziger Wohnung, packte tags darauf die Koffer, erhielt schließlich am 20. März die ersehnten Pässe.1293 1289 Steindorff an Gardiner, (Leipzig) 6. Dezember 1938. GIO MSS AHG/42.308.26. 1290 MB gegenüber erklärte Reisner am 8. Dezember 1938, dass er sich bei der amerikanischen Regierung erfolgreich für Steindorff eingesetzt habe. SIK LB. 1291 Steindorff an Gardiner, (Leipzig) 6. Dezember 1938. GIO MSS AHG/42.308.26. 1292 Steindorff an Gardiner, (Leipzig) 6. Dezember 1938. GIO MSS AHG/42.308.26. 1293 Schilderung bei Sandra Müller: Steindorff, 2012, S. 28 f.
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Nach „recht ungemütlicher“ Überfahrt trafen Elise und Georg Steindorff am 14. April 1939 in New York ein, am 18. April 1939 wandte sich Steindorff noch von dort an Gardiner.1294 Die wichtigsten Formalitäten waren erledigt, etliche Freunde und Kollegen hatten sie in Empfang genommen, am 19. April wollten sie nach Westen weiterreisen, in Chicago Wilson und Edgerton treffen.1295 Endlich musste Steindorff „bei der Korrespondenz nicht mehr den Mund zu halten“. Währenddessen trieb Gardiner die Sorge um die teils in Österreich lebende Familie seiner Ehefrau Heddie um, sie war jüdischer Herkunft.
Abb. 35: Familie Guttmann, Freunde von Georg Steindorff, auf der Überfahrt nach Nord-Amerika
Steindorff dankte dem Schicksal, „das uns aus der deutschen Hölle herausgeführt hat“.1296 Nun erst fühlte er, „unter welch grausamem, unwürdigem Druck wir Jahre lang gelebt haben“. Langsam begannen er und seine Frau, sich in Kalifornien einzurichten.1297 Amerikanische Kollegen und Freunde verschafften Steindorff einige Arbeiten und Vorträge, sorgten für seine berufliche Etablierung. „Ich sitze am 1294 The Sulgrave, Park Avenue and 67th str., New York. GIO MSS AHG/42.308.25. 1295 Bereits am ersten Abend waren sie zum Abendessen bei Winlock eingeladen. 1296 Steindorff an Gardiner, (Kalifornien) 15. Juli 1939. GIO MSS AHG/42.308.24. 1297 Ende Mai 1939 trafen die Bücher und Möbel ein, man mietete ein kleines Haus in einem Gartenviertel von North-Hollywood, musste nicht mehr bei Sohn Ulrich wohnen.
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Schreibtisch und arbeite wie in alten Zeiten“; erste Besucher kündigten sich an.1298 Nur Elise Steindorff litt noch an den Folgen der Strapazen der vorhergehenden Jahre, sorgte zusammen mit ihrer langjährigen nichtjüdischen und mit ihnen ausgereisten Haushälterin Frieda Bachmann für den Haushalt. Ulrich Steindorff lebte in unmittelbarer Nachbarschaft der Eltern, man traf sich täglich. Noch für zwei Jahre hatte Deutschland Steindorff sein Gehalt bewilligt, Gelder, die auf einem „Versorgungskonto“ deponiert waren, nur mit Genehmigung der Finanzbehörde und für spezielle Zwecke verwandt werden durften. Der Transfer ins Ausland war unmöglich. Um doch an seine Gelder zu kommen, überlegte Steindorff, Hugo Ibscher einzuschalten. Gardiner sollte die entsprechenden Gespräche führen, erfolgreich endeten sie nicht. Mit Erleichterung nahmen Verwandte, Freunde und Kollegen die Nachricht von Steindorffs geglückter Flucht auf. W.F. Albright von der Johns Hopkins Universität in Baltimore hieß ihn herzlich willkommen, wartete aber auch mit der Nachricht von Paul Kahles dramatischer Flucht nach England auf.1299 Norman de Garis Davies beglückwünschte Steindorff, dem „Amageddon“ rechtzeitig entkommen zu sein.1300 Gleichzeitig bedauerte er den Niedergang seines „second homeland“, das einst für Aufklärung und Gedankenfreiheit gestanden habe, nun aber ein Synonym für Barbarei und brutale Unterdrückung darstelle. Max Meyerhof zeigte sich glücklich, dass Steindorff und seine Familie „aus der Hölle im Paradies angelangt“ waren.1301 In Ägypten wimmelte es von nationalsozialistisch gesinnten deutschen und österreichischen Ägyptologen, etwa Günther Roeder, Menghin und Grohmann. Enno Littmann wollte sofort den brieflichen, nicht mehr der Zensur unterliegenden Kontakt wieder herstellen. Steindorffs ehemaliger Kairener Gastgeber Pierrakos ließ ausrichten, während seines vierwöchigen Deutschlandaufenthalts habe er nur Bedrückendes beobachten können. Mimi Borchardt hingegen wusste sich in Steindorffs Gemütslage mehr als andere hineinzuversetzen. Trotz der qualvollen letzten Jahre in Deutschland werde Steindorff sein Vaterland wohl nie wirklich hinter sich lassen können, auch sei mit der Flucht nicht „alles Bedrückende gewichen“.1302 Ähnlich äußerte sich der Münchner Ägyptologe Scharff, der aus Steindorffs Briefen herauslas, wie sehr „Sie noch an der alten, guten Heimat hängen“.1303 Er selbst zog sich immer mehr auf seine Wissenschaft
1298 Am 18. Juli 1939 erschien Dowes Dunham als „erster Gast in unserm Puppenhaus“. 1299 Albright an Steindorff, 19. Mai 1939. ÄMUL NL Steindorff Korrespondenz 1939. 1300 Davies an Steindorff, 13. September 1939. ÄMUL NL Steindorff Korrespondenz 1939. 1301 Meyerhof war in Kairo von Günther Roeder aufgesucht worden und hatte ihm bei dieser Gelegenheit eine „politische Pauke“ gehalten. „Ich denke, er wird mich nicht wieder beehren“. Meyerhof an Steindorff, (Kairo) 1. Mai 1939. ÄMUL NL Steindorff Korrespondenz 1939. 1302 MB an Steindorff, 12. Mai 1939. ÄMUL NL Steindorff Korrespondenz 1939. 1303 Scharff an Steindorff, 27. Oktober 1939. ÄMUL NL Steindorff Korrespondenz 1939.
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und Tätigkeit in München zurück, brach jeden Kontakt mit Grapow und Alfred Hermann ab, unterstützte nur den aus dem Museumsdienst entlassenen Rudolf Anthes. Wichtig war ihm, Steindorff seine ungebrochene Loyalität zu versichern – „ich hoffe, dass Sie wie jeher wissen, dass ich der Gleiche wie sonst bin“. Drückend waren für Steindorff die Sorgen um in Europa zurückgelassene Verwandte und Freunde, etwa seine Schwester Lucie1304 und sein Bruder Kurt, von Beruf Augenarzt, der im Exil in Paris lebte. Tochter Hilde „sitzt mit den beiden jüngeren Söhnen jenseits der Grenze in Mexico und, wenn es ihr auch dort, den Verhältnissen entsprechend geht, so erwartet sie doch mit Ungeduld den Tag, an dem sie ihre Quota-Nummer zur Einwanderung nach USA erhält“.1305 Sorgen bereitete zudem ein möglicher Krieg. Steindorff meinte, Hitler werde „unter keinen Umständen auf Danzig verzichten“. Im Kriegsfall wäre auch sein in England lebender Enkelsohn Klaus in Gefahr, würde eventuell zum Kriegsdienst für Deutschland verpflichtet. Steindorffs Befürchtungen sollten sich bewahrheiten, er sah einen „furchtbaren“ Krieg kommen, der andererseits „die Pest des Nazismus vertilgt und Hitler und alle seine verbrecherischen Spießgesellen mit Stumpf und Stiel ausrottet“.1306 Um Enkel Klaus sollte Gardiner und Davies sich dringend kümmern.1307 Auch in Gardiner ging ein großer Wandel vor. Bis dahin war er ein überzeugter Pazifist gewesen, rückte aber angesichts des von Deutschland initiierten Krieges davon ab, hielt den Krieg sogar für notwendig, damit wieder wirklicher Frieden einkehren könne. Die von den Nationalsozialisten, die Steindorff als „real devils“ bezeichnete, ausgehenden Bedrohungen mussten ein Ende finden. Selbstverständlich war Gardiner bereit, Steindorffs Enkel zu helfen.1308 Ob er bereits interniert worden war oder in einem Krankenhaus oder als Übersetzer für Russisch und Französisch arbeitete, wusste man nicht. Fortan war der Krieg zentrales Thema im Hause Steindorff.1309 Von dem deutschen Überfall auf Finnland war auch Heddie Gardiners Familie unmittelbar betroffen. Auch wenn er ein baldiges Kriegsende nicht vermutete, glaubte Steindorff gewiss sein zu können, dass er letztlich sämtliche Nazis, einschließlich 1304 Wurde 1942 deportiert und ermordet. 1305 Steindorff an Gardiner, (Kalifornien) 15. Juli 1939. GIO MSS AHG/42.308.24. 1306 (4420, Ponca Ave) 3. September 1939. GIO MSS AHG/42.308.23. Nicolas (Klaus) Hemer wohnte in 90 Mortlake Rd., Kew Gardens, Richmond, Surrey. 1307 Steindorff an Gardiner, 12. September 1939. Davies an Newberry, 18. September 1939. GIO MSS AHG/42.308.22 u. MSS Newberry 11/93. 1308 Gardiner schrieb im September 1939 ausführlich an Steindorff. Klaus Hemer war nicht interniert, lediglich „restrictions“ unterworfen. Er wollte sich England erkenntlich zeigen, irgendwie helfen oder arbeiten. GIO MSS AHG/42.308.21. 1309 Steindorff an Gardiner, (Baltimore) 10. Dezember 1939. GIO MSS AHG/42.308.21.
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Grapow, Wolf, Roeder „etc. etc.“ erschlagen werde, wobei er längst nicht alle Deutschen für Nationalsozialisten hielt. Überhaupt lag ihm am Herzen, Gardiner die unterschiedlichen Haltungen deutscher Ägyptologen vor Augen zu führen. In bewundernswerter Tapferkeit zeigten sich Rudolf Anthes in Berlin, Alexander Scharff in München und Hans Bonnet (1887–1972)1310 in Bonn; ihr „Widerstand“ sei so stark „wie einst“, allerdings leider „nur innerlich, aber etwas anderes ist im Augenblick nicht möglich“. Diesen drei Personen wollte Steindorff ihre „treue Gesinnung“ niemals vergessen. Ab Oktober 1939 hielt Steindorff sich im Osten der USA auf, arbeitete an den Ägyptica der Walters Gallery, fertigte eine „Art ‚Catalogue Général‘“ an. Zusätzlich hielt er Vorträge, war Gast bei Kollegen. Ende Januar wollte er nach New York, Boston und Chicago gehen, Anfang März 1940 wieder in Hollywood sein. Trotz aller Strapazen tat ihm die wissenschaftliche Atmosphäre „des Ostens“ gut – „Kurz und gut, ich muss immer wieder dankbar sagen: God bless America“. Gut tat ihm auch, dass offenbar die meisten Amerikaner auf die baldige Niederlage Deutschlands hofften.1311 Anfang 1941 erkrankte Steindorff ernsthaft, war erst im Juli 1941 wieder einigermaßen erholt und in der Lage, seine Arbeiten fortzusetzen, was nicht einfach war, weil es in der Nähe seines Wohnorts keine geeignete Bibliothek gab.1312 Zu Beginn 1941 kam Percy Newberry aus England zu Besuch. Tochter Hilde gelang die Einreise in die USA, Enkel Klaus war in Australien interniert, obwohl er mit der britischen Armee gegen Deutschland hatte kämpfen wollen. Möglicherweise ausgelöst durch seine schwere Erkrankung begann Steindorff über den definitiven Verbleib seines wissenschaftlichen Nachlasses nachzudenken.1313 Ursprünglich hatte er geplant, ihn dem Ägyptologischen Institut in Kopenhagen zu vermachen, darüber bereits mit Lange korrespondiert. Nun erschien Dänemark nicht mehr als sicherer Standort, vielmehr sollte der Nachlass an das Griffith Institut in Oxford gelangen. Steindorff wollte sein Testament entsprechend ändern. Zusehends und aus diesem Anlass besonders richtete sich Steindorffs Blick in die Vergangenheit. Er dachte zurück an den Beginn seines Studiums vor sechzig Jahren, im Sommer 1881 war Ermans erstes Semester als Privatdozent in Berlin gewesen, gleichzeitig Steindorffs erstes Semester als
1310 Ägyptologe, studierte in Breslau, ab 1907 Ägyptologie in Leipzig, ab 1910 Assistent von Steindorff, unterrichtete an der Universität Halle 1922–1928, ab 1928 Professor für Ägyptologie an der Universität Bonn. Who-was-Who, 2012, S. 67 f. 1311 Steindorff an Gardiner, 8. März 1940. GIO MSS AHG/42.308.20. 1312 Steindorff an Gardiner, 10. Juli 1941. GIO MSS AHG/42.308.19. 1313 Es ging hauptsächlich um eine handgeschriebene Kopie der Grammatik, Notizen, ein etymologisches Wörterbuch. Steindorff an Gardiner, 13. Juli 1941. GIO MSS AHG/42.308.18.
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Student. Ermans Koptik-Kurs hatte nur einen Teilnehmer – Steindorff, und dieser tat sich anfangs sehr schwer.1314 Möglicherweise wollte Steindorff sich mit diesen schönen Erinnerungen ablenken von der aktuellen Politik, redete sich auch immer wieder ein, dass England und die USA „will defeat Hitlers hords and that this crusade will end in our perfect victory and all criminals be punished“. Dabei dachte er nicht zuletzt an „those Super-Nazis in our Egyptological field, like our old ‚friend‘ Grapow or Wolf who display their ‚Weltanschauung‘ wherever they can“. Bewunderung nötigten ihm hingegen Bonnet und Scharff ab, „who stand firm despite all danger to their position“. Gardiner war höchst erfreut über Steindorffs Pläne bezüglich seines Nachlasses, schlug vor, einige unveröffentlichte Manuskripte drucken zu lassen.1315 Bedauerlich war, dass Steindorff Etliches, das er nicht mehr glaubte zu benötigen, vor seiner Emigration vernichtet, anderes am Leipziger Institut zurückgelassen hatte – „and you know, that my sweet successor Wolf (a real Wolf) refused to hand them over to me because, as an official of the Nazi Regime, he was not inclined to hand those papers to me, the Non-Aryan“. Mit Steindorff waren seine Freunde und Kollegen, einschließlich Gardiner, der Überzeugung, dass die USA zusammen mit den Engländern in den Krieg eingreifen, die Entscheidung über den geeigneten Moment Roosevelt und seinen Mitarbeitern überlassen sollten. Über mögliche militärische und politische Strategien spekulierten sie gemeinsam, kamen aber nicht zu einem schlüssigen Ergebnis. Mitunter trafen Briefe aus Deutschland ein, so von Scharff und Bonnet. Von Anthes hörte man, er sei wohl „rehabilitated“ und tue seine Pflicht unter dem „Ibis of Hermupolis, the man who lost his two r by his dissertation and is now only ‚oede‘ (I quote a joke of Sethe)“, womit zweifellos Günther Roeder (1881–1966)1316 gemeint war. Steindorff arbeitete trotz seines Alters fast härter als je zuvor, bedurfte auch deshalb des ständigen Zuspruchs von Gardiner, den er erstmals 1901 in London bei
1314 Nach einer Einführung lasen sie Ziegas Publikation über Apophthegmata, für Steindorff sehr hohe Anforderungen. Erman hielt in seinem Kollegheft die Fortschritte fest, ein Protokoll, das er Steindorff bei dessen Weggang nach Leipzig, 1893, übergab. Vermerkt war, dass Steindorff am 11. Juli noch nichts verstand, am 14. Juli dann: „plötzlich versteht er Koptisch“. 1315 (Ponca Ave) Steindorff an Gardiner, 22. Oktober 1941. GIO MSS AHG/42.308.17. 1316 Deutscher Ägyptologe, studierte in Jena, dann bei Erman in Berlin, arbeitete am Berliner Museum und am Berliner Wörterbuch, 1907–1911 beim Ägyptischen Antikendienst in Kairo, ab 1915 als Nachfolger von O. Rubensohn Direktor des Pelizaeus Museums in Hildesheim, 1940– 1945 Leiter des Berliner Museums als Nachfolger von R. Anthes, starb 1966 in Kairo. Who-wasWho, 2012, S. 470 f
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einem Diner im Haus von Gardiners Vater getroffen hatte.1317 Damals hatte Gardiner die deutschen Ägyptologen der Generation Steindorff als die weltweit führenden bewundert, nun sah Steindorff sich als den letzten noch lebenden Vertreter dieser Generation. Gardiner, dem aus seiner Sicht führenden englischen Ägyptologen, fühlte Steindorff sich zu großem Dank verpflichtet, nicht nur wegen dessen Bemühungen um die Wissenschaft. Für ihn war Gardiner sein „favorite nephew“, den Bestand ihrer Beziehung wünschte er sich „for all our life“. Gardiner dankte Steindorff seine Anhänglichkeit, setzte sich weiterhin für dessen Interessen ein.1318 Es dürfte ihn enttäuscht haben, am 1. September 1943 von Elizabeth Riefstahl (1889–1986),1319 Bibliothekarin des Brooklyn Museum, zu erfahren, dass ihre größte Erwerbung jüngerer Zeit „Professor Steindorff’s collection of offprints“ (mehr als 2000 Stück) war und sie nur noch wenig benötigten, um ihre Sammlung und Bibliothek zu komplettieren.1320 Steindorff ging es finanziell nicht so gut, wie er mitunter glauben machen wollte. Er sah sich gezwungen, Teile seines Nachlasses zu verkaufen, was er Gardiner nicht direkt mitteilte, weil zwischen 1942 und 1945 der briefliche Austausch wegen „strenger Zensur“ und unsicherer Beförderung so gut wie unmöglich war.1321 Erst im Juni 1945 konnte Steindorff wieder an den Kollegen schreiben, verfasste seine Briefe auch wieder auf Deutsch.1322 Vereinzelt hatte er Nachrichten über Gardiner erhalten, mitgeteilt von Essie Newberry, Jack Cooney, „neuerdings“ auch Wilson und Mimi Borchardt. Wirtschaftlich litten Steindorff und seine Ehefrau nicht unbedingt Not, was sie ihren amerikanischen Freunden zu verdanken hatten. Diese hatten ein von Ludlow Bull betreutes „Committee“ zugunsten Steindorffs gegründet und auch den Verkauf von dessen „scientific papers“ erörtert, Materialien, die eigentlich für das Griffith Institut gedacht gewesen waren. Wissenschaftlich war Steindorff
1317 Steindorff an Gardiner, (Ponca Ave) 17. Januar 1942. GIO MSS AHG/42.308.16. 1318 Enkel Klaus Helmer, der 18 Monate lang in Australien interniert gewesen war, war nach England zurückgekehrt und schloss sich der britischen Armee an. Gardiner kümmerte sich um ihn. Steindorff feierte im Kreis seiner Familie seinen 80. Geburtstag, seine Ehefrau lag nach einer geglückten Augenoperation noch im Krankenhaus. 1319 geborene Titzel, Bibliothekarin der Wilbour Library. 1320 An Gardiner. GIO MSS AHG/42.253.3. 1321 Steindorff an Gardiner, (Ponca Ave) 18. Juli 1945. GIO MSS AHG/42.308.12. 1322 Steindorff an Gardiner, 12. Juni 1945. Steindorff arbeitete nach wie vor. Die Arbeiten an der koptischen Grammatik hatte er abgeschlossen, sie sollte von Mrs Crum übersetzt werden. Verzögerung war entstanden, weil Steindorffs Freunde auf einer „mechanischen“ Vervielfältigung des Manuskripts bestanden hatten, was er selbst wegen nicht mehr bestehender U-Boot Gefahr für überflüssig gehalten hatte. Enkel Thomas war mit der US-Armee in Frankreich. Beigelegt ist die sog. „Steindorff-Liste“ zur Tätigkeit deutscher Ägyptologen während der NS-Zeit. GIO MSS AHG/42.308.13.
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ziemlich isoliert, neue ägyptologische Publikationen erreichten ihn selten. Nur Étienne Drioton versorgte ihn mit „offprints seiner guten Aufsätze“.1323 Dass die Finanzierung Steindorffs durchaus nicht durchweg problemlos war, ihn permanent finanzielle Nöte plagten, verraten die Briefe Ludlow Bulls an Gardiner, auch jene von James Breastead jun. an Bull. Bis zu seiner Erkrankung konnte Steindorff sich finanzieren durch Vorlesungen, seine Arbeit für die Ägypten Sammlung der Walters Gallery in Baltimore und den Verkauf von Teilen seiner Bibliothek an das Brooklyn Museum. Nach 1941 waren Vorlesungen für Steindorff nicht mehr machbar, andere Einkommensquellen hatte er nicht, weshalb Albright (Baltimore), Dunham (Boston), Wilson (Chicago), Winlock und Edgerton unter dem Vorsitz von Bull ein spezielles Komitee gründeten, um „finding funds to support Steindorff“.1324 Finanzielle Unterstützung wurde gesucht für die von Steindorff zu leistende Übersetzung seiner koptischen Grammatik ins Englische, die 1943 die „American Philosophical Society of Philadelphia“ für ein Jahr zusicherte, während die Guggenheim Foundation (New York) und der Oberlaender Trust (Philadelphia) ablehnten. Zweitausend Dollar konnten bei privaten Spendenaktionen gesammelt werden. Winlock und Bull wandten sich zudem an das „Institute for Advanced Study“ in Princeton, von dem auch Einstein, Herzfeld und andere geflohene Wissenschaftler aufgenommen worden waren, an die Rockefeller Foundation und an das „Committee for Displaced Scholars“, doch erfolglos, weil Steindorff zu alt war und sein Forschungsgebiet zu limitiert. Vage Aussicht bestand, dass das „Committee for Refugee Artists, Scholars and Writers“ und das „American Council of Learned Societies“ kleinere Unterstützungen boten. Aber die 2400 Dollar, die für den Unterhalt von Georg und Elise Steindorff sowie ihre Haushälterin Bachmann erforderlich waren, konnten damit nicht erzielt werden. Wilson versuchte zu erreichen, dass das Oriental Institute in Chicago eine kleine finanzielle Unterstützung gewährte, falls Steindorff dort einen Teil seiner Materialien als Depositum zur Verfügung stellte. Bevor dies in die Wege geleitet wurde, bat Bull seinen britischen Kollegen Gardiner um dessen Einverständnis, da Steindorff ihm seine Nachlasspläne angedeutet hatte. Allerdings war die Angelegenheit laut Bull „urgent“, deshalb der Verbleib der Steindorff’schen Materialien in den USA notwendig. Anfang 1942 war Steindorffs finanzielle Lage sogar äußerst „precarious“.1325 Sein gesamtes Vermögen in Deutschland war von den Nationalsozialisten beschlagnahmt worden, seine Pension lag für ihn unerreichbar auf einem 1323 Dies bestätigte auch Ludwig Keimer (Kairo) am 17. Juni 1946 gegenüber Gardiner, beschwerte sich zugleich über despektierliche Äußerungen seitens Kuentz (Institut Francais, Kairo) über Steindorff, schickte selbst neuere Veröffentlichungen an diesen. GIO MSS AHG/42.162.12. 1324 Bull an Gardiner, 14. Dezember 1943, 30. April 1945. GIO MSS AHG/42.45.4 + 6. 1325 Breasted jun. an Bull, 17. Januar 1942. ÄMUL NL Steindorff K22 1942–1943.
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perrkonto. Auch Tochter Hilde hatte einen harten Existenzkampf zu fechten, der S von ihr geschiedene Franz Hemer leistete keinerlei Unterstützung für sie und die Söhne, mit Hühner- und Kaninchenhaltung hielt sie ihre Familie mühsam über Wasser. Darüber hinaus benötigte auch Steindorffs Sohn Ulrich wiederholt finanzielle Unterstützung; sie wurde so diskret wie möglich geleistet.1326 Zwar arbeitete er für „Warner Brothers“, hatte aber wiederholt Phasen von Arbeitslosigkeit durchzustehen, sodass er in „poor financial condition“ lebte.1327 Die zugunsten Steindorffs initiierten Unterstützungsmaßnahmen in Europa, Ägypten und Nord-Amerika endeten also nicht mit dessen Emigration, sie setzten sich sogar bis über 1945 hinaus fort. Schon vor Kriegsende trafen die befürchteten dramatischen Nachrichten über den Verbleib von Verwandten und Nahestehenden ein. Steindorff hatte den gewaltsamen Tod seiner Schwester zu beklagen, ähnlich Tragisches widerfuhr dem nach wie vor in Kairo lebenden Meyerhof.1328 Nur widerstrebend schloss sich Steindorff der Erkenntnis auf, ebenso wie andere Deutsche jüdischer Herkunft verfolgt zu sein, letztlich nur den Ausweg der Flucht zu haben. Sein Alltag veränderte sich zwar zunächst kaum merklich,1329 aber kontinuierlich zum Negativen, doch hielt er einen baldigen grundsätzlichen Wandel einige Zeit für möglich. Entscheidende Einschnitte bildeten der Ausschluss Adolf Ermans aus Universität und Akademie sowie vor allem die Verkündung der Nürnberger Rassengesetze im September 1935 und die Ausweisung verfolgter Deutschen aus Italien Anfang 1939. Seine verbliebenen Reisemöglichkeiten nach England, in die USA und nach Ägypten nutzte er, um seine Zukunft im Exil zu organisieren. Ein ideales Zentrum bildete Ägypten, weil das ‚Who-isWho‘ der internationalen Ägyptologie dort versammelt war, gleichzeitig klärende Planungsgespräche mit dem ebenfalls betroffenen Ehepaar Borchardt, mit Max Meyerhof und Joseph Schacht möglich waren. Steindorff erlebte die von ihm nicht für möglich gehaltenen Ausgrenzungen als tiefe Kränkung und Erniedrigung. In einer vergleichsweise günstigen Position befand er sich aufgrund seines internationalen Bekanntheitsgrads und seiner ebenso internationalen, von ihm gepflegten Vernetzungen dennoch. Diese sorgten letztlich für seine Existenzsicherung. Auch wenn die Lebensumstände unterschiedlich waren, so machten Borchardt und Steindorff doch parallele Erfahrungen. Aus dem ihnen scheinbar vertrauten sozialen und beruflichen Umfeld, in dem sie hohe Reputation genos1326 Gardiner an Newberry, 2. März 1943. GIO MSS Newberry 18/97. 1327 Breasted jun. an Bull, 17. Januar 1942. ÄMUL NL Steindorff K22 1942–1943. 1328 Alle in Deutschland verbliebenen Verwandten Meyerhofs wurden deportiert und ermordet. Meyerhof an Steindorff, 10. April 1944. ÄMUL NL Steindorff K23 1944. 1329 Dietrich Raue: Georg Steindorff, 2013, S. 352–356.
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sen hatten, wurden sie in erniedrigender Weise ausgegrenzt, Steindorffs Leben war sogar bedroht. Als besonders kränkend empfand er, vermutlich ähnlich wie Borchardt und seine Ehefrau, gleichgesetzt zu werden auch mit jenen Menschen jüdischer Herkunft, für die er zuvor meist nur Verachtung übrig gehabt und von denen er sich stets hatte abgrenzen wollen. In der Ablehnung zumal der sogenannten Ostjuden, deren Erscheinungsbild, Sitten und Gebräuchen war er sich mit Mimi Borchardt einig; sie hatte diese Haltung bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit öffentlich vorgetragen. Die Erfahrung von Ausgrenzung, Erniedrigung, Gefahr, die Sorge um die eigene und die Zukunft anderer Verfolgten ließen Borchardt und Steindorff wieder zueinander finden, alte Konflikte nichtig erscheinen. Besonders während seiner letzten Ägyptenreise suchte Steindorff die Nähe zu Borchardt, den Austausch mit ihm. Gemeinsam kümmerten sie sich um ihren ehemaligen Lehrer und Freund Erman, auf je unterschiedliche Weise ihm ihre Verbundenheit zeigend. Zwar auf unterschiedliche Art, aber mit derselben Ausrichtung machten sie die bittere Erfahrung, sich nicht einmal auf jeden langjährigen und scheinbar loyalen Kollegen verlassen zu können. Auch dies schweißte zusammen, ebenso wie die Gewissheit, in einigen Kollegen wie etwa Scharff, Bonnet und Anthes verlässliche Verbündete zu haben. Diese fanden sich allerdings vor allem innerhalb der nichtdeutschen Ägyptologenschaft. Einmal mehr bewiesen vor allem die britischen Kollegen ihre unbedingte Hilfsbereitschaft. Gleiches galt für zahlreiche amerikanische Ägyptologen, nicht zuletzt auch für den Franzosen Étienne Drioton. Nach dem Krieg konnte Steindorff Zeugnis ablegen von seinen Erlebnissen und Beobachtungen der Jahre 1933 bis 1945, Borchardt war dies nicht mehr vergönnt. In seinem ihm von Freunden – unter anderem von Bernhard von Bothmer – geratenen „J’accuse“ Brief rechnete Steindorff ab, vor allem mit jenen deutschen Kollegen, die ihn am meisten ent- und getäuscht, die ihre Loyalität letztlich nur vorgespiegelt oder rasch aufgegeben hatten.
5 Nach 1945 – vergessen und vergeben? Nationalsozialismus und Krieg ließen Welten auseinanderbrechen. Eine ‚deutsche Kolonie‘ in Ägypten gab es 1945 nicht mehr. Die im Land verbliebenen Deutschen hatten, sofern sie jüdischer Herkunft waren oder zu politisch Verfolgten gehörten, nach Möglichkeit die ägyptische Staatsbürgerschaft angenommen und sich in engem Kreis zusammengeschlossen. Dies rettete nicht unbedingt davor, nach Kriegsausbruch zusammen mit andern Deutschen und Österreichern, oftmals überzeugten Nationalsozialisten, interniert zu werden, wie beispielsweise der Orientalist Ludwig Keimer, der Rechtsanwalt Hector Liebhaber, der Zahnarzt Hermann Wolff und sein Sohn, der Rechtsanwalt Walter Wolff, erfahren mussten. Mimi Borchardt lebte seit 1939 im Exil in der Schweiz, ihre Wahlheimat Ägypten würde sie nie wiedersehen. Immerhin gelang es ihr, dem befreundeten Ehepaar Rubensohn ebenso eine dauerhafte Bleibe in der Schweiz zu ermöglichen wie Friedel Rubensohns Schwester Else Oppler-Legband die Flucht nach Schweden. Borchardts ehemalige Mitarbeiter Otto Königsberger und Walter Segal entkamen nach Indien bzw. England. Die Witwe von Walter Wreszinski konnte sich ins Exil nach Brasilien retten, ihre Tochter nach Bolivien. Georg Steindorff erreichte zwar sein Exil in den USA, hatte aber bis ins hohe Alter mit Existenzsorgen zu kämpfen, war auf die Unterstützung wohlmeinender amerikanischen Kollegen angewiesen. Der Heidelberger Ägyptologe Hermann Ranke floh gemeinsam mit seiner Ehefrau nach Nord-Amerika, er fand Anstellung in Philadelphia. Moritz Sobernheims Witwe Clara fand ebenfalls in den USA Zuflucht, ebenso Mimi Borchardts Jugendfreundin Emma Hallgarten-Neißer. Die Koptologin Dora Zuntz hatte eine Bleibe in London, ihre Schwester Leonie in Oxford, ihr Bruder in Dänemark und später ebenfalls in Oxford. Glücklich waren sie nicht, ihre berufliche Zukunft war zerstört, Leonie nahm sich 1942 aus Verzweiflung das Leben. In Oxford fand sich außer beispielsweise den Klassischen Philologen Paul Jacobsthal aus Marburg und Paul Maas aus Königsberg sowie den Archäologinnen Käthe Bosse, Elise Baumgärtel und Margarete Bieber auch der zum Borchardt-Meyerhof Kreis gehörende Orientalist Paul Kahle. Auch er konnte nur mit Mühe sich und seine Familie ernähren. Für die meisten Flüchtlinge bedeutete das Exil zwar ein ‚sicherer Hafen‘, aber oftmals auch das Ende oder zumindest eine nachteilige Unterbrechung der beruflichen Karriere, wie sich beispielhaft am Werdegang der Schwestern Zuntz oder der erwähnten Archäologinnen beobachten lässt. An ihre erfolgversprechenden beruflichen Tätigkeiten bis 1933 konnten sie nach 1945 nicht mehr anknüpfen, womit sie keine Ausnahmen waren. Richtet man den Blick auf die gesamte Ägyptologenschaft, so zeigt sich, dass es für sie eine enorme Herausforderung darstellte, nach 1945 wieder zur DOI 10.1515/9783110526127-006
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usammenarbeit, zu einer gemeinsamen Politik zu finden. Zentrale und konZ trovers diskutierte Frage war, ob und welche Deutschen wieder eingebunden werden sollten. Denn die regen nationalsozialistisch ausgerichteten Aktivitäten bestimmter deutschen Ägyptologen waren bekannt oder wurden es nach 1945. Auch innerhalb der deutschen Ägyptologenschaft waren die Gräben tief, zwischen den Verfolgten und denjenigen, die sich dem nationalsozialistischen Regime willig angeschlossen hatten, auch zwischen den in Deutschland verbliebenen, politisch unterschiedlich orientierten Ägyptologen. Es stellte sich die Frage, ob ehemals aktive Nationalsozialisten aufgrund ihrer unbestrittenen fachlichen Kompetenz dennoch wieder integriert werden oder grundsätzlich ausgeschlossen bleiben sollten. Manche deutsche Ägyptologen stießen dabei trotz aller gutwilligen Bemühungen an ihre psychischen Grenzen, wie etwa Rudolf Anthes, der Deutschland schließlich verließ. Andere waren trotz aller Verbitterung zugunsten des Weiterbestands der deutschen Ägyptologie bereit, zumindest zu schweigen, wenn auch nicht zu vergessen und zu vergeben. Zu diesen zählte Alexander Scharff. Der ins Exil getriebene Georg Steindorff war dazu nicht willens, er versuchte international Einfluss darauf zu nehmen, welche deutschen Ägyptologen integriert bzw. für immer ausgeschlossen bleiben sollten. Wesentliche ‚Schwachstelle‘ war das Berliner Wörterbuch, für das der bekanntermaßen schwer belastete Hermann Grapow sich im Laufe von Jahrzehnten ein Monopol zu erarbeiten verstand. Zumal englische und dänische Ägyptologen hatten großes Interesse an der Weiterführung des Wörterbuchs, intensiv daran mitgearbeitet, auch empfanden sie gegenüber dem verstorbenen Adolf Erman eine moralische Verpflichtung. Gezwungenermaßen mussten sie sich mit der Frage auseinandersetzen, ob auch Grapow als ehemals überzeugter Nationalsozialist, allerdings auch unbestritten herausragender Fachmann, wieder zur Mitarbeit herangezogen und damit rehabilitiert werden sollte. Georg Steindorff war diese Problematik bewusst, weshalb er für die deutsche Nachkriegs-Ägyptologie wenig Hoffnung hatte, vielmehr befürchtete, dass ehemals nationalsozialistisch orientierte Ägyptologen bald wieder in ihre früheren Stellungen zurückkehren würden, so Hermann Grapow, Walther Wolf, Hermann Kess, Siegfried Schott und Günther Roeder. Davon nahm er als eine der wenigen Hoffnungen den Münchner Ordinarius Alexander Scharff, ehemaliger Assistent Borchardts in Kairo, aus. Seine Befürchtungen ließ Steindorff den englischen Kollegen Gardiner wissen, nachdem sie ab 1945 wieder brieflich 1 Erfreut erfuhr Steindorff, dass Gardiner mit dem russischen Ägyptologen Golenischeff in Verbindung stand. Steindorff hatte diesen im Sommer 1885 in Berlin kennengelernt, war seitdem mit ihm befreundet und betrachtete ihn als „considerably my senior“. Seinerzeit war Golenischeff in Begleitung seiner „eleganten Mutter und einer bildschönen französischen Freundin“
5 Nach 1945 – vergessen und vergeben?
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kommunizieren konnten.1 In Gardiner sah Steindorff denjenigen Ägyptologen, der wesentlich die wissenschaftspolitische Entwicklung der Nachkriegsägyptologie prägen und steuern würde. Wie schon James Breasted Jahre zuvor vermerkt hatte, war Gardiner eine unabhängige, von hohen Idealen geleitete Persönlichkeit, zudem ein herausragender Wissenschaftler und nicht zuletzt finanziell sowie institutionell unabhängig.2 Dies machte ihn zu einem der geeignetsten Adressaten der von Steindorff erstellten „J’accuse“- Liste, einer Kurzdarstellung der deutschen Ägyptologen und ihrer Verhaltensweisen während der NS-Zeit. Die „Liste“ erstellte Steindorff nicht nur aus eigenem Antrieb. Auch der aus politischen Gründen im amerikanischen Exil lebende Bernhard von Bothmer ermunterte ihn sogar schon im Jahre 1944 dazu,3 ebenso Max Meyerhof, obwohl dies die Millionen ermordeten Juden nicht wieder lebendig machen könne.4 Im Juni 1945 schickte Steindorff die Liste an Gardiner, zusätzliche Beiträge von Freunden hatten sich nicht „zum Vorteil der Charakterisierten“ ausgewirkt.5 Auch Gardiner hatte weitere, für Steindorff interessante, oft nochmals enttäuschende Anmerkungen zu machen. So hatte er Anthes „solche törichten Äußerungen nicht zugetraut“, sich auf dessen Bemerkungen über den positiven Wert von Krieg beziehend. Dass Anthes sich längst von dieser Auffassung distanziert hatte, wusste zu diesem Zeitpunkt weder Steindorff noch Gardiner. Ebensowenig war bekannt, „wie weit Kollegen, die Anti-Nazi waren, es im Laufe der Kriegsjahre geblieben
i n Berlin aufgetaucht, Steindorff „Hilfsarbeiter am Museum“ und „mächtig“ beeindruckt von dem „stattlichen Russen, den Typus eines Aristokraten des zaristischen Ancien Régime“ mit dem „leicht gefärbten deutschen Dialekt, den er noch sprach, als ich ihn 1936 zum letzten Mal in Kairo sah“. Gardiner sollte Grüße ausrichten, auch Golenischeffs Adresse in Südfrankreich schicken. Steindorff an Gardiner, (Ponca Ave) 18. Juli 1945. GIO MSS AHG/42.308.12. 2 Sein Vater war Vorstandsvorsitzender des Londoner Textilunternehmens „Bradbury, Greatorex & Co.“. Mike Tyldesley: German Youth Movement, 2006, S. 21. 3 „Ich hoffe immer noch, dass Sie das ‚J’accuse‘ bald schreiben. Die Zeit ist gekommen“. Bothmer an Steindorff, 2. September 1944. ÄMUL NL Steindorff K23 1944. 4 Meyerhof an Steindorff, 30. September 1944. ÄMUL NL Steindorff K23 1944. 5 Als „Men of honour“ bezeichnete er: Alexander Scharff, Rudolf Anthes, Hans Bonnet, Hans Wolfgang Müller, Herbert Ricke, Ludwig Keimer und Bernhard von Bothmer; anzuklagen hatte er: Hermann Grapow, Alfred Hermann, Hermann Kees, Hermann Junker, Czermak (Wien), Siegfried Schott, Herbert Schädel. Über Günther Roeder und Uvo Hölscher war er nicht genau informiert, vermutete aber, dass beide sich den Nationalsozialisten angeschlossen hatten. Sonderfälle seien Heinrich Schäfer (zweifellos dem Nationalsozialismus nicht abgeneigt, früher ein enger Freund, habe ihn während der NS-Zeit fallen gelassen), Walther Wolf (ein „terrible Nazi“, im Krieg gefallen, was nicht korrekt war, aber Steindorff unbekannt), Friedrich von Bissing (ein früher Anhänger der Nationalsozialisten, aber nach dem Novemberpogrom 1938 Steindorff gegenüber sehr hilfsbereit, zu alt, um zukünftig noch eine Rolle zu spielen). GIO MSS AHG/42.308.12.
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sind und sich von dem Hitler-Gift und der Goebbels-Propaganda freigehalten haben“. Gemeint war damit vor allem Alexander Scharff, den Steindorff zuletzt im Oktober 1938 getroffen hatte und der seiner Meinung nach „menschlich und wissenschaftlich schwer (zu) entbehren“ war. Positiv bewertete er auch den Bonner Orientalisten Hans Bonnet. Mit Grapow, „diesem widerlichen Gangster“, hatte er dagegen „jeden Verkehr“ abgebrochen. Von Bothmer hatte auf die Frage Steindorffs zusätzlich angemerkt, Roeder sei in den späteren Jahren ein „strammer Nazi“ gewesen, habe sich aber weder mit Kees noch Hermann verstanden, die beide einen „früheren Gesinnungswandel aufzuweisen“ gehabt hätten.6 Dass auch Uvo Hölscher zum Nationalsozialisten geworden war, wie Steindorff mutmaßte, entkräftete Mimi Borchardt. „Ich halte es für ausgeschlossen, dass er je irgendetwas nicht Anständiges getan hat“, schrieb sie am 20. Juni 1945 an Steindorff, sie kenne seinen integren Charakter.7 Grundsätzlich hielt sie Steindorffs „J’accuse“ für eine sehr positive Initiative, wofür sie ihm dankte.8 Sein Urteil über Junker fand sie „zu mild“, dasjenige über Roeder ebenso, während sie die Ansicht über Schott teilte. Hölscher traute sie keine „Unanständigkeit“ zu, er habe sie auch in den 1930er Jahren in Kairo besucht, „war viel bei uns – was andern nicht einfiel“. 1933 habe er mit seiner Ehefrau ebenso wie sie den Urlaub in Braunwald (Schweiz) verbracht, ihre Nähe offensichtlich und demonstrativ gesucht. Ludwig Keimer, den der „J’accuse“-Brief in Kairo erreichte und der ihn ebenso begrüßte wie Étienne Drioton, hatte ebenfalls zusätzliche Anmerkungen zu machen, hoffend auf möglichst umfassende Verbreitung der Schrift.9 Anders als von Bothmer ordnete Keimer Roeder nicht als „großen Nazi“ ein, allerdings als „üblen Opportunisten“. Das DAI in Kairo sei jedoch seinerzeit das „Hauptquartier des Nazismus in Ägypten“ gewesen. Keimer hoffte, dass „Kees, Grapow, sowie all die jungen aufgeblasenen Nazilümmel wie Diemke,10 Spiegel, Hermann, usw. ebenfalls genügend an den Pranger gestellt“ würden.11 Mit Schott hatte er selbst nur positive Erfahrungen gemacht, aber gehört, dass er ein „großer Nazi“ gewesen sei. Junker sei ein „großer Spion“ gewesen, „aber ein Spion, der so sicher und so überzeugt war von der Größe des Deutschtums und des Nazismus
6 Bothmer an Steindorff, 2. September 1944. ÄMUL NL Steindorff K23 1944. 7 ÄMUL NL Steindorff K23 1944. 8 MB an Steindorff, (Braunwald) 6. August 1945. ÄMUL NL Steindorff K23 1944. 9 Keimer an Steindorff, 25. November 1945. ÄMUL NL Steindorff K23 1944. 10 Studierte bei Walter Wreszinski, danach bei Junker in Wien. Laut Kurt Bittel: Reisen, 1998, S. 229, waren seine Eltern begütert und „spendierten“ ihm schon früh eine Reise nach Ägypten. Dort traf er auf Junker, der ihm spontan Sympathie entgegenbrachte und als Sekretär „zu verwenden pflegte“. 11 Keimer an Steindorff, 15. Oktober 1945. ÄMUL NL Steindorff K23 1944.
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und dem Endsieg der Nazis, dass er seine Nazi-Ideen und seine Partei-Tätigkeit kaum verdeckt hat“. Dabei sei er ein besonders übler „Fall“, weil auch katholischer Priester. „Wenn aber ein Priester … Nazi wird???“ Als „ägyptol. Kriegsverbrecher“ ordnete Keimer ein: „Grapow (der Peiniger des armen, harmlosen Anthes), Roeder, Kees, v.Bissing, Spiegel, Hermann …. Schäfer ist sehr alt …“. „Wilde Nazis“ waren laut Keimer die Österreicher v.Demel,12 Balcz, Czermak,13 der Prähistoriker Menghin, in Prag Grohmann.14 Positives sei hingegen zu Rudolf Anthes zu vermerken, unter den Nationalsozialisten habe er sehr gelitten. Bonnet sei wohl „ganz harmlos“ gewesen, wenn auch „sehr national“, Scharff ebenfalls kein Nationalsozialist. Auch andere verfolgte und geflohene Wissenschaftler legten ein ‚J’accuse‘ an, so der Bonner Orientalist Paul Kahle, der nicht nur Steindorff, sondern vor allem Borchardt und Meyerhof aus gemeinsamen Kairener Tagen bekannt war. Kahle publizierte im Juli 1945 in seinem Exil in Oxford eine detaillierte Beschreibung der Universität Bonn während der NS-Zeit.15 Auch für ihn war die wesentliche Frage, wie zukünftig der eigene Fachbereich und die Universität überhaupt gestaltet werden könnten. Ein zentrales Problem bildeten dabei die aus Kahles Sicht überwiegend nationalsozialistisch sozialisierten Studenten, die sukzessive ‚umerzogen‘ werden müssten. Geeignete Mittel wären die Einrichtung von Diskussionszirkeln, die Wiedereinführung von Studenten-Verbindungen und vor allem internationaler Studentenaustausch. Für Kahle stand außer Frage, dass ehemaligen Nationalsozialisten kein Zugang zu universitären Ämtern oder gar der Lehre gewährt werden durfte.16 Seine Schrift war eine überwiegend sachliche Beschreibung, ein erinnerndes Mahnen; sie wirkte nicht wie eine Abrechnung oder Rache für erfahrenes Unrecht, sondern eher als Beleg dafür, dass Distanz zu den Nationalsozialisten und erfolgreiche universitäre Arbeit keineswegs immer Gegensätze hatten bilden müssen.
12 Hans Demel, Ritter von Elswehr (1886–1951), österreichischer Ägyptologe, ab 1926 Direktor der ägyptischen Abteilung des Kunsthistorischen Museums Wien. 13 Wilhelm Czermak (1889–1953), österreichischer Ägyptologe und Afrikanist, Nachfolger Junkers in Wien, 1945/46 Dekan der Philosophischen Fakultät der Universität Wien, 1952/53 Rektor. Er war Mitglied der faschistischen „Deutschen Gemeinschaft“ gewesen, ab 1938 blieb er auf Distanz zu den Nationalsozialisten, agierte aber durchaus in deren Sinn. Thomas Schneider: Ägyptologen, 2013, S. 179 f. 14 Adolf Grohmann (1887–1977), österreichischer Orientalist, 1921 a. o. Professor in Prag, 1924– 1945 ordentlicher Professor in Prag, 1949–1956 Professor in Kairo, 1949–1962 Honorarprofessor in Innsbruck. 15 Paul Kahle: Bonn University, 1945. 16 Paul Kahle: Bonn University, 1945, S. 36–38.
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Dagegen agierte Steindorff deutlich emotionaler, vergessen und vergeben konnte er nicht. Doch auch ihn die trieb die Frage um, wie man sich zukünftig „deutschen Kollegen“ gegenüber verhalten sollte. Eine Antwort „im Allgemeinen“ hatte er nicht bereit, absichtlich noch „kein Verdikt“ gefällt.17 Persönlichen Kontakt mit den „verbrecherischen“ Kollegen hielt er für undenkbar und hoffte, „diese Schufte (würden) von anderer Seite ihre verdiente Strafe erhalten“. Nicht vergessen war die Bemerkung seines ehemaligen Assistenten und Nachfolgers Wolf: „Ein Nazi hat den Worten des Führers zu folgen“, entsprechend hatte er sich verhalten und dafür das „verdiente Schicksal“ erlitten. Nicht vergessen waren auch die Verhaltensweisen anderer Kollegen und vor allem sein erniedrigendes Leben von 1933 bis 1939 in Deutschland – seine jüngere Schwester und sein Bruder fielen den „Grausamkeiten der Nazis zum Opfer“. Auch ihm und seiner Frau wäre es so ergangen, wenn sie nicht „noch im letzten Augenblick der Hölle entronnen wären“. Dass „re-educating Germany“ zu erfolgen hatte, stand für Steindorff außer Frage. Bei den entsprechenden Maßnahmen werde es darauf ankommen, „von wem sich die Männer, die die Entscheidungen zu treffen haben, beraten lassen“ – „hoffentlich nicht von ‚historischen‘ Charlatans wie Emil Ludwig“. Ludwig (1881–1948) war einer der bedeutendsten Historiker und Journalisten der Weimarer Republik, der sich mit seinen provokanten Romanwerken allerdings viele Feinde schuf.18 Weil er eine Zeitlang zu den Rebellen des Monte Verità (Ascona) gehört hatte, ein Freund von Elise Steindorffs Schwager Richard Dehmel war und nach 1940 im Exil in Kalifornien lebte, war er sowohl Walter Segal als auch Georg Steindorff bekannt. Seine in der New York Times veröffentliche Rede vom 6. Juli 1942 kostete ihn wegen ihres Schlüsselsatzes „Germany is Hitler and Hitler is Germany“ das „deutsche Publikum und führte zum Bruch mit den tonangebenden deutschen Exilanten“.19 Eine der Forderungen Ludwigs war, Deutschland zukünftig unter internationale Kontrolle zu stellen, um jeden Einfluss von Nationalsozialisten für immer zu unterbinden. Mit dieser Meinung ging Steindorff keineswegs konform. Mit Missfallen beo bachtete er, dass Ludwig im Januar 1945 von Roosevelt und Truman beauftragt wurde, „im Tross der drei populären US-Generäle Patton, Clayton und Eisenhower nach Europa zu gehen und Amerikas Zeitungslesern von der Befreiung speziell in Deutschland zu berichten“.20 Eine erfolgreiche ‚Umerziehung‘ der
17 Steindorff an Gardiner, 18. Juli 1945. GIO MSS AHG/42.308.12. 18 Dagmar Just: Emil Ludwig, 2015. Hans-Jürgen Perrey: Emil Ludwig, 1992. 19 Dagmar Just: Emil Ludwig, 2015, S. 2. 20 Dagmar Just: Emil Ludwig, 2015, S. 2.
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Deutschen konnte nach Steindorffs Überzeugung nicht von Außenstehenden geleistet werden, sondern nur von Persönlichkeiten, die aus eigener Erfahrung die deutsche Geschichte und den „deutschen Volkscharakter“ („nicht nur den der Café-Besucher am Kurfürstendamm“) kannten. Den Leitspruch Gardiners: „Father, forgive me, they know not what they do“, machte er zu seinem, nur die überzeugten Nationalsozialisten wollte er davon ausnehmen, weil sie bewusst „ihre Taten mit sadistischer Grausamkeit vollbracht“ hätten.21 Rache nehmen wollte Steindorff nicht, aber Gerechtigkeit erleben und dies umso mehr, als er nach wie vor unter den Folgen der nationalsozialistischen Herrschaft zu leiden hatte. Finanz- und Wohnungssorgen22 drückten ihn, wissenschaftlich war er isoliert.23 Während der Korrekturarbeiten an seiner koptischen Grammatik stand er lediglich mit Worrell in stetem Austausch, erhielt ab und an Besuch von Jimmy Breasted, dem Sohn des verstorbenen James Breasted. Der französische Ägyptologe Étienne Drioton unterstützte ihn aus der Ferne.24 Seine „scholarly papers“ hatte er aus finanziellen Gründen, vermittelt von Bull, an das Oriental Institute in Chicago verkauft, obwohl er sie eigentlich dem Griffith Institut hatte überlassen wollen. Umso größere Hoffnung setzte er in Gardiner als wahrscheinlich zukünftigen Präsidenten der wesentlich von dem Dänen Sander-Hansen geplanten „International Union of Egyptologists“, in welcher Funktion er dafür sorgen würde, „dass alle wissenschaftlichen Kriegsverbrecher für alle Zeit aus der Union ausgeschlossen bleiben, wenn sie auch für die wissenschaftliche Arbeit noch so nützlich sein 21 Steindorff bedauerte, „dass das Bombenattentat auf Hitler vor einem Jahr“ misslungen war, der „V-day“ hätte viel früher gefeiert und viele weitere Opfer hätten vermieden werden können. 22 Das Ehepaar Steindorff hatte eine „schwere Krisis“ zu durchleben, sie mussten unerwarteterweise das Haus, in dem sie sieben Jahre lang gelebt hatten, innerhalb eines Monats verlassen und eine neue Bleibe suchen. Da große Wohnungsnot herrschte, mussten sie sich ein Haus kaufen. „Wie wir das ohne Mittel zu Wege brachten, ist ein Kapitel für sich.“ Am 21. Oktober 1946 konnten sie das neue Domizil beziehen, obwohl sie kaum über Geldmittel und keine Hilfskräfte verfügten. Im neuen Haus feierte Steindorff seinen 85. Geburtstag. Steindorff an Gardiner, (Cumpston Str., North Hollywood) 14. Dezember 1946. GIO MSS AHG/42.308.10. 23 Neuigkeiten über Gardiner erfuhr Steindorff primär von John Cooney, z. B. dass John Gardiner bald aus der Gefangenschaft (Java) zurückkehren würde, Alan Gardiner seinen Wohnsitz nach Oxford-Iffley verlegt hatte. Für den Winter 1945 plante Gardiner noch keinen Ägyptenaufenthalt. „Lassen Sie mich nicht verhungern und allein auf Jimmy Breasted’s Nahrung angewiesen sei“, bat Steindorff. Seine Forschungsbedingungen besserten sich nicht. Mit in Ägypten erschienenen Publikationen versorgten ihn nur Drioton und Ludwig Keimer. Über das weitere Schicksal der ZÄS wusste Steindorff nichts, baute auf Gardiners Hilfe. Steindorff an Gardiner, (Ponca Ave) 19. November 1945 u. (Cumpston Str., North Hollywood) 14. Dezember 1946. GIO MSS AHG/42.308.11 + 10; Keimer an Gardiner, 17. Juni 1946. GIO MSS AHG/42.162.12. 24 Drioton schickte ihm Polotskys Werk über die koptische Syntax, das er intensiv studierte.
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mögen“. So sehr Steindorff bereit war, Deutschen im Allgemeinen ihre nationalsozialistische Vergangenheit zu verzeihen, so wenig war er es bei ehemaligen Fachkollegen. Gardiner erschien ihm als Garant dafür, dass die ehemaligen Mitläufer und Täter auf immer geächtet würden. Dies schloss nicht aus, dass Steindorff den sich allmählich wieder anbahnenden „internationalen wissenschaftlichen Verkehr“ begrüßte, wobei die „International Union“ ein „wesentlicher Schritt vorwärts“ sein werde, obwohl an der für Herbst 1947 geplanten ersten Tagung kaum amerikanische Kollegen teilnehmen würden.25 Entscheidender erschien Steindorff, dass erörtert würde, ob deutsche Ägyptologen grundsätzlich die Mitgliedschaft erhalten oder sie ihnen verweigert würde. Seiner Meinung nach sollten diejenigen zugelassen werden, die „tapfer dem Nazismus die Stirn geboten haben und dafür verfolgt worden sind, die Märtyrer der freien Wissenschaft“. Damit meinte er primär Scharff, Anthes, Bonnet26 und „das Borchardt’sche Institut mit Ricke“. Als einen „prachtvollen Charakter und tüchtigen Museumsmann“ hatte er zudem den am ägyptischen Department des MFA in Boston angestellten, dort Dunham und Bill Smith vertretenden Bernard von Bothmer kennengelernt. Auch er könne „ein Lied von den Treibereien der deutschen Nazi-Ägyptologen singen“. Bei allen andern sei dagegen größte Vorsicht geboten. Noch weit skeptischer als Steindorff schaute Ludwig Keimer in die Zukunft. Von einer „International Union of Egyptologists“ versprach er sich wenig, denn die dauerhafte „Boykottierung der Nazi-Verbrecher-Ägyptologen“ werde man damit nicht erreichen.27 Auch seien „Anti-semitismus, Anti-Katholizismus (…) absolut nicht tot, im Gegenteil“, der Krieg habe sein Ziel mithin verfehlt. Ähnlich große Hoffnungen wie Steindorff setzte auch der französische Ägyptologe Georges Posener (1906–1988) in Gardiner.28 Er hatte allen Grund, Deutschen gegenüber größtes Misstrauen zu hegen, war er doch wegen seiner jüdischen Herkunft Verfolgungen ausgesetzt und 1939/40 inhaftiert gewesen.29 An der Wiederaufnahme internationaler Zusammenarbeiten war er enorm interessiert, allerdings unter Ausschluss der Deutschen. Mit Sorge beobachtete er, dass einige der belasteten deutschen Ägyptologen wieder reüssierten, was verhindert werden
25 Steindorff an Gardiner, (Cumpston Str., North Hollywood) 14. Dezember 1946. GIO MSS AHG/42.308.10. 26 Bonnet war „nach sehr schweren Leiden und großen Gefahren“ in der britischen Zone in Sicherheit, hatte wohl schon seine Lehrtätigkeit in Bonn wieder aufgenommen, das Manuskript des „Reallexikons der ägyptischen Religion“ retten können. 27 Keimer an Steindorff, 25. November 1945. ÄMUL NL Steindorff K23 1944. 28 Posener an Gardiner, 8. Januar 1945. GIO MSS AHG/42.241.66. 29 Aus der Haft konnte er entkommen; er lebte in der Folgezeit im Untergrund.
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müsse. Diesbezüglich sei leider nur mit der Unterstützung von Gardiner und Capart zu rechnen, die meisten nicht-deutschen Ägyptologen seien wohl zugunsten der Wissenschaft zur Zusammenarbeit mit Deutschen bereit.30 In Deutschland entwickelten sich die Verhältnisse zunächst partiell in Steindorffs Sinn, Walther Wolf war in Leipzig abgesetzt worden, würde wohl nie mehr an die Universität zurückkehren. Manchem anderen aber war es gelungen, „die Denazifikations-Behörden zu täuschen und wieder die Erlaubnis zu dozieren zu erlangen“, etwa Roeder, der laut Drioton in Ägypten Spionage getrieben hatte.31 Kees versuchte, „in Göttingen wieder anzukommen“. Noch „empörender“ war für Steindorff der Fall Grapow, „der einer der schlimmsten, fanatischsten und gefährlichsten war“, derzeit aber an der Berliner Akademie wieder eine große Rolle spiele und „uns auslacht“. Mit seiner Entrüstung stand Steindorff nicht allein, in ihren Briefen richteten auch Anthes und Scharff „scharfe Anklagen“ gegen „diese Fachgenossen, die sich schwer gegen die Menschheit und die Wissenschaft vergangen haben“. Vermutlich aber sei Grapow wegen der Fortführung des Wörterbuchs unentbehrlich, eine Arbeit, die man ihm erlauben sollte, ohne ihn jedoch als Mitglied oder Beamter der Berliner Akademie zuzulassen. Da offenbar auch in andern Bereichen der Orientalistik ähnliche Fälle vorlägen, sollte Gardiner seine Autorität bei den britischen Behörden in den „Okkupationsgebieten“ dafür einsetzen, dass einer solchen „neuen ‚Nazifizierung‘ ein Riegel vorgeschoben“ werde. Die Dringlichkeit derartiger Bitten steigerte sich mit der zunehmend problematischen Forschungs- und Finanzsituation Steindorffs sowie den wenig erfreulichen Informationen, die ihn aus Deutschland erreichten und ihn bitter werden ließen.32 Tröstend wirkte, dass Gardiner bezüglich der Behandlung deutscher Ägyptologen einer Meinung mit ihm war, die Zusammenarbeit mit deutschen Kollegen so lange ablehnte, bis die „vollkommene Unbescholtenheit“ erwiesen war und ein klares Bekenntnis vorlag, „dass sie an dem über Europa und die Welt gebrachten Unglück moralisch mit verantwortlich sind“. Steindorff
30 Posener an Gardiner, 7. Juli 1946. GIO MSS AHG/42.241.65. 31 Steindorff an Gardiner, (Cumpston Str., North Hollywood) 14. Dezember 1946. GIO MSS AHG/42.308.10. 32 In der Nähe seines Wohnorts gab es keine geeignete Bibliothek, die nächste war die Präsenzbibliothek in Chicago. Den Kauf von Literatur konnte Steindorff sich nicht leisten, zum JEA war jeder Kontakt abgebrochen. Von Familie Erman hatte Steindorff lange nichts gehört und hoffte durch Gardiner, der mit Ermans Tochter Annemarie Schaal in Verbindung stand, Neuigkeiten zu erfahren. Ihn interessierte das Schicksal von Käthe Erman (Witwe von Adolf Erman), Lotte (verheiratet mit dem Berliner Ägyptologen Albert Ippel), Doris Baensch „und ihrem Clan“, die in der Nähe von Bremen gelebt hatte. Steindorff an Gardiner, 2. Februar 1947. GIO MSS AHG/42.308.9.
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stand in steter Verbindung mit Scharff, auch mit Anthes und Bonnet, die beide „von den Nazis fast zu Tode gehetzt worden“ seien. Mit allen andern wollte er nichts zu tun haben, auch nicht mit Ranke, der, obwohl selbst Leidtragender, „wie viele andere, einen Strich unter das Geschehene machen und es als nicht vorhanden betrachten möchte“. Diese „bequeme Methode“ lehnte Steindorff ab; ebenso stand für ihn zwischenzeitlich außer Frage, dass die Mehrheit der Deutschen unbelehrbar war, die ‚Umerziehung‘ ein langwieriger Prozess sein würde. Als wenig effizient erwiesen sich obendrein die „Occupationsbehörden“, die beispielsweise zuließen, dass „ein Verbrecher wie Grapow“ wieder in der Berliner Akademie sitze. An der Göttinger Universität scheine sich gar unter den Augen der Briten eine „gefährliche Nazizelle“ zu bilden. „Von den Ägyptologen sitzen dort Spiegel und Roeder und halten Vorlesungen und Kees steht im Hintergrund und dirigiert sie!“. Kees sei „klug und gewandt“ und überaus ehrgeizig, werde gewiss alles aufbieten, „dass das durch den Krieg Verlorene schleunigst wiederhergestellt wird“. Diese „Clique“ war Steindorff nur allzu bekannt. In Leipzig werde die Ägyptologie von Siegfried Morenz vertreten, der angeblich ein „angenehmer und zuverlässiger Mensch“ sei, also ein Lichtblick angesichts all der eher deprimierenden Nachrichten aus Deutschland. Knapp zwei Jahre nach Kriegsende hatte Steindorff die Hoffnung auf einen neuen „Frühling“ in Deutschland und insbesondere innerhalb der deutschen Ägyptologie weitgehend aufgegeben. Ob auch Gardiner zu dieser wachsenden Niedergeschlagenheit beitrug, lässt sich nicht mit Bestimmtheit feststellen. Trotz aller Bekundungen, Distanz zu belasteten deutschen Ägyptologen halten zu wollen, ließ er sich zugunsten der Wissenschaft und weil die englische Ägyptologie wider Erwarten einen enormen Aufschwung nahm doch auf Beziehungen ein, sogar zu den von Steindorff ‚gebrandmarkten‘ Ägyptologen. Gardiners Interesse war, von der vor dem Krieg geleisteten guten Arbeit zu profitieren, so die Begründung gegenüber Steindorff.33 Dieser machte dem englischen Kollegen keine Vorhaltungen oder Vorwürfe, war vielleicht auch zu sehr belastet mit anderweitigen Sorgen, bemitleidete sogar etliche deutsche Kollegen.34 Dennoch lockerte sich die Beziehung zwischen
33 Gardiner an Steindorff, 27. Januar 1948. GIO MSS AHG/42.308.6. 34 Tochter Hilde musste sich einer riskanten Operation unterziehen. Steindorff erhielt zahlreiche Briefe von ehemaligen Kollegen aus Deutschland. Diese unterrichteten ihm von Bedrückendem im Osten Deutschlands, wozu Steindorff meinte, die Deutschen hätten durchaus die Konsequenzen ihrer Taten zu tragen. Erfreut war er über die positive Entwicklung, die die Ägyptologie an der Universität München unter Scharff nahm. Steindorff an Gardiner, 9. Januar 1949. GIO MSS AHG/42.308.4.
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Gardiner und Steindorff in den folgenden Jahren, was Letzterer als „menschlichen und wissenschaftlichen Verlust“ empfand, wahrscheinlich sogar als enttäuschend und verletzend.35 Um Steindorff wurde es immer einsamer, auch ließen seine körperlichen Kräfte nach. Im Januar 1951 erlitt er eine schwere Herzattacke, von der er sich nur langsam erholte.36 Jede zukünftige Reisetätigkeit verbot sich. Dennoch verfolgte er mit Interesse Gardiners Ausführungen zu Nachwuchsägyptologen, stimmte auch dessen Einschätzung zu, die besten fänden sich wohl in Frankreich (Schule Lefèvre), wobei der herausragende Tscheche Cerny nicht zu vergessen sei.37 Überaus enttäuschend – „poor and thin“ – war für Steindorff hingegen der offizielle Bericht zur ersten Zusammenkunft der „International Association of Egyptologists“ (1947), in die er große Hoffnungen gesetzt hatte. Dass auch der von ihm gehasste Walther Wolf schließlich ebenso wieder zu Amt und Ehrung kam wie Hermann Grapow, erlebte Steindorff nicht mehr. Es mag ihm geschienen haben, als ob entgegen seinen Hoffnungen nach 1945 kein wirklicher Neubeginn, kein kritisches Reflektieren angestrebt war und stattfand, dass auch die internationale Ägyptologenschaft einen Schlussstrich unter das Geschehene ziehen wollte. Zur Gänze war dies jedoch nicht der Fall. Es gab auch in Deutschland durchaus kritisches Nachdenken und sogar Selbstkritik, allerdings kaum bei den ehemals ‚strammen‘ Nationalsozialisten.
35 Die Neuausgabe der von Gardiner verfassten Grammatik war Steindorff nicht transferiert worden, Kees dagegen hatte sie erhalten, wie er Steindorff mitteilte. Dieser verfügte nicht über die Finanzmittel, das Buch käuflich zu erwerben. Deshalb musste er bei Gardiner um das Buch und auch um verschiedene Ausgaben der JEA „betteln“, was ihm schwer fiel. Eine weitere Hoffnung schwand, als Alexander Scharff 1950 überraschend verstarb. Steindorff meinte, in ihm habe die deutsche Ägyptologie einen ihrer besten Vertreter verloren, er selbst einen seiner treuesten und zuverlässigsten Freunde, der stets trotz erheblicher Nachteile und Risiken „tapfer“ zu ihm gehalten habe. Einen solchen Charakter habe nur noch Hans Bonnet. Steindorff an Gardiner, 4. Dezember 1950. GIO MSS AHG/42.308.3. 36 Steindorff an Gardiner, 15. Januar 1951. GIO MSS AHG/42.308.1. 37 Nur namentlich kannte Steindorff die englischen Ägyptologen John Barns und Harry James. Überaus erfreut war er über Cerny als Nachfolge von Gunn in Oxford. Er selbst rechnete sich das Verdienst an, dass Cerny nicht Bankbeamter geblieben, sondern Ägyptologe geworden war. Unmittelbar nachdem er Cerny in Kairo kennen gelernt hatte, hatte er dem tschechischen Gesandten geschrieben, dass die Prager Regierung alles tun möge, „den jungen ungewöhnlich begabten Gelehrten aus der Tretmühle des Bankgeschäfts loszulösen und ihm die Mittel zu geben, dass er sich ganz seinen wissenschaftlichen Arbeiten widmen könne“. Vermutlich habe Cerny dies längst vergessen.
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In ihrem brieflichen Austausch mit Alan Gardiner setzten sich Alfred Pohl (1890–1961),38 Rudolf Anthes, Alexander Scharff und Herbert Ricke intensiv mit der deutschen Ägyptologie während der NS-Zeit auseinander, stellten sich kritisch ihrer eigenen Geschichte, suchten nach Perspektiven für die Nachkriegszeit. Dabei fungierte Pohl, der stets ein Gegner der Nationalsozialisten gewesen war und sich 1933 bis 1945 ausschließlich in Rom aufgehalten hatte, als Unterstützer und Mittler. Scharff und Anthes versuchten mit Hilfe von Gardiner, der nach dem Tod Ermans und Breasteds zur ‚grauen Eminenz‘ der Ägypotologie avancierte, das Geschehene, ihre eigene und die Rolle von Kollegen darzustellen und zu verstehen, vielleicht auch nachvollziehbar zu machen. Gardiner eröffnete Ricke die Möglichkeit, sowohl die eigene Geschichte bekannt zu machen als auch erneut an internationale Zusammenarbeit anzuknüpfen, seine Isolation im Schweizer Exil ein Stück weit aufzuheben. Für andere deutsche Ägyptologen hatte Gardiner vor allem die Funktion, sie von etwaiger ‚Schuld‘ freizusprechen, ihre beschädigte Reputation wiederherzustellen und die erneute internationale Einbindung zu ermöglichen. Pohl stand seit 1938 mit Gardiner in ständiger Verbindung, reiste des Öfteren nach England.39 Engen Kontakt pflegte er auch zu Scharff in München, der ihn über das Geschehen in Deutschland und an der Universität auf dem Laufenden hielt, was mit Ausbruch des Krieges endete.40 Vermittelt über Boten erreichte Pohl am 3. Februar 1946 ein erstes Nachkriegsschreiben Scharffs, zu dieser Zeit bereits Dekan der philosophischen Fakultät der Universität München.41 Dem Schreiben zufolge war Kees in Göttingen „rehabilitiert“, Anthes aus russischer Kriegsgefangenschaft und ans Berliner Museum zurückgekehrt; Junker weilte bei seiner in
38 Ernst Vogt, Rektor des „Ponteficio Instituto Biblico“ (Rom), teilte Gardiner am 26. Oktober 1961 mit, dass A. Pohl am 23. Oktober 1961 infolge seines Herzleidens verstorben sei. Geboren wurde er am 1. Dezember 1890 in Köberwitz (Kreis Ratibor/Schlesien), studierte an der Universität Breslau Philosophie, Theologie und Philologie, trat 1912 in das Noviziat der Gesellschaft Jesu ein, studierte dann in Valkenburg (Niederlande), 1924 an der Universität Berlin, wo er 1930 bei Bruno Meissner promovierte. Ab 1930 war er Professor für Assyriologie am päpstlichen Bibelinstitut in Rom, leitete ab 1932 die Zeitschrift „Orientalia“. GIO MSS AHG/42.239.1. 39 Für März 1938 plante er einen Aufenthalt im British Museum in London, um eine Serie von Traum-Omina zu kopieren, die ihm Prof. Landsberger abgetreten habe. Bei dieser Gelegenheit wollte er Gardiner auch persönlich kennenlernen. Pohl an Gardiner, 29. März 1938. GIO MSS AHG/42.239.27. 40 1939 berichtete Scharff über Nachwuchsprobleme der deutschen Ägyptologie, Pohl wunderte sich nicht, weil man allenthalben über „Wissenschaft und Kultur“ schimpfte. Pohl an Gardiner, 23. April 1939. GIO MSS AHG/42.239.26. 41 Pohl an Gardiner, 4. Februar 1946 u. 1. März 1946. GIO MSS AHG/42.239.18 + 17.
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einem Kloster lebenden Schwester im österreichischen Rodaun, wollte sich offenbar ganz zurückziehen, Czermak war noch in Wien, Roeder wieder in Hildesheim. Von Grapow hörte man nichts mehr. Von vorrangigem Interesse war für Pohl die Unterstützung Scharffs, dem sehr an der Kontaktnahme mit Gardiner lag, Pohl sollte vermitteln.42 Auch aus andern Quellen war Gardiner bekannt, dass Scharff die Beziehung zu ihm wieder anknüpfen wollte, zögerte aber, sich darauf einzulassen. Stets war er ein Gegner der Auffassung gewesen, dass „science is a little world of its own quite divorced from the rest of life, and that scientists can follow their own nationalistic trends and yet expect to be dealed as though their political activities, even their acceptance of the regime under which they live, were a matter of indifference“.43 Bei Scharff war er sich zwar vollkommen sicher, dass dieser niemals „any taint of Nazism“ gehabt hatte, sich „in happier circumstances“ sogar mit ihm würde angefreundet haben. Das Problem war der Modellcharakter, den Gardiners Beziehung zu Scharff hätte gewinnen können. Sollte er schon so kurz nach dem Krieg wieder die Beziehung zu einem deutschen Kollegen aufnehmen, würde er gegenüber andern deutschen Kollegen, denen er bei weitem nicht diesen Respekt entgegen brachte, und auch gegenüber englischen Kollegen in Erklärungsnot kommen. Dies führte Gardiner zu dem Entschluss, „that personal relations with German Egyptologists who have lived in Germany during the War must wait a while, until the wounds are healed to some extent“. Ein wirklicher Neuanfang war für Gardiner erst dann möglich, wenn man die Augen nicht mehr vor der Vergangenheit und den grausamen, von den Nationalsozialisten begangenen Verbrechen verschloss. Bei Pohl stießen dieser Überlegungen auf Verständnis, wusste er doch beispielsweise aus den Berichten zweier englischen Patres, die während des Krieges in London gelebt hatten, wie sehr England unter dem Krieg zu leiden
42 Gardiner sollte auch die Adresse von Prof. Blackman aus Liverpool schicken. Wie Pohl wusste, war P. Massart in Kairo, sollte Mitte März über Rom nach Oxford zurückreisen (Gardiner setzte sich danach für Massart ein). Bei Gardiner vermitteln sollte Pohl auch für Rolf Ibscher, Sohn des 1943 verstorbenen Hugo Ibscher. Den abschriftlichen Brief des Sohnes, in dem er Gardiner über den Tod des Vaters unterrichtete, schickte Pohl am 5. März 1946 an Gardiner. Pohl hatte den Brief jahrelang aufbewahrt; Gardiner war schon von J. Leibenguth unterrichtet worden. GIO MSS AHG/42.239.16. Gardiner hatte seit Jahren keinen Kontakt zu Sohn Ibscher, wusste lediglich gerüchteweise, dass viele der im Berliner Museum lagernden Papyri nach Russland abtransportiert worden waren, was es Rolf Ibscher enorm erschweren würde, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten. Gardiner an Pohl, 24. März 1946. GIO MSS AHG/42.239.15. 43 Gardiner an Pohl, 24. März 1946. GIO MSS AHG/42.239.15.
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gehabt hatte.44 Eine „friedliche Welt“ konnte Pohls Meinung nach nur dann wieder entstehen, wenn man sie als erstes mit denjenigen gestaltete, die keine Nationalsozialisten gewesen waren, sogar unter diesen gelitten hatten. Ob man den entsprechenden Kollegen sofort „die Hand reichen“ oder warten sollte, „um die Wunden heilen zu lassen“, wusste Pohl nicht zu beantworten, mahnte aber an, dass „Nazis“ und „evidente Nicht-Nazis“ auf keinen Fall gleich behandelt werden dürften.45 Bei Gardiner fiel dieser Rat auf fruchtbaren Boden. Er erwog, Scharff Literatur zukommen zu lassen, die dann über Pohl in Rom in die amerikanische Zone nach München weitergeleitet wurde.46 Unbeantwortet war die Frage, wie sich gegenüber deutschen Ägyptologen, die „Nazis mit Leib und Seele“ gewesen waren, zu verhalten war. Pohl riet Gardiner, so lange nichts zu unternehmen, bis diese sich aus „wirklicher Not“ direkt an ihn wandten.47 Bei tatsächlicher Not sollte geholfen werden. Selbstverständlich aber dürfe Gardiner kein Zeugnis darüber ausstellen, dass die Betreffenden nichts mit der Partei zu tun gehabt hatten. Dies wäre nicht korrekt und würde den „honesten Kollegen“, die nach wie vor in großen Schwierigkeiten steckten, schaden. Einfache Entscheidungen seien dies nicht, konzedierte Pohl, vertraute aber darauf, dass sich mit der Zeit Etliches wieder „einrenken“ würde. Pohl wusste, wovon er sprach, denn die Universität Graz hatte ihn um Gutachten über den Assyriologen Ernst Friedrich Weidner (1891–1976) gebeten, was allerdings wenig Schwierigkeiten aufwarf, weil Weidner ein „ausgesprochener Anti-Nazi“ gewesen war.48 Schwierig war es hingegen für Gardiner, ein vom „Control Officer“ der Universität Göttingen am 4. Dezember 1947 angefragtes 44 Pohl an Gardiner, 29. März 1946. GIO MSS AHG/42.239.14. 45 In diesem Zusammenhang war für Pohl besonders Kees’ Werk „Götterglaube“ interessant, das er aber nur flüchtig durchgesehen und für „zu schwer und unklar“ befunden hatte. Das mit aus Gardiners Sicht zu vielen Hypothesen versehene Junker’sche „Denkmal memphischer Theologie“ kritisierte Pohl in derselben Weise. Pohl berichtete weiter, vom Sekretär von Kardinal Preysing in Berlin wisse er, dass die Russen alles abtransportierten, was sie an Museumsschätzen bekommen könnten. Weil Vieles noch in Höhlen versteckt sei, würden sie aber wohl nicht alles bekommen. 46 Pohl an Gardiner, 8. Februar 1947. Aus Ägypten erhielt Pohl nach wie vor keine Post. Von Italien aus konnte er wieder Briefe nach Deutschland schicken, was er nutzte, um Kees einen Artikel nach Göttingen zu senden. Rolf Ibscher konnte er nichts zukommen lassen, weil dieser in der nicht zugänglichen russischen Zone lebte. GIO MSS AHG/42.239.12. 47 Nach langer Zeit hatte Pohl wieder das Bulletin des Institut Francais in Kairo erhalten. Das Museum in Kairo hatte ihnen bisher noch nicht auf den Brief vom November 1946 geantwortet, weshalb man nicht wusste, wie man wichtige Bücher beschaffen sollte. Pohl an Gardiner, 26. Februar 1947. GIO MSS AHG/42.239.11. 48 Pohl hatte sehr „energisch“ geschrieben, sein Gutachten war entscheidend dafür, dass Weidner an der Universität Graz bleiben konnte.
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Zeugnis über Hermann Kees (1886–1964)49 abzugeben, dessen Haus konfisziert und Konten gesperrt worden waren, weil er bekanntermaßen ein aktiver Nationalsozialist gewesen war. Gardiner versuchte sich mit einigen knappen und allgemein gehaltenen Bemerkungen aus der Affäre zu ziehen, weil er einen ‚PersilSchein‘ weder geben konnte noch wollte.50 Zögernd, aber sukzessive kamen Kooperationen mit Deutschen wieder in Gang, auch unter indirekten Einbindung von Alexander Scharff.51 Mittlerdienste für Grapow lehnte Pohl – unbewussterweise ganz im Sinne Steindorffs – ab, auch weil dieser zwischenzeitlich ein „ziemlicher Russenfreund“ geworden war.52 Gardiner lehnte seinerseits die Teilnahme am Orientalistenkongress zu Ostern 1948 in Rom ab, mit der Begründung, dass er „ein zweites Hitler-Zeitalter!!“ herannahen sehe.53 Ab Oktober 1948 hielt Pohl Gastvorlesungen an der Universität München.54 Gardiner schätzte Pohls Vermittlertätigkeit und auch seinen Rat. Mitte 1946 wandte er sich mit einem ersten „freundschaftlichen“ Brief an Alexander Scharff und damit erstmals nach dem Krieg an einen deutschen Ägyptologen.55 Auf dieses Signal schien Scharff gewartet zu haben, dankte Gardiner sein Entgegenkommen mit einem „good long letter“ von großer Offenheit, beschrieb sein jahrelanges Leiden unter der erzwungenen Isolation und seine Freude darüber, dass Gardiner
49 Kees war 1921–1924 unter G. Steindorff Privatdozent in Leipzig, seit 1924 Nachfolger Kurt Sethes auf dem Göttinger Lehrstuhl für Ägyptologie. Ab 1919 war er Mitglied der DNVP, deren Vorsitzender in Göttingen, ab 1924 Mitglied des „Stahlhelm“, 1933 Eintritt in die SA mit Führungsfunktion, 1937 Beitritt zur NSDAP. Ab 1933 war Kees beteiligt an der „Entfernung“ jüdischer Professoren von der Universität Göttingen. Nachdem Kees 1945 aus dem Universitätsdienst ausscheiden musste, verschaffte ihm sein ehemaliger ägyptischer Schüler Ahmed Badawi (Anhänger des Nationalsozialismus) 1951 bis 1956 eine Gastprofessur an der Ain Shams Universität Kairo. Thomas Schneider: Ägyptologen, 2013, S. 168–175. 50 Schreiben vom 4. u. 8. Dezember 1947. GIO MSS AHG/42.161.20 + 21. 51 Pohl berichtete Gardiner, an der neuesten Ägyptologie Bibliographie arbeite seit Ende 1947 die sich in Heluan aufhaltende Schweizerin U. Schweitzer, eine Schülerin von Alexander Scharff. Von deutscher Seite war Stock daran beteiligt, von französischer Posener und Donadoni, von amerikanischer u. a. Federn. Um nicht bei den englischen Ägyptologen „anzustoßen“, berichtete Pohl so genau wie möglich. Pohl an Gardiner, 22. Dezember 1947. GIO MSS AHG/42.239.10. 52 Es ging um die Besprechung von Gardiners „Onomastica“, die Pohl vermitteln sollte, dafür Grapow ablehnte. Pohl an Gardiner, 6. Januar 1948. GIO MSS AHG/42.239.9. 53 Pohl an Gardiner, 28. Juni 1948. GIO MSS AHG/42.239.7. 54 Nochmals im Herbst 1949 wegen Scharffs angegriffener Gesundheit – 1944 hatte dieser infolge körperlicher Überanstrengung einen Schlaganfall erlitten, 1947 einen zweiten, 1948 einen dritten; er starb 1950. Pohl an Gardiner, 26. August 1948, 29. Dezember 1949. GIO MSS AHG/42.239.6 u. 4. 55 15. August 1946. GIO MSS AHG/42.277.16.
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den „abgerissenen Faden“ nun fortzuspinnen gedachte.56 Gardiners Brief wirkte auf Scharff wie eine Initialzündung; er ließ ihn den Mut finden, sich auch an Gunn zu wenden, ihm für seine editorische Arbeit und den Jahre zurückliegenden gemeinsamen Tag im Queen’s College zu danken. Nicht mehr abwegig erschien der Gedanke, dass er in absehbarer Zeit wieder Mitglied der EES werden könnte.57 Scharff richtete den Blick aber ebenso in die jüngste Vergangenheit, die „bösen Zeiten“. Er hatte seinen Wohnsitz wechseln müssen, war aber nicht „ausgebombt“ worden und überhaupt recht unbeschädigt davongekommen. Im Gegenteil, das traurige Schicksal des Semitisten Gotthelf Bergsträsser barg für ihn Positives. Bergsträsser war 1933 bei einer Klettertour in den Alpen ums Leben gekommen, seit 1938 war seine Witwe mit dem Ehepaar Scharff befreundet. Vor ihrem Tod Anfang 1942 hatte sie Scharff gebeten, die Vormundschaft für die drei heranwachsenden Töchter zu übernehmen. Das kinderlose Ehepaar Scharff zog 1942 in Bergsträssers Haus und kümmerte sich um die Pflegetöchter. Noch 1946 lebte man zusammen, obwohl aus den Mädchen längst junge Frauen geworden waren, die Älteste Arabistik studierte, die beiden jüngeren ihren großen musikalischen Talenten folgten.58 Seine Bücher, die Bibliothek des Seminars und die ägyptische Sammlung hatte Scharff rechtzeitig in Sicherheit bringen können, was aber „die Lahmlegung jeder wissenschaftlichen Arbeit zur Folge hatte“. Die Universität München war durch eine Bombardierung im Jahre 1944 stark in Mitleidenschaft gezogen worden, die dort lagernde Diapositivsammlung mit etwa 3000 Aufnahmen zerstört. Durch Günther Roeder erhielt Scharff im Herbst 1944 die Möglichkeit, sich aus den Berliner Doubletten Ersatz für die Diapositive zu beschaffen. Die Rückreise von Berlin geriet zum Fiasko, weil Scharff, beladen mit einem schweren Koffer, in einen Fliegeralarm geriet, dann infolge der Aufregung und Belastung einen Schlaganfall erlitt. Wochenlang litt er unter Lähmungserscheinungen, musste im Winter 1944/45 drei Monate in einem Sanatorium verbringen. 56 Während der „schlimmen Jahre“ hatte er oft an die ihm von Gardiners in England gewährte Gastfreundschaft gedacht, an den Vortrag, den er auf dessen Initiative im März 1938 in der EES halten konnte, an ihren gemeinsamen Ausflug durch Windsor und Eton, an ihren letzten gemeinsamen Abend, als sie zusammen eine Mozart- und eine Beethovensonate spielten. Diese Gemeinsamkeiten durften nicht für immer „vernichtet“ sein. Scharff hatte schon im November 1942, als er im archäologischen Institut in Rom die neuen JEA-Bände in die Hand bekam und seinen Vortrag in gedruckter Form fand, auf die Fortführung der Beziehung gehofft, denn die Publikation war ihm wie ein „Friedenszeichen“ erschienen. 57 Wie andern deutschen Ägyptologen mangelte es Scharff an neuerer Forschungsliteratur, die JEA Bände besaß er nur bis zu Band 24. 58 Das Bergsträsser Haus hatte kaum unter Bombardierung gelitten, die vielen Aufenthalte „in dem höchst primitiven Keller“ hatten aber Nerven gekostet.
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Als bekanntermaßen Nazigegner wurde Scharff unmittelbar nach Kriegsende von den Amerikanern gebeten, Verhandlungen für die Universität aufzunehmen, fungierte zugleich als Dekan der philosophischen Fakultät. Sein Arbeitspensum war enorm, es musste wieder „ganz von vorne“ angefangen, eine äußere und vor allem innere Neustruktur vorgenommen werden. Dennoch wusste Scharff dieser Aufgabe viel Positives abzugewinnen, zumal bei der „Jugend“ unverkennbar „Eifer, ja Hunger nach geistiger Kultur“ vorhanden war, sie „gründlich genug hatte von Nazipolitik und Militär, hoffentlich für die Dauer“. Dies machte es Scharff leicht, seine wissenschaftliche Arbeit zurückzustellen,59 sich stattdessen „für das große Ganze“ einzusetzen. Es war seine feste Überzeugung, dass die Deutschen nach zwei von ihnen „heraufbeschworenen Kriegen“ und dem „Wahnwitz der Nazizeit“ nur noch auf kulturellem und wissenschaftlichem Gebiet Achtung zurückgewinnen konnten. Auch deshalb suchte er Anschluss an die internationale Ägyptologie und den aktuellen Forschungsstand.60 Unterstützt wurde er kontinuierlich von der britischen Ägyptologin Rosalind Moss (1890–1990), die ihn wissenschaftlich auf dem Laufenden hielt – noch 1939 hatte sie ihn in München besucht -, mit wissenschaftlicher Literatur versorgte61 und sich obendrein um seinen, sich in einem Gefangenenlager in der Nähe von Oxford befindenden Neffen gekümmert.62 Ansonsten gab es so gut wie keine Kontakte zu englischen Kollegen. Während der NS-Zeit hatten sich die deutschen Ägyptologen Scharffs Meinung nach „nicht erfreulich gehalten“, weshalb einige nach 1945 ihrer Stellungen enthoben worden waren, etwa Roeder in Berlin. Als Professoren fungierten außer ihm selbst nur Ranke (Heidelberg) und Bonnet. Letzterer habe sich immer „tadellos benommen“, sei etliche Zeit im polnischen Schlesien verschollen gewesen, schließlich auf seinen Bonner Lehrstuhl zurückgekehrt. Am Berliner Museum war Scharffs Freund Anthes tätig, auch er habe sich „menschlich und wissenschaftlich ausgezeichnet“ gehalten. Derzeit sei seine Arbeit mühselig, das Berliner Museum erheblich zerstört, die Bestände seien vernichtet oder nach Russland transportiert. Über Grapow und das Berliner Wörterbuch behauptete
59 Erst für Sommer 1947 hatte er wissenschaftliche Pläne. 60 An eine Ägyptenreise war nicht zu denken, Ausnahme bildete Scharffs Schülerin, die Schweizerin Schweitzer. Sie war in Stuttgart aufgewachsen und während des Krieges Scharffs Assistentin gewesen. Danach hatte sie eine Anstellung am prähistorischen Seminar der Universität Basel gefunden, wo sie ihre Habilitation vorbereitete. Von dort aus sollte sie im Winter 1947 nach Ägypten gehen, dabei auch als Mittlerin auftreten. 61 Die Münchner Akademie war gänzlich mittellos, die Moss’schen Zuwendungen waren hoch willkommen, aber nur ein Tropfen auf den heißen Stein. 62 Scharff an Gardiner, 18. August 1948. GIO MSS AHG/42.277.6.
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Scharff keine näheren Informationen zu besitzen, meinte aber, der Kollege habe während der NS-Zeit auf die „gänzlich (…) falsche Karte gesetzt“. Der 78 jährige Heinrich Schäfer lebte noch immer in Berlin-Steglitz, hatte keinen Kontakt zu Scharff. Kees, Wolf, Schott und Scharffs Assistent Brunner waren als ehemalige Parteigenossen ihrer Positionen enthoben worden. Als Nachwuchs konnte Scharff nur den Archäologen H.W.Müller und den Religionshistoriker H. Stock, auf den er große Stücke hielt, benennen. In Göttingen arbeiteten Spiegel und Eberhard Otto, von deren wissenschaftlichem Können Scharff ebenfalls überzeugt war. In Wien fungierte Czermak als Dekan der Philosophischen Fakultät, Junker arbeitete weiterhin an Giza, lebte zurückgezogen in Rodaun. Zwar drückte Scharff sich sachlicher aus, aber inhaltlich waren seine Informationen identisch mit den von Steindorff an Gardiner gelieferten.63 Mit Erleichterung nahm Gardiner Scharffs ausführliches und offenes Schreiben auf, antwortete bzw. fragte in ähnlicher Weise.64 Denn er sammelte nicht nur Informationen zu deutschen Ägyptologen, sondern wollte auch verstehen, weshalb manche zu Nationalsozialisten geworden waren, andere zu deren Gegnern. Zu Letzteren hatte Scharff gezählt, weil er „in möglichst allen Fragen des Lebens auf dem Standpunkt des Christen“ stand und ihn zu bekehren versuchenden Nationalsozialisten entgegen gehalten hatte: „Meine Weltanschauung ist die christliche, ich brauche keine andere, am wenigsten die eurige, die erstens keine ist und zweitens im Gegensatz zur christlichen steht“. Für Scharff war Gardiners Wunsch nach „innerer Umkehr von uns Deutschen“ nachvollziehbar. Ihn ehrte, dass Gardiner ihn diesbezüglich für eine große Hilfe hielt, doch bezweifelte er, „als abseitiger Ägyptologe“ den notwendigen „inneren Einfluss auf einen größeren Kreis von Wissenschaftlern“ gewinnen zu können. Diesen müsste verdeutlicht werden, dass „wir endlich ein friedfertiges Volk sein wollen und müssen und dass an Krieg mit England überhaupt nicht mehr gedacht werden soll“. In
63 Kontakt hielt Scharff zu Ermans Tochter Annemarie Schaal, die ihren einzigen Sohn im Krieg verloren hatte. Sie war eine „alte Tanzstundenfreundin“, ihr Ehemann hatte in Frankfurt dasselbe Gymnasium besucht wie Scharff. Losen Kontakt hielt Scharff zu Steindorff, hatte ihm immer die Treue gehalten. Die Witwe von Wilhelm Spiegelberg, um die sich Scharffs Ehefrau kümmerte, lebte noch in München, nach dem Tod von Mrs Bender allein. Wenig später berichtete Scharff, Frau Spiegelberg stehe in Bremen kurz vor der Ausreise nach Nord-Amerika, wo sie bei ihren Söhnen leben wolle. Annemarie Schaal-Erman hatte bei Scharff nach dem Verbleib von Caroline Ransom-Williams, die sie als „treue Seele“ und enge Freundin ihrer Eltern kannte, nachgefragt. Steindorff hatte sich zur Freude Scharffs aus Kalifornien gemeldet. GIO MSS AHG/42.277.15. 64 Er dachte ebenfalls mit Gewinn an Scharffs Englandbesuche von 1927 und 1939 zurück. Scharff an Gardiner, 2. Februar 1947. GIO MSS AHG/42.277.14.
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diesem Sinne bemühte Scharff sich, im seinem „kleinen Schülerkreis“ beispielhaft zu wirken, hoffte auf diese Weise auch das Vertrauen nicht-deutscher Kollegen zurückgewinnen zu können. Anders als Steindorff klagte Scharff nicht an, auch wenn er für manche ‚belasteten‘ Kollegen, die keinerlei Reue zeigten, kein Verständnis aufbringen konnte. Vergeltungs- und Rachegedanken, die Gardiner befürchtete, lagen ihm fern. Beispielhaft erläuterte er den Fall eines Wiener Kollegen, der ihn angeschrieben und um Gardiners Adresse gebeten hatte, um Separata schicken und die Beziehungen wieder anknüpfen zu können. Wie Scharff wusste, war der Betreffende „innerlich erheblich Nazi“ gewesen. Deshalb riet er ihm, „bei Ausländern, und gerade auch bei Ihnen, noch etwas zu warten“. Unmöglich könne man kommentarlos weitermachen, wo man 1939 aufgehört habe. Die Antwort des Kollegen spiegelte gänzliches Unverständnis: er „sei völlig unschuldig am Krieg und habe nie einem Ausländer irgendetwas Böses zu Leide getan“. Scharff machte die fehlende Bereitschaft zur Einsicht ratlos und mutlos für die Zukunft.65 Einer Meinung mit ihm war nur sein Freund Anthes – sie hatten sich kurz zuvor in Berlin g etroffen66 –, 67 auch auf ihn sollte Gardiner zählen können. Ansonsten sah es 1947 innerhalb der deutschen Ägyptologenschaft düster aus. Mit Grapow vermied Scharff auch in Berlin den Kontakt, er hätte den „rechten Ton“ nicht zu finden gewusst, der sie „trennende Bruch“ war zu groß. Seiner Universitätsposition war Grapow enthoben, „aber an der Akademie der Wissenschaften ist er wieder in Ehren tätig (was z. B. bei uns unmöglich wäre) und sucht auch,
65 Scharff konnte die Bemerkung nicht zurückhalten, wie sehr er und auch andere sich ärgerten, „dass jetzt die Österreicher wieder als die ‚lieben Kinder‘ behandelt werden“. Man habe Österreich seit 1938 „aus der Nähe beobachtet“ und gesehen, dass die „Hitlerbegeisterung“ weit stärker als in Bayern gewesen sei, am stärksten in Kärnten, „wo jeder Hirtenjunge auf der Alm einem schon von Weitem ‚Heil Hitler‘ entgegenbrüllte“. Damals hatten er und seine Ehefrau beschlossen, nie wieder nach Kärnten zu reisen. Nun aber spielten die Österreicher die „schmählich Verführten“. 66 Die Eindrücke in Berlin bedrückten Scharff sehr. Vom Alten und Neuen Museum standen nur noch die Fassaden, der von Lepsius errichtete Säulenhof war ein Trümmerhaufen. Etwa ein Drittel der Sammlung war nach „Osten“ abtransportiert worden, wohl auf „Nimmerwiedersehen“. Dazu gehörten auch die großen MR-Handschriften. Photosammlung und Bibliothek waren gerettet. Scharff wollte nicht über diese Situation jammern, denn vielleicht empfand man diese Maßnahmen in England als gerechtfertigt. 67 In wehmütiger Erinnerung gingen Anthes und Scharff in Berlin zum unzerstörten ehemaligen Wohnhaus von Erman (Peter-Lennéstr. 36, Dahlem), das von einer anderen Familie bewohnt wurde. Scharff pflegte die Beziehung zu Ermans Tochter in Bremen, ebenso zur Erman-Schülerin Caroline Ransom-Williams wollte er sie erneut aufnehmen.
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was ja für unser Fach auch wirklich nötig ist, das Wörterbuch weiter zu fördern“.68 Die Geschehnisse während der NS-Zeit blendete Grapow nach Scharffs Beobachtung völlig aus, bemühte sich um das Anknüpfen an alte Beziehungen. Heinrich Schäfer lebte bei seinem als Arzt tätigen Sohn in der Nähe von Kassel, Schubart, der in Berlin alles verloren hatte, in Leipzig und war dort trotz seines Alters an der Universität als Professor für Alte Geschichte tätig. Zweifelhaft war die Rolle des wieder in Heidelberg lehrenden Hermann Ranke, für den Scharff die Beziehung zu Gardiner wiederherstellen sollte, obwohl dieser auf Distanz bleiben wollte. Für Gardiner waren Scharffs offene Worte und detaillierte Informationen von großer Bedeutung, denn noch wusste er nicht, wie er sich gegenüber deutschen Ägyptologen positionieren sollte. Den Vorsitz der für 1947 in Kopenhagen geplanten Ägyptologen-/Orientalistentagung lehnte er jedenfalls ab, auf eine gemeinsame politische Linie mit andern nicht-deutschen Ägyptologen konnte er sich nicht verständigen und wollte lediglich seinen Brief an den Kongress dort verlesen lassen. Scharff bedauerte diese Entscheidung, begrüßte aber, dass zumindest Herbert Ricke die Teilnahme zugesagt, obwohl auf Betreiben der französischen Ägyptologen den deutschen die Teilnahme grundsätzlich verweigert worden war.69 Auch Scharff war immer weniger zu Konzessionen und Kompromissen bereit. Ihn erzürnte ungemein, dass Grapow, „der doch ein so ausgesprochener Nazi war“, wieder in die Akademie aufgenommen und mit der Weiterführung des Wörterbuchs betraut worden war.70 Seitens nicht-deutscher Ägyptologen war deshalb vorgesehen, das Wörterbuch nach Kopenhagen zu transferieren und dort – trotz der Proteste deutscher Ägyptologen – von Sander-Hansen bearbeiten zu lassen.71 Sogar Gardiner war sich sicher, dass ein solcher Transfer nicht in Ermans Sinn gewesen wäre. Vorrangig aber war die völlige Ausschaltung von Grapow.
68 Das Wörterbuch war im Wesentlichen erhalten geblieben und wieder im Akademiegebäude aufgestellt. 69 Seine Kooperationsbereitschaft mit Scharff machte Gardiner durch Zusendung neuerer Publikationen deutlich, auch Étienne Drioton ließ solche über Pohl übermitteln. Über den Verlauf der Tagung wurde Scharff durch Ricke unterrichtet. Scharff an Gardiner, (München) 21. Juli 1947, 23. September 1947. GIO MSS AHG/42.277.13 + 12. 70 Als Grapows Hilfsarbeiter fungierte sein ehemaliger Doktorand Hintze, der noch außerstande war, das Wörterbuch eigenständig fortzuführen. Scharff an Gardiner, (München) 21. Juli 1947. GIO MSS AHG/42.277.13. 71 Scharff kannte die finanzielle Ausstattung der Berliner Akademie nicht, wusste nur, dass die dänische sie stets sehr unterstützt und beispielsweise Erichsen finanziert hatte. Scharff sah eine Alternative darin, Erichsen wieder nach Berlin zu schicken und ihn unter Gardiners sowie Sander-Hansens „Fernleitung“ am Wörterbuch arbeiten zu lassen.
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Wie der geplante Wörterbuch-Transfer ahnen ließ, blieb die internationale Ägyptologie auf Distanz zur deutschen. Auch die britische EES zögerte weiterhin, Deutsche als Mitglieder zuzulassen.72 Nur Gardiner zeigte eine „schöne und vornehme Haltung uns Deutschen gegenüber“. Gunns gegenteilige wunderte und betrübte Scharff, hatte er bei früheren Treffen doch nie „Animositäten gegen uns“ bemerkt. Einziger Hoffnungsschimmer war, dass Ricke trotz des Protests der Franzosen am Kopenhagener Kongress hatte teilnehmen dürfen. Dies machte Scharff zuversichtlich, dass sich mit der Zeit die Widerstände gegen die Deutschen auflösen würden. Er selbst verfügte ohnehin über ausreichende internationale Beziehungen. Hinzu kam, dass die neue internationale Ägyptologen-Vereinigung kaum eine Zukunft zu haben schien, sie verfügte über zu geringe Finanzmittel, kam nicht zu bindenden Entschlüssen. Die „heikle Frage ‚Grapow‘“ hatte man in Kopenhagen „nicht anschneiden“ wollen, auch sollte das Wörterbuch vorerst in Berlin bleiben, fürs Erste Grapow als einziger „wirklicher Kenner“ daran weiterarbeiten.73 Ob ein internationaler Ausschuss ihn kontrollieren sollte, war offen. Nach wie vor war für Scharff jeder Kontakt zu Grapow ein Ding der Unmöglichkeit, zu Kees und Schott stand er „äußerlich kollegial, aber kühl“, kannte die beiden ohnehin nicht näher, fand Schott sowieso „ausgesprochen unsympathisch“. Dass beide gute Wissenschaftler waren und Kees seit Sethes Tod als der „deutsche Ägyptologe Nr. 1“ zu gelten hatte, stand für Scharff jedoch fest. „Aus politischen Gründen“ werde Kees aber „wohl kaum an seiner Universität rehabilitiert werden können“. Im Detail kannte Scharff zwar Kees’ Geschichte nach 1945 nicht, hatte aber gehört, dass er besonders schlecht behandelt worden sei.74 Ein „schlimmer ‚Nazi‘ im üblen Sinne (was Grapow doch wohl leider war)“ sei er wohl nicht gewesen, eher ein „erheblicher ‚Militarist‘“, was besonders den Engländern missfalle, „aber in dem bei uns Deutschen harmlosen Sinne, dass er mit Leib und Seele Reserveoffizier war und möglichst oft freiwillig militärische
72 Scharff fühlte sich der EES sehr verbunden, wollte gern seine Mitgliedschaft erneuern, was aber nicht möglich zu sein schien. Sehr nah ging ihm der Tod von Davies, der ihn noch 1935 in München besucht hatte, ebenso von Pendlebury, der sie 1935 als Gäste der EES im Grabungshaus in Amarna bewirtet hatte. Scharff an Gardiner, (München) 23. September 1947. GIO MSS AHG/42.277.12. 73 Sander-Hansen und Erichsen hatten Scharff noch nicht über die angedachte Weiterentwicklung des Wörterbuchs unterrichtet. Erster Beschluss war, zunächst die fehlenden Texte aufzuarbeiten. 74 Seine „Postbeziehungen“ reichten bis zum Sudan, von wo ihm der ihm persönlich nicht bekannte Arkell einen „freundlichen Brief“ schrieb. Scharff an Gardiner, (München) 6. Dezember 1947. GIO MSS AHG/42.277.11.
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Übungen machte“. Scharff war derartige Begeisterung fremd. Im Ersten Weltkrieg war er Reserveoffizier gewesen, hatte danach aber keine Lust mehr, „weiter Soldat zu spielen, weil dies nicht zu meinem Wesen passt“. „Verdammen“ wollte er Kees nicht, auch Gardiner sollte Gnade walten lassen und sich für Kees’ Rehabilitierung einsetzen. Steindorff dürfte mit Freude registriert haben, dass sich Scharffs Position zunehmend festigte, im Dezember 1947 fühlte er sich von den internationalen Kollegenkreisen „freundlich“ aufgenommen, konnte seine Korrespondenz erheblich ausweiten, wurde mit Forschungsliteratur versorgt.75 Gardiner schickte seine soeben veröffentlichten „Onomastika“ auch an Kees und Grapow, Scharff begrüßte dies als „vornehm“. Sogar Ranke in Heidelberg versprach Gardiner wieder einbinden zu wollen, was Scharff auch deshalb besonders freute, weil er Ranke als seinen Freund betrachtete, obschon dieser „nicht gerade zu den starken Charakteren gehörte“. An der Universität Heidelberg galt Ranke als „Geschädigter“, was ihm das Ausland vorzuwerfen hat, war für Scharff nicht nachvollziehbar. Ähnlich ratlos wie Steindorff war Scharff bezüglich des „etwas schillernden“ Junker. Ihm war gänzlich unverständlich, „wie ein katholischer Priester sich der Nazipartei anschließen konnte“. Nur einmal hatte Scharff Junker während der NS-Zeit in Ägypten erlebt, in Deutschland des Öfteren. Deshalb meinte er, dieser sei „innerlich“ durchaus „antinazistisch“ eingestellt gewesen, obwohl aus Ägypten mehrfach Ungünstiges über ihn verlautete, „so vor allem im Zusammenhang mit seiner Protektion des mir jedenfalls widerwärtigen Selim Hassan“. Dennoch wollte Scharff den fast 70 jährigen Junker nicht verurteilen, was ihm ohnehin grundsätzlich widerstrebte. Nach ergebnislosem Hin und Her hatte schließlich nur noch Berlin Einfluss auf die Fortführung des Wörterbuchs, letztlich eine Konsequenz aus Ermans Strategie der 1920er Jahre, die Akademien auszuschalten und das Wörterbuch zu einer nur Berliner Angelegenheit zu machen.76 Deshalb war nach Ermans und Sethes Tod allein Grapow für das Wörterbuch verantwortlich, saß nun umso fester in der Berliner Akademie „als Beherrscher des Wörterbuchs“ im Sattel, wenn auch seiner Professur enthoben. Zwar hatte die ‚Wörterbuchfrage‘ auf der Agenda der Kopenhagener Tagung gestanden, Erichsen war eigens nach Berlin gereist, um sich mit Grapow zu besprechen, doch war danach nicht einmal der ebenfalls in Berlin lebende Anthes über den Fortgang unterrichtet worden. Diese wenig transparenten Verhandlungsformen erbitterten Scharff – „so sieht die kollegiale
75 Scharff an Gardiner, (München) 6. Dezember 1947. GIO MSS AHG/42.277.11. 76 Scharff an Gardiner, (München) 23. Januar 1948 (beantw. 8. November 1948). GIO MSS AHG/42.277.10.
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Zusammenarbeit in unserer kleinen Wissenschaft heute aus. (…) Man könnte heulen, wenn man an frühere Zeiten denkt wie die, die Sie jetzt geschildert haben, als Ägyptologen aller Länder gemeinsam an dem Wörterbuch-Unternehmen arbeiteten.“77 Auch beinhaltete Grapows neuere Veröffentlichung „Ein neuer Band des ägyptischen Wörterbuchs“ das Gegenteil dessen, was Gardiner postulierte. Vom Hauptanliegen der internationalen Ägyptologie, der Fortführung der Stellennachweise, fand sich kein Wort. Da kein deutscher Ägyptologe Grapow noch sonderlich nahe stand, hatte auch niemand vermocht, ihm „freundschaftlich zuzureden“.78 Drei Jahre nach Kriegsende waren auch bei Gardiner einige ‚Wunden geheilt‘, er war bereit, sich vorsichtig wieder ‚belasteten‘ deutschen Ägyptologen anzunähern. Über Scharff ließ er Junker vermitteln, dass er wieder in Beziehung treten, sogar Grapow wieder einbinden wollte, Schritte, die Scharff zwar begrüßte, aber nachdenklich stimmten.79 Nach wie vor war ihm rätselhaft, weshalb Junker – „zumal als katholischer Priester“ – bereits 1933 der NSDAP beigetreten war, sich jedoch „schaudernd abwandte, als er bei Urlaubsreisen nach Deutschland sah, wie die Partei hier bei uns wirkte“. Ähnliches war auch bei andern zu beobachten gewesen, denn „vom Ausland her, also bei Junker von Ägypten aus, sah sich die Nazibewegung völlig anders an als hier im Inland; da war es eine nationale Angelegenheit, aber nicht die Unterdrückung jeglichen freiheitlichen Geistes durch Konzentrationslager usw.“. Was man Junker in Kairo vorwarf, wusste Scharff nicht, meinte es auch nicht beurteilen zu können.80 Übel genommen hatte er ihm, sich „derart weit mit Selim Hassan eingelassen“ zu haben, „der zum mindesten ein Dilettant war und diese Unterstützung keineswegs verdiente“. Auch Drioton hatte seinerzeit die Unterstützung Hassans durch Junker sehr verärgert, seit Neuerem aber wieder die Korrespondenz mit ihm aufgenommen. Auf jeden Fall sei Junker deutlich weniger nationalsozialistisch eingestellt gewesen als Grapow, so Scharff. Letzteren wollten er und Anthes „nie davon freisprechen (…), dass er 77 Auch Scharff hatte jahrelang bei Grapow „Zettel geschoben“, dabei Vieles gelernt. 78 Schon seit Jahren schrieb Grapow nicht mehr an Scharff, sodass die Zusendung der Publikation als Wiederanknüpfung der Beziehungen zu interpretieren war. Da Scharff grundsätzlich mit niemandem in Unfrieden leben wollte, zumal nicht „mit jemandem, mit dem ich früher viele Jahre gut befreundet war“, war er offen. Auch Erichsen schrieb an Scharff, wollte ihn bei seiner nächsten Deutschlandreise besuchen. Scharff schätzte Erichsen als einen „verständigen, wohlmeinenden Menschen“. 79 Scharff an Gardiner, 14. März 1948. GIO MSS AHG/42.277.8. Scharff bemühte sich, Gardiner mit der von ihm gewünschten Literatur zu versorgen, erhielt dafür seinerseits etliche Bücher, womit der die Seminarbibliothek wieder aufbauen konnte. 80 Junker wohnte in Wien-Rodaun, in einem von Nonnen betriebenen und von seiner Schwester geleiteten Mädchenerziehungsheim.
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ein wirklicher Nazi war, wenn er auch jetzt tausendmal das Gegenteil behauptet“. Umso mehr verwunderte ihn, dass Gardiner dennoch wieder mit Grapow in Kontakt getreten war. Als Gardiner auch zu Junker wieder in Beziehung trat, wertete Scharff dies positiv, denn Junker sei, obwohl Parteigenosse, doch in der Hauptsache immer Priester geblieben, habe niemals „irgendwelche Dinge gutgeheißen oder gar gefördert, die man als anständiger Mensch nicht verantworten könnte“. Wahrscheinlich sei es nicht Junker gewesen, der das DAI Kairo zu dem, „wie Sie schreiben, ‚centre of Nazi Intelligence and Propaganda activities‘ gemacht“ habe, sondern seine Assistenten und Mitarbeiter – Hermann, Diemke und Spiegel beispielsweise. Tatsächlich habe Junker vor dem Krieg des Öfteren gestöhnt, „wie er innerlich das ganze Nazisystem im Grunde verabscheue“. Wirklich am Herzen habe ihm immer nur seine wissenschaftliche Arbeit gelegen. Die Darlegung Scharffs kam einem ‚Freispruch‘ Junkers gleich. Demnach war dieser nur formal Nationalsozialist und sein Verhalten stets untadelig gewesen, die nationalsozialistische Ausrichtung des Kairener Instituts hatten andere zu verantworten. Außerdem, so Scharff, hätten etliche gehofft, als Parteigenossen „durch ihr Wirken innerhalb der Partei noch Schlimmeres verhüten“ zu können. Später sei der Parteiaustritt dann unmöglich geworden, eine Ausnahme sei gewiss Friedrich von Bissing gewesen.81 Ein weit „unangenehmeren Fall“ sei jedoch Grapow; er sei der Partei teils aus Überzeugung, teils aus Opportunismus beigetreten, „um eine bessere und raschere Karriere zu machen“. Ihm gegenüber sei Vorsicht angebracht. Er selbst blieb zu dem Kollegen auf Distanz. Für Gardiner bedeutete die Kontaktierung Junkers ein enormer Schritt. Noch im Mai 1945 hatte er gänzlich ausgeschlossen, mit einem Mann, „who kept in good terms with the Nazis“, in Beziehung treten zu können, auch wenn er dies im Fall Junkers bedauerte.82 Auch drei Jahre nach Kriegsende hatte das Thema Nationalsozialismus und das Geschehen von 1933 bis 1945 für Alexander Scharff nicht an Brisanz eingebüßt, doch ließ er den meisten ‚belasteten‘ Kollegen gegenüber eher Gnade walten, war geneigt zu verstehen und zu verzeihen, so auch Helmut Brunner (1913–1997).83
81 „Den man deswegen jetzt wirklich sehr achten muss“. 82 Gardiner an Newberry, 12. Mai 1945. GIO MSS Newberry 49/11. 83 Stammte wie Scharff aus Frankfurt/Main, studierte Ägyptologie in Berlin, unter Glanville am UCL London, in München unter Scharff, Grabungstätigkeit mit G. Roeder in Hermopolis (Ägypten), verheiratet mit der Ägyptologin Emma Traut. Ab 1950 Lehre an der Universität Tübingen, ab 1956 Professor. Who-was-Who, 2012, S. 86
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Trotz Bedenken übersandte Scharff dessen letzte Veröffentlichung an Gardiner. In München hatte Brunner seine Stellung verloren, weil er 1937 der NSDAP beigetreten war, verdiente sich ab 1945 seinen Lebensunterhalt als Griechischlehrer an einem evangelisch-theologischen Seminar in Blaubeuren bei Ulm, war von jeder wissenschaftlichen Betätigung ausgeschlossen.84 Die Rückkehr an die Universität München kam nicht mehr in Frage, weil dort außer Scharff die Ägyptologen Stock, H.W.Müller und Pohl tätig waren. Scharff tat sein Möglichstes, um Brunner zu unterstützen. Weit weniger beschäftigte ihn erstaunlicherweise das Schicksal von verfolgten Kollegen und Kolleginnen. Erst 1948 fragte Scharff bei Gardiner nach bezüglich seiner ehemaligen Schülerin Käthe Bosse (1910–1998), die wegen ihrer jüdischen Herkunft hatte fliehen müssen. Zuletzt hatte Scharff sie 1938 in London getroffen, danach den Kontakt verloren. Die Nachkriegs-Kontaktinitiative ging nicht von Scharff, sondern 1948 von Käthe Bosse aus. 1939 hatte sie den an der Universität Swansea lehrenden englischen Ägyptologen Gwyn Griffiths geheiratet, war Mutter zweier Söhne geworden. Über die überaus schwierigen Anfangsjahre in England bzw. Oxford berichtete Bosse ihrem früheren Lehrer wohl nicht, ebensowenig dass ihre Mutter von den Nationalsozialisten ermordet worden war. Für Bosse viel zu spät legte Scharff Gardiner die Förderung seiner früheren Schülerin – eine „ganz brauchbare Ägyptologin“ – ans Herz. Weitgehend erfolglos hatte Bosse sich nach ihrer Emigration nach Oxford bei den britischen Ägyptologen beworben, Etliches an kostenloser Arbeit für sie geleistet. Nachhaltig unterstützen wollten sie sie aber nicht, Newberry empfahl sogar in völliger Verkennung der Gefahr, in der sie schwebte, sie solle zu ihren Eltern nach Deutschland zurückkehren.85 All dies war Gardiner bekannt, doch schwieg er sich darüber Scharff gegenüber aus. Es ist anzunehmen, dass er nicht zugunsten von Käthe Bosse initiativ wurde; sie war seit Jahren in Swansea etabliert, hatte der Wissenschaft aber nicht abgeschworen.86
84 Scharff an Gardiner, 9. Oktober 1948. GIO MSS AHG/42.277.2. 85 Bosses Mutter schrieb am 26. März 1938 an Newberry, für ihre Tochter habe sich Scharff bei Gunn eingesetzt. Newberry möge ebenfalls „ein gutes Wort“ für Käthe einlegen, damit diese in England bleiben könne. Newberry befand gegenüber Glanville (23. Juli 1938), da die Eltern Bosse wohl nicht unvermögend seien, solle Käthe nach Deutschland zurückkehren. In England seien mögliche Arbeitsstellen rar und sie sollten zunächst an Engländer vergeben werden. Dies, obwohl Henry Frankfort ihm am 28. April und 8. Mai 1937 die problematische Situation detailliert geschildert hatte. GIO MSS Newberry 5/74 u. 17/77 u. 16/32. 86 Sie stammte aus Wittenberg, war Tochter des Gynäkologen Paul Bosse und der Käthe Levin. Letztere wurde in das Konzentrationslager Ravensbrück deportiert, wo sie 1944 starb. Käthe B. studierte in München, Berlin und Bonn Klassische Philologie und Ägyptologie, wurde 1936
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Anders als diverse englische Ägyptologen oder Orientalisten öffneten sich die französischen kaum gegenüber den deutschen, was Scharff vor allem auf Lacaus deutschfeindliche Haltung zurückführte.87 Vom Pariser Orientalistenkongress im Juli 1948 waren Deutsche jedenfalls ausgeschlossen. Davon abgesehen öffnete sich langsam wieder das „Tor zur Welt“.88 Hermann Ranke wurde für ein Jahr nach Philadelphia eingeladen, Scharff zwecks „Wiederanknüpfung der wissenschaftlichen Beziehungen“ zu einem einmonatigen Aufenthalt nach Kopenhagen.89 Im März 1949 hielt Scharff sich dort auf, wurde von Sander-Hansen, Erichsen, Iversen und Volten intensiv betreut.90 Der ebenfalls nach Kopenhagen eingeladene Rudolf Anthes konnte aufgrund politischer Schwierigkeiten nicht reisen. Nur wenige Monate später erlag Alexander Scharff seinem Herzleiden. Ihm war es ganz wesentlich zu danken, dass die deutsche Ägyptologie nach 1945 wieder zu ihrer internationalen Anbindung zurückfand. Anders als Georg Stein dorff war Scharff nach 1945 um Sachlichkeit und nüchternes Abwägen bemüht, letztlich schloss er nur Hermann Grapow gänzlich aus seinem Netzwerk aus. Sehr am Herzen lag ihm, auch seinen Freund Rudolf Anthes wieder an die internationalen Netzwerke heranzuführen.
wissenschaftliche Mitarbeiterin am Ägyptischen Museum in Berlin, von den Nationalsozialisten entlassen. Sie emigrierte nach England, arbeitete Teilzeit als Dozentin für Ägyptologie, war wissenschaftliche Mitarbeiterin am Petrie Museum des University College London, später Arbeit im Department of Antiquity des Ashmolean Museum in Oxford. In Oxford lehrte sie als „senior member“ am Somerville College. Im September 1939 heiratete sie John Gwyn Griffiths. In ihrem Haus in Südwales traf sich regelmäßig ein Kreis Intellektueller, worauf Käthe Bosses 1943 erschienenes Buch über die Friedensbewegung in Deutschland basierte. 1947 bis 1994 war Bosse als Kuratorin für Archäologie am Swansea Museum tätig, trug 1971 maßgeblich zum Erwerb der Sammlung ägyptischer Altertümer des Pharmaindustriellen Henry Wellcome bei. Ihre Söhne, beide kymrische Schriftsteller: Robat Gruffud, Heini Gruffud. http://de.wikipedia.org/wiki/ Kate_Bosse-Griffiths (06.11.2013). 87 Unter den Vertretern anderer Fächer, beispielsweise der Assyriologie, fanden sich wieder Deutsche. Scharff an Gardiner, 18. August 1948. GIO MSS AHG/42.277.6. 88 Scharff an Gardiner, 22. September 1948. Scharff folgte primär den Seminaren von Sander-Hansen, machte sich Notizen aus neuen Büchern und Zeitschriften, die in München noch immer fehlten. Seine Rückkehr nach München war für Ostern 1949 vorgesehen. Lieber als in Dänemark hätte er sich in England aufgehalten, weil er den Austausch mit den dortigen Kollegen vorzog. GIO MSS AHG/42.277.5. 89 An einen ordnungsgemäßen universitären Betrieb war in München noch nicht zu denken. Wegen Kohlenmangels fanden Vorlesungen nur von September bis Ende Dezember statt, von Weihnachten bis Ostern waren „große Ferien“. In Kopenhagen sollte Scharff, der den Aufenthalt für März 1949 plante, nicht mit Vortragsverpflichtungen belastet werden. 90 Scharff an Gardiner, 26. März 1949. GIO MSS AHG/42.277.1.
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Die Zusendung von Sonderdrucken der JEA als Signal nehmend, wandte Anthes sich Mitte 1947 erstmals an Gardiner, hatte seit Ende 1946 aber schon mit Cerny Kontakt.91 Die zentralen Fragen und Vorbehalte Gardiners waren ihm bewusst. Ohne Umschweife knüpfte er deshalb an sein Gespräch mit Gardiner von 1939 in Paris an, legte schließlich eine Art Beichte ab. Während er 1939 davon überzeugt gewesen war, dass der Krieg ein „guter Zuchtmeister für den Einzelnen“ sei, konnte er 1947 keinen positiven Wert mehr im Krieg erkennen, verurteilte ihn vielmehr „bedingungslos“ als ein „Verbrechen“, eine Erkenntnis, zu der er nicht „rechtzeitig“ gelangt sei. Seine wirklich „große Schuld“ aber bestehe in Anderem. Für „das Unheil, die Verbrechen, die durch Hitler in und außerhalb Deutschlands geschehen sind“, trug nach seiner Meinung das „ganze deutsche Volk die Verantwortung“, weshalb es kein Recht habe, „über das sich zu beklagen, was ihm jetzt geschieht, und gar Anderen die Schuld zuzuschieben“, ausgenommen diejenigen, die ihr Leben im Kampf gegen die Nationalsozialisten riskiert oder gar geopfert hätten. Seine eigene „schwere Schuld“ sah Anthes darin, dass er „nicht genügend Widerstand geleistet“, sich hatte einschläfern lassen; nicht einmal den „Gerüchten“ über die Behandlung der Juden hatte er Glauben geschenkt, zwar seinen Beruf und seine Freiheit, nicht aber sein Leben für den Kampf gegen die Nationalsozialisten eingesetzt. Wegen seiner offen ausgesprochenen Ablehnung des Nationalsozialismus und seines „allerdings klaren, schriftlichen Protests gegen die zweideutigen ‚Nazi‘-Machenschaften im Museum“ war er seiner Position im Museum enthoben, vor Gericht gestellt und verurteilt worden.92 Doch dies empfand Anthes nicht als ausreichenden Kampf, weil er mitunter sogar für möglich gehalten hatte, „dass Hitler und die Masse recht habe und ich falsch urteile“, obwohl er „doch deutlich“ hätte „sehen müssen“. Dieses betrachtete Anthes als sein großes „Versäumnis“, als seine bleibende „schwere Schuld, die mein Leben lang nicht von mir genommen werden kann“. Wirklichen Respekt verdienten seiner Meinung nach nur diejenigen, die sich gegen „jede Unmenschlichkeit wie Massendeportationen, Massenmord, Massenraub usw.“ zur Wehr gesetzt hatten und noch immer zur Wehr setzten. Als Fazit seines Schuldeingeständnisses zog Anthes, dass seine zukünftige Aufgabe in der „Übung, Pflege und
91 Anthes an Gardiner, 15. Juni 1947. MSS AHG/42.6.22. 92 Ihm wurde vorgeworfen, den „Treueeid“ als Beamter gebrochen zu haben, weil er gegen die dem Museum nachteilige Kulturpolitik protestierte. 1941 war die Gerichtsverhandlung, Anthes konnte aber unter dem neuen Museumdirektor G. Roeder weiter im Museum arbeiten. 1943 wurde er „ausgebombt“, von September 1943 bis Mai 1945 leistete er Dienst als Zöllner an der mährisch-slowakischen Grenze, kam im Mai 1945 in russische Kriegsgefangenschaft, aus der er im September 1945 entlassen wurde. Anthes an Cerny, 24. November 1946. GIO MSS Cerny 21.214.
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Lehre wahrer Menschlichkeit“ bestehen sollte. Befreien könne er sich damit nicht von seiner Schuld. Gardiner hatte Anthes Meinung nach ein Recht darauf, von ihm eine solche klare Stellungnahme zu erwarten. Gardiner erwiderte Anthes’ Darlegungen prompt, bestellte zudem Grüße von der seit 1939 in Brasilien lebenden Witwe von Walter Wreszinski. Anthes beschämte dies, erinnerte ihn, „in wie unwürdigen Verhältnissen die Juden und wir mit ihnen hier damals gelebt haben“.93 Ebenso wie Scharff hielt Anthes sich auf Distanz zu Grapow – „wir sind uns seit 1933 sehr fremd geworden“. „Ihm wie anderen Kollegen, die in den letzten 15 Jahren ihre Lebensauffassung zweimal umgestülpt haben“, wünschte Anthes für die Zukunft zwar bessere Arbeitsmöglichkeiten, aber es drängte ihn nicht, an „solche frühere, unterbrochene Freundschaften neu anzuknüpfen“.94 Anthes litt unter dem politischen Druck in Ostdeutschland. Seines Bleibens in Deutschland sollte nicht mehr lange sein. Ab September 1950 trat er die Nachfolge von Ranke in Philadelphia an, zunächst als „visiting professor“ und Kurator; er war froh, „das alte Europa verlassen“ zu können.95 Keinerlei Anlass zu Schuldgefühlen hatte Herbert Ricke. Anders als Scharff und Anthes hatte er die Jahre 1939 bis 1945 nicht in Deutschland zugebracht, sondern in seinem selbstgewählten Exil in der Schweiz (Zürich), obwohl er nicht zu den Verfolgten gehört hatte, aber ein deutlicher Gegner der Nationalsozialisten gewesen war. Steindorff zählte Ricke zu denjenigen deutschen Ägyptologen, die sich nie hatten korrumpieren lassen. Als er im Herbst 1947 Kontakt mit Gardiner aufnahm – er hatte ihn auf der Borchardt’schen Veranda in Kairo kennengelernt -, befand er sich als Wissenschaftler noch weitgehend in der Isolation.96 Nicht einmal Freiexemplare seiner letzten Veröffentlichung konnte er anbieten. Anlass seines Schreibens waren die von Gardiner vor dem Kopenhagener Kongress gemachten Äußerungen, die in „äußerst extremen Gegensatz zum Inhalt des Briefes, den Lacau an die Tagung geschrieben“ hat, standen. Gardiners Bestreben war die „Befreiung der Ägyptologie aus nationaler Einklemmung“, nicht der grundsätzliche und dauerhafte Ausschluss der Deutschen. Dieser aber war auch 1948 noch der Fall. Auch Ricke war die Teilnahme am Orientalistenkongress 1948 in Paris verwehrt.97 Ihm blieb nur der bilaterale Austausch mit nicht-deutschen Kollegen. 93 Anthes an Gardiner, 19. Juli 1947. GIO MSS AHG/42.6.21. 94 Anthes an Gardiner, 18. Januar 1948. GIO AHG/42.6.20. 95 Anthes an Cerny, 2. Juli 1950. GIO MSS Cerny 21.225. Cerny schickte Anthes regelmäßig Lebensmittelpakete. 96 Zürich 6 (Gladbachstr. 17), 14. September 1947. GIO MSS AHG/42.252.6. 97 Zürich (Wotanstr. 15), 10. Januar 1949. GIO MSS AHG/42.253.5.
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Von Gardiners Offenheit ihm gegenüber inspiriert, legte Ricke schließlich ausführlich seine Situation dar und verdeutlichte damit, dass es ihm in der Hauptsache um die Wiederaufnahme seiner Arbeiten in Ägypten ging.98 Das zehn Jahre und im Grunde immer noch währende Exil in der Schweiz empfand Ricke als enorme Belastung. Veröffentlicht hatte er während dieser Zeit so gut wie nichts, kaum wissenschaftlich arbeiten können. Bis zum Tode von Ludwig Borchardt hatte er es als seine Hauptaufgabe verstanden, „ihm so viel wie möglich bei der Vorbereitung seiner Arbeiten zu helfen, damit er noch ein Maximum von dem, was er an Wissen hatte, der Allgemeinheit zugänglich machen konnte“. In der Schweiz waren die Forschungsbedingungen denkbar ungünstig, weder gab es entsprechende Bibliotheken noch regte die „geradezu ‚herausfordernd unwissenschaftliche Atmosphäre‘ Zürichs“ zur Forschung an. An wissenschaftlichem Austausch mangelte es völlig. Hier und da unterrichtete Ricke an der Universität Zürich. Schwer belastete ihn, dass Mimi Borchardt, die seit 1939 bei ihm und seiner Familie gelebt hatte, 1948 verstorben war. Ihre bis zuletzt gehegte Hoffnung auf Rückkehr nach Ägypten realisierte sich nicht, „denn sie selbst hätte wohl nie wieder nach Ägypten zurückkehren dürfen als Jüdin“.99 Ricke focht unermüdlich um den Fortbestand des Borchardt Instituts, auch für seine eigene Rückkehr nach Ägypten.100 Mitte 1945 hatte Mimi Borchardt sich noch überzeugt gezeigt, dass ihre „amerikanischen Freunde“ alles tun würden, „um dem Borchardt Institut so bald als möglich wieder seinen Besitz zuzuführen“, wobei sie vor allem auf Nelson (Chicago) baute.101 98 Zürich 32 (Wotanstr. 15), 21. Januar 1949. GIO MSS AHG/42.252.4. 99 Ricke hoffte, eines Tages „ihre Urne neben der Urne von Ludwig Borchardt im Garten in Zamalek beisetzen“ zu können, wie MB es bestimmt hatte. Auch wenn sie die Ägypter nicht liebten, so liebten sie doch Ägypten. MB fürchtete sich allerdings auch vor der Rückkehr nach Ägypten, weil sie sich ein Leben dort ohne den 1945 verstorbene Max Meyerhof nicht vorstellen konnte, wie sie am 20. Juni 1945 an Steindorff schrieb. ÄMUL NL Steindorff K23 1944. 100 Über den Zustand des Instituts in Kairo war Ricke gut informiert, gab die Informationen an Gardiner weiter, weil möglicherweise englische Kollegen „Hilfe bieten könnten“. Denn noch war der Kampf um den Fortbestand des „Instituts für ägyptische Bauforschung und Altertumskunde“ nicht vorüber. Unterhalten wurde das Institut „von einer in Schaffhausen eingetragenen Stiftung (Borchardt-Cohensche Stiftung) (…), der auch Häuser und Inventar in Kairo“ gehörten. Die Stiftung stehe unter der Aufsicht der schweizerischen Bundesbehörden, weshalb sie als schweizerische Stiftung bezeichnet werden dürfe. Diesem Umstand und „glücklichen persönlichen Beziehungen“ sei es zu danken, dass das Institut vom Sequester befreit sei, unter dem es während des Krieges stand. Für die Schweizer Behörden sei das Institut von Interesse, weil für die Mitarbeiter und Stipendiaten Schweizer bevorzugt würden, wenn „gleichwertige Anwärter verschiedener Nationalität vorhanden sind“. 101 Nelson reiste 1945 nach Ägypten, führte dort Gespräche wegen des Borchardt-Institut, kümmerte sich um MBs in Ägypten befindliches Vermögen. MB an Steindorff, 20. Juni 1945, 31. Oktober 1945. ÄMUL NL Steindorff K23 1944.
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Abb. 36: Mimi Borchardt mit Ehepaar Ricke und deren beiden Töchtern, 1940er Jahre in der Schweiz
Das Institut in Kairo war international gedacht, stand also auch englischen Bauforschern als Stipendiaten offen. Die Wiedereröffnung hing davon ab, ob Ricke wieder nach Kairo zurückkehren durfte. Zwar unterstützte ihn das Schweizer
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Konsulat in Kairo, „behauptet aber, offiziell wenig machen zu können, weil ich Deutscher bin“. Ricke vermutete, dass das Konsulat ein nationales schweizerisches Institut aus dem Borchardt Institut machen und ihn möglichst loswerden wollte. Zudem sträubten sich auch die Ägypter gegen ihn, weil er angeblich zusammen mit Borchardt „die Nofretete gestohlen hätte“. Das war ein erkennbar an den Haaren herbeigezogener Unsinn, wie Ricke wusste. „Ganz abgesehen davon, wie man zu dem Nofretete-Streit steht, der auch nur durch Nationalismus (anfangs noch nicht einmal ägyptischem Nationalismus) entstanden ist, so kann man mich damit nicht in Verbindung bringen, denn als der Kopf gefunden wurde, war ich 12 Jahre alt und drückte in meiner Vaterstadt Hannover die Bänke der Untertertia!“. Ricke hatte Drioton gebeten, „diesen Blödsinn in Ordnung zu bringen“. Die Einwände gegen das Institut seien: „deutsch-jüdischer Herkunft, amerikanischer Herkunft des Betriebskapitals! Also Xenophobie, die nach Logik fragt. Und dabei waren beide Borchardts Anti-Zionisten!“ Immerhin konnte im Herbst 1948 der Schweizer Ägyptologe Charles Maystre als „administrateur“ an das Kairener Institut geschickt werden, um das Inventar zu kontrollieren. Um eine positive Wende herbeizuführen, sollte den Ägyptern gegenüber der „‚schweizerische‘ Charakter des Instituts betont werden“.102 Doch auch Gardiner hielt die Aussichten für wenig positiv.103 Über die deutschen Kollegen wollte Ricke sich nicht auslassen, da Gardiner ohnehin mit einigen in Kontakt stand. Sorgen machte er sich um Anthes, der es sich zur Aufgabe gemacht habe, „die schäbigen Reste der Berliner Sammlung zu bewahren und nutzbar zu machen“. Da aber sowohl das Museum als auch die Universität im russischen Sektor lagen, Anthes aber im amerikanischen wohnte, brachte ihm allein der Alltag dauernde Schwierigkeiten. Hinzu komme, dass Anthes diese politischen Schwierigkeiten bereits zum zweiten Mal durchmache.
102 Ricke meinte, dies werde nicht viel nutzen, weil die Schweiz in Bälde den Staat Israel anerkennen werde. Ricke empfand es als „niederschmetternd“, dass Wissenschaft derart von der Politik belastet war. Die von Gardiner angefragten Papyri lagerten in einem Banksafe in Zürich, gehörten der Stiftung in Schaffhausen. Da Ricke selbst nicht die Kompetenzen besaß, sie zu bearbeiten, wollte er sie an eine Stelle verkaufen, wo sie bearbeitet werden konnten. Diesbezüglich hatte er sich bereits an Bill Smith in Boston gewandt, aber noch nichts von dort gehört. Ihm selbst und seinerzeit auch MB wäre am liebsten, wenn die Papyri in Europa blieben, das ja sowieso schon sehr „ausgeplündert“ sei. Sollte Gardiner einen Interessenten in England kennen, etwa ein Museum, wollte Ricke verhandeln. Der Preis lag bei 20.000 Schweizer Franken zuzüglich der Transportkosten. Abgeliefert werden sollte an einen Vertrauensmann in Zürich. 103 Gardiner an Ricke, 1. Februar 1949. GIO MSS AHG/42.252.3.
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Es sollten noch fast zwei Jahre vergehen, bis Ricke die Wiedereröffnung des Instituts anzeigen konnte.104 Ende Oktober 1950 nahm er seine Arbeit in Kairo auf, musste zunächst die „monumentale“ Unordnung beseitigen. Schwer lastete auf ihm der deutlich spürbare „Geist der früheren Bewohner“; es schmerzte ihn, allein nach Kairo hatte zurückkehren müssen. Trotz aller Unterschiede hatten sämtliche deutschen Ägyptologen nach dem Krieg das Problem der Isolation. Gardiner gehörte zu den ersten, die zumindest Fachliteratur zur Verfügung stellten. Diese Geste war nicht identisch mit der Bereitschaft, die deutschen Ägyptologen wieder grundsätzlich zu integrieren. Groß waren die Vorbehalte allem Anschein nach bei den Franzosen. Generell bestand bei allen nicht-deutschen Ägyptologen bald Konsens darüber, dass zwischen Anhängern und Gegnern der Nationalsozialisten zu unterscheiden war, nicht alle deutschen Ägyptologen gleichermaßen auszuschließen waren. Wie man sich jedoch zu verhalten und zu positionieren hatte, war nach 1945 unklar und bedurfte intensiver Diskussionen. Mit Gardiner einer Meinung war Harold Idris Bell (1879–1967).105 Beide wollten unterscheiden zwischen solchen deutschen Ägyptologen, die Nazis waren, die Partei enthusiastisch unterstützten und solchen, die ihr aus ökonomischen oder andern Zwängen beitraten.106 Einem ehemals überzeugten Nazi sollte das Unterrichten unbedingt verboten bleiben, auch weil sich die Demokratie in Deutschland nur sehr langsam entwickle. Bei den Jüngeren finde sich noch immer sehr viel nationalsozialistisches Gedankengut. Diese grundsätzlichen Überlegungen gerieten immer dann ins Wanken, wenn ein Deutscher um Unterstützung nachsuchte und dabei politische Verwicklungen drohten.107 Für Bell erschien die beste Antwort auf solche Briefe, keine Reaktion zu zeigen, was auch Gardiner befürwortete.108 Beide wollten keine Sympathie
104 An Gardiner, 21. November 1950. GIO MSS AHG/42.252.1. 105 Britischer Papyrologe, studierte in Oxford, Berlin und Halle, dann Arbeit am British Museum London, Dozent in Oxford 1935–1950. Who-was-Who, 2012, 50 f. 106 Bell an Gardiner, 9. Januar 1948. GIO MSS AHG/42.20.7. 107 Bell meinte, man solle dem jungen Rolf Ibscher behilflich sein, könne ihn eventuell offiziell einladen, was aber möglicherweise politisch schwierig sei. Bell an Gardiner, 10. August 1950. GIO MSS AHG/42.20.6. 108 Ibscher „bombardierte“ Bell und Gardiner mit Briefen, führte darin etliche Leute auf, die die beiden nicht kannten. Bell gewann den Eindruck, dass diese Dinge von zentralem Interesse in Deutschland seien. Als Sohn des alten, allseits geschätzten Hugo Ibscher wollte man dem jungen helfen, doch schien es moralisch richtiger zu sein, solchen Briefen so wenig Aufmerksamkeit wie möglich zu schenken, was letztlich Rolf Ibscher am meisten nützen werde. Bell hoffte, dass seine Auffassungen nicht als allzu schroff aufgefasst wurden. Dem Brief fügte er einen Brief Rolf Ibschers an Glanville bei. GIO MSS AHG/42.20.5.
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ausdrücken oder Hilfe anbieten, was nur falsche Hoffnungen wecke, die betreffende Person möglicherweise sogar in Gefahr bringe. Dass bestimmte Personen aufgrund ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit ihrer Positionen enthoben wurden, empfanden britische Ägyptologen mitunter als Genugtuung.109 Es war schwer, mit ehemals vertrauten deutschen Kollegen wieder in Kontakt zu kommen, die richtigen Worte zu finden. Gardiner gestand Grapow in aller Offenheit, dass er wegen der Antwort auf dessen Brief „felt embarrassed to know how to reply to it“.110 Er empfinde es als extrem schwierig, wieder persönliche Beziehungen mit Personen einzugehen, „who had dramatically opposite views“ – „the utmost I can say to you, therefore, is that I wish you well“. Gardiner blieb also auf Abstand und machte kenntlich, weshalb er es tat. Problematischer als die Position der englischen Ägyptologen war die der dänischen, deren Arbeiten überwiegend philologisch ausgerichtet und eng mit dem Berliner Wörterbuch verbunden waren. Dessen Weiterführung strebten die Dänen an, womit sich ihnen zugleich das ‚Problem Grapow‘ stellte, der nach wie vor der Hauptverantwortliche für diese Arbeiten war. Auf die Initiative von Constantin Emil Sander-Hansen (1905–1963)111 ging die Tagung der „International Association of Egyptologists“ 1947 in Kopenhagen zurück. Als deren Präsidenten schlug er Alan Gardiner vor, der nach langen Überlegungen jedoch ablehnte. Sander-Hansen war der Meinung, deutsche Ä gyptologen sollten zu der Vereinigung zugelassen werden, sobald Deutschland die staatliche Anerkennung erhalten hatte.112 Dass ihm vor allem die Weiterführung des Wörterbuchs ein Anliegen war, verschwieg Sander-Hansen nicht.113 Am Beispiel des Wörterbuchs lasse sich unschwer erkennen, wie wichtig die von Gardiner
109 Glanville zeigte sich erleichtert, dass der wohl auch als Spion tätige Roeder seine Stellung in Berlin verlor. Glanville an Newberry, 15. April 1946. GIO MSS Newberry 17/108. 110 Gardiner an Grapow, 2. Juli 1947. GIO MSS AHG/42.223.20. 111 Dänischer Ägyptologe, studierte unter Lange in Kopenhagen, war Assistent von Sethe in Berlin, setzte dessen Arbeiten nach 1934 fort, wurde 1946 Nachfolger von Lange in Kopenhagen. Who-was-Who, 2012, S. 486. 112 Sander-Hansen an Gardiner, 4. Juli 1947. GIO MSS AHG/42.267.7. Er schickte an Gardiner diverse Unterlagen für die Tagung, einschließlich Teilnehmerliste mit u. a. MB, Drioton, Badawi, Frankfort, Gabra, Lacau, Moss, Newberry, Polotsky, Posener, Seele, Steindorff und Vandier. Deutsche Ägyptologen waren nicht eingeladen. Auf einer zweiten Teilnehmerliste finden sich u. a. Abu Bakr, el Amir, Badawi, MB, Cerny, Drioton, Fakhry, Frankfort, Gabra, Gardiner, Golénischeff, Habashi, Hamza, Hamada, Hussein, Keimer, Lacau, Moss, Newberry, Polotsky, Posener, Ricke, Saad, Steindorff, Vandier und Weill. 113 4. Juli 1947. GIO MSS AHG/42.257.7.
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vorgeschlagene internationale Zusammenarbeit sei.114 Grundbedingung der Tagung war für Gardiner, wie er am 28. Juli 1947 an Sander-Hansen schrieb, dass für die Öffentlichkeit klar erkennbar sei, dass die Namen etlicher bekannten Ägyptologen „conspiciously absent“ seien. Die Gründe dafür seien hinreichend bekannt, müssten nicht gesondert erläutert werden. Zweifellos sei daran gedacht, im Laufe der folgenden Jahre den Mitgliederkreis der geplanten Vereinigung auszuweiten. Dieser Auswahlprozess sei allerdings besonders unangenehm. Kriterium dürfe auf keinen Fall nur die wissenschaftliche Reputation sein. Zweifellos müssten die durch Nationalsozialismus und Krieg verursachten „Wunden“ langsam heilen. Er selbst sei nicht bereit, durch das Vorschlagen dieser oder jener Person neue Animositäten zu provozieren. Schwerwiegender aber war Gardiners grundsätzliche Kritik an der geplanten internationalen Vereinigung. Denn er konnte keinen Vorteil darin erkennen, der nicht auch individuell zu erreichen wäre. Jeder Ägyptologe sei an internationale Zusammenarbeit gewöhnt, bedürfe dafür keiner gesonderten Organisation. Im Übrigen sei politisch am ehesten auf „privater“ Ebene und durch bilaterale Beziehungen zu erreichen. Gardiner misstraute allen großen Organisationen, hielt sie für wenig effizient. Als warnendes Beispiel führte er das „Berliner Wörterbuch der Ägyptischen Sprache“ an. 1902 habe er selbst die Mitarbeit daran begonnen, größte Hoffnungen gehegt. Acht Jahre lang habe er sich fast ausschließlich der Arbeit gewidmet, Material für diese grandiose Zusammenarbeit zu sammeln. Hätte er damals geahnt, dass fünfzig Jahre später das Wörterbuch noch immer nicht vollendet sein würde, wäre er nicht zur Mitarbeit bereit gewesen. Die lange Dauer dieses Unternehmens empfand Gardiner als bittere Enttäuschung, ließ ihn an deren Wert zweifeln. Grundsätzlich sprach Gardiner groß angelegten Projekten nicht ihren Wert ab, sofern sie nicht die Ansammlung von Material an einem einzigen Ort zwingend verlangten, was bei dem Wörterbuch-Unternehmen aber der Fall war. Jedenfalls wollte er nicht versäumen, bei der Kopenhagener Tagung auf die Problematik einzugehen.115
114 Laut Bericht von Prof. H. Scheel (Direktor der Preußischen Akademie) an Erichsen wurde das Material von den Russen nach Rummelsberg zur Überprüfung gebracht. Diese wurde derart unvorsichtig vorgenommen, dass die Zerstörung des Wörterbuchs befürchtet werden musste. Noch unklar war, ob das Material nach Moskau transportiert werden sollte, womit das Wörterbuch für Berlin verloren wäre. Scheel hatte den Transport nach Kopenhagen verlangt. Der dänische Außenminister wollte die Angelegenheit bei seinem Besuch in Moskau zur Sprache bringen. 115 Eine weitere internationale Kooperation beobachtete Gardiner ebenfalls misstrauisch: Sämtliche Ägyptologen sollten nach ihrem aktuellen Arbeitsfeld befragt werden, um Überschneidungen zu vermeiden. Diesbezüglich hatte Gardiner sehr entmutigende Erfahrungen gemacht,
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Die seinem dänischen Kollegen später gelieferte Erklärung, angesichts seines fortgeschrittenen Alters seine Kräfte schonen zu müssen und deshalb nicht federführend für den Wiederaufbau der Nachkriegs-Ägyptologie wirken zu können, wirkte letztlich wenig glaubwürdig. Ausschlaggebend dürfte vielmehr gewesen sein, dass Gardiner glaubte, international keine einheitliche politische Linie bewirken zu können. Auch dürfte es ihm wie Verrat an von den Nationalsozialisten Verfolgten – wozu auch die Familie seiner österreichischen Ehefrau gehörte – erschienen sein, die Vergangenheit auszublenden. Zu oft erreichten ihn Briefe wie jenen von Lore Wreszinski, die sich zwar 1939 ins rettende Exil nach Brasilien hatte retten können, aber auch 1948 noch Not litt.116 Vor allem war sie Gardiner dankbar für die Hilfe, die er ihrer Tochter Ruth und ihrem Sohn Rolf in England hatte zukommen lassen. Auch mit Mimi Borchardt stand Gardiner in brieflichem Kontakt.117 Wie Steindorff vorausgesagt und befürchtet hatte fanden auch die belasteten deutschen Ägyptologen früher oder später in akademische Positionen zurück.118 Nicht nur der nach wie vor umstrittene und durchaus widersprüchliche Grapow blendete die NS-Zeit aus.119 Unrechtsbewusstsein bildete sich bei den ehemaligen Nationalsozialisten nicht heraus, eher die Überzeugung, nicht Täter, sondern Opfer zu sein. Nur wenige Monate nach der Konferenz in Kopenhagen, die für Grapow positiv verlaufen war, weil sie sein ungehindertes Weiterarbeiten garantierte, wandte er sich erstmals an Gardiner.120 Anknüpfungspunkt war das Wörterbuch, an dessen Entwicklung Gardiner seit Jahrzehnten Anteil nahm und das er bis 1936 finanziell unterstützte.121 Damit verband Grapow seine Rechtfertigung bzw. oft erleben müssen, dass ein Wissenschaftler ein Gebiet für sich reklamierte, andere sich deshalb davon fern gehalten hatten, Ergebnisse wenn überhaupt erst nach langer Zeit vorlagen. Gardiner betrachtete es als produktiver, unter dem Druck internationaler Konkurrenz arbeiten zu müssen. 116 L. Wreszinski an Gardiner, 31. Oktober 1948. GIO MSS AHG/42.382.2. 117 GIO MSS AHG/42.33.1–9. 118 Am 22. April 1953 starb Hermann Ranke an den Folgen eines Magenleidens; er wurde in Freiburg beigesetzt. Kees hielt sich seit dem 1. Mai 1953 in Ägypten auf. Siegfried Schott war an der Universität Göttingen als Ägyptologe tätig, an der Universität Hamburg wurde ein Lehrstuhl für Ägyptologie geschaffen (besetzt mit Eberhard Otto). Der Münchner Professor Stock hielt sich einige Monate in Ägypten auf, meinte die dortige Bevölkerung sei „sehr nervös“. Pohl an Gardiner, 7. Mai u. 17. Mai 1953. GIO MSS AHG/42.239.3 + 2. 119 Zu Grapow ausführlich und seine Persönlichkeit kritisch beleuchtend Thomas Gertzen: Hermann Grapow, 2015. 120 Grapow an Gardiner, 3. Juli 1948. GIO AHG/42.113.19. 121 Er stoppte die Finanzierung, weil er seine Finanzmittel zugunsten eines „non-Aryan scholars“, der sich in „desperate straits“ befinde, einsetzen wollte, wie er Grapow mitteilte. Grapow an Gardiner, 30. Juni 1936. GIO MSS AHG/42.113.23.
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die Schilderung seiner ‚Leidensgeschichte‘: Dem Ruf Borchardts nach Kairo in den 1920er Jahren sei er nicht gefolgt, um Erman nicht im Stich zu lassen, habe mehr als zehn Jahre ausschließlich am Wörterbuch gearbeitet, „stur und ohne an mich zu denken“. 1928 habe er zugunsten der Wörterbuch-Arbeit einen Ruf nach Bonn abgelehnt. Sein Verdienst sei, dass Erman den Abschluss der Hauptbände noch habe erleben können. Damit zugleich sei er selbst am Ende seiner Karriere angekommen gewesen, erst sein Aufenthalt in Ägypten 1933 habe ihn ermutigt, wieder selbst wissenschaftlich zu arbeiten. In Berlin habe er nach 1934 Sethes Vorlesungsverpflichtungen übernehmen müssen, letztlich habe die Verantwortung für die gesamte Ägyptologie in Berlin auf ihm gelastet. Zum Professor sei er erst ernannt worden, als infolge von Ermans Tod das Gehalt für die Professur „disponibel“ geworden sei. Dann habe er nach 1937 „einen zähen Kampf führen müssen für die Freihaltung unserer Wissenschaft von politischen Beeinflussungen, und es ist mir eine Genugtuung, dass auch die Akademie unangefochten geblieben ist, so weit es überhaupt erreichbar war“. Bei der Bombardierung Berlins habe er seine gesamte Habe verloren, die Wörterbuch-Zettel seien erhalten geblieben, weil sie in ein Salzbergwerk gebracht worden waren. Grapow stilisierte sich als Opfer der politischen Verhältnisse, als unermüdlicher und selbstloser Unterstützer der Wissenschaft. Sein Verhältnis zu Erman ließ er wie eine Vater-Sohn Beziehung erscheinen. Dass er schon früh der NSDAP beitrat, sich auch in Kairo 1933 entsprechend gerierte, erwähnte er nicht, ebensowenig, dass Erman nicht mehr zu den Sitzungen der Akademie zugelassen war. In einer „persönlichen Unterhaltung“ mit Gardiner wollte Grapow Missverständnisse bezüglich seiner Vergangenheit aus dem Weg räumen.122 Ob und in welcher Weise er dies tat, lässt sich aus der Korrespondenz nicht rekonstruieren, sehr wohl aber, dass er 1954 Gast im Hause Gardiner, die internationale Anbindung also geglückt war.123 Mehr noch als Grapow sah der Göttinger Ägyptologe Hermann Kees sich als Opfer.124 Durch seinen Rechtsanwalt ließ er 1948 verlauten, während der ‚kritischen Jahre‘ sei er weder aktiver Nationalsozialist noch „Chauvinist“ gewesen, sogar wegen seines Einsatzes für eine objektive Wissenschaft von den Nationalsozialisten observiert worden.125 Tatsächlich sei er eher ein Gegner der Nationalsozialisten gewesen als ein Förderer, obwohl er sich 1933 formal der NSDAP 122 Grapow an Gardiner, 1. September 1953. GIO MSS AHG/42.113.12. 123 Zu Grapow s. Thomas Gertzen: Hermann Grapow, 2015. 124 Zu Kees s. Thomas Schneider: Hermann Kees, 2015. Vgl. auch Hermann Kees (1886–1964). Ein Ägyptologe zwischen Wissenschaft und Politik. Eine virtuelle Ausstellung. Universität Göttingen – Seminar für Ägyptologie und Koptologie. 125 Föge an Gardiner, 4. Januar 1948. GIO MSS AHG/42.161.15.
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angeschlossen habe. Für „Entgleisungen“ während der NS-Zeit sah Kees sich nicht verantwortlich, beschuldigte stattdessen den Ägyptologen Joachim Spiegel (1911–1989)126 und andere an der Universität tätig gewesene Personen.127 Hermann Junker berief sich dagegen auf die innere Emigration, für die er sich während der „letzten fünfzehn bösen Jahre unserer Wissenschaft“ entschieden habe.128 Die Wissenschaft sei ihm immer ein Trost gewesen, „und je schlimmer es wurde, desto tiefer habe ich mich in meine Bücher versenkt“. Damit wollte er offenbar vergessen machen, dass er sich beispielsweise mit seinen auch antisemitisch geprägten DAI-Berichten der 1930er Jahre dem nationalsozialistischen Regime durchaus sympathisierend angedient hatte. Wohl auch deshalb fand Adolf Erman schon 1934 „den Pg. in Kairo (…) immer bedenklicher“.129 In Steindorffs Sinne verlief die Entwicklung weder in Deutschland noch vor allem innerhalb der Ägyptologenschaft. Wie Ludwig Keimer richtig gemutmaßt hatte, konnten die ehemaligen „Nazi-Ägyptologen“ bald wieder reüssieren. Verzeihend, mitunter eher den Kultur- als den Verlust an Menschen bedauernd, zeigte sich Mimi Borchardt.130 Freilich hatte sie deutlich weniger direkt unter dem Nationalsozialismus zu leiden gehabt als Steindorff beispielsweise. Jedenfalls war es ihr eine große Freude, im Herbst 1945 zufällig in Genf auf den ehemaligen Dragoman der deutschen Gesandtschaft in Kairo und Mieter in ihrer Villa, Curt Prüfer, zu treffen. Dass auch er stark ins nationalsozialistische Regime verstrickt gewesen war, wusste sie entweder nicht oder hielt es für weniger bedeutend.131 Ihr gegenüber gerierte Prüfer sich als quasi-Verfolgter, der als deutscher Botschafter in Brasilien Widerstand geleistet habe gegen die dortigen „Nazi-Umtriebe“. Bei seiner Rückkehr nach Deutschland sei es deshalb „etwas brenzlich“ für ihn geworden. „Ein Nazi aber, den wir auch aus Kairo kennen, und der merkwürdigerweise schon mehrere Nicht-Nazi gerettet hat, rettete auch ihn, und verschaffte ihm die Erlaubnis, seiner Gesundheit wegen nach der Schweiz zu reisen und die Schweiz gab ihm Aufenthaltsbewilligung“. Gemeint war Hans Schroeder, enger Freund von Rudolf und Alfred Hess, tätig an der deutschen Gesandtschaft in Kairo, SA-Brigadeführer und zeitweilig Landesgruppenführer
126 Studierte in Berlin unter Sethe, war Assistent von Wolf in Leipzig (1935/36), am DAI Kairo 1937–1940, arbeitete im Auswärtigen Amt Berlin 1940–1945, Dozent und später Professor an der Universität Göttingen 1945–1976. Who-was-Who, 2012, S. 521. 127 Mehrere Briefe von Kees an Gardiner ab 1948. GIO MSS AHG/42.161.1–14. 128 Junker an Gardiner, 4. April 1948. GIO AHG/42.158.15. 129 Zitiert nach Susanne Voss: Hermann Junker, 2013, S. 280. Dort auch detailliert die Tätigkeiten Junkers während der NS-Zeit. 130 MB an Steindorff, 31. Oktober 1945. ÄMUL NL Steindorff K23 1944. 131 Vgl. Hans-Jürgen Döscher: Seilschaften, 2005, S. 49–52.
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der NSDAP in Ägypten, eine Mimi Borchardt durchaus bekannte Person.132 Dass sie, wie es den Anschein haben könnte, das Geschehen und ihre Erlebnisse während der NS-Zeit gänzlich verdrängte, wäre jedoch falsch geurteilt. Nicht nur den Tod ihrer Schwester, etlicher Verwandten und Freunde betrauerte sie, auch den gewaltsamen, besonders „tragischen“ ihres Schwagers Georg Borchardt, vielleicht auch aus dem Gedanken heraus, dass sie ihn letztlich nicht genügend unterstützt, seine Notsituation unterschätzt hatte.133 Sie war froh, sich darüber Steindorff mitteilen zu können, einem Freund ihres Ehemannes, zu dem sie nach 1945 größere Nähe aufbaute. „Professor Steindorff“ als Anrede wich rasch dem freundschaftlichen „Lieber Schorsch“. Er war einer der wenigen Altvertrauten, ein Bote aus vergangener, glücklicherer Zeit. An Kritik an solchen deutschen Ägyptologen, die sich den Nationalsozialisten angedient hatten, ließ sie es ebensowenig fehlen wie Georg Steindorff. Doch ihr Blick richtete sich vorrangig in die Zukunft, in der es den Fortbestand des Borchardt Instituts, also das Erbe ihres Ehemannes, und Rickes Existenz zu sichern galt.
132 Zu Schroeder s. Hans-Jürgen Döscher: Seilschaften, 2005, S. 125, 163. 133 MB an Steindorff, 6. August 1945. ÄMUL NL Steindorff K23 1944.
Nachwort Wir haben zwar keine ‚heroischen‘ Taten verrichtet, wie es heute Sitte ist – wir haben aber – fast hätte ich gesagt ‚gelebt und geliebt‘. Wir haben aber noch viel mehr getan – und wir waren glücklich! Ist das etwa nichts?! (Mimi Borchardt an Else Oppler-Legband, 18. Dezember 1938)
Ägypten bedeutete für viele Zeitgenossen und -innen des Ehepaars Borchardt und Max Meyerhof ebenso wie für sie selbst weit mehr als nur ein geographischer Ort oder eine beliebige temporäre Bleibe. Nicht nur berufliche Ambitionen ließen sich dort verwirklichen, sondern auch Lebensideale und Träume, was das Land am Nil für etliche Deutsche zu einer zweiten Heimat werden ließ bzw. jenseits des real existierenden Orients zu einem idealtypischen Deutschland in Ägypten. Dies bezeichnet jedoch nur eine, die eher bekannte Seite der Medaille. Die andere war das Ägypten als Schauplatz erheblicher politischen, sozialen und kulturellen Umwälzungen, eines vor allem ab 1933 einsetzenden, fundamentalen Wandels. Denn der Nationalsozialismus warf mehr als nur einen Schatten. Die ‚Zäsur 1933‘ war facettenreich, sie zeigte sich in Ägypten ebenso wie innerhalb der dortigen deutschsprachigen Gesellschaft und gleichfalls der deutschen und der internationalen Ägyptologen- und Orientalistenschaft. Die ägyptische Politik und Gesellschaft splitterte sich in Anhänger und Gegner des Nationalsozialismus; die Einwanderung von Verfolgten wurde weitestgehend unterbunden. Andererseits rief die in höchste Alarmbereitschaft versetzte ägyptische Judenschaft schon 1933 zum Boykott deutscher Waren und Dienstleistungen auf. Die bereits polarisierte ‚deutsche Kolonie‘ lief propagandistisch Sturm gegen die Boykottaufrufe, woraus sich der sogenannte ‚Kairoer Judenprozess‘ entwickelte. Der mehrinstanzliche Gerichtsprozess verlief aufgrund gegenteiliger Interessen der ägyptischen Politik für die klagende jüdische Seite erfolglos, womit die Chance auf öffentliche Ächtung des Nationalsozialismus vertan war. Aus der ‚deutschen Kolonie‘ bzw. dessen Vereinen und Institutionen wurden die Mitglieder jüdischer Herkunft fast unmittelbar nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten ausgeschlossen. Max Meyerhof kam dem zuvor, ebenso Mimi Borchardt. Ersterer distanzierte sich deutlich vom Großteil der deutschsprachigen Gesellschaft, deren raschen Schwenk auf nationalsozialistische Linie erklärtermaßen verurteilend. An Deutlichkeit ließ es Mimi Borchardt ebenfalls nicht fehlen. Im April 1933 legte sie den Vorsitz des Frauenvereins nieder, weil sie dieses neue Deutschland unmöglich noch vertreten konnte und wollte. Mit dem Rückzug der Pioniere und wichtigsten Exponenten, dem Ehepaar Borchardt und ihrem Freund Meyerhof, aus der ‚deutschen Kolonie‘ verlor diese ihre prägenden Persönlichkeiten und ihren Charakter. Diejenigen, auf die sie sogar DOI 10.1515/9783110526127-007
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offiziell mit Stolz verwiesen hatte, wurden nun ebenso an den Rand gedrängt wie andere Deutschsprachige jüdischer Herkunft. Die Welt, die die Pioniere über Jahrzehnte hinweg aufgebaut und zusammengehalten hatten, brach auseinander. Nichts sollte mehr daran erinnern, dass im Wesentlichen den beiden Borchardts und Meyerhof zu verdanken war, dass Deutsche nach ihrer Wiederzulassung, 1923, wieder wachsende Reputation und Einfluss gewannen im seit 1922 formal unabhängig gewordenen Ägypten oder dass sie während des Krieges und den ersten Jahren der Weimarer Republik für den Zusammenhalt der ausgewiesenen Ägyptendeutschen gesorgt, deren Interessen gebündelt und vertreten, ihre Entschädigungsansprüche durchgefochten hatten. In Vergessenheit geraten sollte auch, dass es in der Hauptsache dem Einsatz von Ludwig und Mimi Borchardt zu verdanken war, dass die deutsch-evangelische Gemeinde einen Großteil ihrer Besitzungen schließlich zurückerhielt, die deutsche Schule erneut etabliert werden konnte und ebenso der Frauenverein, der von der Initiative und dem unermüdlichen Engagement Mimi Borchardts lebte. Für sie gehörte es zu ihrem Selbstverständnis, sowohl als Wohltäterin aufzutreten als auch als Wahrerin und Verbreiterin deutscher Kultur, den von ihren Eltern vorgegebenen und -gelebten Idealen. Auch für ihren Ehemann war es selbstverständlich, nicht nur zugunsten der deutschen Ägyptologie zu wirken, sondern in demselben Maße für die Durchsetzung und Wahrung deutscher Interessen in Ägypten. Meyerhof war über die ‚deutsche Kolonie‘ hinaus bekannt als Mensch mit hohen sozialen Idealen, genoss obendrein einen hervorragenden Ruf als Augenarzt und als Orientalist. Die deutschsprachige und die nicht-deutsche Gesellschaft Ägyptens schätzten ihn als Integrationsfigur und vermittelnde Instanz, eine Position, die er beispielsweise 1925 nutzte, um dem mit ihm befreundeten Leipziger Ägyptologen Georg Steindorff den erneuten zwangsloseren Zugang zur in Ägypten tätigen internationalen Ägyptologen- und Orientalistenschaft zu ebnen, die durch den Krieg verursachte Vertrauenskrise zu überwinden. Letztlich gelang damit ein entscheidender Durchbruch. In Deutschland wurden auch die prominenten und für die internationale Reputation der deutschen Ägyptologie hauptsächlich verantwortlichen Ägyptologen jüdischer Herkunft sukzessive verdrängt und ins Exil getrieben, so Adolf Erman, Georg Steindorff, Walter Wreszinski und Otto Rubensohn, um nur einige zu nennen. Auf der anderen Seite löste dies erhöhte Handlungsmotivation und Unterstützungsaktivitäten bei ebenfalls ausgrenzten, aber in einer verhältnismäßig sicheren Situation Lebenden wie Borchardt und Meyerhof aus sowie nicht zuletzt bei der internationalen Ägyptologen- und Orientalistenschaft.
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Mimi Borchardt setzte ab 1933 einen Großteil ihres Vermögens ein, um helfend tätig sein zu können. Sie unterstützte außer Verwandten und Freunden vor allem zahlreiche jüdische Institutionen und Vereine ihrer Heimatstadt Frankfurt,1 vermachte sogar ihr Elternhaus der Jüdischen Gemeinde, damit dort ein Altersund Kinderheim eingerichtet werden konnte. Adolf Erman erwies sich in Deutschland einmal mehr als zentrale Persönlichkeit. Seine ihm meist auch freundschaftlich verbundenen Kollegen in Großbritannien, den USA und in Dänemark rief er auf, verfolgten deutschen Kollegen beizustehen, obwohl auch er selbst zunehmend von der nationalsozialistischen Rassenpolitik negativ betroffen war. Sein Schüler und Freund Georg Steindorff nutzte seine engen Verbindungen zu Ägypten bzw. den dort tätigen internationalen Ägyptologen und Orientalisten, um seine Flucht vorzubereiten und seine Familie in Sicherheit zu bringen. Als verlässliche Partner erwiesen sich vor allem die Briten Alan Gardiner, Percy Newberry, Norman de Garis Davies, auch der Amerikaner George Reisner sowie etliche andere amerikanische Kollegen, die später seine Existenz im amerikanischen Exil sicherten. In Ägypten blieben das Ehepaar Borchardt und Max Meyerhof nicht untätig. Letzterer rief einen Hilfsverein ins Leben, kooperierte eng mit der aschkenasischen Gemeinde Kairos. Ludwig Borchardt instrumentalisierte sein 1931 gegründeten privates Forschungsinstitut, um Verfolgten Rettung und Perspektive zu bieten, darunter Otto Königsberger und Walter Segal. Seine beruflich-freundschaftlich geprägten sozialen Netzwerke, die er seit seiner ersten Niederlassung in Ägypten Ende des 19. Jahrhunderts pflegte, nutzte er, um Verwandten, Freunden, Bekannten und sogar Unbekannten die Flucht in ein Exilland zu ermöglichen. Als besonders hilfreich erwiesen sich dabei seine Beziehungen zu dem deutsch-britischen Chemiker Robert Mond, ebenso zu Alfred Wiener und dem Niederländer David Cohen. Als es schließlich um seine höchsteigenen Belange ging, nämlich sein privates Forschungsinstitut vor dem Zugriff der Nationalsozialisten zu retten, standen ihm sogleich etliche nicht-deutsche Ägyptologen helfend zur Seite. Die Optionen Dänemark und USA erwiesen sich als nicht kurzfristig machbar, allein Oxford bot eine sehr realistische Chance. Zunichte gemacht wurde sie einmal durch Borchardts plötzlichen Tod, danach durch das überaus zögerliche Lavieren der britischen Behörden und schließlich durch den Ausbruch des Krieges.
1 Beispielsweise Verein für jüdische Krankenpflegerinnen (Bornheimer Landwehr 85, Frankfurt), zu dessen Vorstand Eduard Cohen viele Jahre gehörte, Nothilfe zur Erhaltung des Schulwesens der Israelitischen Religionsgesellschaft, Jüdische Wohlfahrtspflege e. V. SIK MB 66/5.
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Die enormen Unterstützungsleistungen zahlreicher internationalen Ägyptologen waren nicht unbedingt zu erwarten gewesen angesichts der Erfahrungen im Laufe des Ersten Weltkriegs. Bei deutschen und nicht-deutschen Ägyptologen/Orientalisten führte er zu Politisierung, schließlich zu Verbitterung, Misstrauen, und Polarisierung, also einer enormen Vertrauenskrise, die den Fortbestand von jahrzehntelang gepflegten, international strukturierten beruflich-sozialen Netzwerken in Frage stellte. Als vermittelnde Instanzen traten schon vor Kriegsende auf deutscher Seite die Ägyptologen Adolf Erman und Georg Steindorff auf, auf britischer, dänischer und amerikanischer Alan Gardiner, Norman de Garis Davies, H.O. Lange, James Breasted und George Reisner. Erman verwandte viel Kraft darauf, die Vorbehalte seiner nicht-deutschen Kollegen zu zerstreuen, die gemeinsamen wissenschaftlichen Interessen wieder in den Vordergrund zu rücken und die vormals vertrauensvollen Beziehungen erneut aufzubauen, trotz divergierender politischen Haltungen. Verhindern konnte er indes nicht, dass sich infolge des Krieges die wissenschaftspolitischen Gewichte verschoben, amerikanische Ägyptologen trotz der in Ägypten leitenden Positionen französischer Ägyptologen mehr und mehr tonangebend wurden, deutschen Ägyptologen weitgehend jede Grabungsmöglichkeit in Ägypten versagt blieb. Dies schmerzte ihn jedoch nicht sonderlich, da er nie ein Befürworter deutscher Grabungstätigkeiten in Ägypten gewesen war. Wichtiger war ihm, dass Wissenschaft frei von jedem politischen Einfluss bleiben sollte. Die Rettung ins ägyptische Exil gelang nur in Ausnahmefällen, was nicht zuletzt die ihre Hoffnung auf Ägypten setzenden Ägyptologen und Orientalisten schmerzhaft erfahren mussten. Dabei schlug die grundsätzlich ablehnende Haltung Ägyptens negativ zu Buche, aber auch, dass beispielsweise Ludwig und Mimi Borchardt nie die Nähe zur ägyptischen Gesellschaft gesucht hatten, sie sogar wenig wertschätzten. Unterstützung von dieser Seite war mithin nicht unbedingt zu erwarten. Anders sah es hingegen bei Meyerhof aus, der auch in Ägypten einen sehr guten Ruf besaß und trotz Vorbehalten kontinuierlich seine Beziehungen zu ägyptischen Kollegen und Politikern pflegte, also nicht im üblichen Orientalismus verharrte.2 Er verstand es, Verfolgte um sich zu sammeln und ihnen das 2 Zweifel hegte er etwa bezüglich bestimmter Interessen der Ägypter. Am 5. September 1922 schrieb er an George Sarton: „The Egyptians themselves as most of the young nations do not show much interest for the scientific history of their own ancestors, as far as it does not satisfy their national prand (sic). Nevertheless I hope that the new spirit will come more and more!“ Am 26. Juni 1931 vermerkte er gegenüber Sarton, dass „Orientals nearly never keep their promisis and engagements; it is possible to deal with them only in handling them like children!“. Dennoch schätzte er die ihm in Ägypten im Vergleich zu Deutschland weit größere Handlungsfreiheit, verurteilte die in Deutschland vorhandene Intoleranz und den „racial nationalism“ (18. Februar 1932 an G. Sarton). Zitiert nach: Lewis Pyenson: Humanity’s Hope, 2005, o. S.
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Bleiben zu ermöglichen, so etwa dem Orientalisten Kraus. Für das Ehepaar Borchardt wurde er aufgrund seiner hervorragenden Verbindungen zu einem der wichtigsten Informanten und Ratgeber. Die gesammelten Aktivitäten von verschiedenen Seiten, auch die gelungenen Rettungsaktionen sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass für die Betroffenen die ‚Fallhöhe‘ erheblich war, wie sich etwa an Georg Steindorff oder Ludwig und Mimi Borchardt erkennen lässt. Für Letztere bedeutete die Ausgrenzung aus der deutschen Gesellschaft sowohl in Ägypten als auch in ihrem Heimatland, dass sie einen wesentlichen Teil ihrer Identität verlor. Als Wahrerin deutscher Kultur konnte sie nicht mehr gelten, ihre sich im Laufe des Ersten Weltkriegs und während der Weimarer Republik herausbildende nationaldeutsche Gesinnung erwies sich als Irrweg. Die Ägyptendeutschen, in denen sie noch in den 1920er Jahren glaubte die besten Deutschen, die Träger der von ihr verehrten deutschen Kultur sehen zu können, entpuppten sich in der Mehrzahl als illoyal und willige GehilfInnen der Nationalsozialisten. Dennoch bedurfte es eines längeren Bewusstwerdungsprozesses, um die Hoffnung auf einen baldigen fundamentalen Wandel in Deutschland völlig abzulegen; die Verehrung für deutsche Kultur als die aus ihrer Sicht führenden blieb bestehen. Täuschend waren auch die in Ägypten herrschende Scheinnormalität und die meist der Zensur unterliegenden, kaum die Wirklichkeit widerspiegelnden brieflichen Nachrichten aus Deutschland. In Gänze konnte Mimi Borchardt oftmals die hinter vielen Briefen liegenden tragischen Lebenszusammenhänge nicht erkennen, trieb auch deshalb die Emigration ihrer engsten Freunde Friedel und Otto Rubensohn lange nicht mit aller Kraft voran, obwohl sie permanent Warnungen ihrer im Exil in Meran lebenden Freundin Else Oppler-Legband erreichten. In Frankfurt erinnert heute nichts mehr an Mimi Borchardt und die Familie Cohen, sämtliche Spuren sind vernichtet oder verwischt, obwohl die Familie jahrzehntelang zu den herausragenden Mäzenen der Stadt gehörte. Schadensersatzansprüche wegen des Hauses in der Feuerbachstr. 14 stellte die Jüdische Gemeinde nach 1945 nicht, Nachkommen der Familie Cohen, die sich dafür hätten stark machen können, gab es nicht. Ludwig Borchardt, der mit seinem Engagement für die Ägyptendeutschen auch den Bedeutungs- und Einflussverlust der deutschen Ägyptologie infolge des Ersten Weltkriegs ein Stück weit kompensieren konnte und obendrein glaubte in Ägypten dem in Deutschland herrschenden Antisemitismus entweichen zu können, sah sich ebenfalls getäuscht. Mit Beginn des Nationalsozialismus verlor auch er seinen ehemals hohen Rang in der ‚deutschen Kolonie‘. Das von ihm ins Leben gerufene bzw. mit Hilfe des Vermögens seiner Ehefrau überhaupt erst ermöglichte Deutsche Archäologische Institut drängte ihn aufgrund seiner jüdischen Herkunft ebenso an den Rand wie es Georg Steindorff an der Univer-
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sität Leipzig und Adolf Erman in Berlin erleben mussten. Andererseits war die Gründung dieses Instituts für Borchardt letztlich ein mehrfacher Gewinn. Denn er konnte in Ägypten nicht nur ein eigenes wissenschaftliches Profil entwickeln, sondern sich auch eine dauerhafte Bleibe schaffen. Letzteres rettete ihn vor dem Zugriff der Nationalsozialisten, wenngleich seine Wahlheimat auf diese Weise zum Exil wurde. Gleichwohl bedurfte es auch bei ihm etlicher negativer Erfahrungen, um den Glauben an Deutschland aufzugeben. Max Meyerhof gab sich hingegen keinen Illusionen bezüglich der politischen Zukunft hin und beantragte schon wenig nach 1933 die ägyptische Staatsbürgerschaft, die er definitiv 1937 erhielt.3 Zu diesem Schritt konnten sich Ludwig und Mimi Borchardt nicht durchringen, eine solche Identifikation mit Ägypten erschien ihnen wenig denkbar. Borchardt suchte Zuflucht in seinen wissenschaftlichen Forschungen, aber auch verstärkt den Kontakt zu ebenfalls ausgegrenzten deutschen Kollegen, um nicht allein zu sein mit den erlebten Kränkungen und Zurücksetzungen. Über viele Jahre gespannte Beziehungen wandelten sich angesichts der gemeinsam erlebten Bedrohungen zu nahen, etwa zwischen Borchardt, Steindorff und Erman. Mit Erstaunen und Schrecken beobachteten sie die Entwicklungen innerhalb der deutschen Ägytologenschaft, vor allem die Wandlung des unter der Leitung von Hermann Junker stehenden Deutschen Archäologischen Instituts Kairo zu einem Zentrum nationalsozialistischer Aktivitäten. In Kairo blieben die Ausgegrenzten unter sich, hielten Kontakt allenfalls zu Nicht-Deutschen. Ähnlich wie das Deutsche Archäologische Institut Kairo besaß auch das von Adolf Erman initiierte Wörterbuchprojekt verschiedene Funktionen. Es war international angelegt, integrierte demnach deutsche und nicht-deutsche Ägyptologen gleichermaßen, band Letztere überwiegend auch emotional eng an Erman. Was sich schon nach dem Ersten Weltkrieg als Gewinn herausstellte, war es nach 1933 erst recht. Die aus dem Projekt resultierenden internationalen Beziehungen erwiesen sich als tragfähig, sogar lebensrettend. Der Rollenwechsel der internationalen Ägyptologie bestätigte Alan Gardiners Diktum: „science is not a little world of its own quite divorced from the rest of life“4 und widersprach Ermans Überzeugung, dass die Wissenschaft eine unpolitische Sphäre zu sein habe. Letzteres hatte sich freilich schon mehrfach als Irrtum erwiesen, etwa während des Ersten Weltkriegs und nicht zuletzt im Kontext der politisch motivierten Auseinandersetzungen um die Büste der Nofretete.5
3 Hinweis von Frau Isolde Lehnert. 4 Gardiner an Pohl, 24. März 1946. GIO MSS AHG/42.239.15. 5 Vgl. Bénédicte Savoy: Nofretete, 2012, S. 13–16; Susanne Voss: Archäologie, 2012, S. 17–22.
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Tatsächlich übernahm die Ägyptologie mehrfache Funktionen. Mittels des auch nach 1933 kontinuierlichen Austauschs über wissenschaftliche Themen bewiesen nicht-deutsche Ägyptologen ihren verfolgten deutschen Kollegen Loyalität, sie hielten sie integriert und ihr Selbstwertgefühl aufrecht. Die Betroffenen wiederum fanden in ihrer Wissenschaft eine entlastende und stabilisierende Parallelwelt jenseits des aktuellen politischen Geschehens. Das Eintauchen in diese Welt bedeutete vertraute Heimat und Refugium, abzulesen etwa an der Korrespondenz der ‚Großen‘ der deutschen Ägyptologie, Adolf Erman, Georg Stein dorff und Ludwig Borchardt. Die sich in der Krise größtenteils bewährenden internationalen ägyptologisch-orientalistischen Netzwerke zeigten auch Grenzen ihrer Belastbarkeit, etwa in Großbritannien, als es darum ging, dorthin geflohene Ägyptologen, Orientalisten oder Archäologen zu integrieren, ihnen angemessene berufliche Perspektiven zu bieten. Dies fand eher zögerlich statt, weil die Exilanten eben auch Konkurrenten darstellten. Die enormen Verdienste der Helfer schmälert dies indes nicht. Auch Mimi Borchardt klammerte sich, jeder Heimat beraubt, an die Ägyptologie, an die Fortführung des Erbes ihres Ehemannes. Andere sie leitende Identitäten waren ihr genommen, umso mehr musste und wollte sie an der verbliebenen als sinnstiftend festhalten. Nichtsdestotrotz beobachtete sie mit Verbitterung den Zerfall der deutschen Kultur, andere Kulturen galten ihr wenig. „Die gehen mich nichts an (ebenso wenig, wie mich polnische Juden angehen – sondern nur deutsche Juden und andere)“, schrieb sie am 12. April 1938 an Else Oppler-Legband.6 Die Kultur, der sie nachtrauere, sei die „abendländische, die auf den Säulen der Antike und dem jüdisch-christlichen Denken beruht“. Seine „höchste und humanste Blüte“ habe diese von 1750 bis nach „Goethes Tod“ gehabt. Deshalb vertiefte sie sich, zurückgezogen in ihr Heim in Kairo, in die Lektüre von Goethes Briefen. Da sie ohne diese „Kontinuität“ nicht leben könne, leide sie „an diesem Untergang besonders schwer“. Damit bestätigte sie implizit, dass ihr langjähriges Leben im Orient dennoch nie die Distanz zu diesem Umfeld aufzuheben vermochte, sondern ihr vielmehr die deutsche Kultur als die überlegene zu bestätigen schien. Dies spiegelt sich auch in Herbert Rickes Bemerkung, Mimi Borchardt habe Ägypten geliebt, jedoch nicht dessen zeitgenössische Gestalt. Sie glaubte sich gezwungen, fortan „ohne Vaterland“ leben zu müssen, weil „innerlich“ wechseln könne und wolle sie es nicht. Dieser Haltung entsprechend blieb sie ebenso wie ihr Ehemann auch auf Distanz zur Kairener aschkenasisch-jüdischen Gemeinde, denn diese gehörte für sie zum zeitgenössischen, also wenig gesuchten Ägypten. Ägyptischen Juden
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begegnete sie, darin mit Georg Steindorff auf einer Linie, mit Misstrauen und Abwehr, ähnlich wie Ostjuden gegenüber. Anders dagegen Max Meyerhof, der schon vor 1933 die Nähe zur aschkenasisch-jüdischen Gemeinde suchte, die ägyptischen Juden als Erben des von ihm bewunderten mittelalterlichen Arztes und Philosophen Maimonides begriff.7 Letztlich blieb Deutschland die Folie, durch die Mimi Borchardt die andere Gesellschaft, jene des Orients, betrachtete. Er war der Zufluchtsort, als sie sich dem Deutschland der von ihr verachteten Weimarer Republik zu entziehen suchte, wo sie deren Existenz ausblenden und ihr eigenes idealtypisches Deutschland kreieren konnte. Als sich dies ab 1933 als Irrweg bzw. nicht mehr machbar erwies, zog sie sich zurück auf die „wenigen Menschen, die in dieser schlimmen Welt zu uns gehören“, in dem Gedanken, nicht „nach außen“ handeln zu können.8 Damit siedelte sie ihre umfangreichen Hilfsaktivitäten freilich zu niedrig an. Nach 1945 entpuppte sich das Berliner Wörterbuch-Projekt stellenweise als problematisch. Die damit verbundenen internationalen Ägyptologen zögerten aus unterschiedlichen Gründen, es verloren zu geben. Sie fühlten sich Adolf Erman verpflichtet, vor allem aber wollten sie diese wissenschaftlich wertvolle Arbeit nicht aufgeben müssen. Damit wurde diese zu einem ‚Faustpfand‘ in der Hand jener Ägyptologen, die die NS-Zeit genutzt hatten, um ihre eigene Karriere voranzutreiben, ehemalige Konkurrenten oder ihnen lästige Kollegen zu vertreiben und sich gleichzeitig ein Monopol bezüglich der Arbeit am Wörterbuch zu erobern. Augenfällig wird dies zumal am Beispiel von Hermann Grapow. Obwohl sich die internationale Wissenschaftsgemeinschaft einig war, dass solche Persönlichkeiten nicht wieder integriert werden dürften, geschah dies dennoch sukzessive zugunsten des Wörterbuchs bzw. der Wissenschaft. Dass die Geschehnisse und Erfahrungen während der 1930er und 40er Jahre keine Spuren hinterließen, darf trotz anderslautender Auffassungen angezweifelt werden,9 wäre auch nur schwer nachvollziehbar. Welche langfristigen Auswirkungen sie auf die Nachkriegsägyptologie insgesamt hatten, können und sollten freilich am ehesten Ägyptologen ermessen. Fest steht, dass die jahrzehntealte ‚deutsche Kolonie‘ in Ägypten mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten aufhörte zu existieren. Durch den
7 Meyerhof publizierte zahlreiche Abhandlungen zur Geschichte der Medizin in Ägypten, da runter auch etliche über Maimonides, dessen Erbe er nicht nur zu wahren suchte, sondern den er auch für sich selbst als vorbildhaft begriff. 8 MB an Else Oppler-Legband, 12. April 1938. SIK MB 70/7. 9 Auf Nachfrage versicherten mir deutsche Ägyptologen während der Ägyptologentagung 2011 in Leipzig unisono, Folgen habe die NS-Zeit bezüglich der internationalen Zusammenarbeit nicht gezeitigt.
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Ausschluss der prägendsten Mitglieder verlor sie ihren Charakter und wurde, symbolisiert durch das im deutsch-evangelischen Gemeindehaus befindliche „braune Zimmer“, zum Treffpunkt von Nationalsozialisten. Ein weiterer, ebenso wichtiger, fand sich im Kairener Deutschen Archäologischen Institut. An die dramatischen, sich auch in Ägypten und im Kreis der Ägyptendeutschen abspielenden Ereignisse erinnert heute nichts und niemand mehr, ebensowenig wie an die in ihrer Bedeutung kaum zu überschätzende Rolle und Bedeutung der internationalen Ägyptologen- und Orientalistenschaft während der NS-Zeit. Sichtbar werden diese erst, wenn, wie eingangs als Ziel formuliert, viel seitige Spuren verfolgt, Quellen wie etwa die Korrespondenzen von deutschen und nicht-deutschen Ägyptologen gleichermaßen einer intensiven und andern Betrachtung unterzogen werden. Auf diese Weise rückt darüber hinaus der Blick weg von der Täter- hin zur Opferseite, wird der hürden- und folgenreiche, auch der schmerzhafte Loslösungsprozess von Deutschland und jahrzehntelang als verlässlich vermuteten beruflich-sozialen Netzwerken nachvollziehbar. Die vorliegende Studie versteht sich als ersten Einblick in die benannte Thematik, hauptsächlich fokussiert auf die subjektive Perspektive zentraler Persönlichkeiten wie Mimi und Ludwig Borchardt, auch Georg Steindorff und Max Meyerhof. Die Vielzahl vorhandener Quellen fordert weitere, auch inhaltlich anders ausgerichtete Forschungen geradezu heraus, beispielsweise zu Lebensbedingungen von exilierten Archäologinnen, zur Rolle von Ägyptologen- und Orientalistengattinnen,10 zur politischen Bedeutung von Jüdinnen wie der Berliner Politikerin und Freundin Mimi Borchardts, Paula Mühsam, und ihrem Kreis oder zur ungewöhnlich innovativen Bühnen- und Kostümbildnerin, Architektin und Landwirtin Else Oppler-Legband.
10 Die Leipziger, am ÄMUL tätige Ägyptologin Kerstin Seidel plant ein entsprechendes Forschungsprojekt.
Abkürzungen AA Auswärtiges Amt AAC Academic Assistance Council ÄMUL Ägyptisches Museum Leipzig Bodleian Library Oxford BLO Deutsches Archäologisches Institut DAI Deutsches Archäologisches Institut Kairo DAIK Deutsch-evangelische Gemeinde, Archiv (Kairo) DEG Deutsche Orient Bank DOB Deutsche Orient Gesellschaft DOG Egypt Exploration Society EES Griffith Institute Oxford GIO Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden HHSTAW Institut für Stadtgeschichte Frankfurt ISGF Ludwig Borchardt LB Ägyptisches Pfund (Währungseinheit) LE Mimi Borchardt MB NL Nachlass Nachlass Erman NLE Oxford University Press Archives OUPA Politisches Archiv Auswärtiges Amt Berlin PA AA RM Reichsmark Special Collection SC Somerville College Archives SCA SIK Schweizerisches Institut für ägyptische Bauforschung und Altertumskunde (Kairo) Society for the Protection of Science and Learning SPSL Universitätsbibliothek Bremen UBB
DOI 10.1515/9783110526127-008
Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Abb. 2: Abb. 3: Abb. 4: Abb. 5: Abb. 6: Abb. 7: Abb. 8: Abb. 9: Abb. 10: Abb. 11: Abb. 12: Abb. 13: Abb. 14: Abb. 15: Abb. 16: Abb. 17: Abb. 18: Abb. 19: Abb. 20: Abb. 21: Abb. 22: Abb. 23: Abb. 24: Abb. 25: Abb. 26: Abb. 27:
Julie Oppler geb. Stern und Ehemann Theodor Oppler, Jüdisches Museum Berlin, Nachlass Rubensohn 14 Eduard Cohen, Jüdisches Museum Berlin, Nachlass Rubensohn 16 Elternhaus von Mimi Borchardt, Feuerbachstraße 14 in Frankfurt/M, Jüdisches 18 Museum Berlin, Nachlass Rubensohn Familie Oppler in Nürnberg, (v.l.) Julie, Else, Theodor, Friedel Oppler, Jüdisches Museum Berlin, Nachlass Rubensohn 27 Hermann Cohen, Großvater Mimi Borchardts väterlicherseits, Jüdisches Museum Berlin, Nachlass Rubensohn 30 Edwin und Ella Oppler (Schwester von Eduard Cohen, Tante von Mimi Borchardt), Hannover, Jüdisches Museum Berlin, Nachlass Rubensohn 31 Mimi Borchardt und Friedel Oppler-Rubensohn, Kairo 1909, DAIK Keimer-Mey + 289, II-047-kl 48 Ehepaar Rubensohn, 1909 in Kairo, Jüdisches Museum Berlin, Nachlass Rubensohn 50 Porträt James Henry Breasted, ÄMUL Nachlass Steindorff 120 Walter Crum mit Ehefrau, ÄMUL Nachlass Steindorff 130 Orientalistentag 1926 in Hamburg. Vordere Reihe 3.v.l. Mimi Borchardt, 5.v.l. Georg Steindorff, 3.v.r. Adolf Erman, 1.v.r. Eduard Meyer, ÄMUL Nachlass Steindorff 145 Deutsches Haus in Theben, 1927, Jüdisches Museum Berlin, Nachlass Rubensohn 175 Max Meyerhof (2.v.r.) mit Familie Uppenkamp in Kairo-Maadi, 1920er Jahre, Privat 177 Mimi Borchardt, Gartenfest in ihrer Villa (Kairo), 1920er Jahre, Privat 183 Walther Uppenkamp, 1920er Jahre, Privat 190 Georg Steindorff in Ägypten, 1912/14, ÄMUL Nachlass Steindorff 197 Beerdigung, deutscher Friedhof in Kairo, 1930er Jahre, Privat 219 Hector Liebhaber mit Ehefrau und Diakonissin Hanna Freitag, Privat 221 Deutscher Dampfer „Emden“, 1939 in Port Said, Privat 237 Fritz Dahm, um 1933 in Kairo, Privat 244 Hermann Junker (6.v.l.) mit Gästen (1.v.r. Dittmann), Grabung in Merimde, Ägypten späte 1930er Jahre, ÄMUL Nachlass Steindorff 280 Hugo Picard in Kairo, PA AA Berlin 290 Hermann Engel in Kairo, PA AA Berlin 299 Brüder Berthold und Sigmund Oppler, Söhne von Edwin und Ella Oppler, Vettern von Mimi Borchardt, Jüdisches Museum Berlin, Nachlass Rubensohn 326 Mimi Borchardt mit Ehepaar Rubensohn in der Schweiz, Mitte 1930er Jahre, Jüdisches Museum Berlin, Nachlass Rubensohn 330 Else Oppler-Legband, um 1900, Jüdisches Museum Berlin, Nachlass Rubensohn 332 Ehepaar Friedel und Otto Rubensohn, Zürich, 1950er Jahre, Jüdisches Museum Berlin, Nachlass Rubensohn 335
DOI 10.1515/9783110526127-009
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Abbildungsverzeichnis
Abb. 28: Brief Adolf Ermans an Norman de Garis Davies, Griffith Institute Oxford, 390 Korrespondenz Davies Abb. 29: Ehepaar Käthe und Adolf Erman mit Enkelin, um 1935 in Berlin-Dahlem, ÄMUL Nachlass Steindorff 406 Abb. 30: Ludwig Borchardt, Ägypten, etwa 1937, ÄMUL Nachlass Steindorff 408 Abb. 31: Mimi Borchardt und George Reisner, Mitte 1930er Jahre, ÄMUL Nachlass Steindorff 412 Abb. 32: Georg Steindorff, Mitte 1930er Jahre in Leipzig, ÄMUL Nachlass Steindorff 456 Abb. 33: Georg Steindorff mit Ehepaar Elise und Max Meyerhof auf Zypern, 1936, ÄMUL Nachlass Steindorff 468 Abb. 34: Percy Newberry, ÄMUL Nachlass Steindorff 474 Abb. 35: Familie Guttmann, Freunde von Georg Steindorff, auf der Überfahrt nach Nord-Amerika, ÄMUL Nachlass Steindorff 478 Abb. 36: Mimi Borchardt mit Ehepaar Ricke und deren beiden Töchtern, 1940er Jahre in der Schweiz, Privat 516
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Register Durchgängig auftauchende Begriffe und Namen wie Mimi Borchardt, Ludwig Borchardt, ‚deutsche Kolonie‘, deutsche Gesandtschaft, Juden- (Jüdische Gemeinde), Nationalsozialismus (Nationalsozialisten), NSDAP, Ägypten, Kairo, England (Großbritannien), Nord Amerika (USA) sind nicht aufgeführt.
A.Kuhn’sche Stipendienstiftung 32 Abusir-Papyri 423 Abusir (Ägypten) 25, 35f Academic Assistance Council (AAC) (s. auch Society for the Protection of Science and Learning) 7, 291, 303f, 325, 344, 359, 365, 396–400, 403, 430, 433–436, 438, 445, 448, 452, 534 Adams, Walter 396f, 433 Ahlem 31, 336 Al Ahram 233f, 250, 252 Alexandria 20, 34, 37–41, 54–58, 60, 69, 71, 73f, 81, 83, 86, 149–152, 154–156, 162, 165, 173, 176, 189, 193, 198, 206, 209, 212, 216, 223, 228, 233, 235–237, 241, 245, 247, 254–258, 260, 263f, 266f, 269–274, 277, 285f, 288, 291–297, 301f, 324, 377, 404, 410, 420, 469 Alldeutscher Verein 88, 90, 124f, 127, 137 Allenby, Edmund 54, 85, 141f, 148, 150–153, 160, 210 Alliance Israélite 30, 258 Anthes, Elisabeth 187–189 Anthes, Rudolf 134, 163, 187f, 256, 271, 382–384, 408, 472, 476, 480–482, 486, 488f, 491, 494–496, 498, 503, 505, 508f, 512–514, 517 Antikendienst 46, 49, 113, 121, 134, 142f, 160, 162, 178, 295, 400, 482 Antisemitismus 9, 33, 45, 65, 87–93, 97f, 146, 214, 245, 247–249, 264, 266, 269, 317, 341, 352f, 374, 411, 432, 441f, 444, 459, 529 Arnold, Olney (amerikan. Generalkonsul) 57, 71f Ascona 347f, 409, 492
DOI 10.1515/9783110526127-012
Ashmolean Museum Oxford 143, 416, 440, 445f, 448, 450, 512 Assuan 12, 39, 41, 131, 162, 193, 197f, 262, 270, 357 Auergesellschaft Berlin 314f, 321 Auswärtiges Amt VI, 29, 60, 70f, 76, 105, 153, 164f, 170–178, 180f, 185, 187, 189, 194, 202, 224–226, 234–236, 241, 253f, 270, 286, 534 B’nai B’rith Loge 266, 268f, 431f Baerwald, Julius 32, 336 Ballog, Ladislaus 292 Bardi, Benno 294f, 349 Baumgärtel, Elise 414, 429, 447, 449f, 454, 487 Behne, Adolf 351 Behrens, Leffmann 2, 16 Belgien 36, 63–65, 100, 104, 107–109, 113, 121, 132, 137f, 140, 301, 405, 431, 458 Bell, Harold Idris 381, 440, 463, 518 Bendix, Jakob Bernhard 300 Bendix-Weiser, Alice 300 Bénédite, Georges 199f, 204 Berend, Fritz 154, 376, 379 Berggrün, M. Joseph 173f Bergsträsser, Gotthelf 107, 164, 168, 292, 502 Berliner Schule 43, 99, 141, 315 Bersu, Gerhard 454 Berve, Helmut 470f Beveridge, William 433 Bieber, Margarete 429, 445, 448, 452, 454, 487 Bissing, Friedrich von 1, 9, 46, 65, 70, 105, 107, 132f, 137f, 351, 464, 471, 489, 491, 510
Register
Bitschai, Jacob 292f Bitter, Heinrich 70, 83 Bitter, Margarete 83, 243 Blackman, Aylward 127, 131, 138, 398f, 440, 499 Blauhemden 213f Bolivien 401, 487 Bollacher, Alfred 49, 134, 199, 342 Bonn, Moritz 25 Bonnet, Hans 481, 482, 486, 489–491, 494, 496f, 503 Borchardt Institut 21, 333, 343, 349, 392, 407–429, 515, 517, 524 Borchardt(-Rothschild), Eva 305, 308–310, 312–316, 318f, 321–324, 416 Borchardt, Else 48, 305–310, 318, 329f Borchardt, Georg (Hermann) VII, 6, 97, 305, 308–316, 323f, 329, 524 Borchardt, Heinrich 44, 49, 64f, 281, 305–310, 375f Borchardt, Hilde 305, 308–312 Borchardt, Liese 305, 308f, 315 Borchardt, Martha 305, 308f Borchardt, Ursula 305, 308f Born, Max 343–346, 355 Borromäerinnen 72, 86, 172f, 189, 194, 204, 228 Bosse, Käthe 362, 414, 417, 429f, 438, 446f, 454, 462, 487, 511f Bothmer, Bernhard von 486, 489f, 494 Boykott 10, 31, 58, 133, 213f, 225f, 229f, 239, 247f, 250, 254–256, 266–268, 432, 458, 494, 525 Brasilien 242, 272, 394, 401, 467, 487, 514, 521, 523 Breasted, James Henry 99, 101f, 108, 118–123, 129, 134f, 141–144, 160, 197, 199–202, 358, 381, 394–397, 400, 464, 484f, 489, 493, 498, 528 Breccia, Evaristo 162, 206 Brendel, Otto 304 Breslauer, Alfred 343, 355 Brierly, James L. 397f, 437 Brunner, Helmut 398f, 504, 510f Bruyère, Bernard 200 Bull, Ludlow 134, 404, 483–485, 493 Bund der Auslandsdeutschen 67, 73, 80, 158
561
Calderon, Jacques 172, 185, 271, 274, 469 Calvi, Wilhelm Salomon 314, 319 Capart, Jean 133, 137, 141, 144, 201, 396, 427, 495 Carter, Howard 44, 51, 75, 162, 192, 203f, 350 Castro, Léon 229, 230, 239, 245, 248, 253–255, 264, 266, 279 Cattaui Familie 42, 153, 259–263, 265, 269, 283, 300 Centralverband deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV) 78, 87, 89f, 92, 96–98, 246 Chicago House 199, 351, 361, 392 Chiusa d’Isarco (=Klausen) 329, 331, 358, 379 Cincinnati (USA) 17 Club Hansa (Kairo) 169, 179–181 Cohen, David (Amsterdam) 52, 314, 316f, 341, 527 Cohen, Eduard 2, 12–16, 19, 21, 23–26, 30f, 33, 66, 325, 329, 341, 375, 527 Cohen, Hermann (Marburg) 66, 87, 107, 184 Cohen(-Kuhn), Ida 2, 12, 15, 17, 19, 21, 24, 26f, 32, 45, 78, 336, 375 Cohen, Philipp Abraham 15 Cohen, Sophie 2, 12, 15, 23, 48, 226, 313, 328, 335–337, 382 Crum, Walter Ewing 99, 114, 116, 118, 124, 126f, 129f, 138, 143, 160, 195f, 350, 381, 383, 386–389, 403, 416, 463, 475, 483 Curtius, Ludwig 281, 304 Czermak, Wilhelm Dahm, Fritz 83, 180, 186, 220, 222, 240–245 Dänemark 117, 123, 126f, 133, 137, 309, 362, 366, 413f, 452, 481, 487, 512, 527 Darbishire, Helen 445–448, 450 Davies, Norman de Garis 49, 51, 110, 119, 129, 131, 139, 141f, 144, 162, 200, 202, 324, 350, 383, 388–390, 392, 411, 414–421, 426, 428, 463f, 469, 475, 479f, 507, 527f DeBuck, Adriaan 118, 196, 381, 427 Declaration to Egypt 150, 159, 210, 287 Degussa (Frankfurt) 15, 314 Dehmel, Richard und Paula 103, 107, 460, 492 Demuth, Fritz 359, 433
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Register
Deutsche Orient Bank (=DOB) 29, 55f, 59f, 68f, 72f, 84, 224, 254, 366 Deutsche Volkspartei (=DVP) 87, 90, 92, 94–98 Deutscher Frauenverein Kairo 29, 32, 43, 53, 170, 179, 181–184, 193, 227, 255, 275–277, 294, 382, 525f Deutscher Verein Kairo 43, 150, 156, 170, 179–182, 185, 187–189, 220, 222, 226–228, 230, 235, 238f, 241, 243, 245, 248, 254f, 275–278, 280 Deutschnationale Volkspartei (=DNVP) 88, 94, 98, 125, 217, 246, 281, 374, 501 Diemke, Willy 280, 490, 510 Diewerge, Wolfgang 220, 235, 240–243, 247f, 255, 279 Dittrich, Max 223–225, 277, 297 Dörpfeld, Wilhelm 28, 47, 64, 350 Dresdner Bank 223f, 224, 234, 236f, 251f, 274, 297 Dreyfus, Albert 276, 373 Driesen, Otto 315 Drioton, Étienne 295, 334, 412, 423, 428, 484, 486, 490, 493, 495, 506, 509, 517, 519 Dumreicher, André von 206 Dunham, Dows 118f, 202, 206, 477, 479, 484, 494 Edgar, Campbell 71, 162, 201f, 204, 381 Egypt Exploration Society (=EES) 51, 71, 129, 131, 140, 163, 356, 364, 399, 416f, 474, 502, 507 Einstein, Albert 216, 343–345, 435, 437, 484 Eiseck, Ida und Hans 329, 331, 358, 375, 379 Eliassow, Alfred 376 Ellinger, Leo 25 Engel, Hermann 298–300, 302, 410 Engelbach, Reginald 320, 417 Erklärung der Hochschullehrer des Deutschen Reiches (1914) 104, 106f, 110, 114, 122, 124f, 128 Erman, Adolf 1, 6f, 12f, 28, 37, 43f, 47, 72, 75, 87, 90, 99, 101–142, 145, 147, 160–165, 167f, 194–197, 208, 228, 341, 381, 383–397, 400, 405f, 427–429, 449, 455, 457–465, 472, 473, 481, 482, 485f, 488, 495, 504–506, 508, 522f, 526–532
Erman, Henri 99, 122, 125, 393 Erman, Peter 99, 103, 105, 122–124 Esberg (Geheimrat, Hannover) 25, 47 Faber-Goldschmidt, Hermann 24 Faruk (König) 192, 210f, 215, 236, 238, 288 Fechheimer, Hedwig 49, 359, 365 Feuerbachstraße 14 (Frankfurt/M.) 14f, 17f, 336–340, 385 Firth, Cecil 49, 95, 118, 162, 202, 204 Flinders Petrie, William Mathew 49, 128, 130f, 416 Foreign Office 186, 252, 417f, 420, 422 Fouad (König) 151, 162, 164, 167, 179, 192, 202, 210f, 219, 262, 268, 288 Foucart, Georges 162, 349 Fränkel, Eduard 388, 430, 451, 453 Frankfort, Henri 417, 511, 519 Frankfurt/Main 1–4, 6, 8, 12–21, 23–26, 29–33, 45, 53f, 63, 78, 87, 91, 93, 107, 110, 163, 168, 180, 192, 206, 220, 227, 243, 245f, 276, 291, 298f, 301–303, 306, 315, 336–341, 345, 359, 368, 385, 410, 431, 433, 436, 443, 448, 452, 504, 510, 527, 529 Frankreich 36, 38, 52, 54, 65, 100, 108, 118, 132, 134f, 138, 140f, 143, 160, 168, 176, 178, 212, 215, 218, 235, 242, 262, 295, 299, 315, 322, 344, 346, 368, 370, 378, 385, 393, 405, 415, 442, 483, 489, 497 Freimaurerloge 266, 295, 383 Frisch, Max 331 Fulda, Ludwig 24, 107, 110 Furtwängler, Adolf 19, 28, 47 Gardiner(-von Rosen), Heddie 126, 460, 480 Gardiner, Alan Henderson 7, 44, 51, 99, 106, 113, 116, 118, 123, 126f, 131, 139–144, 164, 194–196, 324, 350, 360, 381, 387, 389, 391f, 395f, 399–405, 411, 413–428, 457–463, 465–467, 471–485, 488f, 492–523, 527–530 Gardiner, Rolf 460 Gardner, Percy (Oxford) 108 Gaselee, Stephen 418, 420–422, 424 Gemischte Gerichte 37, 178, 230, 241–243, 245, 249, 257, 268, 282 Geographenkongress 201f
Register
Gesireh (s. auch Zamalek) 20–22, 39, 47, 156, 192, 279 Gießen 68, 429, 445, 448 Giza 36, 118, 173, 191, 193, 201f, 204, 206, 248, 259, 301, 391, 416, 467, 504 Glanville, Stephen 398f, 401, 417, 449f, 461, 510f, 518f Goebbels, Joseph 238, 240, 279, 461, 490 Goldscheider, Friedrich 298 Goldschmidt, Viktor 163f Goldstein, Léon (Kairo) 225f Golenischeff, Vladimir 114, 137, 168, 488f, 519 Grabungshaus (s. auch Theben) 44, 75 Grapow, Hermann 9, 113, 127, 138, 141, 318, 356, 383, 402, 405, 407, 457, 461, 463, 472f, 476, 480–482, 488–491, 495–497, 499, 501, 503, 505–510, 512, 514, 519, 521f, 532 Grdseloff, Bernhard 425 Grégoire, Henri 452 Griffith Institut Oxford VI, 7, 415, 440, 446f, 450, 481, 483, 493 Griffith, Francis Llewellyn 127f, 131, 141–144, 162, 350, 398, 416f, 461, 463, 471 Grohmann, Adolf 479, 491 Grünebaum, Gustav. E. von 402f Grunfeld, Emmanuel (Kairo) 261 Handelskammer, deutsche 176, 222, 226, 230, 252–254, 262, 278 Hannover 1f, 6, 12, 14–16, 25f, 29–33, 47f, 55, 62, 83, 90, 110, 154f, 166, 201, 235, 326, 329, 384, 517 Hasselbach, Willi und Olga 29, 42, 58, 61, 66f, 69f, 72, 81f, 84, 169 Heichelheim, Fritz 436, 448 Heidelberg 24, 34, 37, 47, 49, 91, 110–112, 124, 163f, 168, 198, 291, 304, 308, 311–313, 319, 342, 349, 351, 388, 395, 403f, 406, 428f, 443, 462, 487, 503, 506, 508 Heimpel, Hermann 470 Heluan (Ägypten) 12f, 186, 226, 261, 501 Hermann, Alfred 255, 279, 480, 489–491, 510 Herxheim (Pfalz) 17 Herz, Max 145, 263
563
Hess, Alfred 185, 209, 223, 228, 230, 235, 237, 240f, 279, 523 Hess, Jean-Jacques 62, 95, 141, 404 Hess, Rudolf 185, 209, 223, 237, 249, 277, 523 Heyman, Julius 24 Hickmann, Hans 294, 296 Hilversum 305, 308, 312, 316, 323f, 347 Hölscher, Uvo 48f, 107, 201, 203, 206f, 361, 384, 489f Home Office 322, 353, 356, 414, 418, 420, 422, 431f Hornblower, G.D. 356f Horovitz, Josef 168, 206 Huldschinsky, Kurt 293, 296 Hunt, Arthur 131, 399 Hyam, Edward 412, 419f, 424 Ibscher, Hugo 318, 360, 403, 415, 423, 479, 499f, 518 Indien 75, 206, 236, 344–346, 398, 487 Internierung (Internierte) 58, 61f, 68f, 73, 80f, 146, 172, 192, 206, 216f, 220, 238, 243, 272, 282, 296, 325, 329, 331, 345, 355, 401, 434, 437, 444, 452, 480f, 483, 487 Jabès, Umberto 230, 239, 244, 247f, 254, 267 Jacobsohn (Familie) 342 Jacobsohn, Helmuth 395, 462 Jacobsohn, Hermann (Marburg) 107, 395 Jacobsthal, Paul 414, 430, 453f, 487 Jacoby, Felix 136, 430, 453f Jaffé, Theophil 13 Jellinek, Paula 342 Jewish Refugees Committee (=JRC) 431f, 434 Joel, Walter 294, 296, 301 Journal de Caire 234, 251 Judenvermögensabgabe 328, 333 Jüdische Gemeinde Frankfurt VII, 2, 19, 301, 336–340, 527, 529 Jüdisches Hilfskomitee 282f Junges Ägypten (=Grünhemden) 214 Junker, Hermann 9, 21, 161, 175, 196, 201–203, 234, 255, 276, 279f, 303, 351, 384, 386, 407, 457, 461, 472, 489–491, 498, 500, 504, 508–510, 523, 530
564
Register
Kahle, Paul 42, 51, 63, 68, 317, 430, 454, 479, 487, 431 Kairo-Maadi 62, 72, 83, 157, 166, 173, 177, 189, 191, 229, 240, 271–274, 293 Kaiserlich Deutsches Institut für ägyptische Altertumskunde 28, 33, 44f Kalb, Adolf 35, 47 Kalifornien 293, 378, 466, 472, 474, 477f, 480, 492, 504 Kamil, Mustafa 36 Kapitulationen Karig, Werner und Heti 42, 182, 185–188, 194, 219f, 222, 228, 270, 274 Kassel 1, 6, 28, 47, 51, 63, 329, 506 Katz, Fritz 296f Kees, Hermann 9, 103, 351, 386, 403, 407, 457, 461, 472f, 476, 489–491, 495–498, 500f, 504, 507f, 521–523 Kehren, Hans und Elisabeth 29, 32, 49, 166, 384 Keimer, Ludwig 351, 469, 484, 487, 489–491, 493f, 519, 523 Khartoum 73, 270 Khedive Abbas Hilmi II 54, 58, 164 Khedive Ismail 21, 38, 42 Kippenberg, Anton 198, 202 Kirche, deutsche 41f, 68, 72, 156, 180, 182, 185f, 222, 227 Kohn, Aaron Mendel (Kairo) 261 Kohn, Hans 216 Kohnstamm (Sanatorium in Königstein/ Ts.) 45, 78, 336, 377f Kolmar, Grete 378f Kolmar, Hanns 378 Königsberg 47, 164, 168, 280, 292, 376, 392, 313, 394, 396, 397, 399f, 438, 449, 452, 454, 487 Königsberger, Otto 279, 281, 332, 343–347, 354–356, 366, 413, 421, 462, 470, 487, 527 Konzentrationslager 61, 275, 327–329, 443, 509, 511 Körte, Alfred 470 Krahn, Otto 227, 276 Kraus, Paul 293, 295, 300, 301, 529 Kuhn Loeb & Company 2, 17, 309, 431 Kuhn, Abraham 2, 15, 17, 21, 32, 378, 431
Kuhn, Marx 17 Kuhn, Samuel 17 Kuhn-Cohen’sche Familienstiftung 32, 336 La Bourse Égyptienne 231, 251–253, 255, 341 Labowsky, Lotte 429, 438, 446f Lacau, Pierre 127, 134, 138, 140, 143f, 160, 162, 178, 400, 512, 514, 519 Landsberger, Benno 471, 498 Landshut, Siegfried 283, 349 Lange, Hans Ostenfeldt 110, 117, 123–127, 133, 135–142, 195, 381–383, 387, 402, 411–414, 420, 428, 481, 519, 528 Lansing, Ambrose 205, 381 Laski, Neville 391, 431f Laszlo, Philip de 193, 318, 416 Laszlo, H. de 318–325 Lehmann-Hartleben, Karl 303f Leibovitch, Joseph 283 Leipzig 506, 523, 526, 530, 532f Levy-Lenz, Ludwig 292, 302, 354 Lichtenstern, Emil Max 272 Lichtenstern, Joseph Max 83, 157, 166, 254, 272 Liebhaber, Hector 83, 185, 220, 221f, 240f, 243, 254, 271–273, 487 Liederkranz (Kairo) 150, 179, 181 Lindemann, Rudolf 54, 74, 83, 150 Lion, Ludwig 83, 176, 182, 185, 254, 409f Liscovitch, Isaac 274 Littmann, Enno 86, 101, 165f, 168, 173f, 374, 479 Loeb, James 19f, 25f, 336, 347 Loeb, Morris 17, 25f Loeb, Regina 17 Loeb, Salomon 17, 19, 26 Loeb, Therese 17, 26 Looss, Arthur 35, 70 Luchs, Ludwig 174, 185, 226, 276 Lutfi al-Sayyid, Ahmad 166–168, 206 Luxor 39, 41, 49, 134, 139, 142, 188, 193, 197–199, 202, 204f, 276, 343, 351, 364, 371, 373, 384, 392, 424, 427 Lyons, Henry 13, 203, 415 Lythgoe, Albert 119, 200, 202, 204 Maas, Paul 136, 430, 438, 452, 454, 487 Mahir, Ali 215
Register
Maleh, Jacques 225, 267 Mallorca 346–348, 351, 353 Malta 58, 60–62, 68f, 73, 80f, 220 Mann, Thomas 11 Maspero, Gaston 46, 110, 121, 124, 132, 141, 199, 386, 400, 423 Maystre, Charles 517 McMahon, Henry 54, 75 Meeteren, Wilhelm van 176, 180–182, 186f, 227, 230, 232, 235, 239, 248, 254f, 274, 278, 469 Mehlich, Ernst 394 Mendelsohn, Erich 347, 350f, 355 Menghin, Oswald Franz 279, 479, 491 Meran VII, 7, 301, 306, 329, 330f, 529 Mertens, Josef 153, 157, 164, 170, 171, 203, 206, 209 Merton, Raphael 2, 15 Merton, Wilhelm 2, 16 Meyer, Eduard 99, 101f, 105–109, 121, 124f, 132, 145, 158, 438, 453 Meyerhof, Max 5, 7, 9, 26, 32, 35, 42, 47, 49, 52, 55, 62, 66, 68–76, 83, 85f, 90f, 95, 97, 110, 147, 150, 154–161, 163–169, 171, 173, 175, 176–178, 182, 185, 189, 192f, 196, 200f, 204–206, 220, 226, 228, 237f, 254–256, 263, 270f, 277, 281–284, 291–293, 298–303, 341–343, 360f, 366, 379f, 396–400, 402f, 409f, 422, 450, 454, 468f, 479, 485, 489, 491, 515, 525–530, 532f Mez, Gustav 69, 169, 179f, 187, 219f, 220, 226 Mittwoch, Eugen 293, 385, 423 Mohamed Mohebb Pasha 161, 164 Mond, Alfred 367 Mond, Robert 51f, 130, 143, 314–321, 323, 367, 391, 416, 449f, 527 Morawetz, Ernst 185, 273, 297f Moret, Alexandre 141, 405 Moss, Rosalind 350, 463, 503, 519 Mosseri Familie 259f, 263–265, 298, 300f, 469 Mosseri, Elie 469 Mühsam, Paula 90, 94, 96, 533 München 1, 19f, 20, 25, 41, 46f, 83, 111, 132, 142, 161–164, 234, 249, 279, 291,
565
303, 318, 325, 327f, 346, 360, 381, 395, 428, 443, 454, 462, 480f, 496–498, 500–508, 510–512 Münster 154, 242, 255, 303, 379, 462, 465 Munzel, Kurt 236, 238, 254 Murnau 19, 20, 336, 347 Murray, Gilbert (Oxford) 108, 136, 437–439, 444f, 450, 452–454, 471 Muslimbrüder 212f, 268 Nahum, Haim 261, 265–267, 269 Naumann, Max 95–98, 244–246, 341 Naville, Edouard 106, 118, 128, 141, 154, 196, 416, 423 Neißer-Hallgarten, Emma 2, 23, 487 Nelson, Harold 199, 392, 427, 515 Neugebauer, Otto 404f Neustadt, Paula 24 New York 2, 17, 24, 32, 87, 119, 162, 199f, 205, 261, 300, 304, 328, 334, 336, 344, 368–372, 376, 388, 398, 402f, 405, 431, 446, 448, 450, 462f, 466, 472, 478, 481, 484, 492 Newberry, Percy 7, 292, 324, 350, 384, 391, 416, 429, 457, 461, 463–466, 471, 474f, 480f, 483, 485, 510f, 519, 527 Niederlande 52, 248, 308, 312, 314, 316–318, 321–323, 328, 341, 347, 365, 371, 381, 417, 443, 446, 498, 527 Nofretete 44, 139, 383, 517, 530 Nürnberg 6, 14, 21, 26f, 96, 214, 234, 329 Ochs, Karl Wilhelm 354f Olden, Rudolf 436–438, 442, 471 Olympische Spiele 231f, 262 Oppenheim, Alfred 2, 23, 25 Oppenheim, Max von 24, 33, 385 Oppenheim, Stefanie 2, 23 Oppenheimer, Franz 87, 95, 208 Oppler(-Legband), Else VII, 1, 7, 21, 27f, 53, 304, 309, 329–333, 340, 347, 418, 421, 487, 525, 529, 531–533 Oppler(-Rubensohn), Friedel 23, 26–28, 47–49, 67, 95, 100, 306, 329–335, 425, 431, 487, 529 Oppler, Alexander 326, 328 Oppler, Berthold 325–328, 365
566
Register
Oppler, Edwin 2, 16, 31, 325–329 Oppler(-Cohen), Ella 14, 16, 25, 31, 325f, 329 Oppler(-Stern), Julie 14, 27, 329, 331–333 Oppler, Sigmund 326, 328 Oppler, Theodor 14, 27, 329 Oriental Institute Chicago 121, 144, 427, 471, 484, 493 Orientalistenkongress 128, 144, 350, 395, 463f, 501, 512, 514 Osnabrück 69, 73, 83, 154, 222, 379 Ostjuden 88f, 98, 245, 459f, 486, 532 Ow-Wachendorf, Wernher von 235f, 285, 441 Oxford 7f, 42, 49, 108, 119, 124, 128, 130–132, 136, 141–144, 162, 324, 344, 351, 359–366, 388f, 397–399, 401, 411, 413, 415–420, 429–455, 461, 463, 471, 481, 487, 491, 493, 497, 499, 503, 511f, 518, 527 Oxford University Press (=OUP) VI, 8, 359f, 364, 430, 440f, 451–454 Palästina 40, 51, 74, 81, 146, 152, 213–216, 227, 236, 254, 260, 266–269, 295, 297f, 300f, 308, 315, 343, 345, 349–351, 357f, 377, 403, 416, 442, 467 Paneth, Friedrich Adolf 397–400 Pannwitz, Eberhard von 54–58 Papyruskartell 28, 329 Paris 19–21, 51, 56, 110, 124, 141, 152, 166, 171, 216, 235, 241f, 245, 247f, 261, 263, 266, 276, 295, 298, 316, 318, 320, 324, 348, 368–370, 373–375, 378, 405, 415, 417, 428, 443, 480, 512–514 Peinert, Max 191, 228, 274, 276 Pelizaeus Museum Hildesheim 100, 329 Pepino, Jan Joseph 282 Peretz, Henri (Kairo) 154, 157 Pfahl, Leo 83, 197, 202, 205f Pflüger, Kurt 404 Philae (Ägypten) 13, 15 Philipp, Hans 373 Philips Werke 315f, 325 Picard, Hugo 263, 274, 290–292, 298, 302, 380, 409f, 426 Pilger, Hans 171f, 177f, 180, 222, 230, 234f, 239, 241–243, 247, 255, 286, 291 Pinsker, Leo 352 Pohl, Alfred 498–501, 506, 511, 521, 530
Polotsky, Hans Jakob 381, 387, 403, 493, 519 Port Said 34, 39, 54–57, 60, 148, 154, 158, 176, 196, 209, 228, 237, 260, 264, 266–270, 301f Posener, Georges 349, 405, 494f, 501, 519 Presse (Ägypten) 56, 151, 178, 210, 229, 232, 235f, 242, 247, 250–253, 268, 275 Prüfer, Curt 32f, 37, 74, 95, 163, 232, 234, 237, 253, 523 Public Custodian 67, 84, 153f Quibell, James 44, 49, 71, 139, 141, 143, 162, 201, 205, 416 Ranke, Hermann 37, 47, 110–114, 164, 351, 392, 403–406, 428, 455, 462, 477, 487, 496, 503, 506, 508, 512, 514, 521 Ransom-Williams, Caroline 99, 119, 121, 381, 391f, 504f Refugee Committee Oxford 438, 442 Reichsfluchtsteuer 324, 333 Reisner, George 20, 28, 49, 51, 59, 61, 68, 70f, 99, 102, 104–106, 118f, 129, 131, 134, 162, 200, 202, 206, 226, 228, 263, 334, 356, 381, 384, 391, 398, 411f, 414, 419, 421f, 426, 428, 467, 459, 472, 477, 527f Ricke, Herbert 53, 163, 271, 354, 357, 363f, 380, 383, 391, 408, 412f, 419–422, 424–428, 480, 489, 494, 498, 506f, 514–519, 524, 531 Rilke, Rainer Maria 1 Roberts, Brian 361, 364, 450 Roberts, Colin H. 359, 360f, 451f Rodd, Rennell 415 Roeder, Günther 107, 383, 449, 457, 479, 481f, 488–491, 495f, 499, 502f, 510, 513, 519 Rofé, Isaac 185, 271 Rom 41, 61, 102, 255, 281, 303–305, 307, 309f, 350, 369, 395, 415, 463f, 498–502 Rosenberg(-Eliassow), Dora 376 Rosenberg, Max 291, 300, 409f Rothschild, Max (Kairo) 176, 185, 254, 271 Rothschild, Siegfried VI, 305, 310–325, 329 Rubensohn, Käte 100, 324, 329–333, 361f, 380
Register Rubensohn, Otto VI, 6, 28, 47, 49–51, 86, 89, 95, 100f, 329–335, 361, 424f, 431, 482, 487, 526, 529 Ruska, Julius F. 163 Rye (USA) 372f Sachs, Baruch 261 Sachs, Julius 25 Said-Ruete, Rudolph und Therese 366f Samsonschule Wolfenbüttel 29 Samter, Martin 182, 185, 273, 282f, 409 Sander-Hansen, Constantin Emil 284, 402f, 463, 493, 506f, 512, 519f Schacht, Joseph 47, 292f, 374, 385, 402, 454, 469, 485 Schadewaldt, Wolfgang 470f Schaedel, Herbert D. 465 Schäfer, Heinrich 49, 103, 110f, 126, 131, 134, 139f, 144, 160f, 163, 165, 197, 204, 279, 387, 396, 401, 407, 475f, 489, 491, 504, 506 Scharff, Alexander 163f, 395, 408, 417, 428f, 459f, 462, 470, 479, 481f, 486, 488–491, 494–512, 514 Schiff, Alfred 47 Schiff, Ernst 431 Schiff, Jakob (Frankfurt, New York) 2, 17f, 20, 25f, 31, 63, 87, 90, 104, 146f, 168, 206, 368, 375, 431 Schiff, Ludwig (Frankfurt) 87, 368 Schiff, Otto (London) 368, 370, 376, 431 Schiff, Philipp (Frankfurt) 63, 168, 368 Schlesinger, Erwin 182, 185, 228f, 256, 263, 271, 274, 291f, 300, 341, 345, 349, 354, 409f, 421 Schlesinger, Julius 336 Schmidt-Rölke 202f, 233 Schmitz, Paul (Frankfurt, Kairo) 227 Schott, Siegfried 172, 351, 382, 406, 488–490, 504, 507, 521 Schroeder, Hans 185, 228, 241, 471, 523f Schroetter, Erich 84, 148, 151–153, 156f, 159 Schule, deutsche 32, 42f, 53, 61, 68f, 76, 81, 83, 86, 145, 169, 172f, 178, 182, 184–189, 191f, 204, 220, 228f, 256, 269, 274f, 382, 526 Schulz, Friedrich Wilhelm (Kairo) 156, 276 Schulz, Wilhelm 83, 276
567
Schwab, Anna 431f Schwartz, Philipp 344, 359, 433 Schweden 38, 124, 167, 191, 216, 329, 333, 340, 342, 487 Schweiz 41, 62, 73, 82, 92, 95, 105, 113, 149, 180, 262, 294, 309f, 324f, 327f, 330, 332–345, 347, 349, 357f, 364, 367–370, 372, 374, 378, 380, 393, 396, 407, 409, 411, 417, 419, 421–429, 433, 446, 449, 465, 487, 490, 514–517, 523 Segal, Arthur 346–348, 351, 353, 357 Segal, Walter 328, 346–359, 361f, 364f, 430, 433, 487, 492, 527 Seligman, Charles Gabriel 44, 442, 449 Sequestrierung 84, 95, 110, 146 Sethe, Kurt 45, 48, 107, 113, 116, 118, 126, 134, 142, 163, 195–197, 204, 318, 351, 385–387, 395, 402–405, 427, 429, 449, 455, 459, 461f, 475, 482, 501, 507f, 519, 522f Shepheard’s Hotel 37, 74, 158, 165, 193, 196, 203 Siemens 176, 180, 192, 203, 230, 301 Simon, James 46, 52 Simon, Moritz (Hannover) 31 Sobernheim, Clara 87, 367–376, 380, 487 Sobernheim, Moritz 87, 201, 367f Society for the Protection of Science and Learning (=SPSL) 42, 325, 365, 433, 435f, 438, 446, 449–451, 453 Somerville College Oxford 8, 362, 398, 429, 437, 444–448, 450, 512 Spiegelberg, Wilhelm 1, 26, 32f, 45–47, 49, 75, 107, 110–112, 116, 137, 160, 166, 387, 504 Spinak, Bernhard 377f Spittel, Hans 357f Städel (Frankfurt) 25 Steindorff, Elise 24, 47, 103, 208, 467, 471, 475, 478f, 484, 492 Steindorff, Georg 1, 6–9, 24, 28, 33, 44, 46f, 49, 53, 86f, 90, 95, 99, 102–107, 110f, 113–118, 124, 135f, 139, 145, 158, 161, 194–208, 228, 277, 293, 318, 334, 350, 356, 381, 384f, 387–389, 391f, 395, 402–407, 428, 454–497, 501, 504f, 508, 512, 514f, 519, 521, 523f, 526–533
568
Register
Steindorff, Ulrich 103, 105, 111, 462, 466, 472, 475, 477–479, 485 Steindorff(-Hemer), Hilde 103, 105, 458, 464, 475, 477, 480f, 485, 496 Stenzel, Otto 424f Stern, Ernst 378 Stern, Paul 378 Stern, Rosie 343 Stohrer, Eberhard von 157, 172–178, 180–182, 185, 187, 189, 191, 214–219, 222–225, 229, 231–236, 240f, 248, 275, 291, 343, 349, 469, 471 Strasser-Huldschinsky, Hedwig-Maria 293, 296 Stross, Walther 198 Tell el-Amarna 26, 44, 71, 139f, 142, 147, 163, 398, 417, 507 Theben 20, 44, 51, 75, 129f, 175, 276, 307, 313, 333, 375, 384, 400 Toronto 51, 399 University College London (=UCL) 128, 131, 416f, 449, 510, 512 Unterstützungsverein Kairo 32, 43, 53, 73, 150, 156, 180f, 184, 227, 276 Uppenkamp, Walther 177, 182, 186, 190–194, 222, 229, 235, 240–242, 274, 277, 281f, 469 Vanino (Prof., Heidelberg) 319, 321 Verband nationaldeutscher Juden (=VnJ) 89f, 92, 95, 97f, 244, 246, 341 Vereinigung der Deutsch-Ägypter 73, 79, 81–85, 149f Völkischer Beobachter 227, 242, 252 Wafd Partei 152, 211, 213, 217, 251, 264, 287f Walther, Emma 61f, 67, 69f, 72–76, 79–84, 86, 145, 169f, 179, 185 Warburg, Aby 19 Warburg, Felix 17, 376 Warburg, Max 25, 63, 76, 88 Warburg, Paul 17 Warschau 377 Weidner, Ernst Friedrich 500 Weigall, Arthur 51, 130–132
Weisbach, Werner 47 Wertheimer 15–17, 29, 337 Wiegand, Karl Henry von 217f Wien 12, 15, 19, 33, 42, 45, 58, 62, 164, 196, 198, 216, 234, 241, 272–274, 282, 293, 297f, 301f, 318, 342, 389, 397, 402f, 425, 433, 461, 489–491, 499, 504f, 509 Wiener, Alfred 51, 89, 311, 314, 316–318, 527 Wilamowitz-Moellendorf, Ulrich von 28, 102, 107f, 115, 132, 136, 303, 438, 446, 453 Wingate, Reginald 22, 54, 75 Winkler, Hans Alexander 238 Winlock, Herbert 119, 162, 199, 202, 207, 404f, 463, 477f, 484 Wolf, Thea 293, 296f Wolf, Walther 163, 165, 406f, 462, 465, 472f, 476, 481f, 488f, 492, 495, 497, 504, 523 Wolff, Helmut 274, 279, 379 Wolff, Hermann 182, 185, 274, 277, 487 Worms 17, 118, 274 Wörterbuch der ägyptischen Sprache 43, 99, 101, 117, 119, 123, 125, 134, 137f, 167, 194f, 381, 392, 402, 428, 457, 461, 482, 488, 495, 503, 506–509, 519–522, 530, 532 Wörterbuchkommission 44f, 99, 104, 158, 161, 208, 455 Wreszinski, Lore 393, 399–401, 521 Wreszinski, Walter 47, 49, 129, 392–400, 402, 405, 449, 455, 457, 487, 490, 514, 526 Wronker, Max 298f Wronker(-Engel), Alice 298–300, 380, 410 Zaghloul, Sa’ad 82, 143, 150–153, 163, 165, 211, 264, 287f Zaloscer, Hilde 293–296 Zamalek 20, 59, 157, 162, 182, 192, 239, 259, 274, 276, 279, 298, 349, 419, 515 Zionismus 97f, 214, 262, 268, 308, 315, 352 Zucker, Friedrich 49 Zuntz, Dora 359–366, 377, 388, 430, 449f, 487 Zuntz, Günther 359, 363f, 366, 438, 451, 454, 487 Zuntz, Leonie 359, 363f, 366, 414, 429, 438, 444, 451f, 454, 487