Deutscher Gangsta-Rap II: Popkultur als Kampf um Anerkennung und Integration 9783839437506

Social injustice - neoliberalim - gangsta rap. Interdisciplinary viewpoints on this genre as an expression of fighting f

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German Pages 324 Year 2017

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Inhalt
Zur Einleitung: Stigmatisierungsdiskurs, soziale Ungleichheit und Anerkennung oder: Gangsta-Rap-Analyse als Gesellschaftsanalyse
Autobiografien deutscher Gangsta-Rapper im Vergleich
Schwesta Ewa – Eine Straßen-Rapperin und ehemalige Sexarbeiterin als Kämpferin für weibliche Unabhängigkeit und gegen soziale Diskriminierung?
„Rede nicht von Liebe, gib’ mir Knete für die Miete!“
Das neoliberale Paradoxon des deutschen Gangsta-Raps
Über sich selbst rappen
Die Kunstfreiheit im Falle Bushidos und Haftbefehls
„Warum tun wir uns so was an?“
Vom Gastarbeiter zum Gangsta-Rapper
Gangsta-Rap: Affirmative Inszenierung von Delinquenz als Erfolgsmodell?
„Vor dem Retrogott bist du ein Hurensohn“
„Haftbefehl hat konkret irgendwie einiges für uns geändert“
Konterrevolution und Revolte
Autorinnen und Autoren
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Deutscher Gangsta-Rap II: Popkultur als Kampf um Anerkennung und Integration
 9783839437506

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Martin Seeliger, Marc Dietrich (Hg.) Deutscher Gangsta-Rap II

Cultural Studies | Herausgegeben von Rainer Winter | Band 50

Martin Seeliger, Marc Dietrich (Hg.)

Deutscher Gangsta-Rap II Popkultur als Kampf um Anerkennung und Integration

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld

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Inhalt

Zur Einleitung: Stigmatisierungsdiskurs, soziale Ungleichheit und Anerkennung oder: Gangsta-Rap-Analyse als Gesellschaftsanalyse

Martin Seeliger und Marc Dietrich | 7 Autobiografien deutscher Gangsta-Rapper im Vergleich

Martin Seeliger | 37 Schwesta Ewa – Eine Straßen-Rapperin und ehemalige Sexarbeiterin als Kämpferin für weibliche Unabhängigkeit und gegen soziale Diskriminierung?

Tina Bifulco und Julia Reuter | 61 „Rede nicht von Liebe, gib’ mir Knete für die Miete!“ Prekäre Gesellschaftsbilder im deutschen Straßen- und Gangsta-Rap

John Lütten und Martin Seeliger | 89 Das neoliberale Paradoxon des deutschen Gangsta-Raps Von gesellschaftlicher Entfremdung und der Suche nach Anerkennung

Alexander Bendel und Nils Röper | 105 Über sich selbst rappen Gangsta-Rap als populärkultureller Biografiegenerator

Gerrit Fröhlich und Daniel Röder | 133 Die Kunstfreiheit im Falle Bushidos und Haftbefehls Zu jüngsten Indizierungen der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien

Thomas Hecken | 155 „Warum tun wir uns so was an?“ Deutscher Gangsta-Rap im Feuilleton

Benjamin Burkhart | 173 Vom Gastarbeiter zum Gangsta-Rapper HipHop, Migration und Empowerment

Murat Güngör und Hannes Loh | 193

Gangsta Rap: Affirmative Inszenierung von Delinquenz als Erfolgsmodell?

Ayla Güler Saied | 221 „Vor dem Retrogott bist du ein Hurensohn“ Die Figur des deutschen Gangsta-Rappers aus Sicht des Rap-Duos Huss und Hodn

Moritz von Stetten und Jan Wysocki | 241 „Haftbefehl hat konkret irgendwie einiges für uns geändert“ Gangsta-Rap als Intervention in Repräsentationsverhältnisse

Tim Böder und Aylin Karabulut | 267 Konterrevolution und Revolte Notizen zu Gangsta-Rap („deutsch“), Diskurs und Vermittlung

Roger Behrens | 287 Autorinnen und Autoren | 319

Zur Einleitung: Stigmatisierungsdiskurs, soziale Ungleichheit und Anerkennung oder: Gangsta-Rap-Analyse als Gesellschaftsanalyse M ARTIN S EELIGER UND M ARC D IETRICH

E INLEITUNG Nachdem die beiden sich über Monate hinweg in Interviews und Songtexten beleidigt hatten, wurde die Sache dem Heidelberger Rapper Animus zu bunt, und er beschloss (in Begleitung einiger Hells Angels), seinem Berliner Genrekollegen einen Besuch abzustatten, um ihn zur Rede zu stellen. Bereits auf dem Weg dokumentierte Animus per Internetvideo sein Vorhaben, indem er – den Text des bekannten Fler-Songs „Unterwegs“ uminterpretierend – ankündigte, im Begriff zu sein, ihm „eine Klatsche zu ziehen“. An Kontroversen um seine Person gewöhnt hatte Fler in der Vergangenheit häufiger empfohlen, dass geneigte Kritiker oder Konkurrenten ihn einfach zu Hause besuchen sollten, damit etwaige Angelegenheiten dort von Mann zu Mann geklärt werden könnten. Angekommen in der Billy-Wilder-Promenade Nr. 42 mussten Animus und seine Begleiter feststellen, dass Fler nicht bereit war, seine Wohnung zu verlassen. Gewissermaßen als Kompromiss drückte er allerdings den Buzzer und bedeutete Animus auf diese Weise, dass er eingeladen sei, die Wohnung über das Treppenhaus zu betreten. Seine Entscheidung, lieber unten vor dem Haus auf Fler zu warten, äußert Animus kurz nach dem Summen des Türöffners mit den Worten: „Den Gefallen tue ich ihm nicht.“ Nachdem kurz darauf eine Flasche knapp neben Animus auf dem Pflaster aufschlägt, endet die Videoaufnahme, die nur kurze Zeit nach ihrer Veröffentlichung im Internet gelöscht wurde. Dieser Höhepunkt der Auseinandersetzung zwischen zwei Szeneprotagonisten stellt für die Bildwelten deutschen Gangsta-Raps im Jahr 2016 keineswegs

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eine besondere Ausnahme dar. Im Gespräch mit den Herausgebern des vorliegenden Bandes erklärt der Rap-Journalist Falk Schacht Konflikte wie jenen zwischen Animus und Fler mit den folgenden Worten: Das ist kompliziert, weil das eine öffentliche Seite und eine nicht-öffentliche Seite hat. Die öffentliche Seite betrifft die Fans, die Zuschauer, für die das total aufregend und spannend ist, die geilen sich daran so auf wie früher das Publikum bei Gladiatorenkämpfen. Währenddessen ist das für die Rapper in der Sekunde absolute Realität. Es kann sehr viel passieren in solchen Situationen, das geht von harmlosem Rumschreien bis zu handfesten Auseinandersetzungen und auch darüber hinaus. Sie müssen dabei immer auf der Hut sein, ihr Gesicht zu wahren, denn das ist alles, was sie besitzen. Eminem hat das in dem Song „Toysoldiers“ gut auf den Punkt gebracht. Für das Publikum ist es so, als würden sie mit Spielzeugsoldaten Krieg spielen, deswegen stacheln sie die Rapper auch immer an zu reagieren oder etwas zu machen. Wenn nicht, dann sind sie „Opfer“ und „ehrenlos“ und keine echten Männer. Für die Rapper ist es aber im Konflikt selber sehr schnell kein Spiel mehr, sie müssen dann wirklich den Kopf hinhalten. Dann gibt es aber noch bei einigen Rappern diese nicht-öffentliche Seite, die hinter den Kulissen stattfindet, wo es dann um verletzten Stolz, Ehre und auch richtig Geld gehen kann. Das ist bei Rappern der Fall, die „Rücken“ haben, also den Schutz einer Organisation aus der Halbwelt. Das können kriminelle Clans oder Rocker-Banden sein. Darauf wird dann zurückgegriffen und Druck ausgeübt auf das gegnerische Camp. Schlicht weil es sich dabei um sehr einfach zu nutzende Mechanismen handelt, um den Gegner fertigzumachen. Es ist ein bisschen wie eine Mischung aus Politik, Game of Thrones und Machtspiel. Diese Ebenen vermischen sich. Da Gangsta Rapper über diese Halbwelt reden, ist klar, dass die Leute, die dort wirklich aktiv sind, ein Interesse daran entwickeln und sich einmischen. Und das ist der Grund, warum Gangsta Rap und die Straße und Halbwelt verwoben sind. Von Gangsta Rapper zu Gangsta Rapper. Mal mehr, mal weniger. Wenn Rapper von dieser Welt sprechen, ist einfach klar, dass Vertreter dieser Welt sagen: „Wenn ihr von mir sprecht, dann müsst ihr auch bei mir ins Café kommen und mit mir sprechen. Sonst dürft ihr das nicht. “

Und was heißt das für uns als Soziologen? Der kundige Leser (oder die kundige Leserin) mag sich hier an die Schrift des Soziologen Norbert Elias zur höfischen Gesellschaft erinnert fühlen. Dort heißt es: „Das Leben in der höfischen Gesellschaft war kein friedliches Leben. Die Fülle der in einem Kreis dauernd und unausweichlich gebundenen Menschen war groß. Sie drückten aufeinander, kämpften um Prestigechancen, um ihre Stellung in der Rangordnung des höfischen Prestiges. Die Affären, Intrigen, Rang- und Gunststreitigkeiten brachen nicht

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ab. Jeder hing vom anderen ab, alle vom König. Jeder konnte jedem schaden. Wer heute hoch rangierte, sank morgen ab. Es gab keine Sekurität. Jeder musste Bündnisse mit anderen Menschen, die möglichst hoch im Kurse standen, suchen, unnötige Feindschaften vermeiden, die Taktik des Kampfes mit unvermeidlichen Feinden genau durchdenken, Distanz und Näherung im Verhalten zu allen übrigen entsprechend dem eigenen Stand und Kurswert aufs genaueste dosieren“ (Elias 1984: 179).

Glauben wir Schacht, so verhält es sich wohl ganz ähnlich auch mit den Bildwelten des Gangsta-Rap. Aber was genau hat die Popularität von Gangsta-Rap als wichtigstem Subgenre der wichtigsten modernen Popmusikrichtung des 21. Jahrhunderts bedingt? Geht es um spannende Geschichten über coole Typen? Sozialkritik? Oder das subalterne Gegenbild einer sich neuerdings auf Gefängnis- und Polizeidokumentationen und andere „Law and Order Pornography“ (Wacquant 2010) fixierenden Kulturindustrie? Geht es um die Faszination, die Images von Kriminalität und Unterschichtenkultur auf gut situierte Bevölkerungsteile ausüben können (Goffman 2014)? Auf die Frage, warum sich nun die Sozial- und Kulturwissenschaft mit dem Thema „Gangsta-Rap“ überhaupt auseinandersetzen sollen, haben wir vor mittlerweile fast fünf Jahren dreierlei Gründe genannt (vgl. Dietrich/Seeliger 2012): • Erstens stellt Gangsta-Rap (und ein dazugehöriger Krisendiskurs) einen Ort

der symbolischen Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen dar (Scharenberg 2001). • Zweitens fungieren die Bildwelten des Gangsta-Rap als kultureller Pool von Identifikationsangeboten, der v.a. für Jugendliche eine sinn- und identitätsstiftende Funktion übernimmt (Thiermann 2009). • Drittens lassen sich über die Analyse von Gangsta-Rap-Images schließlich auch Rückschlüsse über allgemeine zeitgenössische Kultur ableiten (z.B. hinsichtlich von Mustern hegemonialer Männlichkeit; s. Seeliger/Knüttel 2010). Diesen Faden der Auseinandersetzung würden wir an dieser Stelle gern wieder aufnehmen. Dabei legen wir den Fokus stärker als im ersten Band auf GangstaRap im Sinne einer Popkultur, anhand derer sich aus sozial- und kulturwissenschaftlicher Perspektive Kämpfe um Integration und soziale Ungleichheit dokumentieren. Einleitend gehen wir in vier Schritten vor. Nachdem wir zunächst Forschungsbeiträge aus den HipHop-Studies bilanzieren (1) gehen wir (2) einem (leider traditionellen) Stigmatisierungsdiskurs in Deutschland nach, der sich v.a. an der Kategorie der „Ethnizität“ festmacht und als sozialer Rahmen für die Beschäftigung mit Gangsta-Rap u.E. zu berücksichtigen ist. Sodann befassen wir

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uns daran anknüpfend (3) mit der klassenpolitischen Dimension von GangstaRap-Images. Zuletzt stellen wir (4) die Beiträge in diesem Band, die sich allesamt in dem hier entworfenen semantischen Feld bewegen, vor.

1 HIPHOP-STUDIES ALS GESELLSCHAFTSANALYSE: SCHWERPUNKTE UND PERSPEKTIVEN Rap und (etwas weniger) Gangsta-Rap1 sind in der Forschungsliteratur mittlerweile gut dokumentiert, wir belassen es an dieser Stelle hierbei: HipHop als eine ästhetische Praxis, die ihren Ursprung in der South Bronx, New York der späten 1970er Jahre hat (Toop 2000: 15 ff.; Klein/Friedrich 2003: 8; Dietrich 2015a: 59), kann mittlerweile als „weltweit die mit Abstand größte Jugendkultur“ (Farin 2011: 16) oder zumindest als jene Kulturpraxis eingeschätzt werden, die von allen „schwarzen Kulturstilen“ am meisten Aufmerksamkeit und mediale Sichtbarkeit erhalten hat (Rose 2008: 8). HipHop-Musik oder Rap im Sinne eines deutschsprachigen populären Genres, das überregional und massenmedial thematisiert wird, existiert in Deutschland erst seit den frühen 1990er Jahren (Loh/ Verlan 2015; Klein/Friedrich 2003). In der Folge leisten wir eine kurze Kartierung der deutschen und amerikanischen Forschungsfelder, die – so viel lässt sich im Vorfeld sagen – HipHop ganz überwiegend in einen gesellschaftsanalytischen Zusammenhang stellen, der zwischen Marginalisierung und Widerstand einerseits und ‚Mainstreamisierung‘ und Kommerzialisierung andererseits aufgespannt wird. Die Sondierung des Forschungsdiskurses verstehen wir auch als Überblick bzw. Einladung für NachwuchswissenschaftlerInnen und weitere Interessierte, sich mit Rap (sozial- und kulturwissenschaftlich) auseinanderzusetzen. Ausgehend von Einsichten zur Reflexion der Forschung leiten wir sodann stärker auf die Rekonstruktion des für unsere Argumentation wesentlichen Diskussionszusammenhangs zu (Gangsta-) Rap, Widerstand und Migration über. Die ersten Arbeiten zu Rap entstanden aus (musik-)journalistischer Perspektive: Sie rekonstruierten die Ausdifferenzierung von Rap musik- und genregeschichtlich unter Bezugnahme auf bereits etablierte afroamerikanische Stile wie Soul und Funk (klassisch für die USA: Toop 2000, als Erschließung aus deutscher Perspektive: Kage 2002). Dieser Untersuchungsfokus wird in der gegenwärtigen amerikanischen Diskussion von kultur- und medienwissenschaftlichen

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Für eine hervorragende Darstellung der historischen Entwicklung des Gangsta-RapGenres im deutschen Kontext siehe Szillus (2012).

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Perspektiven stärker mit Blick auf verschiedene Qualitäten von Rap-Ästhetik (Alim 2012; Peterson 2012) und (produktions-)technischen Aspekten (Bartlett 2012; Dimitriadis 2012; Coleman 2012) erweitert, während sich in Deutschland die Erörterungen u.a. auf die Konzeptualisierung der ästhetischen und kulturellen Bezugssysteme von HipHop konzentrieren (insbesondere hinsichtlich intertextueller Verweise, s. Androutsopoulos 2003, 2016; Dietrich 2012, 2015a; Mikos 2003; zum Nexus von Aufklärung und Rap: Marquardt 2015). Recht eindeutig ist, dass Rap seit den Anfängen als Medium zur Artikulation von Gesellschaftskritik (Asante Jr. 2008: 8; Scharenberg 2001: 247) eingeordnet wurde. In den USA entstehen bereits seit den 1990er Jahren Arbeiten zur HipHop-Kultur (Hooks 1994; Rose 1994a, 1994b), die z.T. unter der Bezeichnung „HipHop Studies“ als eigenständiges Arbeits- und Forschungsfeld firmieren (Forman/ Neal: 2 ff.). Gerade für die USA wurde und wird Rap-Musik als künstlerische Verarbeitung von Missständen in afroamerikanisch dominierten Elendsquartieren und der Kritik an hegemonialen rassistischen Strukturen entworfen (Kage 2002: 7; Dietrich 2015c: 59). Anschließend an das Konzept der „Glokalisierung“ (allg.: Robertson 1998; bezogen auf HipHop: Klein/Friedrich 2003) werden die frühen 1990er Jahre als jene Phase betrachtet, in der die Kulturpraxis auch in Deutschland zu einer eigenen musikalischen und nationalen Stilform findet (Loh/Verlan 2015: 92 ff.). Seit etwa Anfang des Jahrtausends lassen sich auch in Deutschland erste Konturen zu einem HipHop-Studies-Feld finden, die sich zunehmend zu einem eigenen Forschungsbereich ausformen. Quer dazu wurde und wird in der sozialwissenschaftlichen Jugendkultur- und Szeneforschung HipHop bearbeitet ‒ teilweise eher überblicksartig und mit Schlaglichtern auf Kulturgeschichte, Mode, Geschlechterbilder, wirtschaftliche Relevanz, politische Ausrichtung, Veranstaltungs-, Kultur- und Tanzpraktiken (s. z.B. Krüger 2010: 14 ff.; Ferchhoff 2011: 206 ff., Hitzler/Niederbacher 2010: 84 ff.). Die Auseinandersetzung mit HipHop im deutschsprachigen Raum zeichnet sich durch Interdisziplinarität aus (insbesondere aus Soziologie, Kulturwissenschaft, Literaturwissenschaft, Medien- und Erziehungswissenschaft), darüber hinaus finden sich im Diskursfeld noch eine Reihe journalistischer Beiträge (Feuilleton, Fach-Magazine) sowie Äußerungen von Kultur-AkteurInnen (OrganisatorInnen, ManagerInnen, VertreterInnen der Musikbranche, vereinzelt RapperInnen selbst, s. Dietrich 2015a: 64). Die Frage nach einer dominanten Disziplin ist für die USA ebenfalls nicht eindeutig beantwortbar. Für die gegenwärtige Forschung lehnen Forman und Neal, die den bislang einzigen „HipHop-Studies Reader“ (2004, überarbeitet 2012) herausgegeben haben, eine genaue disziplinäre Verortung sogar ab (s. Forman 2007). Sie sehen den gemeinsamen Nenner der Positionen in der Beschäfti-

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gung mit HipHop-Phänomenen in einer intersektionalitäts-forschungsnahen Perspektive, d.h. an der Schnittstelle von Kategorien wie race, class, gender, sexuality. Ein Vergleich der Diskursfelder in den USA und Deutschland zeigt interessanterweise, dass in den USA Beiträge dominieren, die an der Schnittstelle von Journalismus und Wissenschaft operieren und auch dezidiert normativ argumentieren. Dies begründet sich auch durch die Publikumsorientierung, insofern als viele AutorInnen ihre Beiträge – oft vor dem Hintergrund eigener Marginalisierungserfahrungen aufgrund von Hautfarbe und Klasse – interventionistisch auslegen, d.h. ein breiteres Publikum zur soziokulturellen Veränderung erreichen und bewegen wollen (s. z.B. Rose 2008: 261 ff., Kitwana 2002: 195 ff.). Diese auf soziale Veränderung hin ausgerichteten Arbeiten adressieren gelegentlich auch ein nicht-wissenschaftliches Publikum, weshalb oft auf essayistische Darstellungsformen zurückgegriffen wird und Handlungsaufforderungen üblich sind (z.B. hinsichtlich des Postulats eines HipHop-Generationen-Dialogs: Asante Jr. 2008; Boyd/Nuruddin 2012). Die amerikanische Diskussion zu HipHop und Rap ist insofern stark politisiert, sie wird an die Sozialgeschichte der USA und v.a. die Bürgerrechtsbewegung in den 1950er und 1960er Jahren rückgebunden. In Deutschland dominieren dagegen theoretische Abhandlungen und empirische Studien, die ebenfalls sozialgeschichtliche Bezüge – hierbei allerdings vor dem Hintergrund der hiesigen Migrationsgeschichte – herstellen (z.B. Güngör/Loh 2002, 2003; Loh/Verlan 2015). Insofern lassen sich in Bezug auf unser unmittelbares Interessengebiet, das sich auf Gangsta-Rap als Kampf um Anerkennung insbesondere im Kontext von Migration bezieht, gemeinsame Arbeitsfelder ausmachen: Sowohl in den USA als auch Deutschland wurde der kommerzielle Erfolg von gewalthaltiger Rap-Musik von einem gesellschaftlichen Skandalisierungsdiskurs begleitet, dem sich auch sozialwissenschaftliche Arbeiten (insbesondere Rose 2008) und journalistische Beiträge widme(te)n (Charnas 2010). Im Zeitraum 2007-2009 fokussieren die journalistischen Berichte, Interviews und (filmischen) Reportagen besonders den sich etablierenden deutschen Gangsta-Rap (Dietrich/Seeliger 2012). Da HipHop-Kultur früh (Rose 1994a, 1994b; Chang 2007) vor dem Hintergrund der amerikanischen Sozialgeschichte und mit Blick auf den politischen Stellenwert für AfroamerikanerInnen untersucht wurde, betrachten fast alle sozial- und kulturwissenschaftlichen Arbeiten Rap unterschiedlich stark aber eindeutig im Spannungsfeld der Selbstermächtigung marginalisierter Gruppen und der Kommerzialisierung (u.a. Rose 1994a, 1994b, 2008; Kitwana 2002, 2006; Asante 2008; Watkins 2012). Dies erfolgt auch in Deutsch-

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land, wobei mit „marginalisierte Gruppen“ vornehmlich Menschen mit Migrationshintergrund gemeint sind. Diesbezüglich aufschlussreich ist eine erste wichtige Arbeit von Güngör und Loh (2002; siehe auch den Beitrag derselben Autoren in diesem Band). „Fear of a Kanak Planet: HipHop zwischen Weltkultur und Nazi-Rap“ reflektiert die politischen Vereinnahmungsversuche der deutschen Szene und Szenepolarisierungen seit den späten 1990er Jahren. HipHop erscheint dort als zunächst multikulturelles Projekt, dass sich v.a. durch (Mainstream-)Medienaufmerksamkeit und selektive Berichterstattungen text- und szenebezogen partial nationalisiert. Loh und Verlan (2006) ziehen wenig später eine kritische Bilanz über „25 Jahre HipHop in Deutschland“ (2015 dann als „35 Jahre HipHop in Deutschland“). Die historische Reflexion der deutschen HipHop-Kultur beinhaltet Themen wie „migrantische Selbstbehauptung“ und „Nationalismus“ sowie eine Rekonstruktion von Entwicklungsphasen von HipHop auf Basis der Kategorie der kulturellen Identität. In diesem Forschungsfeld, das auf die Szene als soziokulturelles Phänomen fokussiert, finden sich stärkere Bemühungen um genuin theoretische Konzeptualisierungen als in der US-Forschung: Szenebezogen werden hier theoretische Rahmen für die maßgeblichen Darstellungsmodi (u.a. Performativität, Theatralität, s. Klein/Friedrich 2003) und Werte (Authentizität, s. Klein/Friedrich 2003; Dietrich 2015a) entwickelt, die in den amerikanischen Arbeiten eher pragmatisch und der Fragestellung untergeordnet integriert sind. Zahlreiche amerikanische Arbeiten beleuchten insbesondere Authentizitätskonzepte, die an der Schnittstelle von „Race“ und „Class“ situiert herausgearbeitet werden (Rose 1994a, 1994b; Forman 2002; Judy 2012). Auch in Deutschland wird die HipHop-Szene als Gemeinschaft gefasst, die stark an dem Ideal der „Realness“ (d.h. szenespezifischer Authentizität, die mit subkulturellem Wissen verbunden ist) und der „Skills“ (des technischen Vermögens) orientiert ist (Klein/Friedrich 2003). Neuere kultursoziologische Arbeiten zu Gangsta-Rap ziehen Verbindungslinien zu afroamerikanischen Rap-Inszenierungen und ordnen (hybride) Ethnizitätskonstruktionen als Teil der Authentizität ein, indem sie Analogien zwischen amerikanischen Selbstentwürfen des „being black“ und z.B. des in deutschen Texten häufig präsenten „Arabischseins“ erkennen (Dietrich/ Seeliger 2012; Dietrich 2015b). Hier zeigen sich trotz ähnlicher Ergebnisse in den Analysen jedoch auch terminologische Differenzen, die mit unterschiedlichen Migrationsregimen der Länder zusammenhängen. Die Analysen zu „HipHop und Klasse“ beschäftigen sich sowohl in den USA als auch in Deutschland kritisch mit strukturellen Ursachen sozialer Benachteiligung (insbesondere Rose 2008: 1). In den USA wird die Möglichkeit, durch Rap den ökonomischen und sozialen Aufstieg zu schaffen, kritisch mit der Dominanz einer (zumeist „wei-

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ßen“) Kulturindustrie (Watts 2012; Smith 2012) reflektiert; gelegentlich schließen hier historisierende Diskurse über die kulturelle Erschließung von und die Öffnung für (weiße) Mainstream-Akteure an (in Bezug auf die Etablierung weißer Rapper: Rodman 2012; bezüglich des Etablierungsprozesses von Rap für ein weißes Publikum: Kitwana 2005). Die Positionierung in einer unteren Klasse wird dabei immerzu mit Benachteiligung aufgrund ethnischer Zugehörigkeit (oder auch Hautfarbe; die Zusammenhänge sind hier – v.a. oberflächlich – meist nicht klar zu erkennen) in Verbindung gebracht. Gewaltdarstellende Raptexte populärer Rapper werden dementsprechend auf Biografien in urbanen Ghettos zurückgeführt. In ähnlicher Weise betonen deutsche kultursoziologische Beiträge besonders Gangsta-Rap als Ausdrucksform sozialer Ungleichheit im Sinne eines „Klassenkampfs“ (Seeliger 2012, 2013, 2016, s. auch den Beitrag desselben Autors in diesem Band). Im Unterschied zu den USA wird in deutschen Beiträgen stärker zu lokalen Szenen geforscht (früh: Güngör/Loh 2003). Die diesbezüglichen Beiträge widmen sich lokal-spezifischen HipHop-Praktiken im Zusammenhang einer globalen Kultur (Klein/Friedrich 2003; Androutsopoulos 2003; Bock/Meier/Süß 2007; Saied 2012). Dabei wird u.a. die Selbstdarstellung im HipHop als Bezugnahme auf verschiedene ethnische Zugehörigkeiten und Kulturen entworfen (Menrath 2003). Dies erfolgt im Rahmen der Rekonstruktion mitunter sehr unterschiedlicher Referenzrahmen (innerhalb eines pop- und soziokulturellen Referenzsystems Hörner 2009; Dietrich 2012, 2015a, 2015b; im Kontext von Islamismus und einem stigmatisierenden Krisendiskurs um junge Männer mit Migrationshintergrund in Deutschland Dietrich/Seeliger 2012; Dietrich 2013, 2015a, 2015b). Wir halten fest: Die HipHop-Studies in den USA und Deutschland teilen, dass sie Rap und insbesondere Gangsta-Rap im Spannungsfeld folgender Kategorien und Themen beleuchten: Race/Ethnizität, soziale Ungleichheit und Kommerzialisierung/Kapitalismus. In diese Tradition der Konzeptualisierung von (Gangsta-)Rap, d.h. einer Tradition, die Popkulturanalyse immerzu auch als Gesellschaftsanalyse versteht, reihen wir uns mit diesem Band ein. Wir legen den Fokus aber stärker als in den bisherigen Arbeiten ersichtlich auf zwei Aushandlungskomplexe, die aus unserer Sicht deutschsprachigen Gangsta-Rap maßgeblich konstituieren: Den Kampf um und die Aushandlung von soziale(r) Ungleichheit und Integration. Beide Themen sind der HipHop-Kultur in Deutschland schon historisch eingeschrieben – darauf machen bereits zwei wegweisende Studien aufmerksam: Im deutschsprachigen Raum stellt die Studie von Friedrich und Klein (2003) das wohl wichtigste Zeugnis sozial- und kulturwissenschaftlicher Auseinandersetzung dar. Mit Blick auf die prozeduralen Dynamiken des Rap-Genres arbeiten

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die Autoren die internationale Verbreitung der entsprechenden Kulturformen aus der New Yorker Bronx im globalen Maßstab heraus. These der beiden ist es, dass die Diffusion entsprechender Kulturelemente im Rahmen der Adaption eines New Yorker Ursprungsmythos stattfindet. Wo sich Jugendliche in einer ähnlichen Situation wähnen, wie sie sie im Falle der originären New Yorker Rapper erkennen, entwickeln sie möglicherweise eine Affinität und beginnen damit, deren Praktiken zu imitieren. Den Prozess dieser Adaption im deutschsprachigen Raum haben (vornehmlich aus substanzialistischer Perspektive) Loh und Verlan (2015) nachvollzogen. In ihrer letzten Ausgabe von „30 Jahre HipHop in Deutschland“ rekonstruieren die beiden den Verlauf von Einführung, Verbreitung und Entwicklung von HipHop-Kultur seit den 1980er Jahren. Einer der hauptsächlichen Befunde von Loh und Verlan stellt die starke migrantische Prägung der deutschen Rapszene dar. Indem sich deutsche Jugendliche mit Migrationshintergrund zu Anfang der 1980er Jahre mit der Situation der (ebenfalls auf Grund mangelnder sozialer Teilhabechancen marginalisierten) schwarzen Bevölkerung der USA identifizierten, gewann Rapmusik für sie eine besondere Bedeutung. Wenngleich GangstaRap heute nicht allein von AkteurInnen mit Migrationshintergrund praktiziert wird (und schon gar nicht allein von diesen rezipiert wird), sind es doch anhaltend Rapper mit migrantischen Wurzeln (neuere Rapper wie z.B. Hanybal mit ägyptischem Background oder Soufian mit marokkanischen Vorfahren), die diesen repräsentieren. In ihrer Studie unterscheiden die AutorInnen Friedrich und Klein (2003) vier Formen von Rap. Party-Rap, Pimp-Rap, Polit-Rap und Gangsta-Rap. Allgemeine Merkmale dieser Musik sind gesampelte Beats, d.h. aus Versatzstücken anderer Musikstücke zusammengebastelte Klangcollagen als musikalische Grundlage, eine Zentralstellung des „Master of Ceremony“ (MC) in der Darbietung der Texte, eine häufig vorzufindende politische Dimension der Inhalte, welche sich in der Regel in der Identifikation mit sozial schwachen Bevölkerungsteilen niederschlägt, sowie eine genuine Wettbewerbsorientierung unter den Vertretern, welche sich darum dreht, wer besser rappt, sich kleidet, Platten auflegt, mehr Sexualpartner findet, usw., usf. Bezüglich der lyrischen Form, in der Raptexte dargeboten werden, ist weiterhin festzuhalten, dass dort getroffene Äußerungen häufig nicht unmittelbar, sondern im übertragenen Sinne zu verstehen sind. Metaphorischer Gebrauch von Gewaltdarstellungen ist daher in der Regel nicht als wahrhaftige Ankündigung eines Übergriffes zu verstehen. Vielmehr sind Schlagabtausche dieser Art dem kompetitiven Modus des Rapgenres zuzuordnen. Rap, so lässt sich vor diesem

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Hintergrund schließen, unterliegt als Ausdrucksform einem besonders starken Inszenierungscharakter. Im Unterschied zu den ersten drei Formen zeichnet sich Gangsta-Rap durch eine Reihe von Attributen aus, die sich in den restlichen Bildwelten des Genres weniger stark oder gar nicht wiederfinden. In ihrer Dissertation zur kulturellen Bedeutung der HipHop-Szene in der BRD untersucht Güler Ayla Saied (2013: 12) diejenigen „Repräsentations-Diskurse, in denen Rapper und Rapperinnen mit und auch ohne sogenannte Migrationsgeschichte rezipiert werden“ mit ähnlichen Ergebnissen und betont darüber hinaus die starke Relevanz geschlechtlicher Kategorisierungen. Ähnlich erkennen auch Friedrich und Klein (2003: 24) HipHopKultur insgesamt als „Männerwelt, von Männern für Männer“. Während sich entsprechende Tendenzen zwar in allen Rapsparten verzeichnen lassen, treten sie im Rahmen von Gangsta-Rap-Images besonders signifikant zu Tage. Als symbolischer Rohstoff der hier zur Schau gestellten Attribute dienen den Gangsta-Rap-Sprechern zweierlei soziale Bezugsquellen. Zum einen berichten sie, zumindest der Selbstcharakterisierung nach, vom alltäglichen Leben in benachteiligten Stadtteilen. Während die Mittel- und Oberschicht von den realen Problemen in (zumeist migrantisch geprägten) Vierteln nichts mitbekomme, so die häufig von Rappern bemühte Argumentation, böten sie mit ihren Raps denjenigen eine Stimme, die dort ausgeschlossen vom gesellschaftlichen Reichtum sowie unter Bedingungen ständiger Stigmatisierung durch die bürgerlichen Institutionen (Schule, Ordnungsmacht, Arbeitsmarkt) unsichtbar bleiben müssten. Theoretischer Zugang: Zwischen Frankfurter Schule und Cultural Studies Zur Untersuchung der Gangsta-Rap-Images empfiehlt sich eine theoretische Rahmung der Forschungsperspektive. Diese bestimmt, unter welchen Aspekten man die Gegebenheiten im Feld des Gangsta-Rap untersuchen möchte. Ziel einer solchen soziologischen Perspektive auf die Images und Protagonisten des Genres wäre es dann herauszufinden, „welcher gesellschaftliche Missstand bzw. welche strukturellen Probleme hinter ihren Handlungen liegen“ (Reutlinger 2009: 286). An anderer Stelle (Seeliger 2016) haben wir einen Vorschlag zur theoretischen Rahmung der Analyse von Gangsta-Rap-Images entwickelt, den wir hier kurz ausführen möchten: Auf der einen Seite ist unser Zugang inspiriert von den Überlegungen der Frankfurter Schule, deren Kritische Theorie der Gesellschaft in der Dialektik der Aufklärung auf eine massenkommunikative Verblendung der Bevölkerung durch die Kulturindustrie hinausläuft (Horkheimer/Adorno 1988). Als „synthetische Kultur der verwalteten Welt“ treten Produkte der Kul-

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turindustrie gegenüber als „Reklame für die Welt so wie sie ist“ (Behrens 2004: 5). Kulturproduktion beschränkt sich damit auf die Angebotsseite: „Die gesamte ‚Dialektik der Aufklärung‘ ist durchzogen von einer fundamentalen Skepsis gegenüber der menschlichen Fähigkeit, die jeweiligen gesellschaftlichen Lebensverhältnisse mit dem eigenen kollektiven Willen und Bewußtsein zu bestimmen“ (Dubiel 1992: 92). Während eine Kritik wirkmächtiger Ideologien (oder, um etwas tiefer zu stapeln, die Analyse verbreiteter kultureller Repräsentationen) uns nicht nur als legitimes, sondern auch bedeutsames soziologisches Anliegen erscheint, erkennen wir im Frankfurter Ansatz eine Reihe von Problemen2: Wenn, wie die Autoren argumentieren, ein „Verblendungszusammenhang“ die Handlungen der Akteure ins Affirmative (oder sogar: Regressive) hinein determiniert, müsste begründet werden, wie der benannte Zusammenhang im Wechselverhältnis von Individuum und Gesellschaft reproduziert wird. Dass Horkheimer und Adorno hierzu keine empirischen Befunde vorlegen, lässt das starke makrosoziologische Plädoyer der beiden letztlich als (zumindest teilweise) schwache Argumentation erscheinen: Denn ohne dem Eigensinn der Akteure Rechnung zu tragen, lässt sich letztlich auch keine tragfähige Kulturtheorie begründen. Während wir von der Kritischen Theorie zwar den grundsätzlich ideologiekritischen Impuls übernehmen möchten („Wieso und auf welche Weise richten sich Akteure in einer Gesellschaft ein, deren soziale Ordnung ihren Interessen nicht genügen kann?“), beziehen wir uns im Sinne einer politischen Soziologie der Populärkultur zum anderen auf Arbeiten aus dem Bereich der Cultural Studies. Wie Bourdieu und Wacquant (2006: 101) in ihrem Gesprächsband zur „Reflexiven Anthropologie“ formulieren, stellt die soziale Welt einen „Ort ständiger Kämpfe um den Sinn dieser Welt“ dar. Hinsichtlich der theoretischen Rahmung soziologischer Analysen erkennt Barlösius (2004: 17) im Bereich der Soziologie eine theoretische Diskrepanz zwischen struktur- und handlungstheoretischen Ansätzen. Während Arbeiten aus dem Feld der Cultural Studies (siehe etwa Willis 2013) den Zusammenhang subjektiver Gestaltungspotenziale und der Produktion sozialer Ordnung in einem ganzheitlichen Untersuchungszusammenhang (d.h. im Verhältnis von Akteur/Interaktion auf der einen und Institution/Gesellschaft auf der anderen Seite) beschreiben, überwinden die Beiträge in diesem Band die Konfliktlinie durch einen Fokus auf kulturelle Repräsentationen als zwischen Struktur- und Akteurs-Ebene vermittelnde Instanzen (vgl. Degele/

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Zu einer (kritischen) medientheoretischen sowie sozial- und kulturwissenschaftlich einordnenden Reflexion des „Kulturindustriebegriffs“ im Kontext der Cultural Studies siehe Winter 2017.

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Winker 2009; Seeliger/Knüttel 2010). Ganz im Sinne der Cultural Studies verstehen wir Popkultur hierbei als „Ausdruck von Lebensstilen und Alltagspraktiken, sozialer Stellung und Weltbildern spezifischer Milieus; […] als politische[n] Kampf um Repräsentation, Zeichen und Symbole“ (Scharenberg 2001: 243).3 Im Spiegel der Cultural Studies erscheint HipHop-Kultur (und damit auch Gangsta-Rap) als insgesamt positiv besetzter Forschungsgegenstand. Wenn etwa Schiffauer (2008: 125) Rap als „kulturellen Ausdruck für gesellschaftliche Machtverhältnisse und rassistische Ausgrenzung“ bezeichnet, klingt hier genauso eine Sympathie für die sich aus untergeordneter Perspektive Äußernden an wie in Scharenbergs (2001: 247) Einschätzung des Genres als „symbolischem Angriff auf die dominanzkulturelle Hegemonie“. Diese Positivdarstellung fand sich zuletzt am deutlichsten bei Marquardt (2015), der in einem Vergleich von Rap-Lyrics mit Texten aus dem Bereich der Aufklärungsliteratur zur Einschätzung von Rap als einer „Ästhetik des Widerstandes“ (ebd.) gelangt. Unserer Ansicht nach trifft der Autor hier einen wichtigen Aspekt, denn widerständiges Handeln findet sich in den Bildwelten des Gangsta-Rap sicherlich in großem Umfang. Gleichzeitig ‒ und hier fällt Marquardts Einschätzung unserer Ansicht nach vielleicht einseitig optimistisch aus ‒ enthält vor allem Gangsta-Rap mit seiner Homophobie, den häufig sexistischen Darstellungen, der Bestätigung männlich geprägter Heldenverehrung und einer immer wieder ins Menschenverachtende abdriftenden Elitenfeindlichkeit mindestens genauso viele (potenziell) regressive Momente. Also doch alles Verblendungszusammenhang, oder was? Wie in der Rahmung soziologischer Untersuchungen üblich, streben auch wir einen Kompromiss zur Etablierung eines theoretischen Verständnisses an. Mit Kleiner und Nieland, (2007: 239) erkennen wir in den Bildwelten des Genres immer neue Erzählungen einer „Geschichte von Grenzerfahrungen und Grenzziehungen, der es nicht um Versöhnung und Dialog mit der Gesellschaft, von der sie marginalisiert und ausgeschlossen werden“, sondern um die Etablierung von „Gegenidentitäten als Reaktion auf mangelnde Integrationsleistungen moderner Gesellschaften“ (Foroutan 2013: 97) geht. Der Frage nach eben diesen Integrationsleistungen wenden wir uns im Folgenden unter Bezug auf ethnische und klassenpolitische Konfliktkonstellationen zu, die wir auch historisch in den Blick nehmen.

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Für eine Konzeption einer Cultural-Studies-Perspektive auf Gangsta-Rap im Sinne Stuart Halls siehe Seeliger (2016).

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2 GANGSTA-RAP IM SPANNUNGSFELD DER IDENTITÄTEN Wie Bojadzijev (2008: 15) bemerkt, kann eine Rassismusanalyse nicht umhin, „den historischen Prozess zu berücksichtigen, wie, wann und warum sich Rassismus transformiert“. In loser Orientierung an Yildiz (2007) und Geißler (2006) lässt sich die deutsche Integrationsgeschichte seit dem zweiten Weltkrieg in eine Reihe aufeinanderfolgender Phasen untergliedern. Die Rekonstruktion dieser Phasen zeigt, dass in dieser Geschichte Rassismus keineswegs „eine Anhäufung von Irrtümern und Ausnahmen im Betrieb der Moderne“ (Terkessidis 2010: 100) darstellt, sondern in der Systematik seiner alltagspraktischen Verwirklichung in enger Verbindung mit der kapitalistischen Klassenherrschaft zu Tage tritt. Nach dem zweiten Weltkrieg organisierte man die Restauration der deutschen Wirtschaft unter maßgeblicher Beteiligung ausländischer Arbeitskräfte, deren Einwanderung im Rahmen groß angelegter Anwerbeabkommen erfolgte. Zwischen 1955 und 1968 regulierten Vereinbarungen mit Italien, Spanien, Griechenland, der Türkei, Portugal und Jugoslawien die Arbeitsmigration zahlreicher Lohnabhängiger in die Bundesrepublik. Während die zunehmende Nachkriegsprosperität ein egalitäres Selbstbild westlicher Gesellschaften vor allem in der Retrospektive bedingt, offenbart ein genauerer Blick Kultur- und Verteilungskonflikte bereits in den 1950er und 60er Jahren. So provoziert etwa eine Ausgabe der Bild-Zeitung unter dem Titel „Gastarbeiter fleißiger als deutsche Arbeiter?“ Warnstreiks in zahlreichen deutschen Betrieben. Auch stehen die oft prekären Beschäftigungsbedingungen der sogenannten Gastarbeiter genau wie der häufig von Armut geprägte Lebensstil in einem starken Kontrast zum wachsenden Wohlstand der deutschen Gesellschaft. Die bildungspolitischen Debatten der Zeit vernachlässigen darüber hinaus den allmählichen Nachzug von Familien der ausländischen Arbeitskräfte. Nach dem Anwerbestopp 1973 spiegelt sich die ethnische Segmentierung der Gesellschaft nicht nur im Arbeitsmarkt sondern auch im öffentlichen Raum wieder. So lebte im Jahr 1975 etwa ein Großteil der knapp 30.000 Berliner Türken in den Sanierungsgebieten des Bezirks SO 36. Unter Bedingungen wirtschaftlicher Stagnation werden solche Ansiedelungen zum Gegenstand eines einwanderungskritischen Diskurses: Unter Bedingungen zunehmender Arbeitsplätzeknappheit werden „Gastarbeiter“ zu „Ausländern“ und öffentliche Debatten behandeln die Frage nach den Integrationspotenzialen der Gesellschaft.4

4

Siehe etwa die Titelstory des Spiegel vom 30.7.1973.

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Eine Verschärfung der Kritiklinie sowie eine Verrohung der Debatte dokumentiert Anfang der 1980er Jahre das sogenannte „Heidelberger Manifest“. Eine Reihe deutscher Hochschullehrer sprach sich hier gegen die Beschäftigung ausländischer Arbeitskräfte aus. „Mit großer Sorge“, so heißt es dort unter anderem, „betrachten wir die Unterwanderung des deutschen Volkes durch Zuzug von Millionen von Ausländern und ihren Familien, die Überfremdung unserer Sprache, unserer Kultur und unseres Volkstums.“ Der Zeitraum der 1980er Jahre lässt sich mit Geißler (2006: 235 f.) auch als „Abwehrphase“ der deutschen Integrationspolitik beschreiben. Wortschöpfungen wie die des „Asylanten“ bereichern einen Diskurs über „volle Boote“ und „Ausländerfluten“, die über „uns“ hereinbrechen (vgl. Weber-Menges 2005: 137). So führte auch nach Terkessidis (2000: 30) die „behördliche Übertreibung der negativen Folgen der Ansiedlung von Migranten […] zusammen mit der Sorge über die angebliche Asylantenflut zu Beginn der achtziger Jahre zu einer allgemeinen Aufheizung der Stimmung in der Bundesrepublik“. Im Anschluss an die Wiedervereinigung geriet die „Ausländerpolitik“ (Tränhardt 2006: 276) in den Mittelpunkt der politischen Auseinandersetzung. Die Pogrome von Rostock, Mölln, Solingen und Hoyerswerda dokumentieren hier die unter Bedingungen wirtschaftlicher Deprivation in Gewalttätigkeit umschlagende Fremdenfeindlichkeit einer Generation deutscher Arbeiter nicht zuletzt als Resultat gescheiterter Integrationspolitik der Bundesregierung. Während sich auf Seiten der Zivilgesellschaft und auf dem Feld der Populärkultur zahlreiche Aktionen („Mein Freund ist Ausländer“) für Offenheit und Toleranz verzeichnen lassen, unterstreicht in den folgenden Jahren die Verschärfung des Asylrechts 1993 und eine anhaltende Debatte um „Das Scheitern der multikulturellen Gesellschaft“ (Titelstory des Spiegel am 14.4.1997) ein Anhalten der Ressentiments gegen Zuwanderung. Auch wenn die gewaltförmigen Auseinandersetzungen der frühen 1990er vorerst gestoppt worden waren, prägte hiernach ein weiterhin rassistischer Diskurs die politische Organisation von Einwanderung (beispielhaft genannt sei hier die Unterschriftenkampagne, in der die CDU unter dem Titel „Kinder statt Inder“ gegen die doppelte Staatsbürgerschaft mobilisierte). Die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts Ende der 1990er Jahre vom Ius Sanguinis zum Ius Soli markiert hierbei nur scheinbar einen Wendepunkt: Anschließend an die Ereignisse des 11. Septembers 2001 (und nachfolgende Konflikte wie der Karikaturenstreit von 2005) lassen sich in der Debatte um Integration zunehmende Verquickungen von Einwanderungskritik und Islamophobie erkennen. Zumindest die arabisch- und orientalisch-stämmigen Ausländer nehmen in den Worten der Kritiker jetzt nicht mehr nur „die Arbeitsplätze weg“ und „passen nicht zu unserer Kultur“ sondern stellen nunmehr auch ein terroris-

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tisches Risiko dar. Die wieder an Bedeutung gewinnende Auseinandersetzung um das Kopftuch und die Burka unterstreicht seitdem diese dichotome Darstellung in vielen Punkten: Feministische und xenophobe Argumente gehen hier, so Tränhärdt (2006: 280), eine bemerkenswerte Mischung ein: Wenn sie sich gegen regressive Kulturformen von Einwanderern richtet, scheint Patriarchatskritik hier plötzlich en vogue zu sein. Um die juristische Anerkennung seines Status als Einwanderungsland in Form des neuen Staatsbürgerrechtes herum entbrannte zur gleichen Zeit in Deutschland eine neue Debatte um eine deutsche „Leitkultur“ (Foroutan 2013: 237). Einen neuen Höhepunkt gewann diese Debatte mit dem Beitrag des ehemaligen SPD-Politikers Thilo Sarrazin. In seinem Buch unter dem Titel „Deutschland schafft sich ab“ problematisiert Sarrazin die Rolle muslimischer Einwanderer für Zusammenleben und Standortpolitik in Deutschland. Die Quintessenz seiner im Buch dargestellten Argumentation hatte Sarrazin bereits in einem Interview mit der Lettre Internationale zusammengefasst, wo er sich mit den folgenden Worten äußerte: „Ich muss niemanden anerkennen, der vom Staat lebt, diesen Staat ablehnt, für die Ausbildung seiner Kinder nicht vernünftig sorgt und ständig neue kleine Kopftuchmädchen produziert.“ Als SachbuchBestseller des Jahres 2010 wurde „Deutschland schafft sich ab“ damit zur zentralen Referenzgröße eines „populistisch vorgetragenen Sozialdarwinismus“ (Benz 2012: 15), der sich politisch in den Rufen nach einer neuen HardlinerPolitik manifestierte. Die folgende, vom deutschen „Überfremdungsempfinden“ (Treibel 2015: 22) geprägte Diskussion entlud sich öffentlich in einem Krisendiskurs, welcher die gescheiterte Integration seit Ende der 2000er Jahre vor allem auf die angeblich unkontrollierbare Delinquenz junger migrantischer Männer mit muslimischem Hintergrund zurückführt (Heisig 2010). Am Anfang einer tendenziösen Berichterstattung zu jungen Männern mit Migrationshintergrund stand die 2008 erschienene Ausgabe des Nachrichtenmagazins Der Spiegel mit ihrer Titelstory „Migration der Gewalt. Junge Männer – Die gefährlichste Spezies der Welt“. Lesen konnte man dort unter anderem Folgendes: „Die Gefährlichkeit der jungen Männer, dafür sprechen die Zahlen, könnte so etwas wie ein Naturgesetz sein“. Im Weiteren heißt es dann sogar: „Die Erkenntnisse über den wachsenden Anteil der Migrantensprösslinge an der Gewaltszene haben bei den Innenministern Unruhe ausgelöst. Wenn nicht schnell Rezepte gefunden werden, die Infektion der Zuwanderer und ihrer Familien mit der Gewaltseuche zu stoppen, droht eine Explosion“ (Bartsch 2008). Der Artikel weist essenzialistische Aussagen und eine stigmatisierende Argumentation auf.

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An der skandalisierenden Berichterstattung wirken also keineswegs nur Boulevardmedien mit, sondern auch ‚intellektuelle‘ Organe wie Die Zeit: „Mit Gürtelschnallen dreschen junge Türken auf einen Polizisten ein“ rückt in einem Dossier über ethnisierte Jugendgewalt (vgl. Lebert/Willeke 2008) immerhin an die prominente Stelle einer Zwischenüberschrift – selbstverständlich ohne dass etwaige Motive (wie z.B. Affekt, Verteidigung) weiter in Betracht gezogen würden. Nachdem Ende 2007 ein Münchener Hauptschuldirektor Opfer einer brutalen Attacke zweier Jugendlicher geworden war (vgl. Käppner 2008), wurde dies in der deutschen Medienlandschaft zum Anlass für eine äußerst skandalisierende und pauschale Berichterstattung genommen, im Zuge derer (männliche) Jugendliche mit Migrationshintergrund als generell zu Gewaltdelinquenz neigend dargestellt werden (vgl. dazu ausführlicher Dietrich/Seeliger 2012: 32 ff.).5 Wie Yildiz (2007: 37) bemerkt, gehört eine derart pathologische Berichterstattung fast schon zur Normalität der deutschen Medienlandschaft: „Der ‚Migrant‘ taucht fast nur in Problemsituationen auf, wird mit bildungsfernen Milieus in Verbindung gebracht und zumeist als nicht anpassungsfähiges und therapiebedürftiges Objekt wahrgenommen.“ Derartige Darstellungen mögen teilweise auf einer realen Grundlage und hier und da sogar wichtige Aspekte in den Vordergrund rücken – insgesamt sind sie unserer Ansicht nach aber durch eine Reihe von Verkürzungen geprägt, auf die wir an dieser Stelle kurz hinweisen möchten. Wie Naika Foroutan (2013) herausarbeitet, haben 20 Prozent aller registrierten Einwohner Deutschlands einen Migrationshintergrund, im großstädtischen Raum waren es 2011 unter den Kindern sogar 60 Prozent (Foroutan 2014). Wie die Autorin gemeinsam mit den Kollegen aus ihrer Forschungsgruppe herausarbeitet, geben 81 Prozent der Deutschen mit Migrationshintergrund an, Deutschland zu lieben, 77 Prozent fühlen sich als Deutsche, und knapp der Hälfte ist es wichtig, als Deutsche angesehen zu werden (Foroutan et al. 2014: 6). Vor dem Hintergrund der maßgeblichen Prägung der deutschen Gesellschaft durch die Zuwanderung der letzten Jahrzehnte erscheint es unnachvollziehbar, die Diskussion über die Ursachen sogenannter Integrationsprobleme einzig (oder sogar: vordergründig) bei den Migranten, bzw. deren Nachkommen anzusiedeln. Wie Terkessidis (2010: 9) bemerkt, impliziert der Begriff der Integration ohnehin „stets eine negative Diagnose. Es gibt Probleme, und die werden verursacht

5

Demgegenüber erkennen einwanderungskritische Kommentatoren wie zuletzt auch Alice Schwarzer (2016: 35) ein „Problem der falschen Toleranz“, d.h. eine „Haltung, die im Namen dieser falschen Toleranz die Probleme lieber vertuscht oder verharmlost, statt sie zu benennen und zu bekämpfen“.

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durch die Defizite von bestimmten Personen, die wiederum bestimmten Gruppen angehören.“ Statt eine normative Grundposition, der zu Folge Einwanderer (und/oder deren Nachkommen) sich eben anzupassen haben, fortzuschreiben, empfiehlt es sich daher aus unserer Sicht, „die Normalisierungsprozesse einer sich transformierenden Einwanderungsgesellschaft und zwar sowohl in sozialen Reibungen als auch in diskursiven Auseinandersetzungen“ (Foroutan 2013: 89) in den Blick zu rücken, im Zuge derer Identität, Ressourcenausstattungen und Anerkennung umkämpft und verteilt werden. Dies führt uns zu einem zweiten Einwand. In Verbindung mit (d.h. als Ursache wie auch Folge) einer dichotomen Darstellung von Migranten in den Medien konstatiert Stuart Hall (2000: 150) ein „rassistisches Alltagsbewusstsein“. Aus dieser Sicht findet die Sozialisation migrantischer Problemgruppen im Rahmen sogenannter ‚Parallelgesellschaften‘ statt. Das Bild der Parallelgesellschaft, so Schiffauer (2008: 8) suggeriere hierbei, „dass ein gesellschaftliches ‚Miteinander‘ durch ein ‚Nebeneinander‘ abgelöst wird“. Aus kultursoziologischer Sicht erscheint eine entsprechende Vorstellung als irreführend. Denn genau wie es sich bei Rassismus als gesellschaftlichem Strukturprinzip keineswegs um einen reinen „Ausschließungsmechanismus“ (Bojadzijev 2008: 24) handelt, findet die Mehrheits- in der Parallelgesellschaft ihr defizitäres Gegenbild, in Abgrenzung zu dem ihre Mitglieder die eigene Wertigkeit begründen können. Unter unübersichtlichen Verhältnissen lässt sich häufig beobachten, wie die Ursachen für allgemeine Probleme bei gut identifizierbaren Gruppen angesiedelt werden (vgl. Mau 2013: 178). Aus psychoanalytischer Sicht ließe sich sogar argumentieren, dass sich privilegierte Individuen ihr jeweils defizitäres Anderes schaffen, indem sie eigene innere Konflikte und verdrängte Wünsche darauf projizieren (Siebel 2015: 364).

3 ZUR KLASSENPOLITISCHEN DIMENSION VON GANGSTA-RAP-IMAGES An der Schnittstelle von Sozialstrukturanalyse und Cultural Studies argumentiert Hall, „daß rassistische Strukturen außerhalb des Rahmens eines spezifischen Ensembles ökonomischer Beziehungen nicht adäquat verstanden werden können“ (Hall 1994: ‚Rasse‘ 92). Anders als eine meritokratische Ideologie („Zumindest unter Bedingungen formaler Chancengleichheit kann jeder und jede im Prinzip alles gleichermaßen schaffen“) stellen ungleiche Bildungserfolge im Schul- und Universitätssystem für die soziale Positionierung biodeutscher und migrantischer

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Vertreter aber nur einen Teil der Erklärung dar. Denn zum einen sind Kinder mit Migrationshintergrund hier in häufigen Fällen „doppelt benachteiligt“ (Canan 2012: 143): Zum einen durch kulturelle Probleme (Sprachbarrieren, Diskriminierung) und zum anderen durch eine schwächere sozioökonomische Ausstattung. Solche institutionellen Benachteiligungen setzen sich, so Häussermann und Kronauer (2009: 163) häufig erst in einer „Marginalisierung auf dem Arbeitsmarkt“ und weiter „in sozialen und kulturellen Ausschluss um“.6 Durch einen ökonomischen Selektionsprozess auf dem Wohnungsmarkt und einen kulturell bedingten Zuweisungsprozess der Wohnungsämter resultiert diese Stigmatisierung schließlich in einer Reproduktion ethnischer Verteilung über den städtischen Raum. Wenn man so will, stellt dieser Prozess die materielle Grundlage der sozialen Konstruktion derjenigen ‚Problembezirke‘ dar, die im weiter oben dargestellten Krisendiskurs symbolisch entworfen werden. Folgt man Wacquant (2009: 97), so erfahren diese ‚Problembezirke‘ „Gewalt von oben“ in dreifacher Weise: Eine chronische und anhaltende Arbeitslosigkeit bedingt erstens eine Entproletarisierung sowie die Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse, aus der zweitens eine materielle Relegation des Stadtviertels resultiert, welche drittens auch in einer symbolischen Stigmatisierung der Bewohner in Alltagsleben und Öffentlichkeit resultiert: „Die sozialräumliche Konzentration der Armen bildet hier das kritische Bindeglied, das Ausgrenzung am Arbeitsmarkt und soziale Ausgrenzung zu einem Teufelskreis sich wechselseitig verstärkender Elemente zusammenschließt.“ (Häußermann/Kronauer 2005: 603)

Die Aufteilung der Stadt im Krisendiskurs in ‚Reichengegenden‘ und ‚Problembezirke‘ bildet so eine komplexe Struktur gesellschaftlicher Macht und Gegenmacht ab.7 Den komplexen Bezugsrahmen widerständigen Handelns beschreibt in diesem Zusammenhang Bojadzijev (2008: 17):

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Aus kapitalismustheoretischer Sicht stellt dieser Umstand keineswegs ein Problem sondern die Lösung eines solchen dar: Irgendjemand muss die Drecksarbeit ja machen. Folgerichtig erkennt Deutschmann (2009: 36) eine „sozialstrukturelle Spannung [als] objektiver Grundbedingung kapitalistischer Dynamik“.

7

Auf einen bemerkenswerten Aspekt verweist Türkmen (2013), der zu Folge arme (Post-)Migranten besonders häufig von Gentrifizierung betroffen sind. Nachdem sie ihre Schlüsselrolle im Aufwertungsprozess erfüllt haben, werden sie (oder ihre Nachkommen) über den Preismechanismus verdrängt.

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„Ebenso wie man davon ausgehen kann, dass Rassismus sich nicht immer durch explizit rassistische Handlungen und Artikulationen manifestiert, muss man auch bei Migrantinnen und Migranten nicht unbedingt unterstellen, dass sich ihr Widerstand immer explizit gegen Rassismus richtet.“

An anderer Stelle (Seeliger/Knüttel 2010) haben wir in Anlehnung an Bourdieu (1998) gezeigt, inwiefern sich Gangsta-Rap-Images als Positionierungen in einer symbolischen Auseinandersetzung interpretieren lassen, die sich entlang ethnischer und klassenpolitischer Linien vollzieht (siehe auch Seeliger 2012).8 Wie Hall (1994: 68) bemerkt, existierte „nie eine einheitliche Klasse, mit einer schon existierenden einheitlichen Ideologie. Sie ist durchkreuzt, durchzogen von anderen Determinanten und Ideologien.“ Während ‒ so zeigen es auch die Beiträge dieses Bandes ‒ das Gesellschaftsbild (Popitz et al. 1961; Dörre et al. 2013) der Gangsta-Rapper eine klare Untergliederung der sozialen Welt in ‚Oben‘ und ‚Unten‘ aufweist und die Oberen von den Unteren häufig für deren Leid und den Mangel verantwortlich gemacht werden, stellt sich allerdings die Frage, inwiefern die Idee des Klassenkampfes im Gangsta-Rap als Äquivalent der Auffassung einer Auseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit im klassisch sozialistischen Sinne angesehen werden kann. Allgemein gesprochen erscheint auch dieser Umstand als nicht neu. Hatte nicht schon Marx selbst in seiner Rede vom „Lumpenproletariat“ eine konterrevolutionäre Haltung der Unterschicht proklamiert, weil er sie als „bestechlich“ und die „schulende Erfahrung der Industriearbeit“ vermissend betrachtete (vgl. Bescherer 2013: 16)? Unter Bedingungen einer neoliberalen Kulturdiffusion hat sich das Verhältnis der Klassen zueinander zwar nicht grundsätzlich (Privateigentum an Produktionsmitteln und Kapitalkonzentration), jedoch in seiner kulturellen Vermittlung verändert (mit Laclau und Mouffe 1991 ließe sich auch von einer hegemonialen Formation sprechen; vgl. Marchart 2013). Neoliberale Eigenverantwortungsideologien siedeln die Pflicht zur Bewältigung marktvermittelter Herausforderungen nicht nur institutionell (d.h. etwa in Form aktivierender Sozialpolitik; vgl. Lessenich 2008) sondern auch kulturell-subjektiv (d.h. dem Selbstverständnis gemäß; siehe Bröckling 2007; Sennet 1998) in zunehmendem Maße beim Individuum an.

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Im Sinne einer intersektionalen Forschungsperspektive gälte es hier zudem, der Geschlechterdimension Rechnung zu tragen (siehe hierzu Seeliger 2013). Während Gangsta-Rapper, wie die Beiträge des Bandes zeigen, gegen institutionell-rassistische Diskriminierung und klassenpolitische Herrschaft Position beziehen, reproduzieren (oder verstärken) sie dabei patriarchale Ordnungsmuster häufig in hohem Maße.

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Solche Motive finden wir auch in der klassischen (im Rap und v.a. im Gangsta-Rap) „From rags to riches“-Erzählung, im „Hustler“ oder dem ausgeprägten Heldenmut des einzelnen Mannes, der sich gegen vielfältige Widerstände selbständig und unabhängig zu behaupten vermag. Ist es also vielleicht so, dass die Gangsta-Rapper trotz kollektiver Leidens- und Ausschlusserfahrungen gar keinen kollektiven Widerstand leisten möchten? Im Gespräch mit dem Rap-Journalisten Falk Schacht paraphrasierten wir eines der Hauptanliegen der frühen Kritischen Theorie mit Blick auf die klassenpolitische Dimension von Gangsta-Rap: MS: In der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule geht es ja immer um die Idee, warum die Arbeiter die Revolution nicht machen, obwohl sie es eigentlich tun sollen. Das könnte man ja auch auf Rap übertragen. Warum schließen die sich nicht zusammen und vertreten ihre Interessen kollektiv? FS: Erstens haben sie es nie gelernt. Zweitens war nie irgendjemand bei ihnen, der versucht hätte ihre Kräfte zu bündeln. Die Umstände, in denen sozial Schwache leben müssen, bringen automatisch Einzelkämpfer hervor, die hauptsächlich damit beschäftigt sind zu überleben. Wenn man damit aufwächst, Einzelkämpfer zu sein, dann sieht man denjenigen, der neben einem steht, nicht als einen Partner für die Revolution, sondern als Konkurrenten im Überlebenskampf an. Es gibt keine Gewerkschaft für sozial schwache Viertel. Die kommt und sagt, wir sorgen dafür, dass ihr mehr Geld bekommt. In diesem Falle wären die Gewerkschaften Parteien, die diese Funktion übernehmen sollten. Aber die Politiker-Verdrossenheit ist auf einem Allzeithoch. Und die Selbstorganisation als Gruppe, die dann übrig bliebe, ist nicht erlernt und auch nicht vielversprechend. Es bedeutet viel zu viel Arbeit. Die Prämisse des einzelnen ist: Ich brauche heute Geld, nicht in zwei Jahren. Das ist der Punkt, der die Jungs im Viertel umtreibt, dieser tägliche Hustle, wo kommt mein Geld her, wer gibt mir mein Hak, wo kriege ich mein Essen her? Wenn man nicht weiß, was man in drei Stunden zu fressen hat, dann hat man auch keine Zeit und keine Muße über die Revolution nachzudenken. Das ist der Punkt. Man muss sich die Revolution leisten können.

4 VORSTELLUNG DER BEITRÄGE Also keine ideologische, sondern eine materialistische Erklärung? In der Behandlung auch dieser Frage liegt ein erstes Ziel der Beiträge dieses Bandes, der Gangsta-Rap aus gesellschaftsanalytischer Perspektive und mit dem Fokus auf Kämpfe um Integration, soziale Ungleichheit und Anerkennung in den Blick nimmt. Anhand der Autobiografien von vier deutschen Gangsta-Rappern – Bushido, Massiv, Fler und Xatar – nimmt Martin Seeliger die kulturelle Konstruktion von Gangsta-Rap-Images vergleichend und aus intersektionaler Sicht in den

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Blick. Unter Bezug auf die Frankfurter Rapperin Schwesta Ewa arbeiten Tina Bifulco und Julia Reuter die Ambivalenzen des Genres mit Blick auf die Geschlechterimplikationen der typischen Selbstinszenierung heraus. Als Hintergrund zur Interpretation der Images aus dem symbolischen Repertoire des Gangsta-Rap wählen zwei Beiträge die kulturellen Implikationen der neoliberalen Gesellschaftsformation. Als empirische Basis dient hierbei nicht zufällig die Selbstdarstellung zwei der erfolgreichsten deutschen Gangsta-Rapper – nämlich Bushido bei Alexander Bendel und Nils Röper sowie Kollegah bei Gerrit Fröhlich und Daniel Röder. Den gesellschaftspolitischen Umgang mit Gangsta-Rap untersucht Thomas Hecken, indem er auf die öffentlichen Indizierungspraktiken im Umgang mit Genreprodukten eingeht. Den Blick auf Gangsta-Rap einer maßgeblichen kulturellen ‚Geschmacksinstanz‘, des Feuilletons, rekonstruiert Benjamin Burkhart in seinem Text. Burkart ermöglicht einen Einblick in den medialen deutschen Repräsentationszusammenhang. Ihre kulturhistorische Perspektive auf den Gegenstand Gangsta-Rap etablieren Murat Güngor und Hannes Loh mit einem thematisch innovativen Beitrag, der die Wurzeln des Genres in der deutschen Einwanderungsgeschichte lokalisiert. Diese kulturhistorische Rückbindung ermöglicht den Einbezug eines genuin politischen Momentes. In ähnlicher Weise interpretiert Ayla Güler Saied die Bildwelten des Genres vor dem Hintergrund einer Konfliktkonstellation der postmigrantischen Gesellschaft. Rap als „Ort sozialer Kämpfe“ fokussieren auch Moritz von Stetten und Jan Wysocki: Am Beispiel der Kölner Rapper Huss und Hodn zeigen sie, wie Grenzgänge innerhalb der Kultur symbolische Aushandlungen sichtbar machen. Tim Böder und Aylin Karabulut nehmen sich mit einer Rezeptionsstudie eines Feldes an, dass bislang in den HipHop-Studies unterbelichtet blieb: Mit ihrem empirischen Beitrag (Gruppengespräch) gewähren sie Einblick in die Rezeptionsweisen und Relevanzsysteme von Gangsta-Rap-HörerInnen. Der Band schließt mit einer theoretisch-essayistischen Intervention durch Roger Behrens.

L ITERATUR Alim, Samy H. (2012): Bring It to the Cypher: Hip Hop Nation Language. In Forman, Murray; Neal, Mark Anthony: That’s the Joint. The HipHop Studies Reader. Second Edition. New York: Routledge. S. 530‒563. Androutsopoulos, Jannis (2003) HipHop und Sprache: Vertikale Intertextualität und die drei Sphären der Popkultur. In: Androutsopoulos, Jannis (Hg.): HipHop: globale Kultur – lokale Praktiken. Bielefeld: Transcript. S. 111‒ 136.

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Androutsopoulos, Jannis (2016): Lyrics und Lesarten: Eine Drei-SphärenAnalyse anlässlich einer Anklage In: Dietrich, Marc (Hg.): Rap im 21. Jahrhundert. Eine Subkultur im Wandel. Bielefeld: Transcript. S. 171‒199. Asante Jr., M. K. (2008). It’s bigger than HipHop. The rise of the post-hiphop generation. New York: St. Martin’s Press. Bartlett, Andrew (2012): Airshafts, Loudspeakers, and the Hip-Hop Sample. In Forman, Murray; Neal, Mark Anthony: That’s the Joint. The HipHop Studies Reader. Second Edition. New York: Routledge. S. 564‒578. Barlösius, Eva (2004): Kämpfe um soziale Ungleichheit. Machttheoretische Perspektiven. Wiesbaden: VS. Bartsch, Matthias (2008). Exempel des Bösen. Spiegel 2/2008. Online-Publikation: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-55294620.html (Stand: 6.09. 2016). Behrens, Roger (2004): Adornos Rap. Quelle: http://txt.rogerbehrens.net/Rap. pdf. Benz, Wolfgang (2012): Deutschlands Muslime im Spiegel des Antisemitismus. Anmerkungen zur Entstehung und Tradition des Feindbildes Islam. In: Schneiders, Torsten Gerald (Hg.): Verhärtete Fronten. Der schwere Weg zu einer vernünftigen Islamkritik. Wiesbaden: Springer VS. S. 15‒25. Bescherer, Peter (2013): Vom Lumpenproletariat zur Unterschicht. Produktivistische Theorie und politische Praxis. Frankfurt/New York: Campus. Bojadzijev, Manuela (2008): Die windige Internationale. Rassismus und Kämpfe der Migration. Münster: Westfälisches Dampfboot. Bock, Karin; Meier, Stefan; Süß, Gunter (Hg.) (2007): HipHop meets Academia. Lokale Spuren eines globalen Kulturphänomens. Bielefeld: Transcript. Bourdieu, Pierre (1998): Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Bourdieu, Pierre; Wacquant, Loïc J. D. (2006): Reflexive Anthropologie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Boyd, Todd; Nuruddin, Yusuf (2012): Intergenerational Culture Wars: Civil Rights vs. Hip Hop. In Forman, Murray; Neal, Mark Anthony: That’s the Joint. The HipHop Studies Reader. Second Edition. New York: Routledge. S. 438-450. Bröckling, Ulrich (2007): Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Brown, Timothy J. (2006): „Welcome to the Terrordome: Exploring the Contradictions of a Hip-Hop Black Masculinity.“ Progressive Black Masculinities. Ed. Athena D. Mutua. New York/London: Routledge.

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Autobiografien deutscher Gangsta-Rapper im Vergleich M ARTIN S EELIGER

E INLEITUNG „Vielleicht nochmal ganz anders: Welche Rolle spielt eigentlich der GangstaRapper im Viertel? Oder: Wer im Viertel wird zum Gangsta-Rapper? Jemand, der wirklich Gangsta ist, und damit Geld verdient, ist doch nicht auf die paar lächerlichen Penunsen angewiesen, die ein Rapper verdient? Und sich auch noch dem ganzen Struggle auszusetzen, das Rappen zu lernen und dieses Texteschreiben. Das heißt, der Gangsta-Rapper ist doch im Viertel derjenige, der eh schon eine künstlerische Ader hat. Höchstwahrscheinlich auch nicht der beste und der härteste Gangster in seinem Viertel. Sondern er ist eher einer der etwas schwächeren im Viertel. In der Hierarchie eher unten angesiedelt. Und der fängt jetzt an zu rappen und in seinem Viertel werden sie ihn auch ein bisschen belächeln, weil die harten und oben stehenden Typen sind die, die das Geld verdienen. Und da ist jetzt dieser kleine Wicht und rappt. Und wenn der jetzt eine Karriere hinlegt und Aufmerksamkeit bekommt, dann steigt der und kriegt auch den Respekt und dann wird der auch interessant für die oben stehenden. Aber eigentlich ist der erstmal in dem Viertel der Schwächere.“ (Rap-Journalist Falk Schacht im Gespräch mit den Herausgebern)

In seiner zeitdiagnostischen Arbeit zur Bedeutung von Resonanz für den gesellschaftlichen Zusammenhalt gelangt der Sozialtheoretiker Hartmut Rosa zu einer skeptischen Einschätzung der (emanzipatorisch-)politischen Potenziale der Populärkultur. Diese, so Rosa (2016: 374), sei „überwiegend unpolitisch geworden, sie versteht sich kaum mehr als Avantgarde, sondern versucht eher in variierenden Retrowellen den Geist vergangener Tage (des Punk, des Rockabilly, der Flowerpower etc.) wiederzubeleben.“

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Wie die Analyse von vier Autobiografien deutscher Gangsta-Rapper zeigen wird, lässt sich diese Einschätzung mit Blick auf das zurzeit erfolgreichste Genre der deutschen HipHop-Kultur nicht bestätigen. Vielmehr enthalten die Lebensgeschichten von Bushido, Fler, Massiv und Xatar mit der Selbstbehauptung der Sprecher gegenüber einer als exklusiv und feindlich empfundenen Mehrheitsgesellschaft ein genuin politisches Moment. Unter Bezug auf verschiedene Elemente der Kulturtheorie und einige meiner früheren Veröffentlichungen zum Thema werde ich die jeweiligen Erzählungen im Folgenden als Versuch einer Aktualisierung hegemonialer Männlichkeit interpretieren.1

1 D ARSTELLUNG VON G ANGSTA-R AP UND DEN B ÜCHERN Als Subgenre von HipHop stellt Gangsta-Rap im Jahr 2016 die wohl unter verkaufs- als auch aufmerksamkeitsökonomischen Aspekten erfolgreichste Spielart dieser Kultursparte dar. Die Sozialfigur des Gangsta-Rappers entsteht hierbei im Schnittpunkt zweier Diskursstränge – einem krisenhaften, der junge Männer mit (zumeist arabischem) Migrations- und Bildungshintergrund, dafür allerdings mit Hang zu Homophobie, Misogynie und Gewalttätigkeit zur Gefahr für die gesellschaftliche Ordnung stilisiert. Mit Gayatri Spivak lässt (1995) sich die Verdichtung sinnstiftender Repräsentationen dieser Art als Form „epistemischer Gewalt“ verstehen. Hiermit bezeichnet die indisch-US-amerikanische Kulturwissenschaftlerin „Diskurse über den Anderen – die imperialistischen, orientalistischen, exotischen, anthropologischen und folkloristischen Diskurse, und die über die Kolonisierten und die Primitiven“ (Hall 1994a: 20). Wenn deutsche Medien wie der Spiegel mit seiner Titelstory (1/2008) eine „Migration der Gewalt“ oder in der Ausgabe (13/2007) eine „stille Islamisierung Deutschlands“ beschwören, transportieren sie gleichzeitig die symbolischen Rohmaterialien, die Rezipienten zur Konstruktion stereotyper Vorstellungen verwenden.2 Gleichzeitig, und so komplementiert die affirmativen Dimension dieses Krisendiskurses auch ein Moment des Empowerment, dient den Gangsta-Rappern (und womöglich auch einer Reihe von Rezipienten) die Profilierung über Rap (oder die dort inszenierten Tätigkeiten) als Ausweg aus dem Defizit an materiellen Gütern und Anerkennung. Mit den analysierten Autobiografien rücken in diesem Text vier Bü-

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Für wertvolle Hinweise danke ich Carolin Amlinger und Peter Schulz. Yildiz (2007: 38) bezeichnet diese subjektiven Selbstverständlichkeiten auch als „ethnisches Alltagswissen, das ständig reproduziert und bestätigt wird.“

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cher in den Fokus, die ihre Bedeutung – so ist zu argumentieren – innerhalb dieses Spannungsfeldes gewinnen. Das Feld der Literatursoziologie fristet, so Baasner (1996: 201) ein „Schattendasein“ zwischen den Disziplinen der Kultur- und Sozialwissenschaft und fokussiert dabei „die Interaktion der an der Literatur beteiligten Personen“ (Fügen 1974: 14) sowie die „Rahmenbedingungen, Strukturen und Konsequenzen literarischer Kommunikation“ (Dörner/Vogt 2013: 2 f.). Den umkämpften Charakter solcher Repräsentationen betonen unter anderem Pierre Bourdieu und Loic Wacquant (2006: 101), wenn sie die soziale Welt einen „Ort ständiger Kämpfe um den Sinn dieser Welt“ charakterisieren.3 Der Inhalt einer Autobiografie stellt hierbei keineswegs objektiv dar, wie ein Mensch wirklich ist, oder wie eine Lebensgeschichte sich tatsächlich vollzogen hat. Hierauf sind allenfalls Rückschlüsse möglich. Was uns eine Autobiografie in erster Linie zeigt, ist die Art, auf die der Autor oder die Autorin sich selbst in Szene zu setzen versucht. Zu einer interessanten Beobachtung gelangt hier Renate Liebold (2010: 280) in ihrer Auswertung einer Reihe aktueller Autobiografien sogenannter Spitzenmanager, die in ihren Darstellungen versuchen, sich als „Elite in einem substanziellen Sinn zu entwerfen.“ Verstehen wir dieses literarische „Bemühen um Distinktion und Zugehörigkeit“ mit Liebold (ebd.: 280) als „Charismatisierung ihres Erfolgs“, lässt sich dies mit Max Weber als (symbolische) soziale Schließung, oder mit Karl Marx (und damit auch Seeliger und Knüttel 2010) als „Klassenkampf von oben“ begreifen. Aber bedeutet dies, dass sich die Äußerungen der Gangsta-Rapper demgegenüber als Gegenbewegung interpretieren lassen? Die Auseinandersetzung mit literarischen Äußerungen von Akteuren aus dem Feld des Gangsta-Rap bewegt sich damit innerhalb eines krisenhaften Diskurses um Einwanderung und Integration. Der stereotype Gangsta-Rapper tritt hierbei insofern als „Figur des Fremden“ (Siebel 2015: 35) in Erscheinung, als dass „normale Entwicklungsverläufe und langweiliger Alltag weniger berichtenswert sind als vielmehr exotische Besonderheiten und emotional aufwühlende Konstellationen“ (Leenen/Grosch 2009: 216).

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Ähnlich erkennt auch Herbert Blumer (2013: 141) die Entstehung sozialer Probleme als „Resultat eines Prozesses kollektiver Definition“. Gesellschaftliche Missstände erscheinen aus dieser Sicht also keineswegs als objektiv gegeben, sondern entstehen als Gegenstand sozialer Konstruktion.

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1.1 Theoretischer Rahmen Ein theoretischer Rahmen gibt die Aspekte vor, unter denen man das zu untersuchende Material analysiert. Im Folgenden setzt sich dieser Rahmen aus Elementen der Auseinandersetzung mit Intersektionalität (und insbesondere hegemonialer Männlichkeit) sowie verschiedenen Konzepten der Kritischen Theorie sowie der Cultural Studies zusammen. Diese werden im Folgenden genauer vorzustellen sein. 1.1.1 Gangsta-Rap-Images aus intersektionaler Perspektive Wenn, wie Stuart Hall (1994: 74) betont, Identität „immer auch eine Erzählung, eine Art der Repräsentation“ darstellt, lassen sich bei der Selbstinszenierung von Gangsta-Rappern eine Reihe von Bezügen auf unterschiedliche soziale Zugehörigkeiten als zentrale Referenzpunkte erkennen. Diese werden sozialtheoretisch mit Hilfe eines Ansatzes erfassbar, welcher seit den 1990er Jahren erst im Feld der Frauen- und Geschlechterforschung (Crenshaw 1991) und seit einiger Zeit auch im Bereich der Soziologie sozialer Ungleichheiten Anwendung findet. Die Rede ist vom Konzept der Intersektionalität. Die Grundidee des Ansatzes liegt darin, dass sich soziale Disparitäten in aller Regel nicht unter Bezug auf eine einzelne Kategorie sozialer Zugehörigkeit erklären lassen. Während besonders die ersten Ansätze zur Analyse solcher Disparitäten traditionell vor allem die Kategorien Ethnizität, Klasse und Geschlecht in Betracht gezogen haben (vgl. etwa die Beiträge in Klinger et al. 2007), eignet sich zum Verständnis der kulturellen Konstruktion von Gangsta-Rap-Images ein erweitertes Konzept, wie es Degele und Winker (2009) vorschlagen.4 Die besondere Bedeutung von Klasse für die subjektive Identitätsentwicklung ergibt sich einerseits durch ihre Verbindung „mit dem materiellen Leben und durch die Ökonomie selbst“ (Hall 1994: 69 f.). Doch hat die Position innerhalb eines Systems der Leistungserstellung und Güterverteilung nicht nur unmittelbaren Einfluss auf den Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen. Zusätzlich prägt sie auch das Selbstverständnis von Personen. Ob jemand arm oder reich ist, bezeichnet in der Regel nicht nur, ob er bestimmte Dinge besitzt, sondern auch, ob er bedient oder in Anspruch nimmt, Ansehen genießt oder sich unterordnen muss. In einem früheren Text (Seeliger 2012) habe ich gezeigt, weshalb sich Gangsta-Rap-Images aus Sicht einer politischen Soziologie sozialer Ungleichheit

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Zusätzlich zu Klasse, Ethnizität und Geschlecht rückt hier die Kategorie Körper ins Zentrum des Interesses.

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auch als Images klassenpolitischer Auseinandersetzung ansehen lassen: Es geht hier um Arme, die sich mit der (aus ihrer Sicht ungerechten) materiellen Privilegierung einiger Reicher nicht abfinden möchten.5 Zentrales Thema im Gangsta-Rap ist neben der Armut auch die Verwehrung kultureller Teilhabechancen auf Grund rassistischer Ausschlüsse. Ein Migrationshintergrund im arabisch-islamischen Kulturkreis bringt die Protagonisten hier häufig in die Situation, sich mit Stereotypen auseinandersetzen zu müssen. Neben den Ausschlusserfahrungen ermöglichen diese jedoch gleichzeitig ein ‚Aufbauen‘ auf denjenigen Krisendiskursen, die junge Männer mit Migrationshintergrund häufig als Gewalttäter und Kriminelle stigmatisieren. Die Beibehaltung der Kultur des Herkunftslandes unter Migranten und deren Nachkommen ist in der deutschen Gesellschaft also mit einer häufig anhaltenden Fremdheitserfahrung unter den Eingewanderten verbunden. Die hieraus resultierende „Frage der Zugehörigkeit“ erkennt Foroutan (2013: 92) als Resultat „einer Gleichzeitigkeit von (identitären) Referenzsystemen, die dann problematisch sein kann, wenn diese vom Geltungsanspruch der Mehrheitsgesellschaft als antagonistisch, als dem Eigenen widersprechend betrachtet“ wird (ebd. 91). Wie Mannitz (2006) in ihrer äußerst instruktiven Studie zur Selbstverortung Jugendlicher (Post-)MigrantInnen in der Bundesrepublik zeigt, wirkt sich die multiple Identifikation häufig in Form eines „Bekenntniszwangs“. Während Kulturelemente der Aufnahmegesellschaft (schminken, Ausgang bis spät in die Nacht) von Seiten der Familien kritisiert wird – Mannitz (2006: 172) bezeichnet dies als „Verdeutschung“ –, zeigen die Institutionen der Aufnahmegesellschaft (und hier vor allem die Schule) eine Tendenz, den Betroffenen eben diese Verdeutschung abzuverlangen. Mit einem verstehenden Zugang zur Lebenswelt der befragten Jugendlichen gelangt die Autorin zur Rekonstruktion ihres Verständnisses von „Deutsch-Sein“ als „ein dichtes Knäuel an Vergemeinschaftungsmomenten und Eigenschaften […], von denen nur manche teilbar waren: Abstammung, die nationale Geschichte, eine Mentalität, die für kühle Rationalität und ökonomischen Erfolg stand, aber auch für irrationalen Fremdenhass und systematischen Völkermord, modernes gesellschaftliches Leben, Gleichberechtigungsideale, Diskussionskompetenz und Kompromissbereitschaft – eine so

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Oder zumindest insofern nicht, als dass sie nicht selbst arm bleiben möchten. Inwiefern die Konsequenz einer solchen (geteilten) Ungleichheitserfahrung eine kollektive Klassenpolitische Mobilisierung bedeutet, stellt sich aus Sicht der verschiedenen Genrevertreter höchst unterschiedlich dar.

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komplexe wie ambivalente Melange. Werden könne man es höchstens bis zu einem Grad von ‚deutsch halb-halb‘.“

Ethnizität als soziale Zugehörigkeit geht also nicht nur einher mit Fremdzuschreibungen, sondern – besonders in Verbindung mit Klassenzugehörigkeit – auch mit einer Prägung der eigenen Sicht auf die Welt. Da es sich bei den Protagonisten im Gangsta-Rap fast ausschließlich um Männer handelt6 und sich diese vorwiegend über maskulin konnotierte Verhaltensweisen profilieren, ist die Geschlechterdimension des Themas unter Aspekten von hegemonialer Männlichkeit zu beleuchten. Das von Raewynn Connell (2006) eingeführte Konzept dient dem Verständnis der Beziehungen zwischen unterschiedlichen Formen von Männlichkeit. Indem Männer mit unterschiedlichen sozialen Hintergründen um die legitime Vertreterschaft der hegemonialen Männlichkeit konkurrieren, wird Männlichkeit zum Statuswettbewerb verschiedener Gruppen. Als aktuell erfolgreichstes Projekt zur Vertreterschaft erkennen Connell und Messerschmidt (2005) die ‚global business masculinity‘, wie sie z.B. ein Josef Ackermann vertreten hat.7 Komplementär bilden sich so auch subordinierte Männlichkeiten heraus. Dass sich deren Auftreten mitunter als offenes Konkurrenzverhalten im Wettbewerb um die Vertreterschaft hegemonialer Männlichkeit verstehen lässt, habe ich in anderem Rahmen gezeigt (Seeliger 2013). 1.1.2 Zum Verständnis von Populärkultur: Nicht Kritische Theorie, sondern Cultural Studies! Nun erscheint Gangsta-Rap als Reproduktion patriarchaler Muster im homosozialen Wettstreit um die legitime Form der Männerdominanz im Rahmen kulturindustrieller Inszenierungen nicht unbedingt als progressive Kulturform im emanzipatorischen Sinne. Diese nicht nur potenziell, sondern höchstwahrscheinlich konservative (wenn nicht: regressive) Repräsentation von Kultur ist in der Geschichte der Geistes- und Sozialwissenschaften wohl am schärfsten (und pessimistischsten) durch die erste Generation der Frankfurter Schule kritisiert wor-

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Für Ausnahmen in Form einer „weiblichen Empowerment“ siehe Gosmann und Seeliger (2013). Zur Kultivierung solcher Idealbilder siehe die Arbeiten zum Business Punk von Seeliger (2011).

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den. Für Horkheimer und Adorno (1988) gleicht die Produktion von „Massenkultur“ der Fertigung anderer Güter insofern, als dass unter Bedingungen einer kapitalistischen Gesellschaft beide der Wertform unterworfen sind. Da die Rezipienten dieser Kultur unter Bedingungen eines gesamtgesellschaftlich wirksamen Verblendungszusammenhangs lediglich über ein „verdinglichtes Bewusstsein“ (Adorno 1973: 292) angeleitet würden, ist die Produktion von Kultur bereits auf der Angebotsseite abgeschlossen. Von dieser Sichtweise, möchte ich mich im Folgenden (zumindest teilweise) abgrenzen. Denn zwar scheint mir die Kritik an den Institutionen einer – wie auch immer genau – ‚verwalteten Welt‘ (Adorno 2003) zwar als interessant und nötig, methodologisch aber in einer Weise zu kurz greifend, die ein Verständnis der sozialen Welt nicht nur erschwert, sondern wenigstens zum Teil verunmöglicht. Gegenüber dem makrosoziologischen Zugang der Kritischen Theorie, fokussiert die Perspektive der Cultural Studies die alltagsweltliche Produktion, Adaption und Transformation makrosozial zirkulierender Kulturmuster. Den Begriff der Kultur konzipieren Vertreter der Cultural Studies hierbei konsequent unter politischen Aspekten. Ähnlich wie Bourdieu und Wacquant (2006) steht hierbei die Konstruktion sozialer Wirklichkeit im Widerstreit unterschiedlicher Akteure im Mittelpunkt des Interesses: „Popular Culture is always a culture of conflict, it always involves the struggle to make social meanings that are in the interest of the subordinate and that are not those preferred by the dominant ideology. The victories, however fleeting or limited, in this struggle 9

produce popular pleasure, for popular is always social and political“ (Fiske 1989: 3).

Ganz in diesem Sinne erkennt Scharenberg (2001: 247) in den Repräsentationen der HipHop-Kultur einen „symbolische[n] Angriff auf die dominanzkulturelle Hegemonie.“ Den Symbolen der Dominanzkultur würden hierbei „eigene Zei-

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Entsprechend verstanden und bezeichneten die Protagonisten dieses Ansatzes ihre Theorie auch als eine „Kritische Theorie“. In Bezug auf Rap-Musik siehe hierzu – positiv – Behrens (2004) und – negativ – Seeliger (2016). Diese (potenziell emanzipatorische) Kraft der Populärkultur ist in der politischen (Revolutions-)Theorie keineswegs unbeachtet geblieben. Besonders deutlich zeigt sich dies im Plädoyer für die Politisierung der Literatur, wie es Wladimir Iljitsch Lenin (1905: 13f) äußert: „Nieder mit den parteilosen Literaten! Nieder mit den literarischen Übermenschen! Die literarische Tätigkeit muss zu einem Teil der allgemeinen proletarischen Sache, zu einem ‚Rädchen und Schräubchen‘ des einen einheitlichen, großen sozialdemokratischen Mechanismus werden, der von dem ganzen politisch bewussten Vortrupp der ganzen Arbeiterklasse in Bewegung gesetzt wird.“

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chen und Symbole, auch eine eigene Sprache, also: das eigene kulturelle Kapital, entgegengesetzt“ (ebd. 248). Keineswegs als voluntaristische Theorie gedacht, zieht die Perspektive der Cultural Studies herrschende Ideologien als wirkmächtige Faktoren in Betracht. Für das Feld des Gangsta-Rap hieße dies zuerst den eingangs vorgestellten Krisendiskurs um migrantische Männer als Teil des semantischen Bezugsrahmens in Betracht zu ziehen, innerhalb dessen Äußerungen von Gangsta-Rappern ihre spezifische Bedeutung gewinnen. Eine „strategische Diskurspolitik“, so Ha (2005: 115) geht hierbei „von der zentralen Einsicht aus, dass rassistisch Marginalisierte von der Dominanzkultur als ‚Kanaken‘ mit all ihren negativen Abwertungen konstruiert werden.“ Gleichzeitig, und dies ist nicht nur den GangstaRappern klar, sondern auch vielen Rezipienten bewusst, geht es bei der Aneignung solcher Images „gerade nicht um eine freie Identitätswahl, sondern darum, ein aufgezwungenes Selbstbild zu unterlaufen“ (ebd.).

2 U NTERSUCHUNG

DER VIER

AUTOBIOGRAFIEN

Dieser Abschnitt stellt die untersuchten Autobiografien dar. Einer allgemeinen Darstellung des Inhalts folgt eine kurze Beurteilung im Lichte der theoretischen Rahmung. Der Abschnitt schließt mit einem Vergleich. Dass mit den vier Titeln nicht alle Buchveröffentlichungen deutscher Gangsta-Rapper berücksichtigt werden, liegt daran, dass das zweite Buch von Bushido (2013) nicht schwerpunktmäßig biografisch orientiert und die angekündigte Lebensgeschichte von Haftbefehl (2016) gegenwärtig noch nicht erschienen ist. Die Reihenfolge der Darstellung orientiert sich an den Zeitpunkten ihrer Veröffentlichung. Bushido – Bushido Als erste Publikation aus dem Genre ‚Biografien von Gangsta-Rappern‘ erfüllt Bushido als Buchautor die gleiche Pionierrolle, die er auch im deutschen Gangsta-Rap insgesamt einnimmt. Schon als Kind ist der stark auf seine Mutter fixierte Bushido Zeuge häuslicher Gewalt, die sein Vater und später sein Stiefvater gegen diese ausüben. An Stelle der vollzeiterwerbstätigen Mutter muss der Junge schon früh Verantwortung übernehmen. Ein biografischer Aspekt, der sich im Selbstverständnis Bushidos abzeichnet, wenn er im Buch bemerkt „Für meinen Bruder war ich schon immer mehr als nur der große Bruder“ (2008: 78). Gleichzeitig betont er von Anfang an, wie die materiell ungünstigen Ausgangsverhältnisse für ihn die Kultivierung starker Durchsetzungsfähigkeit be-

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dingten. So lässt er sich etwa spontan zum Schulsprecher wählen oder entschließt sich kurzerhand zu einer Laufbahn als Drogendealer. Bei diesem Einstieg in die kriminelle Laufbahn kommt seiner Mutter, die ihn (wie auch im Fall seiner Rap-Karriere, für die sie ihm mit geborgtem Geld einen Sampler kauft) mit dem nötigen Startkapital ausstattet, eine Schlüsselrolle zu. Mit ihrem Einverständnis handelt er erst mit Marihuana, später mit Ecstacy und schließlich mit Kokain. Dass ihm diese Tätigkeit zwar Geld, nicht aber Anerkennung durch die oberen Schichten bringt, tritt besonders deutlich hervor, als eine romantische Beziehung zu Selina, der Tochter eines reichen Haushaltes, beginnt. Gespräche, die er am Mittagstisch mit ihren Eltern über seine berufliche Perspektive führt, erlebt der Junge als besonders unangenehm. Dass er beim Sex mit Selina von deren Mutter im Wohnzimmer des elterlichen Hauses erwischt wird, erscheint vor diesem Hintergrund als symbolische Konfrontation bourgeoisen Wohlstands mit seiner überlegenen Potenz. Ein ähnliches Motiv wiederholt sich, als Bushido nach der Trennung ihren neuen Freund verprügelt. Nachdem er beim Dealen erwischt wird, landet er auf Umwegen in einer „Ausbildungsstätte für Benachteiligte Jugendliche“, wo er eine Lehre als Maler und Lackierer beginnt und auf Fler trifft. Nach Abschluss der Lehre beschließt Bushido, sich von nun an vollständig auf das Rappen zu konzentrieren. Sein erster Vertrag mit dem Label Aggro Berlin verhilft Bushido zu deutschlandweiter Popularität. Doch als die Vereinbarung sich für ihn als unwirtschaftlich darstellt, mobilisiert Bushido Hilfe aus dem kriminellen Milieu Berlins: Mit Hilfe der Abou Chaker-Familie gelingt es ihm, den Vertrag zu lösen. Diese Trennung von Aggro Berlin und der Wechsel zu Universal beschreibt das Buch sehr detailgetreu. Deutlich wird hier auch seine enge Verbindung zur Unterwelt: „Die Polizei zählt das Café Al Bustan [Treffpunkt der Abou ChakerFamilie, M.S.] zu den gefährlichsten Plätzen Berlins. Für mich ist es der einzige Zufluchtsort, an dem ich mich wirklich wohl fühle“ (Bushido 2008: 205). Gleichzeitig nutzt Bushido auch Metaphern aus dem Spitzensport, um seinen Marktwert innerhalb der Musikindustrie zu verdeutlichen: „Ich war 28 Jahre alt, am Höhepunkt meiner Karriere, ablösefrei und bereit für den letzten großen Vertrag meines Lebens“ (ebd. 237). Die Fußballmetapher versinnbildlicht einmal mehr die Verquickung physischer Durchsetzungsfähigkeit und wirtschaftlichen Erfolges zu einem spezifischen Ideal von Männlichkeit. Als biografische Grundbestandteile bilden das Fundament dieser Persönlichkeitsentwicklung die frühe Übernahme von Verantwortung in der Familie sowie das disziplinierende Moment der Berufsausbildung. Gleichzeitig erscheinen aber auch die Ausgrenzungs- und Stigmatisierungserfahrungen von Seiten der deut-

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schen Mehrheitsgesellschaft als wesentliche Motivation, deren Vertreter unter Bezug auf ihre eigenen Maßstäbe zu übertreffen.10 Eine weitere Facette des von Bushido kultivierten Männlichkeitsbildes ist in seiner ambivalenten Haltung gegenüber Frauen zu erkennen. Die bedingungslose Liebe und Verehrung der Mutter findet ihr Gegenteil in der krassen Gefühllosigkeit, die Bushido gegenüber anderen Frauen an den Tag legt, sobald er mit ihnen romantische und/oder sexuelle Beziehungen eingeht. Ursächlich führt er dies auf seine Erfahrungen mit Selina zurück. Diese habe aus ihm einen „skrupellosen Sex-Gangster“ gemacht, schreibt er, und auf diese Weise „ein Monster erschaffen“. Aus diesem Grund demütigt er daher auf Tour seine Groupies, z.B. indem er sie vor seinen Freunden beschimpft, oder beschreibt auf reißerische Weise Szenen sexueller Gewalt, um so die Ehrlosigkeit der betroffenen Frauen zu begründen (2008: 289). Unter der Überschrift „Schwuchtel oder Mann?“ finden sich im Buch einige Ratschläge zur Gestaltung eines gelungenen männlichen Lebensentwurfes: „Die perfekte Beziehung gibt es sowieso nicht. Ganz ehrlich: Würde die Fickerei nicht so viel Laune machen, gäbe es keinen Grund, überhaupt mit einem Mädchen zusammen zu sein“ (2008: 126).11 Die Geschichte Bushidos bewegt sich im Einklang mit einer neoliberalen Leistungsfähigkeitserzählung (Neckel 2006; 2008), die eine Entwicklung individueller Protagonisten von einer schlechten in eine bessere (nein: die beste!) Situation beschreibt.12 Dieses Credo formuliert auch Bushido (2008: 11) gleich zu Anfang seines Textes recht explizit: „Ich wollte immer nur das Beste aus meinem Leben machen, deshalb bereue ich auch im Nachhinein keinen einzigen Tag und keine einzige Tat.“ Und weiter: „Glaube an dich und du kannst alles erreichen, was du willst“ (ebd. 14). Im Kontext seines Gesamtwerks betrachtet stellt der hier transportierte Überlegenheitsgestus den Kern der Marke ‚Bushido‘ dar. Und so überrascht auch nicht der personelle Referenzrahmen, den er aufspannt, wenn er ankündigt, der Nachwelt etwas hinterlassen zu wollen: „Meine

10 Wie Bushido in seinem zweiten Buch (2013: 171) schreibt, bestätigt ihm sogar seine Ehefrau, „dass deutsche Typen in der Pubertät stecken geblieben sind.“ 11 Entweder, so heißt es dort weiter, „du hältst das Schiff über Wasser“ oder „du öffnest dich vollkommen und kannst hundertprozentig davon ausgehen, dass deine Freundin oder Frau eines Tages zur Hure wird, ein Messer tief in dein Herz sticht und ganz langsam darin herumstochert“ (ebd.: 127). Zu diesem Zeitpunkt (d.h. bevor er ein paar Jahre nach Erscheinen seines Buches die Schwester Sarah Connors’ heiratet) ist nur die eigene Mutter in Ordnung. Und daher hat er sich auch ihren Namen ‚Luise Maria‘ auf den rechten Unterarm tätowiert. 12 Man kann sie allerdings nie erreichen, denn etwas besser geht immer.

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Vorbilder in dieser Hinsicht sind Menschen wie Galileo, Platon, Einstein, Mandela, Achilles oder Columbus“ (ebd. 368). Fler – Im Bus ganz hinten Der Rapper Fler (bürgerlich Patrick Decker) bezieht sich als einziger der vier Rapper auf seine deutsche Abstammung. Seinen leiblichen Vater beschreibt er als Alkoholiker, der im Zorn gegen Flers Mutter dessen erste Gewalterfahrung auslöste. Die eigenen psychischen Leiden thematisiert Fler im Buch sehr explizit (tatsächlich werden dem Kontakt mit den Institutionen des Gesundheitssystems – Psychiatrie, Psychologin – eigene Kapitel eingeräumt). Er pflegt weiterhin einen offenen Umgang mit einer ADHS-Erkrankung und dem regelmäßigen Gebrauch von Ritalin und anderen Medikamenten. Seine Schwierigkeiten im Umgang mit sich selbst und anderen thematisiert er im Verlauf des Buches sehr offen.13 Eine zentrale Bedeutung kommt im Buch dem Verhältnis zwischen Fler und seiner Mutter zu, das durch eine ständige Wiederholung von Enttäuschungs- und Missachtungserfahrungen geprägt ist. Dies schildert das Buch anhand einer Reihe kleinerer Beispiele: So verspricht die Mutter dem Jungen, ihn und einen Freund bei der Mini Playback-Show anzumelden, setzt dies aber nie in die Tat um. Gleichzeitig begegnet sie ihm häufig vorwurfsvoll: „‚Du bist echt zu nichts zu gebrauchen‘, war einer ihrer Lieblingssätze“ (Fler 2011: 20). Dass Fler sie beim Sex mit ihrem neuen Partner überrascht, versinnbildlicht dem Jungen seinen Ausschluss aus der elterlichen Beziehung. Ansonsten ist Flers Kindheit zwar nicht von existenziellem Mangel, verglichen mit dem Rest der Gesellschaft jedoch durchaus von materieller Armut geprägt. Mit der deutschen „Minderheit“ (ebd. 36) in seinem Viertel kann er sich schon in frühen Jugendjahren nicht identifizieren: „Die Deutschen waren mir einfach zu langweilig – die meisten hatten einen Stock im Arsch und waren komplett uncool.“ Bei den Ausländern hingegen bewundert er das „Zusammengehörigkeitsgefühl“ (Fler 2011: 38): „Sie waren alle wie Brüder. Und: Sie waren stolz auf ihre Herkunft. Die Ausländer waren die Kings der Hood“ (ebd.). Eine Verquickung von ethnischer und Klassenidentität zeigt sich, als Fler in der vierten Klasse auf eine Schule in Zehlendorf wechselt:

13 Man erinnere sich auch an sein 2015 veröffentlichtes Album unter dem Titel „Keiner kommt klar mit mir“.

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„Das bedeutete: Raus aus dem Getto, hin zu den reichen Kids! Schon im Bus dahin merkte ich, dass ich komplett anders war als der Rest. Die Kinder, die auf diese Schule gingen, waren arrogant und kamen sich supergeil vor“ (2011: 49).

Als „einzige[n] Lichtblick“ bezeichnet Fler (ebd.: 50) seinen Klassenkameraden Yazid. Beide Jungen legen ähnlich rüpelhafte Eigenschaften an den Tag, verhalten sich aber gleichzeitig aufrichtig zueinander und halten zusammen. Die anderen Jungen (Mädchen kommen als aktiv Handelnde in der Erzählung kaum vor) stellt Fler als verweichlicht und hinterhältig dar („In den Gemeinschaftsduschen verarschten wir die anderen Jungs wegen ihrer lächerlichen Miniaturschwänze“; ebd.). Auch darüber hinaus beschreibt Fler seine verwahrloste Jugend, die geprägt ist durch Gewalt- und Delinquenzerfahrungen (so wohnt er etwa auch einer Vergewaltigung bei, die damalige Freunde begehen; Fler 2011: 80). Als Kind und Jugendlicher ist Fler hyperaktiv und als seine Mutter, um Geld zu sparen (Fler 2011: 59 f.), das Ritalin absetzt, erleidet der Junge einen Zusammenbruch und wird von seiner Kinderpsychologin ins Heim eingewiesen. In diesem Abschnitt, so Fler, erlebt er einen Tiefpunkt in seinem Leben: „Ich stand auf der Straße im Regen und stand kurz davor, mich aufzugeben“ (ebd.: 87). In der Ausbildung, die er im Wannseer Don Bosco-Heim beginnt, trifft Fler auf Bushido, der ihm in den kommenden Jahren als Vorbild dienen soll. Als dieser nach Abschluss seiner Lehre ankündigt, sich in Zukunft auf das Rappen konzentrieren zu wollen, folgt ihm Fler (seinerseits allerdings ohne Abschluss). Der Anfang 20-Jährige genießt von nun an das Leben als Rapper, es folgen Geschichten von der ersten Tour, die Darstellung ausschweifender sexueller Erfahrungen und Kleingaunereien. Nach der Trennung von Bushido folgt das Angebot eines Plattenvertrages durch das Label Aggro Berlin und der Aufstieg Flers als Rapper hält an. Als er schließlich feststellt, dass die Labelbetreiber ihn nicht nur wirtschaftlich benachteiligen, sondern auch unkollegial behandeln, trennt er sich von ihnen. Am Ende des Buches versöhnt er sich mit Bushido und beschreibt so seine finanzielle und persönliche Restauration. Stilistisch entspricht das Buch im Großen und Ganzen dem Genre des Jugendpopjournalismus. Dies mag damit zusammenhängen, dass Fler mit den „Bravo“-RedakteurInnen Julia Kautz und Sascha Wernicke als Co-Autoren zusammengearbeitet hat. Als zentrales inhaltliches Motiv des Buches erscheint der Topos der verschiedentlichen ‚Wiederauferstehung‘ Flers. Sein offener Umgang mit Verletzlichkeiten und Niederlagen ermöglicht ihm eine Dramaturgie, in dem es ihm unter widrigen Bedingungen immer wieder gelingt, gestärkt aus der Lösung seiner Probleme hervorzugehen.

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Massiv – Solange mein Herz schlägt Als Sohn libanesischer Flüchtlinge palästinensischen Ursprungs wächst Massiv im rheinland-pfälzischen Pirmasens auf. Der Junge ist ein schlechter Schüler. Früh plagen ihn Selbstzweifel, die auch durch eine ständige Infragestellung des Jungen von Seiten des Vaters genährt werden. Ihr liebloses, häufig aggressives Verhältnis geprägt war durch ständige Demütigung („Wenn Baba lachte, dann nur über mich“; Massiv 2012: 33). Und auch im Wettbewerb um die Anerkennung der Eltern unterliegt er immer wieder der älteren Schwester. Obwohl der Vater hart und regelmäßig arbeitet, bleibt die Familie arm. Die Schilderung der väterlichen Erwerbstätigkeit ist geprägt von klassischen Gastarbeiter-Topoi: Einmal etwa fällt er positiv auf, weil er im Betrieb eine Toilette mit den Händen reinigt, die sonst keiner der Kollegen auch nur anzufassen wagt. Stärke gegenüber seinem Sohn beweíst der Vater, indem er anhaltend Anpassungsfähigkeit und Härte zum Maßstab männlicher Tugendhaftigkeit erklärt: „Er meinte, Menschen die auf Sozialhilfe leben oder illegal arbeiten würden, müsste man umbringen; auf der faulen Haut liegen sei beschämend und eine Schande für jeden Menschen“ (Massiv 2012: 34). Eine Missbrauchserfahrung, die Massiv im frühen Jugendalter erlebt, treibt diese Diskrepanz weiter auf die Spitze. Denn mit dem psychische Leidensdruck erhöhen sich auch die Erwartungen des Vaters, wenn er sagt: „Arabische Männer sind stolze Männer. Sie weinen nicht. Sie geben nicht auf. Sie sind bereit, für ihre Überzeugung zu sterben. Sie sind bereit, für ihre Heimat zu sterben“ (2012: 107). In der Selbstdarstellung von Massiv im Buch findet sich immer wieder ein starker Bezug zur palästinensischen Abstammung der Eltern wieder. Die Migrationsgeschichte der Familie (Flucht in den Libanon, schließlich Gewährung von Asyl in Deutschland) verunmöglicht dem Jungen eine eindeutige Identifikation mit einem einzelnen nationalen Kulturraum, schon als Kind fühlt er sich als „nichts Halbes und nichts Ganzes“ (ebd. 2012: 60). Auf Grund seiner schlechten schulischen Leistungen schicken die Eltern ihn in eine christliche Betreuungseinrichtung zum Nachhilfeunterricht. Von den dort tätigen Ordensschwestern erfährt er vor allem Geringschätzung; sie nennen ihn nicht beim Namen, sondern sagen „Du da“ und zwingen ihn als Strafarbeit das Vaterunser abzuschreiben. Als er sich weigert, von den Nonnen serviertes Schweinefleisch zu essen, wird er des Heimes verwiesen. Dass er, so lässt sich interpretieren, die zwangsförmige Assimilation verweigert, bringt ihm von Seiten der Eltern allerdings keinerlei Anerkennung ein: Die Mutter reagiert enttäuscht und der Vater wird wütend.

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Nachdem er die Schule verlassen hat, stellt sich für den Jungen heraus, dass eine solide Erwerbstätigkeit ihn weder zufriedenstellt, noch sein Auskommen gewährleistet. Er bricht fünf (!) Ausbildungen ab (vgl. ebd.: 198)14 und nimmt eine erfolgreiche Tätigkeit als Drogendealer auf. Während seine beiden Geschäftspartner ihren Teil des Gewinns gleich ausgeben, beginnt Massiv Geld zu sparen. Gleichzeitig professionalisiert er nicht nur seine Kriminellen-Tätigkeit, sondern beginnt systematisch Kraftsport zu betreiben. Aus dem Schatten des Vaters tritt er also über die Kultivierung eines unternehmerischen Selbstentwurfes heraus. Als sein bester Freund auf Grund seiner Verstrickung in den lokalen Rauschgifthandel zu neun Jahren Gefängnis verurteilt wird, trifft Massiv nach dem Prozess zufällig auf den Täter, der ihn als Kind misshandelt hat. Aus Rache verprügelt er den Mann noch im Gerichtsgebäude. Anschließend sinniert er über Gerechtigkeit: „Jemand, der einem Kind die Kindheit stahl, kam ungestraft davon, doch wehe dem, der den Staat beklaute – der musste bluten“ (ebd. 2012: 195). Im Gespräch mit in der Nähe stationierten GI’s entdeckt er sein Talent für Rap und entscheidet, einen entsprechenden Karriereweg einzuschlagen (die Eltern sind natürlich dagegen). Nachdem er eine Demo-CD aufgenommen und an eine Reihe von Labels und Produzenten verschickt hat, lädt ihn der Berliner Rapper MC Bastard ein, gemeinsam mit ihm ein paar Songs aufzunehmen. Er überredet seine Eltern, mit ihm nach Berlin zu kommen. Mit Hilfe des Ersparten vom Vater dreht er ein Video und schafft so den Durchbruch. Mit dem Vertrauen der Eltern ausgestattet gelingt so nicht nur die Verwirklichung seiner Aufstiegsträume, sondern gleichzeitig auch die Versöhnung mit der Familie. Als einen Moment des Triumphes schildert Massiv, wie er Eltern und Schwester nach Abschluss eines großen Plattenvertrags in ein teures Berliner Steakrestaurant einlädt (Massiv 2012: 307 ff.). Mission Accomplished. Stilistisch bleibt das Buch– meinem Geschmack nach – hinter den anderen Büchern zurück: Zu ungeschickt ist der Ausdruck.15 Zu holzschnittartig und teilweise reißerisch sind die Formulierungen gewählt. Zu abrupt und drastisch verlaufen die Spannungsbögen. Die Erzählung klingt dabei streckenweise so unrealistisch, das es fast absurd wirkt.16 Insgesamt passt das aber auch zu den beson-

14 Wer kriegt nach der vierten abgebrochenen Ausbildung eigentlich noch einen Ausbildungsplatz? 15 „Er grinste schief und trat mit dem rechten Fuß gegen einen Stein, der mich treffsicher am Schienbein traf“ (Massiv 2012: 103). 16 Als er noch klein ist, freundet sich der junge Massiv etwa mit einer Ratte an, die bei ihnen in der Wohnung lebt. Mit Hilfe von Käsekrümeln bringt er der Ratte Kunst-

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ders übertriebenen Darstellungen, wie sie sich auch in Massivs Rap-Texten finden. Inhaltlich folgt das Buch der Struktur einer Aufstiegserzählung, die sich neben der Überwindung sozialer Hürden und materieller Mängel vor allem aus einer graduellen Aufarbeitung der Selbstzweifel ergibt, die der Junge im Verhältnis zu seiner Umwelt entwickelt hat. Hierbei ist vor allem die Bezugsperson des Vaters von Bedeutung: Während dieser sich als Gastarbeiter in schlecht bezahlten Jobs mit unangenehmen Aufgaben herumärgern muss, tritt Massiv aus seinem Schatten heraus, indem er als krimineller Unternehmer die Legitimität mehrheitsgesellschaftlicher Ordnung zu unterlaufen beginnt. Die Darstellung der erfolgreichen Laufbahn als Rapper lässt sich anschließend hieran auch als symbolischer Angriff auf die legitime Vertreterschaft hegemonialer Männlichkeit interpretieren. Xatar – Zähl’ so viele Scheine Du kannst, bevor Du sitzt Als Sohn geflüchteter Freiheitskämpfer aus dem kurdischen Teil des Irak kommt Xatar Mitte der 1980er Jahre nach Bonn ins Viertel Brüser Berg. In der kleinen Wohnung, die die Familie in der Celsiusstraße bezieht, herrscht, ähnlich wie im Viertel insgesamt, relative Armut. Durch Nebenjobs finanziert seine Mutter dem jungen Xatar Klavierunterricht, der – bedacht mit Talent und Durchhaltevermögen – sich auch als guter Basketballspieler und passabler Gymnasiast herausstellt. Von seinen Lehrern erhält Xatar fast gar keine Anerkennung. Stattdessen stellt die Erscheinung des ausländischen Jungen für die Pädagogen eine Provokation dar. In der Grundschule nimmt er mit einem aufwändigen Bild über Völkerverständigung an einem Malwettbewerb teil, den allerdings – Xatar meint zu Unrecht – ein deutsches Kind gewinnt: Ein Sinnbild für seine Situation. Lob gibt es nur einmal, als die Pausenaufsicht ihn zur Hilfe ruft, um ein paar fremde Hauptschüler vom Schulhof zu verjagen: „In diesem Moment wurde mir klar: Egal, was ich gemacht oder versucht habe – diese Leute haben in mir immer nur den Asi-Kanaken gesehen“ (Xatar 2015: 31). Der Weg in ein bürgerliches Leben versperrt, muss Xatar sich also nach Alternativen in seiner näheren Umgebung umsehen.

stücke bei. Als der Vater dies mitbekommt, tötet er die Ratte mit den Worten „Hier wird nichts verschenkt“ (Massiv 2012: 37).

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„Und da niemand etwas anbot, nahmen wir uns irgendwann einfach das, was wir glaubten, was uns zustehen würde. Weil es alle hatten, außer wir. Das Leben schenkte uns nichts. Also fingen wir an, mit dem Leben zu dribbeln. So, wie es die Älteren machten. Wir sahen sie auf dem Brüser Berg mit ihren Benzern stehen, mit ihren goldenen Uhren. Während andere den ganzen Tag schufteten und am Ende des Monats trotzdem jeden Pfennig umdrehen mussten, hatten diese Jungs immer ein paar Batzen auf Tasche“ (Xatar 2015: 36).

Mit seiner ersten Gang, den Brüser Berg Asis, verschafft er sich die Aufmerksamkeit, an der es ihm in der Schule gefehlt hat. Dass der Einstieg in die Kriminellenlaufbahn auch eine neue Sichtweise auf Recht und Unrecht mit sich bringt, zeigt sich jedoch nicht nur in der zunehmenden Gewalttätigkeit und anderen Konflikten mit dem Gesetz, sondern auch in Großmut und Verantwortung. So veranstaltet er im Viertel Grillfeste für die Bewohner. Irgendwie hält man dort doch zusammen, oder möchte zumindest etwas zurückgeben. Über weite Strecken hinweg lebt das Buch von der Darstellung der Arbeit als Krimineller. Detailliert beschreibt Xatar, wie er Drogen verarbeitet, Schulden eintreibt oder wie ihn Kokaindeals bis nach Peru führen. Die Widersprüche dieses Milieus bringt der Autor immer wieder anekdotisch-metaphorisch auf den Punkt, wie etwa im Falle des Drogenkochs, der plötzlich einen Gebetsteppich hervorholt, um sich an Allah zu wenden: Schließlich möchte man ja nicht als Sünder sterben. Gleichzeitig entdeckt Xatar in dieser Zeit auch seine Passion für die Rapmusik und beginnt eigene Texte zu schreiben. Doch aufgrund eines missglückten Drogendeals begibt sich der aufstrebende Rapper 2005 ins Londoner Exil. Neben dem Betreiben einer Security-Firma und anderen Geschäften beginnt er hier, Musikmanagement zu studieren. Durch den Verkauf seines Bonner Internetcafés und einige andere Geschäfte erwirtschaftet Xatar bis 2008 die stolze Summe von 120.000 Euro: Startkapital für sein Label ‚Alles oder Nix-Records‘. Doch bevor das vielversprechende Projekt richtig ins Rollen kommt, gerät Xatars Welt ein weiteres Mal aus den Fugen: Nachdem er gemeinsam mit Komplizen einen Goldtransporter überfällt, führt die Flucht vor der Polizei bis in den Irak, wo er schließlich vom lokalen Militär festgenommen und nach einer kurzen Haftstrafe nach Deutschland ausgeliefert wird. Aus dem Gefängnis betreibt Xatar – den strengen Haftauflagen zum Trotz – nicht nur sein Label weiter, auf dem er die Platten einflussreicher Künstler wie der Bonner SSIO oder die Frankfurterin Schwesta Ewa herausbringt. Mit Hilfe eines Diktiergeräts und einiger findiger Musikproduzenten nimmt er dort sogar ein Album auf, welches im Jahr 2012 erscheint.

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Nach seiner Haftentlassung im Dezember 2014 beginnt Xatar unmittelbar mit der Produktion seines neuen Albums ‚Baba aller Babas‘, das im Mai 2015 erscheint. Gleichzeitig konzentriert er sich nun voll auf die Labelarbeit und eröffnet außerdem eine Shisha-Bar auf den Kölner Ringen. Die ‚from rags to riches‘-Erzählung komplettiert ein Epilog, in dem Xatar am Steuer seines Wagens sitzend auf dem Heimweg von seiner Bar im Sonnenaufgang von einem Geschäftspartner über ein erfolgreiches Börsengeschäft der beiden informiert wird. Xatar ist ein solider Geschäftsmann geworden. Allgemein kommen im Buch wenig Frauen vor. Männerdominanz wird hier – ganz im Sinne Connells (2006) – vor allem über den Wettbewerb zwischen Männern verhandelt. Dies schägt sich auch in der Ausdrucksweise nieder: Den alltäglichen Statuswettbewerb in seiner Peer Group schildert Xatar (2015: 29) folgendermaßen: „Bei uns ging es eigentlich nur um ein einziges Thema: Wer ist ein Pisser und wer hat Eier?“ Gleichzeitig lässt sich, hier und auch im folgenden Abschnitt, eine gewisse Selbstironie erkennen: „Ein Pisser ist jemand, der kassiert. Eier hat, wer Eier hat. Ich wollte zeigen, dass ich Eier habe. Darum habe ich verteilt. Man musste mich nur blöd angucken und schon gab’s Schläge. Und je mehr Pisser von mir kassierten, desto mehr Anerkennung bekam ich auf der Straße.“

Verstehen wir Süffisanz und die dargestellte Möglichkeit des Autoren, sich von sich selbst auf humoristische Weise (wenn auch nicht vollkommen) zu distanzieren, können wir Widersprüche erkennen, die sich auftun, wenn wir Xatar als stereotypen ungebildeten Einwanderer betrachten. Während er einerseits von handfesten kriminellen Auseinandersetzungen und Verstrickungen erzählt, verkörpert er gleichzeitig Ideale des Bürgertums– die Musikalität, einen exquisiten Geschmack, Weltläufigkeit.

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Einige zentrale Gemeinsamkeiten teilen die Bücher nicht nur in Bezug auf den Verlag (bis auf Massivs Autobiografie sind alle im Riva-Verlag erschienen) und die Tatsache, dass alle mit Co-AutorInnen zusammengearbeitet haben, sondern auch hinsichtlich der stilistischen Vermittlung des Inhalts: In relativ einfachen Worten werden in den Handlungsverläufen einzelne Anekdoten aneinandergereiht, deren Abfolge den Aufstieg der Protagonisten von sozial benachteiligten Jugendlichen zu erfolgreichen Rappern beschreibt. Während diese Erzählsequenzen vor allem im Fall von Massiv häufig abrupte Wendungen nehmen, die auf unerwartete Ereignisse zurückzuführen sind (plötzlich trifft er auf die GI’s und

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beschließt auf Grund ihres Zuspruchs, Rapper zu werden), reichen die Spannungsbögen im Falle der anderen drei Bücher weiter. Die Plots wirken so weniger fahrig, und schließen stärker an Erzählkonventionen der dramaturgischen Harmonisierung an. Inwiefern dies auch bedeutet, dass Massivs Autobiografie inhaltlich weiter von den realen Geschehnissen entfernt ist, als die anderen drei Texte, lässt sich auf dieser Grundlage selbstverständlich nicht sagen. Rückschlüsse auf eine ‚objektive Realität‘ sind bei der Analyse solcher Autobiografien ohnehin nur insofern möglich, als sie sich auf Gegebenheiten jenseits des Erzählten selbst, d.h. auf seine Beziehung zu einer empirisch überprüfbaren Realität beziehen.17 Eine erste Referenz, die sich in allen untersuchten Büchern wiederfindet, ist verbunden mit der Frage nach ethnischer Zugehörigkeit. Mit Bushido, Xatar und Massiv teilen drei der vier Protagonisten einen Migrationshintergrund im arabischen Kulturkreis. Während diese Hintergründe (tunesisch, irakisch-kurdisch, palästinensisch-libanesisch) subjektiv variieren, repräsentieren sie im Kontext der deutschen Aufnahmegesellschaft die Eigenheiten einer Minderheit, deren Leben häufig von ethnischer Stigmatisierung und Ausschluss von materieller Teilhabe bestimmt ist. Diese Verquickung von ethnischer Zugehörigkeit und Klassenidentität spiegelt sich jedoch nicht in der Biografie des Rappers Fler. Während auch er einer relativ armen Familie entstammt, fehlt in seiner Biografie das Fremdheits-Moment, mit dem die anderen drei ihre jeweilige Randständigkeitserfahrung begründen. Während in der symbolischen Ordnung der kulturellen Repräsentation im Westlichen Raum der weiße Mann als „unmarkiert“ (Di Blasi 2013: 9) gilt, ist dieser Universalismus im Feld des Gangsta-Rap in umgekehrter Form gültig. Rechtfertigungsbedarf für sein Deutsch-Sein deckt Fler, indem er traditionelle deutsche Hegemonie in der dargestellten Identitätskonstruktion aufgibt und sich stattdessen mit den Tugenden subalterner Migranten identifiziert. Indem er auf diese Weise versucht, seine deutsche Identität zu behaupten, schafft er gleichzeitig auch Anschlussfähigkeit für deutschnationalvölkische Ideologie. Entsprechende Vorwürfe und ihre aggressive Abwehr haben Fler im Verlauf seiner Karriere als wichtiges aufmerksamkeitsökonomisches Instrument gedient. Ein zweiter gemeinsamer Bezugspunkt der vier Biografien liegt in den jeweils geschilderten Verhältnissen der Protagonisten zu ihren Familien und insbe17 Dass die objektiven Geschehnisse in den jeweiligen Lebensläufen nicht dazu gehören spiegelt sich am anschaulichsten in der Selbstdarstellung Xatars, der immer wieder mit dem (vermeintlichen) Erfolg seines Goldraubes kokettiert. Das funktioniert besonders gut, weil eben nicht klar ist, ob er das Gold (oder einen Gegenwert, den er im Zuge eines Verkaufs erzielt haben könnte) noch besitzt oder nicht.

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sondere zu Vater und Mutter. Während Xatar der Beziehung zu seinem Elternhaus zwar am wenigsten Platz einräumt, lässt er immer wieder durchblicken, dass die hochkulturelle Bildung und seine musischen Talente auf deren bürgerlichen Hintergrund zurückzuführen ist. Ungleich stärker fällt der dargestellte Bezug zur Familie (oder genauer: zu seiner Mutter) bei Bushido aus, wohingegen er sich Kompetenzen zumeist selbst (durch Hartnäckigkeit und Intelligenz) angeeignet hat, wann immer sie ihm als erforderlich erschienen. Dass sie ihn an zwei Stellen seiner Biografie beim Eintritt in die Erwerbstätigkeit (erst als Dealer, dann als Rapper) finanziell unterstützt hat, unterstreicht ihre ermöglichende Wirkung im Lebenslauf. Die enge familiäre Bindung Bushidos spiegelt sich also in seiner Darstellung der Mutter als Ausgangspunkt und Ziel seines Handelns. Bei Massiv fallen die Bezüge zu den Eltern ambivalenter aus. Während er vor allem die Zuneigung der Mutter genießt, wirft die Figur des Vaters einen einschüchternden Schatten vor allem über die frühen Lebensjahre des Jungen. Die Erarbeitung wirtschaftlicher Eigenständigkeit erst durch Rauschgifthandel und später durch Musik ist hier nicht nur als Statuserwerb innerhalb der Gesellschaft, sondern auch als Emanzipation gegenüber den eigenen Eltern zu sehen. Anders stellt sich die Situation bei Fler dar, welcher schließlich kaum positive Bezüge zu seinem Elternhaus findet. Hier ist es eher die Abwesenheit familiärer Unterstützung, die er als charakteristisch für seinen Werdegang beschreibt. Die zentrale Gemeinsamkeit der vier Biografien, dass die jeweiligen Aufstiegserzählungen ihre konkrete Bedeutung vor dem Hintergrund spezifischer Ausschluss- und Stigmatisierungserfahrungen gewinnen, verweist damit gleichzeitig auf die Unterschiede zwischen diesen spezifischen Erfahrungen im Einzelfall. Entsprechende Variationen finden sich auch im Hinblick auf das Verhältnis der vier Rapper zu Kriminalität. Während Fler, abgesehen von einer Leidenschaft für illegales Graffiti, nicht durch eine systematische Verbrechertätigkeit hervorgetreten ist, geben die anderen drei an, ihr Geld über unterschiedlich lange Zeiträume hinweg mit dem Handel von Rauschgift verdient zu haben. Der Einstieg ins kriminelle Milieu erfolgt bei Massiv, relativ kurzfristig, über einen Freund und wirkt in der Darstellung fast schon spontan (wohl auch wegen der wenig aufwändigen Erzählstruktur). Für Bushido hingegen ergibt sich die Aufnahme der Dealertätigkeit aus den Erfordernissen der Situation: Als er erkennt, wie viel Geld sich dort verdienen lässt und wie unwahrscheinlich alternative Karrierewege erscheinen, erscheint die Entscheidung für das Drogengeschäft fast schon unumgänglich. Dass der Einstieg Xatars in den Rauschgifthandel die graduelle Eingewöhnung und den Aufstieg vom Straßenverkäufer bis hin zum Organisator im Hintergrund als gradueller Prozess erscheint, wirkt nicht

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nur realistisch, sondern ist wohl auch auf die sorgfältig arrangierte Erzählstruktur zurückzuführen. Eine weitere Parallele, die alle vier Geschichten verbindet, findet sich in der Gründung eines eigenen Labels durch die jeweiligen Protagonisten. Die Kultivierung unternehmerischer Selbständigkeit rundet die biografische Bedienung eines Idealbildes hegemonialer Männlichkeit im Sinne Connells (2006) ab, welches die Tugendhaftigkeit bürgerlicher Männlichkeitsvorstellungen nur auf den ersten Blick zu übernehmen scheint. Denn indem die vier Rapper wirtschaftliche Unabhängigkeit und Gestaltungsmacht nicht nur akquirieren, sondern sich dabei gegen Widerstände behaupten können, die für männliche Vertreter der biodeutschen Mehrheitsgesellschaft keine (oder zumindest wesentlich geringere) Hindernisse darstellen, stellen sie im Vergleich mit den letzteren eine höhere Leistungsfähigkeit unter Beweis: Ganz nach oben haben sie es von ganz unten geschafft – und nicht von irgendwo aus der Mitte.

F AZIT Neben Rap, Interviews, Musikvideos und anderen Kanälen haben deutsche Gangsta-Rapper im Verlauf der letzten Jahre vermehrt auf die Ausdrucksform der Autobiografie zurückgegriffen. Die Analyse der vier Bücher sollte das Referenzsystem zeigen, innerhalb dessen Images aus dem Genre ihre gesellschaftliche Bedeutung gewinnen. Der Vergleich der Bücher bringt ein übergreifendes Muster zu Tage, welches sich im Verlauf aller vier Erzählungen wiederfindet. Zahlreichen gesellschaftlichen Hindernissen zum Trotz gelingt es den Protagonisten, mit ihrer Musik wirtschaftlichen Erfolg zu erreichen. Die Erzählung eines Aufstiegs gegen Widerstände lässt sich, im Einklang mit früheren Arbeiten, als Aktualisierungsversuch hegemonialer Männlichkeit deuten (Seeliger 2013). Es ist wohl der spezifischen Ausdrucksform ‚Autobiografie‘ zuzuschreiben, dass die Künstler, anders als in den Rapsongs, bei der Erzählung ihrer Lebensgeschichte eine andere Perspektive einnehmen. Reduziert um die aggressive Stilistik des Rap erscheinen die vier Sprecher viel weniger konfrontativ und vereinzelt, sondern als eingebunden in vielfältige soziale Zusammenhänge. Die Stilisierung des eigenen Aufstiegs zum erfolgreichen biografischen Projekt gewinnt so eine weitere Bedeutungskomponente. Denn indem neben der individuellen Durchsetzungsfähigkeit auch die gesellschaftlichen Zustände beschrieben werden, die die Durchsetzungsfähigkeit erst erforderlich machen, gewinnen die Erzählungen ein genuin politisches Moment. Die systematische Versperrung der Möglichkeit zu sozialem Aufstieg stellt ganz offensichtlich einen

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Widerspruch gegenüber dem liberalen Grundgedanken wirtschaftlicher Chancengerechtigkeit dar. Die Auseinandersetzung ‚unten gegen oben‘ oder ‚arm gegen reich‘ lässt sich im Sinne einer politischen Soziologie sozialer Ungleichheit am besten als Klassenkampf erfassen. Zwar wird dieser durch die Protagonisten nicht unbedingt kollektivistisch geführt – schließlich geht es um individuelle Aufstiege und nicht um gemeinsame Interessenvertretung aller Angehörigen einer spezifischen Gruppe. Der anhaltende Bezug auf Klasse und Migrationserfahrung (außer im Fall von Fler) bedingt die anhaltende Identifikation derjenigen sozialen Zugehörigkeiten, die den Zugang zu sozialer Teilhabe (durch Bildung, Reichtum, Anerkennung, etc.) innerhalb der Sozialstruktur determinieren. Vor diesem Hintergrund lässt sich Rosas (2016: 374) Diagnose, die Popkultur sei „überwiegend unpolitisch geworden“ zumindest kritisch in Frage stellen. Wenn mit Gangsta-Rap das seit Jahren erfolgreichste Sub-Genre der deutschen HipHop-Kultur als Ort der Auseinandersetzung um soziale Teilhabe verstanden werden kann, können wir dann wirklich von einer unpolitischen Popkultur sprechen?18 Als „Verweigerung von Kommunikation“ (Siebel 2015: 365) blockiert soziale Exklusion „jede Möglichkeit, die Verunsicherung durch den Fremden zur produktiven Irritation werden zu lassen.“ Der Krisendiskurs, der die Auffassungen über migrantische Männlichkeiten und Delinquenz seit einigen Jahrzehnten (und zuletzt in zunehmendem Maße) prägt, wird unter genau diesen Bedingungen des Ausschlusses geführt. Verstehen wir diesen Diskurs mit Spivak (1995) als Form der „epistemischen Gewalt“, welche die Anliegen der von den Rappern repräsentierten Bevölkerungsgruppe strukturell delegitimiert („Die passen hier nicht rein!/sind hier nur zu Gast!/sollen sich mal eine anständige Arbeit suchen!“, usw. usf.), lassen sich Ausdrucksformen wie die Autobiografien der vier Rapper möglicherweise als „epistemische Gegenmacht“ verstehen. Verstehen wir den „Kampf um die öffentliche Deutung literarischer Texte“ mit Dörner und Vogt (2013: 305) als „Bestandteil eines Kampfes um kulturelle Vorherrschaft“, wird sich in der öffentlichen Rezeption dieser Biografien entscheiden, inwiefern diese dazu beitragen, die stilisierten Lebensgeschichten (auch) als Forderung nach sozialer Teilhabe erkennbar werden zu lassen. Inwiefern die mitunter reißerische, häufig auch potenziell regressive (weil machis-

18 Und selbst wenn das nicht der Fall wäre: Wäre eine Popkultur ohne explizite Referenzen an soziale Ungleichheit, wie sie sich etwa in den Songs von Rappern wie Crow findet, nicht auch zumindest in dem Sinne politisch, dass ihre Schwerpunktsetzung die bestehende Ordnung stillschweigend rechtfertigen würde?

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tisch-misogyne, homophobe, individualistisch-materialistische, etc.) Darstellungsweise zu einer „Durchbrechung des verdinglichten Bewusstseins“ (Adorno 1973: 292) beitragen kann, ist nicht gesagt. Dass die Gangsta-Rapper, um überhaupt gehört zu werden, immer schon an den Skandaldiskurs anschließen müssen, birgt das Risiko, dass sie im öffentlichen Bewusstsein von den stigmatisierenden Zuschreibungen keinerlei Abstand nehmen können, selbst wenn sie wollten. Wenn Angehörige subalterner Gruppen, dies zeigt die Analyse der vier Bücher deutlich, statt ihre traditionellen, d.h. bereits diskursiv vor-stigmatisierten Ausdrucksformen zu nutzen, sich plötzlich alternativer (und in diesem Fall mit der Autobiografie sogar bourgeoiser) Medien bedienen, kann dies jedoch durchaus Neuordnung der entsprechenden Diskurse nach sich ziehen.

L ITERATUR Adorno, Theodor W. (1973): Ästhetische Theorie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Adorno, Theodor W. (2003): Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Baasner, Rainer (1996): Literatursoziologie. In: Baasner, Rainer; Zens, Maria (Hg.): Methoden und Modelle der Literaturwissenschaft. Eine Einführung. Berlin: Erich Schmidt Verlag. S. 201‒207. Behrens, Roger (2004): Adornos Rap. Quelle: http://txt.rogerbehrens.net/Rap. pdf. Blumer, Herbert (2013): Soziale Probleme als kollektives Verhalten. In: Ders: Symbolischer Interaktionismus. Aufsätze zu einer Wissenschaft der Interpretation.Berlin: Suhrkamp. S. 141‒155. Bourdieu, Pierre; Wacquant, Loïc J. D. (2006): Reflexive Anthropologie. Frankfurt a.M: Suhrkamp. Bushido (2008): Bushido. München: Riva Verlag. Bushido (2013): Auch wir sind Deutschland. Ohne uns geht nicht. Ohne euch auch nicht. München: Riva. Connell, Robert W. (2006): Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten. Wiesbaden: VS. Crenshaw, Kimberle (1993): Mapping the Margins: Intersectionality, Identity Politics, and Violence Against Women of Color. In: Stanford Law Review 43. S. 1241‒1299. Degele, Nina; Winker, Gabriele (2009): Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten. Bielefeld: Transcript. Di Blasi, Luca (2013): Der weiße Mann. Ein Anti-Manifest. Bielefeld: Transcript.

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Schwesta Ewa – Eine Straßen-Rapperin und ehemalige Sexarbeiterin als Kämpferin für weibliche Unabhängigkeit und gegen soziale Diskriminierung? T INA B IFULCO UND J ULIA R EUTER

Prostitution und Sexarbeit1 sind seit jeher Themen im feministischen Diskurs, die mit Blick auf das Geschlechterverhältnis kritisch und kontrovers verhandelt werden. Diskutiert wird beispielsweise über Gesetzgebungen zu Prostitution und Sexarbeit, die Anerkennung als Beruf, das Problem der Zwangsprostitution und des Menschenhandels, aber auch über die Möglichkeiten der sexuellen Selbstbestimmung. Für gewöhnlich stellen Akademikerinnen und/oder Geschlechterforscherinnen an Universitäten einen Großteil des Personals feministischer Debatten. Mit Ewa Müller alias Schwesta Ewa meldet sich im öffentlichen Raum nun erstmals eine Frau zu Wort, die über viele Jahre selbst als Sexarbeiterin in Frankfurt am Main tätig war und bis heute das Milieu nicht verlassen hat (Lindhoff 2015). Ihr Medium ist die Musik, genauer gesagt: der deutschsprachige Rap. Als eine von wenigen Frauen konnte sie sich in den vergangenen Jahren im deutschsprachigen HipHop im männerdominierten Subgenre „Straßen-Rap“ als Künstlerin etablieren.2 Sie nutzt das im Hip Hop etablierte Stilmittel der „Real-

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Die Begriffe „Prostitution“ und „Sexarbeit“ werden weitestgehend synonym verwendet. Der Begriff der „Sexarbeit“ wurde erst in den 1970er Jahren eingeführt und zielt in seiner Bedeutung auf die Anerkennung als gleichwertiger Beruf im Vergleich zu anderen Dienstleistungsberufen. Der Begriff der „Prostitution“ beschreibt hingegen auch im historischen Kontext das soziale Phänomen der sexuellen Dienstleistungen. Im Oktober 2014 genehmigte die „Initiative Musik“ der Künstlerin die Teilnahme an einem hauptsächlich durch die Bundesregierung finanzierten Förderprogramm. Ziele

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ness“, um auf die harte Realität des Frankfurter Rotlicht-Milieus aufmerksam zu machen. Ihre Präsenz verdeutlicht, dass das Thema Prostitution trotz seiner gesellschaftlichen Marginalisierung, auch Eingang in popkulturelle bzw. subkulturelle Bereiche gefunden hat und dort öffentlich verhandelt wird. Aus feministischer Perspektive ist ihr Wirken damit in zweierlei Hinsicht interessant: Zum einen in Bezug auf das von ihr gewählte Musikgenre, dem Gangsta-Rap, das als männerdominiert, gewaltverherrlichend und sexistisch gilt. Zum anderen in Bezug auf ihr medienwirksames Auftreten als Künstlerin, das sich ebenfalls als eine Form weiblichen Empowerment verstehen lässt, verbunden mit der Frage, inwiefern die Rapperin Schwesta Ewa zu feministischen Verhandlungen von Prostitution und Sexarbeit etwas beitragen bzw. sie selbst als Feministin bezeichnet werden kann?

1 F EMINISTISCHE V ERHANDLUNGEN VON P ROSTITUTION UND S EXARBEIT IN AUSGEWÄHLTEN K AMPAGNEN Feminismus wird und wurde schon immer durch unterschiedliche, teils widersprüchliche Ansätze und Strömungen repräsentiert, mit einer Vielfalt an Bewegungs- und Aktionsformen. Ein zentrales verbindendes Element der vielfältigen Feminismen ist der Kampf gegen Macht- und Herrschaftsverhältnisse, die auf der Basis von Geschlecht zu Marginalisierung und Benachteiligung führen (vgl. Starosta/Vollmond 2014: 40). Prostitution und Sexarbeit bilden hier geradezu klassische Themenfelder. Ungeachtet der bereits im 19. Jahrhundert einsetzenden Kritik von Frauenbewegung in Bezug auf den Umgang mit dem Paragraf 1871/76 § 361.6RStGB und dessen rassenhygienische Deutung während des Nationalsozialismus3, wird das Thema Prostitution im Zuge der „zweiten Welle“

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des Förderprogramms sind „ein nachhaltiger Künstleraufbau, der Export von Populärmusik aus Deutschland ins Ausland und der Aufbau von nachhaltigen Strukturen in der Musikwirtschaft.“ Schwesta Ewa wurde in der 27. Förderrunde, welche mit einem Fördervolumen von 330.000 Euro ausgestattet war, als eine von 22 Künstler_innen aus insgesamt acht verschiedenen Bundesländern unterstützt. Die Förderung zeichnet sich durch ein breites musikalisches Spektrum aus, in welches durch Schwesta Ewa nun auch der deutschsprachige Straßen-Rap Einzug erhält, trotz seiner kontrovers diskutierten Stilmittel. Durch die Förderung wird bereits die Würdigung des musikalischen Schaffens der Rapperin sichtbar, auch über ihre spezifische Musikszene hinaus: vgl. Initiative Musik (2014). Erste Stimmen von Frauenbewegungen wurden bereits im 19. Jahrhundert laut, die den teils willkürlichen Umgang und die Disziplinierungsmaßnahmen der Polizei gegenüber den der Prostitution verdächtigten Frauen kritisierten: Verdächtige Frauen

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der Frauenbewegung seit den 1960er Jahren in der Bundesrepublik Deutschland im Wesentlichen unter drei Aspekten verhandelt: der Frage, ob Prostitution als Beruf gelten kann oder sollte, den spezifischen Gesetzgebungen zu Prostitution und Sexarbeit und der Einordnung der Prostitution in ihrer Beziehung zur patriarchalen Ordnung (vgl. Ruby 2012: 88). Die Deutungen und Positionierungen innerhalb des Feminismus sind dabei durchaus heterogen: Je nach Perspektive werden Sexarbeiter_innen als Akteure betrachtet, die das Patriarchat aufbrechen, indem sie durch selbstbestimmte Prostitution materielle Unabhängigkeit erlangen, oder aber als Opfer eines patriarchalen Systems, das auf Sklaverei als sozialer Struktur basiert (vgl. ebd.: 88 ff.). Etwas feinkörniger betrachtet, kreisen viele Debatten um die Themen Freiwilligkeit und Zwang. Es gibt Deutungsangebote, die die Freiwilligkeit und Entscheidungsfreiheit der Prostituierten sowohl bei Berufseinstieg als auch bei der konkreten Praxis betonen. Andere betrachten Prostitution grundsätzlich als direkten wie indirekten Zwang: Direkt, weil Menschenhandel und Gewaltausübungen elementare Bestandteile sind, indirekt, weil Frauen allgemein in einem komplexen System der Unterdrückung leben und ihre sogenannte freiwillige Entscheidung vielmehr als Zwangssituation aufgrund fehlender Alternativen klassifiziert werden müsse (vgl. ebd.: 91). Die feministischen Verhandlungen über Prostitution werden besonders in Kampagnen sichtbar, in welchen gezielte Anliegen und Forderungen an Politik und

konnten ohne Beweise verhaftet und zu einer gynäkologischen Untersuchung gezwungen werden, was Stigmatisierungen und einen gesellschaftlichen Ausschluss bedeuten konnte. Ihre Forderungen betrafen u.a. die Abschaffung des Paragrafen und die sexuelle Selbstbestimmung für das weibliche Geschlecht sowie „ein rationelles und auf Freiwilligkeit begründetes System von Behandlungs- und Vorbeugungsmaßregeln“ anstelle von „Zwangsuntersuchungen“. Da hauptsächlich die Frauen die Leidtragenden der Prostitution seien, forderten sie außerdem, die staatlichen Institutionen wie Polizei- und Richterämter mit Frauen zu besetzen sowie auch Ärztinnen auszubilden Die Verpflichtung zu regelmäßigen ärztlichen Untersuchungen wurde später auch in der Gesetzesgrundlage des nationalsozialistischen Staates verankert. Die Prostitution sollte auch hier sehr geplant kontrolliert werden. Es galt die strikte rassenhygienische Unterscheidung zwischen den „erbgesunden“, erwünschten und den „minderwertigen“ Frauen, die nicht ins damalige Menschenbild passten, zu denen auch Prostituierte zählten und die dadurch auch unterschiedlichen Formen der Verfolgung ausgesetzt waren. Das Idealbild der „reinen deutschen Frau“ war auch in den Köpfen vieler deutscher Frauen angekommen, die zumindest nach außen hin bestrebt waren, diesem Bild zu entsprechen. Man spricht in dieser Zeit in Deutschland von einem ausgeprägten Antifeminismus (vgl. Reinert 2000; Golla 2001).

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Gesellschaft gestellt werden. Prostitutionsgegner_innen vergleichen die Prostitution dabei häufig mit Sklaverei, in welcher Frauen als sexuelle Ware gehandelt werden. Gefordert werden grundlegende Neufassungen und Maßnahmen, die Menschenhandel und Prostitution kurzfristig eindämmen und langfristig abschaffen, beispielsweise durch eine Bestrafung von Freiern. 4 Ein prominentes Beispiel bildet hierfür die Zeitschrift EMMA. Neben der medienwirksamen PorNoKampagne, richtet sie seit 2013 einen Appell an die Bundesregierung, in welchem sie zu Gesetzänderungen und daraus resultierender systematischer Abschaffung von Prostitution auffordert.5 Zur Unterstützung des Appells wurden Unterschriften von Prominenten und Politiker_innen sowie aus der Zivilgesellschaft gesammelt. Auf verschiedenen Plattformen lassen sich ähnliche Petitionen ausmachen, wie beispielsweise die des Bündnisses „Stop Sexkauf.“ 6 Dass nicht alle Feminist_innen sich durch diese Argumentationen vertreten fühlen, zeigt beispielsweise die in den USA entstandene Bewegung sogenannter sexpositiver Feminist_innen. Sexpositive Feminist_innen stellen das Recht auf sexuelle Freiheit mit all ihren Facetten in den Mittelpunkt ihrer Argumentation und lehnen jegliche Beschränkung und Vereinheitlichung in Form von Gesetzen ab. Auch das Thema Prostitution wird von sexpositiven Feminist_innen in der Regel so gedeutet, dass sie jegliche Kriminalisierung und damit einhergehende soziale Stigmatisierung ablehnen. Mit dieser Argument schließen sie sich auch den gegenwärtigen Interessenvertretungen von Prostituierten, wie beispielsweise dem deutschen Verein Hydra e.V., an, der sich in Anlehnung an die sogenannte „Hurenbewegung“7 Anfang der 1980er Jahre gründete. Auch die Menschenrechtsorganisation Amnesty International traf hierzu im August 2015 den Be-

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Beispielsweise unterliegen in der schwedischen Gesetzgebung Freier der Strafverfolgung, während die Prostituierten straffrei bleiben. Damit sollen die Prostituierten vor einer Verfolgung geschützt werden, die Prostitution aber langfristig eingedämmt werden. Auch diese Gesetzgebung wird kontrovers diskutiert, da sie in der Praxis die Prostituierten wieder in den Untergrund drängt. EMMA-Online: http://www.emma.de/unterzeichnen-der-appell-gegen-prostitution-31 1923, Abruf: 12.04.2016. Kraus, Ingeborg (o.J.): Petition: Sexkauf bestrafen, Prostitution abbauen, https:// www.change.org/p/sexkauf-bestrafen-prostitution-abbauen, Abruf: 12.04.2016. Die Hurenbewegung ist eine Bewegung, die sich für die Rechte von Sexarbeiter_ innen einsetzt und in verschiedenen Ländern Organisationen und Vereinigungen zur Interessenvertretung von Sexarbeiter_innen entstehen ließ.

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schluss, sich künftig für die Entkriminalisierung der Prostitution weltweit einzusetzen.8 Das Spektrum feministischer Verhandlungen von Prostitution und Sexarbeit in ausgewählten Kampagnen zeigt, wie kontrovers und polarisierend das Thema bis heute – auch innerhalb von Politik und Gesellschaft insgesamt – verhandelt wird: Ob man Prostitution als patriarchales Gewaltphänomen begreift oder die Sexarbeit als subversiv-emanzipatorische Machtstrategie, die vollständig von negativen moralischen Konnotationen befreit ist, hängt dabei von der Perspektive ab, aus welcher man sich dem Phänomen nähert.

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Bestimmte Themenfelder und Stilmittel der Rapmusik lösen von seinen Anfängen bis heute weltweit kontroverse Diskussionen aus. Vor allem im Subgenre des Gangsta- und Straßen-Raps kommt man nicht daran vorbei, sich kritisch mit den Bezügen zu Misogynie, Sexismus, Homophobie und Gewaltverherrlichung auseinander zu setzen. Äußerlich betrachtet, erscheint gerade dieser Bereich der HipHop-Kultur als eine von Männern dominierte Szene: Trotz zahlreicher aktiver HipHopperinnen sind es faktisch die männlichen Rapper, die den kommerziellen Erfolg aufweisen und in der öffentlichen Wahrnehmung und Darstellung den größten Raum einnehmen. Schaut man aus dieser Perspektive auf Frauen im Hip Hop, so erscheinen sie meist in sexistischer Weise als schmückendes Beiwerk in Musikvideos, – dort gerne auch als Statussymbole neben anderen materiellen Gütern wie Autos, Häusern, Yachten, Schmuck oder Waffen (vgl. Völker/ Kiwi Menrath 2007). Daneben existiert aber auch eine explizite Frauenfeindlichkeit in zahlreichen Rap-Texten. Die Frage, warum es dieser Mittel im Gangsta-Rap bedarf, wird in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Entstehungsgeschichte des amerikanischen Gangsta-Raps oft mit dem Verweis auf die mündliche Tradition der Afroamerikaner, das sogenannte „Playing the Dozens“, begründet. So hat etwa Roger Abrahams in den 1960er Jahren in seiner Studie über die schwarze Unterschicht in Philadelphia das Phänomen des verba-

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Coalition Against Trafficking in Women International (CATW) (2016): Petition: Amnesty-International: Don´t turn your back on me. URL: https://www.change. org/p/amnesty-international-vote-no-to-decriminalizing-pimps-brothel-owners-andbuyers-of-sex, Abruf: 13.04.2016.

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len Schlagabtausches zwischen zwei Gegnern untersucht, die sich in steigender und geregelter Weise gegenseitig beleidigen. Dabei werden die Beleidigungen auch steigernd auf die weibliche Verwandtschaft des Gegners ausgeweitet. In der afroamerikanischen Bluesmusik wurde diese verbale Beleidigungstechnik bereits musikalisch umgesetzt und findet sich schließlich im Rap als „Dissen“ oder „Batteln“9 mit misogynen und sexistischen Inhalten wieder. Laut Abrahams finden männliche Jugendliche, die in ihrer Adoleszenz keine direkten männlichen Identifikationsvorbilder in ihrer unmittelbaren Lebenswelt vorfinden, Zuflucht in Gangs, in welchen sie ihre Maskulinität offen und überzeichnet darstellen können. Sie ziehen durch den verbalen Schlagabtausch eine imaginäre Grenze zwischen sich und ihrer matriarchalen Lebenswelt (vgl. Saied 2012: 46 ff.). Auch Malte Goßmann (2012) kommt zu dem Ergebnis10, dass die Konstruktionen von Männlichkeiten in Rap-Texten als „zugespitzte Konstruktionen von gesellschaftlich akzeptierten Männlichkeitsvorstellungen zu begreifen“ sind (ebd.: 103). Die abwertende Abgrenzung zur Weiblichkeit dient letztlich der eigenen Konstruktion von Männlichkeit. Auch Themenfelder wie Prostitution und Zuhälterei werden für Songtexte und -videos rege genutzt, um die harte Realität der Straße zu veranschaulichen und eine Art Hypermaskulinität zu inszenieren. Die Figur des Zuhälters als Sinnbild für demonstrative bzw. übertriebene Männlichkeit spielt dabei eine zentrale Rolle. Ihre Ursprünge liegen im US-amerikanischen Rap, genauer: im sogenannten Pimp-Rap, der v.a. mit der Ästhetik und Stilmitteln des Pimp-Lifestyles der unterdrückten afroamerikanischen männlichen Bevölkerung der 1960er Jahre spielt, die keinen Zugang zu den sozialen Aufstiegsmöglichkeiten der weißen Bevölkerung hatte. Zuhälterei stellte für diese Gruppe häufig die einzige Möglichkeit des finanziellen Aufstiegs dar, der erwirtschaftete Gewinn wurde exzessiv durch Lifestyle und Äußerlichkeiten zur Schau gestellt und entwickelte damit eine neue Form der Ästhetik. Neben Einflüssen des Pimp-Rap auf musikalische Genres im Hip Hop gab es auch im Straßen-Rap Entwicklungen, in denen die Figur des Pimps glorifiziert wurde. Rapper wie Ice-T oder Ice-Cube wählten ihre Pseudonyme in Anlehnung an den einstigen Zuhälter Iceberg Slim, der nach mehreren Gefängnisstrafen seine kriminelle Vergangenheit hinter sich ließ und Schriftsteller wurde. Sein

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Beim „Dissen“ und „Battlen“ geht es Rap-Kontext, um das sprachliche Diffamieren eines realen oder fiktiven Gegners. 10 Zentrale Ansätze der Männlichkeitsforschung, auf die Goßmann bei seiner Analyse zurückgreift, stammen von Bourdieu (1997), Connell (2006) und Meuser (2006).

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bekanntestes Werk ist seine Autobiografie „Pimp“, das von der harten Sprache der Straße handelt. Diese Sprache inspirierte unter anderem den Musiker IceCube, den rauen Ton in seine Rap-Texte einfließen zu lassen. Eine vollkommene Entsprechung der Figur des Pimps ist im Deutschrap nicht zu finden, was u.a. auf die anders geartete gesellschaftspolitische Konstellation zurückzuführen ist. Allerdings gibt es einige Rapper, die sich bei ihrer Imagebildung den Attributen eines Pimps bedienen, wie beispielsweise der Rapper Kollegah, bürgerlich Felix Antoine Blume, der sich als Zuhälter ausgibt und seine ersten musikalischen Veröffentlichungen unter der Bezeichnung „Zuhältertapes“ herausbrachte. Der rappende Zuhälter ist allerdings eine Kunstfigur. Felix Blume hat keinerlei persönliche Erfahrungen als Zuhälter, sondern bedient sich dieses Images aus reinen Entertainmentgründen. Die fehlende Realness wird ihm seitens einiger Rap-Kollegen auch regelmäßig vorgeworfen.11 Wie im amerikanischen Straßen-Rap bedienen sich aber neben Kollegah auch andere deutsche Rapper einiger Elemente des Pimptums. Die Frau als Prostituierte bietet dem Rapper, der sich dieser Bildfigur in stigmatisierender Weise bedient, eine einfache Möglichkeit der Machtdemonstration. Bezieht sich ein Straßen- oder Gangsta-Rapper auf das Rotlichtmilieu, kann er vielfältige Themenfelder in einer Bildwelt abdecken: 1. die „Nutte“ oder „Hure“12 als unterdrückte und objektivierte Frau, 2. die Straße oder die Rotlichtbezirke als abgrenzende Lebensräume zur Mehrheitsgesellschaft, 3. die Zuhälterei als halbkriminelle oder kriminelle Betätigung der lukrativen Geldbeschaffung und schließlich auch 4. die Bedienung der voyeuristischen Interessen der Zuhörerschaft. Das Bild der unterdrückten weiblichen Prostituierten kann dabei nicht nur auf Frauen angewendet werden, sondern ebenso der Beleidigung eines männlichen Gegners

11 Am 06.03.2016 veröffentlichte das HipHop-Magazin Backspin ein Interview mit dem Rapper Fler, in welchem er sich zum Thema „Realness“ im Rap äußert: „Wer von der Straße kommt, darf auch über Straße rappen. So einer darf aber auch Popmusik oder so lustiges Zeug machen, wenn er Bock drauf hat – und verdient trotzdem Respekt, Gruß an Haftbefehl! Wer nicht von der Straße kommt, hat gefälligst nicht über Drogen und Zuhälterei zu rappen. Denn das hat nichts mit HipHop zu tun, das ist fake, das ist Kreuzworträtselrap – Gruß an Kollegah!“ Fler (Patrick Losensky), https:// www.youtube.com/watch?v=-5V7uXb_Dko, Stand: 06.03.2016, Abruf: 14.04.2016. 12 Die Wortwahl bezieht sich hier auf die gängige Nutzung in den Raptexten und ist in Anlehnung an den amerikanischen Gangsta-Rap und den Begriff der „Bitch“ in seiner ursprünglichen Bedeutung zu verstehen.

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dienlich sein, wie beispielsweise im Song „Nutte bounce“ 13 von Fler aus dem Album „Fremd im eigenen Land“ (2008). In diesem Song beschreibt der Rapper sich als „King of Rap“, welcher den Straßen-Rap geprägt habe und setzt sich mit einem vermutlich imaginären Konkurrenten auseinander, dem er vorwirft, aus kommerziellen Interessen Szene-Werte zu verraten (auch sell-out genannt). Er nutzt hier den Vergleich mit einer Prostituierten, die in seinen Augen sich selbst (ihren Körper) gegen Geld eintauscht. Das Symbol der Prostituierten dient ihm dazu, seine eigene Machtposition zu verdeutlichen und die hierarchischen Verhältnisse zwischen sich und seinem Gegner zu klären. Er rappt: „Yeah, Nutte bounce, jetzt wird dein Arsch verkauft Nutte bounce, geh auf die Straße, lauf Nutte bounce, geh, mach das Geld für mich Denn du machst was ich dir sag und es gefällt dir nicht Nutte bounce, geh auf die Knie für uns Nutte bounce, jetzt wirst du mies gebumst Nutte bounce oder ich schlag dich heut Denn ich bin jetzt der Typ der dir sagt wie's läuft“

Das Themenfeld Prostitution dient somit nicht nur dem Ausdruck einer expliziten Frauenfeindlichkeit, sondern wird auch in Aushandlung zum eigenen sozialen Geschlecht genutzt, indem die Verhältnisse zwischen den verschiedenen Arten von Männlichkeit durch Bündnisse, Dominanzstrategien und Unterordnungen in Relation gebracht werden.14 Die Beispiele verdeutlichen, dass die männlichen Gangsta- und Straßen-Rapper die Bildwelten des Rotlichtmilieus in vielerlei Hinsicht nutzen können, um der eigenen Imagebildung beizusteuern: zur Herstellung von Männlichkeit mit Verweis auf eine Heteronormativität, zur Demonstration von Machtpositionen gegenüber Frauen und Konkurrenten und auch zur Verdeutlichung einer räumlichen Trennung von der Mehrheitsgesellschaft mit dem Fokus auf die Randständigkeit der Rotlichtviertel in Großstädten. Daneben haben sich in den vergangenen Jahren eine Reihe von sogenannten Female MCs mit dem Themenfeld Prostitution beschäftigt, gleichwohl die Zahl der aktiven und produzierenden Künstlerinnen im HipHop und Rap nach wie vor unterrepräsentiert ist. Zu den weiblichen Pionierinnen der Anfangszeit im USamerikanischen Raum gehören u.a. Queen Latifah, Roxanne Shante, Salt-N-

13 „Bounce“ ist diesem Kontext mit „beweg dich“ zu übersetzen. 14 Vgl. Konzept der hegemonialen Männlichkeit nach Connell (2005).

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Peppa und Missy Elliot. Diese Künstlerinnen waren die ersten, die den Begriff der „Bitch“15, den ihre männlichen Kollegen mit negativer Konnotation gebrauchen, ins Positive umkehrten und ihn mit Attributen wie Selbstbewusstsein, Unabhängigkeit und Stärke ausstatteten, indem sie sich gleichzeitig reizvoll und begehrenswert präsentieren. „Indem sich die Bitch als solche bezeichnet, entzieht sie sich der Gefahr von außen als Schlampe bezeichnet und sexualisiert zu werden, schließlich macht sie das zu ihrem Programm.“ (Völker/Kiwi Menrath 2007: 11)16 Auch im deutschsprachigen HipHop finden sich ähnliche Herangehensweisen der Rapperinnen, allerdings mit weit geringerem kommerziellem Erfolg als dem ihrer amerikanischen Vorbilder. Eine feminine Antwort auf deutschen Pornorap bietet die Bremer Rapperin Lady Bitch Ray (bürgerlich Reyhan Sahin), die in Deutschland kontrovers diskutiert wird. Laut eigener Aussage will sie „den Spieß im HipHop umdrehen“, indem sie sich die als männlich dargestellten Verhaltensweisen wie Dominanz und sexuelle Macht zu eigen macht und als „vaginale Selbstbestimmung“17 umdeutet. Ob es sich bei der Darstellung als „Bitch“ um die tatsächliche Erlangung von Unabhängigkeit handelt oder eher um eine Scheinunabhängigkeit, da sich die Protagonistinnen in der Regel weiterhin denen im HipHop vorgegebenen und standardisierten Ästhetik- und Verhaltensnormen anpassen, ist ein Frage, mit welcher sich Kritiker_innen regelmäßig auseinandersetzen. Lady Bitch Ray muss sich diesbezüglich dem Vorwurf stellen, dass ihre Selbstbestimmung nur funktioniere, solange sie sich männlich codierter Verhaltensweisen des Porno-Raps bediene, die für Frauen vorgesehen sind. In ihren Musikvideos erfüllt sie jegliche Erwartungen an eine für Männer sexuell attraktive Frau. Die visuelle Darstellung bietet kaum Unterschiede zu Darstellungen von Frauen in den Musikvideos ihrer männlichen Kollegen. Allein der Text macht den Unterschied (vgl. Güler Saied 2012: 77).

15 In der englischen Sprache handelt es sich beim dem Begriff um einen beleidigen Ausdruck für Frauen und Prostituierte. Im deutschen vergleichbar mit den Schimpfworten „Schlampe“ oder „Nutte“. 16 Die erste HipHopperin, die sich als „Bitch“ bezeichnete, war die damals erst 14jährige Roxanne Shanté, welche Mitte der achtziger Jahre einen Rapsong mit dem Titel „Roxanne Revange“ herausbrachte – als Reaktion auf den Song „Roxanne Roxanne“ der Gruppe UTFO – und damit allgemein einen neuen feministischen Umgang mit virilem HipHop bot. Vgl. hierzu auch: Güler Saied 2012: 51 ff. 17 Vgl. Interview für „Die Welt“ (online) mit Dapp, Theresa (2012): „Vaginale Selbstbestimmung in allen Bereichen“, http://www.welt.de/vermischtes/prominente/ article109705872/Vaginale-Selbstbestimmung-in-allen-Bereichen.html, Stand: 09.10. 2012, Abruf: 14.04.2016.

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3 E INE ANDERE POPKULTURELLE S TIMME : S CHWESTA E WA – DIE RAPPENDE „K URWA“ 18 Während sich die männlichen Rapper in ihren Texten und in ihrer Inszenierung sehr plakativ mit dem Rotlichtmilieu auseinandersetzen, indem sie entweder den Besuch von Prostituierten als selbstverständlich ausgeben, sich als Zuhälter darstellen oder die Bildwelt des Milieus in metaphorischer Weise zur Veranschaulichung ihrer Machtposition nutzen, gab es lange Zeit keine auffälligen Erscheinungen deutschsprachiger Rapperinnen, die sich ähnlicher Weise der Themenwelt nähern. Eine große Ausnahme bildet die seit 2011 aktive Rapperin Schwesta Ewa. Als ehemalige Prostituierte rappt sie ausschließlich über ihre Erfahrungen im Rotlichtmilieu und dem Leben auf den Straßen in Frankfurt am Main. Zur besseren Einordnung der Person Ewa Müller, ihres beruflichen Werdegangs als Sexarbeiterin und ihres Images als Rapperin Schwesta Ewa ist ein kurzer Blick auf ihre Biografie aufschlussreich.19 Ewa Müller wurde 1984 in der polnischen Stadt Koszalin geboren und zog 1987 mit ihrer Mutter nach Deutschland. Erste Kontakte zum Rotlichtmilieu knüpfte sie im Alter von 16 Jahren als Kellnerin in einer Rotlichtbar mit angrenzendem Bordell. Mit Erreichen der Volljährigkeit machte sie erste Erfahrungen als Sexarbeiterin und war nach eigenen Angaben etwa zehn Jahre in dieser Tätigkeit in verschiedenen Städten und Etablissements und auch auf dem Straßenstrich aktiv. In Bonn lernt sie den Rapper Giwar Hajabi kennen, besser bekannt unter seinem Künstlernamen Xatar.20 Es entwickelte sich eine langjährige Freundschaft zwischen den beiden. Ihr musikalischer Werdegang begann 2011, als sie erstmals, zunächst als Gast, in den Liedern „Beifall“ des Rappers Xatar und „Frauen“ von Celo und Abdi einen eigenen Part rappte. Xatar ist Gründer des Labels Alles oder Nix Records in Bonn. Er machte Ewa Müller den Vorschlag, eigene Songs unter seinem Label zu veröffentlichen, um eine finanzielle Einnahmequelle alternativ zur Prostitution zu erhalten. So entstand ihr erstes

18 Der Begriff stammt aus dem Polnischen und bedeutet Prostituierte und ist der Titel des ersten Albums der Rapperin. 19 Die Informationen aus Ewa Müllers Lebenslauf sind Interviews entnommen, die in unterschiedlichen Medienformaten veröffentlicht wurden. Besonders hervorzuheben sind die beiden folgenden Interviews: Ein Interview mit Visa Vie: Zum goldenen V#2 mit Viesa Vie & Schwesta Ewa, https://www.youtube.com/watch?v=UhOBogDLA GE Stand: 25.11.2015 und das Interview der Internetsendung „Letzte Runde“: Schwesta Ewa bei Letzte Runde, https://www.youtube.com/watch?v=d6gMtGkVb98, Stand: 26.05.2014. 20 Der Begriff stammt aus dem Kurdischen und bedeutet Gefahr.

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Mixtape „Realität“ und ihr Debut-Clip zu dem Song „Schwätza“, das am 26.12.2011 auf dem Internetportal Youtube veröffentlicht wurde. Das Video wurde bereits nach einem Tag 300.000mal geklickt. Aufgrund der großen Aufmerksamkeit aus der Musikszene und auch dem Feuilleton wurde Ewa Müller fortan als die Rapperin Schwesta Ewa erfolgreich, was ihr ermöglichte, nicht mehr als Sexarbeiterin tätig sein zu müssen. Am 9. Januar 2015 veröffentlichte sie schließlich ihr Debütalbum „Kurwa“ und arbeitet derzeit an einem zweiten Album. Die „Stoltze Bar“ in Frankfurt am Main, die sie bis vor kurzem mit ihrem Freund betrieben hat, wurde mittlerweile verkauft. In Zukunft möchte sie neben ihrer Musik noch ein eigenes Bordell eröffnen. 3.1 Die Person Ewa Müller als Opfer von Rassismus, Sexismus, Klassismus? Das Image der Rapperin Schwesta Ewa ist nah mit der Privatperson Ewa Müller verknüpft. Ihre Texte und auch ihre visuelle Präsentation in Musikvideos speisen sich laut eigener Aussage konstant aus ihren persönlichen Erfahrungen oder aus Beobachtungen ihres näheren Umfeldes. Auch außerhalb der Szene entstand sehr schnell ein mediales Interesse an einer Frau, die sich so offensichtlich zum Rotlichtmilieu bekennt. Es entstanden zahlreiche Interviews, in denen sie ihre Lebensgeschichte erzählt und nähere Details zu ihrer Arbeit als Sexarbeiterin preisgibt. Dabei wird deutlich, dass Ewa Müller in ihrem Lebensweg der Überschneidung fast aller gängiger Diskriminierungsformen ausgesetzt war: Rassismus, Sexismus und Klassismus.21 Kurz nach ihrer Geburt wird ihr Vater in Polen wegen fünffachen Mordes inhaftiert und zu einer lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt. Ihre Mutter scheint keine Verbindung zu den Morden zu haben, versteckt sich aber dennoch aus Angst vor der Rache des sozialen Umfelds der Opfer oder der Rivalen ihres Mannes mit ihrer Tochter. Als sie eine Greencard für die USA bekommt, flieht sie mit ihrer Tochter zunächst nach Berlin als „Zwischenstation“, wird dort beim Diebstahl erwischt und verliert ihre Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung für die USA. In den nächsten Jahren wohnt die Familie zunächst in Kiel in verschiedenen Asylheimen und später auch in Frauenhäusern. Neben Armut zählt auch Rassismus zur Alltagserfahrung des Kindes. Sie beschreibt in ihren Erzählungen, wie die Familie aufgrund ihrer ausländischen Herkunft und anfänglicher sprachlicher Verständigungsschwierigkeiten im Alltag, z.B. bei notwendigen ärztlichen Besuchen oder Behörden-

21 In der neueren Geschlechterforschung auch mit dem Stichwort Intersektionalität bezeichnet.

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gängen, aber auch im Umgang mit anderen Bewohner_innen im Frauenhaus, diskriminiert wurde. Während deutsche Frauen Einzelzimmer im Frauenhaus bekamen, mussten sie und ihre Mutter sich bspw. mit anderen ausländischen Frauen sehr kleine Zimmer teilen. Ihre Mutter heiratet wenige Jahre später den deutschen Gerd Müller, um eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten und der Abschiebung nach Polen zu entgehen. Ewa nimmt ebenfalls den deutschen Nachnamen an.22 Trotz der Heirat ihrer Mutter erhält Ewa Müller als junges Mädchen nicht automatisch ein dauerhaftes Bleiberecht, sondern muss gemeinsam mit ihrer Mutter viele Jahre ein vorläufiges Aufenthaltsrecht in Dreimonatsabständen beantragen. Sie beschreibt die Situation als einen Kampf, den ihre Mutter immer wieder mit den Behörden um ihre Person führen musste, und unter dem sie als Kind sehr stark gelitten habe. Ihre Situation verbessert sich erst, als sie das Frauenhaus verlassen und eine eigene Wohnung in einem sogenannten benachteiligten Stadtteil von Kiel beziehen, in welchem sie erstmals wieder auf zahlreiche Bewohner nichtdeutscher Herkunft trifft und nicht mehr als die „Fremde“ wahrgenommen wird. Trotz der relativen Armut fühlt sie sich an ihrem neuen Wohnort wohl; nicht zuletzt wegen ihres Freundeskreises, der sich durch unterschiedliche Migrationshintergründe und Vielsprachigkeit auszeichnet – ein Umstand, der sich heute in Schwesta Ewas Songtexten widerspiegelt, in denen sie regelmäßig sowohl polnische als auch arabische, türkische und serbokroatische Wörter und Phrasen einbaut. Ewa Müller beschreibt, dass sie das Thema Gewalt ihr ganzes Leben begleitet habe. Schon im Kindergarten, später dann in Schul- und Jugendzeit sei sie Opfer von körperlicher Gewalt geworden oder selbst durch Gewaltanwendungen gegenüber anderen Kindern und Jugendlichen aufgefallen. Sie beschreibt, wie ihr später dieses Verhalten auf dem Straßenstrich genützt habe, um sich im harten Konkurrenzkampf mit anderen Sexarbeiter_innen Respekt zu verschaffen oder sich gegenüber handgreiflichen Freiern zu wehren. Sie erzählt von gewalttätigen Freiern, die sie verprügelten, misshandelten, vergewaltigten und mit Schusswaffen bedrohten und nennt es „Berufsrisiko“. Geld spiele in ihrem Leben eine zentrale Rolle und sei auch der Motivationsgrund, sich als Sexarbeiterin zu betätigen. Zuvor bildeten Diebstahl und Drogenverkauf zentrale Einnahmequellen, die ihr den Respekt und die Anerkennung im kleinkriminellen Umfeld verschafften. Ihr Lebensziel sei es gewesen, möglichst schnell möglichst viel Geld zu verdienen, um es „allen zu zeigen und meine kleinen Brüder davor zu schützen, in

22 Ihr Geburtsname ist uns nicht bekannt.

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Altkleidercontainern wühlen zu müssen“.23 Zunächst arbeitet Ewa Müller als Kellnerin im Rotlichtmilieu, bevor sie noch jüngere Freundinnen als Sexarbeiterinnen auf der Straße für sich anschaffen lässt und den Großteil ihrer Einnahmen kassiert. Mit 17 Jahren wird sie bei ihrer Tätigkeit als Zuhälterin in Kopenhagen erwischt und muss eine Haftstrafe im Jugendarrest absitzen. Nach ihrer Entlassung wechselt sie mit 18 Jahren ihren Wohnort und betätigt sich eigenständig als Sexarbeiterin in verschiedenen Städten Deutschlands und Europas, hauptsächlich aber im Frankfurter Bahnhofsviertel. Während der Anfangszeit als Prostituierte beginnt sie Drogen zu konsumieren, insbesondere die Droge „Crack“. Sie wird schnell abhängig und rutscht dadurch in den Bereich der Drogenprostitution. Den Entzug schafft sie aus finanzieller Not heraus eigenständig, nachdem durch den fortschreitenden körperlichen Verfall Kunden und Einnahmen fehlen. Seit ihrem Erfolg als Rapperin ist sie nicht mehr als Sexarbeiterin tätig. Allerdings hat sie laut eigener Aussage das „Milieu“ bis heute nicht verlassen und sieht sich in dieser Nische beheimatet. Ihre Freundinnen arbeiten weiterhin als Sexarbeiterinnen, ihr Lebenspartner, mit dem sie bis vor kurzem die gemeinsame Bar betrieb, ist im Sicherheitsdienst eines Bordells tätig. 3.2 Die Straßen-Rapperin Schwesta Ewa als Kämpferin gegen Rassismus, Sexismus und Klassismus? Ewa Müller ist eine von wenigen Sexarbeiter_innen, die öffentlich über ihre Tätigkeit Auskunft gibt. Ihr Medium ist in erster Linie die Musik, aber auch in Interviews gibt sie Interessierten informative Einblicke. Dabei betont sie immer wieder ihren freiwilligen Einstieg in die Prostitution und den schnellen Geldverdienst als Motivation.24 Sie spricht sich für eine absolute Legalisierung der Prostitution aus ebenso für die Anerkennung als Beruf, gleichwertig mit anderen anerkannten Berufen. Damit schließt sie sich den Ansichten verschiedener Prostituiertenverbände an und den, in der Öffentlichkeit wahrnehmbaren Stimmen von

23 Vgl. „Letzte Runde“: Schwesta Ewa bei Letzte Runde, https://www.youtube.com/ watch?v=d6gMtGkVb98, Stand: 26.05.2014. 24 In Anbetracht ihres Werdegangs, der durch frühe Gewalterfahrungen sowie rassistische Diskriminierungen geprägt ist, erscheint ihr Werdegang als Sexarbeiterin in der Wahrnehmung der Mehrheitsgesellschaft zunächst fast klischeehaft und entspricht der gängigen These, dass das Gewalterleben in der Kindheit es den Sexarbeiter_innen ermögliche, auch mit Gewalterfahrungen im Rahmen des Prostitutionsfeldes umzugehen (vgl. hierzu Brückner/Oppenheimer 2006). Welche Faktoren bei Ewa Müller tatsächlich ausschlaggebend waren, kann hier nicht eindeutig beurteilt werden.

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Sexarbeiter_innen. Sie wundert sich über die Tabuisierung des Themas Prostitution im gesamtgesellschaftlichen Diskurs: „Ich kann mir nicht erklären, warum das Thema Prostitution in Deutschland so unter den Teppich gekehrt wird. Das ist ein Milliardengeschäft in Deutschland. Die Frauen verdienen sehr viel Geld und jeder 2.-3. Mann besucht sowieso die Prostituierten. Ich verstehe auch nicht, warum ich mit meinen Erzählungen oft so viel Hass ernte.“25

Ewa Müller hält sich mit ihrer Offenheit nicht an die unausgesprochene Spielregel einer diskursiven Tabuisierung des Themenfeldes Prostitution. Sie kritisiert Marginalisierung und „Verunsichtbarmachung“ der zahlreichen Sexarbeiter_innen, die sie in sozialer Hinsicht zu einer Art Doppelleben zwinge bzw. sie mit dem Dilemma konfrontiere, zwischen Menschen aus dem Milieu und der Mehrheitsgesellschaft strikt zu trennen. Andernfalls bliebe ihnen nur die Möglichkeit, ihr Sozialleben ausschließlich im Milieu zu verorten. Auch Ewa Müller ist trotz ihres Erfolges als Musikerin der Ansicht, das Milieu nicht mehr verlassen zu wollen oder zu können. Ihr gesamtes soziales Umfeld ist im Rotlichtmilieu verortet und sie fühle sich dort weiterhin beheimatet. Ewa Müller ist sich der Tatsache bewusst, dass ihr musikalischer Erfolg auf das mediale Interesse am Milieu zurückzuführen ist. Gleichzeitig erfüllt sie als Schwesta Ewa aufgrund ihrer Herkunft, ihres Lebensstils und ihrer langjährigen Tätigkeit als Prostituierte alle notwendigen Attribute einer „authentischen“ Straßen-Rapperin. Bereits in ihrem ersten Videoclip „Schwätza“ inszeniert sie ihre Tätigkeit als selbstbewusste und berechnende Sexarbeiterin im Frankfurter Bahnhofsviertel und gibt den Zuhörer_innen einen Einblick in ihre Lebenswelt: „Czezc26 du Picko27, her mit dem Mikro Rotlicht auf mein Göt28, komm zu meiner Peepshow Ich bin Frankfurterin aus Bahnhofsviertel Lilane29 durch Freier aus’m Banken-Buisness“

25 Interview: Letzte Runde mit Schwesta Ewa. 26 Polnische Begrüßung, vergleichbar mit dem deutschen „Hallo“. 27 Ausdruck für das weibliche Genital aus dem serbo-kroatischen Sprachraum. Hier als abfällige Bezeichnung für das verweichlichte Gegenüber zu verstehen. 28 Türkisch für „Arsch“. 29 Synonym für 500 Euro Scheine.

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Neben den Erfahrungen, die sie als Prostituierte gemacht hat, erzählt das Lied die Geschichte, wie Ewa gemeinsam mit zwei Komplizen einen Freier betrügt und ihm 20.000 Euro als angebliche Ablösesumme für ihren Zuhälter entzieht. Sowohl in ihren Songtexten als auch in Interviews spricht sie sehr freizügig über ihr Leben als Sexarbeiterin und auch ihre familiären Hintergründe sowie ihre Kindheitserfahrungen: „Alle meine Schwestern sagen: Lass das Schuften Schicksal, trag die Last auf Schultern Papa ist drin, LL mit SV30 Mein Bruder hat Glück kommt zwei Drittel raus Scheiße ich brauch Geld zum Überleben Also hör auf mit mir über Leben zu reden“31

Armut, Ausgrenzung, Rassismus, Heimatlosigkeit, Gewalterfahrungen, kleinkrimineller Lebensstil als Dealerin, Drogenkonsum, Betätigungen als Zuhälterin und Prostituierte sind wiederkehrende Themen ihrer Songs. Während die einen Schwesta Ewa aufgrund dessen als besonders real empfinden und ihre musikalische Verortung begrüßen, wenden sich andere gegen sie und verurteilen ihre Aktivitäten in der Szene. Kaum jemand schafft es, so stark zu polarisieren. Schaut man sich das Musikvideo zu dem Song „Schwätza“ auf dem Internetportal Youtube an, sieht man, dass es seit dem Upload (26.12.2011) bis heute weit über sieben Millionen Mal angeklickt wurde. Und dennoch ist es eines der wenigen Musikvideos, das trotz seiner hohen Quote in der Nutzerbewertung mehr „Dislikes“ als „Likes“32 (ca. 28.000 zu 21.000) erhalten halt. Schwesta Ewa scheint in ihrer Präsentation als Rapperin und Prostituierte einen Nerv getroffen zu haben, indem sie voyeuristische Interessen bedient und Interessierten einen Einblick in eine für den Normalbürger schwer zugängliche Welt gibt. Dieser Einblick muss dabei nicht gefallen, um interessant zu sein. Damit greift sie auf die gängigen Mechanismen im Gangsta-Rap zurück, indem sie ihre zwielichtige Lebenswelt provozierend zur Schau stellt. Der Unterschied zu ihren männlichen Kollegen besteht allerdings in der Missachtung der Geschlechterrollen. Ähnlich wie schon einige ihrer weiblichen Vorgängerinnen es mit dem Begriff der „Bitch“ taten, deutet sie nun im deutschen Kontext das objektivierte

30 LL= Lebenslänglich, SV= Sicherheitsverwahrung 31 Textzeilen aus dem Song „Schwätza“. 32 Bewertungssystem auf dem Internetportal Youtube, durch welches Nutzer ein Video mit „Gefällt“ mir oder „Gefällt mir nicht“ bewerten können.

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und durchaus negative Bild der „Hure“ positiv um, indem sie prahlend ihre Machtposition über männliche Freier und Zuhälter verdeutlicht (vgl. Goßmann/ Seeliger 2013). Das selbstverdiente oder ergaunerte Geld spielt auch bei Schwesta Ewas Inszenierung eine tragende Rolle und verhilft ihr, sich als selbstbewusste Geschäftsfrau im männlich dominierten System zu positionieren. Die Orientierung an den im Straßen-Rap gängigen Männlichkeitsattributen – wie körperliche Stärke, Macht und Überlegenheit – verschafft ihr die Freiheit, sich dem gängigen Objektstatus von Frauen im Rap zu entziehen, obwohl sie gleichzeitig durch ihre visuelle Erscheinung den ästhetischen Erwartungen an eine sexuell anziehende Frau entspricht. Diese Doppeldeutigkeit bietet ihr die Möglichkeit der Teilhabe in allen Bereichen des Straßen-Raps. Es lässt sich darüber diskutieren, ob sie durch die Art ihrer Inszenierung die Geschlechterrollen weiter verfestigt oder tatsächlich aufbricht. Außer Frage steht allerdings, dass sie genau über das Wissen verfügt, was von einer authentischen Straßen-Rapperin erwartet werden kann. Die Resonanz, die sie auf ihre Inszenierung als Straßen-Rapperin erfährt, fällt höchst unterschiedlich aus. Während das Feuilleton sie als weibliche Newcomerin im männlich dominierten Straßen-Rap feiert, sind die Reaktionen innerhalb der Musikszene gespalten. Besonders auffällig erscheinen vor allem die negativen Reaktionen einiger ihrer männlichen Kollegen, was Malte Goßman und Martin Seeliger zufolge daran liegt, dass „das Auftreten Schwesta Ewas für die Sprecher eine Bedrohung ihrer Männlichkeitskonzeptionen darstellt, welcher sie mit Bezug auf unterschiedliche Strategien der Ausgrenzung und Delegitimierung begegnen“ (Goßmann/Seeliger 2013: 2). Aber sie sehen auch die Möglichkeit, sich der Strategie einer „humoristischen Distanz“ zu bedienen, „die es ermöglicht, die persönliche (männliche) Verunsicherung zu dethematisieren und an (nicht nur) in der Rap-Szene verbreitete Vorstellungen von Weiblichkeit und Sexarbeit anzuknüpfen.“ (ebd.: 16) Innerhalb dieser Strategie bekunden vor allem Kollegen aus dem männlichen Umfeld der Rapperin in ihrer Zusammenarbeit mit dem Label Alles oder Nix Records (AON) ihre Loyalität. Die Loyalität bezieht sich dabei nicht nur auf die Rapperin, sondern auch auf die Loyalität gegenüber dem Labelinhaber Xatar und den sonst ausschließlich männlichen Rappern, die bei AON unter Vertrag stehen. Dieser Vorgang stärkt damit nicht nur die Rapperin, sondern auch die homosoziale Verbundenheit unter den männlichen Kollegen. Umgekehrt lassen sich direkte Diskreditierungsstrategien identifizieren, die zum einen auf Ewas Status als Frau im Rapkontext und zum anderen auf ihre Aus-

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übung als Sexarbeiterin zielen (vgl. ebd.: 18). Im Juli 2015 veröffentlichte der deutsch-polnische Rapper Toony (bürgerlich Thomas Johann Chachurski) einen sogenannten „Disstrack“ gegen Schwesta Ewa, in dem er auf eine Beleidigung der Rapperin reagierte. Toony gilt in seinem Rap-Image als polnischer Patriot und äußert sich in seinem über 8-minütigen Disstrack mit dem polnischen Titel „Sto lat“33 kritisch: „Glaubst du wirklich ich lass mir von irgendeiner dämlichen Nutte irgendetwas sagen? Spuckst unsere Frauen an, spuckst auf unsere Flagge. Spuckst auf unsere Ehre, spuckst auf unseren Stolz.“

Er beleidigt sie im weiteren Verlauf massiv aufgrund ihrer Betätigung als Sexarbeiterin und zieht immer wieder eine Linie zu ihrer gemeinsamen Herkunft Polen: „Ohne Rap findet diese Ewa nur als Hure Arbeit. Eine echte Polin, sie hat Stolz, ihr Leben, geht zur Uni während jeder bei dir darf ab ’nem Zehner ohne Gummi...“

Im März 2016 veröffentlichte Toony einen weiteren Disstrack, in welchem er sich erneut abwertend gegenüber Schwesta Ewa äußert: „Ich gönn’ jedem seinen Erfolg Nutte, doch Ewa, du zerstörst das Ansehen aller Mädchen einer ganzen Volksgruppe.“

Den Vorwurf der Ehrlosigkeit koppelt der Rapper stets an seinen Nationalstolz, so dass er sich als selbsternannter polnischer Patriot genötigt sieht, sich auch in der Öffentlichkeit deutlich von Ewa Müller als Person und Landsfrau zu distanzieren. Vermutlich will Toony auch den teilweise vorherrschenden gesellschaftlichen Klischees über Pol_innen entgegenwirken, in welchen vor allem auch das Phänomen der Migrationsprostitution von Osteuropäer_innen verhandelt wird.34 Seine deutliche Betonung, eine „echte Polin“ studiere und führe ein anständiges Leben, deutet zumindest auf eine persönliche Verletzbarkeit hin. Auffällig ist, dass seine Kritik an die Person Ewa Müller als Polin und als Sexarbeiterin ge-

33 „Sto lat“ ist ein traditionelles polnisches Lied, das bei unterschiedlichsten Anlässen zur Beglückwünschung gesungen wird und heißt übersetzt „Hundert Jahre“. 34 Vgl. Studien zu Migrationsprostitution u.a. Grenz (2006).

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richtet ist und sich in keiner Weise auf ihre musikalische Tätigkeit als Rapperin bezieht. Im Vergleich verurteilt Julien Sewering35, der einen Youtube-Kanal namens JuliensBlog betreibt und sich dort auch selbst als Rapmusiker präsentiert, in seinem 2013 veröffentlichte Track „Bordsteinschwalbe“ Schwesta Ewa nicht nur als Sexarbeiterin, sondern kritisiert sie auch als Rapperin: „Schwesta Ewa, die Professionelle Sie kriegt von den Babas36 im Rotlicht ’ne Schelle Du billiges Stück Scheiße, bist am Bordstein bekannt und dein Mic37 hat die Form eines Schwanzes, du Schlampe Schwesta Ewa, seit wann rappen Frauen? Baby du siehst eher so nach Schwanzlecken aus …“

und weiter: „3 Millionen Klicks, doch keiner feiert diese Kacke Schlampe das sind keine Fans, sondern Freier, die du hattest...“

35 Die Inszenierung Julien Sewerings als Rapmusiker und Medienaktivist basiert grundlegend auf möglichst effektiver Provokation. Er präsentiert sich bewusst frauenfeindlich und hetzt auch gelegentlich mittels nationalsozialistischer Bezüge gegen allgemeine gesellschaftliche Belange, wie beispielsweise den Streik der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL). Neben der Beurteilung aktueller Diskursstränge, betreibt er auf seinem Blog auch eine Rubrik namens „Rapanalyse“, in welcher er kritisch die Raptexte und Inszenierungen bekannter Deutschrapper analysiert. Die Diffarmierung Schwesta Ewas ist damit lediglich eine von vielen. Juliensblog ist sehr erfolgreich und weist deutlich über eine Millionen Abonnent_innen auf. Seine Zielgruppe sind zumeist junge Menschen im Schulalter, was bereits Diskussionen um eine mögliche Zensierung einiger Inhalte durch den Jugendschutzbund hervorrief. Julien Sewering konnte allerdings keine nennenswerten Erfolge als Rapmusiker erzielen und scheint allgemein keine große Relevanz für die HipHop-Kultur darzustellen. 36 Türkische und persische Bezeichnung für Vater. 37 Abkürzung für Microphon.

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Sewerings Disstracks werden im HipHop Diskurs größtenteils humoristisch38 oder auch gar nicht verhandelt, was sich auch darin äußerst, dass es zu keinem Battle kommt und die Diffamierung lediglich einseitig verläuft. Inwieweit seine Inszenierung auch seine tatsächlichen Einstellungen widerspiegelt, kann hier nicht beurteilt werden. Dennoch präsentiert er sich als Rapkonsument und Kenner der Musikszene und erreicht mit seinen Inhalten eine große Zielgruppe. Da seine misogynen Sichtweisen nicht durch Ironie oder Satire gekennzeichnet sind, unterstreichen sie die problematischen Vorstellungen der Geschlechterverhältnisse im Straßen-Rap und können in Anbetracht der adoleszenten Zielgruppe zu einer Verfestigung der Verhältnisse beitragen. Diese beiden Beispiele gehören zu den konfrontativsten Reaktionen auf Schwesta Ewas Erfolg als Rapperin. Innerhalb der Musikszene scheint sie dennoch weitestgehend auf Akzeptanz zu stoßen, was neben dem bedingungslosen Rückhalt einiger Kollegen und ihres Labels AON vor allem auf ihr umfassendes Insider-/Szenewissen zurückzuführen ist. Als Reaktion auf das negative Feedback, das vor allem auf ihre vergangene Lebensweise zielt, bringt sie diesen Umstand in ihren Liedern zum Ausdruck: „Schwesta Ewa, gedisst nur von Typen Die mich jahrelang zahlten, um Dildos zu spüren Und nun, da Schwesta nicht im Laufhaus sitzt haten Freier im Netz – Schnauze Pic...“39

oder: „Rapper von heute, meine Freier von gestern kaum Schwanz aber viele Girls wie Hugh Hefner (…) Ach ja, du denkst, du bist mit Gangstern im Team Wenn ich das wollte, wärst du nur mit paar Gangstern intim … (...) Ihr seid peinlich, redet über Frauen und Puffs Doch wird’s ernst, macht ihr zzzzzch – Saunaaufguss...“40

38 Schwesta Ewa empfiehlt auf ihrer Facebook-Seite den Disstrack von Juliensblog. Im Vergleich zu Toonys Disstrack erscheint ihr dieser gelungen, https://www.facebook. com/SCHWESTA.EWA/?fref=ts Abruf: 16.04.2016. 39 Textzeilen aus den Song „Kurwa“ vom Album „Kurwa“. 40 Textzeilen aus dem Song „Schwesta Electra“ vom Album „Kurwa“.

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Neben ihren Songtexten nimmt sie auch in Interviews offen Stellung zu ihrer kontroversen Position in der Musikszene: „Ich hab so viele Rapper kennengelernt und gemerkt, dass die immer so viel labern und labern, aber dass alles heiße Luft ist. Ich meine, ich habe ja jetzt echt schon viele Deutschrapper kennengelernt und da ist mehr Schein als Sein. Und deswegen weiß ich - und die wissen es auch, dass ich tatsächlich … Ja ist doch normal auch, wenn du wirklich von der Straße kommst, dass du wirklich andere Sachen erlebt und gesehen hast. Dann hast du auch einen anderen Charakter. Dann gehst du auch anders auf Sachen zu als jemand der bekannter Rapper in Deutschland ist, aber dann bei Mama wohnt und mit der Bahn fährt.“41

Indem sie in ihren Songs und Interviews auch das Insiderwissen einer Sexarbeiterin über bestimmte Phänomene von Männlichkeit zur Schau stellt, ist sie in der Lage, die männlichen Figuren wie den Zuhälter und den Freier aus der Perspektive einer Sexarbeiterin bloßzustellen und damit zu einer Bedrohung für bestimmte Männlichkeitsentwürfe im Rap werden. Im Gegensatz zu der männlichen Inszenierung von Zuhältern und Freiern im Rapkontext, beschreibt sie, dass sich in der Realität der prostitutiven Begegnungen, die sexuellen Vorlieben der männlichen Kunden, ihre eigentliche Weichheit oder ihre Schwäche entlarve. Die Sexarbeiterin nehme entsprechend eine Machtposition ein und könne das Geschehen zu ihrem Vorteil lenken.42 Schwesta Ewas Äußerungen stimmen in einigen Punkten mit den wenigen Studien, die über Freier entstanden sind, überein: Männer, die ihre Macht über Frauen in der Prostitution ausleben wollen, bilden eher die Ausnahme, Prostitution diene dabei vor allem als Möglichkeit, sexuelle Vorlieben auszuleben, die in der Mehrheitsgesellschaft ungewöhnlich erscheinen oder in der Partnerschaft nicht ausgelebt werden wollen oder können, ebenso wie die Suche nach körperlicher Nähe eine Motivation für einen Prostitutionsbesuch darstelle (vgl. exempl. Gerheim 2012; Grenz 2006). Bewusst stellt Schwesta Ewa der Inszenierung von Männlichkeit im Rapkontext eine andere Realität männlicher Sehnsüchte und

41 Ewa Müller im Interview mit Splash! Mag TV: Schwesta Ewa über Materia, „Kurwa“ & Liebe im Rotlicht. URL: https://www.youtube.com/watch?v=WB34gP 4OicE Stand: 14.01.2015, Abruf: 15.04.2016. 42 Sie beschreibt, dass Freiern durch bestimmte Tricks grundsätzlich mehr Geld abgenommen wird als ursprünglich vereinbart. Beispielsweise, indem die Sexarbeiter_in alle möglichen Aktivitäten im prostitutiven Handlungsspielraum als „Extra“ kennzeichnet, das auch zusätzliche Bezahlung erfordere. Vgl. Interview „Letzte Runde“.

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Wünsche gegenüber. Die meist verhaltenen Reaktionen ihrer männlichen Gangsta-Rap Kollegen bezüglich Ewa Müllers musikalischen Werdegangs können somit auch als Verunsicherung in Bezug auf die eigene Imagebildung verstanden werden. Das Konzept der Realness kann so ins Wanken geraten. Die Strategie, sich aus der marginalisierten Männlichkeit durch Hypermaskulinität und die Umkehrung von Machtpositionen in Aushandlung zwischen hegemonialer und marginalisierter Männlichkeit zu befreien, wird durch das Auftreten einer weiblichen Protagonistin, die jegliche Spielregeln kennt, sie aber für sich umdeutet, hinterfragt. Goßmann und Seeliger sehen in diesem weiblichen Handeln die „Möglichkeit, weibliches Empowerment als Auslöser für Veränderungen von Männlichkeit in den Blick zu nehmen.“ (Goßmann/Seeliger 2013: 21) Ewa selbst gibt dieser Aussage recht, wenn sie in Interviews auf die Frage, ob sie sich als weibliches Vorbild für andere Frauen im Rap sieht, erläutert: „Ja natürlich, aber das Problem ist leider, dass die Frauen nicht mutig genug sind und ihre Ellenbogen mehr ausfahren müssen. Es ist egal, ob jemand meine Vergangenheit hat, die Kommentare mit ‚du Schlampe‘ und so stehen eins zu eins auch bei anderen Rapperinnen, die nichts mit der Prostitution zu haben. Um damit klar zu kommen, braucht man schon eine dicke Haut. Da müssten die Mädels mutiger sein. Es wäre schön, wenn ihr (rappenden Frauen) das mal ändern könntet.“43

Auch Ewa Müller betont hier, dass durch weibliches Empowerment durchaus ein Umdenken in den Geschlechterverhältnissen im Rap bewirkt werden könne. Dazu bedarf es laut ihrer Ansicht aber deutlich mehr Frauen, die sich mit Mut und Stärke dem Problem stellen.44

43 Ewa Müller im Interview mit Splash! Mag TV: Schwesta Ewa über Materia, „Kurwa“ & Liebe im Rotlicht, https://www.youtube.com/watch?v=WB34gP4OicE Stand: 14.01.2015, Abruf: 15.04.2016. 44 Inzwischen ist bspw. ein neues weibliches Rap-Duo namens SXTN in Erscheinung getreten, das sich ähnlich provokativ darstellt. Es handelt sich um zwei junge Rapperinnen aus Berlin, die sich ebenfalls einer sehr harten Sprache bedienen. Ihr Debüt Song „Deine Mutter“ beinhaltet sogar zwei Textzeilen, in Anlehnung an den Song „60 Punchbars“ von Schwesta Ewa: „Jeder Hater ist ein Klick mehr, du bist nicht mehr als ein Fick wert.“ Das Ziel, auch andere Rapperinnen zu ermutigen, Einfluss auf den Straßenrap zu nehmen, scheint damit zumindest gelungen ‒ auch wenn sich SXTN aufgrund der Inhalte und Visualisierung mit ähnlicher Kritik auseinandersetzen müssen wie andere Straßenrapperinnen.

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4 S CHWESTA E WA – EINE C HANCE FÜR DEN F EMINISMUS ? Prostitution und Sexarbeit besitzen nicht nur für die Gesellschaft eine Selbstverständigungsfunktion, weil sich an ihnen die Ordnung der Geschlechter und der Sexualität verhandeln lässt, sondern sie dienen in symbolisierter Form auch innerhalb bestimmter Teile der Populärkultur der Demonstration von Machtpositionen. Rapper nutzen die Themen zur Bildung einer positiven Geschlechtsidentität, indem Männlichkeiten durch die Vergewisserung einer Heteronormativität und die Zurschaustellung von Hypermaskulinität in Abgrenzung zu Weiblichkeit und Homosexualität verhandelt werden; eine reale Verortung im Prostitutionsfeld ist nicht zwangsläufig gegeben. Durch Schwesta Ewa, die sich innerhalb kürzester Zeit im Straßen- und Gangsta-Rap etablieren konnte, wird nun eine neue Perspektive auf das Themenfeld eröffnet. Durch Insiderwissen und die Verschiebung des Blickwinkels wird aus der sonst als Opfer und Objekt degradierten Prostituierten eine selbstbewusste und selbstbestimmte Sexarbeiterin, die Freiern und Zuhältern den alleinigen Machtanspruch abspricht. Darüber hinaus entlarvt sie die Männlichkeitsideale ihrer Kollegen und trägt so durch weibliches Empowerment zu einer Verunsicherung der männlich dominierten Musikszene bei. Es stellt sich die Frage, ob es bei einer Verunsicherung bleibt oder ob die verfestigten Geschlechterverhältnisse durch ihr Auftreten tatsächlich aufgebrochen und dadurch auch anderen Rapperinnen neue Positionen außerhalb der dichotomen Bildwelten ermöglichtet werden. Denn auch Schwesta Ewa bedient sich männlich codierter Sprachmittel und Stile des Gangsta-Rap: Die visuelle Inszenierung ihrer Musikvideos und auch ihre Bühnenperformance unterscheiden sich wenig von denen ihrer männlichen Kollegen. Sie schmückt sich ebenfalls mit Tänzerinnen, die sich freizügig und in sexistischer Manier um sie herum gruppieren. Hier muss sich Schwesta Ewa dem Vorwurf stellen, der auch an die Rapperin Lady Bitch Ray herangetragen wird: Ihre Selbstbestimmung und Befreiung funktioniere nur, solange sie sich dem männlich codierten Verhaltensmuster unterwirft, womit es sich letztlich um einen affirmativen Vorgang handle. Aber es gibt einen Unterschied zwischen Schwesta Ewa und Lady Bitch Ray: Schwesta Ewa handelt authentisch aus ihrer Lebenserfahrung heraus, wohingegen es sich bei Lady Bitch Ray um die Erschaffung einer Kunstfigur handelt.45

45 Trotz der Übernahme des männlich codierten Verhaltensmusters bleibt die Akzeptanz innerhalb der Musikszene für Lady Bitch Ray aus und beschränkt sich auf Aushand-

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Schwesta Ewa übernimmt nicht einfach den „männlichen“ Verhaltenscodex ihrer Kollegen, sie zeigt auf, dass Attribute wie Härte und Gewalt gerade nicht auf eine „biologische“ Geschlechtsidentität zurückzuführen sind. Gewaltanwendungen können zwar in homosozialen Verbünden der Darstellung von Männlichkeit dienen, Meuser bezeichnet diesen Vorgang mit dem Begriff „doing masculinity“ (Meuser 2008: 33 f.); im Fall Schwesta Ewa muss die Gewaltaffinität aber eher als Handlungsressource mit Blick auf die biografischen Erfahrungen verstanden werden (vgl. Baur/Lüdtke 2008: 17). Mit dem Auftreten von Schwesta Ewa können den männlichen Rappern in der HipHop-Kultur Gewaltaffinität und Härte damit nicht mehr zu einer Abgrenzung gegenüber allem dienen, was weiblich konnotiert wird (Frauen und Homosexuelle). Ewa Müller verunsichert in dieser Hinsicht somit nicht nur in Bezug auf das gängige Weiblichkeitsideal im Rap, sondern auch in Bezug auf die gesamte Imagebildung bestimmter Rapper. Daneben trägt sie mit ihren Erfahrungen, die sie als Sexarbeiterin Ewa Müller gemacht hat und in ihrer Musik verarbeitet, nicht nur zum Diskurs der Geschlechterfrage im HipHop bei, sondern kann auch feministische Verhandlungen um Prostitution ergänzen, die um Fragen kreisen: Sollte Sexarbeit strafbar sein, um Sexarbeiter_innen vor physischer und psychischer Gewalt zu schützen? Sollte Sexarbeit als Beruf anerkannt werden, um Sexarbeiter_innen Chancengleichheit gegenüber anderen Berufstätigen zu gewähren? Trägt Sexarbeit in seiner derzeitigen Ausformung, mit vordergründig erstarrten Geschlechterordnungen, zu einer gesamtgesellschaftlichen Verfestigung patriarchaler Gesellschaftsstrukturen bei? Durch ihre schonungslose Offenheit gibt sie einen Einblick in bislang marginalisierte Bereiche des Prostitutionsfeldes und seine „unbequemen“ Wahrheiten und Lebensformen. Dank des öffentlichen Interesses an ihrer Person gelingt es ihr auch, die notwendige Diskussion zur gegenwärtigen Verschränkung von Rassismus, Sexismus und Klassismus (wieder)anzustoßen, die nicht zuletzt durch die Ausgrenzungsmechanismen eines „Elite-Feminismus“ in die gesellschaftliche „Unsichtbarkeit“ gedrängt wurden. Denn an der

lungen im Feuilleton, universitäre bzw. wissenschaftliche Kontexte und einer Fanbase, die größtenteils nicht der HipHop-Kultur zugehörig ist. Der Kontrast zwischen der hypersexualisierten Kunstfigur Lady Bitch Ray und der promovierten Sprachwissenschaftlerin Reyhan Sahin birgt die Gefahr unstimmig, unauthentisch oder aufgesetzt zu erscheinen. Ob es sich bei den tabuverletzenden Texten der Lady Bitch Ray nun tatsächlich um eine türkisch-weibliche Emanzipation handelt oder es ihr lediglich um Selbstdarstellung und mediale Aufmerksamkeit geht, kann an dieser Stelle nicht weiter erörtert werden.

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Lebensgeschichte der Ewa Müller werden genau die Strukturen sichtbar, die es trotz der neoliberalistischen Postulierung eben nicht jeder jungen Frau ermöglichen, ein sogenanntes „Top-Girl“ zu werden.46 So bleibt die Frage offen, ob Ewa Müller als Opfer eines kapitalistischen Systems zu betrachten ist, dem es eben nicht gelingt, einen gesellschaftlich anerkannten sozialen Aufstieg zu meistern, oder ob sich ihr Lebens- und Selbstentwurf als Schwesta Ewa als subversives Verhalten begreifen lässt, mit dem es ihr gelingt, die untergründigen Sehnsüchte der Mehrheitsgesellschaft für sich auszunutzen, um auf Missstände aufmerksam zu machen. Glaubt man aktuellen Medienberichten47 könnte Schwesta Ewa aber auch als Mit-Täterin eines besonders „neoliberalen“ Geschlechterregimes betrachtet werden, in dem Frauen andere Frauen ausbeuten und sich „freiwillig“ ausbeuten lassen. Vermutlich muss sich der tatsächliche Gewinn nicht nur politisch, sondern auch an der Zufriedenheit der Privatperson messen lassen. Die unvollständig bleibende Aufklärung ist aber auch als Hinweis auf die grundlegende Schwierigkeit im Feminismus zu lesen:

46 Der sogenannte „Elitefeminismus“ orientiert sich oftmals stark an neoliberalen Idealen mit dem Fokus auf individuelle Selbstverwirklichung. Er wird vor allem von einer überwiegend weißen, akademisch gebildete und erfolgreiche junge Frauengeneration der Mittelschicht vertreten, die sich nach Vorgabe des neoliberalen Geschlechterregimes an der Norm des „adult workers“ orientieren. Angela McRobbie (2010) spricht auch von den sogenannten „Top Girls“, für die es keinen Feminismus mehr braucht, da Frauen ihrer Ansicht nach selbstbestimmt und unabhängig ihren Lebensweg bestreiten können. McRobbies These zufolge wachsen die Top-Girls durch die Übernahme bestimmter feministischer Elemente in den Neoliberalismus, wie Empowerment und Wahlfreiheit, in dem Glauben auf, alle Optionen im Leben zu haben. Sie sind der Überzeugung, dass gesellschaftliche und strukturelle Ungleichheiten nicht mehr in Bezug auf die Kategorie Geschlecht zu setzen sind. Zielstrebig nutzen sie die ihnen angebotenen Chancen auf Erfolg und Aufmerksamkeit und werden nicht selten durch ihr unangestrengtes, humorvolles und gebildetes Auftreten zum Vorbild für eine ganze Generation von jungen, gebildeten Frauen hochstilisiert. 47 Kurz vor dem Erscheinungstermin unseres Artikels ist in unterschiedlichen Presseorganen von der Festnahme Schwesta Ewas und ihrer Anklage u.a. auf Zuhälterei und Körperverletzung zu lesen. Zum Prozessauftakt im Juni 2017 legt sie vor dem Frankfurter Gericht ein Teilgeständnis ab, in dem sie zugibt, die Mädchen, die für sie als Prostituierte gearbeitet hatten, geschlagen zu haben. http://www.fr.de/rhein-main/ kriminalitaet/prozess-am-landgericht-frankfurt-schwesta-ewa-gibt-schlaege-zu-a-1293 163 (Abruf 9.6.2017).

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Der Kollektivbegriff „Frau“ verdeckt die Heterogenität von Frauen(gruppen) und ihre teilweise widersprüchlichen Erfahrungen und der ihnen beigemessenen Bedeutungen. Als Feministin im Namen aller Frauen zu sprechen, war schon immer problematisch, vor allem wenn dies aus einer privilegierten Perspektive geschieht. In dieser Hinsicht sind Frauen wie Ewa Müller für feministische Debatten wichtig und es wäre für den Feminismus gewinnbringend, wenn Personen wie Ewa Müller sich auch als Feministin bezeichnen würden, schließlich trägt sie den im Feminismus geprägten Begriff der Schwesterlichkeit in ihrem Künstlernamen.

L ITERATUR Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis (2001): Editorial, Vol. 24 (58). Köln: o.V. Baur, Nina; Luedtke, Jens (2008): Konstruktionsbereiche von Männlichkeit. Zum Stand der Männerforschung. In: Dies. (Hg.): Die soziale Konstruktion von Männlichkeit – Hegemoniale und marginalisierte Männlichkeiten in Deutschland. Opladen: Budrich. Borst, Eva (2001): Prostitution um 1900. In: Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis, Vol. 24 (58). Köln: o.V. Bourdieu, Pierre (2005): Die männliche Herrschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Brückner, Margit; Oppenheimer, Christa (2006): Lebenssituation Prostitution – Sicherheit, Gesundheit und soziale Hilfen. Königstein/Taunus: Helmer. Connell, Raewyn (2015): Der gemachte Mann – Konstruktion und Krise von Männlichkeiten, 4. Auflage. Wiesbaden: Springer. Dietrich, Marc; Seeliger, Martin (2012): G-Rap auf Deutsch – Eine Einleitung, in: Dietrich, Seeliger (Hg.): Deutscher Gangsta-Rap – Soziale und Kulturwissenschaftliche Beiträge zu einem Pop-Phänomen. Bielefeld: Transcript. EMMA.de: http://www.emma.de/unterzeichnen-der-appell-gegen-prostitution-3 11923, Abruf: 12.04.2016. Fler (Patrick Losensky) (2016), in: Backspin Magazin (2016): „Episches Interview!“ ‒ Fler, Sentino und Jalil vs. Niko, https://www.youtube.com/watch? v=-5V7uXb_Dko, Stand: 06.03.2016, Abruf: 17.04.2016. Gerheim, Udo (2012): Die Produktion des Freiers. Macht im Feld der Prostitution. Eine soziologische Studie. Bielefeld: Transcript. Golla, Mona (2001): Die Dirne kann uns aber gleichgültig sein. In: Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis, Vol.24 (58). Köln: o.V.

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Goßmann, Malte (2012): „Witz schlägt Gewalt“? Männlichkeit in Raptexten von Bushido und K.I.Z. In: Dietrich, Marc; Seeliger, Martin (Hg.): Deutscher Gangsta-Rap – Soziale und Kulturwissenschaftliche Beiträge zu einem PopPhänomen, Bielefeld: Transcript. Goßmann, Malte; Seeliger, Martin (2013): „Ihr habt alle Angst, denn ich kann euch bloßsstellen!“ Weibliches Empowerment und männliche Verunsicherung im Gangsta-Rap, in: Pop-Zeitschrift, URL: http://www.pop-zeitschrift. de/2013/05/13/ihr-habt-alle-angst-denn-ich-kann-euch-blosstellenweiblichesempowerment-und-mannliche-verunsicherung-im-gangstarapvon-maltegosmann-und-martin-seeliger13-5-2013/ Stand: 13.05.2013, Abruf: 15.04. 2016. Grenz, Sabine (2006): Prostitution eine Verhinderung oder Ermöglichung sexueller Gewalt? In: Sabine Grenz (2006): Verhandlungen im Zwielicht – Momente der Prostitution in Geschichte und Gegenwart, Bielefeld: Transcript. Grenz, Sabine (2007): (Un)heimliche Lust – Über den Konsum sexueller Dienstleistungen, 2. Auflage. Wiesbaden: Springer. Güler Saied, Ayla (2012): Rap in Deutschland – Musik als Interaktionsmedium zwischen Partykultur und urbanen Anerkennungskämpfen, Bielefeld: Transcript. Kraus, Ingeborg (o.J.): Petition: Sexkauf bestrafen, Prostitution abbauen, https:// www.change.org/p/sexkauf-bestrafen-prostitution-abbauen, Abruf: 12.04. 2016. Letzte Runde: Schwesta Ewa bei Letzte Runde, https://www.youtube.com/ watch?v=d6gMtGkVb98, Stand: 26.05.2014, Abruf: 16.04.2016. Lindhoff, Alicia (2015): Schwesta Ewa. Geliebt und gehasst. In: Frankfurter Rundschau 8.5.2015. http://www.fr-online.de/frankfurt/schwesta-ewa-gelie bt-und-gehasst,1472798,30650586.html, Abruf: 31.1.2017. McRobbie, Angela (2010): Top Girls – Feminismus und der Aufstieg des neoliberalen Geschlechterregime, Wiesbaden: Springer. Meuser, Michael (2008): Ernste Spiele. Zur Konstruktion von Männlichkeit im Wettbewerb der Männer. In: Baur, Nina; Luedtke, Jens (Hg.): Die soziale Konstruktion von Männlichkeit. Hegemoniale und marginalisierte Männlichkeiten in Deutschland. Opladen: Budrich. Meuser, Michael (2010): Geschlecht und Männlichkeit – Soziologische Theorie und kulturelle Deutungsmuster, 3. Auflage. Wiesbaden: Springer. Reinert, Kirsten (2000): Frauen und Sexualreform 1897-1933. Herbolzheim: Centaurus. Ruby, Sophia Maria (2012): Prostitution im feministischen Diskurs. In: Soziologiemagazin: publizieren statt archivieren; Sonderheft 2, S. 84-97.

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Splash! Mag TV: Schwesta Ewa über Materia, „Kurwa“ & Liebe im Rotlicht. URL: https://www.youtube.com/watch?v=WB34gP4OicE Stand: 14.01. 2015, Abruf: 15.04.2016. Starosta, Anita; Vollmond, Nora (2014): Einleitung: Radikal, sexy, aktuell – zur Relevanz von Feminismus in historischer Perspektive, in: Feminismus Seminar (Hg.): Feminismus in historischer Perspektive – Eine Reaktualisierung. Bielefeld: Transcript. Tornera, Franza (2011): White slavery – Ein Begriff mit problematischen Implikationen. In: Menschenhandel heute – Kritisches Magazin gegen Ausbeutung. URL: https://menschenhandelheute.net/2011/10/12/white-slavery-%E2 %80%93-ein-begriff-mit-problematischen-implikationen/ Stand: 12.10.2011, Abruf: 12.04.2016. Visa Vie: Zum goldenen V#2 mit Viesa Vie & Schwesta Ewa. https://www.you tube.com/watch?v=UhOBogDLAGE Stand: 25.11.2015, Abruf: 16.04.2016. Völker, Clara; Kiwi Menrath, Stefanie (2007): Rap-Models- Das schmückende Beiwerk. In: Schischmanjan, Anjela; Wünsch, Michaela (Hg.): Female HipHop – Realness, Roots und Rap-Models. Mainz: Ventil.

„Rede nicht von Liebe, gib’ mir Knete für die Miete!“ Prekäre Gesellschaftsbilder im deutschen Straßen- und Gangsta-Rap J OHN L ÜTTEN UND M ARTIN S EELIGER

1 E INLEITUNG Medien informieren die Gesellschaft über sich selbst und die Populärkultur ist dabei eine zentrale Vermittlungsinstanz. Für die Auseinandersetzung mit Prekarität und Prekarisierung ist dies insofern bedeutsam, als Prekarisierte einerseits im politischen Prozess als unterrepräsentiert oder sogar weitgehend ausgeschlossen gelten (Schäfer 2014). Gleichwohl – und das scheint paradox – prägen Motive der Prekarität nicht nur die populären Subkulturen, sondern längst auch den Mainstream: Deutschsprachiger Straßen- und Gangsta-Rap ist aktuell ökonomisch (Chartplatzierungen) wie auch soziokulturell so erfolgreich wie nie zuvor und liefert Identifikationsangebote, die von der Jugendkultur bis zum Feuilleton breit rezipiert werden. In den Inszenierungen der Rap-Musiker taucht vieles auf, was auch Gegenstand der Prekaritätsforschung ist bzw. ihre Befunde bestätigt: Erfahrungen von Unsicherheit und Ausgrenzung, instabile soziale oder geschlechtliche Identitäten, Gerechtigkeitsansprüche und Oben-Unten-Wahrnehmungen, gescheiterte Anpassungsleistungen, Entkoppelung und Devianz, veränderte Wertestrukturen, ethnische Stigmatisierung, Absagen an die Mehrheitsgesellschaft sowie die Wahrnehmung der eigenen Lebenswelt als System dauernder Bewährungsproben sind nur einige Themen, die hier künstlerisch verhandelt werden. Und es muss einen Grund haben, dass Rapper gerade damit als Identifikationsfiguren für eine

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Vielzahl von Konsumenten dienen, von denen nicht wenige jung, ökonomisch benachteiligt und oftmals migrantisch sind. Doch während über die Weltanschauungen prekarisierter Gesellschaftsmitglieder (sowie deren potenziell gefährliche Implikationen, wie z.B. im Falle des rezenten Rechtsrucks) mehr und mehr diskutiert wird (Nachtwey 2016), stellt die empirisch fundierte Auseinandersetzung mit entsprechenden Perzeptionen und Erfahrungen aus der Popkultur gegenwärtig ein Desiderat dar. Vor diesem Hintergrund erscheint die kultursoziologische Auseinandersetzung mit der Inszenierung von Prekarität im HipHop als vielversprechender Forschungsgegenstand, der womöglich weitaus präzisere Innenansichten aus dem Gesellschaftsbild der Prekären liefern kann als der Fokus allein auf dem klassisch politischen und protestkulturellen Diskurs. Die Bedeutung von Subkulturen und deren symbolischer Repräsentation im Rahmen der Popkultur für die kritische Sozialstrukturanalyse haben die Cultural Studies herausgearbeitet. Einen Ort klassenpolitischer Auseinandersetzungen stellen dort, wie zuletzt in einer Reihe von Beiträgen herausgestellt (Dietrich/ Seeliger 2012) die symbolischen Bildwelten des Gangsta-Rap dar. Mit einer qualitativen Inhaltsanalyse (Mayring 2015) einschlägiger Raptexte und zielt der Beitrag auf die Rekonstruktion der Gesellschaftsbilder prekarisierter GangstaRap-Sprecher bzw. auf deren Inszenierung von Unsicherheit, die als Identifikationsangebot breit rezipiert wird. Gegenstand der Analyse sollen einschlägig bekannte und breit konsumierte Songs von den Künstlern Gzuz, Megaloh und Nate57 sein, die mehrere Millionen Aufrufe in sozialen Netzwerken (YouTube) aufweisen und in denen sich die Sprecher direkt oder indirekt über Erwerbsarbeit, das Zeitgeschehen, Gesellschaft und Politik äußern. Mit unserem Text streben wir in diesem Zusammenhang einen dreifachen Beitrag an. 1) Den Nachweis des explizit politischen Charakters von Gangsta-Rap 2) Die Erschließung eines empirischen Zugangs zum Feld der Prekaritätsfor-

schung 3) Ein Argument zum Verständnis des Zusammenhangs von Interessehandeln und symbolischer Repräsentation Im Anschluss an die Vorstellung des Themenkomplexes ‚Prekarität und Gangsta-Rap‘ folgt der theoretischen und methodologischen Rahmung schließlich die empirische Untersuchung einer Reihe von Rap-Texten. Ein abschließendes Fazit trägt die Erkenntnisse mit Blick auf weitere perspektivische Fragen zukünftig erstrebenswerter Forschung zusammen.

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Entstanden in der New Yorker Bronx der späten 1960er und 1970er Jahre stellt Rapmusik traditionell eine Ausdrucksform der gesellschaftlichen Subalternen dar. Anders als etwa zum Musizieren in Rockbands benötigten die zum Großteil schwarzen New Yorker Jugendlichen keinerlei Instrumente und auch zum Samplen von Schallplatten als musikalischer Grundlage ließen sich einfache Plattenspieler verwenden. Ausgehend von hier durchläuft das Genre eine Entwicklung, die sie nicht nur in die oberen Ränge der US-amerikanischen Verkaufscharts, sondern auch über den Atlantik in die Populärkultur der europäischen Länder befördert. Während Rapsongs hierbei einerseits als Partymusik rezipiert werden, transportieren sie gleichzeitig jedoch häufig auch die prekären Lebenserfahrungen jugendlicher Bewohner marginalisierter Stadtteile. Unter Bezug auf einen Topos der klassischen Sozialanthropologie sprechen Friedrichs und Klein (2003) mit Blick auf die Internationalisierung von Rapmusik von einem Ursprungsmythos, den Nachahmer im lokalen Rahmen adaptieren. Vor diesem Hintergrund wundert es nicht, dass es zu Beginn der 1980er Jahre in Deutschland vorwiegend migrantische Jugendliche sind, die sich in der randständigen Situation der schwarzen Jugendlichen wiedererkennen.1 Dementsprechend thematisieren viele der frühen HipHop-Songs den Alltag auf der Straße und die Marginalitätserfahrung im Umgang mit den Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft (Loh/Verlan 2015). Nachdem die Gruppe ‚Advanced Chemistry‘ den Ursprüngen des Genres mit dem Song ‚Fremd im eigenen Land‘ genau diesen Ursprüngen des Genres eine weitere Bühne verschafft hatte, trat mit den ‚Fantastischen Vier‘ eine weitere Gruppe hinzu, die Rap für einen weiteren Kreis von Rezipienten erschloss. An die Stelle migrantischer Marginalitätserfahrungen rückte so eine stärkere Mainstreamorientierung, die den Effekt einer inhaltlichen Verharmlosung nach sich zog. Nachdem dieser ‚Mittelstands-Rap‘ das Genre in seiner öffentlichen Wahrnehmung fast vollständig repräsentiert hatte, feiert deutsche Rapmusik eine Renaissance zu Beginn des neuen Jahrtausends. Künstler wie Azad oder das Rödelheim Hartreim Projekt bereiteten hier den Weg für das Independent Label Aggro Berlin, dessen Engagement im Zeitraum zwischen 2001 und 2009 deutschen Gangsta-Rap in den populärmusikalischen Mainstream rückte. Zentrale Bezugs-

1

Diese Situation illustriert anschaulich ein Befund von Geißler (2006: 246): 1980 zählten lediglich 15% der Westdeutschen Migranten zu ihrem Freundeskreis, 2002 waren es mit 61% viermal so viele.

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punkte der Bildwelten des Gangsta-Rap stellen – wie schon im klassischen migrantisch geprägten Deutschrap – marginalisierte Lebensformen in der Großstadt dar. In ihren Texten erzählen die Rapper2 von den alltäglichen Herausforderungen, die das Leben in marginalisierten Quartieren mit sich bringt (Gewalt, Perspektivlosigkeit, mangelnde Anerkennung, kollektive Deprivation). Der charakteristische Unterschied zur klassischen Form aus den 1980er Jahren besteht in der (häufig positiv konnotierten) Bezugnahme auf kriminelle Orientierungen der Sprecher (oder zumindest von Personen aus ihrem Umfeld). Kriminelles Handeln, so der Tenor, ergebe sich vor dem Hintergrund kollektiver Exklusion und Stigmatisierung durch die Mehrheitsgesellschaft. Kriminelle Handlungen werden hierbei häufig in verherrlichender Weise dargestellt. Vor allem der Erfolg des Rapkünstlers Bushido korrespondiert hierbei eng mit der Verschränkung zweier gesellschaftlicher Diskurse – einem um ‚Affirmation‘ und einem um ‚Empowerment‘ (Seeliger 2012). Die im Gangsta-Rap dargestellten Images physischer Durchsetzungsfähigkeit, der Verfügbarkeit von Statussymbolen und der Objektivierung von Frauenkörpern, die häufig misogynpatriarchalische Züge tragen und die illegale Aneignung vom Eigentum anderer glorifizieren3, funktionieren unter Bezug auf die öffentliche Auseinandersetzung mit migrantischer Delinquenz. Ob die von den Gangsta-Rappern bemühten Klischees hierbei ihrer tatsächlichen Lebenserfahrung entsprechen oder nicht, ist für deren Vermarktung insofern von untergeordneter Bedeutung, als dass diese Bilder ihre Plausibilität erst im Rahmen dieses Krisendiskurses gewinnen können. Gleichzeitig birgt die gleiche Darstellung auch ein starkes Identifikationspotenzial für Rezipienten – seien es nun real von Marginalität betroffene oder distanziert interessierte Beobachter. Die kultursoziologische Analyse solcher Images, so wollen wir im Folgenden argumentieren, lässt sich vor allem im Sinne der zweiten Dimension auch mit Blick auf die dort dargestellten Prekaritätserfahrungen interpretieren. Lesen wir die Ausführungen der Rapper als Primärzeugnisse prekären Lebens, so lässt sich soziologisch relevantes Wissen über die subjektiven Legitimationsressour-

2

Die Beschreibung von Klein und Friedrich (2003: 24), die HipHop als „Männerwelt von Männern für Männer“ charakterisieren, trifft auch fast 15 Jahre später im Feld des Gangstarap weitgehend zu. Für die Ausnahme der Frankfurter Rapperin Schwesta Ewa siehe Seeliger/Goßmann 2013).

3

„Zähl so viele Scheine Du kannst, bevor Du sitzt“, lautet etwa der Untertitel der Autobiografie des Bonner Rappers Xatar (2015; zu Analyse der Autobiografien siehe Seeliger 2017).

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cen sowie Transformationskapazitäten eklatanter sozialer Ungleichheit in der Gesellschaft gewinnen.

3 H INFÜHRUNG UND THEORETISCHE R AHMUNG 3.1 Bedeutung der Cultural Studies für die politische Einordnung von Gangsta-Rap Ihren theoretischen Ausgangspunkt nimmt die hier anzustellende Interpretation von Gangsta-Rap-Images im Forschungseld der Cultural Studies. Als positiver Gegenwart zur kulturpessimisischen Perspektive der Frankfurter Schule zielt der Ansatz der Cultural Studies auf ein empirisch fundiertes Verständnis der Dialektik widerständigen Handelns. Ihr Fokus auf Kultur als ‚Filter‘, durch den abstrakte Verhältnisse ihre konkrete Bedeutung gewinnen, rückt dabei die die Konstruktion sozialer Wirklichkeit im Widerstreit unterschiedlicher Akteure in den Mittelpunkt des Interesses: „Popular Culture is always a culture of conflict, it always involves the struggle to make social meanings that are in the interest of the subordinate and that are not those preferred by the dominant ideology. The victories, however fleeting or limited, in this struggle produce popular pleasure, for popular is always social and political“ (Fiske 1989: 3).

Für die Perspektive der Cultural Studies erkennen Thomas Lenz und Nicole Zillien (2005: 238) ein besonderes Interesse an der „Repräsentation ‚minoritärer Sichten‘.“ Wie weiter oben dargestellt, vollzieht sich die gesellschaftliche Marginalisierung, von der Gangsta-Rapper in ihren Texten berichten, entlang verschiedener sozialer Differenzlinien: Als homophober Krimineller mit Migrations- und ohne Bildungshintergrund weist der stereotype Gangsta-Rapper hierbei eine Reihe kultureller Markierungen auf, von denen wir uns im Folgenden auf die Klassenzugehörigkeit konzentrieren wollen.4

4

Angesichts der weiter oben herausgearbeiteten Bedeutung migrantischer Subjektivität erscheint dieser Fokus auf die klassenpolitischen Aspekte des Themas möglicherweise überraschend. In seinen Überlegungen zum Zusammenhang von Klasse und Ethnizität bemerkt Hall (1994: 92) jedoch, „dass rassistische Strukturen außerhalb des Rahmens eines spezifischen Ensembles ökonomischer Beziehungen nicht adäquat verstanden werden können“ (Hall 1994a: 92). Für eine stärkere Auseinandersetzung mit den ethnischen Aspekten siehe Seeliger/Dietrich (2012).

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In einem früheren Text (Seeliger 2012a) haben wir gezeigt, weshalb sich Gangsta-Rap-Images aus Sicht einer politischen Soziologie sozialer Ungleichheit auch als Images klassenpolitischer Auseinandersetzung ansehen lassen: Es geht hier um Arme, die sich mit der (aus ihrer Sicht ungerechten) materiellen Privilegierung einiger Reicher nicht abfinden möchten.5 Im Feld der Cultural Studies kommt der Auseinandersetzung mit Klassenverhältnissen besonders hinsichtlich ihrer Formierung und Reproduktion als politischen Subjekten eine lange Tradition zu (vgl. Thompson 1987; Willis 2013). Wie Stuart Hall (2000: 68) bemerkt, stellte hierbei niemals „eine einheitliche Klasse, mit einer schon existierenden einheitlichen Ideologie“ das Bezugsobjekt der Cultural Studies dar. Stattdessen galt und gilt es hier, eine Vielzahl unterschiedlicher Determinanten in Betracht zu ziehen. Der Rekonstruktion ideologischer Orientierungen des Prekariats wollten wir uns im Folgenden unter Bezug auf das Konzept des Gesellschaftsbildes annähern. 3.2 Gesellschaftsbild des Prekariats und interessenpolitisches Handeln Verstehen wir Prekarisierung als einen Prozess, „der zur Verunsicherung und Verschlechterung der materiellen, sozialen, kulturellen und politischen Teilhabe einerseits sowie der sozialen Reproduktion von Lohnabhängigen andererseits beiträgt“ (Goes 2015: 56), wird deutlich, in welchem Zusammenhang die oben angestellten Ausführungen mit den Äußerungen der Gangsta-Rap-Sprecher stehen. Deuten wir entsprechende Texte aus dem Blickwinkel der Cultural Studies, rückt damit automatisch der Zusammenhang von Prekarisierung und kollektivem Interessehandeln, beziehungsweise entsprechender politischer Mobilisierung in den Blick. Die Frage nach der ideologischen Orientierung der Lohnabhängigen als politischem Subjekt stellt traditionell einen Gegenstand der Arbeiterbewusstseinsforschung dar, aus deren analytischem Repertoire wir uns im Folgenden am Konzept des Gesellschaftsbildes bedienen möchten. Ausgehend von der empirischen Untersuchung unter den Beschäftigten eines Duisburger Hüttenwerkes in den 1950er Jahren haben hier Popitz et al. (1957: 1) die Bedeutung imaginativer Elemente für die Entwicklung politischer Orientierungen herausgearbeitet. Ihnen

5

Oder zumindest insofern nicht, als dass sie nicht selbst arm bleiben möchten. Inwiefern die Konsequenz einer solchen (gemeinsamen) Ungleichheitserfahrung eine kollektive klassenpolitische Mobilisierung bedeutet, stellt sich aus Sicht der verschiedenen Genrevertreter höchst unterschiedlich dar.

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zu Folge kann der Versuch des oder der Einzelnen, „sich in eine Beziehung zu der Welt zu setzen, in der er lebt, […] sich niemals ausschließlich auf das Handgreiflich-Zugängliche beschränken.“ Um die Vorstellungen, die aus individueller Perspektive an Stelle derjenigen Tatbestände treten, die Soziologinnen auf abstrakte Weise als ‚Strukturdynamiken‘ oder ‚Bewegungsgesetze‘ zu erfassen versuchen, bilden Subjekte den Autoren zu Folge Interpretationsschemata heraus, die diese als ‚Gesellschaftsbild‘ zu erfassen versuchen: „Ähnlich wie wir unsere sinnlichen Anschauungen nicht jedes Mal neu interpretieren, sondern uns auf ein feststehendes Interpretationsschema verlassen, dient uns auch ein mehr oder minder differenziertes Gesamtbild zur Interpretation und Bewertung unserer gesellschaftlichen Erfahrungen“ (ebd.).6

Zeitgenössische Forschung zum Zusammenhang von Prekarität und politischer Mobilisierung gelangt heute zu überwiegend negativen Schlüssen. Dörre und Mattuschek (2013: 52) zu Folge fehle es etwa „schlicht an geeigneten Erzählungen und Leitbildern, die der Alltagskritik eine Perspektive jenseits von Ohnmachtserfahrungen bieten können.“ Eine wichtige Erklärung für das Ausbleiben interessenpolitischen Handelns prekärer Bevölkerungsteile arbeitet hierbei Pierre Bourdieu in seinen Studien zur Kabylei heraus: In einem Leben „unter dem Stern des Zufälligen und Willkürlichen“ (Bourdieu 2010: 67) kennen die Vertreter des Subproletariats nur eine Zukunft ohne Anknüpfungsmöglichkeiten für Träume“ (ebd.: 87). Unterhalb eines bestimmten ökonomischen Versorgungsniveaus steht es Menschen aus dieser Perspektive nicht offen, über den Tag hinaus zu planen. Da sie zu sehr mit den Herausforderungen, Widrigkeiten und Zumutungen des alltäglichen Lebens zu kämpfen hätten, gelingt es von Prekarisierung bedrohten Akteuren nicht, langfristige Pläne zu verfolgen. Für langfristig angelegte Projekte („mach’ doch eine Ausbildung, dann hast Du bessere Chancen auf einen Job“) oder entsprechend weit ausholende Utopien („dann steigt aus den Trümmern der alten Gesellschaft die sozialistische Weltrepublik“) fehlt ihnen schlichtweg das Abstraktionsvermögen vom alltäglichen Kampf um ihr eigenes Überleben. So plausibel Bourdieus Erwägung auch klingen mag, bleibt sie – so wie alle sozialwissenschaftlichen Theorien – letztlich eine empirische Frage. Aus diesem Grund rekonstruieren wir im folgenden Abschnitt aus einer Reihe ausgewählter

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Wissenssoziologisch nimmt diese Perpsektivierung wesentliche Aspekte dessen vorweg, das später von Berger und Luckmann (1980) unter dem Titel der ‚Sozialen Konstruktion der Wirklichkeit‘ ausgearbeitet ist.

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Texte die Umrisse des Gesellschaftsbildes, wie es sich aus den Symbolwelten deutschen Gangsta-Raps ergibt.

4 M ETHODOLOGIE

UND EMPIRISCHE

E RHEBUNG

Anhand zweier Beispiele soll im Folgenden ein erster empirischer Zugang zum Verhältnis von Prekarität und Gesellschaftsbildern im deutschsprachigen Straßen- und Gangsta-Rap entwickelt werden. Es geht dabei darum, die Inszenierung unsicherer Arbeits- und Lebensverhältnisse sowie ihre Verarbeitung in RapSongs als Mittel zur Analyse von Gesellschaftsbildern fruchtbar zu machen. Denn Rap, so die Annahme, dient gegenwärtig als breit rezipiertes jugend- und popkulturelles Medium, in dem nicht nur unsichere Lebenslagen, die (kritische) Auseinandersetzung mit hegemonialen gesellschaftlichen Normen und Erwartungen sowie Stigmatisierungs- und Ausgrenzungserfahrungen aus Sicht der „Underdogs“ verarbeitet werden – sondern das auch genau deshalb von weiten Teilen jener rezipiert wird, die gemeinhin als sozioökonomisch benachteiligter Teil der Gesellschaft, als „Unterschicht“ oder „Abgehängte“ gehandelt werden. Verstanden als popkulturelles Repräsentations- und Identifikationsangebot, so scheint es, passt Rap, insbesondere Straßen- und Gangsta-Rap, auch ideal zu einem neoliberalen Modus von Gesellschaftlichkeit, der auf Konkurrenz, Durchsetzungsvermögen und der Selbstinszenierung des Subjekts als kohärent, überlegen und souverän beruht. In diesem Sinne geht es hier weniger um die Frage, ob im (Straßen-)Rap eine unverfälschte und authentische Äußerung „der Prekären“ selbst stattfindet und unsichere Lebenslagen ungefiltert repräsentiert werden, wie sie tatsächlich sind. Das mag zwar auch der Fall sein – nicht wenige der derzeit populärsten Künstler entstammen schließlich sozioökonomisch benachteiligten Milieus, haben geringe Bildungsabschlüsse sowie Stigmatisierungs- und Ausgrenzungserfahrungen und diskontinuierliche Erwerbsbiographien –, ist für die Frage nach der derzeitigen Popularität des (Straßen-)Raps jedoch nicht ausschlaggebend. Denn letzten Endes ist die Inszenierung der Rapper, so authentisch sie im individuellen Fall auch sein mag, immer eine kulturindustriell vermittelte, die – wissentlich oder auch nicht – den ästhetischen Codes und Regeln des Genres und der Szene folgt, auf eine bestimmte Hörerschaft zugeschnitten ist und auch von Labels, diversen Managern und anderen beeinflusst wird. Es geht also nicht darum, ob alles, was in Rap-Songs gesagt und inszeniert wird, auch tatsächlich wahr ist – sondern vielmehr um die Frage, warum es von so vielen konsumiert und als Identifikationsangebot wahr- und ernstgenommen wird. Kurz: Es geht nicht um die Aufrichtigkeit der Sender und ihrer Botschaf-

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ten, sondern um deren Bedeutung für die Empfänger und Konsumenten. Aus soziologischer Sicht geht es hier also nicht (wie vielfach missverständlich behauptet) um Authentizität, sondern um Plausibilität, Dabei beruhen die folgenden Überlegungen auf mindestens zwei Prämissen, die bislang – empirische Forschung liegt fast nicht vor – unbewiesen sind und daher den Stellenwert von Alltagsbeobachtungen haben. Die erste Prämisse: Weite Teile der jungen, urbanen und oftmals migrantischen Bevölkerung, die sich in prekären Arbeits- und Lebensverhältnissen befindet, konsumiert heute Rap-Musik und identifiziert sich mit den Sprechern bzw. dem Gesagten. Die zweite: Sie tun dies, weil sie darin ihre eigene prekäre Situation sowie Einstellungs- und Orientierungsmuster hinsichtlich Politik, Gesellschaft und Zeitgeschehen artikuliert und repräsentiert sehen, mit denen sie konform gehen oder zumindest sympathisieren. Die Analyse der entsprechenden Rap-Songs kann daher, so die Annahme, einen fruchtbaren Beitrag zu einer kultursoziologisch informierten Prekaritätsforschung leisten. Am Beginn dessen steht die Betrachtung des Materials selbst, weshalb im Folgenden eine Kurzanalyse zweier ausgewählter Titel stattfindet. Es wurden Rap-Songs ausgewählt, in denen prekäre Lebenslagen, Erwerbsarbeit und der eigene Blick auf die Gesellschaft mehr oder minder explizit thematisiert werden und die sich daher gut zur kultursoziologischen Analyse von Gesellschaftsbildern sowie zur Verdeutlichung unserer These eignen. Die beiden Titel reflektieren verschiedene Erwerbssituationen und Haltungen von prekär Arbeitenden und Lebenden bzw. Aspekte von Gesellschaftsbildern. Gemein ist ihnen darüber hinaus, dass sie von Künstlern stammen, die in jüngerer Zeit ein gewisses Maß an Popularität und Reichweite ausweisen konnten und insofern auch tatsächlich nicht nur von Relevanz sind, sondern auch entsprechend breit rezipiert werden. An die Analyse der Songs und ihrer Texte selbst müsste freilich die ihrer Rezeption auf Seiten der Konsumenten anschließen – dies kann an dieser Stelle jedoch nicht geleistet werden und bedürfte zudem weiterer methodischer Überlegungen. Megaloh – Loser (2013) Im Song „Loser“ macht der Berliner Rapper Megaloh Erwerbsarbeit explizit zum Thema und reflektiert ihre Wirkung auf die eigene Lebensführung, den eigenen Wertekanon und den familiären Zusammenhang. Als Schichtarbeiter beim Entladen von Paketen beschäftigt, beschreibt er die Arbeit als körperlich anstrengende Tätigkeit, die den Tag bestimmt: „Vier Uhr, Wecker klingelt viel zu früh, nicht gut / Völlig übermüdet, aber aufstehen, Pflicht ruft / Frau schläft fest, versuch’ leise zu sein / Zieh’ mich an und stelle mich auf’s Arbeiten ein.“ Die Arbeit wird als alternativlose und lästige Notwendigkeit beschrieben:

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„Manchmal hat man keine Wahl für die Knete / und so entlad’ ich Pakete“, „Scheiß-Job, kein Arbeitstier / Aber muss halt“, „Ich bin es leid, aber alles hat seinen Preis“. Dabei finden sich mehrere Verweise auf die Zeitdimension der Erwerbsarbeit: Nicht nur die Arbeit im Schichtsystem, sondern auch die Notwendigkeit der Erwerbsarbeit selbst werden als wesentlicher strukturierender Faktor des Alltags beschrieben: „[M]ein Tag wird bestimmt, durch das Geld, das ich brauch’“, „Zwölf Stunden weg für ’ne Doppelschicht“, „Zeitdruck, alles immer eilig verladen / Tempo, die Trucks müssen gleich wieder fahren!“, oder: „Zeit drängt, ich muss ’ne Familie ernähren“. Auch ein musikalischer Verweis auf Zeitstrukturen findet sich: Direkt zu Beginn des Songs wird das schrille Läuten eines Weckers eingespielt – der Hörer steigt quasi gemeinsam mit dem Sprecher in den (Arbeits-)Alltag ein, der im Song beschrieben wird. Die mangelnde Sinnstiftung prekärer Arbeit wird ebenfalls thematisiert – vor allem in der Rede von „Traum“ bzw. „Träumen“ wird dies deutlich: Zeilen wie „Schüttel’ meinen Traum ab, draußen ist es Nacht / Aber ich muss wach sein – gleich geht die Schicht los“ etwa versinnbildlichen die Notwendigkeit, sich Fantasien und Träumereien aus dem Kopf zu schlagen, um sich „wach“ und rational den Erfordernissen eines von Erwerbsarbeit dominierten Alltags zu stellen. Aus den späteren Zeilen: „Das Leben erzählt von Träumen, die zerplatzen wie seifige Blasen“, verbunden mit dem wiederholt eingespielten Sample „Ich bin kein Loser!“ wiederum spricht das Wissen darum, scheitern zu können und Verantwortung für das eigene Handeln zu tragen. Diese Überlegungen stellt der Sprecher in kritischer Abgrenzung zu einer als partyfreudig und sorglos beschriebenen Spaßgesellschaft an: „Hol’ die Miete rein, während ihr Korken im Club knallt / Ich war selbst mal so drauf / Doch mein Tag wird bestimmt durch das Geld, das ich brauch’.“ In dieser Gegenüberstellung von unbekümmertem Feiern und dem ‚Ernst des Lebens‘, dem der Sprecher sich stellen muss, nimmt dieser die Rolle des Underdogs ein, dessen Lebensführung nunmehr von den ökonomischen Zwängen eines vorrangig von prekärer Erwerbsarbeit dominierten Alltags bestimmt wird, während andere sich dem Müßiggang widmen können – eine Kontrastierung, aus der die Selbstverortung als randständig, unterprivilegiert und tendenziell ausgeschlossen spricht. Mehrfach wird auch die Geschlechter-Dimension bzw. die eigene Rolle als Familienernährer reflektiert: „Zeit drängt, ich muss ’ne Familie ernähren“, „Verbrechen, vielleicht lohnt es sich / Doch was macht meine Frau ohne mich?“. Der Sprecher identifiziert sich mit seiner Rolle als klassischer „male breadwinner“

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und bezieht die daraus abgeleitete Verantwortung in seine Auseinandersetzung mit Erwerbsarbeit ein. Die zentrale Aussage hinsichtlich der Frage nach dem im Song artikulierten Gesellschaftsbild indes ist der auch mehrfach als Sample eingespielte Titel selbst: „Ich bin kein Loser!“. Er dient als Credo und Leitsatz des Sprechers, der damit seine Anpassung an hegemoniale Normen und Erwartungen zum Ausdruck bringt: Hegemoniale Rollenmuster und Eigenverantwortung sowie die Notwendigkeit von Lohnarbeit werden zwar reflektiert und als mitunter belastend markiert, letztlich jedoch affirmiert und nicht in Frage gestellt. Der Sprecher wählt – sicher auch in Ermangelung realer Perspektiven – nicht den Weg des (womöglich kollektiven) Protests gegen Prekarität und die Strapazen der Erwerbsarbeit, sondern nimmt deren Notwendigkeit als gegeben hin und bemüht sich vielmehr um eine gelungene individuelle Anpassungsleistung. Dabei bilden jene, denen das nicht gelingt, als „Loser“ die negative Referenz: Verlierer sind im hier skizzierten Gesellschaftsbild alle, denen die Anpassung an den hegemonialen Werte- und Erwartungskanon nicht gelingt und die dem gesellschaftlichen Erwartungsdruck – selbstverschuldet oder nicht – nicht standhalten. Gzuz & Nate57 – Das Volk, das sind wir! (2015) Eine grundlegend andere Perspektive auf die Integration in die Mehrheitsgesellschaft, Rollenbilder, hegemoniale Erwartungen und Erwerbstätigkeit artikuliert der Hamburger Rapper Gzuz, der als Teil der 187 Straßenbande eine derzeit kaum zu unterschätzende Reichweite vor allem unter jugendlichen Rap-Konsumenten aufweist. Anders als Megaloh formuliert er im zusammen mit dem ebenfalls aus Hamburg stammenden Rapper Nate57 veröffentlichten Song eine radikale Absage an die Erwartungen und Regelvorstellungen der Gesellschaft und konfrontiert ihre Autoritäten als für soziale Unruhen und Spaltung Verantwortliche. „Digger, wer muss sich wo integrieren?! / Euer Regelwerk ist nicht das Vorbild von mir!“ Der Sprecher beginnt seine Strophe direkt mit einer Absage an den Wertekanon der Mehrheitsgesellschaft und weist das nicht näher beschriebene „Regelwerk“ einer ebenfalls unbestimmten, ihm gegenüberstehenden Gruppe – gemeint sind jene, die das Regelwerk aufgestellt haben – zurück. Dieser Gruppe schreibt er auch die Verantwortung für die Eskalation sozialer Konflikte zu: „Wer provoziert, wer deeskaliert?“ Und später: „Ihr hört nicht hin, ihr guckt nur weg / Die Hemmschwelle sinkt, und der Druck, er wächst.“ Seine Sicht auf Erwerbsarbeit im Niedriglohnbereich, offenbar die einzig realistische Option, bringt der Sprecher ebenfalls unmissverständlich zum Ausdruck: „Wenn ich jetzt schufte, krieg’ ich Rente in 70 Jahren / Das geht nicht

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klar, indiskutabel“. Die Integration in ein Erwerbsleben, das außer Billiglöhnen und Altersarmut wenig zu bieten hat, wird als sinnloses Unterfangen rundheraus abgelehnt – eine Haltung, aus der ein starkes Insistieren auf die eigene Würde und Standhaftigkeit spricht. Sie setzt sich fort, wenn ein lyrisches Gegenüber mit einer Mischung aus Anerkennung und Spott auf seine Anpassung an hegemoniale Erwartungen an die bürgerliche Normalbiographie angesprochen wird: „Hast Jura studiert, find’ ich super von dir! / Ich hab’ meine Überzeugung in mein Blut tätowiert.“ Das abgeschlossene Jura-Studium wird hier als Chiffre für spießbürgerliche Anpassung präsentiert, die zwar Chancen eröffnet, jedoch auch mit einer gewissen Häme als Symbol der Unterwerfung unter hegemoniale Erwartungen kommentiert. Der Sprecher stellt dem das rohe und unmittelbare Eintreten für die eigenen Überzeugungen entgegen, das als so authentisch beschrieben wird, dass er sie sich sogar „in sein Blut“, sprich auf den eigenen Leib hat schreiben lassen. Entsprechend verengt der Sprecher seine normative Orientierung auf das unmittelbare soziale Umfeld und den direkten materiellen Vorteil: „Ich vertrau’ auf Papier und den Bro neben mir“. Die Gesellschaft außerhalb des sozialen Nahbereichs der engen Kumpels (den „Bro’s“) und alles, was keinen kurzfristigen ökonomischen Vorteil verspricht („Papier“, gemeint ist Geld), ist demnach nicht von Interesse. Die Zeile „Ihr wollt Recht mit Gewalt – kriegt ihr gerne von mir!“, die offensichtlich an staatliche Autoritäten gerichtet ist, macht dabei nicht nur klar, dass der Sprecher bereit ist, seine Orientierung bzw. seine Interessen im Zweifelsfall auch gegen das Gesetz durchzusetzen. Sie verdeutlicht auch die Affirmation eines weitgehend sozialdarwinistischen, am Recht des Stärkeren orientierten Modus von Gesellschaftlichkeit: Der Sprecher macht klar, dass er nicht gewillt ist, den Wertekanon der Mehrheitsgesellschaft anzunehmen; stattdessen beschränkt er seine Orientierung auf das enge soziale Umfeld und den unmittelbaren ökonomischen Vorteil und zeigt sich gewillt, seine Interessen gegen staatliche Autoritäten durchzusetzen, die wie Konkurrenten um den materiellen Gewinn betrachtet werden. Seine Strophe beschließt der Sprecher mit einer dystopischen Warnung und stellt den adressierten Autoritäten Jugend-Riots, Aufstände und eskalierende Sozialkonflikte in Aussicht: „Die Stimmung ist geladen / Es ist zu groß, um es nicht ernst zu nehmen / egal ob London, Marseille oder Ferguson / Ihr hört nicht hin, ihr guckt nur weg / Die Hemmschwelle sinkt und der Druck, er wächst!“ Macht ihr so weiter wie gehabt, so die implizite Botschaft, drohen Revolten wie in London (gemeint sind offenkundig die Jugendkrawalle im Jahr 2011) oder Aufstände wie im US-amerikanischen Ferguson (im Anschluss an den gewaltsamen Tod des Afroamerikaners Michael Brown im Jahr 2014).

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Das hier in wenigen Worten konturierte Gesellschaftsbild steht dem zuvor skizzierten grundlegend entgegen: Wo der von Megaloh repräsentierte Sprecher um das Festhalten an hegemonialen Werte- und Orientierungsmustern und die Integration in ein wenn auch prekäres Erwerbsleben bemüht ist, um eben kein „Loser“ zu sein, koppelt sich der von Gzuz dargestellte Sprecher scheinbar radikal von der Mehrheitsgesellschaft ab: Er stellt ihre Werte und Normen in Frage, konfrontiert Autoritäten und lehnt die Integration in ein prekäres Erwerbsleben ab. Diese Entkoppelung und scheinbare Kritik geht jedoch einher mit einer gleichzeitigen Affirmation neoliberaler Vereinzelung und sozialdarwinistischer Wettbewerbshärte: Prekarität wird weniger zum Anlass für die Suche nach einer kollektiven und solidarischen Perspektive genommen, sondern für die Verengung des sozialen Horizonts auf den unmittelbaren sozialen Nahbereich und die Orientierung am kurzfristigen materiellen Vorteil, der im Zweifelsfall auch gegen das Gesetz und das Regelwerk gesellschaftlicher Autoritäten erstritten werden soll. Prekarität ist hier Anlass zur Entkoppelung der eigenen Lebensführung vom gesellschaftlichen Mainstream, während dessen grundlegende neoliberale Prinzipien bejaht, jedoch konsequent gegen diesen gerichtet werden.

5 F AZIT Dem Anliegen, einen konzeptionellen Blickwinkel der Kultursoziologie auf ein Phänomen arbeitsmarktvermittelter Prekarität zu richten, haben wir in diesem Text am Beispiel zweier Texte aus dem Genre deutschsprachigen Gangsta- und Straßen-Raps entsprochen. Anschließend an ein Verständnis von Prekarisierung als Prozess, „der zur Verunsicherung und Verschlechterung der materiellen, sozialen, kulturellen und politischen Teilhabe einerseits sowie der sozialen Reproduktion von Lohnabhängigen andererseits beiträgt“ (Goes 2015: 56) gelangen wir auf dieser Grundlage zu dreierlei Schlussfolgerungen, welche wir nun abschließend vorstellen möchten. Zum einen zeigen unsere Ergebnisse den explizit klassenpolitischen Charakter von Straßen- und Gangsta-Rap. Die Thematisierung prekärer Erwerbs- und Anerkennungsverhältnisse bietet hierbei nicht nur Identifikationspotenzial für von entsprechenden Entwicklungen betroffene Individuen und Gruppen. Mit der ihrer spezifischen Inszenierung von sich selbst unter den dargestellten Verhältnissen legen die Rapper in ihren Texten weiterhin Schlussfolgerungen dar, wie die dargestellten Problemsituationen zu bewältigen seien. Hieraus ergibt sich für die Rapsongs als kulturelle Repräsentation eine klare klassenpolitische Bedeutungsdimension.

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Ein zweiter Schluss für die Prekaritätsforschung ergibt sich für uns unter konzeptionell-methodischen Aspekten. Wenn Gangsta- und Straßen-Rap-Images starke Referenzen an erwerbsbedingt unsichere Lebensverhältnisse aufweisen, bedeutet dies einerseits, dass Prekarität keineswegs mehr als gesellschaftliches Randphänomen zu interpretieren ist. Ihre Repräsentation im Mainstream der Popkultur konterkariert also die verbreitete Annahme, dass Prekarisierte im gesellschaftlichen Diskurs weitgehend ausgeschlossen sind. Mit der Analyse von Images aus Gangsta- und Straßen-Rap haben wir im vorliegenden Text die Möglichkeit eines neuen empirischen Zugangs zum Feld der Prekarisierungsforschung nachweisen können. Schließlich betreffen unsere Befunde den Zusammenhang der symbolischen Repräsentationen der Populärkultur mit einem Repertoire von Verhaltensweisen, welche SoziologInnen als soziale Konflikte oder auch klassenpolitisches Interessehandeln bezeichnen. Wenn, so unsere Grundannahme, die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um die Verteilung von Ressourcen und Anerkennung sich zuspitzen, so ist auch mit einem Aufbegehren der negativ Betroffenen zu rechnen. Im „Stachel sozialer Missachtung“ erkennt Klaus Dörre (2013: 171) eine „verborgene, schlummernde Quelle radikaler Sozialkritik, bei der durchaus offen ist, ob und wie sie sich politisch artikuliert.“ Vor diesem Hintergrund zeigt die Auswertung der Raptexte ein widersprüchliches Ergebnis. Während der erwerbsvermittelte Leistungsdruck bei Megaloh gewissermaßen an systemkonforme Tugenden andocken kann, ruft er bei GZUZ und Nate57 starken Widerstand hervor. Eine eigentümliche Ambivalenz zeigt sich hier in der Übernahme neoliberaler Prinzipien bei gleichzeitiger Zurückweisung der systemischen Ordnung insgesamt. Weitere Folgeschlüsse zum Verständnis der Dynamiken sozialer Konflikte um Ressourcen und Anerkennung werden daher zukünftig nicht zuletzt auf dem Feld der Rezeptionsforschung zu ziehen sein, die uns Einsichten in die praktische Adaption derartiger Äußerungen zu geben verspricht.

L ITERATUR Berger, Peter; Luckmann, Thomas (1980): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit Eine Theorie der Wissenssoziologie. München: Fischer. Bourdieu, Pierre (2010): Die zwei Gesichter der Arbeit. Konstanz: UVK. Dietrich, Marc; Seeliger, Martin (Hg.) (2012): Deutscher Gangsta-Rap. Bielefeld: Transcript. Dörre, Klaus (2013): Übriggebliebene und Verwundbare. Das Gesellschaftsbild des Prekariats in Fremdzuschreibungen und Selbstzeugnissen. In: Dörre, Klaus et al. (Hg.): Das Gesellschaftsbild der LohnarbeiterInnen. Soziologi-

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sche Untersuchungen in ost- und westdeutschen Industriebetrieben. Hamburg: VSA. S 132‒181. Dörre, Klaus; Mattuschek, Ingo (2013): Kapitalistische Landnahme, ihre Subjekte und das Gesellschaftsbild der LohnarbeiterInnen. In: Dörre, Klaus et al. (Hg.): Das Gesellschaftsbild der LohnarbeiterInnen. Hamburg: VSA. S. 29‒52 Fiske, John (1989): Reading the Popular. London: Routledge. Friedrich, Malte; Klein, Gabriele (2003): Is this real? Die Kultur des HipHop. Frankfurt a.M. Goes, Thomas E. (2015): Zwischen Disziplinierung und Gegenwehr. Frankfurt/New York: Campus. Hall, Stuart (1994a): ‚Rasse‘, Artikulation und Gesellschaften mit struktureller Dominante. In: Ders.: Rassismus und kulturelle Identität. Hamburg: Argument. S. 89‒136. Hall, Stuart (2000): Postmoderne und Artikulation. In: Ders.: Cultural Studies: Ein politisches Theorieprojekt. Hamburg: Argument. S. 52‒77. Loh, Hannes; Verlan, Sascha (2015): 35 Jahre HipHop in Deutschland. Höfen: Hannibal. Mayring, Philipp (2002): Einführung in die qualitative Sozialforschung. München: Beltz. Nachtwey, Oliver (2016): Die Abstiegsgesellschaft. Berlin: Suhrkamp. Popitz, Heinrich, et al. (1957): Das Gesellschaftsbild des Arbeiters. Soziologische Untersuchungen in der Hüttenindustrie. Tübingen: Mohr. Schäfer, Armin (2014): Der Verlust politischer Gleichheit. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Seeliger, Martin (2012): Deutscher Gangstarap. Berlin: Posth. Seeliger, Martin (2012a): Kulturelle Repräsentation sozialer Ungleichheit. In: Dietrich, Marc; Seeliger, Martin (Hg.): Deutscher Gangsta-Rap. Bielefeld: Transcript. Seeliger, Martin; Dietrich, Marc (2012): Gangsta-Rap im zeitgenössischen Kinofilm. Ein Vergleich von „Get Rich or Die Tryin’“ und „Zeiten ändern dich“. In: Dies. (Hg.): Deutscher Gangsta-Rap. Bielefeld: Transcript. S. 345‒363. Goßmann, Malte; Seeliger, Martin (2013): „Ihr habt alle Angst, denn ich kann euch bloßstellen!“ Weibliches Empowerment und männliche Verunsicherung im Gangstarap. In: Pop-Zeitschrift 2. Seeliger, Martin (2016): Bushido, Fler, Massiv, Xatar. Biografien deutscher Gangstarapper im Vergleich. In: Pop-Zeitschrift. Online unter: http://www. pop-zeitschrift.de/2016/11/12/bushido-fler-massiv-xatar-autobiografien-deut scher-gangstarappervon-martin-seeliger12-11-2016/.

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Willis, Paul (2013): Spaß am Widerstand: Learning to Labour. Hamburg: Argument. Xatar (2015): Alles oder Nix: Bei uns sagt man, die Welt gehört dir. München: Riva.

Das neoliberale Paradoxon des deutschen Gangsta-Raps Von gesellschaftlicher Entfremdung und der Suche nach Anerkennung A LEXANDER B ENDEL UND N ILS R ÖPER

E INLEITUNG Gangsta-Rapper sind die vermeintlich kompromisslosesten Neoliberalen unserer Zeit. Natürlich nicht dessen spiritus rectors, verkörpern und propagieren sie Materialismus und Wettbewerb stärker als Josef Ackermann, Jürgen Schrempp oder Guido Westerwelle es je vermögen. Wenn Fler sich „Mit dem BMW“ brüstet; Bushido sich als Einzelgänger feiert („King of Kings, weil ich keinen von euch Spasten feature. Ich bin Einzelgänger“); Xatar seine physische Überlegenheit beschwört („Alle schlagen, alle deine Gegner begraben“); Kollegah mit seiner „Boss-Transformation“ zum Muskelaufbau aufruft; und SSIO sich als Unternehmer geriert („Entweder Parra mit Rapmusik. Oder weiterhin auf der Straße mit Päckchen Piece“): Weder innerhalb der Popkultur noch gesamtgesellschaftlich tritt der Neoliberalismus als Diskurs deutlicher in Erscheinung. Materialismus, Individualismus, Konkurrenzaffinität, körperliche Selbstoptimierung, Entrepreneurmentalität und der Glaube an Leistungsgerechtigkeit umreißen gleichermaßen das zugrundeliegende Wertesystem von Gangsta-Rap und Neoliberalismus.1 Kongruente Weltanschauungen im Gangsta-Rap und Neoliberalismus: Das mag überraschen. Schließlich entspricht der typische Gangsta-Rapper − zumeist mit Migrationshintergrund, bildungsfern und in sozialen Brennpunkten aufge-

1

Für Ausführungen zum Neoliberalismus im Alltag siehe z.B. Brown (2015), Mirowski (2015) oder Schreiner (2015).

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wachsen − kaum der bürgerlichen Kernwählerschaft der FDP. Bisherige Forschungsbeiträge konnten jedoch eine intuitiv überzeugende „Wahlverwandtschaft“ (Weber 2016) zwischen Neoliberalismus und Gangsta-Rap aufzeigen (vgl. etwa Ernsing 2015). Aus den Lebensrealitäten der Künstler und den Eigenheiten des Genres lassen sich darwinistische Weltanschauungen ableiten. Der Unwille Steuern zu zahlen und das Ideal physischer Überlegenheit lassen sich mit „Straßenrealitäten“ leicht begründen und die geradezu schamlose Zurschaustellung von Reichtümern darf bei diesen qua Definition „Neureichen“ nicht verwundern. Zudem zieht sich das „Konzept der Selbststilisierung und Abgrenzung gegenüber „Kontrahenten“ wie ein roter Faden durch“ (Dietrich & Seeliger 2012b: 26) die HipHop-Kultur im Allgemeinen. Insbesondere im Gangsta-Rap sind Autos wie Waffen vor allem Ausdruck opportunistischer, hypermaskuliner Selbstvermarktung. Gesellschaftliche Entwicklungen und die Funktionsweise von Diskursen2 werden in dieser Betrachtung von Neoliberalismus und Gangsta-Rap jedoch nicht ausreichend problematisiert. Grundlage des neoliberalen Diskurses ist ein Narrativ, „in which recent history is understood in terms of a motivated shift away from public and collective values towards private and individualistic values […] [with a] clear-cut divide between two sets of values – those of private, individualistic self-interest on the one hand, and those of public, collective interests on the other.“ (Barnett 2010: 271)

Den Kern dieses Diskurses stellt der implizite Glaube an Meritokratie und Chancengleichheit dar: Wer nur hart genug arbeitet, wird es auch nach oben schaffen. Betrachtet man die Manifestation neoliberaler Theorie in der Außendarstellung von Gangsta-Rappern, tut sich eine Antinomie auf. Chancengleichheit und Meritokratie widersprechen perspektivlosen „Ghettorealitäten“. Im Gangsta-Rap wird einerseits die eigene Marginalisierung und die vorherrschende Perspektivlosigkeit des jeweiligen Umfeldes angeprangert und als identitätsstiftend dargestellt (Dietrich & Seeliger 2012a). Andererseits wird in Form des neoliberalen Narratives des from rags to riches dem Leistungsprinzip gefrönt (Ernsing 2015). Wenn Sido die Faulheit von Arbeitslosen bemängelt und behauptet, „wenn jemand arbeiten will, kann er das auch. [...] Die meisten haben nicht gearbeitet, weil sie faul waren“ (NEON Januar 2014) oder Bushido rappt „Echte Männer hängen nicht am Jobcenter ab“, dann wird nicht

2

Unter Diskurs soll im foucaultschen Sinne „eine Menge von Aussagen, die einem gleichen Formationssystem zugehören“ (Foucault 1981: 156) verstanden werden.

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nur unser konventionelles Verständnis von Milieus und deren politischer Zugehörigkeit aus den Angeln gehoben. Sofern Popkultur und insbesondere HipHop Ausdruck gesellschaftlicher Entwicklungen sind, bringt Gangsta-Rap ein politökonomisches Paradoxon zu Tage: sich vom Neoliberalismus marginalisiert Fühlende werden zu dessen Fahnenträgern. Man mag entgegnen, Gangsta-Rap sei mehr Marketing-Selbstinszenierung als der „Sound in dem sich die Welt spiegelt“ (Freundeskreis). Sicherlich ist jede Facette von Popkultur und Öffentlichkeit zu einem gewissen Grad Inszenierung, und natürlich bilden Autos und Waffen Teil des Markenkerns von Gangsta-Rap. Doch Dietrich und Seeliger (2012a: 24) stellen zu Recht fest: „Rap existiert keineswegs im luftleeren Raum. Vielmehr handelt es sich um eine Musikrichtung oder kulturelle Praxis, die besonders stark an marginalisierte Gruppen oder Menschen mit Bezug zum ‚Mann auf der Straße‘ angelehnt ist.“

Eine Perspektive auf Gangsta-Rap als rein popkulturelles Phänomen vermag es nicht, den Widerspruch deutscher Gangsta-Rapper im Umgang mit dem Neoliberalismus zu erklären. Popkultur und soziale Realitäten gehören gegenübergestellt. Erst dann kann Popkultur zu einem gesellschaftlichen Brennglas für die Sozialwissenschaft werden. In diesem Sinne zeigen wir in dem vorliegenden Beitrag anhand des Gangsta-Rap-Künstlers Bushido, dass das neoliberale Paradoxon des deutschen Gangsta-Raps Ausdruck des Strebens nach gesellschaftlicher Anerkennung und einer damit verbundenen Überkompensation (Adler 1965) ist: Wird einem Individuum gesellschaftliche Anerkennung verwehrt, versucht es umso mehr dem geltenden gesellschaftlichen (neoliberalen) Ideal zu entsprechen. Neoliberale Inhalte in deutschen Gangsta-Raptexten werden damit zumindest in Teilen zum Ausdruck neurotischer, entfremdeter Identitäten.

D ER K AMPF

UM

ANERKENNUNG

Dieses Argument basiert auf den schulbildenden Arbeiten von Axel Honneth zu den Auswirkungen sozialer Mitgliedschaft auf die Entwicklung einer positiven Selbstbeziehung. Der konzeptuelle Kern von Honneths Theorie ist Anerkennung. Darunter kann „die positive, das Selbstwertgefühl steigernde Bewertung eines Individuums durch seine soziale Umwelt“ (Hillmann 2007: 26) verstanden werden. Honneth (2012: 211) unterscheidet drei Anerkennungsformen: (1) Liebe und Freundschaft, die in Primärbeziehungen erfahren werden, (2) Rechte, die in Rechtsverhältnissen geltend gemacht werden können sowie (3) Solidarität, die sich in Wertgemeinschaften bildet.

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Die Anerkennungsform der Liebe bildet eine Grundbedingung menschlicher Existenz, ohne die es dem Individuum nicht möglich ist, Selbstvertrauen zu entwickeln (ebd.: 172). Rechtliche Anerkennung meine die Achtung der individuellen Autonomie eines jeden Einzelnen (ebd.: 192). Mit Thomas H. Marshall unterscheidet Honneth liberale Freiheitsrechte, politische Teilnahmerechte und soziale Wohlfahrtsrechte (ebd.: 186). Unter Solidarität versteht Honneth schließlich ein „Interaktionsverhältnis […], in dem die Subjekte wechselseitig an ihren unterschiedlichen Lebenswegen Anteil nehmen, weil sie sich untereinander auf symmetrische Weise wertschätzen.“ (ebd.: 208) Erfahrene soziale Wertschätzung meint in diesem Sinne „Leistungen zu erbringen oder Fähigkeiten zu besitzen, die von den übrigen Gesellschaftsmitgliedern als ,wertvollʻ anerkannt werden“ (ebd.: 209). Im Werk von Bushido wird die Nichtrealisierung der drei hier angesprochenen Anerkennungsformen an vielen Stellen artikuliert. In der Folge findet eine überkompensatorische Orientierung an den Maßstäben der hiesigen neoliberalen Gesellschaft statt. Damit sollte auch deutlich werden, dass es sich bei den deutschen Gangsta-Rap-Künstlern nicht um die Treiber neoliberaler Inhalte handelt, sondern dass die Gesellschaft an sich schon als neoliberal zu bezeichnen ist. Dazu der Musikjournalist Falk Schacht (2016: 22): „Es ist vermessen, so zu tun, als wäre HipHop dafür verantwortlich, dass es diese Tendenzen in der Gesellschaft gibt. So mächtig kann die HipHop-Kultur nicht sein. Die Gesellschaft hingegen ist so mächtig, dass ihre Probleme auch im HipHop stattfinden. Als erster Schritt zur Besserung der Probleme ist es für die Gesellschaft also wichtig, zu erkennen, dass das, was sie an HipHop nicht leiden kann, aus ihr selbst stammt. HipHop ist das Resultat ihrer ungelösten Probleme − nicht ihr Verursacher.“

Macht ein Subjekt die neoliberalen Werte zu seinen Handlungsmaximen und erfährt über die Erfüllung ebenjener Werte Anerkennung, so handelt es sich nicht um eine Form der Anerkennung, die Honneth eigentlich im Sinn hat. Stattdessen handelt es sich um eine Ideologie der Anerkennung, die es vermag die oder den Einzelnen in die herrschende Gesellschaftsordnung einzubinden (Honneth 2010: 103−130). Anstoß erregen die Gangsta-Rap-Künstler somit nicht, weil sie grundsätzlich neoliberale Werte vertreten (in diesem Fall würden sie den geltenden gesellschaftlichen Ansprüchen ja gerecht werden), sondern i.d.R., weil sie „über das Ziel hinaus schießen“, die neoliberalen Grundsätze also gleichsam überstrapazieren. Beide in diesem Abschnitt angesprochenen Aspekte, also der Mangel an gesellschaftlicher Anerkennung sowie die hiermit in Zusammenhang stehende

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überkompensatorische Zurschaustellung neoliberaler Werte, sollen im Folgenden anhand von Aussagen, die Bushido in seinen Musiktiteln sowie in den von ihm veröffentlichten Büchern getätigt hat, belegt werden. Dieser kongruenz-analytisch durchgeführten (Blatter, Janning & Wagemann 2007: 156) qualitativen Einzelfallanalyse (Mayring 2002: 42) liegt eine Auswahl der Veröffentlichungen des Gangsta-Rap-Künstlers Bushido als Datensatz zugrunde. Hierbei handelt es sich um 18 Musikalben3 und zwei Monografien4. Für die qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring (2015) wurde theoriengeleitet ein Kategoriensystem entwickelt, dessen Dimensionen und Variablen sich einerseits an den Merkmalen des Neoliberalismus (Materialismus, Individualismus, Konkurrenzaffinität, Entrepreneurmentalität, körperliche Selbstoptimierung und Leistungsgerechtigkeit) sowie andererseits an den Honneth’schen Anerkennungsformen (Liebe, Recht und Solidarität) anlehnen. Die Aussagen des Gangsta-Rap-Künstlers Bushido wurden in diesem Rahmen interpretativ den jeweiligen Kategorien zugeordnet und damit inhaltlich strukturiert (deduktives Vorgehen). Es ist wichtig zu bemerken, dass es sich bei Bushido um eine Kunstfigur handelt, deren popkulturelle Kommunikation zwar an die Biografie des Künstlers angelegt ist, aber nicht als kongruent betrachtet werden darf. Es geht hierbei also nicht um die Frage, ob Bushido all die Dinge, von denen er im Rahmen seines Kunstschaffens erzählt, tatsächlich so erlebt hat. Mit Hilfe der von ihm kreierten Figur erzählt er jedoch von bestimmten (für eine Vielzahl an Menschen tatsächlich gegebenen) Lebensverhältnissen und -bedingungen. Die Suche nach „Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit“ (Habermas 1995) in Raptexten ist damit obsolet − HipHop ist und bleibt eine Kunstform, die irrational sein darf, deren Funktion gleichwohl aber auch darin besteht, subalternen gesellschaftlichen Gruppen eine Stimme zu geben.

F ALLSTUDIE B USHIDO Der Künstler Bushido (bürgerlich Anis Mohamed Youssef Ferchichi) bietet sich als Einzelfallstudie aufgrund seines genre-typischen Werkes und seiner überra-

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Demotape, King of Kingz, Carlo Cokxxx Nutten, Vom Bordstein bis zur Skyline, Electro Ghetto, Staatsfeind Nr. 1, Carlo Cokxxx Nutten II, Von der Skyline zum Bordstein zurück, 7, Heavy Metal Payback, Carlo Cokxxx Nutten 2, Zeiten ändern dich, Jenseits von Gut und Böse, 23, AMYF, Sonny Black, Carlo Cokxxx Nutten 3, Cla$$ic. Bushido (Autobiografie), Auch wir sind Deutschland: Ohne uns geht nicht. Ohne euch auch nicht.

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genden popkulturellen Bedeutung an. Als Sohn einer deutschen (zum Islam konvertierten und von ihrer eigenen Familie lange verstoßenen) Mutter wuchs er in den Berliner Bezirken Neukölln, Kreuzberg und Tempelhof zunächst mit seinem gewalttätigen und alkoholkranken tunesischen Vater und später mit seinem türkischstämmigen Stiefvater auf. Nach seinem erweiterten Realschulabschluss wurde er nach diversen Drogen- und Sachbeschädigungsdelikten von einem Gericht vor die Wahl zwischen einer Ausbildung oder Jugendhaft gestellt5. Auf die abgeschlossene Ausbildung folgte bis zum musikalischen Erfolg die Arbeitslosigkeit. Bushidos popkulturelle Bedeutung geht weit über die circa anderthalb Millionen verkauften Tonträger (24 Gold- und Platinauszeichnungen in Deutschland, Österreich und der Schweiz) und eine Vielzahl an MTV-, Echo- und CometAuszeichnungen hinaus. Kaum ein anderer Künstler weckt ein derartiges Interesse in der deutschsprachigen Presselandschaft. Wiederkehrende Themen sind dabei Vorwürfe des Islamismus, Frauen- und Homosexuellenfeindlichkeit, Jugendgefährdung sowie Verbindungen zum organisierten Verbrechen. Auseinandersetzungen mit ehemaligen Mitstreitern, Gerichten, Politikern und anderen Prominenten werden medienwirksam ausgetragen. Um empirisch zu belegen, dass das neoliberale Paradoxon des deutschen Gangsta-Raps das Ergebnis mangelnder Anerkennungserfahrungen ist, wird ebendieses Paradoxon zunächst anhand des Falles Bushido erarbeitet (Explanandum) und daraufhin anhand der Honneth’schen Kategorien erklärt (Explicandum). Das neoliberale Paradoxon des Bushido: Zwischen Exzeptionalismus, Solidarisierung und religiösem Fatalismus Das in der Einleitung allgemein aufgestellte neoliberale Paradoxon des deutschen Gangsta-Raps gilt es an dieser Stelle für den Fall Bushido zu entwickeln. Die eng miteinander verwobenen Charakteristika des Neoliberalismus – Materialismus, Individualismus, Konkurrenzaffinität, Entrepreneurmentalität, körperliche Selbstoptimierung und Leistungsgerechtigkeit − sind dabei strukturgebend. Statussymbolen wie Autos, Häusern und Schmuck kommen eine hohe Bedeutung in Bushidos Werk zu. Die persönliche Sehnsucht danach begann früh: „Mit vier Jahren wollte ich schon hoch hinaus. Ich hab’ mir Steine geklaut für meinen Hof im Haus. [...] Ich hatte keinen Bock auf all die dummen Hausauf-

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Aktenkundig ist diese Darstellung laut Spiegel (08/2014) nicht.

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gaben. Mein Traum war damals schon ein Grundstück mit Haus und Garten.“ (Titel Nie Wieder) Dieser Materialismus äußert sich in einer ausgesprochenen Markenaffinität, die mit einem offensiven und im deutschen öffentlichen Diskurs so bisher wohl ungekannten Umgang mit Preisen einhergeht. „Givenchy-Sweater, 900 Euro, UVP. Wir sind zu KaDeWe, deutscher Rap ist QVC.“ (Titel G$D, Gott Sei Dank). Dass die Uhr der Marke Breitling des Künstlers 6.000 Euro kostet wird ebenso wiederholt betont, wie der Kaufpreis eines Armbandes von 230.000 Euro (Bushido 2008: 334). Dabei bestimmt Geld über Zufriedenheit, den Lebenspartner und den gesellschaftlichen Standort: „Wer kann mir erzählen, man kann arm sein und fröhlich? Geld bestimmt dein Ich, Geld bestimmt dein Sitz. Wo du grade bist, und wen du grade fickst.“ (Titel Zeiten ändern dich) . Statussymbole werden zu Indikatoren des sozialen Aufstiegs − im Vergleich zur eigenen Vergangenheit sowie in Abgrenzung zu anderen. „Damals BVG6 jetzt der Stern auf dem Lenkrad.“ (Titel Gangsta Gangsta) „Es ist Breitling, scheiß auf deine Aldi-Uhr.“ (Titel Alphatier) „Ich komme im BMW, du kommst in nem kack Ford.“ (Titel Bloodsport) Das Streben nach Reichtümern, aber auch der reine Überlebenskampf, werden als Begründungen für eine ausgesprochene Konkurrenzaffinität angeführt. Dieser Materialismus-Konkurrenz-Nexus wird am deutlichsten in dem frühen Titel King of Kingz: „Wir beide haben nichts gemeinsam. Ich will Geld, du willst frei sein. [...] Häng die Krone an den Haken und steig mit mir in den Ring. Vollkontakt. Mann gegen Mann. Köpfe, die ich köpfe. [...] Ich werd nicht mit euch teilen, ich hole mir das größte Stück. Dränge dich nach vorne, ich hole dich wieder zurück.“

Eine grundsätzlich darwinistische Überlebensdramatik findet ebenso Ausdruck: „Ich mach im Endeffekt das, was ein Hai tut. Fressen, um zu überleben.“ (Titel Paragraf 117)

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Berliner Verkehrsbetriebe.

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„Außerdem zählt in dieser kalten Welt nur eins. Ficken oder selbst gefickt werden.“ (Titel So Ghetto) Diese häufig geäußerte Konkurrenzbereitschaft ist direkt anschlussfähig an den propagierten Individualismus: „Ich heule wie ein Wolf, Homie, ich bin Einzelgänger.“ (Titel Der Sandmann) „Ich bin immer noch fast alleine unterwegs.“ (Titel Immer noch) In einer interessanten Abweichung von US-amerikanischen Rappern, die häufig eine Gruppenidentität bemühen, lehnt Bushido derartiges geradezu als Zeichen von Feigheit ab: „Ich bin Einzelgänger und mach nicht auf Wu-Tang-Clan. Der Lonesome Rider, kleiner Hosenscheißer.“ (Titel Mitten in der Nacht) Dass Geld als einzige soziale Währung angesehen wird, schließt Freundschaften geradezu aus. In einer Synthese von Konkurrenzaffinität, Materialismus und Individualismus zeichnet der Künstler in dem Titel Lila Scheine lügen nicht ein Bild der Welt als ein von rein monetär motivierten Einzelkämpfern bevölkertes Tierreich: „Darum ist das Geld mein einziger Freund. Denn wenn du wieder Scheiße frisst, dann bleibt niemand treu. [...] Es gibt keine Freunde hier, im Herzen von Berlin. Denn du bist hier draußen gerade so viel wert, wie du verdienst. [...] Das ist das Leben, Junge, siehst du, wie die Krähen kreisen? Weil dich Hyänen jagen, darfst du niemals stehen bleiben. Es gibt keine Freunde, keine Brüder, keine Kumpel. Es ist fressen und gefressen werden hier im Dschungel.“

In seiner Autobiografie betont Bushido (2008: 17) seine eigene Unabhängigkeit unter Verweis auf seinen Werdegang: „Ich war schon immer mein eigener Herr. Vielleicht lag es daran, dass ich ohne meinen leiblichen Vater aufwuchs und schon früh lernen musste, Verantwortung für mein eigenes Leben zu übernehmen.“ Insgesamt zeugt das Buch von einem tiefen Misstrauen gegenüber Anderen:

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„Mein Motto lautete schon immer: ,Bleibe bei allem, was du tust, unabhängig und begib dich nicht in Abhängigkeit von Leuten, denen du nicht vertraust‘." (ebd.: 97) Vor diesem Hintergrund überrascht es wenig, dass die Selbstwahrnehmung und darstellung als Entrepreneur eine identitätsstiftende Rolle einnimmt. Finanzielle Not gepaart mit persönlichem Antrieb ergaben früh vermeintlich unternehmerische Aspirationen: „Ich war der Erste mit nem Ständer im Sandkasten. Der Erste, der sein Geld gemacht hat mit Pfandflaschen.“ (Titel Nie Wieder) Die Betonung der eigenen Entrepreneurmentalität ist ein wiederkehrendes Thema: „Ich bin Jungunternehmer.“ (Titel Blaues Licht) „Früher dealen auf den Straßen, heute hab ich Haus und Garten. Ich bin echter Immobilienhai.“ (Titel Sporttasche) „Es ist Sonny Black, die Ein-Mann-Armee. Und mein Büro ist mein AMG.“ (Titel Wenn dein Kiefer bricht) „Ihr fragt euch: Wie nur hat’s dieser Typ soweit geschafft? Nie wieder Arbeitsamt, ich bin jetzt ne Ich-AG.“ (Titel Ihr wartet drauf) Die persönliche Genugtuung, die unternehmerischer Erfolg bedeuten kann, manifestiert sich in folgenden Auszüge aus Bushidos Autobiografie: „Ich gebe zu, Universal hatte schon ein bisschen die Arschkarte gezogen, da sie nicht nur mit Bushido, dem Rapper, sondern immer auch mit Bushido, dem Geschäftsmann, verhandelten, der alle Zahlen und Gewinnmargen auswendig kannte.“ (Bushido 2008: 358) „Mich macht es glücklich, wenn ich weiß, dass meine Mutter nun offiziell sagen kann, dass ihr Sohn kein Vollidiot ist und etwas erreicht hat. Wenn ich über meinen Bruder mitbekomme, dass sogar mein Stiefvater Respekt vor mir als Geschäftsmann hat, dann freut mich das ungemein.“ (ebd.: 89)

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Dass Geld ihm wichtiger ist als künstlerische Entfaltung, macht Bushido auf die Frage, ob er Künstler oder Geschäftsmann sei, deutlich: „Immer mehr Geschäftsmann. An Interviews über Musik habe ich jeden Spaß verloren. Geld ist das Einzige, was mich weitermachen lässt.“ (SZ-Online 2010) Trotz der zentralen Thematisierung von körperlichem Konkurrenzkampf spielt Selbstoptimierung im Sinne von Sport im Allgemeinen und Bodybuilding im Speziellen bei Bushido eine geringere Rolle. Zwar besucht er ein Fitnessstudio und spielt darauf in seinen Liedern an: „Ich fress Anabolika. Und pumpe nachts im Knast allein.“ (Titel Bushido) „Vom Gewichte heben habe ich langsam Hände aus Stahl.“ (Titel Staatsfeind Nr.1) Doch ist dies eher als Ausgleich bzw. Gefängnis-Illustration zu verstehen und weit entfernt vom „Pumper-Kult“ à la Kollegah: „Sport zählte aber nie zu meinen großen Stärken. Das war mir zu anstrengend. Heute beschränken sich meine sportlichen Aktivitäten auf mein Schlafzimmer.“ (Bushido 2008: 86) Kommen wir nun zum ambivalentesten neoliberalen Charakteristikum des deutschen Gangsta-Rap: dem Glaube an Leistungsgerechtigkeit. Nur weil Bushido von sich als from rags to riches erzählt − „Hier vom Tellerwäscher zum Millionär. Fick dich und deine elf Semester.“ (Titel Das ist Business) − und dies als neoliberales Narrativ gilt, lässt sich daraus noch kein neoliberales Leistungsverständnis ableiten. Dies ist vor allem eine Frage der Deutung des eigenen Erfolgs, bei der er in verschiedene Muster verfällt. Eine dominante Lesart seines eigenen Erfolgs geschieht unter Verweisen auf seine außergewöhnlichen Fähigkeiten und eine „Ein-jeder-ist-seines-GlückesSchmied“-Sichtweise: „Ich bin schlau wie ein Fuchs. Ich ziehe mich selber raus aus dem Sumpf.“ (Titel Lebende Legende) „Glaube an dich und du kannst alles erreichen, was du willst.“ (Bushido 2008: 13).

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Es war seine eigene Vision und Entschlusskraft, die seinen Exzeptionalismus begründet: „Wäre ich immer mit dem Strom der Masse geschwommen und hätte ich nicht auf meine eigenen Gefühle gehört, wäre ich heute nicht Kingbushido.“ (ebd.: 395) „Wo wäre ich heute, wenn ich meine Angst nicht überwunden hätte? Wo wäre ich heute, wenn ich mir nicht irgendwann einmal das Ziel gesteckt hätte, reich und berühmt zu werden? Man muss seine Ziele schon konkret formulieren.“ (Bushido 2013: 257) In geradezu neoliberaler Reinform postuliert er, dass jeder eine Chance auf Erfolg hat, solange man sich nur anstrengt: „Jeder von diesen Typen, egal, ob sie jetzt Kokaindealer oder Einbrecher sind, hat irgendeinen Bereich, in dem er wirklich sehr talentiert ist, aber er kommt nicht aus dem Knick. Die Kerle können sich nicht dazu durchringen, diesen Talenten nachzugehen.“ (ebd.: 2013: 109). Solange Talent auf Willenskraft trifft, kann es jeder nach oben schaffen: „[...] diese Personen haben schlichtweg eine Vision gehabt und ließen sich von niemandem davon abbringen. Das waren ganz normale Typen wie wir. Ich meine, jeder von uns könnte der nächste Bill Gates sein, der irgendwo in der Garage seiner Eltern etwas erfindet, das in zehn Jahren die Welt verändern wird.“ (ebd.: 397) Für aufgrund von Drogensucht gesellschaftlich Gescheiterte kann Bushido kaum Mitleid entwickeln: „Egal ob Heroin-, Kokain- oder Alkohol-Junkies oder diese Methadon-Typen − für mich sind das alles Opfer. Ich bin der Meinung, dass man mit wirklichem Willen auch seine Drogensucht bekämpfen kann. Dabei ist es egal, aus welchem Land man kommt, in welcher gesellschaftlichen Schicht man aufwächst oder welchen Beruf man erlernt hat. Es gibt immer die Möglichkeit, etwas aus seinem Leben zu machen. Immer. Wer das nicht will, kann von mir aus von der Klippe springen.“ (Bushido 2008: 79)

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Der Künstler sieht sich in Sachen persönlicher Kapazitäten und Antrieb aus seinem Umfeld hervorstechen: „Ich war auch von all meinen Kumpels der Einzige, der wirklich konsequent auf seinen Traum hinarbeitete. Dieses restliche Untergrund-Gesindel war undiszipliniert, ziellos und unorganisiert.“ (ebd.: 48) Den Abbruch seines Versuches das Abitur über die Abendschule nachzuholen, begründet er mit seiner Überlegenheit gegenüber den Mitschülern: „Diese Leute waren einfach dumm, richtig dumm, und mit dummen Menschen wollte ich nichts zu tun haben. [...] Da saß ich also mit diesen gescheiterten Existenzen [...], denen man aber ansah, dass sie es niemals schaffen würden.“ (ebd.: 35). Ähnlich äußert er sich über seine Ausbildung: „Mein Meister sah in mir jedenfalls sehr viel Potenzial. Kein Wunder, die anderen Azubis waren allesamt Idioten. Zugegebenermaßen war ich aber auch wirklich gut. Wenn ich mal ernsthaft mit einer Sache beginne, versuche ich darin immer so perfekt wie möglich zu werden.“ (ebd.: 30) Dieser persönliche Exzeptionalismus steht in einem Spannungsverhältnis mit der Anprangerung seiner eigenen Marginalisierung sowie der seines Umfeldes. Es wird ein Bild vom Ghetto als eine trostlose und ausweglose Unterdrückung durch obere Schichten gezeichnet: „Klar, euer scheiß Leben ist schon abgesichert. Medizin studieren, Doktor werden über Nacht, ihr Wichser. Uns wurde keine Möglichkeit gegeben, kein Monaco. Wir hatten nur ’ne schöne Zeit im Regen. [...] Seit meinem siebten Lebensjahr war mein Ziel: Verbrecher. Hier gibt’s kein’ Ausweg, das bleibt ’ne Einbahnstraße. Und ich sinke hier, weil ich grad in Treibsand schlafe. Und die Scheiße hält mich wach, ich guck’ meine Freunde an. Trauer, Trauer, Junge keiner hat’s geschafft.“ (Titel Ching Ching)

Die wohl pointierteste Artikulation dieses Sentiments findet sich in dem Titel Nie ein Rapper II: „Wir sind die Unterschicht, Kinder ohne Werdegang. Wir greifen einmal nach den Sternen und sterben dann.“

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So wird auch das Bill-Gates-Narrativ relativiert: „Ich sehe wie meine Kumpels im Sumpf der Antriebslosigkeit versinken, weil sie genau wissen, dass sie weder mit Hauptschule noch mit dem mittleren Schulabschluss zu einem Beruf und damit zu Geld kommen.“ (Bushido 2013: 14) „Jeder ist seines Glückes Schmied und jeder ist für seinen ganz eigenen Lebensentwurf verantwortlich, doch nirgendwo sind diese Weisheiten falscher als in diesem unseren Land.“ (ebd.: 15) Unter dem Joch der Oberen, der Etablierten, erscheint Erfolg kaum noch durch Einsatzbereitschaft erklärbar: „Die Leute oben wollen uns gar nicht. Soziale Aufsteiger sind ihnen suspekt. Selbst wenn ich diese andere Berufsschule gemacht hätte, wo wäre ich dann gelandet? Ganz oben ja trotzdem nicht. Da wäre ich vielleicht Malermeister statt Malergeselle geworden und dann?“ (ebd.: 124) Was denn nun, Chancenlosigkeit in der Unterschicht oder Aufstieg für alle, solange sie nur hart genug arbeiten? Diese Ambivalenz in der Weltsicht lässt sich anhand der Begegnung Bushidos mit dem Kurier Mehmet verdeutlichen, die er in seinem zweiten Buch schildert. Beide wuchsen in der Hobrechtstraße auf, haben sich seit Kindertagen nicht mehr gesehen und nun liefert Mehmet ein Paket in Bushidos Villa ab. „Als wir neun Jahre alt waren, gab es kaum Unterschiede zwischen uns. Wir waren zusammen, wir waren beste Kumpels, Freunde fürs Leben sozusagen, und beide hatten wir dieselben Voraussetzungen. Selbe Schule, ähnliche Elternhäuser, dieselben Interessen, die gleichen Turnschuhe, Kaugummis, Fußballsticker, Schulranzen.“ (ebd.: 32) „Deshalb ist das, was mein alter Kumpel da als Kurier macht, auch das Maximum, das man rausholen kann aus so einer Gastarbeiterwelt. Das ist die optimale Nutzung der Möglichkeiten, die ihm diese Gesellschaft unter normalen Bedingungen bietet. Wenn man nicht ganz krass auf volles Risiko geht und verdammt viel Glück hat, ist das alles, was man schaffen kann.“ (ebd.: 36) „Ich musste nie wirklich was riskieren. Das ist alles wie von allein passiert. Es war sozusagen eine passive Fähigkeit, die ich hatte. Nur eines wusste ich immer. Ich wollte nicht

118 | ALEXANDER B ENDEL UND NILS RÖPER unten bleiben. Ich wollte nicht mehr um sieben Uhr auf der Baustelle stehen. [...] Diesen Wunsch hatten die Menschen in der Hobrechtstrasse nicht.“ (ebd.: 37−38).

„Ich selbst habe den grossen Vorteil oder vielleicht auch das große Glück, dass ich intelligent genug bin und von meiner Mutter die notwendigen Grundlagen vermittelt bekommen habe, um da rauszukommen.“ (ebd.: 106) Diese Episode verrät eine ambivalente Interpretation des eigenen Erfolgs zwischen der Chancenarmut seines Milieus, persönlichem Exzeptionalismus, verwunderlicher „passiver Fähigkeiten“, erzieherischem Glück und der Kraft der eigenen Vision. Die Spannungspole von eigener Außergewöhnlichkeit und Solidarisierung scheinen jedoch schließlich von der Notion religiöser Vorherbestimmung ausgehebelt zu werden. „Ich glaube an das Schicksal und dass unser Leben sowieso vorherbestimmt ist.“ (Bushido 2008: 18−19) „Ich bin ein sehr gläubiger Mensch und ich bin mir auch ganz sicher, dass mein Leben, meine Karriere, mein Können, mein Auftreten, eben all das, was mich auszeichnet, genauso von Gott gewollt ist. [...]. So wahnwitzig und paradox sich das anhören mag, aber ich glaube fest daran, dass mein Leben gar nicht anders hätte verlaufen können.“ (ebd.: 414)

Wenn Religion über allem steht, erscheinen Überlegungen zu Bushidos Gerechtigkeits- und Leistungsverständnis hinfällig. Doch in seinem zweiten Buch beschreibt der Künstler eine wichtige Ausnahme dieses religiösen Fatalismus, nämlich persönlichen Exzeptionalismus: „Von mir aus nenne ich es Schicksal. Jeder Mensch läuft seit dem Moment seiner Geburt bis zum Tod einem vorgezeichneten Weg. Es sei denn, du gehörst zu den wenigen Menschen, deren Sinne ausgeprägter sind als die der meisten anderen und du besitzt die Fähigkeit, deine Umwelt so zu manipulieren, dass du sie selbst gestalten kannst. Stellt euch unsere Bevölkerung wie lauter kleine Marionetten vor. Manche Menschen, ich zähle mich dazu, besitzen die Fähigkeit, nach Belieben an diesen Fäden zu ziehen und Freunde, Geschäftspartner, Kollegen, Nachbarn, eben ihre komplette Umwelt, in eine bestimmte Richtung zu lenken. Ich behaupte nicht, dass ich das Rad neu erfunden habe, aber meine Antennen sind für bestimme Dinge einfach empfänglicher und sensibler. Mein Gehirn nimmt Dinge wahr, die von anderen gar nicht erst registriert werden.“ (Bushido 2013: 193)

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Bushido und die Suche nach Anerkennung Nachdem sich im ersten Teil der Einzelfallanalyse dem Vorhaben gewidmet wurde, aufzuzeigen, inwiefern Bushidos Werk durch neoliberale Merkmale gekennzeichnet ist, sollen im folgenden Abschnitt Textpassagen präsentiert werden, in denen Bushido in Bezug auf die Formen der Liebe, der Rechtsverhältnisse sowie der Solidarität einen Mangel an Anerkennung artikuliert. Dieser gesellschaftliche Anerkennungsmangel kulminiert in einer dezidierten und überkompensatorischen Zurschaustellung neoliberaler Werte und Verhaltensmuster. Die Anerkennungsform „Liebe“ Wie bereits erläutert, handelt es sich nach Honneth bei der Liebe um eine Form, durch die Anerkennung erfahren wird. Sie werde vor allem in Primärbeziehungen (Paarbeziehungen, Freundschaften und Eltern-Kind-Beziehungen) realisiert (Honneth 2012: 153). Bushido beschreibt sein eigenes Erwachsenwerden als problematisch, da er ohne seinen leiblichen Vater aufwächst, die Eltern-Kind-Beziehung also durch einen personalen Mangel gekennzeichnet gewesen sei. „Ich hatte vor meiner Mutter immer den größten Respekt, trotzdem gab es Fragen, auf die ich einfach die bessere Antwort wusste. Ich war schon immer mein eigener Herr. Vielleicht lag es daran, dass ich ohne meinen leiblichen Vater aufwuchs und schon früh lernen musste, Verantwortung für mein eigenes Leben zu übernehmen.“ (Bushido 2008: 17)

Auch in seinen Liedern kommt Bushido auf das Fernbleiben der Vaterfigur zu sprechen. „Auf einmal soll aus mir was anderes werden. Niemand kommt zu mir und sagt: ,Aus dir kann was werden.ʻ Denn ich hab kein Vater, der mir was erzählt. Nur ein kleiner Junge, der mit seinen Lastern lebt. […]. Keiner fragt ihn, warum bist du wieder so? Bitte sag uns, warum schreibst du deine Lieder so? Warum sagt er, sein Leben ist ein harter Weg? Vielleicht, weil ihm doch eigentlich sein Vater fehlt. Der Mann, der seinen Sohn mit zum Angeln nimmt. Schon mit zwei Jahren war ich wie kein anderes Kind.“ (Titel Teufelskreis)

In ähnlicher Weise äußerst er sich auch in den Titeln Wie ein Engel, So sein wie sie, Reich mir nicht deine Hand, Hass, Zeiten ändern dich oder Öffne uns die Tür über die (nicht existierende) Beziehung zu seinem leiblichen Vater.

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Die von Honneth beschriebene „leibhaftige Existenz“ des Vaters ist für Bushido also nicht gegeben. Schon früh im Leben fehlt mit dem eigenen Vater eine Person, die in Ergänzung zur Mutter Wertschätzung und Anerkennung hätte ausdrücken können. Das Nicht-Vorhandensein väterlicher Anerkennung wird damit bereits in jungen Jahren zu einem konstituierenden Sozialisationsfaktor. Wie wichtig die elterliche Anerkennung für sein Selbstwertgefühl aber grundsätzlich ist, macht Bushido in folgendem Zitat deutlich: „Meine Mutter würde mich natürlich genauso lieben, wäre ich ein einfacher Maler und Lackierer geblieben − keine Frage. Für mich war diese Selbstbestätigung aber enorm wichtig.“ (ebd.: 89) Über das Ausbleiben der väterlichen Anerkennung hinaus erfährt Bushido auch in seinem erweiterten Familienkreis eher Ablehnung denn Bestätigung. „Es war ja immerhin Familie und sie [die Mutter] war so stolz auf mich − aber das hätte sie sich auch sparen können. Als sie ankam, hieß es nur: ,Du mit deinem Scheißausländer.ʻ Ein Kind von einem Tunesier. Ein Kind von einem ,Kanakenʻ. Was für eine Schande.“ (Bushido 2013: 24) Darüber hinaus macht Bushido deutlich, dass er selbst in der Gegenwart seiner Partnerinnen nicht so hat sein können, wie er eigentlich ist. Stets spielt er in der Interaktion mit diesen eine bestimmte Rolle. Er nimmt sich damit die Möglichkeit, Anerkennung in Bezug auf seine tatsächliche Persönlichkeit zu erhalten − anerkannt wird immer nur ebenjene gespielte Rolle. „Dann gehst du raus, hast vielleicht sogar eine Freundin, die du über alles liebst, aber bei der kannst du auch nicht unbedingt so sein, wie du willst, weil die Mädels, die mit so einem Typen zusammen sind, dieses schlägerhafte Bad-Boy-Image mögen. Die wollen keinen weichen Freund. Die wollen starke Männer, also kannst du dort auch nicht einfach mal sagen: ,Hey, weißt du was, heute bin ich total traurig.ʻ. […]. Das geht nicht, denn sie erwartet, dass du ein harter Junge bist.“ (ebd.: 89)

In seiner Autobiografie äußert sich Bushido konkret über eine ehemalige Partnerin, die er nach eigener Aussage sehr geliebt hat, von der er aber so enttäuscht wurde, dass auch die nachfolgenden Beziehungen hierunter zu leiden haben. „Selina hat beziehungstechnisch einfach meinen Kopf gefickt. Sie hat mich meiner Gefühle beraubt und mich zu dem gemacht, der ich heute bin. [...]. Da ich aber nie mehr an sie

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herankommen werde, räche ich mich an all den Mädchen […]. Jedenfalls würde mir das garantiert jeder Psychiater sagen. Warum konnte ich denn nach Selina nie mehr ein Mädchen an mein Herz lassen? Die Antwort ist einfach: Weil Selina es erfrieren ließ. Niemand wird als Arschloch geboren. Selina machte aus mir einen S.S.G. − einen skrupellosen SexGangster. Sie hat ein Monster erschaffen.“ (Bushido 2008: 129)

Wie in der Verarbeitung dieser Thematik in den künstlerischen Werken deutlich wird, resultiert die beschriebene Enttäuschung zu einem Großteil in der Erfahrung, dass die eigene Person durch die Partnerin keine Anerkennung mehr erfährt. „Du sagst, ich wär dran schuld, ich wär nicht mehr gut genug. Gottverdammt! Dich zu hassen, ist wie tauchen in ’nem Krug. Es ist unmöglich, doch was soll’s: Ich liebe dich!“ (Titel Schau mich an) In dem Titel Gibt es dich? beschreibt Bushido explizit den Wunsch, eine Partnerin zu finden, die ihn so anerkennt, wie er ist, und bringt damit gleichsam zum Ausdruck, dass ebendies in seinem bisherigen Leben noch nicht der Fall war: „Gibt es dich? Eine, die zufrieden ist mit mir. Falls ich dich je finden sollte, dann verriegel ich die Tür!“ Bushido beschreibt des Weiteren an diversen Stellen, wie er nicht nur durch seine Familie und seine Partnerinnen Enttäuschung erfahren musste, sondern auch durch Freunde. „Und jetzt fickt ihr meinen Kopf, jeden Tag ein kleines Stück. Ey, was soll das? Leute, waren wir nicht mal Freunde? Anis, mach die Augen auf, gestern ist nicht heute. Ja, ich weiß, heute ist nicht morgen und nicht gestern. Doch ich dachte, Freunde wären wie Brüder oder Schwestern. Ja, für dich, heute ist betrügen angesagt. Anis, glaub mir, keiner kümmert sich, wenn du beklagst, was früher einmal war und niemals wieder sein wird. Erwarte keine Liebe, sonst hast du dich geirrt. […]. Friends are snakes.“ (Titel Schlangen) „Ey man, ich brauch ne’ Pause, meine Seele ist geknickt. Gefickt von all dem Shit. Wo bleibt die Gerechtigkeit? Freunde reden hinter meinem Rücken. Ist das Einigkeit? Auf keinen Fall man, doch wen interessierts? Keinen, die Leute scheißen auf mich.“ (Titel Ich würde)

Bushido macht deutlich, wie sehr er sich nach persönlichen Kontakten sehnt, die loyal zu ihm stehen.

122 | ALEXANDER B ENDEL UND NILS RÖPER „Fler [ebenfalls Gangsta-Rap-Künstler und mit Bushido schon früh eng verbunden] und ich hatten schon immer diese Sehnsucht, irgendwo dazuzugehören und Teil einer Crew zu sein. Deswegen waren wir auch so übertrieben fanatisch.“ (Bushido 2008: 50)

Die Anerkennungsform „Rechtsverhältnisse“ Nicht nur im Rahmen von Primärbeziehungen ist Bushido mit mangelnder Anerkennung konfrontiert. Auch in rechtlicher Hinsicht lassen sich Hinweise dafür finden. Honneth unterscheidet liberale Freiheitsrechte, politische Teilnahmerechte und soziale Wohlfahrtsrechte. Mit ersteren „sind die negativen Rechte gemeint, die die Person in Hinblick auf ihre Freiheit, ihr Leben und ihr Eigentum vor unbefugten Eingriffen des Staates [schützt] [...].“ (Honneth 2012: 186) In zahlreichen Aussagen spielt Bushido darauf an, wie ihm die Staatsgewalt gegenübertritt und bar jeder Befugnis (rechtliche) Grenzen überschreitet − von Schutz vor unbefugten Eingriffen kann hier also keine Rede sein. „[Dann] bekam sie einen Anruf vom Landeskriminalamt Berlin. […] dass sie bloß aufpassen solle, mit wem sie sich da einlasse, denn wenn sie erst mal drinstecken würde in dieser Mafiageschichte, dann käme sie da nicht mehr raus. ,Bedenken Sie, Sie haben einen Sohn und auch der wird da nicht mehr rauskommen.ʻ, warnte der Mann vom LKA. Wieso hat das LKA die Nummer von Anna-Maria? Wieso warnt eine staatliche Behörde meine Freundin, wenn gegen die betroffenen Personen kein konkreter Tatvorwurf und kein einziger Beweis vorliegt?“ (Bushido 2013: 75) „Wenn ich dann innerhalb von 25 Minuten dreimal von Zivilpolizisten angehalten und kontrolliert werde, dann weiß ich, dass ihnen wieder mal langweilig ist und sie sich gegenseitig per Funk verständigen, um mich zu ärgern.“ (ebd.: 78)

Grundsätzlich bescheinigt Bushido der deutschen Staatsgewalt einen ungleichen Umgang mit verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen. „An dieser Stelle tut sich dann tatsächlich eine Kluft zwischen den Gesellschaftsschichten auf. Auf der einen Seite diejenigen, die aufgrund ihrer gesellschaftlichen Stellung, ihres Vermögens, ihrer Bildung absolutes Vertrauen in diesen Rechtsstaat haben können, auf der andern Seite diejenigen, die Angst davor haben, abgehängt und benachteiligt zu werden, wenn sie sich an ein Gericht wenden. All jene, die sich einen ordentlichen Rechtsstreit nicht leisten können oder die aufgrund einer Behördenfurcht oder wegen Sprachproblemen den Weg vor ein ordentliches Gericht scheuen.“ (ebd.: 187)

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Bushido zählt sich qua Sozialisation natürlich zu jenen Gruppen, die Angst davor haben, benachteiligt zu werden und bringt damit zum Ausdruck, nicht als vollwertiges rechtliches Subjekt anerkannt zu sein. Prägnant kommt dies in dem Titel Alles verloren zum Ausdruck: „Und du wirst angehalten, weil du als Kanake in ’nem AMG Mercedes sitzt. Du bist für sie nur wie Dreck und sie schließen dich weg.“ Die beschriebene Ungleichbehandlung sowie das sich hieraus ergebene Gefühl mangelnder Anerkennung manifestieren sich auch in Bushidos Erfahrung der Vorverurteilung durch die Justiz. „Ich merkte sofort, dass der Staatsanwalt mich gern verurteilt gesehen hätte. Die Situation war irgendwie absurd, da er sich die Biografie von meiner Homepage heruntergeladen hatte und daraus zitierte. Nach dem Motto: Der Angeklagte war früher ein Mitglied in einer Gang, hat schon viele Schlägereien miterlebt, redet in seinen Texten über Gewalt, Sex, Mafia, und Drogen. Er ist einfach ein schlechter Mensch. Dafür müssen wir ihn verurteilen.“ (Bushido 2008: 184)

In dem Titel Rolling Stone drückt Bushido aus, welche Absichten er dem deutschen Justizsystem (hier in Form der Polizei) ihm gegenüber grundsätzlich unterstellt − in der Rolle eines rechtlich voll anerkannten Bürgers sieht er sich dabei offensichtlich nicht. „Guck was ich erreicht hab, von ganz unten bis ganz oben. Trotzdem sehen die Bullen gern mein Gesicht am Boden.“ Neben den liberalen Freiheitsrechten sind auch in Bezug auf die politischen Teilhaberechte Hinweise für einen Mangel an Anerkennung in Bushidos Werk auffindbar. Unter politischen Teilhaberechten versteht Honneth „die positiven Rechte, die […] [der Person] in Hinblick auf die Teilnahme an Prozessen der öffentlichen Willensbildung zustehen [...].“ (Honneth 2012: 186) Als deutscher Staatsbürger verfügt Bushido zwar über das aktive und passive Wahlrecht (grundsätzlich ist er also rechtlich befugt an den politischen Willensbildungsprozessen zu partizipieren), jedoch scheint er sich insbesondere von der deutschen Parteienlandschaft nicht repräsentiert zu fühlen. So bringt er etwa in dem Titel Ihr habt mich gemacht seine (Parteien-)Politikverdrossenheit wie folgt zum Ausdruck:

124 | ALEXANDER B ENDEL UND NILS RÖPER „Guck die ganzen Punks, sieh doch mal die Nazis. Die Bürokratie, wo du nur noch ein Vertrag bist. Die Linke und die Rechte, alle sind dabei und ihr wählt aus Protest die Piratenpartei. Die neue Weltordnung, das Unternehmen Weltmacht. Guck ich bin doch nur das Spiegelbild der Gesellschaft.“

Seine diesbezügliche Abneigung betont Bushido auch in dem Titel Stress ohne Grund, in dem er sich stark negativ über Klaus Wowereit (SPD), Serkan Tören (FDP) und Claudia Roth (Bündis 90/Die Grünen) äußert und damit deutlich macht, dass wohl nicht allzu viele Parteien für ihn wählbare Alternativen darstellen. Bushido ist folglich ein prominentes Beispiel für viele in Deutschland lebende Menschen mit Migrationshintergrund, die im Vergleich zu Menschen ohne Migrationshintergrund in geringerem Maße an Wahlen teilnehmen oder sich an nicht-elektoralen Partizipationsformen beteiligen (vgl. etwa Müssig & Worbs 2012). Aus welchem Grund auch immer: Menschen mit Migrationshintergrund scheinen sich von der deutschen Politik oftmals nicht angesprochen zu fühlen. Aus der Sicht von Bushido beschäftigt sich die Politik mit den falschen Dingen: „Wir stellen Atomwaffen her für die Sicherheit? Das hier ist ne kranke Welt, wir sind Marionetten. So viel Millionäre, doch keiner will die Armen retten. Und diese Politik führt uns sicher in den Krieg.“ (Titel Crossroad) Bei den dritten von Honneth beschriebenen Rechten handelt es sich um jene der sozialen Wohlfahrt. Er versteht darunter die „positiven Rechte, die [...] [die Person] in fairer Weise an der Distribution von Grundgütern teilhaben lassen.“ (Honneth 2012: 186). Eindrücklich beschreibt Bushido in dem Titel Ewige Nacht seine vermeintlichen Lebensumstände als Heranwachsender und legt auf diese Weise dar, inwiefern die materielle Grundausstattung seiner Familie vom Durchschnitt der deutschen Gesellschaft abweicht. „Mama, bitte weck mich nicht auf. Ich hasse die grauen Wände in diesem dreckigen Haus. Mama, ich kann das alles nicht mehr sehen. Ich guck mir mein Leben an und kann es nicht verstehen. Mama, das Wasser tropft von den Decken. Sag mir, warum muss ich mich in diesem Loch verstecken? In diesem Loch zwischen all den dunklen Gängen. Wenn ich spielen wollte, durfte ich mit den Hunden bellen.“

Über die konkrete familiäre Lebensrealität hinaus konstatiert Bushido für ein von ihm ehemals bewohntes Stadtviertel Ähnliches:

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„Ich zeig dir Ghettos, wo es keinen Kamin im Viertel gibt. Ich erzähl euch jetzt mal etwas vom Satellitenschüssel-Crib. Unsere Wände voll verschmiert, Fenster sind verschlossen. Penner sind am Frieren und ein Rentner wird erstochen. Kleine Kinder spielen, spielen mit dem Glück. In meiner Kindheit wurden Klingen hier mit sieben schon gezückt.“ (Titel So Ghetto)

Bushidos Leben als Kind und Jugendlicher wird als prekär beschrieben, was sich auch auf sein Konsumverhalten niederschlägt: „Keine Kohle, nur Routine, Nummer ziehen beim Arbeitsamt. Arbeitsdrang? Fehlanzeige. Der Konsum von Gras begann. Immer kalkulieren, was kann ich bei Lidl kaufen. Heut könnt ich mir einen ganzen Lidl kaufen.“ (Titel Zeiten ändern dich) „Es gab Tage da hatt’ ich nichts zu fressen. Schaffte es mich selbst aus der Lage hier zu retten.“ (Titel Lichterfelde Motivation) Nach Bushidos Beschreibung hatte seine Mutter reichlich Mühe, die Familie zu versorgen. „Meine Mutter hat immer gearbeitet. Sogar als mein Vater noch bei uns gewohnt hat. Ihr ganzes Leben lang hat sie für uns geschuftet. Manchmal hatte sie drei Jobs gleichzeitig, damit wir überhaupt irgendwie über die Runden kamen.“ (Bushido 2008: 82) Der eigene Familienhintergrund bedingt damit vergleichsweise schlechte Startchancen. Die sich hieraus ergebende Perspektivlosigkeit seines Umfeldes benennt Bushido an unterschiedlichen Stellen. „Wieso soll ich nicht über Integration sprechen dürfen, wenn ich es rausgeschafft habe aus dieser Welt, in der die meisten Menschen die Wahl zwischen Dönerverkäufer und Gemüsehändler haben?“ (Bushido 2013: 10) „Die Leute in der Hobrechtstraße hatten keine Träume, die waren gefangen in ihrer Welt, in ihrem Alltag, in ihrem Viertel.“ (ebd.: 37) Die Anerkennungsform „Solidarität“ Als dritte und letzte Form der Anerkennung identifiziert Honneth Solidarität, die ein einzelnes Gesellschaftsmitglied erfährt. Hierbei gehe es um die gleichberech-

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tigte Wertschätzung interagierender Subjekte; also nicht nur um Toleranz, sondern um echte Anteilnahme an der jeweiligen Person (Honneth 2012: 208−210). Immer wieder erzählt Bushido in seinen Werken von Situationen, in denen bestimmte Menschen ihm nur wenig tolerant gegenübertreten, geschweige denn ihn persönliche Anteilnahme spüren lassen. Er äußert dies beispielsweise, wenn er von dem Aufeinandertreffen mit den Eltern seiner Partnerin berichtet. „Immer wenn Selina Scheiße gebaut hatte, schoben ihre Eltern mir die Schuld dafür in die Schuhe und erteilten mir Hausverbot. Sie waren verdammt reich, richtige Millionäre, und fanden es dementsprechend auch nicht so cool, dass ihre Tochter mit einem Assi wie mir abhing.“ (Bushido 2008: 113) „Ihre Eltern gaben mir immer das Gefühl ein Fremdkörper zu sein.“ (ebd.: 118) In Begegnungen wie diesen wird von regelrechter Abneigung gesprochen; Wertschätzung für ihn und seine Eigenschaften bleiben dabei aus. Welche negativen Konsequenzen dies in Bezug auf sein Selbstwertgefühl und die Akzeptanz seiner eigenen Person hat, schildert Bushido in folgendem Zitat: „Heute fällt es mir immer noch sehr schwer, mit den Eltern meiner Kumpels zu chillen, da ich automatisch das Gefühl habe, dass sie sich wegen meines Aussehens, meiner Tattoos oder meiner Musik nicht mögen. Natürlich ist das nicht der Fall, aber diese Paranoia schiebe ich seitdem vor mir her.“ (Bushido 2008: 119−120) Selbst innerhalb seiner Familie wird Bushido aufgrund seines Äußeren und seines Migrationshintergrundes nicht toleriert. Über seine Großmutter schreibt er diesbezüglich: „Die hat das immer gestört, dass ich schwarze Haare habe und dass mein Bruder schwarze Haare hat. Um meine Oma zu ärgern, hat der Rest der Verwandtschaft sie oft abfällig ,Türkenoma‘ genannt. Das hat sie furchtbar aufgeregt. (Bushido 2013: 28−29) Auch im Hinblick auf die von ihm durchlaufenen Einrichtungen des Bildungswesens artikuliert Bushido immer wieder ablehnende Momente.

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„Wenn die Lehrer dir erzählen, dass du gar nichts bist, fängst du an ihnen zu glauben, dass du gar nichts bist. Ich hatte jeden Tag Streit mit den Pädagogen.“ (Titel Nie Wieder) Bushido fühlt sich insbesondere auch als Muslim in Deutschland nur wenig akzeptiert und anerkannt. „Der Moslem an sich ist nicht eingliederungswillig, er gilt als kulturresistent, antieuropäisch, demokratiefeindlich und immer bemüht, eine Parallelgesellschaft zu errichten. Der Moslem gehört einfach nicht dazu.“ (Bushido 2013: 52) Ablehnung hinsichtlich eines so identitätsstiftenden Aspekts wie der Religion zu erfahren, kann leicht den Umstand bedingen, dass die Person als solche diskreditiert und folglich nicht anerkannt wird. Dies führt wiederum dazu, dass sich bei den Betroffenen das Gefühl des „Nicht-Dazu-Gehörens“ einstellt. In folgendem Zitat illustriert Bushido ebendies in Bezug auf ehemalige Freunde (spricht aber gleichsam auch über sich): „Ich sehe, wie sie ‚Absturz auf ihr Leben haben‘, weil sie niemals gesagt bekommen haben, dass ihr Leben etwas wert ist, dass sie wichtig und wertvoll sind für diese Gesellschaft und dass sie − und jetzt kommt’s − selbstverständlich willkommen sind in diesem Land.“ (ebd.: 14)

Obwohl Bushido mittlerweile großen kommerziellen Erfolg aufweisen kann und es hierdurch geschafft hat, sich und seiner Familie ein besseres Leben zu ermöglichen, konstatiert er, dass die Mehrheit der Gesellschaft ihn nach wie vor nicht als ihresgleichen versteht. „Ich gehöre nicht dazu. Sie wollen mich nicht. Sie finden mich schmuddelig und unangenehm. […]. Natürlich wäre es machbar, sich in den höheren Gesellschaftsschichten zu etablieren als der kleine Quotenausländer. Der nette Ausländer von nebenan mit dem lustigen Akzent, so wie Roberto Blanco oder Peter Maffay […].“ (ebd.: 126)

Die nicht vorhandene Anerkennung seiner Person zeigt sich auch in dem Umstand, dass viele Menschen in ihm nur die Realisierung bestimmter Stereotype erkennen. „Da ist er wieder, ich bin euer bester Feind. Habe mich verändert, auch wenns so wie gestern scheint. Ich weiß ganz genau, dass ihr nur am Lästern seid. Ihr denkt in Schubla-

128 | ALEXANDER B ENDEL UND NILS RÖPER den, stellt mich mit Verbrechern gleich! Da ist er wieder, ich bin euer bester Feind. Seh euch in die Augen, ich seh nur echten Neid.“ (Titel Euer bester Feind)

S CHLUSSFOLGERUNGEN UND D ISKUSSION Das neoliberale Paradoxon des deutschen Gangsta-Raps konnte für den Fall Bushido im vorliegenden Beitrag hinreichend belegt werden. Im Rahmen eines Kampfes um Anerkennung bemüht Bushido explizit neoliberale Inhalte wie Materialismus, Individualismus, Konkurrenzaffinität, Entrepreneurmentalität und Leistungsgerechtigkeit. In überkompensatorischer Art und Weise betont Bushido dadurch, dass er „es zu etwas gebracht hat“ und fordert implizit die bis dato ausgebliebene gesellschaftliche Anerkennung ein. Die Interpretationen des eigenen Erfolges sind dabei ausgesprochen ambivalent. In Bezug auf Liebes- und Rechtsverhältnisse sowie hinsichtlich der gesellschaftlichen Solidarität wird von einem unzureichendem Maß der Anerkennung gesprochen. Die Kunstfigur Bushido stellt damit „einen Kampf um Anerkennung, Selbstbehauptung und Selbstbestimmung“ (Straub 2012: 8) dar und ist Ausdruck einer betriebenen „Identitätspolitik“ (ebd.). Der scheinbare Widerspruch aus einer geradezu aggressiv-neoliberalen Weltanschauung und der Anprangerung der eigenen Marginalisierung bzw. der des eigenen Umfeldes wird somit aufgelöst: Mangelnde Anerkennung führt zu einer Entsolidarisierung, die den Boden für einen neoliberalen Diskurs bereitet et vice versa. Der vorliegende Beitrag geht somit über deskriptive Charakterisierungen des neoliberalen Charakters des deutschen Gangsta-Raps hinaus, indem er dessen zugrundeliegenden Kausalitäten erörtert. Es wurde herausgearbeitet, dass es sich bei Bushido weniger um einen bewusst propagierenden Anhänger des Neoliberalismus handelt, sondern dass dieser sich vielmehr als ein marginalisiertes Individuum darstellt, das sich überkompensatorisch an den geltenden gesellschaftlichen Idealen orientiert. Somit wird auch deutlich, dass eine Analyse des Neoliberalismus im Rahmen einer kulturpsychologischen und -soziologischen Auseinandersetzung ihr Ziel verfehlt, wenn sie allein die Kulturschaffenden und deren Werk zum Gegenstand hat, ohne die dahinterliegenden sozialen Mechanismen in den Blick zu nehmen – wenn sie also nur Symptome betrachtet, aber Auslöser ignoriert. Die (empirischen) sozialen Realitäten des Umfeldes von Gangsta-Rappern gehören folglich in Betracht gezogen. Wenn Bushido sich beispielsweise nicht als vollwertiges rechtliches Subjekt anerkannt fühlt, handelt es sich nicht allein um einen persönlichen Eindruck; wissenschaftliche Untersuchungen legen nahe, dass in der deutschen Justiz beispielsweise racial profiling betrieben wird (vgl.

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etwa Cremer 2013). Ein weiteres Beispiel ist das widerkehrende Thema in Bushidos Werk, wonach der eigene soziale Hintergrund den Werdegang vorherbestimmt. In Deutschland hat der Familienhintergrund von Menschen einen entscheidenden Einfluss auf den eigenen ökonomischen Erfolg – wer arm zur Welt kommt, besitzt damit weniger Chancen selbst einmal ökonomisch abgesichert zu sein als jemand, dessen Eltern bereits über ein entsprechendes Einkommen verfügen (vgl. etwa Schnitzlein 2013). Aus dieser empirisch letztendlich korrekten Wahrnehmung der eigenen Aufstiegsmöglichkeiten entsteht ein Anerkennungsdefizit: Eine Gesellschaft, die nicht in der Lage ist, ihren Mitgliedern ähnliche Startchancen zu gewähren, signalisiert den hiervon Benachteiligten ein mangelndes Anerkennungs- und Wertschätzungsbewusstsein. Durch diesen Abgleich des Diskurses deutscher Gangsta-Rapper mit den in ihren Lebenswelten vorherrschenden Realitäten, können die sicherlich oftmals überspitzten Raptexte und Aussagen zu Verständnisschlüsseln für ihre Welt werden − es entstehen epistemologische Komplementaritäten. Am Beispiel von Bushido konnte schließlich über popkulturelle Implikationen hinaus deutlich gemacht werden, wie vorherrschende Ideologien ihre Dominanz auch gegenüber den von ihnen marginalisierten Gruppen aufrechterhalten können. Immerhin „fungieren die Bildwelten des Gangsta-Rap als kultureller Pool von Identifikationsangeboten, der v.a. für Jugendliche eine sinn- und identitätsstiftende Funktion übernimmt“ (Thiermann 2009 zit. n. Dietrich & Seeliger 2012b: 23). Gangstrap-Künstler werden somit unintendiert zu Fahnenträgern eines sie marginalisierenden ideologisch fundierten Systems und erhalten dieses aufrecht. Da man nicht danach trachtet, die besitzende Klasse abzuschaffen, sondern vielmehr Teil derselben sein möchte, handelt es sich bei Gangsta-Rap also nicht um einen symbolischen Ausdruck eines Klassenkampfes (vgl. Seeliger 2012). Eben darin besteht der Selbsterhaltungsmechanismus des Neoliberalismus. Um diesen Selbsterhaltungsmechanismus mit einem Zitat aus einem von Bushidos Lieblingsfilmen − Die üblichen Verdächtigen − zu pointieren: „Der größte Trick, den der Teufel jemals gebracht hat, war, die Menschen in dem Glauben zu lassen, es gäbe ihn gar nicht.“

L ITERATUR Adler, Alfred (1965): Praxis und Theorie der Individualpsychologie. Vorträge zur Einführung in die Psychotherapie für Ärzte, Psychologen und Lehrer. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

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Über sich selbst rappen Gangsta-Rap als populärkultureller Biografiegenerator G ERRIT F RÖHLICH UND D ANIEL R ÖDER

E INLEITUNG „Die Straße mein Lehrer Die Schule für'n Arsch Dass Papa ging war sehr hart Ich verfluche diesen Tag Meine Jugend zerbrach wie ein Glas Ich war damals 14 Jahre alt Die Straße nahm mich in den Arm Und ließ nie wieder los“ HAFTBEFEHL – 1999, PT. III

In einem kurzen Text – eigentlich als Vorwort eines Buchs konzipiert, das dann aber letztlich nie erschien – widmet sich Michel Foucault dem Leben der infamen Menschen (Foucault 2001). Im Zentrum steht die Betrachtung kurzer, richtender Passagen aus unterschiedlichsten Quellen über Einzelschicksale von beispielsweise in Ungnade gefallenen Mönchen oder fahnenflüchtigen Soldaten, die ohne diesen schmalen Kontaktpunkt mit der Macht in Form einer knappen Verwaltungs- oder Zeitungsnotiz unsichtbar geblieben wären. Es geht um ärmliche Existenzen, die ohne Aufsehen zu erregen oder Spuren zu hinterlassen durchs Leben gegangen wären, die mit anderen Worten dazu bestimmt waren, „unterhalb jenes Diskurses vorüberzugehen und zu verschwinden, ohne jemals gesagt worden zu sein“ (Ebd.: 22). Diese Personen hatten „Existenz und werden auf immer Existenz nur haben in der zerbrechlichen Deckung jener Wörter“ (ebd.: 19). Während vermeintlich infame Skandalträger wie de Sade sich im Ruhm

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sonnten, sichtbar repräsentiert und anschlussfähig im Diskurs, seien die wahrhaft Infamen schon im Diskurs kaum vorgekommen und wären – auch für Foucault selber – unauffindbar gewesen, hätte es nicht diese Zusammenstöße mit einem System von Macht und Erfassung gegeben, das von ihnen Notiz nahm. Während in der Gegenwart der öffentliche Diskurs in Talkshows, Feuilletons und öffentlichen Vorträgen noch immer bestimmt zu sein scheint von modernen Varianten jener vermeintlich infamen Skandalträger – man denke an Thilo Sarrazin und seine Behauptung, öffentlichen Raum zu erhalten und für seine Äußerungen kritisiert zu werden sei das gleiche, wie ausgegrenzt, tabuisiert und verschwiegen zu werden – sind die wahrhaft Infamen häufig noch immer marginalisiert und unterrepräsentiert, jedenfalls was die breite Öffentlichkeit angeht. Prekäre Erwerbsbiografien, Migrationshintergrund, strukturell bedingte Unmöglichkeit des Erwerbs von kulturellem Kapital sowie unterschiedliche Formen des Zusammenspiels dieser Faktoren sind nach wie vor zuverlässige Kriterien der Exklusion von öffentlicher Sichtbarkeit und der Teilhabe am Diskurs. Gleichzeitig – und, so die These, gerade deswegen – hat sich mit dem Gangsta-Rap in den letzten Jahrzehnten ein Genre etabliert, das durchdrungen zu sein scheint von Gelegenheiten der Selbstthematisierung, das heißt von der Möglichkeit zur (Re-)Konstruktion individueller Lebensgeschichten: Der „Kampf um Anerkennung, Selbstbehauptung und Selbstbestimmung“ (Straub 2012: 8) marginalisierter Milieus und Gruppierungen im Gangsta-Rap wird auffällig häufig über den Verweis auf die eigene Biografie geführt. Und Street Credibility meint in der Regel genau das: gelungene, das heißt authentische Inszenierung der eigenen Verwurzelung in marginalisierten Lebenswelten. Dies gilt unabhängig davon, ob es sich um wahre oder erfundene, übertriebene oder untertriebene Lebensgeschichten handelt – maßgeblich ist, dass die Geschichte letztlich entlang normativer Rahmenbedingungen erzählt wird und diese damit reproduziert. Im Folgenden soll unter Zuhilfenahme von Alois Hahns Konzept institutionalisierter Biografiegeneratoren (sowie vor dem Hintergrund von Subjektivierung im Sinne von Michel Foucault und Judith Butler) die Frage gestellt werden, inwiefern es sich bei der im Gangsta-Rap dominanten Thematisierung des eigenen Lebens um eine neue, popkulturelle Form der Umwandlung von Lebensläufen in Biografien handelt, das heißt der Selektion desjenigen, was aus der Gesamtheit des Erlebten als Teil der eigenen Identität kommuniziert und damit vom impliziten in explizites Selbst transformiert wird. Dazu wird erstens Alois Hahns (1987) Konzept der Biografiegeneratoren (und ihr Einfluss auf Prozesse der Subjektivierung) genauer erläutert sowie die Verbindung zum Genre des GangstaRaps aufgezeigt. Dabei zeigt sich, dass auch beim Gangsta-Rap institutionalisierte Normen in Gestalt der Genrekonventionen den Rahmen der Selbstthemati-

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sierung vorgeben – zwar nicht explizit, aber implizit. Zweitens soll die Zunahme von Selbstthematisierung in der Moderne vor dem Hintergrund von Individualisierung und biografischer Unsicherheit dargestellt werden. Vor diesem Hintergrund sollen einerseits klassische Motive des Gangsta-Raps (wie die Thematisierung der eigenen Herkunft in Inhalt und Form) neu gedeutet sowie andererseits die These vertreten werden, dass eine maßgebliche Funktion der klassischen Biografiegeneratoren – nämlich in der Rückschau auf das eigene Leben Identität und Kohärenz im Erleben sowie Urheberschaft für die eigenen Handlungen herzustellen – im Gangsta-Rap zusammenfällt mit dem Erleben einer tiefen Unsicherheit im Rahmen prekärer Lebensverhältnisse. Drittens soll Gangsta-Rap eingeordnet werden in eine Tradition von Biografiegeneratoren, die in unterschiedlichem Maße auf Alltag und Abweichung fokussieren. Dabei sind die Subjektformen selber in stetigem Wandel begriffen: im Bedienen der Klischees ist zugleich immer auch ein spielerisches, vielleicht sogar subversives Moment angelegt, das beispielsweise in Brüchen der Inszenierung oder in ironisch gebrochener Rollendistanz zum Vorschein kommt.

S ELBSTTHEMATISIERUNG IM G ANGSTA- RAP „Zwischenbilanz-Momente gibt es ja dauernd: Badezimmerspiegel, Flusensieb, Bewerbungsgespräch, Flirt, Steuererklärung; beim Therapeuten, Blick in den Reisepass, eine Einzelverbindungsnachweise-Telefonrechnung, in der Wintermantelinnentasche Kinokarten oder Caféhauszuckertütchen aus dem letzten Jahr entdecken, als alles noch ein bisschen anders war […] Alles Gelegenheiten kurzen Innehaltens, mal sentimental, mal geschockt, selten zufrieden: Aha, DAS ist dann also wohl mein Leben.“ STUCKRADBARRE – PANIKHERZ

Die Frage nach den im Gangsta-Rap verhandelten Subjektkulturen soll hier stark verknüpft werden mit der Frage nach den Formen, in denen im Rahmen der Genrekonventionen Selbstthematisierung angeregt wird. Nicht nur die Objekte der Erkenntnis also wandeln sich, sondern auch ihre Subjekte (vgl. Rathmayr 2011: 184): Während Individuen als quasi „natürliche“ Einheiten angesehen werden können, ist das Subjekt Ergebnis einer gemeinsamen sozialen Erfahrung

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von Individuen innerhalb der Gesellschaft: „Das Individuum wird von der Natur geschaffen, das Subjekt jedoch von der Kultur. […] Das Subjekt ist also eine soziale Konstruktion, und kein natürliches.“ (Fiske 2001: 22) Anders als beim Begriff des Individuums steht demgemäß (noch) nicht die Betonung von Einzigartigkeit im Fokus, sondern die gemeinsame kulturelle Erfahrung innerhalb eines bestimmten sozialen und historischen Kontextes. Zentral sind dabei Praktiken und Verfahrensweisen von Selbsterkenntnis und -erprobung, Selbstkontrolle und Selbsteinwirkung, die für Foucault den Prozess der Subjektivierung maßgeblich bestimmen. Diese lassen sich zusammenfassen unter dem Begriff der Technologien des Selbst: „Darunter sind gewußte und gewollte Praktiken zu verstehen, mit denen sich die Menschen nicht nur die Regeln ihres Verhaltens festlegen, sondern sich selber zu transformieren, sich in ihrem besonderen Sein zu modifizieren und aus ihrem Leben ein Werk zu machen suchen, das gewisse ästhetische Werte trägt und gewissen Stilkriterien entspricht.“ (Foucault 1989: 18) Darunter fällt jegliche Arbeit am Selbst: Meditation, Diäten, Schönheitschirurgie und Bodybuilding (siehe beispielsweise die Beiträge in Villa 2008), aber auch und ganz besonders das Über sich selbst schreiben (Foucault 2012), bzw. allgemeiner: die Thematisierung des Selbst für sich und andere. Um Selbstthematisierung handelt es sich dann, wenn die eigene Identität zum Gegenstand von Darstellung und Kommunikation wird, wenn also nicht über irgendetwas kommuniziert wird (wobei man sich auf diese Weise natürlich dennoch selber darstellen kann), sondern das implizite, latente Selbst vor sich selbst oder vor anderen expliziert und ausgedrückt wird. Selbstthematisierung verschränkt auf diese Weise Selbsterkenntnis mit Selbstdarstellung. Kommunikation liefert „einerseits den Anlass und andererseits die Semantiken für Selbsterfassung“ (Reinhardt 2006: 36): Indem das Individuum die kommunikativen Möglichkeiten des Selbstbezugs wahrnimmt, eine distanzierte Position zu sich selbst einnimmt und sich damit zum Objekt der eigenen Erkenntnis macht, konstituiert es sich erst als Subjekt. Selbstthematisierung beinhaltet die Fragen danach, „wie man geworden ist, wer man ist, warum man geworden ist, wer man ist, warum man nicht anders geworden ist, als man ist“ (Schroer 2006: 47) und zieht auf diese Weise „ein Hadern mit der eigenen Biografie und einen daraus womöglich resultierenden Veränderungswillen des eigenen Lebensweges“ (Ebd.: 47) nach sich. Wenn das Subjekt sich, wie Butler schreibt, als sprachliche Gelegenheit des Individuums verstehen lässt, „Verständlichkeit zu gewinnen und zu reproduzieren, also die sprachliche Bedingung seiner Existenz und Handlungsfähigkeit“ (Butler 2001: 15), dann stellt Selbstthematisierung in diesem Sinne eine mehr oder weniger institutionalisierte, auf Dauer gestellte Triebkraft der Subjektivie-

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rung dar. Das Subjekt „spricht sich selbst, wird aber dadurch erst, was es ist“ (Butler 2007: 118). Biografien sind immer „selektive Vergegenwärtigungen“ (Hahn 1987: 13) (und damit nicht etwa Verdopplungen der Realität), worin bereits zwei zentrale Aspekte anklingen: Erstens handelt es sich um eine Auswahl, zweitens um einen Akt, der immer dem aktuellen Augenblick, nicht aber der tatsächlichen Vergangenheit verpflichtet ist. Biografisches zeichnet sich durch situationsspezifische Selektivität aus (vgl. Abraham 2002: 139), so dass nicht jedes jedem zu jeder Zeit und in jeder Situation mitgeteilt wird. Dabei stehen in jeder Kultur und jeder Zeit jeweils andere Prozeduren zur Verfügung, um sich zu entwerfen und umzudeuten und gleichzeitig die Anreize dafür zu bieten, das auch zu tun, da es im Grunde eher unwahrscheinlich ist, von sich heraus das Bedürfnis zu verspüren, Rechenschaft abzulegen. „Welche meiner Akte ich nicht vergesse, welche mir nicht vergessen werden, welche Akte und Erlebnisse also zu mir gehören, ergibt sich […] auch aus den Darstellungsgelegenheiten, die die Gruppe zur Verfügung hält, in denen ein Individuum sich in sozial zurechnungsfähiger Form ‚ausdrückt‘.“ (Hahn 1987: 11) Eine große Rolle spielen dabei die von Alois Hahn so genannten Biografiegeneratoren, also „Institutionen, die eine […] Rückbesinnung auf das eigene Dasein gestatten“ (Ebd.: 12). Mit dieser kommunikativen Zurechnung von Handlungen auf sich selbst im Rahmen der Selbstthematisierung ergibt sich erst das Identitätsgefühl als unveränderbarer Kern der eigenen Existenz. Das Nacheinander und die Heterogenität verschiedenster Ereignisse werden durch die Selbstthematisierung in Form einer konsistenten Geschichte vorgeführt. Biografiegeneratoren leiten durch diese institutionalisierte Etablierung (sub)kulturell geteilter Selektionskriterien die allgemein verbindliche Umwandlung von Lebensläufen in Biografien an und transformieren auf diese Weise die „Gesamtheit von Ereignissen und Erfahrungen, Passagen, die ein Mensch gemeinsam mit anderen durchläuft […], in einen Text, der den Lebenslauf explizit zum Thema macht“ (Etzemüller 2012: 183). Durch diese Transformation und damit die Bindung der Akte und Erlebnisse, „die zu mir gehören“ wird zugleich Konsistenz, Einheitlichkeit und Identität hergestellt, Brüche werden geglättet, und die Handlungen und Gedanken (diese und keine anderen) damit an die Person (diese, und keine andere) gebunden. Es geht bei alledem wohlgemerkt nicht primär um die Frage, welches konkrete Selbst sich (mit welchen positiven oder negativen Eigenschaften auch immer) zum Thema macht, sondern dass und wie dies unter welchen Rahmungen geschieht, auf welche Weise also „dieses Interesse am Selbst entsteht, wie und unter welchen Bedingungen das Selbst überhaupt ‚auf den Tisch kommt‘.“ (Vester 1984: 2). Die „Modi des Sagens und Schreibens“ (Hahn 1987: 16) wer-

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den von Hahn dabei unter anderem entlang der Fragen unterschieden, ob die Selbstthematisierung nun schriftlich oder mündlich erfolgt, ob sie öffentlich vorgenommen wird oder geheim bleibt, ob sie freiwillig vollzogen oder von externen Instanzen erzwungen wird. Die einschlägigsten Beispiele in diesem Zusammenhang sind Beichte und Psychoanalyse, genauso lassen sich aber beispielsweise auch Talkshows oder Castingformate darunter fassen (vgl. Reinhardt 2006: 234 ff.) sowie – wie dieser Beitrag argumentiert – andere massenmediale Erzeugnisse, die den Rahmen der Hervorbringung popkultureller Akteure bilden: Songtexte, Interviews, Aktivitäten in sozialen Netzwerken, Künstlerautobiografien u.ä. tragen aus dieser Perspektive zur Produktion und Reproduktion einer Subjektform des „Gangsta-Rappers“ bei sowie zur Aneignung dieser Gestaltungsform. Die Sprecher im Genre des Gangsta-Rap sind gewissermaßen als Virtuosen der Selbstthematisierung zu betrachten, die „in besonderer Weise geschult [sind], über sich selbst nachzudenken, sich zu beobachten und auf das eigene Selbst zu achten, das eigene Leben kontinuierlich zu thematisieren. “ (Burkart et al. 2006: 313), was sich nicht nur in den Liedtexten selber zeigt, sondern ebenso in der sie einrahmenden Inszenierung – bis hin zur Selbstdarstellung in sozialen Netzwerken oder explizit literarischen Autobiografien (vergleiche den Beitrag von Seeliger in diesem Band). Das Genre des Gangsta-Rap ist in diesem Sinne ein Angebot, das eigene Leben und Erleben freiwillig und öffentlich zum Thema zu machen und damit in eine Ordnung der Lesbarkeit für sich und andere zu überführen. Gangsta-Rap zeichnet sich nicht alleine dadurch aus, eine „Kultur von Produzenten“ (Klein/Friedrich 2011: 10) zu sein, sondern stellt als Genre vielmehr eine Kultur der Selbstproduktion dar und leistet damit einen Beitrag zur Subjektivierung seiner Akteure. Das heißt im Grunde: Nicht nur die Themen des Gangsta-Raps – das heißt beispielsweise Körperarbeit, Leistungsbereitschaft, finanzieller Erfolg und andere Spielarten des Neoliberalismus – verweisen auf die Technologien des Selbst, sondern die Arbeit am Selbst setzt vielmehr eine Ebene höher ein: auf dem Akt des Aussprechens an sich. Selbsttechnologien sind nicht nur favorisierte Inhalte des Gangsta-Raps, sondern „über sich selbst rappen“ ist seinerseits Identitätsarbeit. Das auf Selbstthematisierung fokussierte Genre des Gangsta-Rap lässt sich deshalb in Anlehnung an Dietrich und Seeliger (2013) als „ambivalente Subjektkultur“ beschreiben, auf deren Inszenierungslogiken die Akteure in unterschiedlicher Weise zugreifen, deren Produkte per se polysem angelegt sind und die im Weiteren von Rezipienten in unterschiedlicher Weise angeeignet wird. Die Gedächtniswürdigkeit der individuellen Handlungen und Einstellungen bei der Aufdeckung der eigenen Vergangenheit und damit der Umwandlung von

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Lebenslauf in Biografie wird in der Regel von der Gruppe vorgegeben, und das ist im Fall des Raps einerseits die Öffentlichkeit – die sich wiederum aus anwesenden oder dispersen Publika, aus den (musik)journalistischen Teilen der Medien usw. zusammensetzt –, andererseits auch die konkrete persönliche Bezugsgruppe und das eigene (Herkunfts-)Milieu. Formen von Selbstthematisierung im Gangsta-Rap finden bei mehr oder weniger institutionalisierten Gelegenheiten statt, die in unterschiedlicher Form vor unterschiedlichen Publika abgehalten und von diesen zugleich geprägt werden. Je institutionalisierter die Selbstthematisierung vonstattengeht, je mehr sie von einem Netzwerk von Regeln und Normen begleitet wird, desto stärker spiegeln sich in ihr die gemeinsam geteilten kulturellen Vorstellungen wider. Nun ist der Rahmen, in dem das eigene Leben vermittelt wird, im Gangsta-Rap zunächst nicht derart expliziert wie in der Beichte (in Form des Sündenspiegels) oder der Psychoanalyse (in Form von Lehrbüchern, aber auch dem Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, welches psychopathologische Symptome kategorisiert und den – von Ausgabe zu Ausgabe zahlreicher werdenden – Krankheitsbildern zuordnet), er ergibt sich jedoch implizit aus den Genrekonventionen. Denn auch hier folgt die Selbstthematisierung mehr oder weniger greifbaren Normen, in die sich, wie in allen Biografiegeneratoren, „Wertvorstellungen, Wirklichkeitsauffassungen, Richtigkeits- und Wichtigkeitskriterien“ (Hahn 1987: 11) eingeschrieben haben. Diese Leitschemata werden auf verschiedene Weise hervorgebracht und reproduziert: Durch die Texte der Künstler, ihre Performance, durch Musikvideos und gegenseitige Referenzen, aber auch durch Fankulturen, Szenejournalismus und sonstige Metatexte. Darunter lassen sich beispielsweise Werte wie Authentizität und Ehrlichkeit, Maskulinität, Luxus und Erfolg verstehen, gleichzeitig aber auch Selbstverantwortung sowie die Unabhängigkeit von klassischen Institutionen (beispielsweise dem Bildungssystem, der Polizei oder anderen staatlichen Institutionen). Es werden also letztlich immer diejenigen Aspekte der eigenen Vergangenheit ausgewählt und betont, die mit diesen Kriterien konformgehen und sich in Schablonen einfügen sollen, die dem Subjekt zunächst äußerlich sind: „Das Individuum muss die mit diesen Zonen verknüpften Erwartungen öffentlich darstellen, um sich als Subjekt herzustellen“ (Alkemeyer et al. 2012, 18 f.), wodurch die Normen und Werte der jeweiligen Situation Teil des Individuums werden. Im Gangsta-Rap favorisierte biografische Horizonte wie die Erfahrung von aktiver und passiver Gewalt, oder auch sexueller Erfolg (bis hin zur Misogynie), tarnen sich zwar häufig als Emanzipation von allgemein gültigen Normen, befinden sich jedoch immer exakt in den vom Genre vorgegebenen Grenzen. Auch im Gangsta-Rap existieren Tabus, deren Bruch entweder zu negativer Rezeption oder aber schlicht zur Einordnung in ein

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anderes Genre führen würde: beispielsweise abweichende Formen von Sexualität oder besonders abseitige Verbrechen. Wie und warum sich die Normen der Selbstthematisierung im Gangsta-Rap dennoch in einem stetigen Wandlungsprozess befinden und sich durch ihre Einhaltung einerseits reproduzieren, anderseits immer auch leicht variieren, soll Inhalt des letzten Teils dieses Beitrags werden. Zunächst soll aber aufgezeigt werden, wie im Gangsta-Rap ganz im Sinne der klassischen Biografiegeneratoren Identität „in Ordnung“ gebracht wird, und welche Funktion dies für die Sprecher erfüllt.

K OHÄRENZ

DER

B IOGRAFIE

IM

G ANGSTA- RAP „Und die Zeit rast weiter, doch ich halte sie an, denn ich weiß noch genau, wie das alles begann. “ KOLLEGAH - GENOZID

Die im Fall von Individualisierung auftretende Doppelfigur von Freiheit und Verantwortlichkeit betrifft in besonderem Maße die Erwerbsbiografien, die zwar zentrales Merkmal von Identitäten werden (Beck 1988: 215), andererseits jedoch eben „Drahtseilbiografien“ (Beck 1994: 29) gleichen. Im Vergleich zu tradierten Formen der Lebensführung kommt es daher aufgrund der gesteigerten sozialen Komplexitätsgrade zu einer tiefgreifenden Verunsicherung (vgl. Vester 1984: 23) sowie einem größeren Druck in Richtung einer Selbstverwirklichung und -vergewisserung, denn erst „die wachsende Zunahme von Wahlmöglichkeiten und Optionen verlangt nach ständiger Selbstvergewisserung und Abklärung der persönlichen Ziele und Möglichkeiten: Ist das noch mein Weg? Was verpasse ich? Was will ich noch realisieren?“ (Abraham 2002, 148 f.). Vor diesem Hintergrund kann Selbstthematisierung gerade in prekären Lebenssituationen als kommunikative Ausdrucksform von Einzigartigkeit, Unabhängigkeit und Selbstreflexion verstanden werden, deren Intensität, Relevanz, Häufigkeit und Institutionalisierung im Zuge von Individualisierungsprozessen und Exklusionserfahrung zunimmt: „Prozesse der Destabilisierung und der schwindenden sozialen Integration verlangen eine verstärkte Stabilisierung der eigenen Person.“ (Abraham 2002, 148 f.). Alois Hahn spricht in seinen Arbeiten zur Selbstthematisierung dementsprechend von der „Geburt der Autobiografie aus der Erfahrung der Selbstentfremdung“ (Hahn 2000, 111 f.).

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In seinen Erscheinungs- und Ausdrucksformen kann dem Gangsta-Rap ein ausgeprägtes Verlangen nach einer verstärkten Stabilisierung der eigenen Person sowie Momenten der Widerständigkeit attestiert werden, was sowohl für die Künstler wie auch für das Publikum gilt. Als Subgenre des HipHop entstammt der Gangsta-Rap den Ghettos amerikanischer Großstädte (siehe zur Entwicklungsgeschichte u.a. Toop 2000). Guter Rap gedeiht im Dreck, ein Albumtitel des Rappers Mach One, verweist anschaulich auf einen zentralen Topos der deutschen Gangsta-Rap-Szene: der Thematisierung eines von sozialer Ungerechtigkeit und Kriminalität geprägten Lebensalltags in sozialen Brennpunkten der zusammen mit der Notwendigkeit zur Selbstbehauptung gegenüber einer feindlichen Umwelt den Nährboden für Künstler, sich zu entwerfen und umzudeuten, sowie für eine Rückbesinnung auf das eigene Sein im Sinne Hahns bildet. Mit der Erzählung ihrer Lebensgeschichte versuchen die Sprecher, „entweder ihr Leben in einen konsistenten Zusammenhang zu bringen und sich die Geschichte ihrer Veränderungen zu erklären, oder aber […] Zusammenhänge in der Erzählung zu vermeiden oder geradezu aufzulösen, sofern diese bedrohlich und unangenehm sind.“ (Rosenthal 1995: 133) Mit Blick auf das vorangestellte Zitat besteht ein zentrales Erfordernis biografischer Selbstthematisierung in der Herstellung von Kontinuität und Kohärenz (vgl. Abraham 2002: 147). Durch die Selbstthematisierung wird die Kontingenz von Lebensläufen in das kohärente Narrativ einer Biografie transformiert (vgl. Etzemüller 2012: 185). Akte der Selbstthematisierung stellen – nicht zuletzt vor dem Hintergrund einer „Steigerung der Konsistenzanforderung“ (Hahn 1987: 17), das heißt durch Notwendigkeit, das Selbst ohne Brüche darzustellen – mittels Kommunikation identitäre Einheit her, und dies vor allem dort, wo Unsicherheit und Differenz überwiegt. Konsistenz wird mittels narrativer Rückschau nach außen vermittelt und nach innen erlebt. Dies betrifft insbesondere den Akt der Verwurzelung der eigenen Identität in der Vergangenheit, sei es individuell (im Verweis auf die eigene Sozialisation in Kindheit oder Jugend) oder überindividuell (im Verweis auf Tradition oder Kontexte kultureller Herkunft). Die dargestellten Prozesse in Verbindung mit einer kohärent vorgetragenen Biografie werden nun nachfolgend an ausgewählten Beispielen aus der Gangsta-Rap-Szene dargestellt. Entlang der deutschen Gangsta Rap-Geschichte gibt es zahlreiche Beispiele, in denen Rap als Sprachrohr für die Vermittlung der eigenen sozialen Herkunft und, damit zusammenhängend, sozialer Ungleichheiten dient. Der 1997 veröffentlichte Song Mein Leben der Formation 4 4 Da Mess ist ein Beleg dafür: Im Sinne selektiver Vergegenwärtigungen des Sprechers wird die Tristesse des Straßenlebens und des Lebensalltags eines Jungen in den sozialen Brennpunkten Berlins explizit zum Thema gemacht. Der Dokumentarfilm Westside Kanaken

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aus dem Jahr 2009, in dem das Filmteam über den Zeitraum eines Jahres den Lebensalltag einzelner Kölner Gangsta-Rapper wie Eko Fresh, La Honda, Karakan, Bero Bass etc. begleitet, stellt ein weiteres Anschauungsbeispiel dar: Zahlreiche Interviews und Auszüge aus Songtexten der Protagonisten verdeutlichen deren Ansichten und Ziele sowie Beweggründe für und den Stellenwert von Gangsta-Rap in einem von prekären Lebensumständen geprägten Alltag. Die eigene soziale Herkunft, gesellschaftliche Widerstände, kriminelle Strukturen, soziale Ungleichheit sowie prägende Personen und Ereignisse aus dem eigenen Leben liefern die Inhalte ihrer Songs. Gleichzeitig wird die Zurschaustellung des eigenen biografischen Projekts inmitten sozial ungleicher Verhältnisse sichtbar. Die Zeile „Loyalität und Fleiß, wir wussten, dass wir’s schaffen“ aus dem Song Genozid des Gangsta-Rappers Kollegah, in dem der Künstler einen strukturierten Streifzug durch seine bisherige Musikkarriere über einen Zeitraum von ca. 11 Jahren vollzieht, verweist beispielsweise auf den sozialen Aufstieg und das Werden des Künstlers und ist eingebettet in die Thematisierung der zu Beginn schlechten Studiobedingungen, des Scheiterns bei Live-Auftritten, des „Erfolgsdrangs“, des Umgangs mit Neidern oder wichtigen Bezugspersonen. Hier werden das Nacheinander und die Heterogenität unterschiedlicher Ereignisse, des Scheiterns und Haderns durch die Nacherzählung des Werdegangs in Form einer konsistenten Geschichte präsentiert und bilden einen kommunikativen Ausdruck der Verwurzelung der eigenen Identität in der Vergangenheit, und zugleich wird das bislang Erlebte einer Bilanzierung unterzogen. Auf Basis der dabei gewonnenen Erkenntnisse fungiert das Ergebnis dieser Bilanz sogleich wieder als Triebkraft und Quelle für die zukünftige Ausgestaltung der Künstlerperson. Gangsta-Rap als Biografiegenerator versetzt damit die Künstler in die Lage, den eigenen Veränderungswillen und/oder die Transformation des eigenen Lebensweges zu rekonstruieren – ganz im Sinne der Foucaultschen Selbsttechnologien, in deren Kern sich die Notwendigkeit findet, regelmäßig „ins Zwiegespräch mit sich selbst zu treten, sich auf seine Vergangenheit zu besinnen, sich das verflossene Leben als Ganzes vor Augen zu stellen, sich durch Lektüre mit den Vorschriften und den Beispielen vertraut zu machen, an die man sich halten will, und endlich, durch ein nüchtern geführtes Leben, zu den Grundprinzipien eines vernünftigen Verhaltens zurückzufinden.“ (Foucault 1995: 70) Wie die Bilanzierung findet das Hadern mit der eigenen Biografie sowohl in Songs, zunehmend aber auch in den bereits angesprochenen Social-Media-Kanälen und übrigen Internetplattformen statt. Der Gangsta-Rapper Haftbefehl zieht in einem Interview im Rahmen des Formats Toxik trifft1 Resümee über sein bisheriges Le-

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Das Format wird auf dem HipHop-Portal Hiphop.de ausgestrahlt. In Toxik trifft führt

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ben, spricht über Verlockungen und den Versuch, ein guter Mensch zu sein. So rät er den Zuschauern davon ab, ein Leben auf der Straße, geprägt von Kriminalität und abseits von Schule und Elternhaus einzuschlagen. Durch die Gestaltung von Sprechverhalten, Rhythmus, Wortwahl und Stimme kann sich der Gangsta-Rapper in seinen Songs als souverän und überlegen inszenieren. Ebenso können durch Sprachbilder und Soziolekte Reminiszenzen an die eigene soziale Herkunft, beispielsweise an den Migrationshintergrund oder die Kultur der unteren Schichten, vollzogen werden. Gangsta-Rapper wie Haftbefehl, Celo & Abdi oder Nimo nutzen Straßenslang in ihren Songs als eine auf ihre persönliche Geschichte verweisende Kunstform (z.B. Chabos wissen wer der Babo ist, Hinterhofjargon, Meine Stadt etc.): Die Verwendung von Begriffen wie Chabo, Babo, Azzlack, Amo, und Miskin stellt teilweise einen Mix aus mehreren unterschiedlichen Sprachen (Türkisch, Arabisch, Kurdisch, Bosnisch usw.) dar, so dass auf diese Weise die gemeinsame kulturelle Erfahrung, Lebensalltag und -wirklichkeit, sowie das soziale Miteinander in den jeweiligen Stadtbezirken und damit auch die Identität des Sprechers widergespiegelt werden.

ALLTÄGLICHKEIT

DER

ABWEICHUNG IM G ANGSTA-R AP „Ich habe Deutschrap kaputtgemacht.“ BUSHIDO – GANGSTA

Verschiedene Biografiegeneratoren schwanken zwischen dem Fokus auf Alltäglichkeit bzw. Konformität mit gewissen Normen auf der einen Seite und auf Außeralltäglichkeit bzw. abweichendes Verhalten auf der anderen Seite. Die Thematisierung des Alltags selber (das heißt: die Thematisierung nicht nur der großen Wendepunkte des Lebens, sondern auch der Banalitäten), geschieht im Gangsta-Rap nicht zuletzt durch die begleitenden Interviews, die in einschlägigen Interviewportalen (z.B. hip.hop.de, rap.de, 16bars.de) veröffentlicht werden. Hier äußert sich Kollegah zu seinem Schlafverhalten, Haftbefehl und Xatar philosophieren über kulinarische Gegebenheiten bei der täglichen Studioarbeit und Bushido spricht über seine Vorliebe für Binge-Watching-Sessions alter Ausgaben der Talkshow Britt – Der Talk um Eins. Aus Perspektive der Klassiker ist dies von besonderer Bedeutung für die gelungene Selbstthematisierung: „nicht

Tobias Kargoll Interviews mit Künstlern aus der Rap-Szene. Themen sind zumeist die eigene Biografie, Karriere, Musikgeschmack, zukünftige Pläne, etc.

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weil so Wichtiges geschehen wäre, sondern gerade weil [der Tag] so ähnlich war wie alle anderen Tage und damit nicht von der Bedeutung einer Tätigkeit zeugt, sondern von der Beschaffenheit einer Lebensweise“ (Foucault 2012: 63), wie es an einer Stelle von Über sich selbst schreiben heißt. Die Selbstthematisierung selber kann wiederum gerade in außeralltäglichen Kontexten stattfinden (klassischerweise der Beichtstuhl oder Freuds Couch). Im Falle des Gangsta-Raps schafft gerade der in sich abgeschlossene Song, das Interview oder der zeitlich exklusive und sichtbar gerahmte Bühnenauftritt einen Ort der Biografiegeneration, welcher den Rest des Erlebens unterbricht. Deshalb ist die Autobiografisierung im Gangsta-Rap nicht das gleiche wie ein privat geführtes Gespräch, sondern wird von allen Beteiligten als außeralltäglich akzeptiert. Der extraterritoriale Raum unterbricht den Alltag und schafft einen neuen Kontext, in dem Offenheit leichtfällt; und dennoch ‒ oder gerade deshalb ‒ kann in diesen außeralltäglichen Kontexten wiederum Alltag Thema werden. Der Idealfall eines Biografiegenerators, der auf die Thematisierung von Außergewöhnlichem und Außeralltäglichem abzielt mit dem Ziel, diese Überschreitungen an die eigene Person zu binden, ist die klassische Beichte, in der Sünde als Unterbrechung der sündenfreien Idealbiografie verstanden wird. Im Kontrast dazu klopfte seit Beginn des 20. Jahrhunderts die Psychoanalyse die banale Alltäglichkeit auf für die Identität relevante Aspekte hin ab und etablierte in der Folge die Abweichung geradezu als das Alltägliche schlechthin: Der Alltag erscheint als von pathologischen Motiven geradezu durchdrungen. Die Psychoanalyse institutionalisierte darüber hinaus die Verknüpfung unterschiedlichster Aspekte des Lebens zu einer Biografie pathologischer Verfehlungen, die im Verlauf des Therapiegesprächs offengelegt werden sollte und auf diese Weise beispielsweise aktuelles Verhalten in der Partnerschaft mit der Beziehung zur Mutter in der frühen Kindheit in Bezug setzte. Im Ergebnis erscheinen Subjekte als „Inbegriff ihrer Relationen: ihrer Beziehung zur eigenen Lebensgeschichte und ihrer Beziehung zu anderen.“ (Schneider 1986: 22) Nachdem der Alltag auf diese Weise in den Mittelpunkt der Selbstthematisierung rückte, kam es im Verlauf des 20. Jahrhunderts wieder zu einem Rückgriff auf die Logik der Beichte, insofern im Zuge eines extremen Individualismus wiederum die Abweichung – nun als positiv konnotierter Bezugswert – in den Mittelpunkt rückte (wie es beispielsweise Reckwitz (2011) am Beispiel der Kreativität aufzeigt). Gangsta-Rap erscheint aus dieser Perspektive als nahezu notwendige Wiederkehr der Beichte unter anderen Vorzeichen: Ähnlich wie die Beichte setzt der Gangsta-Rap nun wieder auf die Thematisierung von Abweichung gegenüber einem hegemonialen Wertekanon, nicht allerdings ohne diese Abweichung ‒ und dies anders als der Beichtspiegel ‒ positiv zu konnotieren. Hier sorgt nun gerade

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die Devianz von der Norm für den Gesprächswert und erscheint – immer streng innerhalb der Genregrenzen – als geradezu wünschenswerter Idealfall des gelungenen Selbstzeugnisses, wodurch die Sprecher unter der Erwartung stehen, den (fiktiven oder realen) Alltag der Abweichung ihres Lebensstils herauszuarbeiten. Selbstthematisierung in diesem Sinne ist zugleich immer auch Fremdthematisierung (vgl. Fassler 1997: 172), da neben der Identität des Selbst mit sich auch die Differenz zu dem, was das Selbst nicht ist und von dem abgewichen wird, deutlich gemacht werden soll. Identität als „Resultat von Selbsterfindungsstrategien“ (Becker 2000: 18) dient so nicht nur wie im vorherigen Kapitel beschrieben der Glättung intra-individueller Differenzen, sondern ebenso der Herausarbeitung und Betonung der Differenzen gegenüber anderen. Das Subjekt ist, was es ist (und war), und es ist nicht, was es nicht ist, und der GangstaRapper ist nicht nur der gleiche wie früher, sondern er war schon immer anders als der Mainstream. Die Spannung, die sich aus dieser Devianz des GangstaRappers zur bürgerlichen Normalbiografie ergibt, kann in Form von „biografischer Einzigartigkeit“ (Bonfadelli 2010: 209) wiederum in die Selbststilisierung integriert werden, und eben dies ist der Modus der Selbstthematisierung über Abweichung in diesem Genre. Auf diese Weise findet im Gangsta-Rap eine Form von Distinktion nach oben statt, in dem die Schemata der Selbstthematisierung die Funktion erfüllen, sich beispielsweise gegen Mittelstand und Bürgertum abzugrenzen. Der Verweis auf das nicht nur Populäre, sondern das Vulgäre, auf die kriminelle Vergangenheit, auf erlebte und ausgeübte Gewalt, auf Knastbiografien (z.B. in den Texten Xatars oder Veysels, oder aber auch schon im Künstlernamen „Haftbefehl“) und andere Merkmale der Außenseiterrolle dient einerseits der Selbstvergewisserung, andererseits der Provokation. Kurzum: Während in der Beichte die Unwahrscheinlichkeit der Abweichung betont werden musste und es in der Psychoanalyse um die Abweichung im Alltäglichen ‒ also um die Pathologisierung noch des scheinbar Harmlosesten ‒ ging, steht im Mittelpunkt des Gangsta-Raps die Alltäglichkeit der Abweichung, die auf Dauer gestellte Überschreitung bürgerlicher Normen im eigenen Leben. In diesem Modus der Selbstthematisierung durch Devianz im Gangsta-Rap lässt sich eine Spielart der These Foucaults (1983) erkennen, dass sich hegemoniale Strukturen nicht unbedingt darin zeigen müssen, Sprechverbote zu erheben, Zensur auszuüben oder die Aussprache der eigenen Übertretung auf andere Weise zu unterbinden; vielmehr geißele die Macht geradezu das Schweigen und animiere zum Reden. Das Perfide einer Ordnung, die sich scheinbar gegen Redeverbote wendet und dabei die Selbstthematisierung forciert, wird folgendermaßen auf den Punkt gebracht:

146 | G ERRIT FRÖHLICH UND D ANIEL R ÖDER „Alles in allem geht es darum, den Fall einer Gesellschaft zu prüfen, die seit mehr als einem Jahrhundert lautstark ihre eigene Heuchelei geißelt, redselig von ihrem eigenen Schweigen spricht und leidenschaftlich und detailliert beschreibt, was sie nicht sagt, die genau die Mächte denunziert, die sie ausübt, und sich von den Gesetzen zu befreien verspricht, denen sie ihr Funktionieren verdankt.“ (Foucault 1983: 18)

Ähnlich wie es Foucault für die 68er-Bewegung nachzeichnet, die in ihrem Imperativ, nun endlich über Sexualität zu sprechen, nur die neueste Variante einer langen Tradition von Redegeboten darstellt, werden auch im Fall des Gangsta-Raps nur vordergründig Tabus gebrochen (und wenn, dann nur die Tabus der anderen, niemals der eigene Kodex). Hintergründig ist die Betonung der abweichenden Verhaltensmuster – sei es das Zuhälterdasein, der Verweis auf die Drogenkarriere, die Gewalttätigkeit, die zur Schau getragene Misogynie u.ä. – in diesem Kontext als eine Art „sanktionsfreie Selbstenthüllung“ (Burkart 2006: 8) zu verstehen. Aus dieser Perspektive ist jedes zensierte Album, jeder Ab-18!-Aufkleber auf dem Erfolgsalbum Ausdruck jener „Verknüpfung des Verbots mit der nachhaltigen Forderung, zu sprechen, [die] ein konstantes Merkmal unserer Kultur [ist].“ (Foucault 2005: 967). Der Anreiz zur Selbstthematisierung besteht hier nicht im jenseitigen Seelenheil (Beichte) oder in der diesseitigen Gesundheit (Psychoanalyse), sondern in der Aufmerksamkeit und Anerkennung durch die persönliche Bezugsgruppe, das Publikum und die Szene, aber natürlich auch im Versprechen auf ökonomischen Gewinn und der selbsterfüllenden Prophezeiung gelungener Selbstarbeit, nämlich darin, für sich und andere glaubhaft zu vermitteln, es nun endlich vom Bordstein in die Skyline geschafft zu haben. Ist Gangsta-Rap nun letzten Endes nur eine neue Variante davon, Verfehlungen in einem scheinbar freien, letztlich jedoch äußerst normierten Rahmen öffentlicher Selbstdarstellung ans Licht zu bringen? Gegen Ende soll vor diesem Hintergrund nun noch einmal die Ambivalenz des Gangsta-Raps als Subjektkultur (Dietrich/Seeliger 2013), also das Changieren zwischen Unterwerfung und Ermächtigung unter den beschriebenen Bedingungen einer Übernahme von Normen in der Einpassung in Schablonen der Biografiegeneration diskutiert werden. So wie das Subjekt niemals fertig ist, sondern immer im Werden begriffen (es ist „in Formierung begriffene Struktur“, vgl. Butler 2001: 15), so sind auch die Formen und Motive der Subjektivierung selber im Gangsta-Rap niemals statisch, sondern fluide zu verstehen. Freist bezeichnet diesen Prozess (aus praxeologischer Perspektive) als „das spannungsvolle Zusammenspiel von Einpassung und Veränderung, von sozialer Reproduktion und Subversion, von Unterordnung und Widerstand im praktischen Vollzug“ (Freist 2012: 159). Auch

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Gangsta-Rap als Gelegenheit des Selbstentwurfs changiert deshalb ganz grundsätzlich zwischen Ermächtigung und Unterwerfung, das heißt zwischen der Einbindung der Selbstthematisierung in vorgegebene Strukturen einerseits sowie dem subversiven Spiel mit diesen Strukturen andererseits. Gangsta-Rap erschafft in diesem Sinne „sowohl einen Ort in der sozialen Welt als auch Spielräume der Gestaltung, Freiheitsgrade der Artikulation und Entfaltung und eine Folie der Strukturierung und Sinnsetzung, die auf die individuelle Übersteigerung des Vorgegebenen angelegt ist.“ (Abraham 2002: 131). Es werden durch die Rezeption der anderen Songs und Interviews einerseits vorgefertigte Subjektbilder übernommen und reproduziert, so dass hinsichtlich der genannten Rahmenbedingungen wie Maskulinität, Unabhängigkeit, Leistungsgedanken u.ä. eine Orientierung an den vorgefertigten Narrativen der Szene und des Genres erfolgt. Anderseits findet die Aneignung dieser Narrative niemals in vollständiger Deckung statt, so dass jede Reproduktion der Genrekonventionen gleichzeitig immer auch zum Unterlaufen dieser Konventionen führen kann und damit ein subversives Element enthält. Das betrifft beispielsweise Fehlinterpretationen durch die Subjekte, die bei der Übernahme von Posen und Haltungen schlicht und ergreifend scheitern, denen es nicht gelingt, beispielsweise Maskulinität auf die gleiche Weise glaubhaft zu vermitteln wie eigentlich beabsichtigt. So ließe sich in Bezug auf Bushidos Autobiografie Zeiten ändern Dich durchaus fragen, ob Sex auf dem Flokati nun tatsächlich gelungene Darstellung einer gegen bürgerliche Konventionen gerichteten rebellischen Haltung ist oder im Grunde nicht vielmehr gnadenlos scheitert – Bushido hat den Deutschrap vielleicht auf andere Weise kaputtgemacht, als vorgesehen, nämlich in Form kreativer Zerstörung, welche die Wandlungsprozesse im Genre in Gang hält. „While, a decade later, rap lyrics still tell an artist’s story, each rapper has a different one; artists no longer need to write about the ‚ghetto life‘ to be signed by a major record label. […] Today’s most successful hip-hop artists rap about everything from thrift shopping to the sheer excess of their lifestyles.“ (McNulty-Finn 2014) Eine ähnliche Dehnung etablierter Genrekonventionen lässt sich sicher auch für Kollegah behaupten, der klassische Figurationen des Gangsta-Raps durch stetige Verweise auf sein Studium immer wieder ergänzt und erweitert hat. Die Selbstinszenierung in sozialen Netzwerken beispielsweise changiert zwischen der Aufrechterhaltung der klassischen Selbstinszenierungstypologie und der deutlichen Vermittlung von Brüchigkeit. Jede Aneignung gesellschaftlicher Normen durch das Subjekt zeichnet sich letztlich durch einen „nicht anzueignenden Rest“ (Butler 2001: 33) aus, und jede Reproduktion des vorgegebenen Schemas kann das Subjekt zugleich auch in Opposition zu diesem setzen und es dadurch angreifen. Zwar kennt jeder, der für sich beansprucht, Teil der Szene zu sein, die genrespezifischen Anforderun-

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gen – zugleich bedeutet die Verbindung zur doch jeweils eigenen Lebensgeschichte sowie die jeweils eigene Kombination von Symbolen ein Moment der Varianz. Auf diese Weise differenziert sich Gangsta-Rap als Biografiegenerator stetig aus, bietet komplexere, subversivere, ambivalentere Formen der Selbstthematisierung an und öffnet sich – siehe Kollegah – beispielsweise hochkulturellen Referenzen. Im Vollzug der Autobiografisierung ist nicht immer konkret oder gar empirisch bestimmbar, inwieweit institutionalisierte Regeln bei der Konstruktion der eigenen Geschichte nun bestätigt oder aber gebrochen werden. Subversiver Umgang mit den Genrekonventionen bedeutet eben nicht nur explizite Abweichung, wie das beispielsweise in Bezug auf Frauenbilder im Hip Hop durch queeren oder feministischen Rap passiert, oder durch scheinbare Einnahme einer kontrastierenden Perspektive wie bei Schwesta Ewa (siehe dazu Reuter/Bifulco in diesem Band), die dem Genre letztlich nur das fehlende Puzzlestück einer männlich dominierten Vorzugslesart hinzufügt. Vielmehr können auch Stilmittel der Überzeichnung oder der Ironisierung der Selbstdarstellung die Konvention gleichermaßen reproduzieren wie auch unterlaufen. So nimmt Kollegah selber eine zu den eigenen Texten distanzierte Position ein und macht diese Distanz am Stilmittel der Übertreibung deutlich: „Ich ignoriere nicht, dass ich als Person des öffentlichen Lebens eine gewisse Wirkung und Verpflichtung habe. Aber Farid und ich machen in Interviews und Video-Blogs durch Humor und Sarkasmus deutlich, dass wir uns nicht bierernst nehmen. So sollte jeder ‒ auch mit einem zweistelligen IQ ‒ checken, dass es nicht für bare Münze zu nehmen ist, wenn wir sagen: Wir knallen alle Menschen ab oder schmuggeln kiloweise Heroin über die Grenzen.“ (Jozaj 2013)

Karikaturhafte Darstellungen einer kriminellen Biografie oder kriminalisierter Akteure bestätigen das Klischee, erlauben aber spielerische Restfreiheiten, durch die nicht nur die genretypischen Stilmittel, sondern eben auch die idealtypischen Biografien selber Gegenstand von Verhandlung bleiben. Und das gilt nicht zuletzt für die Rezipienten, die ihrerseits ambivalente Positionen einnehmen können, und die die genretypischen Selbstbilder teils mittragen, teils durchschauen.

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F AZIT „Foucault hätte gejuchzt. Endlich ein Artist, der kapiert, wie das funktioniert mit dem Diskurs und der Macht. Die Beschreibungssysteme schaffen Subjekte, nicht umgekehrt.“ (HAAS 2014)

Gangsta-Rap mit seiner Dominanz von Lebenserzählungen ist durchaus zu verstehen als neue, populärkulturelle Variante von „Darstellungsgelegenheiten, in denen sich das Individuum in sozial zurechnungsfähiger Form ‚ausdrückt‘“ (Hahn 1987: 11). Damit lässt sich dieser genretypische Fokus auf Selbstthematisierung erstens mittels klassischer soziologischer Begrifflichkeiten wie Selbsttechnologie, Subjektivierung oder Biografiegenerator einordnen und erklären. Genrekonventionen lassen sich vor diesem Hintergrund als „Modi des Sagens und Schreibens“ (Ebd.: 16) interpretieren und analysieren. Zweitens erfüllt Gangsta-Rap vor diesem Hintergrund ganz bestimmte Funktionen insbesondere für marginalisierte Gruppen, deren „Virtuosen der Selbstthematisierung“ (Burkart et al. 2006: 313) nun Gelegenheit zur Herstellung von Identität vor dem Hintergrund prekärer Verhältnisse haben und gleichzeitig die Differenz zu Anderen markieren können. Sie greifen dabei auf Werkzeuge wie Verweise auf die Gesamtheit der Lebensgeschichte, Darstellung des Lebens als Prozess und Entwicklung (der im Nachhinein Zielbezogenheit und Sinnhaftigkeit unterstellt werden kann), und auf Stilmittel wie Dialekte und Soziolekte zurück. Drittens stellt Gangsta-Rap auf der einen Seite durchaus den banalen Alltag in den Mittelpunkt (vor allem in Metatexten wie Interviews und Autobiografien), auf der anderen Seite aber geht es um die positive Konnotation einer Alltäglichkeit abweichenden Verhaltens, die sich in Bezug setzen lässt zu ganz klassischen Biografiegeneratoren wie Beichte und Psychoanalyse. All das bietet den Subjekten Schablonen der Selbstvergewisserung im Rahmen von Konventionen, zugleich aber noch genügend Platz für Rollendistanz und spielerische Formen von Überschreitung. Als Biografiegenerator changiert der Gangsta-Rap – wie alle Formen der Technologien des Selbst – zwischen Ermächtigung und Unterwerfung. So sehr der Imperativ der Selbstthematisierung durchwirkt ist von den Auswirkungen einer Macht, die zum Sprechen reizt, so wenig ist Verbot der Selbstthematisierung (beziehungsweise die Exklusion von Biografiegeneratoren) frei von hegemonialen Mechanismen. Wenn es sich also bei der Kultur, wie aus Sicht der Cultural Studies, um eine Arena des Klassenkampfs handelt, in der Konflikte um

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Bedeutungen, Begriffe und Darstellungsgelegenheiten und deren Lesarten geführt werden (siehe beispielsweise Hall 1999 sowie Fiske 2001), so trifft dies auch auf die Selbstthematisierung marginalisierter Minderheiten und prekärer Gruppen zu. Wer sich zum Thema machen darf, wer damit Gelegenheit bekommt, die eigene Lage auszudrücken und seine persönliche Geschichte zu verbalisieren, wem droht, „unterhalb jenes Diskurses vorüberzugehen und zu verschwinden, ohne jemals gesagt worden zu sein“ (Foucault 2001: 22), kurzum: wem Gelegenheit zur öffentlichen oder privaten Selbstthematisierung gegeben oder verweigert ist, wird ebenfalls strukturell vorgegeben und restringiert. So sehr das Über-sich-selbst-Reden im Einklang mit Normen und damit häufig subtilen Machtstrukturen geschieht: der positive Gegenpol zum Imperativ der Selbstthematisierung ist eben nicht das Schweigen. Dass Institutionen der Selbstthematisierung zum Sprechen reizen heißt nicht, dass Nicht-Sprechen automatisch emanzipatorisch wirkt – im Gegenteil. „So ist das Subjekt, das sich nicht durch und durch kennt und das nicht voll für sich einstehen kann, ein fragiles und fehlbares Subjekt der Ethik, charakterisiert eher durch seine Grenzen als durch seine Souveränität.“ (Judith Butler, zitiert nach Bublitz 2010: 68). Und nicht wenige Mitglieder marginalisierter Gruppen haben nur wenige Möglichkeiten des Zugangs zur öffentlichen Arena kultureller Kämpfe im Rahmen der Populärkultur und „werden auf immer Existenz nur haben in der zerbrechlichen Deckung jener Wörter“ (Foucault 2001: 19) – und das bedeutet in diesem Fall: im Flow.

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F ILME Schran, Peter (2009): Westside Kanaken.

L INKS Bushido Video – Gangsta https://www.youtube.com/watch?v=vW_6Snz7G78 Haftbefehl Video – 1999 Pt.3 https://www.youtube.com/watch?v=JmHmZbQLADIVilla Kollegah Video – Genozid https://www.youtube.com/watch?v=Q7ZXg3KQLt0 Toxik trifft Haftbefehl – Video https://www.youtube.com/watch?v=F1F3ey-gEmI

Die Kunstfreiheit im Falle Bushidos und Haftbefehls Zu jüngsten Indizierungen der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien T HOMAS H ECKEN

Seit es vor Gericht nicht mehr um Klagen gegen die Veröffentlichung moderner Kunstwerke (von Flaubert über Joyce bis Ingmar Bergman) geht, sind die Diskussionen um die Kunstfreiheit weitgehend eingeschlafen. Der freie kapitalistische Markt darf nun an fiktionalen und auf andere Weise künstlerisch erscheinenden Werken fast ungehindert offerieren, was es Besonderes in den Sex- und Horror-Genres gibt. In Deutschland bleibt aber ein weiteres staatliches Mittel übrig, die Produktion, Verbreitung und Wahrnehmung künstlerischer Werke zu unterbinden – der Jugendschutz. In seinem Namen können Werke aus der Öffentlichkeit verbannt werden. Jugendliche dürfen ihrer nicht habhaft werden, deshalb wird es auch für Erwachsene schwerer (wenn es ihnen auch erlaubt ist, genau das zu tun), von ihnen Kenntnis zu erlangen und sie zu erwerben. Von den Aktivitäten der zuständigen Behörde, der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM) ist dennoch wenig zu hören. Dass Verfechter moderner Hochkultur nicht von ihr betroffen sind, dürfte die Nicht-Beachtung der behördlichen Entscheidungen wiederum recht gut erklären. Ein zeitgenössischer Miller oder Burroughs läuft keine Gefahr mehr, von ihr auf den Index gesetzt zu werden. Dennoch ist es verwunderlich, dass selbst die Indizierung der CDs von Bushido („Sonny Black“) und Haftbefehl („Blockplatin“) keine größeren Diskussionen ausgelöst hat, schließlich handelt es sich bei ihnen um stark verkaufte und rezipierte Tonträger. Ihr Erfolg geht zudem nicht auf eine Anhängerschaft in verschwiegenen, unauffälligen Szenen zurück, sondern fand in einer breiteren

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Öffentlichkeit Resonanz. Musikwebsites, YouTube, Boulevardmedien, Feuilletons überregionaler Zeitungen, Nachrichtenmagazine, Fernsehsender – sie alle haben die CDs und ihre Urheber präsentiert und über sie oftmals erschöpfend berichtet. Selbstverständlich verweigern sich die Musiker auch nicht den SocialMedia-Kanälen; obwohl sie nicht viel Überraschendes dort zeigen, hat Bushido z.B. auf Facebook fast 2 Millionen ‚Freunde‘, Haftbefehl fast 800.000 (Stand August 2016).

E IN S TRAFRECHTS -U RTEIL ( ZU „S TRESS

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Im Falle Bushidos muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass ein großer Teil der jüngeren Berichterstattung in bekannten Printmedien (sowie ihren Online-Seiten) und TV-Sendern Ereignisse betraf, die staatsanwaltliche Ermittlungen nach sich zogen bzw. in diesen bestanden. Bevor die Fragen des Jugendschutzes und der BPjM untersucht werden, soll es deshalb zunächst um eine Anklage wegen u.a. „Gewaltverherrlichung“ gehen. Sie richtete sich u.a. gegen das Stück „Stress ohne Grund“1 (Shindy feat. Bushido), deren Vers „Ich schieß auf Claudia Roth und sie kriegt Löcher wie ein Golfplatz“ im Sommer 2013 tagelang die nationalen Schlagzeilen beherrschte. Die Empörung vieler Kommentatoren und Politiker war groß, rasch kam es nicht nur zu einem Indizierungsantrag bei der BPjM, sondern sogar zu staatsanwaltlichen Ermittlungen und darauf zu einem Strafverfahren. Das Amtsgericht Tiergarten lehnte allerdings die Eröffnung eines Hauptverfahrens ab und setzte fest, dass u.a. M. Ferchichi (der unter dem Namen Bushido auftritt) für die Beschlagnahme der CD und für die Durchsuchung seiner Geschäftsräume zu entschädigen sei. Zur Begründung fasste das Amtsgericht zuerst die juristisch momentan durchgesetzten Kriterien zusammen (hier und im Folgenden werden Passagen aus Gerichtsurteilen und amtlichen Beschlüssen in längeren Auszügen direkt zitiert, weil erfahrungsgemäß in kulturwissenschaftlichen Kreisen kein Vorwissen über Duktus und Begriffe der juristischen wie exekutiven Sphäre existiert, es darum wahrscheinlich von Interesse sein dürfte, diese Textgattungen einmal im Original zu lesen): „Ein Verstoß gegen § 131 StGB durch filmische oder textliche Gewaltdarstellungen ist nur dann gegeben, wenn die Schilderung einer grausamen oder sonst unmenschlichen Gewalttätigkeit gegen Menschen in einer Art erfolgt, die eine Verherrlichung oder Verharm-

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https://www.youtube.com/watch?v=rRiLys0y_t8

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losung solcher Gewalttätigkeiten ausdrückt oder sie das Grausame oder Unmenschliche des Vorgangs in einer die Menschenwürde verletzenden Weise darstellt. Im letzteren Sinne tatbestandsmäßig sind nur exzessive Gewaltschilderungen, die durch das Darstellen von Gewalttätigkeiten in allen Einzelheiten und unter Ausklammerung aller sonstigen menschlichen Bezüge die geschundene menschliche Kreatur in widerwärtiger Weise in den Vordergrund rücken und dies ausschließlich zu dem Zweck, dem Betrachter Nervenkitzel besonderer Art, genüsslichen Horror oder sadistisches Vergnügen zu bieten.“ (Amtsgericht Tiergarten, Beschluss v. 19.11.2013)

Anschließend führte das Amtsgericht die Anwendung dieser Kriterien auf den fraglichen Song (mitsamt Video) durch: „Diese Voraussetzungen erfüllen weder der Text, noch die bildliche Umsetzung von ‚Stress ohne Grund‘, weil weder die allgemein gehaltenen verbalisierten Gewaltphantasien, noch die schemenhaft in Szene gesetzte Verbringung einer Person in den Kofferraum eines Fahrzeuges, noch die angedeutete, im Ergebnis aber offen gelassene Entzündung eines Pkw, in dem sich eine (möglicherweise) noch lebende Person befindet, eine nach obigen Maßstäben hinreichend fokussierte Darstellung enthalten. Da insoweit durch die Form der Darstellung keine Verletzung der Menschenwürde auszumachen ist, kann es dahinstehen, ob die Formulierungen ‚Ich verkloppe blonde Opfer wie Oli Pocher‘ und ‚ich will, dass Serkan Tören jetzt ins Gras beißt‘ überhaupt tatbestandsmäßig sind und die Passagen ‚du wirst in Berlin in den Arsch gefickt‘ und ‚ich schieß Claudia Roth und sie kriegt Löcher wie ein Golfplatz‘ hinreichend verherrlichenden oder verharmlosenden Charakter haben, weil sich die Darstellung inhaltlich jedenfalls insgesamt noch im Rahmen der verfassungsrechtlich gewährten Kunstfreiheit bewegt.“ (Ebd.)

Im nächsten Schritt muss folglich der Umfang solcher „Kunstfreiheit“ ausgemessen werden: „Der Schutzbereich des Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG ist bezüglich ‚Stress ohne Grund‘ bereits nach dem formalen Kunstbegriff eröffnet, da die Darstellung in einer gängigen künstlerischen Ausdrucksform (Musik/Sprechgesang) erfolgt.“ Diese Rückführung der ‚Kunst‘ auf eine Aktivität, die einer Kunstgattung zugerechnet werden kann (Sprechgesang als gängiges Mittel innerhalb der Gattung Musik) müsse ausreichen. Der Grund für diese äußerst weite und nüchterne Kunstdefinition: Das Gericht möchte sich ausdrücklich einer Bewertung enthalten, ob es sich um guten oder schlechten Sprechgesang handele, weil dies verfassungsrechtlich geboten sei, um die grundgesetzlich garantierte Freiheit der Kunst nicht durch Auffassungen über die Qualität von Kunstwerken einzuschränken; auch schlechte Kunst – egal nach welchem Kriterium – ist Kunst:

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„Qualitative Bewertungen, die vorliegend bei gesellschaftsmehrheitlicher Betrachtung einer Einordnung als Kunst entgegenstehen könnten, haben als wertende Einengung des Kunstbegriffes grundsätzlich außer Betracht zu bleiben.“ Und auch aus Profitgründen hergestellte Kunst bleibt Kunst: „Der einmal eröffnete Schutzbereich des Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG wird auch nicht dadurch wieder verschlossen, dass mit dem Werk kommerzielle Interessen verfolgt werden, weil gerade dies ein Charakteristikum künstlerischer Berufsausübung darstellt.“ Die Kunstfreiheit könne „ihre Grenzen nur unmittelbar in anderen Bestimmungen der Verfassung finden, die ein in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes ebenfalls wesentliches Rechtsgut schützen“, allerdings müsse die Verletzung solcher Rechtsgüter mit Verfassungsrang „schwerwiegend“ ausfallen, damit die „Freiheit der Kunst“ beschnitten werden könne. Dies sei im Falle von „Stress ohne Grund“ nicht der Fall; im Rahmen der geforderten „Werteabwägung“ ergebe sich, „dass angesichts der allenfalls im unteren Grenzbereich strafbarer Gewaltdarstellung liegenden Textpassagen und der Notwendigkeit des Adaptierens von Gangstergehabe innerhalb des Musikgenres die Grenzen eines schwerwiegenden Eingriffs in Rechtsgüter von Verfassungsrang nicht überschritten ist.“ (Ebd.)

J UGENDSCHUTZGESETZ Anders ging die Sache nach Maßgabe des Jugendschutzes aus. Hier kam die BPjM zu dem Entscheid (der durch das Urteil des Verwaltungsgerichts Köln v. 11. April 2014 vorläufig bestätigt, durch den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts NRW v. 03.06.2015 aber wieder aufgehoben wurde; das Hauptsacheverfahren vor dem Verwaltungsgericht Köln ist noch im Gange), die CD sei zu indizieren. Die lakonische Bemerkung des Amtsgerichts Tiergarten, das sei nun einmal so im Gangsta-Rap – die „Notwendigkeit des Adaptierens von Gangstergehabe innerhalb des Musikgenres“ –, war für die BPjM und das Verwaltungsgericht Köln vor dem Hintergrund des Jugendschutzes also gerade kein Entschuldigungsgrund, mit der Konsequenz, dass die Stücke der CD an Orten bzw. in Medien, die Personen unter 18 Jahren „zugänglich“ sind, eben nicht zugänglich gemacht werden durften, wie es in § 15 des Jugendschutzgesetzes (JuSchG) heißt. Sie durften also weder auf YouTube stehen noch in CD-Geschäften offen verkauft werden, noch öffentlich dargeboten werden. Das Jugendschutzgesetz bestimmt über die Verbote der Strafgesetze (etwa die ohnehin Veröffentlichungsschranken beinhaltenden Verbote der Volksverhetzung, Gewaltverherrlichung und Pornografie) hinaus in § 18 (1):

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„Träger- und Telemedien, die geeignet sind, die Entwicklung von Kindern oder Jugendlichen oder ihre Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu gefährden, sind von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien in eine Liste jugendgefährdender Medien aufzunehmen. Dazu zählen vor allem unsittliche, verrohend wirkende, zu Gewalttätigkeit, Verbrechen oder Rassenhass anreizende Medien sowie Medien, in denen 1. Gewalthandlungen wie Mord- und Metzelszenen selbstzweckhaft und detailliert dargestellt werden oder 2. Selbstjustiz als einzig bewährtes Mittel zur Durchsetzung der vermeintlichen Gerechtigkeit nahe gelegt wird.“

Als Ausnahmen sind in § 18 (3) vermerkt: „Ein Medium darf nicht in die Liste aufgenommen werden 1. allein wegen seines politischen, sozialen, religiösen oder weltanschaulichen Inhalts, 2. wenn es der Kunst oder der Wissenschaft, der Forschung oder der Lehre dient, 3. wenn es im öffentlichen Interesse liegt, es sei denn, dass die Art der Darstellung zu beanstanden ist.“

Über die Listenaufnahme (sprich: die Indizierung) hat per Gesetz die BPjM zu entscheiden. Im Gesetz ist genau geregelt, wer ihr angehört, laut § 19 (1) setzt sie sich zusammen aus einem Vorsitz sowie Beisitzern, die von staatlichen Stellen (dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sowie den Landesregierungen) ernannt werden. § 19 (2) regelt dann genau, woher die Beisitzer zu kommen haben: aus den „Kreisen 1. der Kunst, 2. der Literatur, 3. des Buchhandels und der Verlegerschaft, 4. der Anbieter von Bildträgern und von Telemedien, 5. der Träger der freien Jugendhilfe, 6. der Träger der öffentlichen Jugendhilfe, 7. der Lehrerschaft und 8. der Kirchen, der jüdischen Kultusgemeinden und anderer Religionsgemeinschaften, die Körperschaften des öffentlichen Rechts sind“.

Genau geregelt ist ebenfalls im Jugendschutzgesetz, wer zu diesen „Kreisen“ zählt – es sind Mitglieder von Verbänden. Entsprechende Verbände haben jeweils das „Vorschlagsrecht“ für einen Beisitzer. Die „Kunst“ repräsentieren etwa gemäß § 20 (1): „Deutscher Kulturrat, Bund Deutscher Kunsterzieher e. V., Künstlergilde e. V., Bund Deutscher Grafik-Designer“, die „Literatur“ wird vertreten durch „Verband deutscher Schriftsteller, Freier Deutscher Autorenverband, Deutscher Autorenverband e. V., PEN-Zentrum“.

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AUSFÜHRUNGEN DES B UNDESVERFASSUNGSGERICHTS ZU EINER E NTSCHEIDUNG DER B UNDESPRÜFSTELLE Gegen die Entscheidungen dieses Gremiums (das auch in kleinerer Besetzung Beschlüsse fassen kann, dann muss die Entscheidung aber einstimmig, nicht nur mit qualifizierter Mehrheit ausfallen) kann selbstverständlich geklagt werden, entschieden wird über die Klage bei Verwaltungsgerichten. Deren Urteile wiederum können, wenn der Rechtsweg bis zum Ende beschritten wird, vor das Bundesverfassungsgericht gelangen. Nach wie vor grundlegend ist ein Beschluss des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts v. 27. November 1991, mit dem ein Indizierungsbescheid der Bundesprüfstelle (es ging um den als pornografisch und jugendgefährdend eingestuften Roman „Josefine Mutzenbacher“) sowie bestätigende Urteile diverser Verwaltungsgerichte überprüft wurden. Das Verfassungsgericht kommt zu dem Beschluss, dass Pornografie und Kunst sich nicht wechselseitig ausschlössen und eine Abwägung zwischen Kunstfreiheit und (dem ebenfalls Verfassungsrang zugebilligten) Jugendschutz auch dann vorgenommen werden müsse, wenn das in Frage stehende Werk schwer jugendgefährdend sei. Da es nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts auch pornografischjugendgefährdende Kunst geben kann (die Eigenschaft des Pornografischen und/oder Jugendgefährdenden also nicht automatisch zum Verlust des KunstTitels führt), ist es natürlich wichtig zu wissen, was unter ‚Kunst‘ zu verstehen ist. Das Bundesverfassungsgericht verweist darum auf seine früheren Beschlüsse, sie werden nun mit Blick auf das vorliegende Romanwerk reformuliert: Die „der Kunst eigenen Strukturmerkmale“ weise es auf, weil es das „Ergebnis freier schöpferischer Gestaltung, in der Eindrücke, Erfahrungen und Phantasien des Autors in der literarischen Form des Romans zum Ausdruck kommen“, sei. „Elemente schöpferischer Gestaltung können in der milieubezogenen Schilderung sowie in der Verwendung der wienerischen Vulgärsprache als Stilmittel gesehen werden. Der Roman läßt außerdem eine Reihe von Interpretationen zu, die auf eine künstlerische Absicht schließen lassen.“ Hier unterbleibt leider der Hinweis, ob die „Stilmittel“ – deren Verwendung bereits ausreicht, um von „Kunst“ zu sprechen – auch mit den „Erfahrungen“ des Autors in Verbindung stehen. Wäre es so, hätte das Bundesverfassungsgericht in der Absicht, einen weiten Kunstbegriff zugrunde zu legen, genau das Gegenteil vollbracht. Unter der Vorgabe einer Poetik der Expressivität („Eindrücke, Erfahrungen und Phantasien des Autors […] zum Ausdruck kommen“) könnte man nämlich bloß einen Teil aller vormodernen, modernen und postmodernen Werke aus den Gattungen der Musik, Literatur, Malerei etc. weiterhin als Kunst einstufen. Das dürfte nicht die

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Absicht des Bundesverfassungsgerichts gewesen sein, darum sind diese Ausführungen zum Künstler-Ausdruck wohl als Ungeschicklichkeit anzusehen. Klarer, unmissverständlicher werden die liberalen Grundsätze beim nächsten Punkt formuliert: Die Kunst-Kriterien und die Überprüfung, ob sie anzutreffen seien, dürften „nicht von einer staatlichen Stil-, Niveau- und Inhaltskontrolle oder von einer Beurteilung der Wirkungen des Kunstwerks abhängig gemacht werden“. Im Zusammenhang des Jugendschutzes sind die Wert- und Wirkungsfragen aber nicht ganz ausgeschlossen: „Solche Gesichtspunkte können allenfalls bei der Prüfung der Frage eine Rolle spielen, ob die Kunstfreiheit konkurrierenden Rechtsgütern von Verfassungsrang zu weichen hat.“ (BVerfGE 83, 130 [137 f.]) Eine spätere, umfangreiche Stelle des Beschlusses scheint noch stärker zu betonen, dass Wertungsfragen sehr wohl eine wichtige Rolle spielen; dort heißt es: „Weiterhin kann für die Bestimmung des Gewichtes, das der Kunstfreiheit bei der Abwägung mit den Belangen des Jugendschutzes im Einzelfall beizumessen ist, auch dem Ansehen, das ein Werk beim Publikum genießt, indizielle Bedeutung zukommen. Echo und Wertschätzung, die es in Kritik und Wissenschaft gefunden hat, können Anhaltspunkte für die Beurteilung ergeben, ob der Kunstfreiheit Vorrang einzuräumen ist.“ (BVerfGE 83, 130 [147])

Widerspruchsfreiheit wird hier erneut nur durch die Verwendung eines Modalverbs erzielt: „kann“, „können“ – es muss also nicht so sein; dann bleibt aber die Frage, weshalb diese Möglichkeit so pointiert angesprochen wird. Noch rätselhafter mutet der Einsatz des Modalverbs in den unmittelbar vorangehenden Ausführungen an: „Für die Gewichtung der Kunstfreiheit kann von Bedeutung sein, in welchem Maße gefährdende Schilderungen in ein künstlerisches Konzept eingebunden sind. Die Kunstfreiheit umfaßt auch die Wahl eines jugendgefährdenden, insbesondere Gewalt und Sexualität thematisierenden Sujets sowie dessen Be- und Verarbeitung nach der vom Künstler selbst gewählten Darstellungsart. Sie [sc. die Kunstfreiheit] wird um so eher Vorrang beanspruchen können, je mehr die den Jugendlichen gefährdenden Darstellungen künstlerisch gestaltet und in die Gesamtkonzeption des Kunstwerkes eingebettet sind.“ (BVerfGE 83, 130 [147])

Hier verliert „können“ endgültig jeden Sinn: Da es doch – wie vom Bundesverfassungsgericht selbst festgestellt – immer auf „Abwägung“ zwischen Kunst-

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freiheit und Jugendschutz ankommt, muss ein (aufgrund eines niedrigen oder hohen Grads konzeptioneller Einbindung zustande kommendes) niedriges oder hohes Gewicht ‚künstlerischer Gestaltung‘ für die „Gewichtung der Kunstfreiheit“ folgerichtig bedeutsam sein. Oder will das Bundesverfassungsgericht tatsächlich sagen, dass es andere Eigenschaften des Kunstwerks – etwa die Konzeptlosigkeit – gibt, die gleichfalls für die „Gewichtung der Kunstfreiheit“ bedeutsam sein können? Zweifellos wäre das ein sehr wichtiger Befund! Dann wären die angeführten Sätze des Beschlusses allerdings lediglich verwirrend, und man hätte sie besser nicht zu Papier gebracht. Oder soll die Passage besagen, dass die „Gewichtung der Kunstfreiheit“ willkürlich erfolgen darf oder gar muss, es darum keinerlei vorab festgelegter Kriterien bedarf? Auch dies hätte man dann einfach hinschreiben können, ja müssen. Bei den Anforderungen an die Bundesprüfstelle kommt wieder das Modalverb zum Einsatz, wenn sie und die Verwaltungsgerichte aufgefordert werden, die möglichen (nicht die tatsächlichen) Wirkungen der zu begutachtenden Werke festzustellen bzw. prognostisch einzuschätzen: „Auf seiten des Kinder- und Jugendschutzes werden sich Bundesprüfstelle und Fachgerichte im Rahmen des verfahrensrechtlich Möglichen Gewißheit darüber zu verschaffen haben, welchen schädigenden Einfluß die konkrete Schrift ausüben kann.“ (BVerfGE 83, 130 [146]) Schwieriger, als solche Spekulationen anzustellen, dürfte es fallen, eine weitere Anforderung zu erfüllen: Für das pluralistisch zusammengesetzte Entscheidungsgremium der BPjM wird als Idealziel ausgegeben, „gerade im Interesse der Kunstfreiheit sicher[zu]stellen, daß alle für die Indizierungsentscheidung maßgeblichen Gesichtspunkte gesammelt, die hierbei tragenden Werte ermittelt und zu einem Ausgleich gebracht werden“ (BVerfGE 83, 130 [149]).

Z WEI AKTUELLE I NDIZIERUNGSENTSCHEIDUNGEN DER BP J M Natürlich hat die Bundesprüfstelle auf die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes reagiert. In Ihren Entscheidungen versucht sie stets, den genannten Anforderungen gerecht zu werden. Bei ihren Begründungen zur Indizierung von Gangsta-Rap-Stücken setzt sie erstens immer wieder Textstücke ein, die ihr Bemühen, formelhaft den Kriterien zu genügen, belegen; zum einen klärt sie dabei über ihr Verständnis des Jugendschutzgesetzes sowie des Kunst-Begriffs auf, zum anderen erläutert sie die Wahrscheinlichkeit der Jugendgefährdung durch eine bestimmte Ausprägung des Gangsta-Raps. Zweitens versucht sie, diese all-

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gemeinen Punkte bei der Analyse des jeweiligen Artefaktes fruchtbar zu machen. Im Folgenden sollen diese beiden Vorgehensweisen im Einzelnen vorgestellt und untersucht werden. Als Material dienen zwei jüngste Indizierungsentscheide der BPjM, der eine betrifft Haftbefehls CD „Blockplatin“, der andere Bushidos CD „Sonny Black“. Die Ausführungen hierzu sind in zwei Abschnitte gegliedert: Erstens sollen die allgemeinen Punkte der Indizierungsentscheidungen dargestellt und analysiert werden: 1.a) Jugendschutz, 1.b) Kunstverständnis, 1.c) Wirkungsforschung, zweitens die Anwendungen und Fallanalysen, unterteilt nach: 2.a) Wirkungshypothesen 2.b) Kunstbewertung, 2.c) Kunstkonzept. 1.a) Jugendschutz. Es gehört zur Begründungspraxis der BPjM, in jedem Indizierungsbescheid Ausführungen zur Gesetzesgrundlage zu machen. Neben einer Paraphrase des Jugendschutzgesetzes weist sie wiederholt auf eigenständige ‚Weiterentwicklungen‘ hin. Charakteristisch für eine staatliche Einrichtung, bringt sie immer mehr Gegenstände unter ihre Aufsicht, sieht sie bei immer mehr Fällen Eingriffsbedarf: „Die Aufzählung in § 18 Abs. 1 Satz 2 JuSchG ist nicht abschließend. Die Bundesprüfstelle hat in ihrer Spruchpraxis weitere Fallgruppen der Jugendgefährdung entwickelt. Dazu zählen u.a. die Verletzung der Menschenwürde, die Diskriminierung von Menschengruppen, die Verherrlichung des Nationalsozialismus, die Verherrlichung von Drogenkonsum, die Verherrlichung exzessiven Alkoholkonsums und das Nahelegen von selbstschädigendem Verhalten.“ (BPjM 2015a: 11 f. sowie BPjM 2015b: 16)

Und an späterer Stelle mit demselben Gestus: „Zu den von der Spruchpraxis der Bundesprüfstelle entwickelten Fallgruppen jugendgefährdender Medien zählen auch solche, die unterhalb der Schwelle des § 130 Abs. 1 StGB (Volksverhetzung) Menschen diskriminieren. […] Unter Diskriminierung wird die Benachteiligung von einzelnen Menschen oder Gruppen (zumeist Minderheiten) aufgrund von Merkmalen wie soziale Gewohnheit, sexuelle Neigung oder Orientierung, Sprache, Geschlecht, Behinderung oder äußerlichen Merkmalen verstanden. Sie steht dem Grundsatz der Gleichheit der Rechte aller Menschen entgegen.“ (BPjM 2015a: 18 sowie teilweise gleichlautend BPjM 2015b: 24)

1.b) Kunstverständnis. Die BPjM benutzt zur Verdeutlichung ihrer Kunstauffassung stets Formeln, die sie u.a. dem Mutzenbacher-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts entnimmt (2015a: 23 sowie 2015b: 31). Der einzige Unterschied zu den in diesem Aufsatz bereits dargestellten Bestimmungen des Bundesverfas-

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sungsgerichts anlässlich der Indizierung des Romans „Josefine Mutzenbacher“ liegt darin, dass die BPjM auch eine Kunst-Definition aus einem älteren Bundesverfassungsgerichtsbeschluss anführt: „Das Wesentliche der künstlerischen Betätigung ist die freie schöpferische Gestaltung, in der Eindrücke, Erfahrungen, Erlebnisse des Künstlers durch das Medium einer bestimmten Formensprache zum Ausdruck gebracht werden. Alle künstlerische Tätigkeit ist ein Ineinander von bewussten und unbewussten Vorgängen, die rational nicht aufzulösen sind. Beim künstlerischen Schaffen wirken Intuition, Fantasie und Kunstverstand zusammen; es ist primär nicht Mitteilung, sondern Ausdruck, und zwar unmittelbarster Ausdruck der individuellsten Persönlichkeit.“ (2015a: 23 sowie 2015b: 31)

Hinter diese Passage wird von der BPjM korrekt auf das entsprechende Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das sog. „Mephisto“-Urteil aus dem Jahr 1971, verwiesen. Eigentümlich ist aber, dass nichts in Anführungsstriche gesetzt wird, im Original heißt es nämlich fast wortgleich: „Das Wesentliche der künstlerischen Betätigung ist die freie schöpferische Gestaltung, in der Eindrücke, Erfahrungen, Erlebnisse des Künstlers durch das Medium einer bestimmten Formensprache zu unmittelbarer Anschauung gebracht werden. Alle künstlerische Tätigkeit ist ein Ineinander von bewußten und unbewußten Vorgängen, die rational nicht aufzulösen sind. Beim künstlerischen Schaffen wirken Intuition, Phantasie und Kunstverstand zusammen; es ist primär nicht Mitteilung, sondern Ausdruck und zwar unmittelbarster Ausdruck der individuellen Persönlichkeit des Künstlers.“ (BVerfGE 30, 173 [188 f.])

Neben der Anpassung an die neue Rechtschreibordnung besteht die einzige Änderung der BPjM in der Ablösung von „zu unmittelbarer Anschauung gebracht“ durch „zum Ausdruck gebracht“ und von „unmittelbarster Ausdruck der individuellen Persönlichkeit des Künstlers“ durch „unmittelbarster Ausdruck der individuellsten Persönlichkeit“. So wird die Einengung künstlerischen Schaffens auf Vorgänge persönlicher Expression von der BPjM noch gesteigert – eine Anschauung, die man als völlig überholt kennzeichnen müsste, wenn man den Anspruch berücksichtigte, eine Kunst-Bestimmung zugrunde zu legen, die sich auf der Höhe der Kunstdebatten befindet und kein einseitiges staatliches Kunstverständnis etabliert. 1.c) Wirkungsforschung. Um die jugendgefährdende Wirkung bestimmter Gangsta-Rap-Stücke zu belegen, greift die BPjM wiederholt auf journalistische und wissenschaftliche Texte zurück. Aus den journalistischen Texten werden Einschätzungen der Journalisten sowie einzelner Kinder und Jugendlicher zitiert,

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die von diesen Journalisten befragt wurden. Diese Textstellen sollen belegen, dass bei den jeweils berichteten Einzelfällen (die nichts mit dem Einzelfall der indizierten CD zu tun haben) die Rezeption von Gangsta-Rap-Stücken zu gewalttätigem Verhalten führte (BPjM 2015a: 26 f. sowie BPjM 2015b: 36 f.). Zudem wird wiederholt auf wissenschaftliche Studien verwiesen. Die BPjM stützt sich, um ihre „Befürchtung“ zu „erhärten“, dass „besonders gefährdungsgeneigte Kinder und Jugendliche frühzeitig das dargestellte Diskriminierungsgebaren übernehmen“ (BPjM 2015a: 20 sowie BPjM 2015b: 29), bei ihren Einschätzungen auf wissenschaftlicher Seite auf einen Aufsatz von Pöge (2011), der wiederum diverse andere Studien resümiert oder angibt, darunter all jene, auf die sich auch die BPjM beruft. Die Ergebnisse einer ganzen Reihe nordamerikanischer Studien werden von der BPjM (2015a: 21 sowie BPjM 2015b: 30) als Zitat aus dem Aufsatz Pöges angeführt. Erwähnenswert ist dabei, dass die BPjM äußerst selektiv zitiert. Unmittelbar nach der Zusammenfassung Pöges jener nordamerikanischen Befunde heißt es nämlich in diesem wissenschaftlichen Aufsatz: „Es ist ersichtlich, dass die vorgestellten Ergebnisse generell unterschiedlich bis widersprüchlich sind. Daneben konnten kausale Erklärungszusammenhänge zwischen Musikgeschmack, -konsum und Delinquenz zum größten Teil bis heute nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden. Fraglich bleibt insgesamt auch die Übertragbarkeit auf Deutschland […]. Immerhin scheinen Anhaltspunkte dafür zu bestehen, dass manche neue Musikformen (Techno, Rave) mit Drogenkonsummustern korrespondieren und dass Rap-Musik auch mit deviantem und delinquentem Verhalten zusammenhängen kann. Für darüber hinausgehende kausale Erklärversuche scheint es keine hinreichenden empirischen Belege zu geben.“ (Pöge 2011: 284 f.)

Dies zitiert die BPjM nicht nur nicht, sie lässt es auch unerwähnt. Genau dasselbe Vorgehen zeichnet ihre Zitations- und Paraphrasetätigkeit bei der Zusammenfassung der Ergebnisse der eigenen Studie Pöges aus (BPjM 2015a: 21 f. sowie BPjM 2015b: 29 f.). In einem langen Zitat aus besagtem Aufsatz wird Pöges Hinweis darauf dokumentiert, dass in der ersten Hälfte der Nullerjahre (also ein Jahrzehnt vor Erscheinen der CDs „Sonny Black“ und „Goldplatin“) in Münster und (vor allem) Duisburg in einer bestimmten Gruppe – die gekennzeichnet sei durch einen niedrigen Sozialstatus, einen erhöhten Anteil an HauptschülerInnen, einen erhöhten Anteil an Jugendlichen mit „(vorwiegend türkischem) Migrationshintergrund“ und dadurch, dass sie einzig den „Musikstil Black Music für gut befinde“ – sich der „vermutete Zusammenhang zwischen Rap-Musik und erhöhter Kriminalität […] ganz offenkundig“ zeige (Pöge 2011:

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298). Die weiteren Ausführungen Pöges genau zu diesem Punkt, die einige Seiten später im „Fazit“ Pöges stehen, lässt die BPjM erneut unerwähnt. In diesem Fazit heißt es: „Allerdings muss an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass mit der ausgeführten Vorgehensweise keine Aussagen über Kausalzusammenhänge gemacht werden können. Die Musiktypologien können zwar als Indikatoren für Jugendszenen gelten, in denen abweichendes Verhalten häufiger oder seltener vorkommt als in anderen – um deviantes oder gar delinquentes Verhalten erklären zu können, müssen jedoch viele weitere Ursachen herangezogen werden.“ (Ebd.: 299 f.)

Wobei hier noch angemerkt werden muss, dass „viele weitere Ursachen“ ein offenkundig falscher Ausdruck ist, denn zuvor schrieb Pöge selbst ja nur von „Indikatoren“ und eben nicht von einer oder mehreren Ursachen. Folgt man also Pöge, dessen Aufsatz die BPjM auf wissenschaftlicher Seite zur ‚Erhärtung‘ ihrer Argumentation besonders herausstellt, ist eine Korrelation zwischen dem in einer bestimmten Gruppe zu einer bestimmten Zeit erhöhten Maß begangener Straftaten (und dem mitunter auch relativ hohen Maß an „Devianz“) und der zustimmenden Rezeption von „Black Music“ bzw. „Rap-Musik“ nachgewiesen, keineswegs aber ein Ursache-Wirkungs-Verhältnis, nicht einmal ein Teilursache-Wirkungs-Verhältnis. 2. a) Wirkungshypothesen. Auf wissenschaftliche Studien zu den Wirkungen der vorliegenden CDs kann die BPjM nicht zurückgreifen; offenbar sind solche auch nicht in Auftrag gegeben worden. Sie belässt es bei folgendem Verfahren: Sie gibt bestimmte Worte und Aussagen der CDs in Zitatform oder zusammenfassend wieder (ihr musikalischer Charakter wird außer Acht gelassen) und behauptet teilweise bereits, diese Worte und Aussagen seien potenziell jugendgefährdend. Zwei Beispiele von vielen dutzend möglichen: „Die Verherrlichung exzessiven Alkoholkonsums und das Suggerieren, dass dieser als einziger zum Lebensglück führen werde, kann vorhandene Hemmschwellen, die durch Erziehung und Aufklärung seitens der Eltern oder anderer Erziehungsberechtigter aufgebaut wurden, überwinden helfen oder diese zumindest herabsetzen, was im Sinne des Jugendmedienschutzes verhindert werden muss.“ (BPjM 2015b: 21) „Gewalt wird in den Liedtexten des Albums durchgängig als adäquates Mittel der Auseinandersetzung propagiert, in diesem Zusammenhang werden missliebige Personen(gruppen) mit beleidigenden Ausdrücken tituliert. Die Texte schildern und verherrlichen einen auf Gewalt und Kriminalität basierenden Lebensstil.“ (BPjM 2015a: 12)

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Im Zusammenhang der jeweiligen Stücke und der CD untersucht die BPjM dann, ob diese Textstücke ironisch, satirisch oder spielerisch eingesetzt werden. Falls das von der BPjM verneint wird, geht sie von der Gefährdung zumindest eines Teils der Jugendlichen aus: „Dass Gangster- und Battle-Rap auch, wenn nicht sogar besonders bevorzugt, von Kindern und Jugendlichen gehört wird, deren sozialen [sic] und familiären [sic] Voraussetzungen sowie Bildungserwerbschancen tendenziell problematisch bis prekär bezeichnet werden können (soziale Brennpunkte), steigert die Gefahr, dass in diesem Sinne besonders gefährdungsgeneigte Kinder und Jugendliche frühzeitig das dargestellte Diskriminierungsgebaren übernehmen und das konsequent inszenierte Auftreten der Interpreten als tatsächlich vorbildhaft annehmen.“ (Ebd.: 20)

2.b) Kunst-Bewertung. Mit der Feststellung der Jugendgefährdung steht die Indizierung aber noch nicht fest. Abgewogen werden muss noch, ob die Kunstfreiheit dem entgegensteht. In ihren speziellen Betrachtungen zu den CDs von Bushido und Haftbefehl wendet die BPjM folglich einige ihrer (selbst ‚entwickelten‘ oder von Gerichten oder Wissenschaftlern übernommenen) allgemeinen Kategorien und Richtlinien an. Hier fällt das Urteil leicht: Gemäß der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts werden die CDs von Bushido und Haftbefehl umstandslos als Kunstwerke eingestuft – sie fielen „zweifelsohne nach allen aufgeführten Kunstbegriffen unter den Schutzbereich der Kunst“ (BPjM 2015a: 23 sowie BPjM 2015b: 32). Der zuvor aufgestellte Maßstab („unmittelbarster Ausdruck der individuellsten Persönlichkeit“), der von beiden CDs keineswegs erfüllt wird, spielt bei der Subsumierung offenkundig keine Rolle mehr. Nach dieser Feststellung, dass es sich bei „Blockplatin“ und „Sonny Black“ um Kunstwerke handelt (denn es wird auf ihnen musiziert, gedichtet etc.), muss also die Abwägung vorgenommen werden. Die vom Bundesverfassungsgericht als Möglichkeit offerierten Vorgehensweisen zur „Gewichtung der Kunstfreiheit“ (BVerfGE 83, 130 [147]) werden von der BPjM dabei teilweise genutzt. Erstens werden Stimmen aus Journalismus und Wissenschaft dokumentiert, die Bewertungen des Kunstranges der jeweiligen Werke enthalten. Besonders im Falle Haftbefehls fallen diese Einschätzungen (zum Teil im überregionalen Feuilleton) sehr positiv aus (BPjM 2015b: 32 ff.). Zweitens stellt die BPjM eigene Überlegungen zum Kunst-Status an. Mit diesen setzt sie sich über die zuvor zitierten journalistischen Einschätzungen zum Teil einfach hinweg, so dass bei der Indizierungsentscheidung eine „Gewichtung der Kunstfreiheit“, die im hohen Bereich läge, nicht berücksichtigt werden muss – die BPjM stellt eben fest, dass diese ‚Höhe‘ nicht gegeben sei.

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Bei Haftbefehl werden die „zum Teil kreative[n] Wortspiele, die originelle Kombination verschiedener Sprachen“ und der „sog. Rap-Flow“ als Grund für die Einschätzung benannt, der „Kunstgehalt“ der CD sei „überdurchschnittlich“. Ein „hoher Kunstgehalt“ wird hingegen bestritten, dies verhindere „die klischeehafte Inszenierung der dargebotenen kriminellen, gewaltbereiten und sexistischen Figuren“ (ebd.: 35). Bei ihrer Einschätzung der CD Bushidos äußert sich die BPjM ausführlicher zu ihren speziellen Kunstvorstellungen: „Hinsichtlich der Würdigung des Kunstgehaltes im Verhältnis zur Jugendgefährdung ist dem Gremium der Inszenierungscharakter des Werkes durchaus bewusst. Der Interpret sieht sein Werk offenbar als Teil der gegenwärtigen Unterhaltung und so wird es auch von vielen Medien aufgenommen und verarbeitet. Einen gesteigerten Kunstgehalt, der über diesen reinen Unterhaltungsaspekt hinausginge, vermag das Gremium nicht zu erkennen. Inhaltlich erschöpfen sich die Beschimpfungen in Gewaltandrohungen, homophoben Äußerungen, sexuellen Demütigungen, diskriminierenden Formulierungen und der Propagierung eines kriminellen Lebensstils. Inhaltliche Aussagen hingegen, die in irgendeiner Form als tiefgründig oder (gesellschafts-)kritisch angesehen werden könnten, sind nicht im Ansatz vorhanden. Eine künstlerisch-reflektierte Auseinandersetzung mit dem Leben im ‚Ghetto‘, den Lebenswirklichkeiten junger Menschen und der Auseinandersetzung mit Perspektiven findet nicht im Geringsten statt.“ (BPjM 2015a: 25).

Die BPjM verengt damit den „Kunstgehalt“ auf eine sowohl realistische als auch pädagogisch-politisch-reflektierte Ausrichtung. Somit werden die Spezifika von „Sonny Black“ innerhalb des Gangsta-Rap-Genres ignoriert, keinerlei Besonderheiten der sprachlichen Form berücksichtigt und Darstellungsweisen, die sich einer irrealen Perspektive und Rollensprache verdanken, de facto aus dem Bereich der ‚gesteigerten‘ Kunst ausgeschlossen. Zudem werden die (wenn auch nicht zentralen und zahlreichen, so doch innerhalb der Songtexte vorhandenen) Reflexionen zur medialen Stellung ‚Bushidos‘ sowie zur sozialen Frage konsequent übergangen. Nicht klar wird, was die BPjM unter „reine[m] Unterhaltungsaspekt“ versteht. Im betreffenden Absatz ist zuvor vom „künstlerischen Stilmittel der Übertreibung und Verfremdung“ die Rede, das „Sonny Black“ auszeichne, ebenso der „Inszenierungscharakter des Werks“. Danach wird besagte ‚reine Unterhaltung‘ ohne „gesteigerten Kunstgehalt“ diagnostiziert (ebd.). Die Verbindung zwischen den Aussagen bleibt äußerst undeutlich. Wird der Einsatz der „künstlerischen Stilmittel der Übertreibung und Verfremdung“ mit ‚reiner Unterhaltung‘ gleichgesetzt? Abgesehen davon, dass die Differenzierung von „reine[m] Unterhal-

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tungsaspekt“ und „gesteigerte[m] Kunstgehalt“ sich mit vielen zeitgenössischen Kunst-Bestimmungen nicht verträgt, wäre es unhaltbar, „Inszenierungscharakter“, „Übertreibung und Verfremdung“ von „gesteigerte[m] Kunstgehalt“ zu trennen. Sollte dies nicht die Absicht der BPjM gewesen sein, müsste der Begriff „reine[r] Unterhaltungsaspekt“ sowie sein Verhältnis zu „gesteigerte[m] Kunstgehalt“ besser bzw. überhaupt einmal expliziert werden. Sehr klar ist hingegen die Auffassung der BPjM, einen „gesteigerten Kunstgehalt“ in inhaltlicher Hinsicht an Aussagen zu binden, die „in irgendeiner Form als tiefgründig oder (gesellschafts-)kritisch angesehen werden können“ (ebd.). Wiederum abgesehen davon, dass dies im Falle von „Sonny Black“ sehr wohl möglich ist, führt die sehr weitgehende Bindung eines „gesteigerten Kunstgehalt[s]“ an ‚Tiefgründigkeit‘ ins 19. Jahrhundert zurück und zeigt, dass die BPjM von wichtigen Strömungen der modernen Kunst (vom Dadaismus bis zur PopArt), deren Vertreter sehr oft aufs äußerste bemüht sind, Prätentionen der Tiefe und eine symbolische Aufladung des Kunstwerks zu verhindern, keine Kenntnis besitzt oder diese willentlich ignoriert. Das Verlangen nach ‚Tiefgründigkeit‘ ist als Privatmeinung oder als Haltung eines Rezensenten selbstverständlich legitim, bei einer Behörde, die verfassungsgerichtlich aufgerufen ist, einen weiten, zeitgemäßen Kunstbegriff anzulegen, jedoch deplatziert. 2. c) Kunstkonzept. Die Feststellung des künstlerischen Konzepts fällt entsprechend einseitig aus. Zu „Blockplatin“ führt die BPjM aus: „Auf textlicher Ebene beschränkt sich das künstlerische Konzept im Wesentlichen auf die klischeehafte Inszenierung der dargebotenen kriminellen, gewaltbereiten und sexistischen Figuren, die sowohl in der Rap-Szene als auch im ‚Ghetto-Lifestyle‘ wie in der kriminellen Szene tonangebend sind.“ (BPjM 2015b: 35) Wieso nicht die (heutzutage in vielen Bereichen der Kunst sowie in den Kulturwissenschaften als enorm wichtig angesehene) stilistisch-sprachliche Hybridisierung und Kreolisierung, die „Blockplatin“ kennzeichnet, mindestens gleichfalls als ‚künstlerisches Konzept‘ eingestuft wird, bleibt vollkommen unerfindlich. Das Bundesverfassungsgericht hatte im Zusammenhang der Abwägung zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz festgestellt: „Für die Gewichtung der Kunstfreiheit kann von Bedeutung sein, in welchem Maße gefährdende Schilderungen in ein künstlerisches Konzept eingebunden sind.“ (BVerfGE 83, 130 [147]) Das Bundesverfassungsgericht hatte also (selbstverständlich) nicht davon gesprochen, nur bei der Figurendarstellung sei ein ‚künstlerischen Konzept‘ zu ermitteln. Bei „Sonny Black“ werden ähnliche Möglichkeiten, die Kombination verschiedener Sprachfelder – Umgangssprache, Boulevardzeitungsprache und -zitate, Gangsta-Rap-Schlagworte und -Metaphern, Verbalinjurien, eigenwillige Vergleiche und Komposita, autoritäre Anweisungen, Anglizismen – als ‚künstleri-

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sches Konzept‘ auszugeben, nicht genutzt, obwohl dieses popliterarische Konzept leicht ersichtlich ist: In den Stücken der CD wird nichts naturalistisch ausgemalt, es gibt keine Szenen, die sich entfalten und durch ihren Aufbau und ihre Vermittlung um Plausibilität nachsuchen bzw. diese suggerieren, hier bleibt es bei der raschen Abfolge von Markennamen, ‚dirty speech‘, Binnenreimen, Lautmalereien, Phrasen, Alliterationen, Signalworten. Dass dies die ‚Jugendgefährdung‘ nicht ausschließt, steht auf einem anderen Blatt. Eine Indizierung wäre nach Maßgabe des Jugendschutzgesetzes und der gängigen Rechtsprechung sicherlich auch bei der Anerkennung eines solchen Konzepts möglich. Um die geforderte Abwägung seriös durchzuführen, ist aber eine Kenntnis zeitgenössischer Kunst und der Wertungspraxis künstlerischer und feuilletonistischer Kreise nötig.

S CHLUSS Die BPjM hat eine anspruchsvolle Aufgabe zu erfüllen. Sie muss nicht nur (was noch recht einfach ist) Spekulationen über jugendgefährdende Wirkungen medialer Werke anstellen, sondern auch noch den Kunststatus dieser Werke bestimmen. Nicht genug, ist ihr vom Bundesverfassungsgericht zudem aufgetragen, bei der Abwägung zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz in ihre Überlegungen einzubeziehen, in welchem Maße die strittigen Partien „künstlerisch gestaltet und in die Gesamtkonzeption des Kunstwerkes eingebettet sind“ (BVerfGE 83, 130 [147]). Dass es schwierig ist, all diese Aufgaben zufriedenstellend zu erfüllen, liegt auf der Hand. Leichter wird diese Aufgabe jedoch dadurch, dass im Sinne der Kunstfreiheit durch das Bundesverfassungsgericht vorgegeben ist, die zeitgenössische, plurale Sphäre der Kunst gerade nicht zu beschneiden, sondern zum Ausgangs- wie Zielpunkt der Einschätzungen zur Kunst zu machen. Hier kommt es also nicht darauf an, eine ganz bestimmte Kunstdoktrin in den Mittelpunkt zu stellen, sondern zu erkennen und anzuerkennen, dass heutzutage unterschiedliche künstlerische Verfahren von teils unterschiedlichen Akteuren des Feuilletons, der Museen, der Akademien etc. eine große Wertschätzung erfahren und als Konzepte begriffen werden (zu schweigen, wie es wäre, wenn auch noch die Einschätzungen nicht institutionalisierter Kunstbetrachter und ‒ teilnehmer Geltung zugesprochen bekämen). Es ist also überhaupt kein Problem, wenn z.B. innerhalb verschiedener renommierter Feuilletons und Akademien unterschiedliche, evtl. sogar gegensätzliche Auffassungen festzustellen sind. Es reicht ja schon im Sinne einer pluralen Kunstauffassung, wenn man erkennt, dass offensichtlich in solchen Institutionen genau diese eine oder andere (aber nicht diese weitere)

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Kunstauffassung verfochten und hochgehalten wird – beide (und evtl. auch noch eine dritte und vierte, aber eben nicht beliebig viele) zählen dann zu den durchgesetzten, anerkannten Konzepten von einigem Wert, deren Kunstfreiheit hoch zu veranschlagen ist. Dadurch, dass die BPjM sich mitunter darüber hinwegsetzt – indem sie z.B. entsprechende feuilletonistische Einschätzungen verwirft – und meint, zu eigenen, besonderen Auffassungen „gesteigerten Kunstgehalts“ kommen zu müssen, macht sie sich ihre Aufgabe aber wieder selbst unnötig schwer. Dieser schweren Aufgabe ist sie gegenwärtig offenkundig nicht gewachsen, wie man an ihren Ausführungen zum Kunststatus der beiden CDs erkennen kann. Über eine breite Kenntnis heutiger, in Kunst-Institutionen teilweise durchgesetzter ästhetischer Wertungsgründe und künstlerischer Konzepte verfügt sie nicht. Das wäre aber, folgt man dem Bundesverfassungsgericht, die Voraussetzung, über die Kunstfreiheit zu befinden.

L ITERATUR BPjM (2015a): Entscheidung Nr. 6055 vom 09.04.2015 bekannt gemacht im Bundesanzeiger AT vom 30.04.2015 [zur CD „Sonny Black“], Bonn (Ms.). BPjM (2015b): Entscheidung Nr. 6084 vom 01.10.2015 bekannt gemacht im Bundesanzeiger AT vom 30.10.2015 [zur CD „Blockplatin“], Bonn (Ms.). Pöge, Andreas (2011): Musiktypologien und Delinquenz im Jugendalter. In: Soziale Welt, Jg, 62. S. 279‒304.

„Warum tun wir uns so was an?“1 Deutscher Gangsta-Rap im Feuilleton B ENJAMIN B URKHART

E INLEITUNG Gangsta-Rap und Feuilleton – geht das zusammen? Zumindest wurde deutschen Vertretern des Genres in jüngerer Vergangenheit wiederholt eine überaus breite mediale Aufmerksamkeit zuteil, die den Rappern durchaus Präsenz in den sogenannten ‚Qualitätsmedien‘ bescherte. Allein im Jahr 2015 sorgten nicht nur die kommerziellen Erfolge vieler Künstler für ein erhöhtes mehrheitsgesellschaftliches Interesse, sondern beispielsweise auch die Verstrickung Deso Doggs mit dem sogenannten ‚Islamischen Staat‘ oder die Haftbefehl-Parodie des ZDF-Moderators Jan Böhmermann. Gedacht sei ferner an den Tod Tuğçe Albayraks im November 2014, als der für den Totschlag an der Studentin mutmaßlich Hauptverantwortliche öffentlich preisgab, ein Fan Haftbefehls zu sein und dessen Musik als großen Einfluss zu betrachten. Diese Beispiele machen deutlich: deutscher Gangsta-Rap ist ein Thema für die breite Öffentlichkeit. Wenngleich die bekennende Vorliebe für das Genre in ‚bildungsbürgerlichen‘ Kreisen tendenziell auf Ressentiments stoßen mag (vgl. Seeliger 2013: 10), und auch wenn Gangsta-Rap in der mehrheitsgesellschaftlichen Wahrnehmung womöglich noch immer als Medium sozial Benachteiligter gilt (vgl. Dietrich/Seeliger 2012: 24; Straub 2012: 10), so reicht die Faszination für den Gegenstand weit über szeneinterne Kreise hinaus. Daher sind es längst nicht mehr nur Special-Interest-Medien, die sich mit Gangsta-Rap deutscher Provenienz befassen, denn schließlich gehören Rapper wie Bushido, Haftbefehl

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Rabe 2015a (o.S.).

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und Kollegah gegenwärtig zu den kommerziell erfolgreichsten deutschen Musikern. Ihre Popularität und ihre polarisierenden Images machen sie auch für die Boulevardpresse und selbst für die überregionalen ‚Qualitätsmedien‘ interessant, die der Thematik bereits seit einigen Jahren Platz einräumen (vgl. Dietrich/Seeliger 2012: 22). Die Präsenz des deutschen Gangsta-Rap in den Feuilletons steht im Zentrum des vorliegenden Artikels. Die leitenden Fragen dabei lauten: Wie gehen Medienvertreter, deren Profession für gewöhnlich die Auseinandersetzung mit Erzeugnissen sogenannter ‚Hochkultur‘ erfordert, mit einer Spielart der populären Musik um, die mit ihren Text- und Bildwelten vor allem jenseits des Szenediskurses seit jeher für Kontroversen sorgt? Wird im Feuilleton ein analytischer Umgang mit deutschem Gangsta-Rap gepflegt? Welche auch normativen Perspektiven sind erkennbar? Welche Rolle spielt die Musik, welche die Texte? Um diese Fragen beantworten zu können, wird ein qualitativ empirischer Ansatz gewählt. Die inhaltsanalytische Auswertung ausgewählter journalistischer Texte aus geeigneten Onlinemedien soll Einblicke in den Diskurs über deutschen Gangsta-Rap geben, wie er in den Feuilletons der überregionalen ‚Qualitätsmedien‘ geführt wird. Auf diesem Wege sollen die zentralen Themen, Haltungen und Wertungen des feuilletonistischen Diskurses rekonstruiert und systematisiert werden, um ein empirisch gestütztes Fundament für Forschungen zur feuilleton-medialen Repräsentation des deutschen Gangsta-Rap zu schaffen.

Z UR T ERMINOLOGIE Dieses Vorhaben setzt zunächst die Klärung zentraler Begrifflichkeiten voraus. Während der Terminus „Feuilleton“ vergleichsweise eindeutig als „Kulturteile von Tageszeitungen“ (Palm/Wolff 2013: 88) definiert und „die redaktionelle Bearbeitung kultureller Ereignisse und Themen“ (ebd.) als Aufgabe der Journalistinnen und Journalisten formuliert werden kann, birgt der Begriff des „Qualitätsmediums“ ungleich größere Probleme – es liegt eine „Definitionsschwierigkeit“ (Blöbaum 2011: 49) vor. Das liegt grundsätzlich daran, dass eine Qualitätszuschreibung immer bereits ein Werturteil in sich birgt und sich folglich der Objektivierbarkeit entzieht (vgl. Bucher 2003: 12). Die einschlägige Sekundärliteratur gibt indes einige Indikatoren journalistischer Qualität an die Hand, die zumindest Möglichkeiten zur Eingrenzung bieten. Dem Kommunikationswissenschaftler Bernd Blöbaum zufolge sollten ‚Qualitätsmedien‘ über hohes kulturelles und symbolisches Kapital verfügen, Journalisten anderer Medien Orientierung bieten und sich durch die Bearbeitung von Inhalten aus vielfältigen gesellschaftlichen Bereichen vermittels unterschiedlicher Darstellungsformen aus-

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zeichnen, die von eigenen Angestellten produziert werden (vgl. Blöbaum 2011: 53) – zudem bedürfe es einer inhaltlichen Spezialisierung der Ressorts (vgl. Blum 2011: 9 f.). Die Boulevardpresse hingegen zeichne sich als Gegenpart durch einen hohen Bildanteil und kürzere Texte sowie durch einen gewollt simplen Sprachstil aus. Der Fokus liege auf Simplifizierung, Emotionalisierung und Spektakularisierung, ebenso auf melodramatischer Berichterstattung beispielsweise über das Privatleben von Prominenten (vgl. Daschmann/Landmeier 2011: 178 ff.). Dies steht dem Anspruch an Aktualität, Neutralität, Relevanz, Selbstreflexion und Fairness eines ‚Qualitätsmediums‘ entgegen (vgl. Imhof/ Kamber 2011: 135). Letztlich aber gestaltet sich die Definition eines ‚Qualitätsmediums‘ ohne Zuhilfenahme (inter-)subjektiver Maßstäbe als äußerst schwierig. ‚Qualitätsmedien‘ seien schließlich auch „Prestigemedien, weil sie gewachsene Reputation“ (ebd.: 143) hätten, die sich freilich nicht einfach quantifizieren lässt. Die Auswahl von ‚Qualitätsmedien‘ für qualitative empirische Forschungsprojekte sollte sich demzufolge an den genannten Indikatoren orientieren.

P OPULÄRE M USIK IM S PIEGEL VON S ZENE - UND ‚Q UALITÄTSMEDIEN ‘ „Was wir über die populäre Musik in unserer Gesellschaft wissen, wissen wir aus den dafür zuständigen Massenmedien, den Popmusikmagazinen“ (Doehring 2011: 7) – so charakterisiert André Doehring, freilich in Anlehnung an das bekannte Luhmannsche Diktum (Luhmann 1996: 9), die Relevanz des öffentlichen Sprechens über populäre Musik. Tatsächlich haben sich in den letzten Jahren gerade Special-Interest-Popmusikzeitschriften als probates Quellenmaterial erwiesen, um sich empirisch den genrespezifischen ästhetischen Dimensionen populärer Musik anzunähern (Diaz-Bone 2010; Pfleiderer/Zaddach 2014). Dies scheint naheliegend, da Musik schließlich nicht per se Bedeutung trägt, sondern diese diskursiv, und daher sprachlich vermittelt an das Klanggeschehen herangetragen wird – (populäre) Musik bedarf der verbalen Vermittlung, um für ihre Hörerinnen und Hörer bedeutungsvoll zu werden. Ein solches (Be-)Sprechen findet in Musikmagazinen regelmäßig statt, überdies liefern sie spezifisches Bildmaterial, das stets mit Texten interagiert und damit die visuellen Erwartungen an ein Genre prägt (vgl. Doehring 2015: 93). In Popmusikmagazinen kann folglich, so Rainer Diaz-Bone, „die Weltsicht einer Kulturwelt stecken“ (2010: 210), denn es sei die diskursive Praxis, die die „materiellen Objekte und Praktiken einer Kulturwelt mit einem identitätsstiftenden und lebensstilrelevanten Sinn“ ausstatte (Diaz-Bone 2002: 125).

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Welche Rolle aber spielen die Feuilletons der ‚Qualitätsmedien‘? Musikzeitschriften und deren Online-Angebote richten sich an einen überschaubaren Kreis von Rezipientinnen und Rezipienten, die sich in der Regel mit den Codes einer Szene bereits vertraut gemacht haben oder motiviert sind, sich ein solches Wissen anzueignen. Außenstehenden, die erst durch die Feuilletons auf einzelne Sparten oder Künstler populärer Musik aufmerksam werden, kann solch spezifisches Wissen oft verborgen bleiben. Die feuilletonistische Berichterstattung über populäre Musik und juvenile Szenen läuft daher womöglich Gefahr, „ein Bild von Jugendkultur zu vermitteln, das mit der lokalen Erfahrung der Beteiligten wenig übereinstimmt“ (Androutsopoulos 2003: 122). Hinsichtlich der ‚Qualitätsmedien‘ stellt sich überdies die Frage, ob deren Kulturressorts auf populäre Musik überhaupt adäquat eingestellt sind. Ralf Hinz gibt zu bedenken: „In der feuilletonistischen Kritik, die den etablierten Literatur- und Kunstbetrieb begleitet, dominiert die kontinuierliche Suche nach solchen Kunstwerken, die sich durch Einzigartigkeit und semantischen Mehrwert auszuzeichnen haben“ (1998: 159). Überwiegt im Feuilleton also eine ‚bildungsbürgerlich‘ verklärte und auf ‚Hochkulturelles‘ fixierte Haltung, die mit populärer Musik – noch dazu mit deutschem Gangsta-Rap – womöglich wenig anzufangen weiß?

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Ein explorativer qualitativer Forschungsprozess erfordert die Auswahl geeigneter und dem Umfang des Vorhabens angemessener Quellen. Für die vorliegende Untersuchung sollen Texte aus den Online-Angeboten verschiedener Printmedien herangezogen werden.2 Als Orientierungspunkt für die konkrete Auswahl der Onlinemedien dienen die skizzierten Indikatoren für ‚Qualitätsmedien‘ (inhaltliche Spezialisierung, eigener Autorenstamm, hohes kulturelles/symbolisches Kapital, orientierungsstiftende Funktion für andere Medien): So sollen die Medien über ein eigenständiges Kulturressort oder zumindest eine Kulturrubrik verfügen, zudem müssen die Texte von den angestellten Redakteurinnen und Redakteuren oder von hierfür engagierten freien Autorinnen und Autoren, und nicht von Presseagenturen wie dpa verfasst worden sein. Eingedenk der erwähnten „gewachsenen Reputation“, die sich, so Imhof und Kamber (2011: 135), als Indikator für journalistische Qualität werten lässt, sind ausschließlich die Websites

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Diese Texte sind schnell und leicht zugänglich, sie erleichtern also den Einstieg in die wissenschaftliche Arbeit und eröffnen den Leserinnen und Lesern zugleich die Möglichkeit, die Quellen- und Forschungsgrundlage problemlos zu überprüfen.

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überregional agierender Medien mit hohem Publizitätsgrad in Betracht zu ziehen. Auch soll es den Autorinnen und Autoren möglich sein, in den Texten eigene und ausführliche Haltungen zu entfalten, wofür Printmedien und deren Online-Ableger aufgrund der Länge der Artikel generell gute Rahmenbedingungen bieten. Für die Analyse geeignet erscheinen also die Websites jener Printmedien, die überregional erscheinen, sich auf Basis der genannten Indikatoren nicht der Boulevardpresse zuordnen lassen und sich überdies politisch weitgehend neutral positionieren – infrage kommt daher beispielsweise nicht die junge Welt, die auf der eigenen Website als „linke, marxistisch orientierte, überregionale Tageszeitung“ (Anonym 2016) präsentiert wird. In Betracht zu ziehen sind die Internetauftritte der Tageszeitungen Die Welt, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Frankfurter Rundschau, Süddeutsche Zeitung (inklusive SZ-Magazin und jetzt. de) und Die Tageszeitung, die der Wochenzeitung Die Zeit sowie die Websites der Magazine Der Spiegel, Focus und Stern. Im Angebot der geeigneten Websites wurden 59 Artikel aus dem Jahr 2015 gefunden.3 Diese behandeln die Rapper Bass Sultan Hengzt, BTNG, Bushido, Deso Dogg, Haftbefehl, Kollegah, Sido und Xatar, zudem den Videoclip Jan Böhmermanns sowie Haftbefehls ‚Antwort‘. Hinzu treten ein Artikel über das Label Aggro Berlin und ein Text zur medialen Darstellung der angeblichen Zusammenhänge von Gangsta-Rap und Dschihadimus. Hieraus wird deutlich, dass erstens nur sehr wenige und prominente männliche Vertreter des Genres im Feuilleton vorkommen. Zweitens fällt die hohe Präsenz von Künstlern auf, deren Kategorisierung als Gangsta-Rapper in informierten Szenekreisen womöglich Anlass zur Diskussion bieten würde, da sie derzeit eventuell nicht mehr zum Gangsta-Rap gezählt werden, dies unter Umständen nie wurden oder sich selbst nie dem Genre zugehörig gefühlt haben – im Besondern betrifft dies Sido, der 3

Die Auswahl der Texte wurde auf das Jahr 2015 begrenzt, da in diesem Zeitraum – wie eingangs erwähnt – ein außerordentlich hohes mehrheitsmediales Interesse an deutschem Gangsta-Rap zu vernehmen war. Anschließend wurden die Suchfunktionen der Websites genutzt, um relevantes Textmaterial mittels eindeutiger Schlüsselbegriffe („Gangstarap“, „Gangster Rap“ etc.) zu finden (vgl. Meier et al. 2010: 116). So ließ sich feststellen, über welche Künstlerinnen und Künstler sowie Themen die ‚Qualitätsmedien‘ sprechen, wenn sie über Gangstarap berichten. Denn: „Ob ein Song oder ein Künstler als Gangsta-Rap(per) zu kategorisieren ist, liegt in vielen Fällen im Auge des Betrachters und ist damit auch von dessen Sozialisation und Perspektive abhängig“ (Szillus 2012: 41). Definitiv für die Analyse infrage kamen schließlich jene Texte, welche einen Gangsta-Rapper oder das Thema „Gangsta-Rap“ auf einer allgemeineren Ebene eindeutig zum Hauptthema haben und nicht von Nachrichtenagenturen verfasst wurden.

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sich selbst stets von dieser Zuordnung zu distanzieren versuchte (vgl. Szillus 2012: 53). Das ausgewählte Textmaterial wurde Schritt für Schritt und mithilfe der Software MAXQDA nach Themen, Haltungen und Wertungen durchsucht. Der inhaltsanalytische Arbeitsprozess führte zu einem induktiv entwickelten Kategoriensystem mit insgesamt 513 kodierten Textstellen.4

D IE E RGEBNISSE Die im Textmaterial identifizierten Themen lassen sich in vier grundlegende Oberkategorien mit zahlreichen Subkategorien einordnen: Gangsta-Rap als wirtschaftliches und massenmediales Phänomen, Privatleben und Biografie der Rapper, Künstlerischer Ausdruck, sowie das Spannungsverhältnis von Kunst, Fiktion und Authentizität. Im Folgenden kann es keineswegs um eine lückenlose Darstellung der Ergebnisse gehen. Vielmehr sollen zentrale Einsichten aus den thematischen Oberkategorien präsentiert werden, um die inhaltsanalytischen Erkenntnisse schließlich in ihrer Gesamtheit bewerten zu können. Die Häufigkeit des Vorkommens einzelner Themen wird dabei als Indikator für deren Relevanz im Feuilletondiskurs über deutschen Gangsta-Rap gewertet. „Dabei ist Gangstarap inzwischen Mainstream“ 5 – Deutscher Gangsta-Rap als wirtschaftliches und massenmediales Phänomen Der große Erfolg vieler Gangsta-Rapper fasziniert – die häufige Thematisierung dessen in den Texten macht dies deutlich. Dabei werden Vergleiche mit höchst erfolgreichen Vertretern der deutschen Popmusik nicht gescheut, Haftbefehl gilt manchen als der größte „Popstar dieser Tage“ (Rabe 2015b: o.S.) neben Helene Fischer, er sei ein „Superstar“ (Ehlert 2015: o.S.) und im „Mainstream angekommen“ (Kreuzmair 2015: o.S.). Zugleich geben sich manche Autorinnen und Autoren erstaunt: So ist in einem Artikel Jan Stremmels zu lesen, „die Songs des Rappers Kollegah dürften eigentlich kaum jemandem gefallen“, dessen Erfolg hätte aber dennoch „fast Beatles-Dimensionen“ angenommen (Stremmel 2015a: o.S.). Häufig Erwähnung finden zudem die Kooperationen der Rapper mit großen Medienunternehmen oder Prominenten. Dies betrifft vor allem die viel4

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Die überaus breit rezipierte Methodik der qualitativen Inhaltsanalyse soll an dieser Stelle nicht umfassend dargestellt werden, verwiesen sei auf die einschlägigen Veröffentlichungen von Kuckartz (2016) und Mayring (2015). Hugendick 2015 (o.S.).

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fältigen Aktivitäten Bushidos vom Karel-Gott-Duo bis zum Bernd-EichingerKinofilm (Rabe 2015a: o.S.) oder die Kontakte zu Kai Diekmann (Schwilden 2015: o.S.), ebenso aufsehenerregend erscheinen die Kollaborationen Sidos mit Musikern wie Andreas Bourani und Marius Müller-Westernhagen (Hermann 2015: o.S.). Hierbei handelt es sich jedoch nicht um kritische Kommentare, eher um neutrale Bestandsaufnahmen der Journalistinnen und Journalisten, was auch diejenigen Textstellen betrifft, die die Rapper als Unternehmer außerhalb des Rap-Business darstellen. Sido gilt als vielseitig unternehmerisch tätig (Friese 2015: o.S.), über Kollegah ist zu lesen, er verkaufe mittlerweile „sogar Fitnesspläne und Oben-ohne-Fotos“ (Stremmel 2015b: o.S.) und selbst Bushidos Aquaristik-Fachhandel findet Erwähnung (Maier 2015: o.S.). Für die feuilletonistische Berichterstattung ist also zunächst die Involvierung der Gangsta-Rapper in den Medien-Mainstream interessant, ferner deren kommerzieller Erfolg und Unternehmertum. Zeitgleich wird deutlich, dass GangstaRap unter den Autorinnen und Autoren bisweilen Irritationen hervorruft, denn die Gründe für den breiten Erfolg scheinen sich ihnen nicht durchweg zu erschließen. Nicht zuletzt zeigt sich, dass im Feuilleton durchaus boulevardeske Ansätze erkennbar werden, wenn sich irritierte Reaktionen und Hinweise auf die Kollaborationen oder privaten Kontakte mit Prominenten als wiederkehrende Inhalte der Artikel hervortun. Noch deutlicher wird dies, wenn das Privatleben und die Biografie der Rapper im Zentrum des Interesses stehen. „Erst Gras, dann Kokain“ 6 – Privatleben und Biografie In dieser Kategorie geht es unter anderem um Schilderungen der Kindheit und des familiären Umfeldes, wobei diese Themen vergleichsweise kurz und wenig detailliert behandelt werden. Als relevanter wird offenbar die (urbane) Herkunft eingestuft, wobei die Texte hier um das Aufwachsen unter prekären Verhältnissen in sozialen Brennpunkten kreisen. Haftbefehl beispielsweise stamme „aus einer Generation und einem sozialen Umfeld, die vor kaum einem Jahrzehnt immer wieder als Fallbeispiel misslungener Integration auf Magazintiteln und in TV-Shows herhalten durften“ (Aydemir 2015: o.S.), Xatar habe seine Kindheit in „einem verrufenen Hochhausviertel am Bonner Stadtrand“ (Szillus 2015: o.S.) verbracht. Hierbei wird eines der zentralen Themen des Feuilletondiskurses über deutschen Gangsta-Rap deutlich: Der Migrationshintergrund der Rapper, der in auffällig vielen Texten erwähnt oder explizit thematisiert wird. Haftbefehls Geschichte etwa wird als „Karriere eines Einwanderersohnes“ (Peikert 2015:

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Wolff 2015 (o.S.).

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o.S.) bezeichnet, das von Xatar veröffentlichte, autobiografische Buch Alles oder Nix (Hajabi 2015)7 reflektiere ein „schmerzhaftes Ankommen in Deutschland und die Unmöglichkeit des Deutschwerdens“ (Wolff 2015: o.S.). Durchaus kann es vorkommen, dass der Migrationshintergrund in einem Atemzug mit kriminellen Machenschaften genannt wird: „Haftbefehl dagegen, Jahrgang 1985, aufgewachsen als Sohn kurdischer Eltern aus der Osttürkei im hessischen Offenbach, später Dealer und Wettbüro-Betreiber“ (Rabe 2015b: o.S.). Und auch rassistische Ressentiments kommen in den Artikeln zum Vorschein. So schreibt Daniel Haas auf Zeit Online, man könne Bushidos Erfolg „bedenklich finden oder ärgerlich“ (Haas 2015: o.S.), aber es helfe ja nichts. Im Folgenden beschreibt er dessen Musik als Identifikationsangebot für männliche Geflüchtete aus den arabischen Ländern und merkt an, Soziologen befürchteten derweil die „‚Maskulinisierung des Alltags‘“ (ebd.). Die Bedürfnisse der Geflüchteten befriedige Bushidos gemeinsames Album mit Shindy indes sicherlich, denn: „[…] das ist das neue Bushido-Album: die Rollenprosa zweier Migrantensöhne – der eine ist Nachkomme von Tunesiern, der andere von Einwanderern aus Griechenland –, für die Männlichkeit kein Bündel kultureller Normen darstellt, sondern ein essenzielles Konzept, hörbar, sichtbar, deutlich ausgestellt in Form von Muskeln und Zwölfzylindermotoren“ (ebd.). Auch die kriminelle Vergangenheit mancher Rapper ist häufig Gegenstand der Texte, wie im Falle Haftbefehls durchaus auch simultan mit dem Migrationshintergrund. So auch im Falle Xatars, dieser habe „als Sohn kurdischer politischer Flüchtlinge […] lange Jahre nicht nur Mist geredet, sondern auch im Mist gelebt“ (Wolff 2015: o.S.). Xatars Einbindung in einen Goldraub im Jahr 2008 ist ein besonders schillerndes Beispiel für die kriminelle Vergangenheit eines Gangsta-Rappers, die dessen Image bis heute entscheidend prägt. Neben Haftbefehls und Xatars Vergangenheit stehen auch Sidos frühere Delikte zur Debatte (Hermann 2015: o.S.). Gerade Sido ist es aber auch, dessen Wandel vom (Klein-)Kriminellen zum Popstar das Interesse der Journalistinnen und Journalisten weckt. Immerhin habe sich der „Messias aus dem Märkischen Viertel“ (Friese 2015: o.S.) vom „gefährlich maskierten Rapper zum Fielmann-bebrillten Popper“ gewandelt (ebd.). Auch Xatar mache mittlerweile keine „asoziale[n] Sachen“ mehr, sondern konzentriere sich ausschließlich auf seine Musik (Szillus 2015: o.S.). Die zitierten Textausschnitte machen deutlich, dass sich in den Artikeln der ‚Qualitätsmedien‘ einerseits ein romantisierendes Narrativ des Aufstiegs vom sozial segregierten Migranten zum ökonomisch potenten Unternehmer nieder-

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In der Titelei wird übrigens Die-Welt-Redakteur Dennis Sand als mitverantwortlich für die Redaktion des Buches genannt (Hajabi 2015: 4).

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schlägt. Andererseits ist eine ablehnende, distanzierte Haltung erkennbar, die deutschen Gangsta-Rap als prolligen Auswuchs migrantischer Männlichkeit diffamiert. Derlei ablehnende Äußerungen finden sich mitunter auch in Textpassagen, die sich dem künstlerischen Ausdruck des Gangsta-Rap widmen. „Keine Finesse, einfach nur auf die Fresse“ 8 – Künstlerischer Ausdruck Im untersuchten Textmaterial lassen sich immer wieder Äußerungen finden, die sich direkt auf den künstlerischen Ausdruck der Gangsta-Rapper beziehen – also beispielsweise auf die Texte, die Musik bzw. den Sound oder die visuelle Inszenierung in Videoclips. Es ist naheliegend, dass in einem Subgenre des Rap zunächst die Texte und deren Inhalte hohe Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Diese finden oft Erwähnung, im Wesentlichen werden – aus Sicht der Journalistinnen und Journalisten – zentrale Topoi des Gangsta-Rap aufgezählt und bisweilen kommentiert. Als äußerst beliebt erweist sich die Verwendung von Textzitaten, um eingenommene Haltungen und konstruierte Thesen zu fundieren. Auffällig ist, dass die herangezogenen Zitate der Feuilletonistinnen und Feuilletonisten hauptsächlich um die Themen Sex, Gewalt, Kriminalität sowie Beleidigungen kreisen und ein gewisser Hang zur Skandalisierung zum Vorschein kommt. So ist es auch nicht verwunderlich, dass dem Thema Diss-Tracks mitunter ganze Artikel gewidmet werden (Schwilden 2015). Über die Musik wird hingegen selten gesprochen. Gelegentlich finden sich Kommentare zu den Gestaltungsweisen der Instrumentals, so zeige sich BTNG’s Live-Publikum „begeistert vom brachialen Beat“ (Cöln 2015: o.S.) und die Beats auf Sidos neuem Album seien „bis unter die Decke vollgehängt […] mit dunkel-schweren Klavierakkorden und staatstragenden Geigen“ (Biazza 2015: o.S.). Im Falle Xatars wird dessen raptechnische Weiterentwicklung gelobt, sein Flow habe an „Raffinement gewonnen, ohne die Hochgeschwindigkeits-Kapriolen seiner Kollegen zu imitieren“ (Wolff 2015: o.S.). Doch generell scheinen die Journalistinnen und Journalisten mit den musikalischen Äußerungen wenig anfangen zu können, denn der deutsche Gangsta-Rap habe „ja eigentlich kein Image-, sondern erst mal ein Qualitätsproblem“ (Rabe 2015b: o.S.) und bewege sich „klangästhetisch […] zwischen Rumpeln und Dräuen“ (Haas 2015: o.S.). Für Jens-Christian Rabe (2015a: o.S.) stellt sich daher die Frage: „Warum tun wir uns so was an?“ Damit ist Rabe keineswegs ein Einzelfall, denn einige Autorinnen und Autoren lassen durchaus eine dezidiert ablehnende Haltung gegenüber deutschem Gangsta-Rap erkennen.

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Rabe 2015a (o.S.).

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So proklamiert Jens Hugendick (2015: o.S.) den Einzug des Gangsta-Rap in den Mainstream und fügt an, das tue „vielleicht weh, aber da müss[t]en wir eben alle durch“, Daniel Haas (2015: o.S.) merkt an, das Album von Bushido und Shindy sei immerhin „nicht die nächste narzisstische Selbstaufblähung des Gangsta-Rap mit Billig-Beats und Schwulenhass“. Deutscher Gangsta-Rap sei ferner zum Teil „[k]urzlebiges Trash-Entertainment“ (Ehlert 2015: o.S.) und auf „geschäftsmäßig kalkulierte Art plump“ (Biazza 2015: o.S.). Auch wird mitunter der Vorwurf laut, Gangsta-Rap sei gezielt auf die Interessen von Kindern und Jugendlichen zugeschnitten, die sich an den provokanten Gewaltglorifizierungen erfreuen könnten. Beispielsweise wisse Haftbefehl, so schreibt Denise Peikert (2015: o.S.), „sehr genau, wie gut sich seine Gruselgeschichten aus der Halbwelt in eingeplüschten Kinderzimmern“ verkauften, um wenig später hinzuzufügen: „Fieser Mist bleibt fieser Mist, auch wenn er schön verpackt ist“ (ebd.). Wohlwollend wird der künstlerische Ausdruck des deutschen Gangsta-Rap allenfalls kommentiert, sobald es um die Texte einzelner Rapper geht. Hierbei werden in erster Linie Haftbefehl und Kollegah hervorgehoben, denen ein durchaus versierter und kreativer Umgang mit sprachlichen Ressourcen attestiert wird. Haftbefehls „eigenwilliger Sprachstil“ (ebd.) werde als Literatur gefeiert, seine „Kunst, Deutsch, Türkisch, Zazaisch (die Sprache seines Vaters), Englisch und Arabisch zu mischen, so dass sich am Ende alles korrekt anhör[e], [sei] wirklich groß“ (ebd.). Kollegahs Texte hingegen seien „bei aller verstörender Gewalt vollgepackt mit, tatsächlich, gewieften Sprachbildern“, zudem träfe „[a]usgestellte Muskelmann-Dumpfheit, die kleine Jungs“ beindrucke, auf „überraschend geistreiche Metaphern“ (Stremmel 2015a: o.S.). Bezüglich des HaftbefehlSlangs kommt eine weitere Facette ins Spiel, die direkt auf den Diskursbaustein des Migrationshintergrunds rekurriert. Max Fellmann (2015: o.S.) argumentiert, man solle die Aussprache des Rappers nicht als „Ausweis einer authentischen Lebenserfahrung verstehen“, da es sich hierbei nicht um den realen Ausdruck einer migrantischen Minderheit handle, der Sprachstil sei vielmehr von „Herkunft, Bildungsgrad und Einkommen der Handelnden völlig entkoppelt“ (ebd.). Hierbei kommt eine vergleichsweise reflektierte Einschätzung zum Vorschein, die den ablehnenden Haltungen anderer Autorinnen und Autoren gegenübersteht und auf den Kunstcharakter des Gangsta-Rap verweist. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass manche der Journalistinnen und Journalisten eindeutig Stellung beziehen, sich deutlich vom Gangsta-Rap distanzieren und den künstlerischen Ausdruck mit ablehnenden Kommentaren bedenken. Lediglich der Sprachstil mancher Rapper wird mitunter auffallend positiv hervorgehoben, die Zitate Fellmanns machen überdies auf einen weiteren zentralen Diskursbaustein aufmerksam: Die Frage danach, was an den Gangsta-Rap-

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Inszenierungen denn als Kunst betrachtet werden kann, und ebenso wichtig: was daran eigentlich echt ist. „Ist das Kunst?“ 9 – Das Spannungsverhältnis von Kunst, Fiktion und Authentizität Gangsta-Rap polarisiert und fasziniert nicht zuletzt deshalb, weil unter Außenstehenden häufig Unsicherheit dahingehend besteht, was an den Inszenierungen der Rapper echt ist und inwieweit diese als eine Form von Kunst gewertet werden können (vgl. Dietrich/Seeliger 2013: 115). So ist es nicht weiter erstaunlich, dass genau diese Themen einen zentralen Platz im feuilletonistischen Diskurs einnehmen. Teils wird argumentiert, bei Gangsta-Rap handele es sich nun mal um eine künstlerische Ausdrucksform, in der Fiktion und Übertreibung als Stilmittel betrachtet werden sollten. In einem Artikel über Haftbefehl und Jan Böhmermanns parodistischen Videoclip schreibt Felix Zwinzscher (2015: o.S.), beide bewegten „sich in der Grauzone zwischen ernst gemeinter Sozialkritik und künstlerischer Übertreibung“, ebenso sei der Slang Haftbefehls, so Max Fellmann (2015: o.S.), kein „Deutsch von Menschen, die gezwungen wären, so zu sprechen“, sondern „eine Kunstsprache“ und „nicht authentisch im Sinne sprachlichen Unvermögens“ (ebd.). Eine solche Sichtweise setzt allerdings ein Mindestmaß an Vertrautheit mit den Codes des Gangsta-Rap, d.h. ein szenespezifisches Wissen voraus. Dass ein solches unter den Autorinnen und Autoren des Feuilletons nicht zwangsläufig vorhanden sein muss, gesteht Denise Peikert selbst ein, wenn sie in einem Artikel über Haftbefehl fragt: „Hat nur einfach nichts verstanden, wer Haftbefehl nicht so toll findet?“, und im anschließenden Satz zugibt: „Tatsächlich ist das hier ein Text, der im Grunde nichts versteht. Die ganze, ganz andere Welt nicht, von der Haftbefehl erzählt, und auch nicht, wie viel davon wahr und richtig ist“ (Peikert 2015: o.S.). Passend dazu schreibt David Hugendick vom „ahnungslosen Feuilleton“, das bisweilen „alles Künstliche aus dem Genre“ suspendiere (Hugendick 2015: o.S.). Für Außenstehende sei schlichtweg „schwer zu trennen, wer da spricht: die comicartige Rapfigur oder der Mensch dahinter“ (Dietrich 2015: o.S.). Häufig ist es Haftbefehl, der in diesem Zusammenhang Erwähnung findet, und so appelliert auch Tobias Rapp für eine reflektierte Rezeption des Offenbacher Rappers: „Gangsta-Rap ist Rollenprosa und Haftbefehl kein Lehrer, der seine Fans mit in ein besseres Land nehmen will. Er ist ein Geschichtenerzähler“ (Rapp 2015: o.S.). Nichtsdestotrotz stellt sich manchen Autorinnen und Autoren in diesem

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Peikert 2015 (o.S.).

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Zusammenhang aber auch die Frage, was an alledem denn nun echt sei: „Ist das echt, was Haftbefehl singt, ist das real? Ist das Kunst?“ (Peikert 2015: o.S.). Aufgrund seiner Vergangenheit wird Xatar hierbei hervorgehoben, er mache „glaubwürdige[n] Gangsta-Rap“ (Szillus 2015: o.S.) und sei „Deutschlands einziger Gangsta-Rapper, der wirklich zum Gangster wurde“ (Sand 2015: o.S.). Auch Haftbefehl wird attestiert, in seiner Vergangenheit tatsächlich kriminell gewesen zu sein, was seiner „Glaubwürdigkeit zugute“ komme (Boie 2015: o.S.). Auf der anderen Seite – und hier steht wiederum die künstlerische Inszenierung der Rapper zur Debatte – sei es „erstaunlich, dass der Begriff der Authentizität bei einer eindeutig so artifiziellen Person wie Bushido überhaupt eine Rolle in der Bewertung seiner Arbeit“ spiele (Schwilden 2015: o.S.). Es gilt also festzuhalten: Viele Autorinnen und Autoren benennen das Spannungsverhältnis zwischen Kunst, Fiktion und Authentizität und gestehen dem Gangsta-Rap ein gewisses Maß an Kunstfreiheit zu. Somit wird auch angenommen, dass von den Gangsta-Rap-Inszenierungen nicht zwangsläufig Gefahr ausgeht, der vielerorts befürchtete schlechte Einfluss des Genres wird relativiert. So müsse man wegen Haftbefehls Texten und Videoclips „nicht gleich furchtbar aufgeregt sein“ (Peikert 2015: o.S.), ebenso wenig sei ein Bushido-Album eine „Gefahr für die innere Sicherheit unseres Landes“ (Rabe 2015a: o.S.). Zu diesen Einschätzungen treten zwei weitere Strategien, den künstlerischen Ausdruck des Gangsta-Rap zu kommentieren: Einerseits wird das Genre verniedlicht, zum anderen in einem akzentuiert ‚bildungsbürgerlichen‘ Tonfall kommentiert. Der „Tanzbär Haftbefehl“ (Ehlert 2015: o.S.) sehe auf der Bühne „etwas tappsig-wankend, fast Baluhaft tänzelnd“ aus (Rabe 2015b: o.S.) und Bushidos Wortwahl in Diss-Tracks sei „häufig so kindlich, naiv, fast zärtlich versponnen absurd, dass man beim besten Willen von keiner echten Beleidigung ausgehen“ könne (Schwilden 2015: o.S.). Zu solchen Verniedlichungen gesellen sich die akademisch angehauchten Kommentare. So etwa im Falle Matthias Heines, der sich an einer linguistischen Analyse der nicht nur von Bushido häufig gebrauchten Slang-Vokabel „Kek“ versucht und zu dem Ergebnis kommt, dem Kek werde „fast immer angekündigt, Sex mit seiner Mutter zu haben“, er „fröne ‚nicht traditioneller Sexualität‘“ und es handele sich weitgehend um „eine prädikative Anrede, die aus einem wertenden Nomen und Pronomen der zweiten Person Singular als Deiktikon [besteht], das auf den Angeredeten hinweist“ (Heine 2015: o.S.). Freilich zeugt dies nicht von der Motivation, sich reflektiert mit Gangsta-Rap auseinanderzusetzen, sondern von einem jovialen Blickwinkel auf ein – dem Autor augenscheinlich fremd gebliebenes – Phänomen populärer Kultur. Somit befindet sich die Berichterstattung des Feuilletons in einem Spannungsverhältnis zwischen reflektierter Analyse und ablehnendem Gestus. Wäh-

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rend der Kunstcharakter bisweilen diskutiert und die Gefährlichkeit des Genres relativiert wird, finden sich dennoch Textauszüge, die Gangsta-Rap deutscher Provenienz offen ablehnen, verniedlichen oder zugeben, dessen Äußerungen nicht angemessen einordnen zu können.

Z USAMMENFASSUNG UND AUSBLICK Festzuhalten bleibt: In den analysierten Artikeln ist ein heterogenes Sprechen über deutschen Gangsta-Rap zu identifizieren. Zum einen sind Kommentare und Haltungen zu lesen, die sich von denen informierter Szenekenner womöglich nicht deutlich unterscheiden – durchaus finden sich unter den zitierten Autorinnen und Autoren auch solche, die sich bereits akademisch und/oder journalistisch im HipHop-Kontext hervorgetan habe (siehe Dietrich 2015 und Szillus 2015). Auf der anderen Seite sind boulevardeske Einschläge nicht von der Hand zu weisen, wenn beispielsweise ein gesteigertes Interesse am Privatleben der Rapper zu vernehmen ist, deren angeblich kriminelle Vergangenheit romantisierend als Faszinosum behandelt wird oder die Texte die gebotene journalistische Neutralität allzu deutlich vermissen lassen. Somit bestätigt sich die Annahme, dass sich an der skandalisierenden Berichterstattung über deutschen GangstaRap nicht nur die Boulevardpresse beteiligt, sondern eben auch die ‚Qualitätsmedien‘ ihren Teil zu dieser beitragen (vgl. Dietrich/Seeliger 2013: 123). Auch ist zu konstatieren, dass der Migrationshintergrund der Rapper „im öffentlichen Diskurs häufig als essenzialisierender Bezugspunkt genutzt wird“ (Seeliger 2013: 94) – und dies nicht zwangsläufig mit neutralem Blick. Hinsichtlich des künstlerischen Ausdrucks zeigt sich die ablehnende Haltung mancher Autorinnen und Autoren jedoch am deutlichsten. Einigen gilt Gangsta-Rap offensichtlich als Musik für Proleten, als Medium einer benachteiligten (migrantischen) Unterschicht, die sich nicht um klangästhetische Mängel schert. Gangsta-Rap polarisiert, trifft vielerorts auf Unverständnis und fasziniert über die Szenegrenzen hinaus – sicherlich auch deshalb, weil der Fiktions- bzw. Authentizitätsgrad des Genres schwer zu definieren ist. Forschungsdesiderate und methodische Perspektiven Interessant für zukünftige Untersuchungen scheint die Hinzuziehung von Texten aus anderen Quellen, respektive aus Szene- und Boulevardmedien, aber auch aus der regionalen Presse. So ließe sich untersuchen, inwieweit sich die zu identifizierenden Themen und Wertungen unterscheiden oder gleichen. Zudem ist eine Ausweitung des Untersuchungszeitraums naheliegend, da Diskurse schließlich

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wandelbar sind und im Laufe der Zeit neue Themen relevant werden können. Überdies muss die Analyse nicht auf journalistische Texte begrenzt bleiben, denkbar sind ebenso Befragungen von Szenekennern. Bei einer fortführenden Auseinandersetzung mit Print- oder Onlinemedien ist indes die Erweiterung des qualitativen Analyseapparats um Betrachtungen der Bildebene, d.h. ein multimodaler Ansatz vielversprechend. Multimodalität bezeichnet laut Stefan Meier „eine Kombination unterschiedlicher Zeichenmodalitäten (Bild, Sprache, Ton), die gemäß ihrer semiotischen Ressourcen (z. B. Farbgebung/Beleuchtung, Wortbildung/Semantik, Atmo/Geräusche) als ganzheitliche Kommunikate zum Einsatz kommen und als solche auch in der Analyse zu behandeln sind“ (Meier 2008: 272). Da sowohl Print- als auch Onlinemedien Texte und Bilder für gewöhnlich sehr eng verknüpfen, gilt es also deren multimodale Interaktion, d.h. die „‚semantische Multiplikation‘“ (Bucher 2011: 127) zu entschlüsseln. Methodisch eignet sich hierfür z.B. die aus der Linguistik stammende und seit einigen Jahren für die Analyse von Bildern weiterentwickelte Sozialsemiotik (siehe u.a. Kress/Van Leeuwen 2006; Van Leeuwen 2005). Diese gilt als „neuere Schule der Semiotik, die Zeichen und Codes nicht als gesetztes und starres Regelwerk (Lexikon, Grammatik), sondern eher als dynamisches und flexibles Repertoire (semiotic resources) betrachtet“ und sieht „den Zeichengebrauch an spezifische soziale Praktiken und Institutionen gebunden und aus ihnen hervorgehen“ (Stöckl 2014: 393). Daher scheint ein sozialsemiotischer Ansatz für die Untersuchung visueller Spezifika innerhalb eingegrenzter kultureller Domänen geeignet und ist überdies für die diskursanalytische Arbeit fruchtbar gemacht worden (Meier 2008; 2011), sodass das methodische Instrumentarium für die kontextsensible Rekonstruktion von Bedeutungsdimensionen popkultureller Genres äußerst vielversprechend erscheint. Wenngleich in den letzten Jahren mehrere Studien veröffentlicht wurden, die sozialsemiotische Ansätze (auch) in Bezug auf populäre Musik nutzen (u.a. Busch 2015; Machin 2010; Spitzmüller 2013), so ist die empirische Zusammenführung von text- und bilddiskursanalytischen Methoden im Kontext von Print- oder Onlinemusikzeitschriften nach wie vor desiderabel. Hier besteht großer Forschungsbedarf, um die ästhetischen Diskurse, die sich um einzelne Genres populärer Musik – so auch um deutschen Gangsta-Rap – ranken, ganzheitlich analysieren und Prozesse der Bedeutungsproduktion verstehen zu können.

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Vom Gastarbeiter zum Gangsta-Rapper HipHop, Migration und Empowerment M URAT G ÜNGÖR UND H ANNES L OH

In diesem Text werden die kulturellen Empowerment-Strategien der ersten Einwanderergeneration (der „Gastarbeiter“) in einen Zusammenhang mit der Entwicklung von HipHop in Deutschland gebracht. Dies soll helfen, das relativ junge Phänomen „deutscher Gangsta-Rap“ einzuordnen und den Einfluss von Migrationserfahrung, Marginalisierung und die daraus erwachsenden Konzepte der Selbstermächtigung besser zu verstehen. Dabei beschränkt sich dieser Artikel auf die Empowerment-Strategien junger Männer, wohlwissend, dass es in diesem Zusammenhang auch eine Geschichte weiblicher Selbstermächtigung gibt. Für Denkanstöße und kritische Anmerkungen bedanken wir uns bei Imran Ayata, Martin Greve, Benjamin Küsters, Eymen Nahali, Iman Soltani und Dennis Stute.

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Die enorme Resonanz, die das Album „Der Holland Job“ von Giwar Hajabi (Xatar) und Aykut Anhan (Haftbefehl) in Feuilletons und auf Schulhöfen ausgelöst hat, legt den Eindruck nahe, dass Gangsta-Rap das Interessanteste und Kontroverseste ist, was der deutsche Kulturbetrieb im Moment zu bieten hat. „Deutschland hat sich verändert. In der deutschen Geschichte kommen jetzt auch Kanaken vor“, sagte der Offenbacher Anhan in diesem Zusammenhang.1 Spätestens mit Bushidos Charterfolg 2004 wurden Gangsta-Rapper mit Migrations-

1

Spiegel Online: „Deutschland den Stock aus dem Arsch ziehen“ (12.08.2016).

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hintergrund zu Projektionsflächen mannigfacher Ängste und Wünsche. Sahen die einen in ihnen Künstler, die die Lebenserfahrungen in „sozialen Brennpunkten“ musikalisch und textlich transformierten, wurden sie bei anderen zum Bürgerschreck und „rappenden Multikulti-Primaten.“2 „Früher nannte man diese Bevölkerungsgruppe Gesindel“, konstatiert der ehemalige FAZ-Journalist Udo Ulfkotte, „heute sind es rappende ‚Kulturschaffende‘“3. Für Bestsellerautor Ulfkotte wird der migrantische Gangsta-Rapper zur Symbolfigur. In ihm bündeln sich die Bilder fremdländischer Bedrohung: urbanes Selbstbewusstsein, Hedonismus, Gewalt, Islamverherrlichung und sexuelle Freizügigkeit. Diese Überwältigungsfantasien sind nicht neu. Sie begleiten den gesellschaftlichen Diskurs über Eingewanderte in der Bundesrepublik seit den 1960er Jahren. 43 Jahre vor Haftbefehls Behauptung, dass nun auch Kanaken in der deutschen Geschichte vorkommen, titelte der Kölner Express mit der Schlagzeile: „Übernehmen Gastarbeiter die Macht?“4 Migranten, die sich sichtbar und selbstbewusst der deutschen Mehrheitsgesellschaft gegenüberstellen, werden als Provokation empfunden; mehr noch: Ihr Auftreten löst einen rassistischen Reflex aus, der von sozialen und ökonomischen Themen ablenkt und Bevölkerungsgruppen gegeneinander ausspielt. In den Arbeitskämpfen der 1970er Jahre wurden die streikenden „Gastarbeiter“ gegen ihre deutschen Kollegen gestellt. Während der Asyldebatte und der CDU/ CSU-Kampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft schürte man in den 1990er Jahren bei der deutschen Bevölkerung Ängste vor Überfremdung und Unterwanderung. Und in der kulturell-ästhetischen Dominanz des Gangsta-Rap schließlich sehen viele Neurechte und manche Altlinke die Vorboten einer Islamisierung des Abendlandes. Aykut Anhan irrt, wenn er glaubt, erst Gangsta-Rap habe „Kanaken“ in der deutschen Geschichte sichtbar gemacht. Haftbefehl hätte in dieser Sache den deutsch-türkischen Regisseur, DJ und Musikexperten Nedim Hazar fragen können. Der hätte ihm von Metin Türkoz erzählt, den Hazar einmal die „Stimme der türkischen Arbeiter in Deutschland“ genannt hat und der in seiner Karriere als Liedermacher 13 Alben und 72 Singles veröffentlichte. Vielleicht hätte er ihm auch das Album „Die Kanaken“ von Cem Karaca vorgespielt, das 1984, ein Jahr vor Aykut Anhans Geburt, erschienen ist. Oder er hätte ihm vom „wilden Türken-Streik“5 bei Ford erzählt, in den sich am 28. August 1973 der damalige 2 3 4 5

Udo Ulfkotte: Vorsicht Bürgerkrieg. Rottenburg 2015. Ebd. Kölner Express (29.8.1973). Der Streik der türkischen Ford-Mitarbeiter wurde in den Medien wiederholt als „wilder Streik“ oder „Türken Streik“ etikettiert.

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Bundeskanzler Willy Brandt einschaltete und in einer Fernsehansprache die streikenden „Ausländer“ aufforderte in den Schoß der Gewerkschaften zurückzukehren.6 Ganz abwegig ist diese Vorstellung nicht, denn Nedim Hazar ist der Vater von Eko Fresh. Welche Ratschläge hätte Hazar damals der zweiten Generation geben können, um im deutschen Musikmarkt bestehen zu können? Wie wäre die Auseinandersetzung um Selbst- und Fremdzuschreibungen verlaufen, wenn es hier einen regen Austausch gegeben hätte? Hazar ist ein umtriebiger Kulturschaffender. Er kennt sowohl die Perspektive vor als auch hinter der Kamera – und damit auch die Strategien der Kulturindustrie. Nicht auszuschließen, dass einige Fehler der identitären Zuschreibungen der zweiten und dritten Generation hätten vermieden werden können. Nedim Hazar kam 1980 als politischer Flüchtling nach Deutschland und gründete in Köln die Band Yarınistan.7 Gemeinsam mit seinem Bandkollegen Geo Schaller veröffentlichte Hazar zwei Alben und gewann den Preis der deutschen Schallplattenkritik.8 Hinzu kommt, dass Hazar schon vor seinem Sohn angefangen hat zu rappen. 1990 veröffentlichte Yarınistan die Single „Sieh mich an“ bei der Plattenfirma Phonogram in Köln.9 Das interessantere Stück befindet sich auf der B-Seite und hat den Titel „Ali-Rap“. Auf diesem Stück rappt Hazar über elektronische Drums seine ironische Sichtweise auf das Leben in Deutschland. Dabei hört man, wie bei Metin Türköz, die Freude am kreolischen Sprachmix. Ebenfalls zu hören sind Einsprengsel kölscher Mundart. Hier findet die erste Form einer lokalen sprachlichen Verortung statt: „Güle, güle, jeder Jeck ist anders“, begrüßt Hazar seine Zuhörer. Das wird verständlich, wenn man weiß, dass Köln in den späten 1980er Jahren das musikalische Zentrum für türkische Musik war.10 Zu diesem Zeitpunkt war sein Sohn Eko Fresh gerade sieben Jahre alt. Die Band schaffte es mit einem der Alben auf 12.000 verkaufte Einheiten. Für aktuelle Rapper wäre dies heute (in Zeiten von Streamingdiensten) ein beachtliches Verkaufsergebnis. Allerdings verstand Hazar dies nicht als großen Erfolg, weil er und seine damaligen Mitstreiter wie Cem Karaca, Metin Türköz oder Yüksel Özkasap es nicht schafften, einen nach-

6 7

Serhat Karakayali: Gespenster der Migration. Bielefeld 2008. S. 156. Hazar, Nedim: Die Saiten der Saz in Deutschland. In: Fremde Heimat. Eine Geschichte der Einwanderung. Hrsg. Eryilmaz, Aytac und Jamin, Mathilde. Klartext-Verlag, Essen 1998. S. 294. 8 Schaller, Geo: http://www.geoschaller.de/musik (10.01.2017). 9 Yaranistan, Sieh mich an. Phonogram GmbH / Mercury, 1990 Köln. 10 Hazar, Nedim: Die Saiten der Saz in Deutschland. In: Fremde Heimat. Eine Geschichte der Einwanderung. Hrsg. Eryilmaz, Aytac und Jamin, Mathilde. Klartext-Verlag, Essen 1998. S. 294.

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haltigen Einfluss auf den deutschen Musikmarkt zu erreichen. Zu scharf war das Schwert der identitären Zuschreibung, das den Musikmarkt in Deutschland segmentierte. Im Radio wurden solche Lieder kaum gespielt, da sie für viele RadioDJs zu fremdartig klangen und man die Zuhörerschaft nicht mit andersartigen Klängen irritieren wollte.11 Auch die Band Yarınistan wurde in den 1980er Jahren in die Tradition der Ausländerfeste eingemeindet, um dem Multikulturalismus eine musikalische Untermalung zu geben. Wer zuhören konnte, wie Künstler über diese wohlmeinende Umarmung dachten, konnte bei einem der letzten Songs von Yarınistan die bitteren und ironischen Verse verstehen: „Macht’ s gut ihr Freunde, Schwestern, Brüder! Wenn wieder mal ein Haus abbrennt, dann sehen wir uns wieder!“12 Die Etablierung eines neuen musikalischen Genres im deutschen Musikmarkt blieb diesen Künstlern verwehrt. Allerdings schaffte Hazars Sohn Eko Fresh, was dem Vater nicht gelang. Eko Fresh meisterte den Spagat zwischen einer sozialen Verortung in einem migrantischen Milieu und dem Status eines deutschen Musikers, der sich kritisch und ironisch mit den Zuständen in Deutschland auseinandersetzt. Die heutigen Gangsta- und Straßen-Rapper vertreten eine Generation, die zwischen 1980 und 1990 geboren wurde und die kaum Bezug zu den Kämpfen der ersten und zweiten Generation hat. Hinzu kommt, dass die meisten der aktuell erfolgreichen Künstler dieses Genres mit ihren Eltern erst nach 1980 in die Bundesrepublik eingewandert sind. Diese Rapper haben andere migrationsbiografische Erfahrungen gemacht und vielleicht haben sie deshalb dazu beigetragen, dass deutscher Gangsta-Rap seit etwa 2010 eine neue künstlerische Qualität bekommen hat. HipHop in Deutschland mit seinen markanten Ab- und Umbrüchen wird besser verständlich, wenn man seine Entwicklung vor dem Hintergrund der Migrationsgeschichte betrachtet. Auf der einen Seite offenbart sich entlang der Gräben, die sich zwischen den Generationen auftun, eine historische Ordnung, die auch die Einschnitte und Kommunikationsabbrüche innerhalb der HipHop-Kultur erklärt. Darüber hinaus lässt sich eine Tiefenstruktur der Kontinuität nachzeichnen, die die Selbstbehauptungs-Strategien eines Metin Türkoz oder Nedim Hazars mit denen von Advanced Chemistry oder Fresh Familee verbindet, aber auch mit Bushido, Haftbefehl oder Xatar. Zudem ist eine Genealogie migrantischer Selbstbehauptung aus der Perspektive der HipHop-Kultur auch eine Ge-

11 Ebd. S. 292. 12 Ebd. S. 296.

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schichte der Diffamierung und Bekämpfung solcher Versuche durch die Mehrheitsgesellschaft und damit des Rassismus.

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Kulturelle Empowerment-Strategien der ersten Generation Fresh Familees „Ahmet Gündüz“ von 1990 ist mehr als ein gut gerappter Track mit anständigen Beats. Über einem Saz-Sample rapt Tachi in Gastarbeiterdeutsch, das bei ihm nicht gebrochen wirkt, sondern durch Flow und Finesse zu einem ästhetischen Erlebnis wird, über Selbstbehauptung gegen alltäglichen Rassismus. In unserem Buch „Fear of a Kanak Planet“ kamen wir 2001 zu dem Schluss, dass erst die Kinder der so genannten Gastarbeiter im HipHop eine kulturelle Stimme fanden. Wir dachten, dass Tachi der Generation seiner Eltern die Stimme verleihen würde, die sie nie hatte. Das war eine Fehleinschätzung. Vor einem Jahr entdeckten wir die CD „Songs of Gastarbeiter Vol. 1“. Imran Ayata und Bülent Kullukcu hatten für diese Compilation aus einem reichen Fundus von Liedern 15 Songs ausgewählt, Lieder, die türkische „Gastarbeiterinnen“ und „Gastarbeiter“ zwischen 1960 und 1990 aufgenommen hatten. „Die offizielle Erzählung ist immer noch so: Die Gastarbeiter kamen und zerbrachen an ihrem Kummer“, sagt Ayata. „Eine andere, nicht von Klischees besetzte Geschichte unserer Elterngeneration hat die deutsche Öffentlichkeit komplett ignoriert.“ „Songs of Gastarbeiter“ jedoch beweist: Die erste Generation hatte eine kulturelle Stimme voller Kampfgeist, Witz, Ironie und Lebensfreude. Sie erhob diese Stimme gegen die Ausbeutungsverhältnisse in den Fabriken und gegen den alltäglichen Rassismus, aber auch, um ausgelassen zu feiern und sich selbst auf die Schippe zu nehmen. Die Themen der Lieder und die musikalisch spielerisch-eklektische Herangehensweise erinnern in vielen Fällen an das, was später im Kontext der HipHopKultur stattfinden wird. Ozan Ata Canani zum Beispiel kam 1976 als Zwölfjähriger nach Köln; als er an den Häuserwänden immer häufiger die Parole „Ausländer raus!“ las, beschloss er, sich gegen den rassistischen Hass zu wehren. Er schrieb das Lied „Deutsche Freunde“ und trug es 1979 in der Aktuellen Stunde und später bei Alfred Biolek im WDR-Fernsehen vor. Canani schildert darin lakonisch die Ausbeutungs- und Ausgrenzungserfahrungen ausländischer Arbeiter und richtet sich im Refrain mit feinem Spott an seine einheimischen Mitbürger: „Unsere deutschen Freunde, sie haben am Leben Freude.“ In der letzten Strophe thematisiert er die Frage, die für die zweite Generation entscheidend wird: „Und die Kinder dieser Menschen sind geteilt in zwei Welten, ich bin

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Ata und frage euch, wo wir jetzt hingehören?“ Die zentrale Metapher der multikulturellen Erzählung klingt hier bereits an: Wo gehören sie hin, die Kinder zwischen den zwei Stühlen? Das Spannende bei Ozan Ata Canani ist, dass er diese Frage an seine „deutschen Freunde“ richtet und von ihnen eine Entscheidung fordert und sich nicht, wie das in den 1980er und 1990er Jahren passieren wird, zum Adressaten und damit zum Objekt eines paternalistischen Diskurses um kulturelle Zerrissenheit machen lässt. In dem Jahr, in dem „Deutsche Freunde“ erscheint, kommt der Istanbuler Musiker Cem Karaca als Flüchtling nach Deutschland. Mit seiner Band „Die Kanaken“ kapert er das Lieblingsschmähwort der deutschen Rassisten und veröffentlicht 1984 das gleichnamige Album. Die kulturelle Umdeutung des Schimpfwortes „Kanake“ nimmt hier ihren Anfang und reicht bis zu Xatars und Haftbefehls „Kanaks“. Metin Türkoz startete seine Karriere als Musiker schon in den 1960er Jahren und war einer der erfolgreichsten Künstler der ersten Generation. Er war der Erste, der das so genannte Gastarbeiter-Deutsch als Stilmittel in seinen Liedern benutzte. „Metin Türkoz ist für mich sowohl von der Attitude als auch von der Herangehensweise der erste HipHopper“, sagt Imran Ayata. „Zum einen, weil er seine Musik sehr collagenhaft arrangiert hat, ähnlich wie das später im Sampling stattfindet, zum anderen, weil er immer wieder mit einem deutsch-türkischen Sprachmix experimentiert hat.“ In einem seiner Songs spricht Metin Türkoz seinen Vorarbeiter an: „Guten Morgen Mayistero, heute ich bin sehr müde, morgen vielleicht nicht mehr so, heute für mich schöne Tag, morgen meine Geburtstag.“ Dabei pendelt er zwischen gebrochenem Deutsch und Türkisch hin und her, so dass dem angesprochenen Vorarbeiter nicht klar sein kann, ob er von Türkoz vorgeführt wird. Der fröhliche und leichte Song animiert eher zum Tanzen als zur Akkordarbeit und unterläuft so auch musikalisch das Klischee des fleißigen und unterwürfigen Türken. Auf die Spitze getrieben wird das doppeldeutige Spiel mit der Sprache von Yusuf, der 1978 den Song „Türkisch Mann“ veröffentlicht, in dem alle Vorurteile über „die Gastarbeiter“ bestätigt werden. Als Imran Ayata und Bülent Kullukcu den Sprechgesang vor einem hypnotischen Gitarrenloop hören, sind sie irritiert: „Bei Yusuf waren wir uns nicht sicher, ob es sich da nicht um einen Fake handelt, einen Karnevalssong, der von Deutschen verfasst wurde um sich über die anatolischen Gastarbeiter zu amüsieren,“ erinnert sich Imran Ayata. Ich türkisch Mann, nix deutsch sprechen kann Kümmel, Knoblauch, Paprika ess ich auch mir sagen Leute: du nix Knoblauch heute

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ich türkisch Mann, nur türkisch essen kann ich kommen Deutschland, arbeiten am Fließband viel viel gesparen, danach Türkei fahren („Türkisch Mann“ von Yusuf, 1978)

Diese Beispiele sprachlich-musikalischen Empowerments erinnern an Henry Louis Gates’ Theorie vom Signifying Monkey: Die Sprache wird zum verwirrenden Spiel, in dem sich Bedeutungen verschieben; die rassistische Mehrheitsgesellschaft wird hinters Licht geführt, weil sie die Täuschungen und Provokationen nicht erkennt. Auch wenn eine Übertragung dieses Konzeptes auf die Bundesrepublik problematisch sein mag, ist bemerkenswert, wie zielsicher sich schon die erste Generation der deutschen Sprache als Mittel der Selbstbehauptung bedient ‒ einer Sprache, die sich die „Gastarbeiter“ in wenigen Jahren mühsam selbst aneignen mussten. Dürfen wir also das frühe Gastarbeiterdeutsch als Vorläufer der Kanak-Sprak sehen, die Mitte der 1990er Jahre mit Feridun Zaimoglu ihren Einzug in die Feuilletons feiert und später bei den Gangsta-Rappern zum Stichwortgeber wird für die Kiezsprache der deutschen Jugend? Dafür sprechen die Umstände, unter denen die Männer und Frauen der ersten Generation sich das widerspenstige Deutsch der Vorarbeiter, Vermieter und Verwaltungsbeamten zu eigen gemacht haben: Eine Piraterie in schmalen Booten auf der schweren See der fremden Sprache, ein aus der Not geborener subversiver Akt der Sprachermächtigung. Die deutsche Gesellschaft hat ihren Arbeitsgästen den Handschlag verweigert und in dieser Hinsicht ist die Feststellung von Max Frisch13 auch in einem existenziellen Sinne wahr: Die „Gastarbeiter“ vor den Toren der deutschen Sprache versauern zu lassen, bedeutete, ihnen die Menschwerdung im Deutschen zu verweigern. Die Fremden sollten dort bleiben, wo man sie als Fremde erkennen konnte: in ihrer Sprache. Yusuf, Ozan Ata Canani, Metin Türkoz, Cem Karaca und viele andere blieben dort nicht. Sie sprachen und sangen ihr eigenes Deutsch, ein „kanakisches“ Deutsch, das sich selbstständig machte und langsam der Deutungsgewalt der Einheimischen entglitt. Diese sprachliche Flexibilität und Raffinesse werden im Kontext der HipHop-Kultur fortgesetzt und verfeinert bis zu dem Punkt, da sich das Verhältnis umkehrt und die deutschen Jugendlichen den Sprachspielen migrantischer RapStars hinterherlaufen. Und die Irritationen gleichen sich: So mag der Journalist

13 1965 formulierte der Schweizer Schriftsteller Max Frisch den Satz: „Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen.“

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der Tageszeitung „Die Welt“ nicht glauben, dass die Texte von Aykut Anhan tatsächlich das Deutsch der Jugend auf der Straße widerspiegeln und entgegnet skeptisch: „So spricht doch niemand, in diesem künstlichen Kreol.“ Darauf Haftbefehl: „Doch. Ich habe die Wörter ja von der Straße. Manche habe ich auch selbst erfunden und hinausgeschickt auf die Straße, um sie wieder einzusammeln.“ Yusuf und Haftbefehl sprechen beide „Kanakisch“ und sie verwirren damit ihre Zuhörer. Der Unterschied ist, dass Sprach-Magier wie Haftbefehl oder Xatar mit ihren Worten die jungen Leute verzaubern, dass diese ihnen nachpilgern wie einst die Hamelner Kinder dem zerlumpten Flötenspieler.

G URBETÇIMÜZIK

VERSUS

ARABESK

Warum aber spiegelt sich das Erbe eines Yusuf, Metin Türköz oder Cem Karacas nicht in den kulturellen Praxen der nachfolgenden Generationen wider? Wir bewegen uns hier in einem Raum voller Hypothesen und gleichzeitig in einem Wettlauf mit der Zeit, da einige wichtige Protagonisten schon nicht mehr am Leben sind. Cem Karaca z.B. verstarb am 8. Februar 2004 in Istanbul. Es fehlt eine einflussreiche Erinnerungskultur, um diese Knotenpunkte der Vergangenheit für nachfolgende Generationen erfahrbar zu machen.14 Um zu verstehen, warum der produktive Austausch zwischen den Generationen von migrantischen Kulturschaffenden nicht erfolgte, ist es wichtig einen Schritt zurückzugehen. Nötig ist dabei die inhaltliche Auseinandersetzung mit der Musik, den Texten und den zentralen Botschaften des musikalischen Erbes der Migration. Man begeht einen Fehler, wenn man die Musik der Gastarbeiter gleichsetzt mit der Arabeskmusik, die gegen Mitte der 1970er Jahre in Deutschland bei türkischen Migranten populär wurde. Die „Gastarbeitermusik“ wurde stattdessen unter dem Namen „gurbetçimüzik“ bekannt. „Gurbet“ ist das türkische Wort für „die Fremde“ und „gurbetçi“ bedeutet so viel wie „die Menschen, die in der Fremde leben“. Auch hier verschmolz der soziale Status mit einem musikalischen Genrebegriff. Für den Musikwissenschaftler Martin Greve stehen die so genannten gurbetçi-Künstler in der Tradition der türkischen Volkslieder-

14 Es gibt weitere Projekte, die sich dem Vergessen dieser Liedkultur entgegensetzen. Mark Terkessidis veröffentlichte die CD „Heimatlieder aus Deutschland“ auf dem migrantische Folklore zu hören ist, wiedergegeben von Chören, die das musikalische Erbe der Migration vorstellen. Dort findet sich auch ein Lied des griechischen Auswanderers Stelios Kazantzidis, dessen Stücke heute in Serien wie The Wire zu hören sind.

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kultur des „âşık“ („der Liebende“).15 Dies ist eine Bezeichnung für Volksliedersänger, deren Tradition bis in das Osmanische Reich reicht und die sowohl gesellschaftliche als auch zwischenmenschliche Themen aufgriffen. In diesen Liedern kommt als tragendes Element das musikalische Musikinstrument Saz (Langhalslaute) zum Einsatz. Thematisch kreisen die gurbetçi-Lieder von der Anwerbung über Heimweh bis zu den Beschreibungen des Deutschen.16 Das Entscheidende bei den gurbetçi-Liedern ist jedoch die Auseinandersetzung mit der Erfahrung von Fremdheit in Deutschland. So war diese Musik ein Stück Nestwärme im Ausland. Metin Türköz erkannte dieses kulturelle Bedürfnis nach Musik von türkischen Arbeitskräften: „Am Anfang hatten unsere Leute doch gar nichts, woran sie sich festhalten konnten. Es gab kein Radio, keine Tonbänder, keine Kassetten. Jeder sehnte sich nach Musik. Nun, ich konnte ein bisschen Baǧlama spielen. So floss alles, was wir erlebten, Schönes wie Bitteres, in die Saiten der Saz und in unsere Lieder. Eigentlich wurde ich zum Așık, als wir das erste Mal den Republikfeiertag in Deutschland feierten.“17

Etwas anders gelagert ist es beim Arabesk, der ab 1973 Einzug als Populärmusik in türkische Milieus in Deutschland fand.18 Arabesk ist die Musik der Binnenmigration innerhalb der Türkei. Der Weg von seinem Heimatdorf in Anatolien in die türkischen Großstädte stellte für viele Menschen ebenfalls einen Kulturschock dar. Das Leben in der Stadt unterschied sich in vielen Bereichen vom Leben auf dem Dorf. Gründungsvater des Arabesk in der Türkei ist der Musiker Orhan Gencebay. Musikalisch kommen hier Streicher, Schlagzeug und auch Keyboards zum Einsatz.19 „Die Liedertexte sowie später die Arabesk-Filme handelten von den Schmerzen unglücklicher Liebe, von Heimweh, von der Kälte der Großstädte, von Schicksalsergebenheit und Verzweiflung“, erklärt Martin Greve.20 Arabesk ist der Soundtrack des Verlustes der Heimatscholle und des Wehklagens darüber. Dabei fehlt die Auseinandersetzung mit dem Ort, an dem man lebt, oder sie kommt nur als Defizit vor. Dieses pathetische Klagen traf einen Nerv bei Migranten in Deutschland. Allerdings ist die Haltung des Arabesk

15 Vgl. Greve, Martin: Die Musik der imaginären Türkei. J.B. Metzler, 2003. S.37. 16 Vgl. Ebd. S.37. 17 Hazar, Nedim: Die Saiten der Saz in Deutschland. In: Fremde Heimat. Eine Geschichte der Einwanderung. Hrsg. Eryilmaz, Aytac und Jamin, Mathilde. Klartext-Verlag, Essen 1998. S. 288. 18 Vgl. Greve, Martin: Die Musik der imaginären Türkei. J.B. Metzler, 2003. S.23. 19 Vgl. Ebd. S.48. 20 Ebd. S. 48.

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rückwärtsgewandt, da sie von der Sehnsucht ergriffen ist, wieder mit der Heimat eins werden zu wollen. Bis in die 1990er Jahre war Arabesk die bestimmende Populärkultur in der Türkei, obwohl sie bis zu diesem Zeitpunkt in den öffentlichen Medien in der Türkei verboten war, da sie den türkischen Behörden als zu lethargisch galt.21 Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass es nicht zu einer inhaltlichen Melange zwischen Arabesk und Rap kam, da hier unterschiedliche Haltungen aufeinander treffen: Rap hat einen starken lokalen Bezug und steht für urbane Menschen, die sich selbstbewusst zu Wort melden und Zustände in Frage stellen. Auch ist die schicksalhafte Metaphorik des Arabesk dem Rap fremd. Allerdings tauchen in den Rap-Songs der zweiten und dritten Generation immer wieder musikalische Bezüge und Zitate aus den ArabeskKlassikern auf in Form orientalisch anmutender Samples. Der Bezug zur zweiten und dritten Generation hätte über die Tradition der gurbetçi-Lieder funktionieren können, die an die ironische und sozialkritische Haltung der „âşık“ anknüpfen und gut in diesem Sinne anschlussfähig gewesen wären für die moderne Rapkultur.

V ON T ÜRKOLA ZU AGGRO B ERLIN Die Sommerurlaube in den 1980er Jahren waren in der Türkei aus musikalischer Sicht für Jugendliche aus Deutschland sehr erfolgreich. Denn es war die Zeit, sich günstig mit Musikkassetten einzudecken. Internationale Alben wurden für einen Bruchteil dessen verkauft, was man in Deutschland dafür hätte bezahlen müssen. Public Enemy, Run DMC oder L.L. Cool J. gab es zunächst auf Kassette. Das war eine gute Gelegenheit für Jugendliche, die teuren Preise zu umgehen, die in Deutschland für Musik verlangt wurden. Der Erfolg und die lange Tradition der Kassettenkultur sind schnell erklärt: Die Nutzung ist einfach, der Preis unschlagbar. Das hatte auch Yilmaz Asöcal erkannt, als er 1964 in Köln die Kassettenfirma Türkola gründete, die lange Zeit in Deutschland die marktbeherrschende türkische Musikfirma war.22 Hier kamen die gurbetçi-Stars wie Metin Türköz oder die Arabesksängerin Yüksel Özkasap23 heraus. Für Asöcal war Özkasap ein Glücksfall. Sie war die umsatzstärkste Künstlerin bei Türkola und

21 Vgl. Greve, Martin: Die Musik der imaginären Türkei. J.B. Metzler, 2003. S.48. 22 Vgl. Greve, Martin: Die Musik der imaginären Türkei. J.B. Metzler, 2003. S.78. 23 Özkasap wurde bekannt als „die Nachtigall von Köln“.

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nahm in ihrer Karriere über 500 Titel auf.24 Die Firma veröffentlichte nicht nur Kassetten, sondern auch Schallplatten. Allerdings war der Besitz eines Plattenspielers mit dem dazugehörigen Equipment für die so genannten Gastarbeiter schwer finanzierbarer Luxus. Dies galt auch für die Türkei. Deutlich wird dies an dem Umstand, dass die Produktion von Schallplatten bereits in den 1970er Jahren in der Türkei eingestellt wurde, weil der Markt von Musikkassetten dominiert wurde.25 „1998 produzierte der größte Tonträgerproduzent in der Türkei ‚Raks‘ 85,6 Millionen Tonkassetten, aber nur 3,8 Millionen CDs,“ betont Martin Greve in diesem Zusammenhang.26 Türkola war nicht die einzige türkische Musikfirma in Deutschland. Es bildeten sich deutschlandweit zwischen 1970 und 1980 dutzende türkische Firmen, die im musikalischen Parallelmarkt mitmischen wollten. Allerdings war ihre Reichweite häufig lokal begrenzt. Mit dem musikalischen Aufschwung ging eine weitere Entwicklung Hand in Hand: die Etablierung von Import-Export-Läden.27 Diese Geschäfte waren Gemischtwarenläden, die alles Mögliche für die migrantische Community anboten. Darüber hinaus waren die Import-Export-Läden eine gute Gelegenheit für Arbeitslose sich selbstständig zu machen. Bei dem Format der Musikkassette ging es nicht nur um die Ästhetik des Klanges, sondern auch um eine entscheidende soziale Frage: Die Kassettenkultur stellte eine Demokratisierung des Zugangs zu Kultur dar. Ein Aspekt, der bis heute Gültigkeit hat. Naheliegend, dass auch Rap-Labels wie Royal Bunker und Aggro Berlin fast 40 Jahre nach der Gründung von Türkola erfolgreich an das Kassettenformat anknüpften. Ihre Mixtapes etablierten sich schnell in der Rapszene. In den ersten Jahren von Royal Bunker schickte Label-Chef Marcus Staiger den Fans noch persönlich ihre Tapes. Und auch Aggro-Berlin Mitbegründer Specter erkannte die soziale Dimension dieses Musikformates. „Die Musik wurde elitär von oben an die Masse weitergegeben. Was wir gerade versuchen, ist von ganz unten in die Elite zu stoßen.“28 Was Aggro Berlin und Royal Bunker gelang, schaffte Türkola nicht. Trotz ihrer marktbeherrschenden Rolle in der türkischen Community nahm die deutsche Öffentlichkeit keine Notiz davon. Die Musik von Türkola zirkulierte nur innerhalb der türkischen Zusammenhänge. Erst 30 Jahre später verließen die Kinder türkischer Gastarbeiter diese musikalische Parallelwelt:

24 Vgl. Hazar, Nedim: Die Saiten der Saz in Deutschland. In: Fremde Heimat. Eine Geschichte der Einwanderung. Hrsg. Eryilmaz, Aytac und Jamin, Mathilde. KlartextVerlag, Essen 1998. S. 288. 25 Vgl. Greve, Martin: Die Musik der imaginären Türkei. J.B. Metzler, 2003. S.77. 26 Ebd. S.77. 27 Vgl. Greve, Martin: Die Musik der imaginären Türkei. J.B. Metzler, 2003. S.78. 28 Juice, Nr.11, 2003. S. 65.

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1995 mit der Rap-Crew Cartel und 1998 mit dem Popsänger Tarkan, der sogar auf Platz 7 der deutschen Musikcharts einstieg und sich dort 21 Wochen halten konnte.29 15 Jahre später gelingt Eko Fresh dann der Durchbruch, der seinem Vater verwehrt blieb: Mit seinem Album „Eksodus“ stiegt er 2013 auf Platz 1 der deutschen Albumcharts ein.

„P ERFEKT

WIE EIN

K REIS “

Die Old School als kulturelle Utopie Die zentrale Gestalt der Old School ist der Kreis. Sein Rand symbolisiert die Gemeinschaft der Aktivisten, seine Mitte das Battle, den unermüdlichen Motor der Kultur. Darin ist alles enthalten, was die Old School in Deutschland in den Jahren zwischen 1985 bis 1991 ausmacht: „Perfekt wie ein Kreis, dreihundertsechzig Grad, umschließt mein Leben und begründet jede Tat.“30 Die Bedingung für die Aufnahme in den Kreis der HipHop-Kultur war nicht Status, Herkunft oder Hautfarbe, sondern die Hingabe an eines der fünf Elemente. Damit war HipHop in den 1980er Jahren für viele Kinder der ersten Generation die Antwort auf Ozan Ata Cananis Frage „wo wir jetzt hingehören.“ Aber warum griffen die Söhne und Töchter die kulturellen und musikalischen Versatzstücke der ersten Generation nicht auf? Warum knüpften sie – anders als die HipHop-Generation in den USA – nicht an die Kämpfe und die Musik ihrer Eltern an? Hierfür gibt es verschiedene Gründe: • Auch Kinder aus Einwandererfamilien grenzen sich von ihren Eltern ab, wenn

sie in die Pubertät kommen. Cool ist dann vieles, aber nicht die Musik von Mama und Papa. • Über Filme wie „Wild Style“ oder „Breakout“ bekam die 2. Generation ein kulturelles All-Inclusive-Angebot geliefert. In den Geschichten meinte man sein eigenes Schicksal zu erkennen. • HipHop fand ausschließlich draußen statt und in einer Gemeinschaft von Gleichgesinnten ‒ als Befreiung vom Elternhaus – es war aber auch ein Weg, um vom Rand der Gesellschaft ins Zentrum vorzustoßen und Anerkennung zu bekommen. 29 Tarkan. In: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 17. November 2016, 06:08 UTC. URL: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Tarkan&oldid=15 9765260 (Abgerufen: 18. Januar 2017, 20:52 UTC). 30 Torch: Kapitel 1.

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• HipHop war eine offene Jugendkultur. Es gab keine sozialen, kulturellen oder

sprachlichen Zugangsbeschränkungen. • HipHop hatte seine eigenen Regeln, Codes und Zeichen und blieb sowohl den

Eltern als auch der Mehrheitsgesellschaft verschlossen. • Die bewusste Überlieferung von und die Wertschätzung für Kultur als Bau-

stein für die eigene Identität ist ein Merkmal bürgerlicher Milieus. Die Gastarbeiter der ersten Generation jedoch kamen überwiegend aus bäuerlich-proletarischen Traditionen.

„G EFÄHRLICH

FREMD “

Die deutsche Angst vor Fluten und Flammen Das Konzept „Gastarbeit“ endete am 23. November 1973 mit einem bundesweiten Anwerbestopp, ein Jahr später beginnt die so genannte Ölkrise. Ausländische Arbeitnehmer sind in den Folgejahren überdurchschnittlich häufig von Arbeitslosigkeit betroffen. Von 1980 bis 1988 steigt die Arbeitslosenquote von Ausländern von 3,9% auf 13,9% und liegt damit um 5,8% höher als der Durchschnittswert.31 Der Migrationsforscher Mark Terkessidis bemerkt hierzu: „Damals entstand eine Sichtweise, welche die vermehrte Anwesenheit von ‚Ausländern‘ in einem Stadtteil mit zahlreichen Schwierigkeiten in Verbindung bringt – in jeder Beziehung übertrieben sprach man von gefährlicher ‚Gettobildung‘ und beschwor die berühmt-berüchtigten ‚amerikanischen Zustände‘“.32 Nicht mehr die Fremdheit des „Türkisch Mann“ befeuert die Ängste der Deutschen, sondern der „Kanake“ im Aggregatzustand des Bandenmitglieds. Im November 1984 stellt das Nachrichtenmagazin Der Spiegel fest: „Und wie es in New York einst die Gettos der Schwarzen und Puertoricaner waren, die den Nährboden für die Bandenbildung abgaben, so sind es in der Bundesrepublik von heute die Großstadtviertel, wo sich Arbeitslose und Gastarbeiter ballen. Fast alle Straßenbanden haben junge Türken und/oder Griechen, Jugoslawen, Portugiesen als Mitglieder; viele Gangs werden von Ausländern dominiert.“33

31 Stefan Bender und Werner Karr: Mitteilung aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Arbeitslosigkeit von ausländischen Arbeitnehmern. 26. Jg./1993. 32 Mark Terkessidis: Migranten. Hamburg 2000. S. 28. 33 Der Spiegel: Wir nehmen den ganzen Laden auseinander. 46/1984.

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Zu den Angstbildern „sozialer Brennpunkt“ oder „sozialer Sprengstoff“ kommt in den deutschen Medien Ende der 1980er Jahre das der „Asylantenflut“. Schon vor 1990 steigt die Zahl rechtsradikaler Übergriffe auf „Ausländer“ kontinuierlich an. Nach der Wiedervereinigung kommt es dann zu einer Reihe von Pogromen. Zwischen 1990 und 1994 sterben in Deutschland 56 Menschen durch rassistische Übergriffe. In dieser Zeit geht die Ära der Old School zu Ende. Der Erfolg der Fantastischen Vier verhilft einer verspielten, unpolitischen Form des Deutschrap zum kommerziellen Durchbruch. Auf der anderen Seite politisieren sich in Folge der Anschläge von Rostock, Solingen und Mölln viele HipHopper und nehmen an sozialen und antirassistischen Kämpfen teil. Abseits dieser Szenerie erreicht ein Beben aus Los Angeles die „sozialen Brennpunkte“ der bundesdeutschen Städte: Gangsta-Rap und G-Funk werden zum Soundtrack einer Generation, die einen anderen Weg wählt, einer Generation, die sich weder für Deutschrap noch für Multikulti interessiert und die zehn Jahre später als jener „Azzlack-Stereotyp“ ins Rampenlicht treten wird, vor dem sich die deutsche Gesellschaft schon gefürchtet hat, noch bevor es ihn überhaupt gab. Exkurs 1: „Kanake“/„Kanakisch“ Das Verhältnis zwischen Einwanderern und Einheimischen lässt sich vielleicht am besten daran ablesen, wie die Gastgesellschaft auf die Versuche von Migranten reagiert sich der neuen Sprache zu bemächtigen. In der Bundesrepublik ist dieses Verhältnis von Beginn an mit starken Emotionen besetzt. Es scheint, als habe es nie einen Moment der neutralen Begegnung gegeben, als sei die Sprache von Beginn an ein Schlachtfeld gewesen, auf dem sich migrantische Selbstbehauptung gegen rassistische Zuschreibungen stemmte. Zwischen 1955 und 2017 lassen sich grob vier Phasen unterscheiden: 1. Gastarbeiterdeutsch: Das „gebrochene“ Deutsch, das sich die erste Genera-

tion alleine beibringt. 2. Kanak-Sprak: Der Slang der zweiten Generation und die künstlerische Über-

höhung dieses Slangs zur sprachlichen Subversion durch Autoren der zweiten Generation. 3. Comedy Kanak-Sprak: Die Verulkung von Kanak-Sprak durch deutsche Komiker nach dem Muster des Blackfacing. 4. Gangsta-Slang und Kiezdeutsch: Begriffe und Wendungen aus dem Türkischen, Kurdischen, Arabischen oder Romanes im Gangsta-Rap verhelfen einem neuen Gangsta-Slang zu jugendkultureller Dominanz. Nach und nach werden Begriffe des Gangsta-Slang Teil der deutschen Kiezsprache.

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Gastarbeiterdeutsch Während der ersten Phase der Arbeitsmigration in den Jahren zwischen 1955 und 1973 gab es von staatlicher Seite weder Überlegungen zur Integration noch zur Ansiedlung der neuen, vermeintlich nur temporären Arbeitskräfte. Das gebrochene Deutsch, dass sich die erste Generation trotz dieser Umstände aneignete, wurde schnell zum Gespött der Einheimischen. Und der Türkenwitz machte die Runde. Dort ging es um Knoblauch und Kümmel, aber auch um Mülltonnen und um Vergasung.34 Doch die Gäste wehrten sich. Noch bevor Metin Türkoz und Yusuf in ihren Songs den Gastarbeiterslang als parodistische Waffe einsetzten, machte man sich in den Familien über die Deutschen lustig, die nur Kraut und Kartoffeln kannten und sich auch sonst seltsam verhielten: „Winters wie Sommers saß man in der Gastronomie in dunklen eichenvertäfelten Wirtshöhlen, schaute grimmig drein und aß schwer Verdauliches.“35 Einige dieser kleinen Subversionen fanden mit dem Erfolg neuer Comedians wie Kaya Yanar Ende der 1990er Jahre ihren Weg auf die große Bühne.36 Doch schon in den 1970er und 1980er Jahren machen sich „Gastarbeiter“ der ersten Generation daran, die Deutungshoheit über ihren Slang zurück zu erobern. Cem Karaca fügte 1984 dem rassistischen Schimpfwort „Kanake“ die erste Wunde zu, und es sollten noch viele weitere folgen. Kanak-Sprak Wie zuvor Helmut Schmidt wollte sich nach 1982 auch Bundeskanzler Helmut Kohl nicht der Tatsache stellen, dass die Bundesrepublik zu einem Einwanderungsland geworden war. Maßnahmen wie Sprachförderung, Unterstützung migrantischer Unternehmensbildung, Schaffung gleicher Chancen auf gute Jobs und Bildung, Kampf gegen Diskriminierung im Alltag wurden aufgeschoben. So wurden aus den „Gastarbeitern“ und ihren Kindern „Ausländer“. Auf der anderen Seite formierte sich in den 1980er Jahren ein breites Bündnis aus Kirchen, Gewerkschaften und alternativen Bewegungen und leistete Widerstand gegen die „geistig-moralische Wende“ unter Helmut Kohl. Viele dieser Menschen machten sich auch gegen Rassismus stark und setzen den Ausländerfeinden die Utopie

34 Murat Kayi: „Der Türke in der Mülltonne.“ Migrationspolitisches Portal der HeinrichBöll-Stiftung. 35 Murat Kayi: „Der Türke in der Mülltonne.“ 36 Die Väter des migrantischen Comedys ist die Formation Knobi-Bonbon mit den Kabarettisten Şinasi Dikmen und Mussin Omurca, die 1986 mit ihrem Programm starteten und zwei Jahre später den deutschen Kleinkunstpreis gewannen.

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eines multikulturellen Miteinanders entgegen. So wurden allein zwischen den Jahren 1980 und 1984 siebzehn Anthologien von migrantischen Autoren bei deutschen Verlagen veröffentlicht und damit das Genre der Gastarbeiterliteratur geboren.37 In gewisser Weise reproduzierte sich jedoch im Multikulturalismus die konservative Prämisse der Differenz zwischen Deutschen und Migranten: Das Engagement der multikulturellen Aktivisten wirkt rückblickend oft paternalistisch, weil sie den „guten Ausländer“ auf der Agenda hatten und die (bereichernden) Unterschiede zwischen den Kulturen betonten. „Im Grunde sollten die ethnischen Unterschiede in die große weite Welt der überall sichtbaren Unterschiede von Moden und Lebensstilen aufgenommen werden“, stellt Mark Terkessidis fest.38 Erst als der Traum einer „Bunten Republik Deutschland“39 in den Flammen von Rostock, Solingen und Mölln verkohlte, änderte sich der Ton. Mit Kanak Attak betritt eine politisch-kulturelle Bewegung die Bühne, die sich jeder Identitätszuweisung verweigert: „Kanak Attak ist keine Freundin des Mültikültüralizm,“ heißt es im Manifest von 1998, „Wir verschwenden nicht unsere Power an ein folkloristisches Modell. (...) Kanak Attak ist eine Frage der Haltung und nicht der Herkunft.“ Kanak Attak politisierte auch einige Aktivisten der HipHop-Generation; ihr Ziel, den „HipHop-Mainstream durcheinander zu bringen“40, wurde jedoch nicht erreicht. Die Kids auf der Straße orientierten sich nicht an den dekonstruktiven Strategien von Kanak Attak. Im Gegenteil: Die Generation Gangsta-Rap wollte vom Bordstein zur Skyline und wählte damit einen Weg, vor dem das Netzwerk in seinem Manifest ausdrücklich gewarnt hatte: „die Figur des jungen, zornigen Migranten, der sich von ganz unten nach oben auf die Sonnenseite der deutschen Gesellschaft boxt.“41 Comedy Kanak-Sprak Der afroamerikanische Intellektuelle William Du Bois erklärte den Erfolg der im 19. Jahrhundert verbreiteten Ministrel-Shows, in denen schwarz geschminkte Weiße rassistische Stereotype vorführten, damit, dass dem Publikum – vorwiegend Arbeiter – durch ihr Weißsein ein Zugewinn zuteil wird. Das „Blackfacing“ trägt also zu einer Konstruktion eines „weißen“ Bewusstseins bei, das sich als höherwertig erlebt und von der naiven, beschränkten und triebhaften Figur 37 38 39 40 41

Thomas Ernst: Literatur und Suberversion. Bielefeld 2013. S. 286-87. Terkessidis: Migranten. S. 81. 1989 erschien das Studioalbum „Bunte Republik Deutschland“ von Udo Lindenberg. Murat Güngör in: 35 Jahre HipHop in Deutschland. S. 388. Kanak Attak Manifest. Zitiert nach Loh 35 Jahre HipHop. S. 386.

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des Schwarzen abgrenzt. Ende der 1990er Jahre ziehen sich einige deutsche Comedians eine „kanakische“ Maske über und sprechen jenen übertriebenen Ausländerslang, der sich auch auf den Pausenhöfen deutscher Gymnasien großer Beliebtheit erfreut. „Dieses Konstrukt nimmt zwar einige typische Merkmale der Sprache der jugendlichen Migranten auf, unterscheidet sich aber gerade durch zusätzliche, besonders ‚fremd‘ wirkende Merkmale von der Realität.“42 Der Ministrel-„Kanake“ bei Matze Knoop, Erkan und Stefan oder bei Mundstuhl zeichnet sich durch eine selbstbewusst zur Schau getragene geistige Beschränktheit aus und lebt in einem sozial prekären Umfeld. Im Lachen über den „kanakischen“ Trottel vergewissert sich das Publikum seiner deutschen Identität und seines sozialen Vorsprungs. Und im lustvollen Nachahmen des „kanakischen“ Pseudoslangs erinnert man sich an die wichtigste Grenze, die die „Kanaken“ auf der Seite der gesellschaftlichen Verlierer hält: Die Sprache. Erst mit Kaya Yanar und dann mit der 2005 gegründeten Rebell Comedy Show von Babak Ghassim und Usama Elyas erobert eine junge Generation die Bühnen zurück, die in ihrem Programm Selbst- und Fremdklischees auf die Schippe nimmt und gesellschaftliche Stereotype entlang einer biografisch-historischen Achse dekonstruiert. Gangsta-Slang und Kiezdeutsch Mit dem Erfolg des Independent Rap-Labels Aggro-Berlin macht sich GangstaRap in Deutschland seit der Jahrtausendwende auf den Weg, den Mainstream aufzumischen. Die Protagonisten dieses neuen Genres sprechen eine Sprache, die den Jugendlichen in den „sozialen Brennpunkten“ vertraut ist. Die meisten Fans sind aber deutsche Jugendliche aus bürgerlichen Haushalten, die sich bemühen, Slang und Haltung ihrer Vorbilder in ihren Habitus einfließen zu lassen. Damit drehen sich die Verhältnisse um: Alle wollen plötzlich reden wie die Gangsta-Rapper in den Videos, doch nicht alle verstehen die Begriffe und Wortspiele ihrer Stars. Mit dem Gangsta-Slang schaffen die Rapper ihrerseits eine Kunstsprache, die aus unterschiedlichen sprachlichen Quellen schöpft: (Hoch-)Deutsch, Türkisch, Englisch, Kanak-Slang, Kiezsprache etc. Thomas Ernst stellt in diesem Kontext fest: „Zwar können die meisten ‚Angehörigen der zweiten Migrantengeneration‘ noch immer nicht ihre minoritäre Position innerhalb der Gesellschaft verlassen, allerdings haben sie – teilweise – eine größere sprachliche Auswahl als die Jugendlichen der ‚deutschen Mehrheitsgesellschaft‘“.43 Ab 2010 verstärkt

42 Thomas Ernst. Literatur und Subversion. S. 312. 43 Thomas Ernst: Literatur und Subversion. S. 331.

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sich dies noch, denn eine neue Generation von Straßen-Rappern verdichtet den Gangsta-Slang zu einem hoch artifiziellen Sprachmix, der immer mehr StraßenVokabeln aufgreift und in Nominal-Kaskaden verarbeitet. Dabei bleibt manchmal unklar, ob die Rapper selbst neue Worte erfinden und diese dann durch die Fans in Umlauf gebracht werden, oder ob sie Trends aus dem Kiez aufgreifen und mit ihren Songs landesweit populär machen. Mit dieser neuen sprachlichen Deutungsmacht ist Rap auch in Deutschland dort angekommen, wo er laut M1 von dem New Yorker Rap-Duo Dead Prez hingehört: „Wir definieren, was der Scheiß bedeutet! Wir sagen das so, wie wir es wollen und die Weißen sind gezwungen, das zu entschlüsseln, sie müssen unseren Worten nachlaufen! Das ist es, worum es im Rap geht. Wir verändern die Bedeutung der Wörter.“44 Rapper wie Azad, Xatar, Haftbefehl, Celo und Abdi, Veysel, Kurdo oder KC Rebell haben eine Fülle neuer Worte wie „Para“, „Baba“, „Chabo“ „Cho“, „Xalas“, „Amcas“ usw. in Umlauf gebracht, die dem Türkischen, Kurdischen, Arabischen oder Romanes entlehnt sind. Wer hier den Anschluss nicht verlieren will, der muss viel Rap hören, und er ist im Vorteil, wenn er türkische oder arabische Freunde hat. 2011 veröffentlicht Eko Fresh den Song „Türkenslang/ Straßendeutsch“, in dem er genüsslich die neu eroberte semantische Dominanz auskostet und seinen deutschen Fans die In-Worte erklärt. Und nur ein Jahr später legen die Frankfurter Rapper Celo und Abdi mit dem Song „Hinterhofjargon“ nach, auf dem sie weitere Straßenvokabeln „für Hans und Franz“ erklären. Wie sich die Zeiten geändert haben, spiegelt sich auch in der augenzwinkernden Inszenierung der MCs als Oberlehrer des „Kanakendeutsch“: „Sei jetzt still, setz’ dich hin, erste Lektion (...) ich bin’s, Abdi, Erfinder des globalen Rap, Interlingo, raus mit dem Vokabelheft.“ Verschiedene Untersuchungen kommen zu dem Schluss, dass der Sozio-Ethnolekt der migrantischen Jugendlichen mittlerweile die wichtigste Quelle für das Kiezdeutsch der Großstädte ist.45 Und wie steht es um den Begriff „Kanake“? Hier zeigt sich ein ambivalentes Ergebnis: Zum einen haben die migrantischen Gangsta-Rapper den Rassisten ihr Lieblings-Schmähwort vollends entrissen und es als stolze Eigenbezeichnung übernommen. Zum anderen haben sie das Wort wieder fest an ethno-soziale Zuschreibungen gebunden. Der „Kanake“ ist der kriminelle Schwarzkopf aus dem gefährlichen Viertel, vor dem man sich in Acht nehmen sollte – das versichern einem Xatar in „Überall Kanacken“, Summer Cem in „Kanakk“, Nazar in 44 Hannes Loh: HipHop and Politics: Dead Prez & das Patchwork der Widersprüche. In: INTRO (März 2004). 45 Mohamed Amjahid: Potenzial des Ethnolekts. Kiezdeutsch ist mehr als „Isch geh’ Aldi.“ Berliner Tagesspiegel (13.08.2014) und Hatice Deniz Canoglu: Kanak Sprak versus Kiezdeutsch – Sprachverfall oder sprachlicher Spezialfall. Berlin 2012.

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„Kanax“, SAW (KC Rebell und PA Sports) in „Kanacken ABC“ und Coup (Haftbefehl und Xatar) in ihrem 2016 erschienenen Track „Kanack“. Doch wer genau hinhört, der spürt auch in diesen Songs einen Nachhall von Yusufs „Türkisch Mann“. Werden hier nicht Stereotype so brutal überzeichnet und unverhohlen als persönliche Identität ausgestellt, dass die Mehrheitsgesellschaft mit ihren eigenen Vorurteilen konfrontiert wird? Fest steht, dass der Begriff „Kanake“ von den Gangsta-Rappern immer wieder als semantischer Ort aufgesucht wird, um das Verständnis von Selbst- und Fremdwahrnehmung künstlerisch zu verhandeln.

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1979 erscheint im Fischer-Verlag ein Sammelband mit Beiträgen jüdischer Autoren, die über ihr Leben in der Bundesrepublik schreiben. Die Herausgeber, Henryk M. Broder und Michael Lang, geben ihrer Anthologie den Titel „Fremd im eigenen Land“. Im Spiegel sagt Broder 1981: „Für Juden gibt es keine Normalität in Deutschland.“ 1992 erscheint die Maxi-Single „Fremd im eigenen Land“ von Advanced Chemistry. Torch, Toni L und Linguist reflektieren in dem gleichnamigen Song ihre Erfahrungen als Afrodeutsche und Migrantenkinder im wiedervereinigten Deutschland. „Fremd im eigenen Land“ beeinflusst eine ganze Generation von HipHop-Aktivisten und schreibt der Bewegung für lange Zeit eine antirassistische Tendenz ein. Der Berliner Rapper Fler nennt sein drittes Soloalbum ebenfalls „Fremd im eigenen Land“ und erreicht damit 2008 Platz 7 der deutschen Albumcharts. Dort stilisiert sich Fler als „Deutscher Bad Boy“ und sagt: „Ich bin Deutscher, denn ich hab’ Identität.“ Fler betont, es gehe ihm um Ehre und Selbstbewusstsein und dass ihm seine „ausländischen Freunde“ Respekt dafür zollen würden, wenn er sich mit Stolz zu seinem Deutschsein bekenne. Im Februar 2016 tragen Demonstranten ein großes Transparent auf dem steht: „Heute sind wir tolerant, morgen fremd im eigenen Land.“ Sie kommen aus Clausnitz und protestieren gegen die Unterbringung von Geflüchteten in ihrer Stadt. Wer heute „Fremd im eigenen Land“ bei Google eingibt, der wird neben Hinweisen zu Fler und Advanced Chemistry vor allem Links finden, die ihn auf rechtsradikale Seiten verweisen. Anders als bei dem Begriff „Kanake“ zeigt diese Geschichte, wie ein vormals emanzipatorischer Slogan einer Minderheit von Rechten gekapert und zu einer rassistischen Parole umgeformt werden kann.

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Exkurs 2: Gangsta-Rap und Segregation Mit Bonn, Offenbach oder Essen sind auch mittlere und kleinere deutsche Großstädte in das Zentrum der Diskussion um Einwanderung, Integration – und Gangsta-Rap geraten. Dabei geht es immer auch um die Wohnorte von Migranten und um die gefühlte Bedrohung, die von diesen Bezirken ausgeht. Der Begriff des „Gettos“, der in seiner historischen Bedeutung im Zuge der Einbeziehung und gleichzeitigen Ausgrenzung der jüdischen Stadtbevölkerung in der Antike und im Mittelalter entstanden ist, wird seit den 1970er Jahren in Deutschland auch auf Stadtviertel bezogen, in denen ethnische und/oder soziale Segregation stattfindet. In den Videos der aktuellen Gangsta-Rapper begegnen einem immer wieder die tristen Hochhaussiedlungen am Rande der Stadt: Sidos Märkisches Viertel (Berlin) und Azads Nordweststadt (Frankfurt) stehen am Anfang der visuellen Inszenierung jener „gefährlichen (Vor-)Orte“. Dabei war die architektonische Planung und der Bau dieser Vorstädte in den 1960er Jahren von Optimismus geprägt: Statt enger, maroder und lauter Stadtwohnungen sollte moderner Wohnraum am Rand der Metropolen geschaffen werden, der seinen Bewohnern ein Maximum an Komfort bietet. Dieser Ansatz war damals ein sehr fortschrittliches Modell, und niemand dachte dabei an Gettos. Erst mit der zweiten Ölkrise 1979/80 entwickelten sich die Vororte nach und nach zu jenen „sozialen Brennpunkten“, die Künstler wie Azad oder Sido in ihren Videos visualisieren. Weil die Krise statt Arbeit immer mehr Arbeitslose produzierte, verkamen die einst mit so viel Optimismus gebauten Viertel an der Peripherie zu sozialen Sackgassen. In Deutschland ist die Geschichte von Gangsta-Rap unauflösbar verknüpft mit den besonderen Orten der Urbanität, wie sie sich in Wechselwirkung zwischen Einwanderungsgeschichte und (misslungener) Städtebaupolitik herausgebildet haben. Wer in einer Großstadt in welchem Bezirk eine Wohnung bekommt, hängt vom Einkommen ab – aber auch davon, ob der Nachname als ‚fremd‘ wahrgenommen wird. Die ökonomische Entwicklung, der wachsende Abstand zwischen Reichen und Armen sowie die gesellschaftlichen Diskurse über Migranten und Flüchtlinge – und hierzu gehören auch die Diskurse über Gangsta-Rap – bestimmen die Wahrnehmung und die Bewertung sogenannter sozialer Brennpunkte. In der Inszenierung der Gangsta-Rapper werden diese Orte zum A Priori des jugendlichen migrantischen Selbstbewusstseins und bilden den symbolischen Hintergrund, vor dem sich das Phänomen deutscher Gangsta-Rap entfaltet.

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Exkurs 3: Großer Bruder Frankreich Blickten viele Jugendliche anfangs noch fasziniert nach L.A., so orientierte sich der aufstrebende Gangsta-Rap in Deutschland spätestens Ende der 1990er Jahre sowohl ästhetisch als auch musikalisch am französischen Straßen-Rap. Dafür gab es verschiedene Gründe: • Die französischen Banlieues in Paris oder Marseille waren zwar weitaus grö-

ßer als die deutschen Vorstädte, sie entstammten aber vergleichbaren städtebaulichen Ambitionen und weisen eine verwandte Architektur auf. • In der Nordweststadt, dem Märkischen Viertel oder Chorweiler vollzog sich eine ähnliche soziale und ethnische Segregation, die dazu führte, dass diese Bezirke in der öffentlichen Wahrnehmung als „soziale Brennpunkte“ und „Ausländergettos“ markiert wurden. • In Frankreich wie in Deutschland bot sich Rap für ethnische Minderheiten als hybride Kunstform an, mit der sich die Distanz zwischen der Herkunftssprache und der Sprache der Mehrheitsgesellschaft im Sinne einer kreolischen Aneignungsstrategie spielerisch und subversiv überwinden ließ. • Die Kommerzialisierung von deutschem Gangsta-Rap orientierte sich früh an der Videoästhetik und dem Sound der erfolgreichen französischen StraßenRapper. Specter, einer der Gründer des Labels Aggro-Berlin, hatte mit seinem Artwork und der Gestaltung von Musikvideos für Künstler wie Azad, Bushido und Sido einen großen Einfluss auf die Bilderwelt des deutschen Gangsta-Rap. Schon bei Azads frühen Produktionen spürt man den Einfluss von IAM aus Marseille, besonders von Shurik’n. Azad ist auch der erste, der von den Franzosen die arabischen Wörter „Chuja“ und „Cho“46 übernimmt und sie in den deutschen Straßen-Slang transformiert. Bushidos Anleihen bei Booba und anderen französischen Straßen-Rappern sind offensichtlich. Und dieser Einfluss setzt sich fort, denn der verstohlene Blick nach Paris und Marseille erweist sich nicht nur als kreative Inspiration für die Entwicklung eigener Ideen. Die Übernahme der musikalischen und ästhetischen Versatzstücke garantiert fast immer den Erfolg beim Publikum und kommt in manchen Fällen dem Plagiat recht nahe. So sind die Anleihen von Haftbefehl bei den Pariser Rappern Booba oder Kaaris nicht zu übersehen, aber auch der beeindruckende Erfolg der KMN-Crew um die Rapper Azet, Nash, Zuna und Miami Yacine sowie die Berliner Locosquad oder der

46 „Chuja“ ist das arabische Wort für Bruder. „Cho“ ist die Kurz- oder Koseform von „Chuja“ und kann mit „Brudi“ übersetzt werden.

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385ideal-Schützling Nimo wären ohne die französischen Vorbilder kaum denkbar. Auf der anderen Seite ist der Erfolg von (Afro-)Trap in Deutschland auch auf neue Migrationsbiografien zurückzuführen, die sich von denen der vorangegangenen Gangsta-Rap-Generation unterscheiden. Viele der aktuellen Rapper dieser Spielart sind als Flüchtlinge aus afrikanischen Staaten nach Deutschland gekommen, einige haben mit ihren Familien vorher in Frankreich oder Belgien gelebt und dort den französischen Straßen-Rap kennen gelernt. Der französischafrikanische Einfluss auf das deutsche Genre Gangsta-Rap ist in vielen Bereichen greifbar.

W AS

IST EIN

AZZLACK -S TEREOTYP ?

Gangsta-Rap heute Die Entwicklung von Gangsta-Rap in Deutschland lässt sich in drei Phasen einteilen: 1. Inkubationsphase (1990-2000): Der kalifornische Gangsta-Rap macht die

Streetgang und die Figur des Hustlers zu sozialen und ökonomischen Identifikationsgestalten. Es kommt aber – anders als in Frankreich – nur vereinzelt zu einer künstlerischen Umsetzung dieses neuen Lebensgefühls. 2. Phase der Gestaltung und Kommerzialisierung (2001-2008): Künstler wie Charnell & TMO (Da Force) und Azad geben Gangsta-Rap in Deutschland die ersten ästhetischen Konturen. Mit dem kommerziellen Erfolg von Bushido erhält das Genre eine charismatische Symbolfigur, die zum Prototyp des deutschen Gangsta-Rappers avanciert. Berlin und Frankfurt etablieren sich als Hochburgen des Straßen-Rap. 3. Phase des Umbruchs, der Regionalisierung und der künstlerischen Erneuerung (2009-2017) Während das Feuilleton das Ende von deutschem Gangsta-Rap verkündet, taucht eine neue Generation von Straßen-Rappern auf, die das Genre vielfältiger macht und künstlerisch so verändert, dass sich ab 2015 bürgerliche Medien immer öfter auch mit der ästhetischen Qualität von Gangsta-Rap auseinandersetzen. Viele Protagonisten der beschaulichen Old-School-Szene in Deutschland waren Kinder der ersten Generation. Als Breakdancer, Graffiti-Sprüher, DJs und Rapper trugen sie dazu bei, dass sich die HipHop-Kultur zu einer großen Jugendbewegung entwickelte. Auf der anderen Seite gab es viele jugendliche Migranten, denen die Alte Schule mit ihrer Jam- und Reisekultur fremd bleiben sollte.

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Für diese Generation waren nicht „Rappers Delight“ oder „The Message“ die kulturellen Weckrufe, sondern „The Chronic“ von Dr. Dre oder „Doggystyle“ von Snoop Dogg. Ihr Lebensgefühl sahen sie nicht in „Wild Style“ oder „Beat Street“ repräsentiert, sondern in „Boyz n the Hood“ von John Singleton (1991), in Mario Van Peebles’ „New Jack City“ (1991) oder in „Menace II Society“ (1993) der Gebrüder Hughes. Aber es sollte noch fast zehn Jahre dauern, bis diese Generation zum Mikrofon greift, vorerst blieb der kalifornische GangstaRap die Hintergrundmusik für die Kids aus Kreuzberg, Chorweiler oder der Nordweststadt. Die zunehmende Segregation, fehlende Bildungs- und Berufsperspektiven, aber auch die wiederkehrende Erfahrung von Rassismus und Ausgrenzung führen dazu, dass sich viele jugendliche Migranten an alternativen Vorbildern und Aufstiegsmodellen orientieren. Die Erfolgsgeschichten von Sportlern und Musikern spielen in diesem Zusammenhang eine Rolle, aber auch die Aussicht auf das schnelle Geld in der Schattenökonomie der Halbwelt. Hierzu lieferte der amerikanische Gangsta-Rap zwei wichtige Identifikationsfolien: Auf der Ebene der kollektiven und sozialen Ordnung die Streetgang, auf der Ebene der individuellen und ökonomischen Ordnung die Figur des Hustlers. Die Streetgang gibt dem Einzelnen Rückhalt und Selbstbewusstsein und stellt verbindliche Regeln für das Kollektiv auf. Außerdem stärkt sie die Identifikation mit und die Verantwortung für das eigene Viertel. Şenol Kayacı, ehemaliges Mitglied der Berliner 36Boys: „Die Identitäten und das Gemeinschaftsgefühl waren damals an den gesamten Bezirk gebunden. Innerhalb der Gruppe waren Gewalt und Konflikte größtenteils gebannt.“47 Im Hustler hingegen verkörpert sich die Figur des mit allen Wassern gewaschenen Straßenunternehmers. Er versinnbildlicht den Getto-Tellerwäschermythos: Mit einem klugen Plan, Ausdauer und Rücksichtlosigkeit kann es jeder im Viertel schaffen.48 Im kalifornischen Gangsta-Rap tritt dieser Typus darüber hinaus mit einer ästhetischen Kraft und einer verführerischen Coolness auf, so dass er für Vorstadtjugendliche auf der ganzen Welt zum Vorbild wird. Schon 1992 weist Günter Jacob darauf hin, dass in der Rhetorik der männlichen Rapper Sexualität und Herrschaft zusammenfallen und zwar „ohne weitere Zwischentöne und ohne den Versuch einer Reflexion. (...) Die Ordnung im Zuhältermilieu transformiert die Prinzipien bürgerlicher Herrschaft in unmittelbare Gangsterherrschaft und setzt doch die bürgerliche fort.“49 Die Entwicklung eines deutschen Gangsta-Raps war lange durch

47 Loh: 35 Jahre HipHop. Seite 196. 48 Das Urban Dictionary definiert den Hustler als: „Someone who knows how to get money from others. Selling drugs, rolling dice, pimpin. Your hustlin for that money.“ 49 David Dufresne: Yo Rap Revolution. Paris 1992. Seite 181.

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zwei Diskurse blockiert: Zum einen hatte der Erfolg der Fantastischen Vier eine Idee von Rap etabliert, die mit Deutschland und Mittelstand zu tun hatte. Lange konnte man in den Feuilletons lesen, dass es in der Bundesrepublik an den sozialen Voraussetzungen fehle, um glaubwürdigen Rap von der Straße hervorzubringen. Auf der anderen Seite unterstellte der multikulturelle Diskurs den Rappern mit Migrationshintergrund, dass sie auf der Suche nach ihrer zerrissenen Identität seien und HipHop als emanzipatorisches Sprachrohr nutzen würden ‒ als türkischen CNN sozusagen.50 Diese Bezugnahme der Gesellschaft auf Rap sowie der wachsende Nationalismus im Zuge der Wiedervereinigung (der auch zum Erfolg des Modells Deutsch-Rap beiträgt) führten dazu, dass Deutsch als RapSprache von den meisten Migrantenkindern zunächst abgelehnt wird.51 Erst Ende der 1990er Jahre kommt es zu den ersten Gehversuchen des Genres GangstaRap. Spätestens mit der Veröffentlichung von Sidos „Mein Block“ und mit dem Erfolg von Bushido verschiebt sich die Sprecherposition im Deutschrap. Jetzt rückt das „Getto“, der „soziale Brennpunkt“ in den Fokus und konfrontiert die Mehrheitsgesellschaft mit den realen und imaginierten prekären Orten und Menschen im eigenen Land. Der Dortmunder MC Intifada hat dieses Phänomen in wenigen Zeilen treffend zusammengefasst: „Ich seh’ die Straße in den Top Ten / auch wenn die Yuppies jetzt ein paar Jungs aus dem Block kenn’ / ist es hier noch dreckig wie in Gothem.“ Was sich auch ereignet ist das, was Ice T als „Home Invasion“ charakterisiert hat: eine Begeisterung der jungen bürgerlichen Kids für die Musik der Gangsta-Rapper und damit der große kommerzielle Erfolg von Rap-Musik. Außerdem regionalisiert und demokratisiert GangstaRap nun auch in Deutschland den Zugang zu kulturellem Kapital. Jetzt kann jeder zur billigen Handkamera greifen und die Zuhörer in die verwegenen Ecken des eigenen Viertels führen. „Now every hood could be Compton“ schreibt Jeff Chang in Hinblick auf den Erfolg von N.W.A , „everyone had a story to tell.“52 Es gab jetzt Vorbilder, auf die sich die Kids im Viertel beziehen konnten und in denen sie ein Lebensgefühl wiedererkannten, das ihnen vertraut war. Haftbefehl erinnert sich im Interview mit der Tageszeitung Die Welt: „Bushido war der erste deutsche Gangsta! Azad hat noch über Rap gerappt, Bushido über die Straße.“53 Diese „hood-centric“, die Zentrierung auf den eigenen Bezirk, auf

50 Vergleiche hierzu: Ayse Caglar: Verordnete Rebellion. Deutsch-türkischer Rap und türkischer Pop in Berlin. In: Globalkolorit. Multikulturalismus und Populärkultur. S. 41-63. 51 In diesen Kontext ist auch der Erfolg der deutsch-türkischen Band Cartel einzuordnen. 52 Jeff Chang: Can’t Stop Won’t Stop. New York 2005. S. 497. 53 Michael Pilz: „Ich bin genauso deutsch wie mein Nachbar Marius.“ Die Welt (24.11. 2014).

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„what is real“ und die Legitimation, ohne großes Vorwissen loszulegen, führt in Deutschland spätestes seit 2005 dazu, dass sich in vielen deutschen Städten lokale Rap-Crews zusammenschließen, um sich und ihr Viertel zu repräsentieren. Im Ruhrgebiet, Köln und Hamburg, aber auch in kleineren deutschen Städten greifen jetzt die Jungs aus den Randbezirken zum Mikrofon. Diese neue Generation von Gangsta-Rappern ist zwischen 1980 und 1990 geboren und drückt spätestens ab 2010 dem Genre seinen Stempel auf. Dabei ist es bezeichnend, dass die jungen MCs nicht in erster Linie die dritte Einwanderergeneration repräsentieren, sondern oft selbst erst in den 1980er Jahren als Geflüchtete nach Deutschland kamen. So kam KC Rebell als Flüchtlingskind mit seinen Eltern nach Deutschland, ebenso wie Fard, Kurdo, Xatar, Bero Bass, Nazar, Eno, Zuna, Farid Bang, SSIO oder Majoe. Rapper wie Manuellsen, PA Sports oder Massiv wurden als Kinder nach der Flucht ihrer Eltern in Deutschland geboren. Keiner dieser MCs wuchs mit Deutsch als Muttersprache auf, und doch prägen sie mit ihrem urbanen HipHop-Ethnolekt den Slang der deutschen Jugend. Viele der aktuell erfolgreichen Rapper stammen aus Familien, die in den 1980er Jahren aus dem Nahen Osten eingewandert sind. Ihnen folgt eine Generation von Jugendlichen, deren Eltern aus afrikanischen Staaten nach Deutschland gekommen sind, und wir können davon ausgehen, dass sich in etwa zehn Jahren im Gangsta-Rap die ersten syrischen Rapper zu Wort melden werden. Dieser Zusammenhang macht deutlich, dass Gangsta-Rap (nicht nur in Deutschland) seine Erneuerungskraft aus der Diaspora-Erfahrung seiner Protagonisten schöpft. Diese Kraft ist um so frischer und prägender, je präsenter die Erfahrungen von Flucht und Vertreibung sind, was nicht bedeutet, dass sich diese Themen zwangsläufig in den Texten der Rapper niederschlagen. So ist deutscher Gangsta-Rap zu einem vielfältigen künstlerischen Medium geworden, das auf der einen Seite die Folgen von Neoliberalismus, Globalisierung und Vertreibung offenlegt, indem es die Gesellschaft mit Bildern des „Gettos“ konfrontiert und damit die Erzählung von grenzenlosem Wachstum und Wohlstand irritiert. Seine Protagonisten präsentieren sich oft provokant als selbstbewusste Hedonisten, die an den Versprechen des Kapitalismus teilhaben wollen. Auf der anderen Seite verstummt im Gangsta-Rap der Ruf nach einer Überwindung der neoliberalen Ordnung. Stattdessen werden reaktionäre Konzepte von Ehre, Männlichkeit und Familie aktualisiert. Und doch thematisieren Gangsta-Rapper in Deutschland immer wieder das Verhältnis zwischen Peripherie und Zentrum, zwischen marginalisierter Minderheit und Mehrheitsgesellschaft und nehmen Stellung gegen Rassismus und Ausgrenzung. Rapper wie Mert („Ausländer“), Al-Gear („Integration“), Alpa Gun („Ausländer“), Chima Ede („Wir sind das Volk“), Eko Fresh („Gastarbeiter“), Jaysus („Kanacke sein“), Haftbefehl und Xatar („AFD“),

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Kurdo („Wir sind nicht wie du“), Ali As und Pretty Mo („Deutscher/Ausländer“), BOZ („Made in Germany“), Nate57 („Immigranten“) oder Credibil („Mensch“) wehren sich mit ihren Tracks gegen Stereotype und verteidigen die Idee einer humanistischen Gesellschaft, in der Menschen nicht nach ihrer Herkunft oder ihrem Aussehen bewertet werden – eigentlich ein Nachhall der multikulturellen Utopie aus den 1980er Jahren. Was die Rezeption von Gangsta-Rap betrifft, so hat „Haftbefehls Einbruch in den Feuilleton-Olymp“54 unter den Kulturjournalisten dazu beigetragen, dass das Genre insgesamt weniger hysterisch bewertet wird und seine künstlerischen Qualitäten mehr in den Fokus geraten. Allerdings gibt es auch eine andere Entwicklung. Die zunehmende Hegemonie der Neuen Rechten in kulturellen Diskursen zeigt sich auch darin, dass deutscher GangstaRap jetzt auch von den AfD- und Pegida-Vordenkern zunehmend mitverantwortlich gemacht wird für die Verrohung der deutschen Jugend und den Untergang einer weißen, abendländischen Kultur. So schreibt Udo Ulfkotte in seinem Bestseller „Vorsicht Bürgerkrieg!“: „Das Leben in multikulturellen Straßenbanden wird im Gangsta-Rap glorifiziert. GangstaRap ist gewaltorientiert und zeigt klischeehaft die Existenz junger Krimineller. Europäische Journalisten haben dazu beigetragen, Gangs und Gangsta-Rap einer kriminellen Subkultur zum Mythos mit Vorbildcharakter für europäische Jugendliche zu machen.“55

Die Struktur dieser Diffamierung gleicht den rassistischen Strategien der 1970er und 1980er Jahre: Eine ethnische Minderheit wird für die Folgen einer neoliberalen Wirtschaftspolitik verantwortlich gemacht. Das Verhalten „kulturfremder“ Individuen und Banden führt zu Problemen in den deutschen Städten, Probleme, die sich lösen würden, wenn die Deutschen wieder unter sich wären. Diesem Angriff von Rechts haben die Hauptdarsteller des Gangsta-Rap wenig entgegenzusetzen. Das hat auch damit zu tun, dass Straßen-Rapper in der Zwickmühle sitzen, wenn sie Erfolg haben. Denn zum einen spiegelt sich in der Brutalisierung der Sprache im Gangsta-Rap die „Brutalisierung des Alltags“56 jener Viertel, aus denen die Rapper stammen. Auf der anderen Seite sichern die überzogene Darstellung von Sex und Gewalt und die schmuddelige Schlüssellochperspektive ins Reich der Halbwelt den Künstlern die Klicks der bürgerlichen Kids, die

54 Marc Dietrich: „Haftbefehls Einbruch in den Feuilleton-Olymp. All Good Magazin (15.12.2014). 55 Udo Ulfkotte: Vorsicht Bürgerkrieg. Rottenburg 2015. 56 David Dufresne: Yo Rap Revolution. Paris 1992. Seite 181.

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sich nach solchen Klischees sehnen.57 Anders als in den 1990er Jahren befindet sich antirassistische Kritik heute in der Defensive. Linke und antirassistische Gruppen haben kaum Gewicht in den aktuellen Debatten um Flüchtlinge, Nationalismus und Integration, sie sind aber auch nicht vernetzt mit den Künstlern und Musikern, die die Straßen-Rap-Szene prägen. Vielleicht liegt darin die Tragik des deutschen Gangsta-Rap: Obwohl das Genre so erfolgreich ist wie nie zuvor und einen großen Einfluss hat auf die Entwicklung der deutschen Jugendsprache und Jugendkultur, so ist es doch kaum in der Lage, aus sich heraus gesellschaftliche Impulse zu setzen – wobei sich die Frage stellt, ob die Protagonisten daran überhaupt ein Interesse haben. Fest steht, dass Gangsta-Rap regelmäßig Objekt gesellschaftlicher Diskurse ist. Manifestierte sich die Selbstermächtigung der ersten Generation von Einwanderern vor allem auf einer ökonomisch-sozialen Ebene, weil für diese Menschen die Themen Arbeit und Wohnen zentral waren, so reflektierte die zweite Generation ihre Situation schärfer und stellte auf einer politisch-gesellschaftlichen Ebene die Frage nach Staatsbürgerschaft, Identität und Teilhabe. GangstaRap, so wie er sich in Deutschland in den letzten 15 Jahren entwickelt hat, steht für eine hybride, indirekte Form der Selbstermächtigung: Hier tauchen als Versatzstücke auch die Themen auf, die die erste und zweite Generation beschäftigt haben, sie verkörpern sich aber eher in Haltung, Style, Sprache und Auftreten – also in ästhetischen Kategorien. Offen bleibt die Frage, ob diese Form als Ausdruck migrantischen Empowerments gesehen werden kann oder ob sich hier die Gangsta-Rapper nicht lediglich als Stichwortgeber der konsumistischen Mehrheitsgesellschaft andienen, die sich mit den exotischen Codes eines prekären Milieus schmückt. Denn die alleinige ethnische Repräsentanz eines Gangsta-Rappers im Mainstream stellt noch keine Empowerment-Strategie dar. Dabei ist Gangsta-Rap mehr als andere kulturelle Phänomene ein Kind der Diaspora – und zwar im wörtlichen Sinne. Die Erfahrung von Migration und Marginalisierung in der postfordistischen Gesellschaft ist konstituierend für Gangsta-Rap. Deshalb ist er besonders interessant für Jugendliche und junge Männer, die als Kinder mit ihren Familien nach Deutschland eingewandert oder geflüchtet sind und deren Ausgangspunkt hier der äußerste Rand der Gesellschaft ist. Aus diesem Grund steht die ästhetische, musikalische und sprachliche Gestaltung des Genres in Verbindung mit den migrationsbiografischen Erfahrungen seiner Protagonisten. Im Gangsta-Rap bildet sich der Fußabdruck vorangegangener globaler Migra-

57 Die amerikanische Soziologin Tricia Rose hat dieses Phänomen schon 2005 in ihrem Buch „The HipHop Wars“ in Hinblick auf die Entwicklung des amerikanischen Gangsta-Rap beschrieben.

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tionsbewegungen ab und erinnert uns an die Kriege und Krisen, die Menschen dazu zwingen alles hinter sich zu lassen um eine neue Heimat zu suchen.

L ITERATUR Caglar, Ayse (1998): Verordnete Rebellion. Deutsch-türkischer Rap und türkischer Pop in Berlin. In: Globalkolorit. Multikulturalismus und Populärkultur. Höfen: Hannibal. Chang, Jeff (2005): Can’t Stop Won’t Stop. New York: Ebury Press. Canoğlu, Hatice Deniz (2012): Kanak Sprak versus Kiezdeutsch – Sprachverfall oder sprachlicher Spezialfall. Eine ethnolinguistische Untersuchung. Berlin: Frank & Timme. Dufresne, David (1992): Yo! Revolution rap. L'histoire, les groupes, le mouvement. Paris: Ramsay. Ernst, Thomas (2013): Literatur und Subversion. Bielefeld: Transcript. Greve, Martin (2003): Die Musik der imaginären Türkei. Stuttgart: Metzler. Hazar, Nedim (1998): Die Saiten der Saz in Deutschland. In: Eryılmaz, Aytaç; Jamin, Mathilde (Hg.): Fremde Heimat. Eine Geschichte der Einwanderung aus der Türkei. Essen: Klartext-Verlag. Jacob, Günter (1993): Agit-Pop. Schwarze Musik und weiße Hörer. Berlin: IdVerlag. Karakayali, Serhat (2008): Gespenster der Migration. Bielefeld: Transcript. Loh, Hannes; Verlan, Sascha (2015): 35 Jahre HipHop in Deutschland. Höfen: Hannibal. Rose, Tricia (2008): The Hip Hop Wars. What We Talk about When We Talk about Hip Hop ‒ and Why It Matters. New York: Basic Civitas. Terkessidis, Mark (2000): Migranten. Hamburg Europäische Verlagsanstalt.

Gangsta-Rap: Affirmative Inszenierung von Delinquenz als Erfolgsmodell? A YLA G ÜLER S AIED

E INLEITUNG Gangsta-Rap ist ein popkulturelles Genre, das in den letzten Jahren auf eine verstärkte wissenschaftliche Rezeption unterschiedlicher Disziplinen1 zurückblickt. Nach wie vor ist Gangsta-Rap ein Musikgenre, das die Medienwelt aufwirbeln kann und als einzige Szene, die als Jugendkultur begonnen hat, weiterhin subversives Potenzial beinhaltet, das durch bewusste Grenzüberschreitungen und diskriminierende Metaphern seine Wirksamkeit entfaltet. Gleichzeitig dient RapMusik nach wie vor als Medium gesellschaftlicher Konservierung von kollektiv erlebten Ereignissen. Dabei ist Rassismus ein zentrales Narrativ, das in der Bundesrepublik insbesondere die Rezeption von HipHop in den 1990er Jahren betrifft. Die Forderung nach Anerkennung und Zugehörigkeit zur Gesellschaft zieht sich dabei wie ein roter Faden durch die Geschichte von Rap in Deutschland. Dieser Artikel fokussiert aus mehreren Perspektiven die aktuellen Entwicklungen im Rap-Business. Dies geschieht zum einen über eine Medienanalyse. Zum anderen wurden Leitfaden-Interviews mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen geführt, die Konsumenten von Rap im Allgemeinen und deutschem Gangsta-Rap im Besonderen sind. Die Interviews dienen der Rekonstruktion der subjektiven Logik der Rezipienten, die ausschlaggebend dafür sind, weshalb eine bestimmte Sparte von Rap-Musik konsumiert wird. Darüber hinaus dienen die 1

Zumeist geschieht das aus einer kulturwissenschaftlichen oder soziologischen Perspektive. Aus literaturwissenschaftlicher und sprachwissenschaftlicher Perspektive liegen vergleichsweise wenige Publikationen vor. (vgl. Wolbring 2015)

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empirischen Daten der Rekonstruktion der sprachlichen Präferenzen, die die Jugendlichen als Bezugsrahmen ihres Rap-Konsums thematisieren. Daran anschließend wird die Frage aufgegriffen, welche Werte und Themen im Rap für die Rezeption einer bestimmten Rap-Sparte konstitutiv sind. Dies geschieht vor dem Hintergrund, dass die Werte, die im Gangsta-Rap propagiert werden, diametral den Ergebnissen von Studien wie der Shell-Studie oder der aktuell erschienenen Sinus-Studie zu den Wertvorstellungen von Jugendlichen widersprechen, die belegen, dass Jugendliche angepasster sind denn je. Welche Wirkung kann Gangsta-Rap angesichts dessen entfalten und wie schätzen Kinder und Jugendliche selbst den oftmals angeführten Abstumpfungscharakter ein, der Gangsta-Rap attestiert wird? Der Blick richtet sich bei dieser Frage häufig auf die Fans von Gangsta-Rap. Um dieses kontroverse Phänomen auf analytischer Ebene kontrastieren zu können, wird der Fokus erweitert auf Jugendliche gelenkt, die keinen deutschsprachigen (Gangsta-)Rap hören. In diesem Kontext wurde auch ein Experteninterview mit Ben Bazzazian geführt, dessen langjähriges Schaffen als Musikproduzent eine Expertenperspektive impliziert, die auch Einblicke in die Konstruktion von Images ermöglicht. Bazzazian kreiert darüber hinaus einen Rahmen, der Rap als Kunstform einordnet. Der erste Teil des Artikels analysiert den aktuellen Mediendiskurs in Bezug auf Gangsta-Rap und greift dabei dessen zentrales Narrativ auf. In einem zweiten Teil werden die empirischen Daten in Bezug zu den medialen Diskursen gesetzt. Der dritte Teil fasst die Ergebnisse zusammen.

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ALS P ROJEKTIONSFLÄCHE GESELLSCHAFTLICHER AVERSION

Gangsta-Rap ist ein Teil der HipHop-Kultur und ist massenmedial erstmals Ende der 1980er Jahre an der Westküste der USA in Erscheinung getreten. Dabei greifen die Künstler – wie auch in anderen popkulturellen Genres – auf eine inszenierte Form von Narrationen und Imaginationen zurück, die einen GangstaLifestyle propagieren.2 Tricia Rose konstatiert in ihrem Vortrag „Hip Hop, Mass Media and Racial Storytelling in the Age of Obama“ 3 für den US-Gangsta-Rap,

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3

Der US-HipHop ist ausführlich anlysiert und aus und unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet worden. Vgl. u. a. Rose 1994; 2008; Finzsch/Horton/ Horton 1999; Kelley 1996; Jeffries 2011; Formann/Neal 2004; Morgan 1999; Lüthe 2008 Rose, Tricia. Hip Hop, Mass Media and Racial Storytelling in the Age of Obama. University of Texas. 2012. Online unter: https://www.youtube.com/watch?v=rbAV a8ndepk, Letzter Zugriff: 6.10.2016

A FFIRMATIVE I NSZENIERUNG

VON

DELINQUENZ

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dass trotz des quantitativen Anstiegs von Künstlern ein sehr enger Rahmen bezüglich der Inszenierung von Images gesetzt wird. In diesem Kontext möchte ich lediglich auf Ergebnisse von Michelle Alexander verweisen, die sie in „The New Jim Crow“ in Bezug auf „racial justice“ analysiert und die für eine gesamtgesellschaftliche Debatte in den USA – wobei Gangsta-Rap ein Bestandteil davon ist – von Bedeutung sind: „The racial dimension of mass incarceration is the most striking feature. No other country in the world imprisons so many of its racial or ethnic minorities. The United States imprisons a larger percentage of its black population than South Africa did at the height of the apartheid. In Washington D.C., our nation’s capital, it is estimated that three out of four young black men (and nearly all those in the poorest neighborhoods) can expect to serve time in prison. Similar rates of incarceration can be found in black communities across America. These stark racial disparities cannot be explained by rates of drug crime. Studies show that people of all colours use and sell illegal drugs at remarkably similar rates. If there are significant differences in the surveys to be found, they frequently suggest that whites, particularly white youths, are more likely to engage in drug crime than people of color.“ (Alexander 2010: 7)

Alexander fasst aus einer kritischen Perspektive, die Dimensionen und Folgen einer von racial injustice geleiteten und institutionalisierten rassistischen Praxis zusammen und verortet diese in einen globalen Zusammenhang. An dieser Stelle gibt es Schnittstellen zu den Narrativen im Gangsta-Rap: Künstler dieses Genres vermarkten und imaginieren diese von Alexander beschriebene Realität in ihrer lyrischen Performance. Die Musikindustrie knüpft bei Produktionen an reelle, hegemoniale race-Diskurse an und erfüllt nach dem Prinzip der self-fullfilling prophecy die Erwartungen, die der Gruppe von young black urban poor male zugeschrieben werden. Dieser Mechanismus folgt sowohl in den USA als auch in Deutschland entlang der Kategorien race, class und gender. Im folgenden Kapitel wird vor diesem Hintergrund der Diskurs in Deutschland analysiert.

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IN

D EUTSCHLAND

In der Bundesrepublik Deutschland ist deutschsprachiger Gangsta-Rap Ende der 1990er Jahre in Erscheinung getreten, also eine Dekade nachdem HipHop und Rap als ein Element der Kultur in Deutschland adaptiert wurde. Dabei ist in Analogie zum US-Gangsta-Rap zu beobachten, dass ähnliche Inszenierungsformen gewählt und praktiziert werden, um ein Gangsta-Image zu konstruieren. Im Kontext von Realness und Gangstatum gelten kriminelle Handlungen von Künst-

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lern – unabhängig davon, ob diese in der Vergangenheit oder Gegenwart anzusiedeln sind oder imaginiert sind – als zentrales Kriterium für die Rezeption als echter Gangsta. Delinquentes Verhalten wird quasi als Eintrittskarte ins Rap-Business vorausgesetzt, da hegemoniale Migrationsdiskurse als anschlussfähiges Narrativ die bestehenden Zuschreibungen erfüllen. Die bekannten Rapper haben größtenteils einen Migrationshintergrund.4 Dies lässt sich exemplarisch an dem Künstler Giwar Hajabi aka Xatar verdeutlichen, der aufgrund eines Überfalls auf einen Goldtransporter als einzig realer Gangsta verortet wird. Die Grenze zwischen inszenierter Performance und der privaten Person dahinter sind dabei für Beobachter äußerst undurchsichtig, und diese Durchlässigkeit ermöglicht dem Künstler als real wahrgenommen zu werden. Schon Erving Goffman konstatiert in „Wir alle spielen Theater“, dass: „[…]Eine Darstellung (performance) als die Gesamttätigkeit eines bestimmten Teilnehmers an einer bestimmten Situation definiert werden (kann), die dazu dient, die anderen Teilnehmer in irgendeiner Weise zu beeinflussen.“

Dies wird im Folgenden exemplarisch an der Rezeption von Xatars Biografie „Alles oder nix“ analysiert. Der Biografie wurde eine große Erwartungshaltung entgegengebracht, die mit der beschriebenen performativen Inszenierung zusammenhängt und dadurch bestimmte Interpretationsmuster erzeugt. Andererseits knüpft diese Erwartungshaltung an bereits erfolgte Inszenierungen und ihre Lesarten an: „Stoff genug für einen Roman: Wenn der einzige echte Gangsta unter den Rappern aber ins Fabulieren gerät, wirds eng mit der Kredibilität. […]Hip Hop bleibt Geschäftsmodell. Um Hip Hop geht es in ‚Alles oder nichts‘ bestenfalls äußerst am Rande. Zwar habe ich mir von Xatar keine tiefgreifenden Einblicke ins Rap-Game erwartet. Die völlige Lieblosigkeit, mit der er (zumindest in seinem Buch) die Musik lediglich als Geschäftsmodell

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Zur Kritik an der Etikettierungspraxis des Begriffs Migrationshintergrund: Will, Anne: Migrationshintergrund im Mikrozensus. Wie werden Zuwanderer und ihre Nachkommen in der Statistik erfasst? Mediendienst Integration. 2016. So heißt es darin: Es gibt also keine Frage à la „Haben Sie einen Migrationshintergrund?“. Mit anderen Worten: Die Befragten ordnen sich nicht selbst in die Kategorie ein und können somit auch nicht mitbestimmen, ob sie sich hier zugehörig sehen oder nicht. S. 5, Online unter: https://mediendienstintegration.de/fileadmin/Dateien/Informations papier_Mediendienst_Integration_Migrationshintergrund_im_Mikrozensus.pdf. Letzter Zugriff: 30.9.2016

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statt als mit Herzblut und Passion ausgeübte Kunst beschreibt, überrascht dann aber doch.“

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Die Lesart des Rezensenten verdeutlicht das von Hall beschriebene encoding/decoding-Modell6, da an dieser Stelle ein dominant hegemonialer Dekodierungsprozess praktiziert wird. Der Sellout-Diskurs, der an dieser Stelle zwar nicht explizit benannt wird, ist das dominierende Narrativ, welches der Autor seiner Kritik zu Grunde legt. Die Wirkungsmacht von solchen Narrativen liegt darin, dass dadurch Newcomer in der Szene, die sich von derartigen Diskursen abgrenzen, bei den Fans als authentisch und real verortet werden. Aktuell ist dies beispielsweise an dem Phänomen der Crew 187 Strassenbande aus Hamburg zu beobachten. Die Crew wird im Gegensatz zu Haftbefehl, der jahrelang das Rap-Game dominiert hat, als real wahrgenommen7. Die Themen, die in den Lyrics aufgegriffen werden, bieten eine Identifikationsfläche für Jugendliche, die bei Künstlern, die bereits Ruhm und Erfolg verzeichnen, nicht mehr gegeben sind. Diesen in sich widersprüchlichen Diskurs möchte ich anhand von journalistischen Interviewsequenzen exemplarisch verdeutlichen. So wird die 187 Strassenbande auf der Internetseite von laut.de folgendermaßen zitiert: „Was momentan diesen Deutschrap ausmacht: Muskel-Männerkörper, Telefonate heimlich aufnehmen, sich über unauthentische Rapper aufregen und selber unauthentisch sein, Männer, die sich auf der Bühne küssen, angebliche ‚Rap-Reporter‘, die NULL Hip Hop sind, aber sich anmaßen, über Hip Hop zu urteilen, homophobe Gangstarapper, die andere Rapper in den Arsch ficken wollen [...] Deshalb bleiben wir unter uns und wollen mit dem Rest dieser Szene weiterhin NICHTS zu tun haben!“

Das Zitat verdeutlicht exemplarisch, wie eine symbolische Abgrenzung zu der etablierten Szene in Form einer Etablierte/Außenseiter-Figuration praktiziert wird, nur dass in diesem Fall die Zugehörigkeit zu den Außenseitern ein vorteilhaftes Privileg darstellt, wenn der Weg in den Mainstream erst einmal gegeben ist. Der Bezug auf erfolgte Straftaten und damit einhergehende Haftstrafen bildet die Basis für eine Inszenierung von Authentizität, die über Devianz definiert wird:

5 6 7

Online Link: http://www.laut.de/News/Buchkritik-Alles-oder-nichts-von-Xatar-19-102015-11852 Vgl. Hall (2004: 66-81) Diese Kontroverse habe ich bereits in Rap in Deutschland aufgegriffen, Güler Saied (2012: 82-85)

226 | A YLA GÜLER SAIED „Bonez MC, der 1985 als John Moser geborene Kopf der Bande, bildet zusammen mit Gzuz deren Aushängeschild. Das Kollabo-Album des Duos, ‚High & Hungrig‘, entert im Jahr 2014 die Top Ten der Charts. Bis dato der größte Erfolg für das aufstrebende Kollektiv. Dieser hätte vermutlich viel früher eingefahren werden können. Doch eine Reihe krimineller Delikte führt schon 2011 dazu, dass Gzuz mit knapp drei Jahren Gefängnis bestraft wird. Gerüchten zufolge hat der Hamburger unter anderem Nina Hagens Tochter Cosma Shiva mit einer Glasflasche beworfen.“

Auch Künstler Xatar wird in der medialen Rezeption und in Interviews durchgehend als Gangsta verortet. Offiziell wurde er wegen „guter Führung“ frühzeitig aus der Haft entlassen. In diesem Zusammenhang wurde im Vorfeld von Fans und Künstler-Kolleg*innen, unter anderem Schwesta Ewa, eine „Free Xatar“-Kampagne ins Leben gerufen und Xatar damit auf die Ebene eines politischen Gefangenen gehoben. Dadurch werden neue Codes von moralischen und juristischen Grenzen erzeugt, in denen die eigentliche Straftat nicht mehr der Ausgangspunkt ist, sondern der Täter als Opfer konstruiert wird. Die sogenannten Rapper-Fehden, die in regelmäßigen Abständen die mediale Darstellung des Gangsta-Rap dominieren und zur Konstruktion von Mythen beitragen, haben dabei die Funktion, dominante Erzählstrukturen aufrechtzuerhalten. Dies wird im Folgenden exemplarisch anhand der vermeintlichen Verstrickung von Xatar und KC Rebell in Streitigkeiten analytisch dargestellt.

G EWALT , M ÄNNLICHKEIT

UND

E RKLÄRUNGSMUSTER

Das Konstrukt der Rapper-Fehden beruht auf einem wechselseitigen Prozess, der sich entsprechend der kapitalistischen Marktlogik von Nachfrage und Produktions-Mechanismen formiert. Im August 2016 fand in der Nähe der Kölner Ringe – der Partymeile von Köln – eine Messerstecherei statt, bei der eine Person Stiche in Beine und Gesäß erlitt. Die Shisha-Bar, in deren Umfeld die Auseinandersetzung stattfand, gehört Xatar, der bei dem Vorfall nicht vor Ort war. Das Opfer des Messerangriffs gehörte den Angaben zufolge zum Umfeld der Shisha-Bar „Rebell Lounge“, die von KC Rebell betrieben wird. Aus diesem Streit mit körperlicher Auseinandersetzung wurde von Seiten der Medien eine Promo-Aktion für das Kollabo-Album von Xatar und Haftbefehl konstruiert, und damit nicht zuletzt eine verharmlosende und externalisierende Form von Gewalt zwischen Männern dargestellt. Dies hat zur Folge, dass die Trias: Männer mit Migrationshintergrund – Gewalt – Gangsta-Rap als logische Assoziationskette sowohl als Ursache als auch als Folge konstruiert und größtenteils unhinterfragt als hegemoniale Realitätskonstituierung angenommen wird, da jenseits des

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Gangsta-Rap, der auf künstlerischer Ebene seine Wirksamkeit entfaltet, reelle Anknüpfungspunkte vorliegen. Die Bereitschaft zur Gewalt ist dabei ein zentrales Moment, das bei diversen Männer-Bünden zu beobachten ist: Hooligans, Gangsta-Rapper, Motorrad-Rocker und Rechtsrocker weisen ähnliche Strukturen und normative Wertesysteme auf, die auch durch ein äußerliches Erscheinungsbild Konformitäten aufweisen. Ein hohes Maß an muskulösen Körpern sowie die zelebrierten Bündnisse dienen der Konstruktion einer Gemeinschaft und haben die Funktion, sich nach außen abzugrenzen. In den seltensten Fällen sind Frauen in den derartigen Männerbünden anzutreffen (beziehungsweise sie sind nicht sichtbar). In dem (schwarz-weiß gehaltenen) Diss-Video gegen Xatar von KC Rebell „Dizz Da“8 ist beispielsweise keine einzige Frau zu sehen, dafür aber ein Sportwagen samt männlicher Supporter, die grimmig in die Kamera gucken und eine bedrohliche Fassade inszenieren. Die Faszination beziehungsweise Aversion, die diese Formen der Inszenierung auf Rezipienten ausüben, wird im folgenden Abschnitt auf Grundlage von empirischen Daten analysiert, um Rezeptionslogiken von Jugendlichen und Erwachsenen zu eruieren.

S AMPLE

UND METHODISCHES

V ORGEHEN

Die in diesem Artikel aufgegriffenen Mediendiskurse dienen als Ausgangspunkt, um die die Wirkungsweisen und die sich daraus ergebenden subjektiven Logiken von Rap-Fans, die deutschen Rap konsumieren, und solchen, die nur amerikanischen Rap konsumieren, zu rekonstruieren. In diesem Kontext wurden im Zeitraum von Juni bis Oktober 2016 halbstrukturierte Leitfadeninterviews9 mit Jugendlichen und Erwachsenen durchgeführt. Der Leitfaden bestand aus folgenden Fragen: 1) 2) 3) 4) 5) 6) 7)

Hörst du Musik? Welche Musikstile hörst du bevorzugt? Hörst du Rap-Musik? Was ist Rap? Hörst du deutschsprachige Rap-Musik? Hörst du Gangsta-Rap? Welche Gangsta-Rapper kennst/hörst du? Was ist ein Gangsta?

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KC Rebell: Dizz Da. Online unter: https://www.youtube.com/watch?v=iO-hqGJMw qo Letzter Zugriff am: 10.01.2017. Zum Leitfaden- und Experten- Interview siehe: Flick (2015): S. 203ff. und 214 ff.

9

228 | A YLA GÜLER SAIED 8) Was ist für dich der Unterschied zwischen deutschem und amerikanischem

Gangsta-Rap? Die Fragen dienten dazu, den Einstieg in das Interview zu erleichtern. Zusätzlich wurden durch gezieltes Nachfragen narrative Sequenzen erhoben. In das Sample gingen insgesamt sieben Interviews ein (die aufgrund der geringen Fallzahl keinen repräsentativen Charakter haben). Das Sample beinhaltet Interviews mit: • • • •

drei 16-jährigen Jugendlichen (zwei männlich, eine weiblich) einem 12-jährigen Jungen einer 21-jährigen Studierenden 10 und ein Experten-Interview mit dem Musik Produzenten Ben Bazzazian

Die Interviewpartner*innen leben in Köln. Die Interviewdauer variiert zwischen 20 und 40 Minuten. Die empirischen Daten wurden einer komparativen Inhaltsanalyse nach Mayring unterzogen, kodiert und werden im Folgenden als zentrale, in allen Interviews wiederkehrende Kategorien präsentiert.

R AP -M USIK

UND INHALTLICHE

ADAPTIONEN

Der Konsum eines bestimmten Rap-Genres konstituiert sich auf Grundlage der Lyrics, die in Rap Songs zum Ausdruck gebracht werden. P. ist 16 Jahre alt und besucht die Klasse 11 einer Gesamtschule. Er hört seit drei Jahren Rap-Musik. Er hat mit KC Rebell angefangen, der bei dem Düsseldorfer Label Banger Musik unter Vertrag steht. Derzeit hört P. die 187 Straßenbande aus Hamburg. Das ausschlaggebende Kriterium für einen guten Rap-Song ist seiner Ansicht nach, dass grundsätzlich der Beat und die Musik zusammenpassen müssen. In der folgenden Interview-Sequenz nimmt P. eine Unterscheidung zwischen Image- und Straßen-Rappern vor, die er seiner eigenen subjektiven Logik folgend begründet:

10 Alle InterviewpartnerInnen bis auf Bazzazian wurden anonymisiert, indem sie mit verfremdeten Anfangsbuchstaben abgekürzt wurden. Die Interviews wurden auf ein digitales Tonbandgerät aufgenommen und transkribiert. Die Auswertung ist aufgrund der qualitiativen Inhaltsanalyse nach Mayring erfolgt. Vgl.: Flick; Kardoff; Steinke (2000) S. 468 ff.

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„Bei Gangsta-Rap ist ja eher Spaß, Frauen. Auf den Inhalt geb’ ich nicht so acht, weil das ist ja immer dasselbe. Rap ist insgesamt Sprechgesang. Rap kann ja auch im Inhalt von Liebe handeln, und Gangsta-Rap mehr, was man so erlebt hat, auf der Straße. Und dann gibt es da auch noch diesen Image-Gangsta-Rap, dass man dann da eher über Geld, Frauen, Autos und so rappt. In Deutschland ist das eher so Shindy. Ich finde diese 187 sind wirklich so richtige Straßen-Rapper. Und Shindy, KC Rebell, Bushido, Farid Bang sind eher so Image-Rapper. Das sieht man im Internet, an dem Style und so. Und in den Texten hört man das auch, ob der jetzt irgendwie so über Frauen, Autos und Geld rappt oder eher dann – keine Ahnung über Drogenhandel und so. Eigentlich fällt es schon auf, dass bei den anderen von oben herab so Rap ist. KC Rebell hat mal mehr so Straßen-Rap gemacht. Farid Bang weiß ich gar nicht und Shindy, der ist so besonders, weil der über Klamotten und so rappt der auch und so Luxus. Das ist kein Gangsta-Rap mehr. Ich würd sagen, man hört es auch an dem Beat, weil bei den richtigen Straßen-Rappern klingt das amerikanisch, so bisschen wie Schwarzer Rap. Und bei KC Rebell und Shindy, ist das eher so neumodisch, also nicht so Old-School. Und halt auch vom Aussehen und so der Rapper. Und wie die sich ausgeben im Internet. Also ich habe mir auch ein Buch von Shindy gekauft, da ist seine Biographie drin. Der Schöne und die Beats. Das ist eigentlich ganz interessant. Und auf Facebook und so kriegt man ja ganz viel mit von den Rappern.“

Hier wird eine widersprüchliche Rezeption deutlich, da der Beat einerseits als ausschlaggebender Faktor genannt wird, andererseits die Authentizität sehr stark am Inhalt der Texte festgelegt wird, die in Bezug zu den Biografien der Künstler gesetzt werden und eine imaginären Raum erzeugen, in dem nach einem Werteschema Realness konstruiert wird. J. ist 16 Jahre alt und Oberstufen-Schüler. Er hört Rap, seit er 10 Jahre alt ist. In der folgenden Interviewsequenz beschreibt er seinen biografischen Werdegang in Bezug auf seinen Rap-Konsum: „Ich habe mit amerikanischem Rap angefangen. Das war über Linkin Park, erst mal habe ich Rock gehört. Und dann fand ich diese Rap-Parts immer ganz toll. Und habe mich dann mehr auf Rap konzentriert. Ich habe mit Eminem angefangen, diese ganzen 2000er: 50 Cent, The Game. Am Anfang war es schwer, das zu verstehen, aber später ging das dann einfacher. Ich glaube durch einen Freund habe ich dann angefangen deutschen Rap zu hören. Der hat mir dann Kollegah und Farid Bang gezeigt. Dieses JBG 2 Album. Aber das war dann irgendwann zu viel. Jetzt höre ich die Hamburger und die Frankfurter. Diese 187 und Nimo, Hanybal.“

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C. ist 16 Jahre alt und besucht ebenfalls die Oberstufe. Ihr Musikgeschmack ist breit gefächert. Auf die Frage, welche Musikrichtungen sie bevorzugt, antwortet sie: „Alles mögliche, Rap, RnB, Michael Jackson, Amy Winehouse. Meistens höre ich nur amerikanischen Rap, wenn ich Rap-Musik höre. Es gibt einen Sänger, der ist hier geboren, aber der wohnt jetzt auch in Amerika. Also der singt auch auf Englisch. J. Cole. Also der ist schwarz. Aber deutsch glaub ich, der ist in Frankfurt geboren.“

M. ist 12 Jahre alt, geht in die 7. Klasse und „[…] hört eigentlich nur Trap. So DJ-Musik. Da wird nicht gesungen, da läuft ein Beat. Meistens höre ich das auf einem Kanal, der heißt Bass Boosted und der lädt halt meistens immer Trap-Music hoch, die halt so ein bisschen mehr Bass hat. Ich mag es halt nicht so gerne, wenn Leute singen. Ich mag es einfach, wenn da ein Beat abläuft, weil man sich dann z.B. beim Hausaufgaben schreiben besser konzentrieren kann.“

Auf die Frage, ob M. Rapper kennt, antwortet er: „Ich kenne z.B. Tyga oder Tupac noch von früher. Eigentlich sehr viele. Haftbefehl oder 50 Cent, Kollegah. Ich habe auch mal Rap-Musik gehört, aber nicht deutschen Rap, weil ich finde, dass sich das auf Englisch besser anhört. Außerdem mag ich es auf Englisch mehr, weil die auch einen besseren Beat haben. Die Musik von Kollegah, Haftbefehl und Bushido finde ich nicht so gut, weil darin zu viele Schimpfwörter vorkommen, das klingt nicht mehr nach Rap, sondern einfach nur nach Beleidigungen.“

Die älteren Interviewpartner*innen nehmen im Verlauf der Interviews ebenfalls eine Unterscheidung zwischen deutschem und amerikanischem Gangsta-Rap vor. J. konstatiert: „Also beim amerikanischen Rap hat man so eine bestimmte Art von Beat, den klassischen West-Coast-Beat und den klassischen ‚Wu Tang Clan‘-Beat. In Deutschland sind die Beats ist immer ziemlich verschieden. Ich achte sehr darauf, was für eine Stimme die haben. Tupac, das ist die Nummer Eins. Aber so von den Deutschen finde ich Gzuz sehr toll, von 187.“

In der Rezeption von deutschem Rap ist die Vergleichskategorie ausschließlich der US-Rap. Die Sequenz von M. demonstriert dies exemplarisch:

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„Wenn man jetzt so Legenden wie Tupac oder Ice Cube mit Haftbefehl vergleicht, dann ist der ja dagegen schon nicht sehr viel wert. Der ist schon gut und kann auch sehr schnell rappen, aber das ist halt nicht auf dem gleichen Niveau, ich mein das sind Leute, die rappen bestimmt schon seit ihrer Kindheit.“

J. beschreibt, dass die Biografie des Künstlers der ausschlaggebende Faktor dafür ist, ob die Texte ihn ansprechen oder nicht: „Ich achte bei der Person darauf, ob die ein interessantes Leben haben. Es gibt ja Rapper, die haben ein langweiliges Leben, die sind halt aufgewachsen in so einer Standard-Familie und alles schön hatten und dann glaubt man denen halt auch nicht, was die da reden, kommt nicht so echt rüber. Ich guck mir zum Beispiel von Xatar oder so die Biografie an.“

Auch die Sequenz von C. verdeutlicht, dass der biografische Background der Künstler ein zentraler Faktor dafür ist, wie ein Künstler verortet wird. In dem Interview mit C. wird dies an dem Beispiel von Rapper J. Cole deutlich: „Es geht bei mir zwar nur um die Musik, aber es war krass zu hören, dass der Deutscher ist. Weil ich generell deutsche Musik nicht mag und man so denkt, dass der aus Amerika oder so ist, weil der auch immer von der Hood und allem rappt und wie schwer das alles ist. Und Frankfurt ist ja nicht wirklich eine Hood.“

C. verdeutlicht exemplarisch, welch enger symbolischer Handlungsrahmen Rappern und ihren inszenierten Inhalten von Fan-Seite zugestanden wird. Die Herkunft und Identität wird dabei als zentrales Moment aufgegriffen: „Über was soll man denn rappen, wenn man nicht über seine Herkunft oder irgendwelche Frauen oder weiß ich nicht was rappt. Dann kann man ja nur über Kartoffeln rappen. In anderen Musikrichtungen spielt Herkunft keine Rolle. Vielleicht will man in der RapMusik ein bisschen hart wirken. So einen auf: Man hat sehr viel durchgemacht. Und wenn man dann aus so einem guten Elternhaus kommt und auf einer Privatschule war, dann gibt es ja eigentlich nicht so viel, was so cool klingt. Ich meine dann kann man ja nicht rappen: Meine Eltern machen mir Kartoffelbrei und ich war auf einer Privatschule!“

Es findet eine diskursive Verengung des narrativen Handlungsrahmens statt, den Rapper dadurch konstruieren, indem sie ihre Inszenierungen sehr stark an den bestehenden Rap-Realness-Diskurs koppeln. Dadurch entsteht ein Spannungsverhältnis, das interaktiv hergestellt wird. Sobald ein neuer Künstler aus dem

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Untergrund die etablierten Künstler verdrängt, wird ein symbolischer Raum geschaffen, der sich transformierend auf die Rapszene auswirkt und für wiederkehrende Erneuerungen in der Szene sorgt.

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Alle interviewten Jugendlichen haben zentrale Kriterien entwickelt, die sie als Indikatoren für die Einordnung von Straßen- und Gangsta-Rap anwenden, und damit konstruieren sie eine eigene Logik, die im Folgenden zusammenfassend dargestellt werden soll: J.: „Also ich bin mittlerweile auch so, dass ich so, ich feiere diesen Straßen-Rap mehr, weil dieses Image-Rap kommt so bisschen fake rüber. Und man merkt, dass das realer ist. Weil wenn man sagt, ich war drei Jahre im Gefängnis wegen so Drogenhandel, dann erwartet man, ja dass der das nicht lügt, weil das kommt ja dann schon bisschen komisch rüber. Ich fände es nicht schlimm, wenn Lady Gaga über keine Ahnung was singt, wie wenn zum Beispiel ein Rapper das dann so faken würde und die Texte nicht echt so sind, was er erlebt hat.“

Die Musik von (Gangsta)-Rapper Haftbefehl, der in den letzten Jahren auf medialer Ebene sehr gute Kritiken bekommen und auch viele Fans hat, wird von keinem der Interviewpartner konsumiert, obwohl er vor einigen Jahren sowohl den Mainstream als auch den Untergrund dominiert hat. Auf die konkrete Nachfrage, ob die Musik von Haftbefehl konsumiert wird, antwortet P.: „Also die Musik ist ganz ok, aber ich könnte mir das nicht so lange geben, weil ich finde seine Stimme irgendwie so nervig, sehr laut und alles. Der Text ist ja so ähnlich der Faktor wie ob das real ist oder nicht. Aber am meisten gebe ich so Wert auf den Flow und auf die Stimme und auf die Beats, auf den Text am wenigsten.“

Auf meine Frage, ob es nicht einen Widerspruch darstellte, auf Realness Wert zu legen, wenn der Text nicht so wichtig ist, antwortet P.: „Wenn man die Musik laut macht, dann achtet man eher auf die Rap-Technik. Natürlich ist der Text auch wichtig. Ich höre mir ja Musik an, um gute Laune zu kriegen oder um Spaß zu haben, und dann hör ich auf den Beat und so. Wenn ich jetzt zum Beispiel ein Album kaufe, dann achtet man eher auf den Text. Aber man kann irgendwann den Text auswendig, dann achtet man gar nicht mehr so viel darauf.

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Für J. wiederum sind Diss-Tracks ein Kriterium für Gangsta-Rap: „Ich finde an Diss-Tracks, wenn man irgendwie jemand anderes beleidigt. Und halt diese Musik, wo die halt mehr über das Leben rappen oder Parties oder so, das ist halt so ein anderer Rap. Als ich aufgewachsen bin, war die große Zeit von Bushido, das weiß ich halt noch, sonst weiß ich nicht so viel über deutschen Rap. Aber den habe ich auch nicht gehört, ich habe das nur immer in den Medien gehört: Bushido, als ich in der Grundschule war. Kollegah war halt immer so, der hat gesagt, ich hab so und so einen Bizeps. Und war halt so stark. Und das ging halt in jedem Lied so weiter, und dann geht das halt einem irgendwann auf die Nerven. […]Ich finde das kommt einfach nicht echt rüber. Du kannst machen, was du willst, wenn du ein supertolles Leben hast, aber keine Probleme hattest, aber halt über irgendwelche Probleme redest, das geht einfach nicht. Ich hab noch nie von jemandem gehört, der so ein tolles Leben hatte und dann über Probleme geredet hat, die es gar nicht gab.“

Für J. ist ein weiteres Kriterium, dass Gangsta-Rap mit der Biografie des Künstlers übereinstimmen muss. J. nimmt auch Bezug auf die kulturelle bzw. ethnische Herkunft, die seiner Ansicht nach als Identifikations- und Anknüpfungspunkt dienen kann. „Sido fand ich nicht so ansprechend. Haftbefehl habe ich auch nicht gehört, ich finde den schrecklich. Die Beats sind ganz gut, aber wie der halt rappt, es reimt sich einfach nicht. Ich kann mir vorstellen, es gibt sehr viele Kurden, die Rap hören, weil der ja auch Kurde ist. Und dass die halt einfach so mit der Nation, ich meine ich bin ja auch Iraner, und wenn ich so einen iranischen Rapper habe, dann mag ich den automatisch. Weil dann ist da so ne Bindung da. Wir haben ja auch einen Kurden bei uns in der Klasse, der auch viel Haftbefehl hört. Du weißt, der ist ähnlich wie du, wahrscheinlich hat der eine ähnliche Herkunft wie du und dann fühlt man sich angesprochen. Also auch, wenn die Eltern nur.. weil es gibt halt z.B. nicht unendlich viele Iraner in Deutschland. Und wenn man da halt welche findet, weiß man, ok, jetzt hat man jemanden gefunden, der so gewisse Gemeinsamkeiten hat. So vom kulturellen her. […] Xatar ist auf jeden Fall ein Gangsta. Der hat ja diesen Goldraub gemacht. Also er macht halt verbotene Sachen, und ich würde sagen, er ist ein Gangsta. So was Rebellisches, was alle Jugendlichen cool finden. Außer Xatar gibt es die 187er, die machen nicht wirklich Gangsta-Sachen, aber so kleine Streiche.“

M. hingegen bewertet die Inszenierung der Herkunft als negativ: „Zum Beispiel Kurdo, also ich finde es ist schon nationalistisch, dass man sich so einen Namen gibt. Aber ist ja seine Sache.“

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C. bieten die Inhalte im deutschsprachigen Gangsta-Rap, die ethnische Identität beinhalten, kein Identifikationspotenzial. Sie begründet das folgendermaßen: „Für mich ist das asi. Weil die meisten, die rappen, sind ‚Ausländer‘ und die rappen dann über irgendwelche Verfeindungen mit Türken oder Kurden. Und über Geld und irgendwelche Frauen. Und das juckt ja irgendwie keinen.“

Auch von P. wird die ethnische Herkunft von Künstlern thematisiert und in Bezug zu hegemonialen gesellschaftlichen Diskursen gesetzt. „Als Eko Fresh, Bushido und so angefangen haben, haben eher Ausländer den Rap geführt. Mittlerweile ist es 187 Straßenbande, da sind ein Schwarzer, zwei Deutsche und einer irgendwie aus einem arabischen Land. Das ist halt mehr so ein Ausländer-Ding. Es gibt ja natürlich auch so Rap, wie von Cro oder so, aber das ist ja kein Gangsta-Rap. Deutsch-Rap ist ja eher von, keine Ahnung von Nord-Afrikanern oder Naher Osten und so. Also ich kenne jetzt nicht viele Rapper, die Deutsche sind. Also Sido ist glaube ich. Eko ist doch Türke. Ja ok, Kurdo und KC Rebell sind Flüchtlinge gewesen, aus Kurdistan. Aber sonst sind alle hier in Deutschland geboren. Aber ich glaube, das ist schon so eher ein Ausländer-Ding in Deutschland. Also Deutsch-Rap.“

Die Interviewsequenz von P. verdeutlicht auf mehreren Ebenen, welche dominierenden Diskurse mit dem Gangsta-Rap-Diskurs verstrickt sind: Der Ghetto-, Migrations- und Integrationsdiskurs wird in seiner Narration als logische Konsequenz für die Lyrics im Rap aufgefasst und erklärt. Dies wird exemplarisch an folgender Sequenz von P. deutlich:

„Deutsch-Rap ist schon so, dass in Chorweiler und so die Ausländer-Rate sehr hoch ist. Oder in so kleinen Ghettos von Deutschland und dass so Rapper zeigen, dass man da irgendwie auch den Weg rausschaffen kann, und dadurch die Leute dann bisschen Stolz haben, wenn der Landsmann von einem so was geschafft hat. Eko Fresh aus Köln zum Beispiel. Also ich glaube schon, dass das eine Rolle spielt. Ich finde schon so, dass hier in Köln, Ostheim und Chorweiler schon so Ghettos sind. Jetzt nicht so wie in den USA die Bronx. Aber Plattenbau. Man könnte sagen, dass nur soziale Leute in Plattenbau leben, aber ist halt nicht so. In Deutschland ist ja meistens so, wo Plattenbau ist, ist sozialer Brennpunkt.“

An dieser Stelle wird eine angepasste Lesart des hegemonialen Diskurses sichtbar, da Gangsta-Rap nach wie vor als Unterschichts-Phänomen verortet wird. In diesem Kontext wird auch die widersprüchliche Aversion deutlich, die Haftbe-

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fehl entgegengebracht wird. Er verkörpert den Mythos „Vom Bordstein zur Skyline“, stößt aber damit bei Rap-Konsumenten und auch bei Künstlern, die noch dem „Untergrund“ zuzurechnen sind, auf Aversion. Dies ist eine etablierte Außenseiter-Figuration, die in die umgekehrte Richtung funktioniert. Etabliert ist nicht der Etablierte, sondern der Außenseiter. Die Interviewpartner*innen wenden unterschiedliche subjektive Kriterien für ihre Rezeptions- und Dekodierprozesse an, die mit ihrer lebensweltlichen Auseinandersetzung mit Identität zusammenhängend sind. C. denkt in diesem Kontext, dass für die Identifikation die Herkunft des Künstlers keine zentrale Rolle spielt, sondern vielmehr die zwischenmenschlichen sozialen Aspekte, die in Songs zum Ausdruck kommen und Adaptionsmöglichkeiten für das eigene Leben und den Umgang mit beispielsweise schwierigen Lebensphasen oder Ereignissen darstellen:

„Vielleicht kann man sich damit identifizieren, wenn man gerade eine schwere Zeit hat, und die rappen vielleicht über getrennte Eltern oder Alkoholprobleme. Eminem zum Beispiel rappt ja ganz viel über seine Tochter, und ich denke, Leute in meinem Alter können sich damit jetzt nicht so vergleichen. Die hören das halt einfach, weil das gut klingt, oder weil das vielleicht ein Vorbild ist. Für mich geht es nicht unbedingt um Identifikation, ich bin nicht im schlimmsten Stadtteil aufgewachsen, und mir ist es eigentlich egal, über was die rappen. Wie gesagt, die könnten über Kartoffeln rappen, und ich würde es mir anhören, wenn der Beat und die Stimme gut sind und das gut klingt. Vor allem, wenn die so schnell rappen, versteht man als Deutscher vielleicht auch gar nicht alles, was die rappen. […] Deutsch als Rapsprache ist hässlich. Das klingt aggressiv, und man versteht das richtig, und deutsche Musik ist nicht schön. Englisch ist eine schönere Sprache. Meistens hört sich das einfach anders an, wenn man das zwar versteht, aber nicht so krass versteht. Ein Rapper aus den USA rappt über seine Hausschuhe. Es geht ja nicht darum, über was die rappen, sondern dass das gut klingt: Die Musik, generell der Beat und deren Stimme.“

Auf Grundlage der Interviewdaten wird deutlich, dass unabhängig davon, ob eine Aversion oder eine Zuneigung zu Künstlern besteht, ein ausschlaggebendes Kriterium die ethnische Herkunft darstellt, anhand derer gesamtgesellschaftliche Diskurse abgearbeitet werden. Von diesem empirischen Befund aus wurde kontrastierend ein weiteres Interview mit einem älteren Rap-Fan geführt. Damit wird eine erweiterte Perspektive auf retrospektive Rekonstruktion von Fan-Biografien ermöglicht, die auch die Entwicklungsprozesse eines Fans beleuchtet.

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DIE L EUTE HÖREN SICH DAS IMMER WIEDER AN , OBWOHL ES IMMER DASSELBE IST Im Folgenden wird eine Interviewsequenz zur Kontrastierung des bisher ausgewerteten Interviewmaterials hinzugezogen. A. ist eine 21-jährige Studentin der Sozialpädagogik und lebt in Köln. Sie ist bereits erwachsen und stellt altersbezogen einen Kontrast zu den übrigen Interviewpartner*innen dar. Zudem hat sie bereits eine kritische und retrospektive Distanz zu ihrem Fan-Sein entwickelt. Sie hört seit ihrer Kindheit Rap-Musik. „Ich höre überwiegend Deutsch-Rap. Auch türkische und englische Musik. 187 Strassenbande, KC Rebell, Xatar. Weil ich das auf Deutsch besser verstehe. Ich bin in Deutschland aufgewachsen, und das fällt mir leichter als die türkische Sprache. Englischsprachigen Rap höre ich auch, aber den muss ich mir erst übersetzen, bis ich den verstehe. Das hat bestimmt auch was mit Geschmack zu tun, aber ich finde es wichtig, die Texte zu verstehen. Die Texte von den Rappern, die ich höre, handeln von Drogen, Prostitution, Zuhälterei, Geld, dicken Autos und Schmuck. Güler Saied: Was spricht dich daran an? Gar nichts. Mir gefällt dieser Musikstil. Nicht generell, was die Leute sagen, sondern die Art, wie sie rappen. Ich lese zum Beispiel die Biografie von den Leuten. Ob das nur Schein oder Sein ist. Das kann ich am Beispiel Kollegah festlegen. Der rappt über die Themen, die ich aufgezählt habe, aber im Hintergrund studiert der Jura. Kommst du dir doch irgendwo verarscht vor, oder? Das ist doch wie eine Lüge. Bei türkischen Volksliedern ist das anders. Da geht es um Haydi-Hoppa, was willst du da als real oder nicht bezeichnen. Du hörst das einfach, und das war es. Wenn du Deutsch-Rap hörst, fragst du dich, warum rappen die das. Ist das wichtig, ergibt das einen Sinn. Oder machen die das einfach nur, weil sich das gut vermarkten lässt. Also das was in Deutschland ist, ist für mich kein Gangsta-Rap. Das ist für mich einfach nur Klischee und Protzgehabe. Die haben das vielleicht früher mal von Tupac oder BIG gehört, wo man auch nicht weiß, ob das real war, was da von den Medien berichtet wurde. Aber das ist überhaupt nicht vergleichbar mit der Musik aus den USA. Xatar kommt aus Bonn, hat auf den Ringen einen Laden. Die jüngere Generation fragt wahrscheinlich noch nach Fotos und Autogrammkarten, aber für die ältere Generation ist das eine Person wie du und ich. Das, was in Köln oder allgemein in Deutschland ist, sind für mich einfach nur Youtube-Rapper, die es irgendwann vielleicht mal ins Radio schaffen, bisschen Geld damit machen und irgendwann auch wieder weg sind. Genauso wie Haftbefehl, der war auch mal aktuell, und jetzt hat der das große Geld gemacht, und jetzt hört man auch nichts mehr von denen […] Ich meine, Fan sein ist so eine Sache, ob er den Erfolg einem anderen gönnt oder nicht. Im Endeffekt hat man den Erfolg ja irgendwo gefördert und finanziert ihm dadurch seinen Lebensstil,

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indem er die Platten und Fan-Artikel kauft. Der Rapper an sich rappt nur. Es ist nicht schwer auf ein Stück Papier zu schreiben, dass ich heute meine Drogen verkaufe, wie jeden Tag, oder mit meinem dicken Mercedes durch die Straßen fahre. Es ist grundsätzlich immer das Gleiche, was gerappt wird. Das hört irgendwann auf und fängt wieder neu an. Und dann kommt wieder ein Neuer. Und die Leute hören sich das immer wieder an. Obwohl es immer dasselbe ist.“

Die Interviewsequenz von A. verdeutlicht exemplarisch, wie die Mechanismen der Rezeption von Rap-Musik funktionieren. A. vollzieht retrospektiv eine Abgrenzung zu ihrer bisherigen Fan-Biografie, indem sie die kritische Analyse von Schein und Sein als Grundlage für ihre Dekodierung der ursprünglich kodierten Realness praktiziert und damit den Mythos des Gangstas und Underdogs dekonstruiert. Die Codes der Gangsta-Rapper gehen nur dann auf, wenn der Dekodierprozess auf angepasster Ebene praktiziert wird.

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Um den Realness-Diskurs aus einer erweiterten Perspektive zu beleuchten, wurde Ben Bazzazian als Experte interviewt. Bazzazian ist 37 Jahre alt und ein erfolgreicher Musik-Produzent, der diverse Alben für die Rap-Szene in Deutschland produziert hat, unter anderem „Russisch Roulette“ von Haftbefehl. 2014 wurde er dafür in der Kategorie „Bester Produzent National“ mit dem HipHop.de-Award ausgezeichnet. In Bezug auf Gangsta-Rap-Images konstatiert Bazzazian: „Ich sag mal so: Wenn du jetzt so Gangsta-Rap anguckst in den USA, was alle Leute auch immer gehört haben und total abgefeiert haben, bezweifle ich, dass 90 % der Leute Gangsta sind, die das erzählen. Dann hat das aber immer dieses: Boah, das ist USA, das ist eh voll Ghetto da. Das wird schon alles echt sein. Das ist ja totaler Quatsch. Also es gibt bestimmt auch hier in Deutschland Typen, die miese Sachen gemacht haben, und auch Musik machen. Aber ich würde jetzt mal sagen, die wirklichen Gangsta-Typen, die kümmern sich tagtäglich um anderen Kram, und nicht um Musik. Das ist auch immer so ein Image-Ding. Also wenn jetzt zum Beispiel die Kids denken, Bushido wär ein Gangsta, das ist ja totaler Quatsch. Der ist ein Geschäftsmann, hat ’ne Immobilienfirma. Der ist ja kein Gangsta, war der auch nie, sondern hat halt dieses Bild verkörpert. Die Leute haben das auch gerne angenommen und gesagt: Ja, der ist voll der Gangsta-Typ. Ich glaube, der einzige, der wirklich ein Gangsta ist, ist Xatar aus Bonn, der wegen so einem Goldraub im Gefängnis gesessen hat. Und der rappt ja auch. Der ist halt der einzige, der original das ist, was er auch erzählt. Das ist ja auch nur im HipHop so, dass was du rappst stimmen muss.

238 | A YLA GÜLER SAIED Ich glaube, 99,9 % von dem, was Michael Jackson gesungen hat, war der auch nicht. Da hat es auch keine Sau interessiert. Im HipHop ist das so, dass alles immer genau echt sein muss, sonst ist es nicht cool.“ (Interview geführt von Güler Saied, 2015)

Bazzazian demontiert in der Interviewsequenz den Realness-Mythos und stellt die Musik als performative Inszenierung in den Vordergrund. Gleichzeitig erweitert Bazzazian damit den symbolischen Handlungsraum für Rap als kulturell und gesellschaftlich relevante Kunstform, jenseits der hegemonialen Rezeptionslogiken.

R ESÜMEE Eine der zentralen Kategorien im Rap-Game ist nach wie vor die ethnische Identität in ihrer intersektionellen Verwobenheit mit den Kategorien class und gender. Die Interviews haben verdeutlicht, dass ethnische Identität als Identifikationsfaktor dienen kann, die Hauptaspekte für den Rap-Konsum jedoch größtenteils am Beat, der Stimme und dem Gesamtprodukt festgemacht werden. Darüber hinaus wurde deutlich, dass Realness dabei nach wie vor ein zentrales Narrativ ist. Die inhaltliche Entwicklung des Gangsta-Rap-Genres hat – ähnlich wie in den USA – ab einem bestimmten Level stagniert, was für die Vitalität des Genres zwar kein Hindernis darstellt, inhaltlich jedoch kaum für Verschiebungen oder Erneuerungen sorgt. Im Gangsta-Rap nimmt der Künstler dabei als Individuum die zentrale Rolle des Protagonisten ein. Die Inszenierung folgt dabei der szenetypischen Codes und Logiken und schafft damit symbolische Räume, in denen eine Opposition gegen hegemoniale Diskurse praktiziert wird, indem die machtvollen Diskurse aufgegriffen und überspitzt inszeniert werden. Im Kontext von Männlichkeit und Migration geschieht das explizit auf Grundlage von übertriebener Inszenierung von männlicher Dominanz und Gewaltfantasien. Dabei ist die kontroverse Gleichzeitigkeit der unterschiedlichen Genres innerhalb der RapMusik der Grund dafür, dass Rap eine sich selbst erhaltende Kunstform darstellt, da auf diese Inszenierung in der Regel noch krassere Inszenierungen folgen. Der Prozess der Fan-Werdung indes stellt einen dynamischen Prozess dar und ist kein dauerhafter und statischer Zustand, da er sehr stark davon abhängig ist, ob ein Künstler weiterhin als real rezipiert wird. Dies geschieht unabhängig davon, welchem Rap-Genre der Künstler entstammt und sorgt auf kollektiver Ebene für eine machtvolle Gegenposition, die zwar auf der Handlungsebene nicht die Macht besitzt, Verhältnisse zu verschieben. Auf der symbolischen Ebene werden jedoch dadurch Räume geschaffen, in denen hegemoniale Diskurse entmachtet werden. Dies ist angesichts erstarkender extremistischer Entwicklun-

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gen jedweder Ideologien nötiger denn je. Dabei muss klar sein, dass weder Musik noch eine andere Kunstform gesellschaftliche Ungleichheiten, die auf politischer Ebene erzeugt werden, ändern können. Sie haben lediglich die Macht, diese widerzuspiegeln und damit im besten Fall die Zivilgesellschaft zu aktivieren.

L ITERATUR Alexander, Michelle (2012): The New Jim Crow. Mass Incarceration In The Age Of Colorblindness. The New Press. Elias, Norbert; Scotson, John (1993): Etablierte und Außenseiter. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Finzsch, Norbert; Horton, Lois E.; Horton, James Oliver (1999): Von Benin nach Baltimore: Die Geschichte der African Americans. Hamburger Edition. Flick, Uwe (2012): Qualitative Sozialforschung. Eine Einführung. Reinbek: Rowohlt. Flick, Uwe; von Kardorff, E.; Steinke, I. (Hg.) (2012): Qualitative Forschung. Ein Handbuch. Reinbek: Rowohlt. Forman, Murray; Neal, Mark Anthony (2004): That’s the Joint!: The Hip-Hop Studies Reader. New York: Routledge. Goffman, Erving (2003): Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. München: Piper. Güler Saied, Ayla (2012): Rap in Deutschland. Musik als Interaktionsmedium zwischen Partykultur und urbanen Anerkennungskämpfen. Bielefeld: Transcript. Güler Saied, Ayla (2015): Rap in Deutschland ‒ zwischen virtueller (Neu-) Inszenierung und realen Anerkennungskämpfen. In: Mania, Thomas; Rappe, Michael; Kautny, Oliver (Hg.): Styles … HipHop in Deutschland. Münster: Telos. S.104‒118. Hall, Stuart (2004): Ideologie, Identität, Repräsentation. Ausgewählte Schriften 4. Hamburg: Argument. Jeffries, Michael P. (2010): Thug Life. Race, Gender and the Meaning of HipHop. University of Chicago Press. Kelley, Robin D.G. (1996): Race Rebels. Culture, Politics and the Black Working Class. New York: Free Press. Lüthe, Martin (2008): We Missed a Lot of Church, So the Music Is Our Confessional: Rap and Religion. Berlin/Münster: LIT Verlag. Morgan, Joan (2000): When Chickenheads Come Home to Roost: A Hip-Hop Feminist Breaks It Down. New York: Simon & Schuster.

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„Vor dem Retrogott bist du ein Hurensohn“ Die Figur des deutschen Gangsta-Rappers aus Sicht des Rap-Duos Huss und Hodn M ORITZ VON S TETTEN UND J AN W YSOCKI

E INLEITUNG Als im Juni 2007 das Album „Jetzt schämst du dich!“ des Kölner Duos Huss und Hodn erscheint, befindet sich die Rap- und HipHop-Kultur in Deutschland mitten in einer Umbruchphase. Einerseits haben kommerziell erfolgreiche Gruppen wie die Fantastischen Vier, Fettes Brot, die (Absoluten) Beginner oder Blumentopf ihre populären Hochphasen schon hinter sich gebracht. Gleichzeitig ist Battle-, Straßen- und Gangsta-Rap auf dem Vormarsch. Rapper wie Kool Savas, Azad, Fler oder Bushido gelten als Innovatoren im deutschsprachigen Rap, und als prägende Figuren einer neuen Generation deutscher HipHop-Kultur, die mittlerweile die kleinen Szenen zugunsten großer Charterfolge, Major-Plattenverträgen und weitreichender Medienberichterstattung verlässt. Für viele Rap-Fans in Deutschland ist diese Mischung aus eingestaubt wirkendem ‚Mittelstands‘-, ‚Studenten‘- und ‚Gymnasiasten-Rap‘ und kapitalistisch-hedonistisch getränkter Gangsta-Pose zu diesem Zeitpunkt jedoch eine Enttäuschung. Vor diesem Hintergrund lässt sich besser verstehen, warum Huss und Hodn ab dem Jahr 2007 eine solche Popularität erlangen. Es erklärt den anschwellenden Hype eines Rap-Duos, das auf kommerzielle Vermarktung verzichtet, und dennoch als einer der wenigen Acts dieser Jahre das Zelt des Splash!-Festival und die Wiese der Hip-Hop-Open (jeweils 2008) sogar zu Mittagszeiten zum Überlaufen bringt. Von Beginn an treffen Huss und Hodn offensichtlich den Nerv einer Gruppe von Rap-Fans, die mit dem aktuellen Angebot deutscher HipHop-Kultur nie etwas zu tun hatten oder nichts mehr anzufangen

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wussten. Bis heute haben Retrogott und Hulk Hodn – wie die beiden sich seit 2013 nennen1 – eine eingeschworene, treue Fangemeinde, die sich in den Jahren 2007 bis 2009 etabliert hat. Die Überlegungen des folgenden Textes beruhen auf der Annahme, dass der Spielwiese der deutschsprachigen HipHop-Kultur mit der Veröffentlichung des genannten Albums „Jetzt schämst du dich!“ weitere Dimensionen und Konfliktlinien hinzugefügt wurden, die in einer Diskussion um deutschen Gangsta-Rap nicht fehlen dürfen. Rap ist nie nur eine Musikrichtung, sondern immer schon ein symbolischer Ort sozialer Kämpfe um kulturelle Identitäten gewesen. Retrogott und Hulk Hodn können und sollten jedoch auf keinen Fall dem Genre des Gangsta-Rap zugeordnet werden. Niemand, weder ihre Fans, noch die Fachmedien (ob in Zeitschriften, Magazinen oder in Online-Veröffentlichungen), andere Mitstreiter oder sie selbst würden auf den Gedanken kommen, dass es sich bei den beiden um ein Gangsta-Rap-Duo handelt. Es wird im folgenden Beitrag vielmehr darum gehen, dass Retrogott und Hulk Hodn ein spezifisches Bild von deutschem Gangsta-Rap zeichnen, und damit eine Deutungshoheit auf die Merkmale von – sehr allgemein formuliert – legitimem Adaptionen des amerikanischen Gangsta-Rap im deutschsprachigen Raum erheben. Das wirft einerseits Licht auf einen kleinen Schauplatz, an dem sich soziale Kämpfe innerhalb der deutschen Rap-Szene abspielen. Andererseits können Retrogott und Hulk Hodn als Kommentatoren des deutschen Gangsta-Raps betrachtet werden, deren Stimme einen Schlüssel darstellt zum Verständnis der Rolle des deutschen GangstaRaps innerhalb deutscher HipHop-Kultur, vor allem auf ihrem vorläufig ersten Höhepunkt am Ende des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts. Schließlich geht es auch um die Frage nach Zugehörigkeit und Deutungshoheit hinsichtlich einer zunehmend global ausgerichteten HipHop-Kultur, die immer schon als symbolische (und praktische) Arena der sozialen Kämpfe in Fragen von Anerkennung und sozialer Ausgrenzung fungiert hat. Das übergreifende Ziel des Beitrages besteht darin, anhand einer Fall- bzw. Mikrostudie zu Milieu, Stil, Performanz und Inszenierung des Rap-Duos Huss und Hodn Licht auf einige der großen sozialen und gesellschaftlichen Konfliktlinien zu werfen, die mit der Verbreitung und Popularität von deutschem Gangsta-Rap einhergehen. Eine zentrale Annahme unseres Beitrags besagt, dass die gesamte performative Praxis von Retrogott und Hulk Hodn hinsichtlich des aufkommenden deut-

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Im Folgenden werden wir auch von Retrogott und Hulk Hodn sprechen, wenn wir das Duo vor ihrer Umbenennung und in anderen Kollaborationen meinen. In diesem Sinn geht es dann nicht um „Retrogott und Hulk Hodn“, sondern um „Retrogott“ und „Hulk Hodn“.

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schen Gangsta-Raps auf einem tiefgreifenden Paradox beruht. Einerseits sprechen sie dem deutschen Gangsta-Rap jegliche Authentizität ab, und dekonstruieren radikal im Stil klassischen Battle-Raps jeden Versuch, den in amerikanischen Großstädten vorherrschenden sozialen Kontext, in dem Gangsta-Rap entstand, auf urbane Räume in Deutschland zu übertragen. Auf humoristische Weise zerlegen sie die Inszenierungen selbsternannter deutscher Gangsta-Rapper, deren Selbstdarstellungen und zugeschriebenen Identitäten sie letztendlich als bloße Geschäftsmodelle anprangern. Der Sozialraum des Ghettos, die Figur des Gangster und alle damit verbundenen Praktiken erscheinen so als bloße Werbekampagne, die Rap und HipHop-Kultur weiter im Mainstream etablieren sollen, ohne dass dies mit der ‚eigentlichen‘ Bedeutung, also dem Entstehungskontext in urbanen Räumen der USA etwas zu tun hätte. Andererseits versuchen Retrogott und Hulk Hodn gar nicht erst in Betracht zu ziehen, dass deutscher Gangsta-Rap als eine ästhetisch-politische Ausdrucksform existiert, die sich nicht nur medial inszeniert, um möglichst viele Platten, T-Shirts oder – wie Kollegah – Fitnessprogramme zu verkaufen. So erscheint das Begriffspaar deutscher Gangsta-Rap/authentischer Rap als essentialistisch eingewobener Gegensatz. Gerade weil deutscher Gangsta-Rap seinen Ausdruck auch an ethnischen, ökonomischen und sozialen Konfliktlinien findet, besteht an dieser Stelle der Verdacht, dass Retrogott und Hulk Hodn aus einer privilegierten Position heraus vorschnell Formen des deutschen Gangsta-Rap die Legitimation absprechen, die dem Vorwurf einer bloßen Inszenierung entweder nicht entsprechen, oder in jedem Fall nicht auf diesen reduziert werden können. In einem ersten Schritt werden wir zunächst kurz die Geschichte von Retrogott und Hulk Hodn anhand einer Beschreibung ihres Werdegangs sowie dem dahinterstehenden sozialen Geflecht rekonstruieren. So soll deutlich werden, in welcher materiellen und ideellen Umgebung Huss und Hodn ihr spezifisches Bild von deutschem Gangsta-Rap zeichnen. Zweitens werfen wir einen Blick auf die zentralen Merkmale der musikalischen und sprachlichen Ästhetik von Huss und Hodn sowie auf einige Motive, die für ein breiteres Verständnis wichtig sind. Schließlich gehen wir drittens auf die Figur des deutschen Gangsta-Rappers ein, die sich in der Inszenierung von Huss und Hodn findet. Dabei arbeiten wir die spezifische Kritik heraus, die Huss und Hodn gegenüber dem deutschen Gangsta-Rap aufgrund von dessen Nähe zur Musikindustrie sowie aufgrund der historisch besonderen Lage spezifisch deutscher Popkultur anbringt.

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Eine der Begleiterscheinungen des in Deutschland mittlerweile flächendeckend populären und massentauglichen Gangsta-Raps ist die zunehmende Bedeutung von persönlichen Lebensgeschichten der mit HipHop-Kultur assoziierten Protagonisten. Viele der prägenden Figuren des deutschen Gangsta-Rap der letzten Jahre wie Bushido, Fler, Xatar und Shindy haben ihre Karriere als Musiker nicht einfach nur auf bloße Nachfrage mit kleinen Einblicken in das persönliche, private Leben unterfüttert. Die Inszenierungen funktionieren vielmehr als allumfassende Gangsta-Rap-Lebensgeschichten, die keine klare Trennung zwischen privater und öffentlicher Person, zwischen Fakt und Fiktion, zwischen Wirklichkeit und Inszenierung mehr kennen. Sie sezieren den eigenen Lebenslauf mit vielen (größtenteils wenig überraschenden) Details und sie erzählen meist klassische „from rags to riches“-Geschichten, die in amerikanischer Manier vom Aufstieg aus gescheiterten Verhältnissen in gesellschaftliche Erfolgsstrukturen berichten. Die vielen persönlichen und emotionalen, teilweise über Stunden geführten Interviews in Online-Szenemedien (16bars TV, hiphop.de, rap.de) hinterlassen einen prägenden Eindruck darüber, wie diese besondere Vermischung von Realität und Fiktion in der Persona des Gangsta-Rappers ständig aufs Neue hergestellt wird. Es ist kein Zufall, dass Retrogott und Hulk Hodn an entsprechenden Praktiken der Inszenierung nur sehr wenig Interesse haben. Auch auf Nachfragen äußern sich beide in Interviews meist zaghaft und kryptisch zu Fragen nach privaten Lebensumständen, anderen beruflichen Tätigkeiten sowie Vorbildern und Vorlieben aus der HipHop-Kultur.2 Dahinter steckt keine zufällige Begebenheit. Es handelt sich vielmehr um eine Form der Verweigerung, die gewissermaßen die in der Persona von Retrogott und Hulk Hodn verkörperte Anti-These zum expressiven Geltungsdrang und unstillbaren Mitteilungsbedürfnis der Figur des deutschen Gangsta-Rappers darstellt. Im Folgenden soll nachvollzogen werden, mit welchen Gegeninszenierungen Retrogott und Hulk Hodn in den symboli-

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So beispielsweise in einem herausgegriffenen Interview mit rap.de im September 2009: „rap.de: Was macht ihr außerhalb Eures Musikerlebens? Huss&Hodn: Dinge. Kaffee trinken. Arbeiten gehen. Ins Kino gehen. rap.de: Welche Arbeit ist das? Huss& Hodn: Ich habe neulich in einem Archiv gearbeitet. rap.de: In einem Stadtarchiv? Huss&Hodn: Nee. Aber es ist gut, dass ich nicht in einem Stadtarchiv gearbeitet habe, weil das neulich eingestürzt ist. rap.de: Ich frage deshalb so penetrant nach, weil euer Rap sich ja mit vielen Dingen außerhalb von Rap beschäftigt. Huss&Hodn: Da bist du aber einer der ersten, der das sagt. Die meisten sagen ja, wir rappen über Rap. Find ich ja bewundernswert, dass du das so siehst.“

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schen Kampf innerhalb der deutschen Rap-Szene ziehen. Dazu ist es zunächst hilfreich, den Werdegang, das Milieu und die institutionelle Umgebung des Duos näher zu betrachten. So lässt sich die Perspektive besser und umfassender nachvollziehen, aus der Retrogott und Hulk Hodn den deutschen Gangsta-Rap attackieren und ihre Figur des deutschen Gangsta-Rappers entwerfen. Das Kölner Label entbs Die Geschichte von Retrogott und Hulk Hodn ist eng verknüpft mit dem Kölner Musiklabel entbs, das einzige Musiklabel, auf dem das Duo seine Platten veröffentlicht hat. Das Label ist im Jahr 2001 von den befreundeten Rap-Liebhabern (Chlodwigplatz) Pütz Money, Gadget, Noy Riches, Stef der Crashtest, Hulk Hodn, Kurt Hustle (Retrogott), O-Flow und Sylabil Spill ins Leben gerufen worden (für alles Folgende vgl. Klingebiel 2016). Heute wird das Label gemeinsam von Christian „Pütz“ Klingebiel, Marc Neumann (Noy Riches) und Stefan Bepperlin (Stef der Crashtest) als GbR (Gesellschaft bürgerlichen Rechts) betrieben. Pütz kümmert sich dabei als Herz des Labels um Booking, Mastering, Artwork, Layouts und Steuererklärungen. Noy Riches ist hauptverantwortlich für den Internetauftritt und einige Studioaufnahmen. Alle drei haben vom Label weder ein festes Einkommen noch profitieren sie in anderer Weise finanziell von den Labelaktivitäten. Rund 50% der Einnahmen des Labels werden an die beteiligten Künstler*innen ausgeschüttet. Das wiederum führt dazu, dass Retrogott und Hulk Hodn beispielsweise seit einigen Jahren von den Einkünften über Plattenverkäufe, Merchandising und Live-Shows leben können. Die anderen 50% der Label-Einnahmen landen auf einem gemeinsamen Konto, um EquipmentAnschaffungen und Reisekosten zu bezahlen, oder für Notfälle aller Art. Letztendlich gibt es weder innerhalb der Label-Strukturen noch zwischen Label und den an ihm beteiligten Musiker*innen feste Rollenverteilungen wie üblicherweise zwischen Management, Öffentlichkeitsarbeit und Produktion. Bis heute wird das Label von allen Beteiligten in ihrer Freizeit völlig unentgeltlich betrieben. Die organisatorische Unabhängigkeit ist ein wichtiger Eckpfeiler des entbs-Kosmos. Das Ziel besteht darin, die schon bestehenden Strukturen eines HipHop-begeisterten, -erfahrenen und -verwurzelten Freundeskreises in einer gemeinsamen Plattform zu organisieren, die es ermöglicht, für ein kleines Publikum Schallplatten und weitere, eher klein gehaltene Angebote an Artikeln (CDs, T-Shirts, Plakate) zu produzieren. „Das Medium Vinyl ist die antreibende Kraft“, sagt Pütz über die Motivation, die sowohl damals als auch noch heute hinter der Idee des Labels steht (Klingebiel 2016). Seit 2008 pflegt entbs den entourage collectors club, der zunächst aus einer Art crowdfunding-Aktion 2008 entsteht. Eine dreistellige Zahl von Leuten garantiert durch Vorkasse den

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Kauf der LP mit Extra-Instrumentals, und entbs verfügt so über die finanziellen Mittel, um die Vinyl-Pressung zu stemmen. Entbs muss auch als Teil des VinylRevivals angesehen werden, das seit Anfang des Jahrhunderts beobachtet werden kann.3 Während „Jetzt schämst du dich!“ mit einer Auflage von ca. 60007000 LPs und CDs veröffentlicht wurde, sind die neueren Alben von Retrogott und Hulk Hodn („Fresh und umbenannt“, „Sezession!“) jeweils 4000 Mal als CD und Vinyl erschienen. Dies unterscheidet entbs beispielsweise auch von anderen unabhängigen Musiklabels wie ersguterjunge (Bushido, Shindy, u.a.) und Alles oder Nix (Xatar, SSIO), die in den letzten Jahren viele Tonträger verkauft haben, die dem Genre Gangsta-Rap zugeordnet werden, jedoch meistens keines oder ein nur sehr kleines Vinylangebot haben.4 Die Verweigerung gegenüber der kommerziellen Musikindustrie, die Organisation in direkten, einfachen Kommunikations- und Vertriebswegen sowie der Fokus auf Liebhaberprodukte wie Vinyl formen den entbs-Kosmos, in dem sich Retrogott und Hulk Hodn bis heute bewegen. Organisationssoziologisch betrachtet, handelt es sich bei entbs folglich nicht nur um eine formale Organisation, die klare Mitgliedschaftsverhältnisse sowie eine geregelte Austauschbarkeit des Personals kennt, sondern um ein kulturelles Milieu, das sich anhand von personell gebundenen Habitualisierungen aufrechterhält. Huss und Hodn Die für unseren Beitrag interessante Schaffensphase von Retrogott und Hulk Hodn sind die Veröffentlichungen unter den Namen „Huss und Hodn“. Dort beschäftigen sich die beiden am intensivsten mit dem aufkommenden Gangsta-Rap in Deutschland und entwickeln eine Karikatur dessen, was als Prototyp des „faken“ deutschen Gangsta-Rappers nach allen Regeln und Facetten der Battle-RapKunst auseinandergenommen wird. Retrogott (damals noch unter dem Namen 3

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Laut dem Jahresbericht 2015 des Bundesverbands Musikindustrie sind die Umsätze durch Vinyl-LPs in Deutschland in den letzten zehn Jahren von 6 Millionen Euro (2006) auf 50 Millionen Euro (2015) gestiegen (vgl. BMVI 2016). Das entspricht etwa 2,1 Millionen verkauften Schallplatten. Diese Zahl wird 2016 noch einmal übertroffen werden. Dennoch liegt sie noch weiter hinter den dominierenden CD-Umsätzen, die im Jahr 2015 bei 943 Millionen Euro lag. Zum Vergleich: eine der in Deutschland meistverkauften Vinyl-LPs des Jahres 2016 aus dem Bereich HipHop ist das Album „0,9“ des Rappers SSIO, das auf dem Label Alles oder nix erschien. Die Auflage der LP liegt bei 6.000 Stück und wird laut Label auch bei dieser limitierten Zahl bleiben. Vom gleichen Album wurden dagegen bisher 50.000 CDs produziert. Andere HipHop-Künstler*innen dagegen verzichten mittlerweile völlig auf Vinyl.

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Kurt Hustle) und Hulk Hodn (damals als Des Griffin) lernen sich etwa um die Jahrtausendwende auf einer von vielen Freestyle-Sessions im Raum Köln/Bonn über den gemeinsamen Freund und Rapper O-Flow kennen. Die erste Veröffentlichung des Duos unter dem Namen Huss und Hodn erscheint im Jahr 2005 als CD mit dem Titel „Unprofessionelle Musik“. Der Name Huss und Hodn ist mehr eine nicht weiter reflektierte Schnapsidee, als eine wohlüberlegte Entscheidung (Retrogott 2016). Der Titel des ersten Albums, „Unprofessionelle Musik“, hingegen ist stilbildend für den symbolischen Kampf, den Retrogott und Hulk Hodn hier aufnehmen und in den folgenden Jahren ausbauen. Der Titel steht für eine klassische Positionierungsstrategie, die ein ‚wir‘ konstruiert, das sich vom bisherigen Angebot in der deutschen Rap-Szene abgrenzt. Schon Rapper wie Kool Savas oder Taktloss hatten Jahre zuvor auf ähnliche Art und Weise radikalen Battle-Rap mit Kritik am HipHop-Establishment kombiniert. Neu ist, dass Huss und Hodn Battle-Rap-Texte mit Boom-Bap-Beats, Jazz-, Funk- und Soulsamples sowie einer radikalen Ablehnung der gegenwärtig (also um 2005) schon umgreifend als Popkultur vermarkteten HipHop-Szenen kombinieren, zu denen auch deutscher Gangsta-Rap gehört. Das zweite Album „Jetzt schämst du dich!“ verteilt entbs im Jahr 2006 zunächst als Promo-CD mit neun Stücken an die lokale Szene und einige Medienvertreter. Ein Jahr später kann dann zunächst das volle Album als CD gekauft werden. Die große Popularität von Huss und Hodn nimmt an Fahrt auf, als das HipHop-Magazin Juice das Album in ihrer Ausgabe 08/2007 zum Demo des Monats kürt. Schnell folgen weitere begeisterte Rezensionen und Auftritte auf den großen deutschen HipHop-Festivals. In einem Interview mit Juice feilen Kurt Hustle (wie sich Retrogott zu dieser Zeit noch nennt) und Hulk Hodn fleißig an ihrem Image als AntiHelden der deutschen Rap-Szene. Dort sagt Kurt Hustle über die zunehmend populären und verbreiteten Rapveranstaltungen mit Eventcharakter, zu denen Huss und Hodn möglicherweise jetzt auch Zugang bekommen: „Ich fahre nicht mit meiner Zirkusbude umher, um jedem zu zeigen, wie geil ich rappen kann. Ich muss auch Savas nicht beweisen, wie gut ich rappen kann. Diese Ambition habe ich nicht, mir fehlt da der Community-Ansatz.“ (Köhler 2007)

Hulk Hodn ergänzt dazu, warum Huss und Hodn keine großen Erwartungen an die zu dieser Zeit boomende Musikindustrie haben: „Unsere berufliche Laufbahn sieht eine Rap-Karriere nicht vor. Wir machen bewusst ‚Unprofessionelle Musik‘, weil wir damit nichts erreichen müssen. Rap ist nicht unsere Profession, denn Profession kann nur ein Job sein.“ (Köhler 2007)

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Auf dem Album „Jetzt schämst du dich!“ sind die Beziehungen von Huss und Hodn zur Musikindustrie und ihren Protagonisten ebenfalls umfassend thematisiert und in aller Klarheit ausgeführt worden. Dazu passt beispielsweise eine Zeile aus dem Track „Rapper wie“: „Kurt h-u-s-t-l-e ist und bleibt / Ein Rapper, der seine Lyrics selber schreibt / Selber Beats macht, oder ansonsten die von Freunden nimmt / Ein Rapper, der nicht mit dem Strom schwimmt / Froh ist, wenn es Geld auf die Kralle gibt, riiiight / Aber nein er macht nicht alles mit, neeeein / RnB? Auf keinen Fall, Freestylen schon / Fame und Cash? Fick dich du Hurensohn!“

Gemeinsam mit weiteren, größtenteils auf Vinyl veröffentlichten EPs und LPs erarbeiten sich Huss und Hodn in dieser Phase den Ruf einer „Anti-These“ zu den bisher bestehenden HipHop-Szenen (Köhler 2007). Das hat vor allem mit der eigentümlichen Stilmischung und den Anti-Gangsta-Rap-Texten zu tun, auf die wir noch zu sprechen kommen. Retrogott und Hulk Hodn Nach der Etablierungsphase als Huss und Hodn schlägt das Duo einen neuen Weg ein. In Anlehnung an den Track „Fresh und unbekannt“ auf dem Album „Jetzt schämst du dich!“ erscheint im Jahr 2013 das vierte Langspielalbum des Duos mit dem Titel „Fresh und umbenannt“. Gleichzeitig nennen sie sich tatsächlich um, und geben an, ab sofort unter dem Namen Retrogott und Hulk Hodn aufzutreten. Die Umbenennung kann vorrangig als eine Reaktion auf die zahlreichen Kommentare und Meinungen zum Projekt Huss und Hodn verstanden werden. Dazu gehört an allererster Stelle die Wortwahl von Retrogott. Huss und Hodn stehen für das Auftreten eines ungeniert attackierenden Battle-MCs, der sich auch pubertierend über die „Schlampe vom Kreiswehrersatzamt“ empören kann („Track 15“). Retrogott und Hulk Hodn stattdessen streichen in ihren LiveAuftritten Begriffe wie „Homoraps“, „schwulen Rap“ oder „Tuntenrap“ (allesamt im Track „Radiowecker“) zugunsten von „Idiotenrap“ oder „Grundschulrap“ und vermeiden auf allen neuen Veröffentlichungen ähnlich diskriminierende Wörter. Auf dem Track „Liebemachen“ des Albums „Fresh und umbenannt“ heißt es dann sogar: „Ich würde gern’ 10 Jahre lang Gender Studies studieren / und dann noch mal mit dir über das Wort schwul in HipHop-Texten diskutieren“. Dieser Song kann fast schon als Scharnierstelle gelesen werden zwischen der Ungeniertheit von Huss und Hodn und dem sich verändernden Reflektionsniveau von Retrogott und Hulk Hodn. Hier spricht sich Retrogott keinesfalls

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direkt dafür aus, das Wort „schwul“ nicht weiter als Beleidigung zu nutzen, jedoch erkennt man eine sich (zunächst ironisch) eröffnende Diskussion zu eben jener Überlegung. Darüber hinaus merkt Retrogott in Interviews an, dass die zahlreichen Diskussionen mit Fans, Bekannten und Freunden letztendlich dazu geführt haben, die eigene Wortwahl zu reflektieren – mit einem interessanten Ergebnis: „Das Phänomen ist eine Betrachtung und einen Diskurs wert. Jedoch hoffe ich, dass bald etwas weniger Leute übersehen, dass ich diesen Diskurs selbst in meiner Musik führe. […] Die meisten von diesen rappenden Männlichkeitsaposteln haben gezupfte Augenbrauen, geölte Körper und genauso viele Modeaccessoires wie Paris Hilton. Die sehen aus wie ItGirls. Diese Ambivalenz hat mich fasziniert. Es hat mich tatsächlich gereizt, diesen Leuten zu sagen ‚du bist schwul, du hast Ohrringe an‘. Meine Adressaten waren Leute, die selbst sexistische Texte hatten und dabei ihre sexuelle Integrität unter Beweis stellen wollten. Ich war aber auch selbst Adressat dieser Punchlines und das gebe ich bei Konzerten und in neueren Songs regelmäßig zu erkennen.“ (Retrogott 2013)

In diesem Sinn kann man die Verwendung des Wortes „schwul“ in Anlehnung an das Konzept „hegemonialer Männlichkeit“ als eine parodistisch gewendete, entlarvende hegemoniale Gegenmännlichkeit verstehen (Seeliger 2013: 104 ff.).5 Die Verwendung des Begriffs „schwul“ bei Retrogott unterliegt dabei jedoch einem Paradox. Einerseits soll das vorherrschende Männermodell gegenüber den Verfechtern dieses Modells (den deutschen Gangsta-Rappern) so subversiv gewendet werden, dass diese sich als Beispiele der von ihnen diffamierten und diskriminierten „Schwulen“ erkennen. Andererseits setzt die von Huss und Hodn subversiv gewählte Technik schon ein stereotypisiertes und diskriminierendes Bild von „Homosexualität“ und „Schwulen“ voraus, das den deutschen GangstaRappern als Spiegel ihres Selbst vorgehalten werden soll. Retrogott selbst erkennt dieses Problem, und verweist auf die „kognitiven Dissonanzen“, die ihm in diesem Zusammenhang von seinen Fans entgegengehalten werden (Retrogott 2013). Außerdem, und besonders wichtig für unsere Analyse, sind die Verschiebungen, die sich im Umgang mit dem Thema deutscher Gangsta-Rap zeigen. „Gangsta-Rap“, „Gangster“ oder „Ghetto“ sind zentrale Begriffe und Themen der Tex-

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So lassen sich auch Zeilen wie die folgenden aus dem Track „Fresh und unbekannt“ interpretieren: „Yes Yes, Yo / Ich bin heterosexuell und somit revolutionär für deutschen Rap, yo / Ich trampel’ dich platt wie ein Gigant / Anstatt zu faken, bleib ich lieber fresh und unbekannt.“

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te von Huss und Hodn, jedoch nicht von Retrogott und Hulk Hodn. Während auf den Veröffentlichungen unter ersterem Namen fast in jedem Text von deutschem Gangsta-Rap die Rede ist, fällt der Begriff „Gangster“ auf den beiden unter letzterem Namen veröffentlichten Alben nur ein einziges Mal.6 Mit dem bisher letzten und insgesamt fünften Album „Sezession!“ (2016) führt das Duo diesen Bruch fort, knüpft aber auch an altbekannten Traditionen an. Inhaltlich steht abermals eine Kritik an der Musikindustrie und ihren kapitalistischen Strukturen im Vordergrund. Der symbolische Kampf der deutschen Rap-Szene wird dabei von Retrogott nicht als eine bloße Marketingstrategie bezeichnet, sondern als politisches Machtspiel, das in das kapitalistische Gesamtsystem eingewoben ist. So heißt es im Track „Geldsucht“: „Eigentlich geht es nicht um Kohle / das eigentliche Statussymbol ist der Status der Symbole“. Die besondere Radikalisierung auf „Sezession!“ betrifft vor allem diese explizite Hinwendung zu systemund kapitalismuskritischen Themen, die über den Bereich der Musikindustrie und des deutschen Gangsta-Rap hinaus verarbeitet werden.

S TIL UND M OTIVE Um einen tieferen Einblick in die Bearbeitung der „Gangsterthematik“ durch Retrogott und Hulk Hodn zu erhalten, möchten wir zunächst die allgemeinen musikalischen Strukturen besprechen, mit denen das Duo operiert. Wir gehen vor allem auf die textlichen und performativen Aspekte ein und ergänzen diese durch Anmerkungen zu musikalisch-instrumentalen Merkmalen. In der Musik von Retrogott und Hulk Hodn lassen sich sowohl Formen der Abgrenzung als auch Affirmation gegenüber bestimmten Stilen von Rap feststellen. Diese musikalische Grenzziehung dient als zusätzliche Bestätigung ihrer textlich ausgedrückten Perspektive auf die Themen „realness“ und Authentizität innerhalb der HipHop-Kultur. Hier geht es unter anderem um das Bekenntnis zum sehr weiten Begriff des sogenannten Oldschool-Raps, welches sich musikalisch wie folgt ausdrückt: • Viele Tracks von Retrogott und Hulk Hodn bauen auf Samples aus dem wei-

ten Bereich von Jazz, Soul, Funk und Blues auf. Ähnliche Strukturen lassen sich im Werk von beispielsweise MF Doom, Lord Finesse, DJ Premier oder

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Im Track „So funktioniert die Welt“ auf dem Album „Fresh und umbenannt“ heißt es: „Was auch immer, Esel wie du sprechen mich mit Hengst an / Wenn ich am Mic bin, ab ins Gefängnis mit euch Gangstern“.

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Nas finden – von Künstlern also, die vor allem in den 1990er-Jahren präsent waren. Samples von besagten Musikern finden sich auch in den Tracks von Retrogott und Hulk Hodn, oftmals in Form kurzer gerappter Zitate, Vocal Cuts oder anderer Anspielungen an Strukturen bekannter Songs. • Häufig wird die Hauptmelodie bzw. der Loop von Scratches untermalt bzw. gebrochen, die teilweise sogar selbst als Melodie wirken. • Der Schlagzeugpart findet seinen Ausdruck Boom-Bap-klassisch im Wechsel von präsenten Flush- und Off-Kicks und hohen Snares; häufig werden auch Hats im Hintergrund verwendet (vgl. Said 2013: 115). Die Instrumente wirken teilweise gesampelt und teilweise synthetisch hergestellt. Gelegentlich akzentuiert auch ein tiefer Bass den Schlagzeugpart. Instrumental-musikalisch lässt sich so eine bewusste Suche nach Nähe zu Teilen von Rap-Musik der 90er-Jahre feststellen. Nicht nur der Einsatz von Samples (vgl. Lepa und Pelleter 2007) aus Jazz, Soul etc. sondern auch die prominente Nutzung von Scratches und damit eine Verbindung zu DJing und der bereits angesprochenen Vinyl-Kultur knüpft an diese Phase des HipHop an. Dies ist vor allem vor der Kontrastfolie gegenwärtiger Rap-Stile zu sehen bzw. stellt eine musikalische Abgrenzung zu dem dar, was Retrogott und Hulk Hodn zuweilen als „Jiggy-Rap“ bezeichnen – den als kommerzialisiert wahrgenommenen gegenwärtigen Rap. Hierbei wird sich auch zum Teil von musikalischen Strukturen einer allgemeineren Pop-Musik abgegrenzt, mit der auch kommerziell erfolgreicher (Gangsta-)Rap in Deutschland der 2010er Jahre arbeitet. Die reduzierte (und fast schon als musikalisch orthodox einstufbare) Partitur von Retrogott und Hulk Hodn kann so als Gegenentwurf zu gegenwärtigen Stilen gesehen werden. Das Kölner Duo zeichnet sich in seinen Songs durch eine Reihe an wiederkehrenden textlichen Motiven aus. So enthalten viele Tracks Battle-Rap-Parts mit imaginierten Adressaten. Das Battle-Rap-Gegenüber wird dabei in klassischer „Härte“ (Kleiner und Nieland 2007: 221) unter anderem als „Toy“, „Wack-MC“, „Hurensohn“, „Schwuchtel“ oder „Hoe“ bezeichnet und häufig mit „Du“ angesprochen, gefolgt von einer Reihe an abfälligen Vergleichen, die den Stil7 und den Inhalt8 der Raps des Gegenübers abwerten oder auch dessen „realness“ anzweifeln. Häufig wird auch die wahrgenommene Kommerzialisierung des lyrischen „Du“ und des lyrischen „Ihr“ als Grund genommen, eine Reihe von

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„Ich weiß, die meisten deutsche Rapper reden gerne Müll / Doch deine Flows sind verkrüppelt wie die Kinder aus Czernobyl“ („Pornofilmkäse“). „Du reagierst auf dope Flows wie ein Sieb / Deutscher Rap ist wack. Ein Nebensatz zu viel / Und Leute denken, du bist deep“ („Ein$note“).

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pointierten Beleidigungen für diese zu ersinnen. Teilweise werden einige deutschsprachige Künstler (DJ Tomekk, Smudo, Samy Deluxe) als Zielscheibe genommen. Bemerkenswert an den Battle-Raps ist die Perspektive des lyrischen Ich und dessen Ausgestaltung. Denn oft äußert sich das lyrische Ich selbst als Retrogott z.B. im Track „esmusssosein“: „Ich bin der Retrogott und ja / Ich rappe über Rap.“ Der hier Sprechende bezeichnet sich also selbstbewusst als der Gott des Retro-Stils mit dem sich das Duo brüstet und öffnet gleichzeitig die Tür zu einer Fülle an religiösen Assoziationen. Dabei rappt der Retrogott nicht nur über Rap sondern verweist auf eine Bandbreite an Bildern aus der Geschichte des Christentums bzw. auf alttestamentarische Motive.9 Der Charakter des Retrogotts steht als Verweis auf eine klassische (jüdisch-christlich gedachte) Gottesgestalt, die in den Texten mit Eigenschaften und Handlungsmacht ausgestattet wird (vgl. Ahn 2012; Markschies 2016). So rappt der Retrogott auch über Gott selbst. Dieser wird hier als existierende, gerechte Gestalt konzipiert, die die imaginierten lyrischen Gegenspieler von Huss und Hodn bzw. Retrogott und Hulk Hodn gewaltvoll straft.10 Institutionalisierter (beispielsweise christlich-katholischer) Religion wird dagegen mit Aufmüpfigkeit begegnet.11 Hier wird ein bekanntes wiederkehrendes Motiv aus der Religionsgeschichte aufgegriffen, in welchem die Gottesgestalt vereinnahmt und gegen eine (als traditionalistisch empfundene) religiöse Institution gewendet wird. Die Texte melden sich also religiös-politisch zu Wort, ohne jedoch selbst eine spezifische religiöse Ausrichtung anzuzeigen. Aus einer theologischen Perspektive versuchen sich einige Texte an einer Materialismuskritik und beschwören die Endgültigkeit und teilweise Unhinterfragbarkeit Gottes. Grundsätzlich wirkt Gott in den Texten als eine positive Gestalt, die in ihrer kosmogonischen Art nicht nur den Menschen, sondern im Speziellen auch HipHop erschaffen hat: „Der Teufel erfand die Nationalität und die Konfession / Das einzige was Gott geschaffen hat war der Mensch, die MPC und das Mikrofon“ („Die Frage bleibt offen“). Stellenweise stehen sich sehr konkrete Beschreibungen der Eigenschaften Gottes einerseits und absurde Aussagen zu Gott andererseits gegenüber. Zur Verwirrung des Hörers vermischen sich beide Gestalten von Gott und Retrogott in bestimmten Passagen, sodass eine Unterschei-

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„Du hast wacke Beats und rappst über Themen / Ich baue eine Stadt aus Ochsenblut und Lehm / Sündige vor Gott, breche das Inzesttabu / Denn HipHop macht uns zu Brüdern und ich ficke deine Crew“ („Ein$note“). 10 „Finde zu dir selbst, heißt, finde zu Gott / Für ihn sind dein Schmuck und deine Scheine Schrott / Er zertrümmert deinen BMW wie einen Käfer“ („Atomgott“). 11 „Leute tragen Kopftücher oder Kreuze am Hals / Schön und gut, doch was bedeutet das, falls / Du jetzt stirbst? Ähm, ich glaube nichts“ („Atomgott“).

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dung des Sprechers, des lyrischen Ichs und des beschriebenen Gottes schwierig wird.12 Dann wiederum leuchten Momente auf, in denen klarer wird, welche Unterschiede es zwischen Gott und Retrogott gibt, so beispielsweise im Song „Fabrik“: „Es heißt, vor Gott sind alle Menschen gleich / Zu meinen, dass wir alle gleich vor Gott sind, heißt nicht, dass wir alle gleich sind vor uns selbst / Vor Gott sind wir Menschen. Vor dem Retrogott bist du ein Hurensohn.“

Gott ist hierbei kein randständiges Thema, sondern steht in den Battle-Raps von Retrogott und Hulk Hodn als ein ganz zentrales Motiv mit im (musikalischen) Kampf gegen deutsche Gangsta- oder auch allgemein „wacke“ Rapper. Der Hörer erhält den Eindruck, dass diese Wortgefechte nicht nur des Spaßes wegen geführt werden. Der Angriff auf das Battle-Rap-Gegenüber wird vielmehr vor dem Hintergrund letztendlicher und transzendenter Gerechtigkeits-Motive ausgetragen. Viele Punchlines, die auf den imaginieren Gegenpart zielen, erhalten ihre Wirkung ebenso aus spielerischen, humorvollen Wendungen.13 Vor allem kann man dem Duo eine sehr bewusste Selbstironisierung attestieren, die den im Gangsta-Rap häufig ernst inszenierten und physisch weiter ausgetragenen Battle karikiert (vgl. Kleiner und Nieland 2007). So wird die im Genre übliche Gewaltandrohung ein stellenweise absurder Anstrich verpasst: „Ich locke Wack-MCs auf die Lebkuchen-Weise in mein Haus, um sie zu essen“ („Huroskop“, Der Stoff, aus dem die Regenschirme sind, 2009). Obwohl der Battlerap von Retrogott und Hulk Hodn von Überhöhungen lebt, werden diese immer wieder auf saloppe Art gegen sich selbst gewendet oder ironisiert: „Wie Whodini bin ich besser als die Rap-Maschine. Ich bin eine Orange, du bist eine Nektarine“ („Die Frage bleibt offen“).14 Retrogott und Hulk Hodns Songs leben von Bilderströmen, die oft wie freie Assoziationsketten wirken. So entstehen weniger Erzählungen denn Aphorismen, die sich in ihrer Prägnanz dem Hörer ins Gedächtnis einschleifen. Auf der anderen Seite können diese freien Sentenzen und ihre Sprunghaftigkeit für Verwirrung sorgen und den Eindruck der Absurdität steigern. Wir würden nicht so 12 Vgl. „Genugvongott“ 13 Vgl. „Dein Produzent hält sich für einen Komponisten / Doch seine Kreativität dreht sich im Kreis wie die Weltanschauung von Buddhisten“ („Der Stoff, aus dem die Regenschirme sind“). 14 Vgl. auch „Ob ich real bin? Ich gebe dir mein Wort / Ich benutze meine Sneaker sogar für Sport“ („Der Stoff, aus dem die Regenschirme sind“).

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weit gehen und dem Duo eine ständige Anlehnung an die Kunstströmung des DADA unterstellen, weisen aber dahingehend auf Ähnlichkeiten in manchen Videoperformances15 oder auch Albumcovern16 hin. Abseits fließender Bilderwelten und ironischer Wendungen in den Songs von Retrogott findet man auch Bezugnahmen zu Geschichte und Politik. Vor allem die Frage nach Nationalitätsbewusstsein und der deutschen Vergangenheit wird gestellt. So findet Adolf Hitler Erwähnung genauso wie stückhafte Aufarbeitungen des Nationalsozialismus vor allem im Song „Benzin für Zwei“. Retrogott und Hulk Hodn erzählen von der Verquickung von Teilen des deutschen (Gangsta-)Rap und einem Erstarken deutschnationaler Identitätskonstruktionen: „Um zu provozieren, brauch’ ich keine deutsche Fahne. Ihr seid kindisch und beeindruckt dementsprechend Kinder mit Minderwertigkeitskomplexen und einem durch den Geschichtsunterricht gekränktem Nationalbewusstsein“ („Jetzt schämst du dich“).

Hier wird eine (wie auch immer geartete Provokationslust) deutscher Rapper gewendet, und fast schon psychoanalytisch als eher hilflose Reaktion auf ein Kränkungserlebnis gedeutet. Dabei geht es vermutlich nicht nur um den Typus von sich als ‚hart‘ inszenierenden Gangsta-Rapper, sondern um alle Künstler, die dem Spektrum von dezidiert deutschem Rap zugeordnet werden können. Die hier zitierte Passage geht auf die kindische, also unbedachte Art ein, sich einem neuen Hurra-Nationalismus hinzuwenden. Retrogott und Hulk Hodns Abwehrhaltung gegenüber der zu einfachen „Bearbeitung der Deutschlandthematik“ („Sprachbarriere“) nimmt jedoch wiederum transzendente Züge an. Denn mit dem bereits zuvor erwähnten Ausspruch „Der Teufel erfand die Nationalität“ („Die Frage bleibt offen“) hebt das Duo diese Art von Zugehörigkeit in den Bereich des objektiv Schlechten und übersteigert diese durch die religiöse Figur der Inkarnation des Bösen. Man erkennt eine klare Dichotomie: Sich dezidiert positiv mit Nationalität identifizierende Rapper stehen klar auf der Seite des Bösen. Auf der anderen Seite steht, wie es weiter im Text heißt, Gott, welcher die von Retrogott und Hulk Hodn bevorzugte Art von Musik erschaffen hat. Dafür stehen die MPC und das Mikrofon ‒ beides Symbole eines als rein und ursprünglich gedachten HipHop. Auch der Mensch an sich steht auf der Seite Gottes, was wiederum den national-positiven Rappern ihr Menschsein teilweise

15 Vgl. Videoclips zu „Esmusssosein“, 2Trackboy und Echomann, aufrufbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=rVEcnfS0Dx4. „Schlangen sind gesprächig“, Die Beleidiger, aufrufbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=0tCe05f6JNQ. 16 Vgl. bspw. Der Stoff, aus dem die Regenschirme sind.

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abspricht. Deutscher, national stolzer Rap ist hier als Widersacher eines als authentisch wahrgenommenen Oldschool-Rap konstruiert – und dies nicht nur auf einer nur musikalischen oder politischen Ebene, sondern insbesondere auf einer transzendent-religiösen. Die verschiedenen Themen und Motive in den Raps des Duos werden genau hier gebündelt in den Bereich des Religiösen gehoben und attackieren den hauptsächlichen lyrischen Widersacher des Duos. So erscheint die zentrale Figur des Retrogotts als eine Art endgültiger Richter über den Gangsta-Rap und seine Vertreter.

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Im folgenden Abschnitt möchten wir nun herausarbeiten, wie Huss und Hodn den deutschen Gangsta-Rap in ihren Texten thematisieren. Uns geht es hier um das spezifische Bild, dass Huss und Hodn von der Figur des deutschen GangstaRappers zeichnen. Unter dem deutschen Gangsta-Rapper verstehen wir eine „Sozialfigur“, die Teil einer oder mehrerer sozialer Ordnungsformen wie Organisationen, Milieus, Subkulturen, Szenen etc. ist (vgl. Knüttel und Seeliger 2010; Moebius und Schroer 2010). Wir folgen dabei der Definition von Stephan Moebius und Markus Schroer, dass es sich bei Sozialfiguren um „zeitgebundene historische Gestalten“ handelt, „anhand deren ein spezifischer Blick auf die Gegenwartsgesellschaft entworfen werden kann“ (Moebius und Schroer 2010: 8). Die Figur des deutschen Gangsta-Rappers Wir werfen zunächst ein paar lose Schlaglichter auf die Merkmale der Sozialund Kunstfigur des deutschen Gangsta-Rappers, wie er uns in den Texten von Huss und Hodn begegnet. In Klammern verweisen wir jeweils auf die Tracks, in denen die Zuschreibungen zu finden sind. Die hierbei ständig und immer mitschwingende (Selbst-)Ironie lassen wir an dieser Stelle unkommentiert: • Beim Gangsta-Rapper-Dasein handelt es sich nicht um ein authentisches Auf-

treten, sondern um ein „Pseudo-Ghetto-Image“ („Gangsterberuf“, „Rokin‘“). Deutsche Gangsta-Rapper waren und sind außerdem keine richtigen Gangster wie ihre amerikanischen Vorbilder, sondern „Kleinkriminelle“ („Jetzt schämst du dich“). • Deutsche Gangsta-Rapper interessieren sich nicht für Musik, und wenn, dann nur für amerikanischen „R’n’B“ („Du bist nackt“, „Rapper wie“, „Stelldichnichtsoan“).

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• Deutsche Gangsta-Rapper „äffen“ nur „Ami-Rap“ nach („Gangsterberuf“). Es











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gibt also keinen eigenen deutschen Gangsta-Rap, sondern nur eine Kopie der amerikanischen Gangsta-Rap-Kultur. Gangsta-Rapper reden ständig über ihre Plattenverträge („Pornofilmkaese“), und interessieren sich hauptsächlich für „releasen, promoten, representen und Verträge abschließen“ („Deine Hoe auch“). Ein „Manager“ ist dafür verantwortlich, dass eine Person sich das Image des „Gangsta-Rappers“ zulegt („Gangsterberuf“, „Du bist nackt“). Er spinnt die Fäden im Hintergrund und entscheidet über die Gesamtperformance des deutschen Gangsta-Rappers. Dementsprechend sind deutsche Gangsta-Rapper käufliche Spielbälle der kommerziellen Musikindustrie, die dem Dasein als Gangsta-Rapper in einer ausschließlich beruflichen Tagesbeschäftigung nachgehen. Letztendlich sind alle deutschen Rapper „Opfer von Kommerz“ („Hast du einen Cut“). Der Gangsta-Rapper vermarktet sich auf Anweisung von Plattenfirma und Manager vor allem in den neuesten massenmedialen, wirtschaftlich interessantesten Plattformen, egal für welche Szenen oder kulturellen Identitäten diese stehen („Gastspiel“, „Null“, „Der Stoff aus dem die Regenschirme sind“, „Juwelier“). In der Zeit von 2007 bis 2009 gilt dies für das Musikfernsehen (VIVA, MTV), Fach- (Juice) und Jugendzeitschriften (Bravo), später auch für Online-Medien (myspace, facebook) sowie die damit verbundenen Formate (Online-Interviews, Musikvideos, etc.). Die Bilder von „Ghetto“, „Straße“ oder „Hochhäusern“ sind überzeichnete, wenn nicht fingierte Umgebungen, die keine reale Entsprechung haben, sondern zum Zweck der besseren Vermarktung erfunden wurden und gerne in Musikvideos für die eigene Imagepflege gezeigt werden („Gangsterberuf“). Um ihr „Gangsterimage“ noch authentischer wirken zu lassen, geben GangstaRapper an, sie hätten „Verwandte im Osten“ („Radiowecker“). Der Gangsta-Rapper nimmt Anabolika („Kleines Stück“), geht ins Sonnenstudio („Juwelier“) und trägt „Durags“ als Kopfbedeckung sowie Schmuck (Goldketten, Ohrringe). Deutsche Gangsta-Rapper kokettieren mit deutschem Nationalstolz („Juwelier“, „Jetzt schämst du dich“), weil sie damit „Kinder mit Minderwertigkeitskomplexen“ und „einem durch den Geschichtsunterricht gekränkten Nationalbewusstsein“ beeindrucken können, die wiederum die größte Zielgruppe von Plattenverkäufen und Konzerten sind („Gangsterberuf“, „Jetzt schämst du dich“).

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Diese Aufzählung spielt nicht nur ironisch mit einem überzeichneten Klischee, sondern sie steckt auch die Konfliktlinien des symbolischen Kampfes ab, in den sich Huss und Hodn begeben. Es lassen sich zwei zentrale Konfliktlinien benennen. Erstens geht es um die Unterscheidung von anti-kommerzieller HipHopKultur und anderen ausdifferenzierten Rap-Genres (Gangsta-Rap, Street-Rap, etc.), wobei letztere ausschließlich der Vermarktung von fingierten Bildern und Identitäten dienen. Zweitens geht es um die Unterscheidung einer global ausgerichteten HipHop-Kultur einerseits, sowie einem national-identitär bzw. nationalistisch auftretenden deutschen Gangsta-Rap andererseits, der die lokale Adaption von HipHop-Kultur mit einem nationalistisch gefärbten Verständnis von emanzipatorischem Potential und entsprechender Identitätsbildung kurzschließt. Huss und Hodn nennen einige Beispiele für die erstgenannte Unterscheidung. Das betrifft zunächst die amerikanische HipHop-Szene. So werden Puff Daddy, Tupac, Nelly, R. Kelly, Jay-Z, 50 Cent und Eminem regelmäßig als Vertreter des „Jiggy-Rap“ bezeichnet. Darunter lässt sich eine Form von HipHopKultur verstehen, die sich vom Erbe der HipHop-Kultur seit den 1970er Jahren entfernt, und zugunsten medial aufbereiteter Vermarktung kultureller Identitäten eintauscht. Dem stellen Huss und Hodn nicht-kommerzielle US-Vorbilder gegenüber, die teilweise durchaus als Gangsta-Rapper eingeordnet, von Huss und Hodn aber dennoch positiv erwähnt werden. Das betrifft Namen wie Too Short, Big L, Kool Keith, KRS-One, NWA, Ice-T, Ice Cube, Eazy-E, Lord Finesse und EPMD.17 Gerade die Gruppe NWA (kurz für „Niggas with Attitudes“) mit den bekannten Mitgliedern Dr. Dre, Eazy-E und Ice Cube sind ein interessantes Beispiel zur Illustration der oben genannten Unterscheidungen. Einerseits nennen Huss und Hodn den sozialkritischen Impetus von Eazy-E und Ice Cube als Einflüsse für das eigene Verständnis von HipHop-Kultur. Andererseits stehen NWA wie kaum eine andere Rap-Formation für die popkulturelle Kommerzialisierung von Gangsta-Rap. Der schmale Grat zwischen emanzipatorischem Befreiungsschlag und massenmedialer Glorifizierung lässt sich wohl an keiner RapGruppe besser exemplifizieren als NWA. Angesprochen auf diese Widersprüchlichkeit sagt Retrogott im Interview: „Eazy-E wird auch niemals so sein wie er war.“ (Retrogott 2016) Schließlich führt er aus, dass Gangsta-Rap aus seiner

17 Dazu findet sich folgende Zeile aus dem Track „Gangsterberuf“: „Ich hör Too Short, Ice Cube und Eazy E, Snoop Dogg, Ghetto Boys, Kool G Rap und Ice-T, / aber weiß wie Ich mich zu verhalten hab. / Ich bin kein Gangster nur weil ich Gangster-Rap Alben hab. / Du denkst ein bisschen Straße könnte dein Image verfeinern / Deutscher Gangster-Rap ist schwul. Hör dir diese Line an: (Sean Price) ‚Gangster rappers can't fight, so they rap about guns‘.“

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Sicht schon zu dieser Zeit eine Vermarktungsstrategie dargestellt hat, die mit der bestehenden HipHop-Kultur nichts gemein hat. Dahinter wiederum verbirgt sich die Unterscheidung zwischen einem „ghetto of the mind“ und einem räumlich und körperlich materialisierten Ghetto. Letzteres impliziert territorial eingrenzbare Räume (Compton, Bronx, Brooklyn, Ratingen-West, Westberlin, Rödelheim, Offenbach, etc.), in denen konkrete Architektur (Hochhäuser, Wohnblocks) und konkrete Geschehnisse (Drogendeals, Schlägereien, Prostitution, etc.) beobachtet werden können, die Teil des Ghettos sind. Das ist das Bild, das ein kommerzialisierter Gangsta-Rap zeichnet. Erstere Version dagegen, das „ghetto of the mind“, vermeidet eine einfache Zurechnung von territorialen Räumen, Stadtteilen, Wohngegenden, Gruppenbildungen und sozialen Praktiken mit dem Bestehen eines Ghettos. Hier wird unter dem Ghetto vorrangig eine geistige Haltung verstanden, die zwar tief in der kulturellen Identität von Personen, deren materielle Umgebung sowie körperliche Praktiken, verwurzelt sein kann, jedoch niemals die Freiheit, den Spielraum und auch die Verantwortung für selbstbestimmtes Handeln sowie kreative Schöpfungen und Auswege ausschließt. Genau darin liegt aus der Sicht von Huss und Hodn die Traditionslinie zwischen den „urban dance parties“ bzw. „block parties“ in der South Bronx der 1970er Jahre, und dem Entstehen neuer Formen von HipHop-Kultur im Zuge der massenmedialen Rezeption und öffentlichen Vermarktung in den 1980er und 1990er Jahren (Retrogott 2016). Der selbsternannte Gangsta-Rap dagegen, der die Figur des Gangsta-Rappers in Form einer ausweglosen Selbststigmatisierung durch das Ghetto und seine Straßen entwirft, weicht von dieser Idee eines tief in der HipHop-Kultur verwurzelten „ghetto of the mind“ – jedenfalls aus Sicht von Huss und Hodn – ab, weil er den Marktmechanismen der neuen, neoliberalen HipHop-Kulturindustrie verfällt. Der Gangsta-Rapper hat aus dieser Perspektive nichts mit HipHop-Kultur gemein, sondern ist eine von medialer Öffentlichkeit und Marktmechanismen konstruierte kulturelle Identität, die zwischen Authentizität, Inszenierung und bloßer Simulation nicht mehr unterscheiden kann und muss. Die Frage nach der deutschen Identität Wir kommen zur zweiten der oben genannten Konfliktlinien, der Unterscheidung zwischen einer global ausgerichteten HipHop-Kultur, die lokal adaptiert wird einerseits, und einer national geprägten Rap-Kultur, die die globale Ausrichtung der HipHop-Kultur zugunsten anderer kultureller Identitäten in den Hintergrund rückt andererseits. In diesem Sinn besteht ein wichtiger Unterschied zwischen deutscher bzw. deutschsprachiger HipHop-Kultur auf der einen, und Deutsch-Rap auf der anderen Seite. Während erstere eine globale Perspektive

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mit offenen Identitätsvorstellungen einnimmt, bleibt letztere fixiert auf die spezifisch nationale Bedeutung von Rap und HipHop. Mit diesen Überlegungen lässt sich leichter verstehen, warum Huss und Hodn weder mit dem popkulturell ausgerichteten HipHop der 1990er Jahre (Fettes Brot, Fantastische Vier) noch mit dem aufstrebenden Gangsta-Rap der 2000er Jahre etwas zu tun haben wollen. Als Vorbilder nennen sie dagegen einerseits HipHop-Protagonisten wie Advanced Chemistry, die Stieber Twins und Torch, die schon immer die „glokale“ Ausrichtung der HipHop-Kultur und ihre Wurzeln thematisiert haben (Seeliger 2013: 21 ff.). Andererseits verweisen sie auf den Befreiungsschlag des deutschen Battle-Rap von Kool Savas und Taktloss, der für sprachliche und technische Grenzverschiebungen sowie neue Horizonte des ironischen Sprachgebrauchs gesorgt hat. Was diese deutschsprachigen Vorbilder eint, ist ein innovativer und bewusster Gebrauch der Möglichkeiten der deutschen Sprache ohne eine darüber hinausgehende Konstruktion von nationaldeutscher Identität. Diese Abgrenzung betrifft konkret vor allem Samy Deluxe und sein Album „Dis wo ich herkomm“ (2009), der als einer der wenigen Rapper von Huss und Hodn namentlich genannt wird.18 Die schon erwähnte Kritik am Nationalismus bezieht sich jedoch vor allem auf Rapper, die als zentrale Figuren des deutschen Gangsta-Raps in Erscheinung treten und nicht von Huss und Hodn direkt genannt werden (bspw. Fler). Dies gilt beispielsweise für die zunehmend flächendeckende Akzeptanz eines Diskurses über nationale Identität und nationalen Stolz in Folge des sogenannten ‚Sommermärchens‘ der Fußballweltmeisterschaft in Deutschland 2006. Man denke in diesem Zusammenhang beispielsweise an den gemeinsamen Track der Rapper Azad, Amar, Ercandize, Hanybal, Harris, Jeyz, KC Rebell, Kitty Kat, Motrip, PA Sports, Silla, Solo und Tone, der zur Fußball-EM 2012 unter dem Titel „Alle Mann Allstar RMX“ erschienen ist. Die meisten der Rapper kennen Migrationsgeschichten aus der eigenen Familie oder aus eigener Erfahrung. Einige haben sich selbst oder sind von anderen als Gangsta-Rapper bezeichnet worden – ganz prominent Azad, der als einer der ersten deutschen GangstaRapper gehandelt wird (vgl. Seeliger 2013: 69 ff.). Sie alle thematisieren alltägliche Gewalt, Diskriminierungen und Rassismus, und sie alle bewegen sich (mal mehr, mal weniger) auf einem schmalen Grat zwischen expressiver Geste und offener Glorifizierung – oft in der Kunstfigur des Rappers bis zur Unkenntlich-

18 Im Track „Neonröhre“ heißt es: „Du glaubst Rap ist dein Haus, und dass du tight wie Pac oder Eminem bist / Doch in Wirklichkeit bist du nur ’ne kommerzielle Schwulette wie Samy Deluxe.“

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keit miteinander verwoben. Im Track rappt Azad: „Wir haben verschiedene Farben / Aber doch das gleiche Trikot.“ Von PA Sports heißt es: „Straßenboys, vom Staat verfolgt / Aber diese Wochen feiern alle Schwarz Rot Gold.“ Schließlich folgt KC Rebell noch mit folgenden Lines: „Ich sprech in dein Ohr, alle Mann vor / Wir leben unter der gleichen Flagge, Allemagne, yoah / Ich mach nicht weiter diese Untergrund-Musik / Ich mach Hits für die Bundesrepublik.“ Diese enge Verknüpfung von (Gangsta-)Rap und nationaler Identität stellt einen der zentralen Angriffspunkte der Attacken von Huss und Hodn dar. Im Interview verweist Retrogott in diesem Zusammenhang auf den Typus des „identitären Spaßgesellschaftsrappers“ (Retrogott 2016), der gewissermaßen einem historisch wenig reflektierten Party-Nationalismus frönt. Das Etikett des ‚faken‘ deutschen Gangsta-Rap ergibt sich folglich nicht nur aus einer Pseudostilisierung als Opfer einer Gesellschaft, in der es eigentlich weder eine vergleichbare Armut und Gewalt gibt, die mit der amerikanischen Situation des frühen Gangsta-Raps vergleichbar wäre. Das streiten Huss und Hodn nicht ab. Es geht vielmehr um die Instrumentalisierung dieser Bilder für kapitalistische und nationalistische Zwecke. Das ist die Umdeutung, die dem radikalen Angriff von Huss und Hodn zugrunde liegt. Gangsta-Rap und deutsche Popkultur In diesem letzten Abschnitt wollen wir den Zusammenhang von Gangsta-Rap und der Frage nach deutschnationaler Identität im Hinblick auf der Verbindungen des Gangsta-Rap zur deutschen Popkultur vertiefen. Wir führen zunächst einige sehr allgemeine Merkmale von Popkultur ein, sodass sich an einer entsprechenden Definition orientiert werden kann (vgl. Diederichsen 2014). Erstens verbinden wir mit Popkultur bestimmte Formen der massenmedialen Verbreitung und technische Reproduktion, ohne die die Popularisierung von kulturellen Inhalten nicht entstehen könnte (Schallplatten, Kassetten, CDs, digitale Formate). Zweitens ist Popkultur mit einer öffentlichen Aushandlung von Leidenschaften, Bildern und Symbolen der kulturellen Abweichung verbunden, die schon immer auf einem fehlenden Zentrum beruht, und daher die Heterogenität und Pluralität von Perspektiven und Angeboten voraussetzt. Drittens handelt es sich um eine stark personalisierte Form der politisch-ästhetischen Inszenierung, von individualisierten Sozialfiguren, deren Subjektivierungen, sowie davon abweichenden Identitäten. Viertens ist der Fokus auf dem popkulturellen Subjekt schon immer mit der Frage nach dem Verhältnis von Authentizität und Künstlichkeit verbunden. Es stellt sich immer wieder das Problem, ob zwischen echtem Widerstand und impliziter Konformität, zwischen einem subkulturellen Gestus der Subversion und bloßer Affirmation bestehender Strukturen

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überhaupt unterschieden werden kann. In Dietrich Diederichsens Worten: „Es ist konstitutiv für alle Pop-Musik, dass in keinem performativen Moment in letzter Instanz klar ist, ob eine Rolle oder eine reale Person spricht. Dies ist eine entscheidende Spielregel.“ (Diederichsen 2007: 330) Folgt man diesen Kriterien, handelt es sich sowohl bei der Figur des deutschen Gangsta-Rappers aus Sicht von Huss und Hodn, als auch bei Huss und Hodn selbst, um popkulturelle Phänomene. Innerhalb dieser von beiden ‚Lagern‘ geteilten Popkultur ziehen Huss und Hodn jedoch eine dezidierte Grenze. Wo im gegenwärtigen popkulturellen (Gangsta-)Rap Musik und Tonträger auf Masse ausgelegt reproduziert und verkauft werden, halten Huss und Hodn eine auf gesteuerte Verknappung ausgelegte Vinyl-Kultur entgegen. Die Nutzung von Vinyl geht dann einher mit den Herstellungsweisen von Oldschool-HipHop wie Scratching und Sampling und dem Fokus auf ein ‚altertümliches‘ Verständnis von Musik als vornehmlich gehörtes Erlebnis. Dies wiederum grenzt sich von Musikvideos ab, die für die Verbreitung und Erfahrung der Musik von kommerziell erfolgreichen (Gangsta-) Rappern wichtig sind (vgl. Friedrich und Klein 2003) – auch wenn es einige Videos von Retrogott und Hulk Hodn gibt. Auch der Körper wird hier als Medium genutzt. Gangsta-Rap in Deutschland wird heutzutage durch die muskulösen Körper seiner Interpreten, die „Fitnesskörper“ der Popkultur, definiert (vgl. Gugutzer 2004). Dieses Spannungsverhältnis lässt sich gut anhand einiger Zeilen der beiden Rapper Kollegah und Farid Bang aus dem Jahr 2013 darstellen. Dort heißt es: „Eure 4 Elemente: Es sind Spray'n geh'n, Turntables, Breakdance und Rapshit / Uns're 4 Elemente: Es sind Geld zähl'n, Girls klär'n, Gangbang und McFit“. Die Zeilen spielen mit der mittlerweile zum Gründungsmythos erstarrten Annahme, dass die ‚ursprüngliche‘ HipHop-Kultur aus den vier Elementen Rap, Djing, Breakdance und Graffiti bestehen würde. Kollegah und Farid Bang spielen der stellenweise dogmatisch erscheinenden Liste, die für jeweils unterschiedliche historische Kontexte überprüft werden müsste, und möglicherweise um weitere Elemente ergänzt werden sollte (vgl. Seeliger 2013: 16). An dieser Stelle interessiert uns nicht, welche der beiden Versionen historisch ‚angemessener‘ oder überhaupt ‚authentischer‘ ist. Es geht uns darum, dass Kollegah und Farid Bang genau dasjenige Bild von Gangsta-Rap auf den Punkt bringen, das Huss und Hodn Jahre in ihren Battle-Texten angreifen. Huss und Hodn lehnen die Popkultur als Arena des symbolischen Kampfes um Rap-Musik und HipHop-Kultur ab, da diese bereits durch die Marketing-durchsetzten Schläuche der Musikindustrie geschleust wurde. Schließlich geht es aber nicht nur um die Frage des Zusammenhangs von Gangsta-Rap und Popkultur im Allgemeinen, sondern auch um die historisch

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spezifische Situation einer deutschen Popkultur. Um Huss und Hodn in diese Geschichte einordnen zu können, bedienen wir uns bei Thesen des Autors Frank Apunkt Schneider. In seinem Buch „Deutschpop halt’s Maul“ präsentiert Schneider auf kurzweiligen 100 Seiten einen polemischen Gegenmythos zu einer seiner Ansicht nach vorherrschenden Erzählung zur Geschichte der deutschsprachigen Popmusik. Schneider vertritt die These, dass der eigentlich wichtige und eigenständige Beitrag der spezifisch deutschen Pop-Kultur in einer „Ästhetik der Verkrampfung“ liegt. Damit meint er „jene Verkrampfung, die sich aus dem Glück verlorener Identität und eine Entwurzelung speist, die eine zivilisatorische Errungenschaft ist; nicht nur in Deutschland, dort aber in besonderem Maße.“ (Schneider 2015: 8) Die Rezeption von Popkultur steckt daher in einem Dilemma. Einerseits sucht sie nach neuen ästhetischen Ausdrucksmöglichkeiten, die hinter dem dunklen Schleier der NS-Zeit neue Möglichkeiten kultureller Unschuld aufzeigen. Andererseits impliziert sie Gesten der Verdrängung und Befreiung, die die stümperhaften Ausweichstrategien deutscher Popkultur offenlegen. In seiner materialreichen Studie nennt Schneider hierzu beispielsweise die in der Nachkriegszeit zunehmende Verwendung eines Fantasie-Englisch als „progressive Selbstentfremdungstechnik“ sowie die Ausschmückung von deutschem Schlager mit direkt übersetzten Country- und Rock’n’Roll-Texten (Schneider 2015: 30). Die ästhetischen Sinnbilder einer damit verbunden „Ästhetik der Verkrampfung“ sind Post-Punk-Bands wie DAF (Deutsch-Amerikanische Freundschaft), FSK (Freiwillige Selbstkontrolle), Middle Class Fantasies, Cretins oder Vadder Goebbels, die das „verkorkste“ Verhältnis der deutschen Nachkriegsmusik zu popkulturellen Identitäten in ihrer historischen Abgründigkeit ästhetisch verarbeitet haben. Man muss Schneiders klare musikalische Präferenzen nicht teilen. Die an diese Erzählung anschließenden Überlegungen zur Entwicklung der deutschen Popkultur seit der deutschen Wiedervereinigung erscheinen uns hier jedoch überaus hilfreich. Aus Schneiders Sicht ist der Diskurspop der 1990er Jahre, in Gang gesetzt von Indie-Pop-Bands wie (die späten) Blumfeld, Tomte, Die Sterne oder Tocotronic, nicht nur eine ästhetische Bereicherung für Deutschlands kulturelle Landschaft gewesen. Vielmehr war die Popkultur dieser Zeit „ein symbolischer Neuanfang, der das Bruttoinlandsprodukt steigerte, Aufbruchstimmung verströmte und jederzeit als Unbedenklichkeitsausweis vorgezeigt werden konnte“ (Schneider 2015: 87). Der Indie-Pop fungiert dabei als „Universalwaffe“, der diese „neue Unverkrampftheit“ mit entsprechenden Bildern und Klängen transportieren kann (Schneider 2015: 93). Aber auch – und hier wird es nun für unser Thema interessant – der deutsche HipHop hat sich zum „Tummelplatz deutscher Identitäten“ gesellt (Schneider 2015: 93).

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Schneider nennt Samy Deluxe und Xavier Naidoo als Künstler, die auf den Zug von deutsch-identitären Pop-Künstlern aufspringen, ohne die kapitalistischen und historischen Dimensionen dieser Entwicklung zu reflektieren. Wir wollen an dieser Stelle die These vertreten, dass Retrogott und Hulk Hodn gewissermaßen als Pop-Verwandte im Geiste mit den ästhetisch Verkrampften angesehen werden können, die Schneider erwähnt (DAF, FSK, etc.). Das betrifft vor allem die historisch reflektierte, humoristische Verwendung der deutschen Sprache. Der von Retrogott auch in Live-Performances gepflegte Rap-Stil knüpft gewissermaßen an die Spontaneität und Absurdität sowohl von dadaistischer Lyrik als auch dem Post-Punk der BRD an. Das gleiche gilt für die ständigen Verweise an die kapitalistischen und faschistischen Tendenzen des bestehenden Kulturangebots. Aus dieser Sicht kann der deutsche Gangsta-Rap wie eine weitere Fußnote im Versuch der Reputationspflege auf dem Markt der Erstarkung deutschnationaler Popkultur und ihrer wohlgeordneten Situierung eingeordnet werden. Wie wir oben schon erwähnt haben, sind selbst Gangsta-Rap-Ikonen wie Azad auf den Zug dieser neuen deutschen Pop-Identität und den damit verbundenen Vermarktungsmechanismen (Fußball-EM) aufgesprungen. Huss und Hodn dagegen stellen diesem Trend schon vor der kommerziellen und popkulturellen Eingliederung des deutschen Gangsta-Raps ein Modell einer Stolz verneinenden HipHop-Kultur entgegen, die die nationalistische und kapitalistische Entfremdung als Teil der genrespezifischen Identitätsbildung entlarvt.

F AZIT Huss und Hodn – das ist in einem gewissen Sinn das HipHop-kulturelle Gewissen des deutschen Gangsta-Rap, die lästige Erinnerung daran, dass unter dem Etikett des Gangsta-Rap neu-nationale und kapitalistische Strukturen versteckt sind. Das Duo inszeniert sich selbst als fleischgewordene, authentische AntiThese zu all dem, was HipHop und Rap genannt, und unter diesen Namen aggressiv vermarktet wird. Ihr musikalischer Kampf gegen diesen transformierten Rap geschieht dabei aber nicht über die im gegenwärtigen deutschen GangstaRap etablierten Wege. Vielmehr rappen Huss und Hodn auf eine absurde, bildreiche und höchst ironische Art und Weise und wenden Gangsta-Rap-typische Härte sowie Maskulinitäts- und Erfolgskonzepte in einem konstanten Spiel aus Ernst und Unernst gegen sich selbst. Dieses sich Entgegenstemmen gegen Szene, Publikum und Musikindustrie findet seinen Ausdruck in einem Bild aus dem Track „Einenreissen“: „Meine Haltung ist gut konserviert wie Moorleichen / Ich veränder’ alles wie ein negatives Vorzeichen.“ Die Unterhöhlung und Umwen-

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dung von allem, was Huss und Hodn in deutschem Gangsta-Rap sehen, ist das Programm des Duos, ebenso wie ihre konservative Sicht auf HipHop. Die Beschäftigung mit den Kölner Künstlern zeigt, welche (musikalischen) Gegenmodelle zu Gangsta-Rap aus der Rap-Szene heraus entworfen und ‚vorgelebt‘ werden können. Es ist dabei stellenweise erstaunlich, dass deutscher Gangsta-Rap eine solche Reaktion hervorrufen und damit das gesamte Hauptmotiv und bisweilen auch Hauptmotivation eines Künstler-Duos – oder zumindest eine seiner Schaffensphasen – stemmen kann. Fast wirkt es so, als ob Huss und Hodn als Musiker nur durch das existieren können, wovon sie sich selbst mit aller Vehemenz abgrenzen – ähnlich wie der französische Vordenker des Postkolonialismus Frantz Fanon die Gewalt des Kolonisierten beschreibt, der nichts anderes im Sinn hat, als den „Kolonialherren“ zu zerstören (Fanon 1966). Somit könnte man guten Gewissens behaupten, dass Huss und Hodn zumindest teilweise selbst Produkt der Gangsta-Rap-Dynamik in Deutschland sind. Doch auch Fanon weist schon darauf hin, dass man gegen dieses Dilemma nur mit Humor gefeit ist: „Der Kolonisierte weiß das alles und lacht, wenn er in den Worten des anderen als Tier auftritt.“ (Fanon 1966: 36) Der Retrogott ist eine seltsame Mischung aus Über-Ich und Es, aus intellektuell-transzendenter Überlegenheitsgeste und absurd-humoristischer Kampfansage. Das Bild, das Huss und Hodn von deutschem Gangsta-Rap zeichnen, beruht auf einem Paradox. Ihre Kritik an deutschem Gangsta-Rap geht einher mit der Konstruktion eines monolithischen und ‚echten‘ Bilds von HipHop-Kultur, das bestimmte Formen ästhetischen Ausdrucks von vornherein ausblendet. Die Möglichkeit einer Adaption bestimmter Strömungen amerikanischer HipHop-Kultur in migrantischen Lebensrealitäten Deutschlands findet in diesem Bild keinen Platz, oder wenn doch, dann nur unter Vorbehalten. Bis in die späten 1990er Jahre war populärer Rap in Deutschland von weißen Künstlern aus der mittelständischen Sphäre dominiert, und wird ab den 2000er Jahren unter anderem durch Gangsta-Rap mit Perspektiven auf alternative Biografien und Lebenswelten konfrontiert. Hier entfalten sich Erzählungen von Desintegration, Fremdheit, Marginalisierung und prekären Lebensumständen. Um hier das ausgetretene Bild des Sprachrohrs zu benutzen, melden sich durch Gangsta-Rap plötzlich jene zu Wort, die zwar bereits lange in der BRD existent waren, aber bisher nicht von einer breiteren Bevölkerung (zumindest auf diese massenmediale und popkulturelle Art) wahrgenommen wurden. Huss und Hodns vehementer Kampf gegen deutschen Gangsta-Rap könnte dabei weniger wohlwollend als eine bürgerliche Blindheit gegenüber den Errungenschaften gelesen werden, zu denen diese (zu ihren Anfangszeiten) neue Form von HipHop geführt hat. Andererseits werden wir jenseits dieser identitätspolitischen Fragen von Huss und Hodn an die

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RETROGOTT

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gesellschaftskritischen und musikalischen Ursprünge der HipHop-Kultur erinnert. Und dabei gilt: „Wackness hat keine Hautfarbe.“ („Die Frage bleibt offen“) Letztendlich stehen sich bei Huss und Hodn immer wieder kritische Analysen von politischen und gesellschaftlichen Dynamiken einerseits und ein unbedingter Wille zur Konservierung einer ideal gedachten, orthodoxen Art von HipHop-Kultur andererseits gegenüber. Jedoch zu glauben, dass das Duo an großer Gesellschaftsanalyse und politischem Rap-Gestus interessiert wäre, führt auf eine falsche Fährte. Huss und Hodn sind schon immer Teil einer sehr kleinen Rap-Szene gewesen, die sich grundlegend einer größeren Rap-Bewegung verschlossen hat. Im Gegensatz zum deutschen Gangsta-Rap vermeiden Huss und Hodn Ich- und Wir-manifestierende Kraftreden, und schmeißen stattdessen lyrisch-musikalische, selbstreferentielle Nebelbomben: „Ich scheiß’ nicht auf die Szene, ich scheiße in sie / Ich bin inhaltslos wie ein Kandinsky.“ („Null“)

L ITERATUR Ahn, Gregor (2012): Gottesvorstellungen als Thema vergleichender Religionswissenschaft. In: Stausberg, Michael (Hg.): Religionswissenschaft. Berlin: de Gruyter. S. 167‒181. Bundesverband Musikindustrie e. V. (2016): Musikindustrie in Zahlen 2015. Berlin. Diederichsen, Diedrich (2007): Allein mit der Gesellschaft. Was kommuniziert Pop-Musik? In: Huck, Christian; Zorn, Carsten (Hg.) Das Populäre der Gesellschaft. Systemtheorie und Populärkultur. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. S. 322‒334. Diederichsen, Diedrich (2014): Über Pop-Musik. Köln: Kiepenheuer & Witsch. Fanon, Frantz (1966): Die Verdammten dieser Erde. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Friedrich, Malte; Klein, Gabriele (2003): Is this real? Die Kultur des HipHop. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Gugutzer, Robert (2004): Soziologie des Körpers. Bielefeld: Transcript. Kleiner, Marcus S.; Nieland, Jörg-Uwe (2007): HipHop und Gewalt: Mythen, Vermarktungsstrategien und Haltungen des deutschen Gangster-Raps am Beispiel von Shok-Muzik. In: Bock, Karin; Meier, Stefan; Süss, Gunter (Hg.): HipHop meets Academia. Globale Spuren eines lokalen Kulturphänomens. Bielefeld: Transcript. S. 215‒246. Klingebiel, Christian (2016): Interview mit „Pütz Money“. Köln, 24.10.2016. Knüttel, Katharina; Seeliger, Martin (2010): „Ihr habt alle reiche Eltern, also sagt nicht, ‚Deutschland hat kein Ghetto!‘“ Zur symbolischen Konstruktion

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„Haftbefehl hat konkret irgendwie einiges für uns geändert“ Gangsta-Rap als Intervention in Repräsentationsverhältnisse T IM B ÖDER UND A YLIN K ARABULUT

1 E INLEITUNG : G ANGSTA-R AP ALS E MANZIPATIONSPROJEKT ? Der Beitrag untersucht vor dem Hintergrund rekonstruktiver Analysen die Frage, auf welche Weise jugendliche Szeneakteure vor dem Hintergrund ihres milieuspezifischen Erfahrungsraums an den im Gangsta-Rap verhandelten, programmatischen Entwurf eines Emanzipationsprojekts anschließen. Der nachfolgende Ausschnitt aus einer Gruppendiskussion mit jugendlichen Szeneakteuren, die allesamt eine Affinität zum Gangsta-Rap resp. zum Rapper Haftbefehl vereint, veranschaulicht diesen Emanzipationsentwurf zunächst allgemein über die Bezugnahme auf HipHop: Am: also dat Ding is, HipHop entfaltet immer da Kraft wo sie Leute befähigt über ihre Probleme zu reden obwohl sie eigentlich gar nich von der Gesellschaft das Recht bekommen darüber zu reden so weiße (.) also du hattest das in USA immer so, du hattest- du hast das in Frankreich gehabt, du hast das in Deutschland jetz ers relativ neu dass zum ersten mal die Leute rappen die [...] die eigentlich richtig deklassiert sind (.) eigentlich gar keine Rechte gesellschaftlich haben, über die nur gelacht wird von oben herab so (.) die in keinen Club reinkommen, nichts machen dürfen (.) (Auszug aus der Gruppendiskussion ,Malve‘, Passage „Wandel“, Z. 417-428)

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Der Jugendliche Am beschreibt in dieser Sequenz eine für ihn zentrale Bedeutung von HipHop, in dem er diesen als dann besonders bedeutsam einstuft, wenn er als Sprachrohr für die Artikulation von Problemlagen jener Akteure wirke, denen eine Erfahrung als gesellschaftlich Marginalisierte und Entrechtete gemeinsam sei. HipHop ermöglicht somit das Sprechen aus einer Minderheitenperspektive und erscheint so als geeignete, individuelle wie kollektive Interessenartikulation und Repräsentationsform. Dem HipHop weist der Szeneakteur Am damit eine programmatische Funktion als Emanzipationsprojekt im Kontext machtvoller, sozialer Kämpfe um Ausschließung und Marginalisierung zu. An diesen Entwurf von HipHop resp. Gangsta-Rap als Emanzipationsprojekt aus ökonomischer und sozialer Deprivation (vgl. dazu Böder/Pfaff im Erscheinen), knüpft der vorliegende Beitrag an. Verwiesen ist damit zugleich auf zwei zentrale Topoi in der Jugendkulturforschung. Zum einen unterbreiten jugendkulturelle Stile den Jugendlichen spezifische Angebote für die Deutung sozialer Zusammenhänge sowie die individuelle und kollektive Selbstrepräsentation (vgl. z.B. Pfaff 2006). Daneben wird juvenilen Szenen zweitens eine gesellschaftliche Gestaltungskraft zugeschrieben, womit diese als Arenen gesellschaftlichen Wandels beschrieben werden (vgl. Sander 1995). Damit ist der Ausgangspunkt dieses Beitrags markiert, in dem aus der Perspektive von Migrationsanderen1 erstens die Frage nach deren Positioniertheit innerhalb migrationsgesellschaftlicher Dominanzzusammenhänge bearbeitet wird. Daran anknüpfend wird zweitens danach gefragt, inwiefern der im Gangsta-Rap durch den Rapper Haftbefehl2 repräsentierte Azzlack-Stil für die Jugendlichen eine geeignete Artikulationsform für spezifische gesellschaftliche Ausgrenzungserfahrungen darstellt. Um diese Perspektive zu entwickeln, werden wir zunächst zentrale Forschungsperspektiven zur Thematisierung von Macht- und Herrschaftsverhältnissen im Gangsta-Rap skizzieren (2). Daran anschließend werden zentrale Aspekte des Konzepts der Repräsentation im Kontext der Arbeiten Stuart Halls

1

2

Mit ,Migrationsandere‘ wird auf eine Bezeichnung rekurriert, die zwar pauschalisierend wirkt, diese Pauschalisierung jedoch gleichwohl anzeigt: So existieren MigrantInnen und Nicht-MigrantInnen nicht per se, sondern lediglich als relationales Phänomen. Der Begriff konkretisiert kulturelle und politische Differenz- und Dominanzverhältnisse und verweist auf Strukturen, die „Andere“ produzieren (vgl. Mecheril 2004: 24; Mecheril/Castro Varela 2010: 4 ff.). Der Rapper Haftbefehl, bürgerlich Aykut Anhan, ist ein kurdischer Rapper aus Offenbach am Main. Durch die Verwendung des zazaischen Begriffs „Babo“, das sinngemäß Anführer oder Boss bedeutet, in seinen Raptexten prägte er das Jugendwort des Jahres 2013.

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markiert (3), bevor dann methodologische Verortungen im Rahmen der praxeologischen Wissenssoziologie getroffen werden (4), die den Rahmen für die Beantwortung der Fragestellung über die empirischen Rekonstruktionen bilden (5), die dann abschließend zusammenfassend eingeordnet werden (6).

2 G ANGSTA-R AP UND DIE ARTIKULATION VON G ESELLSCHAFTSKRITIK HipHop zählt unbestritten zu einer der gegenwärtig populärsten Jugendkulturen. Der Gangsta-Rap, als ein spezifisches Subgenre der HipHop-Szene, ist dabei Anlass ambivalenter öffentlicher wie wissenschaftlicher Projektionen und verschließt sich in der Gesamtschau vereinseitigenden Zuordnungsversuchen. So wird Gangsta-Rap einerseits als gewaltverherrlichend, teils antisemitisch, sexistisch, wie auch vereinzelt als nationalistisch und neofaschistisch problematisiert (vgl. z.B. Behrens 2004; Wiegel 2010). Ausgangspunkt für solche Diagnosen sind dabei zumeist Verweise auf Liedtexte oder medial vermittelte Skandale um als deviant beschriebene Aktivitäten einzelner RapperInnen. Entgegen solch kritischen Perspektiven stellt die sozial- und kulturwissenschaftliche Thematisierung des Gangsta-Raps dessen Auseinandersetzung mit sozialen Herrschaftsund Ungleichheitsverhältnissen als Möglichkeit zur Artikulation von Gesellschaftskritik heraus (vgl. Saied 2012; Seeliger/Dietrich 2012). Gangsta-Rap erscheint so als Ort der Deutung gesellschaftlicher Zusammenhänge bis hin zu einer Antriebsquelle sozialen Wandels. Gezeichnet wird damit ein Bild vom Gangsta-Rap als jugendkulturelles Phänomen, das sich in einem teils polarisierenden Spannungsverhältnis zwischen Affirmation und Kritik bewegt. Eine Analogie dieser kontrastiven Perspektiven liegt in der Thematisierung der sozialstrukturellen Verankerung der SzeneakteurInnen, womit diese über deren soziale Lage konträr zur Mehrheitsgesellschaft als marginalisiert und randständig beschrieben werden. Hierzu wird insbesondere die soziokulturelle, ethnische oder klassenspezifische Lagerung der SzeneakteurInnen und deren Thematisierung in den künstlerisch-musikalischen Produktionen herausgestellt. Bereits im US-amerikanischen Ursprung der Szene ist dabei ein Entstehungsnarrativ angelegt, bei dem HipHop als Kontext der Emanzipation und Loslösung aus rassistischer und ökonomischer Marginalisierung thematisch wird (vgl. z.B. Böder/ Pfaff im Erscheinen; auch Titus 2000). Dabei reproduziert die Adaption des USamerikanischen Entstehungsnarrativs durch den deutschen Gangsta-Rap vorwiegend die ästhetischen Ausdrucksformen, belegt diese aber aufgrund unterschiedlicher sozialstruktureller Lagerungen mit kontrastiven Adaptionen und Neukon-

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textualisierungen (vgl. z.B. Böder/Pfaff i.E.; Dietrich/Seeliger 2013; Klein/ Friedrich 2003). Dietrich und Seeliger (2013) sehen die Notwendigkeit der Hervorbringung einer eigenen, deutschen Gangsta-Rap-Identität über differente gesellschaftliche Parameter in den beiden Ländern und der darin eingelagerten Szenegeschichte begründet. Während die Szene in den USA als „counterculture per definitionem“ (ebd.: S. 122) ein eigenes Ursprungsnarrativ konturierte, fehlte ein solches in der deutschen Gangsta-Rap-Szene zunächst. Die beiden Autoren begründen dies u.a. mit unterschiedlich ausgeformten Migrationsregimen in den beiden Ländern, woraus unterschiedliche thematische Bezugnahmen und Thematisierungen resultieren (vgl. ebd.). Während vorliegende Studien zur HipHop-Szene auf eine breite Forschungslandschaft verweisen (vgl. z.B. Klein/Friedrich 2003; Loh/Güngör 2002), liegen zum Gangsta-Rap insgesamt nur vereinzelt empirische Studien vor. Entsprechende Arbeiten konzentrieren sich auf Deskriptionen zur Genregeschichte (vgl. z.B. Szillus 2012), auf die vergleichende Analyse der deutschen und US-amerikanischen Szene anhand ausgewählter Video- oder Musikproduktionen (vgl. z.B. Dietrich 2015), auf die Untersuchung einzelner, länderspezifischer Ausprägungen und Abwandlungen (vgl. z.B. Friese 2012) sowie auf die Analyse der Bearbeitung von spezifischen Dimensionen sozialer Ungleichheit (vgl. z.B. Dietrich 2015; Goßmann 2012; Seeliger 2012), teils auch mit Blick auf urbane Segregation (vgl. Janitzki 2012). Die bevorzugte empirische Grundlage der Untersuchungen bilden dabei ausgewählte Raptexte und Videoproduktionen. Für den vorliegenden Beitrag sind zusätzlich solche Studien aufschlussreich, die den Zusammenhang von milieuspezifischen Sozialisationserfahrungen und der Szenezugehörigkeit vermittelnd untersuchen. So stellt Weller (2003) über den Vergleich von Rap-Gruppen in Brasilien und Deutschland zwei Formen der Bearbeitung ethnischer Diskriminierung heraus, bei denen Rap für die Jugendlichen einerseits eine Form der Bearbeitung biografischer Erfahrungen sowie andererseits ein geeignetes Mittel des Protests darstellt. Nohl (2000) vergleicht die Entwicklungsgeschichten zweier Breakdance-Gruppen vor dem Hintergrund von Adoleszenzkrise und Migrationslagerung und beschreibt im Längsschnitt eine Veränderung der kulturellen Protestform: „Aus dem kontrakulturellen Gegenleben wurde ein subkulturelles Eigenleben des Breakdance.“ (ebd.: 246). Beide Untersuchungen zeigen, wie die Jugendlichen gesellschaftliche Machtverhältnisse und ihre Migrationslagerung in der ästhetischen Praxis der Szene als Gegenstand konstruieren und bearbeiten. Mit Blick auf die skizzierten Forschungsperspektiven zu HipHop und Gangsta-Rap wird deutlich, dass stilspezifische ästhetische Praktiken mit verschiedenen Formen der Bearbeitung kollektiver Ungleichheitserfahrungen verknüpft

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sind und vor diesem Hintergrund als Artikulationen von Gesellschaftskritik verstanden werden können. Im Anschluss an Stuart Hall – so möchten wir in diesem Beitrag vorschlagen – kann Gangsta-Rap dabei in umfassender Weise als ein kulturelles Feld gefasst werden, das als ein Austragungsort der alltäglichen Aushandlungsprozesse gesellschaftlich dominierender und marginalisierter Gruppen fungiert (vgl. Procter 2004; Supik 2005). Ausgehend von Analysen zu sozialen und medialen Ausdrucksformen antirassistischer Politik und sozialen Bewegungen interessiert sich Hall insbesondere für Möglichkeiten und Grenzen gelungener Interventionen und diskutiert geeignete Strategien, um die Unterwerfung in diskursive Formationen aufzubrechen, zu unterlaufen und strukturell zu verändern (z.B. Hall 1994a; 1994b; 2004a: 158 ff.). Analog zu den von Hall im Rahmen rassifizierter Repräsentationen untersuchten Gegenstrategien, kann Gangsta-Rap als eine Form der künstlerischen Produktion beschrieben, die Möglichkeiten zum Eintritt in gesellschaftliche Repräsentationsverhältnisse sowie darüber hinaus Perspektiven der Veränderung von Repräsentationsregimen anbietet (vgl. Hall 1994b).

3 R EPRÄSENTATIONSVERHÄLTNISSE ALS M ACHTVERHÄLTNISSE Ausgehend von einem Verständnis von Repräsentation als Prozess der Sinn- und Bedeutungsproduktion befasst sich Hall mit Mechanismen, die zur Fixierung und Defixierung von Sinn beitragen (vgl. z.B. Hall 2004b). Repräsentationsregime fixieren dabei Bedeutung und unterscheiden zulässige Formen der Repräsentation von Ausgegrenzten und Verdrängten. Zugleich wird Defixierung dadurch ermöglicht, in dem Repräsentationsregime auf die Notwendigkeit ihrer iterativen Reproduktion angewiesen sind, womit sich Möglichkeiten für Abweichungen in Momenten der Wiederholung ergeben (vgl. dazu auch Marchart 2008: S. 211 f.). Dieses Verständnis einer regulativen Prozesshaftigkeit von Sinn- und Bedeutungsproduktion verknüpft Hall mit subjekt- und diskurstheoretischen Überlegungen. Demnach werden innerhalb von Diskursen unterschiedliche Subjektpositionen produziert, in die das Subjekt hineingerufen wird. Das Verhältnis von Subjekt und prinzipiell unabgeschlossenen, mehrstimmigen Diskursen fasst Hall mit dem Konzept der Artikulation als eine Verknüpfungsform, bei der aus zwei verschiedenen Elementen eine Einheit hergestellt werden kann, die zeitlich nicht überdauern muss (vgl. z.B. Hall 1985; 1994c: S.112 f.). Hall hebt dabei wiederkehrend Momente der Handlungsmacht der Subjekte gegenüber der Wirkmächtigkeit von Diskursen hervor: Das Subjekt erfährt damit zum

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einen unter spezifischen historischen, kulturellen und sozialen Verhältnissen eine Positioniertheit. Zum anderen aber muss es sich in diese Subjektpositionen einbringen, wobei es sich dabei weder um einen schlichtweg intentionalen, noch um einen einseitigen „Prozess des Ergriffen- oder Angesprochenwerdens“ (Mecheril 2006: 126 f.) handelt. Die kontingent strukturierte (Aus-)Wahl aktiver Positionierungsmöglichkeiten des auch bei Hall dezentriert konzipierten Subjekts wird durch die jeweils gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse eingeschränkt und ist somit vorgängig strukturiert. In der konstitutiven Unabschließbarkeit von Diskursen steckt hingegen die strukturelle Möglichkeit für Verschiebungen und Gegenstrategien innerhalb von Repräsentationsregimen (vgl. Hall 2004a: S. 158). Bezogen auf die Möglichkeitsbedingungen von Widerständigkeit und Interventionen beschreibt Hall am Beispiel der antirassistischen Bewegung verschiedene Repräsentationspraktiken (vgl. ebd.). Eine zentrale Strategie kennzeichnet Hall als mimetische Umkehrung, in dem das Subjekt die Anrufung oder Interpellation annimmt, mit der bestimmte Stigmatisierungsmerkmale verbunden sind und diese über positive Merkmale umkehrt und ersetzt (z.B. black is beautiful). Diese Form der „Umkehrung der Bewertung alltagskultureller Stereotype“ (Hall 2004a: S. 160), verbleibt jedoch in der binären Struktur stereotyper Zuschreibungen und löst deren Widersprüche trotz des Eintritts in die Repräsentationsverhältnisse nicht auf. Das Beispiel verdeutlicht die Komplexität und Ambivalenz von Gegenstrategien und Repräsentationspraktiken, auf die Hall an verschiedenen Stellen hingewiesen hat (vgl. Hall 2004a: S. 194; ausführlich auch Supik 2005: S. 71 ff.). Wenn also ein zentrales Kennzeichen von HipHop die „Artikulation von Kritik gegen Rassismus und Segregation in urbanen Kontexten“ (Weller 2001: S. 8) darstellt, dann kann dies als eine jugendkulturelle Auseinandersetzung mit migrationsgesellschaftlichen Repräsentationsregimen beschrieben werden. Die darzustellenden Rekonstruktionen sollen dabei zeigen, auf welche Weise die Jugendlichen an den gegenwärtig populären Azzlack-Stil im Gangsta-Rap anschließen und inwiefern dieser für die Gruppe eine geeignete Repräsentationsform ihrer spezifischen sozialen Lagerung darstellt. Daran anknüpfend sollen jedoch zunächst die in der Alltagspraxis der Szeneakteure wirksamen Sozialisationserfahrungen in den Blick genommen und hinsichtlich der Ver- bzw. Aushandlung von Subjektpositionen untersucht werden. Die empirische Materialgrundlage hierfür bildet, wie eingangs bereits beschrieben, ein Gruppendiskussionstext.

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4 M ETHOD ( OLOG ) ISCHE V ERORTUNGEN Die Auswertung der Gruppendiskussion bezieht sich auf die Dokumentarische Methode nach Bohnsack (vgl. Bohnsack 2007, 2009, 2014a), die sich methodologisch zentral an der Wissenssoziologie Karl Mannheims (1964) orientiert. Vor dem Hintergrund praxeologischer Grundannahmen werden jugendkulturelle Stile, wie HipHop und Gangsta-Rap, als milieuspezifische Erfahrungszusammenhänge gefasst, die über eine bestimmte Handlungspraxis sowie gemeinsame strukturidentische Erfahrungen konstituiert sind (vgl. z.B. Bohnsack u.a. 1995; Böder/Pfaff 2015; Weller 2003). In der praxeologischen Wissenssoziologie nach Mannheim erfolgt ausgehend von der „Doppelstruktur alltäglicher Verständigung und Interaktion“ (Bohnsack/Nentwig-Gesemann/Nohl 2007: 14) eine Differenzierung zwischen unterschiedlichen Wissensformen. Diese werden einerseits durch das kommunikativ-generalisierte und gesellschaftlich geteilte Wissen sowie andererseits durch das konjunktive, aus konkreten Erfahrungszusammenhängen resultierende Wissen dargestellt (vgl. Bohnsack 2012). Das inkorporierte, atheoretische und nicht reflexiv verfügbare konjunktive Wissen generiert sich auf Basis homologer Erfahrungen, einer gleichartigen Handlungspraxis oder kollektiven strukturidentischen Sozialisationserfahrungen und wirkt handlungsleitend. Dagegen werden unter dem kommunikativ-generalisiertem Wissen gesellschaftlich geteilte, institutionalisierte und stereotypisierende Wissensbestände gefasst. Die Dokumentarische Methode zielt vor diesem Hintergrund auf die Rekonstruktion des konjunktiven Erfahrungsraums (vgl. Mannheim 1964) sowie der handlungsleitenden Orientierungen kollektiver Akteure ab (vgl. Bohnsack 2011: 40), die unmittelbar in die Praxis eingelassen sind und diese anleiten. Bei der Auswertung der nachfolgenden Gruppendiskussion orientieren wir uns an der weitgehend standardisierten Verfahrensweise dokumentarischer Textinterpretation (vgl. z.B. Bohnsack/Pfaff 2010; Przyborski 2004). Einschränkend muss jedoch an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass die Ergebnisse auf der Grundlage einer einzelnen Gruppendiskussion generiert wurden und die komparative Analyse als eine zentrale Anwendung der Dokumentarischen Methode in diesem Zusammenhang noch aussteht.3

3

Die Gruppendiskussion wurde im Rahmen einer studentischen Qualifikationsarbeit erhoben und stellte somit eine erste Auseinandersetzung mit dem Untersuchungsfeld dar.

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5 E MPIRIE Die im Folgenden zu illustrierende Analyse basiert auf einer Gruppendiskussion, die mit vier männlichen Jugendlichen aus einer mittelgroßen Stadt im Ruhrgebiet geführt wurde. Die Jugendlichen wurden aufgrund ihrer im Vorfeld markierten Zugehörigkeit zu HipHop und Gangsta-Rap ausgewählt und befanden sich zum Zeitpunkt der Diskussion allesamt in einem universitären Studium. Bereits zu Beginn der Gruppendiskussion zeichnet sich ein Muster von Diskursbewegungen ab, bei denen sich Ausführungen zu biografischen Hintergründen der Diskutanten mit Passagen zum Gangsta-Rap abwechseln. Im Verlauf der Gruppendiskussion wird somit schnell deutlich, dass sich die gemeinsamen Sozialisationserfahrungen der Diskutanten einerseits und deren Vorliebe für Gangsta-Rap und seine Protagonisten andererseits gegenseitig bedingen. Vor diesem Hintergrund wird im Folgenden zunächst ausgehend von der Eingangspassage der Gruppendiskussion der Blick auf die performative Aushandlung der Subjektposition Migrationsandere gerichtet (vgl. Kap. 5.1). Im Anschluss folgen Analysen zu Passagen, in denen die Jugendlichen den durch den Rapper Haftbefehl eingeführten Azzlack-Stil sowie den Gangsta-Rap allgemein als Form und Feld gesellschaftlicher Interventionen diskutieren (vgl. Kap. 5.2). 5.1 „Lass die Affen aus’m Zoo“: Die gemeinsame Erfahrung der Anrufung als Migrationsandere Eingeleitet wurde die Gruppendiskussion über einen offenen Impuls, der eine Erzählaufforderung zur Vorstellung der Gruppe selbst und ihrem Alltagshandeln beinhaltet. Daraufhin zeigt die Gruppe eine Praxis der Ironisierung der Interviewsituation4: Iw: so ich möchte euch jetzt bitten, mir von euch zu erzählen (.) von eurem Alltag und von euch Am: kim başlıyor? @(.)@ [wer fängt an?] Bm: fang du an alter wenn du willst Cm: Ja, fang du an(.) Am: Atıyor [der labert] ja:: ich bin der Dm ich bin in A-Stadt aufgewachsen, ich bin da geboren, leb immer noch da:: Bm: so siehst du auch aus

4

Die diesem Beitrag zugrunde gelegte Gruppendiskussion wurde nach den gängigen Regeln anonymisiert. Die Transkriptionsregeln orientieren sich am System „TiQ“ („Talk in Qualitative Social Research“) (vgl. Bohnsack 2010: 236 f.).

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Am: Danke(.) Dm: @(.)@ (Gruppendiskussion ,Malve‘, Passage „Interviewsituation“, Z. 1-10)

Nach einer kurzen metakommunikativen Aushandlung des Rederechts, ratifiziert Am die ihm zugewiesene Sprecherrolle und konterkariert die im Impuls angelegte Erzählaufforderung über die Initiierung eines biografischen Rollenspiels: Wie deutlich wird, spricht er – entgegen dem Impuls und entgegen herkömmlicher Routinen des Sprechens – nicht über sich selbst, sondern aus der Perspektive von Dm heraus. Am gibt hierzu den Namen, den Ort des Aufwachsens von Dm und dessen aktuellen Lebensort an, der mit dem Geburtsort identisch ist. Über diese Praxis distanziert sich Am deutlich von der zuvor geäußerten Erzählaufforderung durch Iw und der damit verbundenen kommunikativ-konventionellen Erwünschtheit in Bezug auf die adäquate Reaktion gegenüber der Fragestellung. Der Beginn der Gruppendiskussion dokumentiert somit eine Praxis des Unterlaufens und Überzeichnens explizit formulierter Anforderungen. So wird die Erwartungshaltung, eine Biografie zu entfalten, zwar bedient, zugleich aber über die Praxis einer stereotypisierenden Zuspitzung absurd gesetzt. Bm setzt diese Praxis fort und bestätigt die Ausführungen von Am über Dm, in dem er diese mit dem äußeren Erscheinungsbild von Am in eine sinnlogische Beziehung setzt („so siehst du auch aus“). Am fährt mit seinen Ausführungen fort, in dem er die stereotypisierte Rollenübernahme über die Beschreibung eines Kleidungsstücks weiterführt, das er in der Situation trägt und unrechtmäßig von einem „Penner“ entwendet habe: Am: Ich hab eine blaue Trainingsjacke an, die hab ich von einem Penner abgezogen @(.)@ auf jeden Fall ehmm; ich komm aus einer Bergarbeiterfamilie::(.) kei::ne Ahnung, ich bin Türke (.) türküm [ich bin Türke] Cm: stolz? Am: stol- absolut stolz (.) (alle lachen) Bm: bist du auch richtig? Am: hä? Bm: bist du auch richtig? Am: nasıl richtig? [wie richtig?] Bm: türküm(.) richtigim(.) doğruyum(.) [ich bin Türke(.) ich bin richtigim(.) ich bin ehrlich(.)] Am: çalışkanım auch (.) [ich bin fleißig auch] Dm: boah bitte hör damit auf (.) bitte (.) (alle lachen) (Gruppendiskussion ,Malve‘, Passage „Interviewsituation“, Z. 11-25)

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Im Anschluss an die Beschreibung devianten Verhaltens („die hab ich von einem Penner abgezogen“), markiert Am seine soziale und ethnische Herkunft und initiiert einen Dialog über mit diesen in Verbindung gebrachte, spezifische Haltungen, die mit seiner Position als „Türke“ verknüpft werden. Bedeutsam ist dabei, dass die sich hierin dokumentierende Anrufung als Migrationsandere im Eingangsimpuls nicht explizit aufgerufen wurde, sondern durch die Gruppe selbst hervorgebracht wird. Durch die Verwendung des Türkischen wird diese auf der Ebene der sprachlichen Performanz zusätzlich verstärkt. Schließlich äußert sich Dm mit der an Am gerichteten Bitte, die Darstellungen zu beenden, sodass die Aufführung mit dem Lachen der gesamten Gruppe ein zwischenzeitliches Ende nimmt. Damit dokumentiert sich in diesem Einstieg bereits die von den Jugendlichen habitualisierte Subjektposition als Migrationsandere, die von der Gruppe über eine Orientierung des Unterlaufens, Überzeichnens und Persiflierens adaptiert wird. In der Aushandlung dieser Subjektposition zeigt sich dabei eine Spannung, die sich zwischen der Zurückweisung der Migrationsanderen-Figur durch performative Überzeichnung einerseits und ihrer reifizierenden Reproduktion andererseits ausdrückt. Die Bedeutung der Dimensionen Ethnizität und Nationalität sowie der türkischen Sprache wird schließlich trotz der Überzeichnung keinesfalls aufgelöst. Die Eingangspassage dokumentiert damit eine konjunktive Erfahrung der Gruppe in Bezug auf Zuschreibungspraxen, die an die Jugendlichen gerichtet werden. Die Kennzeichnung einer eigenen ethnischen Disposition und der dadurch hervorgerufenen Markierung als Migrationsandere auf inhaltlicher sowie performatorischer Ebene verweist dabei auf eine hohe Erfahrungssättigung der Diskutanten. Die eigene internalisierte Wahrnehmung und (Re)Produktion der Diskutanten als Migrationsandere wird somit besonders prägnant sichtbar (vgl. auch Hall 1994b: 29). Dass die Gruppe diese Zuschreibungserfahrungen offen zu Tage treten lässt, zeigt sich im direkten Anschluss: Am: Türksün(.)[Du bist Türke] Çalışkansın(.) [Du bist fleißig] auf jeden Fall ehhm(.) ja sinnlos hani [also] (.) keine Ahnung so (.) anscheinend will die Uni wissen:: was wir da durchmachen oder was das Problem da ist oder warum wir so reden? ich fühle mich so’n bisschen wie im Zoo um ehrlich zu sein (.) wo man so ein bisschen von außen guckt was da passiert Cm: Lass die Affen aus’m Zoo (.) 
 Am: hä? genau; Hafti (.) ehmm ja keine Ahnung, ich hör HipHop so:: (Gruppendiskussion ,Malve‘, Passage „Interviewsituation“, Z. 26-32)

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Die performative Aushandlung zur Subjektposition der Migrationsanderen überführt Am in dieser Sequenz in eine defizitorientierte Motivunterstellung gegenüber der Interviewerin als Repräsentantin der Universität. Die hierfür zentrale, exotisierende Fokussierungsmetapher vom zoologischen Anschauungs- und Zurschaustellungsobjekt („ich fühl mich so’n bisschen wie im Zoo“), problematisiert die projizierte Anrufung als Migrationsandere explizit. Cm schließt daraufhin mit einem Songtitel des Rappers Haftbefehl an („Lass die Affen aus’m Zoo“), woraufhin Am die Reflexion über die Interviewsituation selbst abbricht und im weiteren Verlauf über seine Vorliebe zum HipHop berichtet. Deutlich wird somit, dass der Gruppe eine Sozialisationserfahrung gemeinsam ist, in der sie in ein Unterscheidungssystem eingelassen sind, das sie als Migrationsandere positioniert und subjektiviert. Diese Zurichtungspraxis impliziert dabei, dass es eine „metaphysische Kontinuität zwischen dem Konstrukt ‚Herkunft‘ und der Gegenwart“ (Nassehi 2014: S. 48) gebe. So werden die Jugendlichen der zweiten und dritten MigrantInnengeneration, die in der Regel keine eigenen Migrationserfahrungen aufweisen, auf ihren vermeintlichen Migrationshintergrund reduziert, der ihnen durch die Konstruktion von Nichtzugehörigkeit den Status als Dauergäste zuweist (vgl. Yıldız 2016: S. 462 f.). Darüber hinaus konnte gezeigt werden, wie die jugendlichen Szeneakteure die Anrufung als Migrationsandere mittels einer Praxis des Unterlaufens adaptieren. Neben solchen Passagen, in denen die Jugendlichen ihre soziale Herkunft auf diese oder ähnliche Weise thematisieren, bildet der Gangsta-Rap den zentralen thematischen Gehalt in der Gruppendiskussion. Im Folgenden soll nun veranschaulicht werden, auf welche Weise die Jugendlichen Möglichkeiten der Intervention in bestehende Repräsentationsregime über den Gangsta-Rap diskutieren. 5.2 „Haftbefehl is so weit rausgegangen dass keiner mehr sagen kann es gibt keine Kurden so“: Gangsta-Rap als Eintritt in die Repräsentationsverhältnisse Am: „Aber man muss sagen ehh (.) Haftbefehl hat konkret irgendwie einiges für uns geändert; weil Hafti hat sich hingestellt, hat gesagt Wir sind Kanaken (.) Wir sind asoziale Kanaken (.) hat das Azzlacks genannt u::nd ja (.) Also man muss sagen so: seitdem der einfach im Fernsehen ist kann man sich benehmen wie man will und man ist jetzt nicht mehr so:: scheiße, sondern es ist jetzt irgendwie; irgendwie reden die Leute darüber anders(.) Es ist offiziell anerkannt, dass es uns gibt so: (.)“ (Gruppendiskussion ,Malve‘, Passage „Wandel“, Z. 78-84)

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Der Rapper Haftbefehl, so beschreibt Am, habe einen Wandel in der gesellschaftlichen Bezugnahme auf die Gruppe ausgelöst. Anlass hierfür sei dessen öffentlichkeitswirksam präsentierter Neologismus „Azzlacks“ – als Kompositum von asozial und Kanaken5 – und die mediale Präsenz des Gangsta-Rappers, worüber sich das zuvor deutlich abwertende gesellschaftliche Sprechen über die Gruppe in zweifacher Weise verändert habe. So würde erstens das Handeln der Gruppe nicht mehr in gleicher Intensität wie zuvor abgewertet („man ist jetzt nicht mehr so:: scheiße“) und zweitens stehe auch die ganz grundlegende Anerkennung der Existenz der Gruppe nicht mehr zur Disposition („Es ist offiziell anerkannt, dass es uns gibt so:“). Haftbefehl gelingt nach dieser Darstellung demnach eine Veränderung im Sprechen über das Kollektiv, in dem er die Attribuierung als asoziale Kanaken ausgehend von der negativen Fremdbezeichnung mimetisch umkehrt und als positiv konnotierte Selbstbezeichnung des Kollektivs verwendet (vgl. Hall 1994d: S. 80). Obwohl „die Leute“ sich zuvor abwertend über das Verhalten der Gruppe äußern, beschreibt Am zum Ende seiner Ausführungen, dass es durch die veränderte Blickweise auf die Gruppe überhaupt erst zur Anerkennung darüber kommt, „dass es uns gibt so“. Anschaulich wird dadurch, dass die Intervention des Rappers Haftbefehl aus der Perspektive der Szeneakteure eine existenzielle Form des Eintritts in die Repräsentationsverhältnisse bedeutet, die als „Hervortreten des Subjekts ins Sichtbare“ (ebd.) gekennzeichnet werden kann. In einer weiteren Passage wird die durch Haftbefehl initiierte Identitätspolitik auf ein neues Verhältnis im Binnengefüge einer Gruppe von Migrationsanderen bezogen, indem insgesamt drei Innovationen beschrieben werden, welche die Jugendlichen den „Azzlack“-Rappern zuordnen: Am: ey und ganz wichtig (.) ganz ganz wichtig (.) Azzlacks, Veysel und Celo und Abdi und Haft haben es geschafft dass die ganzen Kanaken irgendwie sagen egal ob Kurde, Türke, Araber, Moslem, Shiit, Sunnit, Alevit und so dass die halt irgendwie zusammenkommen weiße? das war ja vorher au nich da alter (.) Bm: und sie ham – sie ham die kurdische Sprache ham sie in die deutsche Gesellschaft reingetragen (.) vo:r 5 Jahren würde keiner was anfangen können mit bira so ne? aber jetzt weiß jeder bira is Bruder so; das weiß jeder so (.) egal ob du Türke, Deutscher Am: jeder weiß auch was Kurden sind Bm: ya hero ya mero [Alles oder nichts Am: früher früher wussten die nich was Kurde is, weiße was ich mein? das jetz weg (.) Bm: ja:: da ham die auch ihrn Beitrag abgelassen aber da sind auch so bisschn Am: Azad so bisschn stärker Bm: Azad auch, aber auch so die Weltpolitik momentan so’n bisschen find ich

5

Zum Begriff Kanaken und zur Selbst-Kanakisierung als strategische Diskurspolitik (vgl. Ha 2004: S. 199 f.; Zaimoğlu 1995).

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Am: a::h auch vorher (.) ganz ehrlich vor Haftbefehl wusste keiner was Kurde is ganz ernsthaft; außerdem war dann immer dieses Türken Kurde und dies das Ding so (.) Haftbefehl is so weit rausgegangen dass keiner mehr sagen kann es gibt keine Kurden so (.) (Gruppendiskussion ,Malve‘, Passage „Azzlacks“, Z. 533-550)

Die von Am im Eingang an die Passage als hoch bedeutsam markierte Errungenschaft der „Azzlack“-Rapper „Veysel und Celo und Abdi und Haft“ wird dabei erstens in ihrer einheitsstiftenden Bedeutung für unterschiedliche ethnische und religiöse Gruppen beschrieben. Der der durch die „Azzlack“-Rapper herbeigeführte Zusammenschluss der „ganzen Kanaken“ wird als innovative Zäsur gerahmt („das war ja vorher auch nicht da alter“). Diese neue Form der Vergemeinschaftung über die positive Selbstkennzeichnungspraxis einer neu formierten Gruppe als „Azzlacks“ hebt dabei die religiösen und ethnischen Herkunftsdifferenzen nicht auf („irgendwie sagen egal“), enthierarchisiert diese Differenzkategorien jedoch durch die Exponierung der gemeinsamen Erfahrung als Migrationsandere („dass die halt irgendwie zusammenkommen“). Damit zeigt sich auch hier die Wirkmächtigkeit ethno-natio-kultureller Diskurse, in dem solche Zugehörigkeitskategorien nicht grundlegend aufgelöst werden, sondern zugunsten der solidarisierenden Vergemeinschaftung als marginalisierte Migrationsandere zurücktreten und ethnische Differenzen damit letztlich geduldet werden können. Eine analoge Form der Aufwertung und Solidarisierung unterschiedlicher sozialer Gruppen aufgrund einer gemeinsamen Diskriminierungserfahrung hat Stuart Hall am Beispiel der britischen Antirassismusbewegung skizziert und als Aspekt der Vereinheitlichung beschrieben (vgl. Hall 1994d: S. 81). Als zweite Innovation der Azzlack-Rapper führt Bm die gesellschaftliche Sichtbarmachung der kurdischen Sprache an und verdeutlicht dies am Beispiel des Begriffs „bira“, der nun von jedem verstanden würde („das weiß jeder so“). Die Verbreitung eines gesellschaftlichen Wissens um die Existenz und Bedeutung von „Kurden“ wird als dritte Veränderung benannt. Über den wiederholten Einbezug des zeitlichen Vergleichs wird eine Erfahrung deutlich („früher wussten die nich was Kurde is“), die den negativen Gegenhorizont der Gruppe wiedergibt, welcher in der Nicht-Repräsentation der kurdischen Sprache und der Gruppe der Kurden besteht. So fasst Am zum Ende der Passage noch einmal zusammen, dass es insbesondere dem Rapper Haftbefehl gelungen sei, gesellschaftliche Repräsentationsverhältnisse insofern zu verändern, sodass „keiner mehr sagen kann es gibt keine Kurden so“. Die den Rappern zugeschriebene Innovation bezieht sich damit wesentlich auf die Sichtbarmachung einer bislang gesellschaftlich unsichtbaren sozialen Gruppe und ihrer Sprache in der Öffentlichkeit.

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Zusammenfassend lässt sich als das zentrale, gemeinschaftsstiftende Moment in der Zugehörigkeit der Jugendlichen zum Gangsta-Rap der Ausschluss aus gesellschaftlichen Repräsentationsverhältnissen markieren. In eben diese Repräsentationslücke treten nun die Rapper um Haftbefehl und rufen Interventionen hervor, die für die Jugendlichen die Möglichkeit zu veränderten Selbst- und Weltverhältnissen mitführen. Gangsta-Rap wird somit zum Medium der Artikulation und sowie der Auseinandersetzung mit der eigenen sozialen Lagerung. Die im Gangsta-Rap diskursiv erzeugte Subjektposition unter der Bezeichnung als „Azzlacks“ erscheint dabei für die Gruppe besonders aus dem Grund annehmbar, da ihre eigene Migrationslagerung durch diesen kollektivierenden Zusammenschluss Aufwertung und Wertschätzung erfährt. So erscheint der Gangsta-Rap für die Gruppe vor allem deshalb bedeutend, da sie über diesen indirekt in gesellschaftliche Repräsentationsverhältnisse eintreten können und sich ausgehend von ihren strukturidentischen Erfahrungen als Migrationsandere öffentlich repräsentiert sehen.

6 Z USAMMENFASSUNG : G ANGSTA-R AP ALS K RITIK DER R EPRÄSENTATIONSVERHÄLTNISSE Über die Analyse der Gruppendiskussion mit jugendlichen Szeneakteuren konnte aufgezeigt werden, dass der milieuspezifische Erfahrungsraum der Jugendlichen über Marginalisierungs- und Zuschreibungserfahrungen als Migrationsandere strukturiert ist. Die Eingangspassage hat dabei einen Umgang der Szeneakteure mit der eigenen Positioniertheit als Migrationsandere gezeigt, der an einer Form des Unterlaufens und der Ironisierung orientiert ist. Im Rückgriff auf die eingangs aufgeworfene Programmatik vom Gangsta-Rap als Emanzipationsprojekt aus sozialer und ökonomischer Deprivation, an das die Jugendlichen unmittelbar anschließen, soll nun abschließend diskutiert werden, inwiefern der Gangsta-Rap als eine Ausdrucksform der Intervention in gesellschaftliche Repräsentationsregime bezeichnet werden kann. Aus der Perspektive der Szeneakteure scheint dies eindeutig zu bejahen zu sein, beschreiben diese die künstlerischen Praktiken der Gruppe um den Rapper Haftbefehl doch gleich mehrfach als gelingende Formen des Eingreifens in dominante Repräsentationsverhältnisse. Bedeutsam ist dies für die Jugendlichen vor allem deshalb, da sie darüber ihren eigenen Eintritt in die gesellschaftlichen Repräsentationsverhältnisse begründen. Die Jugendlichen treten auf diese Weise in eine symbolische Schicksalsgemeinschaft mit den genannten Gangsta-Rappern. Der im Kontext des Azzlack-Stils aufgeworfene Diskurs im Gangsta-Rap konnte ferner als eine Gegenstrategie identifiziert werden, wie sie Stuart Hall im

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Kontext antirassistischer Politik beschrieben hat. So dokumentiert sich im Azzlack-Stil über die dargestellten Aspekte der Anrufung, der Um- und Aufwertung sowie der Vereinheitlichung eine Identitätspolitik, die bestehende migrationsgesellschaftliche Repräsentationsregime herausfordert. Für die Jugendlichen bedeutet der Azzlack-Stil damit eine Möglichkeit zur Selbstermächtigung, in dem die Gruppe ihre eigene gesellschaftliche Positioniertheit be- und zum Teil auch aufarbeitet, ohne diese jedoch zugleich umfänglich aufheben zu können. Schließlich verbleiben sowohl die Umkehrung als auch die Aufwertung des gesellschaftlich geteilten Stereotyps der ,asozialen Kanaken‘ in einer binären Struktur, die das migrationsgesellschaftliche Unterscheidungssystem auf grundlegende Weise reproduziert und weiterführend stabilisiert (vgl. Hall 2004a: S. 161). Damit ist einmal mehr darauf verwiesen, dass „Repräsentation als Konzept und Praxis eine komplexe Angelegenheit ist.“ (Hall 2004a: S. 109).

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Konterrevolution und Revolte Notizen zu Gangsta-Rap („deutsch“), Diskurs und Vermittlung R OGER B EHRENS

R ESISTANCE

THROUGH

R ITUALS „Anzeige! Polizei sucht Kollegah-Opfer“ BILD DEUTSCHLAND (21. MÄRZ 2017, S. 13)

Gangsta-Rap, allemal „deutscher“ Gangsta-Rap, ist ein Zerfallsprodukt der Kulturindustrie. Er ist wie so viele Genres und Sparten einer Popkulturindustrie, die sukzessive jeden reflektierten Selbstbezug auf ein emphatisches Popkonzept aufgibt, ja aufgeben muss, ästhetisch und sozial (politisch) insignifikant und gleichgültig. Auch im „deutschen“ Gangsta-Rap sind musikalische Finessen, die „schönen Stellen“, die guten Grooves, Flows und Phrasen selten und den stilistischen Klassifizierungen gegenüber völlig arbiträr. Arbiträr für eine musikbezogene Zuordnung bleibt beim „deutschen“ Gangsta-Rap auch das, was ihn als „deutsch“ klassifiziert (nämlich die Sprache, die allerdings – teils bewusst, teils unbewusst der gewöhnlich-gewöhnten Alltagssprache folgend – aus allerhand idiomatischen, neologistischen Verzerrungen gebildet wird und nicht als „Deutsch“ um „des Deutschen willen“, im Sinne irgendwelcher völkisch-nationalen Sprachreinerhaltungsvisionen; überdies ist auch die Sprache des „deutschen“ Gangsta-Rap Sprache, die einerseits Ausdruck des Bewusstseins, i.e. der Ideologie, also als „deutsche“ Sprache auch Ausdruck der „deutschen Mentalität“ ist, die andererseits als ebenso subaltern, „proletarisch“ gefärbte Klassensprache sowohl in ihren restringierten Codes [Grammatik], als auch in ihrer sei’s repressiv, sei’s regressiv entstellten Semiotik längst kulturindustriell überformt

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ist, und damit eben kaum als ‚echt‘, ‚ursprünglich‘, ‚glaubwürdig‘, „real“ deklariert werden kann).1 Und mithin: Was überhaupt Gangsta-Rap ist, ist allein vom

1

Vorausgesetzt ist hier ein materialistischer Sprachbegriff, der von dem Grundsatz ausgeht, dass „die Sprache … das praktische, auch für andre Menschen existierende, also auch für mich selbst erst existierende wirkliche Bewusstsein [ist],“ wie Marx und Engels in der „Deutschen Ideologie“ notieren; MEW Bd. 3, S. 30. – Gerade die paradoxerweise „anti-essentialistisch“, „nicht identitär“ und „nicht repräsentationspolitisch“ gemeinte Unterstellung, im Rap gäbe es ein authentisches Sprechen der Subalternen und Marginalisierten (das bestenfalls durch Gender-typische Sprechweisen irritiert sei), wie es in den Spezialgebieten von „Rap-Forschung“ der mittlerweile politisch völlig entleerten, dafür aber umso mehr akademisch-szientifisch verbrämten Kultur- und Medienwissenschaften oder den HipHop gewidmeten kulturjournalistischen Publikationen behauptet wird, bedarf der Aufklärung. Kritische Theorie in emanzipatorischer Absicht kommt hier mit Spivak oder den Cultural Studies (Willis, Hebdige) nicht weiter. Nötig ist ein rekonstruktiver Rückgriff auf eine materialistische Sprachtheorie; Herrschaftsverhältnisse können aus einem zum Teilfeld verengten Bereich alltäglicher Lebenspraxis („Jugendkultur“, „Rap“, „junge Männer als Rapper“ etc.) nur unkritisch abgeleitet werden, auch wenn die derart gewonnenen „Ergebnisse“ mit einem kritischen Jargon verkleidet werden (was allein im Ansatz fehlt, ist ein Begriff konkreter Totalität, wie er von Marx und Lukács entwickelt wurde). Abgesehen von der notwendigen Neubewertung einer nicht auf Saussure reduzierten Linguistik (die etwa Cassirer Philosophie der symbolischen Formen gesellschaftsanalytisch wendet, wie es Bourdieu bereits vorgeschlagen hat), ist ohnehin eine materialistische Sprachtheorie nur als kritische Theorie der Gesellschaft zu bestimmen; ich nenne dafür fünf relativ disparate Titel: Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch, Schriften Bd. 7, Springe 2004 (darin das Kapitel: „Die Absperrung des Universums der Rede“, S. 103 ff.); Alfred Lorenzer: Sprachzerstörung und Rekonstruktion. Vorarbeiten zu einer Metatheorie der Psychoanalyse, Frankfurt a.M. 1970; Jan Raspe: Zur Sozialisation proletarischer Kinder, Frankfurt a.M. 1973; Chris Bezzel, Peter Brückner, Gisela Dischner u. a.: Das Unvermögen der Realität. Beiträge zu einer anderen materialistischen Ästhetik, Berlin 1975; Philip Hogh: Kommunikation und Ausdruck: Sprachphilosophie nach Adorno, Weilerswist 2015. – Weil sich die sprachlichen Gehalte in einer musikalischen Form wie „Rap“, „HipHop“ eben nicht ‚autonom‘ gegenüber der (zwar sprechaktiven, zugleich aber reflexiv verhohlenen Vielfalt der) Alltagssprache verhalten oder verhalten werden können (da ständig auf regressive Stufen der Unbewusstheit des eigenen Handelns, auch kommunikativen Handelns zurückfallend; vgl. dazu Marx und Engels Bemer-

K ONTERREVOLUTION

UND

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Markt zugeschnitten; und zwar auch dort, wo Gangsta-Rap mit einigem Aufwand psychosozialer Energien von den Protagonistinnen und Protagonisten der entsprechenden Szene eben als Genre-authentisch verteidigt wird (und zwar redundant im Rap wie mit dem Rap: Gangsta-Rap ist Gangsta-Rap! Nebenbei: Die psychosozialen Energien sind zumeist gekoppelt an Feindseligkeit, an Aggressionen oder Narzissmus; fraglos spielen brutal inszenierte Männlichkeitsideale eine Rolle, die gleichermaßen indiskutabel und lächerlich sind). So oder so: Gangsta-Rap speist sich in seiner Genre-Spezifizität vollends aus außermusikalischen Elementen). Die Kulturindustrie, die sich seit Mitte der fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts unter dem Vorzeichen „Pop“ konsolidierte beziehungsweise als „Pop“ durch und mit ihren ökonomischen Krisen restituierte, steckt seit den späten Achtzigern in einer Sinnkrise (die jedoch ohne Weiteres kapitalwirtschaftlich abgefedert wurde): Die Popkulturindustrie hat weitgehend alle künstlerische Originalität und ästhetische Souveränität eingebüßt, gleichwohl ihre „kulturelle“ Banalität durch enorme ökonomische Konjunkturzyklen kaschiert wird; die Geschäfte bleiben profitabel, die Unternehmungen rentieren sich, unablässig wird der Markt mit neuen Entertainment-Produkten beliefert, deren Verkaufserfolge sich allerdings ständig erweiterten technischen Innovationen und Pseudoinnovationen verdanken, insbesondere im Bereich Freizeit- und Unterhaltungselektronik. Diese technischen Innovationen sind auch dem HipHop und Rap nicht äußerlich geblieben, der sich Ende der siebziger Jahre in den Großstädten der USA entwickelte: Sampling-Verfahren im Speziellen und der Umbau des Plattenspielers zum eigenständigen Instrument im Allgemeinen haben eine Musikform geprägt, die in ihrer musikalischen Form vom Alltagsleben durchdrungen war – ein Alltagsleben indes, das sich mit dieser Musik und über die Musik überhaupt erst angeeignet wurde; und zwar so, dass wiederum Musik – scheinbar – „authentisch“ als Soundtrack einer „eigenen“ Kultur produziert, reproduziert und rezipiert werden konnte. Über diese scheinbare Authentizität konnte ein Diskurs entstehen, der für die Musik die Übergänge zwischen Block-Partys und Schallplattenproduktionen, ergo „Straßenkultur“ („Ghettostyle“) und Musikindustrie fließend machte, was wiederum Ende der 1970er / Anfang der 1980er mit dem wirtschaftlichen Status der „Kulturindustrie“ im engeren Sinne (also: der Medienverbund, bestehend aus Labels, Presswerken, TV, Zeitungen, Filmproduktion, Geräte-Herstellern etc.) zu tun hatte. Erst langsam setzte sich eine kulturelle Normierung (Angleichung) von Lebensweisen durch, die den Individuen

kungen zum „Verhältnis“ („… das Tier ‚verhält‘ sich zu Nichts und überhaupt nicht.“ etc.), in: Deutsche Ideologie , MEW Bd. 3, S. 30.

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unter Absehung ihrer realen Klassenlage (konsumistischen) Spielraum gab, sich nun auch als Individuen der Selbstverwirklichung, Selbsterfahrung und Selbstbestimmung hinzugeben; das verlangte die Festigung einer gesellschaftlichen Mitte sowohl nach Innen, als auch nach Außen; die geografisch wie politisch peripheren sozialen Zonen in den Metropolen wurden im konfliktreichen Wechsel von Exklusion und Inklusion integriert, widerständiges Potenzial wurde abgeschliffen. Gleichwohl konnten in den sozialen Zwischenräumen und Nischen, wo sich die soziale Normierung als politische Normalisierung noch nicht vollends durchgesetzt hatte, „subkulturelle“ Strategien entstehen, die als Versuche, den eigenen Alltag irgendwie hinzubekommen nachgerade zwangsläufig „politisch“ waren, weil sie immer wieder in den beiläufigsten kulturellen Unternehmungen von einem Staat überrascht wurden, der auf die seit 68 fortgeschleppte politische Krise2 mit Aufrüstung des Polizeiapparates und ständiger, machdemonstrativer Störung und Durchsetzung von „Ruhe und Ordnung“ reagierte.3 Virulent war das insbesondere an den Orten, an denen nun Rap und HipHop entstanden. Die politische Wirkmächtigkeit gerade in Hinblick auf die Aneignung eigener Sprache wie eigenen Sprechens wurde zudem kulturell verstärkt (was in der Rückkopplung zwischen „gelebter“ Kultur und konkreter Politik = Auseinandersetzungen mit der Polizei, Kriminalität und Kriminalisierung etc. darüberhinaus als emanzipatorisch gedeutet werden konnte), weil sich schließlich zu dieser Zeit – um 1980 – auch die Popkulturindustrie mit ihrer Selbstabsicherung zu beschäftigen genötigt sah: Reaganomics und Thatcherism zwangen ökonomisch zu einer Neuordnung des kulturellen Feldes, das überdies und ohnehin von einer „semio-

2

Die Krise bestand vor allem in der sei’s realen, sei’s imaginären Infragestellung des staatlichen Gewaltmonopols; mithin eine Legitimationskrise, die sich im Bürgertum als tendenzielle Aufkündigung der Loyalität äußerte (eine innerhalb der Demokratie progressive Folge ist die Gründung der GRÜNEN in der BRD), die sich im Proletariat und Angestelltenmilieu durch Brutalisierung, Feindseligkeit (Rassismus), aber auch in Sabotage und provokativen Protest äußerte (hier ist insbesondere an Jugendsubkulturen, schließlich Punk zu denken). Vgl. Jürgen Habermas: Legitimationsprobleme des Spätkapitalismus, Frankfurt am Main 1973.

3

Siehe zu diesem Komplex: Peter Brückner: Selbstbefreiung. Provokation und soziale Bewegungen, Berlin 1983; Ders.: Überlegungen zu Geschichte und „Posthistoire“. Veränderungen im Begriff der Revolution, in: Psychologie und Geschichte, Berlin 1982, S. 264 ff.; Otto Karl Werckmeister: Zitadellenkultur. Die schöne Kunst des Untergangs in der Kultur der achtziger Jahre, München 1989; vor allem aber: Stuart Hall, Chas Critcher, Tony Jefferson, John Clarke und Brian Roberts: Policing the Crisis. Mugging, the State, and Law and Order, London & Basingstoke 1978.

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tischen Katastrophe“4 erfasst war; dabei galt es zunächst, marode Deutungs- und Bedeutungsmuster an der Technik auszurichten (‚Star Wars‘, Disco, Pink Floyd, Farbfernsehen mit ‚Dallas‘ und ‚Dynasty‘, VHS, erstes Kabelfernsehen, MTV, Computer, erste Telespiele, Doppelkassettendecks etc.). HipHop und Rap konnten sich demgegenüber tatsächlich in – bisher kaum als produktionsrelevant für die Popkulturindustrie wahrgenommenen – Nischen ausprobieren, inklusive nicht nur Graffiti und Breakdance, sondern ganzer Gemeinschaftsentwürfe („Hood“; siehe dazu übrigens Charlie Ahearns Film „Wild Style“ von 1983); wichtig für die Popkulturindustrie waren die Akteurinnen und Akteure des HipHop bzw. Rap allein als „Reproduzentinnen/Reproduzenten“, nämlich schließlich Konsumentinnen und Konsumenten (von Tonträgern, dann auch Mode & Accessoires, Ghettoblastern etc.). Von solcher sozialen Dynamik (auch im Sinne von Möglichkeiten) hat sich der Gangsta-Rap Ende der 1980er/Anfang der 1990er entfernt. Die privatistische Verschiebung von Protestpotenzialen korrespondiert dabei mit dem Scheitern politisch-emanzipatorischer Handlungsoptionen (weniger nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus als vielmehr mit dem Pyrrhussieg des Kapitalismus). Radikale Praxis wurde durch eine Kulturalisierung entschärft (nämlich gesellschaftliche Praxis in die Bereiche kultureller Aktivität verschoben); die Restlinke verlagerte ihre situative Praxis nunmehr in die verschiedenen Abteilungen der Kulturindustrie (Fernsehen, Musikbranche – eigenes Label oder Sublabel beim Major, Kneipe oder Veranstaltungsraum managen, Werbe- oder Internetagentur, vor allem der Wissenschaftsbetrieb).5 In ihrer vermeintlich hedonistischen Orientierung nährte sich eine jetzt erwachsene Kulturlinke affirmativ, schließlich

4

Vgl. Diedrich Diederichsen: Die semiotische Katastrophe, in: Ders., Dick Hebdige und Olaph Dante Marx: Schocker – Stile und Moden der Subkultur, Reinbek bei Hamburg 1983, S. 166 ff.

5

Heinz Steinert: „Kulturindustrie, wie Adorno und Horkheimer den Begriff 1947 prägten, bezeichnet eine generelle Form, in der sich Denken und Planen organisiert. Es geht dabei nicht nur um die Medien, sondern vielmehr um eine Form der intellektuellen Produktion unter den Bedingungen von Fordismus.“ Dazu gehören sämtliche akademischen Berufsfelder, insbesondere diejenigen, die mit der „klassischen“ kulturindustriellen Produktion (Film, TV, Bestseller-Literatur, Musik etc.) verkoppelt sind, die Geistes-, Sozial-, Medien- und Kulturwissenschaften, wo man sich eben auch mit Rap und HipHop beschäftigen kann/darf/soll. Vgl. Steinert: Kulturindustrie in der Architektur: E-U-Kultur und die Autonomie des Publikums, in: Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 10, Lüneburg 2000, S. 76.

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überaffirmativ den nunmehr bloß noch „symbolisch“ als politisch zu deutenden Musikformen wie eben Gangsta-Rap an.

Y O H ERMENEUTICS „An die Stelle einer Oikodizee, eines verbindlichen Diskurses zur Vernünftigkeit, Nützlichkeit und letztlich Meta-Ethik des Kapitalismus (aus der Gier der Vielen wird die Gerechtigkeit des Ganzen) tritt eine neue Verbindung von Ökonomie und Unterhaltung. Das Zerbrechen der ‚großen Erzählung‘ des Marktes – als letzter und größter der großen Erzählungen – hinterlässt einen gewaltigen Scherbenhaufen aus Anekdoten, Metaphern, Novellen, Bewegungsbildern, Serien, Shows und Riten.“ MARKUS METZ & GEORG SEEßLEN: KAPITALISMUS UND SPEKTAKEL (BERLIN 2012, S. 9)

Was Gangsta-Rap ist, ist wesentlich wie unwesentlich nicht über die musikalische Form bestimmt, sondern über den außermusikalischen Inhalt („Gangsta“). – Das heißt: Was „Rap“ (oder „HipHop“) ist, lässt sich noch relativ einfach über die Musik bzw. das musikalische (Tonalität, Rhythmik, Metrik), das musikalisch-künstlerische (Sound), das künstlerisch-ästhetische (Sampling, Shouting, Scratching etc.) Material kanonisch definieren (schwieriger ist hingegen die Kanonisierung von dem, was eindeutig nicht als „Rap“ oder „HipHop“ zu definieren ist: Ist Gil Scott-Herons „The Revolution will not be televised“ Rap, ist Massive Attacks „Save from Harm“ HipHop, ist Billy Cobhams „Stratus“ HipHop? Ist der HipHop von N*E*R*D Rap? Ist das, was Pharrell Williams jenseits von N*E*R*D macht, HipHop? Sind Deichkind HipHop, Rap, Gangsta-Rap – wenn SXTNs „Die FTZN sind wieder da“ sich musikalisch kaum von älteren Deichkind-Tracks unterscheidet?). Musikalisch zehrt „Rap“ – beziehungsweise allgemein „HipHop“ – vom (über eine nunmehr lange, moderne Tradition) kanonisierten Apparat ästhetischer Begriffe. Mit dem Zusatz „Gangsta“ ändert sich das kategoriale Feld: „Gangsta“ ist kein Attribut, dem irgendeine musikalische, künstlerische oder ästhetische Dimension zu eigen ist; „Gangsta“ ist eine soziale Konfiguration, die sich performativ produziert und reproduziert, und sich dabei beständig der sozialen Fassbarkeit entzieht (weil die performativen Gesten hingegen permanent das Soziale

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und die Idee von Sozialität denunzieren und attackieren). Mit dem Zusatz „Gangsta“ wird Rap/HipHop zu einem Genre, das keine Schattierungen kennt: entweder etwas ist Gangsta-Rap oder nicht. Die „Authentizität“ der Akteure im Gangsta-Rap zu messen, ist die letzte Stellgröße, an der noch Reste einer ästhetischen Bestimmung hängen (das koppelt Gangsta-Rap mehr als andere Musik an Images, und zwar sowohl an Videobilder als auch an offensive Sprachbilder. „Schwuchtel“, „Schlampe“, „Hurensohn“ – es ist klar was gemeint ist: nämlich nicht faktisch der Sohn einer Frau, die, als Prostituierte sich verdingend, von einem Freier schwanger wurde, sondern schlichtweg eine brutale Verächtlichmachung des als „Hurensohn“ bezeichneten; so auch, was die Videobilder angeht: sie sind nicht inszeniert im Modus der Gewalt, sondern sie sind Gewalt …)6. Mit „Musik“, auch im Sinne von „Popmusik“ – entweder als Abkürzung für populäre Musik oder als Referenzbegriff zur Pop-Art – hat Gangsta-Rap insofern nichts (mehr) zu tun. (Adorno 1932: „Die Rolle der Musik im gesellschaftlichen Prozess ist ausschließend die der Ware.“7 Das definiert die Kulturindustrie. In der Popkulturindustrie wird die Rolle der Ware als Kultur, etwa als Musik, reinszeniert. Jede Kulturware, jedes Musikprodukt, jede Platte, jeder Song etc. ist, hergestellt unter wertökonomischen Voraussetzungen und auch ebenso distribuiert, Reklame für sich – und gerät zur Reklame für die Welt, wie sie ist, sofern in der Kulturware eben die Welt, wie sie ist oder wie sie erscheint, vorausgesetzt wird; Pop betreibt derart in Bezug auf die Welt, auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, ergo auf seine gesellschaftlichen Verhältnisse eine falsche Mimesis.8) Zwar muss das, was herauskommt: Songs, Filme, Alben, Youtube-Clips, TV-Show-Auftritt etc., nicht unbedingt ernst gemeint sein (darauf berufen sich bei skandalträchtigen Grenzüberschreitungen die Gangsta-Rapper gerne), gleich-

6

Vgl. dazu: Wolf Lepenies: „Il Mercenario“ – Ästhetik und Gewalt im posthistoire, in: Martin Jürgens et al.: Ästhetik und Gewalt, Gütersloh 1970, S. 40–68.

7 8

Theodor W. Adorno: Zur gesellschaftlichen Lage der Musik, in: GS Bd. 18, S. 729. Das charakterisiert durchaus „guten“ Pop; beim „schlechten“ Pop ist die falsche Mimesis bestenfalls falsche Mimikry, eine billige, die gröbsten Ungereimtheiten kaschierende Verkleidung. – Das gilt auch dort, wo zum Beispiel die Textinhalte der Musik politische Provokationskraft haben: Man kann ohne Weiteres „Wir müssen hier raus“ in der Fassung von Ton Steine Scherben der ziemlich armseligen Remake-Version von Sido (feat. Rio Reiser), „Geboren um frei zu sein“, gegenüberstellen. Als ich im April 2016 in Köln bei einer kleinen, netten Tagung über narrative Strukturen im Pop Sidos Song plus Video zum Abschluss meines Vortrags zeigte, wies Dietrich Diederichsen treffend darauf hin, dass Sido ja nicht einmal „Scheiße!“ selber sagt (die Stelle wird aus dem Ton Steine Scherben-Original mit Rio Reisers Stimme eingesamplet).

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wohl ist Gangsta-Rap komplett frei von jeder Ironie, von jedem Humor. Ironische Brechungen des Gangsta-Rap laufen stets auf grundsätzliche Brechungen mit seinem Programm hinaus; die Persiflage des Genres beruht weitgehend auf der grotesken Karikatur, die nicht die „Gangsta“-Elemente überbietet, sondern eigentlich nur die musikalischen, „künstlerischen“ Elemente des Rap unterbietet. Deswegen und nur so ‚funktioniert‘ „Ficken Geld Drogen Nutten“ von MushiFlo & Scher ft. Ikko Frisch. Ob Rap nun „Gangsta“ ist oder nicht, wird durch „Attitude“ bestimmt. Stilprägend dafür waren N.W.A., wenngleich eben auch schon klarmachend, dass Gangsta-Rap kein Stil ist, sondern Ausdruck (die Verschiebung von Stil zu Ausdruck beziehungsweise letztendlich die Ersetzung des Stils durch Ausdruck ist ohnehin ästhetisch signifikant für die Entkunstung der Kunst im Pop; nicht nur allein „historisch“ gehört Gansta-Rap zu den Zerfallsformen des Pop und markiert zugleich das Ende der Entkunstung; Ästhetik wird zur Warenästhetik – dass sich ein Genre wie Gangsta-Rap als „Style“ gerieren kann, qualifiziert ihn zugleich für den Markt – kommerziell, nicht künstlerisch). „Attitude“ funktioniert – mittlerweile (?) – im („deutschen“) Gangsta-Rap nach demselben Schema, nach dem etwa bei der Fernsehshow „Germany’s Next Topmodel“ die Kandidatinnen behavioristisch zugerichtet werden, um „den Kunden zu gefallen“; „Attitude“ meint nicht mehr die individuelle Haltung oder gar persönliche Marotten, sondern bezeichnet die aufmerksamkeitsökonomische Kompetenz, sich seiner zugewiesenen oder selbst ausgesuchten Rolle entsprechend zu verkaufen. Der „Gangsta-Rapper“ ist Surrogat eines sozialen Typus, nicht Bezeichnung einer musikalischen Qualifikation oder Status-Kategorie kultureller Repräsentation; die mit dem Etikett „Gangsta“ transportierte Authentizität ist redundant auf das Image des Rappers bezogen – eine kleinbürgerliche Biografie mit Reihenhaus, Ehe und Zweitwagen kann das Image durchaus perfektionieren, ohne dass die vermeintliche Authentizität infrage gestellt wäre (zumal das transportierte „Gangsta“-Klischee ohnehin von mit gewöhnlichen Lebensweisen völlig kompatiblen Stereotypen des Kriminellen abgekupfert ist)9. Gleichwohl muss der „Ruf“, Gangsta-Rapper zu sein, „hart“ erarbeitet werden (und auch darin gleicht gerade der sich als Alpha-Tier inszenierende, brutalisierte Männlichkeits-Stereotyp des Gangsta-Rappers dem „weichen“, biegsamen Model-Mädchen, denen ‚GNTM‘-Juror und Marketingexperte in Sachen Menschenhandel Thomas Hayo „Attitude“ bescheinigt, wenn ihnen die Anpassung so

9

Es ist nicht einmal der Abenteurertypus des James-Bond-Agenten, den Ian Fleming erfunden hat, der vor über einem halben Jahrhundert die (männlichen) Mods inspiriert haben soll.

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reibungs- wie selbstlos perfekt gelingt). Die Strategien, sich als Gangsta-Rapper zu etablieren, basieren vor allem auf Drohungen; es sind jedenfalls keine musikalischen Strategien (mit „guter Musik“ oder allein guten Rap-Skills wird niemand zum Gangsta-Rapper). Subversiv und dissident ist (deutscher) Gangsta-Rap allein im strafrechtlichen Sinne, keineswegs ästhetisch, künstlerisch und mitnichten (im emanzipatorischen Sinne) sozial bzw. politisch; ihm Widerständigkeit anzudichten und seine gewaltvollen Invektiven als Ermächtigungsstrategien zu interpretieren, ist bestenfalls akademische Naivität, Theorie-Kitsch; gefährliche Verharmlosung einer Theorieproduktion, die sich wahrscheinlich auch auf den missionarischen, nachgerade manischen Vermittlungseifer zurückführen lässt, mit dem die medien-, kultur- und popwissenschaftliche Theorieproduktion sich interessant zu machen und zu legitimieren versucht: Sie postuliert einen Vermittlungsbedarf, wo weder Bedarf besteht, noch vermittelt werden muss. Der Redefluss der Theorie („mitteilungsfreudig-dramatisierend“) und der Redefluss des Gangsta-Rap („aggressiv-entwertend“),10 so inkongruent die beiden Diskurse auch scheinbar sind, resultieren aus dem allgemeinen Verlangen, dass alles kommuniziert werden muss. Je großkotziger sich Bushido, Fler, Sido etc. versuchten, als die Störenfriede des deutschen Kulturbetriebs zu inszenieren, desto mehr wurden – und werden – sie vom deutschen Kulturbetrieb hofiert. Bushido bekommt 2011 den Bambi für Integration. Außer dass Heino seinen, ihm 1990 verliehenen Bambi daraufhin zurückgegeben hat, sich noch ein paar Leute aufregten und Youtube voll ist mit Ausschnitten aus TV-Sendungen wie ‚Lanz‘ und dergleichen, wo nämliche und ähnliche Vorfälle kolportiert und fortgesetzt wurden, hat das keine nennenswerten, nämlich politische oder soziale Folgen gehabt. Überhaupt: Alles muss vermittelt werden, darin erschöpft sich heute Kritik, die nicht bloß Werbung sein will (gleichwohl aber nicht über den Status von gut gemeinter Werbung hinausgelangt). Sonderforschungsbereich Gangsta-Rap, Gewalt im HipHop, Gewaltdarstellungen im HipHop, Gewaltverherrlichung im HipHop, Gewalt und Sexualität im Rap, Frauen im Rap, Frauenbilder im Rap; Gender, Homophobie, Sexismus und Religion im HipHop und Rap, und überhaupt: im Pop; Repräsentation und Performativität (wobei Diskurse des Performativen schon wieder ein wenig aus der akademischen Mode gekommen schei-

10 Ich übernehme hier den achten und vierten der insgesamt acht „Kommunikationsstile“, nach der Darstellung von die Friedemann Schulz von Thun: Miteinander reden 2. Stile, Werte und Persönlichkeitsentwicklung. Differentielle Psychologie der Kommunikation, Reinbek bei Hamburg 1989.

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nen). Die akademisch selbst verordnete Direktive lautet: Alles muss differenziert verstanden werden, „gelesen“ werden, keine Schubladen, kein SchwarzweißDenken. Es heißt: Wer „deutschen“ Gangsta-Rap nur als „deutschen“ GangstaRap bezeichnet, macht es sich zu einfach; wer nicht bereit ist, „deutschen“ Gangsta-Rap auch als Versuch zu hören, sich irgendwie den herrschenden Strukturen zu widersetzen, macht sich leicht verdächtig, von „deutschem“ Gangsta-Rap keine Ahnung zu haben und auch in Sachen Poptheorie nicht auf dem neuesten Stand zu sein. „Rap-Forschung“ scheint da anzufangen, wo konzediert wird, dass die in diesem Genre inszenierte Brutalität und Verachtung auch anders gemeint sein könnte, zumindest anders gedeutet werden könnte. – So gehört Gangsta-Rap zu solchen Phänomenen der Gegenwartskultur, bei denen Forscherinnen und Forscher ihren Forschungsapparat und sich selbst darauf eichen, genau hinzuschauen, genau hinzuhören, ob nicht doch irgendwo und irgendwie ein Doppel- oder Hintersinn drinstecke: in den Texten, in den Gesten, im Verhalten der Protagonisten und Akteure des Genres: Um dem Thema gerecht zu werden, um den Leuten gerecht zu werden, und wahrscheinlich auch, um ein bisschen von der Realness und vom Fame abzubekommen, um die schnöden Methoden der Feldforschung ein wenig mit Straßen-Flair und Credibility aufzuputzen. Die akademische wie deren Surrogat: die journalistische Vermittlungsarbeit kaschiert die falsche Unmittelbarkeit. Poptheorie scheitert auch hier an ihrer Belanglosigkeit. Für das, was im Pop in aller Überdeutlichkeit vor-, auf- und abgeführt wird, braucht es ohnehin keine Theorie. Ice-T nannte sein letztes Album von 2006 schlichtweg ‚Gangsta Rap‘. Die Vermittlungsmanie, das Unbedingt-alles-kommunizieren-Wollen, das Alles-verstehen-Wollen etc. hat eine ideologische Vorgeschichte in den 1970er und 1980er Jahren, als Jean Baudrillard auf den Spuren des „Kool Killer“ durch New York flaniert und Jean-François Lyotard vom „Widerstreit“, d.h. der Unvereinbarkeit verschiedener Idiome, handelt.11 Die Rap Revolution fällt nicht umsonst in diese Zeit,12 Talkin all that Jazz.13 Was hier probiert wird, ist Kom-

11 Vgl. Jean Baudrillard: Kool Killer oder Der Aufstand der Zeichen, Berlin 1978; JeanFrançois Lyotard: Der Widerstreit, übersetzt von Joseph Vogl, München 1989 (Orig. 1983). – Indes: Jürgen Habermas’ „Theorie des Kommunikativen Handels“ oder Friedemann Schulz von Thuns „Miteinander reden“ sind auch deutsche Antworten (zunächst konterkariert, später dann stabilisiert mit der verwaltungswissenschaftlichen Systemtheorie Niklas Luhmanns) auf die Fiktion funktionierender Sprechens („Sprechakte“) und ihren faktischen Funktionsstörungen. 12 Vgl. David Dufresne: Rap Revolution. Geschichte ‒ Gruppen ‒ Bewegung, Zürich und Mainz 1997 (zuerst Neustadt 1992).

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munikationsverweigerung, die quasi als hybridisierende, hysterische Kommunikation vorgeführt wird (im Punk: das Schreien, das Kreischen; im Rap: der sich überschlagende Redefluss, „Logorrhoe“; im Techno dann übrigens: die technische Arretierung der Sprache auf Information und Befehl). – Mehr als für andere Popmusikentwicklungen in der Zeit um 1978 wird indes das Technische wichtig; wenn man so will: die apparative Stützung und Rahmung des „kulturellen“ Communication Breakdown in Manifestationen technologischer Rationalität (Technics®-Plattenspieler, Soundsystems, Ghetto-Blaster, Walkman®, dazu: CD, VHS, PC, RTL etc.).

L EICHENZÄHLER „Freilich sind diese Charaktere nicht aus der Literatur der fortgeschrittenen Industriegesellschaft verschwunden, aber sie überleben wesentlich verändert. Der Vamp, der Nationalheld, der Beatnik, die neurotische Hausfrau, der Gangster, der Star, der charismatische Industriekapitän üben eine Funktion aus, die von der ihrer kulturellen Vorläufer sehr verschieden ist, ja im Gegensatz zu ihr steht. Sie sind keine Bilder einer anderen Lebensweise mehr, sondern eher Launen oder Typen desselben Lebens, die mehr als Affirmation denn als Negation der bestehenden Ordnung dienen.“ HERBERT MARCUSE, DER EINDIMENSIONALE MENSCH (SCHRIFTEN BD. 7, SPRINGE 2004, S. 79)

Spätestens mit „O. G. Original Gangster“ ging es los, das vierte Soloalbum von Ice-T. Gangsta-Rap wurde zum Genre, zum Stil beziehungsweise Style, zum Schematismus eines Lifestyles.14 Das neue Rollenmodell hieß Pimp, und Gang-

13 Siehe meine Anmerkungen zu Richard Shusterman in: Ton Klang Gewalt. Texte zu Musik, Gesellschaft und Subkultur, Mainz 1998, S. 156 ff., insb. S. 167 ff. 14 „But it was N. W. A., who sold over two million copies of their 1988 recording, ‚Straight Out of Compton‘, certifying the commercial appeal of these representations.“ Barry Shank: Fears of the White Unconscious: Music, Race, and Identification

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sta-Rap wurde zum Soundtrack einer brachial-modernistischen Ästhetisierung der Politik, die sich auf die kulturelle Resurrektion eines in den Normalverhältnissen des postbürgerlichen Patriachats längst destabilisierten Männlichkeitsideals kaprizierte: der Autoritarismus, der im Strukturzusammenhang der Familie seit den siebziger Jahren im und wegen des Spätkapitalismus immer weniger funktionierte, wurde in die lebensweltlichen, alltäglichen Reproduktionsbereiche eingespeist, der Pimp, also der Zuhälter, wurde zum Modell einer rücksichtslosen Individualisierung, die kulturindustriell bereits über Jahrzehnte für die so genannte High Society wie ohnehin für den Mainstream, die Angestelltenkultur, die White Collar- und White-Middleclass-Culture, in allen möglichen Variationen durchgespielt wurde; nun wurde sie ans Ghetto-Leben rückgekoppelt. Die Ästhetisierung der Politik betraf vor allem die Gewaltinszenierung; unter Absehung fast jeder politischen Kritik und bestimmt jeder Kritik der politischen Ökonomie wurde auf technisch höchstem Niveau im Gangsta-Rap eine Zeichenwie Sozialordnung beschworen, die allenthalben das Recht des Stärkeren propagierte. Der Bruch mit dem frühen HipHop, der die Gewalt konterkarierte, der den Aufstand der Zeichen probte und auf den Blockpartys zu hören war, während die Wände bunt gemacht wurden, war vollzogen. So ist auch der Gangsta-Rap signifikant für die Verschiebung von Pop I zu Pop II,15 mithin ebenso für die Verschiebung einer – wie auch immer hoffnungslosen – realhumanistischen Praxis („wirkliche Bewegung“) zum symbolischen Widerstand subversiv-dissidenter Subkultur etc. Wie in allen durch Männlichkeitsklischees dominierten Popgenres blieb auch im Gangsta-Rap das Spiel mit den Rollen fade und einfallslos, kippten Versuche persiflierender Brechungen meist ins Zynische; was beim Publikum dennoch Wirkung zeigte, war vor allem der Überaffirmation geschuldet: der sexistische Pimp als Karikatur, aber immer als Geschäftsmann; das Kollektiv gibt es nur noch als Gang, die Zwischenstufen der Individualisierung laufen über den Drogenhandel. Das sind jedenfalls die im Gangsta-Rap bemühten Images. Mit dem Zusammenbruch des Realsozialismus und der darauf folgenden erdumspannenden Ausweitung des Kapitalismus ging die Ära der Reaganomics zu Ende, zeigten sich Risse in der Zitadellenkultur (Otto Karl Werckmeister), verdichteten sich innerhalb der Disziplinargesellschaft kontrollgesellschaftliche Zonen. Es gab wieder Krieg, an dem außen- wie innenpolitisch die Großmächte

in the censorship of „Cop Killer“. – web.archive.org/web/20090208223200/http:// www.emayzine.com/lectures/rap.htm 15 Vgl. Dietrich Diederichsen: Ist was Pop?, in: Ders.: Der lange Weg nach Mitte. Der Sound und die Stadt, Köln 1999, S. 272 ff.

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beteiligt waren. Der Golfkrieg. Rodney King wird von Polizisten bei einer Verkehrskontrolle von zwei Polizisten brutal zusammengeschlagen; eine Videokamera zeichnet die Misshandlung auf, wird im Fernsehen gezeigt. Unruhen in Los Angeles. Der republikanische Präsidentschaftskandidat Pat Buchanan fragte damals: „But where did the mob come from?“, und er beantwortete in geübter Rhetorik seine Frage selbst: „It came out of rock concerts where rap music celebrates raw lust and cop killing.“ – 1989 gründete Ice-T die als HipHop-MetalHardcore-Crossover-Projekt gelobte und gehandelte Band Body Count, die 1992 ihr erstes Album veröffentlichte. Titel ebenso: „Body Count“. Zu den Skandalstücken auf der Platte zählt sicher auch „Momma’s gotta die Tonight“, in dem jungen Männern empfohlen wird, die Mutter, sofern sie sich als Rassistin entpuppen sollte, anzuzünden; zum politischen Problem wurde aber nur „Cop Killer“. „What’s ‚Cop Killer‘ about? A black youth takes justice into his own hands after his buddies are unjustly murdered by corrupt cops. Just like Eastwood [Anm. RB: gemeint ist Clint Eastwoods Spätwestern „Unforgiven“ (USA 1992)], I’m saying, ‚Fuck the police, for my dead homies‘, but my story is real. I know firsthand how bad the street is. America is simply not ready to hear it from me.“16 „Die Affinität zwischen HipHop und Gangsterfilmen wie ‚Scarface‘, ‚Der Pate‘, ‚Reservoir Dogs‘, ‚Goodfellas‘ und ‚Pulp Fiction‘ begründet sich in der gemeinsamen Behauptung, dass sie die Welt von sentimentalen Illusionen befreit haben und zeigen, ‚wie sie wirklich ist‘: ein Hobbesscher Krieg aller gegen alle, ein System immerwährender Ausbeutung und all- gemeiner Kriminalität. Im Hip-Hop, schreibt Reynolds, ‚bedeutet get real, einem Naturzustand ins Auge zu sehen, in dem die Maxime ‚Fressen oder Gefressen werden‘ gilt, wo man entweder ein Gewinner oder ein Verlierer ist und in der die meisten zu den Verlierern gehören.‘“17

16 Ice-T: Fuck the Police, in: Hanif Kureishi & Jon Savage (Hg.): The Faber Book of Pop, London & New York 1995, S. 757. 17 Mark Fisher: Kapitalistischer Realismus ohne Alternative? Eine Flugschrift, aus dem Englischen von Christian Werthschulte, Peter Scheiffele und Johannes Springer, Hamburg 2013, S. 18.

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K URZEXKURS : F ORTSCHRITT „Die westliche Welt hat eine neue Entwicklungsstufe erreicht: die Verteidigung des kapitalistischen Systems verlangt heute die Organisierung der Konterrevolution innerhalb wie außerhalb des eigenen Bereichs … Die Konterrevolution ist weitgehend präventiv; in der westlichen Welt ist sie das ausschließlich. Hier gibt es keine neuere Revolution, die rückgängig gemacht werden müsste, und es steht auch keine bevor.“ HERBERT MARCUSE, KONTERREVOLUTION UND REVOLTE (IN: SCHRIFTEN BD. 9, SPRINGE 2004, S. 11 F.)

Deutscher Gangsta-Rap ist kein Fortschritt gegenüber Gangsta-Rap im Allgemeinen (so wenig wie Gangsta-Rap im Allgemeinen einen Fortschritt gegenüber allgemeinen Rap im Besonderen darstellt. Ohnehin ist es mit dem Fortschritt im Pop, in der Popkulturindustrie, in der Kulturindustrie und mit der Kultur unter Bedingungen ubiquitärer Verwertungslogik problematisch, sofern Fortschritt nicht bloß die technische oder technologische Entwicklung bedeuten soll, sondern, nach Hegels Wort, als geschichtlicher Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit gedacht wird).18 Das fehlt im „deutschen“ Gangsta-Rap, schließlich im Rap überhaupt; es ist zu vergegenwärtigen, dass Rap und HipHop in derselben Zeit entstehen (Mitte/Ende der 1970er), in der das herrschende Bewusstsein die Geschichte und die mit ihr assoziierten Begriffe wie Freiheit, Vernunft, Wahrheit unter dem Stichwort der Postmoderne suspendiert. Leerstelle bleibt im deutschen Gangsta-Rap zudem die an die Idee des Fortschritts gekoppelte Vorstellung historischer Prägnanz (in Bezug auf Vergangenheit, vor allem aber Zukunft und überhaupt: Gegenwart!). Insofern gehört (deutscher) Gangsta-Rap zu den Produkten, die kulturideologisch „nach dem Ende der Geschichte“, „posthistorisch“19 situiert sind. (Deutscher) Gangsta-Rap steht damit außerhalb dessen, was

18 Zum Begriff Fortschritt vgl. Jost Hermand: Die Utopie des Fortschritts. 12 Versuche, Weimar & Wien 2007, S. 143 ff. und passim. 19 Unbenommen sind die seit dem Zweiten Weltkrieg immer wieder aufgewärmten und gewendeten Theoreme und Thesen vom Ende der Geschichte und Posthistoire Ideologie, gleichwohl sie – und das macht es für die Popgeschichte auch und gerade in Bezug auf Rap, HipHop, Gangsta-Rap sowie dann auch deutschem Gangsta-Rap

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Simon Reynolds als „Retromanie“ bezeichnet. Gangsta-Rap ist Pop,20 der sehr wohl von seiner Vergangenheit lassen kann – weil er nämlich gar keine hat (die symbolisch, Stil-Bricolage-halber für ihn konstitutiv ist).21

interessant – material-konkret mit der Geschichte, von deren Ende eben diese Theoreme und Thesen handeln, rückgekoppelt: in derselben Zeit, in der Rap/HipHop sich in den USA popkulturell etabliert, werden die Theorien über die postindustrielle Gesellschaft und die Postmoderne virulent (architekturtheoretisch bezogen auf jene Sektoren moderner Urbanisierung, in denen nun auch – neben Techno, Punk & Postpunk – HipHop und Rap zu hören ist); das greift ein in Lebensweisen, die – wie Peter Brückner Anfang der 1980er in Überlegungen zum Stichwort Posthistorie beobachtet – nunmehr zunehmend einem „Nivellement“ unterworfen sind, die sich also angleichen. Dieser Angleichung irgendwie zu entfliehen, konsolidiert sich im HipHop/Rap (das „irgendwie“ ist nicht unwichtig, weil nun nach dem auch erklärten Ende der Metageschichte und Ende der Großen Erzählungen, politische Visionen durch privatistische Fiktionen ersetzt werden). Zudem: Gerade dem deutschen Gangsta-Rap bleibt das nicht äußerlich: das Konglomerat aus Sexismus, bandenmilitärischer Gewaltverherrlichung und Antisemitismus ist ja, in seiner historischen Konstellation, zu der auch die notorische Nichtthematisierung eben dieses Konglomerats der Menschenverachtung gehört, deutsch. Das jedoch überhaupt oder eben als deutsch zu thematisieren, wie es etwa die Antilopen Gang macht, widerspricht mithin der Genrekategorisierung deutscher Gangsta-Rap. 20 Obwohl das auch noch geklärt werden müsste: ob am Ende von Pop, wo alles Pop ist, in einem dezidiert gehaltvollen Sinne neuere Genres wie Gangsta-Rap überhaupt noch Pop sind … 21 Was für den (deutschen) Gangsta-Rap nicht gilt: zwei Beispiele aus Simon Reynolds: Retromania: Warum Pop nicht von seiner Vergangenheit lassen kann, aus dem Engl. von Chris Wilpert, Mainz 2012. – 1.) Reynolds, der in einer Nacht 1988 eigentlich in einen Londoner Acid-House-Club wollte, landet auf einer Northern Soul-Tanzveranstaltung in einem. „Ich frage mich heute“, schreibt Reynolds, „was junge Leute dazu [bringt], nicht der Musik von Morgen nachzujagen (wie es die Acid-Raver im Shoom [Club] taten), sondern sich der Musik von Gestern zuzuwenden?“ (S. 210) HipHop und Rap sind freilich überfüllt mit historischen Bezügen, auch, wie immer wieder hervorgehoben wurde, was die Aktualisierung der Geschichte angeht, das Erinnern und Bewahren etc.; in den Neunzigern lassen sich solche Bezüge auch noch vielfach im Gangsta-Rap finden. Im deutschen Gangsta-Rap sucht man sie vergeblich. – 2) „Im Herzen des Punk liegt ein Paradoxon: Die revolutionärste Bewegung der Rockgeschichte ging de facto aus reaktionären Impulsen hervor. Punk wiedersetzte sich dem Fortschritt … Daher auch die Schadenfreude, mit der Johnny Rotten in ‚God Save the

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„Auf die Fresse! “ heißt eine Dokumentation über „Straßen-Rap in Deutschland“, die ich mir auf ZDFinfo ansehe.22 Die Dokumentation beginnt mit Nahaufnahmen: es wird gerappt, vor dem Mikrofon, mit Ploppschutz, im Studio. „Ready!“, sagt einer. „Dieselbe Scheiße nochmal, ja?“, sagt Nura von SXTN. Dann wird gerappt: „Meine Stadt – das ist Frankfurt …“ etc. Dann kommentiert PA Sports: „Mit Rap kannst du was sagen, etwas machen, etwas tun“. Dann kommt die eigentliche Titelsequenz (mit Bildern aus dem Video zu „Puste aus“ von PA Sports ft. KC Rebell), dazu die Off-Stimme des Kommentators, die – anders als die Protagonisten der Dokumentation in ihrer unbeholfenen, restingierten Hate-Speech – in destinguierter Distanz dem Publikum mit klugen Phrasen erläutert: „Rap ist Kunstform! – Und Rap ist Kommerzmaschine!“ Gesprochen wird „von oben“, aber nicht arrogant, herablassend, sondern „informierend“, wie zum Beispiel eine Bahnhofsansage, nur im engagierteren Ton. Die Dokumentation läuft noch keine Minute, und schon jetzt ist klar, dass dem Fernsehpublikum vermittelt werden soll, was am so genannten Straßen-Rap „interessant“ ist, ohne dass das Publikum dafür sich allzu dicht an diese Musik und die um sie herum inszenierte Kultur heranwagen müsste. Das geschieht durch Setzungen: konstatiert wird, dass Rap eine Kunstform sei, nicht warum. Außer, dass Rap durch den vermeintlichen Widerspruch charakterisiert sei, sowohl als „Kunstform“ als auch als „Kommerzmaschine“ etikettiert werden zu können, wird kaum mehr zum Thema gesagt; Ausführungen zur Musik fehlen in dieser Dokumentation ebenso wie weiterreichende Hinweise auf soziale Beziehungen der Akteure des „Straßen-Rap in Deutschland“. Das „Deutschland“, um das es hier geht, ist ein mit Klischees und Banalitäten ausgeschmückter Gemeinplatz.

Queen‘‚No Future‘ versprach.“ (S. 229) Der frühe HipHop agierte ebenfalls paradox, nur umgekehrt: er widersetzte sich dem Fortschritt, um eine Zukunft als Mythos zu antizipieren (sich indes solchen Mythologisierungen widersetzt zu haben, ist das allerdings doch fortschrittliche Motiv des Punk gewesen …). Dies Paradox geht historisch nicht auf; es verdichtet sich im Mythos. Auch deshalb ist Punk konzeptionell gescheitert, während HipHop als Gangsta-Rap in der zeitlos-permanenten Selbstthematisierungsschleife sich verfängt und zum Mythos gerinnt. 22 „Auf die Fresse! Straßen-Rap in Deutschland“, Regie: Frank Zintner (BRD 2016); die Dokumentation ist, sofern nicht wegen Urheberrechtsverletzungen gesperrt, zum Beispiel auf Youtube zu finden.

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Konsequent reiht die Off-Stimme die nächsten Floskeln auf die Kette des Selbstverständlichen: „Er ist politisches Statement – und Provokation! – Rap ist Mainstream! – Und Subkultur!“ Dann kommen wieder ein paar Bilder „aus der Szene“. Nura – die man bisher nur mit Sätzen hat rappen hören, bei denen es um Fotze und Ficken geht, darf nun sagen: „Meine Mutter ist durch die Scheiße gegangen, ich geh durch die Scheiße und ich hoffe, meine Kinder müssen das nicht machen.“ Schnitt. Dann fragt die Off-Stimme, wieder im süffisanten Gestus, jetzt mal das heiße Eisen anzupacken, das für den Kenner jedoch schon längst abgekühlt ist: „Wie real ist Rap? – Wie politisch ist Rap?“ Und dann passiert etwas, das sich im Dokumentarbericht der letzten eineinhalb Jahrzehnte sowohl bei Guido Knopps „History“-Reihe als auch bei den „Die größtenIrgendwas-aller-Zeiten“-Zusammenschnitten bezahlt gemacht hat: Ein Experte wird eingeblendet, der Experte ist, weil er eingeblendet wird – gerne mit Schnitt, um vor einem anderen Hintergrund (wie die Zuschaltung eines Nachrichtenkommentars) den Anschein von Seriösität zu erwecken: Mit locker aufgeknöpften Hemd und adretter Frisur beantwortet Falk Schacht die aus dem Off hängengebliebene Frage „Wie politisch ist Rap?“ fachkundig: „Eigentlich zu einhundert Prozent in allem was es tut. Es gibt nichts was Rap machen kann, was sowieso nicht politisch ist. Ds’s unmöglich.“ Er betont das, was er sagt, mit passender Mimik (ein nachdenklich-gesenkter Blick, dann versicherndes und zugleich beruhigendes Kopfschütteln und Schulternhochziehen); es ist die erste Person, die in der Dokumentation gezeigt wird, die einen vollständigen Namen und eine Erklärung zum Namen bekommt: „Falk Schacht, Musikjournalist“ wird eingeblendet. Später werden einige Raptexte untertitelt. SadiQ rappt in seinem Song „Kalaschnikow Flow“, untertitelt, weil für das wahrscheinlich nicht Rap-affine Publikum etwas zu undeutlich vorgetragen: „Guck die Welt pumpt von Schwuchteln von Amerika … [die zwei, drei Wörter, die SadiQ weiterrappt, sind unverständlich. Sie wurden im Untertitel einfach weggelassen, nicht einmal mit Auslassungszeichen markiert].“ Zu solchen Statements hatte Falk Schacht kurz vorher dem Publikum ruhig und sachlich erklärt: „Kritiker von Rap werfen Rapmusik und Rapmusikern sehr gerne ihre Texte vor und die Inhalte. Das versteh’ ich. Aber keiner dieser Kritiker fragt, warum passiert das eigentlich? … Es gibt diese Viertel, es gibt die Probleme, die dort äh in diesem Gangstarap stattfinden, und wir als Gesellschaft müssten da eigentlich drauf reagieren, weil sonst einfach diese ganzen Kinder in diesen Vierteln verloren gehen …“ Weiter mit dem Einspieler: SadiQ live in Berlin, Kreuzberg, 1. Mai 2016. Off-Stimme: „Plötzlich kommt es zu einer Prügelei mitten im Publikum.“ Das Konzert wird unterbrochen, SadiQ und die anderen auf der Bühne stehen am

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Bühnenrand. Man sieht jetzt: SadiQ und noch ein weiterer junger Mann haben TShirts an, auf denen „Palestine 1948“ steht, dazu, in entsprechenden Farben, die Umrisse des britischen Mandatsgebiets, auf dem 1948 nach einem Verteidigungskrieg Israel gegründet wurde, der noch immer einzige demokratisch verfasste Staat in dieser Region. SadiQ ruft der Menge zu: „Hey, ihr kleinen Bastarde, was macht ihr da? Schlägt Ihr da auf eine Frau zu, Alter? Leute! Beruhigt Euch, wir sind hier erster Mai! Ihr dürft nicht vergessen, für was erster Mai steht: Für den Zusammenhalt – egal wo wir herkommen, egal aus welchem Land, egal welche Religion, wir sind alle eins, Leute! Dafür steht der erste Mai und nicht für irgendwelche Hurensöhne, die irgendwie auf irgendwelche Frau’n da zuschlagen, Alter!“ Dann wird eine Interviewsequenz eingespielt, in der SadiQ hinzufügt: „Wir sind Leute, die unterdrückt sind, so wie ich auch unterdrückt war, so wie ich, ich bin ein Flüchtlingskind, und da sind viele Flüchtlinge auch, unter anderem, aber auch viele Deutsche, die mich verstehen.“ Dann wieder Falk Schacht, dem sein zugleich betroffener wie auch verständnisvoller Blick nun eingefroren scheint: „Jugendliche kriegen in unserer Gesellschaft keine vernünftigen Ziele! Was sind denn hier die Ziele? Mein Haus, mein Auto, meine Frau. Toll! Und jetzt? Wenn ich das nicht erreiche, wenn ich gar keine Chancen hab’, dahinzukommen, wenn ich äh das Gefühl habe, dass ich in dieser Gesellschaft nicht vorankomme: Was mach’ ich’n dann?“ Dann wird etwas zur Biografie von Falk Schacht gesagt, dass er den „deutschen HipHop von Anfang an miterlebt“ habe, früher bei Viva eine HipHopSendung „produzierte“. Er verrät, nun mit einem Lächeln im Gesicht: „HipHop hat mir alles beigebracht, was ich über das Leben musste. Das Nachdenken über Rap-Musik hat mich zu einem erwachsenen Menschen gemacht.“ Ein Zwischentitel wird eingeblendet: „Rap/History“. Off-Stimme: „Die Geschichte des Rap beginnt Ende der siebziger Jahre in den Ghettos von New York.“ Grandmaster Flash und Run DMC werden gezeigt, „die ersten globalen Stars des neuen Genres“. Kein Wort über Block-Partys. In diesem Bericht gibt es das Leben in den „Ghettos“ nur als von vornherein durch Gewalt sowie Bandenund Drogenkriminalität gekennzeichneten Ausnahmezustand. Was die Gewalt charakterisiert, was sie strukturiert und potenziert, wird nicht gesagt. Schnell ist man bei Sub-Genres, bei Ice-T. Dann Rap in Deutschland: Ende der achtziger Jahre gehe es los mit Advanced Chemistry. – Die Fantastischen Vier, heißt es, hätten den Rap „mainstreamfähig“ und „kommerziell sehr erfolgreich“ gemacht. Dann kommen die Anfänge des Gangsta-Rap: Kool Savas; Mitte der Nuller: Bushido und Sido. Es heißt: „Provokantes Auftreten und streitbare Texte“ sorgten „immer wieder für große Diskussionen in der Öffentlichkeit“. (Solche Sätze

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sind höchstens halbwahr: Als wenn es nicht Negt & Kluge oder Richard Sennett über den Verfall der bürgerlichen Öffentlichkeit gegeben hätte. Es wäre auszuführen, warum ein „deutscher“ Gangsta-Rap sich zur selben Zeit entwickelt, in der sich auch eine „deutsche“ Öffentlichkeit neu formiert: sie wird pop-affin, zumindest popkulturell interessiert, und gleichzeitig „politisch“ desinteressiert; es ist die Konsolidierungs- und Verdichtungsphase der Neuen Mitte mit ihren autoritären Leistungsparolen: „Law and Order is a Labour issue“ etc.) Ab 2012 gibt es Haftbefehl. „Er perfektioniert das Spiel mit den Requisiten des GangstaRap.“ Was sind die Requisiten des Gangsta-Rap? Zum Beispiel: „Tabubruch durch Gewaltdarstellung.“ Später geht es um SadiQ. „Auch SadiQ setzt sich mit dem Thema Radikalisierung auseinander … Sein Song zum Thema heißt ‚Charlie Hebdo‘.“ SadiQ: „Meine Massage ist in dem Song ist, dass ich eine Satire mache über Charlie Hebdo. Charlie Hebdo hat ja eine Satire über den Islam gemacht, ich mache eine Satire über Charlie Hebdo. Und im Endeffekt gilt Charlie Hebdo als Meinungsfreiheit, aber mein Song nicht.“ Und Falk Schacht, wieder mit kluger Miene: „Ich kann die Wut in SadiQ schon nachvollziehen …“ Dann wird nochmal gesagt, dass das irgendwie nicht okay ist, gleichzeitig aber doch, weiß Schacht: „Es ist sogar notwendig, dass es so etwas gibt, weil wir dann uns dagegen positionieren können, weil wir dann sagen können: moment mal, das ist nicht okay, wie Du’s gesagt hast, das Thema ist sehr empfindlich, damit müsste man sensibler umgehen.“ PA Sports ist da überlegter: „Meine Nation ist Mensch, mein Land ist die Welt, mein Glaube ist eine Sache zwischen mir und Gott – das geht gar keinem ’was an! … Ich hasse nationalistische Menschen …“ Leider fällt das sympathische Statement dann doch ins Klischee zurück: „Seid ihr behindert? … Digga, hat man Euch in den Arsch gefickt, was ist los?“ Die Off-Stimme weiß das aber sachlich auf die Formel zu bringen: „Rap sucht Konfrontation! Rap ist Kunst! Rap will provozieren – und Provokation kann auch sehr viel Spaß machen!“ Und noch einmal Falk Schacht, Musikjournalist: „Rap ist nicht besser als die Gesellschaft – es ist nur extremer. Und wenn man Rap kritisieren will, dann kritisiert man eigentlich die Gesellschaft in der man lebt.“ Abspann.

AUTORITÄT

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F AMILIE

Ausführlich kommen in der Dokumentation Nura und Juju zu Wort, die zusammen SXTN sind und ein Album gemacht haben mit dem hübschen Titel „Assozialisierungsprogramm“. Die Frauen bedienen gleichfalls die Klischees des Gangsta-Rap, also Klischees, die in übertriebener, d. i. wahnhafter, paranoischer und soziopathischer

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Weise von männlichen Allmachtsfantasien bestimmt sind, nur eben – als Frauen. Für den Rap-Experten der ersten Stunde Falk Schacht reicht das, um „eben eine Reaktion“ hervorzurufen. Das sei „Fakt“, so Schacht. Und: „Die find ich gut!“ Er erklärt weiter: „Das ist das, was Kunst auslösen kann, und was ich wichtig und spannend an Kunst finde: Wenn man solche Sachen eben umdreht. Das tut’s.“ Anders als die männlichen Rapper werden Juju und Nura nicht mit Nachnamen vorgestellt. – Sie sind auch die einzigen, bei denen thematisiert wird, dass und wie sie innerhalb der Szene abgelehnt werden. Juju liest einen FacebookEintrag vor: „Alter, bitte hört endlich auf zu rappen. Ihr seid eine Schande für alle anderen Rapperinnen. Ich hoffe, ihr werdet vergast, abgeschoben und euer Leichnam wird ausgekotzt und an Zigeuner als Sexpuppen verkauft.“ – Das gibt die Überleitung zum Thema Sexismus. Juju: „Deutsch-Rap ist halt sexistisch, so, kann man auch nichts dagegen machen. Viele Leute sind halt sexistisch, und kommen damit noch nicht klar. Aber irgendwann gewöhn’ sie sich dran, weißt Du? …“ Juju: „Die mögen uns nicht, aber wir mögen die. Und wir werden die schon vom Gegenteil überzeugen, keine Sorge.“ – Nura: „Und dann werden die sich auch schämen, weißt Du? Von wegen so: oh nein, ich hab’ voll schlecht über die geredet, eigentlich sind die voll cool, und so.“ Dann kommt ein bisschen traurige Biografie von Nura, über ihre zwangsverheiratete Mutter aus Eritrea etc. Und noch einmal der Einspieler, wo Nura sagt: „Meine Mutter ist durch die Scheiße gegangen, ich geh durch die Scheiße und ich hoffe, meine Kinder müssen das nicht machen.“ Jetzt kommt Nuras Wunsch für ihre Zukunft und die ihrer Kinder in voller Länge: „Ich hoffe, ich werde so viel genug gearbeitet haben, damit die einfach ’n geiles Leben haben, damit die dieselben Chancen haben wie jetzt ’n deutsches Kind.“ Dann kommen noch ein paar Ausschnitte aus „Hass Frau“, ein Song, der überzeichnet und entstellt aus King Orgasmus Ones „Du nichts, ich Mann“ zitiert: „Hass Frau, du nichts, ich Mann / Ich fick in dein’ Arsch und danach leckst du ab / Hass Frau, du nichts, ich Mann / Blase, bis du kotzt, aber kotz auf mein’ Schwanz / Hass Frau, du nichts, ich Mann / Fick mich und halt dein Maul.“ – Zum Schluss sagt die OffStimme: „Sich nicht in eine Schublade schieben lassen, einfach sein Ding machen! – Dafür wollen SXTN stehn.“ Pop hat von Anfang an, seit den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, neben dem Plädoyer für Promiskuität, Rausch und Exzentrik / Ekstase, nämlich neben Sex & Drugs & Rock ’n’ Roll, immer auch die Familie verteidigt: als kleinfamiliäre Einheit, die sich glücklich um den Nachwuchs gruppiert und durchaus etwas von dem bewahrt, was Max Weber als „Hauskommunismus“

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bezeichnet; eine Illusion freilich, verpackt und transportiert über eine zur universalen Matrix verklärten Liebe. „Dieser Hauskommunismus wurde zuerst in der Arbeiterfamilie aufgelöst. Keineswegs ist es so, dass Not gleichsam naturwüchsig Solidarität lehrt.“23 – In der verwalteten Welt ist die Familie einerseits angehalten, Aufgaben an außerfamiliäre und familienfremde Institutionen, also an Ämter, Behörden, Ärzte und Versorgungseinrichtungen abzugeben; dies umso mehr, wo die Familie allein aus Platzgründen sich als Struktur verdichtet: in den beengenden Sozialwohnungen, die dem Proletariat vorbehalten sind. Und dort, wo Familie allein räumlich gezwungen ist, Familie zu sein, gleichwohl aber die übliche familiäre Grundversorgung nicht leisten kann, werden alle „natürlichen“ Beziehungen zerrissen, zieht die Kälte ein, verwandelt sich Geborgenheit in Beklemmung, werden die Familiengemeinschaften schließlich zu Terrorgemeinschaften. „Terrorgemeinschaften, aus denen Jugendliche so früh wie möglich fliehen, um bald neue Familien zu gründen, in denen es dann oft nicht anders zugeht als in den alten.“24 Gerade dort, wo es am nötigsten wäre, ist wenig Glück. Die Wunschvorstellung von Nura ist bereits durch desintegrative Elemente verzerrt: Sie möchte eine Familie, möchte, dass es ihren Kindern weder so ergeht wie ihrer Mutter, noch wie ihr; die Lösung ist: sie will so viel arbeiten, dass ihre Kinder ein sorgenfreies und schließlich auch arbeitsfreies Leben haben, ein „geiles Leben“. Geknüpft ist das an ihre Musikkarriere als Rapperin. Bemerkenswert ist dabei indes, wie stark gerade ihr musikalisches Metier, eben Gangsta-Rap, im Kontrast zum erhofften Lebensglück steht: Gangsta-Rap bedient sich einer Semantik, die auf jede Form von Zärtlichkeit gänzlich verzichtet; psychoanalytisch gesprochen: hier wird nichts sublimiert. Was fehlt – und das ist freilich mitnichten nur bei Nura auffällig, sondern allemal bei sämtlichen in der Dokumentation vorgestellten männlichen GangstaRappern – ist das, was in der Psychoanalyse als Über-Ich gefasst wird: eine Instanz, die in der Funktion des Gewissens, aber auch der Idealbildung oder Selbstbeobachtung dem Menschen hilft, alltägliche Situationen so zu bewältigen, das schlechterdings Widersprüche, Fehlschläge, Scheitern, Liebeskummer etc. ausgehalten oder auch als Probleme gelöst werden können, um Leben halbwegs gelingen zu lassen. Das Über-Ich verhilft zum kritischen Bewusstsein und ist mit dem Vermögen verkoppelt, Widrigkeiten des Lebens durch Rationalisierung zu widerstehen. Fehlt diese Instanz gerade in solchen Phasen des Lebens, wo sich Probleme häufen und sich die eigene Lebenslage mehr und mehr schicksalshaft

23 Wilfried Gottschalch: Vatermutterkind. Deutsches Familienleben zwischen Kulturromantik und sozialer Revolution, Berlin 1979, S. 13. 24 Gottschalch: Vatermutterkind, a. a. O., S. 13.

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verschleiert, ist das Naheliegende, sich an einfachen Schemen von Freund/Feind oder Gut/Böse zu orientieren, die umso plausibler funktionieren, je mehr sie mit den Restbeständen „eigener“ Erfahrungen irgendwie – und das heißt meistens: irrational – verkoppelt werden können. Der darüber restituierte autoritäre Charakter setzt auf Aggression statt auf Aufklärung.

M ÄNNERFANTASIEN „‚Nie wieder‘ machte Schluss mit den Drogen und dem Alkohol. Ein Song wie ein Zwiegespräch mit sich selbst, hin- und hergerissen, zwischen Gut und Böse. ‚Nie wieder, Mama, ich schwör’ nie wieder‘, rappte Nimo und traf damit einen Nerv: Über 12 Millionen Mal wurde das dazugehörige Video seit der Veröffentlichung angeklickt.“ WERBETEXT ZU NIMOS ALBUM „K¡K¡“, UNIVERSAL 2017.

Wenn es darum geht, im Sinne einer kritischen Theorie der Gewaltverhältnisse, die auf eine praktische Kritik von Herrschaft (Selbstbeherrschung, Staat, Klassengesellschaft etc.) hinauswill (weil sie doch als realer Humanismus darauf hinauswollen muss), die Frage nach Subjekt, Individuum, Charakter, Charaktermaske, Ich-Schwäche und Ich-Stärke in emanzipatorischer Absicht zu stellen, ist Gangsta-Rap notwendig psychoanalytisch in den Blick zu nehmen. Warum Psychoanalyse? Weil Psychoanalyse ein Weg ist, der Menschen verhilft, nach einer Formulierung Helmut Dahmers, „sich ihre verhohlene Lebensgeschichte wieder anzueignen“:25 Menschen sollen wieder Akteure ihrer eigenen Geschichte, ihrer Biografie werden. Und das sollte gerade bei einer „Jugendkultur“ von Relevanz sein, die in ihrer Selbstrepräsentation und journalistischen Rezeption beständig um die Figur des Adoleszenten kreist, der (oder die) mit einigermaßen verkackter Biografie irgendwie versucht, endlich „er selbst“ (oder „sie selbst“) zu sein; „Rap“ ist dann die lebensweltliche Strategie, mit der Jugendzeit einerseits die Kindheit (und eventuell ihr Elend) hinter sich zu lassen, andererseits die Grundlage für ein glückliches Erwachsen-Sein zu schaffen: Die

25 Helmut Dahmer: Restitution einer Kritischen Theorie, in: Libido und Gesellschaft. Studien über Freud und die Freudsche Linke, Münster 2013, S. 591.

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„Jugend“, also der Lebensabschnitt, in dem man als Rapper reüssieren möchte, ist dabei zwischen zwei paradox konträren „Normalitäten“ eingespannt – nämlich zwischen die reale Normalität, die man als Kind erlebte, und die imaginäre Normalität, die man als Erwachsener gerne hätte. Die Jugend hält diese Spannung mit „Unnormalität“ aus, mit Abweichung, und zwar ebenfalls mit „realer“ oder „imaginärer“ Abweichung. Das auszuschmücken, bietet der Gangsta-Rap allerhand Möglichkeiten, und zwar allesamt Möglichkeiten, die trotz ihres vermeintlich „die Normalität“ provozierenden Charakters, weder die reale noch die imaginäre Normalität ausschließen. Im Gegenteil: Ist die Jugendzeit sich nonkonformistisch gebärdender Rebellion erst einmal überstanden, gelingt die Anpassung in eine unauffällige Erwachsenen-Existenz umso besser (und das gesellschaftlich vorgegebene „Ziel“: „Mein Haus, mein Auto, meine Frau“ ist zumindest in der Minimalversion „Familie“ zu haben; spätestens jetzt konvergieren dann auch reale und imaginäre Normalität). Es ist bekannt, dass die psychischen Dispositionen, die Menschen im Laufe ihres Lebens zu Verhaltensweisen und Umgangsformen verfestigen, ihre Prägungen („Narben“) in der frühen, wenn nicht frühesten Kindheit erhalten haben. Die Instanzen von Ich, Es und Über-Ich können dabei erheblich irritiert werden – bis hin zu pathologischen Störungen. Im zwanzigsten Jahrhundert haben sich allerdings mit der Moderne und Postmoderne gesellschaftliche Konstellationen von Macht-, Herrschafts- und Gewaltverhältnissen ergeben, bei denen – zumindest zeitlich oder räumlich partiell – solche Irritationen, ja sogar solche Störungen sich als vorteilhaft erweisen können und eventuell sogar erforderlich sind, um sich jeweils gegebenen Mustern von „Normalität“ (die freilich höchst widersprüchlich sein können) einzufügen, also um schlechterdings zu funktionieren. (Dass das soziale Funktionieren des Individuums schließlich für eben das Individuum sich zur Dysfunktion auswachsen kann, muss dabei keineswegs als Unstimmigkeit erfahren werden; und wenn doch, dann ist es eben auch die individuelle Dysfunktion: Krankheit, zum Beispiel Burnout, aber auch Alkohol, andere Drogen, Devianz und Delinquenz, Gefängnis etc.) Klaus Theweleit, der Bob Dylan und Jean-Luc Godard außerordentlich schätzt, hat zur selben Zeit, als in New York die ersten Blockpartys stattfanden und in England der Punk losbrach (und Peter Weiss seine „Ästhetik des Widerstands“ schrieb), in zwei großen Bänden „Männerphantasien“ analysiert: Studien über den Faschismus, faschistische Macht, die Entwicklung des Geschlechterverhältnisses in Europa, in Deutschland, im Nationalsozialismus und mit dem Nationalsozialismus; Studien über Kampf und Körper, die allesverschlingende erotische Frau und ihre Gegenbilder, insbesondere der soldatische Mann.

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Die Frage ist nun: Ist der Rapper der soldatische Mann? Wieweit ist Rap vom faschistischen Charakter geprägt? Wie sehr spielen „Volk“, das Heer, der Krieg im Rap, auch im Gangsta-Rap eine Rolle? – Immerhin: kein anderes Pop(musik)genre ist derart fixiert auf sexistische Klischees, kein anderes bedient derart ungebrochen eine Ikonografie der physischen, „nackten“ Gewalt (Waffen, ständige Bedrohung der körperlichen Integrität anderer etc.). Und doch ist auffällig, dass Rap sich kaum mit Attributen des Soldatischen beschrieben lässt; zwar fühlen sich wohl einige beim I.S. ganz gut aufgehoben, doch ist schwer vorstellbar, aus ein paar Duzend Rappern ein Wehrmachts-Bataillon zusammenzustellen. Das ist aber nur eine Vermutung. Ebenso: dass der gewaltpornografische Sexismus des Gangsta-Rap beinahe ohne jede erotische Fiktion auskommt; und dass die sexuelle Denunziation des Feindes sich zwar ausgiebig in homophoben Beschimpfungen, schließlich offen deklarierten Schwulenhass austobt, gleichwohl aber tatsächlich beim durchschnittlichen Rapper kaum homosexuelle Elemente zu finden sind – würde sich das bestätigen, ist das ein eklatanter Unterschied zum soldatischen Männerbild des deutschen Faschismus; zumindest, wenn man Klaus Theweleits Ausführungen in „Männerphantasien“ folgt (insbesondere Band 2: „Männerkörper – Zur Psychoanalyse des weißen Terrors“).26 Immerhin: die Pop-Vulgärsprache gibt es zwar vor, doch der (deutsche?) Gangsta-Rap scheint sich mit Vorliebe auf die sexuelle Beschimpfungen zu kaprizieren, bei denen es um die Mutter geht – und nicht, wie eigentlich nach psychoanalytisch klassischer Problemlage üblich, um den Vater: Motherfucker, „ich fick Deine Mutter!“, überhaupt „Deine Mutter!“, schließlich und beliebt: der Hurensohn etc.27

26 Vgl. Klaus Theweleit: Männerphantasien, Band 2: Männerkörper – Zur Psychoanalyse des weißen Terrors, Reinbek bei Hamburg 1980. 27 Eine Mutmaßung: Geburt spielt eine Rolle; vielleicht die Angst, dass die eigene Mutter die falsche Mutter ist – der Vater ist eh falsch, oder weg. Gleichzeitig manifestiert sich ausgerechnet in dem von männlichen Gewaltfantasien bzw. gewaltvollen Männerfantasien geprägten Gangsta-Rap das psychoanalytische Dispositiv der Gegenwart: dass nicht mehr die Abwesenheit des Vaters das Problem ist, sondern die Anwesenheit der Mutter – die gerade durch Abwesenheit des Vaters omnipräsent erscheint, eben auch in der inzestuösen Form. Bezeichnend ist jedenfalls, dass es nie um Beleidigungen des Vaters geht – zur Disposition stehen lediglich die Beleidigungen der Mutter …

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„G EMEINSAM (S ONG

FÜR ALLE

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P FLEGEKRÄFTE )“

„Die Idee, Musik habe eine besondere Macht und sei mit Kräften sozialer Veränderung verwoben – diese Idee scheint zerbrochen zu sein. Man kann das am Hip-Hop beobachten, zum Beispiel bei Public Enemy. Die Musik war roh und voller Energie. Und obwohl sie aus Samples von James Brown oder Siebziger-Jahre-Musik gemacht war, klang sie wie nichts, was man bisher kannte. Die Ruppigkeit und Aggressivität der Musik ist Ausdruck von Militanz und einer gewissen politischen Mobilisierung. So etwas scheint es heute nicht mehr zu geben. Vieles von dem formal avanciertesten und klanglich aufregendsten Hip-Hop der letzten Jahre ist politisch absolut reaktionär. Was das Beispiel Hip-Hop also auch zeigt, ist, dass es musikalische Innovation geben kann ohne jegliche Intention politischer Veränderung.“ SIMON REYNOLDS28 „Die herrschende Ideologie organisiert die Banalisierung der subversiven Entdeckungen und verbreitet sie im Überfluss, nachdem sie sie sterilisiert hat.“ GUY DEBORD29

Idrefs „Gemeinsam (Song für alle Pflegekräfte)“ von 2014 höre ich als Konsequenz des deutschen Gangsta-Rap. Noch einmal zu Mushiflos „Ficken Geld Drogen Nutten“. Aus der YoutubeKommentarspalte (1318 Kommentare). Einer postet: „Weltkulturerbe“. Ein an-

28 Im Interview mit Niklas Dommaschk & Lasse Koch, „Es geht heute nur noch um das Wochenende“. In: Jungle World, Nr. 41, 11. Oktober 2012, S. 4. 29 Debord, Guy: Rapport über die Konstruktion von Situationen und die Organisationsund Aktionsbedingungen der internationalen situationistischen Tendenz. In: [S. I.]: Der Beginn einer Epoche. Texte der Situationisten, aus dem Französischen übersetzt von Pierre Gallissaires, Hanna Mittelstädt, Roberto Ohrt, Hamburg 1995, S. 29.

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derer: „genauso wirkt deutschrap auf mich“. Darauf antwortet einer u. a.: „musste halt mal nach ordentlichem hip hop suchen und nicht nur die mainstream chartscheisse hören, um dir dein urteil zu bilden.“ Die Chartscheiße: das ist zum Beispiel „Neger bums mich“ von Bushido & B-Tight (2003), oder, aus derselben Schublade, „Style & das Geld“ Kay One feat. Sonny Black (Bushido). Song und Video dazu sind von 2010. Wikipedia: „Bis Ende 2013 erreichte das Video über 32 Millionen Aufrufe auf YouTube und war zwischenzeitlich das meistangesehene deutsche Rap-Video auf YouTube, ehe es durch das Video zu dem Lied „Easy“ des deutschen Rappers Cro überboten wurde.“30 („Style & das Geld“ hat mittlerweile über 44 Millionen Klicks, „Easy“ über 52 Millionen – wie übrigens auch „Kids (2 Finger an den Kopf) “ von Marteria; … „50.000.000 Elvis Fans Can’t Be Wrong“ … „L’État et moi“ …) Kay One und Bushido zerstreiten sich 2012 (es geht vornehmlich um Geld – „Das Einzige, was mich interessiert, ist wie werd’ ich Multimillionär!“). Bushido twittert 2013, die AfD wählen zu wollen; ebenfalls 2013 postet Bushido eine Landkarte, auf der Israel durch Palästina ersetzt ist. Kay One sitzt 2014 in der Jury der elften Staffel von „Deutschland sucht den Superstar“, im selben Jahr erstattet Bushidos Ehefrau Strafanzeige gegen ihren Ehemann wegen Körperverletzung. – Als Kay Boehm ‚interpretierte‘ Jan Böhmermann 2015 „Style & das Geld“ als A-CappellaVersion mit Tuba-Begleitung im überdrehten William-Cohn-Outfit. Mehr geht nicht.

ANARCHIE

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ALLTAG „Um es ganz klar zu sagen: Über Pop zu schreiben macht keinen Spaß mehr. Ernsthaftes Schreiben über Pop nämlich muss mehr denn je zur Kulturkritik und schlimmstenfalls zur Polemik verkommen, zum pessimistischen Gehämmer gegen einen Kapitalismus, der ausgerechnet in der Übernahme alter subkultureller Ästhetik und Strategie einen neuen Triumph feiert. So preisen heute zum Beispiel technoide CyberGurus mit neoliberalen Argumenten das Internet, indem sie sich auf die Tape- und Mail Art-Szene der frühen Achtziger berufen; auf der anderen

30 „Style & das Geld“. – de.wikipedia.org/wiki/Style_%26_das_Geld

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Seite reden heute linke Poptheoretiker häufig wie Werbestrategen, wenn sie das Flottieren der Zeichen als Aussicht auf eine gesellschaftliche Befreiung deuten.“ MARTIN BÜSSER, ANTIPOP (MAINZ 1998, S. 7)

Sido steigt bei Jennifer Rostock auf die Bühne, und sie singen im Duett über Sex, Drogen ja, aber nur in Maßen, Pop als universeller Rock ’n’ Roll. Beide sind bis zum Hals tätowiert, das gehört zum Image – im Sinne des Postpopstars, des metamodernen Celebrity. Sind das die Rollenmodelle von heute, die Leitfiguren und Vorbilder, die besseren Menschen? Unbenommen: Rostock gegen die AfD macht sie angenehm sympathisch; hingegen ist ihr Programm, auf der Bühne die Brüste „blankzuziehen“ und ihre Forderung an die weiblichen Fans, es ihr gleichzutun, und das dann noch als Akt der Selbstermächtigung zu deklarieren, nach Sibylle Bergs solidem Urteil, „einfach nur Stulle“31; so etwas könnte man ruhig mal öfter sagen, auch im Kontext akademischer Popforschung; „einfach nur Stulle“ fällt mir jedenfalls sogleich auch ein zu der unter dem Label Sido firmierenden Charaktermaske und den unter diesem Namen wohlfeil gebotenen Kulturleistungen, die eben als „Deutsch-Rap“, Gangsta-Rap, „deutscher“ Gangsta-Rap etc. rubriziert werden. „Deutscher“ Gangsta-Rap ist erst einmal das: „deutscher“ Gangsta-Rap. Das erklärt mehr als so manche journalistisch erprobte Darstellung oder kulturwissenschaftlich informierte Definition („Rap-Forschung stellt fest, dass …“ – die mit wissenschaftlichen beziehungsweise pseudowissenschaftlichen Jargon aufgeblasenen Interpretationen machen nichts an den Phänomenen und ihrer sozialen Bedeutung erkennbar, verraten gleichwohl aber einiges über die Diskrepanz zwischen dem mit „Pop-Themen“ interessant gemachten und interessiert sich gebenden akademisch-szientifischen Diskursen einerseits und „der Welt da draußen“ andererseits; solche „Kulturforschung“ wird wie die „Kultur“, mit der sie sich „beschäftigt“, banal und fällt, auch wenn allerhand Kritizismen bedient werden, weit hinter eine kritische Theorie, ja sogar hinter traditionelle Theorie zurück, deren begrifflichen Grundlagen ohnehin ignoriert oder als „veraltet“ abqualifiziert werden. Journalistisch verflacht Kritik, Kulturkritik, auch Rap-Kulturkritik zur Reklame, gerade wo sie „Flow“ hat und dem Gegenstand adäquat formuliert ist).

31 Sibylle Berg: Brust rein! (S.P.O.N., 11. Juli 2015). – www.spiegel.de/kultur/ gesellschaft/jennifer-rostocks-busenskandal-lasst-die-moepse-drinnen-kolumne-a1042861.html

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Als Martin Seeliger mich fragte, ob ich einen Text zum Thema „deutscher Gangsta-Rap“ schreiben möchte, habe ich spontan zugesagt. Ich wollte zunächst etwas über zum Beispiel Denis Cuspert aka Deso Dogg, seine Musik und sein Engagement für den IS schreiben, merkte aber schnell, dass das mir dazu kaum mehr einfällt als ohnehin auf der Hand liegt (Theorie, kritische Theorie führte hier zur bloßen Hypostase). Eben das ist ein Problem: Dass mittlerweile (Pop-?) Phänomene wie „deutscher Gangsta-Rap“ so dermaßen einfältig, ästhetisch wie politisch und sozial eindimensional, ja banal sind, dass jede ernstgemeinte Kritik sich sofort als unkritisch blamiert. Kritische Theorie ist damit wieder vom Molotowcocktail zur Flaschenpost geworden. Und doch sind die Regalmeter in den Buchläden und Bibliotheken gut gefüllt mit Literatur zum Thema, selbstverständlich alles kritisch, sachlich, fundiert, reflektiert und engagiert. (Generell: von einem „Ende der Theorie“ kann keine Rede sein: die Ideologieproduktion läuft auf Hochtouren. „Dem Markt entgeht keine Theorie mehr: eine jede wird als mögliche unter den konkurrierenden Meinungen ausgeboten, alle zur Wahl gestellt, alle geschluckt.“32 Das gilt allemal für die hyperventilierende Medien-, Kultur- und Popwissenschaften, den Journalismus und seiner digitalen Surrogate.) Darin steckt ein, um es doch etwas aufgeblasen zu sagen, Theorie-PraxisProblem in einer neuen Konstellation, nämlich Konstellation von Poptheorie und Pop(?)praxis selbst; eine Konstellation, die sich ungefähr um 2001 bzw. um die so genannte Jahrtausendwende ergeben hat und nicht nur durch das diffuse Spektakel von „Alles Pop, Ende Pop“33 charakterisiert ist, sondern ebenso durch den akademischen Boom akademischer un- oder antitheoretischer Poptheorie, schließlich aber auch: Umordnung und Unordnung von Moderne und Postmoderne wie die dazugehörige akademische Verschlagwortung („Metamoderne“ van den Akker & Vermeulen),34 sowie Neoliberalismus, der keiner ist35 / (soziales) Leben „nach dem Spätkapitalismus“36 etc. etc. etc.

32 Adorno: Negative Dialektik, in: GS Bd. 6, S. 16. 33 R. B.: Alles Pop, Ende Pop, in: Fabrikzeitung Nr. 255 – Pop am Ende?, Oktober 2009. – Online: web-beta.archive.org/web/20160809220019/beatpunk.org/popkritik/allespop-ende-pop 34 Vgl. Robin van den Akker & Timotheus Vermeulen: Anmerkungen zur Metamoderne, Hamburg 2015, S. 21: „Wenn die moderne Perspektive auf Idealismus und Ideale (vereinfacht gesagt) tatsächlich als fanatisch und / oder naiv beschrieben werden kann, die postmoderne Mentalität dagegen als gleichgültig und / oder skeptisch, dann kann die Haltung der gegenwärtigen Generation – im Kern ist es nämlich nichts anderes als eine an Generationen gebundene Haltung – als eine Art informierte Naivität oder pragmatischer Idealismus verstanden werden.“

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Darüber spannen sich die Diskurse. So etwa auch ein Diskurs, bei dem es irgendwie um „deutschen Gangsta-Rap“ geht; ein (Meta-, Epi-) Diskurs, der sich – wie üblich – mit anderen Diskursen überlagert, kreuzt, quert, widerstreitet: Der Gangsta-Rap-Diskurs ist nicht nur ein Diskurs über Hurensöhne und Fotzen, sondern zugleich auch ein Diskurs über Alltagsdiskurs, ein Forschungsdiskurs, ein medialer Diskurs, ein Theorie-Placebo-Diskurs, ein Diskurs der Macht (Souveränität, Disziplin, Kontrolle), ein Diskurs der Ohnmacht, ein Diskurs der Gewalt, ein Diskurs über Ohnmacht, sowieso ein Diskurs über Depression; ein soziales Verhältnis. – Es ist, in diesem Fall, ein „deutsches“ soziales Verhältnis: Wenn eben vom „deutschen“ Gangsta-Rap die Rede ist, dann bezeichnet „deutsch“ die spezifische Komplexion des Diskurses – und nicht bloß die signifikante Verwendung der deutschen Sprache; d. i.: dann bezeichnet „deutsch“ mit anderen Worten das soziale Verhältnis als Ideologie (notwendig falsches Bewusstsein). Als Ideologie wiederum ist der Gangsta-Rap-Diskurs („deutsch“) vor allem Vermittlungsdiskurs. Ein Vermittlungsdiskurs, bei dem es eigentlich nichts mehr zu vermitteln gibt. Die Kulturindustrie hat innerhalb und gerahmt von der verwalteten Welt alles vergleichgültigt. Am Ende sitzt man dann doch mit Xavier Naidoo und Andreas Gabalier zusammen und singt deren Songs. Und nun? Einfach mal die Fresse halten und Sookee hören. Das mache ich jetzt.

35 Vgl. JustIn Monday: Fehl(er)diagnose. Der Begriff Neoliberalismus ist zur Kennzeichnung der herrschenden Konstellation des Kapitalismus ungeeignet, in: konkret Nr. 4, 2017, S. 34 ff. 36 Vgl. R. B.: Das postmoderne Wissen nach der Postmoderne, in: Carsten Bünger, Olaf Sanders, Sabrina Schenk (Hg.): Bildung und Politik nach dem Spätkapitalismus, Hamburg 2017 (im Erscheinen).

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L ITERATUR Adorno, Theodor W. (1997): Zur gesellschaftlichen Lage der Musik. In: Tiedemann, Rolf (Hg.): Gesammelte Schriften, Bd. 18. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. S. 729–777. Adorno, Theodor W. (1997): Negative Dialektik. In: Tiedemann, Rolf (Hg.): Gesammelte Schriften, Bd. 6. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. S. 9–412. Baudrillard, Jean (1978): Kool Killer oder Der Aufstand der Zeichen Berlin: Merve. Behrens, Roger (1998): Ton Klang Gewalt. Texte zu Musik, Gesellschaft und Subkultur. Mainz: Ventil. Behrens, Roger (2009): Alles Pop, Ende Pop. In: Fabrikzeitung Nr. 255 – Pop am Ende?, Oktober 2009. – Online: web-beta.archive.org/web/2016080922 0019/beatpunk.org/popkritik/alles-pop-ende-pop. Behrens, Roger (2017, im Erscheinen): Das postmoderne Wissen nach der Postmoderne. In: Bünger, Carsten; Sanders, Olaf; Schenk, Sabrina (Hg.): Bildung und Politik nach dem Spätkapitalismus. Hamburg: Argument. Berg, Sibylle (2015): Brust rein! (S.P.O.N., 11. Juli 2015). –www.spiegel.de/ kultur/gesellschaft/jennifer-rostocks-busenskandal-lasst-die-moepse-drinnenkolumne-a-1042861.html. Bezzel, Chris et al. (1975): Das Unvermögen der Realität. Beiträge zu einer anderen materialistischen Ästhetik. Berlin: Wagenbach. Brückner, Peter (1982): Überlegungen zu Geschichte und „Posthistoire“. Veränderungen im Begriff der Revolution. In: Psychologie und Geschichte. Berlin: Wagenbach. S. 259–267. Brückner, Peter (1983): Selbstbefreiung. Provokation und soziale Bewegungen. Berlin: Wagenbach. Dahmer, Helmut (2013): Restitution einer Kritischen Theorie. In: Libido und Gesellschaft. Studien über Freud und die Freudsche Linke. Münster: Westfälisches Dampfboot. S. 584–599. Diederichsen, Diedrich (1983): Die semiotische Katastrophe. In: Ders.; Hebdige, Dick; Marx, Olaph Dante: Schocker – Stile und Moden der Subkultur. Reinbek: Rowohlt. S. 166–176. Diederichsen, Diedrich (1999): Ist was Pop? In: Ders.: Der lange Weg nach Mitte. Der Sound und die Stadt. Köln: Kiepenheuer & Witsch. S. 272–286. Dufresne, David (1997): Rap Revolution. Geschichte ‒ Gruppen ‒ Bewegung. Zürich und Mainz: Atlantis. Fisher, Mark (2013): Kapitalistischer Realismus ohne Alternative? Eine Flugschrift. Hamburg: VSA.

K ONTERREVOLUTION

UND

R EVOLTE

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Gottschalch, Wilfried (1979): Vatermutterkind. Deutsches Familienleben zwischen Kulturromantik und sozialer Revolution. Berlin: Wagenbach. Habermas, Jürgen (1973): Legitimationsprobleme des Spätkapitalismus. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Hall, Stuart et al. (1978): Policing the Crisis. Mugging, the State, and Law and Order. London/Basingstoke: Palgrave. Hermand, Jost (2007): Die Utopie des Fortschritts. 12 Versuche, Weimar/Wien: Böhlau. Hogh, Philip (2015): Kommunikation und Ausdruck: Sprachphilosophie nach Adorno. Weilerswist: Velbrück. Ice-T (1995): Fuck the Police. In: Kureishi, Hanif; Savage, Jon (Hg.): The Faber Book of Pop. London/New York: Faber & Faber. S. 753–760. Lepenies, Wolf (1970): „Il Mercenario“ – Ästhetik und Gewalt im posthistoire. In: Jürgens, Martin et al.: Ästhetik und Gewalt. Gütersloh: Bertelsmann. S. 40–68. Lorenzer, Alfred (1970): Sprachzerstörung und Rekonstruktion. Vorarbeiten zu einer Metatheorie der Psychoanalyse. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Lyotard, Jean-François (1989): Der Widerstreit. München: Wilhelm Fink. Marx, Karl; Engels, Friedrich (1969): Die deutsche Ideologie. MEW Bd. 3. Berlin: Dietz. S. 5–530. Marcuse, Herbert (2004): Der eindimensionale Mensch. Schriften Bd. 7. Springe: zu Klampen. Monday, JustIn (2017): Fehl(er)diagnose. Der Begriff Neoliberalismus ist zur Kennzeichnung der herrschenden Konstellation des Kapitalismus ungeeignet. In: konkret Nr. 4. S. 34–36. Raspe, Jan (1973): Zur Sozialisation proletarischer Kinder. Frankfurt a.M.: Roter Stern. Reynolds, Simon (2012): Retromania: Warum Pop nicht von seiner Vergangenheit lassen kann. Mainz: Ventil. Schulz von Thun, Friedemann (1989): Miteinander reden 2. Stile, Werte und Persönlichkeitsentwicklung. Differentielle Psychologie der Kommunikation. Reinbek: Rowohlt. Shank, Barry: Fears of the White Unconscious: Music, Race, and Identification in the censorship of „Cop Killer“. – web.archive.org/web/20090208223200/ http://www.emayzine.com/lectures/rap.htm Steinert, Heinz (2000): Kulturindustrie in der Architektur: E-U-Kultur und die Autonomie des Publikums. In: Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 10. Lüneburg. S. 73–87.

318 | ROGER B EHRENS

Theweleit, Klaus (1980): Männerphantasien, Band 2: Männerkörper – Zur Psychoanalyse des weißen Terrors. Reinbek: Rowohlt. Vermeulen, Timotheus; van den Akker, Robin (2015): Anmerkungen zur Metamoderne. Hamburg: Textem. Werckmeister, Otto Karl (1989): Zitadellenkultur. Die schöne Kunst des Untergangs in der Kultur der achtziger Jahre. München: Carl Hanser. Zintner, Frank (Regie) (2016): Auf die Fresse! Straßen-Rap in Deutschland. BRD.

Autorinnen und Autoren

Behrens, Roger, Autor, Sozialphilosoph und Erziehungswissenschaftler, lebt in Hamburg. Bendel, Alexander ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin sowie am Lehrstuhl für Soziologie/Soziale Ungleichheit und Geschlecht an der Ruhr-Universität Bochum. Bifulco, Tina studierte an der Universität Köln am Institut für vergleichende Bildungsforschung und Sozialwissenschaften und widmete sich im Rahmen ihrer schriftlichen Staatsexamensarbeit den Themen Feminismus und HipHop mit speziellem Fokus auf weiblichen Straßen-Rap. Böder, Tim ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Erziehungswissenschaft an der Universität Duisburg-Essen, war Mitglied des JuBri-Forschungsverbunds zu Techniken jugendlicher Bricolage und forscht zu Formen der politischen Positionierung in Szenen. Burkhart, Benjamin studierte Musikwissenschaft an der Julius-MaximiliansUniversität Würzburg sowie an der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar. Er ist derzeit Doktorand in Weimar und Promotionsstipendiat der Ernst-AbbeStiftung. Dietrich, Marc ist Senior Scientist am Institut für Medien- und Kommunikationswissenschaft der Universität Klagenfurt. Er hat mehrere Bücher zu HipHop veröffentlicht. Weitere Forschungs- und Interessenschwerpunkte: Szeneforschung, Rassismus, (Bewegt)Bildanalyse, GTM, Cultural Studies, Kultursoziologie.

320 | DEUTSCHER G ANGSTA-R AP II

Fröhlich, Gerrit studierte Soziologie, Philosophie und Germanistik an der Universität Trier und ist dort als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Konsum- und Kommunikationsforschung beschäftigt. Er lehrt und forscht zu den Gebieten Medien- und Kultursoziologie mit den Schwerpunkten Populärkultur, Mediengeschichte, Selbsttechnologien und Selbstthematisierung. Güler Saied, Ayla ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in dem Projekt Zukunftsstrategie Lehrer*innenbildung an der Universität zu Köln. Sie ist Autorin von „Rap in Deutschland. Musik als Interaktionsmedium zwischen Partykultur und urbanen Anerkennungskämpfen“ (Bielefeld 2013). Ihre Schwerpunkte in Lehre und Forschung sind: Migrations- und Stadtsoziologie, Cultural Studies und HipHop. Güngör, Murat ist Lehrer für Deutsch, Ethik und Gesellschaftslehre an der Gesamtschule Carlo-Mierendorff in Frankfurt am Main. Mitbegründer des antirassistischen Netzwerkes Kanak Attak und ehemaliger Rapper. Mitautor des Buches „Fear of a Kanak Planet“ (Höfen 2002), hält Vorträge zu den Schwerpunkten Rap, Migration und Rassismus. Hecken, Thomas ist seit 2012 Professor auf Zeit für Neuere deutsche Literatur an der Universität Siegen. Er ist Herausgeber und Redakteur der Zeitschrift „Pop. Kultur und Kritik“ sowie der Website pop-zeitschrift.de. Zu seinen Buchpublikationen im Bereich der Popkultur zählt der Band „Pop. Geschichte eines Konzepts 1955-2009“. Karabulut, Aylin, Masterstudentin im Lehramt an der Universität DuisburgEssen für die Fächer Germanistik und Sozialwissenschaften für Gymnasien und Gesamtschulen und wissenschaftliche Hilfskraft der AG Migrations- und Ungleichheitsforschung an der dortigen Fakultät für Bildungswissenschaften. Loh, Hannes (*1971) studierte Germanistik und Geschichte in Köln. Er arbeitet als Lehrer und systemischer Berater am Geschwister-Scholl-Gymnasium in Pulheim. Als Autor und Journalist beschäftigt er sich mit den gesellschaftlichen und historischen Entwicklungen der globalen HipHop-Kultur. Lütten, John (M.A.) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsprojekt „Das Gesellschaftsbild des Prekariats“ am Arbeitsbereich Arbeits-, Industrieund Wirtschaftssoziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Gegenwärtige Forschungs- und Interessengebiete: Arbeitssoziologie, Prekarität und Prekari-

A UTORINNEN

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sierung, Lohnabhängigenbewusstseinsforschung, Klassenanalyse und empirische Sozialforschung. Reuter, Julia ist Professorin für Erziehungs- und Kultursoziologie an der Universität zu Köln, hat in der Vergangenheit u.a. zu unterschiedlichen Themen im Bereich der Allgemeinen Kultursoziologie, der Migrationssoziologie und Geschlechterforschung gearbeitet. Zahlreiche Publikationen zu Grundlagen kultureller Praxis, u.a. Herausgabe von „Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis“ (Bielefeld 2003) sowie Schlüsselwerke der Migrationsforschung (gem. hg. mit Paul Mecheril, Wiesbaden 2016). Röder, Daniel studierte Soziologie (Diplom) an der Universität Trier und ist dort als wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Koordinationsstelle E-Learning tätig. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten und wissenschaftlichen Interessen zählen digitale Lehr-/Lernformen, E-Assessment, Social-Media, Konsum-, Marken-, Medien- und Jugendsoziologie. Röper, Nils ist nach Abschlüssen an der Universität Passau und New York University Doktorand an der University of Oxford. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Politische Ökonomie, wo er sich vor allem mit der diskursiven Dimension der Liberalisierung von Finanz- und Wohlfahrtssystemen befasst. Außerdem ist er als Dozent und Journalist tätig. Seeliger, Martin ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Europa Universität Flensburg. Arbeitsschwerpunkte: Politische Soziologie, Integrationsforschung und Soziale Ungleichheit.. Von Stetten, Moritz ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Kultursoziologie der Universität Bonn und promoviert an der a.r.t.e.s. Graduiertenschule der Universität zu Köln zum Erbe der Luhmann’schen Systemtheorie. Seine Forschung bewegt sich an den Schnittstellen zwischen großer Gesellschaftstheorie und subkultureller Fragmentierung. Wysocki, Jan studierte Religionswissenschaft und Soziologie an den Universitäten Heidelberg und Zürich. In seiner laufenden Dissertation und in mehreren bereits veröffentlichten Artikeln widmet er sich der Transformation von Religion in digitalen Spielen. Zu seinen weiteren wissenschaftlichen Interessen zählt u.a. die Rolle von Religion in der gegenwärtigen Populärkultur ‒ beispielsweise als Motiv im HipHop.

Kulturwissenschaft María do Mar Castro Varela, Paul Mecheril (Hg.)

Die Dämonisierung der Anderen Rassismuskritik der Gegenwart 2016, 208 S., kart. 17,99 € (DE), 978-3-8376-3638-3 E-Book: PDF: 15,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3638-7 EPUB: 15,99 € (DE), ISBN EPUB:978-3-7328-3638-3

Fatima El-Tayeb

Undeutsch Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft 2016, 256 S., kart. 19,99 € (DE), 978-3-8376-3074-9 E-Book: PDF: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3074-3

Arianna Ferrari, Klaus Petrus (Hg.)

Lexikon der Mensch-Tier-Beziehungen 2015, 482 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-2232-4 E-Book: PDF: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2232-8

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Kulturwissenschaft Andreas Langenohl, Ralph J. Poole, Manfred Weinberg (Hg.)

Transkulturalität Klassische Texte 2015, 328 S., kart. 24,99 € (DE), 978-3-8376-1709-2

Thomas Hecken, Moritz Baßler, Robin Curtis, Heinz Drügh, Mascha Jacobs, Nicolas Pethes, Katja Sabisch (Hg.)

POP Kultur & Kritik (Jg. 6, 1/2017) März 2017, 180 S., kart., zahlr. Abb. 16,80 € (DE), 978-3-8376-3806-6 E-Book: PDF: 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-3806-0

Dorothee Kimmich, Schamma Schahadat (Hg.)

Diskriminierungen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2016 2016, 160 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-3578-2 E-Book: PDF: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3578-6

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