Deutsche Thukydidesübersetzungen vom 18. bis zum 20. Jahrhundert 9783110471410, 9783110468625

This volume traces the history of German translations of Thucydides from the 18th to the 20th century and examines the s

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German Pages 266 Year 2016

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Table of contents :
Vorwort
Inhalt
1 Einleitung
2 Ausgangstextanalyse
2.1 Der Anfang des Geschichtswerks (1, 1)
2.2 Epitaphios (2, 37, 1)
2.3 Pathologie des Krieges (3, 82, 4 f.)
2.4 Melierdialog (5, 89)
3 Zwischen Paraphrase und assimilierendem Übersetzen: Deutsche Thukydidesübersetzungen im 18. Jahrhundert
3.1 Anonymus: Geschichte des peloponesischen Krieges (1757)
3.2 Johann David Heilmann: Des Thucydides acht Bücher der Geschichte (1760)
3.3 Johann Jacob Reiske: Deutsche Uebersetzung der Reden aus dem Thukydides (1761)
4 Der Paradigmenwechsel in der Übersetzungskultur um 1800 und seine Folgen für die Übersetzung des Thukydides
4.1 Maximilian Jacobi: Thucydides (1804–1808)
4.2 Gabriel Gottfried Bredow: Berichtigungen und Nachträge zu Heilmanns deutscher Uebersetzung (1808)
5 Treue, Verfremdung und übersetzerischer »Mittelweg«: Deutsche Thukydidesübersetzungen nach Schleiermacher und Humboldt
5.1 Christian Nathanael Osiander: Thucydides, Geschichte des Peloponnesischen Kriegs (1826–1829)
5.2 Heinrich Wilhelm Friedrich Klein: Thukydides, Geschichte des Peloponnesischen Krieges (1828)
5.3 Hieronymus Müller: Thukydides’s Geschichte des peloponnesischen Krieges (1828–1830)
6 Deutsche Thukydidesübersetzungen um die Mitte des 19. Jahrhunderts
6.1 Gottfried Böhme: Thukydides, Geschichte des peloponnesischen Krieges (1852/1853)
6.2 Johann Christian Friedrich Campe: Des Thukydides Geschichte (1856/1857)
6.3 Adolf Wahrmund: Thukydides, Geschichte des Peloponnesischen Kriegs (1859–1864)
7 »Den Buchstaben verachten und dem Geiste folgen«: Deutsche Thukydidesübersetzungen am Ende des Kaiserreichs
7.1 August Horneffer: Thukydides, Der Peloponnesische Krieg (1912)
7.2 Theodor Braun: Thukydides, Geschichte des Peloponnesischen Krieges (1917)
8 Deutsche Thukydidesübersetzungen im Umfeld des »Dritten Humanismus«
8.1 Heinrich Weinstock: Thukydides, Der große Krieg (1938)
8.2 Otto Regenbogen: Thukydides, Politische Reden (1949)
9 Deutsche Thukydidesübersetzungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
9.1 Josef Feix: Thukydides, Der Peloponnesische Krieg (1959)
9.2 Georg Peter Landmann: Thukydides, Geschichte des Peloponnesischen Krieges (1960)
9.3 Helmuth Vretska: Thukydides, Der Peloponnesische Krieg (1966)
10 Zusammenfassung und Fazit
Bibliographie
I. Abkürzungsverzeichnis
II. Textausgaben und Kommentare
III. Deutschsprachige Thukydidesübersetzungen
IV. Übersetzungen anderer Autoren
V. Sonstige Literatur
Stellenregister
Personenregister
Sachregister
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Deutsche Thukydidesübersetzungen vom 18. bis zum 20. Jahrhundert
 9783110471410, 9783110468625

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Johann Martin Thesz Deutsche Thukydidesübersetzungen vom 18. bis zum 20. Jahrhundert

Transformationen der Antike Herausgegeben von Hartmut Böhme, Horst Bredekamp, Johannes Helmrath, Christoph Markschies, Ernst Osterkamp, Dominik Perler, Ulrich Schmitzer

Wissenschaftlicher Beirat: Frank Fehrenbach, Niklaus Largier, Martin Mulsow, Wolfgang Proß, Ernst A. Schmidt, Jürgen Paul Schwindt

Band 41

De Gruyter

Johann Martin Thesz

Deutsche Thukydidesübersetzungen vom 18. bis zum 20. Jahrhundert

De Gruyter

Dieser Band wurde gedruckt mit Mitteln, die die Deutsche Forschungsgemeinschaft dem Sonderforschungsbereich 644 »Transformationen der Antike« zur Verfügung gestellt hat.

ISBN 978-3-11-046862-5 e-ISBN (PDF) 978-3-11-047141-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-047065-9 ISSN 1864-5208 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandgestaltung: Martin Zech, Bremen Logo »Transformationen der Antike«: Karsten Asshauer – SEQUENZ Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Vorwort Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um die überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Wintersemester 2013/14 von der Philosophischen Fakultät II der Humboldt-Universität zu Berlin angenommen wurde. Die Arbeit entstand im Rahmen des Teilprojekts »Übersetzung der Antike« innerhalb des Sonderforschungsbereiches »Transformationen der Antike« auf Anregung von Prof. Dr. Wolfgang Rösler, dem ich für seine großzügige Unterstützung sehr zu Dank verpflichtet bin. Er hat die Entstehung der Arbeit stets mit Interesse verfolgt und mir jede erdenkliche Hilfe zuteil werden lassen. Danken möchte ich außerdem den Mitgliedern des Teilprojekts, die mir in verschiedenen Phasen der Arbeit wertvolle Hilfestellung gewährt und mich durch Kritik und Anregungen im Rahmen des begleitenden Projektkolloquiums gefördert haben. Genannt seien vor allem Dr. Roland Baumgarten, Dr. Enrica Fantino und Dr. Thomas Poiss. Besonderer Dank gilt Dr. Josefine Kitzbichler, die mir auch wertvolle Hilfen bei der Erstellung des Druckmanuskripts gegeben hat. Darüber hinaus danke ich Prof. Dr. Markus Asper für die Übernahme des Zweitgutachtens und für wertvolle Hinweise zur Gestaltung der Endfassung des Buches. Für die Aufnahme des Bandes in die Reihe »Transformationen der Antike« bin ich schließlich Prof. Dr. Ulrich Schmitzer als dem zuständigen Herausgeber zu Dank verpflichtet. Berlin, Oktober 2016

Johann Martin Thesz

Inhalt Vorwort .......................................................................................................V 1

Einleitung .....................................................................................................1

2 2.1 2.2 2.3 2.4

Ausgangstextanalyse ....................................................................................9 Der Anfang des Geschichtswerks (1, 1).......................................................9 Epitaphios (2, 37, 1)...................................................................................13 Pathologie des Krieges (3, 82, 4 f.)............................................................16 Melierdialog (5, 89) ...................................................................................18

3

Zwischen Paraphrase und assimilierendem Übersetzen: Deutsche Thukydidesübersetzungen im 18. Jahrhundert................... ....... 21 Anonymus: Geschichte des peloponesischen Krieges (1757) .......................................33 Johann David Heilmann: Des Thucydides acht Bücher der Geschichte (1760) .................................43 Johann Jacob Reiske: Deutsche Uebersetzung der Reden aus dem Thukydides (1761)................53

3.1 3.2 3.3 4 4.1 4.2

5 5.1 5.2 5.3

Der Paradigmenwechsel in der Übersetzungskultur um 1800 und seine Folgen für die Übersetzung des Thukydides..............................67 Maximilian Jacobi: Thucydides (1804–1808)............................................................................70 Gabriel Gottfried Bredow: Berichtigungen und Nachträge zu Heilmanns deutscher Uebersetzung (1808)...........................................78 Treue, Verfremdung und übersetzerischer »Mittelweg«: Deutsche Thukydidesübersetzungen nach Schleiermacher und Humboldt ..........................................................89 Christian Nathanael Osiander: Thucydides, Geschichte des Peloponnesischen Kriegs (1826–1829).........93 Heinrich Wilhelm Friedrich Klein: Thukydides, Geschichte des Peloponnesischen Krieges (1828).................99 Hieronymus Müller: Thukydides’s Geschichte des peloponnesischen Krieges (1828–1830) ...105

VIII 6 6.1 6.2 6.3 7 7.1 7.2 8 8.1 8.2 9 9.1 9.2 9.3 10

Inhalt

Deutsche Thukydidesübersetzungen um die Mitte des 19. Jahrhunderts ...........................................................115 Gottfried Böhme: Thukydides, Geschichte des peloponnesischen Krieges (1852/1853) ......119 Johann Christian Friedrich Campe: Des Thukydides Geschichte (1856/1857).................................................125 Adolf Wahrmund: Thukydides, Geschichte des Peloponnesischen Kriegs (1859–1864).......132 »Den Buchstaben verachten und dem Geiste folgen«: Deutsche Thukydidesübersetzungen am Ende des Kaiserreichs..............141 August Horneffer: Thukydides, Der Peloponnesische Krieg (1912)......................................146 Theodor Braun: Thukydides, Geschichte des Peloponnesischen Krieges (1917)...............158 Deutsche Thukydidesübersetzungen im Umfeld des »Dritten Humanismus«....................................................169 Heinrich Weinstock: Thukydides, Der große Krieg (1938) .......................................................171 Otto Regenbogen: Thukydides, Politische Reden (1949).......................................................185 Deutsche Thukydidesübersetzungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ..............................................199 Josef Feix: Thukydides, Der Peloponnesische Krieg (1959)......................................201 Georg Peter Landmann: Thukydides, Geschichte des Peloponnesischen Krieges (1960)...............208 Helmuth Vretska: Thukydides, Der Peloponnesische Krieg (1966)......................................216 Zusammenfassung und Fazit....................................................................225 Bibliographie............................................................................................231 I. Abkürzungsverzeichnis....................................................................231 II. Textausgaben und Kommentare.......................................................231 III. Deutschsprachige Thukydidesübersetzungen ..................................232 IV. Übersetzungen anderer Autoren.......................................................234 V. Sonstige Literatur.............................................................................236 Stellenregister...........................................................................................249 Personenregister .......................................................................................251 Sachregister..................................................................................... .........255

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Einleitung

Der Stil der Unsterblichkeit. – Thukydides sowohl wie Tacitus, – beide haben beim Ausarbeiten ihrer Werke an eine unsterbliche Dauer derselben gedacht: diess würde, wenn man es sonst nicht wüsste, schon aus ihrem Stile zu errathen sein. Der Eine glaubte seinen Gedanken durch Einsalzen, der Andere durch Einkochen Dauerhaftigkeit zu geben; und Beide, scheint es, haben sich nicht verrechnet. Nietzsche, Der Wanderer und sein Schatten1

Im fünften und vierten vorchristlichen Jahrhundert vollzieht sich in Griechenland ein tiefgreifender Wandel von einer zunächst von der Mündlichkeit geprägten Kultur zu einer Lesekultur.2 Neben dem kollektiven Zuhören beim Vortrag von Texten als primärer Rezeptionsform, die bei bestimmten, performativen Textsorten wie dramatischer Dichtung natürlich Bestand hat, gewinnt der Akt des einsamen Lesens zunehmend an Bedeutung. Dieser Prozess erreicht im letzten Drittel des fünften Jahrhunderts einen vorläufigen Höhepunkt, indem nun schriftliche Prosawerke von großem Umfang entstehen, die sich nicht mehr an den Dimensionen eines mündlichen Logos orientieren, wie dies etwa für vorsokratische Prosatraktate anzusetzen ist.3 Doch betraf die Veränderung nicht allein die quantitative Seite. Welche Möglichkeiten die neuen medialen Gegebenheiten auch in darstellerischer Hinsicht boten, wird besonders am Geschichtswerk des Thukydides deutlich, der eine in ihrer analytischen Schärfe und gedanklichen Durchdringung vorher nicht denkbare Form der Wiedergabe von historischen Ereignissen entwickelte. Dass er den Umbruch zur Lesekultur und die damit verbundene Veränderung der mentalen Disposition des intendierten Rezipienten als maßgebend für die Konzeption seines Werkes betrachtete, geht aus folgenden Äußerungen im pro_____________ 1

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Aph. 144, zitiert nach: KSA, Bd. 2, 613. Schon Nietzsche stellt fest, dass sowohl Thukydides als auch Tacitus die von ihnen erstrebte Unsterblichkeit ihrer Geschichtswerke durch stilistische Strategien unterstützt haben. Leider bleibt die Abgrenzung beider voneinander, wie Nietzsche sie vornehmen wollte, dunkel, weniger aufgrund der Metaphorik als solcher, sondern weil in der Nietzsche-Überlieferung an dieser Stelle auch die umgekehrte Reihenfolge »der Eine durch Einkochen, der Andere durch Einsalzen« begegnet (siehe KSA, Bd. 14, 193) und somit beide Möglichkeiten der Zuordnung in Betracht kommen. Vgl. hierzu die Überblicksdarstellung bei Rösler (2009). Ausführlichere Behandlungen einzelner Aspekte dieser Entwicklung finden sich bei Yunis (2003a). Zur Entstehung einer Buchkultur in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts vgl. auch Johne (1991). Vgl. Rösler (2002), 79 f.

2

Einleitung

grammatischen »Methodenkapitel« am Anfang des Geschichtswerkes hervor (1, 22, 4): καὶ ἐς µὲν ἀκρόασιν ἴσως τὸ µὴ µυθῶδες αὐτῶν ἀτερπέστερον φανεῖται· ὅσοι δὲ βουλήσονται τῶν τε γενοµένων τὸ σαφὲς σκοπεῖν καὶ τῶν µελλόντων ποτὲ αὖθις κατὰ τὸ ἀνθρώπινον τοιούτων καὶ παραπλησίων ἔσεσθαι, ὠφέλιµα κρίνειν αὐτὰ ἀρκούντως ἕξει. κτῆµά τε ἐς αἰεὶ µᾶλλον ἢ ἀγώνισµα ἐς τὸ παραχρῆµα ἀκούειν ξύγκειται.

Thukydides grenzt hier die von ihm verfolgte Zielsetzung von der traditionellen mündlichen Vermittlung von Erzählungen über die Vergangenheit ab. Während es dort, wie er auch bereits zuvor (1, 21, 1) ausgeführt hat, vor allem darum gehe, durch Übertreibung und freie Erfindung das Publikum zu unterhalten, sei der nüchterne Charakter seiner Darstellung (τὸ µὴ µυθῶδες) dafür ungeeignet. Alle jedoch, so fährt er fort, die künftig die Absicht haben, »die klare Struktur des Geschehenen und des Künftigen, das gemäß der menschlichen Natur wieder einmal so oder ähnlich sein wird, zu analysieren« – wenn diese seine Darstellung als nützlich erachteten, sei sein Ziel erreicht. Und dann der die Ausgrenzung seines Werkes aus der traditionellen Form mündlicher Darbietung unmissverständlich postulierende Satz: »Als Besitz für alle Zeit mehr denn als Wettbewerbsstück für das Zuhören in der unmittelbaren Gegenwart ist es verfasst.« Der kritisch mitdenkende Leser4: das ist der Rezipient, den sich Thukydides für sein Geschichtswerk vorstellt.5 Dieser inhaltlichen Konzeption entspricht die stilistische Form, die sich vor allem durch ihre Distanz zum Alltäglichen und ihren ausgeprägten Kunstcharakter auszeichnet.6 Die aufgrund ihrer Unregelmäßigkeit oftmals undurchsichtige Satzstruktur sowie die gedankliche Dichte dürften ein glattes, unmittelbares Verstehen wohl auch bereits für muttersprachliche Leser des fünften Jahrhunderts v. Chr. an nicht wenigen Stellen behindert haben. Dabei lassen sich die sprachlichen Besonderheiten nur teilweise aus dem Bemühen um einen dem Inhalt möglichst adäquaten sprachlichen Ausdruck erklären; an vielen Stellen erschwert _____________ 4

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Mit anderen Worten: ein Leser, der κρίνει. Bezeichnenderweise verwendet Thukydides im gerade gegebenen Zitat das Verb κρ νειν. Unbegreiflich angesichts der klaren Worte des Thukydides ist, dass in der Forschung trotzdem über Rezitationen etwa bei Symposien oder auf panhellenischen Spielen spekuliert wird, die er ebenfalls im Sinn gehabt haben könnte (Hornblower [1996], 26 f. und [2008], 31). Die wissenschaftliche Diskussion über die medialen Bedingungen der Kultur des archaischen Griechenland und den Wandel im 5. und 4. Jahrhundert, die im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts in Gang kam (dazu Rösler [2001], 244–246), berücksichtigte, mehr am Rande, auch die Historiographie. Während man sich dabei Herodot noch vielfach als mündlichen, aus seinem Werk vortragenden Erzähler vorstellt (dagegen Rösler [2002]), gilt Thukydides in der Regel als Repräsentant einer konzeptionellen Schriftlichkeit; vgl. etwa Rösler (1985), 20–23; Thomas (1992), 104; Yaginuma (1995); Crane (1996), 1–26; Yunis (2003b), 198 f.; Bakker (2006); Edmunds (2009). Hierzu finden sich grundlegende Ausführungen bereits bei Norden (1915), 95–101 und Schmid (1948), 181–204. Davor schon hatte Nietzsche auf den Zusammenhang zwischen dem gleichsam konservierenden Effekt des Thukydideischen Stils und einer »unsterblichen Dauer« hingewiesen, die der Autor für sein Werk voraussah (siehe das Motto am Beginn dieser Einleitung).

Einleitung

3

Thukydides auch ohne diesen Grund in offenbar prinzipieller Absicht das Verständnis.7 Ein zentrales Stilprinzip des Thukydides ist die Variation bzw. Ungleichmäßigkeit,8 die sich insbesondere in der Vermeidung von Wortwiederholungen und in den häufigen Konstruktionswechseln manifestiert. Zuweilen setzt sich Thukydides in seinem »Drang zur Inkonzinnität«9 sogar über die Grenzen grammatikalischer Korrektheit hinweg und konstruiert bewusst Inkongruenzen.10 Auch in der Wortstellung weicht er vom gewöhnlichen Sprachgebrauch häufig ab, indem er in teilweise kühnen Hyperbata Zusammengehöriges sperrt.11 Diese Vorliebe für Unregelmäßigkeit und Asymmetrie verbindet sich bei Thukydides jedoch mit einer gegenläufigen Tendenz zur Konstruktion von Antithesen und Parallelismen.12 So erscheint auf allgemeinster Ebene die Vermischung einander diametral entgegengesetzter Stilphänomene geradezu als das Charakteristikum seines Stils.13 Bei Thukydides (so fasst es Norden zusammen) [...] steht neben dem Schroffsten und Formlosesten, oft unvermittelt, das Glatteste und Verkünsteltste […]: derselbe Schriftsteller, der sonst mit den Worten bis zur Dunkelheit spart, fügt nicht selten wegen des äußeren antithetischen Satzbaus ein für den Gedanken überflüssiges Satzglied hinzu und maßregelt die Sprache einem äußerlichen Schema zuliebe; derselbe Schriftsteller, der in der Stellung der Worte nicht dem Rhythmus, sondern dem Gedanken zuliebe das Kühnste wagt, zirkelt gelegentlich in

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Vgl. Rösler (1985), 21: »[E]s ist ein verlockender Gedanke, hinter der Sperrigkeit der Thukydideischen Diktion, die zumal an Kernstellen (allgemeine Reflexionen, Reden) die Lektüre nachhaltig retardiert, ein Kalkül, ja geradezu eine Strategie zu vermuten: Der Leser wird zu konzentrierter gedanklicher Mitarbeit gezwungen; zugleich verweigert sich der Text jedem Versuch, ihn – gegen die Prinzipien seines Verfassers – mündlicher Darbietung zu überantworten.« Schon Schmid (1948), 191 hatte festgestellt, dass Thukydides der Verständlichkeit entgegenwirke »durch gesuchte Künstlichkeit, ja Verkünstelung der Stoffgestaltung; er meidet, namentlich wo er dialektisch wird, in den Reden und allgemeinen Betrachtungen, das Naheliegende, Gewöhnliche, Leichtverständliche. Dadurch nötigt er den Leser zum vorsichtigen und langsamen Lesen, wie es sich für den ziemt, der nicht Unterhaltung, sondern stoffliche Belehrung und Anregung zu Verständnis und tieferem Eindringen sucht. So wenig es Thukydides’ Sache war, bei Sammlung des Stoffes mühelos das nächste Beste aufzugreifen, so wenig soll die Lektüre, vielmehr das S t u d i u m seines Werkes ein müheloser Genuß sein. Es wird damit bewußt jener Stil wissenschaftlicher Schwerverständlichkeit angebahnt, der den unberufenen Genießern künstlicher Schaustücke ein ›θύραζε βέβηλοι‹ entgegenhält.« In ähnlichem Sinne Wille (1968), 690 f. und Yunis (2003b), 200 f.: »Rejecting both the epideictic speaker’s pursuit of acclaim and the inclination of docile audiences to enjoy fleeting pleasure [...], the self-professed critical writer proclaims a didactic purpose and requires a critical reader«. Schmid (1948), 192 spricht von einem »Stilideal charaktervoller Unschönheit und Unregelmäßigkeit«. Eine äußerst umfangreiche Sammlung von Beispielen für Variation und für unregelmäßige Satzkonstruktion im Werk des Thukydides bietet Ros (1938). Schmid (1948), 193. Vgl. ebd., 184. Zahlreiche Beispiele bei Ros (1938), 196–223. Vgl. Schmid (1948), 184. Vgl. ebd., 192 f. Vgl. ebd., 201.

4

Einleitung gorgianischer Manier parallele Sätzchen ab mit genauester Responsion der einzelnen Worte.14

Sosehr die Intention des Thukydides, dass sein Werk als κτῆµα ἐς αἰεί, als »Besitz für alle Zeit«, auch für Generationen zukünftiger Leser von Nutzen sein solle, sich über fast zweieinhalb Jahrtausende verwirklicht hat,15 so wird es allerdings inzwischen überwiegend in Form von Übersetzungen rezipiert. Die Frage, inwieweit die jeweils verwendete Übersetzung das Thukydideische Geschichtswerk überhaupt angemessen wiedergibt, dürfte dabei von den meisten Benutzern kaum gestellt werden. Doch zeigt schon ein flüchtiger Vergleich vorliegender Übersetzungen teilweise erhebliche Unterschiede. Dies hängt allgemein mit dem Vorgang des Übersetzens an sich, vor allem jedoch mit den sprachlichen Besonderheiten des Thukydideischen Geschichtswerks zusammen. Durch sie wird jeder Übersetzer vor kaum lösbare Schwierigkeiten gestellt. So beginnt die Geschichte der Thukydidesübersetzung denn auch mit einem Akt der Verweigerung: Als Leonardo Bruni,16 der unter anderem Plutarch, Xenophon, Platon und Aristoteles ins Lateinische übersetzte,17 im Jahr 1407 von Niccolò Niccoli18 gebeten wurde, Gleiches auch für Thukydides zu tun, lehnte er das Ansinnen ab, indem er auf die gewaltige Anstrengung hinwies, die dieses Unternehmen erfordern würde: Non tibi venit in mentem quam multis vigiliis opus sit ad tantum opus conficiendum?19 Erst um die Mitte des 15. Jahrhunderts übertrug dann Lorenzo Valla20 Thukydides im Auftrag des Papstes Nikolaus V. ins Lateinische.21 Weitere Versuche folgten im Laufe des 16. Jahrhunderts.22 Diese lateinischen Übersetzungen bilden den Anfang einer europäischen Übersetzungsgeschichte, die sich danach langsam in nationale Übersetzungstraditionen ausdifferenziert. Die deutschsprachigen Übersetzungen des Thukydides sind Teil dieser Tradition; die früheste von Hieronymus Boner aus dem Jahr 1533 beruht _____________ 14 Norden (1915), 98 f. 15 Zur neuzeitlichen Thukydidesrezeption vgl. Fromentin/Gotteland/Payen (2010), 495–742 und Harloe/Morley (2012); zum Vorbildcharakter des Thukydides für die antike und neuzeitliche Geschichtsschreibung vgl. Meister (2013). 16 Bruni (~1370–1444) war ein Schüler des Manuel Chrysoloras, der ab 1397 in Florenz Griechisch unterrichtete. Bruni legte in der um 1426 entstandenen Schrift De interpretatione recta seine Vorstellungen von richtiger Übersetzung dar. Zu seiner philologischen Leistung vgl. Pfeiffer (1982), 45–48. 17 Zur Übersetzungstätigkeit Brunis vgl. Botley (2004), 5–62. 18 Niccoli (1363–1437) gehörte zum Kreis der Freunde Brunis. Zu seiner philologischen Tätigkeit, die vor allem das Sammeln und Abschreiben von Handschriften umfasste, vgl. Pfeiffer (1982), 48 f. 19 Zitiert nach Botley (2004), 11. 20 Valla (1407–1457) ist in erster Linie wegen seiner Arbeit zur lateinischen Sprache berühmt. Näheres zu seiner philologischen Tätigkeit bei Pfeiffer (1982), 54–60. 21 Zu Vallas Thukydidesübersetzung vgl. Alberti (1957) und Keßler (2001), 13–49. 22 Einen Überblick über die lateinischen Thukydidesübersetzungen des 15. und 16. Jahrhunderts bietet Klee (1990), 166–180.

Einleitung

5

noch auf dem lateinischen Text von Valla.23 Erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erschienen dann deutschsprachige Übersetzungen auf der Grundlage des griechischen Textes. Seitdem wurden in regelmäßigen Abständen immer neue Übersetzungen herausgebracht, die, wie die vorliegende Arbeit zeigen wird, das gesamte Spektrum von sprachmimetischer Nachbildung bis hin zu freier Paraphrase aufweisen. Die Arbeit ist aus dem Teilprojekt »Übersetzung der Antike« des an der Humboldt-Universität Berlin tätigen Sonderforschungsbereichs »Transformationen der Antike« hervorgegangen, das sich von 2005 bis 2016 mit der Übersetzung antiker Literatur ins Deutsche beschäftigt hat und zunächst die Geschichte der Übersetzungstheorie seit 1800, soweit sie im Rahmen der Übersetzung antiker Texte entwickelt wurde, untersuchte, bevor es sich anschließend der Analyse und Kritik von Übersetzungen zuwandte.24 Zentrales Anliegen des Projektes war es dabei, die Wechselbeziehung zwischen Übersetzungstheorie und Übersetzungspraxis zu beleuchten. Im Rahmen der übersetzungsanalytischen Fragestellung wurde anhand von diachronen Übersetzungsstudien ein Bild der deutschsprachigen Übersetzungen antiker Texte seit dem 18. Jahrhundert erarbeitet, wofür zentrale Werke der Dichtung wie der Kunstprosa ausgesucht wurden. In diesen Horizont ordnet sich die folgende Arbeit somit als Teilstudie zur Geschichte der Übersetzung antiker Kunstprosa ein. Für eine solche Zielsetzung ließ sich an bestehende Modelle der Übersetzungsanalyse und Übersetzungskritik, wie sie in der Translationswissenschaft entwickelt worden sind, nur bedingt anknüpfen, da diese stark normativ geprägt sind und die historische Dimension, die für einen diachronen Übersetzungsvergleich konstitutiv ist, meist unberücksichtigt lassen.25 Auch der Übersetzungsdiskurs innerhalb der Klassischen Philologie hat sich in der Vergangenheit meist auf die Formulierung verbindlicher Normen konzentriert. Als anschlussfähig erwies sich demgegenüber der Ansatz des Göttinger Sonderforschungsbereichs »Die literarische Übersetzung« (1985–96), der sich von der »präskriptiv-produktiven Orientierung der Übersetzungswissenschaft« abwandte und stattdessen eine »retrospektiv-deskriptive« Blickrichtung für die Übersetzungsanalyse einforderte.26 Übersetzungsnormen spielen zwar auch in den Göttinger Arbeiten eine zentrale Rolle, doch nicht als Kriterien, anhand deren Übersetzungen zu bewerten wären, sondern als Momente der Übersetzungsgeschichte und somit als Gegenstände historischer Forschung.27 _____________ 23 Zur Übersetzung Boners vgl. Keßler (2001), 50–123. 24 Eine knappe Vorstellung des Teilprojekts sowie eine Übersicht über die bislang aus ihm hervorgegangenen Publikationen finden sich bei Rösler/Schmitzer (2016). 25 Beispiele hierfür sind House (1977) und (1997) und Reiß (1986). 26 Vgl. Frank/Kittel (2004), 4. 27 Vgl. hierzu Toury (1995), 53–69 und Frank/Kittel (2004), 54–59. Zum Problem der Normativität in der Übersetzungsanalyse vgl. außerdem Poiss/Kitzbichler/Fantino (2016), 379–381.

6

Einleitung

Problematisch im Hinblick auf die Analyse antiker Texte ist an dem Göttinger Ansatz jedoch, dass die Frage nach der Adäquatheit von Übersetzungen bewusst ausgeblendet wird. Das Pendel schlägt damit gewissermaßen in die andere Richtung: von apodiktischer Normativität hin zu einem Relativismus, der sich jeglichen Urteils über die Angemessenheit von Übersetzungen enthalten zu müssen glaubt. Dies ist zwar insofern gerechtfertigt, als sich kein Kriterienkatalog aufstellen lässt, der transhistorische Geltung beanspruchen könnte. Doch besteht bei aller Veränderung der Übersetzungsnormen, jedenfalls für den Untersuchungszeitraum der vorliegenden Arbeit, ein Grundkonsens, dass der Übersetzer Inhalt und Sinn des Originals adäquat wiedergeben sollte. Die Übersetzungsanalyse muss also, sofern sie ihrem Gegenstand gerecht werden will, auch der Frage nachgehen, ob bzw. inwieweit dem Übersetzer dies gelungen ist. Im Zentrum der vorliegenden Arbeit stehen sieben Kapitel, die jeweils Querschnitte durch die Geschichte deutschsprachiger Thukydidesübersetzung darstellen. Diese Strukturierung ergab sich aus dem Umstand, dass seit der Mitte des 18. Jahrhunderts jeweils im Abstand von ein bis zwei Generationen mehrere Thukydidesübersetzungen innerhalb weniger Jahre erschienen sind. Die einzelnen Kapitel werden durch Abschnitte eingeleitet, in denen die übersetzungstheoretischen Paradigmen der betreffenden Zeit skizziert werden. Dabei konnte für das 19. und 20. Jahrhundert auf die vorliegenden Arbeiten zur Geschichte der Übersetzungstheorie aus der Anfangsphase der Projektarbeit zurückgegriffen und dementsprechend eine knappere Darstellung gewählt werden.28 Für das dort nicht behandelte 18. Jahrhundert dagegen mussten die einschlägigen Quellen erst aufgearbeitet werden, so dass die Ausführungen hier umfangreicher ausfallen. Den Ausgangspunkt für die Behandlung der einzelnen Übersetzungen bildet jeweils eine knappe Darstellung biographischer Fakten, soweit sie sich ermitteln ließen, zu den Übersetzern. Dabei ist vor allem nach Bildungshintergrund und beruflicher Karriere zu fragen. Ferner soll versucht werden, die äußeren Umstände, unter denen die jeweiligen Übersetzungen entstanden sind, soweit möglich zu rekonstruieren. Hieraus lässt sich u. a. Aufschluss darüber gewinnen, welche Beweggründe für die Übersetzer maßgeblich waren: ob die Übersetzung etwa primär aus finanziellen Motiven oder aber aus sachlichem Interesse entstanden ist. Außerdem sollen ggf. relevante Äußerungen der Übersetzer in flankierenden Texten untersucht werden, aus denen sich ihr Thukydidesbild, insbesondere ihre Bewertung des Thukydideischen Stils, sowie ihre Übersetzungskonzeption eruieren lassen. Im Zentrum der einzelnen Kapitel steht dann die Übersetzungsanalyse, also der sprachlich-stilistische Vergleich von Original und Übersetzung. Dabei werden in der Übersetzungsanalyse vor allem folgende Aspekte in den Blick genommen: 1. Grammatikalische Transformationen. Hier ist zwischen solchen Veränderungen der sprachlichen Struktur zu unterscheiden, die sich aufgrund sprachsystemischer Unterschiede notwendig ergeben, und solchen, die das Resultat einer _____________ 28 Kitzbichler/Lubitz/Mindt (2009a) und (2009b).

Einleitung

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bewussten übersetzerischen Handlung oder auch mangelnder übersetzerischer Kompetenz oder Sorgfalt sind. Bestimmte grammatikalische Transformationen sind durch Übersetzungsnormen mehr oder weniger zwingend vorgegeben; in solchen Fällen ist nicht die Veränderung, sondern die analoge Nachbildung der grammatikalischen Struktur bemerkenswert. 2. Stilistische Transformationen. In diese Kategorie fallen Änderungen des Stilregisters, also die Absenkung oder Anhebung der Stilhöhe, sowie die stilistische Nivellierung, worunter die Eliminierung stilistischer Besonderheiten des Ausgangstextes zugunsten einer sich an der Normalsprache orientierenden Sprachgestalt zu verstehen ist. Die konsequente und radikale Transformation des Stils lässt sich als Transstilisierung bezeichnen.29 Diesen Formen der stilistischen Veränderung stehen Versuche der Nachbildung gegenüber, die sich als stilmimetisch bezeichnen lassen. 3. Transphrastische Transformationen. Hier ist zu untersuchen, ob kohärenzstiftende Merkmale (insbesondere Rekurrenzen) jenseits der Satzebene in der Übersetzung dargestellt werden. 4. Transformationen der Sinnstruktur bzw. des Sinnpotentials. Grundlegend für diese Art der Transformation sind semantische Verschiebungen auf der Wortebene. Darüber hinaus kann die Sinnstruktur aber auch durch sprachlichstilistische Transformationen wie z. B. Veränderung der Wortstellung oder der Satzhierarchie sowie Auslassungen oder Hinzufügungen verändert werden. Außerdem ist nach bewussten Veränderungen der Sinnstruktur zu fragen, wie Disambiguisierung, Verdeutlichung, Explikation und Erläuterung, die allesamt auf ein »besseres« Verständnis abzielen. 5. Kulturelle Transformationen. Die Fremdheit antiker Texte beruht nicht nur auf sprachlichen und literarischen Aspekten, sondern in entscheidendem Maße auch auf der kulturellen Andersartigkeit, die sich in bestimmten kulturspezifischen Praktiken, Institutionen und Gegenständen manifestiert. Diese Fremdheit kann abgemildert oder sogar beseitigt werden, indem an die Stelle antiker Sachverhalte (vermeintliche) Entsprechungen innerhalb der Zielkultur gesetzt werden. Der antike Text wird so der Zielkultur assimiliert und modernisiert. Bei Übersetzungen des Thukydideischen Geschichtswerks sind solche Veränderungen vor allem im Bereich von sozialen, politischen und militärischen Begriffen zu erwarten. Durch detaillierte sprachliche Analyse anhand der genannten Kategorien soll das Profil der jeweils betrachteten Thukydidesübersetzungen herausgearbeitet werden. Ausgehend von der Analyse der einzelnen Übersetzungen sollen die Befunde sodann zueinander in Beziehung gesetzt werden, um im Ganzen die Entwicklung der Übersetzungsverfahren vom 18. bis zum 20. Jahrhundert nachzuzeichnen. Auf diese Weise sollen, soweit möglich, Epochenstile bzw. das Gesamtspektrum der zu einer bestimmten Zeit praktizierten Verfahren ermittelt wer_____________ 29 Der Begriff »Transstilisierung« in Anlehnung an Genette (1993), 309–313, der ihn allerdings nicht mit Bezug auf Übersetzungen verwendet.

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Einleitung

den, was im Gegenzug wiederum zur schärferen Bestimmung des Profils der einzelnen Übersetzungen beiträgt. Darüber hinaus wird nach Kontinuitäten und Brüchen sowie deren Ursachen gefragt. Dabei ist zwischen der Kontinuität bzw. Diskontinuität der Übersetzungsmethoden und der durch Rezeption und Verarbeitung vorgängiger Übersetzungen hergestellten textuellen Kontinuität zwischen den einzelnen Übersetzungen, die sich z. B. in der Übernahme einzelner Formulierungen manifestiert, zu unterscheiden. Es stellt sich hier insbesondere die Frage, ob die einzelnen Übersetzungen selbständig aus dem griechischen Text erarbeitet wurden oder ob mehr oder weniger stark auf frühere Übersetzungen zurückgegriffen wurde. In diesem Zusammenhang werden auch Stellungnahmen der Übersetzer zu früheren Thukydidesübersetzungen berücksichtigt.

2

Ausgangstextanalyse

Für die Übersetzungsanalyse wurden solche Abschnitte – es sind insgesamt vier – ausgewählt, die mehrere der für Thukydides typischen Stilcharakteristika aufweisen und zudem durch ihren Inhalt besondere Bedeutung für die Gesamtkonzeption seines Geschichtswerks besitzen.30 Zugleich soll durch die getroffene Auswahl ein möglichst breites Spektrum an Darstellungsformen berücksichtigt werden. Als Grundlage für die im Verlaufe der vorliegenden Arbeit durchgeführten Übersetzungsanalysen werden die betreffenden Ausschnitte aus dem Thukydideischen Geschichtswerk zunächst sprachlich analysiert. Dabei wird insbesondere auf problematische Stellen näher eingegangen. Neben der sprachlichen Analyse werden auch eigene Übersetzungsvorschläge gemacht, die die griechische Sprachform nachzuzeichnen versuchen und dazu dienen, das Textverständnis zu sichern.31

2.1

Der Anfang des Geschichtswerks (1, 1)

Thukydides beginnt sein Geschichtswerk in einer in Prosaschriften zu seiner Zeit verbreiteten Weise mit der Nennung seines Namens und des Themas: Θουκυδίδης Ἀθηναῖος ξυνέγραψε τὸν πόλεµον τῶν Πελοποννησίων καὶ Ἀθηναίων, ὡς ἐπολέµησαν πρὸς ἀλλήλους, ἀρξάµενος εὐθὺς καθισταµένου καὶ ἐλπίσας µέγαν τε ἔσεσθαι καὶ ἀξιολογώτατον τῶν προγεγενηµένων, τεκµαιρόµενος ὅτι ἀκµάζοντές τε ᾖσαν ἐς αὐτὸν ἀµφότεροι παρασκευῇ τῇ πάσῃ καὶ τὸ ἄλλο Ἑλληνικὸν ὁρῶν ξυνιστάµενον πρὸς ἑκατέρους, τὸ µὲν εὐθύς, τὸ δὲ καὶ διανοούµενον.32

»Thukydides, Athener, hat den Krieg der Peloponnesier und Athener aufgezeichnet (Θουκυδίδης Ἀθηναῖος ξυνέγραψε τὸν πόλεµον τῶν Πελοποννησίων καὶ Ἀθηναίων), wie sie Krieg führten gegeneinander (ὡς ἐπολέµησαν πρὸς ἀλλήλους), nachdem er sogleich begonnen hatte, als er [der Krieg] im Entstehen war, und zwar in der Erwartung, dass er groß sein werde und am meisten eines _____________ 30 Um die Wiederholungen in Grenzen zu halten, die sich beim Vergleich der Übersetzungen identischer Stellen unvermeidlich ergeben, wird überall dort, wo dies ohne Einbußen möglich ist, eine Beschränkung auf drei der vier ausgewählten Textbeispiele vorgenommen. Doch werden in anderen Fällen, sofern erforderlich, auch zusätzliche Stellen herangezogen. 31 Diese Übersetzungsvorschläge erheben keinerlei künstlerischen Anspruch und sollen ausdrücklich nicht als Maßstab für die Bewertung der im Folgenden untersuchten Übersetzungen dienen. 32 Der griechische Text folgt hier und in den folgenden Beispielen der Ausgabe von Jones/Powell (1942).

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Ausgangstextanalyse

Logos würdig im Vergleich zu den vorausgegangenen (ἀρξάµενος εὐθὺς καθισταµένου καὶ ἐλπίσας µέγαν τε ἔσεσθαι καὶ ἀξιολογώτατον τῶν προγεγενηµένων), [dies] aus [folgenden] Anzeichen schließend: zum einen dass beide in der Blüte stehend mit ihrer gesamten Zurüstung in ihn eintraten (τεκµαιρόµενος ὅτι ἀκµάζοντές τε ᾖσαν ἐς αὐτὸν ἀµφότεροι παρασκευῇ τῇ πάσῃ), und zum anderen weil er das übrige Hellenentum sich zu der einen oder anderen der beiden Seiten hinzustellen sah, teils sofort, teils aber auch nur33 beabsichtigend [sc. es zu tun] (καὶ τὸ ἄλλο Ἑλληνικὸν ὁρῶν ξυνιστάµενον πρὸς ἑκατέρους, τὸ µὲν εὐθύς, τὸ δὲ καὶ διανοούµενον).« Die zunächst ganz allgemein gehaltene Bezeichnung des Themas (τὸν πόλεµον) ergänzt Thukydides sogleich um eine Präzisierung, die in dem mit ὡς eingeleiteten vergleichenden Adverbialsatz vorgenommen wird.34 Auf die Angabe des Themas folgt dann die Hervorhebung der besonderen Bedeutung des von ihm behandelten Krieges; allerdings konstatiert Thukydides diese zunächst nicht, sondern stellt sie im ersten Satz lediglich als Erwartung (ἐλπίσας) des »jungen« Thukydides dar. Indem er die gedanklichen Prozesse schildert, die ihn zu jener Zeit, als sich der Krieg erst abzeichnete, dazu veranlassten, sich an die Arbeit zu machen, vermittelt Thukydides dem Leser, dass er die Ereignisse, die er in seinem Werk behandeln wird, von Anfang an kritisch verfolgt und aufgezeichnet hat; das Thukydideische Geschichtswerk bietet dem Leser also keine nachträglich (re)konstruierte Erzählung, sondern eine auf synchron vorgenommener Dokumentation basierende Darstellung des Krieges.35 Die Bedeutung des Peloponnesischen Krieges wird im ersten Satz, wie gesagt, nur prospektiv als Erwartung des »jungen« Thukydides formuliert. Dass sich diese Erwartung bestätigte, erfährt der Leser dann im zweiten Satz: κίνησις γὰρ αὕτη µεγίστη δὴ τοῖς Ἕλλησιν ἐγένετο καὶ µέρει τινὶ τῶν βαρβάρων, ὡς δὲ εἰπεῖν καὶ ἐπὶ πλεῖστον ἀνθρώπων.

Erhebliche Schwierigkeiten bereitet hier das Verständnis der Partikel γάρ, denn der zweite Satz, der aus der Rückschau auf den Krieg formuliert ist und die volle Entfaltung des Konflikts voraussetzt, kann offenkundig nicht als Begründung oder Erklärung für die im ersten Satz beschriebene Entscheidung des »jungen« Thukydides dienen, den sich anbahnenden Konflikt aufzuzeichnen.36 Dieses Prob_____________ 33 Diese Verwendung von καί ist auch sonst belegt, vgl. Denniston (1966), 293. 34 Vgl. Kühner/Gerth (1955), 495. Zur Bezeichnung vgl. ebd., 490. 35 Vgl. Beyer (1971), 42 f.: »Die Tatsache, daß Thukydides als Zeitgenosse das Geschehen des Peloponnesischen Krieges von Anfang an mitverfolgte, garantiert die Zuverlässigkeit seines Berichtes.« 36 Eine scheinbare Lösung dieses Problems bietet Latacz (1980), indem er zu zeigen versucht, dass mit der κίνησις nicht der Peloponnesische Krieg, sondern die im ersten Satz beschriebenen Entwicklungen gemeint sind, die zu dem Krieg hinführten und die Thukydides zu seiner Erwartung hinsichtlich der Größe des Krieges veranlassten. Gegen diese Interpretation spricht jedoch der Zusammenhang. Denn nach der im ersten Satz beschriebenen Erwartung der Größe des Krieges bezieht der Leser die κίνησις ... µεγίστη geradezu zwangsläufig auf diesen Krieg. Dass mit der κίνησις nur dieser Krieg gemeint sein kann, bestätigt sich dann im anschließend folgenden drit-

Der Anfang des Geschichtswerks

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lem wurde bereits im 19. Jahrhundert erkannt und hat seitdem zu immer neuen Erklärungsversuchen geführt, ohne dass es jedoch zu einem allseits akzeptierten Ergebnis gekommen wäre.37 Bei diesen Erklärungsversuchen ist man – in der Regel – davon ausgegangen, dass γάρ an dieser Stelle begründende bzw. explizierende Funktion hat, dass es also dem deutschen »denn« bzw. »nämlich« entspricht. Diese Bedeutung von γάρ, das aus der Verschmelzung von γε und ἄρ hervorgegangen ist,38 ist nun allerdings sekundär; die ursprüngliche, primäre Bedeutung ist eine affirmative.39 So wird nach Bäumlein »durch γάρ der ganze Satz als unmittelbar gewiss und unbestreitbar, als eine Thatsache, die nun einmal so ist, nachdrücklich hervorgehoben«40. Zwar herrscht Uneinigkeit darüber, ob sich die affirmative Bedeutung von γάρ nur in bestimmten Partikelkombinationen – so Denniston41 – oder auch darüber hinaus42 erhalten hat; da an der vorliegenden Stelle aber alle Erklärungsversuche, die auf der Annahme eines begründenden oder explikativen γάρ basieren, letztlich unbefriedigend bleiben, drängt sich der Eindruck auf, dass dieser Satz geradezu als Testimonium für die affirmative Bedeutung auch außerhalb der von Denniston gezogenen Grenzen betrachtet werden muss.43 Für den mit κίνησις γὰρ αὕτη be_____________

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43

ten Satz, in dem die früheren Ereignisse als οὐ µεγάλα bezeichnet werden. Diese auf den ersten Blick paradoxe Beschreibung früherer Ereignisse, zu denen ja auch der Trojanische Krieg und die Perserkriege gehören, lässt sich überhaupt nur dann nachvollziehen, wenn der Peloponnesische Krieg (und nicht die zu ihm hinführenden Entwicklungen) als Vergleichsmaßstab dient. Eine ausführliche Darstellung der Interpretationsgeschichte dieses Satzes bietet Latacz (1980), 400–412. Vgl. Denniston (1966), 56: »The derivation of γάρ from γε and ἄρ, though occasionally challenged [...], has been pretty generally accepted by scholars. [...] There appears little reason to doubt this etymology, though it may be remarked (1) that the form γάρα is nowhere found; (2) that the combinations γὰρ ἄρα, γάρ ῥα, are tolerated. [...] The fusion, if it occurred, must have occurred at an early date.« Vgl. Bäumlein (1861), 68, Kühner/Gerth (1955), 330, Denniston (1966), 56 f.; Schwyzer/Debrunner (1950), 560 nennen neben der kausalen Bedeutung von γάρ auch die zustimmende Verwendung, jedoch ohne klare Aussage zur Priorität. Bäumlein (1861), 68. Vgl. Denniston (1966), 57. Schwyzer/Debrunner (1950), 560 sprechen allgemein von zustimmender Verwendung bei alleinstehendem γάρ; Bäumlein (1861), 69–75 zufolge ist die affirmative Bedeutung von γάρ sowohl in Behauptungssätzen als auch in Frage- und Wunschsätzen anzunehmen; Kühner/Gerth (1955), 330 f. erkennen sie in Antworten und im Zusammenhang der Rede an, Menge/Thierfelder/Wiesner (1999), 307 nur in Antworten. Sehr bedenkenswert erscheinen angesichts der Interpretationsversuche, die die vorliegende Stelle hervorgebracht hat, folgende Äußerungen von Bäumlein (1861), 68 f. zur Partikel γάρ: »Es ist klar, dass diese Grundbedeutung [gemeint ist die affirmative Bedeutung] leicht zur c a u s a l e n Bedeutung werden kann, denn als G r u n d für einen andern Gedanken kann nur das dienen, was selbst unbestreitbar feststeht, unmittelbar gewiss und gegeben ist; es ist aber auch klar, dass die Bedeutung der Partikel nicht auf den causalen Gebrauch beschränkt werden kann, und es wird uns ein Weg eröffnet, eine grosse Anzahl von Stellen, in welchen man mit mehr Scharfsinn als Wahrheit die causale Bedeutung nachzuweisen sucht, auf die natürlichste und sicherste Weise aus jener Grundbedeutung zu erklären«.

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Ausgangstextanalyse

ginnenden Satz würde die Annahme dieser Bedeutung nun genau den Sinn ergeben, den der Zusammenhang erfordert, indem dieser Satz als Bestätigung der im ersten Satz beschriebenen Erwartung hinsichtlich der Größe des Krieges fungieren würde. Dieses Textverständnis soll durch folgende Übersetzung verdeutlicht werden: »Dies erwies sich in der Tat als die allergrößte Erschütterung für die Hellenen und einen Teil der Barbaren, um [pointiert] zu sprechen: über den größten Teil der Menschen hin«. Im ersten Satz hatte Thukydides mit der Formulierung ἀξιολογώτατον τῶν προγεγενηµένων bereits den Vergleich des Peloponnesischen Krieges mit früheren Kriegen angerissen. Nachdem er im zweiten Satz die Erfüllung der im ersten Satz aus der Perspektive des »jungen« Thukydides formulierten Erwartung hinsichtlich der Größe des von ihm beschriebenen Krieges bestätigt hat, wendet er sich nunmehr im dritten Satz dem Beweis der relativen Geringfügigkeit früherer Kriege zu. Dass es an sich problematisch ist, über so weit zurückliegende Ereignisse zuverlässige Aussagen zu machen, wird von ihm dabei sofort eingeräumt: τὰ γὰρ πρὸ αὐτῶν καὶ τὰ ἔτι παλαίτερα σαφῶς µὲν εὑρεῖν διὰ χρόνου πλῆθος ἀδύνατα ἦν, ἐκ δὲ τεκµηρίων ὧν ἐπὶ µακρότατον σκοποῦντί µοι πιστεῦσαι ξυµβαίνει οὐ µεγάλα νοµίζω γενέσθαι οὔτε κατὰ τοὺς πολέµους οὔτε ἐς τὰ ἄλλα.

»Denn das ihnen Vorausliegende und das noch Ältere klar herauszufinden, war zwar wegen der Länge der Zeit unmöglich (τὰ γὰρ πρὸ αὐτῶν καὶ τὰ ἔτι παλαίτερα σαφῶς µὲν εὑρεῖν διὰ χρόνου πλῆθος ἀδύνατα ἦν); aufgrund von Anzeichen aber, denen Glauben zu schenken sich mir bei meinen sehr weit [zurückreichenden] Untersuchungen notwendig ergibt (ἐκ δὲ τεκµηρίων ὧν ἐπὶ µακρότατον σκοποῦντί µοι πιστεῦσαι ξυµβαίνει), glaube ich, dass es nicht groß war, weder hinsichtlich der Kriege noch in Bezug auf das Übrige (οὐ µεγάλα νοµίζω γενέσθαι οὔτε κατὰ τοὺς πολέµους οὔτε ἐς τὰ ἄλλα).« Bereits im Eingang des Geschichtswerks lassen sich mehrere der für den Thukydideischen Stil typischen Phänomene beobachten: (1) Die durch τε – καί verbundenen Prädikatsnomina µέγαν und ἀξιολογώτατον wechseln zwischen dem Positiv und dem Superlativ.44 (2) Von dem Partizip τεκµαιρόµενος hängt zunächst ein ὅτι-Satz ab, der durch die Partikeln τε – καί gegliedert ist. Das erste Kolon, ἀκµάζοντές τε ᾖσαν ἐς αὐτὸν ἀµφότεροι παρασκευῇ τῇ πάσῃ, umfasst einen Nebensatz; im zweiten Kolon erwartet der Leser nun entweder einen zweiten Nebensatz oder ein zu ἀκµάζοντες paralleles Partizip oder Adjektiv. Der Satz wird im zweiten Glied dann allerdings anakoluth weitergeführt, indem mit ὁρῶν ein Partizip im Nominativ Singular folgt. (3) Schließlich variiert Thukydides am Ende des ersten Satzes zwischen einem Adverb und einem Partizip (τὸ µὲν εὐθύς, τὸ δὲ καὶ διανοούµενον).45

_____________ 44 Die Verbindung verschiedener Steigerungsformen begegnet bei Thukydides mehrfach, vgl. Ros (1938), 111. 45 Weitere Beispiele für die Variation zwischen Adverb und Partizip bietet Ros (1938), 188 f.

Epitaphios

2.2

13

Epitaphios (2, 37, 1)

Das zweite Textbeispiel entstammt dem Epitaphios, der Leichenrede, die Perikles auf die im ersten Kriegsjahr gefallenen Athener hält. Das Lob der Gefallenen nimmt in der Rede jedoch nur vergleichsweise wenig Raum ein; es handelt sich vielmehr um eine Art politisches Manifest, in dem Perikles die besonderen Leistungen Athens darstellt. Perikles zufolge hat Athen eine Führungsrolle innerhalb der hellenischen Staaten, die nicht nur aus ihrer Macht, sondern auch aus ihren kulturellen Leistungen und ihrer Staatsverfassung resultiert46: Χρώµεθα γὰρ πολιτείᾳ οὐ ζηλούσῃ τοὺς τῶν πέλας νόµους, παράδειγµα δὲ µᾶλλον αὐτοὶ ὄντες τισὶν ἢ µιµούµενοι ἑτέρους. καὶ ὄνοµα µὲν διὰ τὸ µὴ ἐς ὀλίγους ἀλλ᾿ ἐς πλείονας οἰκεῖν δηµοκρατία κέκληται· µέτεστι δὲ κατὰ µὲν τοὺς νόµους πρὸς τὰ ἴδια διάφορα πᾶσι τὸ ἴσον, κατὰ δὲ τὴν ἀξίωσιν, ὡς ἕκαστος ἔν τῳ εὐδοκιµεῖ, οὐκ ἀπὸ µέρους τὸ πλέον ἐς τὰ κοινὰ ἢ ἀπ᾿ ἀρετῆς προτιµᾶται, οὐδ᾿ αὖ κατὰ πενίαν, ἔχων γέ τι ἀγαθὸν δρᾶσαι τὴν πόλιν, ἀξιώµατος ἀφανείᾳ κεκώλυται.

»Wir haben nämlich eine den Gesetzen der Nachbarn nicht nacheifernde Staatsverfassung (χρώµεθα γὰρ πολιτείᾳ οὐ ζηλούσῃ τοὺς τῶν πέλας νόµους), ein Vorbild vielmehr selber manchen seiend als andere nachahmend (παράδειγµα δὲ µᾶλλον αὐτοὶ ὄντες τισὶν ἢ µιµούµενοι ἑτέρους)«. Auffällig ist hier zunächst einmal die doppelt antithetische Struktur (χρώµεθα γὰρ πολιτείᾳ οὐ ζηλούσῃ τοὺς τῶν πέλας νόµους, παράδειγµα δὲ µᾶλλον αὐτοὶ ὄντες τισὶν ἢ µιµούµενοι ἑτέρους).47 Typisch für den Stil des Thukydides ist auch die Inkonzinnität der beiden Glieder πολιτείᾳ οὐ ζηλούσῃ τοὺς τῶν πέλας νόµους und παράδειγµα δὲ µᾶλλον αὐτοὶ ὄντες τισὶν ἢ µιµούµενοι ἑτέρους. Der Leser würde als Fortführung des ersten Satzgliedes eher παραδείγµατι οὔσῃ48 o. ä. erwarten, auf jeden Fall aber eine weitere Qualifizierung des Dativs πολιτείᾳ. Stattdessen beziehen sich die folgenden Partizipien ὄντες und µιµούµενοι auf das im Prädikat χρώµεθα enthaltene Subjekt »wir«. Eine weitere für Thukydides typische stilistische Erscheinung, die sich in diesem Satz beobachten lässt, ist die Variation zwischen den nahezu synonymen Ausdrücken τῶν πέλας, τισίν und ἑτέρους.49 Auch in dem folgenden Satz, καὶ ὄνοµα µὲν διὰ τὸ µὴ ἐς ὀλίγους ἀλλ᾿ ἐς πλείονας οἰκεῖν δηµοκρατία κέκληται, setzt Thukydides Variation ein, und zwar zwischen Positiv und Komparativ.50 Besondere Verständnisschwierigkeiten bietet hier die Formulierung διὰ τὸ µὴ ἐς ὀλίγους ἀλλ᾿ ἐς πλείονας οἰκεῖν, die verschiedene grammatikalische Interpretationen zulässt. Zunächst einmal stellt sich die Frage nach dem Subjekt des Infinitivs οἰκεῖν: Entweder ist aus dem vorangehenden Satz πολιτεία zu ergänzen, in wel_____________ 46 Zu dem hier behandelten Kapitel vgl. Vretska (1966b); Grant (1971); Harris (1992); Andrews (2004); Winton (2004). 47 Vgl. Rusten (1989), 144. 48 Vgl. Krüger (1860), Bd. 1, H. 1, 196. 49 Vgl. Ros (1938), 116, 209, 235 Anm. 12. 50 Weitere Beispiele für die Variation zwischen Positiv und Komparativ bietet Ros (1938), 111.

14

Ausgangstextanalyse

chem Fall man οἰκεῖν im Sinne von »beschaffen/geordnet sein«, »verwaltet werden« o. ä. verstehen muss,51 oder es ist ἡµᾶς zu ergänzen.52 Geht man von dieser Interpretation aus, muss man für οἰκεῖν die Bedeutung »leben«53 oder »regieren«54 annehmen. Das zentrale Problem, das bis jetzt keine allgemein akzeptierte Lösung gefunden hat, besteht jedoch darin, die Funktion der beiden Präpositionalphrasen ἐς ὀλίγους und ἐς πλείονας zu bestimmen. Rusten, der für οἰκεῖν hier die Bedeutung »govern« annimmt, übersetzt µὴ ἐς ὀλίγους ἀλλ᾿ ἐς πλείονας mit »not for the few, but for the many«55. Sprachlich scheint dieses Verständnis zwar nachvollziehbar, doch bereitet es, was den Sinnzusammenhang anbelangt, erhebliche Schwierigkeiten, denn mit διὰ τὸ µὴ ἐς ὀλίγους ἀλλ᾿ ἐς πλείονας οἰκεῖν wird ja der Grund dafür angegeben, warum die athenische Verfassung δηµοκρατία benannt wird. Man erwartet also, dass mit dieser Formulierung ausgedrückt wird, dass die Macht von der Mehrheit ausgeht, nicht, dass der Staat in ihrem Interesse gelenkt wird.56 Plausibler erscheint daher die von Vlastos vorgeschlagene Erklärung. Er geht davon aus, dass ἐς hier die Bedeutung »im Hinblick auf« bzw. »in Rücksicht auf« hat, eine Bedeutung, die für ἐς gut belegt ist.57 Dieses Verständnis soll in folgender Übersetzung zum Ausdruck gebracht werden: »Und was den Namen anbelangt, so ist sie [sc. die Staatsverfassung], weil wir nicht in Rücksicht auf wenige, sondern auf die größere Zahl leben, ›Demokratie‹ benannt (καὶ ὄνοµα µὲν διὰ τὸ µὴ ἐς ὀλίγους ἀλλ᾿ ἐς πλείονας οἰκεῖν δηµοκρατία κέκληται)«. Doch lässt sich auch gegen diese Interpretation einwenden, dass so keine zufriedenstellende Begründung des Begriffs δηµοκρατία geliefert wird. Tatsächlich scheint der einzige Weg, um den erforderlichen Sinn zu erzielen, darin zu bestehen, dass man einen prägnanten Gebrauch von ἐς bzw. eine Ellipse annimmt. So übersetzt Steup µὴ ἐς ὀλίγους ἀλλ᾿ ἐς πλείονας οἰκεῖν mit »so leben, daß nicht einige wenige den maßgebenden Einfluß im Staate haben, sondern eine größere Anzahl«58. Andrews wiederum vermutet hier einen Hinweis auf die Verteilung von Ämtern und nimmt _____________ 51 Vgl. Krüger (1860), Bd. 1, H. 1, 196; Böhme (1862), Bd. 1, H. 1, 151; Classen (1863), Bd. 2, 55. 52 So Classen/Steup (1914), Bd. 2, 91 f.; Rusten (1989), 145; Winton (2004), 29 f. 53 So Classen/Steup (1914), Bd. 2, 92. Ähnlich Gomme (1956), Bd. 2, 109, der οἰκεῖν hier im Sinne von »being a citizen« versteht. 54 So Rusten (1989), 145. 55 Ebd. Ähnlich versteht Hornblower (1991), Bd. 1, 298 die Funktion von ἐς ὀλίγους und ἐς πλείονας: »It is true that we are called a democracy, for the administration is run with a view to the interests of the many, not of the few«. 56 Hierauf weisen Harris (1992), 164 und Winton (2004), 27 nachdrücklich hin. 57 Vgl. Vlastos (1964), 29 Anm. 1. Zur Verwendung von ἐς zur Bezeichnung der Rücksicht, des Betreffs vgl. Schwyzer/Debrunner (1950), Bd. 2, 460. 58 Classen/Steup (1914), Bd. 2, 92. Steup erläutert sein sprachliches Verständnis dieser Stelle nicht ausführlich, sondern verweist lediglich auf die vermeintlich vergleichbare Verwendungsweise von ἐς in Th. 5, 81, 2; 8, 38, 3; 8, 53, 3; 8, 97, 2. Doch ist keine dieser Stellen, wie Vlastos (1964), 29 Anm. 1 betont, direkt vergleichbar. Dessen ungeachtet haben sich Harris (1992), 165 und Winton (2004), 30 Steups Erklärung von ἐς angeschlossen.

Epitaphios

15

eine Ellipse von νενεµηµένων τῶν ἀρχῶν an.59 Keine dieser Erklärungen scheint gänzlich überzeugend. Es entsteht vielmehr der Eindruck, dass hier gewaltsam versucht wird, dem Text die gewünschte Bedeutung gleichsam aufzuzwingen. Angesichts dieser Aporie scheint es angebracht, eine andere Lesart für οἰκεῖν, nämlich ἥκειν, in Betracht zu ziehen. Das Verb ἥκειν ergibt nicht nur einen angemessenen Sinn, sondern wird auch bei anderen Autoren in ganz entsprechender Weise verwendet.60 Die Formulierung διὰ τὸ µὴ ἐς ὀλίγους ἀλλ᾿ ἐς πλείονας ἥκειν wäre dann folgendermaßen zu verstehen: »weil sie [sc. die Staatsregierung] nicht in den Händen von wenigen, sondern der Mehrzahl liegt«. Der nun folgende Satz ist antithetisch mit dem vorangehenden verbunden: »Zuteil aber wird gemäß den Gesetzen hinsichtlich der privaten Angelegenheiten allen das Gleiche (µέτεστι δὲ κατὰ µὲν τοὺς νόµους πρὸς τὰ ἴδια διάφορα πᾶσι τὸ ἴσον), aber entsprechend der Wertschätzung, [je nachdem,] wie ein jeder in einer Sache einen guten Ruf hat, wird er nicht eher aufgrund [der Zugehörigkeit zu einem bestimmten] Teil [der Polisgemeinschaft]61 in Rücksicht auf öffentliche Angelegenheiten als aufgrund seiner Tüchtigkeit vorgezogen (κατὰ δὲ τὴν ἀξίωσιν, ὡς ἕκαστος ἔν τῳ εὐδοκιµεῖ, οὐκ ἀπὸ µέρους τὸ πλέον ἐς τὰ κοινὰ ἢ ἀπ᾿ ἀρετῆς προτιµᾶται), und er ist andererseits auch nicht wegen Armut, wenn er nur der Stadt etwas Gutes zu tun vermag, durch die Unscheinbarkeit seiner Stellung daran gehindert (οὐδ᾿ αὖ κατὰ πενίαν, ἔχων γέ τι ἀγαθὸν δρᾶσαι τὴν πόλιν, ἀξιώµατος ἀφανείᾳ κεκώλυται).« Erneut lässt sich hier beobachten, wie Thukydides in der Konstruktion des Satzes im Laufe seiner Entfaltung einen Richtungswechsel vornimmt. Am Anfang steht das Prädikat des Satzes, µέτεστι, auf das eine durch κατὰ µέν ... κατὰ δέ strukturierte Gliederung folgt. Dem Leser wird hier also eine parallele Satzstruktur suggeriert. Doch entwickelt sich der Satz ab κατὰ δὲ τὴν ἀξίωσιν nicht in die Richtung, die zu erwarten wäre. Als Prädikat nimmt der Leser zunächst nämlich immer noch das an der Spitze des Satzes stehende µέτεστι an, dieses gerät allerdings im Verlaufe des Satzes allmählich in Vergessenheit. Erst mit dem Erscheinen des neuen Prädikats προτιµᾶται am Ende des Satzes wird die Konstruktion für den Leser durchschaubar.62 _____________ 59 Vgl. Andrews (2004), 552, der seine Interpretation mit dem Hinweis auf Th. 8, 53, 3 (ἐς ὀλίγους µᾶλλον τὰς ἀρχὰς ποιήσοµεν) zu stützen versucht. Doch ist nicht einzusehen, wie man vom Leser an der vorliegenden Stelle, an der es keinen Hinweis darauf gibt, dass es um die Verteilung von Ämtern geht, erwarten kann, diesen Gedanken zu ergänzen. 60 Vgl. Böhme (1862), Bd. 1, H. 1, 151, der auf Arist. Pol. 1270a 18 (εἰς ὀλίγους ἧκεν ἡ χώρα) und Ar. Pl. 919 (εἰς ἔµ᾿ ἥκει τῆς πόλεως τὰ πράγµατα) verweist. Bereits Reiske (1761b), 19 hatte ἥκειν (bzw. das von ihm konjizierte διήκειν) dem besser überlieferten οἰκεῖν vorgezogen. 61 Das hier zugrundegelegte Verständnis nach Krüger (1860), Bd. 1, H. 1, 196, Böhme (1862), Bd. 1, H. 1, 151 und Classen/Steup (1914), Bd. 2, 92, die µέρος im Sinne von »Teil der Staatsangehörigen«, »Klasse« verstehen. Dieser Interpretation folgen Vlastos (1964), 29 f. Anm. 2 und Harris (1992), 165 f. Anders verstehen Gomme (1956), Bd. 2, 108, Kakridis (1961), 26, Flashar (1969), 18 und Rusten (1989), 145 f. die Formulierung οὐκ ἀπὸ µέρους, indem sie hier einen Hinweis auf die Vergabe von Ämtern durch das Losverfahren annehmen. 62 Vgl. Kakridis (1961), 24 f.

16

Ausgangstextanalyse

2.3

Pathologie des Krieges (3, 82, 4 f.)

Das nächste Textbeispiel ist der sogenannten Pathologie des Krieges (3, 82–84) entnommen.63 Thukydides stellt hier anhand des Bürgerkriegs auf der Insel Kerkyra im Jahre 427 die Spirale der Gewalt dar, die in der Folgezeit ganz Griechenland erfasste und zu einer zunehmenden Verrohung im menschlichen Umgang führte. Mit der Eskalation der Gewalt geht auch eine Verschiebung der moralischen Wertmaßstäbe einher, die sich in einem veränderten Sprachgebrauch manifestiert64: καὶ τὴν εἰωθυῖαν ἀξίωσιν τῶν ὀνοµάτων ἐς τὰ ἔργα ἀντήλλαξαν τῇ δικαιώσει. τόλµα µὲν γὰρ ἀλόγιστος ἀνδρεία φιλέταιρος ἐνοµίσθη, µέλλησις δὲ προµηθὴς δειλία εὐπρεπής, τὸ δὲ σῶφρον τοῦ ἀνάνδρου πρόσχηµα, καὶ τὸ πρὸς ἅπαν ξυνετὸν ἐπὶ πᾶν ἀργόν· τὸ δ᾿ ἐµπλήκτως ὀξὺ ἀνδρὸς µοίρᾳ προσετέθη, ἀσφαλείᾳ δὲ τὸ ἐπιβουλεύσασθαι ἀποτροπῆς πρόφασις εὔλογος. καὶ ὁ µὲν χαλεπαίνων πιστὸς αἰεί, ὁ δ᾿ ἀντιλέγων αὐτῷ ὕποπτος. ἐπιβουλεύσας δέ τις τυχὼν ξυνετὸς καὶ ὑπονοήσας ἔτι δεινότερος· προβουλεύσας δὲ ὅπως µηδὲν αὐτῶν δεήσει, τῆς τε ἑταιρίας διαλυτὴς καὶ τοὺς ἐναντίους ἐκπεπληγµένος. ἁπλῶς δὲ ὁ φθάσας τὸν µέλλοντα κακόν τι δρᾶν ἐπῃνεῖτο, καὶ ὁ ἐπικελεύσας τὸν µὴ διανοούµενον.

Von zentraler Bedeutung für das Verständnis dieser Passage ist der Begriff ἀξίωσις, der sehr unterschiedlich erklärt wird.65 Früher war man oft davon ausgegangen, dass ἀξίωσις hier im Sinne von »Bedeutung« zu verstehen sei.66 Abgesehen davon, dass sich keine einschlägigen Parallelen für eine solche Verwendung des Begriffs ἀξίωσις finden lassen, führt diese Deutung, wie Wilson zu Recht betont,67 zu einem eklatanten Widerspruch mit der folgenden Darstellung der veränderten Sprachverwendung. Denn in den von Thukydides angeführten Beispielen geht es nicht darum, dass die Bedeutung der Wörter sich verändert, son_____________ 63 Der Ausdruck »Pathologie des Krieges« lässt sich seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert nachweisen. Zur Bezeichnung der Kapitel 3, 82–84 des Thukydideischen Geschichtswerks findet er sich bereits bei Regenbogen (1933), 6. Auch Werner Jaeger (1934), Bd. 1, 499 verwendet ihn in seiner Paideia im Zusammenhang der Thukydideischen Analyse des Bürgerkriegs auf Kerkyra: »[...] die Greuel der Revolution in Kerkyra werden zum Anlaß genommen, in offensichtlicher Parallelität zur Pestdarstellung über die moralische Zersetzung der Gesellschaft und die Umwertung aller sozialen Werte durch den zu langen Krieg und den hemmungslosen Parteikampf ausführlich zu berichten. Gerade die Parallele zur Pest unterstreicht die Haltung des Thukydides zu diesen Dingen, die keineswegs moralisierend, sondern genau wie bei der Frage der Kriegsursache die der scharfsichtigen ärztlichen Diagnostik ist. Der Verfall der politischen Moral ist für ihn ein Beitrag zur Pathologie des Krieges.« 64 Zu den in dem hier analysierten Abschnitt beschriebenen sprachlichen Veränderungen vgl. Müri (1969) und Loraux (2009). 65 Zur Bedeutung von ἀξίωσις an dieser Stelle vgl. insbesondere Hogan (1980) und Wilson (1982) sowie Allison (1997), 163–186. 66 Vgl. Classen/Steup (1892), Bd. 3, 166, die hier mit ἀξίωσις und δικαίωσις einen Gegensatz zwischen »objektiver Bedeutung« und »subjektiver Auslegung« bezeichnet sehen. Dieses Verständnis wird auch von LSJ s. v. ἀξίωσις IV angenommen. 67 Vgl. Wilson (1982), 18.

Pathologie des Krieges

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dern dass die Bezeichnungen für ein bestimmtes Verhalten ausgetauscht werden, indem beispielsweise ein Verhalten, das man früher als »vorausdenkendes Zögern« charakterisiert hätte, nun, da sich die Wertmaßstäbe verschoben haben, als »sich positiv darstellende Feigheit« bezeichnet wird. Dass die Bedeutung der einzelnen Begriffe konstant bleibt, ist dabei geradezu die Voraussetzung für die Möglichkeit der beschriebenen Sprachveränderung. Setzt man nun aber die Grundbedeutung von ἀξίωσις, »für angemessen/würdig Erachten«68, voraus, so ergibt sich ein Sinn, der zu den von Thukydides beschriebenen Veränderungen der Bezeichnungen perfekt passt: Die Änderung, von der Thukydides hier spricht, bezieht sich nämlich darauf, dass nicht mehr die gewöhnlichen Ausdrücke als angemessene Bezeichnungen für bestimmte Verhaltensmuster erachtet wurden, sondern neue Bezeichnungen.69 Ganz ähnlich hatte bereits der antike Stilkritiker Dionys von Halikarnass die Stelle verstanden, indem er folgendermaßen paraphrasierte (De Thuc. 29): τά τε εἰωθότα ὀνόµατα ἐπὶ τοῖς πράγµασι λέγεσθαι µετατιθέντες ἄλλως ἠξίουν αὐτὰ καλεῖν. Die Annahme einer solch extremen sprachlichen Komprimierung und eines derartigen Ersatzes eines verbalen Ausdrucks durch eine Nominalkonstruktion, wie sie dieser Interpretation zugrunde liegt, mag zwar auf den ersten Blick problematisch erscheinen, doch entspricht sie vollkommen dem Thukydideischen Sprachgebrauch. Insbesondere die Pathologie des Krieges weist zahlreiche Beispiele einer extremen, durch die Verwendung des Nominalstils erzielten sprachlichen Komprimierung auf.70 Auf der Grundlage dieser Interpretation von ἀξίωσις ließe sich der griechische Satz dann folgendermaßen wiedergeben: »Und auch das gewohnte für angemessen Erachten der Wörter in Bezug auf die Handlungen vertauschten sie in ihrer Bewertung (καὶ τὴν εἰωθυῖαν ἀξίωσιν τῶν ὀνοµάτων ἐς τὰ ἔργα ἀντήλλαξαν τῇ δικαιώσει). Unbesonnenes Wagen wurde nämlich für Mannhaftigkeit im Inte_____________ 68 LSJ s. v. ἀξίωσις I. 1. 69 Das Richtige bereits bei Krüger (1858), Bd. 1, H. 2, 73: »So gebraucht in sofern die Worte auf ihre Begriffe einen A n s p r u c h haben oder in sofern die Ausdrücke den Gegenständen als w ü r d i g d. h. entsprechend von den Redenden angeeignet sind? Wohl das letztere wegen ἔς.« 70 Anders die Interpretation von Hogan (1980) und Wilson (1982). Hogan nimmt für ἀξίωσις an dieser Stelle die Bedeutung »judgement of worth« bzw. »estimation« (142) an und übersetzt den Satz folgendermaßen: »Men changed the customary estimation of words in respect to deeds in judging what right was« (144). Doch kann Hogan keine überzeugenden Parallelen für die Verwendung von ἀξίωσις im Sinne von »estimation« anführen. Zwar spielt der Aspekt der Einschätzung in der Verwendung des Begriffs ἀξίωσις vielfach eine Rolle, doch handelt es sich durchweg um eine »positive Wertschätzung«. Wilson wiederum geht von der ebenfalls problematischen Bedeutung »evaluation« aus (19) und paraphrasiert den Satz mit »[t]hey changed their accustomed verbal evaluations of things« (20), was sich jedoch – abgesehen von der unzutreffenden Wiedergabe von ἀξίωσις – auch von der Grammatik her schwerlich mit dem griechischen Text in Einklang bringen lässt. Denn diese Interpretation setzt voraus, dass der Genitiv τῶν ὀνοµάτων hier im Sinne von »in Form von Worten« o. ä. zu verstehen ist, was jedoch kaum denkbar erscheint – diesen Gedanken hätte Thukydides eher mit einer Präpositionalphrase ausgedrückt.

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Ausgangstextanalyse

resse der Hetairie gehalten (τόλµα µὲν γὰρ ἀλόγιστος ἀνδρεία φιλέταιρος ἐνοµίσθη), vorausdenkendes Zögern für sich positiv darstellende Feigheit (µέλλησις δὲ προµηθὴς δειλία εὐπρεπής), das Besonnene als Deckmantel des Unmannhaften (τὸ δὲ σῶφρον τοῦ ἀνάνδρου πρόσχηµα) und das gegenüber allem Verständige als zu allem untätig (καὶ τὸ πρὸς ἅπαν ξυνετὸν ἐπὶ πᾶν ἀργόν); das rasend Leidenschaftliche aber wurde der gebührenden Art eines Mannes zugeschrieben (τὸ δ᾿ ἐµπλήκτως ὀξὺ ἀνδρὸς µοίρᾳ προσετέθη) und zur [eigenen] Sicherheit Überlegungen anzustellen [als] schönklingender Vorwand der Abkehr [erachtet] (ἀσφαλείᾳ δὲ τὸ ἐπιβουλεύσασθαι ἀποτροπῆς πρόφασις εὔλογος). Und der Zürnende [galt] immer [als] zuverlässig (καὶ ὁ µὲν χαλεπαίνων πιστὸς αἰεί), der ihm Widersprechende aber [als] verdächtig (ὁ δ᾿ ἀντιλέγων αὐτῷ ὕποπτος). Wenn jemand einen Anschlag geplant hatte und sein Ziel erreichte [galt er als] klug, und erkannte er [einen solchen Anschlag] im voraus, [als] noch geschickter (ἐπιβουλεύσας δέ τις τυχὼν ξυνετὸς καὶ ὑπονοήσας ἔτι δεινότερος); machte er jedoch im voraus Pläne, damit er keiner dieser Dinge bedürfte, [so galt er als] ein Auflöser der Hetairie und [als] einer, der vor den Gegnern in Furcht ist (προβουλεύσας δὲ ὅπως µηδὲν αὐτῶν δεήσει, τῆς τε ἑταιρίας διαλυτὴς καὶ τοὺς ἐναντίους ἐκπεπληγµένος). [Um es] einfach [zu sagen]: Wer demjenigen, der im Begriff war, etwas Schlechtes zu tun, zuvorkam, wurde gelobt und auch wer denjenigen, der nicht beabsichtigte [, etwas Schlechtes zu tun], dazu anfeuerte (ἁπλῶς δὲ ὁ φθάσας τὸν µέλλοντα κακόν τι δρᾶν ἐπῃνεῖτο, καὶ ὁ ἐπικελεύσας τὸν µὴ διανοούµενον).«

2.4

Melierdialog (5, 89)

Im Melierdialog werden am Beispiel der Verhandlungen zwischen den athenischen Gesandten und den Vertretern der Insel Melos, die im Sommer des Jahres 416 stattfanden, die Mechanismen von Machtpolitik – der Stärkere bestimmt, der Schwächere muss nachgeben – dargestellt. Den Athenern, die mit einer Flotte und Soldaten gekommen sind, geht es darum, die Melier dazu zu bringen, dem von Athen dominierten Attischen Seebund beizutreten. Gegen Anfang des Dialogs erklären die Athener den Meliern, die sich zunächst auf Rechtsgründe berufen hatten, dass die Kategorie des Rechts aufgrund des ungleichen Machtverhältnisses zwischen beiden Parteien irrelevant sei und daher in den Verhandlungen keine Rolle spielen dürfe (5, 89): Ἡµεῖς τοίνυν οὔτε αὐτοὶ µετ᾿ ὀνοµάτων καλῶν, ὡς ἢ δικαίως τὸν Μῆδον καταλύσαντες ἄρχοµεν, ἢ ἀδικούµενοι νῦν ἐπεξερχόµεθα, λόγων µῆκος ἄπιστον παρέξοµεν· οὔθ᾿ ὑµᾶς ἀξιοῦµεν, ἢ ὅτι Λακεδαιµονίων ἄποικοι ὄντες οὐ ξυνεστρατεύσατε, ἢ ὡς ἡµᾶς οὐδὲν ἠδικήκατε, λέγοντας οἴεσθαι πείσειν· τὰ δυνατὰ δ᾿ ἐξ ὧν ἑκάτεροι ἀληθῶς φρονοῦµεν διαπράσσεσθαι, ἐπισταµένους πρὸς εἰδότας, ὅτι δίκαια µὲν ἐν τῷ ἀνθρωπείῳ λόγῳ ἀπὸ τῆς ἴσης ἀνάγκης κρίνεται, δυνατὰ δὲ οἱ προύχοντες πράσσουσι, καὶ οἱ ἀσθενεῖς ξυγχωροῦσι.

Melierdialog

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»Wir werden demgemäß weder selbst mit schönen Worten (Ἡµεῖς τοίνυν οὔτε αὐτοὶ µετ᾿ ὀνοµάτων καλῶν), dass wir, weil wir den Meder besiegt haben, zu Recht herrschen, oder dass wir, weil wir Unrecht erleiden, jetzt gegen [euch] vorgehen (ὡς ἢ δικαίως τὸν Μῆδον καταλύσαντες ἄρχοµεν, ἢ ἀδικούµενοι νῦν ἐπεξερχόµεθα), eine Länge von Ausführungen darbieten, die keinen Glauben findet (λόγων µῆκος ἄπιστον παρέξοµεν), noch halten wir für angemessen, dass ihr (οὔθ᾿ ὑµᾶς ἀξιοῦµεν), indem ihr sagt, dass ihr, insofern ihr Aussiedler der Lakedaimonier seid, nicht mit in den Krieg gezogen seid oder dass ihr uns keinerlei Unrecht zugefügt habt, glaubt, uns überzeugen zu können (ἢ ὅτι Λακεδαιµονίων ἄποικοι ὄντες οὐ ξυνεστρατεύσατε, ἢ ὡς ἡµᾶς οὐδὲν ἠδικήκατε, λέγοντας οἴεσθαι πείσειν) ...«. Der bis zu diesem Punkt betrachtete Abschnitt der Periode weist in einer für Thukydides typischen Weise sowohl Parallelität als auch Asymmetrie auf: Die beiden Hauptsätze αὐτοὶ ... παρέξοµεν und ἀξιοῦµεν stehen parallel zueinander, doch sind sie in ihrer Struktur völlig asymmetrisch; es ist vielmehr der von ἀξιοῦµεν abhängige AcI, der in seinem Aufbau parallel zu dem ersten Hauptsatz konstruiert ist. Diese Parallelität manifestiert sich z. B. in der weiten Sperrung des Subjekts von dem Prädikat (Ἡµεῖς ... παρέξοµεν) im Hauptsatz und des Subjektsakkusativs vom Infinitiv des AcI (ὑµᾶς ... οἴεσθαι). Doch auch diese Parallelität ist wieder von Asymmetrien durchkreuzt. So ist in den ersten Hauptsatz ein durch ὡς eingeleiteter Nebensatz eingeschoben, der dann durch ἢ ... ἢ ... gegliedert wird, während in den AcI zwei durch (ἢ) ὅτι und (ἢ) ὡς eingeleitete Nebensätze eingeschoben sind. Nachdem die Athener bestimmte mögliche Verhandlungsstrategien für beide Seiten ausgeschlossen haben, muss – so kann der Leser erwarten – nun die positive Aussage folgen, aus der hervorgeht, welche Art von Argumenten die Athener zu akzeptieren bereit sind. Diese Erwartung wird durch den Fortgang τὰ δυνατὰ δ᾿ mit der adversativen Partikel δ(έ) auch sogleich eingelöst (»sondern das Mögliche …«). Doch bleibt die syntaktische Struktur einstweilen, im Grunde bis zum Schluss des Satzes offen. Erst aus dem endgültigen Fehlen einer weiteren finiten Verbform erkennt der Leser, dass aus dem Vorausgehenden ἀξιοῦµεν zu ergänzen ist, nun mit verändertem Bezug, der aus dem Relativsatz ἐξ ὧν ἑκάτεροι … φρονοῦµεν erschlossen werden muss: Subjekt des von ἀξιοῦµεν abhängigen Infinitivs διαπράσσεσθαι sind nicht mehr die Melier (»dass ihr …«), sondern beide Seiten (»dass wir beide …«).71 Es handelt sich um einen elliptischen AcI [ἑκατέρους] διαπράσσεσθαι, was sich wie folgt übersetzen lässt: »... sondern [wir halten für angemessen, dass wir beide] das, was auf der Grundlage dessen, was wir beide in Wahrheit im Sinn haben, möglich ist, durchzusetzen versuchen (τὰ δυνατὰ δ᾿ ἐξ ὧν ἑκάτεροι ἀληθῶς φρονοῦµεν διαπράσσεσθαι).« Am Ende des Satzes begründen die Athener schließlich ihre Forderung, sich in der Argumentation nicht auf die Kategorie des Rechts zu berufen. Der prädikative Zusatz ἐπισταµένους πρὸς εἰδότας im Akkusativ ist zu beziehen auf das, wie _____________ 71 So Classen/Steup (1912), Bd. 5, 210. Anders Böhme (1856), Bd. 2, 68 f. und Krüger (1858), Bd. 2, H. 1, 77, die ὑµᾶς ergänzen und somit die Melier als Subjekt des Infinitivs verstehen.

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Ausgangstextanalyse

gerade gezeigt, zu erschließende Subjekt ἑκατέρους des elliptischen AcI διαπράσσεσθαι: »… Verstehende gegenüber Wissenden (ἐπισταµένους πρὸς εἰδότας), dass Rechtsgründe im menschlichen Diskurs zwar bei [beiderseits] gleichen Zwangsmöglichkeiten zur Entscheidungsgrundlage gemacht werden72 (ὅτι δίκαια µὲν ἐν τῷ ἀνθρωπείῳ λόγῳ ἀπὸ τῆς ἴσης ἀνάγκης κρίνεται), dass aber diejenigen, die im Vorteil sind, das [ihnen] Mögliche tun73 und die Ohnmächtigen nachgeben (δυνατὰ δὲ οἱ προύχοντες πράσσουσι, καὶ οἱ ἀσθενεῖς ξυγχωροῦσι).«

_____________ 72 Diese Übersetzung nach Krüger (1858), Bd. 2, H. 1, 77, der δίκαια ... κρίνεται übersetzt mit »G e r e c h t e s wird [...] i n A n s c h l a g g e b r a c h t , gilt als Entscheidungsgrund.« 73 Es ist auch möglich, πράσσειν hier im Sinne von »durchsetzen« zu verstehen (so z. B. Classen/Steup [1912], Bd. 5, 210). Canfora (1992), 51 f. schlägt vor, dass es hier im Sinne von engl. »to exact« zu verstehen sei (vgl. LSJ s. v. πράσσω VI.) und sieht darin eine Anspielung auf die Eintreibung von Tributzahlungen seitens der Athener.

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Zwischen Paraphrase und assimilierendem Übersetzen: Deutsche Thukydidesübersetzungen im 18. Jahrhundert

Die 1533 erschienene Thukydidesübersetzung Hieronymus Boners, die auf der Grundlage der lateinischen Übertragung Lorenzo Vallas beruhte, bildete lange Zeit die einzige Möglichkeit, das Werk des Thukydides in deutscher Sprache zu lesen.74 Es sollten mehr als zweihundert Jahre vergehen, bis erneut der Versuch unternommen wurde, Thukydides ins Deutsche zu übertragen. In der Zeit des Siebenjährigen Krieges wurden dann aber – fast zeitgleich – mehrere deutsche Thukydidesübersetzungen publiziert: Zunächst im Jahre 1757 eine anonyme Geschichte des peloponesischen Krieges, 1760 dann die vollständige Übersetzung Johann David Heilmanns und 1761 schließlich die Übersetzung der Reden aus dem Thukydideischen Geschichtswerk von Johann Jacob Reiske.75 Um die besonderen Charakteristika dieser sehr unterschiedlichen Übersetzungen angemessen würdigen zu können, müssen zunächst die übersetzungsgeschichtlichen Rahmenbedingungen skizziert werden, innerhalb derer sie produziert und rezipiert wurden. Dabei sind insbesondere die übersetzungstheoretischen Entwürfe der frühen Aufklärung von Bedeutung, aus denen sich Anhaltspunkte für die Übersetzungsnormen der Zeit gewinnen lassen. Darüber hinaus müssen aber auch die zeitgenössische Stildiskussion und Thukydidesrezeption in den Blick genommen werden, um nachvollziehbar zu machen, innerhalb welcher Normengefüge sich die Übersetzer zu dieser Zeit bewegten. Die zentrale Gestalt im literarischen Leben der frühen Aufklärung ist Johann Christoph Gottsched, der sich in seinen Schriften wiederholt zu Fragen der Übersetzung äußert, ohne jedoch eine systematische Übersetzungstheorie zu entwerfen. In seiner 1730 erschienenen Critischen Dichtkunst beschäftigt er sich mit verschiedenen Aspekten der Übersetzung, wobei der Nutzen des Übersetzens bzw. von Übersetzungen für die Ausbildung der deutschsprachigen Dichtung im Mittelpunkt steht.76 Auf die Frage, wie zu übersetzen sei, geht Gottsched nur kurz gegen Anfang der Critischen Dichtkunst ein, um zu erklären, nach welchen Grundsätzen er seine Übersetzung der Ars poetica des Horaz verfasst habe: _____________ 74 Boner (1533). 75 Anonymus (1757a); Heilmann (1760); Reiske (1761a). Die beiden Thukydidesübersetzungen von Heilmann und Reiske sind bereits bei Elit (2002), 153–156, wenn auch nur sehr knapp, behandelt worden. 76 Eine ausführlichere Behandlung der übersetzungsrelevanten Bemerkungen in der Critischen Dichtkunst findet sich bei Huber (1968), 6–16.

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Deutsche Thukydidesübersetzungen im 18. Jahrhundert Ich rühme mich nicht, daß ich es von Zeile zu Zeile, vielweniger von Wort zu Wort gegeben hätte: denn beydes ist zum theil unnöthig, theils auch [...] unmöglich gewesen. Aus fünfhundert lateinischen Versen habe ich mich genöthiget gesehen, fast siebenhundert deutsche zu machen; wiewohl ich die Regel stets vor Augen hatte: Ein Uebersetzer müsse kein Paraphrast oder Ausleger werden. Habe ich aber nur in hauptsächlichen Dingen nichts versehen, oder geändert: so wird mans verhoffentlich so genau nicht nehmen, wenn gleich der völlige Nachdruck aller horazischen Sylben und Buchstaben nicht erreichet worden. Ein prosaischer Uebersetzer muß es hierinn genauer nehmen: einem poetischen aber muß man, in Ansehung des Zwanges, dem er unterworfen ist, schon eine kleine Abweichung zu gute halten; wenn er nur diesen Mangel durch eine angenehme und leichtfließende Schreibart ersetzet.77

Dass Nähe zum Original von Gottsched grundsätzlich als positives Kriterium für die Qualität einer Übersetzung bewertet wird, geht daraus hervor, dass er die Abweichung vom Ausgangstext als Mangel bezeichnet, der kompensiert werden muss. Im Folgenden erklärt Gottsched dann die Absicht, die er mit seiner Übersetzung verfolgt habe: Ich wollte Horazen gern so übersetzen, daß man ihn ohne Anstoß, und wo möglich, mit Vergnügen in unsrer Sprache lesen könnte. Diesen Zweck aber würde ich nicht erhalten haben, wenn ich kein Bedenken getragen hätte, die Richtigkeit unsrer deutschen Wortfügung, nebst der Reinigkeit im Sylbenmaaße und in den Reimen, aus den Augen zu setzen.78

Gottsched rückt hier den Leser in den Fokus seiner Betrachtungen. Um dessen Erwartungen gerecht zu werden, habe er ein zielsprachliches Übersetzungsverfahren gewählt. Als Pendant zur Critischen Dichtkunst erschien 1736 Gottscheds Ausführliche Redekunst. Während Fragen der Übersetzung in der Critischen Dichtkunst nur beiläufig erörtert worden waren, widmet Gottsched dem Übersetzen hier einen eigenständigen Abschnitt. Das Übersetzen wird dabei allerdings als Mittel zur Ausbildung der rhetorischen Fähigkeiten behandelt, so dass man in den hier formulierten didaktischen Anweisungen nicht ohne weiteres allgemein gültige Übersetzungsprinzipien sehen darf.79 Gottsched fordert vom Übersetzer, seine Übersetzung immer weiter zu verbessern, »bis er sie dem Originale so ähnlich gemachet hat, als es nur möglich ist«80. Welchen Begriff von Ähnlichkeit Gottsched hier im Auge hat, wird in den vier Hauptregeln für einen Übersetzer deutlich, die er im Folgenden formuliert. Dass, wie schon in der Critischen Dicht-

_____________ 77 Gottsched (1751), 6. 78 Ebd. 79 Vgl. Huber (1968), 17: »Bei diesen Regeln hat Gottsched, im Rahmen seiner Rhetorik, keine kommerziellen Übersetzer im Auge; die vorgebrachten Regeln sind Übungsgrundsätze für den kommenden Redner.« 80 Gottsched (1759), 414.

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kunst, mit der Forderung nach »Ähnlichkeit« tatsächlich keine wörtliche Übersetzung gemeint ist, geht aus der zweiten der vier Hauptregeln hervor81: II. Bemühe man sich nicht so wohl alle Worte, als vielmehr den rechten Sinn, und die völlige Meynung eines jeden Satzes, den man übersetzet, wohl auszudrücken. Denn ob gleich die Wörter den Verstand bey sich führen, und ich die Gedanken des Scribenten daraus nehmen muß: so lassen sie sich doch in einer andern Sprache so genau nicht geben, daß man ihnen Fuß vor Fuß folgen könnte.82

Gottsched betont hier, dass der Übersetzer in erster Linie darum bemüht sein müsse, den Sinn vollständig und adäquat wiederzugeben; nicht Wörter werden übersetzt, sondern Gedanken, wobei Gottsched den Fokus von der Wort- auf die Satzebene lenkt (»Bemühe man sich nicht so wohl alle Worte, als vielmehr den rechten Sinn, und die völlige Meynung eines jeden Satzes, den man übersetzet, wohl auszudrücken«). Aus dieser Äußerung geht hervor, dass eine nach Gottscheds Maßstäben angemessene Übersetzung unter Umständen deutlich von der sprachlichen Struktur des Originals abweichen kann. Die zuvor allgemein formulierte Regel wird von Gottsched anschließend präzisiert: Daher drücke man denn III. alles mit solchen Redensarten aus, die in seiner Sprache nicht fremde klingen, sondern derselben eigenthümlich sind. Eine jede Mundart hat ihre eigene Ausdrückungen, die sich in keiner andern ganz genau geben lassen. Und da muß ein Redner allezeit etwas gleichgültiges an die Stelle zu setzen wissen, was eben den Nachdruck, und eben die Schönheit hat, als die Redensart des Originals.83

Das Postulat, dem Ausgangstext nicht Wort für Wort zu folgen, gilt also insbesondere für Redensarten. Der Übersetzer muss in seiner eigenen Sprache geeignete Mittel finden, um den »Nachdruck« und die »Schönheit« des Originals durch äquivalente Formulierungen wiederzugeben. Entscheidend ist dabei, dass »Fremdheit« im Ausdruck vermieden werden soll; es wird also in sprachlicher Hinsicht ein assimilierendes Übersetzungsverfahren propagiert. In seiner Deutschen Sprachkunst, deren erste Auflage 1748 erschien, äußert sich Gottsched wiederum kurz zur Übersetzung idiomatischer Redewendungen, diesmal in einem weit schärferen Ton.84 Wer diese Wort für Wort übersetze, schreibe »elend und schülerhaft, ja barbarisch«85. Gottsched warnt deshalb davor, fremde Ausdrücke »sclavisch nach[zu]äffen«86. _____________ 81 Die erste Hauptregel besagt, dass der Übersetzer sich ein solches Werk vornehmen solle, das er sprachlich und inhaltlich adäquat erfasse: »I. Wähle man sich nichts zum Uebersetzen, darinn man entweder der Sache, oder doch der Sprache noch nicht gewachsen ist: denn was man selbst noch nicht versteht, das wird man unmöglich in andern Sprachen recht auszudrücken vermögend seyn« (Gottsched [1759], 416). 82 Gottsched (1759), 416. 83 Ebd. 84 Gottscheds Deutsche Sprachkunst wird im Folgenden nach der dritten Auflage von 1752 zitiert. 85 Gottsched (1752), 509. 86 Gottsched (1752), 510.

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Während Gottsched im Bereich der Idiomatik eine sprachliche Veränderung verlangt, fordert er im Hinblick auf die Stilistik eine Konservierung der sprachlichen Merkmale des Originals87: Endlich behalte man IV. so viel als möglich ist, alle Figuren, alle verblümte Reden, auch die Abtheilung der Perioden, aus dem Originale bey. Denn weil diese sonderlich den Character des einen Scribenten, von der Schreibart des andern unterscheiden: so muß man, auch in der Uebersetzung noch, einem jeden Schriftsteller seine Art lassen, daran man ihn zu erkennen pflegt. Doch wollte ich es deswegen nicht rathen, auch alle weitläuftige Sätze eines Schriftstellers, die sich oft, ohne die größte Verwirrung, nicht in einem Satze deutsch geben lassen, in einem Stücke beysammen zu lassen: [...] Nein hier kann sich ein Uebersetzer billig die Freyheit nehmen, einen verworrenen Satz in zween, drey oder mehr Theile abzusondern [...].

Der Übersetzer soll Figuren, »verblümte Redensarten«88 und Periodenbau, wenn möglich, nachbilden, um den Stil des zu übersetzenden Schriftstellers zu bewahren und somit die Unterschiede zwischen den Stilen verschiedener Schriftsteller auch in der Übersetzung sichtbar werden zu lassen. Doch folgt die Einschränkung unmittelbar: Die zielsprachliche Qualität hat im Konfliktfall Priorität vor der genauen Nachbildung der syntaktischen Struktur des Originals. Gottsched hält es daher für legitim, ja sogar ratsam, besonders verworrene Sätze aufzuspalten. Neben diesen didaktisch formulierten Übersetzungsregeln sind für den gegenwärtigen Zusammenhang auch folgende Aussagen Gottscheds von Interesse, mit denen er in der Ausführlichen Redekunst das in seinen Ciceroübersetzungen verwendete Verfahren rechtfertigt89: Ich muß aber von meinen Bemühungen, ebenfalls mit dem Cicero gestehen, daß ich sie nicht, als ein ängstlicher Dollmetscher, sondern als ein Redner übersetzt habe; indem ich nicht sowohl jedes Wort, sondern vielmehr den Nachdruck ganzer Sätze auszudrücken bemüht gewesen bin. Dieses mögen sich diejenigen zur Lehre und Antwort dienen lassen, die als ängstliche Schulmeister schreyen, daß bald hier, bald da eine Sylbe des Griechischen und Lateinischen nicht recht ausgedrückt sey; da sie doch selbst nicht einen einzigen Satz der Alten in einem leidlichen Wohlklange, oder mit oratorischem Feuer rein deutsch zu geben wissen.

Diese Apologie ist in ihrer Substanz mit der Äußerung zu seiner Übersetzung der Ars poetica in der Critischen Dichtkunst vergleichbar, nur dass er anstatt des eher zurückhaltenden Tons, den er dort angeschlagen hatte, nun entschieden das von ihm verwendete zielsprachliche Übersetzen verteidigt, während er wörtliches Übersetzen in den Bereich der Pedanterie verweist. Genauigkeit wird hier bezeichnenderweise nicht als Kriterium für die Qualität einer Übersetzung genannt, ja es werden sogar die beiden Forderungen nach korrekter Wiedergabe des Aus_____________ 87 Gottsched (1759), 416 f. 88 Zu den »verblümten Redensarten« zählen nach Gottsched Metapher, Metonymie, Synekdoche und Ironie (vgl. Gottsched [1759], 280–293). 89 Gottsched (1759), 459.

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gangstextes und nach zielsprachlicher Angemessenheit gegeneinander ausgespielt. Es lässt sich bei Gottsched ein starkes Interesse an der produktiven Wirkung des Übersetzens auf die Zielsprache feststellen. Dies hängt damit zusammen, dass die deutsche Literatursprache sich während des 18. Jahrhunderts noch in einem Formierungsprozess befindet.90 Lessing bemerkt in dem Vorwort zur französischen Übersetzung des Laokoon, dass die deutsche Sprache in einigen Gattungen noch auszubilden, ja sogar noch zu erschaffen sei: »La langue allemande [...] est pourtant encore à former, à creer meme, pour plusieurs genres de composition«91, und noch im Jahre 1780 bestreitet Friedrich der Große in seiner Schrift De la Littérature Allemande die Möglichkeit einer deutschen Literatur im eigentlichen Sinne.92 Der Etablierung des Deutschen als gleichwertiger Literatur- und Wissenschaftssprache stand entgegen, dass die deutsche Sprache teilweise als »barbarisch« und vulgär, als »Bauernsprache« angesehen wurde.93 Das Gefühl der kulturellen und sprachlichen Minderwertigkeit, das sich in diesen Äußerungen manifestiert, ist ein Grund dafür, dass die zielsprachliche Qualität der Übersetzung für Gottsched und seine Anhänger eine so herausragende Rolle spielte. Eine systematische Ausarbeitung der von Gottsched zugrundegelegten Übersetzungskonzeption lag zu dem Zeitpunkt, als dieser seine vier Hauptregeln formulierte, bereits in dem – mehr als fünfzig Seiten langen – Aufsatz »Das Bild eines geschickten Uebersetzers« von Georg Venzky94 vor, der 1734 in den von Gottsched initiierten und maßgeblich herausgegebenen Beyträgen zur Critischen Historie der Deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit erschienen war.95 Anhand der Briefe von Venzky an Gottsched aus den Jahren 1732–1734 lässt sich die Entstehungsgeschichte des Aufsatzes recht genau rekonstruieren.96 Venzky _____________ Vgl. hierzu die umfangreiche Darstellung von Blackall (1959). Lessing (1770), 659. Vgl. Polenz (1994), 49. Vgl. Blackall (1959), 162 und Becker (1998), 295–319. Venzky (1704–1757) hatte in Halle Theologie studiert und war zunächst in pädagogischer Funktion als »Informator« an verschiedenen Orten tätig. Seit 1731 wirkte er als Subkonrektor, ab 1738 als Konrektor an der Domschule in Halberstadt, bevor er 1742 Konrektor der Lateinschule zu Prenzlau wurde. 1749 erfolgte die Promotion in Theologie. (Die biographischen Angaben nach Döring/Otto/Schlott [2008], 630 f.) 95 Zu dem Aufsatz Venzkys vgl. Huber (1968), 27–32 und Münzberg (2003), passim. 96 Die Briefe aus den Jahren 1732 und 1733 sind bei Döring/Otto/Schlott (2008), der eine aus dem Jahre 1734 ist bei Döring/Otto/Schlott (2009) ediert. Die jeweiligen Antworten Gottscheds sind nicht erhalten. Der Ablauf ist folgender: Nach Erscheinen des ersten Stücks der Beyträge mit dem einleitenden Aufsatz »Von Deutschen Übersetzungen der meisten alten Lateinischen Scribenten«, in dem zu Ergänzungen aufgerufen wurde, meldet sich Venzky mit Brief vom 29.12.1732 (Nr. 155) bei Gottsched, sendet Ergänzungen »nebst einigen anderen, zufälligen, unausgearbeiteten, Gedanken« und bietet allgemein seine Dienste an. – Am 16.2.1733 (Nr. 169) bedankt er sich bei Gottsched für dessen Angebot, Mitglied der »Deutschen Gesellschaft« in Leipzig zu werden. – Am 9.4.1733 (Nr. 176) sendet Venzky unter anderem das Manuskript »Die Gestalt eines geschikten Uebersetzers« und bittet um Prüfung durch »das ein oder das andere Mitglied« der Gesellschaft. – Mit Brief vom 27.6.1733 (Nr. 203) dankt er für die vollzoge-

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stand in dieser Zeit in engem Kontakt mit Gottsched, der das Manuskript auf Bitten des Autors einer kritischen Prüfung unterzog. Man kann somit davon ausgehen, dass das von Venzky Vorgetragene den Vorstellungen Gottscheds vollauf entsprach. Die wiederum zwei Jahre nach diesem Aufsatz von Gottsched aufgestellten »Hauptregeln« weisen denn auch deutliche, bis in Formulierungen hineinreichende Übereinstimmungen mit den Darlegungen von Venzky auf. In dem ersten Abschnitt seines Aufsatzes widmet sich Venzky zunächst allgemein der Definition des Übersetzungsbegriffs97: Es ist aber eine Uebersetzung so wohl von einer Originalschrift, als auch von einer Erklärung und Umschreibung unterschieden. Das Original oder Vorbild ist eine solche Schrift, die von ihrem Urheber über eine gewisse Sache zum erstenmal in einer beliebigen Sprache abgefasset wird. Eine geschickte Uebersetzung aber trägt als das Nachbild eben das, was im Vorbilde geschrieben war, in einer andern Sprache wieder vor, und folget dem Original auf dem Fusse nach, wo nicht völlig von Wort zu Wort, doch von Satz zu Satz. Eine Umschreibung erkläret eine ursprüngliche Schrift mit mehrern Worten und nöthigen Erläuterungen. Eine Erklärung aber machet die Worte und Sachen deutlicher, zeiget den Zusammenhang, bringet lehrende, erläuternde, beweisende, überredende und zueignende Gründe an. [...] Doch kan eine glückliche Uebersetzung aller Stelle vertreten. Hat sie den Verstand einer ursprünglichen Schrift deutlich und vollständig ausgedrücket: So ist sie so gut, als das Original selbst. Hat man dabey eine verdrüßliche, dunkele oder verworrene Schreibart in eine angenehmere und deutlichere verwandelt; dunkele Wörter durch deutlichere, nachdrücklichere und geschicktere verwechselt: So übertrift sie das Original selbst, und kan so viel Nutzen schaffen, als eine weitläuftigere Umschreibung oder ausführliche Erklärung, zumal wenn kurzgefaste und gründliche Anmerkungen angehänget werden.

Venzky unterscheidet sodann zwischen fünf verschiedenen Gattungen der Übersetzung, denen er jeweils ihre Berechtigung zugesteht.98 Die »natürlichste« Art der Übersetzung folgt dem Original unter Berücksichtigung der Unterschiede der beiden Sprachen; die »freien« Übersetzungen bedienen sich in den »Worten und Sachen« größerer Freiheit; die »vermehrten« und »verstümmelten« Übersetzungen bringen notwendige Zusätze bzw. eliminieren Überflüssiges; die »vollstän_____________ ne Ernennung zum Mitglied der Gesellschaft und fügt an: »Nicht weniger bin ich sehr verbunden für die große Mühe, da Ew. Hochedlen und noch zwey andere Mitglieder sich abgemüßiget, und meinen übersandten Tractat von der Beschaffenheit und den Pflichten eines geschikten Uebersetzers geprüfet haben«. – Am 22.8.1733 (Nr. 213) dankt Venzky »für die Aufnahme zum Mitarbeiter an den critischen Beyträgen«. – Aus verschiedenen Bemerkungen in den Briefen geht hervor, dass Venzky zunächst an eine separate Publikation seiner übersetzungstheoretischen Studie dachte. Dann – am 14.11.1733 (Nr. 236) – muss er freilich Gottsched von einem schlimmen Malheur berichten, dass nämlich die Vorlage für den Druck in dem von ihm ausersehenen Verlag »von einem unachtsamen jungen Menschen verlohren« wurde. Er fragt an, ob nicht die Schrift, die er aus älteren Manuskripten zu rekonstruieren anbietet, »in den Beyträgen oder eigenen Schriften der Gesellschaft« einen Platz finden könne. – Am 11.4.1734 (Nr. 7) schickt Venzky an Gottsched seine »abermalige Ausarbeitung von dem Bilde eines geschickten Uebersetzers«, die dann noch im gleichen Jahr in den Beyträgen erscheint. 97 Venzky (1734), 64 f. 98 Venzky (1734), 65 f.

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digsten« Übersetzungen schließlich bringen zusätzlich Anmerkungen. Die anschließend folgende Unterteilung der »verwerflichen« Übersetzungen umfasst drei Typen: »wörtliche«, »dunkele« und »falsche« Übersetzungen.99 Die hier geäußerte Ablehnung wörtlicher Übersetzungen deckt sich mit den Äußerungen Gottscheds. Für die Übersetzungskonzeption der Zeit ist auch der Abschnitt zum Nutzen der Übersetzung aufschlussreich. Es werden hier sowohl die verbesserte Kenntnis und ästhetische Würdigung der Ausgangssprache als auch die Ausbildung der Ausdrucksmöglichkeiten in der eigenen Sprache als Ziele der übersetzerischen Aktivität benannt.100 Doch müsse man sich »sorgfältig hüten, daß man nicht Wörter, Redensarten u. Wörterordnungen unbedächtlich und ohne Noth aus der Sprache, daraus man übersetzet, und zwar sonderlich wieder ihre Art und Eigenschaft, einführe, und also seine Sprache verderbe, und ihr das zum Nachtheile mache, was ihr vielmehr zum Vortheile gereichen sollte, wovor sich auch öfters die geschicktesten nicht genung hüten«101. Eine gute Übersetzung umfasst also die Umformung des Originals in einen den Regeln der deutschen Sprache gemäßen Text.102 Hiermit passt gut zusammen, dass Venzky es zu den »Untugenden« rechnet, wenn sich ein Übersetzer mehr in der fremden als in der Muttersprache geübt hat.103 Gegen Ende seines Aufsatzes benennt Venzky schließlich die fünf Merkmale einer guten Übersetzung. Er fordert, [...] daß die Uebersetzung den Verstand und Sinn des Scribenten 1) genau und accurat ausdrücke, dergestalt, daß sie ihm nichts entziehe, nichts fremdes oder wiederstreitendes andichte, den Worten und Ausdrücken die Bedeutung und den Nachdruck bestimme, welchen der Verfasser ihm zugeeignet wissen will. 2) Daß die Worte, Redensarten, ihre Vermischung und Zusammensetzung mit dem Affecte übereinkommen. Denn ein jeder Affect hat seine gewisse Worte und Figuren, dadurch er sich zu verrathen pfleget. 3) Daß sie deutlich und klar sey, damit man gleich errathen könne, was man haben will, ohne verdrüßlich nachzudenken. Welches eine geheime Kraft hat, die Gemüther der Leser an sich zu ziehen, und zu belustigen. 4) Daß sie rein sey, und also keine veraltete, ungewöhnliche, neugemachte, Provinzialwörter, und doch die rechten, eigentlichen und die Kunstwörter gebrauche. 5) Daß man die dunkelsten und streitigsten Sachen mit einer kleinen Note bemerket.104

_____________ 99 Vgl. Venzky (1734), 66: »Diesen guten Uebersetzungen stehen entgegen die verwerflichen, als die wörtlichen, da man von Wort zu Wort übersetzet, ohne auf die Art der Sprache acht zu haben; die dunkelen; die falschen, welche den Text nicht treulich vortragen, und es nicht wohl getroffen haben.« 100 Vgl. Venzky (1734), 70 f. 101 Venzky (1734), 71. 102 Vgl. Huber (1968), 21: »In Gottscheds Zeit steht am Ende jeder Übersetzung die vollkommene Umformung der im Original stehenden Gedanken in das Denk- (und Sprach-)System der Muttersprache.« 103 Vgl. Venzky (1734), 113. 104 Venzky (1734), 110 f.

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Wie Gottsched blendet Venzky die Frage einer möglichen Bewahrung der sprachlichen Struktur des Ausgangstextes aus. Ziel ist stattdessen, »Verstand und Sinn« des Verfassers auszudrücken (ganz ähnlich wird es Gottsched in seiner zweiten Hauptregel ausführen). Zwar soll sich der Übersetzer bemühen, die Integrität des Ausgangstextes zu bewahren (was in der ersten Forderung näher erläutert wird), entscheidend ist aber, dass die Übersetzung zielsprachlichen Normen entspricht und für den Leser gut verständlich ist. Eine wesentliche Umorientierung lässt sich dann aber bereits wenig später in der Übersetzungstheorie der beiden Schweizer Johann Jakob Breitinger und Johann Jakob Bodmer beobachten. Die von Breitinger in seiner Abhandlung »Von der Kunst der Uebersetzung« aus dem Jahre 1740 vertretenen Vorstellungen stimmen zwar mit denen Gottscheds in mancherlei Hinsicht überein, doch ist in der Frage, wie genau die Übersetzung dem Wortlaut des Ausgangstexts folgen muss, ein Wandel unübersehbar.105 Breitinger erklärt106: Da nun in einer wohlgesezten Urkunde kein müssiges Wort zu finden ist, das ohne Abbruch und Veränderung der Deutlichkeit, der Zierde, oder des Nachdruckes könnte weggelassen werden, da vielmehr ein jedes seine Nothwendigkeit in der Absicht des Verfassers hat, die es auf gewisse Weise zu befödern dienet, so ist ja nothwendig, daß ein Uebersetzer alle Wörter und Ausdrücke des Originals wohl erwege, und keinen von denen Begriffen, so damit verknüpfet sind, zurück lasse, den er in seiner Uebersetzung nicht auf demselben Grade der Deutlichkeit und des Nachdruckes mit gleichgültigen Worten ausdrücke.

Gegenüber den bei Gottsched und Venzky beobachteten Übersetzungsprinzipien wird hier also eine Art der Übersetzung gefordert, die über die genaue Wiedergabe der Gedanken hinausgeht und auch eine akkurate Wiedergabe der sprachlichen Struktur und insbesondere der einzelnen Wörter anstrebt. In der Bodmerschen Miltonübersetzung lässt sich denn auch eine Nähe zum Ausgangstext beobachten, die vorher nur bei der Übersetzung der Bibel angestrebt wurde.107 Insbesondere in der Berücksichtigung der Bildlichkeit des Ausgangstextes zeigt sie eine neue Tendenz in der Übersetzung, die sich auch auf die deutschsprachige Literatur produktiv auswirkte.108 Dass es sich bei der Übersetzungskonzeption von Bodmer und Breitinger geradezu um einen Gegenentwurf zu Gottsched und Venzky handelt, geht aus dem Aufsatz »Von der erforderten Genauigkeit beym Uebersetzen« hervor, den Bodmer im Jahre 1746 veröffentlichte. Bodmer unterscheidet hier zwei Typen von Übersetzung: _____________ 105 Zu den übersetzungstheoretischen Äußerungen Breitingers vgl. Sdun (1967), 21–24, Huber (1968), 33–36 und insbesondere Apel (1982), 39–51, der auch auf die poetologischen Kontexte von dessen Übersetzungskonzeption eingeht. 106 Breitinger (1740), 141. 107 Apel (1982), 44 stellt fest, dass bei Breitinger »der Text der Werke der Dichtung einen quasi heiligen Charakter« erhält, »dem sich der Übersetzer mit der gleichen Ehrfurcht vor dem Wort zu unterwerfen hat wie der Exeget heiliger Bücher«. Vgl. außerdem Apel/Kopetzki (2003), 77. 108 Vgl. ebd., 110.

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[I]st die Absicht, die in der Urschrift enthaltene Materie in einer andern Sprache der Welt einfältig mitzutheilen, so liegt dem Uebersetzer ja ob, alles auf das kläreste und deutlichste nach dem Genius seiner Sprache vorzutragen: Will man aber eine genaue Uebersetzung haben, die nicht nur die Gedancken der Urschrift vorlege, sondern auch alle die Arten und Weisen, die der Urheber gebraucht, seine Gedancken an den Tag zu geben, beybehalte, so muß auch solches gantz genau bewerckstelliget werden, und darf man sich nicht förchten, man werde unerhörter Seltsamkeiten oder wohl gar der Original-Fehler beschuldiget werden.109

Der erste Übersetzungstyp, den Bodmer hier entwirft, entspricht den von Gottsched und Venzky formulierten Prinzipien: Deutlichkeit, zielsprachliche Qualität und die Wiedergabe der Gedanken stehen dabei im Mittelpunkt. Dieses Verfahren lässt Bodmer jedoch nur als einfache Mitteilung des Inhalts gelten. Übersetzerische Genauigkeit hingegen, wie sie ja auch Gottsched und Venzky für ihr Verfahren reklamiert hatten, sei nur möglich wenn auch die »Arten und Weisen« des sprachlichen Ausdrucks beachtet würden. Dabei seien »Seltsamkeiten«, also sprachliche Ausdrucksweisen, die im Deutschen fremd oder gar fehlerhaft klingen, hinzunehmen. Man kann in Bodmers Ansatz geradezu eine Präfiguration Schleiermachers sehen, der Anfang des 19. Jahrhunderts dann ein »verfremdendes« Übersetzen fordert.110 Von Gottsched über Breitinger zu Bodmer lässt sich so nach Senger eine »langsame Evolution« beobachten.111 Dass im Bereich der Übersetzung aus der antiken Literatur schon vor der Mitte des 18. Jahrhunderts Versuche unternommen wurden, sich näher am Ausgangstext zu orientieren, wird an den Ciceroübersetzungen des Theologen Christoph August Heumann aus den Jahren 1733 und 1735 deutlich, in denen er die lateinische Wortstellung und Satzstruktur teilweise sehr genau nachbildet.112 Diese Übersetzungen wurden von Rezensenten aus dem Gottschedkreis konsequenterweise aufgrund ihres »Übersetzerdeutsch« getadelt.113 Wenn sich Heumann dennoch zu Grundsätzen bekennt, die den vom Gottschedkreis vertretenen Prinzipien entsprechen, so lässt sich dies als Zugeständnis an die herrschenden Übersetzungsnormen verstehen.114 Bodmer stellt nämlich in dem Aufsatz »Von der erfor_____________ 109 110 111 112

Bodmer (1746), 521. Vgl. Plückebaum (1966), 212. Zu Schleiermachers Übersetzungskonzeption s. Kap. 5. Senger (1971), 69. Vgl. ebd., 74 f. Außerdem gab es im Bereich der Bibelübersetzung ein Beispiel für extreme Wörtlichkeit: Die 1732 erschienene Übersetzung des Neuen Testaments von Johann Jacob Junckherrott orientiert sich so genau am Ausgangstext, dass der deutsche Text teilweise nicht mehr verständlich ist. Da dieses Übersetzungsverfahren auf der Vorstellung der göttlichen Inspiration der einzelnen Worte basiert, ist diese Ausnahmeerscheinung für die Übersetzungspraxis nichtbiblischer Texte aber nur bedingt relevant. Vgl. hierzu Senger (1971), 81–85. 113 Vgl. ebd., 74 f. 114 Vgl. ebd., 75: »Wenn er also seine Übersetzung unter der Marke des guten Deutsch herausgibt, so ist das einerseits in Anbetracht der an vielen einzelnen Stellen geübten Praxis unzutreffend, so daß man annehmen darf, er habe sich nur des allbeherrschenden übersetzungstheoretischen Klischees bedient. In einem tieferen Sinne ist sein Selbstverständnis dennoch richtig. Aus seiner

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derten Genauigkeit beym Uebersetzen« fest, dass die wenigen Versuche einer genauen Übersetzung verfemt und ridikülisiert würden: »Die strenge Regierung, welche gewisse Oberherren in dem deutschen Sprachreiche seit geraumer Zeit so unbarmhertzig ausüben, hat solche Versuche allemahl mit ihrem offentlichen Gespötte als einem schmertzhaften Eisen gebrandmahlet, oder gar ersticket. Eine allgemeine dumme Unterwerffung schien diese Tyrannie zu rechtfertigen«115. Wie diese Aussage deutlich macht, bildeten die vom Gottschedkreis propagierten Übersetzungsprinzipien um die Mitte des 18. Jahrhunderts die dominanten Übersetzungsnormen. Die übersetzungstheoretischen Äußerungen Gottscheds stehen, wie bereits erwähnt, im Zusammenhang seiner Bemühungen um die Entwicklung der deutschen Literatursprache. Der Übersetzung antiker Texte kam hierbei insofern eine besondere Stellung zu, als die (kanonischen) Werke der antiken Literatur als mustergültig angesehen wurden.116 Dies geht u. a. aus einem Abschnitt in Gottscheds Ausführlicher Redekunst hervor, in dem er einen geschichtlichen Abriss der Entstehung und Entwicklung der Beredsamkeit seit biblischen Zeiten bietet.117 Den Griechen gebührt nach Gottsched das Verdienst, »nebst den meisten andern Künsten und Wissenschaften, auch die Beredsamkeit von sich selbst erfunden, und zur Vollkommenheit gebracht«118 zu haben. Gottsched äußert sich in diesem Zusammenhang auch zu den griechischen Historikern: Von einer andern Gattung war diejenige Wohlredenheit, die von den Geschichtschreibern der Griechen ausgeübet worden; und die deswegen die historische heißen könnte. Herodot ist der erste darunter, und hat dadurch die Ehre erlanget, daß er der Vater der Historie genennet worden. Seine Schreibart ist seinen Landsleuten so angenehm vorgekommen; daß man bey den olympischen Spielen, wo er selbige dem aus Griechenland versammleten Volke vorgelesen, seinen Büchern die Namen der neun Musen beygeleget hat. Thucydides hat zwar eine sehr kurzgefaßte, körnigte und dunkle Art des Ausdruckes gebrauchet: gleichwohl ist seine Schreibart auch für sehr schön gehalten worden; und man liest, daß selbst Demosthenes sein ganzes Buch, achtmal mit eigener Hand abgeschrieben, ja gar auswendig gekonnt habe. Cicero in seinem Brutus gesteht, daß vor demselben und dem Perikles kein Buchstab vorhanden gewesen, der rednermäßig geklungen hätte. Was soll man endlich von dem Xenophon sagen, der des Sokrates Schüler, und Platons Mitschüler gewesen; und also zu denen Zeiten gelebt, als Isokrates gleichsam der griechischen Beredsamkeit ein ganz neues Ansehen gab? So viel ist gewiß, daß seine Schreibart allezeit für die schönste gehalten worden, die ein Historienschreiber sich zum Muster zu nehmen hätte.119

_____________ 115 116 117 118 119

Verteidigung geht andererseits auch hervor, daß die neue Übersetzungsmanier nicht Zufall oder Unvermögen, sondern bewußte Wahl zum Grunde hatte.« Bodmer (1746), 522. Zu Gottscheds Antikebild vgl. Sier (2002). Gottsched (1759), 49–73. Ebd., 53. Ebd., 55.

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Zunächst einmal ist festzuhalten, dass Gottsched hier kein eigenes Urteil über die griechischen Historiker ausspricht, sondern lediglich Meinungen referiert. Es stellt sich daher die Frage, inwieweit er die Schriften der von ihm summarisch behandelten Autoren tatsächlich im Original gelesen hatte. Auf jeden Fall lässt sich aber eine positive Einstellung zu den drei Historikern Herodot, Thukydides und Xenophon konstatieren. Allerdings fällt auf, dass Gottscheds positive Bewertung des Thukydideischen Stils durch den Hinweis auf seine »sehr kurzgefaßte, körnigte und dunkle Art des Ausdruckes« eingeschränkt wird. Hier manifestiert sich eine Ambivalenz gegenüber Thukydides, die sich in viel drastischerer Form in den Äußerungen des Philologen Johann Jacob Reiske zeigen wird. Uneingeschränkt positiv ist demgegenüber Gottscheds Bewertung des Xenophon, der als Höhepunkt einer von Herodot über Thukydides herführenden Entwicklung betrachtet wird. Die von Gottsched geäußerte Bewunderung für den Stil des Xenophon findet sich auch bei Winckelmann. In dem Fragment »Über Xenophon« beschreibt er diesen mit den folgenden Worten: »Xenophon schreibt wie die Musen würden gesprochen haben nach dem Urtheil der Alten. Die schöne Natur mit allen ihren Reitzungen herschet durch und durch in seinen Schrifften. Er hat dieselbe wie sein Lehrer (Socrates) vollkommen gekannt: er ist mit ihr umgegangen, wie sie es verlangt; sie will nicht entblößet, aber auch nicht mit Schmuck überladen seyn«120. Als Beispiel für diesen maßvollen Stil führt Winckelmann den Anfang der Anabasis an,121 der sich von dem Anfang des Herodoteischen Geschichtswerks durch seine »edle Einfalt« unterscheide.122 In dem Aufsatz »Von der Grazie in Werken der Kunst« wiederum kontrastiert Winckelmann Xenophon mit Thukydides. Das entscheidende Kriterium, anhand dessen die beiden Historiographen hier unterschieden werden, ist, wie der Titel nahelegt, die »Grazie«: Aller Menschen Thun und Handeln wird durch dieselbe [sc. Grazie] angenehm, und in einem schönen Körper herrschet sie mit großer Gewalt. Xenophon war mit derselben begabet, Thucydides aber hat sie nicht gesuchet. In ihr bestund der Vorzug des Apelles und des Correggio in neuern Zeiten, und Michael Angelo hat sie nicht erlanget: über die Werke des Alterthums aber hat sie sich allgemein ergoßen, und ist auch in dem Mittelmäßigen zu erkennen.123

Wenn Thukydides nicht nach Grazie gestrebt hat, diese sich andererseits aber Winckelmann zufolge selbst über mittelmäßige Werke der Antike »ergießt«, so wird deutlich, dass das Geschichtswerk des Thukydides nicht dem idealisierten Antikebild Winckelmanns entspricht. Dass Xenophon gegenüber Thukydides den Vorzug bekommt, mag aus heutiger Sicht befremdlich erscheinen, doch passt diese Bewertung mit den Mitte des 18. Jahrhunderts herrschenden Stilidealen, die von der Vermeidung von Extremen _____________ 120 121 122 123

Winckelmann (1754), 13. Vgl. ebd., 15. Vgl. ebd., 13. Winckelmann (1759), 157.

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bestimmt sind, gut überein.124 Auch hier bildet Gottsched die maßgebende Instanz. In seiner Ausführlichen Redekunst fordert er, die gute Schreibart müsse »1) deutlich, 2) artig, 3) ungezwungen, 4) vernünftig, 5) natürlich, 6) edel, 7) wohlgefaßt, 8) ausführlich, 9) wohlverknüpft und 10) wohlabgetheilet seyn«125. Von der »guten Schreibart« unterscheidet Gottsched die »schlechte«126, die er in ihren verschiedenen Ausprägungen beschreibt und anhand von Beispielen illustriert. Die erste Gattung des schlechten Stils, die Gottsched diskutiert, ist von Dunkelheit, Undeutlichkeit und Unverständlichkeit geprägt.127 Gottsched aber fordert, »[d]aß ein Scribent sich nicht auf den Verstand seines Lesers verlassen, sondern so schreiben müsse, daß es auch der Einfältigste verstehen muß«128. Anschließend kommt Gottsched auf die »pedantische« Schreibart zu sprechen. Zu dieser zählt er auch die »spielende« oder »kindische« Schreibart, die er folgendermaßen charakterisiert: »Es sucht dieselbe alle ihre Zierlichkeiten, in läppischen Gegensätzen, (Antithesibus) in frostigen Anspielungen, in verwerflichen Wortfiguren, und andern dergleichen Schnörkelchen, die einfältigen Leuten und Schulknaben zu gefallen pflegen«129. Relevant für den gegenwärtigen Zusammenhang sind ferner die Bemerkungen Gottscheds zur »phantastischen« Schreibart: »Diese ist Leuten eigen, die im Kopfe nicht gar zu wohl verwahret sind, und deswegen ganz anders schreiben wollen, als andre Menschen«130. Außerdem kritisiert Gottsched die »allzuweitläuftige« Schreibart: »Es fehlet dieser Schreibart an abgetheilten Perioden, an deutlich auseinander gesetzten Gedanken, und deutlichen Sätzen«131. Doch nicht nur unübersichtliche Satzgefüge, sondern auch exzessive Kürze wird von Gottsched getadelt.132 _____________ 124 Vgl. Blackall (1959), 149 f.: »The sixteenth century had produced a style that was volkstümlich enough but nothing more. One side of the seventeenth century had developed a consciously artistic style, striving towards the greatest intensity of expression and as far away as possible from the volkstümlich. The same century had also seen the emergence of a countercurrent demanding naturalness [...]. It was the achievement of the first half of the eighteenth century to produce a prose style which avoided the excesses of both these tendencies. It lay between the too rhetorical and the too ordinary. It was a plain, lucid style avoiding both flatness and extravagance.« Auch bei Lessing ist Klarheit ein entscheidendes Stilideal: »Clear conciseness is Lessing’s sovereign stylistic ideal« (ebd., 362). 125 Gottsched (1759), 359. Vgl. Blackall (1959), 99: »Gottsched, in admonishing authors to write naturally, did not advocate the written reproduction of speech. [...] It is clear that Gottsched’s ideal was cultured prose which should be reasonable in its choice of expression and avoid all falseness. It should be natural, but not uncouth.« 126 Gottsched (1759), 327. 127 Vgl. ebd., 329: »Die erste Gattung der schlechten Schreibart ist die dunkle undeutliche, oder unverständliche Schreibart. Denn da die Absicht eines jeden Scribenten oder Redners ist, daß er verstanden werden will: so hat er nichts so sehr zu vermeiden, als die Dunkelheit.« 128 Ebd., 335. 129 Ebd., 340. 130 Ebd., 345. 131 Ebd., 352. 132 Vgl. ebd., 354.

Anonymus

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In Gottscheds Beschreibung der »schlechten Schreibart« finden sich zahlreiche der für den Thukydideischen Stil charakteristischen Eigenschaften. Seiner Grundkonzeption nach steht der Stil des Thukydides, der bereits in der Antike von Kritikern als dunkel und unverständlich getadelt wurde,133 dem Gottsched’schen Stildideal der Deutlichkeit diametral entgegen. Ein unmittelbares Verständnis wird an vielen Stellen des Thukydideischen Geschichtswerks, wie erwähnt,134 massiv erschwert. Thukydides schreibt für einen sowohl sprachlich als auch gedanklich höchst kompetenten Leser, der zu extremer mentaler Anstrengung bereit ist, nicht für den von Gottsched beschriebenen »einfältigsten« Leser. Die Vorliebe des Thukydides für Antithesen, eigenwillige Konstruktionen, äußerst komplizierte Perioden auf der einen, abrupte Kürze auf der anderen Seite könnte sein Werk geradezu wie ein Muster der »schlechten Schreibart« erscheinen lassen. Bringt man diesen Befund mit der weiter oben erwähnten Forderung Gottscheds nach einer den Stilcharakters des Ausgangstextes bewahrenden Übersetzung zusammen, so wird deutlich, dass sich für einen Übersetzer eines »dunklen« Autors wie Thukydides um die Mitte des 18. Jahrhunderts ein Konflikt ergab: Eine den Thukydideischen Stil konsequent nachbildende Übersetzung musste nämlich die herrschenden Sprach- und Stilnormen verletzen.

3.1

Anonymus: Geschichte des peloponesischen Krieges (1757)

Die erste deutsche Thukydidesübersetzung des 18. Jahrhunderts erschien 1757 als zehnter Teil der »Neuen Sammlung der merkwürdigsten Reisegeschichten«135. Bemerkenswert ist zunächst die aufwändige Gestaltung des Buches, das mit zahlreichen ausfaltbaren Kupferstichen versehen ist, auf denen verschiedene Aspekte der antiken Kriegsführung wie z. B. Schlachtordnungen, die Belagerung und Erstürmung von Städten, Kriegsmaschinen sowie der Seekrieg dargestellt sind. Diese werden zudem in einer der Übersetzung vorangeschickten Abhandlung, die den Titel »Von der Kriegskunst der Alten« trägt, näher erläutert. Ziel der »Neuen Sammlung der merkwürdigsten Reisegeschichten« ist, wie aus der Vorrede hervorgeht, die »merkwürdigsten und bewährtesten Nachrichten, von allen Ländern und Völkern, [...] für unsere deutschen Landsleute zum Unterricht und Erbauung nutzbar zu machen«136. Im Falle des Thukydideischen Geschichtswerks kommt jedoch ein weiterer Aspekt hinzu, mit dem ein besonderer _____________ 133 Zu den antiken Urteilen zum Stil des Thukydides vgl. Strebel (1935). 134 S. o. Kap. 1. 135 Der vollständige Titel lautet: »Neue Sammlung der merkwürdigsten Reisegeschichten, insonderheit der bewährtesten Nachrichten von den Ländern und Völkern des ganzen Erdkreises: von einer Gesellschaft gelehrter Leute in einen geographischen und historischen Zusammenhang gebracht«. In dieser Reihe waren 1754 und 1755 auch bereits Übersetzungen der homerischen Gedichte erschienen, die allerdings auf der französischen Übersetzung Madame Daciers beruhten. Zu diesen Übersetzungen vgl. Finsler (1912), 427, Häntzschel (1977), 26. 136 Anonymus (1757b), 2.

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Deutsche Thukydidesübersetzungen im 18. Jahrhundert

Anspruch auf das Leserinteresse begründet wird, nämlich die Parallele zwischen der Zeit des Peloponnesischen Krieges und der Gegenwart137: Wir sind versichert, daß unsre Leser, welche einen Geschmack daran finden, das Lesen der Geschichte zu einem practischen Nutzen anzuwenden, darinnen nicht ermüden werden, indem sie fast bey jeden Abschnitt bey sich zu gedenken bewogen werden dürften: Dazumal ist es fast in dem freyen Griechenlande zugegangen, wie es heut zu Tage in freyen und aus vielen einzelnen Staaten bestehenden Reichen herzugehen pflegt. Ja, sie werden hierbey einigen Trost finden, wenn sie sehen, daß die alten Zeiten nicht glücklicher als die unsrigen gewesen sind.

Unklar bleibt hier, worin genau der »practische Nutzen« der Lektüre bestehen soll. Was darunter zu verstehen ist, geht jedoch aus folgender Beschreibung der anvisierten Leser hervor, bei denen es sich nach der Vorstellung des Übersetzers um Leute handelt, welche ihre Erquickstunden einer angenehmen und nützlichen Vergleichung der alten und neuen Zeiten zu widmen belieben; welche das Beste zu prüfen, und die Geschichtskunde dazu anzuwenden wissen, dem Guten nachzuahmen und das Schädliche zu vermeiden.138

Das Geschichtswerk des Thukydides soll also nicht nur der Kontemplation dienen und das historische Wissen der Leser erweitern, sondern ihnen positive und negative Exempla bieten, an denen sie ihr eigenes Handeln ausrichten. Auf den Stil des Thukydides geht der Verfasser nicht näher ein, sondern spricht nur lapidar von dessen »angenehmer Schreibart«139. Folglich thematisiert er auch nicht die besonderen Probleme, die dessen Stil der Übersetzung bereitet.140 Die knappen Äußerungen des Verfassers zu seiner Tätigkeit als Übersetzer sind vielmehr ganz allgemeiner Natur141: Mit einem Wort: Wir gestehen, daß wir in diesem Theil keiner weitern Arbeit, als einer sorgfältigen Uebersetzung uns rühmen können, und wir halten unsre Bemühungen, etwas zum Nutzen der gelehrten Welt, besonders unsers deutschen Vaterlandes mitzutheilen, für hinlänglich belohnt, wenn wir das Lob einer dergleichen gelieferten Uebersetzung verdienen können; das ist, wenn uns Kenner guter Uebersetzungen des Beyfalls würdigen, daß wir eine reine Schreibart beobachtet und den Ausdruck der Gedanken so zu treffen beflissen, wie Thucydides wahrscheinlich geschrieben haben wurde, wenn er unserer Muttersprache und Mundart mächtig gewesen wäre. Solche Uebersetzungen, wo man sich nicht sklavisch und schulmäsig an die Worte, sondern nur an den richtigen Ausdruck der Gedanken bindet, nehmen sodann das Wesen einer Urschrift an.

Die Anklänge an die Übersetzungstheorie von Gottsched und Venzky sind hier offenkundig. Mit dem Bekenntnis, sich nicht »sklavisch und schulmäsig« an den _____________ 137 138 139 140 141

Ebd., 3. Ebd., 7. Ebd., 5. Zum Stil des Thukydides vgl. Kap. 1. Anonymus (1757b), 6.

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genauen Wortlaut des Originals zu halten, sondern nur die Gedanken angemessen wiederzugeben und reines Deutsch zu schreiben, fasst der Übersetzer deren wichtigste Grundsätze zusammen. Die Übereinstimmungen reichen dabei sogar bis in die Wortwahl hinein. Gottsched hatte nämlich, wie erwähnt, ausdrücklich vor dem »sclavischen Nachäffen« fremder Ausdrücke gewarnt142 und sich eine »schulmeisterliche« Kritik seiner Ciceroübersetzungen verbeten.143

Übersetzungsanalyse144 Der Anfang des Geschichtswerks (1, 1) Θουκυδίδης Ἀθηναῖος ξυνέγραψε τὸν πόλεµον τῶν Πελοποννησίων καὶ Ἀθηναίων, ὡς ἐπολέµησαν πρὸς ἀλλήλους· ἀρξάµενος εὐθὺς καθισταµένου, καὶ ἐλπίσας µέγαν τε ἔσεσθαι καὶ ἀξιολογώτατον τῶν προγεγενηµένων·

τεκµαιρόµενος, ὅτι ἀκµάζοντές τε ἦσαν ἐς αὐτὸν ἀµφότεροι παρασκευῇ τῇ πάσῃ,

καὶ τὸ ἄλλο Ἑλληνικὸν ὁρῶν ξυνιστάµενον πρὸς ἑκατέρους, τὸ µὲν εὐθὺς, τὸ δὲ καὶ διανοούµενον. κίνησις γὰρ αὕτη µεγίστη δὴ τοῖς Ἕλλησιν ἐγένετο, καὶ µέρει τινὶ τῶν βαρβάρων, ὡς δὲ εἰπεῖν, καὶ ἐπὶ πλεῖστον ἀνθρώπων.

Wenn wir denjenigen Krieg, den die Peloponeser und Athenienser zusammen geführt haben, beschreiben wollen; und dabey von seiner ersten Urquelle anfangen: so ist unsre Hoffnung diese, man werde dereinsten urtheilen, wir hätten weder etwas kleines, noch etwas gemeines und schon mehr erlebtes beschrieben, masen145 der Ausgang ohne Zweifel zeigen wird, daß alles, was die vorigen Zeiten erlebt haben, gegen diesen Krieg zu rechnen, nichts sey. Bey dieser Meynung wird vornehmlich darauf gesehen, weil beyde Parteyen, sowol die Korinther als Peloponeser, ungemein kriegerisch sind, und an allem, was zum Kriege erfordert wird, einen Ueberfluß haben; hernach auch, weil ganz Griechenland daran einen Antheil nimmt, und einen Theil der Barbaren, ja so zu sagen die ganze Welt, mit hinein zieht.

_____________ 142 Vgl. Gottsched (1752), 510. 143 Vgl. Gottsched (1759), 459. 144 Der Verfasser macht keine Angabe zu dem von ihm verwendeten Ausgangstext. Es wird hier der griechische Text nach der Ausgabe von Duker (1731) abgedruckt. 145 »Masen« ist eine orthographische Variante der im 17. und 18. Jh. gängigen, aber heute kaum mehr geläufigen Konjunktion »maßen« mit der Bedeutung »weil« (s. DWB, Bd. 12, Sp. 1737 f.; im aktuellen Duden noch aufgeführt mit dem Zusatz »veraltet«).

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Deutsche Thukydidesübersetzungen im 18. Jahrhundert

τὰ γὰρ πρὸ αὐτῶν, καὶ τὰ ἔτι παλαιότερα, σαφῶς µὲν εὑρεῖν διὰ χρόνου πλῆθος ἀδύνατον ἦν· ἐκ δὲ τεκµηρίων, ὧν ἐπὶ µακρότατον σκοποῦντί µοι πιστεῦσαι ξυµβαίνει, οὐ µεγάλα νοµίζω γενέσθαι, οὔτε κατὰ τοὺς πολέµους, οὔτε ἐς τὰ ἄλλα.

Die vorhergehenden Kriege sind entweder nicht bekannt, oder, was man davon weis, ist weder an Hitze und an Kriege selber, noch an Kriegszurüstungen und andern Umständen dem gegenwärtigen beygekommen.146

Dass der Verfasser sich nicht »sklavisch und schulmäsig an die Worte« des griechischen Textes gehalten hat, wird sofort deutlich. So fällt gleich zu Anfang auf, dass die Angabe des Autors und dessen Herkunft (Θουκυδίδης Ἀθηναῖος) durch ein auktoriales »wir« ersetzt worden ist. Diese Veränderung ist insofern nachvollziehbar, als die Angabe des Autors in der Neuzeit durch das Titelblatt vermittelt wird und daher am Anfang des Werkes selbst unüblich ist. Hier findet also der Wunsch, der Text solle sich nicht wie eine Übersetzung, sondern wie eine »Urschrift« lesen lassen, seinen ersten konkreten Niederschlag. Vergleicht man dann im Folgenden den griechischen Text mit der Übersetzung, so stellt man fest, dass es sich tatsächlich eher um eine freie Paraphrase handelt. Dabei wird der Sinn des griechischen Textes, auf dessen akkurate Wiedergabe der Übersetzer sein Augenmerk legen wollte, keineswegs angemessen erfasst. Dies zeigt sich etwa an der Übersetzung von ἀρξάµενος εὐθὺς καθισταµένου. Thukydides bezeichnet mit ἀρξάµενος hier den Zeitpunkt, als er mit seinen Aufzeichnungen begann. In der Übersetzung wird ἀρξάµενος demgegenüber so aufgefasst, als würde damit der Zeitpunkt bezeichnet, an dem die Darstellung des Thukydides anhebt. Aufgrund dieses Missverständnisses konnte dann auch εὐθὺς καθισταµένου nicht angemessen erfasst werden, so dass sich der Übersetzer mit der freien Umschreibung »von seiner ersten Urquelle« behelfen musste. Ganz ähnlich verhält es sich mit der Übersetzung von ἐλπίσας (»so ist unsre Hoffnung«). Diese entspricht semantisch nicht dem Griechischen, denn ἐλπίζω ist hier nicht im Sinne von »hoffen«, sondern von »erwarten« zu verstehen. Darüber hinaus richtet sich die Hoffnung in der Übersetzung auf das Urteil der Leser, während sich die von Thukydides beschriebene Erwartung auf die Größe des Krieges bezieht. Bemerkenswert scheint aber vor allem die Veränderung der zeitlichen Perspektive durch den Übersetzer. Um dies zu verdeutlichen, sei noch einmal kurz auf die beiden im griechischen Text dargestellten zeitlichen Perspektiven hingewiesen: Thukydides beschreibt die Abfassung seines Werkes als in der Vergangenheit liegend (ξυνέγραψε) und führt den Leser in die Zeit des Anfangsstadiums des Krieges zurück, als er sich an die Aufzeichnung der Kriegsereignisse machte (ἀρξάµενος). Die Entscheidung, das Kriegsgeschehen aufzuzeichnen, begründet er mit seiner damaligen Erwartung (ἐλπίσας) hinsichtlich der Größe des Krieges. In dem mit κίνησις γὰρ αὕτη beginnenden Satz nimmt er dann wieder die Anfangsperspektive ein und bestätigt die Richtigkeit seiner damaligen Erwartung. In _____________ 146 Anonymus (1757a), 2 f.

Anonymus

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der Übersetzung sind diese beiden unterschiedlichen zeitlichen Perspektiven nicht klar auseinandergehalten: Der Verfasser erweckt nämlich zunächst den Eindruck, Thukydides mache sich erst, nachdem der Krieg vorüber ist, an die schriftliche Aufzeichnung (»Wenn wir denjenigen Krieg, den die Peloponeser und Athenienser zusammen geführt haben, beschreiben wollen«). Diese zeitliche Perspektive wird jedoch nicht konsequent durchgehalten. Denn im Folgenden scheint der Krieg erst in der Zukunft zu liegen (»masen der Ausgang ohne Zweifel zeigen wird, daß alles, was die vorigen Zeiten erlebt haben, gegen diesen Krieg zu rechnen, nichts sey«). Vollends bestätigt wird dies dann durch den Satz »[b]ey dieser Meynung wird vornehmlich darauf gesehen, weil beyde Parteyen, sowol die Korinther als Peloponeser, ungemein kriegerisch sind, und an allem, was zum Kriege erfordert wird, einen Ueberfluß haben«. Hier nimmt der Verfasser nämlich, wie die Präsensformen deutlich machen, die Perspektive ein, die Thukydides am Anfang des Krieges hatte. Die deutsche Übersetzung ist also – unabhängig davon, dass sie den griechischen Text nicht angemessen wiedergibt – für sich genommen inkohärent. Unverständlich wird der Text für den Leser zudem durch die unzutreffende Übersetzung von ἀµφότεροι mit »sowol die Korinther als Peloponeser«, nachdem am Anfang – dem griechischen Text entsprechend – vom Krieg der »Peloponeser und Athenienser« die Rede gewesen ist. Angesichts der Diskrepanz zwischen dem griechischen Text und der Übersetzung stellt sich zwangsläufig die Frage, ob der Verfasser eine mehr als rudimentäre Kenntnis des Griechischen besaß bzw. ob er überhaupt den griechischen Text als Vorlage verwendet hat. Bereits kurz nach Erscheinen wurde auf Ähnlichkeiten zur französischen Übersetzung von d’Ablancourt (1662) hingewiesen.147 Der Vergleich mit dessen Übersetzung zeigt an dieser Stelle tatsächlich deutliche Übereinstimmungen,148 die den Schluss nahelegen, sie habe als Mittelübersetzung fungiert. Beispielsweise lassen sowohl d’Ablancourt als auch der anonyme Übersetzer den Satz κίνησις γὰρ αὕτη µεγίστη δὴ τοῖς Ἕλλησιν ἐγένετο unberücksichtigt. Allerdings muss der anonyme Übersetzer auch das Original (bzw. eine andere Übersetzung) verwendet haben, denn er ist vereinzelt näher am griechischen Text als d’Ablancourt, so etwa in seiner Wiedergabe von τὸν πόλεµον τῶν Πελοποννησίων καὶ Ἀθηναίων, ὡς ἐπολέµησαν πρὸς ἀλλήλους (»denjenigen Krieg, den die Peloponeser und Athenienser zusammen geführt haben«), das d’Ablancourt mit »la guerre du Peloponése« wiedergibt.

_____________ 147 Vgl. Heilmann (1759), XX–XXIII und Degen (1798), 508 f. 148 Vgl. d’Ablancourt (1662), 1 f.: »I’entreprens d’écrire la guerre du Peloponése dés ses premiers commencemens, sur la créance qu’elle sera plus fameuse que pas une autre de l’Antiquité, parce qu’Athenes & Lacedemone estoient alors au plus haut point de leur gloire, & que toute la Grece s’ébranla en leur faveur, & entraina apres-soy une partie des Barbares, & s’il faut ainsi dire, le reste du monde. En effet, les guerres precedentes, à remonter iusqu’à leur source, n’ont pas esté si considerables, ni en faits d’armes, ni en appareil«.

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Deutsche Thukydidesübersetzungen im 18. Jahrhundert

Epitaphios (2, 37, 1) Χρώµεθα γὰρ πολιτείᾳ οὐ ζηλούσῃ τοὺς τῶν πέλας νόµους, παράδειγµα δὲ αὐτοὶ µᾶλλον ὄντες τισὶν, ἢ µιµούµενοι ἑτέρους. καὶ ὄνοµα µὲν, διὰ τὸ µὴ ἐς ὀλίγους ἀλλ᾿ ἐς πλείονας οἰκεῖν, δηµοκρατία κέκληται·

µέτεστι δὲ, κατὰ µὲν τοὺς νόµους, πρὸς τὰ ἴδια διάφορα πᾶσι τὸ ἴσον, κατὰ δὲ τὴν ἀξίωσιν, ὡς ἕκαστος ἔν τῳ εὐδοκιµεῖ, οὐκ ἀπὸ µέρους τὸ πλεῖον ἐς τὰ κοινὰ ἢ ἀπ᾿ ἀρετῆς προτιµᾶται· οὐδ᾿ αὖ κατὰ πενίαν, ἔχων δέ τι ἀγαθὸν δρᾶσαι τὴν πόλιν, ἀξιώµατος ἀφανείᾳ κεκώλυται.

Wir führen uns nicht nach den Grundsätzen unserer Nachbarn in unserer Staatskunst auf: wir nehmen kein Vorbild von ihnen, sondern geben ihnen vielmehr durch unsere Regierung selbst das Muster. Unsere Herrschaft beruht auf den Häuptern des ganzen Volks, indem wir die Glückseligkeit des ganzen Volks zum Ziele haben; und nicht etwan die Vortheile einiger besondern Personen. Alle haben ein gleiches Recht zum Regimente, wiewol mit verschiedenen Bedingungen, und geniessen einerley Freyheiten. Die Ehre ist nicht an die Gebuhrt gebunden, sondern begleitet allein die Verdienste: die Armuth, die Niedrigkeit, hindern keinen zu Ehrenämtern hinauf zu steigen, wenn er sich nur derselben würdig machen, und seinem Vaterlande erspriesliche und vorzügliche Dienste leisten kann.149

Im Vergleich zum ersten Übersetzungsbeispiel fallen die Abweichungen vom griechischen Text in dieser Passage etwas geringer aus, wenngleich auch hier wesentliche Aspekte des Ausgangstextes unberücksichtigt bleiben. So wird ein entscheidender Punkt der Aussage, nämlich der Gegensatz zwischen dem Namen und dem Wesen der athenischen Politeia, vollkommen ignoriert. Dass der Grad der Sinnentstellung gegenüber dem ersten Beispiel vergleichsweise geringer ist, hängt damit zusammen, dass sich der Verfasser hier sehr eng an der französischen Übersetzung von d’Ablancourt anlehnt.150 Eine nennenswerte Änderung gegenüber dem Französischen lässt sich lediglich in der Wiedergabe von Χρώµεθα γὰρ πολιτείᾳ οὐ ζηλούσῃ τοὺς τῶν πέλας νόµους, παράδειγµα δὲ αὐτοὶ µᾶλλον ὄντες τισὶν, ἢ µιµούµενοι ἑτέρους feststellen. Während d’Ablancourt diesem Satz in _____________ 149 Anonymus (1757a), 104 f. 150 Vgl. d’Ablancourt (1662), 87: »Nous ne nous gouvernons pas par les maximes des autres, & leur servons plûtost d’exemple, que nous ne suivons le leur. Nostre Gouvernement est populaire, parce que nous avons pour but la félicité du peuple, & non pas celle de quelques particuliers. Tous ont mesme droit à l’Empire, quoy que de conditions diférentes, & joüissent de mesmes priviléges. L’honneur n’est pas déferé à la noblesse, mais au mérite; la pauvreté, ni la bassesse de la condition n’empeschent point un homme de monter aux Dignitez, pourveu qu’il s’en rende digne, & qu’il puisse estre utile à son païs.« Dass der Verfasser neben der Übersetzung von d’Ablancourt auch den griechischen Text bzw. eine andere Übersetzung verwendet haben muss, lässt sich aber aus seiner Wiedergabe von τῶν πέλας mit »unserer Nachbarn« erschließen, das gegenüber dem französischen »des autres« näher am griechischen Text ist.

Anonymus

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seinem sprachlichen Ablauf – wenn auch im Einzelnen sehr frei – folgt und die doppelt antithetische Konstruktion nachbildet (»Nous ne nous gouvernons pas par les maximes des autres, & leur servons plûtost d’exemple, que nous ne suivons le leur«), beseitigt der Verfasser der deutschen Übersetzung diese stilistische Besonderheit, indem er die Satzstruktur gegenüber dem griechischen Text verändert (»Wir führen uns nicht nach den Grundsätzen unserer Nachbarn in unserer Staatskunst auf: wir nehmen kein Vorbild von ihnen, sondern geben ihnen vielmehr durch unsere Regierung selbst das Muster«). Die Unregelmäßigkeit des Thukydideischen Stils, die in der Übersetzung d’Ablancourts hier noch ansatzweise bewahrt worden war, wird also vom anonymen Übersetzer vollständig nivelliert. Pathologie des Krieges (3, 82, 4 f.) καὶ τὴν εἰωθυῖαν ἀξίωσιν τῶν ὀνοµάτων ἐς τὰ ἔργα ἀντήλλαξαν τῇ δικαιώσει. τόλµα µὲν γὰρ ἀλόγιστος, φιλέταιρος ἐνοµίσθη·

ἀνδρία

µέλλησις δὲ προµηθὴς, δειλία εὐπρεπής. τὸ δὲ σῶφρον, τοῦ ἀνάνδρου πρόσχηµα. καὶ τὸ πρὸς ἅπαν ξυνετὸν, ἐπίπαν ἀργόν. τὸ δ᾿ ἐµπλήκτως ὀξὺ, ἀνδρὸς µοίρᾳ προσετέθη. ἀσφαλείᾳ151 δὲ τὸ ἐπιβουλεύσασθαι, ἀποτροπῆς πρόφασις εὔλογος.

καὶ ὁ µὲν χαλεπαίνων, πιστὸς ἀεὶ, ὁ δ᾿ ἀντιλέγων αὐτῷ, ὕποπτος. ἐπιβουλεύσας δέ τις τυχὼν, ξυνετὸς,

Der Krieg, der schlimme Lehrmeister, verändert nicht nur so die menschlichen Gemüther, sondern auch selbst die Sprache und Worte: eine unüberlegte tollkühne trotzige Frechheit, heist ein tapfrer Eifer seinen Freunden zu dienen; eine bedachtsame Verweigerung aber und anständige Bedenklichkeit, trägt den Namen einer höflichen Faulheit und ist ein artiger Deckmantel der Zaghaftigkeit. Geht man fürsichtig in allem zu Werke, so heist es man zaudere; allein eine unsinnige Uebereilung gehört zu einem braven Manne: will man nichts thun, von dessen möglichem guten Ausgange man nicht zuvor überzeugt ist; so muß man hören, man wolle sich gar allen Geschäften und dem Staate entziehen. Wer herauspoltert, der wird für aufrichtig, ehrlich, und einen Mann von altem Schrot und Korne gehalten; wehe dem der sich ihm widersetzt und eine gelassene Erinnerung gibt, der heist spitzfindig und arglistig. Ein Betrieger, wenn es ihm nur glückt, heist klug;

_____________ 151 In der Ausgabe von Duker (1731) ist an dieser Stelle ἀσφάλεια abgedruckt, in den Anmerkungen findet sich dort aber auch die Lesart ἀσφαλείᾳ.

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Deutsche Thukydidesübersetzungen im 18. Jahrhundert

καὶ ὑπονοήσας, ἔτι δεινότερος. προβουλεύσας δὲ ὅπως µηδὲν αὐτῶν δεήσοι, τῆς τε ἑταιρίας διαλυτὴς, καὶ τοὺς ἐναντίους ἐκπεπληγµένος.

ἁπλῶς δὲ, ὁ φθάσας τὸν µέλλοντα κακόν τι δρᾷν, ἐπῃνεῖτο, καὶ ὁ ἐπικελεύσας τὸν µὴ διανοούµενον.

und ein Schelm, der den andern Schelmen übersehen kann, heist noch klüger: weis sich einer, im Gegentheile, in acht zu nehmen, daß er weder nöthig hat auf Ränke auszugehen, noch daß man mit Ränken bey ihm ankommen kann; so heist er ein Menschenfeind, ein Tagescheuer oder eine Einfalt. Kurz, der hat das Lob, der am verführtesten ist, und andre am besten verführen kann.152

Im ersten Satz fällt zunächst die Änderung des Subjekts auf. Nicht die Bewohner Kerkyras, sondern der Krieg wird in der Übersetzung als Urheber der sprachlichen Veränderung dargestellt. Der Übersetzer hat hier offenbar das Subjekt ὁ πόλεµος sowie die Formulierung βίαιος διδάσκαλος aus 3, 82, 2 übernommen.153 In dem anschließend folgenden Katalog der Sprachveränderungen fällt dann insbesondere die Tendenz zur wortreichen Paraphrase der griechischen Formulierungen auf. Einzelne griechische Wörter werden dabei mit bis zu drei deutschen Ausdrücken umschrieben. So gibt der Anonymus etwa τόλµα ... ἀλόγιστος mit »eine unüberlegte tollkühne trotzige Frechheit« wieder; πιστὸς mit »aufrichtig, ehrlich, und ein Mann von altem Schrot und Korne«. An die Stelle der Thukydideischen Knappheit tritt hier also ein ausladender, pleonastischer Stil. Zudem lässt sich eine Tendenz zur Verlebendigung (»wehe dem der sich ihm widersetzt«) sowie zu umgangssprachlichen Ausdrücken (»von altem Schrot und Korne«) beobachten, die ebenfalls der Thukydideischen Sprachhaltung diametral entgegen steht. Es handelt sich dabei jedoch nicht allein um stilistische Veränderungen. Auch der Sinn geht in der Übersetzung an vielen Stellen verloren, da es dem Übersetzer trotz seiner wortreichen Paraphrasen nicht gelingt, den Inhalt einzelner Ausdrücke angemessen wiederzugeben. Besonders deutlich wird dies etwa in der Wiedergabe von τῆς τε ἑταιρίας διαλυτὴς, καὶ τοὺς ἐναντίους ἐκπεπληγµένος mit »ein Menschenfeind, ein Tagescheuer oder eine Einfalt«. Die zentralen Aspekte der Zersetzung der Hetairie sowie der Furcht vor den Feinden kommen in der Übersetzung überhaupt nicht zum Ausdruck. In diesem Beispiel zeigen sich also auf engstem Raum zwei gegenläufige Tendenzen: Auf der einen Seite Auslassungen und radikale Verkürzung, auf der anderen Seite ein den Sinn entstellendes, ausuferndes Paraphrasieren. Anders als im vorangegangenen Beispiel lässt sich eine Übernahme der französischen Version d’Ablancourts an dieser Stelle nicht nachweisen.154 Die freie Ausgestaltung _____________ 152 Anonymus (1757a), 200 f. 153 An der betreffenden Stelle hatte der anonyme Übersetzer βίαιος διδάσκαλος unübersetzt gelassen. 154 Vgl. d’Ablancourt (1662), 160.

Anonymus

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des griechischen Textes stellt also offenbar eine eigenständige »Leistung« des anonymen Übersetzers dar. Melierdialog (5, 89) Ἡµεῖς τοίνυν οὔτε αὐτοὶ µετ᾿ ὀνοµάτων καλῶν, ὡς ἢ δικαίως τὸν Μῆδον καταλύσαντες ἄρχοµεν, ἢ ἀδικούµενοι νῦν ἐπεξερχόµεθα, λόγων µῆκος ἄπιστον παρέξοµεν· οὔθ᾿ ὑµᾶς ἀξιοῦµεν, ἢ ὅτι Λακεδαιµονίων ἄποικοι ὄντες οὐ ξυνεστρατεύσατε, ἢ ὡς ἡµᾶς οὐδὲν ἠδικήκατε, λέγοντας, οἴεσθαι πείσειν· τὰ δυνατὰ δ᾿ ἐξ ὧν ἑκάτεροι ἀληθῶς φρονοῦµεν διαπράσσεσθαι, ἐπισταµένους πρὸς εἰδότας, ὅτι δίκαια µὲν ἐν τῷ ἀνθρωπείῳ λόγῳ ἀπὸ τῆς ἴσης ἀνάγκης κρίνεται, δυνατὰ δὲ οἱ προὔχοντες πράσσουσι, καὶ οἱ ἀσθενεῖς ξυγχωροῦσι.

»Wir wollen sie155 demnach nicht mit hohen Worten eintreiben156, oder unser Recht und die nach dem Abzuge der Meder gebührende Oberherrschaft weit her beweisen: dagegen sollen sie auch nicht sagen, sie hätten uns nichts gethan; sondern wir wollen das Recht auf beyden Seiten etwas fallen lassen, auch alle Gewaltthätigkeit auf die Seite setzen, ob jenes schon nur zwischen zwo gleichen Parteyen Platz hat, und diese uns als Oberherren zukäme, und wollen nur freymüthig mit einander von demjenigen reden, was für uns alle beyde am zuträglichsten ist.«157

Wie am Anfang des vorangegangenen Beispiels aus der Pathologie des Krieges lassen sich auch hier wieder teils radikale Verkürzungen bzw. Verstümmelungen des griechischen Textes beobachten. So ist das zweite von den Athenern erwähnte (aber zugleich verworfene) Argument, dass sie nämlich aufgrund erlittenen Unrechts gegen die Melier vorgingen (ἀδικούµενοι νῦν ἐπεξερχόµεθα), überhaupt nicht berücksichtigt. Dadurch geht auch die Rekurrenz von δικαίως und ἀδικούµενοι verloren, die insofern von zentraler Bedeutung ist, als sie unterstreicht, dass die Athener keine Diskussion auf der Grundlage der Kategorie des Rechts zulassen wollen. Auch die Darstellung der möglichen Gegenargumente der Melier ist in der Übersetzung stark verkürzt, indem das erste der beiden hypothetisch formulierten Argumente, dass nämlich die Melier von den Lakedaimoniern abstammten (ὅτι Λακεδαιµονίων ἄποικοι ὄντες οὐ ξυνεστρατεύσατε), unübersetzt bleibt. Das andere aus Sicht der Athener antizipierte Argument der Melier (ὡς ἡµᾶς οὐδὲν ἠδικήκατε) ist zwar in der Übersetzung berücksichtigt, doch wird die Formulierung »sie hätten uns nichts gethan« dem griechischen Wortlaut insofern nicht gerecht, als der Hinweis auf das Recht, der in ἠδικήκατε _____________ 155 [Bei dem »sie« handelt es sich um eine förmliche Anrede an die Melier.] 156 [»Eintreiben« ist hier wohl im Sinne von »überzeugen« gebraucht; vgl. DWB, Bd. 3, Sp. 328, s. v. »eintreiben« 2.] 157 Anonymus (1757a), 346.

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Deutsche Thukydidesübersetzungen im 18. Jahrhundert

zu sehen ist, hier fehlt. Schließlich ist noch darauf hinzuweisen, dass die Formulierungen λόγων µῆκος ἄπιστον, οἴεσθαι πείσειν und ἐπισταµένους πρὸς εἰδότας in der Übersetzung unberücksichtigt bleiben. In der Übersetzung des mit τὰ δυνατὰ δ᾿ beginnenden Abschnitts lässt sich dann nur erahnen, wie der Übersetzer von dem griechischen Text zu seiner Fassung gelangt sein könnte.158 Die bei Thukydides geäußerte Forderung der Athener, eine Argumentation auf der Grundlage der Kategorie des Rechts zu unterlassen und vielmehr nur die wahren Motive beider Parteien zu berücksichtigen (ἐξ ὧν ἑκάτεροι ἀληθῶς φρονοῦµεν und ἐπισταµένους πρὸς εἰδότας), geht in dieser Übersetzung jedenfalls vollkommen verloren. Die hier vorgestellte Geschichte des peloponesischen Krieges vermittelt von dem Thukydideischen Geschichtswerk nur ein höchst unvollkommenes Bild. Der Sinn wird nämlich häufig so stark entstellt, dass es für den Leser nicht mehr möglich ist, die von Thukydides intendierten gedanklichen Zusammenhänge nachzuvollziehen. Die Distanz zu dem griechischen Text ist dabei so groß, dass nicht einmal mit Sicherheit gesagt werden kann, ob dieser von dem Übersetzer verwendet worden ist oder nicht vielmehr ausschließlich Mittelübersetzungen zugrunde gelegt wurden. Jedenfalls ließ sich nachweisen, dass die französische Übersetzung d’Ablancourts aus dem 17. Jahrhundert in bestimmten Passagen ausgiebig verwendet wurde. Doch muss der anonyme Übersetzer, wie an einzelnen Formulierungen deutlich wird, auch andere Vorlagen verwendet haben, also entweder das griechische Original oder lateinische Übersetungen. Für die Geschichte der deutschen Thukydidesübersetzung ist dieses Werk aber insofern von großer Bedeutung, als es den Stand, auf dem sich die deutsche Übersetzungskultur um die Mitte des 18. Jahrhunderts teilweise noch befand, dokumentiert und so erst möglich macht, die Leistungen der beiden im Folgenden zu betrachtenden Übersetzer angemessen zu würdigen.

_____________ 158 Der Vergleich mit der französischen Übersetzung d’Ablancourts, der bei aller übersetzerischen Freiheit doch die zentralen Sinnelemente dieses Satzes in nachvollziehbarer Weise darstellt, ergibt keine Übereinstimmungen (vgl. d’Ablancourt [1662] 271). Ebensowenig lassen sich Übernahmen aus den lateinischen Übersetzungen des 16./17. Jh. oder aus der deutschen Übersetzung Hieronymus Boners (1533) nachweisen.

Johann David Heilmann

3.2

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Johann David Heilmann: Des Thucydides acht Bücher der Geschichte (1760)

Johann David Heilmann (1727–1764) studierte von 1746 bis 1754 an der Universität Halle,159 wo er Schüler von Siegmund Jacob Baumgarten160 war. Anschließend wurde er Rektor des Gymnasiums zu Hameln, zwei Jahre darauf Rektor des Gymnasiums zu Osnabrück; im Jahr 1758 schließlich trat er, nachdem er Rufe an die Universitäten Halle und Helmstedt abgelehnt hatte, eine Professur für Theologie in Göttingen an, die er bis zu seinem frühen Tod bekleidete. Heilmanns Übersetzung des Thukydides, die im Jahre 1760 erschien, gingen 1758 seine Kritischen Gedanken von dem Charakter und der Schreibart des Thucydides voraus. Er äußert hier seine Bewunderung für den Stil des Thukydides und spricht in diesem Zusammenhang von dessen »Adel im Ausdruk«161 sowie von der »Grösse und Würde der Schreibart«162, weist aber zugleich darauf hin, dass Thukydides »unverständlich und schwer«163 sei. Welche Schwierigkeiten sich aus dessen Stil für die Übersetzung ergeben, macht Heilmann unmissverständlich deutlich164: Allein einen Schriftsteller richtig zu übersetzen, der mit seiner Sprache so gebieterisch umgegangen, dessen Denkungsart so sonderbar, und dessen Ausdruck gerade auf seine Denkungsart gepasset ist, das hält gewis ein wenig schwer: und ihn durchgehends so zu übersetzen, daß man nicht nur die Vorstellungen überhaupt, sondern auch das eigene Geschicke derselben und den Eindruck, den sie oft durch ihre Stellung machen, mit ausdruckt, dieses ist nach meiner Einsicht unmöglich; und man kan gern zufrieden seyn, wenn man solches durch einen glücklichen Einfal nur dann und wann erhält.

Bereits 1757 hatte Heilmann in einer umfangreichen Rezension der Herodotübersetzung des Johann Eustachius Goldhagen (1756) seine Übersetzungsprinzipien dargelegt. Er beginnt seine Ausführungen auf der Ebene des einzelnen Wortes und diskutiert zunächst die Schwierigkeit, jeweils für ein bestimmtes griechisches Wort eine genaue Entsprechung im Deutschen zu finden.165 Von hier aus geht er dann zu den Redensarten über, für die er, wie schon Gottsched und Venzky, eine wörtliche Übersetzung strikt ablehnt.166 Des weiteren verlangt Heilmann, die _____________ 159 Eine ausführliche biographische Würdigung Heilmanns in lateinischer Sprache findet sich in dem Nachruf von Heyne (1764). Knappere biographische Darstellungen in deutscher Sprache bei Doering (1831), 669–72 und Halm (1880). 160 Baumgarten (1706–1757) war seit 1734 Professor für Theologie an der Universität Halle. 161 Heilmann (1758), 40. 162 Ebd., 43. 163 Ebd. 164 Ebd., 43 f. 165 Vgl. Heilmann (1757), o. P. 166 Vgl. ebd.: »In einer guten Uebersetzung wird also der ganze Begrif, den eine Redensart hat, [...] ausgedrucket werden müssen, ohne daß auf die einzelnen Worte im geringsten weiter zu sehen ist, als in so fern sie zu der Bestimmung des ganzen Begrifs das ihrige beitragen. Eine Anmer-

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Deutsche Thukydidesübersetzungen im 18. Jahrhundert

Verbindung der Gedanken in der Übersetzung angemessen auszudrücken und fordert schließlich, ähnlich wie Gottsched, »den Charakter seines Schriftstellers auch in seiner Uebersetzung kenbar zu machen«, wobei er allerdings folgende Einschränkung vornimmt: »so viel ohne Verletzung der Sprachregeln geschehen kan«167. Dass er auf stilistische Ähnlichkeit – und nicht Sprachmimesis – abzielt, macht Heilmann dann auch im unmittelbaren Anschluss deutlich, indem er vor einem die grammatikalischen Strukturen streng nachbildenden Übersetzen ausdrücklich warnt.168 In der Vorrede zu seiner Übersetzung konkretisiert Heilmann diese theoretischen Überlegungen dann und geht ausführlicher auf die besonderen Schwierigkeiten ein, die das Werk des Thukydides einem Übersetzer bietet.169 Der Aspekt der stilistischen Ähnlichkeit spielt hier allerdings, was angesichts seiner eben erwähnten Äußerungen überraschen muss, keine Rolle. Heilmann räumt zwar ein, dass sich in seiner Übersetzung – wie bei Thukydides – gewisse »harte Wortfügungen«170 finden, doch bittet er gerade hierfür um verständnisvolle Nachsicht bei seinen Lesern171: Thucydides ist in seiner Sprache ganz vol von solchen Abweichungen, und die Uebersezzung würde also dadurch ihrer Grundschrift nur desto ähnlicher geworden seyn. Ohnerachtet ich nun gern gestehe, daß ich dabei nichts weniger als dieses zur Absicht gehabt: so glaube ich doch, daß der Kunstrichter dadurch ein Recht weniger bekomme, und daß er dasjenige in dem teutschen Thucydides nicht sehr tadeln dürfe, was er dem griechischen gestattet, oder wol gar gern als einen Vorzug anrechnen möchte.

Die Argumentation Heilmanns ist an dieser Stelle leicht paradox. Er beruft sich zwar auf das Kriterium der Ähnlichkeit, um seine Übersetzung zu rechtfertigen, erklärt dann aber sogleich, dass er in Bezug auf die stilistischen »Härten« gerade keine Ähnlichkeit mit dem Ausgangstext erstrebt habe. Heilmann räumt also ein, dass es grundsätzlich denkbar wäre, auch die »Härten« des Thukydideischen Stils im Deutschen wiederzugeben, doch zieht er an diesem Punkt für sich die Grenzen. Diejenigen stilistischen Merkmale, die von Norden als »schroff« und »formlos« bezeichnet worden waren,172 sind aus Heilmanns Sicht offenbar nicht analog wiederzugeben. Dass Heilmann tatsächlich keine stilistische Treue erstrebt, sondern sich dezidiert zum zielsprachenorientierten Übersetzen bekennt, wird dann aus der im _____________

167 168 169 170 171 172

kung, die eben so richtig als nötig ist; damit man nicht in der Einbildung, dem Charakter seines Schriftstellers nichs zu vergeben, in seiner Sprache barbarisire, oder gar ganz andere Vorstellungen bey dem Leser erwecke, als der Verfasser zur Absicht gehabt.« Ebd. Vgl. ebd. Diese Vorrede wurde 1759 verfasst, aber erst in der zweiten Auflage von 1808 abgedruckt. Heilmann (1759), VI. Ebd. Vgl. Kap. 1.

Johann David Heilmann

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Anschluss folgenden Darstellung seiner wichtigsten Übersetzungsprinzipien deutlich173: Zuförderst habe ich mich bemühet, in dem ganzen Vortrage die möglichste Deutlichkeit und Reinigkeit unsrer Sprache mit dem treuesten Ausdruk der Gedanken des griechischen Urhebers zu verbinden. Und hier muß ich gestehen, daß ich, um dieses zu erhalten, mich öfters weiter von den griechischen Worten entfernet habe, als es vielleicht manche für erlaubt halten werden. Allein ich habe nach reiflicher Ueberlegung dennoch geglaubt, daß den meisten Lesern mehr damit gedienet seyn würde, eine deutsche Geschichte zu lesen, wobei sie von den Gegenständen derselben eben das denken und empfinden, was etwan Thucydides dabei gedacht und empfunden, als wenn ich ein noch so brauchbares Hülfsmittel, die Bedeutungen griechischer Worte zu lernen, daraus gemacht hätte. Dieses möchte ich indessen nicht gern so verstanden wissen, als ob ich mich um die Fruchtbarkeit der einzelnen Ausdrükke nicht bekümmert hätte. Auf diese habe ich vielmehr hauptsächlich mein Augenmerk gerichtet, und nur in dem Fal, wo eine gar zu genaue, oder vielmehr übelverstandene Gewissenhaftigkeit darinnen eine ganz gegenseitige Wirkung in Ansehung des Ganzen Gedanken gehabt haben würde, habe ich mich obiger Freiheit bedienet.

Die Nähe zu der von Gottsched und Venzky formulierten Übersetzungskonzeption ist offenkundig. Drei der fünf von Venzky angeführten Prinzipien finden sich hier wieder, nämlich die genaue Wiedergabe des Gedankens, die Deutlichkeit und die Reinheit. Auch Venzkys Forderung, dass die dunkelsten Stellen eine Anmerkung erhalten sollen, findet sich in Heilmanns Übersetzung berücksichtigt.

Übersetzungsanalyse174 Der Anfang des Geschichtswerks (1, 1) Θουκυδίδης Ἀθηναῖος ξυνέγραψε τὸν πόλεµον τῶν Πελοποννησίων καὶ Ἀθηναίων, ὡς ἐπολέµησαν πρὸς ἀλλήλους· ἀρξάµενος εὐθὺς καθισταµένου, ἐλπίσας µέγαν τε ἔσεσθαι ἀξιολογώτατον τῶν προγεγενηµένων·

καὶ καὶ

Thucydides von Athen hat im gegenwärtigen Werke den Krieg beschrieben, welchen die Peloponnesier mit den Atheniensern geführet. Er hat sich gleich bei dem ersten Anfange desselben an die Arbeit gemacht, weil er sich damals schon zum voraus vorstellen konte, daß es einer der wichtigsten und merkwürdigsten unter allen bisherigen Kriegen dieser Völker seyn würde;

_____________ 173 Heilmann (1759), VII. 174 Der Übersetzung Heilmanns liegt die Ausgabe von Duker (1731) zugrunde.

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Deutsche Thukydidesübersetzungen im 18. Jahrhundert

τεκµαιρόµενος, ὅτι ἀκµάζοντές τε ἦσαν ἐς αὐτὸν ἀµφότεροι παρασκευῇ τῇ πάσῃ, καὶ τὸ ἄλλο Ἑλληνικὸν ὁρῶν ξυνιστάµενον πρὸς ἑκατέρους, τὸ µὲν εὐθὺς, τὸ δὲ καὶ διανοούµενον. κίνησις γὰρ αὕτη µεγίστη δὴ τοῖς Ἕλλησιν ἐγένετο, καὶ µέρει τινὶ τῶν βαρβάρων, ὡς δὲ εἰπεῖν, καὶ ἐπὶ πλεῖστον ἀνθρώπων. τὰ γὰρ πρὸ αὐτῶν, καὶ τὰ ἔτι παλαιότερα, σαφῶς µὲν εὑρεῖν διὰ χρόνου πλῆθος ἀδύνατον ἦν· ἐκ δὲ τεκµηρίων, ὧν ἐπὶ µακρότατον σκοποῦντί µοι πιστεῦσαι ξυµβαίνει, οὐ µεγάλα νοµίζω γενέσθαι, οὔτε κατὰ τοὺς πολέµους, οὔτε ἐς τὰ ἄλλα.

indem beide damals in Ansehung aller zum Kriege erforderlichen Rüstungen eben auf dem Gipfel ihrer Macht waren; und auch die übrigen griechischen Mächte sich theils gleich Anfangs, theils erst nach längerem Bedenken zu einer oder der anderen Parthei schlugen. In der That war dieses eine der stärksten Bewegungen, worin sowol die Griechen als auch einige von den barbarischen Völkern, ja ich mögte wol sagen, der gröste Theil der Menschen je verwikkelt gewesen. Denn ob sich gleich von den ältern Begebenheiten, die sich vor demselben und weiter hinauf zugetragen, der Entfernung der Zeit wegen nicht viel gewisses herausbringen lässet: so kan ich doch, so viel sich aus verschiedenen Merkmaalen in diesen ältesten Zeiten mit einiger Zuverlässigkeit abnehmen lässet, mir nicht vorstellen, daß sie von sonderlicher Wichtigkeit gewesen seyn solten, so wenig was kriegerische Händel betrift, als in andern Absichten.175

Gegenüber der sprachlichen Struktur des griechischen Textes zeigen sich hier deutliche Abweichungen, was angesichts der von Heilmann selbst formulierten Übersetzungsprinzipien nicht überraschen darf. Beherrschend ist dabei die Tendenz zur Assimilation, die sich im ersten Satz in seiner Wiedergabe des vergleichenden Adverbialsatzes ὡς ἐπολέµησαν πρὸς ἀλλήλους als Relativsatz zeigt. Außerdem vermeidet er die Rekurrenz von πόλεµον und ἐπολέµησαν, indem er den im Deutschen üblichen Ausdruck »Krieg führen« wählt und das Prädikat des vergleichenden Adverbialsatzes (ἐπολέµησαν) als Teil dieses Ausdrucks wiedergibt. Auf diese Weise erreicht er eine sehr »natürlich« wirkende deutsche Formulierung. Ein weiteres Kennzeichen der Übersetzung Heilmanns ist die Hinzufügung von verdeutlichenden Zusätzen. So lässt er etwa durch die Ergänzung »im gegenwärtigen Werke« die einleitende Funktion des ersten Satzes deutlicher hervortreten. Eine ähnliche Ergänzung findet sich in seiner sehr wortreichen Übersetzung von ἐλπίσας, das er mit »weil er sich damals schon zum voraus vorstellen konte« wiedergibt. Auch den Ausdruck παρασκευῇ τῇ πάσῃ gibt Heilmann explizierend wieder (»in Ansehung aller zum Kriege erforderlichen Rüstungen«). Die bislang betrachteten Veränderungen lassen sich mit den Idealen der zielsprachlichen Qualität und Deutlichkeit, wie sie für die Übersetzungstheorie der _____________ 175 Heilmann (1760), 1 f.

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frühen Aufklärung maßgeblich sind, gut in Einklang bringen. Was aber die »stilistische« Ähnlichkeit anbelangt, die Heilmann selber propagiert hatte, so zeigt sich, dass er diese nicht, oder doch nur in sehr begrenztem Maße anstrebt. Eine für den Stil des Thukydides typische Erscheinung ist etwa der Wechsel zwischen Positiv und Superlativ (µέγαν τε ἔσεσθαι καὶ ἀξιολογώτατον τῶν προγεγενηµένων). Diesen gibt Heilmann jedoch nicht wieder, sondern er »begradigt« gleichsam die Asymmetrie des griechischen Textes, indem er beide Formen mit einem eingeschränkten Superlativ wiedergibt (»einer der wichtigsten und merkwürdigsten«). Im folgenden, mit τεκµαιρόµενος beginnenden Abschnitt des Satzes nimmt Heilmann dann eine deutliche Veränderung vor, indem er das Partizip τεκµαιρόµενος unübersetzt lässt. Für das Verständnis des Satzes hat dies zwar keine gravierenden Konsequenzen, doch führt Heilmanns Übersetzung zu einer stilistischen Verschiebung. Thukydides hatte hier nämlich die Konstruktion zunächst mit τεκµαιρόµενος ὅτι begonnen, dann aber mit dem Partizip ὁρῶν anakoluth weitergeführt. Bei Heilmann tritt an die Stelle dieser Anakoluthie ein völlig regelmäßiger zweigliedriger Nebensatz. Auch hier zeigt sich also eine klare Tendenz zur stilistischen Normalisierung. Schließlich ist noch auf Heilmanns Übersetzung des mit κίνησις γὰρ αὕτη beginnenden Satzes hinzuweisen. Die interpretatorischen Schwierigkeiten, die dieser Satz bereitet, wurden bereits im vorangehenden Kapitel ausführlich dargestellt.176 Das Hauptproblem besteht hier darin, dass die Partikel γάρ nicht – wie in den meisten Fällen – im Sinne von »denn« bzw. »nämlich« zu verstehen ist. Denn der zweite Satz liefert keine Begründung für die im ersten Satz beschriebene Erwartung des »jungen« Thukydides, dass der Krieg groß sein werde, sondern vielmehr die Bestätigung dieser Erwartung. Heilmann hat den gedanklichen Zusammenhang zwischen dem ersten und zweiten Satz richtig erkannt und bringt diesen angemessen zum Ausdruck, indem er die Partikel γάρ mit »in der That« übersetzt. Nicht zuletzt an dieser übersetzerischen Feinheit wird deutlich, dass der Thukydides Heilmanns im Vergleich zur anonymen »Übersetzung« von 1757 von einer ganz anderen Qualität ist. Epitaphios (2, 37, 1) Χρώµεθα γὰρ πολιτείᾳ οὐ ζηλούσῃ τοὺς τῶν πέλας νόµους, παράδειγµα δὲ αὐτοὶ µᾶλλον ὄντες τισὶν, ἢ µιµούµενοι ἑτέρους.

_____________ 176 S. oben Kap. 2.1.

Anlangend also unsre Staatsverfassung; so suchen wir uns darin nicht nach den Einrichtungen anderer Völker zu richten: nein, wir dienen vielmehr andern zum Muster, als daß wir andern nachahmen solten.

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Deutsche Thukydidesübersetzungen im 18. Jahrhundert

καὶ ὄνοµα µὲν, διὰ τὸ µὴ ἐς ὀλίγους ἀλλ᾿ ἐς πλείονας οἰκεῖν, δηµοκρατία κέκληται· µέτεστι δὲ, κατὰ µὲν τοὺς νόµους, πρὸς τὰ ἴδια διάφορα πᾶσι τὸ ἴσον, κατὰ δὲ τὴν ἀξίωσιν, ὡς ἕκαστος ἔν τῳ εὐδοκιµεῖ, οὐκ ἀπὸ µέρους τὸ πλεῖον ἐς τὰ κοινὰ ἢ ἀπ᾿ ἀρετῆς προτιµᾶται· οὐδ᾿ αὖ κατὰ πενίαν, ἔχων δέ τι ἀγαθὸν δρᾶσαι τὴν πόλιν, ἀξιώµατος ἀφανείᾳ κεκώλυται.

Sie heist eine Democratie, weil sie nicht auf einigen wenigen, sondern auf dem grossen Haufen beruhet. Die Gesetze gewären in Ansehung besonderer Angelegenheiten einem jeden gleiche Rechte, in Ansehung der Würde aber diejenige Stufe, die ihm nicht eine gewisse Abkunft, sondern die gute Meinung, die er in einer oder andern Art von Verdiensten vor sich hat, sichert. Der dürftigste Bürger, wenn er nur dem Staat nützen kan, wird durch seinen unansehnlichen Stand nicht gehindert, zu Ehren und Würden zu gelangen.177

Heilmann verändert die hierarchische Struktur des ersten Satzes, indem er χρώµεθα γὰρ πολιτείᾳ als Satzeinleitung (»Anlangend also unsre Staatsverfassung«), die Partizipien (οὐ) ζηλούσῃ, (παράδειγµα) ὄντες und µιµούµενοι als Prädikate wiedergibt (»suchen wir uns darin nicht [...] zu richten [...], wir dienen vielmehr [...] zum Muster, als daß wir [...] nachahmen solten«). Mit dieser Umkehrung der Satzhierarchie erreicht Heilmann eine »natürlichere« Struktur. Denn die wichtigsten Informationen, die im griechischen Satz durch die Partizipialkonstruktionen ausgedrückt werden, stehen bei Heilmann als Prädikate auf der obersten Satzebene. An der Übersetzung des ersten Satzes lässt sich auch beobachten, wie Heilmann mit der für Thukydides typischen Variatio umgeht. Thukydides variiert hier zwischen einem substantivierten Adverb (τῶν πέλας), einem Indefinitpronomen (τισίν) und einem Pronomen (ἑτέρους), die ungefähr synonym gebraucht werden. Diese Variatio ersetzt Heilmann durch Wortwiederholung (»anderer [...] andern [...] andern«). In dem unmittelbar darauf folgenden Satz findet sich dann eine Variatio von Positiv (ὀλίγους) und Komparativ (πλείονας), die von Heilmann ebenfalls nicht nachgebildet wird (»einigen wenigen [...] dem grossen Haufen«). Den mit µέτεστι δὲ beginnenden Satz trennt Heilmann in zwei selbständige Sätze, er orientiert sich dabei aber in den groben Zügen an der sprachlichen Struktur des griechischen Satzes. In der Wiedergabe einzelner Ausdrücke verfährt Heilmann jedoch sehr frei, was hier zu einer sinnentstellenden Übersetzung führt. Seine Wiedergabe des ersten Kolons (µέτεστι δὲ κατὰ µὲν τοὺς νόµους πρὸς τὰ ἴδια διάφορα πᾶσι τὸ ἴσον) mit »Die Gesetze gewären in Ansehung besonderer Angelegenheiten einem jeden gleiche Rechte [...]« kann noch als der Sache nach korrekt bezeichnet werden; im Folgenden zeigt seine Übersetzung dann allerdings, dass er den griechischen Satz nicht richtig verstanden haben kann. Er behält nämlich das Subjekt und das Prädikat bei und übersetzt: »in Ansehung der Würde aber [gewähren die Gesetze einem jeden] diejenige Stufe, die ihm nicht _____________ 177 Heilmann (1760), 215 f.

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eine gewisse Abkunft, sondern die gute Meinung, die er in einer oder andern Art von Verdiensten vor sich hat, sichert.« Diese Übersetzung entspricht weder sprachlich noch sinngemäß dem griechischen Text, denn Thukydides zielt ja gerade darauf ab, den Gegensatz zwischen der durch die Gesetze sanktionierten Rechtsgleichheit und der durch die eigene Leistung begründeten Vorrangstellung hervorzuheben. Wie es zu dieser inkorrekten Übersetzung gekommen ist, lässt sich nicht unmittelbar nachvollziehen, doch kann eine Vermutung formuliert werden. Vergleicht man die Satzkonstruktion bei Thukydides mit derjenigen Heilmanns, so erkennt man schnell, dass Heilmann die Struktur des griechischen Satzes – wenn auch ungenau – imitiert. Dem Satzgerüst µέτεστι δὲ κατὰ µὲν τοὺς νόµους ... κατὰ δὲ τὴν ἀξίωσιν ... entspricht bei Heilmann »Die Gesetze gewären in Ansehung besonderer Angelegenheiten [...], in Ansehung der Würde aber«. Die Symmetrie, die sich in der Übersetzung Heilmanns beobachten lässt, ist im griechischen Satz also durchaus angelegt. Doch entwickelt sich der griechische Satz ab κατὰ δὲ τὴν ἀξίωσιν in eine andere Richtung und führt mit προτιµᾶται dann ein neues Prädikat ein – es handelt sich im griechischen Text also um eine Scheinsymmetrie. Vermutlich ist Heilmann hier der Suggestivkraft der von Thukydides konstruierten Scheinsymmetrie erlegen. Diese Annahme erscheint insofern plausibel, als der Satz Heilmann ab dem Punkt außer Kontrolle gerät, an dem Thukydides den eben beschriebenen Richtungswechsel in der Konstruktion vornimmt. Somit wäre die inkorrekte Übersetzung Heilmanns ein eindrucksvoller Beleg dafür, wie die Unregelmäßigkeit der Satzkonstruktion bei Thukydides selbst bei geübten und, so darf man im Fall Heilmanns sagen, mitdenkenden Rezipienten leicht zu Missverständnissen führen kann. Pathologie des Krieges (3, 82, 4 f.) καὶ τὴν εἰωθυῖαν ἀξίωσιν τῶν ὀνοµάτων ἐς τὰ ἔργα ἀντήλλαξαν τῇ δικαιώσει. τόλµα µὲν γὰρ ἀλόγιστος, ἀνδρία φιλέταιρος ἐνοµίσθη· µέλλησις δὲ προµηθὴς, δειλία εὐπρεπής. τὸ δὲ σῶφρον, τοῦ ἀνάνδρου πρόσχηµα. καὶ τὸ πρὸς ἅπαν ξυνετὸν, ἐπίπαν ἀργόν. τὸ δ᾿ ἐµπλήκτως ὀξὺ, ἀνδρὸς µοίρᾳ προσετέθη.

Selbst die gewönlichen Bedeutungen der Worte wurden bey der Anwendung und Schätzung der Dinge in einem ganz andern Sin genommen. Die unbesonnenste Künheit sahe man als eine dienstgeflissene Tapferkeit; ein bedachtsames Zögern hingegen als eine geschmückte Feigheit, und alle Mässigung als einen Vorwand der Zaghaftigkeit an. Wer überal vernünftig handeln wolte, hies überal eine Schlafmütze: hingegen eine tolküne Hitze hies ein manhaftes Verfaren.

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Deutsche Thukydidesübersetzungen im 18. Jahrhundert

ἀσφαλείᾳ δὲ τὸ ἐπιβουλεύσασθαι, ἀποτροπῆς πρόφασις εὔλογος.178 καὶ ὁ µὲν χαλεπαίνων, πιστὸς ἀεὶ, ὁ δ᾿ ἀντιλέγων αὐτῷ, ὕποπτος. ἐπιβουλεύσας δέ τις τυχὼν, ξυνετὸς, καὶ ὑπονοήσας, ἔτι δεινότερος. προβουλεύσας δὲ ὅπως µηδὲν αὐτῶν δεήσοι, τῆς τε ἑταιρίας διαλυτὴς, καὶ τοὺς ἐναντίους ἐκπεπληγµένος. ἁπλῶς δὲ, ὁ φθάσας τὸν µέλλοντα κακόν τι δρᾷν, ἐπῃνεῖτο, καὶ ὁ ἐπικελεύσας τὸν µὴ διανοούµενον.

Wolte jemand, um sicher zu gehen, etwas in weitere Ueberlegung nehmen: so hies es, er suche nur einen anständigen Vorwand, sich aus dem Handel zu ziehen. Wer nur brav schalt und schmähete, hies ein Man, auf den man sich verlassen könne: wer ihm hingegen widersprach, war verdächtig. Wer andern Schlingen legte, war gescheut; und wer den Falstrick entdeckte, hies vollends ein durchtriebener Kopf: hingegen wer zum voraus seine Maasregeln so nahm, daß er keins von beiden brauchte, von dem hies es, er sey ein Freundschaftsstörer, und fürchte sich für dem Gegenpart. Ueberhaupt, wer einem, der ihm einen schlimmen Streich zugedacht hatte, zuvor kam, oder einem andern, der von selbst nicht darauf kam, dergleichen an die Hand gab, der ward gerümet.179

Heilmann erstrebt offenbar keine konsequente Nachbildung der Thukydideischen Brachylogie, sondern nimmt Amplifizierungen vor, die der Übersetzung eine vom Ausgangstext deutlich abweichende stilistische Prägung verleihen. So gibt er etwa den elliptischen Teilsatz ὁ µὲν χαλεπαίνων, πιστὸς ἀεὶ sehr wortreich mit »[w]er nur brav schalt und schmähete, hies ein Man, auf den man sich verlassen könne« wieder. Während die Knappheit des Ausgangstextes also nicht nachgebildet wird, finden bestimmte Stilphänomene durchaus Berücksichtigung. So bildet Heilmann verschiedenartige Rekurrenzphänomene des griechischen Textes nach, etwa im Falle der beiden Sätze καὶ τὸ πρὸς ἅπαν ξυνετὸν, ἐπίπαν ἀργόν und τὸ δ᾿ ἐµπλήκτως ὀξὺ, ἀνδρὸς µοίρᾳ προσετέθη, die er mit »Wer überal vernünftig handeln wolte, hies überal eine Schlafmütze: hingegen eine tolküne Hitze hies ein manhaftes Verfaren« übersetzt. Heilmann zeigt hier vereinzelt also durchaus Ansätze einer Stilmimesis. Andererseits stellt der umgangssprachliche Ausdruck »Schlafmütze« vom Stilniveau her eine deutliche Verschiebung gegenüber dem Ausgangstext dar. Auch sonst lässt sich bei Heilmann eine Tendenz zur Abweichung vom sachlichen Ton der Thukydideischen Sprache und eine Hinwendung zu einem teils umgangssprachlichen, teils gehobenen Konversationston konstatieren. Eine weitere auffällige Veränderung bildet die Hinzufügung von Bildhaftigkeit durch die metaphorischen Ausdrücke »Schlinge« und »Falstrick«. _____________ 178 In der Ausgabe von Duker (1731) lautet der Text an dieser Stelle ἀσφάλεια δὲ τὸ ἐπιβουλεύσασθαι, ἀποτροπῆς πρόφασις εὔλογος; im kritischen Apparat findet sich dort aber auch die Lesart ἀσφαλείᾳ, der Heilmann offenkundig folgt. 179 Heilmann (1760), 418 f.

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Trotz dieser stilistischen Veränderungen ist aber zu konstatieren, dass Heilmann den Sinn des griechischen Textes ganz überwiegend angemessen wiedergibt. Vergleicht man Heilmanns Version mit der anonymen Übersetzung von 1757, die den Sinn der einzelnen griechischen Begriffe vielfach völlig verfehlt, so wird die außerordentliche übersetzerische Leistung Heilmanns, der ja im Wesentlichen unter den selben Voraussetzungen arbeitete, deutlich. Nur am Rande sei darauf hingewiesen, dass Heilmann in seiner Übersetzung von ἐπιβουλεύσας δέ τις τυχὼν, ξυνετὸς (»Wer andern Schlingen legte, war gescheut«) das Partizip τυχών unberücksichtigt lässt. Melierdialog (5, 89) Ἡµεῖς τοίνυν οὔτε αὐτοὶ µετ᾿ ὀνοµάτων καλῶν, ὡς ἢ δικαίως τὸν Μῆδον καταλύσαντες ἄρχοµεν, ἢ ἀδικούµενοι νῦν ἐπεξερχόµεθα, λόγων µῆκος ἄπιστον παρέξοµεν·

οὔθ᾿ ὑµᾶς ἀξιοῦµεν, ἢ ὅτι Λακεδαιµονίων ἄποικοι ὄντες οὐ ξυνεστρατεύσατε, ἢ ὡς ἡµᾶς οὐδὲν ἠδικήκατε, λέγοντας, οἴεσθαι πείσειν· τὰ δυνατὰ δ᾿ ἐξ ὧν ἑκάτεροι ἀληθῶς φρονοῦµεν διαπράσσεσθαι, ἐπισταµένους πρὸς εἰδότας, ὅτι δίκαια µὲν ἐν τῷ ἀνθρωπείῳ λόγῳ ἀπὸ τῆς ἴσης ἀνάγκης κρίνεται, δυνατὰ δὲ οἱ προὔχοντες πράσσουσι, καὶ οἱ ἀσθενεῖς ξυγχωροῦσι.

Wir wollen also auch mit glänzenden Worten, als: daß uns vermöge der Besiegung der Perser durch unsre Waffen die Herrschaft von Rechts wegen zukomme; und daß wir als beleidigter Theil von Rechts wegen die Waffen gegen euch ergriffen, kein weitläuftiges, und eben deswegen verdächtiges Aufheben machen. Wir glauben aber auch nicht, daß ihr euch einbilden soltet, ihr würdet uns durch dergleichen Vorwendungen, als: daß ihr als ein lacedämonisches Pflanzvolk nicht hättet mit zu Felde gehen können; oder daß ihr uns nichts zu Leide gethan, überzeugen: sondern daß ihr vielmehr euch dazu verstehen werdet, was nach Maasgebung unser beider wahren Gesinnungen möglich und thunlich seyn wird, in Betrachtung, daß ihr mit Leuten, zu thun habt, die wohl wissen, daß man das genaueste Recht in menschlichen Angelegenheiten nur unter Personen, die sich in einerlei Umständen befinden, zum Maasstabe seiner Entscheidungen machen könne; wer hingegen überlegene Macht in Händen hat, so weit gehe, als er könne, und der Schwächere sich drein geben müsse.180

Heilmann bildet die syntaktische Struktur des griechischen Satzes hier weitgehend nach. Die einzige deutliche Veränderung gegenüber dem Ausgangstext besteht darin, dass er das Satzgefüge in zwei deutsche Perioden trennt (man erinnere _____________ 180 Heilmann (1760), 741.

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Deutsche Thukydidesübersetzungen im 18. Jahrhundert

sich an die Lizenz Gottscheds, »einen verworrenen Satz in zween, drey oder mehr Theile abzusondern«181). Auf der Ebene der einzelnen Teilsätze lässt sich ebenfalls beobachten, dass Heilmann sich recht genau am Ausgangstext orientiert. Die Unterordnung durch Nebensätze wird in den meisten Fällen nachgebildet, für die Wiedergabe von Participia coniuncta wiederum verwendet Heilmann hier überwiegend nominale Ausdrucksweisen, für τὸν Μῆδον καταλύσαντες etwa »vermöge der Besiegung der Perser«, für λέγοντας »durch dergleichen Vorwendungen«. Die beiden unterschiedlichen Arten der Hierarchisierung, die im Griechischen zur Verfügung stehen, nämlich durch Nebensätze und Partizipialkonstruktionen, werden von Heilmann also mit den entsprechenden Mitteln der deutschen Sprache dargestellt. Weiterhin lässt sich innerhalb der einzelnen Teilsätze die Tendenz beobachten, die Wortstellung des Ausgangstextes nachzubilden oder wenigstens anzudeuten. In der ersten Periode etwa nimmt Heilmann die weite Sperrung zwischen Subjekt und Prädikat (αὐτοὶ ... παρέξοµεν) dadurch auf, dass er die beiden Bestandteile seines zusammengesetzten Prädikats sehr weit sperrt (»Wir wollen [...] Aufheben machen«). Eine ganz ähnliche Nachbildung erreicht er in der zweiten Periode, indem er den AcI ὑµᾶς ... λέγοντας οἴεσθαι πείσειν durch die Sperrung von »würdet uns [...] überzeugen« wiedergibt. Solcher Genauigkeit bei der Nachbildung der Satzstruktur steht allerdings, wie in den vorangehenden Übersetzungsbeispielen, auf der Ebene der einzelnen Ausdrücke eine sehr viel freiere Wiedergabe gegenüber. So übersetzt Heilmann ἀπὸ τῆς ἴσης ἀνάγκης durch »in einerlei Umständen«. Der Aspekt des Zwangs und der implizite Verweis auf die Anwendung kriegerischer Gewalt kommen in dieser Übersetzung nicht zur Geltung. Die Übersetzung von οἱ προύχοντες mit »wer hingegen überlegene Macht in Händen hat« ist wiederum ein Beispiel für die – in diesem Fall durchaus angemessene – Verwendung von deutschen Redensarten.

_____________ 181 Gottsched (1759), 417.

Johann Jacob Reiske

3.3

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Johann Jacob Reiske: Deutsche Uebersetzung der Reden aus dem Thukydides (1761)

Johann Jacob Reiske (1716–1774) zählt zu den bedeutendsten Gräzisten des 18. Jahrhunderts.182 Als brillanter Konjekturalkritiker hat er zahlreiche Korrekturen an griechischen Texten vorgenommen, die von Bestand waren. Zu seinen bedeutendsten philologischen Leistungen zählen die Animadversiones ad Graecos auctores (1757–1766) sowie seine Ausgabe der griechischen Redner in 12 Bänden (1770–1775). Dass er daneben auch auf dem Gebiet der Arabistik und Byzantinistik Bedeutendes geleistet hat, unterstreicht die Ausnahmequalitäten des Philologen Reiske.183 Reiske hatte 1733 in Leipzig ein Studium der Theologie begonnen, widmete sich jedoch in erster Linie dem autodidaktischen Studium der arabischen Sprache und Literatur.184 Im Jahr 1738 begab er sich dann nach Leiden, um den reichen Bestand an arabischen Manuskripten, den es dort gab, nutzen zu können. Darüber hinaus betrieb er während seines Aufenthalts in Leiden intensive Lektüre griechi_____________ 182 Die wichtigste biographische Quelle ist Reiskes Lebensbeschreibung (1783). Ein Überblick über die biographischen Daten findet sich bei Bobzin (2003), eine ausführlichere Darstellung bieten Förster (1889) und Canard (1958). Zu seiner philologischen Leistung vgl. z. B. Gudeman (1909), 217 f., Sandys (1921), 14–18, Pfeiffer (1982), 212 f. Unter den Würdigungen Reiskes ragt diejenige von Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf (1921), 42 hervor. Sie geht aus von der seinerzeitigen Situation an der Leipziger Universität und der subalternen Stellung, die Reiske einnahm: »Da war Ernesti der maßgebende Mann, noch im alten Stile Theologe zugleich, […] aber seine Nüchternheit zeugt kein frisches und noch weniger ein tiefes Denken, und vergessen können wir ihm die Hoffart nicht, mit der er Reiske niederdrückte, dem er nicht wert war, die Schuhriemen zu lösen. Aber er trug Perücke und Talar mit Würde; Reiske kam in den Verdacht der Freigeisterei, weil ihn der Mangel eines Sonntagsrockes am Kirchenbesuch verhinderte. Vielleicht entbehrte er Rock und Predigt ohne große Schmerzen, wenn er die Zeit für sein Griechisch oder Arabisch verwenden konnte. Seine Selbstbiographie und seine Briefe sollten die Philologen lesen, und nicht nur die Philologen, denn diesen Mann müssen wir immer mit Winckelmann und Lessing zusammenhalten. Wie sie auf ihn herabsehen in Leiden und in Leipzig, wie er hungern und sich ducken muß, aber die Spannkraft der Seele nicht verliert, wie er für die Wissenschaft Opfer über Opfer bringt, um die mangelnde Anerkennung unbekümmert, und wenn die Chariten ihm freilich nicht gelächelt haben, so wird auch das zu einem besonderen Vorzug, daß er ohne jede Grazie liebenswürdig wird. Schwerlich sind von einem anderen soviel Konjekturen durch die bessere handschriftliche Überlieferung bestätigt worden, und der Kreis der Schriftsteller, die er durchgearbeitet hat, ist weit größer als bei irgendeinem Zeitgenossen, unmöglich, sie aufzuzählen. Wo er kann, verschafft er sich Handschriften, aber viel mehr hilft ihm, daß er sich sogleich in jeden Stil hineinfindet. Poesie liegt ihm gar nicht, und doch gelingen ihm nach kürzester Arbeit selbst im Theokrit glänzende Verbesserungen. Dabei geht sein Interesse weit über die Textkritik hinaus, das zeigen die Erklärungen zu Konstantinos Porphyrogennetos de Caerimoniis, einer ersten Ausgabe. Man spürt es auch an seinen ungeschlachten und doch lesenswerten Übersetzungen. […] Den Lebenden hat nur einer richtig gewürdigt; aber das war Lessing, das genügt.« 183 Reiskes Leistungen in der Arabistik bzw. Byzantinistik werden von Fück (1955), 108–124, Strohmaier (1974 und 1976) und Kolditz (2005) behandelt. 184 Vgl. Reiske (1783), 8–10.

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Deutsche Thukydidesübersetzungen im 18. Jahrhundert

scher Texte und studierte während der letzten vier Jahre Medizin. Nach seiner Promotion an der medizinischen Fakultät im Jahre 1746 kehrte er nach Leipzig zurück und bestritt seinen Lebensunterhalt über viele Jahre hinweg mit Privatunterricht, Korrekturen, Übersetzungen und schriftstellerischer sowie journalistischer Tätigkeit.185 1748 wurde er zum außerordentlichen Professor für Arabisch in Leipzig ernannt, doch konnte er von der geringen Pension, die diese Position mit sich brachte und die zudem nicht regelmäßig ausbezahlt wurde, nicht leben. Allerdings etablierte er sich während dieser Zeit als bedeutender Gelehrter. Welche Anerkennung er im intellektuellen Leben Leipzigs genoss, wird daran deutlich, dass er 1754186 von Gottsched in dessen »Gesellschaft der freyen Künste und Wissenschaften« aufgenommen wurde.187 Eine entscheidende Wende in seinem Leben trat dann im Jahr 1758 ein, als er zum Rektor des Nikolaigymnasiums in Leipzig gewählt wurde, eine Position, die ihn finanziell absicherte und ihm zugleich Gelegenheit zu wissenschaftlichen Arbeiten bot. In diesem Jahr entstand auch seine Übersetzung der Reden des Thukydides, die dann 1761 erschien.188 Das Verhältnis Reiskes zu Thukydides ist sehr ambivalent. Einerseits bewundert er dessen gedankliche Tiefe und sprachliche Gewalt, wie folgendes Zitat aus der Vorrede zu seiner Übersetzung deutlich macht: Welch eine wunderbare Stärke und Menge der Beweise und Bewegungsgründe, welch eine Heftigkeit, welch ein Zwang, Rumor und Toben der Stürme, welche er in den Gemütern der Leser erregt! (Denn gehört hat sie kein Mensch in der Welt.) Welch eine Majestet im Ausdrucke! welch eine Sparsamkeit, ja Kargheit mit den Worten! Es ist nicht anders, als wenn er ein böser Schuldner wäre, der mit Worten bezalen solte, und entweder nicht bezalen könte, oder nicht wolte. So sehr feste halten die Worte bey ihm.189

Doch steht dieser in der Hauptsache positiven Bewertung eine fundamentale Kritik an wesentlichen Aspekten des Thukydideischen Stils gegenüber. Vor allem diejenigen Elemente, die Norden als »verkünstelt« bezeichnet hatte,190 lehnt er nämlich mit aller Entschiedenheit ab, an einer Stelle nennt er Thukydides sogar in verächtlicher Weise den »Vater derer Witzlinge, die mit ihren ewigen Pointen, mit ihrem weibischen Spielwerke und Getändle, den Leser biß zum Bersten und _____________ 185 186 187 188

Vgl. Reiske (1783), 44. So Döring (2005), 129 mit Anm. 60. Nach Reiske (1783), 72 fand die Aufnahme 1755 statt. Zu den Beziehungen zwischen Reiske und Gottsched vgl. Döring (2005), 128–135. Das Vorwort zu dieser Übersetzung führte zu einem Zerwürfnis mit Gottsched, dessen orthographische Bemühungen Reiske in dem Vorwort attackiert und geradezu lächerlich gemacht hatte. Die Normierung der deutschen Orthographie lag Gottsched besonders am Herzen und wurde von ihm mit großer Konsequenz verfolgt. So verlangte er von seinen Briefpartnern die Befolgung der von ihm festgesetzten orthographischen Regeln. Die Bemerkungen Reiskes musste er daher als schweren Affront auffassen. Näheres zu dieser Auseinandersetzung bei Döring (2005), 133–135. 189 Reiske (1761a), o. P. 190 Vgl. Kap. 1.

Johann Jacob Reiske

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zum Ersticken zermartern«191. Zwei Stilmerkmale hebt er hier besonders hervor, zum einen die mit mathematischer Präzision abgezirkelten Perioden, zum anderen die zahlreichen Antithesen: Das zweyte; die ewigen Antitheta, die gar kein Ende nemen wollen. Zeile auf Zeile, Schlag auf Schlag folgen sie hinter einander. Sie laßen einen gar nicht verschniben. Kaum wird man in den Reden irgendwo hin tüpfen, da man nicht ein Antithetum treffen solte. Warlich, ein so kindisches und läppisches Gezire kan ich mit einem so erhabenen richtigen und erleuchteten Geiste, der aus dem Ganzen hervorleuchtet, nicht zusammen räumen. Welch eine seltsame Zusammenfügung des guten und schlechten; welch ein unbegreiflicher Irrtum in der Wahl an einem sonst feinen Geschmacke. Ein alter Statsman von Einsicht und Erfarung wirft noch als ein Schulbube mit rhetorischen Fratzen um sich. Ein Munt der Weißheit stöst in einem Otem ein unerträgliches Gewäsch aus, und trägt mit der grösten Würde die verborgensten Leren der Klugheit vor, die aus der Tiefe der Bekantschaft mit dem täuscherischen menschlichen Herzen heraus geholet sint. Vielmals bin ich ihm beym Lesen und beym Uebersetzen gram geworden.192

Mit dieser Ablehnung des antithetischen Stils klingt Reiske an Gottsched an, der in seiner Ausführlichen Redekunst die »spielende« oder »kindische« Schreibart mit ganz ähnlichen Formulierungen beschreibt: »Es sucht dieselbe alle ihre Zierlichkeiten, in läppischen Gegensätzen, (Antithesibus) in frostigen Anspielungen, in verwerflichen Wortfiguren, und andern dergleichen Schnörkelchen, die einfältigen Leuten und Schulknaben zu gefallen pflegen«193. Die wörtlichen Anklänge (Reiske spricht von »läppische[m] Gezire«, Gottsched von »Zierlichkeiten« und »läppischen Gegensätzen«) sprechen dafür, dass Reiske sich hier direkt auf Gottsched bezieht. In diesem Zusammenhang sei noch einmal darin erinnert, dass die für Thukydides typischen stilistischen Merkmale sich nach den von Gottsched formulierten Stilnormen durchweg dem »schlechten Stil« zuordnen lassen. Reiskes Stilkritik ist also nicht bloß Ausdruck einer persönlichen Abneigung, sondern reflektiert durchaus das Stilempfinden der Zeit und erscheint geradezu als konsequente Anwendung der Gottschedschen Stilprinzipien. Auch in seiner Übersetzungskonzeption zeigt Reiske deutliche Übereinstimmungen mit der Theorie der frühen Aufklärung, insbesondere in seiner Betonung der zielsprachlichen Qualität von Übersetzungen liegt er ganz auf der Linie von Gottsched und Venzky. Wie jene verurteilt er wörtliche Übersetzungen. Geradezu verächtlich spricht er von »hölzernen undeutschen Uebersetzungen« als »Mißgeburten«, die den antiken Schriftstellern »wie eine Pest« seien und sie bei ihren

_____________ 191 Reiske (1761a), o. P. 192 Ebd. 193 Gottsched (1759), 340. Dass die ablehnende Haltung Gottscheds und Reiskes gegenüber dem antithetischen Stil des Thukydides sich auch in ganz anderer Zeit artikulieren konnte, zeigt folgende Bemerkung von Denniston (1952), 13: »The common craze for verbal antithesis is in him [Thucydides] transformed into a craze for logical antithesis.«

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Deutsche Thukydidesübersetzungen im 18. Jahrhundert

Zeitgenossen in Verruf brächten, und verurteilt an anderer Stelle ausdrücklich »greuliche Gräzismen«.194 In einem Punkt lässt sich allerdings ein, wie sich noch zeigen wird, bedeutsamer Unterschied gegenüber Gottsched beobachten. Hatte Gottsched noch gefordert, man solle den Stil des Autors in der Übersetzung nachbilden, so stellt Reiske dies, zumindest was die sprachliche Kürze betrifft, nur als eine Option dar195: Der Leser der Uebersetzung will die waren Gedanken der Urschrift wißen. Kan der Uebersetzer in seiner Sprache die Kürze der Urschrift auch füglich darstellen, one daß dadurch seiner Sprache Gewalt angetan, oder der Sin verdunkelt, oder der Uebersetzer alzu ser angegriffen und ermüdet, oder der Leser alzu ser gemartert wirt: so wirt es ihm nimant weren, sich der Kürze zu befleißigen. Man kan aber auch nimanden dazu zwingen, der es nicht tun wil; und man darf es nimanden verargen, der nicht für gut gefunden hat den Kopf in eine solche Schlinge zu stecken. Gnug, wenn er seinem Amte ein Gnügen leistet, und den Sin des Autoris getreulich überantwortet.

Reiske favorisiert, wie aus den Formulierungen unmittelbar ersichtlich ist, die zweite Alternative.196 Dass für die Übersetzung des Thukydides tatsächlich nur dieses Verfahren in Frage kommt, macht Reiske dann im Folgenden unmissverständlich klar, indem er seine zuvor geäußerte Kritik des Thukydideischen Stils aufgreift und noch einmal zuspitzt, wobei er nicht nur die Knappheit, sondern u. a. auch die »frostigen Wortspile« und abermals die »ekelhaften Antitheten« anführt. Neben seiner Stilkritik verweist Reiske auf sprachsystemische Unterschiede, die eine Nachbildung der Thukydideischen Knappheit geradezu unmöglich erscheinen lassen. Schließlich bezieht er auch die Perspektive des von ihm angenommenen Lesers in seine Betrachtungen mit ein197: Dem Leser wirt es so schon sauer genug werden, den Sin des Autoris in meiner Umschreibung zu faßen. Solte ich ihn denn noch obendrein mit einer unnötigen und dunkeln Kürze plagen und ihm den Kopf wüste machen. Ich danke meinen liben Gott, daß ich ihn durch einen wortreichen Vortrag verstäntlich gemacht habe; wie ich mir einbilde getan zu haben; und begere den Rum eines knappen Uebersetzers gar nicht. Habe ich den Thukydides getreulich, wenn gleich auch noch so wortreich, übersetzt, und steckt sein Tifsinniges in den Gedanken, und nicht in den Worten, so kan mir der

_____________ 194 Reiske (1761a), o. P. 195 Ebd. 196 Vgl. in diesem Zusammenhang auch folgende Äußerungen Reiskes in der Vorrede zum dritten Band seiner Übersetzung der Demosthenes-Reden: »Ich habe nie den Vorsatz gehabt, Demosthenem nach allen seinen Zügen vorzustellen. […] Mir dünkt für meine Leser viel heilsamer zu seyn, wenn ich, ohne mich an die Stellung der Griechischen Worte und Perioden zu kehren, den Gedanken […] in seinem völligen Lichte, in seiner ganzen Größe, in seiner ungeschwächten Kraft darstelte. An der Deutlichkeit war mir mehr gelegen, als an der Kürze […]. […] Meine Uebersetzung hat, meiner Anlage nach, zugleich auch eine Auslegung des Redners seyn sollen, so daß ein jeder, wäre er auch gleich der Literatur und Alterthümer unkundig, und kente er auch gleich nur den Lauf der Welt, dennoch ohne Zuziehung fremder Hülfsmittel ihn verstehn könte« (Reiske [1766], XXVII f.). 197 Reiske (1761a), o. P.

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Rum nicht entgen, daß ich seinen Scharfsin, seinen Tifsin selbst, erreicht, und auch andern faßlich gemacht habe.

Reiskes Argumentation beruht hier auf der für die Übersetzungstheorie der frühen Aufklärung zentralen Überzeugung, dass sich Wort und Gedanke bzw. Form und Inhalt voneinander trennen lassen. Er gibt ihr allerdings eine besondere Wendung, indem er sie zur Rechtfertigung einer Übersetzungsmethode verwendet, die die aus seiner Sicht mangelhafte sprachliche Hülle entfernt und den wertvollen gedanklichen »Kern« freilegt, eine Metapher, die er dann im Folgenden auch selbst verwendet: »Leute von Ernst und Einsicht suchen den Kern, und laßen den Kindern die Schale«198.

Übersetzungsanalyse199 Epitaphios (2, 37, 1) Χρώµεθα γὰρ πολιτείᾳ οὐ ζηλούσῃ τοὺς τῶν πέλας νόµους, παράδειγµα δὲ αὐτοὶ µᾶλλον ὄντες τισὶν, ἢ µιµούµενοι ἑτέρους. καὶ ὄνοµα µὲν, διὰ τὸ µὴ ἐς ὀλίγους ἀλλ᾿ ἐς πλείονας ἥκειν200, δηµοκρατία κέκληται· µέτεστι δὲ, κατὰ µὲν τοὺς νόµους, πρὸς τὰ ἴδια διάφορα πᾶσι τὸ ἴσον,

Unser Staat amet demnach in seiner Verfaßung Fremden nicht nach, und entlenet die Muster seiner Gesetze von den Nachbarn nicht, sondern giebt vielmehr andern ein Vorbilt. Weil ihrer nicht wenige, sondern gar viele an deßen Bestellung Teil nemen, heist er δηµοκρατία, das ist eine solche Herschaft, wo die Gemeinde das meiste zu sagen hat. Was nun die Gesetze und die Rechte anbelangt, die vermöge der Gesetze einem ieden unter uns zukommen, so gehen sie in den besondern kleinen bürgerlichen Rechtshändeln ohne Ansehn der Person gerade durch, und sprechen keinem mehr ab oder zu, als dem andern.

_____________ 198 Ebd. 199 Der griechische Text folgt hier weitgehend der Ausgabe Dukers (1731), es werden allerdings die Abweichungen Reiskes von der üblichen Lesart, auf die er in der Vorrede zu seiner Übersetzung ausdrücklich hinweist, berücksichtigt. Diese Abweichungen sind in seinen textkritischen Anmerkungen, die er sowohl als Anhang zu seiner Übersetzung als auch im Rahmen seiner Animadversiones ad Graecos auctores, Bd. 3 veröffentlichte, dokumentiert. 200 Vgl. Reiske (1761b), 19.

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κατὰ δὲ τὴν ἀξίωσιν, ὡς ἕκαστος ἔν τῳ εὐδοκιµεῖ, οὐκ ἀπὸ µέρους τὸ πλεῖον ἐς τὰ κοινὰ ἢ ἀπ᾿ ἀρετῆς προτιµᾶται·

οὐδ᾿ αὖ κατὰ πενίαν, ἔχων γέ201 τι ἀγαθὸν δρᾶσαι τὴν πόλιν, ἀξιώµατος ἀφανείᾳ κεκώλυται.

In Ansehung aber des Standes und Ranges, und der Ere, die man sich schuldig erachtet, einem andern angedeien zu laßen, komt alles auf das Wolverhalten an. Es geht bey uns in diesem Stücke nicht wie bey andern. In andern Staten wird einer vor dem andern darum zu Verwaltung des gemeinen Wesens gezogen, weil die Reihe an ihm ist. Bey uns aber giebt allein die Tugent, und das Wolverhalten in irgent einem Stücke, den Vorzug. Wiederum schliest einen, der doch dem Staate wol dienen kan, die Dunkelheit und Niedrigkeit des Standes, darein seine Dürftigkeit ihn versetzt, von der Gelegenheit nicht aus, dem State nützlich zu werden.202

Wie unmittelbar ersichtlich, weicht Reiske massiv von dem griechischen Text ab. Die hierarchische Struktur des ersten Satzes eliminiert er vollständig, indem er χρώµεθα ... πολιτείᾳ als Subjekt (»Unser Staat«) einer Hauptsatzkette übersetzt, deren Prädikate (»amet [...] nach«, »entlenet«, »giebt [...] ein Vorbilt«) aus den Partizipien des griechischen Satzes gewonnen werden. Die Anakoluthie des griechischen Satzes wird dabei von Reiske überspielt. Es lässt sich hier zudem beobachten, wie Reiske den Satz umstrukturiert und geradezu »korrigiert«. Die sinntragenden Elemente des griechischen Satzes sind von Reiske dabei zwar allesamt erfasst – es manifestiert sich hier seine philologische Akribie –, jedoch werden sie in eine andere, aus seiner Sicht wohl logischere Abfolge gebracht. Insbesondere wird die doppelt antithetische Satzstruktur zugunsten einer einfachen Antithese preisgegeben. Dieses Vorgehen zeigt eindrucksvoll, wie Reiske seine Stilkritik, die sich insbesondere auf die Vorliebe des Thukydides für Antithesen bezog, in der Übersetzung zur Geltung bringt. Während Heilmann die stilistische Unregelmäßigkeit, wie oben gezeigt,203 in seiner Übersetzung abmildert bzw. glättet, lässt sich bei Reiske geradezu von einer vollständigen Eliminierung des stilistischen Profils des griechischen Satzes sprechen. Auch in der Übersetzung des mit µέτεστι δέ beginnenden Satzes löst sich Reiske völlig vom griechischen Text, allerdings zeigt er, anders als Heilmann, ein angemessenes Verständnis des Satzes. Vom Ausgangstext unterscheidet sich die Übersetzung Reiskes an dieser Stelle vor allem durch ihre sprachliche (Über)deutlichkeit, die Reiske durch explizierendes Übersetzen erreicht. So gibt er κατὰ δὲ τὴν ἀξίωσιν beispielsweise in sehr elaborierter Form mit »[i]n Ansehung aber des Standes und Ranges, und der Ere, die man sich schuldig erachtet, _____________ 201 Es handelt sich hierbei um eine Konjektur Reiskes, überliefert ist δέ. Vgl. ebd. 202 Reiske (1761a), 84 f. 203 Vgl. Kap. 3.2.

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einem andern angedeien zu laßen« wieder. Ein gutes Beispiel für sein explizierendes Übersetzungsverfahren bietet auch die Wiedergabe – oder besser Auslegung – von οὐκ ἀπὸ µέρους. Der implizite Vergleich mit anderen Staaten, der in diesem negativen Ausdruck zu sehen ist, wird von Reiske explizit ausgeführt: »Es geht bey uns in diesem Stücke nicht wie bey andern. In andern Staten wird einer vor dem andern darum zu Verwaltung des gemeinen Wesens gezogen, weil die Reihe an ihm ist. Bey uns aber«. Typisch für das Übersetzungsverfahren Reiskes ist außerdem die Wiedergabe des mit οὐδ᾿ αὖ κατὰ πενίαν beginnenden Hauptsatzes. Der Thukydideische Perikles erklärt hier, dass ein Bürger, der dem Staat nützlich sein könne, nicht wegen Armut (κατὰ πενίαν) und nicht aufgrund seiner Unscheinbarkeit (ἀφανείᾳ) an der Erlangung von Ehrenpositionen gehindert wird. Wie diese beiden Gründe sich zu einander verhalten, wird dabei nicht explizit ausgedrückt. Reiske übersetzt die Stelle nun in einer Weise, die dieses Verhältnis erklärt: »Wiederum schliest einen, der doch dem Staate wol dienen kan, die Dunkelheit und Niedrigkeit des Standes, darein seine Dürftigkeit ihn versetzt, von der Gelegenheit nicht aus, dem State nützlich zu werden«. Er deutet die Armut also als Ursache für den niedrigen Stand. Hier manifestiert sich die Tendenz Reiskes, Unklarheiten des griechischen Textes, die dem Leser das Verständnis erschweren könnten, durch interpretierendes Übersetzen zu beseitigen. Pathologie des Krieges (3, 82, 4 f.) καὶ τὴν εἰωθυῖαν ἀξίωσιν τῶν ὀνοµάτων ἐς τὰ ἔργα ἀντήλλαξαν τῇ δικαιώσει.

τόλµα µὲν γὰρ ἀλόγιστος, φιλέταιρος ἐνοµίσθη·

ἀνδρία

µέλλησις δὲ προµηθὴς, δειλία εὐπρεπής. τὸ δὲ σῶφρον, τοῦ ἀνάνδρου πρόσχηµα. καὶ τὸ πρὸς ἅπαν ξυνετὸν, ἐπίπαν ἀργόν.

Nun fing man an, der Dinge Namen, womit man sonst im gemeinem Leben den Wert oder Unwert der Dinge anzudeuten pflegt, wilkürlich nach seinem eignen Gutdünken und Einfällen mit einander zu vertauschen. Ein und diselbe Tat, ein und daßelbe Betragen, behilt den alten Wert und gleichsam den Stempel nicht mer, welchen der gemeine Gebrauch der Sprache und die gewönlichen Begriffe der Menschen ihm eingeprägt hatten. Was sonst der Warheit gemäß, unbesonnene Verwegenheit geheißen hatte, das hiß nun mänliche Herzhaftigkeit, die etwas zum Besten ihrer Freunde wagt. Ein vorsichtiges Zaudern hiß scheinbare Feigheit. Bescheidenheit hiß der Schantdeckel einer niderträchtigen Verzagtheit. Die nüchterne Wachsamkeit, die der Dinge Art und Folgen überschaut, hiß eine unüberwintliche Trägheit.

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τὸ δ᾿ ἐµπλήκτως ὀξὺ, ἀνδρὸς µοίρᾳ προσετέθη. ἀσφάλεια δὲ τὸ ἐπιβουλεῦσαι, καὶ τὸ σφάλλεσθαι ἀποτροπῆς πρόφασις εὔλογος.204 καὶ ὁ µὲν πάντα ὁµαλῶς ἐπαινῶν205, πιστὸς ἀεὶ, ὁ δ᾿ ἀντιλέγων αὐτῷ, ὕποπτος. ἐπιβουλεύσας δέ τις τυχὼν, ξυνετὸς, καὶ ὑπονοήσας, ἔτι δεινότερος.

προβουλεύσας δὲ ὅπως µηδὲν αὐτῶν δεήσοι, τῆς τε ἑταιρίας διαλυτὴς, καὶ τοὺς ἐναντίους ἐκπεπληγµένος.

ἁπλῶς δὲ, ὁ φθάσας τὸν µέλλοντα κακόν τι δρᾷν, ἐπῃνεῖτο, καὶ ὁ ἐπικελεύσας τὸν µὴ διανοούµενον.

Eine tolle Hitze wart dem mänlichen Mute als eine Eigenschaft und als ein Beweiß deßelben angerechnet. Einem andern eine Grube graben, das hiß sicher geen. Mißlang einem sein Vornemen, so war das für deßen Gespannen ein Vorwant, die Freuntschaft und Bekantschaft mit ihm abzubrechen. Wer einem in allen Stücken recht gab, dem traute man. Wer aber einem widersprach, der war ihm verdächtig. Gerit einem sein Anschlag auf eines andern Wolfart wol, so muste der klug und schlau heißen. Merkte aber einer die Falle, die man ihm zugerichtet hatte, und entging er ihr, so hiß der vollends recht durchtriben, und mit allen Hunden gehetzt. Richtete iemant sich also ein, daß er andrer Leute Umgang und Beystant entberen konte, so wart er von den einen für einen Menschen, der nicht zu leben weiß, der alle Freude verderbt, und alle Bekantschaften trent stört und verscheucht, von den andern aber für einen verzagten Leutescheu ausgeschrieen. Kurz, das war ein braver Man, der dem andern im Ueberlisten zuvor kam. Gleichermaßen priß man auch einen solchen, der einem andern auf die Sprünge half, und ihm wiß, wie er seinem Feinde beykommen könne, das er für sich allein wol nicht gefunden haben mögte.206

Auch hier gestaltet Reiske den Ausgangstext radikal um. Besonders stark weicht er in seiner Übersetzung des Ausdrucks τὴν εἰωθυῖαν ἀξίωσιν vom griechischen Text ab. Zunächst gibt er ihn mit dem Nebensatz »womit man sonst im gemeinem Leben den Wert oder Unwert [...] anzudeuten pflegt« äußerst frei wieder; im nächsten Satz – Reiske macht hier aus dem einen Satz des Thukydides zwei deutsche Sätze – paraphrasiert er den Ausdruck dann aber erneut mit »den alten Wert und gleichsam den Stempel [...], welchen der gemeine Gebrauch der Sprache und _____________ 204 Überliefert ist ἀσφάλεια (bzw. ἀσφαλείᾳ) δὲ τὸ ἐπιβουλεύσασθαι ἀποτροπῆς πρόφασις εὔλογος. Der hier abgedruckte griechische Text nach Reiske (1761b), 32. 205 πάντα ὁµαλῶς ἐπαινῶν ist eine Konjektur Reiskes für das überlieferte χαλεπαίνων. Vgl. ebd. 206 Reiske (1761a), 188 f.

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die gewönlichen Begriffe der Menschen ihm eingeprägt hatten«. In dieser explizierenden Übersetzung lässt sich sehr gut das Bemühen Reiskes um die genaue Sinnerfassung erkennen. Reiske hatte den Stil des Thukydides in der Vorrede zu seiner Übersetzung, wie oben dargestellt, wegen seiner extremen Knappheit kritisiert und betont, dass eine deutsche Übersetzung nicht bestrebt sein dürfe, dieses Stilmerkmal nachzubilden. Konsequenterweise verwendet er hier ein Übersetzungsverfahren, das durch pleonastische Ausdrucksweisen und Amplifizierung gekennzeichnet ist. Besonders extrem zeigt sich dies in seiner Übersetzung von τῆς τε ἑταιρίας διαλυτής, das er mit »so wart er von den einen für einen Menschen, der nicht zu leben weiß, der alle Freude verderbt, und alle Bekantschaften trent stört und verscheucht, [...] ausgeschrieen« wiedergibt. Das von Thukydides entworfene Szenario wird von Reiske hier interpretierend ausgemalt. Wie Heilmann207 verwendet auch Reiske an dieser Stelle Elemente aus der kolloquialen Sprache. So gibt er τὸ ἐπιβουλεύσασθαι, das er, was legitim ist, enger mit einer speziellen Bedeutung des Aktivs ἐπιβουλεύειν – »jemandem auflauern, ihm einen Hinterhalt legen« – zusammenbringt, mit der Redewendung »[e]inem andern eine Grube graben« wieder; ein weiteres Beispiel ist die Wiedergabe von τοὺς ἐναντίους ἐκπεπληγµένος mit »verzagte[r] Leutescheu«; besonders auffällig schließlich ist die Redewendung »mit allen Hunden gehetzt«. Die Verwendung solcher bildhaft-umgangssprachlichen Ausdrücke lässt sich bei Reiske an vielen Stellen beobachten. Melierdialog (5, 89) Ἡµεῖς τοίνυν οὔτε αὐτοὶ µετ᾿ ὀνοµάτων καλῶν, ὡς ἢ δικαίως τὸν Μῆδον καταλύσαντες ἄρχοµεν, ἢ ἀδικούµενοι νῦν ἐπεξερχόµεθα, λόγων µῆκος ἄπιστον παρέξοµεν·

_____________ 207 S. oben Kap. 3.2.

Wir wollen uns demnach nicht lange bey Nebenwerken aufhalten, nicht mit langen Reden, die keinen Beyfall oder Glauben finden möchten, euch beschwerlich fallen, nicht mit prächtigen Worten vil Aufhebens von unsern Verdinsten und Libe zur Billigkeit machen: nicht rümen, wie wir rechtmäßiger Weise über die Grichen herschen, diweil wir der Meder Macht gebrochen und zerstört haben; nicht gedenken, daß wir unsern Rechte nachgeen, und diejenigen zu gebürender Strafe zieen, die sich an uns vergriffen haben, und uns ungebürlich begegnet sint.

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οὔθ᾿ ὑµᾶς ἀξιοῦµεν, ἢ ὅτι Λακεδαιµονίων ἄποικοι ὄντες οὐ ξυνεστρατεύσατε, ἢ ὡς ἡµᾶς οὐδὲν ἠδικήκατε, λέγοντας, οἴεσθαι πείσειν·

τὰ δυνατὰ δ᾿ ἐξ ὧν ἑκάτεροι ἀληθῶς φρονοῦµεν διαπράσσεσθαι,

ἐπισταµένους πρὸς εἰδότας, ὅτι δίκαια µὲν ἐν τῷ ἀνθρωπείῳ λόγῳ ἀπὸ τῆς ἴσης ἀνάγκης κρίνεται, δυνατὰ δὲ οἱ προὔχοντες πράσσουσι, καὶ οἱ ἀσθενεῖς ξυγχωροῦσι.

Ferner wollen und verlangen wir von euch gar nicht, daß ihr euch einbildet, es werde euch gelingen, uns mit den kalen Ausflüchten abzuweisen und abzuspeisen, als hättet ihr nicht umhin gekont, es mit den Lakdämoniern zuhalten, als deren Abkömlinge ihr wäret, folglich auch uns in unsern Heerszügen nicht beysteen können; oder als hättet ihr uns kein Unrecht angetan, und unsre Majestät nicht geschändet. Das sint Dinge, die wir so wenig von euch uns weiß machen laßen, als ihr euch jenes von uns. Sondern unsre Meynung Foderung und Vorschlag ist, zu beyden Seiten nicht nach Recht, sondern nach Macht zu handeln, oder beyderseits dasjenige auszufüren und werkstellig zu machen, was ein ieder von uns nach den ihm beywonenden warhaften Gesinnungen, nur nach Maßgabe deßen, wovon er gewiß und überzeugt ist, zu bewirken vermag und sich bestrebet. Den Unterschit zwischen Recht und Macht darf ich euch nicht sagen. Ihr wißet ihn so gut als wir. Ihr wißet daß in den Gedanken und in der Sprache der Leute nur dasjenige gleichmäßige Betragen gegen einander Recht und Fug heiße, welches zwey Leute oder Teile von gleicher Macht einander darum erweisen, weil der eine Teil vermöge seiner Macht den Gegenteil zwingen kan, eine gleiche Begegnung zu ertulden, als diser jenem antut; und daß das Macht heiße, was überlegene tun, und onmächtige leiden.208

Die Übersetzung Reiskes ist hier, wie schon in den beiden vorangehenden Beispielen, dadurch gekennzeichnet, dass die sprachliche Struktur gegenüber dem Ausgangstext vollständig verändert wird. Thukydides legt, wie sich zeigen ließ, einen Spannungsbogen an, der vom Anfang bis zum Ende des Satzes reicht. Dieser wird von Reiske jedoch nicht dargestellt, da er den griechischen Satz in mehrere deutsche Sätze aufteilt. Der Leser erhält so immer wieder Pausen, die ihm Gelegenheit geben, das gerade Aufgenommene zu verarbeiten. Zudem nimmt Reiske zahlreiche verdeutlichende Explikationen vor, die dem Leser das Verständnis erleichtern. _____________ 208 Reiske (1761a), 235 f.

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Auf der Ebene der einzelnen Ausdrücke fallen vor allem die zahlreichen Pleonasmen Reiskes auf, mit denen er einen bestimmten griechischen Begriff zu umschreiben versucht, so etwa in seiner Wiedergabe von τὸν Μῆδον καταλύσαντες (»diweil wir der Meder Macht gebrochen und zerstört haben«) oder von ἀξιοῦµεν (»wollen und verlangen wir«). Darüber hinaus finden sich aber auch freie Zusätze Reiskes, die den Gedanken zusammenfassen bzw. klarer herausstellen sollen. Besonders weit geht Reiske in seiner Ausdeutung des Textes in dem mit τὰ δυνατὰ δ᾿ ἐξ ὧν ἑκάτεροι ἀληθῶς φρονοῦµεν διαπράσσεσθαι beginnenden Abschnitt, indem er den Athenern die Forderung in den Mund legt »nicht nach Recht, sondern nach Macht zu handeln«, die als pointierte Zuspitzung dessen, was im griechischen Text steht, zu betrachten ist. In eine ganz ähnliche Richtung geht der Satz »[d]en Unterschit zwischen Recht und Macht darf ich euch nicht sagen«. Auch hier wählt Reiske eine gegenüber dem Ausgangstext zugespitzte Formulierung. Durch ihre Ausführlichkeit – um nicht zu sagen Weitschweifigkeit – erhält die Übersetzung Reiskes eine völlig andere stilistische Qualität als der griechische Text. Die stilistischen Veränderungen bestehen nicht nur in der Reduktion von Komplexität und in der Amplifizierung, sondern auch in der Hinzufügung von andersartigen rhetorischen Effekten. So erzeugt Reiske etwa mit der Anapher von »nicht« (»Wir wollen uns demnach nicht lange bey Nebenwerken aufhalten, nicht mit langen Reden [...] nicht mit prächtigen Worten [...] nicht rümen [...] nicht gedenken«) eine Insistenz, die der griechische Text nicht aufweist. Stilistisch auffällig ist schließlich auch die Formulierung »mit kalen Ausflüchten abweisen und abspeisen«, die als sehr freie Übersetzung von πείσειν zu verstehen ist. Mit dieser kolloquialen Ausdrucksweise entfernt sich Reiske stark von dem sachlichnüchternen Ton, in dem Thukydides die Athener sprechen lässt. Solche Veränderungen führen insgesamt zu einer Absenkung der Stilhöhe, aber auch zu einer Verlebendigung der Übersetzung gegenüber dem Ausgangstext. *** Deutsche Thukydidesübersetzungen im 18. Jahrhundert Abschließend sollen die wesentlichen Charakteristika der in diesem Kapitel untersuchten Übersetzungen herausgearbeitet werden. Dabei soll insbesondere auch danach gefragt werden, wie sich die jeweils praktizierten Übersetzungsverfahren zu den zuvor skizzierten Übersetzungskonzeptionen der frühen Aufklärung verhalten. Im Falle der anonymen Übersetzung von 1757 ließ sich in den Äußerungen des Übersetzers eine deutliche Nähe zu Gottsched und Venzky feststellen. Mit seiner Ablehnung des wörtlichen Übersetzens und seinem Bemühen um einen reinen deutschen Ausdruck liegt er ganz auf deren Linie. Was andererseits die Forderung nach einer akkuraten Wiedergabe des Sinns anbelangt, die von Gottsched und Venzky ebenfalls erhoben wurde, fällt das Ergebnis negativ aus. Zwar erklärt der Übersetzer, diese erstrebt zu haben, doch weicht seine Übersetzung tatsächlich derart stark vom Ausgangstext ab, dass der Sinn vielfach bis zur Unkenntlichkeit entstellt wird.

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Die nur drei Jahre später publizierte Übersetzung Johann David Heilmanns bietet demgegenüber ein Beispiel für die Verbindung von zielsprachlicher Qualität mit einer weitgehend angemessenen Wiedergabe des Sinns. Was seine übersetzungstheoretischen Grundsätze anbelangt, so zeigt Heilmann – wie der anonyme Übersetzer – eine starke Affinität zur Übersetzungskonzeption von Gottsched und Venzky. Dies geht zum einen daraus hervor, dass die von ihm in seiner Vorrede formulierten Übersetzungsprinzipien mit den von Venzky festgelegten »Merkmalen einer guten Übersetzung« weitgehend übereinstimmen, zeigt sich aber auch in der Übersetzung selbst. Heilmann hält sich nämlich – wie von Gottsched und Venzky gefordert – nicht »sklavisch« an den Ausgangstext, übersetzt also nicht Wort für Wort, orientiert sich aber, wie Gottsched in der Ausführlichen Redekunst angemahnt hatte, an der Satzstruktur des griechischen Textes, die er bisweilen sogar nachbildet. Die Forderung nach stilistischer Ähnlichkeit zum Ausgangstext, die Heilmann in der Rezension der Goldhagenschen Herodotübersetzung – im Einklang mit der vierten Hauptregel Gottscheds – artikuliert hatte, wird allerdings nicht oder doch nur sehr begrenzt umgesetzt. So werden die für Thukydides besonders typischen stilistischen Phänomene, nämlich Variatio und Anakoluthie, von Heilmann konsequent überspielt und durch regelmäßigere Konstruktionen ersetzt. Auch die Knappheit des sprachlichen Ausdrucks, die für den Stil des Thukydides charakteristisch ist, wird, wie sich besonders eindrucksvoll an dem Übersetzungsbeispiel aus der Pathologie des Krieges zeigte, nicht konsequent nachgebildet. Dies stellt jedoch keinen »Verstoß« gegen die Übersetzungsprinzipien von Gottsched und Venzky dar; Gottsched hatte nämlich einschränkend formuliert, man solle, »so viel als möglich ist [Hervorhebung des Vf.], alle Figuren, alle verblümte Reden, auch die Abtheilung der Perioden, aus dem Originale bey[behalten]«. Die Einschränkung, die Gottsched hier vornimmt, zeigt, dass die Forderung nach stilistischer »Treue« nicht verabsolutiert werden sollte. Es handelt sich um eine allgemeine Richtlinie, von der unter Umständen abgewichen werden muss. Hauptbestreben Heilmanns ist also nicht die stilistische Nachbildung, sondern die Übertragung der Sinnstruktur in einen ansprechenden, gut verständlichen deutschen Text. Besonders auffällige Abweichungen vom Original finden sich bei Heilmann im Bereich der Metaphorik und der bildlichen Ausdrücke. Einerseits eliminiert er metaphorische Ausdrücke, die bei Thukydides gerade auch durch den Kontrast zu dem sonst eher abstrakten Vokabular besonders hervorstechen, andererseits fügt er Bildlichkeit sowie umgangs- und konversationssprachliche Ausdrücke in seiner Übersetzung an Stellen ein, wo sich hierfür keine Entsprechung im griechischen Text findet. Auf diese Weise ergeben sich in seiner Übersetzung teilweise deutliche Verschiebungen im Stilregister gegenüber dem Ausgangstext. Diese Veränderungen lassen sich wohl auf das Bemühen um zielsprachliche Qualität zurückführen, das für die deutsche Übersetzungskultur um die Mitte des 18. Jahrhunderts kennzeichnend ist. Es sei in diesem Zusammenhang noch einmal an Gottscheds dritte Hauptregel aus der Ausführlichen Redekunst erinnert: »Daher drücke man

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denn III. alles mit solchen Redensarten aus, die in seiner Sprache nicht fremde klingen, sondern derselben eigenthümlich sind. Eine jede Mundart hat ihre eigene Ausdrückungen, die sich in keiner andern ganz genau geben lassen. Und da muß ein Redner allezeit etwas gleichgültiges an die Stelle zu setzen wissen, was eben den Nachdruck, und eben die Schönheit hat, als die Redensart des Originals«209. Im Bereich der Redensarten galt die Art von sprachlicher Assimilation, wie sie Heilmann praktiziert, also geradezu als Zeichen einer gelungenen Übersetzung. Zu dieser Art der »einbürgernden« Übersetzung hatte sich Heilmann auch in seiner Vorrede klar bekannt, indem er erklärte, seine Übersetzung solle sich wie eine »deutsche Geschichte« lesen lassen. Das Bemühen um zielsprachliche Qualität teilt Reiske grundsätzlich, doch geht er in der Veränderung des Ausgangstextes noch viel weiter als Heilmann. Er paraphrasiert den griechischen Text nämlich in weiten Teilen und verbindet dabei Übersetzung mit Auslegung. Sein Verständnis von Übersetzung unterscheidet sich somit trotz der erwähnten Übereinstimmungen grundsätzlich von der Übersetzungskonzeption, die Gottsched und Venzky entworfen hatten. Gottsched hatte in seiner Critischen Dichtkunst nämlich ausdrücklich erklärt: »Ein Uebersetzer müsse kein Paraphrast oder Ausleger werden«210. Venzky wiederum hatte in seinem Aufsatz »Das Bild eines geschickten Uebersetzers« gefordert, dass »[e]ine geschickte Uebersetzung [...] dem Original auf dem Fusse nach[folge], wo nicht völlig von Wort zu Wort, doch von Satz zu Satz«211. Dabei hatte er die Übersetzung von der Umschreibung und der Erklärung unterschieden und bekräftigt, dass eine »glückliche« Übersetzung »so viel Nutzen schaffen [könne], als eine weitläuftigere Umschreibung oder ausführliche Erklärung«212. Ein entscheidender Grund, warum Reiske sich für ein die sprachliche Struktur radikal veränderndes Übersetzungsverfahren entschied, ist in seiner Kritik am Thukydideischen Stil zu sehen. Seine »verbessernde« Übersetzung stellt gewissermaßen eine Umsetzung dieser Stilkritik dar. So eliminiert er, wie vor allem an dem Beispiel aus dem Epitaphios deutlich wurde, die für Thukydides typischen Asymmetrien und Anakoluthien – ähnlich wie Heilmann – zugunsten regelmäßiger Konstruktionen. Diese stilistischen »Begradigungen« führen in Verbindung mit der Tendenz zur Paraphrase dazu, dass die Knappheit und »Dunkelheit« des Thukydides geradezu in ihr Gegenteil, in einen extrem redundanten und äußerst klaren Stil umgewandelt wird. Mit diesem Bemühen um Klarheit entspricht Reiske nun wiederum voll und ganz dem zeitgenössischen Stilempfinden. Man erinnere sich in diesem Zusammenhang insbesondere an die Forderung Gottscheds in der Ausführlichen Redekunst, »[d]aß ein Scribent sich nicht auf den Verstand seines Lesers verlassen, sondern so schreiben müsse, daß es auch der _____________ 209 210 211 212

Gottsched (1759), 416. Gottsched (1751), 6. Venzky (1734), 64. Ebd.

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Einfältigste verstehen muß«213. Genau dieses Ziel verfolgt Reiske offenbar mit seiner Übersetzung; wo Thukydides Zusammenhänge bloß andeutet, macht Reiske diese unmittelbar verständlich. Ein solches Verfahren der Verdeutlichung war in der Übersetzungstheorie der frühen Aufklärung auch tatsächlich vorgesehen. Venzky hatte sogar die Lizenz erteilt, »eine verdrüßliche, dunkele oder verworrene Schreibart in eine angenehmere und deutlichere [zu] verwandel[n]«214. Genau dies leistet Reiske offenbar nach seinem eigenen Verständnis in seiner Übersetzung des Thukydides. Ein besonders auffälliges Merkmal der Thukydidesübersetzung Reiskes ist außerdem die Verwendung von Ausdrucksweisen aus dem Bereich der Kolloquial- bzw. Volkssprache, die seiner Übersetzung im Vergleich zum Ausgangstext ein völlig anderes stilistisches Gepräge verleihen. Hier manifestiert sich das persönliche Stilempfinden Reiskes, das in diesem Punkt von den herrschenden Normen seiner Zeit deutlich abweicht. Eine der wichtigsten Bestrebungen in den sprachbildenden Bemühungen Gottscheds war nämlich die Herausbildung einer zugleich »natürlichen« und »edlen« deutschen Literatursprache, durch die das Deutsche gleichberechtigt neben das Französische treten sollte. Reiske hingegen war um die Bewahrung der deutschen »Kernsprache« bemüht und wollte den Einfluss des französischen Stils, den er als effeminiert und verzärtelt empfand, zurückdrängen.215 Wie sich an mehreren Stellen gezeigt hat, basiert die Übersetzung Reiskes auf einem sehr genauen Verständnis des griechischen Textes. Zwar löst er sich in seiner Übersetzung radikal von der sprachlichen Struktur des Ausgangstextes, doch berücksichtigt er auf der anderen Seite bestimmte sprachliche Feinheiten wie etwa den Verbalaspekt und zeigt auch in seiner Übersetzung einzelner Ausdrücke, selbst wenn er sie nicht »wörtlich« übersetzt, eine genaue Berücksichtigung der Semantik – hier erweist sich seine Übersetzung vielfach als derjenigen Heilmanns überlegen. Allerdings muss auch betont werden, dass Reiske durch sein interpretierendes Übersetzungsverfahren zuweilen den Sinn verändert. Dass er sich dieser Gefahr durchaus bewusst war, lassen folgende Äußerungen aus der Vorrede zu seiner Übersetzung erkennen: »Aber ist mein deutscher Thukydides auch wol getreu? druckt er des alten grichischen waren Sin aus? dichtet er ihm nicht vilmer Gedanken an, die ihm ni in den Sin gekommen sint? Das stet gar ser zu befürchten«216. _____________ 213 214 215 216

Gottsched (1759), 335. Venzky (1734), 64. Vgl. hierzu Reiskes Ausführungen in der Vorrede zu seiner Thukydidesübersetzung. Reiske (1761a), o. P.

4 Der Paradigmenwechsel in der Übersetzungskultur um 1800 und seine Folgen für die Übersetzung des Thukydides Von dem Ideal der zielsprachlichen Übersetzung, wie es von Gottsched und Venzky propagiert worden war, bewegte man sich im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts allmählich hin zu dem Bemühen um eine dem griechischen Original möglichst ähnliche sprachliche Form.217 Bereits in Johann Gottfried Herders Fragmenten Über die neuere deutsche Literatur (1766/1767) lässt sich diese Tendenz deutlich beobachten. In dem Abschnitt, der sich der Übersetzung griechischer Schriftsteller widmet, übt Herder heftige Kritik an der herrschenden Übersetzungspraxis.218 Die Thukydidesübersetzung Heilmanns nimmt Herder von dieser pauschalen Kritik allerdings aus219: Schade für uns, daß uns die Heilmanns entrissen werden, und die Grillo’s220 schreiben. Der Übersetzer des Thucydides kannte gewiß seinen Autor, und die Kunst zu übersetzen: es wählte auch dieser Baumgartensche Philolog221 noch ziemlich seinen Mann, da er uns den körnichten Thucydides liefert, dessen Schreibart er uns mit Meisterzügen geschildert hat. Nur daß er nicht die Biegsamkeit der Deutschen Sprache gnug in seiner Gewalt hatte, um sie mit der Griechischen zusammen zu passen: und Schade, daß er seine Schreibart durch das Lesen der Baumgartenschen Schriften scheint gebildet zu haben.

Grundsätzlich wird die Heilmannsche Thukydidesübersetzung hier positiv bewertet, doch bemängelt Herder eine unzureichende sprachliche Anpassung an den Ausgangstext. Schon wenige Jahre nach Erscheinen der Übersetzungen Reiskes und Heilmanns wird also die Forderung nach einer Art der Übersetzung laut, die sich in ihrer sprachlichen Gestalt näher an der Ausgangssprache orientiert.222 Allerdings wird der Unterschied zwischen dem von Heilmann praktizierten Übersetzungsverfahren und der von Herder als Ideal anvisierten Art zu übersetzen als _____________ 217 Ansätze, die bereits in diese Richtung wiesen, hatte es auch schon in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts bei Bodmer und Breitinger gegeben, s. oben Kap. 3. 218 Zu den übersetzungstheoretischen Ansätzen Herders vgl. Sdun (1967), 25–30, Huber (1968), 69–80, Apel (1982), 84–89, Kelletat (1984), 47–56, Singer (2007). 219 Herder (1766/1767), 250. 220 [Friedrich Grillo (1739–1802), Professor der Philosophie am Königlichen Kadettenkorps in Berlin, übersetzte u. a. Longos’ Daphnis und Chloë, die bukolischen Dichter Bion und Moschos sowie Xenophons Kyrupädie.] 221 [Heilmann war Schüler des Theologen Siegmund Jacob Baumgarten gewesen, s. oben S. 43.] 222 Zu den übersetzungstheoretischen Ansätzen Herders vgl. Sdun (1967), 25–30, Huber (1968), 69–80, Apel (1982), 84–89, Kelletat (1984), 47–56, Singer (2007).

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ein gradueller aufgefasst; Herder attestiert Heilmann nämlich ausdrücklich, dass er die »Kunst zu übersetzen« kenne. Es handelt sich also aus Herders Sicht nicht um ein Problem der Übersetzungsprinzipien; Herder unterstellt Heilmann vielmehr, dass er bei dem Versuch, seine Übersetzung dem griechischen Text anzupassen, an seinen sprachlichen Fähigkeiten gescheitert sei (»Nur daß er nicht die Biegsamkeit der Deutschen Sprache gnug in seiner Gewalt hatte, um sie mit der Griechischen zusammen zu passen«). Diese Kritik Herders wird Heilmann jedoch nicht gerecht, denn dieser hatte ja ausdrücklich erklärt, dass er eine »deutsche Geschichte« schreiben wolle.223 Die Abweichung von der sprachlichen Struktur des griechischen Textes war also durchaus beabsichtigt. Herder setzt sich in den Fragmenten Über die neuere deutsche Literatur auch mit der Frage auseinander, welche antiken Texte zu übersetzen seien. In diesem Zusammenhang betont er noch einmal die Ausnahmequalitäten Heilmanns: »Griechische Übersetzer, wie Heilmann finden sich selten, und wenn sie sich finden, so am unrechten Ort«224. Was hiermit gemeint ist, macht Herder dann anschließend deutlich, indem er darauf hinweist, dass nicht so sehr »Geschichtschreiber, und Redner, Dichter und Philosophen«225 übersetzt würden, sondern Werke »niederer« Gattungen der nachklassischen Literatur: »Nun aber, da wir endlich Griechen in unsere Sprache bekommen: so gibt man uns aus dem Zeitalter des sinkenden Geschmacks Romanen und Briefe [...], indessen daß Reiske uns einen Demosthenes (wenn ich mich eines seiner feinen Wörter bedienen dörfte) zerrackert«226. Der an der Umgangssprache orientierte Stil Reiskes stößt bei Herder, wie dieses Zitat zeigt, auf starke Ablehnung. Zwar äußert sich Herder nicht zu der Thukydidesübersetzung Reiskes, doch kann man seine Kritik an dessen Demosthenesübertragung auf jene übertragen, denn von ihrer Übersetzungsmethode und ihrem Stil her weisen seine Übersetzungen starke Ähnlichkeiten auf. Im Zentrum der übersetzerischen Bemühungen stand zu dieser Zeit, wie sich auch in den Fragmenten Über die neuere deutsche Literatur zeigt, Homer. In den 1770er und 1780er Jahren wurden mehrere Versuche einer deutschen Homerübertragung unternommen, unter denen diejenige von Johann Heinrich Voß hervorragt.227 Mit seiner Odysseeübersetzung von 1781 erlebte Voß zunächst einen durchschlagenden Erfolg.228 Gelobt wurde vor allem die Nähe zum Ausgangstext, die – wie es schien – kaum überbietbare »Treue«. Das Problem, wie man Homer ins Deutsche übersetzen müsse, schien damit gelöst zu sein. In den folgenden Jahren sollte Voß dann jedoch das in seiner ersten Odysseeübersetzung tatsächlich nur in Ansätzen erkennbare Bemühen um Sprachmimesis radikalisieren. _____________ 223 224 225 226 227 228

S. oben Kap. 3.2. Herder (1766/1767), 250. Ebd. Ebd. Zu den Homerübersetzungen von Voß vgl. Häntzschel (1977). Voß (1781). Zur Rezeption der Odysseeübersetzung von 1781 vgl. Häntzschel (1977), 200–202.

Der Paradigmenwechsel in der Übersetzungskultur um 1800

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Bereits in seiner 1789 erschienenen Übersetzung der Georgica Vergils lässt sich diese Veränderung beobachten;229 bahnbrechend wurde dann allerdings die Gesamtübersetzung Homers von 1793.230 Hier zeigte Voß in einer für damalige Leser geradezu frappierenden Weise, wie weit man in der Nachbildung des Griechischen gehen konnte. Das Prinzip der Sprachmimesis wird hier mit äußerster Konsequenz umgesetzt und manifestiert sich in allen sprachlichen Aspekten, von der Wortbildung über die Wortstellung und Grammatik bis hin zur Metrik. Aufgrund der Radikalität seines Übersetzungsverfahrens stieß Voß zunächst auf vehemente Ablehnung, so etwa bei August Wilhelm Schlegel. Auch Wieland, der die Odysseeübersetzung von 1781 in höchsten Tönen gelobt hatte, erhob nun massiven Widerspruch.231 Besonders schwer traf Voß die Kritik Klopstocks, die ihn dazu veranlasste, in einem Brief an Klopstock ausführlich zu seiner Übersetzungskonzeption Stellung zu beziehen.232 Einige der von ihm angesprochenen Punkte beziehen sich konkret auf die dichterische Sprache sowie auf die Metrik und sind für den gegenwärtigen Zusammenhang daher irrelevant; doch lässt sich sein zentrales Argument generell auf alle Übersetzungen aus dem Griechischen ins Deutsche beziehen, dass nämlich beide Sprachen einander in hohem Maße ähnlich seien und dass daher eine Art der Übersetzung geboten sei, die die sprachlichen Strukturen des Griechischen im Deutschen möglichst genau nachbilde.233 Die anfängliche Kritik an der Voß’schen Homerübersetzung von 1793 wich dann allerdings nach und nach einer allgemeinen Wertschätzung.234 Seine Übertragungen erlangten Anfang des 19. Jahrhunderts einen paradigmatischen Status und begründeten geradezu eine »Voßische Manier« des Übersetzens.235 So zeigte Schleiermacher in seiner Platonübersetzung, die ab 1804 erschien, ein vergleichbares Bemühen um größtmögliche sprachliche Nähe zum Ausgangstext.236

_____________ 229 230 231 232 233

234 235 236

Voß (1789). Vgl. Häntzschel (1977), 201. Voß (1793). Zur Kritik an der Homerübersetzung von 1793 vgl. Häntzschel (1977), 203–208; 212–215. Brief vom 3.7.1799. Zu Voß’ Rechtfertigung seiner Übersetzungsmethode vgl. Häntzschel (1977), 208–211. Allerdings überschätzte Voß dabei wohl die sprachsystemischen Ähnlichkeiten zwischen dem Griechischen und dem Deutschen; vgl. ebd., 211: »Daß eine Parallelität zwischen griechischer und deutscher Sprache in den von Voß vermuteten Ausmaßen gar nicht besteht, daß ihm vielmehr unbewußt der antike Sprachgebrauch zur zweiten Gewohnheit wurde, ist unbestreitbar.« Vgl. ebd., 215–223. Vgl. Apel (1982). Schleiermacher (1804–1828). Zu Schleiermachers Platonübersetzung vgl. Irmscher (1983), Jantzen (2008).

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Der Paradigmenwechsel in der Übersetzungskultur um 1800

4.1

Maximilian Jacobi: Thucydides (1804–1808)

Carl Wigand Maximilian Jacobi (1775–1858), Sohn des Philosophen Friedrich Heinrich Jacobi, bildet unter den in dieser Arbeit betrachteten Übersetzern insofern eine Ausnahme, als er weder Philologe noch Theologe, sondern Mediziner war.237 Über die frühe Bildung Jacobis ist wenig bekannt, er erhielt aber wohl ausschließlich Privatunterricht,238 bevor er 1793 in Jena sein Medizinstudium begann. Während der ersten Studienjahre übernahm Goethe, der mit Friedrich Heinrich Jacobi befreundet war, eine Art Vaterrolle für Maximilian Jacobi.239 Aus einigen eher beiläufigen Bemerkungen in zwei Briefen Maximilian Jacobis an Goethe wissen wir, dass er neben seinem Medizinstudium Zeit fand für die Beschäftigung mit antiker Literatur;240 wie gut seine Bildung in den Klassischen Sprachen war und wie intensiv er sich der Lektüre griechischer und lateinischer Schriftsteller in dieser Zeit widmete, lässt sich indes nicht ermitteln. Nachdem Jacobi das Studium im Jahr 1797 in Erfurt mit der Staatsprüfung und der Promotion abgeschlossen hatte, war er anschließend zunächst als Arzt an verschiedenen Orten tätig. In diese Zeit fällt auch seine Übersetzung des Herodot (1799/1801), auf die wenige Jahre später die des Thukydides (1804–1808) folgte. Mit diesen Übersetzungen versuchte Jacobi offenbar seine finanzielle Situation, die über viele Jahre hinweg sehr angespannt war, zu verbessern.241 Im Jahre 1805 trat er dann das Amt eines Medizinalrats in München an und wurde schließlich nach weiteren Stationen in Salzburg und Düsseldorf 1825 Direktor der neu gegründeten Irrenheilanstalt in Siegburg, die er bis zu seinem Tod leitete. Während Jacobi in dem Vorwort zu seiner Herodotübersetzung nur allgemein sein Missfallen an der Darstellung des Herodot in den zu jener Zeit vorliegenden Übertragungen ausdrückt,242 wird er in der Vorrede zu seiner Thukydidesüberset_____________ 237 Eine ausführliche Darstellung der Biographie Jacobis bietet Herting (1930). Knappere Überblicksdarstellungen finden sich bei Schulte (1961) und Schipperges (1974). 238 Vgl. Herting (1930), 19 und Schulte (1961), 352. 239 Zum Verhältnis Maximilian Jacobis zu Goethe vgl. Herting (1930), 21–51. 240 »Außer den Collegiis und was dahin gehört, suche ich mich in den älteren Sprachen und dem Englischen beizuhalten, und so ist denn meine Zeit recht artig besetzt«, Brief Maximilian Jacobis an Goethe vom 11.11.1793 (abgedruckt in Herting [1930], 26 f. [hier: 27]). In einem Brief aus Göttingen vom 21.6.1795 (abgedruckt in Herting [1930], 32–35 [hier: 33]) schreibt er dann: »Meinem Plan gemäß höre ich hier nicht viel Collegia; nur zweie, [...] und daneben benutze ich die Krankenanstalten. So behalte ich denn noch ziemlich viel Zeit übrig, mich teils mit alter und neuer Literatur bekannter zu machen, teils für mich das Studium der Natur fortzusetzen.« 241 So Herting (1930), 61 und Schulte (1961), 355. 242 Das Vorwort seiner Herodotübersetzung lautet (Jacobi [1799], V f.): »Es erscheint hier der erste Band einer neuen deutschen Uebersetzung von Herodots Geschichte. Ich hatte bey diesem Unternehmen mehrere Vorgänger, deren Arbeiten in den Händen des Publikums sind; aber nie wollte mich ihre Weise, den alten Schriftsteller darzustellen, befriedigen. Sie zeigten mir den Herodot blos wie einen Greis, der mit kindlicher Liebenswürdigkeit die Mährchen wiedererzählt, die er während seiner Jugend gehört hat; nicht den ernsten, mit aller Anmuth begabten Mann, der in den schönsten Zeiten Griechenlands die Kunde des Alterthums niederschrieb, und

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zung konkreter und äußert sich speziell zur Übersetzung Heilmanns. Er findet zwar zunächst einige Worte der Anerkennung für dessen Leistung, kritisiert sie dann aber recht scharf243: Indessen verfloss, seit diese Uebersetzung erschien, beynahe ein halbes Jahrhundert; und wer des Urtheils darüber fähig ist, weiss wie wenig auf der einen Seite ihre Sprache unsern gegenwärtigen Foderungen entspricht; wie wenig sie in dieser Hinsicht mit Vergnügen gelesen werden kann, und wie oft durch sie allein der Sinn und Geist des Verfassers auf eine unleidliche Weise entstellt wird. Auf der andern Seite ist nicht zu läugnen, dass Heilmann dennoch oft nicht die mögliche Treue beobachtet, ja dass er sogar zuweilen einer, ihm elegant scheinenden Wendung zu gefallen, den Sinn minder genau angegeben hat, als er es ohne Zweifel vermogte.

Drei Aspekte der Heilmann’schen Übersetzung werden hier bemängelt. Einmal ist sie aus Jacobis Sicht sprachlich veraltet; sie genügt somit als deutscher Text nicht mehr den herrschenden Sprachnormen. Darüber hinaus trifft sie den Gedanken des Ausgangstextes vielfach nicht richtig und erscheint geradezu sinnentstellend. Schließlich verstößt sie gegen das Gebot der »Treue«, worunter hier offensichtlich die sprachliche Nähe zum Ausgangstext und nicht mehr bloß, wie noch um die Mitte des 18. Jahrhunderts, die gedankliche Übereinstimmung zu verstehen ist. Jacobis Urteil, dass Heilmann teilweise den Sinn nicht treffe und die Nähe zum Ausgangstext zugunsten zielsprachlicher Qualität geopfert habe, stimmt weitgehend mit dem Befund des vorangehenden Kapitels überein. Der aus seiner Sicht mangelhaften Übersetzung Heilmanns stellt Jacobi seine eigene entgegen, die nach folgenden Prinzipien gestaltet sei244: Die höchst mögliche Treue, die sich ohne der deutschen Sprache Gewalt anzuthun, beobachten liess, war die erste Foderung die ich an mich that. Nie habe ich diese einer glänzenden Wendung aufgeopfert; und in einer fliessenden Schreibart da einen Vorzug gesucht, wo sie mit dem Buchstaben und Geiste des Originals nicht bestehen konnte.

Jacobi bekennt sich hier zu einem ausgangstextorientierten Übersetzungsverfahren; nicht mehr nur den Gedanken, sondern auch die sprachliche Form will er genau wiedergeben. Dass ein solches Übersetzungsverfahren im Falle des Thukydides nicht zu einer glatten, leicht rezipierbaren Übersetzung führt, deutet er an, indem er erklärt, keine »fliessende Schreibart« angestrebt zu haben. Damit verweist Jacobi offenbar auf die Sperrigkeit des Thukydideischen Stils, die dem Lesefluss entgegenwirkt. Allerdings verabsolutiert Jacobi die Forderung nach übersetzerischer Treue nicht. Er verlangt nämlich, dass die Übersetzung der deutschen Sprache keine »Gewalt antun« dürfe. Zielsprachliche Akzeptabilität bleibt für Jacobi also weiterhin ein Kriterium für die Qualität einer Übersetzung. _____________ sich allgemeine Bewunderung erwarb. Dies reifte in mir den Entschluss, mit ihnen zu wetteifern, und so entstand dieses Werk, welches ich selbst nur wie einen Versuch ansehe.« 243 Jacobi (1804), Bd. 1, o. P. 244 Ebd.

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Übersetzungsanalyse245 Der Anfang des Geschichtswerks (1, 1) Θουκυδίδης Ἀθηναῖος ξυνέγραψε τὸν πόλεµον τῶν Πελοποννησίων καὶ Ἀθηναίων, ὡς ἐπολέµησαν πρὸς ἀλλήλους· ἀρξάµενος εὐθὺς καθισταµένου, καὶ ἐλπίσας µέγαν τε ἔσεσθαι καὶ ἀξιολογώτατον τῶν προγεγενηµένων· τεκµαιρόµενος, ὅτι ἀκµάζοντές τε ᾖσαν246 ἐς αὐτὸν ἀµφότεροι παρασκευῇ τῇ πάσῃ, καὶ τὸ ἄλλο Ἑλληνικὸν ὁρῶν ξυνιστάµενον πρὸς ἑκατέρους, τὸ µὲν εὐθὺς, τὸ δὲ καὶ διανοούµενον. κίνησις γὰρ αὕτη µεγίστη δὴ τοῖς Ἕλλησιν ἐγένετο, καὶ µέρει τινὶ τῶν βαρβάρων, ὡς δὲ εἰπεῖν, καὶ ἐπὶ πλεῖστον ἀνθρώπων. τὰ γὰρ πρὸ αὐτῶν, καὶ τὰ ἔτι παλαιότερα, σαφῶς µὲν εὑρεῖν διὰ χρόνου πλῆθος ἀδύνατον ἦν· ἐκ δὲ τεκµηρίων, ὧν ἐπὶ µακρότατον σκοποῦντί µοι πιστεῦσαι ξυµβαίνει, οὐ µεγάλα νοµίζω γενέσθαι, οὔτε κατὰ τοὺς πολέµους, οὔτε ἐς τὰ ἄλλα.

Thucydides von Athen schrieb die Geschichte des Krieges, den die Peloponnesier und Athener wider einander geführt haben. Er unternahm das Werk unter dem Beginn der Feindseeligkeiten, indem er schon damals erwartete, dieser Kampf werde gross und ungleich denkwürdiger als alle vorhergehenden werden; da beyde Partheyen denselben in dem höchsten Flor ihrer Kriegsmacht jeder Art unternahmen, und alle übrigen Hellenischen Staaten theils schon für die eine oder die andere Seite erklärt, theils mit dem Gedanken der Theilnahme an dem Zwiste, beschäftigt waren. Denn dies ist die stärkste Erschütterung, welche die Hellenen sowohl als mehrere barbarische Völker, und fast möchte ich sagen, den grössten Theil des Menschengeschlechts jemals betroffen hat. Die Entfernung der Zeiten macht es zwar unmöglich, die früheren und ältsten Begebenheiten ganz zu ergründen; nach Beweisen aber, die, bey meinen fernsten247 Nachforschungen, ihre Glaubwürdigkeit behaupten, ist es mir wahrscheinlich, dass weder die Kriege noch sonstigen Vorfälle jener früheren Zeit sehr erheblich waren.248

Der Unterschied zur Übersetzung Heilmanns fällt geringer aus, als man es angesichts der kritischen Äußerungen Jacobis hätte erwarten können. Im ersten Satz ähneln sich die beiden Übersetzungen sogar stark in ihrer sprachlichen Struktur. Wie Heilmann gibt Jacobi den vergleichenden Adverbialsatz ὡς ἐπολέµησαν πρὸς _____________ 245 Jacobi macht keine Angaben zu der von ihm verwendeten Ausgabe. Der griechische Text folgt hier, sofern nicht anders vermerkt, der Ausgabe von Duker (1731). 246 In den Ausgaben von Duker (1731) und Gottleber/Bauer (1790) ist die Lesart ἦσαν abgedruckt. Jacobi setzt hier aber offenbar die Lesart ᾖσαν voraus, auf die in den Anmerkungen zu jenen Ausgaben auch hingewiesen wird. 247 Im Text selbst steht »ernsten«. Im Fehlerverzeichnis am Ende von Bd. 1 der Übersetzung Jacobis wird dieser Fehler jedoch korrigiert. 248 Jacobi (1804), Bd. 1, 3.

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ἀλλήλους als Relativsatz wieder und überspielt die Rekurrenz von πόλεµον und ἐπολέµησαν, indem er beide Ausdrücke mit der idiomatischen Wendung »Krieg führen« übersetzt. Was die stilistische »Treue« anbelangt, so lässt sich bei Jacobi an einigen Stellen durchaus ein größeres Bemühen um die sprachliche Form des Ausgangstextes feststellen als bei Heilmann. So stellt er beispielsweise den für Thukydides charakteristischen Wechsel des Positivs und Superlativs (µέγαν τε ἔσεσθαι καὶ ἀξιολογώτατον τῶν προγεγενηµένων) – im Gegensatz zu Heilmann – durch den Wechsel von Positiv und verstärktem Komparativ dar (»dieser Kampf werde gross und ungleich denkwürdiger als alle vorhergehenden werden«). Außerdem übersetzt Jacobi weniger wortreich als Heilmann. Doch bildet er den Stil des Thukydides nicht durchweg nach. Wie Heilmann lässt er z. B. das Partizip τεκµαιρόµενος unübersetzt, so dass die Anakoluthie, die Thukydides hier konstruiert, indem er zunächst mit τεκµαιρόµενος, ὅτι beginnt, den Satz dann aber mit ὁρῶν weiterführt, nicht nachgebildet wird. Epitaphios (2, 37, 1) Χρώµεθα γὰρ πολιτείᾳ οὐ ζηλούσῃ τοὺς τῶν πέλας νόµους, παράδειγµα δὲ αὐτοὶ µᾶλλον ὄντες τισὶν, ἢ µιµούµενοι ἑτέρους. καὶ ὄνοµα µὲν, διὰ τὸ µὴ ἐς ὀλίγους ἀλλ᾿ ἐς πλείονας οἰκεῖν, δηµοκρατία κέκληται· µέτεστι δὲ, κατὰ µὲν τοὺς νόµους, πρὸς τὰ ἴδια διάφορα πᾶσι τὸ ἴσον, κατὰ δὲ τὴν ἀξίωσιν, ὡς ἕκαστος ἔν τῳ εὐδοκιµεῖ, οὐκ ἀπὸ µέρους τὸ πλεῖον ἐς τὰ κοινὰ ἢ ἀπ᾿ ἀρετῆς προτιµᾶται· οὐδ᾿ αὖ κατὰ πενίαν, ἔχων δέ τι ἀγαθὸν δρᾶσαι τὴν πόλιν, ἀξιώµατος ἀφανείᾳ κεκώλυται.

In unserer Staatsverwaltung ahmen wir nicht fremde Einrichtungen nach; sondern wir dienen vielmehr andern zum Vorbilde. Diese Verfassung führt den Namen der Volksherrschaft; weil die Gewalt nicht in einigen wenigen, sondern in der Menge ruht. Bey Privatstreitigkeiten sind die Gesetze für alle gleich. Und was das bürgerliche Ansehen betrifft, so hängt dies von den Verdiensten ab, wodurch ein Bürger sich auszeichnet, und nicht von der Klasse zu der er sich zählt. Auch die Armuth hindert ihn nicht, durch das geringe Ansehen, dessen er ihrentwegen geniesst, der Stadt nützlich zu seyn, wenn er es vermag.249

Im vorangehenden Kapitel wurde gezeigt, wie Heilmann im ersten Satz dieser Passage die Konstruktion gegenüber dem griechischen Text glättet. Jacobi entfernt sich nun noch weiter als Heilmann von dem Ausgangstext, indem er ἢ µιµούµενοι ἑτέρους unübersetzt lässt. Die doppelt antithetische Konstruktion des Satzes wird somit von Jacobi aufgegeben. _____________ 249 Jacobi (1804), Bd. 1, 169.

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Auch im Folgenden erweist sich die Übersetzung Jacobis als recht frei. Weder die grammatikalische Struktur noch die Abfolge der einzelnen Satzkonstituenten wird konsequent nachgebildet. So gibt er den ersten Hauptsatz µέτεστι δὲ, κατὰ µὲν τοὺς νόµους, πρὸς τὰ ἴδια διάφορα πᾶσι τὸ ἴσον mit »[b]ey Privatstreitigkeiten sind die Gesetze für alle gleich« wieder, was eher eine Paraphrase des griechischen Textes darstellt. Auffällig an der Übersetzung Jacobis ist in dieser Passage außerdem, dass sie an einigen Stellen von derjenigen Heilmanns, die Jacobi in seiner Vorrede ja scharf kritisiert hatte, abhängig ist. So folgt er Heilmann z. B. in der Wiedergabe von νόµοι, das er zunächst mit »Einrichtungen«, anschließend aber mit »Gesetze« wiedergibt. Auch seine Übersetzung von διὰ τὸ µὴ ἐς ὀλίγους ἀλλ᾿ ἐς πλείονας οἰκεῖν (»weil die Gewalt nicht in einigen wenigen, sondern in der Menge ruht«) orientiert sich an derjenigen Heilmanns (»weil sie nicht auf einigen wenigen, sondern auf dem grossen Haufen beruhet«). Pathologie des Krieges (3, 82, 4 f.) καὶ τὴν εἰωθυῖαν ἀξίωσιν τῶν ὀνοµάτων ἐς τὰ ἔργα ἀντήλλαξαν τῇ δικαιώσει. τόλµα µὲν γὰρ ἀλόγιστος, ἀνδρία φιλέταιρος ἐνοµίσθη· µέλλησις δὲ προµηθὴς, δειλία εὐπρεπής. τὸ δὲ σῶφρον, τοῦ ἀνάνδρου πρόσχηµα. καὶ τὸ πρὸς ἅπαν ξυνετὸν, ἐπίπαν ἀργόν. τὸ δ᾿ ἐµπλήκτως ὀξὺ, ἀνδρὸς µοίρᾳ προσετέθη. ἀσφαλείᾳ δὲ τὸ ἐπιβουλεύσασθαι, ἀποτροπῆς πρόφασις εὔλογος. καὶ ὁ µὲν χαλεπαίνων, πιστὸς ἀεὶ, ὁ δ᾿ ἀντιλέγων αὐτῷ, ὕποπτος. ἐπιβουλεύσας δέ τις τυχὼν, ξυνετὸς, καὶ ὑπονοήσας, ἔτι δεινότερος. προβουλεύσας δὲ ὅπως µηδὲν αὐτῶν δεήσοι, τῆς τε ἑταιρίας διαλυτὴς, καὶ τοὺς ἐναντίους ἐκπεπληγµένος.

Auch änderte man die gewohnte Bedeutung der Worte in Schätzung der Dinge nach eigenem Gutdünken. Tollkühnheit galt nun für dienstfertige Tapferkeit; kluges Zaudern für schön verschleierte Furchtsamkeit; ein weises Betragen für einen Vorwand der Feigheit. Suchte man in jeder Hinsicht vernünftig zu handeln, so hiess man träge zu allem. Heftiges Zufahren hingegen ward für männlich geachtet. Verlangte man ruhig etwas zu überlegen, so hielt man dies für einen scheinbaren Vorwand um sich aus der Sache zu ziehen. Wer schalt und schmähte, war ein zuverlässiger Mann, wer ihm widersprach aber verdächtig. Wer einem Fallstricke legte und seine Absicht erreichte, galt für klug; wer aber einen solchen Plan vorher durchschaute, für noch weit schlauer. Wer aber seine Massregeln so nahm dass er dergleichen nicht bedurfte, dem warf man vor dass er die Freundschaft stöhre und seine Gegner fürchte.

Maximilian Jacobi ἁπλῶς δὲ, ὁ φθάσας τὸν µέλλοντα κακόν τι δρᾷν, ἐπῃνεῖτο, καὶ ὁ ἐπικελεύσας τὸν µὴ διανοούµενον.

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Ueberhaupt ward der gelobt, der, wenn man ihm etwas Böses anhaben wollte, diesem vorbaute und dagegen einen Dritten, der nichts dergleichen im Sinne hatte, zu ähnlichen Thaten bewog.250

Gegenüber Heilmann zeigt Jacobi hier an mehreren Stellen eine größere Nähe zum Ausgangstext. So wählt Jacobi beispielsweise für ἀργόν, das Heilmann sehr frei mit »Schlafmütze« wiedergegeben hatte, eine semantisch präzisere und stilistisch angemessenere Übersetzung (»träge«). Geradezu eine Verbesserung Heilmanns stellt Jacobis Übersetzung von ἐπιβουλεύσας δέ τις τυχὼν dar. Heilmann hatte dies mit »Wer andern Schlingen legte« wiedergegeben und somit das für die Aussage entscheidende Partizip τυχών unberücksichtigt gelassen. Jacobi hingegen (»Wer einem Fallstricke legte und seine Absicht erreichte«) gibt den griechischen Text, wenn auch in recht freier Übersetzung, angemessen wieder. Aber auch in dieser Passage fallen, wie schon im vorangegangenen Beispiel, zahlreiche Übereinstimmungen zwischen den Übersetzungen von Heilmann und Jacobi auf. So weicht Jacobis Übersetzung von ἀνδρία φιλέταιρος (»dienstfertige Tapferkeit«) nur geringfügig von derjenigen Heilmanns (»dienstgeflissene Tapferkeit«) ab. Dass Jacobi diese Übersetzung übernommen hat, ist insofern überraschend, als sie den Bezug zur Hetairie nicht berücksichtigt und somit die Bedeutung von φιλέταιρος nur unzureichend wiedergibt. Besonders deutlich tritt die Abhängigkeit Jacobis von Heilmann in der Übersetzung des Satzes καὶ ὁ µὲν χαλεπαίνων, πιστὸς ἀεὶ, ὁ δ᾿ ἀντιλέγων αὐτῷ, ὕποπτος zu Tage. Für Heilmanns »Wer nur brav schalt und schmähete, hies ein Man, auf den man sich verlassen könne: wer ihm hingegen widersprach, war verdächtig« schreibt Jacobi »Wer schalt und schmähte, war ein zuverlässiger Mann, wer ihm widersprach aber verdächtig«. Auffällige Übereinstimmungen finden sich auch in der Wiedergabe von τῆς τε ἑταιρίας διαλυτὴς, καὶ τοὺς ἐναντίους ἐκπεπληγµένος. Anstatt »von dem hies es, er sey ein Freundschaftsstörer, und fürchte sich für dem Gegenpart« (Heilmann) übersetzt Jacobi »dem warf man vor dass er die Freundschaft stöhre und seine Gegner fürchte«. Schließlich ist die Übernahme der Metapher »Fallstricke« durch Jacobi sehr auffällig und lässt die Annahme, dass Jacobi hier die Übersetzung von Heilmann benutzt hat, unvermeidlich erscheinen.

_____________ 250 Jacobi (1804), Bd. 1, 313 f.

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Der Paradigmenwechsel in der Übersetzungskultur um 1800

Melierdialog (5, 89) Ἡµεῖς τοίνυν οὔτε αὐτοὶ µετ᾿ ὀνοµάτων καλῶν, ὡς ἢ δικαίως τὸν Μῆδον καταλύσαντες ἄρχοµεν, ἢ ἀδικούµενοι νῦν ἐπεξερχόµεθα, λόγων µῆκος ἄπιστον παρέξοµεν· οὔθ᾿ ὑµᾶς ἀξιοῦµεν, ἢ ὅτι Λακεδαιµονίων ἄποικοι ὄντες οὐ ξυνεστρατεύσατε, ἢ ὡς ἡµᾶς οὐδὲν ἠδικήκατε, λέγοντας, οἴεσθαι πείσειν· τὰ δυνατὰ δ᾿ ἐξ ὧν ἑκάτεροι ἀληθῶς φρονοῦµεν διαπράσσεσθαι, ἐπισταµένους πρὸς εἰδότας, ὅτι δίκαια µὲν ἐν τῷ ἀνθρωπείῳ λόγῳ ἀπὸ τῆς ἴσης ἀνάγκης κρίνεται, δυνατὰ δὲ οἱ προὔχοντες πράσσουσι, καὶ οἱ ἀσθενεῖς ξυγχωροῦσι.

Wir werden demnach nicht in einer langen, und schon darum Verdacht erzeugenden, Rede in schönen Ausdrücken darthun, dass wir, weil wir die Macht des Meders zu Grunde richteten, mit Recht die Oberherrschaft führen, oder dass wir, als die früher Beleidigten, gegen euch zu Felde ziehen. Dagegen erwarten wir aber, dass auch ihr nichts dadurch zu gewinnen hofft, indem ihr vorgebt, ihr hättet als ein lacedämonisches Pflanzvolk nicht mit uns in den Krieg ziehen können, oder auch, ihr hättet uns nicht beleidigt; sondern dass ihr vielmehr nach Maassgabe unserer gegenseitigen wahren Gesinnungen thut, was ihr allein thun könnt, indem ihr euch, so gut wie wir uns selbst, überzeugt haltet, dass allein der ähnliche Zwang, unter dem man sich befindet, in menschlichen Angelegenheiten einen gleichen Maassstab zum Recht hergeben kann; dass aber der Mächtigere thut, und der Schwächere leidet, was er vermag.251

Betrachtet man zunächst den ersten Satzabschnitt, so fällt auf, dass Jacobi – im Gegensatz zu Heilmann, der die Satzstruktur hier nachgebildet hatte – die Sperrung von αὐτοὶ µετ᾿ ὀνοµάτων καλῶν und λόγων µῆκος ἄπιστον παρέξοµεν nicht berücksichtigt. Jacobi rückt die beiden Formulierungen nämlich zusammen und stellt sie beide an den Anfang des Satzes, der so zwar übersichtlicher wird, dadurch aber auch seine Spannung verliert. Ganz ähnlich verfährt Jacobi in dem mit οὔθ᾿ ὑµᾶς ἀξιοῦµεν beginnenden Satzabschnitt, indem er auch hier die Sperrung von ὑµᾶς ἀξιοῦµεν und λέγοντας, οἴεσθαι πείσειν nicht nachbildet. Außerdem gibt er den Ausdruck οἴεσθαι πείσειν semantisch nur sehr ungenau mit »nichts zu gewinnen hoffen« wieder. Schließlich ist noch anzumerken, dass er den zweiten Satzabschnitt mit »dagegen« einleitet, was dem Gedankengang des griechischen Textes nicht entspricht. Denn es wird hier kein Gegensatz zu dem Vorangehenden markiert, sondern der zweite Teil der durch οὔτε … οὔτε markierten doppelten Verneinung angeschlossen. Es sind aber noch weitere Abweichungen vom griechischen Text zu erwähnen, die der von Jacobi selbst erhobenen Forderung nach sprachlicher »Treue« zuwiderlaufen. So wird in dem mit ἐπισταµένους πρὸς εἰδότας beginnenden Satzabschnitt das zweite Glied des mit ὅτι eingeleiteten Nebensatzes, δυνατὰ δὲ οἱ _____________ 251 Jacobi (1806), Bd. 2, 211.

Maximilian Jacobi

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προύχοντες πράσσουσι, καὶ οἱ ἀσθενεῖς ξυγχωροῦσι, von ihm mit »dass aber der Mächtigere thut, und der Schwächere leidet, was er vermag« wiedergegeben. Zum einen ist hier die Übersetzung von ξυγχωροῦσι mit »leidet« ungenau. Jacobi übersetzt nämlich so, als stünden bei Thukydides die beiden einander entgegengesetzten Begriffe πράσσουσι und πάσχουσι. Doch verwendet Thukydides hier – in für ihn typischer Asymmetrie – gerade nicht diese beiden genau entgegengesetzten Begriffe. Darüber hinaus entsteht durch die von Jacobi vorgenommene Umstrukturierung der Gedankenfolge die Möglichkeit eines Missverständnisses. Denn in der Formulierung »dass aber der Mächtigere thut, und der Schwächere leidet, was er vermag« wird aufgrund der Satzstruktur nicht unmittelbar deutlich, dass sich der Relativsatz »was er vermag« auf »der Mächtigere thut« bezieht. Man vergleiche demgegenüber die Übersetzung Heilmanns: »wer hingegen überlegene Macht in Händen hat, so weit gehe, als er könne, und der Schwächere sich drein geben müsse«. Obwohl Heilmann hier recht frei übersetzt, bringt er den Sinn doch angemessen und gut verständlich zum Ausdruck. An einigen Stellen gelingt es Jacobi allerdings, den Sinn des griechischen Textes angemessener wiederzugeben als Heilmann, so z. B. in seiner Wiedergabe von ἀπὸ τῆς ἴσης ἀνάγκης mit »allein der ähnliche Zwang«. Heilmann hatte diese Formulierung sehr frei mit »nur unter Personen, die sich in einerlei Umständen befinden« übersetzt und so den Aspekt des Zwanges, der für die Aussage entscheidend ist, völlig ausgeblendet. Schließlich sei noch darauf hingewiesen, dass Jacobi sich, wie bereits in den vorangegangenen Beispielen, in einzelnen Formulierungen an der Übersetzung von Heilmann anlehnt. Den Ausdruck »lacedämonisches Pflanzvolk« für Λακεδαιµονίων ἄποικοι etwa hat Jacobi von Heilmann direkt übernommen, die Nominalphrase λόγων µῆκος ἄπιστον wiederum, die Heilmann mit »weitläuftiges, und eben deswegen verdächtiges Aufheben« wiedergegeben hatte, wird von Jacobi in einer den griechischen Text auf ähnliche Weise explizierenden Formulierung mit »in einer langen, und schon darum Verdacht erzeugenden, Rede« übersetzt.

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4.2

Gabriel Gottfried Bredow: Berichtigungen und Nachträge zu Heilmanns deutscher Uebersetzung (1808)

Die Thukydidesübersetzung Heilmanns blieb auch Anfang des 19. Jahrhunderts dominierend und erschien 1808 in zweiter Auflage.252 Der Herausgeber dieser zweiten Auflage, Gabriel Gottfried Bredow (1773–1814), war im Gegensatz zu Maximilian Jacobi studierter Philologe.253 Nach seinem Studium in Halle bei Friedrich August Wolf war er zunächst ab 1794 als Lehrer am Gymnasium zum Grauen Kloster in Berlin tätig, ging aber bereits 1796 an die Gelehrtenschule in Eutin, wo er mit Johann Heinrich Voß in Berührung kam und dann 1802 dessen Nachfolger als Rektor wurde. Im Jahr 1804 wurde Bredow dann an die Universität Helmstedt und 1809 schließlich an die Universität Frankfurt an der Oder berufen. Als die Universität von Frankfurt 1811 nach Breslau verlegt wurde, erhielt er zusätzlich den Posten eines Regierungsrates und wurde mit der Aufsicht über die Gelehrtenschulen im Bezirk Breslau beauftragt. Noch im selben Jahr erkrankte er schwer und verstarb drei Jahre später im Alter von 40 Jahren. Trotz seines relativ kurzen Lebens konnte Bredow ein umfangreiches Œuvre hinterlassen. Unter seinen zahlreichen Werken finden sich neben wissenschaftlichen Arbeiten auch an ein breiteres Publikum gerichtete Schriften, die historische und geographische Themen behandeln und teilweise zahlreiche Auflagen erlebten. Diese Interessen schlugen sich auch in seinen Übersetzungen griechischer und lateinischer Autoren nieder. Neben einer Übersetzung der Germania des Tacitus, die 1809 erschien,254 sind mehrere Übersetzungen von Biographien des Plutarch zu nennen.255 Sein Interesse an Geographie wiederum manifestierte sich in einer hexametrischen Übersetzung der Weltbeschreibung des Dionysios Periegetes, eines Lehrgedichts aus dem 2. Jahrhundert n. Chr.256 Bredow hat der von ihm herausgegebenen zweiten Auflage der Heilmann’schen Übersetzung umfangreiche Anmerkungen und Übersetzungsproben beigegeben, die im selben Jahr auch separat veröffentlicht wurden.257 Wie Jacobi nimmt Bredow in seinem »Vorbericht« kurz zur Übersetzung Heilmanns Stellung und erläutert in diesem Zusammenhang, warum er eigene Übersetzungsproben beigegeben hat258: Beigefügt habe ich noch einige Proben, den Thucydides deutsch zu übersetzen. Denn wiewol Heilmann manche Stelle würklich übersetzt, und besonders in den Uebergängen und Verbindungen der Sätze und Gedanken seine geistvolle Kenntniß beider Sprachen bewähret hat: war doch sein Hauptstreben, seinen Autor deutlich zu ma-

_____________ 252 253 254 255 256 257 258

Heilmann (1808). Zur Biographie Bredows vgl. Kunisch (1816), Wegele (1876), Smith (1997). Bredow (1809). Bredow (1807) und (1814). Bredow (1816). Bredow (1808). Ebd., 4.

Gabriel Gottfried Bredow

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chen, und er hatte nicht das Ideal, nach welchem in neueren Zeiten Voß, Wilh. Schlegel, Schleiermacher Uebersetzungen aus fremden Sprachen arbeiteten, daß er auch Form und Ton der Darstellung im Original überall in der Uebersetzung mit möglichster Anschmiegung wiedergegeben hätte.

Bredow stellt den Status der Heilmann’schen Übersetzung hier bei aller Hochachtung in Frage: um eine »wirkliche« Übersetzung handelt es sich bei ihr nach Bredow nur bedingt. Doch bewertet Bredow die Übersetzung Heilmanns nicht ahistorisch, sondern erkennt an, dass die aus seiner Sicht problematische übersetzerische Freiheit, die die Übersetzung Heilmanns kennzeichnet, den zu ihrer Entstehungszeit geltenden Übersetzungsnormen entspricht. Bredows Feststellung, dass es Heilmann vor allem um die Deutlichkeit gegangen sei, während er sich um eine genaue Nachbildung der sprachlichen Form nicht bemüht habe, deckt sich mit dem Befund der Übersetzungsanalyse, die im vorangehenden Kapitel vorgestellt wurde. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die ganz andere Bewertung der Heilmann’schen Übersetzung bei Johann Jacob Reiske, der den Vorzug seiner eigenen Übersetzung gegenüber derjenigen Heilmanns gerade in ihrer größeren Deutlichkeit gesehen hatte. Reiske machte Heilmann nämlich den Vorwurf, dass er sich zu sehr um die sprachliche Nähe zum Ausgangstext bemüht habe und so ähnlich »dunkel« wie Thukydides geworden sei.259 Für Bredow hingegen, der die Übersetzungen von Voß und Schleiermacher als Maßstab nimmt, ist das in Ansätzen zu konstatierende Bemühen um Stilmimesis bei Heilmann offenbar kaum mehr spürbar. Wenn an der Übersetzung Heilmanns also nunmehr nach 1800 gerade ihre Tendenz zur Verdeutlichung betont wird, so zeigt sich daran, wie sich die Übersetzungsnormen seit der Mitte des 18. Jahrhunderts verschoben haben. Eine genauere Vorstellung von den Übersetzungsprinzipien Bredows lässt sich aus dem Vorwort zu seiner 1814 erschienenen Auswahlübersetzung von Parallelbiographien des Plutarch gewinnen. Er kritisiert die Übersetzungen Kaltwassers,260 die zwischen 1799 und 1806 erschienen waren und an die Bredow aufgrund ihres jüngeren Entstehungsdatums andere Maßstäbe anlegen konnte als an die fast ein halbes Jahrhundert zurückliegende Übersetzung Heilmanns. Der Begriff der »Treue« spielt für Bredow hier eine zentrale Rolle, allerdings sieht er sich angesichts der Übersetzung Kaltwassers genötigt, den Begriff zu differenzieren. Die Übersetzung Kaltwassers erfüllt nach Bredow nicht einmal »den niederen Grad der Treue [...], ich meine die richtige Uebersetzung der einzelnen Wörter, die Nachbildung der Perioden und der Gedankenverbindung des Originals«261. Diese elementare Treue stellt aus Bredows Sicht aber lediglich eine Mindestanforderung dar, deren Erfüllung von jedem Übersetzer zu erwarten sei. »Treue« im höheren Sinne geht jedoch für Bredow weit darüber hinaus und be_____________ 259 Vgl. Reiske (1761a), o. P. 260 Johann Friedrich Salomon Kaltwasser (1752–1813), Professor am Gymnasium in Gotha, übersetzte neben den Parallelbiographien auch die Moralia Plutarchs (1783–1800). 261 Bredow (1814), X.

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deutet, sich »in jedem auch noch so kleinen Zuge dem Hellenischen anzuschließen«262. An anderer Stelle findet sich eine weitere kritische Äußerung zur Übersetzung Kaltwassers, aus der hervorgeht, was ein Übersetzer aus Bredows Sicht zu leisten und was er zu vermeiden hat263: [N]irgend entdecken wir eine Spur, daß der Verfasser da wo sich das Griechische etwas vom gemeinen deutschen Ausdrucke entfernt, das Original nachbilden auch nur gewollt habe, viel weniger, daß wir Stellen nachweisen könnten, wo der Deutsche wetteifernd mit dem Hellenen glücklich ihn erreicht, wo er die Schwierigkeiten der Muttersprache überwunden hätte, ohne daß der Sieg Fremdartiges und Ungelenkes in das Einheimische gewaltsam eingedrängt.

Wie bei Herder und Voß wird die Übersetzung hier als ein Akt des kunstvollen Manipulierens aufgefasst, der aber frei von »Gewalt« zu sein hat. Hinter diesen Äußerungen steht die Vorstellung von der »Biegsamkeit« oder »Geschmeidigkeit« der deutschen Sprache, die bei entsprechender Fähigkeit und hinreichender Bemühung des Übersetzers eine fast deckungsgleiche Übersetzung aus dem Griechischen erlaube. Wie Voß geht Bredow dabei offensichtlich von einer großen sprachsystemischen Ähnlichkeit des Griechischen und des Deutschen aus. Allerdings ist er sich, wie die Warnung vor »Fremdartigem« zeigt, durchaus bewusst, dass dieses Übersetzungsverfahren die Gefahr einer gewissen Kontamination der Zielsprache birgt. Die zielsprachliche Qualität wird also, wenngleich sie nicht mehr wie für die Übersetzungstheorie der frühen Aufklärung an erster Stelle steht, keineswegs aus den Augen verloren.

Übersetzungsanalyse264 Der Anfang des Geschichtswerks (1, 1) Θουκυδίδης Ἀθηναῖος ξυνέγραψε τὸν πόλεµον τῶν Πελοποννησίων καὶ Ἀθηναίων, ὡς ἐπολέµησαν πρὸς ἀλλήλους·

Thucydides von Athen hat den Krieg der Peloponnesier und Athener, wie sie gegen einander gekämpfet, beschrieben,

_____________ 262 Ebd., XXI. 263 Ebd., XIV f. 264 Bredow äußert sich in dem Vorbericht zu seinen Anmerkungen zwar nicht zu der von ihm zugrundegelegten Textausgabe, doch gibt er Auskunft über die philologischen Arbeiten, die er im Rahmen der Herausgabe der Heilmann’schen Übersetzung unternommen hat. So hatte er bei einem Forschungsaufenthalt in Paris im Jahre 1807, der in erster Linie dazu diente, Manuskripte griechischer geographischer Schriftsteller zu erforschen (vgl. Smith [1997], 335), Bekanntschaft mit dem französischen Gelehrten Jean-Baptiste Gail (1755–1829) gemacht, der als Professor für griechische Literatur am Collège de France lehrte. Dieser hatte bislang nicht ausgewertete Handschriften des Thukydideischen Geschichtswerks konsultiert und in seiner Thukydidesausgabe von 1807 verwertet. Den Text dieser Ausgabe stellte er Bredow noch vor der Publikation zur Verfügung (vgl. Bredow [1808], 3 f.). Ob Bredow diese Ausgabe für seine eigenen Übersetzungsproben noch berücksichtigt hat, lässt sich indes nicht mehr ermitteln. Der griechische Text folgt hier der Ausgabe von Duker (1731).

Gabriel Gottfried Bredow ἀρξάµενος εὐθὺς καθισταµένου, καὶ ἐλπίσας µέγαν τε ἔσεσθαι καὶ ἀξιολογώτατον τῶν προγεγενηµένων· τεκµαιρόµενος, ὅτι ἀκµάζοντές τε ᾖσαν265 ἐς αὐτὸν ἀµφότεροι παρασκευῇ τῇ πάσῃ, καὶ τὸ ἄλλο Ἑλληνικὸν ὁρῶν ξυνιστάµενον πρὸς ἑκατέρους, τὸ µὲν εὐθὺς, τὸ δὲ καὶ διανοούµενον. κίνησις γὰρ αὕτη µεγίστη δὴ τοῖς Ἕλλησιν ἐγένετο, καὶ µέρει τινὶ τῶν βαρβάρων, ὡς δὲ εἰπεῖν, καὶ ἐπὶ πλεῖστον ἀνθρώπων. τὰ γὰρ πρὸ αὐτῶν, καὶ τὰ ἔτι παλαιότερα, σαφῶς µὲν εὑρεῖν διὰ χρόνου πλῆθος ἀδύνατον ἦν· ἐκ δὲ τεκµηρίων, ὧν ἐπὶ µακρότατον σκοποῦντί µοι πιστεῦσαι ξυµβαίνει, οὐ µεγάλα νοµίζω γενέσθαι, οὔτε κατὰ τοὺς πολέµους, οὔτε ἐς τὰ ἄλλα.

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anfangend sogleich beim Entstehen desselben und nach manchen Zeichen vorahndend, es werde der Kampf an Größe und Denkwürdigkeit die früheren übertreffen: denn im höchsten Flor der gesammten Kriegsrüstung unternahmen ihn beide, und die übrigen Hellenen sah man der einen oder andern Partei, einige sogleich sich anschließen, andere doch schon es gedenkend. Denn dies war unstreitig für die Hellenen und einen Theil der Barbaren, ja man kann sagen, selbst für einen großen Theil des Menschengeschlechts eine der größten Erschütterungen. Denn was vor dem und noch weiter hinauf vorgefallen ist sicher zu wissen, ist wegen Länge der Zeit unmöglich; nach Beweisen aber, die mir bei meiner Forschung ins fernste Alterthum glaubwürdig bleiben, urtheile ich, daß weder in Kriegen noch sonst Großes geschehen sei.266

Es zeigt sich hier sofort, dass Bredow im Vergleich zu seinen Vorgängern ganz andere Maßstäbe an seine Übersetzung anlegt. Während Heilmann und Jacobi im ersten Satz ein assimilierendes Verfahren gewählt hatten, bildet Bredow die grammatikalische Struktur des griechischen Satzes nach. Dies zeigt sich insbesondere daran, dass er den vergleichenden Adverbialsatz ὡς ἐπολέµησαν πρὸς ἀλλήλους analog nachbildet und nicht, wie Heilmann und Jacobi, mit einem Relativsatz wiedergibt. Auch im folgenden, mit ἀρξάµενος beginnenden Abschnitt des Satzes erweist sich die Übersetzung Bredows als äußerst präzise. Im Gegensatz zu Heilmann und Jacobi, die in der Satzstruktur deutlich vom Ausgangstext abweichen, folgt Bredow dem griechischen Satz fast Wort für Wort und bildet sogar die Partizipialformen ἀρξάµενος (»anfangend«) und ἐλπίσας (»vorahndend«) nach. Dies ist insofern besonders aufschlussreich, als die analoge Nachbildung von Partizipialformen eines der charakteristischen Merkmale der von Voß praktizierten sprachmimetischen Übersetzungsmethode darstellt.267 In seiner Übersetzung des mit τεκµαιρόµενος beginnenden Satzabschnitts weist Bredows Übersetzung (»denn im höchsten Flor der gesammten Kriegsrüs_____________ 265 In den Ausgaben von Duker (1731) und Gottleber/Bauer (1790) ist die Lesart ἦσαν abgedruckt. Bredow setzt hier aber offenbar die Lesart ᾖσαν voraus, auf die in den Anmerkungen zu jenen Ausgaben auch hingewiesen wird. 266 Bredow (1808), 17. 267 Vgl. Häntzschel (1977), 102–108.

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tung unternahmen ihn beide«) deutliche Übereinstimmungen mit derjenigen Jacobis auf (»da beyde Partheyen denselben in dem höchsten Flor ihrer Kriegsmacht jeder Art unternahmen«). Während Jacobi aber τεκµαιρόµενος unübersetzt lässt, berücksichtigt Bredow das Partizip mit der Präpositionalphrase »nach manchen Zeichen«, die er mit »vorahndend«, seiner Übersetzung des Partizips ἐλπίσας, verbindet. So gelingt es ihm, die logische Beziehung zwischen τεκµαιρόµενος und ἐλπίσας im Deutschen, wenn auch mit anderen sprachlichen Mitteln, angemessen wiederzugeben. Die größere Genauigkeit der Übersetzung Bredows wird dann auch in seiner Wiedergabe des Partizips ὁρῶν deutlich, das sowohl Heilmann als auch Jacobi unberücksichtigt gelassen hatten. In Bredows Übersetzung wird so auch die für den Thukydideischen Stil charakteristische Unregelmäßigkeit dieses Satzabschnitts, der zunächst mit τεκµαιρόµενος, ὅτι eingeleitet, dann jedoch mit ὁρῶν anakoluth weitergeführt wird, angedeutet. Schließlich ist noch auf Bredows sprachmimetische Übersetzung des Partizips διανοούµενον mit »es gedenkend« hinzuweisen, die den bisher gewonnenen Eindruck bestätigt. Allerdings werden die für Thukydides typischen Stilmerkmale nicht durchgängig nachgebildet. So beachtet Bredow etwa nicht den Wechsel des Positivs und Superlativs (µέγαν τε ἔσεσθαι καὶ ἀξιολογώτατον τῶν προγεγενηµένων), indem er übersetzt: »es werde der Kampf an Größe und Denkwürdigkeit die früheren übertreffen«. Auch die Variation von Dativ und präpositionalem Ausdruck in κίνησις γὰρ αὕτη µεγίστη δὴ τοῖς Ἕλλησιν ἐγένετο, καὶ µέρει τινὶ τῶν βαρβάρων, ὡς δὲ εἰπεῖν, καὶ ἐπὶ πλεῖστον ἀνθρώπων wird von Bredow überspielt (»Denn dies war unstreitig für die Hellenen und einen Theil der Barbaren, ja man kann sagen, selbst für einen großen Theil des Menschengeschlechts eine der größten Erschütterungen«). Schließlich soll noch Bredows Umgang mit Rekurrenzphänomenen betrachtet werden. Thukydides betont am Anfang seines Werkes durch die Wiederholung von Formen des Adjektivs µέγας die Größe seines Untersuchungsgegenstandes und damit die Bedeutung seines eigenen historiographischen Projekts: ἐλπίσας µέγαν τε ἔσεσθαι ... κίνησις γὰρ αὕτη µεγίστη δὴ τοῖς Ἕλλησιν ἐγένετο ... οὐ µεγάλα νοµίζω γενέσθαι. Weder Heilmann noch Jacobi hatten diese für die Aussage des Thukydides so wichtige Rekurrenz konsequent wiedergegeben; Bredow hingegen bringt sie in seiner Übersetzung deutlich zum Ausdruck: »es werde der Kampf an Größe und Denkwürdigkeit die früheren übertreffen [...]. Denn dies war unstreitig für die Hellenen und einen Theil der Barbaren, ja man kann sagen, selbst für einen großen Theil des Menschengeschlechts eine der größten Erschütterungen. [...], daß weder in Kriegen noch sonst Großes geschehen sei«.

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Epitaphios (2, 37, 1) Χρώµεθα γὰρ πολιτείᾳ οὐ ζηλούσῃ τοὺς τῶν πέλας νόµους, παράδειγµα δὲ αὐτοὶ µᾶλλον ὄντες τισὶν, ἢ µιµούµενοι ἑτέρους. καὶ ὄνοµα µὲν, διὰ τὸ µὴ ἐς ὀλίγους ἀλλ᾿ ἐς πλείονας οἰκεῖν, δηµοκρατία κέκληται· µέτεστι δὲ, κατὰ µὲν τοὺς νόµους, πρὸς τὰ ἴδια διάφορα πᾶσι τὸ ἴσον, κατὰ δὲ τὴν ἀξίωσιν, ὡς ἕκαστος ἔν τῳ εὐδοκιµεῖ, οὐκ ἀπὸ µέρους τὸ πλεῖον ἐς τὰ κοινὰ ἢ ἀπ᾿ ἀρετῆς προτιµᾶται· οὐδ᾿ αὖ κατὰ πενίαν, ἔχων δέ τι ἀγαθὸν δρᾶσαι τὴν πόλιν, ἀξιώµατος ἀφανείᾳ κεκώλυται.

Nach den Gesetzen ist bei persönlichen Streitigkeiten Allen das gleiche Recht; und wo es auf Auszeichnung ankömmt, wird jeder, worin er bewähret scheint, zu öffentlichen Geschäften, nicht nach einer besondern Klasse sowol, als nach Tüchtigkeit hervorgehoben: noch ist jemand bei Armuth, wer dem Staate zu nützen vermag, durch des Ansehens Unscheinbarkeit gehindert.268

Dass Bredow gerade den letzten Satz dieser Passage übersetzt, dürfte wohl darauf zurückzuführen sein, dass die Übersetzung Heilmanns, wie gezeigt wurde,269 den Sinn des griechischen Textes an dieser Stelle nicht angemessen wiedergibt. Bredow orientiert sich hier, wie schon im zuvor betrachteten Beispiel, sehr eng am Ausgangstext. Bis auf wenige Ausnahmen bildet er die Wort- bzw. Konstituentenfolge des griechischen Textes in der Übersetzung genau nach und verwendet, soweit möglich, vergleichbare sprachliche Ausdrucksmittel, insbesondere die zahlreichen präpositionalen Ausdrücke werden von Bredow analog nachgebildet. Auch auf der Wortebene ist Bredow um eine möglichst genaue Wiedergabe des Ausgangstextes bemüht, wie sich besonders gut an seiner Übersetzung von προτιµᾶται zeigen lässt. Zwar wählt er nicht das absolut wörtliche »vorehren«270, doch lehnt er sich mit dem Verb »hervorheben« an der Wortbildung des griechischen προτιµάω an. Besonders hinzuweisen ist auch auf Bredows Übersetzung von ἀξιώµατος ἀφανείᾳ mit »durch des Ansehens Unscheinbarkeit«, durch die er die Grundbedeutung von ἀφάνεια zum Ausdruck bringt.

_____________ 268 Bredow (1808), 67. 269 S. oben Kap. 3.2. 270 Das Substantiv »Vorehre« ist belegt, vgl. DWB, Bd. 26, Sp. 991.

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Pathologie des Krieges (3, 82, 4 f.) καὶ τὴν εἰωθυῖαν ἀξίωσιν τῶν ὀνοµάτων ἐς τὰ ἔργα ἀντήλλαξαν τῇ δικαιώσει. τόλµα µὲν γὰρ ἀλόγιστος, ἀνδρία φιλέταιρος ἐνοµίσθη· µέλλησις δὲ προµηθὴς, δειλία εὐπρεπής. τὸ δὲ σῶφρον, τοῦ ἀνάνδρου πρόσχηµα. καὶ τὸ πρὸς ἅπαν ξυνετὸν, ἐπίπαν ἀργόν. τὸ δ᾿ ἐµπλήκτως ὀξὺ, ἀνδρὸς µοίρᾳ προσετέθη. ἀσφαλείᾳ δὲ τὸ ἐπιβουλεύσασθαι, ἀποτροπῆς πρόφασις εὔλογος. καὶ ὁ µὲν χαλεπαίνων, πιστὸς ἀεὶ, ὁ δ᾿ ἀντιλέγων αὐτῷ, ὕποπτος. ἐπιβουλεύσας δέ τις τυχὼν, ξυνετὸς,

Leidenschaftliche Raschheit wurde dem Manne als Verdienst zugegeben; mit Ruhe und in Sicherheit Plane gegen jemand überdenken, hieß wohllautender Vorwand um auszuweichen. Wer andern Schlingen legte und darin glüklich war, hieß gescheut.271

καὶ ὑπονοήσας, ἔτι δεινότερος. προβουλεύσας δὲ ὅπως µηδὲν αὐτῶν δεήσοι, τῆς τε ἑταιρίας διαλυτὴς, καὶ τοὺς ἐναντίους ἐκπεπληγµένος. ἁπλῶς δὲ, ὁ φθάσας τὸν µέλλοντα κακόν τι δρᾷν, ἐπῃνεῖτο, καὶ ὁ ἐπικελεύσας τὸν µὴ διανοούµενον.

In der Übersetzung von τὸ δ᾿ ἐµπλήκτως ὀξὺ, ἀνδρὸς µοίρᾳ προσετέθη lässt sich erneut beobachten, dass Bredow sich sehr viel näher am Ausgangstext orientiert als Heilmann und Jacobi. So wählt Bredow für das Kompositum προστίθηµι (»daransetzen, hinzusetzen«) mit »zugeben« einen in Wortbildung und Bedeutung sehr ähnlichen Ausdruck. Die Nachbildung von Komposita war wie die analoge Wiedergabe von Partizipien, die sich ebenfalls bereits bei Bredow beobachten ließ, eines der Charakteristika der Voß’schen Übersetzungssprache.272 Diese scheint für Bredow, so zeichnet sich ab, maßgebend gewesen zu sein. Der wesentliche Unterschied zur Übersetzung Heilmanns besteht jedoch in dem Verständnis von τὸ ἐπιβουλεύσασθαι, das Heilmann mit »etwas in weitere Ueberlegung nehmen« wiedergegeben hatte. Dieses Verständnis lehnt Bredow, wie er in seinen Anmerkungen deutlich macht, als »weder im Sprachgebrauch, noch dieser Stelle angemessen«273 ab. Er bringt die mediale Form ἐπιβουλεύσασθαι daher, wie vor ihm schon Reiske, enger mit einer speziellen Bedeutung des Aktivs ἐπιβουλεύειν – »jemandem auflauern, ihm einen Hinterhalt legen« – zusammen. _____________ 271 Bredow (1808), 116. 272 Vgl. Häntzschel (1977), 131–137. 273 Bredow (1808), 116.

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Auch Bredows Übersetzung von ἐπιβουλεύσας δέ τις τυχὼν, ξυνετὸς, καὶ ὑπονοήσας, ἔτι δεινότερος (»Wer andern Schlingen legte und darin glüklich war, hieß gescheut«) ist offenkundig als Verbesserung Heilmanns intendiert, der in seiner Übersetzung (»Wer andern Schlingen legte, war gescheut«) das für die Aussage entscheidende Partizip τυχών unberücksichtigt gelassen hatte. Melierdialog (5, 89) Ἡµεῖς τοίνυν οὔτε αὐτοὶ µετ᾿ ὀνοµάτων καλῶν, ὡς ἢ δικαίως τὸν Μῆδον καταλύσαντες ἄρχοµεν, ἢ ἀδικούµενοι νῦν ἐπεξερχόµεθα, λόγων µῆκος ἄπιστον παρέξοµεν· οὔθ᾿ ὑµᾶς ἀξιοῦµεν, ἢ ὅτι Λακεδαιµονίων ἄποικοι ὄντες οὐ ξυνεστρατεύσατε, ἢ ὡς ἡµᾶς οὐδὲν ἠδικήκατε, λέγοντας, οἴεσθαι πείσειν· τὰ δυνατὰ δ᾿ ἐξ ὧν ἑκάτεροι ἀληθῶς φρονοῦµεν διαπράσσεσθαι, ἐπισταµένους πρὸς εἰδότας, ὅτι δίκαια µὲν ἐν τῷ ἀνθρωπείῳ λόγῳ ἀπὸ τῆς ἴσης ἀνάγκης κρίνεται, δυνατὰ δὲ οἱ προὔχοντες πράσσουσι, καὶ οἱ ἀσθενεῖς ξυγχωροῦσι.

als kundige gegen kundige (da ihr erkennt, und wohl voraussetzen dürft, daß wir wissen), daß nach Recht und Gerechtigkeit in menschlichen Verhältnissen nur entschieden wird, wo man gegenseitig mit gleicher Macht sich einander zu zwingen im Stande ist; nach Möglichkeit aber der Mächtige um sich greift, und der Schwache nachgiebt.274

Für die im Deutschen schwer nachzubildende Formulierung ἐπισταµένους πρὸς εἰδότας wählt Bredow die Übersetzung »als kundige gegen kundige«, die die Bedeutungsgleichheit der beiden Verben unterstreicht, fügt jedoch eine zweite, den Sinn genauer erläuternde Übersetzung in Klammern hinzu (»da ihr erkennt, und wohl voraussetzen dürft, daß wir wissen«), die auch die Variation des Verbs berücksichtigt. In beiden Varianten ist das Bemühen um Stil- bzw. Sprachmimesis erkennbar, wobei jeweils unterschiedliche Aspekte des griechischen Textes, die sich nicht in einer deutschen Übersetzung darstellen lassen, in den Vordergrund treten. Strukturbildend ist in dem folgenden zweigliedrigen Nebensatz die Antithese δίκαια µὲν – δυνατὰ δέ, die sich im Deutschen aus verschiedenen Gründen nicht analog nachbilden lässt. In den beiden Übersetzungen von Heilmann und Jacobi war denn auch keinerlei Versuch unternommen worden, diese Antithese in entsprechender Form wiederzugeben. Um diese beiden Begriffe wie im Griechischen an der exponierten Anfangsstellung der jeweiligen Kola zu platzieren, übersetzt _____________ 274 Bredow (1808), 180 f.

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Bredow die beiden Adjektive δίκαια und δυνατά mit den präpositionalen Wendungen »nach Recht und Gerechtigkeit« bzw. »nach Möglichkeit«. Es gelingt ihm auf diese Weise, die Struktur des griechischen Satzes zumindest anzudeuten. Als nächstes soll untersucht werden, wie Bredow in der Wiedergabe einzelner Ausdrücke verfährt. Auffällig ist einmal die pleonastische Übersetzung von δίκαια mit »Recht und Gerechtigkeit«, die sich mit dem Bemühen um eine möglichst genaue Wiedergabe von δίκαια erklären lässt. Die Übersetzung von ἀπὸ τῆς ἴσης ἀνάγκης wiederum zeigt ein explikatives Übersetzungsverfahren (»wo man gegenseitig mit gleicher Macht sich einander zu zwingen im Stande ist«). Eine Verabsolutierung der Forderung nach möglichst großer Nähe zum Ausgangstext wird von Bredow, wie sich bereits an anderer Stelle gezeigt hat, offenbar nicht vorgenommen; in Grenzfällen entscheidet er sich zugunsten eines verständlichen deutschen Textes. Auch in seiner Übersetzung von δυνατὰ δὲ οἱ προύχοντες πράσσουσι, καὶ οἱ ἀσθενεῖς ξυγχωροῦσι (»nach Möglichkeit aber der Mächtige um sich greift, und der Schwache nachgiebt«) sind kleinere Abweichungen vom griechischen Text zu konstatieren. Die freie Übersetzung des Prädikats πράσσουσι mit »um sich greift« lässt sich dabei als Folge der vorausgehenden Entscheidung, den Satz mit der präpositionellen Wendung »nach Möglichkeit« einzuleiten, erklären. Eine wörtliche Übersetzung von πράσσουσι war infolgedessen nicht mehr möglich. Die Übersetzung von οἱ προύχοντες mit »der Mächtige« lässt sich hingegen nach den von Bredow selbst seiner Übersetzung zugrundegelegten Prinzipien nur schwer rechtfertigen; sie führt nämlich, wie bei Jacobi, zu dem diametralen Gegensatz von »mächtig« und »schwach«, der von Thukydides gerade nicht in dieser Form artikuliert wird. Möglicherweise strebte Bredow jedoch an, durch die lautliche Ähnlichkeit von »Möglichkeit« und »Mächtige« die Alliteration von προύχοντες πράσσουσι im Deutschen darzustellen. *** Der Paradigmenwechsel in der Übersetzungskultur um 1800 Der Wandel, der sich während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in der deutschen Übersetzungskultur vollzieht, schlägt sich in den Übersetzungen von Maximilian Jacobi und Gabriel Gottfried Bredow unterschiedlich stark nieder. Besonders deutlich wird die Veränderung bei Bredow. Im Vergleich zu Heilmann orientiert er sich sehr viel genauer am griechischen Text, was sich im Satzbau, der grammatikalischen Struktur sowie auf der Ebene einzelner Ausdrücke manifestiert. Mit seiner genauen Beachtung der Wortstellung und der Nachbildung von Partizipialformen sowie von Komposita orientiert er sich an der von Voß in seiner Homerübersetzung praktizierten sprachmimetischen Übersetzungsmethode. Das von Bredow in seinem »Vorbericht« formulierte Übersetzungsideal, »Form und Ton der Darstellung im Original überall in der Uebersetzung mit möglichster Anschmiegung wieder[zu]geben«, wird dabei allerdings nicht vollkommen erfüllt. Wesentliche Merkmale des Thukydideischen Stils wie Asymmetrie und Anakoluthie werden von Bredow nämlich nicht mit letzter Konsequenz wiedergegeben. Vielmehr weicht er gerade dort, wo er auf diese charakteristischen Phä-

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nomene trifft, teils deutlich vom griechischen Text ab. Diese stilistischen Merkmale wurden allerdings, wie sich anhand von Creuzers Die historische Kunst der Griechen in ihrer Entstehung und Fortbildung belegen lässt,275 Anfang des 19. Jahrhunderts noch nicht adäquat verstanden. Zwar gab es durchaus ein Bewusstsein für die stilistischen »Härten« des Thukydides, doch wurden diese noch aus dem Blickwinkel der antiken Stilkritik des Dionys von Halikarnass tendenziell als »Fehler« betrachtet.276 Wenn Bredow also in diesem Punkt eine leichte Tendenz zur glättenden Übersetzung zeigt, so reflektiert dies auch das zu jener Zeit fehlende Bewusstsein für die Nuancen des Thukydideischen Stils. Dass sich das von Voß begründete sprachmimetische Übersetzen zu Anfang des 19. Jahrhunderts keineswegs allgemein durchgesetzt hatte, wird an der Übersetzung Jacobis deutlich. Zwar lässt sich bei Jacobi im Vergleich zu Heilmann durchaus an vielen Stellen ein Bemühen um größere »Treue« beobachten, doch zeigt der Vergleich mit den Übersetzungsproben Bredows, wie weit Jacobi von einem sprachmimetischen Übersetzungsverfahren entfernt ist. An einigen Stellen fällt seine Übersetzung sogar hinter den von Heilmann erreichten Stand zurück und entfernt sich noch weiter vom Ausgangstext. Vergleicht man diesen Befund mit der Vorrede Jacobis, in der er Heilmanns Übersetzung aufgrund ihrer mangelnden Treue scharf kritisiert und seiner eigenen gegenübergestellt hatte, so ergibt sich der Eindruck einer Diskrepanz zwischen Jacobis Übersetzungsprinzipien und der realisierten Übersetzung. Die von ihm geweckten Erwartungen hat Jacobi jedenfalls nur in sehr beschränktem Maße erfüllen können. Auffällig ist angesichts der Kritik an Heilmann auch die an einzelnen Stellen zu beobachtende Abhängigkeit Jacobis von dessen Übersetzung. Zahlreiche Formulierungen Heilmanns haben, nur leicht verändert, in die Übersetzung Jacobis Eingang gefunden. Aufgrund der Vielzahl von unübersehbaren Ähnlichkeiten scheint die Schlussfolgerung unvermeidlich, dass Jacobi nicht nur den griechischen Text, sondern auch die Übersetzung Heilmanns bei seiner Arbeit vor sich hatte und teilweise Formulierungen aus ihr übernommen hat. Vor dem Hintergrund der Übersetzungen von Jacobi und Bredow gewinnt auch die Übersetzung Heilmanns neue Konturen. Erschien sie im Vergleich zu derjenigen Reiskes noch als relativ nah am Ausgangstext – Reiske hatte an Heilmanns Übersetzung ja gerade kritisiert, dass sie sich zu sehr am Ausgangstext orientiere – erscheint sie im Vergleich zu derjenigen Bredows als »frei« oder »paraphrasierend«. _____________ 275 Vgl. Creuzer (1803), 285–290. 276 Zur Kritik des Dionys von Halikarnass an Thukydides vgl. Strebel (1935), 42–48; Grube (1950); Pritchett (1975), XXII–XXXIV; De Jonge (2008), 214–220.

5 Treue, Verfremdung und übersetzerischer »Mittelweg«: Deutsche Thukydidesübersetzungen nach Schleiermacher und Humboldt Die Thukydidesübersetzung von Johann David Heilmann aus dem Jahre 1760 blieb auch nach 1800 maßgebend. Nach der zweiten Auflage von 1808, der die Anmerkungen und Übersetzungsproben Bredows beigegeben waren, wurde sie im Jahre 1823 ein drittes Mal aufgelegt. In den 1820er Jahren erschienen aber auch drei neue Thukydidesübersetzungen, neben den beiden vollständigen Übersetzungen von Christian Nathanael Osiander (1826–1829) und Hieronymus Müller (1828–1830) auch die unvollständig gebliebene Übersetzung Heinrich Wilhelm Friedrich Kleins (1828), die nur die beiden ersten Bücher umfasst. Um diese Übersetzungen angemessen zu würdigen, ist es zunächst erforderlich, die wichtigsten Entwicklungen in der übersetzungstheoretischen Diskussion nach 1800 kurz nachzuzeichnen.277 Von zentraler Bedeutung ist hier Schleiermachers Akademierede von 1813, die drei Jahre später unter dem Titel »Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens« veröffentlicht wurde.278 Auch wenn Schleiermacher diesen Aufsatz als Gelegenheitsarbeit verfasste und dessen Bedeutung selbst relativierte,279 sollte er doch zu einem der wirkmächtigsten und meistrezipierten Texte im Bereich der Übersetzungstheorie werden. Schleiermacher grenzt zunächst das eigentliche Übersetzen vom Dolmetschen ab: »Der Dolmetscher nämlich verwaltet sein Amt in dem Gebiete des Geschäftslebens, der eigentliche Uebersetzer vornämlich in dem Gebiete der Wissenschaft und Kunst«280. Während der sprachliche Transfer in der Alltagskommunikation des Geschäftslebens bloß einen Austausch von Zeichen darstelle, der sich ohne größere Probleme bewältigen lasse, erfordere er auf dem Gebiet der Wissenschaft und Kunst besondere Rücksichten281: _____________ 277 Eine umfassendere Darstellung dieser Entwicklungen bietet Kitzbichler (2009). 278 Schleiermacher (1813). Der Vortrag ist wieder abgedruckt in Kitzbichler/Lubitz/Mindt (2009b), 59–81. Im Folgenden können nur einige zentrale Punkte des Vortrags, die für den gegenwärtigen Zusammenhang besonders relevant sind, diskutiert werden. Eine ausführlichere Behandlung findet sich bei Kitzbichler (2009), 53–63. Zu Schleiermachers Übersetzungstheorie vgl. außerdem Sdun (1967), 55–58 und Apel (1982), 136–145. 279 Er bezeichnete ihn in einem Brief an seine Frau als »ziemlich triviales Zeug« (zit. nach Kitzbichler [2009], 53). Vgl. ebd. 53 f. für mögliche Erklärungen, warum Schleiermacher seine Arbeit derart bagatellisierte. 280 Schleiermacher (1813), 68. 281 Ebd., 70 f.

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Deutsche Thukydidesübersetzungen nach Schleiermacher und Humboldt Ganz anders auf jenem der Kunst und Wissenschaft zugehörigen Gebiet, und überall, wo mehr der Gedanke herrscht, der mit der Rede Eins ist, nicht die Sache als deren willkührliches vielleicht aber fest bestimmtes Zeichen das Wort nur dasteht. Denn wie unendlich schwer und verwickelt wird hier das Geschäft! welche genaue Kenntniß und welche Beherrschung beider Sprachen setzt es voraus! und wie oft, bei der gemeinschaftlichen Ueberzeugung, daß ein gleichgeltender Ausdruck gar nicht zu finden sey, gehen die Sachkundigsten und Sprachgelehrtesten bedeutend auseinander, wenn sie angeben wollen, welches denn nun der am nächsten kommende sey. Dies gilt eben so sehr von den lebendigen malerischen Ausdrücken dichterischer Werke, als von den abgezogensten, das innerste und allgemeinste der Dinge bezeichnenden der höchsten Wissenschaft.

Nachdem Schleiermacher das eigentliche Übersetzen durch die Unterscheidung von der Paraphrase und der Nachbildung weiter eingegrenzt hat,282 skizziert er die beiden aus seiner Sicht einzig möglichen Arten des Übersetzens283: Entweder der Uebersetzer läßt den Schriftsteller möglichst in Ruhe, und bewegt den Leser ihm entgegen; oder er läßt den Leser möglichst in Ruhe, und bewegt den Schriftsteller ihm entgegen.

Es handelt sich hierbei jedoch nicht um eine echte Alternative, denn für Schleiermacher kommt, wie sich im Laufe des Vortrags herausstellt, nur die erste dieser beiden Möglichkeiten in Betracht. Anders als in früheren übersetzungstheoretischen Entwürfen steht bei Schleiermacher der Verstehensprozess im Mittelpunkt. Der Übersetzer soll dem Leser ein bestimmtes Verständnis des Originals vermitteln. Dieses darf auf der einen Seite nicht »schülerhaft« sein, andererseits aber auch nicht dem Verständnis desjenigen entsprechen, der in der fremden Sprache vollkommen »zu Hause« ist;284 worauf Schleiermacher abzielt ist vielmehr ein Verständnis, dem »das Gefühl des Fremden beigemischt bleibt«285. Um dieses Gefühl auf den Leser der Übersetzung »fortzupflanzen«, soll sich die Übersetzung möglichst genau an den Ausgangstext anschließen.286 Schleiermacher zielt hier also auf ein sprachmimetisches Übersetzungsverfahren ab, das er dann im Folgenden genauer erläutert287: [E]in unerlaßliches Erforderniß dieser Methode des Uebersetzens ist eine Haltung der Sprache, die nicht nur nicht alltäglich ist, sondern die auch ahnden läßt, daß sie nicht ganz frei gewachsen, vielmehr zu einer fremden Aehnlichkeit hinübergebogen sey; und man muß gestehen, dieses mit Kunst und Maaß zu thun, ohne eigenen Nachtheil und ohne Nachtheil der Sprache, dies ist vielleicht die größte Schwierigkeit, die unser Uebersetzer zu überwinden hat. Das Unternehmen erscheint als der wunderbarste Stand der Erniedrigung, in den sich ein nicht schlechter Schriftsteller versetzen kann. Wer möchte nicht seine Muttersprache überall in der volksgemäßesten Schönheit auf-

_____________ 282 283 284 285 286 287

Vgl. ebd., 73 f. Ebd., 74. Vgl. ebd., 76–78. Vgl. ebd., 72. Vgl. ebd., 80 f. Ebd., 81.

Deutsche Thukydidesübersetzungen nach Schleiermacher und Humboldt

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treten lassen, deren jede Gattung nur fähig ist? Wer möchte nicht lieber Kinder erzeugen, die das väterliche Geschlecht rein darstellen, als Blendlinge? Wer wird sich gern auflegen, in minder leichten und anmuthigen Bewegungen sich zu zeigen, als er wohl könnte, und bisweilen wenigstens schroff und steif zu erscheinen, um dem Leser so anstößig zu werden als nöthig ist, damit er das Bewußtseyn der Sache nicht verliere? Wer wird sich gern gefallen lassen, daß er für unbeholfen gehalten werde, indem er sich befleißiget, der fremden Sprache so nahe zu bleiben, als die eigene es nur erlaubt, und daß man ihn, wie Eltern, die ihre Kinder den Kunstspringern übergeben, tadelt, daß er seine Muttersprache, anstatt sie in ihrer heimischen Turnkunst gewandt zu üben, an ausländische und unnatürliche Verrenkungen gewöhne!

Wie sich hier zeigt, nimmt Schleiermacher billigend in Kauf, dass die Übersetzung sprachlich und stilistisch gegen herrschende Normen verstößt, ja gerade dadurch wird die Darstellung des Fremden erst möglich. Hier wird der grundlegende Wandel der Übersetzungsprinzipien gegenüber der frühen Aufklärung deutlich. Nicht mehr die sprachliche »Reinheit«, sondern gerade die Darstellung des Fremden wird bei Schleiermacher zum Kriterium für eine gute Übersetzung. Schleiermacher fordert daher, wie die Metapher der »Blendlinge« deutlich werden lässt, einen hybriden Übersetzungsstil, der Elemente der Ausgangs- und Zielsprache verbindet. Drei Jahre nach Schleiermachers Akademierede erschien Wilhelm von Humboldts Übersetzung des Agamemnon von Aischylos.288 Humboldt zeigt hier eine extreme Sprachmimesis, insbesondere im Bereich der Metrik und der Wortstellung.289 Durch die genaue Nachbildung der sprachlichen Struktur des Ausgangstextes nimmt Humboldt bewusst in Kauf, dass der Text der Übersetzung nicht unmittelbar verständlich ist. Für die Geschichte der Thukydidesübersetzung ist die Übersetzung Humboldts insofern bedeutsam, als Thukydides und Aischylos in ihrer stilistischen Ausprägung deutliche Übereinstimmungen aufweisen. Ihre stilistische Verwandtschaft wurde auch schon in der Antike gesehen. So rechnet Dionys von Halikarnass beide zur selben Stilrichtung, die er als αὐστηρά (»rau, hart«) charakterisiert, und die er von dem »glatten« (γλαφυρά) und »wohlgemischten« (εὔκρατος) Stil unterscheidet.290 In der Einleitung zu seinem Agamemnon skizziert Humboldt seine Übersetzungskonzeption.291 Wie Schleiermacher geht er zunächst von der Unmöglichkeit des Übersetzens aus, die er vor allem damit begründet, dass von den Bezeichnungen für konkrete Gegenstände abgesehen »kein Wort einer Sprache vollkommen _____________ 288 Humboldt (1816). Die Einleitung zum Agamemnon ist wieder abgedruckt in: Kitzbichler/Lubitz/Mindt (2009b), 95–113. 289 Zu Humboldts Übersetzung vgl. Rüdiger (1936). 290 D.H. Comp. 21 f. Weitere Vertreter dieses Stils sind Empedokles und Antimachos von Kolophon für die epische, Pindar für die lyrische Dichtung und Antiphon in der Rhetorik. Vgl. Hornblower (2006), 357–372, der vor allem auf die Ähnlichkeit von Thukydides und Pindar abhebt. 291 Eine ausführlichere Darstellung der übersetzungstheoretischen Äußerungen Humboldts in der Einleitung zur Übersetzung des Agamemnon findet sich bei Kitzbichler (2009), 64–72. Vgl. außerdem Sdun (1967), 59–63 und Apel (1982), 145–147.

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einem in einer andren gleich ist«292. Das Übersetzen betrachtet er aber dennoch als eine notwendige Aufgabe, zum einen, um Sprachunkundigen die Schätze fremder Literaturen zu vermitteln, darüber hinaus aber auch, um die eigene Sprache zu erweitern.293 Um dies zu erreichen, soll sich der Übersetzer um »einfache Treue«294 bemühen. Dabei nimmt Humboldt in Kauf, »dass die Uebersetzung eine gewisse Farbe der Fremdheit an sich trägt«, doch zieht Humboldt eine klare Grenze: »Solange nicht die Fremdheit, sondern das Fremde gefühlt wird, hat die Uebersetzung ihre höchsten Zwekke erreicht; wo aber die Fremdheit an sich erscheint, und vielleicht gar das Fremde verdunkelt, da verräth der Uebersetzer, dass er seinem Original nicht gewachsen ist«295. Von diesen theoretischen Überlegungen geht Humboldt dann über zu einer Diskussion der speziellen Probleme, die das Übersetzen eines sprachlich so kunstvollen Textes wie des Agamemnon mit sich bringt. Die von ihm zugrundegelegten Übersetzungsprinzipien umreißt Humboldt folgendermaßen296: Vor Undeutschheit und Dunkelheit habe ich mich zu hüten gesucht, allein in dieser letzteren Rücksicht muss man keine ungerechte, und höhere Vorzüge verhindernde Forderungen machen. Eine Uebersetzung kann und soll kein Commentar seyn. Sie darf keine Dunkelheit enthalten, die aus schwankendem Wortgebrauch, schielender Fügung entsteht; aber wo das Original nur andeutet, statt klar auszusprechen, wo es sich Metaphern erlaubt, deren Beziehung schwer zu fassen ist, wo es Mittelideen auslässt, da würde der Uebersetzer Unrecht thun, aus sich selbst willkührlich eine den Charakter des Textes verstellende Klarheit hineinzubringen. Die Dunkelheit, die man in den Schriften der Alten manchmal findet, und die gerade der Agamemnon vorzüglich an sich trägt, entsteht aus der Kürze, und der Kühnheit, mit der, mit Verschmähung vermittelnder Bindesätze, Gedanken, Bilder, Gefühle, Erinnerungen und Ahndungen, wie sie aus dem tief bewegten Gemüthe entstehen, an einander gereiht werden. So wie man sich in die Stimmung des Dichters, seines Zeitalters, der von ihm aufgeführten Personen hineindenkt, verschwindet sie nach und nach, und eine hohe Klarheit tritt an die Stelle. Einen Theil dieser Aufmerksamkeit muss man auch der Uebersetzung schenken, nicht verlangen, dass das, was in der Ursprache erhaben, riesenhaft und ungewöhnlich ist, in der Uebertragung leicht und augenblicklich fasslich seyn solle.

Der Gegensatz von »Dunkelheit« und »Klarheit«, anhand dessen Humboldt hier die Besonderheit seiner Übersetzungsmethode erläutert, hatte auch in der Über_____________ 292 Humboldt (1816), XV. Näheres zu den sprachphilosophischen Grundlagen von Humboldts Übersetzungskonzeption bei Kitzbichler (2009), 68 f. 293 Vgl. Humboldt (1816), XVII. Zur Rechtfertigung des Übersetzens bei Humboldt vgl. Kitzbichler (2009), 70 mit den entsprechenden Nachweisen. 294 Humboldt (1816), XIX. Zur Problematik des Humboldtschen Treuebegriffs vgl. Kitzbichler (2009), 70: »Humboldts Begriff von übersetzerischer ›Treue‹ behält also in der Tat eine gewisse Widersprüchlichkeit. Er changiert zwischen der nicht völlig aufgegebenen Vorstellung von der Abbildlichkeit der Übersetzung einerseits und dem Bildungsgedanken, d. h. dem Ziel, die Ausdrucksfähigkeit der eigenen Sprache zu erweitern, auf der anderen Seite.« 295 Humboldt (1816), XIX. Vgl. Kitzbichler (2009), 71. 296 Humboldt (1816), XX f.

Christian Nathanael Osiander

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setzungstheorie der frühen Aufklärung eine wichtige Rolle gespielt. Dort galt »Klarheit« noch als absolutes Ideal, dem man durch mehr oder weniger starke Umformung des Ausgangstextes gerecht werden musste. Bezeichnenderweise hatte Johann David Heilmann es für nötig erachtet, den Umstand, dass seine Übersetzung teilweise von ähnlicher Dunkelheit wie der Ausgangstext sei, zu entschuldigen.297 Humboldt verlangt demgegenüber, dass man die Dunkelheit des Ausgangstextes bewahren solle, um nicht dessen eigentümlichen Charakter zu verfälschen. Dass diese Äußerungen für die Übersetzung des Thukydides von großer Relevanz sind, liegt auf der Hand. Denn die Phänomene sprachlicher Knappheit, wie sie Humboldt hier für den Agamemnon anführt, die »Verschmähung vermittelnder Bindesätze« und das Auslassen von »Mittelideen«, sind für den Stil des Thukydides ebenso charakteristisch.

5.1

Christian Nathanael Osiander: Thucydides, Geschichte des Peloponnesischen Kriegs (1826–1829)

Christian Nathanael Osiander (1781–1855), der aus dem württembergischen Kohlberg stammte und in Tübingen Theologie studiert hatte, wirkte nach Tätigkeiten als Schlossprediger, Vikar und Stiftsrepetent von 1808 bis 1842 als Professor der alten Literatur, Geschichte und Eloquenz am Oberen Gymnasium zu Stuttgart, dem heutigen Eberhard-Ludwigs-Gymnasium. Von 1842 bis 1851 war er dann Prälat in Ulm.298 Während seiner Zeit als Gymnasialprofessor entfaltete Osiander eine rege übersetzerische Tätigkeit. Seine Thukydidesübersetzung, die ab 1826 erschien, bildete den Anfang,299 in den folgenden Jahren kamen dann auch weitere Werke sowohl der griechischen als auch der römischen Literatur hinzu, darunter Xenophons Hellenika300, Herodian301, die Argonautika des Apollonios Rhodios302, Reden Ciceros303 sowie Vergils Bucolica304 und Georgica305. Die Übersetzungen Osianders sind Teil eines größeren Übersetzungsprojekts, der seit 1826 im Stuttgarter Metzler-Verlag erscheinenden Reihe der »Griechischen und römischen Dichter und Prosaiker in neuen Uebersetzungen«.306 Herausgeber dieser Reihe waren neben Osiander der Tübinger Ordinarius für alte _____________ 297 298 299 300 301 302 303 304 305 306

Vgl. oben Kap. 3.2. Zur Biographie von Osiander vgl. Liliencron (1887). Osiander (1826–1829). Osiander (1831). Osiander (1830). Osiander (1837). Osiander (1832–1839). Osiander (1834). Osiander (1835). Zu dieser Reihe vgl. Wittmann (1982), 395–398 und Lubitz (2009), 117–120.

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Deutsche Thukydidesübersetzungen nach Schleiermacher und Humboldt

Literatur Gottlieb Lukas Friedrich Tafel307 sowie der schwäbische Gymnasialprofessor und Pfarrer Gustav Benjamin Schwab308. Voraussetzung für das Florieren solcher Übersetzungsreihen im 19. Jahrhundert war die Entwicklung eines breiteren Lesepublikums.309 Auf diese Weise entstand ein potentiell lukrativer Markt für Übersetzungen, von dem zahlreiche Verlage zu profitieren versuchten. Bei dem Zielpublikum dieser Übersetzungsreihen handelte es sich nicht mehr primär um Philologen und Literaten, sondern generell um Angehörige der bürgerlichen Mittelschicht mit sehr unterschiedlichen Voraussetzungen, was ihre Bildung und insbesondere ihre Kenntnis der Alten Sprachen anbelangt. Den Anforderungen bzw. Wünschen dieses Publikums versuchten die Reihen auf unterschiedliche Weise Rechnung zu tragen. Dass die übersetzungstheoretischen Grundsätze Schleiermachers und Humboldts mit ihren Forderungen nach der Bewahrung des Fremden in diesem Kontext nur sehr bedingt Berücksichtigung finden konnten, ist kaum überraschend. Zwar bekannten sich die Übersetzer in der Reihe der »Griechischen und römischen Dichter und Prosaiker in neuen Uebersetzungen« durchaus zur übersetzerischen Treue, die sich vor allem in der mimetischen Nachbildung der griechischen Metrik manifestierte, doch bemühte man sich auf der anderen Seite auch um Verständlichkeit und um einen »rein teutschen Ausdruck«.310 Man kann also von einem übersetzerischen »Mittelweg« sprechen.311 In der Einleitung zu seiner Thukydidesübersetzung geht Osiander zwar nicht auf seine Übersetzungsmethode ein, doch finden sich hier einige kurze Bemerkungen zum Leben des Thukydides sowie zu dessen Werk. Den Stil des Thukydides charakterisiert Osiander folgendermaßen312: Mit sinniger Kürze verbindet Thucydides Gründlichkeit und Fülle der Gedanken, mit lebendiger Darstellung einzelner Ereignisse die Entwicklung ihrer nähern und entferntern Ursachen und Folgen für das Wohl der Staaten. Unbekümmert um eitlen Schmuck der Rede, geht dieser Geschichtschreiber seinen einfach-ernsten Gang, treu

_____________ 307 Tafel (1787–1860) hatte nach einem Studium der Theologie in Tübingen zunächst eine Tätigkeit als Hauslehrer und dann als Pfarrvikar ausgeübt, bevor er 1815 Repetent am Tübinger Stift wurde. Ab 1818 lehrte er dann als außerordentlicher, von 1827 bis 1846 als ordentlicher Professor für alte Literatur an der Universität Tübingen. 308 Schwab (1792–1850) hatte in Tübingen Theologie studiert. Nach einer Tätigkeit als Repetent am Tübinger Stift wurde er 1817 zum Professor für Alte Sprachen am Oberen Gymnasium zu Stuttgart ernannt. Anschließend war er ab 1837 als Dorfpfarrer in dem bei Tübingen gelegenen Gomaringen tätig, bevor er 1841 nach Stuttgart zurückkehrte, wo er dann verschiedene Ämter im Kirchendienst innehatte. Einem breiteren Leserkreis ist er vor allem aufgrund seiner Darstellung antiker Mythen (Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums [1838–1840]) bekannt geworden. 309 Zur antiken Literatur in Übersetzungsreihen des 19. Jahrhunderts vgl. Lubitz (2009), 117–129. Zur Expansion des Lesepublikums während des 19. Jahrhunderts als Ursache für die Zunahme von Übersetzungen vgl. Häntzschel (1983), 57–59. 310 Vgl. Kitzbichler (2009), 90 f. mit den entsprechenden Nachweisen. 311 Dazu vgl. ebd., 88–94. 312 Osiander (1826), 7 f.

Christian Nathanael Osiander

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dem Grundsatze, den er selbst ausgesprochen, nicht ein Prunkstück für den Augenblick, sondern ein Werk von dauerndem Werthe zu liefern.

Anders als die Urteile Reiskes und Heilmanns im 18. Jahrhundert ist Osianders Bewertung des Thukydideischen Stils uneingeschränkt positiv.313 Allerdings erscheint seine Beschreibung dieses Stils insofern problematisch, als sie wesentliche Aspekte völlig unberücksichtigt lässt. Die Tendenz zur Variation etwa, die Satzkonvolute, überhaupt die vielfältigen Mittel der sprachlichen Komplizierung werden von Osiander hier vollkommen ignoriert.

Übersetzungsanalyse314 Der Anfang des Geschichtswerks (1, 1) Θουκυδίδης Ἀθηναῖος ξυνέγραψε τὸν πόλεµον τῶν Πελοποννησίων καὶ Ἀθηναίων, ὡς ἐπολέµησαν πρὸς ἀλλήλους, ἀρξάµενος εὐθὺς καθισταµένου καὶ ἐλπίσας µέγαν τε ἔσεσθαι καὶ ἀξιολογώτατον τῶν προγεγενηµένων, τεκµαιρόµενος ὅτι ἀκµάζοντές τε ἦσαν ἐς αὐτὸν ἀµφότεροι παρασκευῇ τῇ πάσῃ καὶ τὸ ἄλλο Ἑλληνικὸν ὁρῶν ξυνιστάµενον πρὸς ἑκατέρους, τὸ µὲν εὐθύς, τὸ δὲ καὶ διανοούµενον. κίνησις γὰρ αὕτη µεγίστη δὴ τοῖς Ἕλλησιν ἐγένετο καὶ µέρει τινὶ τῶν βαρβάρων, ὡς δὲ εἰπεῖν, καὶ ἐπὶ πλεῖστον ἀνθρώπων. τὰ γὰρ πρὸ αὐτῶν καὶ τὰ ἔτι παλαιότερα σαφῶς µὲν εὑρεῖν διὰ χρόνου πλῆθος ἀδύνατα ἦν·

Thucydides von Athen hat den Krieg der Peloponnesier und Athener, wie sie gegen einander kämpften, beschrieben. Er begann sein Werk sogleich mit dem Ausbruche des Kampfes, in der Erwartung, er werde groß und denkwürdiger als alle frühern werden. Dieses schloß er aus der Blüthe der Macht, welche beide Theile in jeglicher Art der Kriegsmittel erreicht hatten; auch sah er, daß die übrige Hellenenwelt an eine von beiden Parteien theils sogleich sich anschloß, theils diesen Gedanken hegte. In der That war dieß die größte Erschütterung, welche die Hellenen und einen Theil der Barbaren, und, ich möchte sagen, sogar einen sehr großen Theil der Menschheit je betroffen hat. Zwar die früheren Ereignisse, und was noch weiter rückwärts liegt, genau zu erforschen, war wegen der Länge des Zeitraums unmöglich:

_____________ 313 Zur Bewertung des Thukydideischen Stils bei Heilmann und Reiske vgl. oben Kap. 3.2 und 3.3. 314 Der Übersetzung Osianders liegen die Ausgaben von Poppo (1821–1840) und Göller (1826) zugrunde. Abgedruckt wird der griechische Text von Göller. Osianders Übersetzung der Passage aus dem Melierdialog (5, 89) wird hier nicht behandelt, s. oben S. 9, Anm. 30.

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Deutsche Thukydidesübersetzungen nach Schleiermacher und Humboldt

ἐκ δὲ τεκµηρίων ὧν ἐπὶ µακρότατον σκοποῦντί µοι πιστεῦσαι ξυµβαίνει οὐ µεγάλα νοµίζω γενέσθαι οὔτε κατὰ τοὺς πολέµους οὔτε ἐς τὰ ἄλλα.

doch nach Beweisgründen, welche bei einer in die fernste Vorzeit sich erstreckenden Untersuchung sich mir als glaubwürdig ergeben, bin ich überzeugt, daß jene Begebenheiten weder in Betreff der Kriege, noch sonst bedeutend gewesen.315

Im Vergleich zu Heilmann und Jacobi ist Osiander offenkundig um eine größere Nähe zum Ausgangstext bemüht. Während jene beispielsweise den vergleichenden Adverbialsatz ὡς ἐπολέµησαν πρὸς ἀλλήλους noch assimilierend als Relativsatz wiedergegeben hatten, bewahrt Osiander mit seiner Übersetzung »wie sie gegen einander kämpften« die grammatikalische Struktur des griechischen Satzes. Doch übersetzt er nicht durchweg sprachmimetisch. Um seine Stellung innerhalb der übersetzungsgeschichtlichen Entwicklung zu bestimmen, soll ein Blick zurück auf die Übersetzungsproben Bredows geworfen werden, der sich an den Übersetzungsprinzipien von Johann Heinrich Voß orientierte. Bredow hatte in der Übersetzung des ersten Satzes die beiden Wörter ἀρξάµενος und ἐλπίσας im Deutschen analog als Partizipien wiedergegeben.316 Osiander hingegen verfährt hier ganz anders. Um das Partizip ἀρξάµενος wiederzugeben, lässt er einen neuen Satz beginnen, das Partizip ἐλπίσας wiederum gibt er mit einer Präpositionalphrase wieder (»in der Erwartung«). Osiander bemüht sich also offenkundig nicht darum, die sprachliche Struktur des Ausgangstextes möglichst genau nachzubilden. Dies bestätigt sich auch im Folgenden, wo er das Partizip τεκµαιρόµενος wiederum als Prädikat eines neu einsetzenden Hauptsatzes wiedergibt (»Dieses schloß er«). Er spaltet den langen griechischen Satz mit seinen zahlreichen Partizipialkonstruktionen also in mehrere selbständige Sätze auf. Schließlich ist noch darauf hinzuweisen, dass Osiander, wie vor ihm bereits Heilmann,317 die Partikel γάρ mit »[i]n der That« wiedergibt. Dies stimmt mit der zu Anfang dieser Arbeit vorgeschlagenen Interpretation überein, nach der es sich hierbei um ein affirmatives γάρ handelt.318 Epitaphios (2, 37, 1) χρώµεθα γὰρ πολιτείᾳ οὐ ζηλούσῃ τοὺς τῶν πέλας νόµους, παράδειγµα δὲ µᾶλλον αὐτοὶ ὄντες τινὶ ἢ µιµούµενοι ἑτέρους.

_____________ 315 316 317 318

Osiander (1826), 10. Vgl. oben Kap. 4.2. Vgl. oben Kap. 3.2. Vgl. oben Kap. 2.1.

Wir leben nämlich unter einer Verfassung, die nicht eine Nachbildung auswärtiger Gesetze ist: vielmehr sind wir selbst Manchen ein Muster, als daß wir Andern nachahmen sollten.

Christian Nathanael Osiander καὶ ὄνοµα µὲν διὰ τὸ µὴ ἐς ὀλίγους ἀλλ᾿ ἐς πλείονας οἰκεῖν δηµοκρατία κέκληται· µέτεστι δὲ κατὰ µὲν τοὺς νόµους πρὸς τὰ ἴδια διάφορα πᾶσι τὸ ἴσον, κατὰ δὲ τὴν ἀξίωσιν, ὡς ἕκαστος ἔν τῳ εὐδοκιµεῖ, οὐκ ἀπὸ µέρους τὸ πλεῖον ἐς τὰ κοινὰ ἢ ἀπὸ ἀρετῆς προτιµᾶται,

οὐδ᾿ αὖ κατὰ πενίαν, ἔχων δέ τι ἀγαθὸν δρᾶσαι τὴν πόλιν, ἀξιώµατος ἀφανείᾳ κεκώλυται.

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Unsere Verfassung trägt den Namen »Volksregierung« [Demokratie], weil sie nicht zum Vortheile von Wenigen, sondern der Mehrzahl eingerichtet ist. Denn bei besondern Rechtshändeln genießen Alle gesetzmäßig das gleiche Recht: was aber die öffentlichen Würden betrifft, so wird Jeder nach dem guten Rufe, den er in einem Fache behauptet, und nicht sowohl als Mitglied einer gesonderten Classe, sondern nach seiner Tüchtigkeit bei Staatsgeschäften hervorgezogen: auch ist Niemand wegen der Armuth durch Unscheinbarkeit des Ranges gehindert, dem Staate, wenn er es vermag, Nutzliches zu leisten.319

An Osianders Übersetzung des ersten Satzes dieser Passage lässt sich wiederum die größere Genauigkeit gegenüber seinen Vorgängern Heilmann und Jacobi erkennen (Bredow hatte diesen Satz nicht übersetzt). Während jene die sprachliche Struktur des griechischen Satzes stark verändert hatten, bleibt sie bei Osiander weitgehend erhalten. Auch sprachliche Details werden teilweise berücksichtigt, so etwa die für den Stil des Thukydides typische Variation von τῶν πέλας ... τινὶ ... ἑτέρους (»Wir leben nämlich unter einer Verfassung, die nicht eine Nachbildung auswärtiger Gesetze ist: vielmehr sind wir selbst Manchen ein Muster, als daß wir Andern nachahmen sollten«). Im folgenden Satz unterscheidet sich Osianders Übersetzung ebenfalls deutlich von derjenigen Heilmanns und Jacobis, denn er gibt die Präpositionalphrase διὰ τὸ µὴ ἐς ὀλίγους ἀλλ᾿ ἐς πλείονας οἰκεῖν mit »weil sie nicht zum Vortheile von Wenigen, sondern der Mehrzahl eingerichtet ist« wieder. Diese Übersetzung lässt zwar das Bemühen um sprachliche Nähe zum Ausgangstext erkennen, inhaltlich erscheint sie jedoch problematisch, denn mit διὰ τὸ µὴ ἐς ὀλίγους ἀλλ᾿ ἐς πλείονας οἰκεῖν wird ja eine Begründung dafür gegeben, warum die athenische Staatsverfassung eine Demokratie genannt wird. Die Aussage, dass die Verfassung zum Vorteil der Mehrzahl eingerichtet ist, liefert jedoch keine solche Begründung. Man erwartet vielmehr eine Aussage des Inhalts, dass die Macht vom Volk ausgeht.320 Wie schon im ersten Übersetzungsbeispiel erstrebt Osiander auch hier nicht in allen Punkten eine exakte Nachbildung des griechischen Textes. So verändert er beispielsweise in dem mit οὐδ᾿ αὖ κατὰ πενίαν beginnenden Satzabschnitt die Satzstruktur, indem er seine Übersetzung der beiden Ausdrücke κατὰ πενίαν und ἀξιώµατος ἀφανείᾳ, »wegen der Armuth« und »durch Unscheinbarkeit des Ranges« unmittelbar aufeinander folgen lässt. Diese Veränderung lässt sich aus dem _____________ 319 Osiander (1827), 174. 320 Für eine ausführlichere Diskussion dieser problematischen Stelle vgl. oben Kap. 2.2.

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Deutsche Thukydidesübersetzungen nach Schleiermacher und Humboldt

Bemühen Osianders um größere Deutlichkeit gegenüber dem Ausgangstext erklären. Pathologie des Krieges (3, 82, 4 f.) καὶ τὴν εἰωθυῖαν ἀξίωσιν τῶν ὀνοµάτων ἐς τὰ ἔργα ἀντήλλαξαν τῇ δικαιώσει. τόλµα µὲν γὰρ ἀλόγιστος ἀνδρεία φιλέταιρος ἐνοµίσθη, µέλλησις δὲ προµηθὴς δειλία εὐπρεπής, τὸ δὲ σῶφρον τοῦ ἀνάνδρου πρόσχηµα, καὶ τὸ πρὸς ἅπαν ξυνετὸν ἐπὶ πᾶν ἀργόν. τὸ δ᾿ ἐµπλήκτως ὀξὺ ἀνδρὸς µοίρᾳ προσετέθη, ἀσφάλεια δὲ τὸ ἐπιβουλεύσασθαι, ἀποτροπῆς πρόφασις εὔλογος. καὶ ὁ µὲν χαλεπαίνων πιστὸς ἀεί, ὁ δ᾿ ἀντιλέγων αὐτῷ ὕποπτος. ἐπιβουλεύσας δέ τις τυχὼν ξυνετὸς καὶ ὑπονοήσας ἔτι δεινότερος· προβουλεύσας δὲ ὅπως µηδὲν αὐτῶν δεήσει, τῆς τε ἑταιρίας διαλυτὴς καὶ τοὺς ἐναντίους ἐκπεπληγµένος. ἁπλῶς δὲ ὁ φθάσας τὸν µέλλοντα κακόν τι δρᾶν ἐπῃνεῖτο, καὶ ὁ ἐπικελεύσας τὸν µὴ διανοούµενον.

Ja auch die gewöhnliche Bedeutung der Worte änderte man in Betreff der Unternehmungen nach Willkühr. Unbesonnene Verwegenheit galt als treugesinnte Tapferkeit, vorsichtige Zögerung als anständig verhüllte Feigheit, Mäßigung als ein Vorwand, die Zaghaftigkeit zu beschönigen; handelte man in allen Dingen besonnen, so hieß es, man sey in Allem zu schwerfällig; tollkühne Leidenschaftlichkeit wurde zu den männlichen Eigenschaften gezählt; Nachstellung galt als Sicherungsmittel, wobei man den ehrsamen Vorwand hatte, Unglück von sich abzuwenden. Wer den Zürnenden spielte, galt für zuverlässig; wer ihm widersprach, für verdächtig. Wer Andern nachstellte, und seine Absicht erreichte, hieß klug; wer aber solche Ränke im Voraus durchschaute, galt noch mehr für einen tüchtigen Mann. Wer es von Anfang darauf anlegte, solcher Dinge nicht zu bedürfen, hieß ein Störer des Freundschaftsbundes, der vor den Gegnern zittere. Ueberhaupt fand man Beifall, wenn man dem, welcher einen schlimmen Streich spielen wollte, zuvorkam, und den, der selbst nicht daran dachte, dazu aufmunterte.321

Auch hier lässt sich beobachten, dass Osiander sich grundsätzlich an der sprachlichen Struktur des Ausgangstextes orientiert und diese an einigen Stellen sogar sehr genau darstellt, so etwa in seiner geradezu stilmimetischen Wiedergabe von καὶ τὸ πρὸς ἅπαν ξυνετὸν ἐπὶ πᾶν ἀργόν mit »handelte man in allen Dingen besonnen, so hieß es, man sey in Allem zu schwerfällig«. Mit dieser Übersetzung _____________ 321 Osiander (1827), 323 f.

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gelingt es ihm, den Wechsel von ἅπαν und πᾶν, der sich im Deutschen nicht direkt nachbilden lässt, durch eine andere Art der Variation anzudeuten. Doch lassen sich andererseits in der Wiedergabe einzelner Ausdrücke kleinere Abweichungen vom Griechischen festmachen. So gibt er etwa φιλέταιρος mit »treugesinnt« wieder, wodurch der Bezug auf die Hetairie unberücksichtigt bleibt. Die Übersetzung »Freundschaftsbund« für das griechische ἑταιρία wiederum gibt den Sachverhalt nur unzureichend wieder und ist für einen Leser, der den kulturellen Hintergrund nicht kennt, eher irreführend. In der Übersetzung Osianders lässt sich gut nachvollziehen, wie das Bemühen um sprachliche Treue auf der einen und zielsprachliche Adäquatheit auf der anderen Seite miteinander konkurrieren. Im Vergleich zur Übersetzung Heilmanns aus dem Jahre 1760 bleibt Osiander sprachlich viel näher am Ausgangstext, doch bemüht er sich – anders als etwa Bredow – nicht durchweg um eine sprachmimetische Nachbildung des griechischen Textes. Die stilistische Komplexität und »Dunkelheit« des Thukydideischen Geschichtswerks wird von Osiander vielfach zugunsten eines gut lesbaren deutschen Textes geglättet.

5.2

Heinrich Wilhelm Friedrich Klein: Thukydides, Geschichte des Peloponnesischen Krieges (1828)

Heinrich Wilhelm Friedrich Klein (1785–1866) hatte von 1807 bis 1810 in Jena Theologie, Philologie und Pädagogik studiert und war nach einer Tätigkeit als Privatdozent von 1813 bis 1829 Professor der griechischen und lateinischen Sprache am Gymnasium zu Hildburghausen, bevor er als Schlossprediger nach Eisenberg berufen wurde.322 Klein beschäftigte sich, wie er es selbst in der Vorrede zu seiner Thukydidesübersetzung darstellt, zunächst aus persönlichem Interesse mit der Übersetzung der beiden Geschichtsschreiber Thukydides und Tacitus.323 Ursprünglich hatte er nicht geplant, seine Übersetzungen zu publizieren, doch veröffentlichte er auf Bitten von Eucharius Ferdinand Christian Oertel324 seine Übertragungen des Agricola325 und der Germania326 in dessen neu gegründeter »Sammlung der Griechischen und Römischen Klassiker«, die in München bei E. A. Fleischmann erschien. Anschließend veröffentlichte Klein dann in diesem Rahmen auch seine Übersetzung des Peloponnesischen Kriegs, die ursprünglich auf drei Bände angelegt war, von denen aber nur der erste Band mit den ersten beiden Büchern erschienen ist.327 _____________ 322 323 324 325 326 327

Die biographischen Angaben nach Human (1886), 488 und Rittweger (1913), 111 f. Vgl. Klein (1828), V. Oertel (1765–1850) war Gymnasiallehrer in Ansbach. Klein (1825). Klein (1826). Klein (1828).

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Deutsche Thukydidesübersetzungen nach Schleiermacher und Humboldt

Die Übersetzungsprinzipien, die den in der »Sammlung der Griechischen und Römischen Klassiker« erscheinenden Übersetzungen zugrunde liegen sollten, hatte Oertel In einer 1821 veröffentlichten Ankündigung seiner Reihe formuliert. Das erste Prinzip betrifft die zielsprachliche Qualität: »Die Uebersetzung soll von allem Fremdartigen und Gemeinen durchaus frey seyn, ohne jedoch in das Gezierte zu fallen«328. Das Bemühen um sprachliche Reinheit, das sich in dieser Forderung ausdrückt, erinnert zunächst an die Äußerungen Gottscheds aus dem 18. Jahrhundert. Doch zielt Oertel, wie dann aus seinen weiteren Äußerungen deutlich wird, nicht auf ein assimilierendes Übersetzen ab. Die von ihm geforderte Vermeidung von »Fremdartigem« bezieht sich denn auch vor allem auf Lehnwörter329 und ist nicht etwa als Polemik gegen Schleiermacher zu verstehen, der ja gerade das Fremde in der Übersetzung bewahren wollte. Dass Oertel geradezu ein sprach- bzw. stilmimetisches Verfahren propagiert, geht aus dem zweiten Übersetzungsprinzip hervor: »Der Schriftsteller selbst soll da, wo er z. B. dunkel und gedrängt und hingegen wieder deutlich und weitläufig ist, eben so im Teutschen wiedergegeben werden«330. Mit dieser Forderung nach stilistischer Ähnlichkeit bewegt sich Oertel auf derselben Linie wie Humboldt, demzufolge man »nicht verlangen« dürfe, »dass das, was in der Ursprache erhaben, riesenhaft und ungewöhnlich ist, in der Uebertragung leicht und augenblicklich fasslich seyn solle«331. Das dritte Prinzip Oertels weist in dieselbe Richtung und betrifft die Eigennamen, die »möglichst unverfälscht und unverkürzt bleiben« sollen.332 Oertel selbst hat 1822/1823 eine Ilias-Übersetzung in Prosa vorgelegt.333 In der Vorrede zu dieser Übersetzung erläutert er in knappen Zügen die wesentlichen Prinzipien seines Übersetzungsverfahrens, wobei gegenüber den zuvor in der Ankündigung zur »Sammlung der Griechischen und Römischen Klassiker« aufgeführten Prinzipien das Fehlen jeglichen Hinweises auf sprachliche Reinheit auffällt. Oertel bekennt sich hier vielmehr in aller Deutlichkeit zu einem sprachmimetischen Übersetzungsverfahren: »Ich habe [...] 1) die Sätze und überhaupt die Wort- und Gedankenfolge Homers fast mit wörtlicher Treue nachgebildet«334. Die weiteren Punkte betreffen u. a. die unveränderte Wiedergabe der Eigennamen _____________ 328 Oertel (1821), 3. 329 Als Beispiele führt Oertel, ebd., folgende Begriffe an: »Advokat, Armee, Avantgarde, Chef, Exempel, Exil, Fourage, General, Genie, Kommando, Marsch, Republik, Strapaze, Statue u. s. w.«. 330 Ebd. 331 Humboldt (1816), XXI. 332 Oertel (1821), 3. Das vierte Prinzip Oertels betrifft die Anmerkungen, die »nur die allernöthigsten Dinge – und das Eine und das Andere, was noth thut – kurz erläutern« sollen, das fünfte Prinzip weitere Paratexte: »Auch sollen kurze Schriftstellernachrichten, Inhaltsanzeigen, Kolumnentitel, Namen- und Sachregister zur Bequemlichkeit der Leser beygefügt werden« (ebd.). 333 Oertel (1822/1823). 334 Oertel (1822), V f.

Heinrich Wilhelm Friedrich Klein

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und der Epitheta sowie die Verwendung von Neologismen zur genauen Wiedergabe griechischer Ausdrücke. Die knappen Aussagen zu seiner eigenen Übersetzungsmethode, die Klein in der Vorrede zu seiner Thukydidesübersetzung macht, weisen in eine ähnliche Richtung335: Weit entfernt zu glauben, daß ich eine Uebersetzung geliefert hätte, welche wie ein ursprünglich deutsches Werk der Art, wie das Griechische des Thukydides zu lesen wäre, bitte ich vielmehr die Herren Beurtheiler derselben, gefälligst zu berücksichtigen, daß es mir dabey um nichts weiter, als um die möglichste, wörtliche Treue zu thun war, und daß ich diesen so gedankenreichen, und im Ausdruck so gedrängten Geschichtschreiber der Hellenen weder für Philologen, noch für solche in die Muttersprache übertrug, welche denselben ohne Anstrengung, blos zum Zeitvertreib zu lesen wünschen. Ich arbeitete für Jünglinge, welche den eben so erhabenen, als zum Verstehen schweren Historiker entweder ganz allein, ohne Hülfe eines Lehrers, studiren, oder sich doch wenigstens zur Lectüre desselben unter der Leitung eines gelehrten Erklärers zweckmäßig vorbereiten wollen.

Klein bekennt sich hier zu einem dezidiert ausgangstextorientierten Verfahren. Wie Oertel ist er um »wörtliche Treue« bemüht. Eine Anpassung der Übersetzung an die Bedürfnisse des Lesers wird dabei ausdrücklich abgelehnt. Damit richtet sich Klein offenbar gegen Vertreter eines assimilierenden Übersetzungsverfahrens, aber wohl auch gegen Vertreter eines übersetzerischen »Mittelwegs«. Dass seine Übersetzung keinerlei Anspruch auf zielsprachliche Qualität erhebt, macht Klein dabei unmissverständlich deutlich, indem er bekennt, dass seine Übersetzung sich nicht »wie ein ursprünglich deutsches Werk« lesen lasse.

Übersetzungsanalyse336 Der Anfang des Geschichtswerks (1, 1) Θουκυδίδης Ἀθηναῖος ξυνέγραψε τὸν πόλεµον τῶν Πελοποννησίων καὶ Ἀθηναίων, ὡς ἐπολέµησαν πρὸς ἀλλήλους, ἀρξάµενος εὐθὺς καθισταµένου καὶ ἐλπίσας µέγαν τε ἔσεσθαι καὶ ἀξιολογώτατον τῶν προγεγενηµένων, τεκµαιρόµενος ὅτι ἀκµάζοντές τε ἦσαν ἐς αὐτὸν ἀµφότεροι παρασκευῇ τῇ πάσῃ

Thukydides der Athenäer hat den Krieg der Peloponnesier und Athenäer beschrieben, wie sie gegen einander gekriegt haben; indem er (damit) gleich beym Entstehen begann und vermuthete, derselbe werde groß werden, und der merkwürdigste unter den vorangegangenen. Dieß schloß er, weil beyde Theile in jeglicher Zurüstung zu demselben die höchste Blüthe erreicht hatten,

_____________ 335 Klein (1828), VII f. 336 Wie aus der Vorrede (ebd., IX f.) hervorgeht, hat Klein bei der Anfertigung seiner Übersetzung mehrere Textausgaben verwendet, ist jedoch am meisten derjenigen von Göller (1826) gefolgt, die hier als Ausgangstext abgedruckt ist.

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Deutsche Thukydidesübersetzungen nach Schleiermacher und Humboldt

καὶ τὸ ἄλλο Ἑλληνικὸν ὁρῶν ξυνιστάµενον πρὸς ἑκατέρους, τὸ µὲν εὐθύς, τὸ δὲ καὶ διανοούµενον. κίνησις γὰρ αὕτη µεγίστη δὴ τοῖς Ἕλλησιν ἐγένετο καὶ µέρει τινὶ τῶν βαρβάρων, ὡς δὲ εἰπεῖν, καὶ ἐπὶ πλεῖστον ἀνθρώπων. τὰ γὰρ πρὸ αὐτῶν καὶ τὰ ἔτι παλαιότερα σαφῶς µὲν εὑρεῖν διὰ χρόνου πλῆθος ἀδύνατα ἦν· ἐκ δὲ τεκµηρίων ὧν ἐπὶ µακρότατον σκοποῦντί µοι πιστεῦσαι ξυµβαίνει οὐ µεγάλα νοµίζω γενέσθαι οὔτε κατὰ τοὺς πολέµους οὔτε ἐς τὰ ἄλλα.

und er sah, daß die übrige Hellenwelt theils gleich mit einer von beyden Partheien zusammenstand, theils diesen Gedanken hegte. Denn dieses war die größte Erschütterung für die Hellenen und einen Theil der Nichtgriechen, ja, man kann sagen, auch für den größten Theil der Menschen. Die Ereignisse vor diesem, und die noch frühern genau aufzufinden, war zwar wegen Länge der Zeit unmöglich; aus Beweisen aber, die sich mir beym Forschen in das Fernste hin als glaubwürdig ergeben, schätze ich, daß nichts Großes geschehen sey, weder in Kriegen, noch sonst überhaupt.337

Dass Klein das von ihm formulierte Übersetzungskonzept auch tatsächlich umgesetzt hat, wird sofort deutlich, wenn man seine Übertragung des Anfangs des Thukydideischen Geschichtswerks betrachtet. So gibt er den vergleichenden Adverbialsatz ὡς ἐπολέµησαν πρὸς ἀλλήλους wörtlich mit »wie sie gegen einander gekriegt haben« wieder. Auch die Rekurrenz von τὸν πόλεµον und ἐπολέµησαν wird dabei genau nachgebildet. Während diese Art der Wiederholung, insbesondere als sogenannte Figura etymologica, im Griechischen nicht unüblich ist, wirkt sie im Deutschen sehr ungewöhnlich. Hinzu kommt, dass das Verb »kriegen« in der Bedeutung von »Krieg führen« schon zu jener Zeit veraltet war.338 Klein ist denn auch der erste Übersetzer, der hier eine streng sprachmimetische Übersetzung wagt. Auch im weiteren Verlauf dieses Abschnitts orientiert sich Klein sehr genau am griechischen Text. Dabei zeigt sich mehrfach das von ihm selbst bekundete Bemühen »um die möglichste, wörtliche Treue«, so etwa in der Übersetzung von παρασκευή mit »Zurüstung« oder von ξυνίστασθαι mit »zusammenstehen«. Allerdings verfährt Klein, was andere sprachliche Aspekte anbelangt, nicht konsequent sprachmimetisch. So gibt er z. B. – anders als Bredow, dessen sprachmimetische Übersetzung hier als Vergleichsgröße dienen kann – die Partizipialformen ἀρξάµενος und ἐλπίσας nicht analog wieder. Außerdem bildet er die für den Thukydideischen Stil typische Variation von Dativ und präpositionalem Ausdruck in κίνησις γὰρ αὕτη µεγίστη δὴ τοῖς Ἕλλησιν ἐγένετο, καὶ µέρει τινὶ τῶν βαρβάρων, ὡς δὲ εἰπεῖν, καὶ ἐπὶ πλεῖστον ἀνθρώπων nicht nach (»Denn dieses war die größte _____________ 337 Klein (1828), 7. 338 Das Verb »kriegen« wird seit dem 18. Jahrhundert nur noch selten in der Bedeutung von »Krieg führen« verwendet und ist dem höheren Stil zuzurechnen, vgl. DWB, Bd. 11, Sp. 2231, s. v. »kriegen« II. 5e.

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Erschütterung für die Hellenen und einen Theil der Nichtgriechen, ja, man kann sagen, auch für den größten Theil der Menschen«). Epitaphios (2, 37, 1) χρώµεθα γὰρ πολιτείᾳ οὐ ζηλούσῃ τοὺς τῶν πέλας νόµους, παράδειγµα δὲ µᾶλλον αὐτοὶ ὄντες τινὶ ἢ µιµούµενοι ἑτέρους. καὶ ὄνοµα µὲν διὰ τὸ µὴ ἐς ὀλίγους ἀλλ᾿ ἐς πλείονας οἰκεῖν δηµοκρατία κέκληται· µέτεστι δὲ κατὰ µὲν τοὺς νόµους πρὸς τὰ ἴδια διάφορα πᾶσι τὸ ἴσον, κατὰ δὲ τὴν ἀξίωσιν, ὡς ἕκαστος ἔν τῳ εὐδοκιµεῖ, οὐκ ἀπὸ µέρους τὸ πλεῖον ἐς τὰ κοινὰ ἢ ἀπὸ ἀρετῆς προτιµᾶται, οὐδ᾿ αὖ κατὰ πενίαν, ἔχων δέ τι ἀγαθὸν δρᾶσαι τὴν πόλιν, ἀξιώµατος ἀφανείᾳ κεκώλυται.

Denn wir genießen eine den Gesetzen der Nachbaren nicht nacheifernde Verfassung; Vorbild dagegen sind wir selbst eher Manchem, als Nachahmer Anderer. Und dem Namen nach, weil sie nicht bey Wenigen; sondern bey Mehreren wohnt, wird sie Volksherrschaft genannt. Antheil haben nach den Gesetzen bey besondern Streitigkeiten alle gleichmäßig am Recht, hinsichtlich der Würdigung wird Jeder, wie er in etwas berühmt ist, nicht nach einer Classe mehr bey Staatgeschäften, als nach der Tüchtigkeit vorgezogen, und eben so wenig wird er wegen Armuth, wenn er vermag, dem Staate etwas Gutes zu erweisen, durch des Ranges Unscheinbarkeit verhindert.339

Auch hier zeigt sich deutlich Kleins Bemühen um eine genaue Wiedergabe des Ausgangstextes. Vergleicht man seine Übersetzung des ersten Satzes z. B. mit derjenigen Osianders, so fallen zahlreiche Unterschiede ins Auge: Zunächst einmal gibt Klein im Gegensatz zu Osiander das Partizip ζηλούσῃ im Deutschen genau wieder. Die analoge Nachbildung von Partizipialformen, die für die Voß’sche Übersetzungssprache charakteristisch war,340 lässt sich auch sonst bei Klein beobachten. Klein verfährt aber auch in der Wiedergabe einzelner Ausdrücke genauer als Osiander. So bringt etwa seine Übersetzung »nacheifern« den semantischen Gehalt des Begriffs ζηλόω sehr viel besser zum Ausdruck als Osianders »nachbilden«. Im folgenden Kolon lässt sich dann beobachten, wie Klein die betonte Stellung des Wortes παράδειγµα genau wiedergibt; Osiander hingegen hatte es erst am Ende des Kolons platziert (»vielmehr sind wir selbst Manchen ein Muster«). Schließlich gibt Klein das Partizip µιµούµενοι zwar nicht analog mit einer Partizipialform, aber doch mit einer Nominalform (»als Nachahmer«) wieder, so dass die Wuchtigkeit des Thukydideischen Ausdrucks, die bei Osiander verloren geht, erhalten bleibt. _____________ 339 Klein (1828), 388. 340 Vgl. Häntzschel (1977), 102–108.

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Besondere Aufmerksamkeit verdient Kleins Übersetzung von διὰ τὸ µὴ ἐς ὀλίγους ἀλλ᾿ ἐς πλείονας οἰκεῖν mit »weil sie nicht bey Wenigen; sondern bey Mehreren wohnt«. Auf die Schwierigkeiten, die diese Formulierung dem Verständnis bereitet, wurde bereits an anderer Stelle hingewiesen.341 Wie viele andere Übersetzer und Erklärer fasst Klein πολιτεία, das er aus dem vorangehenden Satz ergänzt, als Subjekt des Infinitivs οἰκεῖν auf. Diejenigen, die die Formulierung so verstehen, nehmen für οἰκέω dann meist die spezielle Bedeutung »beschaffen/geordnet sein«342 o. ä. an, so beispielsweise Osiander, der den Satz folgendermaßen übersetzt hatte: »Unsere Verfassung trägt den Namen »Volksregierung« [Demokratie], weil sie nicht zum Vortheile von Wenigen, sondern der Mehrzahl eingerichtet ist«343. Klein hingegen gibt οἰκέω wörtlich mit »wohnen« wieder. Welchen Sinn diese Übersetzung ergeben soll, lässt sich nur erahnen. Möglicherweise denkt Klein hier an eine Vorstellung wie: »Die Verfassung wohnt in den Herzen der Menschen«. Abgesehen davon, dass ein solcher Gedanke nicht gut in den Zusammenhang passt, lässt sich die Übersetzung Kleins aber vor allem aus sprachlichen Gründen nicht rechtfertigen, da οἰκέω in Verbindung mit der Präposition ἐς + Akkusativ nicht die Bedeutung »wohnen bei« haben kann. Klein verfolgt ein radikal sprachmimetisches Übersetzungskonzept, insbesondere in dem Bemühen um Wörtlichkeit und um die Nachbildung der Wortfolge zeichnet er sich vor anderen Übersetzern aus. Die grammatikalische Struktur und die stilistischen Besonderheiten des Ausgangstextes werden in seiner Übersetzung allerdings nicht immer mit derselben Akribie dargestellt. In dieser Hinsicht bleibt er hinter Gabriel Gottfried Bredow zurück.

_____________ 341 Vgl. oben Kap. 2.2. 342 Vgl. Classen/Steup (1914), Bd. 2, 91. 343 Osiander (1827), 174.

Hieronymus Müller

5.3

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Hieronymus Müller: Thukydides’s Geschichte des peloponnesischen Krieges (1828–1830)

Hieronymus Müller (1785–1861), als Sohn eines Predigers im thüringischen Auerstedt geboren, studierte Philologie, zunächst in Göttingen unter Christian Gottlob Heyne, dann in Halle unter Friedrich August Wolf.344 Nach seiner Promotion in Erfurt im Jahre 1807 ging er zunächst als Lehrer an das evangelische Gymnasium in Erfurt und war dann von 1811 bis 1850 an der Domschule zu Naumburg tätig. Wie Osiander hat Müller eine umfangreiche übersetzerische Tätigkeit entfaltet. Bereits 1811 veröffentlichte er eine Übersetzung der Medea des Euripides,345 zwischen 1828 und 1830 erschien dann im Verlag der Ragoczyschen Buchhandlung in Prenzlau seine Thukydidesübersetzung.346 In späteren Jahren übertrug Müller Aristophanes347 und Platon348. Darüber hinaus übersetzte er auch neuzeitliche Autoren, so etwa Guarini349, Cervantes350 und Silvio Pellico351. Im Unterschied zu Osiander und Klein hat sich Müller ausführlich zu Fragen des Übersetzens antiker Texte geäußert. So sind wir sehr gut darüber informiert, wie er zu den Entwicklungen in der Übersetzungskultur um 1800 stand. In dem Aufsatz »Die Uebersetzungskunst«, der ursprünglich am 14. November 1823 als Vortrag in einem literarischen Verein in Naumburg gehalten wurde, bietet Müller einen historischen Abriss der Übersetzungsgeschichte, in dem er auch seine eigene Position klar ausspricht. Dass die hierin vorgetragenen Gedanken auch für seine Thukydidesübersetzung programmatisch waren, geht daraus hervor, dass Müller die Rede dem fünften Band seiner Thukydidesübersetzung vorangestellt hat.352 Als mustergültig erscheinen Müller die Übersetzungen antiker Werke von Voß sowie die Übersetzungen von Jacobs,353 Raumer354 und Schleiermacher, _____________ 344 345 346 347 348

349 350 351 352 353

354

Die biographischen Angaben nach Hoche (1885). Müller (1811). Müller (1828–1830). Müller (1843–1846). Müller (1850–1866). Bis heute werden einige der Übersetzungen Müllers im Rahmen der Gesamtausgabe der Schleiermacherschen Platonübersetzung abgedruckt, und zwar für diejenigen Dialoge, die von Schleiermacher selbst nicht übersetzt wurden. Müller (1822). Müller (1825–1829). Kannegießer/Müller (1835). Müller (1829), Bd. 5, 5–40. Christian Friedrich Wilhelm Jacobs (1764–1847), Lehrer in Gotha und München, seit 1810 Oberbibliothekar in Gotha, hatte Übersetzungen des Velleius Paterculus (1793), einer Auswahl von Gedichten aus der Anthologia Graeca (1803), sowie von Reden des Demosthenes (1805) herausgebracht. Friedrich Ludwig Georg von Raumer (1781–1873), seit 1811 Professor für Staatswissenschaften in Breslau, hatte die beiden Reden des Demosthenes und Aischines für und gegen Ktesiphon übersetzt (1811).

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Deutsche Thukydidesübersetzungen nach Schleiermacher und Humboldt

deren »Rigorismus« er lobt.355 Diese von ihm als mustergültig anerkannten Übersetzungen bilden für Müller allerdings nicht den einzig gangbaren Weg. Er räumt vielmehr ein, dass auch transponierende Übersetzungen eine wichtige vermittelnde Funktion erfüllen können356: Ist nun aber die Strenge, welche die erwähnten Meister in der Uebersetzungskunst sich zum Gesetz machten, von jedem Uebersetzer zu verlangen? Gewiß nicht. Da es gewiß sehr wünschenswerth ist, daß die Schätze der klassischen Vorzeit und des Auslandes auch den Ungelehrten zugänglich gemacht werden, diese aber durch die Fremdartigkeit des Stoffes, durch die nationalen Eigenheiten, Anspielungen u. dergl.; ja selbst durch das mit einer treuen Nachbildung unzertrennlich verbundene Ungewöhnliche in Wortfügung und Ausdrucksweise gestört, zu keinem richtigen Verständniß, zu keinem reinen Eindruck des Ganzen würden gelangen können, so wären für diese Klasse von Lesern und Leserinnen Umkleidungen in den modernen Geschmack cum grano salis [...] allerdings wünschenswerth und verdienstlich.

Die Übersetzungen in der Tradition von Voß lassen sich, so scheint Müller anzudeuten, nur von gebildeten Lesern angemessen nachvollziehen. Sobald es darum geht, die antike Literatur einem breiteren Publikum zu vermitteln, ist aus seiner Sicht daher ein zielsprachenorientiertes Verfahren der sprachmimetischen Übersetzung vorzuziehen. Bei Müller steht also beides nebeneinander: Anerkennung für das sprachmimetische Übersetzen von Voß und dessen Nachfolger, zugleich aber auch die Erkenntnis, dass diese Art des Übersetzens den Bedürfnissen eines breiteren Publikums nicht gerecht wird. Damit widersetzt sich Müller den Ausführungen Schleiermachers, der zwar zunächst zwei alternative Übersetzungsmethoden postuliert, letzten Endes aber nur die »verfremdende« Methode als legitime Form des Übersetzens zugelassen hatte. In seinem Vortrag unterscheidet Müller klar zwischen zwei Übersetzungstypen: dem strengen Übersetzungsverfahren in der Tradition von Voß und Schleiermacher auf der einen und dem assimilierenden, zielsprachlichen Verfahren auf der anderen Seite. Betrachtet man nun aber die knappen Ausführungen in dem Vorwort zu seiner Thukydidesübersetzung, so zeigt sich, dass er selbst ein Übersetzungsverfahren favorisiert, das sich keiner dieser beiden einander diametral entgegenstehenden Übersetzungsmethoden eindeutig zuordnen lässt357: Weit entfernt durch nachstehende Probe einer neuen Uebersetzung des Thukydides mit dem, was die genannten Meister [gemeint sind v. a. Voß und Schleiermacher] leisteten in die Schranken treten zu wollen, hält doch ihr Urheber auch nach der in mancher Hinsicht trefflichen, aber freilich durch die seit 70 Jahren bedeutend in ihrer Ausbildung vorgeschrittene Sprache veralteten und durch keine spätere Nachhülfe den gegenwärtigen Anforderungen anzupassenden Heilmann’schen, und der bei andern Vorzügen ziemlich wortreichen Jacobi’schen, einen neuen Versuch, den hohen Ernst, die stets andrängende Kürze, die kräftige Beredsamkeit des tiefsinnigen Geschichtschreibers treuer, als es von den Genannten geschah, ohne Eintrag der Ver-

_____________ 355 Vgl. Müller (1829), Bd. 5, 28–31. 356 Müller (1829), Bd. 5, 32 f. 357 Müller (1828), Bd. 1, 9.

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ständlichkeit (in so weit sie bei einem Schriftsteller, der nur für aufmerksame und genaue Erwägung des Gesagten nicht scheuende Leser schrieb, erreichbar und zuläßig ist) und ohne Verletzung deutscher Spracheigenthümlichkeit wieder zu geben, keineswegs für überflüssig.

Im Vordergrund steht für Müller das Bemühen um sprachlich-stilistische Treue. Zwar fordert er auch, dass die Übersetzung verständlich sein müsse, doch macht er in dieser Hinsicht eine wichtige Einschränkung: Die Übersetzung darf nicht leichter verständlich sein als der Ausgangstext. Müller will seinem deutschen Leser nämlich einen ähnlichen Eindruck verschaffen, wie ihn der griechische Leser des Thukydides im fünften Jahrhundert hatte. In diesem Punkt stimmt Müller also mit der Übersetzungskonzeption Humboldts überein, der im Vorwort zu seiner Übersetzung des Agamemnon vor »eine[r] den Charakter des Textes verstellende[n] Klarheit« gewarnt hatte. Betrachtet man wiederum Müllers Bekenntnis zur Einhaltung deutscher Sprachnormen, so scheint er zumindest auf den ersten Blick eine zielsprachliche Tendenz zu verraten. Doch spricht er bezeichnenderweise in einer negativen Formulierung davon, dass er Thukydides »ohne Verletzung deutscher Spracheigenthümlichkeit« übersetzen wolle. Ganz ähnlich hatte Schleiermacher im Zusammenhang des von ihm propagierten »verfremdenden« Übersetzens den Ausdruck »ohne Nachtheil der Sprache« gebraucht, und auch Humboldt hatte erklärt, dass er versucht habe, sich vor »Undeutschheit« zu hüten.

Übersetzungsanalyse358 Der Anfang des Geschichtswerks (1, 1) Θουκυδίδης Ἀθηναῖος ξυνέγραψε τὸν πόλεµον τῶν Πελοποννησίων καὶ Ἀθηναίων, ὡς ἐπολέµησαν πρὸς ἀλλήλους, ἀρξάµενος εὐθὺς καθισταµένου, καὶ ἐλπίσας µέγαν τε ἔσεσθαι καὶ ἀξιολογώτατον τῶν προγεγενηµένων, τεκµαιρόµενος, ὅτι ἀκµάζοντές τε ᾖσαν359 ἐς αὐτὸν ἀµφότεροι παρασκευῇ τῇ πάσῃ, καὶ τὸ ἄλλο Ἑλληνικὸν ὁρῶν ξυνιστάµενον [πρὸς ἑκατέρους], τὸ µὲν εὐθὺς, τὸ δὲ καὶ διανοούµενον.

Thukydides, ein Athenäer, unternahm die Beschreibung des Kriegs der Peloponnesier und Athenäer, wie sie gegen einander ihn führten, sogleich beginnend bei seinem Entstehn, in Erwartung, daß er bedeutend ausfallen werde und denkwürdig vor allen frühern; weil, schloß er, beide in der Vollkraft jegliches Zubehörs ihn unternahmen, und er das übrige Hellenische, so gleich, als auch es noch beabsichtigend, ihnen zugesellt sah.

_____________ 358 Der Übersetzung Müllers liegt die kommentierte Thukydidesausgabe von Poppo (1821–1840) zugrunde. (Der zweite Teil dieser Ausgabe, der den griechischen Text beinhaltet, erschien zwischen 1825 und 1828.) 359 Poppo (1825), Tl. 2, Bd. 1, 168 zieht hier die Lesart ἦσαν vor. Müllers Übersetzung setzt aber offenkundig die Lesart ᾖσαν voraus.

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κίνησις γὰρ αὕτη µεγίστη δὴ τοῖς Ἕλλησιν ἐγένετο καὶ µέρει τινὶ τῶν βαρβάρων, ὡς δὲ εἰπεῖν, καὶ ἐπὶ πλεῖστον ἀνθρώπων. τὰ γὰρ πρὸ αὐτῶν καὶ τὰ ἔτι παλαιότερα σαφῶς µὲν εὑρεῖν διὰ χρόνου πλῆθος ἀδύνατα ἦν· ἐκ δὲ τεκµηρίων, ὧν ἐπὶ µακρότατον σκοποῦντί µοι πιστεῦσαι ξυµβαίνει, οὐ µεγάλα νοµίζω γενέσθαι, οὔτε κατὰ τοὺς πολέµους, οὔτε ἐς τὰ ἄλλα.

Denn für die Hellenen und einen Theil der Barbaren ward dies unstreitig die größte, ja über die meisten Menschen, möcht’ ich behaupten, sich verbreitende Bewegung. Zwar war es, wegen der Jahre Zahl, unmöglich, das ihm Vorhergegangene und das noch Entferntere zuverlässig zu erkunden; nach Merkzeichen jedoch, die mir bei möglichst weit zurückgehender Nachforschung glaubwürdig erscheinen, vermuth’ ich, es sei nicht bedeutend gewesen, weder die Kriege, noch Anderes.360

Das Bemühen um größere »Treue« gegenüber den Übersetzungen von Heilmann und Jacobi, auf das Müller in seinem Vorwort hingewiesen hatte, ist klar zu erkennen. Insbesondere die Wiedergabe des Partizips ἀρξάµενος durch »beginnend« zeigt, dass Müller hier ein sprachmimetisches Übersetzungsverfahren praktiziert. Weitere Beispiele für Sprachmimesis sind die Wiedergabe von τὸ ἄλλο Ἑλληνικὸν mit »das übrige Hellenische« sowie des Partizips διανοούµενον mit »beabsichtigend«. Partizipien und substantivierte neutrale Adjektive werden von Müller auch sonst sehr oft sprachmimetisch wiedergegeben. Besonders auffällig ist Müllers Übersetzung des zweiten Satzes, κίνησις γὰρ αὕτη µεγίστη δὴ τοῖς Ἕλλησιν ἐγένετο καὶ µέρει τινὶ τῶν βαρβάρων, ὡς δὲ εἰπεῖν καὶ ἐπὶ πλεῖστον ἀνθρώπων. Seiner Übersetzung liegt ein von dem üblichen Verständnis abweichende Interpretation zugrunde. Die gängige Deutung sieht hier von τοῖς Ἕλλησιν über µέρει τινὶ τῶν βαρβάρων bis hin zu ἐπὶ πλεῖστον ἀνθρώπων eine Ausdehnung des Bereichs derjenigen Gruppen, die von der Erschütterung betroffen waren. Die Präpositionalphrase ἐπὶ πλεῖστον ἀνθρώπων steht nach dieser Deutung parallel zu den beiden Dativen τοῖς Ἕλλησιν und µέρει τινὶ τῶν βαρβάρων. Müller hingegen fasst ἐπὶ πλεῖστον ἀνθρώπων als Attribut zu κίνησις auf. Das καί vor ἐπὶ πλεῖστον ἀνθρώπων verbindet seiner Interpretation zufolge also ἐπὶ πλεῖστον ἀνθρώπων mit µεγίστη, so dass er zu folgender Übersetzung kommt: »ward dies unstreitig die größte, ja über die meisten Menschen, möcht’ ich behaupten, sich verbreitende Bewegung.« Bei einem Autor wie Thukydides ist diese Form der Verbindung von Ungleichartigem (in diesem Fall Adjektiv und präpositionale Phrase) sowie die weite Sperrung grundsätzlich denkbar. Tatsächlich findet sich an einer anderen Stelle des Thukydideischen Geschichtswerks eine vergleichbare Verbindung.361 Müllers Verständnis des Satzes, das der klaren Entfaltung des Gedankens zuwiderläuft, ist somit zwar exzentrisch, doch _____________ 360 Müller (1828), Bd. 1, 16. 361 Vgl. Thuc. 1, 23, 3: οἳ ἐπὶ πλεῖστον ἅµα µέρος γῆς καὶ ἰσχυρότατοι οἱ αὐτοὶ ἐπέσχον. Der Hinweis auf diese Parallele stammt von Hammond (1952), 131, der die Satzstruktur an dieser Stelle ähnlich wie Müller interpretiert.

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dem Stil des Thukydides durchaus gemäß. Unabhängig davon, wie man Müllers Übersetzung an dieser Stelle bewertet, ist anzumerken, dass Müller die von ihm angenommene Konstruktion des griechischen Satzes nicht sprachmimetisch nachbildet, sondern die Wortstellung gegenüber dem griechischen Text dahingehend abändert, dass die nach seiner Deutung zusammengehörigen Elemente nebeneinanderstehen. Seine Übersetzung zielt in dieser Hinsicht also eher auf Verständlichkeit ab. Epitaphios (2, 37, 1) Χρώµεθα γὰρ πολιτείᾳ οὐ ζηλούσῃ τοὺς τῶν πέλας νόµους, παράδειγµα δὲ µᾶλλον αὐτοὶ ὄντες τινὶ, ἢ µιµούµενοι ἑτέρους. καὶ ὄνοµα µὲν, διὰ τὸ µὴ ἐς ὀλίγους ἀλλ᾿ ἐς πλείονας οἰκεῖν, δηµοκρατία κέκληται· µέτεστι δὲ, κατὰ µὲν τοὺς νόµους, πρὸς τὰ ἴδια διάφορα πᾶσι τὸ ἴσον, κατὰ δὲ τὴν ἀξίωσιν, ὡς ἕκαστος ἔν τῳ εὐδοκιµεῖ, οὐκ ἀπὸ µέρους τὸ πλεῖον ἐς τὰ κοινὰ ἢ ἀπὸ ἀρετῆς προτιµᾶται· οὐδ᾿ αὖ κατὰ πενίαν, ἔχων δέ τι ἀγαθὸν δρᾶσαι τὴν πόλιν, ἀξιώµατος ἀφανείᾳ κεκώλυται.

Denn wir haben eine Verfassung, die nicht den Nachbarstaaten ihre Gesetze neidet, indem wir eher manchem Andern ein Vorbild sind, als dieselben nachahmen. Und zwar führt sie, weil die Verwaltung nicht in weniger, sondern in mehrerer Händen sich befindet, den Namen einer Volksherrschaft; es hat aber, den Gesetzen nach, in Privatsachen jeder gleiche Rechte, und das Ansehn betreffend, wird er, jenachdem er sich durch etwas auszeichnet, nicht sowohl als einer gewissen Kaste angehörend, als seiner Trefflichkeit wegen im Staate Andern vorgezogen; findet aber nicht, vermag er dem Staate irgend zu nützen, in seiner Armuth und seines Standes Niedrigkeit ein Hinderniß.362

Auch in dieser Passage zeigt Müller ein deutliches Bemühen um die sprachliche Nähe zum Ausgangstext. Gleich im ersten Satz lässt sich erkennen, dass er die hierarchische und doppelt antithetische Struktur nachbildet. Außerdem gibt er die Semantik von ζηλόω mit seiner Übersetzung »neiden« wieder, wodurch die Personifizierung von πολιτεία dargestellt wird. In dem folgenden, mit καὶ ὄνοµα µέν beginnenden Abschnitt orientiert sich Müller ebenfalls an der sprachlichen Struktur des griechischen Textes. Die Sperrigkeit der Thukydideischen Formulierungen, die hier durch blockhaft aneinander gereihte Präpositionalphrasen erreicht wird, gestaltet er im Deutschen nach, wobei er anstelle der Präpositionalphrasen teilweise Partizipien verwendet (z. B. »das Ansehn betreffend« für κατὰ δὲ τὴν ἀξίωσιν). Dass Müller – im Gegensatz zu Klein – kein radikal sprachmimetisches Prinzip verfolgt, wird deutlich, wenn man ihre Übersetzungen des mit οὐδ᾿ αὖ κατὰ _____________ 362 Müller (1828), Bd. 2, 86.

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πενίαν beginnenden Satzes vergleicht. Zum einen weicht Müller von der Satzstruktur des Thukydides ab, indem er seine Übersetzungen von κατὰ πενίαν und ἀξιώµατος ἀφανείᾳ – anders als im Griechischen – direkt miteinander verbindet (»in seiner Armuth und seines Standes Niedrigkeit«). Außerdem wählt er für die Formulierung ἔχων δέ τι ἀγαθὸν δρᾶσαι τὴν πόλιν eine eher assimilierende Übersetzung (»vermag er dem Staate irgend zu nützen«), während Klein hier Wörtlichkeit anstrebt (»dem Staate etwas Gutes zu erweisen«). Schließlich unterscheiden sich beide Übersetzungen in ihrer Wiedergabe von ἀφάνεια. Während Klein durch die Übersetzung »Unscheinbarkeit« versucht, die Grundbedeutung des Wortes im Deutschen zum Ausdruck zu bringen, zielt Müller mit seiner Übersetzung »Niedrigkeit« eher auf eine sinngemäße Wiedergabe. Pathologie des Krieges (3, 82, 4 f.) καὶ τὴν εἰωθυῖαν ἀξίωσιν τῶν ὀνοµάτων ἐς τὰ ἔργα ἀντήλλαξαν τῇ δικαιώσει. τόλµα µὲν γὰρ ἀλόγιστος, ἀνδρία φιλέταιρος ἐνοµίσθη, µέλλησις δὲ προµηθὴς, δειλία εὐπρεπής· τὸ δὲ σῶφρον, τοῦ ἀνάνδρου πρόσχηµα, καὶ τὸ πρὸς ἅπαν ξυνετὸν, ἐπὶ πᾶν ἀργόν· τὸ δ᾿ ἐµπλήκτως ὀξὺ, ἀνδρὸς µοίρᾳ προσετέθη· *ἀσφαλείᾳ δὲ τὸ ἐπιβουλεύσασθαι,*363 ἀποτροπῆς πρόφασις εὔλογος. καὶ ὁ µὲν χαλεπαίνων, πιστὸς ἀεὶ, ὁ δ᾿ ἀντιλέγων αὐτῷ, ὕποπτος. ἐπιβουλεύσας δέ τις, τυχὼν, ξυνετὸς, καὶ ὑπονοήσας, ἔτι δεινότερος· προβουλεύσας δὲ ὅπως µηδὲν αὐτῶν δεήσει, τῆς τε ἑταιρίας διαλυτὴς, καὶ τοὺς ἐναντίους ἐκπεπληγµένος. ἁπλῶς δὲ, ὁ φθάσας τὸν µέλλοντα κακόν τι δρᾷν ἐπῃνεῖτο, καὶ ὁ ἐπικελεύσας τὸν µὴ διανοούµενον.

Auch der Handlungen gewöhnliche Bezeichnung kehrten sie beschönigend um. Denn unüberlegte Verwegenheit galt für treuergebene Tapferkeit, vorsichtiges Zögern für ummäntelte Feigheit, Mäßigung für der Unmännlichkeit Vorwand, und Alles berücksichtigende Klugheit für entschiedene Schlaffheit. Tolle Raschheit ward für ein Erforderniß des Mannes gehalten, Sicherstellung durch reifliches Erwägen aber für einen anständigen Vorwand des Zurückweisens. Der Leidenschaftliche hieß durchaus zuverlässig, wer ihm widersprach, verdächtig. Der auf Hinterlist Bedachte galt, erreichte er seinen Zweck, für schlau, für noch gewandter, wer sie errieth. Der Vorbedachte aber, damit es keines von Beiden bedürfe, für einen Bundesstörer, der vor den Gegnern zage. Gepriesen ward überhaupt, wer einem, der auf Böses sann, zuvorkam, und den, dem so etwas nicht einfiel, dazu ermunterte.364

_____________ 363 Der von Müller vorausgesetzte griechische Text lässt sich an dieser Stelle nicht sicher rekonstruieren. Abgedruckt ist die von Poppo in den Text aufgenommene, aber mit Sternchen markierte Lesart.

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Die stilmimetische Tendenz der Übersetzung Müllers, die sich bereits am Anfang des Geschichtswerks erkennen lässt, tritt in der Pathologie des Krieges besonders deutlich hervor. So bietet etwa seine Übersetzung von προβουλεύσας δὲ ὅπως µηδὲν αὐτῶν δεήσει, τῆς τε ἑταιρίας διαλυτὴς καὶ τοὺς ἐναντίους ἐκπεπληγµένος (»Der Vorbedachte aber, damit es keines von Beiden bedürfe«) ein Beispiel extremer Sprachmimesis. Sie bildet die grammatikalische Struktur des Ausgangstextes nämlich nach und wirkt im Deutschen äußerst ungewöhnlich. Es wird damit genau jener Verfremdungseffekt erzielt, der von Schleiermacher an der oben zitierten Stelle seiner Akademierede beschrieben wird. Die stilmimetische Tendenz Müllers zeigt sich auch in seiner Übersetzung der beiden aufeinander bezogenen Partizipien ἐπιβουλεύσας und προβουλεύσας, die er mit »[d]er auf Hinterlist Bedachte« und »[d]er Vorbedachte« geradezu kongenial wiedergibt. Allerdings lassen sich auch immer wieder Abweichungen vom Ausgangstext beobachten. So komprimiert Müller die »umständliche« Formulierung καὶ τὴν εἰωθυῖαν ἀξίωσιν τῶν ὀνοµάτων ἐς τὰ ἔργα ἀντήλλαξαν τῇ δικαιώσει, wobei er jedoch – anders als viele Übersetzer – den Sinn dieses Satzes angemessen wiedergibt. Eine besonders gravierende Veränderung gegenüber dem Ausgangstext stellt die Wiedergabe von δικαιώσει mit »beschönigend« dar. Diese Übersetzung erweist sich bei näherer Betrachtung als sinnentstellend. Wie ein kurzer Blick auf die anschließend von Thukydides angeführten Beispiele für Bedeutungsveränderung deutlich macht, handelt es sich nämlich gerade nicht um eine beschönigende Sprachverwendung, die Thukydides hier darstellt. Es sei zum besseren Verständnis noch einmal kurz an den Kontext erinnert, in dem dieser Satz steht. Thukydides beschreibt hier die Radikalisierung im Verhalten bestimmter Personengruppen, die sich infolge der bürgerkriegsähnlichen Ereignisse auf Kerkyra entwickelt. Diese Radikalisierung wirkt sich nicht nur auf die Verhaltensformen, sondern auch auf den Sprachgebrauch aus, was Thukydides in dem hier zitierten Abschnitt deutlich vor Augen führt. Das Phänomen der »Beschönigung«, auf das Müller mit seiner Übersetzung verweist, spielt in diesem Kontext nun zwar durchaus eine wichtige Rolle, es sind aber – entgegen der Übersetzung Müllers – gerade die Sprachneuerer, die den gemäßigten Elementen »Beschönigung« vorwerfen. Für sich selbst erheben sie hingegen gerade den Anspruch, die »Dinge beim Namen zu nennen«. Dies lässt sich beispielsweise anhand des Satzes τὸ δὲ σῶφρον τοῦ ἀνάνδρου πρόσχηµα zeigen. Die radikalen Sprachneuerer machen den gemäßigten Parteien, so geht aus dieser Formulierung hervor, den Vorwurf, sich hinter traditionell positiv konnotierten Begriffen gleichsam zu verstecken, also ihre Feigheit und Unwilligkeit, an den Parteikämpfen teilzunehmen, durch Euphemismen aus dem Begriffsfeld »Mäßigung«/«Besonnenheit« zu »beschönigen«. Aus alledem ergibt sich, dass Müllers Übersetzung für δικαιώσει, dessen Wiedergabe durchaus Probleme bereitet und für das man verschiedene Möglichkeiten in Betracht ziehen könnte, unzutreffend ist. _____________ 364 Müller (1829), Bd. 3, 98 f.

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Melierdialog (5, 89) Ἡµεῖς τοίνυν οὔτε αὐτοὶ µετ᾿ ὀνοµάτων καλῶν, ὡς ἢ δικαίως, τὸν Μῆδον καταλύσαντες, ἄρχοµεν, ἢ ἀδικούµενοι νῦν ἐπεξερχόµεθα, λόγων µῆκος ἄπιστον παρέξοµεν· οὔθ᾿ ὑµᾶς ἀξιοῦµεν, ἢ ὅτι Λακεδαιµονίων ἄποικοι ὄντες οὐ ξυνεστρατεύσατε, ἢ ὡς ἡµᾶς οὐδὲν ἠδικήκατε, λέγοντας, οἴεσθαι πείσειν, τὰ δυνατὰ δ᾿ ἐξ ὧν ἑκάτεροι ἀληθῶς φρονοῦµεν διαπράσσεσθαι, ἐπισταµένους πρὸς εἰδότας ὅτι δίκαια µὲν ἐν τῷ ἀνθρωπείῳ λόγῳ ἀπὸ τῆς ἴσης ἀνάγκης κρίνεται, δυνατὰ δὲ οἱ προὔχοντες πράσσουσι, καὶ οἱ ἀσθενεῖς ξυγχωροῦσιν.

So werden demnach weder wir selbst durch glänzende Worte, als daß uns von Rechts wegen, als Siegern der Perser, die Herrschaft zugestehe, oder daß wir jetzt als Beleidigte Euch befehden, unserm Vortrage eine Mißtraun erregende Länge geben; noch wollen wir, daß Ihr, davon sprechend, entweder wie Ihr als Ansiedler der Lakedämonier nicht mit uns zogt, oder wie Ihr kein Unrecht gegen uns begingt, zu überzeugen hofft, sondern von dem, was nach unsrer Beider wahren Gesinnung ausführbar ist, da Ihr so gut wißt, wie wir, daß das Recht nach menschlicher Denkweise nur bei gleicher Nöthigung entscheidet, daß aber die Ueberlegenen thun, was ausführbar ist, und die Ohnmächtigen es geschehen lassen.365

Die Übersetzung Müllers unterscheidet sich hier vor allem in ihrer Wiedergabe von τὰ δυνατὰ δ᾿ ἐξ ὧν ἑκάτεροι ἀληθῶς φρονοῦµεν διαπράσσεσθαι von dem üblichen Verständnis. Um dies deutlich zu machen, soll zunächst noch einmal in aller Kürze der sprachliche und gedankliche Ablauf des Satzes skizziert werden: Die Athener erklären gegenüber den Meliern, dass sie selbst keine schön klingenden Worte vorbringen werden, um ihren Herrschaftsanspruch zu legitimieren. Sprachlich ist die Konstruktion so weit zwar kunstvoll, aber völlig klar. An die Melier stellen die Athener eine entsprechende Forderung, deren Inhalt durch den von dem Verb ἀξιοῦµεν abhängigen AcI ὑµᾶς ... λέγοντας οἴεσθαι πείσειν ausgedrückt wird. Auf diese negativ formulierte Aussage, die bezeichnet, was die Melier nicht tun sollen, folgt die positive Aussage: τὰ δυνατὰ δ᾿ ἐξ ὧν ἑκάτεροι ἀληθῶς φρονοῦµεν διαπράσσεσθαι. Gewöhnlich wird auch dies als AcI aufgefasst; als Subjektsakkusativ ist nach dieser Deutung entweder ἑκατέρους oder ὑµᾶς zu ergänzen, während διαπράσσεσθαι den Infinitiv dieses zweiten AcI bildet.366 Müller fasst διαπράσσεσθαι nun entgegen der eben skizzierten Deutung nicht als Infinitiv eines AcI auf, sondern als epexegetischen Infinitiv zu τὰ δυνατά, das nach seiner Deutung als Akkusativobjekt von λέγοντας abhängt,367 und kommt so zu der Übersetzung »ausführbar« für τὰ δυνατὰ ... διαπράσσεσθαι. Nach dieser Deutung nimmt Thukydides also einen Konstruktionswechsel vor: _____________ 365 Müller (1829), Bd. 5, 147 f. 366 Vgl. die ausführlichere Behandlung dieser Stelle in Kap. 2.4. 367 Müller (1829), Bd. 5, 148 Anm. weist ausdrücklich auf diese Übersetzungsentscheidung hin.

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Nachdem er von λέγοντας zunächst zwei Nebensätze abhängen lässt (ἢ ὅτι Λακεδαιµονίων ἄποικοι ὄντες οὐ ξυνεστρατεύσατε ἢ ὡς ἡµᾶς οὐδὲν ἠδικήκατε), schließt er dann variierend ein Akkusativobjekt (τὰ δυνατά) an. Derartige Konstruktionswechsel sind für den Thukydideischen Stil, wie oben dargestellt wurde,368 typisch, so dass das grammatikalische Verständnis Müllers durchaus erwägenswert scheint. *** Deutsche Thukydidesübersetzungen nach Schleiermacher und Humboldt In den fast zeitgleich erschienenen Übersetzungen von Christian Nathanael Osiander, Heinrich Wilhelm Friedrich Klein und Hieronymus Müller schlägt sich der Wandel der Übersetzungsnormen, der sich um 1800 vollzieht, klar nieder. Gegenüber den Übersetzungen von Johann David Heilmann und Johann Jacob Reiske aus der Mitte des 18. Jahrhunderts sind diese drei Übersetzungen in ihrer sprachlichen Struktur allesamt sehr nahe am Ausgangstext (dass sie den Textsinn darum nicht unbedingt in jedem Fall besser treffen, steht auf einem anderen Blatt). Die Übersetzer bewegen sich dabei in einem Spannungsfeld, das von verschiedenen übersetzungstheoretischen und kultur- bzw. bildungsgeschichtlichen Faktoren bestimmt ist. Der Voß’sche Homer und die Platonübersetzung Schleiermachers hatten einen, um Hieronymus Müllers Ausdruck zu gebrauchen, »rigorosen« Übersetzungsstil zum Maßstab gemacht. Die Ausführungen in der Akademierede Schleiermachers sowie Humboldts Einleitung zu seiner Übersetzung des Agamemnon hatten dieses Verfahren dann auch theoretisch fundiert. Der Forderung nach übersetzerischer »Treue« – im Sinne von sprachlicher Genauigkeit – konnte sich ein Übersetzer vor diesem Hintergrund nicht mehr entziehen, doch ließ sie sich, wie an den drei in diesem Kapitel untersuchten Thukydidesübersetzungen deutlich geworden ist, sehr unterschiedlich umsetzen. Vor allem in der Übersetzung von Hieronymus Müller ist der Einfluss des von Voß begründeten sprachmimetischen Übersetzungsverfahrens deutlich spürbar. Müller entwickelt dabei eine eigene Übersetzersprache, die von stark verfremdenden Elementen geprägt ist, so wie es von Schleiermacher und Humboldt gefordert worden war. Schleiermachers Postulat, »bisweilen wenigstens schroff und steif zu erscheinen, um dem Leser so anstößig zu werden als nöthig ist, damit er das Bewußtseyn der Sache nicht verliere«369, findet sich hier an einigen Stellen geradezu mustergültig umgesetzt. Angesichts der Hochachtung für die übersetzerische Leistung Schleiermachers, die Müller wiederholt äußert, darf man annehmen, dass er auch mit dessen theoretischen Schriften vertraut war und seine Übersetzung bewusst nach den von Schleiermacher formulierten Prinzipien gestaltet hat. Dem strengen Übersetzungsideal, das von Voß und Schleiermacher repräsentiert wurde, stand auf der anderen Seite das Bedürfnis nach gut lesbaren Überset_____________ 368 Vgl. Kap. 1. 369 Schleiermacher (1813), 81.

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zungen gegenüber. Seit den 1820ern trat nämlich ein Wandel sowohl in der Größe als auch in der Zusammensetzung des Zielpublikums ein, für das antike Texte übersetzt wurden. Es handelte sich nun nicht mehr in erster Linie um philologisch gebildete Angehörige der kulturellen Elite, sondern zunehmend auch um ein breiteres Publikum von Lesern und Leserinnen der Mittelschicht, die nur über begrenzte oder auch gar keine Kenntnisse der Alten Sprachen verfügten. Um dieses Publikum zu erreichen, waren, wie auch Hieronymus Müller eingeräumt hatte, gewisse Zugeständnisse erforderlich. So bekannten sich seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts viele Übersetzer zu einem übersetzerischen »Mittelweg«, auf dem sie zwischen den beiden Extremen der Sprachmimesis und des assimilierenden Übersetzens navigierten. Als typischer Vertreter dieser Richtung kann Christian Nathanael Osiander gelten. In seiner Übersetzung lässt sich nämlich erkennen, wie das Postulat der übersetzerischen »Treue« mit dem Bemühen um zielsprachliche Angemessenheit konkurriert. Osiander ist zwar durchaus um sprachliche Nähe zum Ausgangstext bemüht, doch verfährt er nicht sprachmimetisch, sondern nimmt maßvolle Anpassungen an die Zielsprache vor. Darüber hinaus werden die sprachlichen Schwierigkeiten des Thukydideischen Stils von ihm zugunsten besserer Verständlichkeit abgemildert. Neben den übersetzungstheoretischen Entwicklungen war außerdem die Ausweitung des altsprachlichen Unterrichts im gymnasialen Bildungswesen in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts für die Produktion und Rezeption von Übersetzungen bestimmend. Auf Seiten der Schüler führte die Ausweitung des Griechischunterrichts nämlich zu einem Bedürfnis nach Übersetzungen als (unerlaubten) Hilfsmitteln. Grundsätzlich muss man davon ausgehen, dass alle Übersetzer, oder zumindest ihre Verleger, diesen Absatzmarkt im Blick hatten. Heinrich Wilhelm Friedrich Klein weist explizit darauf hin, dass er seine Übersetzung für Schüler und Studierende verfasst habe, die sich den griechischen Text erarbeiten wollen. Im Hinblick auf die stilistische Qualität erscheint die Übersetzung dementsprechend, wie Klein selbst andeutet, wenig ambitioniert.

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Hieronymus Müller hatte in seinem 1823 gehaltenen Vortrag »Die Uebersetzungskunst«, der im vorangehenden Kapitel erwähnt wurde, seine Bedenken gegenüber der »rigorosen« Übersetzungsmethode von Voß und Schleiermacher artikuliert. Während Müller diesem strengen Übersetzungsstil aber noch ehrfürchtig gegenübersteht und in seiner Thukydidesübersetzung teilweise selbst eine sprachmimetische Tendenz zeigt, tritt Karl Schäfer370 in seinem 1839 erschienenen Aufsatz »Ueber die Aufgabe des Uebersezens« Voß und Schleiermacher mit aller Entschiedenheit entgegen.371 Ausgangspunkt für seine Überlegungen ist die Akademierede Schleiermachers von 1813, die Schäfer geradezu verreißt. Schäfers Kritik richtet sich aber nicht nur gegen die übersetzungstheoretischen Ausführungen Schleiermachers, sondern auch gegen dessen Platonübersetzung.372 Die Übersetzungen von Voß, die Schäfer derselben Kategorie wie die Platonübersetzung Schleiermachers zurechnet, tadelt er ebenfalls, indem er Voß vorwirft, dass er die Muttersprache »gräzisiere« und »latinisiere«.373 In dieser Kritik äußert sich also wieder die Furcht vor »Sprachverunreinigung«, die in den übersetzungstheoretischen Diskussionen der frühen Aufklärung allgegenwärtig gewesen war. Dass Schäfers eigenes Übersetzungskonzept eine völlige Abwendung von dem sprachmimetischen Übersetzungsparadigma von Voß und Schleiermacher darstellt, wird im weiteren Verlauf seines Aufsatzes deutlich, in dem er mehrere Übersetzungsprinzipien formuliert. Das erste Prinzip Schäfers betrifft die zielsprachliche Qualität der Übersetzung: »Sie muss vor Allem deutsch sein, d. h. der Charakter unsrer Sprache, als der Form unsres volksthümlichen Denkens und Empfindens, muss sich darin nach seiner Eigenthümlichkeit rein und klar ausgeprägt darstellen. [...] Alles und Jedes darf nur dem Bereiche des deutschen Sprachidioms entnommen sein«374. Schäfer zielt also darauf ab, alles Fremdartige in der Übersetzung zu vermeiden, und vertritt somit eine Schleiermacher diametral entgegengesetzte Position. Mit seinem zweiten Prinzip erhebt Schäfer dann die Forderung nach ästhetischer Qualität: Die Übersetzung soll »anmuthig, gefällig, _____________ 370 Johann Albrecht Karl Schäfer unterrichtete von 1822 bis 1862 als Gymnasialprofessor am Fridericianum in Erlangen. (Die biographische Information nach Kitzbichler [2009], 86 Anm. 277.) 371 Schäfer (1839). Zu dem Aufsatz Schäfers vgl. Kitzbichler (2009), 86 f. 372 Vgl. Schäfer (1839), 11. 373 Vgl. ebd. 374 Ebd., 17 f.

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wohlthuend, harmonisch sein«375. Diese Forderung begründet Schäfer mit der Anmut und Schönheit der antiken Literatur.376 Dass diese pauschale und undifferenzierte Charakterisierung die stilistische Vielfalt der antiken Literatur nicht adäquat erfasst, ist offenkundig. Die Sprache eines Aischylos oder Thukydides etwa lässt sich schwerlich als »gefällig« oder »wohlthuend« umschreiben. Aber auch die derbe Komik eines Aristophanes oder die Komplexität eines Dichters wie Ovid, um nur einige Beispiele zu nennen, lassen sich in den von Schäfer gewählten Kategorien kaum erfassen. Eine sehr viel gemäßigtere Position wird knapp zwanzig Jahre später von Tycho Mommsen377 vertreten, dem jüngeren Bruder von Theodor Mommsen. Tycho Mommsen, der wie Schäfer Gymnasiallehrer war, unterscheidet in seinem Aufsatz »Die Kunst des deutschen Uebersetzers«378 zwischen drei Arten der Nachbildung: der stillosen Übersetzung, der Originaldichtung in fremdem Stil und dem strengen oder stilhaften Übersetzen.379 Schon die Begrifflichkeit Mommsens macht die Verschiebung gegenüber Schäfer deutlich. Wo Schäfer noch die Kategorien des »Gräzisierens« bzw. »Latinisierens« auf der einen und des »Deutschen« auf der anderen Seite verwendet hatte, um die beiden Pole des ausgangssprachlichen und zielsprachlichen Übersetzens zu umschreiben, unterscheidet Mommsen zwischen »stilhaftem« und »stillosem« Übersetzen. Indem er das sprachmimetische Übersetzen mit dem Begriff des »stilhaften« Übersetzens umschreibt, rückt Mommsen es in ein positives Licht, während das zielsprachliche oder »einbürgernde« Übersetzen innerhalb dieser Systematik als »stillos« bezeichnet und somit negativ konnotiert wird. Die Tendenz, die aus dieser Systematik hervorgeht, schlägt sich auch in Mommsens Bewertung des Voß’schen Homer nieder, den er im Gegensatz zu Schäfer als künstlerischen Erfolg bewertet.380 Allerdings spricht sich Tycho Mommsen zugleich gegen das, was er als »ängstliche Worttreue« bezeichnet, aus – mit anderen Worten gegen eine radikale Sprachmimesis.381 So tadelt er denn auch die Änderungen, die Voß an seiner Odysseeübersetzung vornahm, als Übertreibungen.382 Wie oben dargestellt, hatte Voß sein sprachmimetisches Verfahren in der überarbeiteten Fassung von 1793 _____________ 375 Ebd., 18. 376 Vgl. ebd., 19. 377 Mommsen (1819–1900) hatte in Kiel Klassische Philologie, Philosophie und Geschichte studiert und war 1843 mit einer Arbeit zu Pindar promoviert worden. Nach einer Tätigkeit als Collaborator in Husum war er ab 1851 Professor am Realgymnasium in Eisenach, ab 1856 Rektor der höheren Bürgerschule in Oldenburg, von 1864 bis zu seiner Pensionierung schließlich Direktor des Gymnasiums in Frankfurt am Main. (Die biographischen Angaben nach Eckstein [1871], 380 und Lubitz [2009], 162 Anm. 249.) 378 Mommsen (1857 und 1858). Vgl. dazu Lubitz (2009), 162–166. 379 Vgl. Mommsen (1857), 10. 380 Vgl. ebd., 17. 381 Vgl. ebd. 382 Vgl. ebd., 17 f.

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gegenüber der ersten Fassung von 1781 tatsächlich radikalisiert.383 Das Urteil Mommsens spiegelt in gewisser Weise die zeitgenössischen Reaktionen auf die ersten beiden Fassungen der Voß’schen Homerübersetzung wider. War die erste Fassung nämlich noch mit Begeisterung aufgenommen worden, so reagierten die meisten Leser zunächst überwiegend negativ auf die Fassung von 1793. Allerdings relativiert Mommsen seine Kritik an dem radikal sprachmimetischen Übersetzen im unmittelbaren Anschluss, indem er auf die fehlende Akzeptanz für das stilvolle Übersetzen seitens des Publikums hinweist, das zur Aufnahme solcher Werke nicht bereit sei.384 Die Position Mommsens weist insofern gewisse Parallelen zu derjenigen Hieronymus Müllers auf, der einerseits die Übersetzungsleistungen von Voß und Schleiermacher positiv bewertet, zugleich aber auch gewisse Konzessionen an das Publikum für vertretbar gehalten hatte.385 Schäfer und Mommsen waren in ihrer Tätigkeit als Gymnasiallehrer mit Fragen der Übersetzungspraxis täglich konfrontiert. Denn der altsprachliche Unterricht war zu jener Zeit in noch stärkerem Maße als heute vom Übersetzen bestimmt. Die Latein- und Griechischlehrer waren also dazu gezwungen, die Übersetzungsproblematik – wenn auch nur in elementarster Form – zu reflektieren. Dies erklärt, warum gerade Gymnasiallehrer wie Karl Schäfer und Tycho Mommsen sich ausführlicher mit übersetzungstheoretischen Fragestellungen beschäftigt haben. Seitens der universitären Philologie wurde dem Übersetzen hingegen nur ein sehr begrenztes Interesse entgegengebracht. So beschäftigt sich August Boeckh386 in seiner Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften nur am Rande mit dem Übersetzen.387 Er stellt zunächst die beiden Ansätze von Schleiermacher und Schäfer einander gegenüber und weist auf die Nachteile beider Übersetzungstypen hin, gibt dann aber dem Schleiermacher’schen Verfahren den Vorzug.388 Doch lässt sich Boeckh nicht ohne Weiteres dem sprachmimetischen Lager zuordnen. Denn er steht Voß, dessen Homerübersetzung er als »stelzbeinig und rauh« bezeichnet, kritisch gegenüber,389 während er die Übersetzungen von Wolf, Humboldt, Droysen und Schleiermacher, die sich in ihrem Ansatz stark von einander unterscheiden, positiv bewertet. Für den ge_____________ 383 384 385 386

S. oben Kap. 4. Vgl. Mommsen (1857), 18. Zu den übersetzungstheoretischen Ausführungen Müllers vgl. oben Kap. 5.3. Boeckh (1785–1867) hatte in Halle bei Friedrich August Wolf und Friedrich Schleiermacher studiert und war anschließend kurze Zeit Mitglied des Seminars für gelehrte Schulen in Berlin. Nach seiner Promotion 1807 in Halle ging er an die Universität Heidelberg, wo er sich noch im selben Jahr habilitierte und zunächst als außerordentlicher, ab 1809 dann als ordentlicher Professor lehrte. Seit 1811 war er schließlich bis an sein Lebensende Ordinarius an der Universität Berlin. 387 Der betreffende Abschnitt findet sich bei Boeckh (1886), 158–163, wieder abgedruckt in: Kitzbichler/Lubitz/Mindt (2009b), 199–204. Vgl. hierzu Apel (1982), 147–150 und Kitzbichler (2009), 91–94. 388 Vgl. Boeckh (1886), 158 f. 389 Ebd., 159.

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Deutsche Thukydidesübersetzungen um die Mitte des 19. Jahrhunderts

genwärtigen Zusammenhang entscheidend ist jedoch, dass Boeckh das Übersetzen nicht als eine genuine Aufgabe des Philologen ansieht, was er folgendermaßen begründet390: Die Uebersetzung ist eigentlich nicht die Kehrseite des Originals, sondern des Bildes, welches der Uebersetzer vom Original gewonnen hat, und auf dieser Kehrseite treten viele feine Züge überhaupt nie hervor, welche die Arbeit des Philologen in jenes Bild eingewirkt hat; folglich lässt sich aus einer Uebersetzung die zu Grunde liegende philologische Forschung nur sehr mangelhaft erkennen. Ausserdem gehört zum Uebersetzen, dass man die eigene Sprache künstlerisch beherrscht, was nicht Sache der philologischen Wissenschaft ist. Wenn die Philologie anfängt zu übersetzen, hört sie daher auf Philologie zu sein. Da somit das Uebersetzen von der eigentlichen philologischen Arbeit abzieht, würde ich abrathen sich ohne besonderen Beruf viel damit zu befassen.

Wenn Boeckh die Übersetzung hier nicht als Abbild des Originals, sondern als Abbild des Verständnisses sieht, das der Übersetzer von dem Original gewonnen hat, so ist er darin offenkundig Schleiermacher verpflichtet.391 Doch hält Boeckh die Möglichkeiten, das durch philologische Arbeit am Text gewonnene Verständnis in der Übersetzung darzustellen, für sehr begrenzt, so dass das Übersetzen zwangsläufig aus dem Zuständigkeitsbereich der Philologie verbannt wird. Mit dieser distanzierten Haltung zum Übersetzen steht Boeckh nicht alleine da. Auch andere bedeutende Gelehrte wie Gottfried Hermann und Moriz Haupt räumten dem Übersetzen innerhalb der Philologie nur eine marginale Stellung ein.392 Dem Desinteresse der universitären Philologen am Übersetzen stand jedoch auch im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts eine intensive übersetzerische Praxis gegenüber. So wurden in den 1850er/1860er Jahren erneut innerhalb kurzer Zeit mehrere Thukydidesübersetzungen publiziert: 1852/1853 im EngelmannVerlag die zweisprachige Ausgabe von Gottfried Böhme, 1856/1857 im MetzlerVerlag die Übersetzung von Johann Christian Friedrich Campe und schließlich ab 1859 im Verlag Krais und Hoffmann die Übersetzung von Adolf Wahrmund.

_____________ 390 Ebd., 161. 391 Zur Übersetzungstheorie Schleiermachers vgl. oben Kap. 5. 392 Vgl. hierzu Lubitz (2009), 181–185.

Gottfried Böhme

6.1

119

Gottfried Böhme: Thukydides, Geschichte des peloponnesischen Krieges (1852/1853)

In den Jahren 1852/1853 erschien im Leipziger Verlag Wilhelm Engelmann eine anonyme zweisprachige Ausgabe des Thukydides. Wie aus einem Hinweis Engelmanns hervorgeht, handelt es sich bei dem Übersetzer um Gottfried Böhme.393 1817 in Straguth (Anhalt) geboren, hatte Böhme ab 1834 in Leipzig und Halle studiert und war 1840 Mitglied des Seminars in Stettin, bevor er zunächst an der Lateinischen Hauptschule in Halle und dann ab 1851 am Gymnasium zu Dortmund tätig war, seit 1863 im Rang eines Professors.394 Seine zweisprachige Ausgabe wird von zwei weiteren Arbeiten zu Thukydides flankiert: seiner bereits 1851 im Leipziger Teubner-Verlag erschienenen Textausgabe des Peloponnesischen Krieges und seinem 1856 ebenfalls bei Teubner erschienenen Schülerkommentar zu Thukydides.395 Der Vergleich zwischen Übersetzung und Kommentar erlaubt es in diesem Fall also, das Verhältnis von philologischer und übersetzerischer Tätigkeit zu untersuchen. Das Vorwort zu seiner Übersetzung hat Böhme äußerst knapp gehalten. Auf eine ausführlichere Darstellung seiner Übersetzungsprinzipien verzichtet er mit folgender lapidaren Bemerkung: »Zweck und Methode dieser neuen Bearbeitung des Thukydides weitläufig zu erörtern, ist überflüssig: einem Buche, das sich nicht selbst rechtfertigt, hilft dergleichen nicht auf«396. Die Gleichgültigkeit gegenüber übersetzungstheoretischen Fragestellungen, die sich in diesen Worten ausdrückt, ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass das Übersetzen, wie erwähnt, innerhalb der Philologie während des 19. Jahrhunderts nur eine marginale Stellung hatte. Um sich eine Vorstellung von Böhmes Thukydidesbild zu verschaffen, muss man auf den bereits erwähnten Schülerkommentar zurückgreifen. Böhme erklärt die Besonderheit des Thukydideischen Stils dort zunächst damit, dass sich die attische Prosa zur Zeit der Abfassung des Peloponnesischen Kriegs noch in einer frühen Entwicklungsphase befunden habe; in den Werken dieser Periode sei »im Vergleich zu den prosaischen Meisterwerken des vollendeten Atticismus, eine gewisse Jugendlichkeit und Unfertigkeit der Diction unverkennbar«397. Doch bleibt Böhme bei dieser sprachhistorischen Erklärung nicht stehen, sondern würdigt durchaus die Individualität des Thukydideischen Stils, in dem er geradezu ein Abbild der Persönlichkeit des Thukydides erkennt398: Doch es wäre ein grosser Missgriff, die Eigenthümlichkeiten der Diction des Thuk. allein oder nur vorzugsweise aus der Jugendlichkeit und Unvollendung der attischen

_____________ 393 394 395 396 397 398

Vgl. Engelmann (1858), 353. Die biographischen Angaben nach Eckstein (1871), 51 f. Böhme (1856). Böhme (1852), 3. Böhme (1862), Bd. 1, H. 1, XIX. Ebd., Bd. 1, H. 1, XX.

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Deutsche Thukydidesübersetzungen um die Mitte des 19. Jahrhunderts Prosa herleiten zu wollen. Eine noch ergiebigere Quelle ist der eigne Geist, die Individualität des Schriftstellers. Der ernste, charaktervolle Mann konnte keinen leichtfliessenden, der tiefe Denker keinen mühelos verständlichen und klar durchsichtigen Stil schreiben. Die Härte, Schwierigkeit und Dunkelheit der Schreibart ist also eine mit seinem ganzen Wesen und Streben untrennbar verwachsene Eigenschaft des Thuk. Aber so schwierig und dunkel zuweilen seine Darstellung ist, so edel, würdevoll und kräftig ist sie durchweg, so sorgfältig ist sie dem Reichthum der Gedanken und Beziehungen angepasst. Sie beruht überall auf Absicht und Bewusstsein und bekundet ein eigentliches Kunststudium, welches die namentlich von den Sophisten geschaffenen reichen Mittel der Rede mit Freiheit beherrscht und auch den Schmuck der Figuren nicht ganz verschmäht.

Aus diesem Zitat geht bereits deutlich hervor, dass Böhme den Stil des Thukydides insgesamt positiv bewertet. Dies zeigt sich noch eindrucksvoller in dem abschließenden Satz der Einleitung zu seinem Kommentar399: So steht das Werk des Thuk. in Inhalt und Form als eins der würdigsten Denkmäler griechischer Wissenschaft und Kunst vor uns. Bringen wir Neuern zum Studium desselben diejenige weihevolle Stimmung des Geistes mit, ohne welche Niemand die grossen Alten richtig verstehen und würdigen kann!

Die hier skizzierte Haltung Böhmes lässt in der Übersetzung einen ausgangssprachlichen Ansatz erwarten. Dass eine zielsprachlich-assimilierende Übersetzung aus der Perspektive Böhmes im Falle des Thukydides sinnvollerweise gar nicht möglich ist, geht vor allem daraus hervor, dass, wie Böhme an der oben zitierten Stelle betont hatte, Inhalt und Form in dessen Geschichtswerk eine untrennbare Symbiose eingehen. Die sprachliche Form war dort von Böhme ja gewissermaßen als Emanation des Thukydideischen »Geistes« beschrieben worden. In diesem Zusammenhang sei an die übersetzungstheoretischen Diskussionen kurz nach 1800 erinnert. Dort hatte die Untrennbarkeit von Inhalt und Form ein wesentliches Argument für das sprachmimetische Übersetzen gebildet. Dass dies nicht nur für die Dichtung, sondern auch für Kunstprosa zu gelten habe, geht aus den Aussagen Schleiermachers in seiner Akademierede von 1813 hervor. Dort hatte er nämlich das sprachmimetische Übersetzen ausdrücklich auf das Gebiet der »Wissenschaft und Kunst« bezogen.400

_____________ 399 Ebd. 400 Vgl. oben Kap. 5.

Gottfried Böhme

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Übersetzungsanalyse401 Der Anfang des Geschichtswerks (1, 1) Θουκυδίδης Ἀθηναῖος ξυνέγραψε τὸν πόλεµον τῶν Πελοποννησίων καὶ Ἀθηναίων ὡς ἐπολέµησαν πρὸς ἀλλήλους, ἀρξάµενος εὐθὺς καθισταµένου καὶ ἐλπίσας µέγαν τε ἔσεσθαι καὶ ἀξιολογώτατον τῶν προγεγενηµένων, τεκµαιρόµενος ὅτι ἀκµάζοντές τε ἦσαν ἐς αὐτὸν ἀµφότεροι παρασκευῇ τῇ πάσῃ καὶ τὸ ἄλλο Ἑλληνικὸν ὁρῶν ξυνιστάµενον πρὸς ἑκατέρους, τὸ µὲν εὐθύς, τὸ δὲ καὶ διανοούµενον. κίνησις γὰρ αὕτη µεγίστη δὴ τοῖς Ἕλλησιν ἐγένετο καὶ µέρει τινὶ τῶν βαρβάρων, ὡς δὲ εἰπεῖν, καὶ ἐπὶ πλεῖστον ἀνθρώπων. τὰ γὰρ πρὸ αὐτῶν καὶ τὰ ἔτι παλαιότερα σαφῶς µὲν εὑρεῖν διὰ χρόνου πλῆθος ἀδύνατα ἦν, ἐκ δὲ τεκµηρίων ὧν ἐπὶ µακρότατον σκοποῦντί µοι πιστεῦσαι ξυµβαίνει οὐ µεγάλα νοµίζω γενέσθαι οὔτε κατὰ τοὺς πολέµους οὔτε ἐς τὰ ἄλλα.

Thukydides aus Athen beschrieb den Krieg der Peloponnesier und Athener wie sie ihn gegen einander führten, indem er sogleich beim Ausbruche desselben anfing und voraussah, daß er bedeutend und denkwürdiger als alle vorangegangenen werden würde, was er daraus schloß weil beide Theile mit allen Hülfsmitteln zu demselben wohlversehen waren, und weil er sah, daß auch das übrige Hellas sich theils sogleich mit den Einen von Beiden verband, theils es doch beabsichtigte. Denn es war dies die größte Erschütterung für die Hellenen und einen guten Theil der Barbaren, ja man kann sagen, für den größten Theil der Menschheit. Denn das Voraufgehende und das noch Aeltere genau zu erforschen war zwar wegen der Länge der Zeit unmöglich, jedoch nach Beweisen, aus deren möglichst weit zurückgehender Erwägung sich meine Ueberzeugung gebildet hat, glaube ich, daß es weder hinsichtlich der Kriege noch im Uebrigen bedeutend gewesen ist.402

Der Tendenz nach handelt es sich hier, wie schnell deutlich wird, um eine ausgangssprachliche Übersetzung. Dies zeigt sich z. B. daran, dass Böhme den vergleichenden Adverbialsatz ὡς ἐπολέµησαν πρὸς ἀλλήλους analog wiedergibt und nicht, wie viele andere Übersetzer, mit einem Relativsatz. Andererseits lassen sich in einzelnen Details aber durchaus Abweichungen vom griechischen Text feststellen. So ist die an sich naheliegende Wiedergabe des Genitivus absolutus καθισταµένου (sc. πολέµου) mit »beim Ausbruche«, die auch sonst häufig von Übersetzern gewählt wird, problematisch. Denn καθισταµένου bezeichnet hier wohl eher den Entstehungsprozess, nicht den plötzlichen »Ausbruch« des Krieges. Eine angemessenere Wiedergabe von καθισταµένου wäre daher »als (der Krieg) im Entstehen war« o. ä., wie in den Übersetzungen von Bredow (»beim _____________ 401 Böhmes Übersetzung der Passage aus dem Melierdialog (5, 89) wird hier nicht behandelt, s. oben S. 9 Anm. 30. 402 Böhme (1852), Bd. 1, 21.

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Deutsche Thukydidesübersetzungen um die Mitte des 19. Jahrhunderts

Entstehen desselben«), Klein (»beym Entstehen«) und Müller (»bei seinem Entstehn«). Eine weitere Abweichung vom griechischen Text stellt die Wiedergabe von ἀκµάζοντες mit »wohlversehen« dar. Denn das griechische Wort drückt sehr viel mehr aus, nämlich dass beide Seiten auf dem Höhepunkt, eben der ἀκµή, ihrer Rüstung angekommen waren, als sie in den Krieg eintraten. Dieser Punkt ist für die Aussage des Thukydides am Anfang seines Geschichtswerks von entscheidender Bedeutung, geht es ihm doch darum, das Außergewöhnliche des von ihm behandelten Krieges herauszustellen und damit das Interesse seiner Leser zu wecken. Dass zwei Parteien, die in dieser Hinsicht »wohlversehen« sind, einander gegenüberstehen, wäre kaum besonders erwähnenswert; dies träfe ja auf viele der zahlreichen militärischen Konflikte zwischen griechischen Stadtstaaten zu. Dass aber zwei Staaten, die auf dem Höhepunkt ihrer militärischen Rüstung stehen, in einen Krieg treten, ist etwas Einmaliges, das besondere Beachtung verdient. In seinem Kommentar macht Böhme keine Aussagen zu den hier diskutierten Stellen, aus denen sich sein Verständnis näher rekonstruieren ließe. Ob die Abweichungen vom griechischen Text tatsächlich aus einem mangelnden Textverständnis – was angesichts der philologischen Leistungen Böhmes überraschen würde – oder aber fehlender Achtsamkeit resultieren, lässt sich somit nicht sagen. In einem Punkt lässt sich die Übersetzung jedoch mit seinem Kommentar vergleichen, und zwar in der Frage, wie das Verhältnis der beiden durch καί verbundenen Partizipien ἀρξάµενος und ἐλπίσας zu verstehen ist. In seiner Übersetzung verbindet Böhme sie mit einem einfachen »und«. Damit wird die Beziehung zwischen den beiden Aussagen, die nicht auf einer Ebene stehen, jedoch nicht adäquat wiedergegeben. Ein befriedigender Sinn ergibt sich nur, wenn man καί hier epexegetisch auffasst und mit »und zwar« übersetzt. Genau diese Übersetzungslösung wird von Böhme in seinem Kommentar auch vorgeschlagen.403 Epitaphios (2, 37, 1) Χρώµεθα γὰρ πολιτείᾳ οὐ ζηλούσῃ τοὺς τῶν πέλας νόµους, παράδειγµα δὲ µᾶλλον αὐτοὶ ὄντες τινὶ ἢ µιµούµενοι ἑτέρους. καὶ ὄνοµα µὲν διὰ τὸ µὴ ἐς ὀλίγους ἀλλ᾿ ἐς πλείονας οἰκεῖν δηµοκρατία κέκληται, µέτεστι δὲ κατὰ µὲν τοὺς νόµους πρὸς τὰ ἴδια διάφορα πᾶσι τὸ ἴσον,

_____________ 403 Vgl. Böhme (1862), Bd. 1, H. 1, 1.

Denn wir erfreuen uns einer Verfassung welche nicht den Einrichtungen der Nachbaren nacheifert, indem wir vielmehr selbst ein Muster für Manchen sind als Anderen nachahmen. Ihr Name heißt, weil die Verwaltung nicht in die Hände Weniger, sondern der Merheit gegeben ist, Volksherrschaft; es haben aber nach den Gesetzen in bürgerlichen Interessen Alle gleiche Rechte,

Gottfried Böhme κατὰ δὲ τὴν ἀξίωσιν, ὡς ἕκαστος ἔν τῳ εὐδοκιµεῖ, οὐκ ἀπὸ µέρους τὸ πλεῖον ἐς τὰ κοινὰ ἢ ἀπ᾿ ἀρετῆς προτιµᾶται, οὐδ᾿ αὖ κατὰ πενίαν, ἔχων δέ τι ἀγαθὸν δρᾶσαι τὴν πόλιν, ἀξιώµατος ἀφανείᾳ κεκώλυται.

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und was das Ansehn betrifft, so wird Jeder, je nachdem er sich worin auszeichnet, zur Staatsverwaltung berufen, nicht sowohl weil er aus einer bestimmten Kaste ist, als vielmehr in Folge seiner Tüchtigkeit; auch ist anderseits Niemand wegen seiner Armuth, wenn er dem Staate Dienste zu leisten vermag, durch die Niedrigkeit des Standes daran verhindert.404

Die Übersetzung Böhmes ist auch an dieser Stelle, von wenigen Ausnahmen abgesehen, sehr nahe am Ausgangstext. So gibt er, im Gegensatz zu vielen anderen Übersetzern, χρώµεθα ... πολιτείᾳ mit der deutschen Formulierung »wir erfreuen uns einer Verfassung« sprachmimetisch wieder. Auch in seiner Wiedergabe der beiden Ausdrücke ζηλόω und µιµέοµαι mit »nacheifern« und »nachahmen« orientiert er sich sehr eng am Ausgangstext. Darüber hinaus werden auch stilistische Feinheiten wie die Variatio von τῶν πέλας ... τινὶ ... ἑτέρους nachgebildet (»der Nachbaren [...] für Manchen [...] Anderen«). Anders als die meisten Übersetzer und Erklärer deutet Böhme den Ausdruck ὄνοµα ... κέκληται, den er mit »Ihr Name heißt« übersetzt, als Subjekt des Satzes. Nach dem üblichen Verständnis ist das Subjekt das aus dem vorhergehenden Satz zu ergänzende πολιτεία, während ὄνοµα hier als Akkusativ der Beziehung fungiert. Diese Deutung zieht Böhme in seinem Kommentar vor. Dort paraphrasiert er den Gedanken des gesamten Satzes nämlich folgendermaßen: »Dem Namen nach heisst sie Demokratie; in der That aber ist es eine Aristokratie, jedoch nicht der Geburt, sondern des Verdienstes.«405 Pathologie des Krieges (3, 82, 4 f.) καὶ τὴν εἰωθυῖαν ἀξίωσιν τῶν ὀνοµάτων ἐς τὰ ἔργα ἀντήλλαξαν τῇ δικαιώσει. τόλµα µὲν γὰρ ἀλόγιστος ἀνδρία φιλέταιρος ἐνοµίσθη, µέλλησις δὲ προµηθὴς δειλία εὐπρεπής, τὸ δὲ σῶφρον τοῦ ἀνάνδρου πρόσχηµα, καὶ τὸ πρὸς ἅπαν ξυνετὸν ἐπὶ πᾶν ἀργόν· τὸ δ᾿ ἐµπλήκτως ὀξὺ ἀνδρὸς µοίρᾳ προσετέθη,

_____________ 404 Böhme (1852), Bd. 2, 47. 405 Böhme (1862), Bd. 1, H. 1, 151.

Und die gewohnte Bedeutung der Worte für die Gegenstände vertauschten sie nach ihrer Willkür. Unvernünftige Verwegenheit nämlich galt für uneigennützige Tapferkeit, vorsichtiges Zögern für wohlverhüllte Feigheit, Besonnenheit für einen Deckmantel der Unmännlichkeit, Klugheit in Allem für Trägheit zu Allem; die verrückte Leidenschaftlichkeit ward als die Ehre des Mannes angesehen,

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Deutsche Thukydidesübersetzungen um die Mitte des 19. Jahrhunderts

ἀσφαλείᾳ δὲ τὸ ἐπιβουλεύσασθαι ἀποτροπῆς πρόφασις εὔλογος. καὶ ὁ µὲν χαλεπαίνων πιστὸς ἀεί, ὁ δ᾿ ἀντιλέγων αὐτῷ ὕποπτος. ἐπιβουλεύσας δέ τις τυχὼν ξυνετὸς καὶ ὑπονοήσας ἔτι δεινότερος· προβουλεύσας δὲ ὅπως µηδὲν αὐτῶν δεήσει, τῆς τε ἑταιρίας διαλυτὴς καὶ τοὺς ἐναντίους ἐκπεπληγµένος. ἁπλῶς δὲ ὁ φθάσας τὸν µέλλοντα κακόν τι δρᾶν ἐπῃνεῖτο, καὶ ὁ ἐπικελεύσας τὸν µὴ διανοούµενον.

dagegen mit Vorsicht bei sich überlegen für einen schönklingenden Vorwand der Ablehnung. Und der Zürnende hieß stets zuverlässig, der ihm Widersprechende aber verdächtig; wer mit Nachstellungen glücklich war, gescheit, und wer es ahnte, noch schlauer; wer sich aber so vorsah daß er nichts von dergleichen nöthig hatte, ein Verräther der Genossenschaft und ein die Gegner Fürchtender. Ueberhaupt ward gerühmt wer dem Böses im Schilde Führenden zuvorkam und den daran nicht Denkenden anfeuerte.406

Die für die Übersetzung Böhmes charakteristische Genauigkeit zeigt sich auch in diesem Beispiel. So berücksichtigt er etwa die Variatio in dem Satz καὶ τὸ πρὸς ἅπαν ξυνετὸν ἐπὶ πᾶν ἀργόν durch eine approximative Wiedergabe (»Klugheit in Allem für Trägheit zu Allem«). Auch für die beiden aufeinander bezogenen Partizipien ἐπιβουλεύσας und προβουλεύσας findet er eine Lösung, die die sprachliche Gestalt des Ausgangstextes zumindest andeutet (»wer mit Nachstellungen glücklich war, [...] wer sich aber so vorsah«). An mehreren Stellen gibt Böhme außerdem Partizipien analog wieder. So übersetzt er sowohl ὁ µὲν χαλεπαίνων (»der Zürnende«) als auch ὁ δ᾿ ἀντιλέγων αὐτῷ (»der ihm Widersprechende aber«) sprachmimetisch. Noch auffälliger ist aber aufgrund der im Deutschen sehr ungewöhnlichen Wortstellung die Wiedergabe von τοὺς ἐναντίους ἐκπεπληγµένος mit »ein die Gegner Fürchtender«. Schließlich fällt auf, dass er die Ellipse des Verbs weitgehend nachbildet und somit die sprachliche Knappheit des Originals approximiert. Der Übersetzung Gottfried Böhmes liegt, wie deutlich geworden ist, ein ausgangssprachlich orientiertes Verfahren zugrunde. Gerade die zuletzt erwähnte sprachmimetische Wiedergabe der Partizipien belegt, dass sie letztlich in der von Voß begründeten Übersetzungstradition steht.407 Wenn die Übersetzung dennoch an einigen Stellen vom Ausgangstext abweicht und bestimmte Nuancen nicht wiedergibt, so ist dies eventuell darauf zurückzuführen, dass Böhme bei der Übersetzung zuweilen etwas weniger sorgfältig gearbeitet hat, als es ihm möglich gewesen wäre. Dass man jedenfalls den Vorwurf mangelnder Sprachkenntnis nicht in Anschlag bringen darf, geht aus seinem Schülerkommentar hervor, der nur wenige Jahre später erschienen ist. Vergleicht man den Schülerkommentar mit der Übersetzung, so ergibt sich, dass Böhme als Kommentator an einzelnen Stellen ein angemesseneres Textverständnis zeigt als in der Übersetzung. Offen_____________ 406 Böhme (1852), Bd. 3, 99. 407 Zur Übersetzung der Partizipien bei Voß vgl. Häntzschel (1977), 102–108.

Johann Christian Friedrich Campe

125

bar hat Böhme bestimmte Probleme des Textverständnisses, über die er bei seiner Übersetzungstätigkeit hinweggegangen war, in seiner Arbeit am Kommentar intensiver reflektiert.

6.2

Johann Christian Friedrich Campe: Des Thukydides Geschichte (1856/1857)

Bereits im vorangehenden Kapitel wurde auf die zahlreichen Übersetzungsreihen hingewiesen, die seit den 1820er Jahren erschienen und den Übersetzungsbetrieb des 19. Jahrhunderts maßgeblich prägten. Die Reihe der »Griechischen und römischen Dichter und Prosaiker in neuen Uebersetzungen«, die im Stuttgarter Metzler-Verlag erschien, hatte in diesem Bereich während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine dominierende Stellung.408 Im Rahmen der Reihe war zwischen 1826 und 1829 bereits die Thukydidesübersetzung Osianders erschienen. Wie gezeigt werden konnte, entsprach sie weitgehend den Leitlinien der Reihe, deren Herausgeber sich einerseits der übersetzerischen Treue, andererseits aber auch einer Publikumsorientierung verpflichtet sahen. 30 Jahre später wurde dann im selben Verlag eine neue Thukydidesübersetzung vorgelegt. Ihr Verfasser, Johann Christian Friedrich Campe, wurde 1808 in Gardelegen (Altmark) geboren und besuchte das Gymnasium in Stendal.409 Nach dem Studium der Philologie in Halle und Berlin war Campe im Schuldienst tätig, zunächst für ein Jahr am Gymnasium Stendal, ab 1832 dann am Gymnasium in Neuruppin, schließlich ab 1852 als Direktor am Gymnasium in Greifenberg in Pommern. Wie viele im gymnasialen Schulwesen tätigen Philologen des 19. Jahrhunderts hat Campe fachwissenschaftliche Beiträge publiziert,410 so z. B. Quaestiones Thucydideae, in denen er sich mit Fragen der Textkritik auseinandersetzt.411 In erster Linie widmete er sich jedoch übersetzerischer Tätigkeit. So übersetzte er, ebenfalls für den Metzler-Verlag in Stuttgart, im Anschluss an seine Thukydidesübertragung auch Polybios412 und Plutarch413. Darüber hinaus publizierte er 1859 im Leipziger Teubner-Verlag die, um einen modernen Begriff zu verwenden, fachdidaktische Schrift Geschichte und Unterricht in der Geschichte, in der er sich ausführlich mit der Frage auseinandersetzt, wie der Geschichtsunterricht an den Gymnasien zu gestalten sei.414 Neben der deutschen Geschichte spielt _____________ 408 Zu dieser Reihe vgl. oben Kap. 5.1. 409 Die biographischen Angaben nach Eckstein (1871), 78. 410 Zum wissenschaftlichen Anspruch der Gymnasiallehrer im 19. Jahrhundert vgl. Baumbach (2002). 411 Campe (1857). 412 Campe (1861–1863). 413 Campe (1857–1859). 414 Campe (1859).

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Deutsche Thukydidesübersetzungen um die Mitte des 19. Jahrhunderts

in seinem Unterrichtskonzept, wie zu dieser Zeit fast selbstverständlich, die griechisch-römische Antike eine zentrale Rolle. In der Einleitung zu seiner Thukydidesübersetzung konzentriert sich Campe vor allem auf das Leben des Thukydides und auf die Entstehung von dessen Geschichtswerk. Nur ganz zum Schluss weist er mit wenigen Worten auf die Problematik der Übersetzung des Peloponnesischen Krieges hin und bezeichnet dieses Unterfangen als »Aufgabe von unendlicher Schwierigkeit«415. Zu seinem Übersetzungskonzept bemerkt er nur, er habe versucht, »die Hoheit und Größe des Thukydides, die antike Haltung der Rede und deutschen Charakter des Ausdrucks miteinander zu vereinen.«416 Diese Formulierung macht deutlich, dass Campe eine Kompromisslösung anstrebt, einen übersetzerischen »Mittelweg«, wie ihn zahlreiche Übersetzer seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts verfolgten.417

Übersetzungsanalyse418 Der Anfang des Geschichtswerks (1, 1) Θουκυδίδης Ἀθηναῖος ξυνέγραψε τὸν πόλεµον τῶν Πελοποννησίων καὶ Ἀθηναίων ὡς ἐπολέµησαν πρὸς ἀλλήλους, ἀρξάµενος εὐθὺς καθισταµένου καὶ ἐλπίσας µέγαν τε ἔσεσθαι καὶ ἀξιολογώτατον τῶν προγεγενηµένων, τεκµαιρόµενος ὅτι ἀκµάζοντές τε ᾖσαν419 ἐς αὐτὸν ἀµφότεροι παρασκευῇ τῇ πάσῃ καὶ τὸ ἄλλο Ἑλληνικὸν ὁρῶν ξυνιστάµενον πρὸς ἑκατέρους, τὸ µὲν εὐθύς, τὸ δὲ καὶ διανοούµενον.

Thukydides aus Athen hat den Krieg zwischen den Peloponnesiern und Athenern beschrieben, wie sie miteinander gekämpft haben. Er begann damit gleich bei dessen Ausbruch und erwartete daß er groß und der denkwürdigste unter allen bisherigen sein werde. Er schloß dieß daraus daß beide Theile, als sie in diesen Krieg traten, in ihrer gesammten Zurüstung in der Fülle der Kraft standen, und außerdem, wie er sah, die übrige griechische Welt sich an die Einen oder an die Andern anschloß, und zwar theils gleich jetzt, theils wenigstens schon daran dachte.

_____________ 415 416 417 418

Campe (1856), Bd. 1, 14. Ebd. Zum übersetzerischen »Mittelweg« vgl. Kitzbichler (2009), 88–94. Campe äußert sich in seiner Einleitung nicht zu der von ihm verwendeten Textausgabe. Der griechische Text folgt hier, soweit nicht anders vermerkt, der zu jener Zeit maßgeblichen Teubner-Ausgabe von Böhme (1851). Campes Übersetzung der Passage aus dem Melierdialog (5, 89) wird hier nicht behandelt, s. oben S. 9 Anm. 30. 419 In der Ausgabe von Böhme ist die Lesart ἦσαν in den Text aufgenommen, Campes Übersetzung setzt aber die hier abgedruckte Lesart ᾖσαν voraus.

Johann Christian Friedrich Campe κίνησις γὰρ αὕτη µεγίστη δὴ τοῖς Ἕλλησιν ἐγένετο καὶ µέρει τινὶ τῶν βαρβάρων, ὡς δὲ εἰπεῖν, καὶ ἐπὶ πλεῖστον ἀνθρώπων. τὰ γὰρ πρὸ αὐτῶν καὶ τὰ ἔτι παλαιότερα σαφῶς µὲν εὑρεῖν διὰ χρόνου πλῆθος ἀδύνατα ἦν, ἐκ δὲ τεκµηρίων ὧν ἐπὶ µακρότατον σκοποῦντί µοι πιστεῦσαι ξυµβαίνει οὐ µεγάλα νοµίζω γενέσθαι οὔτε κατὰ τοὺς πολέµους οὔτε ἐς τὰ ἄλλα.

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Denn es war dieß entschieden die größeste Bewegung für die Griechen und für einen Theil der Barbaren, ja für den größesten Theil der bewohnten Erde. Denn allerdings ließen sich die vorhergehenden und die noch älteren Zeiten wegen der Länge der Jahre nicht mehr mit Sicherheit erkennen; aber aus Gründen denen ich bei meinem Rückblick in fernste Vergangenheit Glauben beimessen muß schließe ich doch daß sie nicht bedeutend gewesen sind weder in den Kriegen noch in den übrigen Beziehungen.420

Betrachtet man zunächst den Anfang der Übersetzung, so erhält man den Eindruck, dass Campe sich in seiner Orientierung zwischen den beiden Polen der ausgangssprachlichen und der zielsprachlichen Übersetzung bewegt. In der Satzstruktur weicht er deutlich vom griechischen Text ab. Während Thukydides einen Hauptsatz konstruiert, den er dann ausdehnt, indem er mehrere Partizipien an das Subjekt anschließt, reiht Campe hier mehrere Hauptsätze mit der kunstlos wirkenden Anapher des Pronomens aneinander (»Er begann [...]. Er schloß dieß daraus daß«). So entsteht gleich zu Anfang des Geschichtswerks in der Übersetzung ein ganz anderer stilistischer Eindruck. Dass sich die sprachliche Struktur sehr viel genauer wiedergeben lässt, hat sich bereits in früheren Übersetzungen gezeigt: nämlich entweder durch die analoge Nachbildung der Partizipien, wie bei stärker sprachmimetisch orientierten Übersetzern, oder mit Nebensätzen. Auch im Folgenden ist auf mehrere Abweichungen vom griechischen Text hinzuweisen. Sprachlich ungenau ist z. B. die Wiedergabe von καθισταµένου (sc. πολέµου) mit »bei dessen Ausbruch«.421 In dem mit κίνησις γὰρ beginnenden Satz lässt Campe dann die Formulierung ὡς δὲ εἰπεῖν unübersetzt und gibt die Präpositionalphrase ἐπὶ πλεῖστον ἀνθρώπων assimilierend mit »für den größesten Theil der bewohnten Erde« wieder. Andererseits werden bestimmte stilistische Phänomene von Campe sehr genau wiedergegeben, etwa die Variatio von Positiv und Superlativ in µέγαν τε ἔσεσθαι καὶ ἀξιολογώτατον τῶν προγεγενηµένων (»daß er groß und der denkwürdigste unter allen bisherigen sein werde«). Besonders hervorzuheben ist auch die Wiedergabe von καὶ τὸ ἄλλο Ἑλληνικὸν ὁρῶν ξυνιστάµενον πρὸς ἑκατέρους, τὸ µὲν εὐθύς, τὸ δὲ καὶ διανοούµενον, die sich stark am griechischen Text orientiert (»und außerdem, wie er sah, die übrige griechische Welt sich an die Einen oder an die Andern anschloß, und zwar theils gleich jetzt, theils wenigstens schon daran dachte«). Ein weiteres Beispiel für Sprachmimesis ist seine Übersetzung _____________ 420 Campe (1856), 15. 421 Vgl. hierzu die Ausführungen zur Übersetzung Böhmes, Kap. 6.1.

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Deutsche Thukydidesübersetzungen um die Mitte des 19. Jahrhunderts

von παρασκευή mit »Zurüstung«. Schließlich sei noch auf die keineswegs selbstverständliche Berücksichtigung der Partikel δή in dem Satz κίνησις γὰρ αὕτη µεγίστη δὴ τοῖς Ἕλλησιν ἐγένετο hingewiesen (»Denn es war dieß entschieden die größeste Bewegung für die Griechen«). Epitaphios (2, 37, 1) Χρώµεθα γὰρ πολιτείᾳ οὐ ζηλούσῃ τοὺς τῶν πέλας νόµους, παράδειγµα δὲ µᾶλλον αὐτοὶ ὄντες τινὶ ἢ µιµούµενοι ἑτέρους. καὶ ὄνοµα µὲν διὰ τὸ µὴ ἐς ὀλίγους ἀλλ᾿ ἐς πλείονας οἰκεῖν δηµοκρατία κέκληται, µέτεστι δὲ κατὰ µὲν τοὺς νόµους πρὸς τὰ ἴδια διάφορα πᾶσι τὸ ἴσον, κατὰ δὲ τὴν ἀξίωσιν, ὡς ἕκαστος ἔν τῳ εὐδοκιµεῖ, οὐκ ἀπὸ µέρους τὸ πλεῖον ἐς τὰ κοινὰ ἢ ἀπ᾿ ἀρετῆς προτιµᾶται,

οὐδ᾿ αὖ κατὰ πενίαν, ἔχων δέ τι ἀγαθὸν δρᾶσαι τὴν πόλιν, ἀξιώµατος ἀφανείᾳ κεκώλυται.

Wir leben nämlich unter einer Verfassung welche nicht die Einrichtungen Anderer nachäfft; vielmehr dienen wir selber eher als Vorbild als daß wir Andere nachahmen sollten. Und der Name zwar den sie trägt ist der der Volksherrschaft, weil die Macht nicht in den Händen Weniger, sondern einer größeren Zahl von Bürgern ruht; ihr Wesen aber ist daß nach den Gesetzen zwar alle persönlichen Vorzüge Niemandem ein Vorrecht verleihen, hinsichts seiner wirklichen Geltung aber Jeder, wie er sich in einem Punkte auszeichnet, im Staatsdienste seine volle Anerkennung findet, eine Anerkennung die nicht auf Parteigetriebe, sondern auf wirklichem Verdienste ruht. Mag daher Jemand arm sein, so ist ihm doch, wenn er nur dem Vaterlande Nutzen zu stiften im Stande ist, durch keine Niedrigkeit der Geburt der Weg zur Auszeichnung verschlossen.422

Im ersten Satz dieses Beispiels fällt vor allem Campes sehr unpassende Wiedergabe des griechischen Verbs ζηλόω auf, für das er den umgangssprachlichen Ausdruck »nachäffen« wählt. Damit weicht Campe in auffälliger Weise von der Stilhöhe des griechischen Textes ab. Bedenkt man, dass es sich hier um eine Leichenrede handelt, in der eine würdevolle Sprachhaltung vorauszusetzen ist, so erscheint diese Übersetzungslösung schwer nachvollziehbar. Aber auch von der Sache her ist ein derart starker Ausdruck nicht gerechtfertigt, denn es geht dem Thukydideischen Perikles ja nicht darum, diejenigen Staaten, die anderen »nacheifern«, lächerlich zu machen. In anderer Hinsicht entspricht die Übersetzung Campes hier aber stilistisch durchaus dem griechischen Text. Vor allem wird die antithetische Struktur der folgenden Sätze von Campe auch im Deutschen herausgearbeitet (»Und der Name _____________ 422 Campe (1856), 144.

Johann Christian Friedrich Campe

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zwar den sie trägt [...]; ihr Wesen aber ist daß nach den Gesetzen zwar [...], hinsichts seiner wirklichen Geltung aber«). Wie schon in seiner Übersetzung des ersten Satzes des Thukydideischen Geschichtswerks achtet Campe also auch an dieser Stelle genau auf die analoge Wiedergabe der Partikeln. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich allerdings auch in diesem Satz, dass Campe die stilistische Eigenart des griechischen Textes nur bis zu einem gewissen Grade darstellt. Um dies deutlich zu machen, soll zunächst noch einmal kurz der griechische Text betrachtet werden. Die von Thukydides hier konstruierte Antithese ist auf für seinen Stil typische Weise asymmetrisch. Als Entsprechung zu ὄνοµα µὲν (»dem Namen nach«) erwartet man etwa »tatsächlich aber«, doch vermeidet Thukydides solch eine klar strukturierte Antithese zwischen »Name« und »Realität«. Campe verleiht seiner Übersetzung nun aber gerade die Art von Symmetrie, die Thukydides vermeidet, indem er seine Übertragung von µέτεστι δὲ κατὰ µὲν τοὺς νόµους πρὸς τὰ ἴδια διάφορα πᾶσι τὸ ἴσον mit der Formulierung »ihr Wesen aber ist« beginnen lässt, die im griechischen Text keine Entsprechung hat. Campe glättet also gewissermaßen die Unebenheiten des Thukydideischen Stils. Eine vergleichbare sprachliche Veränderung gegenüber dem Griechischen, die sich ebenfalls aus dem Bemühen um einen klar verständlichen deutschen Text heraus erklären lässt, ist die unmittelbare Wiederholung des Wortes »Anerkennung«, die hier rein explikative Funktion hat. Die Tendenz zur Explikation lässt sich auch in der Übersetzung des Wortes ἀξίωσις mit »wirkliche Geltung« und von ἀρετή mit »wirklicher Verdienst« erkennen. Auch dies läuft dem Stil des Thukydides zuwider, der ja gerade jedes überflüssige Wort weglässt und dem Leser die Aufgabe zuweist, die kondensierte sprachliche Form des Textes im Verstehensprozess zu entwickeln. Trotz der in manchen Punkten zu erkennenden Bemühung um die Nachbildung stilistischer Phänomene erweist sich Campes Übersetzung an dieser Stelle als tendenziell zielsprachlich. Es geht ihm offenbar in erster Linie darum, einen gut verständlichen deutschen Text zu produzieren. Stilistische Phänomene werden nur insoweit nachgebildet, als sie sich mit diesem Ziel vereinbaren lassen. Pathologie des Krieges (3, 82, 4 f.) καὶ τὴν εἰωθυῖαν ἀξίωσιν τῶν ὀνοµάτων ἐς τὰ ἔργα ἀντήλλαξαν τῇ δικαιώσει. τόλµα µὲν γὰρ ἀλόγιστος ἀνδρία φιλέταιρος ἐνοµίσθη, µέλλησις δὲ προµηθὴς δειλία εὐπρεπής, τὸ δὲ σῶφρον τοῦ ἀνάνδρου πρόσχηµα, καὶ τὸ πρὸς ἅπαν ξυνετὸν ἐπὶ πᾶν ἀργόν·

Auch die gewohnte Geltung der Ausdrücke für die Handlungen wurde jetzt nach ihrem Dafürhalten vertauscht. Denn unkluge Verwegenheit galt für treuergebene Mannhaftigkeit, vorsichtiges Zögern für bemäntelte Feigheit, Besonnenheit für versteckte Mutlosigkeit, Ueberlegung in allen Dingen für Trägheit zu jeder Sache,

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τὸ δ᾿ ἐµπλήκτως ὀξὺ ἀνδρὸς µοίρᾳ προσετέθη, ἀσφαλίᾳ δὲ τὸ ἐπιβουλεύσασθαι ἀποτροπῆς πρόφασις εὔλογος. καὶ ὁ µὲν χαλεπαίνων πιστὸς ἀεί, ὁ δ᾿ ἀντιλέγων αὐτῷ ὕποπτος. ἐπιβουλεύσας δέ τις τυχὼν ξυνετὸς καὶ ὑπονοήσας ἔτι δεινότερος· προβουλεύσας δὲ ὅπως µηδὲν αὐτῶν δεήσει, τῆς τε ἑταιρίας διαλυτὴς καὶ τοὺς ἐναντίους ἐκπεπληγµένος. ἁπλῶς δὲ ὁ φθάσας τὸν µέλλοντα κακόν τι δρᾶν ἐπῃνεῖτο, καὶ ὁ ἐπικολούσας423 τὸν µὴ διανοούµενον.

wahnsinnige Raschheit wurde zu den Eigenschaften eines Mannes gezählt, mit Vorsicht sich zu berathen dagegen als anständiger Grund der Ablehnung betrachtet. Der Leidenschaftliche galt immer als zuverlässig, wer ihm widersprach für verdächtig. Wer einen Anschlag machte war im Fall des Gelingens klug, und wer ihn entdeckte noch geschickter; wer aber im Voraus Sorge trug daß Nichts von diesen Dingen nöthig sei schien auf Auflösung der Verbindung bedacht und voll Zaghaftigkeit vor der Gegenpartei. Und überhaupt wurde gepriesen wer dem zuvorkam der ihm Böses zu thun beabsichtigte, und wer dem eine Wunde beibrachte der keine feindlichen Absichten hegte.424

In stilistischer Hinsicht gelingt es Campe hier mehrfach, wie in seiner Einleitung angekündigt, die Sprachhaltung des Thukydides nachzuahmen. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel hierfür ist die Wiedergabe von καὶ τὸ πρὸς ἅπαν ξυνετὸν ἐπὶ πᾶν ἀργόν mit »Ueberlegung in allen Dingen für Trägheit zu jeder Sache«. Hier setzt Campe die für Thukydides so typische Variatio in geradezu perfekter Weise um. Denn nicht nur der Wechsel der Präposition, sondern auch die Variation von ἅπαν und πᾶν wird von Campe dargestellt. Außerdem gelingt es ihm an mehreren Stellen, Nuancen des griechischen Textes wiederzugeben, die in anderen Übersetzungen verlorengehen. Beispielsweise gibt er τῆς τε ἑταιρίας διαλυτής mit »schien auf Auflösung der Verbindung bedacht« wieder. Damit erreicht Campe zwar nicht die Kürze des Thukydideischen Ausdrucks, erfasst jedoch die Semantik von διαλυτής besser als andere Übersetzer. Es lassen sich allerdings auch in dieser Passage einige problematische Übersetzungslösungen beobachten. So lässt Campe z. B. in seiner Wiedergabe von φιλέταιρος mit »treuergeben« den für die Aussage entscheidenden Bezug auf die Hetairien unberücksichtigt. Besonders auffällig ist dann die Übersetzung des letzten Satzes. Campe hat hier offenbar eine eigene Konjektur, die er in den bereits erwähnten Quaestiones Thucydideae vorschlägt (ἐπικολούσας für das überlieferte ἐπικελεύσας),425 seiner Übersetzung zugrunde gelegt. Campes Begründung für diese Änderung des Textes erscheint jedoch wenig überzeugend. Er stört sich daran, dass, wenn man dem überlieferten Text folgt, in dem Kolon ὁ φθάσας _____________ 423 ἐπικολούσας ist eine von Campe (1857), 17 vorgeschlagene Konjektur für das überlieferte ἐπικελεύσας. 424 Campe (1856), 254. 425 Vgl. Campe (1857), 17.

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τὸν µέλλοντα κακόν τι δρᾶν zwei Gegner, im zweiten Kolon ὁ ἐπικελεύσας τὸν µὴ διανοούµενον zwei Verbündete einander gegenübergestellt werden. Nun ist allerdings keineswegs sicher, ob die beiden in dem ersten Kolon bezeichneten Personen tatsächlich als Gegner aufzufassen sind. Jedenfalls erscheint die Deutung, nach der es sich dabei um Mitglieder derselben Faktion handelt, die gewissermaßen darum wetteifern, ihren Gegnern Schaden zuzufügen, sehr plausibel.426 Davon abgesehen wäre eine solche Unregelmäßigkeit, wie sie Campe im überlieferten Text zu erkennen meint, für Thukydides keineswegs ungewöhnlich, so dass eine Änderung des Textes, der in jedem Fall einen befriedigenden Sinn ergibt, unnötig scheint. Gegen Campes Konjektur spricht außerdem, dass das Verb ἐπικολούειν sonst nicht belegt ist. Dass Campe sich, wie in seiner Einleitung angekündigt, darum bemüht hat, »die Hoheit und Größe des Thukydides, die antike Haltung der Rede und deutschen Charakter des Ausdrucks miteinander zu vereinen«, ist nicht zu verkennen. Sie bietet somit ein gutes Beispiel für jene Art von Übersetzung, die im 19. Jahrhundert als übersetzerischer »Mittelweg« bezeichnet wurde. Campe orientiert sich einerseits an der sprachlichen Struktur des Ausgangstextes und bildet auch die stilistischen Charakteristika des Thukydides teilweise nach, scheut aber auf der anderen Seite nicht davor zurück, Anpassungen an die zielsprachlichen Normen vorzunehmen und im sprachlichen Ausdruck zuweilen erheblich vom Griechischen abzuweichen. Er versucht also den beiden Forderungen nach »Treue« und nach zielsprachlicher Adäquatheit gleichermaßen gerecht zu werden. Dass Campe ganz bewusst eine Strategie des Kompromisses verfolgt, lässt sich besonders gut an seiner selektiven Nachbildung des Thukydideischen Stils erkennen. So bildet er etwa die Variatio oder auch die antithetische Struktur des Ausgangstextes vielfach nach, während er andere stilistische Besonderheiten wie die Brachylogie und die asymmetrische Struktur des Satzbaus unberücksichtigt lässt. Dass er gerade diese beiden stilistischen Besonderheiten, die für das Verständnis des Lesers die größten Schwierigkeiten bereiten, nicht konsequent darstellt, lässt sich auf die Publikumsorientierung Campes zurückführen, die sich auch in seinem Bemühen um »deutschen Charakter des Ausdrucks« manifestiert. Vergleicht man die Übersetzung Campes mit der wenige Jahre zuvor erschienenen Übersetzung Böhmes, so zeigen sich in der Grundtendenz klare Unterschiede. Während Böhme einem dezidiert ausgangssprachlichen Übersetzungskonzept folgt, bemüht sich Campe stärker um die Anpassung des Textes an die deutschen Sprachnormen. Allerdings ist er offenkundig auch um philologische Genauigkeit bemüht. Zwar lassen sich bei Campe vereinzelte Fehlübersetzungen beobachten, doch gewinnt man den Eindruck, dass er insgesamt sehr gründlich gearbeitet und das von ihm zugrundegelegte Übersetzungskonzept konsequent umgesetzt hat. _____________ 426 Vgl. Classen/Steup (1892), Bd. 3, 167: »τὸν µέλλοντα κακόν τι δρᾶν scheint, wie nachher τὸν µὴ διανοούµενον, von einem Genossen, nicht von einem Gegner zu verstehen zu sein.«

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6.3

Adolf Wahrmund: Thukydides, Geschichte des Peloponnesischen Kriegs (1859–1864)

Anders als die beiden in den vorangehenden Abschnitten behandelten Übersetzer war Adolf Wahrmund (1827–1913) nicht als Gymnasiallehrer tätig. Wahrmund, der Philosophie und Theologie in Göttingen sowie Klassische und Orientalische Philologie in Wien studiert hatte, war von 1853 bis 1861 als Collaborator an der Hofbibliothek zu Wien tätig, ab 1862 dann zunächst Dozent, später Professor für orientalische Sprachen an der Universität Wien.427 Seit 1871 war er parallel dazu an der Kaiserlich-königlichen Akademie für Orientalische Sprachen tätig,428 von 1885 bis 1897 als ordentlicher Professor und Leiter der Akademie.429 Die intensive Beschäftigung mit Autoren der griechisch-römischen Antike spielte in der Karriere Wahrmunds nur für einen relativ kurzen Zeitraum eine zentrale Rolle, und zwar während seiner Zeit an der Hofbibliothek in Wien. Danach verschob sich der Schwerpunkt seiner Arbeit auf das Gebiet der Orientalistik. Flankiert wird die Thukydidesübersetzung Wahrmunds durch die 1859 erschienene Schrift Die Geschichtschreibung der Griechen,430 aus der sich eine sehr genaue Vorstellung von seinem Thukydidesbild gewinnen lässt. Er weist hier darauf hin, dass es widersprüchliche Urteile zum Stil des Thukydides gibt, und erwähnt in diesem Zusammenhang die Kritik des Dionys von Halikarnass, aber auch die Aussagen Ciceros und Quintilians.431 Wahrmund gibt zu erkennen, dass er die Kritik des Dionys für abwegig hält, räumt aber immerhin ein, dass der Stil des Thukydides dem Leser einige Anstrengung abverlangt: »Es gehört männlicher Sinn, gereifter Verstand und Geschmack dazu, um seine Darstellung schön zu finden. Er besitzt die Gabe der Erzählung und der Sprache überhaupt in der höchsten Vollendung«432. Ist dieses positive Urteil über den Stil des Thukydides im 19. Jahrhundert auch nicht außergewöhnlich, so ist doch bemerkenswert, dass Wahrmund den Stil des Thukydides geradezu als »schön« apostrophiert. Auch seine anschließend folgende Beschreibung des Thukydideischen Stils weicht in einigen Punkten von den üblichen Mustern ab433: Seine Erzählung ist so flüssig und durchsichtig, daß man ihr die Kunst nicht ansieht, und doch ist sie nur das Werk der höchsten Kunst. Denn trotz der Länge der Perioden und scheinbaren Regellosigkeit des Satzbaus ist es vermieden, den Gedanken im Mindesten zu verwirren oder dem Verlangen des Lesers nach gleichmäßiger Klarheit

_____________ 427 Ein Überblick über die von Wahrmund an der Universität Wien gehaltenen Vorlesungen findet sich bei Bihl (2009), 34. 428 Die Akademie wurde 1754 von Maria Theresia gegründet. Aus ihr ging die noch heute bestehende Diplomatische Akademie Wien hervor. 429 Die biographischen Angaben nach Fück (1955), 187; Bihl (2009), 34 und Kimmel (2009). 430 Wahrmund (1859b). 431 Wahrmund (1859b), 28. 432 Ebd. 433 Ebd., 29.

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den geringsten Anstoß zu geben. Mit ungemeiner Kunst wird darauf hingearbeitet, fast mit jedem Worte der dargestellten Sache eine neue Seite abzugewinnen, mit jedem Worte den Vorstellungen des Lesers von einer andern Seite Licht zufließen zu lassen, und wenn oft am Ende der Periode der Gedanke ein anderer zu sein scheint, als den man am Anfang derselben in Händen zu haben glaubte, so ist das die beabsichtigte Wirkung einer liebevollen Vorsorge, welche mit unsichtbarer Kunst die wunderbar mannigfaltige Verschlingung der menschlichen Dinge in Wort- und Gedankenwendung abzubilden bemüht war. Pedantischem Urtheil gegenüber liegen hierin eben so viel Gründe zum Tadel, wie dem wirklichen Bedürfniß des Lesers thatsächliche Vorzüge geboten sind, nämlich ein mit der Formenfülle der Natur selbst wetteifernder Reichthum an Gedanken und Vorstellungen, in der knappsten und keuschesten Sprachform und ein unendlicher Reiz der Gedankenverknüpfung.

Besonders auffällig ist Wahrmunds Beschreibung des Thukydideischen Stils mit den Begriffen »flüssig«, »durchsichtig« und »klar«. Betrachtet man die folgenden Ausführungen Wahrmunds, so wird besser verständlich, wie er zu dieser auf den ersten Blick abwegig erscheinenden Einschätzung gelangt. Die Hinweise auf die »Länge der Perioden« und die »scheinbare Regellosigkeit des Satzbaus« zeigen, dass Wahrmund sehr wohl die sprachliche Komplexität des Thukydideischen Geschichtswerks wahrnimmt; seine Beschreibung der sprachlichen Überraschungseffekte und des dynamischen Rezeptionsvorgangs erscheint sogar besonders treffend. Wenn Wahrmund von »Klarheit« spricht, so geht es ihm also offenbar um gedankliche Klarheit. In der Tat ist das Resultat der Durchdringung der sprachlichen Schwierigkeiten des Thukydides eine besonders deutliche Erkenntnis der von ihm beschriebenen bzw. analysierten Sachverhalte. Dies ist es ja auch, was Thukydides im Methodenkapitel als Ziel der Beschäftigung mit seinem Werk in Aussicht stellt: τὸ σαφὲς σκοπεῖν (1, 22, 4). Der griechischen Geschichtsschreibung widmete Wahrmund dann auch seine Tätigkeit als Übersetzer; neben seiner Thukydidesübersetzung, die ab 1859 in Stuttgart bei Krais und Hoffmann erschien, ist auch auf seine später erschienene Übersetzung des Diodor hinzuweisen.434 In seiner Geschichtschreibung der Griechen begründet Wahrmund die Beschäftigung mit der antiken Historiographie aus ihrem Nutzen für die Gegenwart heraus. Die griechische Geschichtsschreibung erscheint ihm auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch als vorbildhaft.435 Wahrmunds Beziehung zur griechischen Antike ist also keine distanziertwissenschaftliche; ganz im Gegenteil erscheint die Antike ihm als nachahmenswertes Vorbild. Hieraus ergibt sich auch, dass die Schätze der antiken Geschichtsschreibung einem weiteren Kreis von Lesern zugänglich gemacht werden _____________ 434 Wahrmund (1866–1869). 435 Vgl. Wahrmund (1859b), 123 f.: »So lange nun unsere Wissenschaft noch beschäftigt ist, die Massen des historischen Stoffes zu bewältigen und zu sichten, und unsere Sprache noch ringt, in Fülle und Beweglichkeit zum Ausdruck unseres Gemüths- und Geisteslebens geschickter zu werden, um dann eine neue klassische Periode der Geschichtschreibung herbeizuführen, so lange haben wir kein anderes Mittel, um uns die Aufgabe der vollendeten Geschichtschreibung gegenwärtig zu erhalten, und keinen anderen Maßstab, um den jedesmaligen Werth moderner Historiographie zu bestimmen, als die k l a s s i s c h e n G e s c h i c h t s c h r e i b e r d e r G r i e c h e n .«

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sollen. Dass er seine Übersetzung für ein solches Publikum konzipiert hat, geht aus seinen Aussagen im Vorwort zu seiner Thukydidesübersetzung hervor, in dem er, wenn auch nur ganz kurz, über die Absichten Auskunft gibt, die er mit seiner Übersetzung verfolgt436: Dieser neuen Uebersetzung des großen Geschichtschreibers wünscht der Verdeutscher, daß sie ihr bescheidenes Theil beitragen möge, den Schatz politischer Weisheit und richtiger Beurtheilung menschlicher Dinge, welche das Buch auszeichnen und es zu »einem Besitzthum für alle Zeiten« machen, mehr und mehr auch in den Besitz unseres Volks zu bringen. Die Aehnlichkeit der Zustände in geistigen und politischen Dingen im damaligen Hellas und im heutigen Deutschland ist zwar nicht so groß, wie Viele glauben und fürchten, aber doch immer groß genug, um für unsere Gegenwart reiche Belehrung und Zurechtweisung zu bieten, und das Geschichtswerk des Thukydides ist das Buch, welches solche am reichlichsten enthält.

Explizite Aussagen zu Fragen der Übersetzungstheorie fehlen hier zwar; dass Wahrmund sich selbst als »Verdeutscher« präsentiert, gibt aber einen Hinweis auf die Übersetzungskonzeption, die er seiner Arbeit zugrunde legt. Auch wenn der Begriff des »Verdeutschens« an sich offen ist und bisweilen fast als Synonym für »Übersetzung« verwendet wird, suggeriert er doch ein assimilierendes Verfahren. Bedenkt man ferner, dass im Hintergrund die während des 19. Jahrhunderts geführte Auseinandersetzung zwischen den Verfechtern eines sprachmimetischen, »verfremdenden« Übersetzens in der Tradition von Voß und Schleiermacher und den Befürwortern eines assimilierenden, »verdeutschenden« Übersetzens, wie es von Karl Schäfer propagiert worden war, steht, so kann man die Verwendung des Begriffs »Verdeutschen« an dieser Stelle geradezu als programmatisch auffassen.

Übersetzungsanalyse437 Der Anfang des Geschichtswerks (1, 1) Θουκυδίδης Ἀθηναῖος ξυνέγραψε τὸν πόλεµον τῶν Πελοποννησίων καὶ Ἀθηναίων ὡς ἐπολέµησαν πρὸς ἀλλήλους,

Thukydides, Bürger von Athen, hat den Krieg der Peloponnesier und Athener beschrieben, wie ihn beide Theile gegen einander geführt,

_____________ 436 Wahrmund (1864), Bd. 1, V. 437 Der Übersetzung Wahrmunds liegt in erster Linie die Ausgabe Krügers zugrunde, er macht jedoch keine Angabe dazu, welche Auflage er verwendet hat. Es wird hier die zweite Auflage (1855–1861), deren Hefte zur Zeit des Erscheinens der Übersetzungen der jeweiligen Bücher seit einigen Jahren vorlagen, als Ausgangstext abgedruckt. Wahrmunds Übersetzung der Passage aus dem Melierdialog (5, 89) wird hier nicht behandelt, s. oben S. 9 Anm. 30.

Adolf Wahrmund ἀρξάµενος εὐθὺς καθισταµένου καὶ ἐλπίσας µέγαν τε ἔσεσθαι καὶ ἀξιολογώτατον τῶν προγεγενηµένων, τεκµαιρόµενος ὅτι ἀκµάζοντές τε ᾖσαν438 ἐς αὐτὸν ἀµφότεροι παρασκευῇ τῇ πάσῃ καὶ τὸ ἄλλο Ἑλληνικὸν ὁρῶν ξυνιστάµενον πρὸς ἑκατέρους, τὸ µὲν εὐθύς, τὸ δὲ καὶ διανοούµενον. κίνησις γὰρ αὕτη µεγίστη δὴ τοῖς Ἕλλησιν ἐγένετο καὶ µέρει τινὶ τῶν βαρβάρων, ὡς δὲ εἰπεῖν, καὶ ἐπὶ πλεῖστον ἀνθρώπων. τὰ γὰρ πρὸ αὐτῶν καὶ τὰ ἔτι παλαιότερα σαφῶς µὲν εὑρεῖν διὰ χρόνου πλῆθος ἀδύνατα ἦν, ἐκ δὲ τεκµηρίων ὧν ἐπὶ µακρότατον σκοποῦντί µοι πιστεῦσαι ξυµβαίνει οὐ µεγάλα νοµίζω γενέσθαι οὔτε κατὰ τοὺς πολέµους οὔτε ἐς τὰ ἄλλα.

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und er hat das Werk gleich beim Ausbruche des Kriegs begonnen, weil er voraussah, daß derselbe sehr wichtig und viel merkwürdiger als alle früher geführten werden müsse. Denn er war Augenzeuge, wie beide Theile in jeder Art der Kriegsrüstung das Vollkommenste erreicht hatten, als sie ihn begannen, und sah, daß auch alle übrigen Hellenischen Staaten sich entweder der einen oder andern Partei bereits anschlossen oder doch im Sinne hatten, es zu thun. Und wirklich ist dieser Krieg für die Hellenen und einen Theil der barbarischen Völker, ja man kann fast sagen, für einen sehr großen Theil der Menschheit zu der gewaltigsten Erschütterung geworden. Zwar war es mir wegen der Länge des Zeitraums unmöglich, eine deutliche Vorstellung von den Begebenheiten zu gewinnen, welche sich vor diesem Krieg und in noch früherer Zeit ereignet haben, aber ich schließe doch aus gewissen Anzeichen, die ich bei meinen in die ältesten Zeiten zurücksteigenden Forschungen als zuverlässig erkannt habe, daß in früherer Zeit weder im Kriege noch sonst wie Großes geschehen ist.439

Die Übersetzung Wahrmunds weist im Vergleich zu den zeitgleich erschienenen Übersetzungen Böhmes und Campes stärkere Abweichungen vom Ausgangstext auf. Schon die Übersetzung von Ἀθηναῖος mit »Bürger von Athen« zeigt, dass Wahrmund ein eher zielsprachenorientiertes Übersetzungskonzept verfolgt. In den bisher betrachteten Übersetzungen aus dem 19. Jahrhundert waren demgegenüber die Ausdrücke »von/aus Athen« bzw. »der/ein Athenäer« gewählt worden. Wie sich im Folgenden zeigen wird, ist die übersetzerische Freiheit an dieser Stelle bezeichnend für Wahrmunds Umgang mit dem griechischen Text. Im unmittelbaren Anschluss fällt dann vor allem die Übersetzung des Partizips ἀρξάµενος auf. Betrachtet man frühere Übersetzungen, so lassen sich im Wesentlichen drei verschiedene Übersetzungslösungen beobachten, die sich alle vertreten lassen: sprachmimetisch als deutsches Partizip (Bredow, Müller), mit _____________ 438 In der Ausgabe von Krüger ist die Lesart ἦσαν in den Text aufgenommen. Wahrmunds Übersetzung scheint allerdings die hier abgedruckte Lesart ᾖσαν vorauszusetzen. 439 Wahrmund (1859a), 1 f.

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einem Nebensatz (Klein, Böhme) oder mit einem neuen Hauptsatz (Heilmann, Jacobi, Osiander, Campe). Die Lösung Wahrmunds ist deshalb besonders unglücklich, weil sie das Partizip ἀρξάµενος auf eine Ebene mit der zentralen Aussage des Satzes (Θουκυδίδης Ἀθηναῖος ξυνέγραψε τὸν πόλεµον τῶν Πελοποννησίων καὶ Ἀθηναίων) rückt und somit die Satzhierarchie nicht akkurat darstellt. Epitaphios (2, 37, 1) χρώµεθα γὰρ πολιτείᾳ οὐ ζηλούσῃ τοὺς τῶν πέλας νόµους, παράδειγµα δὲ µᾶλλον αὐτοὶ ὄντες τινὶ ἢ µιµούµενοι ἑτέρους. καὶ ὄνοµα µὲν διὰ τὸ µὴ ἐς ὀλίγους ἀλλ᾿ ἐς πλείονας οἰκεῖν δηµοκρατία κέκληται, µέτεστι δὲ κατὰ µὲν τοὺς νόµους πρὸς τὰ ἴδια διάφορα πᾶσι τὸ ἴσον, κατὰ δὲ τὴν ἀξίωσιν, ὡς ἕκαστος ἔν τῳ εὐδοκιµεῖ, οὐκ ἀπὸ µέρους τὸ πλεῖον ἐς τὰ κοινὰ ἢ ἀπ᾿ ἀρετῆς προτιµᾶται, οὐδ᾿ αὖ κατὰ πενίαν, ἔχων δέ τι ἀγαθὸν δρᾶσαι τὴν πόλιν, ἀξιώµατος ἀφανείᾳ κεκώλυται.

Wir haben eine Verfassung, welche die Gesetzgebung anderer Staaten nicht nachahmt, im Gegentheile sind wir selbst viel mehr Andern zum Muster, als daß wir Auswärtige nachahmen. Und mit Recht wird sie, weil nicht bei Wenigen, sondern bei der großen Menge die Gewalt ist, Volksherrschaft genannt. Es hat nämlich in eigenen Sachen Jeder gleiches Recht mit dem Andern, und was Staatswürden anlangt, so wird nicht bevorzugt, wer einer besonderen Kaste angehört, sondern Jeder, je nachdem er grade in irgend einem Fache Werthschätzung genießt oder Tüchtigkeit zeigt. Und auch nicht der Armuth wegen, wenn er nur dem Staate irgendwie nützen kann, legt Einem die Unscheinbarkeit seines Standes ein Hinderniß in den Weg.440

Dass Wahrmund die sprachliche Struktur des Ausgangstextes nur bedingt berücksichtigt, wird auch in dieser Passage sehr deutlich. Schon im ersten Satz fällt die Wiederholung des deutschen Ausdrucks »nachahmen« auf, wohingegen im Griechischen zwei verschiedene Ausdrücke stehen, nämlich ζηλόω und µιµέοµαι. Eine entsprechende Wiedergabe im Deutschen würde, wie zahlreiche frühere Übersetzungen belegen, keinerlei Schwierigkeiten bereiten: Mit »nacheifern« und »nachahmen« stehen im Deutschen zwei Ausdrücke zur Verfügung, durch die sich der Unterschied zwischen ζηλόω und µιµέοµαι sehr gut abbilden lässt. Doch spielen nicht nur semantische Gesichtspunkte hier eine Rolle. Auch in stilistischer Hinsicht erscheint die Übersetzung beider Ausdrücke mit »nachahmen« problematisch, da die Vermeidung solcher unmittelbaren Wiederholungen ein Grundprinzip des Thukydideischen Stils darstellt. _____________ 440 Wahrmund (1861), 125.

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Gravierender ist jedoch die sprachliche Ungenauigkeit im darauffolgenden Satz. Wahrmund setzt sich hier über den griechischen Wortlaut hinweg, indem er ὄνοµα mit dem deutschen Ausdruck »mit Recht« wiedergibt. Aus dieser Übersetzungsentscheidung ergibt sich, dass die Antithese, die Thukydides hier konstruiert (ὄνοµα µέν – µέτεστι δέ), nicht nachgebildet wird. Wahrmund deutet den mit µέτεστι δέ beginnenden Satz denn auch als Erklärung des vorangehenden (»Es hat nämlich in eigenen Sachen Jeder gleiches Recht mit dem Andern«). Man kann hier leicht erkennen, wie Wahrmund nicht nur einzelne Ausdrücke, sondern den gesamten Gedankenzusammenhang in seiner Übersetzung stark verändert. Bietet die eben besprochene Stelle bereits zahlreiche Beispiele für Abweichungen vom Ausgangstext, so zeigen sich im weiteren Verlauf der Übersetzung des Epitaphios noch weitergehende Veränderungen. Eine Stelle, an der sich Wahrmund besonders weit vom griechischen Text entfernt, findet sich gegen Ende von Kap. 42. Perikles lobt hier die Gefallenen für ihre Bereitschaft, sich für ihre Stadt zu opfern, und schildert die Motive, die sie veranlassten, ihr eigenes Leben herzugeben. Er rühmt die Furchtlosigkeit, mit der die Gefallenen in den Tod gingen, und tröstet zugleich die Angehörigen durch den Hinweis darauf, dass der Tod in einem kurzen Augenblick stattgefunden habe. Man vergleiche den Wortlaut bei Thukydides mit der Übersetzung Wahrmunds441: ... καὶ δι᾿ ἐλαχίστου καιροῦ τύχης ἅµα ἀκµῇ τῆς δόξης µᾶλλον ἢ τοῦ δέους ἀπηλλάγησαν.

[...] und im kurzen Schicksalsaugenblicke, vom höchsten Ruhmesodem, nicht von Furcht umflossen, sind sie geschieden.442

Hier löst sich Wahrmund in einem Anflug poetischer Expressivität vollständig vom Ausgangstext. An die Stelle der nüchtern-erhabenen Formulierung, die Thukydides Perikles in den Mund legt, tritt in der Übersetzung ein poetisch eingefärbtes, pathetisch wirkendes Bild. Mag dies auch ein besonders extremes Beispiel sein, so ist die Stelle doch bezeichnend für den teilweise sehr freien Umgang Wahrmunds mit dem griechischen Text. Pathologie des Krieges (3, 82, 4 f.) καὶ τὴν εἰωθυῖαν ἀξίωσιν τῶν ὀνοµάτων ἐς τὰ ἔργα ἀντήλλαξαν τῇ δικαιώσει. τόλµα µὲν γὰρ ἀλόγιστος ἀνδρία φιλέταιρος ἐνοµίσθη, µέλλησις δὲ προµηθὴς δειλία εὐπρεπής,

_____________ 441 Thuc. 2, 42, 4. 442 Wahrmund (1861), 129.

Ja sogar die gewohnte Bedeutung der Worte, wie sie zur Würdigung der Thaten dienen, änderte man nach Belieben. Tobsüchtige Verwegenheit galt als treufreundliche Tapferkeit; in wohlüberlegter Bedächtigkeit sah man Beschönigung der Feigheit,

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τὸ δὲ σῶφρον τοῦ ἀνάνδρου πρόσχηµα, καὶ τὸ πρὸς ἅπαν ξυνετὸν ἐπὶ πᾶν ἀργόν, τὸ δ᾿ ἐµπλήκτως ὀξὺ ἀνδρὸς µοίρᾳ προσετέθη, ἀσφαλείᾳ δὲ τὸ ἐπιβουλεύσασθαι ἀποτροπῆς πρόφασις εὔλογος. καὶ ὁ µὲν χαλεπαίνων πιστὸς ἀεί, ὁ δ᾿ ἀντιλέγων αὐτῷ ὕποπτος. ἐπιβουλεύσας δέ τις τυχὼν ξυνετὸς καὶ ὑπονοήσας ἔτι δεινότερος· προβουλεύσας δέ, ὅπως µηδὲν αὐτῶν δεήσει, τῆς τε ἑταιρίας διαλυτὴς καὶ τοὺς ἐναντίους ἐκπεπληγµένος. ἁπλῶς τε ὁ φθάσας τὸν µέλλοντα κακόν τι δρᾶν ἐπῃνεῖτο καὶ ὁ ἐπικελεύσας τὸν µὴ διανοούµενον.

und besonnenes Maßhalten erschien als Vorwand der Unmännlichkeit, und wer überall vernünftig handeln wollte, galt überall als schlafsüchtig; für ein Stück Männlichkeit aber hielt man es, wenn Einer aufbrauste wie ein Wahnsinniger. Wer vorsichtig mit sich zu Rathe gehen wollte, schien nur einen anständigen Vorwand zu suchen, sich ganz aus der Sache zu ziehen. Wer recht schimpfen konnte, der galt überall als ein zuverlässiger Mann, wer ihm aber widersprach, der wurde verdächtig. Hatte Einer den Andern listig zu Fall gebracht, so galt er für klug, für noch tüchtiger aber der, welcher rechtzeitig Lunte gerochen hatte. Wer aber von vorn herein seine Sache so gestellt hatte, daß er nichts dergleichen bedurfte, von dem hieß es, er störe die Freundschaft und fürchte die Gegner. Ueberhaupt wurde dem Beifall geschenkt, der dem Andern zuvorkam, wenn dieser ihm einen Streich spielen wollte, und der Andere eben dazu aufstachelte, die keine feine Nase hatten.443

In der Wiedergabe der Begriffsverschiebungen, die Thukydides hier verzeichnet, erstrebt Wahrmund nur sporadisch eine genaue Nachbildung der einzelnen Ausdrücke. An mehreren Stellen löst er sich sogar deutlich vom griechischen Text, so etwa in seiner Wiedergabe von ἀλόγιστος mit »tobsüchtig«. Mag sich das Verhalten, das hier als ἀλόγιστος bezeichnet wird, auch letztlich in »tobsüchtigem« Verhalten äußern, so bezeichnet das Adjektiv doch zunächst nur einen Mangel an besonnener Überlegung. Besonders frei ist auch seine Übersetzung von ἀργόν mit »schlafsüchtig«. Wahrmund versucht hier möglicherweise die Art von Sprache nachzubilden, die die radikalen Elemente innerhalb des Parteienkampfes verwendet haben könnten. Doch entspricht dies nicht dem Ausgangstext. Thukydides bedient sich hier nämlich eines relativ neutralen Vokabulars und bildet gerade nicht die Sprache der »Gosse« oder des »Pöbels« nach. Bezeichnend für die Tendenz Wahrmunds, den griechischen Text dem deutschen Sprachgebrauch anzupassen, ist seine Wiedergabe von ὑπονοήσας mit dem bildlichen Ausdruck »welcher rechtzeitig Lunte gerochen hatte«. Als Umschrei_____________ 443 Wahrmund (1863), 236 f.

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bung für das von Thukydides hier Intendierte ist diese Übersetzung durchaus vertretbar, doch weicht sie sprachlich und stilistisch offenkundig völlig vom Ausgangstext ab. Zum einen wird die äußerste Knappheit des Thukydides durch die umschreibende Formulierung Wahrmunds preisgegeben, zum anderen stellt die Verwendung der kolloquialen Redensart »Lunte riechen« eine stilistische Verschiebung gegenüber dem sachlich-nüchternen Ton des Ausgangstextes dar. Vor allem aber handelt es sich dabei um einen sehr auffälligen Anachronismus, da der deutsche Ausdruck ja die Erfindung des Schwarzpulvers voraussetzt. Ausgangspunkt der Betrachtung waren Wahrmunds Aussagen in seiner 1859 – also im selben Jahr wie der erste Band seiner Thukydidesübersetzung – erschienenen Schrift Die Geschichtschreibung der Griechen gewesen. Es zeigte sich, dass das Geschichtswerk des Thukydides für Wahrmund auch im 19. Jahrhundert noch ein Muster darstellt, das er nicht bloß als Objekt philologischer Auseinandersetzung betrachtet, sondern als ein historisches bzw. politisches »Lehrbuch«. Insofern nimmt Wahrmund die ursprüngliche Konzeption des Thukydides, der sein Werk als »Besitz für alle Zeiten« charakterisiert hatte, ernst. Mit seiner Übersetzung beabsichtigt er, wie er im Vorwort erklärt, das »deutsche Volk« in den Besitz dieses Werkes zu bringen. Um dieses Ziel zu erreichen, ist aus seiner Sicht offenbar ein assimilierendes Übersetzungsverfahren erforderlich. Dementsprechend orientiert er sich in der sprachlichen Gestaltung seiner Übertragung an den Lesegewohnheiten des Zielpublikums und verändert zuweilen deutlich die sprachliche Struktur.

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»Den Buchstaben verachten und dem Geiste folgen«: Deutsche Thukydidesübersetzungen am Ende des Kaiserreichs

Nachdem in den 1850er und 1860er Jahren gleich drei vollständige Thukydidesübersetzungen erschienen waren, sollte fast ein halbes Jahrhundert vergehen, bis August Horneffer und Theodor Braun erneut den Versuch unternahmen, den Peloponnesischen Krieg ins Deutsche zu übertragen. Allerdings gab es im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts Neuauflagen einiger älterer Übersetzungen, die erwähnt werden müssen. So erschien die ursprünglich zwischen 1826 und 1829 im Stuttgarter Metzler-Verlag publizierte Übersetzung von Christian Nathanael Osiander in zahlreichen Auflagen bis in die 1880er Jahre hinein. Auch die Übersetzung von Johann David Heilmann aus dem Jahre 1760 wurde neu aufgelegt: Sie erschien 1884 im Reclam-Verlag, dessen Universalbibliothek sich weiter Verbreitung erfreute.444 Somit blieb die Übersetzung Heilmanns, die noch ganz im Stil der frühen Aufklärung verfasst war, weiterhin eine der am stärksten rezipierten Thukydidesübersetzungen. Dass man gegen Ende des 19. Jahrhunderts wieder zur ersten Thukydidesübersetzung zurückkehrte, ist für die Entwicklung der deutschen Übersetzungskultur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchaus bezeichnend. Diese Entwicklung lässt sich, vereinfacht gesprochen, als eine Abwendung vom sprachmimetischen hin zu einem assimilierenden Übersetzungsparadigma beschreiben. Sie zeigt sich auch in der sich wandelnden Orientierung der Übersetzungsreihen: War die philologische Genauigkeit für die im MetzlerVerlag erschienenen Übersetzungen noch ein fundamentales Postulat gewesen, so tritt nun immer stärker eine Publikumsorientierung hervor. Das beste Beispiel hierfür ist die »Langenscheidt’sche Bibliothek sämtlicher griechischen und römischen Klassiker«, bei der sich der Schwerpunkt gegenüber der im Metzler-Verlag erschienenen Reihe von der sprachlichen Treue hin zur Sinntreue und zum Bemühen um zielsprachliche Qualität verlagerte.445 Auch bei angesehenen Klassischen Philologen lässt sich eine Tendenz hin zum assimilierenden Übersetzen beobachten.446 An erster Stelle ist hier Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff zu nennen, der wohl bedeutendste Philologe seiner _____________ 444 Zu den Übersetzungen antiker Texte in Reclams »Universal-Bibliothek« vgl. Irmscher (1967) und Lubitz (2009), 122 f. 445 Zur Langenscheidt’schen Reihe vgl. Lubitz (2009), 120–122. 446 Einen Überblick über die Übersetzungsreflexionen innerhalb der Klassischen Philologie von der Mitte des 19. bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts bietet Lubitz (2009), 185–195.

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Zeit. In dem Aufsatz »Was ist übersetzen?«, der zunächst 1891 als Vorwort zu seiner zweisprachigen Ausgabe des Hippolytos von Euripides erschien und dann in überarbeiteter Form in dem Band Reden und Vorträge publiziert wurde,447 skizziert Wilamowitz ein Übersetzungskonzept, das als radikaler Gegenentwurf zu dem von Voß und Schleiermacher um 1800 etablierten sprachmimetischen Paradigma zu sehen ist. Angesichts der kardinalen Stellung dieses Aufsatzes, der gewissermaßen einen zweiten Paradigmenwechsel in der deutschen Übersetzungskultur – zumindest im Bereich der Übersetzung aus den Alten Sprachen – markiert, sollen einige der zentralen Aussagen von Wilamowitz hier etwas genauer betrachtet werden.448 Ausgangspunkt ist das Verhältnis von Philologie und Übersetzen. Philologisches Wissen wird von ihm als notwendige, nicht aber hinreichende Voraussetzung für gute Übersetzungen hingestellt.449 Wilamowitz geht unter Verweis auf Moriz Haupt auch auf die ablehnende Haltung zum Übersetzen ein, die im 19. Jahrhundert in der Klassischen Philologie vorherrschte. Grundsätzlich stellt er zwar fest, dass Übersetzen aufgrund der Verschiedenheit der Sprachen eigentlich unmöglich sei und dass sich einzelne Wörter nicht übersetzen ließen, doch betont er, dass man nicht nur »den Gedanken […], sondern auch das Ethos der Rede wiedergeben«450 könne. Wie dies erreicht werden soll, erläutert er folgendermaßen451: Es gilt auch hier, den Buchstaben verachten und dem Geiste folgen, nicht Wörter noch Sätze übersetzen, sondern Gedanken und Gefühle aufnehmen und wiedergeben. Das Kleid muß neu werden, sein Inhalt bleiben. Jede rechte Übersetzung ist Travestie. Noch schärfer gesprochen, es bleibt die Seele, aber sie wechselt den Leib: die wahre Übersetzung ist Metempsychose.

Wilamowitz widerspricht also fundamental der Schleiermacher’schen Übersetzungstheorie, derzufolge Inhalt und sprachliche Form sich gerade nicht trennen lassen, und zeigt somit eine theoretische Orientierung, die eher ins 18. Jahrhundert zu passen scheint und die theoretischen Überlegungen von Schleiermacher bewusst ignoriert.452 Wilamowitz dreht das Rad der Entwicklung also gewissermaßen hinter den übersetzungstheoretischen Paradigmenwechsel um 1800 zurück. Dies wird auch an der von ihm verwendeten Metaphorik deutlich. Mit dem Bild des Umkleidens greift Wilamowitz nämlich auf übersetzungstheoretische Konzeptionen aus dem 18. Jahrhundert zurück.453 Auch die Metapher der _____________ 447 Zu den Unterschieden in den verschiedenen Fassungen des Aufsatzes vgl. Lubitz (2009), 196 Anm. 424. Im Folgenden wird der Aufsatz nach der vierten Auflage der Reden und Vorträge aus dem Jahre 1925/1926 zitiert. 448 Eine ausführlichere Behandlung der Übersetzungskonzeption von Wilamowitz bietet Lubitz (2008) und (2009), 196–207. Vgl. außerdem Sdun (1967), 73–76. und Apel (1982), 153–157. 449 Wilamowitz-Moellendorff (1925), 1 f. 450 Wilamowitz-Moellendorff (1925), 8. 451 Ebd. 452 Vgl. Apel/Kopetzki (2003), 93 f. 453 Vgl. Lubitz (2009), 202 mit Anm. 453.

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»Metempsychose« verweist auf eine historisch weit zurückliegende Übersetzungskultur, nämlich die Frankreichs im 17. Jahrhundert. D’Ablancourt, der bedeutendste Vertreter der damals dominierenden Übersetzungsrichtung, deren Werke als belles infidèles apostrophiert wurden,454 hatte im Vorwort zu seiner Thukydidesübersetzung von 1662 ebenfalls den Begriff der »Metempsychose« verwendet, um sein Übersetzungsideal zu beschreiben.455 Angesichts der Tatsache, dass es sich hierbei um einen sehr außergewöhnlichen Ausdruck handelt, ist es wahrscheinlich, dass Wilamowitz bewusst auf d’Ablancourt anspielt.456 Angesichts dieser Nähe zu Übersetzungskonzeptionen des 17. bzw. 18. Jahrhunderts ist es konsequent, dass Wilamowitz die deutsche Übersetzungskultur des frühen 19. Jahrhunderts, die von dem Bemühen um »Treue« im Sinne der Sprachmimesis geprägt war, ablehnt. Mit den »klassischen« deutschen Übersetzungen rechnet er denn auch gnadenlos ab457: Es soll im Deutschen vortreffliche Übersetzungen der Griechen geben; so sagt man. Es ist eine gedankenlos oder böswillig nachgesprochene Unwahrheit. Wenn das die Feinde unserer Kultur sagen und damit begründen, daß man Griechisch nicht zu lernen brauchte, so ist das begreiflich. Sie erreichen so ihr Ziel: nichts ist geeigneter die Originale zu verekeln als die Übersetzungen. Aber ernsthafte Männer sollten sich schämen, so der Wahrheit ins Gesicht zu schlagen. Schleiermachern verdanken wir es, daß wir den wirklichen Platon wieder verstehen; aber ist etwa seine Übersetzung lesbar? liest sie jemand? Was hat den ehrlichen Menschen die attische Tragödie mehr verekelt als die Hobelbank Donners? [...] Aber wir haben ja unseren Johann Heinrich Voß, den Schöpfer der ›saumnachschleppenden Weiber‹, des ›helmumflatterten Hektor‹, des ›hurtig mit Donnergepolter entrollenden Felsblocks‹. Es ist nicht wenig, was der Eutiner erreicht hat, er hat einen Stil geschaffen, mit dem der Deutsche wohl oder übel den Begriff homerisch verbindet, obwohl Trivialität und Bombast seine Hauptkennzeichen sind, Fehler, in die nur die geringsten Homeriden verfallen.

Eine schärfere Kritik an der von Voß und Schleiermacher herführenden deutschen Übersetzungstradition lässt sich kaum denken. Auffällig ist vor allem der aggressive Ton dieser in manchen Aspekten durchaus nachvollziehbaren Kritik. Wilamowitz unterstellt nämlich denjenigen, die diese Übersetzungstradition positiv bewerten, dass sie eine Art Kulturkampf führten. Die Übersetzungen dienten den »Feinde[n] unserer Kultur« nach diesem gedanklichen Konstrukt geradezu als Waffen gegen die Alten Sprachen und somit gegen den Humanismus. Um die Schärfe dieser Polemik nachvollziehen zu können, ist es erforderlich, sich die zeitgenössische Kontroverse um die Rolle des altsprachlichen Unterrichts und die Veränderungen in der Struktur des gymnasialen Schulwesens vor Augen _____________ 454 Zu den belles infidèles vgl. die Überblicksdarstellung von Graeber (2007). 455 D’Ablancourt (1662), o. P. 456 Möglicherweise rezipiert Wilamowitz die Metapher der »Metempsychose« vermittelt über Schopenhauer oder Herder, die den Begriff beide im Zusammenhang des Übersetzens verwenden; vgl. Lubitz (2009), 202 Anm. 454. 457 Wilamowitz-Moellendorff (1925), 8 f.

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zu führen, auf die Wilamowitz hier Bezug nimmt.458 Während das humanistische Gymnasium bis 1870 die Voraussetzung für das Studium und somit für den Eintritt in den höheren Staatsdienst gebildet hatte, wurde nunmehr die Stellung der Realgymnasien und der Oberrealschulen gestärkt. Dass das humanistische Gymnasium zunehmend unter Rechtfertigungszwang geriet, hing mit vielfältigen Faktoren zusammen.459 Zum einen sind hier die Forderungen nach einer Berücksichtigung der durch Technik und Industrialisierung geprägten Lebenswirklichkeit im Schulunterricht zu nennen.460 Zugleich wurde die herausragende Stellung, die die antike Kultur und insbesondere die Alten Sprachen im deutschen Bildungswesen genossen, von Seiten nationalistischer Kreise in Frage gestellt, die eine Ausrichtung der Bildung an der deutschen Sprache und Kultur forderten.461 Bezeichnend für diese Stimmung ist die Äußerung Kaiser Wilhelms II. auf der Preußischen Schulkonferenz von 1890, nach der die Jugend nicht zu »junge[n] Griechen und Römer[n]«, sondern zu »nationale[n] junge[n] Deutsche[n]«462 erzogen werden solle.463 Aufgrund dieser Entwicklungen wurde das Altgriechische seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend zurückgedrängt. Dass die Philologen auf diese Bedrohung ihres Status als Träger der Elitenbildung vehement reagierten, ist nachvollziehbar. Da der Aufsatz »Was ist übersetzen?«, wie erwähnt, ursprünglich als Einleitung zu seiner zweisprachigen Ausgabe des Hippolytos konzipiert war, befasst sich Wilamowitz hier fast ausschließlich mit der Übersetzung griechischer Dichtung; doch geht aus der bereits zitierten Kritik an Voß und Schleiermacher hervor, dass für Dichtung und Prosa grundsätzlich vergleichbare Maßstäbe anzulegen seien. Denn Wilamowitz wertet Voßens Homer und Schleiermachers Platon gleichermaßen ab. Auch für die Übersetzung von Prosa, so kann man hieraus schließen, lehnt Wilamowitz ein sprachmimetisches Verfahren ab. Auf die Frage, wie eine Übersetzung griechischer Prosa konkret aussehen könnte, geht Wilamowitz zwar nicht näher ein, doch lassen sich aus einer Fußnote in dem Aufsatz gewisse Rückschlüsse darauf ziehen, welche Art von Übersetzung antiker Prosa ihm vorschwebt464: Die deutschen Übersetzungen des vorigen Jahrhunderts sind, soweit die Verfasser Philologen waren, deshalb veraltet, weil die Sprache überhaupt noch keinen Stil hatte. Unter ihnen befindet sich aber eine Leistung, die dem Philologen recht viel zu denken

_____________ 458 Zu den Auseinandersetzungen um die Struktur des höheren Bildungswesens in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts vgl. Vanča (2006). 459 Eine ausführliche Darstellung der Angriffe auf die humanistische Bildung während des 19. Jahrhunderts und der Legitimationsversuche seitens der Humanisten bietet Landfester (1988). 460 Vgl. Landfester (1988), 203. 461 Vgl. Landfester (1988), 149–158 und Preuße (1988), 16–23. 462 Zitiert nach Landfester (1988), 149. 463 Zur Schulkonferenz von 1890 und zur Umsetzung der dort gefassten Beschlüsse vgl. Vanča (2006), 80–88. 464 Wilamowitz-Moellendorff (1925), 19 Anm. 13.

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gibt, die Übersetzungen Reiskes. Er hat das thukydideische φιλοκαλοῦµεν γὰρ µετ᾿ εὐτελείας καὶ φιλοσοφοῦµεν ἄνευ µαλακίας so übersetzt: »Bei einem geringen Aufwande entgehen wir doch dem Ansehen einer kleinstädtischen Kargheit und Rohheit; vielmehr haben wir uns, unserer Gewohnheit zu Rate zu halten ohngeachtet, dennoch den Ruhm eines nicht filzig noch kleinstädtisch, sondern auf einem artigen Fuße zu leben gewohnten Volkes erhalten«. In dem Stil ist alles. Es ist sehr leicht, darüber zu lachen, und daß Reiske für das Künstlerische gar kein Organ hätte, würde man versucht zu behaupten, wenn er nicht im Griechischen sehr wohl empfände, wo durch die Schuld der Überlieferung ein Stilfehler steckt. Aber der Philologe soll sich doch klar machen, daß ein Reiske nur so viel Worte macht, weil er das gern ausschöpfen möchte, was er in den griechischen Worten findet. Für ihn sind das keine Vokabeln, für ihn lebt die Sprache. Das soll sie auch für uns. Die falsche Methode der ›Treue‹, der ›Versmaße der Urschrift‹ würde niemand mehr verurteilt haben als er, weil er griechisch konnte, also wußte, daß diese Treue die Tochter der Ignoranz ist. In der Vorrede zu seinem deutschen Demosthenes hat Reiske seine Prinzipien dargelegt; der Verständige kann viel daraus lernen. Dies zur Rechtfertigung dafür, daß die Übersetzungen breiter werden und, wo das nicht möglich ist, das Original nicht erschöpfen.

Dass sich Wilamowitz ausgerechnet auf die Übersetzungen Johann Jacob Reiskes bezieht, ist angesichts seiner Übersetzungskonzeption verständlich. Denn die Übersetzungen Reiskes verraten, wie gezeigt wurde,465 einerseits philologische Akribie in der Erarbeitung des Textverständnisses, andererseits entfernt sich Reiske aber in dem Bemühen um ein für das Zielpublikum ansprechendes Deutsch radikal vom Ausgangstext. Die Forderung von Wilamowitz, »nicht Wörter noch Sätze [zu] übersetzen, sondern Gedanken und Gefühle auf[zu]nehmen und wieder[zu]geben« entspricht genau den Vorstellungen Reiskes. Wilamowitz hat sich indes nicht nur theoretisch mit dem Übersetzen beschäftigt, sondern ist auch selber als Übersetzer hervorgetreten und hat die von ihm aufgestellten Prinzipien in die Praxis umzusetzen versucht. Seine Übersetzungen griechischer Tragödien466 orientieren sich an der Weimarer Klassik, weisen daneben aber auch Anklänge an Stile unterschiedlichster Provenienz auf.467 Diese vermeintliche Stillosigkeit wurde Wilamowitz denn auch von verschiedenen Seiten zum Vorwurf gemacht.468 Insbesondere sein Klassizismus, der die deutsche Literatursprache als vollendet begriff, musste für alle diejenigen, die an der Weiterentwicklung der Ausdrucksmöglichkeiten und literarischen Formen arbeiteten, inakzeptabel erscheinen. Die Kritik an Wilamowitz ging jedoch darüber hinaus und berührte grundsätzliche Fragen des Übersetzens. Vor allem die Trennung von _____________ 465 Zur Übersetzungskonzeption Reiskes und zu dessen Thukydidesübersetzung vgl. Kap. 3.3. 466 Wilamowitz-Moellendorff (1899–1923). 467 Schadewaldt (1955), 556 beschreibt den Wilamowitz’schen Übersetzungsstil als »ein seltsames Gemisch von Schiller, Geibel, protestantischem Kirchenlied, spätgoetheschen Rhythmen, Hebbelschem Dialog mit seltsamen Abstürzen in den Alltagsjargon«. Zu den Übersetzungen von Wilamowitz vgl. außerdem Lubitz (2009), 206 f. 468 Zur Kritik an der Übersetzungstheorie und -praxis von Wilamowitz vgl. Lubitz (2009), 209– 220.

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Inhalt und Form, die seiner Übersetzungskonzeption zugrundeliegt, sowie sein Streben nach Popularisierung antiker Texte durch »lebendige« Übersetzungen wurden scharf kritisiert.

7.1

August Horneffer: Thukydides, Der Peloponnesische Krieg (1912)

August Horneffer (1875–1955) hatte in Berlin Musikwissenschaft, Klassische Philologie und Philosophie studiert und 1898 mit einer Arbeit zu dem Komponisten Johann Rosenmüller promoviert.469 Anschließend arbeitete er ab 1899 zusammen mit seinem Bruder Ernst Horneffer (1871–1954), der 1895 in Göttingen bei Wilamowitz mit einer Arbeit zum Hippias maior promoviert wurde,470 am Nietzsche-Archiv in Weimar.471 Wie lange die Brüder Horneffer hier tätig waren, ist nicht bekannt, jedenfalls kam es zu einem Zerwürfnis mit Elisabeth FörsterNietzsche, der Schwester des Philosophen, der die Brüder fehlende Sorgfalt in der Herausgabe der Schriften Nietzsches sowie mangelndes Verständnis seines philosophischen Werkes vorwarfen.472 Die Beschäftigung mit Nietzsche und die Verbreitung seiner Gedanken blieben aber für die Brüder Horneffer, die nach ihrer Tätigkeit am Nietzsche-Archiv weiterhin eng zusammenarbeiteten, von zentraler Bedeutung und fand ihren Niederschlag in einer regen Vortragstätigkeit sowie in diversen Publikationen.473 August Horneffer veröffentlichte in den folgenden Jahren neben dem Buch Nietzsche als Moralist und Schriftsteller474 auch bildungstheoretische Schriften475 sowie eine Reihe von Übersetzungen antiker Autoren, darunter des Thukydides.476 Um die Übersetzung August Horneffers angemessen würdigen zu können, ist es zunächst erforderlich, sich darüber klar zu werden, welche Rolle die Antike in der Bildungskonzeption der Brüder Horneffer spielte. Von besonderer Relevanz ist in diesem Zusammenhang das von beiden Brüdern gemeinsam veröffentlichte Buch Das klassische Ideal aus dem Jahre 1906.477 In dessen zweitem Teil, der von Ernst Horneffer verfasst wurde, wird auch die Rolle von Übersetzungen antiker Texte thematisiert. Ausgangspunkt für die Diskussion der Übersetzungsproblematik ist die Frage, welche Inhalte im schulischen Unterricht vermittelt werden _____________ 469 Horneffer [A.] (1898). 470 Horneffer [E.] (1895). 471 Zur Auseinandersetzung der Brüder Horneffer mit Nietzsche vgl. Cancik/Cancik-Lindemaier (1999), 171–175; Aschheim (1992), 222–225. 472 Vgl. Cancik/Cancik-Lindemaier (1999), 172. 473 Vgl. ebd. 474 Horneffer [A.] (1906a). 475 Horneffer [A.] (1907 und 1908a). 476 Die biographischen Angaben nach Thiel (1957). 477 Horneffer/Horneffer (1906).

August Horneffer

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sollen.478 Eine utilitaristische Bildungskonzeption, wie sie zu jener Zeit von vielen Seiten vertreten wurde und sich in der Aufwertung der Naturwissenschaften sowie der modernen Fremdsprachen konkret manifestierte, lehnt Horneffer ab. Diese Form des Unterrichts stellt nach Horneffer nämlich keine Bildung im eigentlichen Sinne, d. h. keine Formung des Charakters dar, sondern reine Wissensvermittlung. Bildung des Charakters aber könne nur durch geistige Vorbilder gewonnen werden, die in erster Linie in der Literatur zu suchen seien. Die von ihm zunächst in Betracht gezogene Möglichkeit, sich dabei auf die deutsche Literatur zu beschränken, lehnt er deshalb ab, weil sie die antike Literatur voraussetze und folglich erst gewürdigt werden könne, nachdem man diese kennengelernt habe.479 Grundlage für die Aneignung der deutschen Kultur und somit das Fundament der geistigen Bildung überhaupt muss in seinen Augen die Beschäftigung mit der antiken Literatur sein.480 Dieses humanistische Bildungskonzept hätte auch Wilamowitz so weit billigen können. Doch macht Horneffer nun eine angesichts seines philologischen Hintergrundes und seiner idealisierenden Sicht auf die antike Kultur überraschende Einschränkung: Er spricht sich nämlich entschieden dagegen aus, die antiken Werke im Original im Schulunterricht lesen zu lassen.481 Dieses Bestreben, das für das humanistische Gymnasium von zentraler Bedeutung war, hält er geradezu für einen Wahn. Denn angesichts der Fülle von naturwissenschaftlichen und neusprachlichen Lerninhalten, deren Berechtigung Horneffer durchaus anerkennt, sei die Beschäftigung mit den Alten Sprachen eine »ungeheuerliche Überbürdung«482. Im Rahmen des modernen Bildungssystems bleibe die Beschäftigung mit den antiken Werken daher meist bei der sprachlichen Vorarbeit stecken, so dass eine vollständige Lektüre der Werke unmöglich sei und deren Schönheit nicht erfasst werde.483 Auch das Argument, dass man _____________ 478 Vgl. Horneffer [E.] (1906), 255–262. 479 Vgl. ebd., 260. 480 Vgl. ebd., 262: »Unsere Bildung aber ruht ganz und gar auf der Antike. So ist nur von hier aus das Verständnis unserer eigenen Bildung möglich. Erst wenn die Seele die großen seelischen Erlebnisse der menschlichen Vergangenheit nacherlebt hat, wird sie die hohen Erlebnisse der Gegenwart begreifen, miterleben können. Da die Erlebnisse in der Jugendzeit der Menschheit kindlich und einfach, ursprünglich und kräftig waren, sind sie wie geschaffen zur Jugenderziehung. Gerade wie damals die höchsten Genies empfanden, so empfindet jetzt die Jugend. Es ist ein Wahnsinn, diese Harmonie, diese Zusammengehörigkeit für die Erziehung unserer Jugend nicht auszunützen. Wie damals zum erstenmal der Mensch überhaupt dichtete und trachtete, grübelte und sann, lebte und webte, kindlich ernst und einfach, ebenso dichtet und trachtet, lebt und webt noch heute die Jugend. Und darum der einzige und unvergleichliche erzieherische Wert dieser Werke.« 481 Vgl. ebd., 263 f. 482 Ebd., 263. 483 Vgl. ebd., 263 f.: »Jetzt aber ist es eine absurde Zumutung, daß die Jugend zum praktischen Leben vorbereitet werde und zugleich die Schriftwerke der Alten, um daraus die innere Bildung zu schöpfen, im Urtext lesen lerne. Was erreicht denn die Philologie mit ihrer Tätigkeit? Nichts, als daß sie die Jugend mit dem sprachlichen Vorwerk abmartern. Niemals dringt die Jugend durch dieses Dornwerk hindurch zu dem wirklichen Gehalt, der eigentlichen Schönheit der Werke. Bei einzelnen ganz leichten Schriftstellern mag es hin und wieder gelingen. Aber auch

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anhand der Alten Sprachen geistige Fähigkeiten entwickle, lässt er nicht gelten; hierzu seien Mathematik oder die modernen Fremdsprachen besser geeignet.484 Außerdem stelle es eine Entwürdigung der Alten Sprachen dar, sie auf diese Weise als Mittel zum Zweck zu gebrauchen. Diese Ablehnung des altsprachlichen Unterrichts verbunden mit dem Wunsch, die antike Literatur möglichst weiten Kreisen zu vermitteln, führt geradezu zwangsläufig zu folgender Einschätzung Horneffers485: Die einzige Möglichkeit, die Erziehung im klassischen Altertum zu erhalten, was so dringend zu wünschen ist, ist die, daß man diese Werke der Jugend in der Übersetzung reicht. Schlimm, daß die Philologen das nicht längst erkannt haben. Sie haben durch ihr starres Festhalten an der Sprache unser ganzes Volk aus dem Zusammenhang mit der alten Kultur herausgebrochen. Sie tragen die Hauptschuld an dem trostlosen Verfall unserer Bildung. Freilich, die Philologen pflegt ein Schauder zu überlaufen, wenn man das Wort »Übersetzung« nur in den Mund nimmt, weil sie dabei an ihre eigenen schlechten Übersetzungen denken. Im Gedanken an diese Übersetzungen haben sie allerdings ein Recht, alle Übersetzungen als Verunstaltungen des Originals anzusehen, die nichts von dem Zauber des Urbilds bewahren. Aber Philologen können natürlich nicht übersetzen. Zum Übersetzen gehört nämlich zweierlei: erstens das Verständnis des Originals – das will ich den Philologen nicht abstreiten, obwohl sie meist nur bei dem einzelnen haften bleiben – aber zweitens gehört dazu, das, was man in der fremden Sprache gelesen und empfunden hat, in der eigenen Sprache mit der gleichen Einfachheit und Kraft, mit der gleichen Sicherheit und Schönheit wiederzugeben. Und das vermögen selbstverständlich die Philologen nicht. Dazu gehört Genie.

Horneffer konstruiert hier einen scharfen Gegensatz zwischen angemessenen Übersetzungen auf der einen und »schlechten Übersetzungen« auf der anderen Seite. Die Konturen der angemessenen Übersetzungen bleiben allerdings völlig unscharf und beruhen auf subjektiven Begriffen wie »Schönheit«. Völlig undifferenziert ist auch seine vernichtende Kritik an den Übersetzungen der Philologen – gemeint sind hiermit offenbar ausschließlich die professionellen, an den Schulen und Universitäten tätigen Philologen. Wie auch aus anderen Bemerkungen in den Schriften der Brüder Horneffer hervorgeht, hegen sie ein tiefgreifendes Ressentiment gegenüber den professionellen Philologen.486 Sie werfen ihnen vor, dass sie _____________ hier bekommt die Jugend immer nur Teile zu sehen. Aber sie soll gerade das Ganze haben. Gerade das Vollendete, das Charaktervolle, das in einer Gesamtschöpfung liegt, ist das Erhebende, das Bildende. Die ganze Art, wie die alten Schriftwerke an unserer Schule behandelt werden und der Lage der Dinge nach, da man etwas Unmögliches will, behandelt werden mü s s e n , ist vom Standpunkt einer höheren Bildung eine vollkommene Lächerlichkeit. Nichts wird auf diese Weise erreicht, gar nichts, nur daß die Jugend vor den erhabensten Werken der Menschheit einen ewigen Schauder bekommt.« 484 Vgl. ebd., 264. 485 Ebd., 264 f. 486 Vgl. z. B. ebd., 265: »Die Philologen kämpfen eben gar nicht für die Kultur und Bildung, wie sie vorgeben. Sie kämpfen nur für ihre kleine Eitelkeit, weil sie als Lehrer der alten Sprachen nicht entbehrlich sein wollen.« Vgl. außerdem Horneffer [A.] (1906b), 8: »Man hat heute den

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die antike Kultur durch ihre Art der Vermittlung weiteren Kreisen entfremdet hätten. Überhaupt diene ihre Arbeit nicht der Fruchtbarmachung des antiken Erbes in der modernen Kultur, sondern lediglich der Bewahrung ihrer eigenen Privilegien. Horneffers apodiktische Formulierung, derzufolge »Philologen [...] natürlich nicht übersetzen [können]«, muss wohl als Antwort auf Wilamowitz verstanden werden, der ja behauptet hatte, dass nur Philologen übersetzen könnten. In einer Fußnote äußert sich Horneffer auch ausdrücklich zu den Übersetzungen von Wilamowitz487: Es ist sehr bezeichnend, daß der bedeutendste Philologe der Gegenwart, von Wilamowitz-Möllendorff das Bedürfnis nach Übersetzungen der Antike empfindet. Aber darin irrt Wilamowitz, daß er glaubt, diese Übersetzungen selber liefern zu können. Es tut mir leid, daß ich das aussprechen muß, da ich Wilamowitz als Gelehrten und als meinen persönlichen Lehrer, dem ich zu reichem Dank verpflichtet bin, hoch verehre. Wenn diese Übersetzungen dennoch eine starke Wirkung haben, so liegt dies nur an dem Umstand, daß sie klar und durchsichtig sind. Und so groß ist die Macht der Originale, daß sie eben in jeder Form wirken, wenn diese Form nur verständlich ist. Aber die Einfachheit und Schlichtheit der Schönheit ist etwas anderes als die Nüchternheit. Es ist eben von niemand zu verlangen, daß er dichten könne, auch nicht von einem großen Gelehrten. Daß die öffentliche Kritik nicht einmütig gegen diese Übersetzungen Protest erhoben hat, ist mir ein Rätsel. Man sieht daraus, wie viel der große Name tut.

Die Kritik Horneffers, der Wilamowitz mangelndes dichterisches Talent vorwirft, ist zwar sehr bestimmt, hebt sich aber von der Polemik, die sonst teilweise gegen Wilamowitz gerichtet wurde, deutlich ab. Denn ein Aspekt der Übersetzungen von Wilamowitz, nämlich ihre Klarheit, wird durchaus positiv bewertet. Hieraus geht hervor, dass Wilamowitz und Horneffer in ihrer Grundtendenz durchaus übereinstimmen, insofern sie nämlich gleichermaßen daran interessiert sind, den antiken Text – um in der Begrifflichkeit Schleiermachers zu sprechen – zum Leser hinzubewegen. Die Kritik Horneffers richtet sich denn auch nicht gegen die Übersetzungskonzeption von Wilamowitz, sondern gegen dessen aus seiner Sicht undichterische Übersetzungen. Das übersetzerische Programm, das Ernst Horneffer 1906 in Das klassische Ideal skizziert hatte, wurde von den Brüdern Horneffer dann in den folgenden Jahren auch praktisch umgesetzt, und zwar in einer von beiden Brüdern herausgegebenen Übersetzungsreihe mit dem Titel »Antike Kultur. Meisterwerke des Altertums in deutscher Sprache«. Zwischen 1908 und 1912 entfaltete August Horneffer in diesem Rahmen eine äußerst umfangreiche übersetzerische Tätigkeit, die _____________ Glauben an die erziehende Kraft der Griechen vielfach verloren, man ist des Altertums müde, weil man verlernt oder nie gelernt hat, es richtig zu benutzen. Daran mögen die Philologen einen großen Teil der Schuld tragen. Sie, die Träger und Vermittler des Altertums sein sollten, haben es uns, durch den Schulbetrieb und den Wissenschaftsbetrieb, am meisten und gründlichsten verleidet.« 487 Horneffer [E.] (1906), 266 Anm. 1.

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sich sowohl auf griechische als auch auf lateinische Prosa erstreckte. Den Anfang bildete seine Übertragung von Platons Politeia.488 In den folgenden Jahren erschienen dann im regelmäßigen Rhythmus Übersetzungen von Theophrast489, Herodot490, Cicero491 und Tacitus492, im Jahr 1912 schließlich legte er seine Thukydidesübersetzung vor493. Diese war ursprünglich auf zwei Bände angelegt, doch erschien der zweite Band erst nach dem Zweiten Weltkrieg in einer von Gisela Strasburger überarbeiteten Fassung.494 In dem Vorwort zu August Horneffers Übersetzung von Platons Politeia findet sich eine etwas ausführlichere Darstellung der von den Brüdern Horneffer vertretenen Übersetzungskonzeption495: Fast alle Übersetzer sind der Macht der Originale erlegen, indem sie nicht nur den Gehalt und die große Form dieser Werke, sondern auch ihre bestimmte Ausprägung im einzelnen, die notwendig an der ursprünglichen Sprache haftet, zu bewahren und in die neue Sprache hinüberzuretten suchten. Dadurch aber ging alles verloren, Gehalt und Stil der Werke. Denn die Form im einzelnen muß sich durchaus dem Stil unserer eigenen Sprache anpassen, oder das Kunstwerk wird in ein unerträgliches Gewand gekleidet, das nicht deutsch, nicht griechisch ist, das das Kunstwerk nicht enthüllt, sondern verhüllt. Wir denken nicht freie, willkürliche »Bearbeitungen« zu liefern, wie sie von anderer Seite versucht worden sind; wir wollen durchaus »Übersetzungen« geben. Wir bemühen uns, jeden Gedanken des alten Schriftstellers so genau wie möglich zu treffen, auch unversehrt wiederzugeben, wie dieser Gedanke mit den Gedanken vor ihm und nach ihm zusammenhängt, also die innere Form der Vorlage ehrfürchtig und treu zu wahren. Aber alles dies kann nur erreicht werden, wenn man sich bei der Ausdrucksweise im einzelnen so frei wie möglich bewegen darf, wenn man

_____________ Horneffer [A.] (1908b). Horneffer [A.] (1909c). Horneffer [A.] (1910). Horneffer [A.] (1911). Horneffer [A.] (1909a und 1909b). Horneffer [A.] (1912). Horneffer/Strasburger (1957). Da die Eingriffe Strasburgers nicht kenntlich gemacht sind, kann für die Übersetzungsanalyse nur der erste Band herangezogen werden. Eine kurze Besprechung der Übersetzung von Horneffer findet sich bei Eberhardt (1960), 219–222, der allerdings die Ausgabe von Strasburger zugrunde legt. 495 Horneffer [A.] (1908b), V f. Vgl. außerdem folgende Formulierung des Programms der Übersetzungsreihe, die als Klappentext abgedruckt wurde: »Die Übersetzungen, die in dieser Sammlung veröffentlicht werden, wollen bei möglichster Wahrung der Eigenart und des Wortlautes des Originals deutsch gut lesbare Bücher sein. Dadurch sollen sie dazu beitragen, auch denen die Kultur des klassischen Altertums und die Schönheiten seiner Literatur nahe zu bringen, die die alten Sprachen gar nicht oder doch nicht so beherrschen, daß sie die antiken Schriftwerke wirklich l e s e n können. Wie viele gibt es aber, denen das heutzutage noch möglich ist? Der Kampf mit den sprachlichen Schwierigkeiten hindert die meisten an einem tieferen Eindringen in diese Geistesschätze und an ihrer innerlichen Verarbeitung. Die Schriftwerke des klassischen Altertums in mustergültigen Übersetzungen gehören aber ebenso in jedes deutsche Haus wie Goethe, Schiller und die deutschen Klassiker. Leider sind nur die meisten Übertragungen nicht darauf berechnet, wirklich deutsch gelesen zu werden oder aber sie sind dann freie Bearbeitungen, die uns die Reize des Originals nicht ent- sondern verhüllen.« 488 489 490 491 492 493 494

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unseren Sprachgebrauch, die feineren Stilgesetze der deutschen Sprache zur obersten Richtschnur nimmt. Damit tut man dem Original keine Gewalt an; im Gegenteil, damit erobert man es erst: für sich, indem man es so erst wahrhaft verstehen lernt, und für andere, da man es ihnen nur mit Hilfe solcher Umformung erschließen kann.

Mit ihrer dezidierten Ablehnung des sprachmimetischen Übersetzens bewegen sich die Brüder Horneffer von ihrer grundsätzlichen Ausrichtung her ganz auf der Linie von Wilamowitz. Auch ihre Unterscheidung zwischen äußerer Form und in dieser Form eingeschlossenem Gedanken, die an die Übersetzungstheorie der frühen Aufklärung erinnert, passt zu dessen Konzeption. Allerdings differenzieren die Brüder Horneffer weiter und unterscheiden zwischen der »Form im einzelnen«, womit scheinbar die konkrete sprachliche Form gemeint ist, und der »innere[n] Form«. Der Begriff der »inneren Form« wurde auch von Rudolf Borchardt, einem der schärfsten Kritiker der Wilamowitz’schen Übersetzungskonzeption, in seinem 1905 veröffentlichten »Gespräch über Formen« verwendet.496 Die Brüder Horneffer verstehen den für vielfältige Deutungen sehr offenen Begriff der »inneren Form« allerdings nicht in demselben Sinne wie Borchardt.497 Während dieser den Begriff nämlich im Sinne einer »dem individuellen Gehalt des Kunstwerks angemessene[n] Form, die erfühlt werden muss«498 zu gebrauchen scheint, beschreiben die Brüder Horneffer damit offenbar ganz konkret die gedankliche Kohärenz des Textes.

Übersetzungsanalyse499 Der Anfang des Geschichtswerks (1, 1) Θουκυδίδης Ἀθηναῖος ξυνέγραψε τὸν πόλεµον τῶν Πελοποννησίων καὶ Ἀθηναίων ὡς ἐπολέµησαν πρὸς ἀλλήλους, ἀρξάµενος εὐθὺς καθισταµένου ἐλπίσας µέγαν τε ἔσεσθαι ἀξιολογώτατον τῶν προγεγενηµένων,

καὶ καὶ

Thukydides von Athen erzählt in diesem Werke den Krieg, den die Peloponnesier und die Athener gegeneinander geführt haben. Er hat gleich beim Ausbruch desselben mit der Aufzeichnung begonnen, denn er sah voraus, daß es ein großer Krieg, der denkwürdigste von allen, die sich jemals ereignet, werden würde.

_____________ 496 497 498 499

Borchardt (1905). Zur Verwendung des Begriffs bei Borchardt vgl. Lubitz (2009), 210 f. Lubitz (2009), 211 Anm. 498. Horneffer macht keine Angaben zu der von ihm verwendeten Textausgabe. Der griechische Text folgt hier den Ausgaben von Hude (1898/1901) bzw. Jones (1898/1902). Horneffers Übersetzung der Passage aus dem Melierdialog (5, 89) wird hier nicht behandelt, s. oben S. 9 Anm. 30.

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Deutsche Thukydidesübersetzungen am Ende des Kaiserreichs

τεκµαιρόµενος ὅτι ἀκµάζοντές τε ᾖσαν ἐς αὐτὸν ἀµφότεροι παρασκευῇ τῇ πάσῃ καὶ τὸ ἄλλο Ἑλληνικὸν ὁρῶν ξυνιστάµενον πρὸς ἑκατέρους, τὸ µὲν εὐθύς, τὸ δὲ καὶ διανοούµενον. κίνησις γὰρ αὕτη δὴ µεγίστη τοῖς Ἕλλησιν ἐγένετο καὶ µέρει τινὶ τῶν βαρβάρων, ὡς δὲ εἰπεῖν καὶ ἐπὶ πλεῖστον ἀνθρώπων. τὰ γὰρ πρὸ αὐτῶν καὶ τὰ ἔτι παλαίτερα σαφῶς µὲν εὑρεῖν διὰ χρόνου πλῆθος ἀδύνατον ἦν, ἐκ δὲ τεκµηρίων ὧν ἐπὶ µακρότατον σκοποῦντί µοι πιστεῦσαι ξυµβαίνει, οὐ µεγάλα νοµίζω γενέσθαι οὔτε κατὰ τοὺς πολέµους οὔτε ἐς τὰ ἄλλα.

Er schloß das daraus, daß beide in der Vollkraft ihrer Kriegsrüstung in den Kampf zogen und das übrige Hellas teils sofort, teils zögernd sich einem der beiden Kämpfer anschloß. In der Tat ist dieser Krieg die gewaltigste Erschütterung, die Hellas und ein Teil der Barbarenländer, ja fast die ganze Menschheit erlebt hat. Freilich habe ich von den Ereignissen der Vergangenheit und der fernen Vorzeit nichts Genaueres in Erfahrung bringen können, weil zu lange Zeit dazwischen liegt; aber nach den Zeugnissen, denen ich auf Grund meiner so weit wie möglich ausgedehnten Nachforschungen wohl Glauben schenken muß, kann ich nicht annehmen, daß damals große Dinge, weder große Kriege noch sonst große Ereignisse vorgefallen sind.500

Auffällig ist zunächst einmal Horneffers Übersetzung des Prädikats ξυνέγραψε, das er mit dem Präsens von »erzählen« wiedergibt, wodurch die zeitliche Perspektive gegenüber dem Ausgangstext verschoben wird. Aber auch semantisch entfernt sich Horneffer damit vom Wortlaut des griechischen Textes, denn das Verb ξυγγράφειν bezeichnet die schriftliche Darstellung bzw. Aufzeichnung, wohingegen das Verb »erzählen« die mediale Form der Darbietung offenlässt. Der Aspekt der Schriftlichkeit wird von Horneffer allerdings nicht vernachlässigt, sondern findet sowohl in der Hinzufügung »in diesem Werke« als auch in der explizierenden Übersetzung von ἀρξάµενος (»Er hat [...] mit der Aufzeichnung begonnen«) Berücksichtigung. Dass es sich nicht um eine sprachmimetische Übersetzung handelt, wird auch an der Satzstruktur deutlich, die Horneffer stark modifiziert. Statt eines vergleichenden Adverbialsatzes, wie er im griechischen Text steht (ὡς ἐπολέµησαν πρὸς ἀλλήλους), verwendet Horneffer einen Relativsatz. Außerdem spaltet er den griechischen Satz in mehrere deutsche Sätze auf, indem er die beiden Partizipien ἀρξάµενος und τεκµαιρόµενος als Prädikate neu einsetzender Satzgefüge wiedergibt. Die Tendenz zur Vereinfachung der sprachlichen Struktur, die sich in diesen Veränderungen zeigt, tritt dann in dem mit τεκµαιρόµενος beginnenden Satzabschnitt noch deutlicher hervor. Besonders auffällig ist hier die Nichtberücksichtigung des Partizips ὁρῶν. Die Anakoluthie des griechischen Satzes wird so von Horneffer überspielt. _____________ 500 Horneffer [A.] (1912), 1.

August Horneffer

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Ein weiterer Unterschied zwischen Ausgangs- und Zieltext besteht in der unterschiedlichen Häufigkeit der Verwendung des Begriffs πόλεµος bzw. »Krieg«. Während Thukydides τὸν πόλεµον nur einmal aufgreift, und zwar in der Verbalform ἐπολέµησαν, und sonst das aus dem Vorausgehenden zu ergänzende Nomen auslässt oder sich mittels Pronomina darauf zurückbezieht, nimmt Horneffer den Ausdruck mehrfach auf, variiert dabei allerdings zwischen »Krieg« und »Kampf«: »denn er sah voraus, daß es ein großer Krieg [...] werden würde. Er schloß das daraus, daß beide in der Vollkraft ihrer Kriegsrüstung in den Kampf zogen und das übrige Hellas teils sofort, teils zögernd sich einem der beiden Kämpfer anschloß.« Hieran lässt sich erkennen, dass Horneffer darum bemüht ist, seiner Übersetzung gegenüber dem Ausgangstext größere Klarheit zu verleihen. Epitaphios (2, 37, 1) Χρώµεθα γὰρ πολιτείᾳ οὐ ζηλούσῃ τοὺς τῶν πέλας νόµους, παράδειγµα δὲ µᾶλλον αὐτοὶ ὄντες τισὶν ἢ µιµούµενοι ἑτέρους. καὶ ὄνοµα µὲν διὰ τὸ µὴ ἐς ὀλίγους ἀλλ᾿ ἐς πλείονας οἰκεῖν δηµοκρατία κέκληται, µέτεστι δὲ κατὰ µὲν τοὺς νόµους πρὸς τὰ ἴδια διάφορα πᾶσι τὸ ἴσον, κατὰ δὲ τὴν ἀξίωσιν, ὡς ἕκαστος ἔν τῳ εὐδοκιµεῖ, οὐκ ἀπὸ µέρους τὸ πλέον ἐς τὰ κοινὰ ἢ ἀπ᾿ ἀρετῆς προτιµᾶται, οὐδ᾿ αὖ κατὰ πενίαν, ἔχων γέ τι ἀγαθὸν δρᾶσαι τὴν πόλιν, ἀξιώµατος ἀφανείᾳ κεκώλυται.

Unsere Staatsverfassung ahmt nicht die Gesetze anderer Staaten nach; wir sind eher das Vorbild für andere, als deren Nachahmer. Ihr Name ist Demokratie, weil sie nicht auf einer Minderzahl, sondern auf der Mehrzahl der Bürger beruht. Vor dem Gesetz sind bei persönlichen Rechtsstreitigkeiten alle Bürger gleich, das öffentliche Ansehen des einzelnen richtet sich weniger nach der Parteigunst als nach den Leistungen, die er aufzuweisen hat. Auch dem Armen ist, wenn er für den Staat etwas zu leisten vermag, der Weg zu Ehre und Ruhm nicht verschlossen.501

Horneffer verändert die Konstruktion des ersten Satzes, indem er aus dem Dativobjekt πολιτείᾳ das Subjekt seines Satzes gewinnt und das Subjekt des griechischen Satzes, das im Prädikat χρώµεθα enthalten ist, durch ein Possessivpronomen wiedergibt. Auf diese Weise glättet er die gewundene Formulierung des Ausgangstextes. Dass Horneffer nicht um eine Nachbildung der sprachlichen Strukturen des Ausgangstextes bemüht ist, wird auch daran deutlich, dass er die Variatio der beiden Verben ζηλόω und µιµέοµαι nicht wiedergibt, sondern beide Ausdrücke mit »nachahmen« übersetzt, obwohl sie nicht vollkommen synonym sind. Dies hat indes nicht allein die Unterdrückung einer Bedeutungsnuance zur Folge, sondern führt auch zu einer stilistischen Veränderung gegenüber dem Ausgangstext. Dabei fällt besonders ins Gewicht, dass Thukydides solche unmittelba_____________ 501 Horneffer [A.] (1912), 146.

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ren Rekurrenzen, wie sie die Wiederholung des Verbs »nachahmen« darstellt, konsequent vermeidet. Im Folgenden fällt auf, dass Horneffer die Verbindungen zwischen den einzelnen Aussagen, die Thukydides durch Partikeln herstellt, nicht kenntlich macht, so dass sie unverbunden nebeneinander stehen. Auch auf der Ebene der Satzstruktur und der einzelnen Ausdrücke gibt Horneffer den Ausgangstext nur ungenau wieder. So wird die Sperrung zwischen ὄνοµα und δηµοκρατία κέκληται in seiner Übersetzung aufgehoben (»Ihr Name ist Demokratie«). Seine Wiedergabe von µέτεστι δὲ κατὰ µὲν τοὺς νόµους ... πᾶσι τὸ ἴσον mit »Vor dem Gesetz sind [...] alle Bürger gleich« ist wiederum ein gutes Beispiel für assimilierendes, verdeutschendes Übersetzen. Im folgenden, mit κατὰ δὲ τὴν ἀξίωσιν beginnenden Abschnitt des Satzes nimmt Horneffer wieder mehrere deutliche Veränderungen vor und lässt insbesondere den Ausdruck εὐδοκιµεῖ unübersetzt. Die Differenz zwischen dem Ausgangstext und der Übersetzung Horneffers ist hier besonders groß, so dass sich nicht genau nachvollziehen lässt, welche deutschen Ausdrücke welchen griechischen Wörtern entsprechen sollen. Schließlich ist noch darauf hinzuweisen, dass Horneffer in dem letzten Satzabschnitt den Dativ ἀφανείᾳ unübersetzt lässt, während er ἀξιώµατος pleonastisch mit »Ehre und Ruhm« wiedergibt. Pathologie des Krieges (3, 82, 4 f.) καὶ τὴν εἰωθυῖαν ἀξίωσιν τῶν ὀνοµάτων ἐς τὰ ἔργα ἀντήλλαξαν τῇ δικαιώσει. τόλµα µὲν γὰρ ἀλόγιστος ἀνδρεία φιλέταιρος ἐνοµίσθη, µέλλησις δὲ προµηθὴς δειλία εὐπρεπής, τὸ δὲ σῶφρον τοῦ ἀνάνδρου πρόσχηµα, καὶ τὸ πρὸς ἅπαν ξυνετὸν ἐπὶ πᾶν ἀργόν· τὸ δ᾿ ἐµπλήκτως ὀξὺ ἀνδρὸς µοίρᾳ προσετέθη, ἀσφαλείᾳ δὲ τὸ ἐπιβουλεύσασθαι502 ἀποτροπῆς πρόφασις εὔλογος. καὶ ὁ µὲν χαλεπαίνων πιστὸς αἰεί, ὁ δ᾿ ἀντιλέγων αὐτῷ ὕποπτος.

Auch die übliche Bedeutung der Begriffe und Bezeichnungen wurde je nach Umständen abgeändert: Tollkühnheit hieß jetzt opfermutiges Eintreten für die Freunde, weise Zurückhaltung hieß verkleidete Feigheit, wer Maß hielt, galt für weibisch, wer grundsätzlich die Vernunft zu Rate zog, für grundsätzlich faul und bequem, aber wer sinnlos dreinschlug, war ein echter Mann. Wenn man einen Plan vorsichtig durchdenken wollte, wurde einem vorgeworfen, man wolle ihn unter einem guten Vorwand ablehnen. Wenn man immer brav schimpfte, fand man stets Glauben; wer widersprach, machte sich verdächtig.

_____________ 502 Der Text von Hude (1898) hat hier die Lesart ἀσφάλεια δὲ τοῦ ἐπιβουλεύσασθαι.

August Horneffer ἐπιβουλεύσας δέ τις τυχὼν ξυνετὸς καὶ ὑπονοήσας ἔτι δεινότερος· προβουλεύσας δὲ ὅπως µηδὲν αὐτῶν δεήσει, τῆς τε ἑταιρίας διαλυτὴς καὶ τοὺς ἐναντίους ἐκπεπληγµένος. ἁπλῶς τε ὁ φθάσας τὸν µέλλοντα κακόν τι δρᾶν ἐπῃνεῖτο καὶ ὁ ἐπικελεύσας τὸν µὴ διανοούµενον.

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Erfolg bei hinterlistigen Streichen wurde als Klugheit gepriesen, und wer nicht in eine ihm gestellte Falle ging, galt für noch schlauer. Wer dagegen Vorsorge traf, daß er gar nicht in die Lage kam, Hinterlist üben oder meiden zu müssen, der galt als Verräter seiner Genossen und hatte angeblich Angst vor der Gegenpartei. Kurz, man pries jeden, der seinem Feinde mit einer Bosheit zuvorkam oder einen anderen, dem nichts einfiel, dazu anstiftete.503

In der Wiedergabe der grammatikalischen Struktur und der einzelnen Begriffe zeigt Horneffer auch hier einen sehr freien Umgang mit dem griechischen Text. Dabei werden teilweise Bedeutungsnuancen unterdrückt, teilweise kommt es auch zu Sinnverschiebungen. Gleich im ersten Satz fallen mehrere signifikante Abweichungen vom griechischen Text auf: So gibt Horneffer den Ausdruck ἀξίωσις unzutreffend mit »Bedeutung« wieder;504 das Prädikat ἀντήλλαξαν, das ein Austauschen bzw. Vertauschen bezeichnet, übersetzt er mit dem Verb »abändern« nur ungenau; schließlich lässt er den Ausdruck τῇ δικαιώσει unberücksichtigt. Ein weiteres Beispiel für Horneffers freien Umgang mit dem Ausgangstext ist die Wiedergabe der Phrase ἀνάνδρου πρόσχηµα mit »weibisch«, bei der das Wort πρόσχηµα völlig unberücksichtigt bleibt. Auf diese Weise geht ein entscheidender Aspekt der Aussage verloren. Denn der Vorwurf, den die radikalen Elemente innerhalb der bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen auf Kerkyra erheben, lautet, dass die traditionellen Tugendbegriffe wie Besonnenheit als Vorwand für unmännliches Verhalten verwendet werden. Ganz ähnlich verhält es sich bei der Übersetzung von ἀσφαλείᾳ δὲ τὸ ἐπιβουλεύσασθαι ἀποτροπῆς πρόφασις εὔλογος. Indem Horneffer nämlich πρόφασις εὔλογος mit »gute[r] Vorwand« wiedergibt, lässt er das Hinterglied des Kompositums εὔλογος, das für die Aussage von entscheidender Bedeutung ist, unberücksichtigt. Schließlich sei noch auf die sehr freie Übersetzung von τὸ δ᾿ ἐµπλήκτως ὀξὺ mit »aber wer sinnlos dreinschlug« sowie auf die semantisch ungenaue Wiedergabe von διαλυτής mit »Verräter« im letzten Satz dieser Passage hingewiesen. Außerdem lässt sich beobachten, dass Horneffer die Rekurrenzen des Ausgangstextes nicht berücksichtigt. Dies soll anhand von zwei Beispielen veranschaulicht werden. Das erste Beispiel umfasst die beiden Phrasen ἀνδρεία φιλέταιρος und τῆς ... ἑταιρίας διαλυτὴς. Da es sich bei der Hetairie um eine für das damalige Griechenland spezifische Art der sozialen Verbindung handelt, lässt sich im Deutschen keine genaue Entsprechung für die Begriffe ἑταιρία bzw. _____________ 503 Horneffer [A.] (1912), 276. 504 Zur Bedeutung von ἀξίωσις an dieser Stelle vgl. oben Kap. 2.3.

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Deutsche Thukydidesübersetzungen am Ende des Kaiserreichs

ἑταῖρος finden. Während Begriffe wie »Freundschaftsbund« bzw. »Freund« zu allgemein sind, wecken Begriffe wie »Genossenschaft« bzw. »Genosse« oder »Partei« bzw. »Parteifreund« unweigerlich Assoziationen an bestimmte geschichtliche Zusammenhänge der Neuzeit. Auch wenn es hier also keine optimale Lösung gibt, so lässt sich durch die Wiedergabe mit Wörtern von demselben Stamm aber zumindest sichtbar machen, dass es sich um einen feststehenden Terminus für eine bestimmte Form des sozialen und politischen Zusammenschlusses handelt. Eine konsequente Wiedergabe von Wörtern derselben Wortfamilie müsste für einen Übersetzer, der wie Horneffer die »innere« Form des Textes zu bewahren strebt, an sich selbstverständlich sein. Tatsächlich gibt er aber die Phrase ἀνδρεία φιλέταιρος mit »opfermutiges Eintreten für die Freunde«, τῆς τε ἑταιρίας διαλυτὴς mit »Verräter seiner Genossen« wieder und bringt die Rekurrenz somit nicht zum Ausdruck. Das zweite Beispiel für die Nichtberücksichtigung von Rekurrenzen zeigt sich in Horneffers Wiedergabe von ἀνδρεία φιλέταιρος ... τοῦ ἀνάνδρου πρόσχηµα ... τὸ δ᾿ ἐµπλήκτως ὀξὺ ἀνδρὸς µοίρᾳ προσετέθη. In seiner Übersetzung von ἀνδρεία φιλέταιρος (»opfermutiges Eintreten für die Freunde«) wird der Aspekt der Männlichkeit völlig unberücksichtigt gelassen; in seiner Wiedergabe von τοῦ ἀνάνδρου πρόσχηµα (»galt für weibisch«) durch die Verwendung des Begriffs »weibisch« lediglich e contrario sichtbar gemacht; nur im letzten Glied dieser Rekurrenzenkette verwendet Horneffer das entsprechende deutsche Wort, indem er τὸ δ᾿ ἐµπλήκτως ὀξὺ ἀνδρὸς µοίρᾳ προσετέθη mit »aber wer sinnlos dreinschlug, war ein echter Mann« übersetzt. Was schließlich die stilistische Besonderheit dieser Passage anbelangt, nämlich deren extreme Brachylogie, so lässt sich an einigen Stellen beobachten, dass Horneffer sogar noch knapper formuliert. Doch scheint dies nicht auf eine konsequente Stilmimesis zurückzuführen zu sein. Denn Horneffer zeigt zugleich eine Tendenz zur explizierenden Übersetzung, etwa in seiner Wiedergabe von προβουλεύσας δὲ ὅπως µηδὲν αὐτῶν δεήσει (»Wer dagegen Vorsorge traf, daß er gar nicht in die Lage kam, Hinterlist üben oder meiden zu müssen«), wodurch die Übersetzung wortreicher wird. An solchen Übersetzungslösungen zeigt sich, dass Horneffer gerade darum bemüht ist, die »dunkle« Sprache des Thukydides »aufzuhellen«. Doch lassen sich immerhin vereinzelte Versuche erkennen, den Stil des Thukydides nachzubilden, etwa in der Formulierung »wer grundsätzlich die Vernunft zu Rate zog, [galt] für grundsätzlich faul und bequem«, mit der Horneffer καὶ τὸ πρὸς ἅπαν ξυνετὸν ἐπὶ πᾶν ἀργόν wiedergibt. Auch im letzten Satz erreicht Horneffer eine approximative Nachbildung einer stilistischen Besonderheit des griechischen Satzes, indem er die beiden aufeinander bezogenen Partizipien ἐπιβουλεύσας und προβουλεύσας mit den Ausdrücken »bei hinterlistigen Streichen« und »[w]er ... Vorsorge traf« wiedergibt und somit die Vorderglieder der beiden Komposita berücksichtigt.

August Horneffer

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Vergleicht man die Übersetzung Horneffers mit den Übersetzungen aus dem 19. Jahrhundert, so gewinnt man den Eindruck, dass sich das Übersetzungsparadigma grundlegend verändert hat. Sprachliche Genauigkeit in der Wiedergabe des Ausgangstextes wird von Horneffer offenkundig nicht angestrebt; vorrangiges Ziel ist es für ihn, einen gut verständlichen Text zu produzieren, der den zielsprachlichen Normen entspricht. Angesichts der Aussagen der Brüder Horneffer zu ihrer Übersetzungskonzeption darf dieser Befund nicht überraschen, hatten sie doch ausdrücklich betont, die sprachliche Form im Einzelnen nicht nachbilden zu wollen. Ihr erklärtes Ziel ist es vielmehr, die »innere Form« des Originals wiederzugeben, worunter sie die gedankliche Kohärenz verstehen. Nun erweist sich die Thukydidesübersetzung August Horneffers allerdings in dieser Hinsicht keineswegs als besonders gewissenhaft. Merkmale der Textkohärenz werden jedenfalls nicht konsequent nachgebildet, ja es finden sich sogar Beispiele für die eklatante Missachtung des Textzusammenhangs. Auch was die Darstellung des Thukydideischen Stils anbelangt, ist der Befund negativ. Stilistische Charakteristika des Thukydides werden nämlich nur vereinzelt nachgebildet. Die Sprachhaltung, die Horneffer in seiner Übersetzung einnimmt, ist in ihrem Ton und in ihrer Färbung eine ganz andere als bei Thukydides. An die Stelle von sprachlicher Knappheit und Härte tritt ein eher lockerer Stil, der sich an der gepflegten Konversationssprache orientiert. Bringt man dieses Ergebnis mit der Antikekonzeption der Brüder Horneffer zusammen, so wird deutlich, welche Absicht August Horneffer mit seiner Übersetzung verfolgt hat: Das Geschichtswerk des Thukydides soll in der Übersetzung für den des Griechischen nicht mächtigen Leser als ein »lebendiges« Werk erscheinen. Wie die Ausführungen Ernst Horneffers in Das klassische Ideal zeigen, war das Antikebild der Brüder Horneffer von der Vorstellung bestimmt, dass die Antike die »Jugendzeit« der Menschheit gewesen sei. Infolgedessen wurden bestimmte Merkmale wie Einfachheit bzw. »Naivität« als besonders charakteristisch für antike Werke gesehen. Eine solche Beschreibung wird nun allerdings keineswegs sämtlichen Werken der antiken Literatur gerecht; insbesondere auf das Geschichtswerk des Thukydides lässt sie sich nicht anwenden. Denn dessen Schrift ist ja von großer sprachlicher Kompliziertheit geprägt und setzt beim Leser die Bereitschaft und Fähigkeit zu erheblicher geistiger Anstrengung voraus. In der Übersetzung August Horneffers wird diese sprachliche Komplexität allerdings zugunsten eines Stils preisgegeben, der in seiner Lesbarkeit und Unkompliziertheit dem idealisierenden Antikebild der Brüder Horneffer gemäß ist.

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7.2

Theodor Braun: Thukydides, Geschichte des Peloponnesischen Krieges (1917)

Während die Lebensumstände August Horneffers sowie das kulturelle Umfeld, in dem er sich bewegte, bekannt sind, ließen sich zur Person Theodor Brauns nur wenige Informationen ermitteln. Immerhin lässt sich aus der Tatsache, dass er sowohl einen theologischen als auch einen philosophischen Doktorgrad besaß, eine gewisse Vorstellung von seinem Bildungshintergrund gewinnen. Seine Thukydidesübersetzung veröffentlichte er 1917 im Leipziger Insel-Verlag.505 Zehn Jahre später ließ er eine Übertragung des Herodoteischen Geschichtswerks folgen.506 Braun erläutert sein Übersetzungsverfahren im Vorwort zu seiner Thukydidesübersetzung folgendermaßen507: Ich habe versucht, das Geschichtswerk des Thukydides in heutiges Deutsch zu übersetzen in der Weise, wie es der vortrefflichen Heilmannschen Übersetzung (Lemgo 1760) in der Sprache ihrer Zeit gelungen war. Sollte der geehrte Leser die Sprache nicht so fließend finden, wie wir sie in guten deutschen Büchern gewohnt sind, so bitte ich ihn zu bedenken, daß er eben eine Übersetzung vor sich hat, und daß der Übersetzer bei aller Freiheit, die er sich im einzelnen gestatten darf, in der Hauptsache denn doch an die Eigenart des fremden Idioms gebunden bleibt. Dazu die Hindernisse, welche die vielfach unverdeutschbaren militärischen und politischen Bezeichnungen des Altertums auf Schritt und Tritt bereiten.

Aufschlussreich ist der Verweis auf die Übersetzung von Johann David Heilmann, die Braun als Vorbild dient.508 Wie schon bei Wilamowitz, der sich in seinem Aufsatz »Was ist übersetzen?« auf die Übersetzung Reiskes von 1761 bezogen hatte, findet auch bei Braun eine explizite Hinwendung zur Übersetzungskultur des 18. Jahrhunderts statt, die eine Abkehr vom sprachmimetischen Übersetzen in der Tradition von Voß und Schleiermacher impliziert. Dass sich die übersetzerischen Normen gegenüber dem 19. Jahrhundert verschoben haben, wird besonders deutlich, wenn man die Bewertung der Heilmann’schen Übersetzung um 1800 mit den Äußerungen Brauns vergleicht. Zu jener Zeit hatte man an der Übersetzung Heilmanns die fehlende sprachliche Genauigkeit bemängelt und gerade hieraus die Legitimation für neue Übersetzungen gezogen. Braun hingegen lässt keine derartige Kritik erkennen. Das Übersetzungsverfahren Heilmanns erscheint Braun gerade als vorbildlich; dass die Übersetzung Heilmanns durch eine neue Übertragung ersetzt werden muss, liegt nach seiner Einschätzung ausschließlich daran, dass sie sprachlich veraltet ist. Auf das kurze Vorwort, in dem sich Braun zu seiner Übersetzungsmethode äußert, folgt eine Einleitung, die Thukydides und dessen Werk gewidmet ist. _____________ 505 506 507 508

Zur Geschichte des Insel-Verlags vgl. Sarkowski (1999). Braun (1927). Braun (1917), V. Zur Übersetzung Heilmanns vgl. Kap. 3.2.

Theodor Braun

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Braun bietet zunächst die Lebensdaten und skizziert dann kurz den Aufbau des Peloponnesischen Krieges. Es folgen eine ebenfalls knapp gehaltene literaturgeschichtliche Einordnung sowie ein Hinweis auf die Funktion der Reden, die Braun nicht als Aufzeichnungen historisch gehaltener Reden versteht, sondern als Medium, durch welches Thukydides seine eigene Ansicht der historischen Ereignisse darstelle.509 Gegen Ende der Einleitung äußert sich Braun schließlich auch zum Stil des Thukydides und gibt in diesem Zusammenhang weitere Hinweise zu dem von ihm praktizierten Übersetzungsverfahren510: Werfen wir schließlich einen Blick auf die Schreibweise des Thukydides, so steht diese formal nicht auf gleicher Höhe mit dem Inhalt seines Werkes. Die mit Hilfe der griechischen Partizipialkonstruktionen mögliche Zusammenschachtelung verschiedener Gedankenreihen in denselben Satz erschwert nicht selten das Verständnis, und die den Hauptsachen so vielfach angehängten Relativ- und Nachsätze dienen nach unserem Gefühl dazu, deren unmittelbare Wirkung abzuschwächen. Zudem gestattet er sich in syntaktischer Hinsicht Freiheiten, um nicht zu sagen Nachlässigkeiten, wie sie sich wenigstens der gebildete Deutsche selbst in mündlicher Rede nicht erlauben darf. Je höher wir den Wert des unsterblichen Werkes einschätzen und je mehr wir dem Verfasser unsere Bewunderung zollen, um so weniger haben wir Ursache, vor gewissen, doch auch ihm anhaftenden Schwächen die Augen zu verschließen. Eben diese aber machen es ihm möglich, so kurz und knapp zu schreiben, wie es einer deutschen Übersetzung niemals gelingen wird.

Wesentliche Merkmale des Thukydideischen Stils sind von Braun hier erfasst: die hochkomplizierten Satzgefüge, die Anakoluthie bzw. Inkonzinnität sowie die Brachylogie. Diese stilistischen Besonderheiten werden von Braun durchweg negativ bewertet; dass es sich hierbei um bewusst gewählte Stilmittel handelt, zieht er überhaupt nicht in Betracht. Daher kann er die »syntaktischen Freiheiten« des Thukydides – hiermit sind wohl Phänomene wie Anakoluthie bzw. Inkonzinnität gemeint – geradezu als »Nachlässigkeiten« bezeichnen, über die er jedoch in Anbetracht der Qualitäten des Geschichtswerks großzügig hinwegsieht. Angesichts der durchweg positiven Bewertung der sprachlichen Form des Thukydideischen Geschichtswerks im 19. Jahrhundert muss das negative Urteil, das Braun hier über den Stil des Thukydides fällt, überraschen. Doch ist eine solche Beurteilung, wie im Laufe dieser Arbeit deutlich geworden ist, keineswegs singulär. Man erinnere sich nur an die Kritik Johann Jacob Reiskes, die noch viel heftiger ausfiel.511 Auch Eduard Norden hatte in Die antike Kunstprosa zur Charakterisierung des Thukydideischen Stils Adjektive wie »schroff«, »formlos« oder

_____________ 509 Vgl. Braun (1917), IX: »Die der Erzählung eingefügten Reden sind, vielleicht mit einigen Ausnahmen, keine Geschichte, sondern von ihm selbst verfaßte rhetorische Kunstwerke, in denen er die jeweilige Situation beleuchtet und seine Ansichten als Historiker meisterhaft entwickelt. Darum haben sie auch in der Form nichts Individuelles.« 510 Braun (1917), IX f. 511 Vgl. oben Kap. 3.3.

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»verkünstelt« verwendet, die allesamt eine eher negative Beurteilung suggerieren.512

Übersetzungsanalyse513 Der Anfang des Geschichtswerks (1, 1) Θουκυδίδης Ἀθηναῖος ξυνέγραψε τὸν πόλεµον τῶν Πελοποννησίων καὶ Ἀθηναίων ὡς ἐπολέµησαν πρὸς ἀλλήλους, ἀρξάµενος εὐθὺς καθισταµένου καὶ ἐλπίσας µέγαν τε ἔσεσθαι καὶ ἀξιολογώτατον τῶν προγεγενηµένων, τεκµαιρόµενος ὅτι ἀκµάζοντές τε ᾖσαν ἐς αὐτὸν ἀµφότεροι παρασκευῇ τῇ πάσῃ καὶ τὸ ἄλλο Ἑλληνικὸν ὁρῶν ξυνιστάµενον πρὸς ἑκατέρους, τὸ µὲν εὐθύς, τὸ δὲ καὶ διανοούµενον. κίνησις γὰρ αὕτη δὴ µεγίστη τοῖς Ἕλλησιν ἐγένετο καὶ µέρει τινὶ τῶν βαρβάρων, ὡς δὲ εἰπεῖν καὶ ἐπὶ πλεῖστον ἀνθρώπων. τὰ γὰρ πρὸ αὐτῶν καὶ τὰ ἔτι παλαίτερα σαφῶς µὲν εὑρεῖν διὰ χρόνου πλῆθος ἀδύνατον ἦν, ἐκ δὲ τεκµηρίων ὧν ἐπὶ µακρότατον σκοποῦντί µοι πιστεῦσαι ξυµβαίνει, οὐ µεγάλα νοµίζω γενέσθαι οὔτε κατὰ τοὺς πολέµους οὔτε ἐς τὰ ἄλλα.

Thukydides aus Athen hat den Krieg beschrieben, welchen die Peloponnesier und die Athener miteinander geführt haben. Er hat damit gleich bei Ausbruch des Krieges angefangen, indem er voraussah, daß er groß und denkwürdiger werden würde als alle früheren Kriege, da beide Teile schwer gerüstet hineingingen und auch die übrigen griechischen Staaten entweder gleich Partei ergriffen oder doch gewillt waren, es bei erster Gelegenheit zu tun. In der Tat hat denn auch dieser Krieg nicht nur die Griechen, sondern auch einen Teil der Barbaren, ich möchte sagen der Menschheit, aufs tiefste erschüttert. Über das, was sich vor ihm oder in noch älterer Zeit zugetragen, habe ich mir bei der Größe des Zeitraums zwar kein sicheres Urteil bilden können, aber auf Grund meiner doch recht weit zurückgreifenden Forschungen die Überzeugung gewonnen, daß Begebenheiten von besonderer Wichtigkeit bis dahin nicht vorgekommen waren, weder im Kriege noch überhaupt.514

Der Anfang der Übersetzung ist zunächst eher unauffällig, es wird aber schnell deutlich, dass Braun ebenso wenig wie Horneffer ein sprachmimetisches Verfahren verfolgt. Dies lässt sich sowohl daran erkennen, dass er den vergleichenden Adverbialsatz ὡς ἐπολέµησαν πρὸς ἀλλήλους mit einem Relativsatz wiedergibt, als auch daran, dass er den griechischen Satz in zwei selbständige Sätze aufspal_____________ 512 Vgl. Kap. 1. 513 Braun macht keine Angaben zu der von ihm verwendeten Textausgabe. Der griechische Text folgt hier den Ausgaben von Hude (1898/1901) bzw. Jones (1898/1902). Brauns Übersetzung der Passage aus dem Melierdialog (5, 89) wird hier nicht behandelt, s. oben S. 9 Anm. 30. 514 Braun (1917), 1.

Theodor Braun

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tet. Davon abgesehen ist zu erwähnen, dass Braun, wie auch viele frühere Übersetzer, den Genitivus absolutus καθισταµένου mit »bei Ausbruch des Krieges« ungenau wiedergibt. Massive Abweichungen vom Ausgangstext lassen sich dann im letzten Satzabschnitt feststellen. So werden die beiden Partizipien τεκµαιρόµενος und ὁρῶν von Braun unübersetzt gelassen. Eine ganz ähnliche Auslassung dieser beiden Partizipien findet sich übrigens in der Übersetzung von Johann David Heilmann, die Braun ja im Vorwort als Vorbild bezeichnet hatte.515 Außerdem gibt Braun die Partizipialphrase ἀκµάζοντες ... παρασκευῇ τῇ πάσῃ mit »schwer gerüstet« nur ungenau wieder. Denn mit der griechischen Formulierung wird zum Ausdruck gebracht, dass beide Parteien sich auf dem Höhepunkt ihrer Kriegsrüstung befanden. Epitaphios (2, 37, 1) Χρώµεθα γὰρ πολιτείᾳ οὐ ζηλούσῃ τοὺς τῶν πέλας νόµους, παράδειγµα δὲ µᾶλλον αὐτοὶ ὄντες τισὶν ἢ µιµούµενοι ἑτέρους. καὶ ὄνοµα µὲν διὰ τὸ µὴ ἐς ὀλίγους ἀλλ᾿ ἐς πλείονας οἰκεῖν δηµοκρατία κέκληται, µέτεστι δὲ κατὰ µὲν τοὺς νόµους πρὸς τὰ ἴδια διάφορα πᾶσι τὸ ἴσον, κατὰ δὲ τὴν ἀξίωσιν, ὡς ἕκαστος ἔν τῳ εὐδοκιµεῖ, οὐκ ἀπὸ µέρους τὸ πλέον ἐς τὰ κοινὰ ἢ ἀπ᾿ ἀρετῆς προτιµᾶται, οὐδ᾿ αὖ κατὰ πενίαν, ἔχων γέ τι ἀγαθὸν δρᾶσαι τὴν πόλιν, ἀξιώµατος ἀφανείᾳ κεκώλυται.

Wir haben bei unserer Verfassung keine fremden Einrichtungen zum Muster genommen; im Gegenteil, wir haben anderen eher als Vorbild gedient, als ihnen was nachgemacht. Und weil das Regiment bei uns nicht in der Hand weniger, sondern der Gesamtheit liegt, nennt man unsere Verfassung demokratisch. Denn wie in den Angelegenheiten der einzelnen gleiches Recht für alle gilt, so gibt auch in Beziehung auf Geltung und Ansehen in Staat und Gemeinde nur persönliche Tüchtigkeit einen Vorzug, nicht aber Zugehörigkeit zu einer bestimmten Klasse, und selbst Armut hindert keinen, der was kann, aus seiner Unansehnlichkeit zu Amt und Würden zu gelangen.516

Im ersten Satz wird die grammatikalische Struktur stark verändert und an Stelle des Präsens eine Vergangenheitsform verwendet. Auf diese Weise entsteht der Eindruck, als würde Perikles hier konkret von einer in der Vergangenheit liegenden Verfassungsgebung sprechen. Zwar stehen bei Thukydides die Reformen des Ephialtes aus dem Jahre 462/461 v. Chr. durchaus im Hintergrund dieser Ausfüh_____________ 515 Zur Übersetzung Heilmanns vgl. Kap. 3.2. 516 Braun (1917), 119.

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Deutsche Thukydidesübersetzungen am Ende des Kaiserreichs

rungen, doch begreift der Thukydideische Perikles die πολιτεία, wie aus der Formulierung hervorgeht, als ein dynamisches Gebilde, nicht primär als Resultat einer Verfassungsgebung. Dass diese πολιτεία tatsächlich nichts anderes ist als die besondere Form des »politischen« Zusammenlebens und Interagierens der Athener, bringt Thukydides auch sprachlich zum Ausdruck, indem er die πολιτεία durch die Verbindung mit einer Partizipialform von ζηλόω personifiziert, um dann anschließend die Konstruktion zu wechseln und die Athener selbst als diejenigen darzustellen, die andere nicht »nachahmen«: παράδειγµα δὲ µᾶλλον αὐτοὶ ὄντες τισὶν ἢ µιµούµενοι ἑτέρους. Auch im Folgenden sind mehrere deutliche Abweichungen vom Ausgangstext zu konstatieren. Zum einen bleibt das Nomen ὄνοµα, das Thukydides hier bewusst an den Anfang stellt, um das Thema des Satzes zu markieren, und das für die von ihm konstruierte Antithese (ὄνοµα µέν ... µέτεστι δέ) von entscheidender Bedeutung ist, unberücksichtigt, zum anderen gibt Braun den Gegensatz zwischen den »Wenigen« (ὀλίγους) und der »Mehrzahl« (πλείονας) nicht genau wieder, indem er πλείονας mit »Gesamtheit« übersetzt. In der Übersetzung des folgenden, mit µέτεστι δέ beginnenden Abschnittes lässt sich dann beobachten, wie Braun den Satz sowohl in seiner grammatikalischen Struktur als auch in den einzelnen Ausdrücken frei umgestaltet. Dabei geht er wiederholt über Ausdrücke hinweg, die für den Sinnzusammenhang entscheidend sind. So findet die Präpositionalphrase κατὰ µὲν τοὺς νόµους in seiner Übersetzung keine Entsprechung (Berücksichtigung findet sie lediglich in dem Ausdruck »gleiches Recht«); im nächsten Glied bleibt dann der Nebensatz ὡς ἕκαστος ἔν τῳ εὐδοκιµεῖ unübersetzt; im letzten Kolon schließlich wird der Ausdruck ἔχων γέ τι ἀγαθὸν δρᾶσαι τὴν πόλιν in sinnentstellender Weise verkürzt und mit »[einer,] der was kann« wiedergegeben. Wie Braun zu dieser Übersetzung kommt, ist nicht nachvollziehbar, sind die Wörter ἀγαθὸν δρᾶσαι τὴν πόλιν, die er unübersetzt lässt, für die Aussage des Satzes doch von zentraler Bedeutung. Denn es geht ja nicht bloß um irgendwelche Fähigkeiten, wie die Übersetzung Brauns nahelegt, sondern darum, dass die Person dem Gemeinwesen einen Dienst erweisen kann. Die Übersetzung »[einer,] der was kann« ist aber auch in stilistischer Hinsicht auffällig, denn mit der Verwendung des eher umgangssprachlichen »was«, das bereits am Anfang dieser Passage auftritt (»wir haben anderen eher als Vorbild gedient, als ihnen was nachgemacht«), weicht Braun deutlich von dem sachlichen Ton des Thukydides ab. Epitaphios (2, 37, 2) ἐλευθέρως δὲ τά τε πρὸς τὸ κοινὸν πολιτεύοµεν καὶ ἐς τὴν πρὸς ἀλλήλους τῶν καθ᾿ ἡµέραν ἐπιτηδευµάτων ὑποψίαν,

Wir sind im öffentlichen Leben nicht engherzig und im täglichen Verkehr untereinander keine Duckmäuser,

Theodor Braun οὐ δι᾿ ὀργῆς τὸν πέλας, εἰ καθ᾿ ἡδονήν τι δρᾷ, ἔχοντες, οὐδὲ ἀζηµίους µέν, λυπηρὰς δὲ τῇ ὄψει ἀχθηδόνας προστιθέµενοι.

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nehmen es unserem Nächsten nicht übel, wenn er mal über die Stränge schlägt, und machen darüber kein sauertöpfisches Gesicht, um ihn dadurch, wenn auch nicht umzubringen, doch moralisch zu vernichten.517

Auch hier gewinnt man den Eindruck, dass Brauns übersetzerische Entscheidungen einer gewissen Willkür unterliegen. Kann man die Übersetzung von ἐλευθέρως δὲ τά τε πρὸς τὸ κοινὸν πολιτεύοµεν (»Wir sind im öffentlichen Leben nicht engherzig«) noch nachvollziehen, so lässt sich anschließend kaum mehr erahnen, wie Braun zu seiner Übersetzung von ἐς τὴν πρὸς ἀλλήλους τῶν καθ᾿ ἡµέραν ἐπιτηδευµάτων ὑποψίαν (»[wir sind] im täglichen Verkehr untereinander keine Duckmäuser«) gelangt ist. Das Übersetzungsverfahren lässt sich am ehesten als eine scheinbar willkürliche Mischung von Veränderungen, Auslassungen und Hinzufügungen beschreiben: Einige griechische Ausdrücke werden – nicht unbedingt in derselben Funktion wie im Ausgangstext – wiedergegeben (πρὸς ἀλλήλους und καθ᾿ ἡµέραν), andere ausgelassen (τῶν ... ἐπιτηδευµάτων und ὑποψίαν), auf der anderen Seite werden deutsche Ausdrücke hinzugefügt, die im Ausgangstext keine Entsprechung haben (»Verkehr« und »Duckmäuser«). Besonders auffällig ist in diesem Beispiel die Verwendung des umgangssprachlichen Ausdrucks »Duckmäuser«, und zwar in zweierlei Hinsicht: Zum einen handelt es sich hierbei nämlich um einen kolloquialen Ausdruck, wie er für eine Leichenrede höchst unpassend wäre und wie ihn Thukydides Perikles tatsächlich an keiner Stelle der Rede in den Mund legt. Abgesehen von der situativen Unangemessenheit dieses Ausdrucks im Kontext des Epitaphios stellt sich aber vor allen Dingen die Frage, aus welchem griechischen Ausdruck Braun dieses Wort abgeleitet haben könnte. Dass er das Objekt ὑποψίαν unübersetzt lässt, könnte zu der Vermutung Anlass geben, dass er diesen Ausdruck missverstanden und im Sinne von »Furcht« aufgefasst hat. Der Begriff ὑποψία bezeichnet in seiner Grundbedeutung ein von-unten-nach-oben-Blicken und im übertragenen Sinn fast immer so viel wie »Argwohn«, doch finden sich tatsächlich auch einige Belege für die Bedeutung »Befürchtung«.518 Könnte Braun eventuell auf diesem Wege zu dem Ausdruck »Duckmäuser« gelangt sein? Diese Vermutung muss letztlich Spekulation bleiben, das genaue Textverständnis Brauns lässt sich aufgrund der zahlreichen Freiheiten nämlich nicht rekonstruieren. Jedenfalls bleibt festzuhalten, dass die Übersetzung hier den Sinn nicht trifft.

_____________ 517 Ebd. 518 LSJ s. v. ὑποψία I. 2. b.

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Deutsche Thukydidesübersetzungen am Ende des Kaiserreichs

Pathologie des Krieges (3, 82, 2) ἐν µὲν γὰρ εἰρήνῃ καὶ ἀγαθοῖς πράγµασιν αἵ τε πόλεις καὶ οἱ ἰδιῶται ἀµείνους τὰς γνώµας ἔχουσι διὰ τὸ µὴ ἐς ἀκουσίους ἀνάγκας πίπτειν· ὁ δὲ πόλεµος ὑφελὼν τὴν εὐπορίαν τοῦ καθ᾿ ἡµέραν βίαιος διδάσκαλος καὶ πρὸς τὰ παρόντα τὰς ὀργὰς τῶν πολλῶν ὁµοιοῖ.

In Frieden und guten Tagen, wo die bittere Not noch nicht an sie herantritt, sind die Staaten wie die Menschen so böse nicht; wenn aber der Krieg sie in die harte Schule nimmt und ihnen ungewohnte Entbehrungen auferlegt, entfesselt er damit auch die Leidenschaften der Menge.519

Auch in der Übersetzung dieses Satzes, der in seiner sprachlichen Struktur relativ unproblematisch ist, nimmt Braun zahlreiche schwer nachvollziehbare Veränderungen vor. So wird der substantivierte Infinitiv διὰ τὸ µὴ ἐς ἀκουσίους ἀνάγκας πίπτειν mit einem Relativsatz (»wo die bittere Not noch nicht an sie herantritt«) wiedergegeben, wodurch die kausale Verknüpfung mit dem Kernsatz unberücksichtigt bleibt. Aber auch auf der Wortebene finden sich hier mehrere gravierende Veränderungen, wie etwa die Übersetzung des Adjektivs ἀκούσιος mit dem in keiner Weise sinnverwandten »bitter«. Diese Übersetzungsentscheidung zeigt eindrucksvoll, wie Braun die Bedeutung des Ausgangstextes vernachlässigt, um einen in der Zielsprache geläufigen Ausdruck (»bittere Not«) zu verwenden, der dem griechischen Ausdruck nur sehr vage entspricht. Außerdem wird die Bildlichkeit des Ausdrucks ἐς ἀκουσίους ἀνάγκας πίπτειν (»in unfreiwillige Zwangslagen fallen«) ohne erkennbaren Grund umgekehrt, so dass bei Braun die »bittere Not« an die Personen »herantritt«. Es macht sich hier eine Tendenz bemerkbar, die für Brauns Übersetzungsverfahren charakteristisch ist, nämlich das Streben nach Veränderung um der Veränderung willen. Im zweiten Satz lassen sich ebenfalls zahlreiche Abweichungen vom Ausgangstext nachweisen. Wie schon an einigen Stellen seiner Übersetzung des Epitaphios, kann man auch hier teilweise nicht mehr nachvollziehen, wie Braun den Satz im Einzelnen verstanden hat und auf der Grundlage welcher Überlegungen er zu seiner Übersetzung gelangt ist. Zunächst einmal fällt auf, dass die Satzstruktur weitgehend verändert ist; aufgrund des sehr freien Umgangs mit dem Ausgangstext lässt sich aber nicht sagen, ob dies auf einem Missverständnis beruht oder reiner Willkür zuzuschreiben ist. Regelrecht sinnentstellend ist die Wiedergabe von πρὸς τὰ παρόντα τὰς ὀργὰς τῶν πολλῶν ὁµοιοῖ mit »entfesselt er damit auch die Leidenschaften der Menge«. Wie bereits oben im Fall der Übersetzung »bittere Not« lässt sich auch hier beobachten, dass Braun um der deutschen Formulierung willen die Grundbedeutung des griechischen Ausdrucks (ὁµοιόω) völlig unberücksichtigt lässt. Der zentrale Gedanke dieser Aussage, dass nämlich der Krieg die Leidenschaften der Menschen den aktuellen Gegebenheiten (πρὸς τὰ _____________ 519 Braun (1917), 222.

Theodor Braun

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παρόντα) anpasst, sie ihnen »gleich macht«, geht in dieser Übersetzung völlig verloren. Pathologie des Krieges (3, 82, 4 f.) καὶ τὴν εἰωθυῖαν ἀξίωσιν τῶν ὀνοµάτων ἐς τὰ ἔργα ἀντήλλαξαν τῇ δικαιώσει. τόλµα µὲν γὰρ ἀλόγιστος ἀνδρεία φιλέταιρος ἐνοµίσθη, µέλλησις δὲ προµηθὴς δειλία εὐπρεπής, τὸ δὲ σῶφρον τοῦ ἀνάνδρου πρόσχηµα, καὶ τὸ πρὸς ἅπαν ξυνετὸν ἐπὶ πᾶν ἀργόν· τὸ δ᾿ ἐµπλήκτως ὀξὺ ἀνδρὸς µοίρᾳ προσετέθη, ἀσφαλείᾳ δὲ τὸ ἐπιβουλεύσασθαι520 ἀποτροπῆς πρόφασις εὔλογος. καὶ ὁ µὲν χαλεπαίνων πιστὸς αἰεί, ὁ δ᾿ ἀντιλέγων αὐτῷ ὕποπτος. ἐπιβουλεύσας δέ τις τυχὼν ξυνετὸς καὶ ὑπονοήσας ἔτι δεινότερος· προβουλεύσας δὲ ὅπως µηδὲν αὐτῶν δεήσει, τῆς τε ἑταιρίας διαλυτὴς καὶ τοὺς ἐναντίους ἐκπεπληγµένος. ἁπλῶς τε ὁ φθάσας τὸν µέλλοντα κακόν τι δρᾶν ἐπῃνεῖτο καὶ ὁ ἐπικελεύσας τὸν µὴ διανοούµενον.

Selbst die gewöhnliche Bedeutung der Wörter änderte man nach Belieben. Unverschämtheit hieß Freiheit und Brüderlichkeit, vernünftige Überlegung bloße Feigheit, der besonnene Mann war ein Hasenfuß, der Bedächtige eine Schlafmütze, tolles Zufahren männlich, ruhiges Nachdenken nur ein Vorwand, sich zu drücken. Wer auf alles schimpfte, war gesinnungstüchtig, und wer ihm widersprach, verdächtig. Wem ein hinterlistiger Streich gegen einen anderen geglückt war, galt für klug, für noch klüger aber der andere, der sich nicht hatte hinters Licht führen lassen, und wer sich auf dergleichen überhaupt nicht einließ, war ein Duckmäuser und eine Bangebüchse. Wer einem ihm zugedachten Streich zuvorkam oder jemand dazu anstiftete, einem anderen einen solchen Streich zu spielen, der wurde gerühmt.521

Die Übersetzung weicht hier an vielen Stellen derart stark vom Ausgangstext ab, dass man sich geradezu fragen muss, ob der griechische Text überhaupt die primäre Grundlage der Übersetzung bildet. Die Ungenauigkeit erstreckt sich auf alle sprachlichen Aspekte. Dabei lässt sich auch kein Bemühen um die genaue Wiedergabe des Sinns erkennen. Auf diese Weise gehen nicht nur Bedeutungsnuancen verloren, wie es etwa in der wenige Jahre zuvor erschienenen Übersetzung von August Horneffer der Fall gewesen war, sondern es wird die gesamte Sinnstruktur der Passage entstellt. Besonders frappierend sind die Ungenauigkeiten auf der Ebene der einzelnen Ausdrücke. So gibt Braun etwa die Nominalphrase τόλµα ... ἀλόγιστος sehr frei mit »Unverschämtheit« wieder oder ἀνδρεία φιλέταιρος mit »Freiheit und Brü_____________ 520 Der Text von Hude (1898) hat hier die Lesart ἀσφάλεια δὲ τοῦ ἐπιβουλεύσασθαι. 521 Braun (1917), 222.

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derlichkeit«. Bei dieser Übersetzung ist vor allem nicht nachvollziehbar, wie Braun auf den Ausdruck »Freiheit« kommt, der im griechischen Text keinerlei Entsprechung hat und auch vom Kontext her völlig unpassend ist. Auf eine detaillierte Auflistung der weiteren sprachlichen Ungenauigkeiten soll hier verzichtet werden, bestätigen sie doch nur das Muster, das sich in den bislang betrachteten Übersetzungsbeispielen herauskristallisiert hat. Ein Merkmal der Übersetzung Brauns, das hier besonders massiv auftritt, ist die Verwendung von kolloquialen Ausdrücken wie »Hasenfuß«, »Schlafmütze«, »Duckmäuser« und »Bangebüchse«. Es handelt sich hierbei um ein stilistisches Register, das Thukydides selbst an keiner Stelle verwendet. Braun beabsichtigt eventuell, die Art von Sprachverwendung zu treffen, die seiner Meinung nach die Teilnehmer an dem Parteienkampf verwendet haben dürften. Allerdings ist zu betonen, dass Thukydides die Art von vulgärer Ausdrucksweise, wie sie von bestimmten Teilnehmern an den Parteikämpfen möglicherweise verwendet wurde, nicht mimetisch abbildet, sondern ein eher neutrales Begriffsrepertoire verwendet. Braun verleiht seiner Übersetzung hier somit gegenüber dem Ausgangstext eine völlig andere stilistische Färbung, die eher für die Übersetzung der Komödien des Aristophanes angemessen wäre. Von einer Übersetzungsmethode kann man angesichts der, wie es scheint, willkürlichen Veränderungen gegenüber dem Ausgangstext bei Theodor Braun zwar nur bedingt sprechen, doch lassen sich durchaus gewisse Prinzipien herausarbeiten, die er konsequent verfolgt. Dominierendes Prinzip ist die Anpassung des Textes an die von ihm angenommenen Erwartungen seiner Leser. Insoweit stimmt die Übersetzungskonzeption, die Braun in seinem Vorwort formuliert, mit dem Übersetzungsverfahren, das sich in der Übersetzung selbst beobachten lässt, grundsätzlich überein. Doch geht die Radikalität, mit der er die sprachliche Struktur umformt, weit über die moderate Anpassung, wie er sie dort in Aussicht stellt, hinaus. Vor allem seine Behauptung, »in der Hauptsache denn doch an die Eigenart des fremden Idioms gebunden« zu sein,522 findet sich in der Übersetzung selbst in keiner Weise bestätigt. Charakteristisch für die Übersetzung Brauns ist die Verwendung von Kolloquialismen. Die Tendenz zur Verwendung von umgangssprachlichen Ausdrücken ließ sich bereits in früheren Übersetzungen beobachten; besonders ausgeprägt war sie bei Johann Jacob Reiske (1761), sie zeigte sich aber auch in der Übersetzung von Johann David Heilmann (1760), die, wie Braun in seinem Vorwort erklärt, ein maßgebendes Vorbild für seine eigene Übersetzung gewesen ist. Dass Braun sich an der Übersetzung Heilmanns angelehnt hat, lässt sich anhand zahlreicher Ähnlichkeiten belegen, die bis hin zur Übernahme einzelner Formulierungen reichen. Vergleicht man die Übersetzung Brauns mit den Thukydidesübersetzungen des 18. Jahrhunderts, so ist zu berücksichtigen, dass zwischen den Übersetzungen von Heilmann und Reiske auf der einen und derjenigen Brauns auf der _____________ 522 Braun (1917), V.

Theodor Braun

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anderen Seite die philologischen und übersetzerischen Leistungen des 19. Jahrhunderts stehen. Diese hatten zahlreiche Verständnisprobleme gelöst und boten somit viel bessere Voraussetzungen für ein angemessenes Verständnis des Textes. Wie in der Übersetzungsanalyse deutlich geworden ist, hat Braun das in den vorliegenden Übersetzungen und Kommentaren verfügbare Wissen nicht konsequent genutzt und gelangt so teilweise zu sinnentstellenden Übersetzungen. Tatsächlich lässt sich an vielen Stellen nachweisen, dass Heilmann und Reiske trotz der sprachlichen Distanz zum Ausgangstext den Sinn des griechischen Textes genauer erfassen als Braun. Um eine Vorstellung davon zu vermitteln, wie das Lesepublikum auf diese Übersetzung reagierte, soll abschließend noch ein kurzer Blick auf einige besonders aussagekräftige Rezeptionszeugnisse geworfen werden. Überraschend ist, angesichts der massiven Abweichung von der Sinnstruktur des Originals, das positive Echo auf die Übertragung Brauns. Zwar wurden durchaus auch kritische Stimmen laut, die auf die problematischen Aspekte dieser Übersetzung hinwiesen,523 doch lobten andere Rezensenten sein Werk in geradezu überschwänglichen Tönen; ein Rezensent in der Deutschen Rundschau sprach gar von einer »meisterhafte[n] Übertragung«.524 Ähnlich positiv fällt eine Besprechung in den Süddeutschen Monatsheften aus. Hier ist von einer »hervorragend guten und ungewöhnlich flüssigen, deutschen, lebendigen Übersetzung«525 die Rede. Die außerordentliche Qualität dieser Übersetzung wird anschließend genauer erläutert526: Man vergleiche diese Übersetzung von Theodor Braun mit irgend welcher früheren, und man wird sehen, daß damit Thukydides wieder für eine Generation so völlig zurückerobert ist, wie dies bei einem so schweren und strengen Autor überhaupt möglich ist. Wer bisher mit dem größten griechischen Geschichtsschreiber nichts rechtes anfangen konnte, versuche es mit dieser Ausgabe; ich zweifle nicht, daß sie ihm die verschlossene Tür öffnet.

Aus solchen Äußerungen lässt sich erkennen, dass Braun die Erwartungen seiner Leserschaft offenbar richtig eingeschätzt hatte und den Übersetzungskriterien genügte, nach denen Übersetzungen von zeitgenössischen Lesern bewertet wurden. Dass eine solch uneingeschränkt positive Beurteilung sich nur auf die zielsprachliche Qualität der Übersetzung, nicht aber auf die adäquate Erfassung des Ausgangstextes bezog, ist angesichts der diskutierten Übersetzungsbeispiele offenkundig. _____________ 523 Vgl. z. B. Widmann (1923), 219: »Die Übersetzung ist flüssig, enthält aber zu viel Redensarten des heutigen alltäglichen Lebens, wie sie nicht dem ernsten Geist des Geschichtschreibers entsprechen, und ist mitunter ziemlich frei.« 524 W(erner) F(iedler), Weihnachtsrundschau, in: Deutsche Rundschau 213 (1927), 230–248, hier: 238. Die zitierte Bemerkung findet sich im Kontext einer Besprechung der Herodotübersetzung Theodor Brauns, bezieht sich aber auf dessen Übersetzung des Peloponnesischen Krieges. 525 Hofmiller (1920), 215. 526 Ebd., 215 f.

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Deutsche Thukydidesübersetzungen am Ende des Kaiserreichs

*** Deutsche Thukydidesübersetzungen am Ende des Kaiserreichs Zu Anfang dieses Kapitels wurde auf Wilamowitz’ radikale Ablehnung des sprachmimetischen Übersetzens und der Übersetzungstradition des 19. Jahrhunderts hingewiesen. An die Stelle der vermeintlich unlesbaren Übersetzungen im Stile von Voß und Schleiermacher sollten »lebendige« deutsche Übersetzungen treten und so die Schätze der antiken Literatur auch einem breiteren Publikum zugänglich gemacht werden. Vergleicht man die beiden Übersetzungen von August Horneffer und Theodor Braun mit den in den vorangegangenen Kapiteln betrachteten Übersetzungen des 19. Jahrhunderts, die noch in mehr oder weniger starkem Maße vom ausgangssprachlichen Übersetzungsparadigma bestimmt waren, so stellt man fest, dass sich – zumindest im Bereich der Thukydidesübersetzung – in der Tat ein deutlicher Wandel hin zu einem zielsprachlichen Paradigma vollzogen hat, der durch Wilamowitz’ übersetzungstheoretische Äußerungen sowie durch dessen Übersetzungen zumindest begünstigt, wenn nicht gar entscheidend gefördert wurde.

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Deutsche Thukydidesübersetzungen im Umfeld des »Dritten Humanismus«

In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg fanden intensive Diskussionen über die Rolle des altsprachlichen Unterrichts im gymnasialen Bildungswesen statt.527 Progressive Bildungstheoretiker schlugen, im Gefolge der Brüder Horneffer, vor, man solle im schulischen Unterricht auf die Lektüre der griechischen und lateinischen Originale verzichten und stattdessen Übersetzungen lesen.528 Solchen Bestrebungen widersetzten sich begreiflicherweise die Altphilologen, für die die Vermittlung der antiken Originale einen wesentlichen Bestandteil ihrer professionellen Tätigkeit bildete. Im selben Jahr widmete sich Eduard Fraenkel529 in seinem Aufsatz »Vom Werte der Übersetzung für den Humanismus« der Frage, welche Rolle das Übersetzen im Rahmen einer humanistischen Bildungskonzeption spielen sollte.530 Dabei geht es ihm nicht darum, eine bestimmte Übersetzungskonzeption zu vertreten, sondern um die grundsätzliche Frage nach der Möglichkeit des Übersetzens antiker Literatur. Im Gegensatz zu seinem Lehrer Wilamowitz,531 auf den er ausdrücklich verweist, bestreitet Fraenkel, dass die antiken Werke sich ohne den Verlust ihres wesentlichen Charakters übertragen lassen. Mit seiner Argumentation zielt Fraenkel darauf ab zu zeigen, dass die schulische Vermittlung antiker Werke gerade nicht in erster Linie auf Übersetzungen basieren dürfe532: Stets wird eine ehrlich unternommene Übersetzung auch für das Bild des Originals wertvoll sein als ein Versuch dessen Geheimnisse nachgestaltend, also in stärkster Anspannung aller Kräfte, aufs neue zu deuten. Das Leben aber unseres deutschen Humanismus hängt daran, daß abseits der Gelehrtenzunft immer noch Menschen unter uns leben, die den Weg zu den Originalen zu finden wissen. Ihnen den offen zu halten, soll eine Art unseres Jugendunterrichtes als Pflicht ansehen. Erst diese Menschen werden auch von Übersetzungen den rechten Gebrauch machen können, als von Interpreten dessen was sie zugleich in der Ursprache lesen, als Brücken zu Entfernterem, denn derjenige, der eine Sprache wirklich kennt, vermag auch der Wiedergabe eines ihm unbekannten Originals etwas von dem echten Ton zu entnehmen.

_____________ 527 Vgl. Preuße (1988), 104–127. 528 So z.B. Havenstein (1919). 529 Fraenkel (1888–1970) war nach seiner Habilitation im Jahre 1917 zunächst außerordentlicher Professor in Berlin, dann ordentlicher Professor in Kiel, Göttingen und Freiburg. 530 Fraenkel (1919). 531 Zur Übersetzungskonzeption von Wilamowitz s. oben Kap. 7. 532 Fraenkel (1919), 305 f.

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Deutsche Thukydidesübersetzungen im Umfeld des »Dritten Humanismus«

Die Vermittlungsfunktion des Übersetzens für des Griechischen unkundige Leser, wie sie für Wilamowitz im Mittelpunkt seiner Übersetzungstätigkeit gestanden hatte, spielt für Fraenkel also bestenfalls eine nachgeordnete Rolle. Indem er behauptet, dass nur diejenigen, die mit den Alten Sprachen vertraut sind, »von Übersetzungen den rechten Gebrauch machen können«, schließt er eine substitutive Verwendung von Übersetzungen prinzipiell aus. Die Diskussionen um die Rolle des altsprachlichen Unterrichts, die seit etwa 1920 geführt wurden, sind im Zusammenhang der tiefgreifenden politischen und kulturellen Veränderungen zu sehen, die sich zu dieser Zeit in Deutschland vollzogen.533 In dieser Situation, in der einerseits die Bedeutung der antiken Kultur und insbesondere der Alten Sprachen in Frage gestellt wurde, andererseits ein starkes Bedürfnis nach weltanschaulicher Orientierung bestand, entwickelte Werner Jaeger,534 Nachfolger von Wilamowitz auf dem Lehrstuhl der Berliner Universität, ein neues Bildungskonzept, das auf die Antike zurückgriff. Ein Hauptanliegen dieses sogenannten »Dritten Humanismus«535 war, den historischen Positivismus, wie er für die Klassische Philologie seit dem 19. Jahrhundert bestimmend gewesen war, zu überwinden und das antike Erbe für die Gegenwart fruchtbar zu machen. Der wesentliche Unterschied gegenüber dem Neuhumanismus bestand darin, dass Bildung sich nach Jaeger nicht auf das Individuum richten sollte, sondern auf die Formung des einzelnen Menschen als Mitglied einer politischen Gemeinschaft. Seine abschließende Darstellung fand das Programm im 1934 erschienenen ersten Band von Jaegers monumentalem Werk Paideia.536 Innerhalb der Klassischen Philologie wurde das Humanismuskonzept Jaegers zunächst überwiegend positiv rezipiert.537 Anhänger Jaegers waren u. a. der Frankfurter Gymnasialdirektor Heinrich Weinstock und der Heidelberger Ordinarius Otto Regenbogen, die dann beide auch als Thukydidesübersetzer hervortraten. Während ihre übersetzungstheoretischen Reflexionen in dieselbe Richtung weisen, unterscheiden sie sich in ihrer Übersetzungspraxis, wie sich im Folgenden zeigen wird, stark voneinander. _____________ 533 Zur »Krisenstimmung« innerhalb der Klassischen Philologie in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg vgl. Landfester (1995), 11–15. 534 Jaeger (1888–1961) lehrte seit 1921 in Berlin. 1936 folgte er mit Genehmigung des preußischen Staates einem Ruf in die USA, wo er zunächst an der University of Chicago und ab 1939 dann an der Harvard University lehrte. Zu Jaegers anfänglichen Bemühungen, sich mit dem nationalsozialistischen Staat zu arrangieren, vgl. Rösler (im Druck). 535 Zum »Dritten Humanismus« vgl. v. a. Schmidt (2003 und 2007), dazu auch Mehring (1999) und Stiewe (2011). 536 Die später in den Jahren 1944 und 1947 erschienenen Bände komplettierten das Werk, standen allerdings unter völlig veränderten bildungsgeschichtlichen und politischen Voraussetzungen. 537 Vor allem war der 1930 vorgelegte Lehrplan des Deutschen Altphilologenverbandes, dessen zweiter Vorsitzender Jaeger war, entscheidend von seinem Paideia-Konzept geprägt; vgl. Preuße (1988), 149–153; Landfester (1995), 26. Jedoch gab es auch kritische Stimmen, vor allem Snell (1935); vgl. dazu Calder (1989), 355 f.

Heinrich Weinstock

8.1

171

Heinrich Weinstock: Thukydides, Der große Krieg (1938)

Heinrich Weinstock (1889–1960) hatte in Bonn, München, Berlin und Münster Klassische Philologie, Germanistik und Philosophie studiert und war 1912 mit einer Arbeit zu Platons Phaidros promoviert worden.538 Nach Ende des Ersten Weltkriegs war er im höheren Schuldienst tätig, von 1926 bis 1939 als Direktor des Kaiser-Friedrichs-Gymnasiums in Frankfurt am Main. Während der 1930er Jahre beteiligte sich Weinstock, der stark vom »Dritten Humanismus« Jaegers geprägt war, intensiv an den bildungstheoretischen Diskussionen der Zeit, erregte allerdings aufgrund seines Festhaltens an humanistischen Vorstellungen das Missfallen der führenden NS-Pädagogen Krieck und Baeumler.539 Nach Kriegsende leitete er erneut das Kaiser-Friedrichs-Gymnasium, bevor er 1946 zunächst kommissarisch, ab 1949 dann als ordentlicher Professor den Lehrstuhl für Philosophie und Pädagogik an der Universität Frankfurt übernahm.540 Übersetzungen einzelner Passagen aus dem Geschichtswerk des Thukydides legte Weinstock zuerst 1934 im Anhang zu dem Buch Polis vor, dessen Untertitel (»Der griechische Beitrag zu einer deutschen Bildung heute an Thukydides erläutert«) bereits sein zentrales Anliegen in der Auseinandersetzung mit Thukydides, nämlich die Fruchtbarmachung des Peloponnesischen Krieges für die Gegenwart, deutlich werden lässt.541 Den Ausgangspunkt seiner Betrachtungen bildet eine Reflexion der veränderten Rolle der Antike im modernen Bildungswesen. In bewusster Abgrenzung vom Humanismus Humboldt’scher Prägung mit seiner Ausrichtung auf das Individuum fordert Weinstock in Anlehnung an Jaeger einen politischen Humanismus.542 Diese Gewichtsverschiebung hat notwendigerweise auch eine Veränderung des Literaturkanons zur Folge, wie Weinstock im Nachwort zu seiner Thukydidesübersetzung erläutert543: Während die Deutschen aus ihrem jahrhundertelangen Ringen mit den Griechen als köstliche Preise den Homer, den Platon, die Tragödie heimgebracht und in immer

_____________ 538 Weinstock (1912). 539 Vgl. Baeumler (1937), 87–89 und Krieck (1936), 53 f. Näheres zu Baeumler bei Giesecke (1993), 75–122, zu Krieck ebd., 31–73. 540 Die biographischen Angaben nach Wulfhorst (1988). Vgl. außerdem Hammerstein (2012), 807– 810. 541 Weinstock (1934). 542 Von welchen Spannungen dieser »politische Humanismus« geprägt war, geht besonders deutlich aus einer Stelle in Weinstocks 1936 erschienener Schrift Die höhere Schule im deutschen Volksstaat hervor: »Wer ein deutsches Volk will, muß auch den deutschen Menschen wollen, d. h. er muß humanistische Bildung wollen. Freilich als einen wirklichen, d. h. einen nationalen sozialistischen völkischen religiösen, einen p o l i t i s c h e n Humanismus. Aber eben doch einen politischen H u ma n i s m u s !« (101). Vgl. dazu Landfester (1995), 27: »Die Deuter und Vermittler der Antike hatten sich in einer Art kollektiver Psychose zum politischen Humanismus bekehrt, um den Vorwurf der Humanismusgegner ins Leere laufen zu lassen, die Krise Deutschlands sei das Ergebnis der alten humanistischen Individualbildung.« Zur politischen Dimension des »Dritten Humanismus« vgl. außerdem Mehring (1999). 543 Weinstock (1938), 167.

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Deutsche Thukydidesübersetzungen im Umfeld des »Dritten Humanismus« neuen Bemühungen ihrer Sprachgewaltigsten eingedeutscht haben, ist die vierte unter den großen Selbstdarstellungen des griechischen Geistes weiteren deutschen Kreisen so gut wie unbekannt geblieben. Wohl hat sich die deutsche Wissenschaft nachdrücklich und erfolgreich um Thukydides bemüht, wohl haben auch immer wieder bedeutende Einzelne [...] sich zu Thukydides bekannt und sein Werk gerade den Deutschen anbefohlen. Aber was hatte diesen Deutschen, so lange allein Helenas lächelndes Bild sie nach dem Süden zog, Thukydides mit seiner nüchternen Darstellung eines trostlosen politischen Geschehens zu sagen? Thukydides, als die »große Summe, die letzte Offenbarung jener starken, strengen, harten Tatsächlichkeit, die den älteren Hellenen im Instinkt lag« (Nietzsche)? Der Deutsche mußte erst zum politischen Menschen werden, um dem politischen Griechen zu begegnen und auf Thukydides zu stoßen, dessen deutsche Stunde jetzt also gekommen wäre.

Um zu verstehen, warum Weinstock dem Werk des Thukydides im Kontext der politischen Entwicklungen der damaligen Zeit eine besondere Relevanz zuspricht, muss man von seiner Interpretation des Peloponnesischen Kriegs ausgehen, wie er sie in dem Buch Polis entwickelt. Der Peloponnesische Krieg wird hier geradezu als Paradeigma verwendet, anhand dessen die gegenwärtige politische Lage in Deutschland sich besser verstehen lasse. Wie der Titel des Buches nahelegt, steht die »Polis« im Zentrum seiner Überlegungen,544 wobei er hierunter nicht ausschließlich die historische Polis der Antike versteht, sondern in einem weiteren Sinne eine Staatsform, die im Athen des Perikleischen Zeitalters ihre idealtypische Entfaltung erlebt habe und nun in Deutschland wiedererstehen solle545: Was die Bewegung unserer Tage erstrebt ist eine deutsche Verwirklichung dessen, was nur einmal in der Geschichte als Polis der Griechen Wirklichkeit gewesen ist; wofür es ein deutsches Wort noch nicht gibt, weil es die Sache bisher in der deutschen Geschichte nicht gegeben hat. [...] Manche gebrauchen heute das Wort ›Reich‹, das vielleicht, wenn seine geschichtliche Doppelbelastung zu vergessen ist, einmal die deutsche Polis bezeichnen wird.

Diese Parallelisierung von griechischer Antike und politischer Gegenwart zieht sich durch das ganze Werk und findet in Weinstocks Charakterisierung des Perikles als »Führer« einen weiteren – aus heutiger Sicht befremdlichen – Ausdruck.546 Es hat hier den Anschein, als wollte Weinstock, den deutschen »Führer«, als der sich Hitler, als Weinstock sein Buch verfasste, bereits bezeichnen ließ, bevor er im August 1934 als Nachfolger Hindenburgs den Titel auch offiziell übernahm, durch die angedeutete Parallele zu Perikles dazu verpflichten, sich nach den vom Thukydideischen Perikles etablierten Wertmaßstäben zu richten. Mag der von Weinstock hier gezeigte Glaube an die Möglichkeit einer Einflussnahme auf die nationalsozialistische Politik durch einen Rekurs auf die Antike _____________ 544 Vgl. in diesem Zusammenhang Stiewe (2011), 219, die darauf hinweist, dass die führenden Köpfe des »Dritten Humanismus« »die frühe griechische Polis als Musterbeispiel einer organischen und vitalen Gemeinschaft, wie sie für die Zukunft anvisiert werden sollte«, betrachteten. 545 Weinstock (1934), 79. 546 Vgl. Weinstock (1934), 67–70.

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aus heutiger Sicht auch äußerst naiv erscheinen, so ist doch darauf hinzuweisen, dass Hitler sich positiv zu Perikles geäußert hatte und sich in seiner Tätigkeit als Bauherr sogar ausdrücklich mit ihm vergleichen ließ.547 Anschließend diskutiert Weinstock den sittlichen Verfall, der sich im Laufe des Peloponnesischen Krieges vollzieht.548 Zwischen den Verfallserscheinungen, wie sie insbesondere in der Pathologie des Krieges (3, 82–84) beschrieben werden, und den zeitgenössischen politischen Entwicklungen zieht Weinstock eine Parallele, indem er die von Thukydides dort beschriebenen Tendenzen mit den Auswirkungen des Bolschewismus vergleicht.549 Aus dem allgemeinen Werteverfall, der sich im Laufe des Peloponnesischen Krieges vollzieht, ergibt sich nach Weinstock als notwendige Konsequenz, dass ein politisches Genie wie Alkibiades sich nicht zum »Führer« entwickelt, sondern als »Verführer« auftritt, der mit seiner imperialen Machtpolitik die Polis ins Verderben stürzt.550 Es ist auffällig, dass Weinstock, anders als in den Abschnitten zuvor, hier keine Andeutung einer möglichen Parallele in der Gegenwart macht. So lässt er die Frage im Raum stehen, ob es sich bei Hitler um einen »Führer« oder einen »Verführer« handelt. Wie schwer die Unterscheidung zwischen diesen beiden Typen ist, wird von Weinstock ausdrücklich betont, indem er darauf hinweist, dass der Leser der Verführungskraft des Thukydideischen Alkibiades zu erliegen droht.551 Insgesamt lässt sich feststellen, dass Weinstock zwar in vielerlei Hinsicht eine mit dem Nationalsozialismus durchaus sympathisierende Haltung zeigt, die sich auch in zahlreichen rassenideologischen Äußerungen552 sowie in der Übernahme von »Blut und Boden«-Rhetorik bemerkbar macht.553 Andererseits sind aber auch der nationalsozialistischen Ideologie entgegenlaufende Tendenzen seines Entwurfs nicht zu verkennen, insbesondere seine Kritik an einem spartaähnlichen »Militärstaat«.554 Für den gegenwärtigen Zusammenhang geht es jedoch nicht _____________ 547 Die Nachweise bei Demandt (2001), 138, 143. 548 Vgl. Weinstock (1934), 70–74. 549 Vgl. ebd., 74: »In dem Haß aber der Masse gegen diese Wenigen stellt sich zum ersten Male in der europäischen Geschichte jener Dämon bloß, der der Erzfeind aller Polis, der Satan jedes Reiches, der Zerstörer nicht dieser oder jener Staatsordnung, sondern von Rang und Ordnung überhaupt ist. Heute hat er als Bolschewismus sich ein ganzes Volk unterworfen, aber die Gefahr des Bolschewismus hat es immer gegeben. Sie ist zusammen mit dem stolzen Drang des Menschen zum Höheren als sein finsterer Schatten geboren.« 550 Vgl. ebd., 75–78. 551 Vgl. ebd., 77. 552 So spricht Weinstock (ebd., 66) etwa von der »Erbgnade der griechischen Rasse« oder erklärt (ebd., 83), dass Platon sich »an die besten Jünglinge der Stadt als an die rassischen Erbträger der politischen Norm« gewandt habe. 553 Ein Beispiel: »Polis ist Schicksal nicht Wahl, unausweichlich festgelegt durch den Boden als das raumgebende und das Blut als das zeitbildende Moment« (ebd., 62). 554 Vgl. Weinstock (1934), 65: »Nachdem wir heute den Irrtum des ungebundenen Individualismus in blutiger Erfahrung durchschaut haben, dürfen wir nicht in den Gegenirrtum des totalen Staates, der notwendig zum Staatsabsolutismus zurückführt, fallen. Wer heute mit Sparta liebäugelt hat sich über zweierlei klar zu sein: daß er, wenn er die totale Mobilisation für den absoluten

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darum, Weinstock im Hinblick auf seine Nähe bzw. Distanz zum Nationalsozialismus zu beurteilen.555 Entscheidend ist allein der Umstand, dass er das Werk des Thukydides konsequent als Folie für das Verständnis der Gegenwart verwendet. Ausgehend von den im Anhang zur Polis erschienenen Übersetzungen einzelner Passagen verfertigte Weinstock dann eine umfassendere Thukydidesübersetzung, die 1938 unter dem Titel »Der Große Krieg« als »Taschenausgabe« im Stuttgarter Kröner-Verlag erschien.556 Zu dieser Zeit war für Weinstock an eine direkte (bildungs-)politische Einflussnahme nicht mehr zu denken. Dennoch zeigt die Übersetzung in ihrer ganzen Anlage dasselbe Bemühen darum, die paradeigmatische Funktion des Thukydideischen Geschichtswerks zu betonen, wie bereits das Buch Polis. Dies wird zunächst an seiner Entscheidung deutlich, das Geschichtswerk nicht vollständig zu übersetzen, sondern sich auf zentrale Partien von überzeitlicher Geltung zu konzentrieren.557 Vor allem aber zeigt es sich in den Paratexten zu der Übersetzung. So greift er insbesondere die erwähnte Charakterisierung des Alkibiades als »Verführer« in der Einleitung zu seiner Übersetzung auf, und zwar mit Formulierungen die sich geradezu wie eine latente Regimekritik lesen lassen.558 Auch in den Kolumnenüberschriften, mit denen _____________ 555 556

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Militärstaat will, verzichten muß auf alles was das Leben reich und schön macht, auf alles erfülltere Menschentum, mit einem Worte: auf die Kultur, auf eine höhere Würde des Menschen.« Vgl. hierzu die differenzierten Ausführungen bei Feidel-Mertz/Lingelbach (1994), 721–723. Die Reihe richtete sich an ein breiteres Publikum und hatte folgende Programmatik: »Dem heutigen Menschen, der zwischen Arbeit und Erholung eine Stunde über sich und die Welt nachdenkt, auf dem Wege zu einer echten und festen Lebensanschauung beizustehen, ihn von Jahr zu Jahr mit neuen Schätzen des Geistes zur Belehrung, Ertüchtigung und Freude zu geleiten, ist das Ziel von Kröners Taschenausgabe. Bloßer Tagesmode und unnützem Wissen gleich abhold, hebt sie aus der Vergangenheit nur Werke herauf, deren Geist in unserer Weltanschauung fortwirkt. Aus der Gegenwart wählt sie das Wesentliche, Leben Schaffende und gibt in klaren Übersichten allmählich ein Gesamtbild der heutigen Welt. Sie veröffentlicht keine Abhandlungen über Werke, sondern die Werke selbst oder faßt deren Wichtiges in sorgfältige Auswahlen zusammen. […]« (zitiert nach dem Verlagsanhang zu Weinstocks Thukydidesübersetzung). Weinstock (1938), 167 f. begründet dies folgendermaßen: »Indes wird sich kaum ein moderner Leser durch den ganzen Thukydides durcharbeiten. Auf den weiten Strecken der geschichtlichen Einzelheiten wird er liegen bleiben, ganz gewiß aber würden die großartig lebendigen Stücke, diese unvergänglichen Offenbarungen über die Wirklichkeit des Politischen, im Gestrüpp des gleichgültig Gewordenen seinem Auge verloren gehen. Wir brauchen also eine Auswahl aus Thukydides, die aber so getroffen werden müßte, daß die geschlossene Einheit des Originals erhalten bliebe. Das ist möglich, wenn wir uns von der inneren Linie leiten lassen, die das Ganze durchzieht, wenn wir, nichts wirklich Wesentliches auslassend, den lebendigen Thukydides aus all dem Beiwerk herauslösen, das, für den Historiker unentbehrlich, aber den Leser doch nur stört und verwirrt, den Thukydides selber im Auge hatte. Eine solche Auswahl macht sich also auch keineswegs der Ehrfurchtslosigkeit schuldig; sie erneuert vielmehr das Vermächtnis des Genius in seinem Geiste für unsere Zeit.« In der betreffenden Passage geht es vordergründig um die von Thukydides geschilderten Verfallserscheinungen (ebd., XVI f.): »Die starken Kräfte, die als Dienste den ausgewogenen Bau jeder griechischen Polis tragen, wollen sich dem Gesetz des Ganzen nicht mehr fügen und treten aus der Ordnung heraus, weil sie nicht mehr geregelt sind durch die gläubige Einsicht in die

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Weinstock den Inhalt des Textes in sehr plakativer Weise zusammenfasst, um dem Leser eine Erstorientierung zu vermitteln und sein Auge für den »roten Faden« der Darstellung zu schärfen, zieht er mehrfach Parallelen zur Gegenwart.559 Auch wenn Weinstock das Werk des Thukydides nicht in erster Linie aus einer historisch-philologischen Perspektive betrachtet, sondern vor allem an dessen Relevanz für die unmittelbare Gegenwart interessiert ist, würdigt er doch durchaus auch die sprachliche Form des Werkes. So lobt er die Sprache des Thukydides in der Einleitung zu seiner Übersetzung wegen »ihrer Farbigkeit, ihre[s] Stimmungsreichtum[s], besonders aber wegen ihrer Treffsicherheit und bannenden Gewalt«560. Im Folgenden äußert er sich dann auch konkret zum Stil des Thukydides, den er nicht als Äußerlichkeit betrachtet, sondern als sprachlichen Ausdruck der »inneren Form«561: Und so wirkt die innere Form, als welche die erlebte Sinneinheit ist, durch die Gestalt des Werkes hindurch bis in die Haut seiner Sprache. Jene berühmten, berüchtigten Perioden sind nicht Erweise eines Unvermögens, also von Überwältigung der Formkraft durch die Stoffmasse; sie quillen aber auch nicht aus der Überfülle eines wilden Bildnertriebes in wirre Schnörkel, üppige Überladungen und ungesunde Übersteigerungen über, sondern in ihnen spricht sich je die Sinneinheit einer Tatsachenvielheit aus. Wer den lebendigen Organismus eines solchen Satzungeheuers (keineswegs Satzungetüms) auffaßt, wozu freilich ein kurzer Atem nicht ausreicht, dem wird jedes dieser Sprachgefüge zum richtigen Abbild und bedeutsamen Sinnbild des ganzen Sachgefüges. Unsere Sprache hat nur im Erzähler Kleist Gleiches aus gleichem Welterleben und gleichem herrischem Gestaltungswillen heraus gewagt und geleistet, wie denn die Periode bei beiden Sprachmeistern nicht mit Nominalbildungen angeschwemmt wird, sondern aus den echten Baukräften der Verben gefügt ist.

_____________ Notwendigkeit und Richtigkeit von Hingabe, Gehorsam, Einfügung, Verzicht. Nun entartet kraftvolles Selbstbewußtsein des starken einzelnen in maßloser Gier und nichts vermag mehr die Masse der Unwissenden und Unfähigen in dem treuen Gehorsam zu halten, der einzig auch ihnen Menschenwürde und geschichtlichen Wert gibt. Daß hier nicht fremdes Gift von außen eindringt, sondern daß dieser Verfall nichts anderes ist als die Selbstverwandlung ursprünglicher, innewohnender Gaben in Gifte, läßt sich an jeder Verfallserscheinung ablesen: so wenn sich echter Betätigungsdrang der einzelnen in betriebsames Geltungsbedürfnis, notwendiges Machtstreben der Staaten in unduldsame Herrschgier, Sorge für die völkischen Notwendigkeiten in nackte Ausbeutung anderer, kühle Realpolitik in dumme Brutalität, kluge Diplomatie in grundsätzliche Verlogenheit verkehrt, oder wenn eine große politische Begabung wie Alkibiades nicht mehr zum heilsamen Führer gedeiht, sondern zum dämonischen Verführer entartet, der sodann zum verratenen Verräter werden muß, weil er nicht mehr mit dem heiligen Öl der Sendung gesalbt ist.« Viele dieser Formulierungen scheinen eine kaum verhüllte Kritik an den Entwicklungen in Nazi-Deutschland zu enthalten. 559 So begegnet hier erneut, bezogen auf Perikles und Alkibiades, der Begriff »Führer« (ebd., 41: »Der Führer in der Not«, 43: »Führer und Volk«, 115: »Führer ohne Vertrauen«). Im Zusammenhang des Melierdialogs wiederum verwendet Weinstock die Überschrift »Der Wille zur Macht« (ebd., 87), womit er auf die im Nationalsozialismus intensiv rezipierte Philosophie Nietzsches anspielt. Vgl. außerdem die Überschrift »Der Dolchstoß des Emigranten« (ebd., 121). 560 Ebd., XII. 561 Ebd., XXI. Zum Begriff der »inneren Form« vgl. oben Kap. 7.1.

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Diese positive Bewertung des Thukydideischen Stils unterscheidet sich diametral von der Stilkritik Theodor Brauns, die im letzten Kapitel behandelt wurde.562 Ob Weinstock hier konkret die Aussagen Brauns im Sinn hat, lässt sich zwar nicht beweisen; dass ihm die Übersetzung Brauns, die zu jener Zeit jüngste vollständige Thukydidesübersetzung, bekannt war, ist allerdings sehr wahrscheinlich. Außerdem dürfte Weinstock hier an die Darstellung Eduard Nordens in Die antike Kunstprosa denken. Norden hatte zur Beschreibung des Thukydideischen Stils den Begriff »verkünstelt« gebraucht und davon gesprochen, dass Thukydides »nicht selten wegen des äußeren antithetischen Satzbaus ein für den Gedanken überflüssiges Satzglied hinzu[füge]«563. Genau dies bestreitet Weinstock vehement, indem er jede bloß rhetorische Funktion der Sprachgestaltung leugnet. Man kann die Ausführungen Weinstocks somit geradezu als Antwort auf die Stilkritik Nordens lesen. Dass diese Bewertung des Thukydideischen Stils Implikationen für die zu wählende Übersetzungsmethode hat, liegt auf der Hand. Wenn Weinstock zur Bezeichnung der symbiotischen Beziehung von Inhalt und Form im Werk des Thukydides von der »Haut seiner Sprache« spricht, bringt er damit zum Ausdruck, dass die beiden Ebenen Inhalt und Sprache sich nicht – oder nur gewaltsam – von einander lösen lassen. Aufschlussreich ist hier der Vergleich mit der Gewandmetaphorik, die in der frühen Aufklärung und dann wieder bei Wilamowitz verwendet worden war, aber auch mit dem ebenfalls von Wilamowitz verwendeten Bild der Metempsychose. Diese Metaphern, die allesamt im Zusammenhang von assimilierenden Übersetzungskonzeptionen verwendet worden waren, stellen das Übersetzen als grundsätzlich realisierbaren Prozess dar. Weinstock hingegen sieht die Möglichkeiten des Übersetzens wesentlich kritischer, wenn er im Vorwort zum Buch Polis unter Verweis auf die von ihm im Anhang gegebenen Übersetzungen zentraler Partien des Thukydideischen Geschichtswerks feststellt564: Vor der Mächtigkeit der sprachlichen Urgestalt ist und bleibt jede Übersetzung Stümperei und immer – je nach der eigenen Gegenwart und auch beim reinsten Willen zur Sache – Verhärtung und Vergewaltigung. Womit gesagt ist, daß die Griechen für Deutschland auf die Dauer nur lebendig bleiben können, wenn es eine begrenzte, aber genügend große Schicht von Deutschen gibt, die Griechisch können, von jungen Deutschen, die Griechisch lernen.

Mit dieser skeptischen Haltung gegenüber dem Übersetzen klingt Weinstock an Fraenkel an, der in dem bereits erwähnten Aufsatz »Vom Werte der Übersetzung für den Humanismus« von 1919 betont hatte, dass Originallektüre nicht durch die Verwendung von Übersetzungen ersetzt werden könne und dass eine bestimmte Gruppe von Personen weiterhin die antiken Werke im Original kennenlernen

_____________ 562 Vgl. Kap. 7.2. 563 Norden (1915), 99. 564 Weinstock (1934), 6.

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müsse.565 Dass Weinstock trotz dieser Bedenken später eine intensive übersetzerische Tätigkeit entfaltete – neben Thukydides übersetzte er auch Platon566, Sallust567 und Sophokles568 – dürfte in erster Linie damit zusammenhängen, dass ihm eine anderweitige publizistische Tätigkeit, insbesondere die Auseinandersetzung mit politischen und pädagogischen Themen, nach 1936 faktisch versagt war.569

Übersetzungsanalyse570 Der Anfang des Geschichtswerks (1, 1) Θουκυδίδης Ἀθηναῖος ξυνέγραψε τὸν πόλεµον τῶν Πελοποννησίων καὶ Ἀθηναίων ὡς ἐπολέµησαν πρὸς ἀλλήλους, ἀρξάµενος εὐθὺς καθισταµένου ἐλπίσας µέγαν τε ἔσεσθαι ἀξιολογώτατον τῶν προγεγενηµένων,

καὶ καὶ

τεκµαιρόµενος ὅτι ἀκµάζοντές τε ᾖσαν ἐς αὐτὸν ἀµφότεροι παρασκευῇ τῇ πάσῃ καὶ τὸ ἄλλο Ἑλληνικὸν ὁρῶν ξυνιστάµενον πρὸς ἑκατέρους, τὸ µὲν εὐθύς, τὸ δὲ καὶ διανοούµενον.

Thukydides aus Athen hat den Krieg des Peloponnesischen Bundes und der Athener, so wie sie ihn gegeneinander geführt haben, aufgezeichnet. Er hat damit gleich bei seinem Ausbruch begonnen in der Erwartung, daß er groß sein werde und denkwürdiger als alle vorausgegangenen. Dies schloß er aus der Tatsache, daß beide Teile, als sie in den Krieg zogen, mit aller Rüstung auf der Höhe ihrer Kraft standen, und aus der Beobachtung, daß das übrige Griechenland der einen oder der anderen Partei beitrat und zwar zum Teil sofort in der Tat, zum Teil wenigstens in der Absicht.

_____________ 565 Vgl. außerdem Weinstock (1936a), 131: »[E]s zeugt von kindlicher Ahnungslosigkeit in den Dingen des geistigen Lebens, wenn man glaubt, man könne das Fremde ebensogut aus Übersetzungen gewinnen.« 566 Weinstock (1936b) und (1947). 567 Weinstock (1939). 568 Weinstock (1941). 569 Vgl. Wulfhorst (1988), 38: »Seine schriftstellerische Tätigkeit mußte Weinstock allerdings nach 1933 immer mehr beschränken auf Übersetzungen und Interpretationen antiker Autoren (Thukydides, Sallust, Sophokles). Durch ihren Mund und in Erläuterungen und Einführungen zu ihren Werken konnte er sich weiterhin äußern zu Politik und Weltanschauung des Nationalsozialismus«. Es ist allerdings darauf hinzuweisen, dass Wulfhorst als Tochter Weinstocks keine neutrale Perspektive einnimmt und primär darum bemüht ist, ihren Vater von dem Vorwurf der geistigen Nähe zum Nationalsozialismus zu entlasten. 570 Weinstocks Übersetzung basiert auf dem griechischen Text der Ausgabe von Hude. Er gibt allerdings nicht an, ob er die erste Auflage von 1898/1901 oder die zweite, korrigierte Auflage von 1913/1925 verwendet hat. Hier wird der griechische Text der zweiten Auflage abgedruckt, die zum Zeitpunkt der Übersetzung bereits mehrere Jahre vorlag.

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κίνησις γὰρ αὕτη δὴ µεγίστη τοῖς Ἕλλησιν ἐγένετο καὶ µέρει τινὶ τῶν βαρβάρων, ὡς δὲ εἰπεῖν καὶ ἐπὶ πλεῖστον ἀνθρώπων. τὰ γὰρ πρὸ αὐτῶν καὶ τὰ ἔτι παλαίτερα σαφῶς µὲν εὑρεῖν διὰ χρόνου πλῆθος ἀδύνατα ἦν, ἐκ δὲ τεκµηρίων ὧν ἐπὶ µακρότατον σκοποῦντί µοι πιστεῦσαι ξυµβαίνει, οὐ µεγάλα νοµίζω γενέσθαι οὔτε κατὰ τοὺς πολέµους οὔτε ἐς τὰ ἄλλα.

So ist dies denn wirklich die größte Erschütterung geworden nicht nur für die Hellenen, sondern auch für eine Gruppe der Barbaren, ja man kann wohl sagen, für den größten Teil der Menschheit. Die Ereignisse vorher und die noch älteren zu erforschen, war freilich bei dem langen Zeitraum unmöglich, aber aus den Beweisen, die ich bei meinen so weit als möglich ausgedehnten Untersuchungen als glaubwürdig zu befinden hatte, habe ich die Überzeugung gewonnen, daß da weder in Kriegen noch sonst Bedeutendes vorgekommen ist.571

Dass Weinstock keine sprachmimetische Übersetzungsmethode verfolgt, wird bereits an seiner Wiedergabe des ersten Satzes deutlich, den er in drei selbständige deutsche Sätze zerlegt. Besonders auffällig ist hier, dass Weinstock die stilistischen Unregelmäßigkeiten des griechischen Textes konsequent glättet. Das erste Beispiel hierfür bietet die Wiedergabe der Variatio von τεκµαιρόµενος ὅτι und ὁρῶν. Thukydides lässt von dem Partizip τεκµαιρόµενος zunächst einen Nebensatz abhängen (ὅτι ἀκµάζοντές τε ᾖσαν ἐς αὐτὸν ἀµφότεροι παρασκευῇ τῇ πάσῃ), führt den Satz dann aber mit dem Partizip ὁρῶν anakoluth weiter. Eine direkte Nachbildung dieser Konstruktion lässt sich im Deutschen zwar kaum erreichen, doch gibt es, wie frühere Übersetzungen gezeigt haben, durchaus Möglichkeiten, die Unregelmäßigkeit auch in der Übersetzung sichtbar zu machen. Weinstock versucht nun aber gerade nicht, diese asymmetrische Konstruktion im Deutschen nachzubilden, sondern stellt in seiner Übersetzung im Gegenteil eine Symmetrie her, die der stilistischen Eigenart des griechischen Textes zuwiderläuft: »Dies schloß er aus der Tatsache, daß [...], und aus der Beobachtung, daß«. Eine vom Prinzip her sehr ähnliche Übersetzungslösung, die den Stil des griechischen Textes ebenfalls glättet, lässt sich in der Wiedergabe von τὸ µὲν εὐθύς, τὸ δὲ καὶ διανοούµενον beobachten, einem typischen Beispiel für Thukydideische Asymmetrie. Indem Weinstock hier zu dem ersten Glied die Präpositionalphrase »in der Tat« hinzufügt, stellt er im Deutschen eine perfekte Symmetrie zwischen den beiden Gliedern her: »[...] zum Teil sofort in der Tat, zum Teil wenigstens in der Absicht«.

_____________ 571 Weinstock (1938), 1.

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Epitaphios (2, 37, 1) Χρώµεθα γὰρ πολιτείᾳ οὐ ζηλούσῃ τοὺς τῶν πέλας νόµους, παράδειγµα δὲ µᾶλλον αὐτοὶ ὄντες τισὶν ἢ µιµούµενοι ἑτέρους. καὶ ὄνοµα µὲν διὰ τὸ µὴ ἐς ὀλίγους ἀλλ᾿ ἐς πλείονας οἰκεῖν δηµοκρατία κέκληται, µέτεστι δὲ κατὰ µὲν τοὺς νόµους πρὸς τὰ ἴδια διάφορα πᾶσι τὸ ἴσον, κατὰ δὲ τὴν ἀξίωσιν, ὡς ἕκαστος ἔν τῳ εὐδοκιµεῖ, οὐκ ἀπὸ µέρους τὸ πλέον ἐς τὰ κοινὰ ἢ ἀπ᾿ ἀρετῆς προτιµᾶται, οὐδ᾿ αὖ κατὰ πενίαν, ἔχων δέ τι ἀγαθὸν δρᾶσαι τὴν πόλιν, ἀξιώµατος ἀφανείᾳ κεκώλυται.

Wir haben eine Verfassung, die nicht den Satzungen unserer Nachbarn nachgebildet ist. Viel eher sind wir selbst für andere ein Muster, als daß wir andere nachahmten. Mit Namen heißt sie, weil sie nicht Sache weniger, sondern der großen Mehrzahl ist, Volksherrschaft. Und in der Tat sind vor dem Gesetz hinsichtlich ihrer persönlichen Belange alle Bürger gleich. Was aber die öffentliche Geltung, das Ansehen des einzelnen meine ich, betrifft, so gibt nicht Zugehörigkeit zu einer höheren Schicht, sondern nur persönliche Tüchtigkeit den Vorzug im Gemeinwesen, wie auch Armut und bescheidene Herkunft einen leistungsfähigen Bürger nicht vom politischen Erfolg ausschließen.572

Auch in dieser Passage lassen sich zahlreiche auffällige Abweichungen vom Ausgangstext konstatieren. So wird der Wechsel zwischen Indefinitpronomen und Adjektiv in παράδειγµα δὲ µᾶλλον αὐτοὶ ὄντες τισὶν ἢ µιµούµενοι ἑτέρους von Weinstock nicht berücksichtigt (»[v]iel eher sind wir selbst für andere ein Muster, als daß wir andere nachahmten«). Im Folgenden zeigt sich dann erneut, dass Weinstock sich zwar durchaus an der sprachlichen Struktur des griechischen Textes orientiert, diese jedoch nicht genau nachbildet. Dies gilt besonders für die durch die Partikeln µέν – δέ markierten Antithesen. Thukydides konstruiert hier einen Gegensatz zwischen dem Namen der Staatsform (ὄνοµα µέν) und ihrer tatsächlichen Ausprägung (µέτεστι δέ), die sich bei näherer Betrachtung gerade nicht als demokratisch, sondern als meritokratisch erweist. Indem Weinstock den mit µέτεστι δέ beginnenden Satz nun mit »[u]nd in der Tat« anschließt, deutet er diesen Satz bzw. den ersten Teilsatz desselben entgegen dem griechischen Text als eine Bestätigung der Aussage des vorausgehenden Satzes. Im letzten, mit οὐδ᾿ αὖ κατὰ πενίαν beginnenden Abschnitt gestaltet Weinstock die sprachliche Struktur gegenüber dem Ausgangstext weitgehend um. Zunächst einmal verändert er die Satzperspektive: Subjekt ist bei Weinstock nicht wie bei Thukydides das aus dem Vorausgehenden zu ergänzende »jeder Athener«, sondern die beiden Nominalphrasen »Armut und bescheidene Herkunft«, die Weinstock aus der Präpositionalphrase κατὰ πενίαν und dem Dativ ἀφανείᾳ _____________ 572 Weinstock (1938), 25 f.

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gewinnt. Dass Weinstock diese zwei Begriffe miteinander verbindet, ist zwar nachvollziehbar, da sie beide negative ökonomische bzw. soziale Voraussetzungen bezeichnen, die den Athener gerade nicht an der Erlangung politischer Geltung hindern; doch entspricht dies nicht der von Thukydides gewählten, differenzierteren Formulierung. Auch die Übersetzung der Partizipialphrase ἔχων δέ τι ἀγαθὸν δρᾶσαι τὴν πόλιν, die Weinstock mit dem Adjektiv »leistungsfähig« wiedergibt, weicht deutlich vom Ausgangstext ab. In diesem Fall führt die sprachliche Ungenauigkeit der Übersetzung dazu, dass der Sinn nicht adäquat wiedergegeben wird. Denn der Aspekt des Handelns im Interesse der Gemeinschaft (τὴν πόλιν), der für den gedanklichen Zusammenhang entscheidend ist, wird von Weinstock ignoriert. Pathologie des Krieges (3, 82, 4 f.) καὶ τὴν εἰωθυῖαν ἀξίωσιν τῶν ὀνοµάτων ἐς τὰ ἔργα ἀντήλλαξαν τῇ δικαιώσει. τόλµα µὲν γὰρ ἀλόγιστος ἀνδρεία φιλέταιρος ἐνοµίσθη, µέλλησις δὲ προµηθὴς δειλία εὐπρεπής, τὸ δὲ σῶφρον τοῦ ἀνάνδρου πρόσχηµα, καὶ τὸ πρὸς ἅπαν ξυνετὸν ἐπὶ πᾶν ἀργόν· τὸ δ᾿ ἐµπλήκτως ὀξὺ ἀνδρὸς µοίρᾳ προσετέθη, ἀσφάλεια δὲ τοῦ ἐπιβουλεύσασθαι ἀποτροπῆς πρόφασις εὔλογος. καὶ ὁ µὲν χαλεπαίνων πιστὸς αἰεί, ὁ δ᾿ ἀντιλέγων αὐτῷ ὕποπτος. ἐπιβουλεύσας δέ τις τυχὼν ξυνετὸς καὶ ὑπονοήσας ἔτι δεινότερος· προβουλεύσας δὲ ὅπως µηδὲν αὐτῶν δεήσει, τῆς τε ἑταιρίας διαλυτὴς καὶ τοὺς ἐναντίους ἐκπεπληγµένος. ἁπλῶς τε ὁ φθάσας τὸν µέλλοντα κακόν τι δρᾶν ἐπῃνεῖτο καὶ ὁ ἐπικελεύσας τὸν µὴ διανοούµενον.

_____________ 573 Weinstock (1938), 72.

Selbst die gewöhnliche Bedeutung der Worte für die Sachen änderten sie nach Gutdünken: Frechheit ohne Sinn und Verstand war Mannesmut treuer Parteigenossen. Vorsichtiges Zögern – getarnte Angst. Besonnenes Verhalten – Maske des Feiglings. Vernunft in allem – Versagen bei jedem. Verrückter Radikalismus wurde echter Mannesart zugerechnet. Wer seine Unternehmungen bedächtig zu sichern trachtete, suchte nur einen feinen Vorwand, sich zu drücken. Wer über alles murrte, auf den konnte man sich verlassen. Wer aber den Hetzern widersprach, war verdächtig. Wem seine Ränke glückten, galt für klug. Für noch bedeutender, wer hinter allem etwas witterte. Wer vorsorgte, daß er dies ganze Treiben nicht brauchte, zersetzte die Partei und hatte sich durch die Gegenseite einschüchtern lassen. Schlechthin gelobt wurde, wer dem zuvorkam, der eine Niedertracht vorhatte. Nicht minder wer den, der gar nicht an so etwas dachte, dazu anstiftete.573

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Weinstocks Übersetzung erscheint in ihrer Knappheit anfangs sogar noch extremer als der Ausgangstext, da die Partikeln und die Konjunktion, die der abrupten Gegenüberstellung von Verhaltensformen und Charaktereigenschaften im Griechischen noch eine gewisse Strukturierung verleihen, nicht wiedergegeben werden. Strukturiert werden die Aussagen vielmehr durch ein Mittel der (modernen) Zeichensetzung, nämlich den Gedankenstrich. Dieses Gestaltungsprinzip der extremen Knappheit wird von Weinstock allerdings nicht konsequent durchgehalten. Im Folgenden ersetzt er nämlich die elliptische Ausdrucksweise des Thukydides durch Sätze mit Prädikat, so in seiner Wiedergabe von ὁ µὲν χαλεπαίνων πιστὸς αἰεί mit »Wer über alles murrte, auf den konnte man sich verlassen«. Während also bei Thukydides im Laufe der Beschreibung eine Intensivierung der Brachylogie stattfindet, lässt sich in der Übersetzung Weinstocks die gegenteilige Entwicklung beobachten. Auf der Ebene der einzelnen Ausdrücke weist die Übersetzung dieser Passage, wie schon in den zuvor betrachteten Beispielen, ein breites Spektrum hinsichtlich der Übersetzungsgenauigkeit auf, das von präziser Wiedergabe bis zu freier Umschreibung reicht. Generell lässt sich aber, gerade gegenüber den im vorangehenden Kapitel betrachteten Übersetzungen von Horneffer und Braun, das Bemühen um eine adäquate Erfassung der griechischen Begriffe feststellen, wenngleich einzelne Übersetzungslösungen sich als eher frei erweisen. So wird das Prädikat ἐνοµίσθη (»wurde gehalten für«) mit »war« nur ungenau wiedergegeben. Die Wiedergabe von δειλία εὐπρεπής mit »getarnte Angst« wiederum entspricht zwar dem Sinn nach dem Griechischen, doch wird das Adjektiv εὐπρεπής, das eine positive Außenwirkung bezeichnet, mit dem Ausdruck »getarnt« nicht präzise erfasst. Sprachlich ungenau ist auch die Übersetzung »Maske des Feiglings« für τοῦ ἀνάνδρου πρόσχηµα. Bei der Übersetzung von τὸ δ᾿ ἐµπλήκτως ὀξύ mit »[v]errückter Radikalismus« fällt die Bewertung schwerer. Das Adverb ἐµπλήκτως gibt Weinstock durchaus sinngemäß wieder, die Übersetzung von ὀξύ mit »Radikalismus« ist aber problematisch. Der Begriff ὀξύς, der eigentlich »spitz« oder »scharf« bedeutet, wird hier von Thukydides metaphorisch verwendet, so dass ein Übersetzer in jedem Fall einen etwas größeren Spielraum hat. Wie eine Untersuchung der Verwendung dieses Begriffs in der griechischen Literatur vor Thukydides zeigt, ist der Bedeutungshorizont von ὀξύς aber auch in seiner metaphorischen Verwendung fest umrissen. Für den gegenwärtigen Zusammenhang ist eine Verwendungsweise in den Homerischen Gedichten besonders relevant: In der Ilias wird das Adjektiv nämlich als Epitheton des Ares verwendet.574 Das Bedeutungsspektrum des Begriffs umfasst in dieser Verwendung Vorstellungen wie »Reizbarkeit«, »Aggressivität«, »Leidenschaftlichkeit«.575 Dies deckt sich genau mit dem von Thukydides in der Pathologie des Krieges beschriebenen Spektrum der Charaktereigenschaften und Verhaltensmuster der an den Parteikämpfen beteiligten Personen. Der von Weinstock verwendete Begriff »Radika_____________ 574 Il. 2, 440; 4, 352; 7, 330; 8, 531; 11, 836; 17, 721; 18, 304; 19, 237. 575 Vgl. LSJ s. v. III.

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lismus« hingegen entstammt einer ganz anderen Sphäre, nämlich der Politik, und bewirkt somit eine deutliche Sinnverschiebung. Zugleich bietet er ein weiteres Beispiel für die Tendenz zur Assimilation bzw. Modernisierung, denn der Begriff »Radikalismus« entstammt dem politischen Diskurs der Neuzeit. Melierdialog (5, 89) Ἡµεῖς τοίνυν οὔτε αὐτοὶ µετ᾿ ὀνοµάτων καλῶν, ὡς ἢ δικαίως τὸν Μῆδον καταλύσαντες ἄρχοµεν ἢ ἀδικούµενοι νῦν ἐπεξερχόµεθα, λόγων µῆκος ἄπιστον παρέξοµεν, οὔθ᾿ ὑµᾶς ἀξιοῦµεν ἢ ὅτι Λακεδαιµονίων ἄποικοι ὄντες οὐ ξυνεστρατεύσατε ἢ ὡς ἡµᾶς οὐδὲν ἠδικήκατε λέγοντας οἴεσθαι πείσειν, τὰ δυνατὰ δ᾿ ἐξ ὧν ἑκάτεροι ἀληθῶς φρονοῦµεν διαπράσσεσθαι, ἐπισταµένους πρὸς εἰδότας ὅτι δίκαια µὲν ἐν τῷ ἀνθρωπείῳ λόγῳ ἀπὸ τῆς ἴσης ἀνάγκης κρίνεται, δυνατὰ δὲ οἱ προύχοντες πράσσουσι καὶ οἱ ἀσθενεῖς ξυγχωροῦσιν.

Sehr wohl. Wir unserseits wollen bestimmt nicht mit schönen Redensarten, wie z. B. daß wir als die Sieger über den Perserkönig ein Recht auf Herrschaft haben oder daß wir als die Beleidigten jetzt gegen euch vorgehen, euch eine lange Rede vorsetzen, die doch keinen Glauben findet; erwarten aber auch von euch, daß ihr euch nicht einbildet, ihr könntet auf uns mit der Begründung Eindruck machen, ihr wäret nur als Pflanzvolk der Lakedaimonier nicht mit uns ins Feld gezogen oder ihr hättet uns nichts zu Leide getan. Sucht lieber nur das durchzusetzen, was auf Grund der wahren Gesinnung von uns beiden möglich ist. Ihr wißt es und wir wissen es, daß, wie die Menschen nun einmal gesinnt sind, das Gerechte nur dann anerkannt wird, wenn beide Seiten über gleiche Gewalt verfügen, daß aber sonst das Mögliche regiert, das der Mächtige durchdrückt, der Schwache hinnimmt.576

Es handelt sich bei diesem langen Satzgefüge um ein gutes Beispiel für das, was Weinstock in der Einleitung als »Satzungeheuer«577 bezeichnet. Erinnert man sich an seine Äußerung zum Wesen der Thukydideischen Perioden, deren sprachliche Form er als Ausdruck einer von Thukydides gedanklich erfassten Sinneinheit verstanden hatte, so würde man erwarten, dass Weinstock bei der Übersetzung solcher Perioden zumindest um eine sprachliche Nachbildung der Grobstruktur bemüht wäre. Tatsächlich bewahrt er diese jedoch nicht, sondern gibt die Periode mit drei selbständigen Satzgefügen wieder, ganz ähnlich wie in seiner Übersetzung des ersten Satzes des Thukydideischen Geschichtswerks. Die »Sinneinheit« – um bei Weinstocks passendem Begriff zu bleiben – dieser Gedankenstruktur _____________ 576 Weinstock (1938), 84 f. 577 Ebd., XXI.

Heinrich Weinstock

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drückt sich in der Übersetzung also, anders als im Griechischen, nicht unmittelbar in der sprachlichen Form aus. Ein weiteres sprachliches Mittel, durch das die »Sinneinheit« der Aussage dieser Periode im Griechischen sprachlich umgesetzt wird, ist die Rekurrenz von zentralen Begriffen, vor allem von Begriffen aus dem Wortfeld δίκη/δίκαιος. Betrachtet man nun Weinstocks Übersetzung, so zeigt sich, dass er auch in dieser Hinsicht die sprachliche Struktur des Ausgangstextes nicht konsequent nachbildet. Er gibt nämlich den Ausdruck δικαίως ... ἄρχοµεν mit »daß wir [...] ein Recht auf Herrschaft haben« wieder, die beiden anschließend folgenden Formen von ἀδικέω hingegen mit Ausdrücken, die nicht dem Wortfeld »Recht« angehören, und zwar ἀδικούµενοι mit »als die Beleidigten« und ἠδικήκατε mit »ihr hättet uns nichts zu Leide getan«; für das Adjektiv δίκαια schließlich wählt er die Übersetzung »das Gerechte«. Das Aufeinanderbezogensein dieser vom Wortstamm δικabgeleiteten Begriffe, die für die Thematik des Melierdialogs hohe Relevanz besitzen, wird in der Übersetzung somit nicht sichtbar. Schließlich soll noch die Übersetzung des mit ἐπισταµένους πρὸς εἰδότας beginnenden Abschnitts betrachtet werden, in dem sich ebenfalls mehrere deutliche Abweichungen vom griechischen Text konstatieren lassen. Zunächst einmal werden die beiden Präpositionalphrasen ἐν τῷ ἀνθρωπείῳ λόγῳ und ἀπὸ τῆς ἴσης ἀνάγκης von Weinstock mit Nebensätzen wiedergegeben, wodurch die Übersetzung wortreicher wird. Nicht unmittelbar nachvollziehbar ist dann die Wiedergabe von δυνατὰ δὲ οἱ προύχοντες πράσσουσι καὶ οἱ ἀσθενεῖς ξυγχωροῦσιν mit »daß aber sonst das Mögliche regiert, das der Mächtige durchdrückt, der Schwache hinnimmt«. Eventuell lässt sich diese Übersetzung mit dem Bemühen erklären, einerseits den Ausdruck »das Mögliche« an die Spitze des Kolons zu stellen – wie τὰ δυνατά im Griechischen –, zugleich aber die im Deutschen sehr unnatürliche Satzkonstituentenfolge, die der griechische Text an dieser Stelle aufweist, zu vermeiden. Die umständliche und im griechischen Text in keiner Weise angelegte Formulierung »das Mögliche regiert« wäre dann als Behelfslösung zu bewerten. Weinstock hat den Peloponnesischen Krieg in der Überzeugung übersetzt, dass Thukydides ein Autor von großer Aktualität sei. Um dem Werk des Thukydides zu der erhofften Geltung zu verhelfen, gestaltet Weinstock den griechischen Text in manchen Aspekten radikal um. Durch vielfältige Strategien der Assimilation und Modernisierung versucht er, einen gut verständlichen und für Zeitgenossen ästhetisch ansprechenden deutschen Text zu produzieren, der in seinem Stil allerdings weit entfernt ist von der Kompliziertheit und Härte des Ausgangstextes. Eine Nachbildung der für den Thukydideischen Stil charakteristischen sprachlichen Erscheinungen wird nur punktuell erstrebt, dominierend ist die Tendenz zur Assimilation. Dies zeigt sich vor allem daran, dass Weinstock die Satzkonstruktion gegenüber dem griechischen Text zugunsten besserer Verständlichkeit deutlich vereinfacht. Insbesondere zerlegt er Perioden sehr häufig in mehrere deutsche Sätze. Dieses Vorgehen ist insofern bemerkenswert, als Weinstock gerade in den

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»Satzungeheuern« eine wesentliche Ausdrucksform der Thukydideischen Sprache erkannt hatte. Auf der Ebene der einzelnen Ausdrücke macht sich die assimilierende Tendenz zum einen in der Absenkung der Stilhöhe bemerkbar, die offenbar mit dem Bemühen um einen »lebendigen« Text zusammenhängt. Immer wieder greift Weinstock dabei zu umgangssprachlichen Ausdrucksweisen, die dem Stil des Thukydides nicht entsprechen. Dies ließ sich in den analysierten Partien vereinzelt beobachten, an anderen Stellen tritt diese Tendenz noch stärker hervor. Um einen Eindruck hiervon zu vermitteln, seien hier nur einige besonders markante Beispiele genannt: So verwendet Weinstock etwa an einer Stelle den Ausdruck »Landratten« (16), an einer anderen den umgangssprachlichen Plural »die Kerls« (68). In Verbindung mit der gegenüber dem griechischen Original stark vereinfachten Satzkonstruktion erhält die Übersetzung so gegenüber dem Ausgangstext eine ganz andere stilistische Färbung. Ein weiteres für Weinstock charakteristisches Übersetzungsverfahren ist die Anpassung von Bezeichnungen aus dem sozialen, militärischen und politischen Bereich an moderne Gegebenheiten. Dabei lässt sich vereinzelt auch eine Anlehnung an nationalsozialistische Sprachverwendungen beobachten, so etwa in dem Ausdruck »Gau« bzw. »Gaugenossen« (23) oder in dem Begriff »Mischrassen« (103).578 Offenbar versucht er die Art von Lektüre zu provozieren, wie er sie in dem Buch Polis skizziert hatte, eine Lektüre also, die das antike Geschichtswerk des Thukydides als Kontrastfolie für die Gegenwart verwendet, gewissermaßen als »Lehrbuch der Politik«579.

_____________ 578 Zur Sprache des Nationalsozialismus vgl. Klemperer (1947), Sternberger/Storz/Süskind (1957), Bork (1970), Schmitz-Berning (2007), Braun (2007). 579 Weinstock (1934), 75.

Otto Regenbogen

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Otto Regenbogen: Thukydides, Politische Reden (1949)

Otto Regenbogen (1891–1966) hatte in Berlin und Göttingen Klassische Philologie und Germanistik studiert und war 1914 mit einer Arbeit zu Hippokrates promoviert worden.580 Nach seinem Dienst als freiwilliger Krankenpfleger im ersten Weltkrieg war Regenbogen von 1917 bis 1923 am Bismarck-Gymnasium in Berlin-Wilmersdorf tätig; parallel dazu betrieb er die Habilitation, die er im Jahr 1920 abschloss. Ab 1923 war er zunächst außerordentlicher Professor an der Universität Berlin, zwei Jahre später wurde er dann als ordentlicher Professor nach Heidelberg berufen. Bald nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten erfuhr Regenbogens akademische Karriere eine jähe Unterbrechung. Weil er es unterlassen hatte anzuzeigen, dass eine der beiden Großmütter seiner Frau jüdischer Abstammung war, wurde ein Disziplinarverfahren gegen ihn eingeleitet, infolgedessen er 1935 beurlaubt und 1937 in den Ruhestand versetzt wurde.581 Während dieser Zeit erzwungener Muße, die bis zu seiner Rehabilitierung nach Ende des Zweiten Weltkriegs dauerte, blieb Regenbogen allerdings privat weiterhin wissenschaftlich tätig. In diese Periode fällt auch seine Arbeit an der Thukydidesübersetzung, die allerdings erst 1949 publiziert wurde.582 Regenbogens philologische Tätigkeit konzentrierte sich vor allem auf die antike Wissenschaftsgeschichte, die lateinischen Autoren Lukrez und Seneca sowie die griechischen Geschichtsschreiber Herodot und Thukydides.583 Aus seinen Arbeiten zu Thukydides, die in den frühen 1930er Jahren erschienen, lässt sich bereits ein Eindruck von der philologischen Akribie Regenbogens gewinnen, die die Voraussetzung für seine spätere Übersetzungsleistung darstellt. In seiner Beurteilung des Thukydideischen Stils zeigt er eine ähnliche Tendenz wie Weinstock, indem er die enge Verbindung von Inhalt und Form betont.584 Besonders aufschlussreich ist in dieser Hinsicht der Aufsatz »Drei Thukydidesinterpretationen« von 1930, in dem Regenbogen zu zeigen versucht, »wie die Sprache eines und desselben Autors [...] sich je nach den besonderen Formen des Aussprechens moduliert, die durch Kategorien wie Rede, Erzählung, Schilderung, Beweisführung, Raisonnement wenigstens im groben bezeichnet werden« und »wie sehr die Mittel der sprachlichen Darstellung auch innerhalb dieser Kategorien variieren, je _____________ 580 Regenbogen (1914). Die biographischen Angaben zu Regenbogen nach Gundert (1967). 581 Vgl. Vézina (1982), 115 f., Mußgnug (1988), 102 f., 211. Allgemein zur Universität Heidelberg während der Zeit des Nationalsozialismus vgl. Remy (2002). Speziell zur Situation der Altertumswissenschaften vgl. Chaniotis/Thaler (2006). 582 Wie aus dem Nachwort hervorgeht, hatte Regenbogen das Manuskript bereits im Sommer 1944 an den Verleger geschickt; aufgrund der Aktivitäten im Zusammenhang der Wiedereröffnung der Heidelberger Universität nach Kriegsende, in die Regenbogen stark involviert war, hatte er dann nicht mehr die Möglichkeit, seine Übersetzung noch einmal zu überarbeiten (vgl. Regenbogen [1949], 273). 583 Einen Überblick über die wichtigsten Arbeiten Regenbogens und eine Würdigung seiner wissenschaftlichen Leistungen bietet Gundert (1967), 32–36. 584 Zu Weinstocks Bewertung des Thukydideischen Stils vgl. oben Kap. 8.1.

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nach den Sachgehalten, die zum Ausdruck drängen, besser die um den adäquaten Ausdruck ringen«585. Speziell zur sprachlichen Gestalt der Reden im Thukydideischen Geschichtswerk äußert sich Regenbogen in dem 1933 publizierten Aufsatz »Thukydides als politischer Denker«, der später in die Einleitung zu seiner Thukydidesübersetzung einging.586 An den Reden hebt Regenbogen hier drei Aspekte hervor587: Was die Reden auszeichnet, ist einmal ein scheinbar primitiv Äußerliches: ihre große Zahl. [...] Ein zweites Moment, das sie aus dem weniger gehemmten Flusse der erzählenden Teile der Darstellung heraushebt, ist die Schwierigkeit ihrer dunklen Sprache, die zustande kommt durch eine beispiellose Verdichtung des in die Rede gleichsam hineingepreßten Gedankengehaltes [...]. [...] Ein drittes Moment aber ist es, das zu diesem Kampf um die Sinnerschließung der Thukydideischen Reden immer wieder auffordert: der stets mit neuer Lockung sich wiederholende, fast dämonische Anreiz ihrer unerschöpflichen Gedankentiefe, die jeder erneuten Durcharbeitung neue Hintergründe, unerwartete Einblicke und geweitete Fernsichten erschließt.

Aus dieser Bewertung wird ersichtlich, warum Regenbogen sich in seiner Auswahlübersetzung auf die Reden konzentriert hat. Um Motive und Prinzipien zu verstehen, die der Thukydidesübersetzung Regenbogens zugrunde liegen, muss man noch einmal zu den Diskussionen der 1920er Jahre zurückkehren und die von ihm seinerzeit vertretenen Auffassungen in Betracht ziehen. Als Anhänger des »Dritten Humanismus«588 widmete sich Regenbogen nicht nur der wissenschaftlichen Forschung, sondern befasste sich auch intensiv mit der schulischen Vermittlung der antiken Literatur. In diesem Zusammenhang musste er sich zwangsläufig auch an der zu jener Zeit intensiv geführten Debatte um die Berechtigung des altsprachlichen Unterrichts beteiligen. Während des zweiten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts war dieser, wovon bereits die Rede war, stärker als je zuvor in Bedrängnis geraten. Es drohte eine »Liquidierung der alten Sprachen«589, und selbst von Seiten solcher Pädagogen, die dem antiken Erbe grundsätzlich positiv gegenüberstanden, wurde im Gefolge der Brüder Horneffer die Forderung erhoben, Übersetzungen an die Stelle der Originallektüre treten zu lassen.590 Gegen diese Bestrebungen richtete sich Regenbogen in seinem 1926 erschienenen Aufsatz »Original oder Übersetzung?«591 Er knüpft hier an Eduard Fraenkel an, der sich, wie erwähnt, bereits 1919 in dem Aufsatz »Vom Werte der Übersetzung für den Humanismus« mit einer ähnlichen Frage_____________ 585 586 587 588 589

Regenbogen (1930), 21. Regenbogen (1933). Ebd., 3 f. Landfester (1995), 18 bezeichnet Regenbogen als »dezidierten Anhänger Werner Jaegers«. Landfester (1995), 13. Als Beispiel für eine besonders scharfe Polemik gegen den altsprachlichen Unterricht sei auf Wyneken (1916) verwiesen. 590 Regenbogen (1926), 57 mit Anm. 1 verweist auf das Buch Die alten Sprachen und die deutsche Bildung von Havenstein (1919). 591 Regenbogen (1926). Zu den übersetzungstheoretischen Ansätzen Regenbogens vgl. Mindt (2009), 266–268.

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stellung beschäftigt hatte. Wie Fraenkel kommt Regenbogen zu dem Ergebnis, dass die Auseinandersetzung mit den antiken Werken im Original für die humanistische Bildung unverzichtbar sei und dass Übersetzungen antiker, insbesondere griechischer Werke die Originale keinesfalls ersetzen könnten.592 Im Rahmen dieser Diskussion äußert sich Regenbogen auch kritisch zur Übersetzungskonzeption seines Lehrers Wilamowitz.593 Auf dessen Diktum, demzufolge das Übersetzen Metempsychose sei, antwortet Regenbogen mit folgender leicht sarkastischen Feststellung: »[W]er die Form zerbricht, dem zerflattert die Seele in die Lüfte, und keine Beschwörung zwingt sie mehr herab in einen anderen Leib«594. Regenbogens entscheidendes Argument für die Unübersetzbarkeit griechischer Werke besteht darin, dass in der griechischen Literatur viel stärker als in anderen Literaturen eine untrennbare Symbiose von Inhalt und Form bestehe, die es nicht erlaube, den Inhalt des Originals in eine andere Form »umzugießen« oder »umzukleiden«. Er exemplifiziert dies am homerischen Epos mit seiner Mischung von Dialekten und seinen verschiedenen historischen Sprachschichten sowie an der attischen Tragödie, bei der zur Dialektmischung auch die Verbindung von Sprech- und Chorpartien tritt. Doch beschränkt Regenbogen diese These nicht auf die Dichtung, sondern bezieht sie ausdrücklich auch auf die griechische Prosa.595 Aus seiner skeptischen Haltung gegenüber der Möglichkeit adäquater Übersetzungen antiker Literatur zieht Regenbogen nun allerdings nicht die Konsequenz, dass man überhaupt nicht aus den Alten Sprachen übersetzen dürfe; im Gegenteil erkennt er an, dass Übersetzungen verschiedenster Art durchaus wichtige Funktionen für die Aneignung des Originals, aber auch für die Entwicklung der deutschen Literatur erfüllen können. Dies geht insbesondere aus einem 1931 erschienenen Rezensionsartikel zu einigen Vergilübersetzungen hervor.596 Regenbogen schlägt gegen Ende des Artikels eine typologische Unterscheidung zwischen »Verdeutschung« und »Übersetzung« vor.597 Kennzeichen der »Verdeutschung« sei die »Tendenz zur Autarkie«598. Diese Form der literarisch produktiven Verarbeitung hält Regenbogen für durchaus legitim, doch könne sie nur _____________ 592 Vgl. Regenbogen (1926), 63: »Wir haben [...] unseren Blick vornehmlich auf das Griechische gerichtet und sahen dabei, daß hier unweigerlich das Original gefordert wird durch den Sinn des Humanismus als Erziehungsgedankens und daß ganz im allgemeinen die besondere Situation der griechischen Sprache, das unlösbare Verklammertsein von Inhalt und Form nicht erhoffen läßt, daß jemals Übersetzungen vorhanden sein werden, die das gleiche zu leisten imstande wären, was Schlegel für den Shakespeare geleistet hat.« 593 Vgl. ebd., 60 f. 594 Ebd., 61. 595 Vgl. ebd.: »Das gleiche ließe sich auch am Stil der Prosa zeigen. Das Werk des Herodot, des Thukydides, des Platon würde es bestätigen: ein jedes Werk lebt und leibt nur in der besonderen Atmosphäre seines Stils, der darum völlig unübertragbar, völlig unwiederholbar ist, gerade weil er nicht einfach Ergebnis individuellen Willensaktes ist, und der in sich das Geheimnis der Wirkung umschließt«. 596 Vgl. Regenbogen (1931). 597 Ebd., 164. 598 Ebd.

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von Dichtern geleistet werden; Philologen hingegen müssten sich darauf beschränken, »Übersetzungen« zu produzieren. Deren Wesen und Funktion umschreibt er folgendermaßen599: Die Übersetzung ist nicht autark. Sie dient, indem sie über sich hinaus auf das Original hinweist, das Verlangen nach ihm weckt, den Zugang zu ihm erleichtert. Ihre Tugend ist Treue und Redlichkeit. Zur Dichtung wird sie dadurch nicht. Auf diesen Ruhm zu verzichten, gehört zur Selbstbescheidung des Übersetzers. Auch das hat seinen Rang und seine Würde. Nicht zufällig hat Goethe solche schlichten Übersetzungen gern benutzt. Die Vereinigung von beidem ist ein Wunschbild, auf dessen Verwirklichung wir nicht hoffen dürfen.

Versucht man die von Regenbogen hier konstruierte duale Typologie auf die Übersetzung antiker Prosa anzuwenden, so ergeben sich gewisse Schwierigkeiten. Denn für die Übersetzung antiker Prosa spielen »Verdeutschungen« im Sinne Regenbogens, also Übertragungen, die tendenziell autark sind, nur eine sehr untergeordnete Rolle. Man könnte hier etwa an die Demosthenesübersetzungen Gottscheds denken, die als »Stilübungen« für die Entwicklung der deutschen Literatursprache im 18. Jahrhundert eine produktive Rolle spielten. Solchen Übersetzungen würde Regenbogen ihre Berechtigung zuerkennen. Die Art von »verdeutschender« Übersetzung, wie sie seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend den deutschen Übersetzungsbetrieb beherrscht und für die die Thukydidesübertragungen von August Horneffer und Theodor Braun gute Beispiele bilden,600 hätte jedoch nach den von Regenbogen formulierten Kriterien keinerlei Daseinsberechtigung, da in ihnen die Grenze zwischen »Verdeutschung« und »Übersetzung« verschwimmt. Nur folgerichtig ist es dann, wenn Regenbogen für seine Thukydidesübersetzung, wie er im Nachwort erläutert, ein sprach- und stilmimetisches Übersetzungsverfahren wählt601: Das Absehen war in den meisten Stücken – einige sind probeweise etwas freier behandelt – darauf gerichtet, so nahe als möglich am griechischen Wort zu bleiben und das Deutsche nicht leichter zu machen, als das Griechische des Thukydides ist. Darum sollten auch Härten und ungewohnte Fügungen nicht vermieden werden. Es sollte auch dem heutigen Leser womöglich ein Eindruck von der gedrängten Wucht Thukydideischer Rede vermittelt werden. Ob das bis zu einem gewissen Grade gelungen ist, müssen andere beurteilen. Bei wiederholten Erprobungen ergab sich der Eindruck, daß bei langsamem Vorlesen, das die Stellen des Hauptsinnes stark akzentuiert, die Übersetzung ihre Wirkung auch auf den sprachlich und historisch unvorbereiteten Hörer nicht verfehlt. Für eilige Leser ist sie ohnehin nicht gemacht. Vielleicht kann sie auch, neben den griechischen Text gestellt, zu seinem Verständnis den Weg bereiten helfen. Nur klage man nicht gleich über Mißverstehen, wo absichtlich von der gewöhnlichen Deutung abgewichen ist. Daß es der problematischen Stellen übergenug gibt, weiß jeder, der sich mit dieser schwierigen Prosa eingehend befaßt hat.

_____________ 599 Ebd. 600 Zu den Übersetzungen von Horneffer und Braun vgl. Kap. 7.1 und 7.2. 601 Regenbogen (1949), 273 f.

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In diesen knappen Äußerungen zeigt Regenbogen eine bemerkenswerte Nähe zu dem Übersetzungskonzept Humboldts, das dieser in der Einleitung zu seiner Übersetzung des Agamemnon skizziert hatte. Ähnlich wie Regenbogen es ablehnt, »das Deutsche [...] leichter zu machen, als das Griechische des Thukydides ist«, hatte sich Humboldt gegen »eine den Charakter des Textes verstellende Klarheit« ausgesprochen und erklärt, man dürfe »nicht verlangen, dass das, was in der Ursprache erhaben, riesenhaft und ungewöhnlich ist, in der Uebertragung leicht und augenblicklich fasslich seyn solle«602. Wie vor ihm bereits Johann Jacob Reiske603 beschränkt sich Regenbogen in seiner Teilübersetzung auf die Reden, bezieht darüber hinaus aber auch einige weitere zentrale Partien wie die Pathologie des Krieges und den Melierdialog mit ein. Warum sich Regenbogen auf die Reden konzentriert, geht aus seiner weiter oben zitierten Äußerung zu deren besonderen Schwierigkeiten hervor. In seiner Anordnung der einzelnen Partien folgt Regenbogen nicht konsequent dem Ablauf des Peloponnesischen Krieges, sondern orientiert sich an thematischen Gesichtspunkten und versucht so »ein Bild von den im Kriegsgeschehen wirkenden Kräften und ihren Wandlungen und Ausartungen [zu] geben«604. In den meisten Fällen übersetzt er auch das der jeweiligen Rede unmittelbar vorausgehende sowie das an sie anschließende Kapitel. Auf diese Weise vermittelt Regenbogen dem Leser eine Vorstellung von der Einbindung der jeweiligen Partie in ihren unmittelbaren Zusammenhang, lässt so aber zugleich auch die Ausschnitthaftigkeit der Übersetzung besonders deutlich spürbar werden. Außerdem situiert Regenbogen die einzelnen Partien mittels kurzer, durch Petitdruck abgesetzter Einleitungen in ihrem weiteren Kontext.

Übersetzungsanalyse605 Epitaphios (2, 37, 1) Χρώµεθα γὰρ πολιτείᾳ οὐ ζηλούσῃ τοὺς τῶν πέλας νόµους, παράδειγµα δὲ µᾶλλον αὐτοὶ ὄντες τινὶ606 ἢ µιµούµενοι ἑτέρους.

Denn wir leben in einer staatlichen Form, die nicht den Gebräuchen der Nachbarn nachstrebt, vielmehr sind wir eher manchem ein Muster, als daß wir anderer Nachahmer sein sollten.

_____________ 602 603 604 605

Humboldt (1816), XX f. Zur Übersetzung Reiskes vgl. Kap. 3.3. Regenbogen (1949), 79. Regenbogen macht keine Angaben zu der von ihm verwendeten Ausgabe. Der griechische Text folgt hier, sofern nicht anders vermerkt, der zweiten Auflage der Edition von Hude (1913/1925). 606 Dies ist offenkundig die von Regenbogen vorgezogene Lesart; in der Ausgabe von Hude findet sich hingegen τισίν.

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καὶ ὄνοµα µὲν διὰ τὸ µὴ ἐς ὀλίγους ἀλλ᾿ ἐς πλείονας οἰκεῖν δηµοκρατία κέκληται, µέτεστι δὲ κατὰ µὲν τοὺς νόµους πρὸς τὰ ἴδια διάφορα πᾶσι τὸ ἴσον, κατὰ δὲ τὴν ἀξίωσιν, ὡς ἕκαστος ἔν τῳ εὐδοκιµεῖ, οὐκ ἀπὸ µέρους τὸ πλέον ἐς τὰ κοινὰ ἢ ἀπ᾿ ἀρετῆς προτιµᾶται,

οὐδ᾿ αὖ κατὰ πενίαν, ἔχων δέ τι ἀγαθὸν δρᾶσαι τὴν πόλιν, ἀξιώµατος ἀφανείᾳ κεκώλυται.

Ihr Name heißt, weil wir nicht in Rücksicht auf wenige, sondern in Rücksicht auf die größere Zahl der Bürger leben, Volksherrschaft. Es gilt aber nach den Gesetzen in seinen eigenen Angelegenheiten ein jeder das gleiche; doch nach der Wertschätzung, wie ein jeglicher in etwas guten Rufes genießt, erhält er den Vorzug, in Rücksicht auf das gemeine Wesen, nicht auf Grund seiner Zugehörigkeit zu einer Faktion, sondern auf Grund seines männlichen Wertes. Auch nicht, wenn er arm ist, falls er nur imstande ist, der Stadt etwas Gutes zu erweisen, ist er behindert durch die Unscheinbarkeit seines Ranges.607

Gleich im ersten Satz kann man erkennen, wie genau Regenbogen die sprachlichen Strukturen des Ausgangstextes nachbildet. So gibt er sowohl die Partikel δέ als auch das Adverb µᾶλλον, die gleichsam als Scharniere der doppelt antithetischen Satzstruktur fungieren, akribisch wieder (»vielmehr sind wir eher manchem ein Muster«). Weiterhin ist auf die Wiedergabe der Partizipialphrase µιµούµενοι ἑτέρους hinzuweisen; anstatt der im Deutschen üblicheren verbalen Ausdrucksweise verwendet Regenbogen hier eine Nominalphrase (»anderer Nachahmer«), die dem Thukydideischen Stil sehr gut entspricht. Das Bemühen um größtmögliche Genauigkeit zeigt sich auch in der fast analogen Wiedergabe von τῶν πέλας ... τινὶ ... ἑτέρους (»der Nachbarn ... manchem ... anderer«), dreier Ausdrücke, die scheinbar synonym gebraucht werden. Um das besondere Profil der Übersetzung Regenbogens deutlicher hervortreten zu lassen, ist der Vergleich mit der Übersetzung von Johann David Heilmann (1760) aufschlussreich, der den Satz folgendermaßen wiedergibt: »Anlangend also unsre Staatsverfassung; so suchen wir uns darin nicht nach den Einrichtungen anderer Völker zu richten: nein, wir dienen vielmehr andern zum Muster, als daß wir andern nachahmen solten«608. Heilmann gibt die Variatio des Thukydides in seiner Übersetzung also im Gegensatz zu Regenbogen nicht wieder. In seiner Übersetzung des zweiten Satzes weicht Regenbogen mehrfach von dem üblichen Verständnis der grammatikalischen Struktur ab. Zunächst einmal fasst er ὄνοµα nicht als Akkusativ auf, sondern als Nominativ, eine Interpretation, die sich bereits bei Johann Jacob Reiske findet.609 Besonders auffällig ist dann Regenbogens Übersetzung der Präpositionalphrase διὰ τὸ µὴ ἐς ὀλίγους ἀλλ᾿ ἐς _____________ 607 Regenbogen (1949), 115. 608 Heilmann (1760), 215 f. 609 Reiske (1761b), 19.

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πλείονας οἰκεῖν, die sich von früheren Übersetzungsversuchen radikal unterscheidet. Um die vom Übersetzer an dieser Stelle zu treffenden Entscheidungen zu verdeutlichen, seien zunächst noch einmal kurz die Schwierigkeiten des Ausgangstextes skizziert.610 Das zentrale Problem, das der griechische Text an dieser Stelle bietet, besteht darin, das Subjekt des Infinitivs οἰκεῖν zu bestimmen. Hiermit zusammen hängt die Frage danach, welche Bedeutung οἰκεῖν an dieser Stelle hat und wie die beiden Präpositionalphrasen ἐς ὀλίγους und ἐς πλείονας anzubinden sind. Betrachtet man zunächst noch einmal die früheren Übersetzungsversuche, so lässt sich feststellen, dass die allermeisten Übersetzer sich an dieser Stelle an die Übertragung von Heilmann anlehnen, der den Satz folgendermaßen wiedergibt: »Sie [sc. unsere Staatsverfassung] heist eine Democratie, weil sie nicht auf einigen wenigen, sondern auf dem grossen Haufen beruhet«611. Wie sich diese Übersetzung mit dem griechischen Text in Einklang bringen lässt, ist nicht unmittelbar ersichtlich, insbesondere die Wiedergabe von οἰκεῖν + ἐς mit »beruhen auf« ist sprachlich nicht nachvollziehbar. Ein Erklärungsansatz für diese Übersetzungsvariante findet sich in dem Kommentar von Classen, der διὰ τὸ µὴ ἐς ὀλίγους ἀλλ᾿ ἐς πλείονας οἰκεῖν ähnlich wie Heilmann mit »weil die Staatsverwaltung nicht auf einer Minderzahl, sondern der Mehrzahl der Bürger beruht«612 wiedergibt. Als Subjekt des Infinitivs versteht Classen also, worauf er auch ausdrücklich hinweist, πολιτεία. Dies ist soweit nachvollziehbar. Doch lässt er dann unklar, wie οἰκεῖν, für das er die Bedeutung »beschaffen, geordnet sein« angibt,613 in Verbindung mit der Präposition ἐς die Bedeutung »beruhen auf« annehmen kann.614 Wie sich gezeigt hat, ist das traditionelle Verständnis der Stelle sprachlich höchst problematisch. Es drängt sich der Verdacht auf, dass die auf Heilmann zurückgehende Übersetzungsvariante eine Verlegenheitslösung darstellt, die in dem Bemühen um eine sinnvolle Übersetzung, aber unter Missachtung des griechischen Textes zustande gekommen ist und dann von späteren Übersetzern und Kommentatoren unreflektiert übernommen wurde. Regenbogen legt nun ein ganz anderes Textverständnis zugrunde. Der wesentliche Unterschied gegenüber der traditionellen Interpretation besteht darin, dass er nicht πολιτεία als Subjekt von οἰκεῖν versteht, sondern »wir«, das sich aus dem vorausgehenden Satz, in dem »wir« das Subjekt ist, ganz unproblematisch ergänzen lässt. So kann Regenbogen dann für οἰκεῖν die weitaus gängigere Bedeutung »leben« wählen und auch die beiden Präpositionalphrasen ἐς ὀλίγους und ἐς πλείονας in einer Weise überset_____________ 610 611 612 613 614

Eine ausführlichere Analyse dieser Passage findet sich in Kap. 2.2. Heilmann (1760), 215. Classen (1863), Bd. 2, 55. Ebd. Classen weist ebd. für die an dieser Stelle anzunehmende Verwendung von ἐς auf Thuk. 8, 38, 3 und 8, 53, 3 hin, doch bietet keine der beiden Stellen einen Beleg für die von Classen hier vorgeschlagene Übersetzung von οἰκεῖν + ἐς. Krüger (1860), Bd. 1, H. 1, 196 stellt fest, dass die Verbindung ungewöhnlich sei, und schlägt die Übersetzung »dass an Wenige staatsbürgerliche Rechte gelangen« vor.

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zen, die dem üblichen Gebrauch der Präposition ἐς genau entspricht, nämlich mit »in Rücksicht auf wenige« und »in Rücksicht auf die größere Zahl«. Es lässt sich also festhalten, dass Regenbogens Übersetzung nach rein sprachlichen Gesichtspunkten dem traditionellen Verständnis eindeutig vorzuziehen ist. Nun ergibt sich allerdings, wenn man seine Übersetzung in ihrem Zusammenhang betrachtet, eine Schwierigkeit, was die Argumentationsstruktur des Textes betrifft. Mit διὰ τὸ µὴ ἐς ὀλίγους ἀλλ᾿ ἐς πλείονας οἰκεῖν soll nämlich die Begründung dafür geliefert werden, dass die athenische πολιτεία als Demokratie bezeichnet wird. Regenbogens Übersetzung »weil wir nicht in Rücksicht auf wenige, sondern in Rücksicht auf die größere Zahl der Bürger leben« erfüllt diese Begründungsfunktion aber nur auf unbefriedigende Weise, da sie, anders als die gängige Übersetzung, nur indirekt einen Hinweis auf die von der Menge ausgeübte politische Macht enthält. So gelangt man zu dem Ergebnis, dass keine der beiden hier diskutierten Übersetzungen vollkommen befriedigt. Eine endgültige Lösung wird man an dieser Stelle wohl nicht erreichen. Entscheidend für den Zweck der Übersetzungsanalyse ist es gewesen, deutlich zu machen, wie Regenbogen sich mit einer äußerst problematischen Textstelle auseinandersetzt und dabei entgegen der übersetzerischen Tradition einen völlig neuen Lösungsvorschlag anbietet, der eine akribische Beschäftigung mit dem griechischen Text voraussetzt und nach rein sprachlichen Gesichtspunkten der traditionellen Übersetzung eindeutig vorzuziehen ist. Dieses außerordentliche Bemühen um das genaue Textverständnis wird sich auch in den folgenden Übersetzungsbeispielen beobachten lassen. Pathologie des Krieges (3, 82, 4 f.) καὶ τὴν εἰωθυῖαν ἀξίωσιν τῶν ὀνοµάτων ἐς τὰ ἔργα ἀντήλλαξαν τῇ δικαιώσει. τόλµα µὲν γὰρ ἀλόγιστος ἀνδρεία φιλέταιρος ἐνοµίσθη, µέλλησις δὲ προµηθὴς δειλία εὐπρεπής, τὸ δὲ σῶφρον τοῦ ἀνάνδρου πρόσχηµα, καὶ τὸ πρὸς ἅπαν ξυνετὸν ἐπὶ πᾶν ἀργόν· τὸ δ᾿ ἐµπλήκτως ὀξὺ ἀνδρὸς µοίρᾳ προσετέθη, ἀσφάλεια δὲ τοῦ ἐπιβουλεύσασθαι ἀποτροπῆς πρόφασις εὔλογος. καὶ ὁ µὲν χαλεπαίνων πιστὸς αἰεί, ὁ δ᾿ ἀντιλέγων αὐτῷ ὕποπτος.

Und die gewohnte Geltung der Bezeichnungen für das, was man tat, verkehrten sie in ihrer Wertung. Denn unbedachte Verwegenheit wurde für faktionsgetreue Tapferkeit angesehen, vorsorgendes Zögern aber für Feigheit mit schöner Außenseite; Besonnenheit als Tarnung unmännlichen Wesens und Überlegsamkeit in allem als Trägheit zu allem. Wahnwitzige Heftigkeit wurde als eines rechten Mannes Art angesehen, Sicherung aber in nochmaliger Erwägung für wohlklingenden Vorwand einer Ablehnung. Wer immer sich grimmig gebärdete, galt stets als zuverlässig, wer ihm widersprach, war verdächtig.

Otto Regenbogen ἐπιβουλεύσας δέ τις τυχὼν ξυνετὸς καὶ ὑπονοήσας ἔτι δεινότερος· προβουλεύσας δὲ ὅπως µηδὲν αὐτῶν δεήσει, τῆς τε ἑταιρίας διαλυτὴς καὶ τοὺς ἐναντίους ἐκπεπληγµένος. ἁπλῶς τε ὁ φθάσας τὸν µέλλοντα κακόν τι δρᾶν ἐπῃνεῖτο καὶ ὁ ἐπικελεύσας τὸν µὴ διανοούµενον.

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Wer es mit seinen Ränken traf, der hieß scharfen Verstandes, und wer sie mißtrauisch vorher erriet, noch gescheiter. Wer aber seine Überlegung im Vorhinein darauf richtete, solche Mittel nicht nötig zu haben, der galt für einen Zersetzer der Faktion und als ein Angstmeier gegenüber dem Gegner. Mit einem Worte: wer dem zuvorkam, der noch zauderte, etwas Übles zu tun, der wurde gerühmt und ebenso, wer den anstiftete, der noch gar nicht darauf gedacht hatte.615

Im ersten Satz fallen zwei Übersetzungslösungen auf, die sich von den meisten früheren Versuchen klar abheben. Zunächst einmal gibt Regenbogen den Ausdruck ἀξίωσις mit »Geltung« wieder, nicht wie die meisten anderen Übersetzer mit »Bedeutung«. Auch in seiner Übertragung des Dativs τῇ δικαιώσει (»in ihrer Wertung«) weicht Regenbogen von der traditionellen Auslegung ab, wie sie sich in den allermeisten Übersetzungen, aber auch in den Kommentaren des 19. Jahrhunderts findet. Dort wird τῇ δικαιώσει nämlich meist mit Formulierungen wie »nach eigenem Gutdünken«, »nach ihrer Willkür« o. ä. wiedergegeben.616 Diese Auslegung begegnet bereits in der Übersetzung von Johann Jacob Reiske, der τῇ δικαιώσει in der für ihn charakteristischen Ausführlichkeit mit »wilkürlich nach seinem eignen Gutdünken und Einfällen«617 wiedergegeben hatte. Scheint diese Auslegung durch die Tradition auch den Status der Unanfechtbarkeit erlangt zu haben, so muss doch betont werden, dass es sich hierbei um eine interpretierende Übersetzung von δικαίωσις handelt, die sich nicht aus dem Wort selbst ergibt und sich auch nicht durch Parallelstellen stützten lässt.618 Um die von Thukydides intendierte Bedeutung von δικαίωσις zu ermitteln, muss man das Verb δικαιόω in den Blick nehmen, das so viel wie »als richtig/gerecht erachten« bedeutet, aber auch im Sinne von »ein Urteil aussprechen« verwendet wird.619 Wie man sieht, entspricht die von Regenbogen gewählte Übersetzung für τῇ δικαιώσει in ihrer Neutralität viel eher der anzunehmenden Bedeutung des Wortes δικαίωσις als die traditionelle Übersetzung, die den Aspekt der Willkür ins Spiel bringt. In der anschließend folgenden Gegenüberstellung von altem und neuem Sprachgebrauch finden sich zahlreiche weitere Beispiele für das Bemühen Re_____________ 615 Regenbogen (1949), 254. 616 Krüger (1858), Bd. 1, H. 2, 73 und Böhme (1862), Bd. 1, H. 2, 67 geben den Ausdruck z. B. mit »nach ihrem Gutdünken« wieder. 617 Reiske (1761a), 188. 618 Vgl. LSJ s. v. δικαίωσις III. 619 Vgl. LSJ s. v. δικαιόω II.

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Deutsche Thukydidesübersetzungen im Umfeld des »Dritten Humanismus«

genbogens um einen dem griechischen Text möglichst adäquaten deutschen Ausdruck. Neben den zahlreichen Beispielen für Sprachmimesis ist hier insbesondere auf seine Wahl des Begriffs »Faktion« für das griechische ἑταιρία hinzuweisen. Diese Übersetzungslösung erscheint deshalb besonders angemessen, weil der Ausdruck »Faktion« der Sphäre der Politik entstammt und somit zumindest einen wichtigen Aspekt dieses letztlich unübersetzbaren Begriffs beleuchtet. Die sonst von Übersetzern gewählten Begriffe wie »Freundschaft« (Heilmann, Jacobi, Osiander, Wahrmund), »Bekanntschaft« (Reiske), »Genossenschaft« (Böhme) lassen hingegen für den Leser der Übersetzung überhaupt nicht deutlich werden, welche Art von Verbindung der Begriff ἑταιρία tatsächlich bezeichnet. Angemessener erscheinen die Übersetzungen von Müller (»Bund«) oder Campe (»Verbindung«), die zwar sehr allgemein sind, angesichts der Schwierigkeiten, die die Übersetzung des Begriffs ἑταιρία bietet, aber durchaus nachvollziehbar sind. Am nächsten an der Übersetzung Regenbogens ist die von Heinrich Weinstock, der den Begriff »Partei« wählt.620 Anhand der Übersetzung des Begriffs ἑταιρία und der davon abgeleiteten Wörter lässt sich außerdem zeigen, dass sich Regenbogens übersetzerische Akribie auch auf Phänomene der Textkohärenz erstreckt. Er gibt nämlich das Adjektiv φιλέταιρος mit »faktionsgetreu« wieder, das Nomen ἑταιρία, wie bereits erwähnt, mit »Faktion« und das wenig später folgende substantivierte Adjektiv τὸ ἑταιρικόν (3, 82, 6) schließlich mit »Faktionszugehörigkeit«621. So wird es für den Leser möglich, die von Thukydides im Text angelegten Begriffszusammenhänge auch in der Übersetzung genau nachzuvollziehen. Dass die Nachbildung dieser Rekurrenzenkette keineswegs selbstverständlich ist, hat sich bei der Analyse der früheren Thukydidesübersetzungen gezeigt.622 Melierdialog (5, 89) Ἡµεῖς τοίνυν οὔτε αὐτοὶ µετ᾿ ὀνοµάτων καλῶν, ὡς ἢ δικαίως τὸν Μῆδον καταλύσαντες ἄρχοµεν ἢ ἀδικούµενοι νῦν ἐπεξερχόµεθα, λόγων µῆκος ἄπιστον παρέξοµεν,

Wir wollen also weder selbst mit schönen Worten, daß wir nämlich mit Recht die Herrschaft haben, weil wir den Perser niedergeworfen haben, oder, in unserem Recht gekränkt, jetzt gegen euch vorgehen, lange Reden vortragen, die doch keinen Glauben finden,

_____________ 620 Weinstock (1938), 72. 621 Regenbogen (1949), 254. 622 Eine Ausnahme bildet Weinstock (1938), 72, der ἀνδρεία φιλέταιρος mit »Mannesmut treuer Parteigenossen« und sowohl ἑταιρία als auch τὸ ἑταιρικόν mit »Partei« übersetzt.

Otto Regenbogen οὔθ᾿ ὑµᾶς ἀξιοῦµεν ἢ ὅτι Λακεδαιµονίων ἄποικοι ὄντες οὐ ξυνεστρατεύσατε ἢ ὡς ἡµᾶς οὐδὲν ἠδικήκατε λέγοντας οἴεσθαι πείσειν,

τὰ δυνατὰ δ᾿ ἐξ ὧν ἑκάτεροι ἀληθῶς φρονοῦµεν διαπράσσεσθαι, ἐπισταµένους πρὸς εἰδότας ὅτι δίκαια µὲν ἐν τῷ ἀνθρωπείῳ λόγῳ ἀπὸ τῆς ἴσης ἀνάγκης κρίνεται, δυνατὰ δὲ οἱ προύχοντες πράσσουσι καὶ οἱ ἀσθενεῖς ξυγχωροῦσιν.

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noch wünschen wir, daß ihr euch einbildet, mit Reden wie, ihr wäret, obzwar Kolonisten der Spartaner, nicht mit ihnen zu Felde gezogen, oder ihr hättet unser Recht in nichts gekränkt – daß ihr euch einbildet, mit solchen Reden uns überzeugen zu können; vielmehr daß wir das mögliche, ausgehend von dem, was beide in Wahrheit denken, durchsetzen müssen als Leute, die so gut wissen wie wir, daß Recht in menschlicher Auseinandersetzung lediglich auf Grund gleichen Zwanges anerkannt wird, das mögliche aber die Überlegenen zu tun und die Schwachen einzuräumen pflegen.623

Auch hier lassen sich wieder zahlreiche sehr präzise Übersetzungslösungen beobachten, die das aus den beiden vorangehenden Passagen gewonnene Bild vollauf bestätigen. Ein Beispiel für sprachmimetisches Übersetzen ist etwa die Wiedergabe von ὁ Μῆδος mit »der Perser« anstatt der Standardübersetzung »Perserkönig«. Doch verfolgt Regenbogen das sprachmimetische Prinzip nicht mit letzter Konsequenz, wie sich an seiner Übersetzung des Ausdrucks λόγων µῆκος ἄπιστον zeigt, den er mit »lange Reden [...], die doch keinen Glauben finden« wiedergibt. Hier wird die äußerst knappe nominale Ausdrucksweise des Thukydides durch eine wortreichere und stilistisch unauffällige deutsche Formulierung ersetzt. Wie in den zuvor betrachteten Beispielen findet sich auch in dieser Passage eine besonders problematische Stelle, an der die Interpretation Regenbogens von der üblichen Auslegung abweicht. Es handelt sich hierbei um die Infinitivkonstruktion τὰ δυνατὰ δ᾿ ἐξ ὧν ἑκάτεροι ἀληθῶς φρονοῦµεν διαπράσσεσθαι. Das zentrale Problem besteht hier darin zu bestimmen, von welchem Verb die Infinitivkonstruktion abhängt. Am naheliegendsten ist es, sie von ἀξιοῦµεν abhängen zu lassen.624 Diese Möglichkeit wählt Regenbogen aber offenkundig nicht. Denn der Nebensatz »daß wir das mögliche, ausgehend von dem, was beide in Wahrheit denken, durchsetzen müssen«, mit dem er die Infinitivkonstruktion wiedergibt, kann nicht auf sinnvolle Weise von »wünschen wir«, Regenbogens Übersetzung für ἀξιοῦµεν, abhängen. Darauf, dass es noch eine weitere Möglichkeit gibt, die Infinitivkonstruktion an das Vorangehende anzuschließen, hatte bereits Hieronymus Müller hingewiesen,625 der sie von dem Partizip λέγοντας abhängig macht und diese Interpretation auch zur Grundlage seiner Übersetzung macht: »[N]och wollen wir, daß Ihr, davon sprechend, entweder wie Ihr als Ansiedler der Lake_____________ 623 Regenbogen (1949), 234. 624 So z. B. Krüger (1858), Bd. 2, H. 1, 77 und Böhme (1856), Bd. 2, 68 f. 625 Müller hatte seine Interpretation der Stelle in einer Anmerkung zu seiner Übersetzung erläutert.

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Deutsche Thukydidesübersetzungen im Umfeld des »Dritten Humanismus«

dämonier nicht mit uns zogt, oder wie Ihr kein Unrecht gegen uns begingt, zu überzeugen hofft, sondern von dem, was nach unsrer Beider wahren Gesinnung ausführbar ist«626. Regenbogen scheint die grammatikalische Struktur des Satzes so wie Müller zu verstehen, doch lässt er die Interpretation der Stelle in seiner Übersetzung bis zu einem gewissen Punkt offen. Gerade dadurch gelingt es ihm, der Mehrdeutigkeit des griechischen Textes gerecht zu werden und die von Thukydides angelegte Retardierung des Verstehensprozesses auch bei dem Leser der Übersetzung zu bewirken. Wie die Analyse gezeigt hat, ist Regenbogen darum bemüht, den Ausgangstext im Deutschen auf allen sprachlichen Ebenen in äußerster Genauigkeit nachzubilden – vom einzelnen Wort, einschließlich der Partikeln, über die Wortstellung und Satzstruktur bis hin zur Textkohärenz. Von den zuvor betrachteten Übersetzungen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in denen sich durchweg das Bemühen beobachten ließ, den griechischen Text der Zielsprache anzunähern, unterscheidet sich seine Übertragung somit fundamental. Um Vergleichbares zu finden, muss man in das 19. Jahrhundert zurückgehen: zu den Übersetzungen, die in der Tradition von Voß und Schleiermacher stehen, also zur radikal sprachmimetischen Übertragung von Heinrich Wilhelm Friedrich Klein (1828) und der ihrer Tendenz nach sprachmimetischen Übersetzung Gottfried Böhmes (1852/1853). Vergleicht man die Übersetzung Regenbogens mit derjenigen Böhmes,627 so scheint der Hauptunterschied weniger in den von beiden zugrundegelegten Übersetzungsprinzipien als vielmehr in der übersetzerischen Sorgfalt zu liegen, die von ihnen aufgewendet wird. Während sich nämlich bei Böhme, dessen philologische Kompetenz außer Frage steht, der Eindruck einstellt, dass er seine Übersetzung recht zügig niedergeschrieben hat, wird im Falle Regenbogens klar, dass er sowohl in der philologischen Auseinandersetzung mit dem Ausgangstext als auch bei der Ausarbeitung der Übersetzung mit äußerster Akribie vorgegangen ist. Der Vergleich mit Klein wiederum, der in seiner Übersetzung um extreme Wörtlichkeit bemüht ist,628 lässt deutlich werden, dass Regenbogen die Sprachmimesis nicht zum absoluten Übersetzungsprinzip erhebt. Doch zeigt sich immer wieder, dass Regenbogen in der Durchdringung der Sinnstruktur Klein weit übertrifft; gerade an problematischen Stellen erweist sich seine Übersetzung gegenüber derjenigen Kleins meist als überlegen. Es sei in diesem Zusammenhang an das Diktum von Wilamowitz erinnert, demzufolge »Treue die Tochter der Ignoranz ist«629. Dass diese polemisch zugespitzte Äußerung eine gewisse Berechtigung hat, lässt sich gerade an der Übersetzung Kleins ersehen, dessen Sprachmimesis bzw. »Treue« an einigen Stellen tatsächlich ein fehlendes Textverständnis zu kaschieren scheint. Wie aber die Übersetzung Regenbogens in _____________ 626 627 628 629

Müller (1829), Bd. 5, 148. Zur Übersetzung Böhmes s. oben Kap. 6.1. Zur Übersetzung Kleins s. oben Kap. 5.2. Wilamowitz-Moellendorff (1925), 19 Anm. 13.

Otto Regenbogen

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aller Deutlichkeit zeigt, schließen sprachliche »Treue« und die gedankliche Durchdringung des Ausgangstextes einander keineswegs aus.

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Deutsche Thukydidesübersetzungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte Wolfgang Schadewaldt630 das Konzept des dokumentarischen Übersetzens,631 das im deutschsprachigen Raum intensiv rezipiert wurde und in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu dem beherrschenden Paradigma im Bereich der Übersetzung aus dem Griechischen avancierte. Bereits in seinem 1927 gehaltenen Vortrag »Das Problem des Übersetzens« hatte sich Schadewaldt mit Fragen der Übersetzungstheorie beschäftigt.632 In dieser frühen Arbeit fordert er, dass der Übersetzer sich an der »Idee des Originals« als übersetzerischer Norm orientieren müsse.633 Mit der Frage, welche Übersetzungsmethode dabei anzuwenden sei, setzt er sich zu diesem Zeitpunkt allerdings ganz bewusst nicht näher auseinander.634 Die Methode, dies der einzige Hinweis, müsse sich sowohl nach der besonderen Beschaffenheit des Ausgangstextes als auch nach seiner Stellung innerhalb der Aufnahmekultur bestimmen.635 Hieraus folgt zwangsläufig, dass die Geltungsansprüche der verschiedenen, jeweils historisch bedingten Übersetzungsmethoden relativiert werden. Schadewaldt veranschaulicht dies eindrucksvoll, indem er die Bibelübersetzung Luthers der Platonübersetzung Schleiermachers gegenüberstellt und diese beiden einander in ihrer Methode diametral entgegenstehenden Übersetzungen gleichermaßen als gültige Übersetzungslösungen anerkennt.636 Schadewaldts Übersetzungen von Ausschnitten aus den Homerischen Gedichten, die in den 1930er und frühen 1940er Jahren entstanden, sowie seine Übersetzung des Thukydideischen Epitaphios von 1941 sind noch nicht dokumentarisch.637 Erst in den 1950er Jahren kristallisierte sich das Konzept des _____________ 630 Schadewaldt (1900–1974) hatte Klassische Philologie, Archäologie und Germanistik in Berlin studiert. Nach der Promotion 1924 und der Habilitation 1927 war er ordentlicher Professor in Königsberg, Freiburg i. Br., Leipzig, Berlin, schließlich seit 1950 in Tübingen. 631 Eine ausführliche Darstellung des dokumentarischen Übersetzens sowie seiner Voraussetzungen findet sich bei Mindt (2009), 277–297. Schadewaldt hat dieses Konzept auch selber in zahlreichen Übersetzungen umgesetzt, vgl. dazu Szlezák (2005). 632 Schadewaldt (1927). Vgl. dazu Mindt (2009), 245–247. 633 Schadewaldt (1927), 300. 634 Vgl. ebd., 302. 635 Vgl. ebd.: »[D]as Verfahren im einzelnen, die größere Freiheit oder die größere Genauigkeit bestimmt sich hier nach dem Wesen des Originals und dem Orte den es bereits in unserem Geistesleben einnimmt.« 636 Vgl. ebd. 637 Vgl. Mindt (2009), 279 Anm. 186 u. 296 Anm. 301.

200 Deutsche Thukydidesübersetzungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dokumentarischen Übersetzens heraus, das Schadewaldt erstmals in seiner Übersetzung des König Ödipus konsequent anwandte.638 Die Grundsätze des dokumentarischen Übersetzens hat Schadewaldt dann vor allem in Paratexten zu seinen Übersetzungen dargestellt. Drei Forderungen stellt er an den Übersetzer639: Einmal die Forderung, vollständig zu übersetzen und nichts, was dasteht, wegzulassen, nichts hinzuzufügen. Sodann die Forderung, die ursprünglichen Vorstellungen des Dichters auch in deutscher Zunge in ihrer Reinheit zu bewahren. Und zum dritten, die Folge dieser Vorstellungen, so wie sie dem Dichter in seinem Satz vor Augen kommen, nach Möglichkeit auch im Deutschen einzuhalten.

Schadewaldt hat seine Übersetzungsmaximen vor allem aus seiner Beschäftigung mit der archaischen griechischen Dichtung und der Tragödie heraus entwickelt. Für die attische Komödie, aber auch für die griechische Literatur späterer Epochen – Schadewaldt erwähnt insbesondere die hellenistische Dichtung sowie den kaiserzeitlichen Schriftsteller Plutarch – gelten diese Prinzipien, wie er ausdrücklich betont, nicht.640 Speziell zur Übersetzung antiker Kunstprosa äußert sich Schadewaldt nur am Rande. Daraus, dass er im Falle Plutarchs ein dokumentarisches Übersetzen aufgrund dessen Zugehörigkeit zu einer »späten« Phase der griechischen Literatur ablehnt, in der nach Schadewaldt eine redensartliche Sprachverwendung vorgeherrscht habe,641 und eben nicht damit begründet, dass es sich bei Plutarch um einen Prosaautor handelt, kann man eventuell folgern, dass sich die Prinzipien des dokumentarischen Übersetzens mutatis mutandis auch auf antike Kunstprosa der klassischen Periode anwenden lassen.642 Doch bleibt hier bei Schadewaldt – der ja auch gar nicht auf eine systematische Behandlung der Übersetzungsfrage abgezielt hat – eine Lücke, die erst Manfred Fuhrmann später schließen sollte, indem er auch für antike Kunstprosa ein dokumentarisches Übersetzungsverfahren einforderte.

_____________ 638 Vgl. Mindt (2009), 278. Schadewaldts Übersetzung des König Ödipus wurde 1955 publiziert, war aber bereits einige Jahre zuvor entstanden und lag Gustav Rudolf Sellners Inszenierung in Darmstadt von 1952 zugrunde. 639 Schadewaldt (1958), 323. 640 Vgl. Schadewaldt (1963), 32. 641 Vgl. ebd. 642 Vgl. Mindt (2009), 297: »[S]icherlich ist es möglich, Schadewaldts Konzeption – dies gilt vor allem für ihre drei Grundregeln – auch auf Texte anderer Gattungen zu übertragen.«

Josef Feix

9.1

201

Josef Feix: Thukydides, Der Peloponnesische Krieg (1959)

Josef Feix (geb. 1908) hatte in Breslau und Wien Klassische Philologie und Geschichte studiert und war 1934 in Breslau mit einer Arbeit zu Petron promoviert worden. Im selben Jahr legte er auch die Staatsprüfung für das Lehramt an höheren Schulen ab.643 Anschließend war Feix (aufgrund des Krieges möglicherweise mit Unterbrechung) im Schuldienst tätig, zunächst wohl in Breslau (oder Umgebung), nach dem Krieg dann in Rheydt und Mönchengladbach.644 Darüber hinaus ist er als Herausgeber von Schullektüren645 und als Übersetzer in Erscheinung getreten. Neben Thukydides übertrug er diverse weitere griechische und lateinische Schriftsteller, vor allem die Historiker Herodot646 und Livius647, aber auch zwei Dialoge Platons648 sowie eine Schrift Senecas649. Mehrere seiner Übersetzungen, darunter auch die des Thukydides, sind in der Taschenbuchreihe des Goldmann-Verlags erschienen. Wie im Falle der im vorangehenden Kapitel behandelten Übersetzungen von Weinstock und Regenbogen handelt es sich auch hierbei um eine Auswahlübersetzung. Dabei werden das vierte und fünfte Buch lediglich in Form einer jeweils einseitigen Paraphrase berücksichtigt. Auf der Titelseite (wie auch in der Titelei) findet sich jedoch die Angabe, es handle sich um eine »Ungekürzte Ausgabe«.

Übersetzungsanalyse650 Der Anfang des Geschichtswerks (1, 1) Θουκυδίδης Ἀθηναῖος ξυνέγραψε τὸν πόλεµον τῶν Πελοποννησίων καὶ Ἀθηναίων, ὡς ἐπολέµησαν πρὸς ἀλλήλους,

Thukydides aus Athen schrieb die Geschichte des Krieges, den Peloponnesier und Athener gegeneinander geführt haben.

_____________ 643 Die biographischen Angaben bis zu diesem Zeitpunkt lassen sich dem Lebenslauf in seiner Dissertation entnehmen (Feix [1934], 95). 644 Wie aus Bjornson (1970), 232 hervorgeht, musste Feix gegen Ende des Krieges aus Schlesien fliehen. Er verbrachte zunächst mehrere Jahre in Weidenberg bei Bayreuth, bevor er spätestens 1949 nach Rheydt übersiedelte. Die Nachweise über seine Tätigkeit als Gymnasiallehrer nach: Philologen-Jahrbuch für das höhere Schulwesen (Kunzes Kalender), Landesausgabe für Nordrhein-Westfalen 10., 15., 17., 19. u. 20. Jahrgang (Schuljahr 1958/59, 1963/64, 1965/66, 1967/68, 1968/69), Köln/Münster 1958–1969. 645 Feix (1959/1965 und 1962/1966). 646 Feix (1963). 647 Feix (1960a, 1960/1962, 1974 und 1977b). 648 Feix (1960b). 649 Feix (1977a). 650 Feix macht keine Angabe zu der von ihm verwendeten Textausgabe. Es wird hier die Ausgabe von Jones/Powell (1942) abgedruckt.

202 Deutsche Thukydidesübersetzungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ἀρξάµενος εὐθὺς καθισταµένου καὶ ἐλπίσας µέγαν τε ἔσεσθαι καὶ ἀξιολογώτατον τῶν προγεγενηµένων, τεκµαιρόµενος ὅτι ἀκµάζοντές τε ᾖσαν ἐς αὐτὸν ἀµφότεροι παρασκευῇ τῇ πάσῃ καὶ τὸ ἄλλο Ἑλληνικὸν ὁρῶν ξυνιστάµενον πρὸς ἑκατέρους, τὸ µὲν εὐθύς, τὸ δὲ καὶ διανοούµενον. κίνησις γὰρ αὕτη µεγίστη δὴ τοῖς Ἕλλησιν ἐγένετο καὶ µέρει τινὶ τῶν βαρβάρων, ὡς δὲ εἰπεῖν καὶ ἐπὶ πλεῖστον ἀνθρώπων. τὰ γὰρ πρὸ αὐτῶν καὶ τὰ ἔτι παλαίτερα σαφῶς µὲν εὑρεῖν διὰ χρόνου πλῆθος ἀδύνατα ἦν, ἐκ δὲ τεκµηρίων ὧν ἐπὶ µακρότατον σκοποῦντί µοι πιστεῦσαι ξυµβαίνει οὐ µεγάλα νοµίζω γενέσθαι οὔτε κατὰ τοὺς πολέµους οὔτε ἐς τὰ ἄλλα.

Er begann sein Werk gleich am Anfang der Feindseligkeiten; denn er erwartete, daß dieser Kampf groß sein würde und bedeutender als alle vorangegangenen. Dies schloß er aus der Tatsache, daß beide Gegner auf der Höhe ihrer Kriegsmacht in den Kampf zogen; und die übrigen Staaten Griechenlands traten schon auf die Seite der einen oder anderen Partei oder planten es wenigstens. So wurde dies tatsächlich die größte Erschütterung nicht nur für die Hellenen, sondern auch für einige barbarische Völker, ja sogar für den größten Teil der Menschheit. Bei dem langen Zeitraum war es zwar unmöglich, den alten und ältesten Ereignissen ganz nachzugehen. Aber meine ernsten Nachforschungen haben wohl doch glaubhaft bewiesen, daß weder die Kriege noch die anderen Geschehnisse jener Vorzeit bedeutend waren.651

Auffällig ist zunächst einmal die Wiedergabe des Prädikats ξυνέγραψε mit »schrieb die Geschichte«, was der Formulierung Maximilian Jacobis in dessen Übersetzung aus dem Jahre 1804 entspricht.652 Dies ist nicht die einzige Übereinstimmung zwischen beiden Übersetzungen, auch Feix’ Wiedergabe von ἀρξάµενος εὐθὺς καθισταµένου (»Er begann sein Werk gleich am Anfang der Feindseligkeiten«) weist starke Ähnlichkeit zu der Übertragung Jacobis auf, der folgendermaßen übersetzt: »Er unternahm das Werk unter dem Beginn der Feindseeligkeiten«. In dem mit τεκµαιρόµενος ὅτι beginnenden Satzabschnitt fallen dann mehrere signifikante Abweichungen vom griechischen Text auf. Die Wiedergabe von ᾖσαν ἐς αὐτόν mit »in den Kampf ziehen« z. B. erscheint zwar auf den ersten Blick naheliegend, doch ist bei Thukydides hier der Eintritt in den Krieg gemeint, nicht der Beginn von Kampfhandlungen. Bedenkt man, dass die Strategie der Athener zunächst darin bestand, sich hinter ihre Mauern zurückzuziehen und keine offene Schlacht zu suchen, wird klar, dass die von Feix gewählte Übersetzung geradezu irreführend ist. Bezeichnend für das Übersetzungsverfahren von Feix ist insbesondere die Wiedergabe des anakoluth angeschlossenen καὶ τὸ ἄλλο Ἑλληνικὸν ὁρῶν ξυνιστάµενον πρὸς ἑκατέρους, τὸ µὲν εὐθύς, τὸ δὲ καὶ διανοούµενον. Er lässt das _____________ 651 Feix (1959), 7. 652 Vgl. Kap. 4.1.

Josef Feix

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Partizip ὁρῶν unübersetzt und macht das Objekt dieses Partizips (τὸ ἄλλο Ἑλληνικόν) zum Subjekt eines parataktisch angeschlossenen Hauptsatzes. Der gedankliche Zusammenhang des griechischen Satzes, der trotz der Anakoluthie vollkommen klar ist, geht so im Deutschen verloren. Für den Leser der Übersetzung ist nämlich nicht ersichtlich, dass der Beitritt der anderen griechischen Staaten Gegenstand der Beobachtung des Thukydides ist und einen der Gründe für die zuvor beschriebene Erwartung darstellt, dass der Krieg bedeutend sein werde. In der Formulierung von Feix scheint es sich hierbei vielmehr um eine Tatsachenfeststellung zu handeln. Auch in seiner Übersetzung des mit τὰ γὰρ πρὸ αὐτῶν beginnenden Satzes entfernt sich Feix sehr weit vom Ausgangstext. Er verändert dabei nicht nur die grammatikalische Struktur und die Wortfolge, sondern gibt auch die einzelnen Ausdrücke nur ungenau wieder. So übersetzt er τὰ γὰρ πρὸ αὐτῶν καὶ τὰ ἔτι παλαίτερα mit »den alten und ältesten Ereignissen«, wodurch der Bezug auf die Ereignisse des Peloponnesischen Krieges, der durch πρὸ αὐτῶν markiert wird, verloren geht. Aber auch seine Übersetzung von σαφῶς µὲν εὑρεῖν (»ganz nachzugehen«) entspricht nur vage dem Ausgangstext. Eine vergleichbare Nichtbeachtung der sprachlichen Struktur des griechischen Textes zeigt sich auch in dem mit ἐκ δὲ τεκµηρίων beginnenden Teilsatz. Zunächst fällt hier die Formulierung »meine ernsten Nachforschungen« ins Auge, die offenbar dem griechischen ἐπὶ µακρότατον σκοποῦντί µοι entsprechen soll. Der von Thukydides hier betonte Aspekt einer möglichst weit in die Vergangenheit ausgedehnten Betrachtung bleibt dabei allerdings unberücksichtigt. Es handelt sich hierbei erneut um eine wörtliche Übernahme von Maximilian Jacobi, allerdings hatte es sich in der Übersetzung Jacobis, wie aus dem Fehlerverzeichnis hervorgeht, um einen Druckfehler gehandelt. Die korrigierte Fassung lautete »meine fernsten Nachforschungen«, was als Übersetzung von ἐπὶ µακρότατον σκοποῦντί µοι verständlich ist. Außerdem hatte Jacobi diesen Ausdruck in seiner Übersetzung so verwendet, dass die sprachliche Struktur des griechischen Satzes noch in ihren Grundzügen nachvollziehbar war (»nach Beweisen aber, die, bey meinen fernsten Nachforschungen, ihre Glaubwürdigkeit behaupten«). Feix hingegen nimmt erneut mehrere radikale Veränderungen der Satzstruktur vor und zeigt in der Wiedergabe einzelner Ausdrücke einen fast willkürlichen Umgang mit dem griechischen Text. So werden bestimmte griechische Ausdrücke überhaupt nicht berücksichtigt (ξυµβαίνει und νοµίζω), während bei anderen ihre grammatikalische Funktion im Satz ignoriert wird (ἐκ δὲ τεκµηρίων und πιστεῦσαι). Insbesondere Feix’ Wiedergabe von πιστεῦσαι mit »glaubhaft« verkehrt geradezu den Sinn des Ausgangstextes. Denn mit πιστεῦσαι drückt Thukydides aus, dass er bestimmten »Anzeichen« Glauben geschenkt habe, die ihn zu der Einschätzung führten, die früheren Ereignisse seien nicht bedeutend gewesen. Aus der Übersetzung von Feix hingegen (»Aber meine ernsten Nachforschungen haben wohl doch glaubhaft bewiesen«) gewinnt der Leser den Eindruck, Thukydides spreche hier davon, dass seine Darstellung dieser Nachforschungen Glauben

204 Deutsche Thukydidesübersetzungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verdiene. Gleich zu Anfang erweist sich die Übersetzung von Feix somit als sinnentstellend und irreführend. Epitaphios (2, 37, 1) Χρώµεθα γὰρ πολιτείᾳ οὐ ζηλούσῃ τοὺς τῶν πέλας νόµους, παράδειγµα δὲ µᾶλλον αὐτοὶ ὄντες τισὶν ἢ µιµούµενοι ἑτέρους. καὶ ὄνοµα µὲν διὰ τὸ µὴ ἐς ὀλίγους ἀλλ᾿ ἐς πλείονας οἰκεῖν δηµοκρατία κέκληται· µέτεστι δὲ κατὰ µὲν τοὺς νόµους πρὸς τὰ ἴδια διάφορα πᾶσι τὸ ἴσον, κατὰ δὲ τὴν ἀξίωσιν, ὡς ἕκαστος ἔν τῳ εὐδοκιµεῖ, οὐκ ἀπὸ µέρους τὸ πλέον ἐς τὰ κοινὰ ἢ ἀπ᾿ ἀρετῆς προτιµᾶται, οὐδ᾿ αὖ κατὰ πενίαν, ἔχων γέ τι ἀγαθὸν δρᾶσαι τὴν πόλιν, ἀξιώµατος ἀφανείᾳ κεκώλυται.

Wir ahmen in unserer Staatsverwaltung keine fremden Einrichtungen nach; im Gegenteil, wir sind Vorbild für andere. Diese Verfassung trägt den Namen Demokratie, weil die Staatsgewalt nicht bei einigen wenigen, sondern beim Volk ruht. Bei privaten Streitigkeiten gelten für alle die gleichen Gesetze. Das bürgerliche Ansehen hängt von den Verdiensten des Betreffenden ab und nicht von seiner Klasse. Wenn sein Ansehen wegen seiner Armut nur gering ist, so verhindert ihn diese Mittellosigkeit doch nicht daran, dem Staat zu nützen, wenn er dazu befähigt ist.653

Feix orientiert sich auch in diesem Beispiel an der Übersetzung Maximilian Jacobis, der den Satz in ganz ähnlicher Weise verkürzt und die Partizipialphrase µιµούµενοι ἑτέρους unberücksichtigt gelassen hatte. Allerdings geht Feix in seiner Vereinfachung der Satzstruktur noch weiter als Jacobi, indem er das kunstvolle Satzgefüge in zwei parallele Hauptsätze umwandelt. Dort, wo Feix stärker von Jacobi abweicht, erweist sich seine Übersetzung vielfach als weniger genau. Dies lässt sich besonders anschaulich an ihrer jeweiligen Wiedergabe des mit κατὰ δὲ τὴν ἀξίωσιν beginnenden Satzabschnitts zeigen: Und was das bürgerliche Ansehen betrifft, so hängt dies von den Verdiensten ab, wodurch ein Bürger sich auszeichnet, und nicht von der Klasse zu der er sich zählt. (Jacobi)

Das bürgerliche Ansehen hängt von den Verdiensten des Betreffenden ab und nicht von seiner Klasse. (Feix)

Während Jacobi, der den Ausgangstext recht frei wiedergibt, die sprachliche Struktur immerhin in manchen Aspekten nachzeichnet – so wählt er mit »was das bürgerliche Ansehen betrifft« eine analoge Konstruktion für κατὰ δὲ τὴν ἀξίωσιν –, weicht die Übersetzung von Feix derart stark vom griechischen Text ab, dass sich eine genaue Zuordnung der sprachlichen Elemente des Ausgangstextes zu _____________ 653 Feix (1959), 43.

Josef Feix

205

denen der Übersetzung kaum vornehmen lässt. Man kann nur spekulieren, dass »von den Verdiensten des Betreffenden« als freie Wiedergabe der beiden griechischen Ausdrücke ὡς ἕκαστος ἔν τῳ εὐδοκιµεῖ und ἀπ᾿ ἀρετῆς anzusehen ist. Es ist allerdings fraglich, ob man hier überhaupt primär von einer Übersetzung des griechischen Textes ausgehen sollte; vielmehr hat es den Anschein, als habe Feix hier eine Bearbeitung der Übersetzung Jacobis vorgenommen. Auf jeden Fall lässt sich klar erkennen, worauf Feix abzielt: die Satzstruktur so weit wie möglich zu vereinfachen. Pathologie des Krieges (3, 82, 4 f.) καὶ τὴν εἰωθυῖαν ἀξίωσιν τῶν ὀνοµάτων ἐς τὰ ἔργα ἀντήλλαξαν τῇ δικαιώσει. τόλµα µὲν γὰρ ἀλόγιστος ἀνδρεία φιλέταιρος ἐνοµίσθη, µέλλησις δὲ προµηθὴς δειλία εὐπρεπής, τὸ δὲ σῶφρον τοῦ ἀνάνδρου πρόσχηµα, καὶ τὸ πρὸς ἅπαν ξυνετὸν ἐπὶ πᾶν ἀργόν· τὸ δ᾿ ἐµπλήκτως ὀξὺ ἀνδρὸς µοίρᾳ προσετέθη, ἀσφαλείᾳ δὲ τὸ ἐπιβουλεύσασθαι ἀποτροπῆς πρόφασις εὔλογος. καὶ ὁ µὲν χαλεπαίνων πιστὸς αἰεί, ὁ δ᾿ ἀντιλέγων αὐτῷ ὕποπτος. ἐπιβουλεύσας δέ τις τυχὼν ξυνετὸς καὶ ὑπονοήσας ἔτι δεινότερος· προβουλεύσας δὲ ὅπως µηδὲν αὐτῶν δεήσει, τῆς τε ἑταιρίας διαλυτὴς καὶ τοὺς ἐναντίους ἐκπεπληγµένος. ἁπλῶς δὲ ὁ φθάσας τὸν µέλλοντα κακόν τι δρᾶν ἐπῃνεῖτο, καὶ ὁ ἐπικελεύσας τὸν µὴ διανοούµενον.

_____________ 654 Feix (1959), 76.

Auch änderte man die gewohnte Bedeutung der Worte je nach der Lage nach eigenem Gutdünken. Tollkühnheit galt jetzt für dienstfertige Tapferkeit, kluges Zaudern für schön verschleierte Furcht, ein weises Betragen für einen Vorwand der Feigheit. Suchte man in jeder Hinsicht vernünftig zu handeln, hieß man in allem träge. Heftiges Draufgängertum erachtete man als männlich. Verlangte man für ein Unternehmen ruhige Überlegung, so hielt man dies für einen scheinbaren Vorwand, sich aus der Affäre ziehen zu wollen. Wer schalt und schmähte, war ein zuverlässiger Mann, wer ihm widersprach, galt als verdächtig. Wer durch Fallen und Hinterhalt sein Ziel erreichte, galt für klug, wer aber einen solchen Plan vorher durchschaute, für noch weit schlauer. Wer aber seine Maßnahmen so einrichtete, daß er beides nicht brauchte, galt als ein Störer der Freundschaft, der vor dem Gegner Angst hatte. Lob erntete der, der in allem Bösen, was man ihm anhaben wollte, vorbaute und einen Dritten, der nichts Derartiges im Sinn hatte, zu ähnlichen Taten veranlaßte.654

206 Deutsche Thukydidesübersetzungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Auch in diesem Abschnitt zeigen sich deutliche Übereinstimmungen mit der Übersetzung Jacobis, dessen Formulierungen Feix, von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen, übernimmt. Die minimalen Veränderungen, die er teilweise vornimmt, stellen dabei keineswegs eine Verbesserung dar. So gibt Feix die Nominalphrase ἀποτροπῆς πρόφασις εὔλογος, die Jacobi mit »scheinbare[r] Vorwand um sich aus der Sache zu ziehen« übersetzt hatte, mit der unlogischen Formulierung »scheinbare[r] Vorwand, sich aus der Affäre ziehen zu wollen« wieder. Ebenso unverständlich wie diese Veränderung ist der Umstand, dass Feix den Ausdruck »scheinbar«, der in der hier von Jacobi intendierten Bedeutung »einleuchtend, glaubwürdig«655 in der Mitte des 20. Jahrhunderts veraltet war, unverändert übernimmt. Wie sich gezeigt hat, plagiiert Feix über weite Strecken die Übersetzung Jacobis. Nicht selten drängt sich sogar der Eindruck auf, dass Feix Jacobis Übersetzung, und nicht den griechischen Text, als primäre Vorlage verwendet hat. Es stellt sich nun die Frage, warum er ausgerechnet diese Übersetzung als »Vorlage« gewählt hat. Auch wenn die Übertragung Jacobis nämlich unter Berücksichtigung ihrer Entstehungsbedingungen aus historischer Perspektive durchaus als beachtenswerte Leistung gewürdigt werden kann, weist sie doch aus philologischer Sicht erhebliche Mängel auf, wie im betreffenden Kapitel gezeigt werden konnte.656 Zwar lassen sich bei Feix vereinzelte Bemühungen um eine Verbesserung dieser Mängel beobachten, doch ergibt der direkte Vergleich in den meisten Fällen, dass Feix’ Übersetzung weniger genau ist als diejenige Jacobis. Der Grund, warum Feix diese Übersetzung als Vorlage gewählt hat, dürfte somit eher banal sein: Da sie weitgehend vergessen war, konnte Feix darauf spekulieren, dass seine zahlreichen Übernahmen nicht als solche erkannt würden. Dort, wo Feix eigenständig übersetzt, löst er sich an vielen Stellen vollkommen von der sprachlichen Struktur des Ausgangstextes. Er ist offenkundig in erster Linie darum bemüht, einen für das Zielpublikum gut verständlichen Text zu produzieren, und ebnet den für Thukydides charakteristischen Stil daher konsequent ein. Seiner stark assimilierenden Übersetzung liegt allerdings, so ließ sich immer wieder feststellen, keine genaue Erarbeitung des griechischen Textes zugrunde, an einigen Stellen ist sie sogar sinnentstellend.657 Wie die Auswertung zeitgenössischer Äußerungen zum Taschenbuchwesen zeigt, war der Goldmann-Verlag, in dem die Übersetzung von Feix erschien, aufgrund der mangelnden Sorgfalt seiner editorischen Praxis verrufen.658 Hans Mag_____________ 655 Vgl. DWB, Bd. 14, Sp. 2436, s. v. »scheinbar« 3. 656 Vgl. Kap. 4.1. 657 Vgl. die Kritik von Eberhardt (1961), 340: »Den Fachmann braucht man vor dieser Ausgabe nicht zu warnen. Wie aber kann man den Nichtbescheidwissenden erreichen, der in der Hoffnung, den großen Geschichtsschreiber kennen zu lernen, vertrauensvoll zu dieser ›ungekürzten‹, in Wirklichkeit irreführend verstümmelten und allzu sorglosen Übertragung greift?« 658 Vgl. Kampmann (2011), 218, die ein Beispiel für die editorische Praxis des Goldmann-Verlags erwähnt, das im gegenwärtigen Zusammenhang relevant erscheint: Der Deutsche Taschenbuch-

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nus Enzensberger hat in einem einschlägigen Aufsatz zur Taschenbuchproduktion das Ethos des Goldmann-Verlags folgendermaßen skizziert659: Dort wurde jenes »Bildungsideal der Klassiker«, das Reclam einst beschwor, weniger deshalb übernommen, weil man sich ihm verpflichtet fühlte, sondern weil es immer noch einen risikolosen Absatz zu garantieren schien. Diesen Schluß ließ schon die schäbige Art und Weise zu, wie Goldmann lange Zeit die kanonischen Texte editorisch behandelt hat. Jahrelang fehlte in den Bänden der gelben Reihe jeder Hinweis auf die maßgebenden kritischen Ausgaben. Mit gleicher Unverfrorenheit wurden Shakespeare, Schiller, Heine, Tolstoi und Hölderlin ausgewählt, redigiert, »gestrafft«, mit Phrasen aus der Schulkladde schludrig eingeleitet und in bunte Umschläge, die ein Reklamebüro entwarf, verpackt. Die Ehrfurcht vor den Klassikern, auf die der Verleger beim Käufer spekulierte, schlug er auf diese Art selber in den Wind.

Diese Aussagen passen mit dem Eindruck, der sich aus der Analyse der Thukydidesübersetzung von Feix ergibt, gut zusammen. Insbesondere Enzensbergers Aussagen zur Kürzung der Klassiker finden in der Ausgabe von Feix ihre Bestätigung. Wie erwähnt, werden nämlich das vierte und fünfte Buch nur in Form von kurzen Paraphrasen geboten, so dass der Leser dieser Übersetzung z. B. keinerlei Eindruck vom Melierdialog erhält, einer der zentralen und auch für die Rezeptionsgeschichte bedeutendsten Partien des Thukydideischen Geschichtswerks.

_____________ verlag gab 1963 seine Pläne einer Edition der Märchen Brentanos auf, nachdem der GoldmannVerlag von dem Projekt erfahren und eine eigene Ausgabe angekündigt hatte. Betrachtet man nun vor diesem Hintergrund die Publikationsdaten der Thukydidesübersetzungen von Feix (1959) und Landmann (1960), so drängt sich der Verdacht auf, dass man möglicherweise auch in diesem Fall durch eine Thukydidesausgabe der Konkurrenz zuvorkommen wollte, wobei die Qualität der Übersetzung offenbar keine Rolle spielte. 659 Enzensberger (1962), 121.

208 Deutsche Thukydidesübersetzungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts

9.2

Georg Peter Landmann: Thukydides, Geschichte des Peloponnesischen Krieges (1960)

Von ganz anderer Qualität ist die Gesamtübersetzung des Thukydideischen Geschichtswerks von Georg Peter Landmann (1905–1994), die 1960 in der Reihe »Bibliothek der Alten Welt« des Artemis-Verlags erschienen ist.660 Dies zeigt sich bereits in der umfangreichen Einleitung, in der Landmann nicht nur grundlegende historische und biographische Informationen vermittelt, sondern darüber hinaus auch die Sprachgewalt des Thukydides würdigt: »Wie sein baumeisterlicher Wille die Massen des Stoffes wählt und verteilt, wie er die wirkenden Kräfte in ihr Gleichgewicht setzt, so schaltet er mit der Sprache, bald herrisch gewaltsam, bald bis ins Spielerische«661. Landmann weist in diesem Zusammenhang auch auf die unterschiedlichen sprachlichen Phänomene hin, die den Thukydideischen Stil kennzeichnen, wie z. B. Antithesen, Konstruktionswechsel, Knappheit des Ausdrucks und ungewöhnliche Wortstellung.662 Für die Übersetzung zieht er hieraus folgende Konsequenzen663: Darum ist Thukydides nicht übersetzt, wenn man seine Inhalte wiedergibt: sein Geist lebt in seinem Ton, zumal dem der Reden. Aber man müßte Tacitus oder Johannes von Müller664 sein, um diesen Ton zu treffen, gar in einer so fernen, modernen, abgegriffenen Sprache. Und doch drängt das Erlebnis dieser Sprachgewalt immer wieder zur Nachbildung. So mag der Leser auch diesen Versuch einer Annäherung hinnehmen, ein Mittelding zwischen Treue und Verständlichkeit, dem Kenner und dem Übersetzer selber noch zu glatt, dem eiligen Leser gewiß an vielen Stellen noch zu schwer, willkürlich, künstlich.

Einerseits bekennt sich Landmann hier zu einem stilmimetischen Übersetzungsverfahren, doch räumt er zugleich ein, gewisse Zugeständnisse an die Bedürfnisse des Lesepublikums gemacht zu haben. Landmann hatte Klassische Philologie, Sprachwissenschaft und Germanistik studiert und war 1930 in Basel bei Peter Von der Mühll mit einer Arbeit zu Thukydides promoviert worden.665 Anschließend unterrichtete er von 1931 bis 1966 am Basler Humanistischen Gymnasium und war darüber hinaus als Lektor an der Universität Basel tätig.666 Neben seiner Thukydidesübersetzung veröffentlichte er _____________ 660 Landmann (1960). Bereits 1945 hatte er eine Übersetzung des Epitaphios publiziert (Landmann [1945a]). 661 Landmann (1960), 17 f. 662 Vgl. ebd., 18 f. 663 Ebd., 19. 664 [Müller (1752–1809) galt als einer der bedeutendsten Geschichtsschreiber seiner Zeit und war darüber hinaus als Publizist, Politiker und Diplomat tätig. Zu seinen stilistischen Vorbildern zählten u. a. Thukydides und Tacitus. Näheres zu seinem Verhältnis zu Thukydides bei Rihm (1959), 109–112.] 665 Landmann (1932). 666 Die biographischen Angaben nach Landmann (2004), 14.

Georg Peter Landmann

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Übersetzungen von Xenophons Symposion667, der Ilias668 sowie eine Prosaübersetzung der Divina Commedia Dante Alighieris669. Außerdem verfasste er Übersetzungen zahlreicher griechischer und lateinischer Gedichte, die teilweise erst posthum erschienen sind.670 Darüber hinaus galt das Interesse Landmanns insbesondere dem Werk Stefan Georges, den er über seine Familie bereits als Kind kennengelernt hatte. Neben der Herausgabe von Briefen und Schriften Georges hat er auch eine biographische Einführung in dessen Werk verfasst.671

Übersetzungsanalyse672 Der Anfang des Geschichtswerks (1, 1) Θουκυδίδης Ἀθηναῖος ξυνέγραψε τὸν πόλεµον τῶν Πελοποννησίων καὶ Ἀθηναίων ὡς ἐπολέµησαν πρὸς ἀλλήλους, ἀρξάµενος εὐθὺς καθισταµένου καὶ ἐλπίσας µέγαν τε ἔσεσθαι καὶ ἀξιολογώτατον τῶν προγεγενηµένων, τεκµαιρόµενος ὅτι ἀκµάζοντές τε ᾖσαν ἐς αὐτὸν ἀµφότεροι παρασκευῇ τῇ πάσῃ καὶ τὸ ἄλλο Ἑλληνικὸν ὁρῶν ξυνιστάµενον πρὸς ἑκατέρους, τὸ µὲν εὐθύς, τὸ δὲ καὶ διανοούµενον. κίνησις γὰρ αὕτη δὴ µεγίστη τοῖς Ἕλλησιν ἐγένετο καὶ µέρει τινὶ τῶν βαρβάρων, ὡς δὲ εἰπεῖν καὶ ἐπὶ πλεῖστον ἀνθρώπων. τὰ γὰρ πρὸ αὐτῶν καὶ τὰ ἔτι παλαίτερα σαφῶς µὲν εὑρεῖν διὰ χρόνου πλῆθος ἀδύνατα ἦν, ἐκ δὲ τεκµηρίων ὧν ἐπὶ µακρότατον σκοποῦντί µοι πιστεῦσαι ξυµβαίνει, οὐ µεγάλα νοµίζω γενέσθαι οὔτε κατὰ τοὺς πολέµους οὔτε ἐς τὰ ἄλλα.

Thukydides von Athen hat den Krieg der Peloponnesier und Athener, den sie gegeneinander führten, aufgezeichnet. Er begann damit gleich beim Ausbruch, in der Erwartung, der Krieg werde bedeutend werden und denkwürdiger als alle früheren; das erschloß er daraus, daß beide auf der vollen Höhe ihrer Entfaltung in den Kampf eintraten und daß er das ganze übrige Hellenentum Partei ergreifen sah, teils sofort, teils nach einigem Zögern. Es war bei weitem die gewaltigste Erschütterung für die Hellenen und einen Teil der Barbaren, ja sozusagen unter den Menschen überhaupt. Denn was davor war und noch früher, das war zwar wegen der Länge der Zeit unmöglich genau zu erforschen; aber aus Zeichen, die sich mir bei der Prüfung im großen ganzen als verläßlich erwiesen, glaube ich, daß es nicht erheblich war, weder in Kriegen noch sonst.673

_____________ 667 668 669 670 671

Landmann (1945b). Landmann (1979). Landmann (1997). Landmann (2004). Landmann (1974). Näheres zu den Verdiensten Landmanns um das Werk Georges bei Perels (2009). 672 Der Übersetzung Landmanns liegt die Ausgabe von Hude zugrunde, und zwar die zweite Auflage des ersten Bandes (1913) und die erste Auflage des zweiten Bandes (1901). 673 Landmann (1960), 23.

210 Deutsche Thukydidesübersetzungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Es lassen sich hier an einigen Stellen deutliche Unterschiede gegenüber früheren Übersetzungen beobachten. So gibt Landmann das Prädikat des ersten Satzes, ξυνέγραψε, mit »aufzeichnen« wieder, nicht wie die meisten Übersetzer mit »beschreiben«, und trifft damit genau den Sinn von ξυγγράφειν. Im zweiten Satz fällt dann auf, dass Landmann die Partikel γάρ unübersetzt lässt, so dass der gedankliche Zusammenhang zwischen den ersten beiden Sätzen unklar bleibt. Wie bereits ausführlicher dargestellt wurde, bereitet das Verständnis der Partikel γάρ an dieser Stelle erhebliche Schwierigkeiten, da die vom Sinnzusammenhang erforderte Bedeutung »in der Tat« bzw. »wirklich« für γάρ, außer in Kombination mit anderen Partikeln, nicht sicher belegt ist.674 Möglicherweise ist Landmanns Auslassung also als Eingeständnis dieser Aporie zu bewerten. Allerdings erscheint der zweite Satz bei Landmann auf diese Weise sehr unvermittelt, da der Übergang von der im ersten Satz beschriebenen Erwartung des »jungen« Thukydides hinsichtlich der Größe des Krieges zu der Bestätigung dieser Erwartung im zweiten Satz sprachlich nicht markiert wird. Was die Nachbildung des Thukydideischen Stils anbelangt, so lässt sich hier keine klare Tendenz feststellen. Einerseits gibt Landmann den vergleichenden Adverbialsatz ὡς ἐπολέµησαν πρὸς ἀλλήλους assimilierend mit einem Relativsatz wieder und wählt für τὸ ἄλλο Ἑλληνικὸν ὁρῶν ξυνιστάµενον πρὸς ἑκατέρους, τὸ µὲν εὐθύς, τὸ δὲ καὶ διανοούµενον eine assimilierende, die Unregelmäßigkeit der Thukydideischen Formulierung überspielende Wiedergabe (»daß er das ganze übrige Hellenentum Partei ergreifen sah, teils sofort, teils nach einigem Zögern«). Andererseits berücksichtigt er aber im zweiten Satz die Variation zwischen Dativ (τοῖς Ἕλλησιν ἐγένετο καὶ µέρει τινὶ τῶν βαρβάρων) und Präpositionalphrase (ἐπὶ πλεῖστον ἀνθρώπων) und zeigt somit sein Bemühen um die zumindest partielle Nachbildung des Thukydideischen Stils. Epitaphios (2, 37, 1) Χρώµεθα γὰρ πολιτείᾳ οὐ ζηλούσῃ τοὺς τῶν πέλας νόµους, παράδειγµα δὲ µᾶλλον αὐτοὶ ὄντες τισὶν ἢ µιµούµενοι ἑτέρους. καὶ ὄνοµα µὲν διὰ τὸ µὴ ἐς ὀλίγους ἀλλ᾿ ἐς πλείονας οἰκεῖν δηµοκρατία κέκληται, µέτεστι δὲ κατὰ µὲν τοὺς νόµους πρὸς τὰ ἴδια διάφορα πᾶσι τὸ ἴσον,

_____________ 674 S. oben Kap. 2.1.

Die Verfassung, die wir haben, richtet sich nach keinen fremden Gesetzen; viel eher sind wir für sonst jemand ein Vorbild als von andern abhängig. Mit Namen heißt sie, weil der Staat nicht auf wenige Bürger, sondern auf eine größere Zahl gestellt ist, Volksherrschaft. Es haben aber nach dem Gesetz in dem, was den Einzelnen angeht, alle gleichen Teil,

Georg Peter Landmann κατὰ δὲ τὴν ἀξίωσιν, ὡς ἕκαστος ἔν τῳ εὐδοκιµεῖ, οὐκ ἀπὸ µέρους τὸ πλέον ἐς τὰ κοινὰ ἢ ἀπ᾿ ἀρετῆς προτιµᾶται, οὐδ᾿ αὖ κατὰ πενίαν, ἔχων δέ τι ἀγαθὸν δρᾶσαι τὴν πόλιν, ἀξιώµατος ἀφανείᾳ κεκώλυται.

211

und der Geltung nach hat im öffentlichen Wesen den Vorzug, wer sich irgendwie Ansehn erworben hat, nicht nach irgendeiner Zugehörigkeit, sondern nach seinem Verdienst; und ebenso wird keiner aus Armut, wenn er für die Stadt etwas leisten könnte, durch die Unscheinbarkeit seines Namens verhindert.675

Gleich im ersten Satz lässt sich beobachten, wie Landmann die grammatikalische Struktur vereinfacht, indem er die Hierarchisierung von χρώµεθα γὰρ πολιτείᾳ οὐ ζηλούσῃ τοὺς τῶν πέλας νόµους verändert. Er gibt das Prädikat des Hauptsatzes (χρώµεθα) nämlich mit einem Relativsatz wieder, während er das Dativobjekt πολιτείᾳ οὐ ζηλούσῃ τοὺς τῶν πέλας νόµους als Hauptsatz übersetzt. Der griechische Satz wird so gleichsam von innen nach außen gekehrt. Diese Veränderung der Satzstruktur, die eine stilistische Nivellierung darstellt, lässt sich wohl aus dem Bemühen um eine der Informationsgewichtung entsprechende grammatikalische Struktur erklären. Allerdings wird durch diese Veränderung sowie insbesondere durch die Nichtübersetzung der Partikel γάρ der Anschluss an den vorangehenden Textabschnitt, den Thukydides u. a. durch die Anfangsstellung von χρώµεθα herstellt, nicht markiert. Nicht unmittelbar nachvollziehbar ist dann im Folgenden Landmanns Wiedergabe der beiden Ausdrücke ζηλόω und µιµέοµαι mit »sich richten nach« bzw. »abhängig sein von«. Diese beiden Übersetzungen entsprechen der Sache nach zwar ungefähr dem von Thukydides Gemeinten, doch ist der Ausdruck »sich richten nach« sehr viel neutraler als ζηλόω, das ein leidenschaftliches, eifriges Nachstreben bezeichnet. Durch die Übersetzung Landmanns geht insbesondere die Personifizierung des Begriffs πολιτεία verloren. Auch der Ausdruck »abhängig sein von« gibt den Handlungscharakter von µιµέοµαι, das am ehesten dem deutschen »nachahmen« entspricht, nicht angemessen wieder. Auf der anderen Seite finden sich hier nicht wenige Übersetzungslösungen, die eine genaue Beachtung der sprachlichen Struktur des griechischen Textes belegen. So bildet Landmann beispielsweise die Variatio von τῶν πέλας ... τισὶν ... ἑτέρους approximativ nach (»Die Verfassung, die wir haben, richtet sich nach keinen fremden Gesetzen; viel eher sind wir für sonst jemand ein Vorbild als von andern abhängig«). Auch die weite Sperrung von ὄνοµα und δηµοκρατία κέκληται wird von ihm berücksichtigt.

_____________ 675 Landmann (1960), 140.

212 Deutsche Thukydidesübersetzungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Pathologie des Krieges (3, 82, 4 f.) καὶ τὴν εἰωθυῖαν ἀξίωσιν τῶν ὀνοµάτων ἐς τὰ ἔργα ἀντήλλαξαν τῇ δικαιώσει. τόλµα µὲν γὰρ ἀλόγιστος ἀνδρεία φιλέταιρος ἐνοµίσθη, µέλλησις δὲ προµηθὴς δειλία εὐπρεπής, τὸ δὲ σῶφρον τοῦ ἀνάνδρου πρόσχηµα, καὶ τὸ πρὸς ἅπαν ξυνετὸν ἐπὶ πᾶν ἀργόν· τὸ δ᾿ ἐµπλήκτως ὀξὺ ἀνδρὸς µοίρᾳ προσετέθη, ἀσφαλείᾳ δὲ τὸ ἐπιβουλεύσασθαι676 ἀποτροπῆς πρόφασις εὔλογος. καὶ ὁ µὲν χαλεπαίνων πιστὸς αἰεί, ὁ δ᾿ ἀντιλέγων αὐτῷ ὕποπτος. ἐπιβουλεύσας δέ τις τυχὼν ξυνετὸς καὶ ὑπονοήσας ἔτι δεινότερος· προβουλεύσας δὲ ὅπως µηδὲν αὐτῶν δεήσει, τῆς τε ἑταιρίας διαλυτὴς καὶ τοὺς ἐναντίους ἐκπεπληγµένος. ἁπλῶς τε ὁ φθάσας τὸν µέλλοντα κακόν τι δρᾶν ἐπῃνεῖτο καὶ ὁ ἐπικελεύσας τὸν µὴ διανοούµενον.

Und den bislang gültigen Gebrauch der Namen für die Dinge vertauschten sie nach ihrer Willkür: unbedachtes Losstürmen galt nun als Tapferkeit und gute Kameradschaft, aber vordenkendes Zögern als aufgeschmückte Feigheit, Sittlichkeit als Deckmantel einer ängstlichen Natur, Klugsein bei jedem Ding als Schlaffheit zu jeder Tat; tolle Hitze rechnete man zu Mannes Art, aber behutsames Weiterberaten nahm man als ein schönes Wort zur Verbrämung der Abkehr. Wer schalt und eiferte, galt immer für glaubwürdig, wer ihm widersprach, für verdächtig. Tücke gegen andere, wenn erfolgreich, war ein Zeichen der Klugheit, sie zu durchschauen war erst recht groß, wer sich aber selber vorsah, um nichts damit zu tun zu haben, von dem hieß es, er zersetze den Bund und zittere vor den Gegnern. Kurz, bösem Plan mit bösem Tun zuvorzukommen brachte Lob, auch den noch Arglosen aufzustiften.677

Auch hier lässt sich beobachten, dass Landmann einzelne Ausdrücke recht frei übersetzt. So gibt er τόλµα, das eine mentale Disposition bezeichnet, mit dem eine konkrete Handlung bezeichnenden »Losstürmen« wieder, das semantisch aber höchstens eine assoziative Verbindung zu dem übersetzten Wort hat. Sprachlich ungenau ist auch die Wiedergabe von ἀνδρεία φιλέταιρος mit zwei Nominalphrasen (»Tapferkeit und gute Kameradschaft«), wodurch die für die Aussage entscheidende Verbindung der beiden Begriffe ἀνδρεία und φιλέταιρος unberücksichtigt bleibt. Darüber hinaus ist die Wiedergabe des Adjektivs φιλέταιρος mit »gute Kameradschaft« auch insofern problematisch, als Landmann im Folgenden _____________ 676 Die von Landmann (primär) verwendete Ausgabe von Hude hat an dieser Stelle die Lesart ἀσφάλεια δὲ τοῦ ἐπιβουλεύσασθαι, der Übersetzung Landmanns scheint aber die hier abgedruckte Lesart ἀσφαλείᾳ δὲ τὸ ἐπιβουλεύσασθαι, die z.B. in der Ausgabe von Jones/Powell (1942) in den Text aufgenommen wurde, zugrundezuliegen. 677 Landmann (1960), 250 f.

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den Begriff ἑταιρία mit »Bund« wiedergibt. Für den Leser der Übersetzung wird somit nicht deutlich, dass bei Thukydides hier von einer ganz bestimmten Form des politisch-sozialen Zusammenschlusses die Rede ist. Dass Landmann bei aller übersetzerischen Freiheit im Einzelnen aber durchaus darum bemüht ist, den Stil des Thukydides abzubilden, zeigt sich hier beispielsweise an seiner Wiedergabe von καὶ τὸ πρὸς ἅπαν ξυνετὸν ἐπὶ πᾶν ἀργόν mit »Klugsein bei jedem Ding [galt] als Schlaffheit zu jeder Tat«. Zum einen gibt Landmann hier die Variation der Präpositionen wieder, darüber hinaus stellt er aber auch die phonetische Variation von ἅπαν und πᾶν, die sich im Deutschen nicht nachbilden lässt, mit dem Mittel der lexikalischen Variation dar, indem er zwischen den beiden Begriffen »Ding« und »Tat« variiert. Die von ihm hier gewählte Begriffsvariation entspricht formal sehr gut dem Stil des Thukydides. Melierdialog (5, 89) Ἡµεῖς τοίνυν οὔτε αὐτοὶ µετ᾿ ὀνοµάτων καλῶν, ὡς ἢ δικαίως τὸν Μῆδον καταλύσαντες ἄρχοµεν ἢ ἀδικούµενοι νῦν ἐπεξερχόµεθα, λόγων µῆκος ἄπιστον παρέξοµεν, οὔθ᾿ ὑµᾶς ἀξιοῦµεν ἢ ὅτι Λακεδαιµονίων ἄποικοι ὄντες οὐ ξυνεστρατεύσατε ἢ ὡς ἡµᾶς οὐδὲν ἠδικήκατε λέγοντας οἴεσθαι πείσειν, τὰ δυνατὰ δ᾿ ἐξ ὧν ἑκάτεροι ἀληθῶς φρονοῦµεν διαπράσσεσθαι, ἐπισταµένους πρὸς εἰδότας ὅτι δίκαια µὲν ἐν τῷ ἀνθρωπείῳ λόγῳ ἀπὸ τῆς ἴσης ἀνάγκης κρίνεται, δυνατὰ δὲ οἱ προύχοντες πράσσουσι καὶ οἱ ἀσθενεῖς ξυγχωροῦσιν.

Wir allerdings gedenken unsrerseits nicht mit schönen Worten – etwa als Besieger der Perser seien wir zur Herrschaft berechtigt oder wir müßten erlittenes Unrecht jetzt vergelten – endlose und unglaubhafte Reden euch vorzutragen, noch dürft ihr meinen uns zu überreden, wenn ihr sagt, Abkömmlinge Spartas, hättet ihr doch keine Heeresfolge geleistet oder ihr hättet uns nichts zuleide getan; sondern das Mögliche sucht zu erreichen nach unser beider wahren Gedanken, da ihr so gut wißt wie wir, daß im menschlichen Verhältnis Recht gilt bei Gleichheit der Kräfte, doch das Mögliche der Überlegene durchsetzt, der Schwache hinnimmt.678

Auch hier lassen sich, wie in den vorangehenden Beispielen, mehrere deutliche Abweichungen vom Ausgangstext feststellen. Besonders auffällig ist die starke Veränderung der beiden korrespondierenden Formulierungen δικαίως τὸν Μῆδον καταλύσαντες ἄρχοµεν und ἀδικούµενοι νῦν ἐπεξερχόµεθα. Landmanns Übersetzung »etwa als Besieger der Perser seien wir zur Herrschaft berechtigt oder wir müßten erlittenes Unrecht jetzt vergelten« gibt den Sinn auf den ersten Blick zwar durchaus adäquat wieder und entspricht sicherlich eher dem deutschen Sprachgebrauch als beispielsweise Regenbogens sprachmimetische Übersetzung »daß wir nämlich mit Recht die Herrschaft haben, weil wir den Perser niedergeworfen _____________ 678 Landmann (1960), 432 f.

214 Deutsche Thukydidesübersetzungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben, oder, in unserem Recht gekränkt, jetzt gegen euch vorgehen«679; doch werden mehrere Aspekte der Aussage durch Landmanns eher freie Übersetzung nicht genau wiedergegeben. Um dies zu verdeutlichen, soll zunächst noch einmal kurz der griechische Text betrachtet werden. Konstitutiv für die beiden Formulierungen δικαίως τὸν Μῆδον καταλύσαντες ἄρχοµεν und ἀδικούµενοι νῦν ἐπεξερχόµεθα ist die Verbindung eines Prädikats, das eine gegenwärtige Tätigkeit der Athener bezeichnet (ἄρχοµεν bzw. ἐπεξερχόµεθα), mit einem Adverb bzw. Partizip, das vom Wortstamm δικ- abgeleitet ist (δικαίως bzw. ἀδικούµενοι). Formal wird die Aussage noch durch den Parallelismus δικαίως ... ἄρχοµεν – ἀδικούµενοι ... ἐπεξερχόµεθα unterstrichen. Thukydides lässt die Athener durch diese Formulierungen zum Ausdruck bringen, dass sie ihre gegenwärtigen Aktivitäten (Indikativ Präsens) nicht mit dem Hinweis auf dessen Rechtmäßigkeit zu legitimieren versuchen werden. Landmann formuliert die beiden Aussagen nun in einer Weise um, die den Status der durch die Prädikate bezeichneten Handlungen unklar lässt und den Parallelismus δικαίως ... ἄρχοµεν – ἀδικούµενοι ... ἐπεξερχόµεθα aufhebt. So wird der Akzent, den die Athener – in leicht verächtlichem Ton – auf die beiden Ausdrücke δικαίως und ἀδικούµενοι legen, abgeschwächt. Im Folgenden werden die beiden für die Aussage zentralen Begriffe δικαίως und ἀδικούµενοι dann durch das Prädikat ἠδικήκατε aufgegriffen. Die sich so entwickelnde Rekurrenzenkette, mit der Thukydides die Argumentation der Athener unterstreicht, wird von Landmann ebenfalls nicht konsequent nachgebildet, indem er ἠδικήκατε mit »etw. zuleide tun« übersetzt. Die eben skizzierten Abweichungen vom griechischen Text führen dazu, dass die thematische Funktion der vom Wortstamm δικ- abgeleiteten Ausdrücke nur in abgeschwächter Form in der Übersetzung abgebildet wird. Auch was die Wortstellung anbelangt, zeigt sich, dass Landmann den griechischen Text nicht so genau nachbildet, wie es möglich gewesen wäre. Hier ist erneut der Vergleich mit der Übersetzung von Otto Regenbogen aufschlussreich. Regenbogen war es, wie gezeigt wurde,680 in diesem Abschnitt des Melierdialogs an einigen Stellen gelungen, den griechischen Text im Deutschen fast Wort für Wort abzubilden, so beispielsweise in seiner Wiedergabe der Infinitivkonstruktion τὰ δυνατὰ δ᾿ ἐξ ὧν ἑκάτεροι ἀληθῶς φρονοῦµεν διαπράσσεσθαι (»vielmehr daß wir das mögliche, ausgehend von dem, was beide in Wahrheit denken, durchsetzen müssen«). Landmann hingegen passt seine Übersetzung durch leichte Modifikationen in der Wortstellung und im Ausdruck den deutschen Sprachnormen an (»sondern das Mögliche sucht zu erreichen nach unser beider wahren Gedanken«). Auch in seiner Übersetzung von δίκαια µὲν ἐν τῷ ἀνθρωπείῳ λόγῳ ἀπὸ τῆς ἴσης ἀνάγκης κρίνεται nimmt er kleinere Modifikationen vor. So berücksichtigt er beispielsweise nicht die Anfangsstellung von δίκαια und wählt für ἀπὸ τῆς ἴσης ἀνάγκης mit »bei Gleichheit der Kräfte« eine etwas freiere Übersetzung, _____________ 679 Regenbogen (1949), 234. 680 S. oben Kap. 8.2.

Georg Peter Landmann

215

durch die insbesondere die Bedeutung von ἀνάγκη nicht genau berücksichtigt wird. Regenbogen hingegen hatte den griechischen Text an dieser Stelle sehr präzise nachgebildet (»daß Recht in menschlicher Auseinandersetzung lediglich auf Grund gleichen Zwanges anerkannt wird«). Im Vergleich zu den bislang betrachteten Thukydidesübersetzungen aus dem 20. Jahrhundert erscheint die Übertragung Landmanns eher ausgangstextorientiert. Vor allem das Bemühen darum, den Stil des Thukydides in der Übersetzung wahrnehmbar zu machen, ist deutlich zu erkennen. Konsequent sprachmimetisch ist seine Übersetzung jedoch nicht; es ließen sich nämlich in den analysierten Partien immer wieder deutliche Abweichungen vom Ausgangstext beobachten, die mitunter auch leichte Bedeutungsverschiebungen zur Folge haben.681 Diese Abweichungen können nur zum Teil mit dem von Landmann in seiner Einleitung bekundeten Bemühen um Verständlichkeit erklärt werden. Gleichwohl scheinen die Veränderungen Landmanns nicht beliebig, sondern reflektieren ein Übersetzungsverständnis, das zwar die Orientierung an der sprachlichen Struktur des Ausgangstextes zugrunde legt, die einfache Nachbildung des griechischen Textes jedoch als unangemessen ansieht und die Wiedergabe des Thukydideischen Stils vielmehr als kreative, sprachschöpferische Aufgabe betrachtet.

_____________ 681 Weitere Belege für solche Ungenauigkeiten in der Übersetzung Landmanns sind bei Eberhardt (1961) zusammengestellt.

216 Deutsche Thukydidesübersetzungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts

9.3

Helmuth Vretska: Thukydides, Der Peloponnesische Krieg (1966)

Helmuth Vretska (1935–1993) studierte Klassische Philologie in Wien und Tübingen und promovierte 1959 in Wien mit einer Arbeit zu Euripides682. Anschließend war er als Gymnasiallehrer tätig, zunächst in Bruck an der Mur, von 1962 bis 1972 in Mürzzuschlag, ab 1972 schließlich in Graz.683 Vretska veröffentlichte mehrere Übersetzungen lateinischer und griechischer Historiker, die im Stuttgarter Reclam-Verlag erschienen sind, neben der des Thukydides auch Übersetzungen der Anabasis Xenophons684 sowie der Historien des Tacitus685. Bei seiner Thukydidesübersetzung handelt es sich um eine Auswahlübersetzung, allerdings ist sie ihrem Umfang nach deutlich länger als die in den vorangehenden Kapiteln behandelten Übersetzungen von Weinstock, Regenbogen und Feix. So sind das erste Buch sowie die Bücher sechs und sieben vollständig übersetzt, aus den übrigen Büchern sind zentrale Partien ausgewählt.686 Die unvollständige Übersetzung Vretskas wurde dann drei Jahrzehnte später von Werner Rinner komplettiert.687 Sehr ausführlich ist die Einleitung, in der Vretska das Werk des Thukydides in seinem geistesgeschichtlichen und historischen Kontext situiert. Vretska geht hier aber im Gegensatz zu Landmann nicht näher auf den Stil des Thukydides ein, sondern weist lediglich auf die besonderen sprachlichen Schwierigkeiten der Reden hin.688 Zu seiner Übersetzungsmethode äußert er sich nicht.689 Dass sich _____________ 682 683 684 685 686

Vretska (1959). Die biographischen Angaben nach Pietsch/Prochaska (1994). Vretska (1958). Vretska (1984). Vgl. Vretska (1966a), 38: »Die Auswahl aus den übrigen Büchern versucht, das Werk an seinen Nahtstellen zu fassen.« 687 Vretska/Rinner (2000). Eine Auswahl aus dieser Gesamtübersetzung wurde 2005 in einer zweisprachigen Ausgabe veröffentlicht. Zu seinem Übersetzungskonzept äußert sich Rinner (2000), 5 folgendermaßen: »So sah ich mich nun in meiner Übersetzung verpflichtet, den sperrigen Stil des Thukydides für unsere Zeit soweit wie möglich sichtbar werden zu lassen, aber ohne den heutigen Lesern die allzu großen Extreme in Satzbau und Gedankenführung zuzumuten. Ebenfalls wichtig war mir, dass die neu übersetzten Abschnitte mit den vorhandenen ein harmonisches Ganzes bilden sollten. Aus diesem Grund war es unvermeidlich, die bestehende Übersetzung von Begriffen zu befreien, die nach heutigem Sprachgebrauch befremdlich klingen. Sind doch inzwischen drei Jahrzehnte vergangen, in denen sich mit der deutschen Sprache auch die politisch-historische Diktion gewandelt hat.« Werner Rinner wurde 1981 in Graz mit einer Arbeit zu Xenophon und Thukydides promoviert und war dort als Gymnasiallehrer tätig. 688 Vgl. Vretska (1966a), 23: »[D]ie sprachliche Gedrängtheit und gedankliche Fülle, ebenso der Vergleich mit zeitgenössischen Reden machen es unwahrscheinlich, daß Politiker so oder ähnlich gesprochen haben; niemand hätte sie verstanden, selbst der auch im Griechischen redegewandte Cicero gesteht freimütig (Orator 30), daß die thukydideischen Reden wegen der zahlreichen ›dunklen‹ Stellen kaum verständlich seien! In ihnen hat Thukydides Gedanken, entstanden in seiner Zeit und geäußert von Männern seiner Zeit, komprimiert, manchmal auch zeitlich verschiedene Phasen zu einer Einheit zusammengezogen und sich damit ein Instrument geschaffen, um das vordergründige Geschehen zu objektivieren und aus der Fülle der Fakten das Wesentliche hervorzuheben.«

Helmuth Vretska

217

Vretska intensiv mit dem Werk des Thukydides auseinandergesetzt hat, geht auch aus einem im selben Jahr wie die Übersetzung erschienenen Aufsatz zum Epitaphios hervor.690

Übersetzungsanalyse691 Der Anfang des Geschichtswerks (1, 1) Θουκυδίδης Ἀθηναῖος ξυνέγραψε τὸν πόλεµον τῶν Πελοποννησίων καὶ Ἀθηναίων, ὡς ἐπολέµησαν πρὸς ἀλλήλους, ἀρξάµενος εὐθὺς καθισταµένου ἐλπίσας µέγαν τε ἔσεσθαι ἀξιολογώτατον τῶν προγεγενηµένων,

καὶ καὶ

τεκµαιρόµενος ὅτι ἀκµάζοντές τε ᾖσαν ἐς αὐτὸν ἀµφότεροι παρασκευῇ τῇ πάσῃ καὶ τὸ ἄλλο Ἑλληνικὸν ὁρῶν ξυνιστάµενον πρὸς ἑκατέρους, τὸ µὲν εὐθύς, τὸ δὲ καὶ διανοούµενον. κίνησις γὰρ αὕτη µεγίστη δὴ τοῖς Ἕλλησιν ἐγένετο καὶ µέρει τινὶ τῶν βαρβάρων, ὡς δὲ εἰπεῖν καὶ ἐπὶ πλεῖστον ἀνθρώπων. τὰ γὰρ πρὸ αὐτῶν καὶ τὰ ἔτι παλαίτερα σαφῶς µὲν εὑρεῖν διὰ χρόνου πλῆθος ἀδύνατα ἦν, ἐκ δὲ τεκµηρίων ὧν ἐπὶ µακρότατον σκοποῦντί µοι πιστεῦσαι ξυµβαίνει οὐ µεγάλα νοµίζω γενέσθαι οὔτε κατὰ τοὺς πολέµους οὔτε ἐς τὰ ἄλλα.

Thukydides aus Athen hat den Krieg zwischen den Peloponnesiern und Athenern beschrieben, wie sie ihn gegeneinander geführt haben; er hat damit gleich bei seinem Ausbruch begonnen in der Erwartung, er werde bedeutend sein und denkwürdiger als alle vorangegangenen. Er schloß dies daraus, daß beide in jeder Hinsicht auf dem Höhepunkt ihrer Macht in den Krieg traten, und weil er sah, daß sich das übrige Hellas jeweils einem der beiden Gegner anschloß, teils sofort, teils nach einigem Überlegen. Denn dies war die gewaltigste Erschütterung für die Hellenen und einen Teil der Barbaren, ja sozusagen für den größten Teil der Menschheit. Was sich nämlich davor und noch früher ereignet hatte, war wegen der Länge der Zeit zwar unmöglich zu erforschen, aufgrund von Anzeichen aber, von deren Richtigkeit ich mich bei der Prüfung eines langen Zeitraumes überzeugen konnte, bin ich der Meinung, daß es nicht bedeutend war, weder in Kriegen noch sonst.692

_____________ 689 Vretska stellt folgendes Zitat von Christian Morgenstern seiner Übersetzung als Motto voran: »In der übertriebenen Abneigung gegen schlechte Übersetzungen, gegen Übersetzungen überhaupt, liegt eine gewisse Verzärteltheit. Große Originale leuchten auch aus unbeholfenen Reproduktionen unzerstörbar hervor« (Vretska [1966a], 39). Der zitierte Ausspruch findet sich bei Morgenstern (1918), 72. 690 Vretska (1966b). 691 Der Übersetzung von Vretska liegen die Ausgaben von Jones/Powell (1942) und Luschnat (1960) zugrunde. 692 Vretska (1966a), 41.

218 Deutsche Thukydidesübersetzungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Die Übersetzung Vretskas zeigt an dieser Stelle noch keine klare Tendenz. Teilweise wählt er ausgangssprachliche Übersetzungslösungen. So gibt er beispielsweise den vergleichenden Adverbialsatz ὡς ἐπολέµησαν πρὸς ἀλλήλους analog wieder, nicht, wie etwa Landmann, mit einem Relativsatz. Auch seine Wiedergabe der anakoluthen Konstruktion τεκµαιρόµενος ὅτι ἀκµάζοντές τε ᾖσαν ἐς αὐτὸν ἀµφότεροι παρασκευῇ τῇ πάσῃ καὶ τὸ ἄλλο Ἑλληνικὸν ὁρῶν (»Er schloß dies daraus, daß beide in jeder Hinsicht auf dem Höhepunkt ihrer Macht in den Krieg traten, und weil er sah«) zeigt deutlich das Bemühen darum, die sprachliche Form des griechischen Textes darzustellen. Doch bildet Vretska die sprachliche Struktur nicht in allen Aspekten genau nach. So spaltet er den ersten Satz in mehrere deutsche Sätze auf, wodurch die sprachliche Komplexität gegenüber dem Ausgangstext reduziert wird. Während sich diese Veränderung, die sich auch in vielen früheren Übersetzungen beobachten ließ, noch mit dem Bemühen um einen gut verständlichen Text erklären lässt, erscheinen zumindest zwei Abweichungen problematisch. So lässt Vretska das Adverb σαφῶς, das durch die Partikel µέν hier besonders hervorgehoben wird, unübersetzt. Für den Sinnzusammenhang ist dieses Wort aber eminent wichtig; es geht hier nämlich darum, dass keine deutliche Erkenntnis der länger zurückliegenden Ereignisse möglich ist – diese lassen sich aber, Thukydides zufolge, immerhin soweit erforschen, dass er zu der begründeten Meinung über die relative Geringfügigkeit jener Zeiten gelangen konnte. Auch in Vretskas Wiedergabe von ἐπὶ µακρότατον σκοποῦντί µοι mit »bei der Prüfung eines langen Zeitraumes« wird durch die Nichtberücksichtigung des Superlativs die Aussage des Thukydides nicht genau getroffen. Epitaphios (2, 37, 1) Χρώµεθα γὰρ πολιτείᾳ οὐ ζηλούσῃ τοὺς τῶν πέλας νόµους, παράδειγµα δὲ µᾶλλον αὐτοὶ ὄντες τινὶ693 ἢ µιµούµενοι ἑτέρους. καὶ ὄνοµα µὲν διὰ τὸ µὴ ἐς ὀλίγους ἀλλ᾿ ἐς πλείονας οἰκεῖν δηµοκρατία κέκληται· µέτεστι δὲ κατὰ µὲν τοὺς νόµους πρὸς τὰ ἴδια διάφορα πᾶσι τὸ ἴσον,

Die Staatsverfassung, die wir haben, richtet sich nicht nach den Gesetzen anderer, viel eher sind wir selbst für manchen ein Vorbild, als daß wir andere nachahmten. Mit Namen heißt sie, weil die Staatsverwaltung nicht auf wenige, sondern auf die Mehrheit ausgerichtet ist, Demokratie. Es haben aber nach den Gesetzen in den persönlichen Angelegenheiten alle das gleiche Recht,

_____________ 693 Dies ist die von Luschnat (1960) in den Text aufgenommene Lesart; Jones/Powell (1942) haben an dieser Stelle τισὶν.

Helmuth Vretska κατὰ δὲ τὴν ἀξίωσιν, ὡς ἕκαστος ἔν τῳ εὐδοκιµεῖ, οὐκ ἀπὸ µέρους τὸ πλέον ἐς τὰ κοινὰ ἢ ἀπ᾿ ἀρετῆς προτιµᾶται,

οὐδ᾿ αὖ κατὰ πενίαν, ἔχων δέ τι ἀγαθὸν δρᾶσαι τὴν πόλιν, ἀξιώµατος ἀφανείᾳ κεκώλυται.

219

nach der Würdigkeit aber genießt jeder – wie er eben auf irgendeinem Gebiet in Ansehen steht – in den Angelegenheiten des Staates weniger auf Grund eines regelmäßigen Wechsels (in der Bekleidung der Ämter), sondern auf Grund seiner Tüchtigkeit den Vorzug. Ebensowenig wird jemand aus Armut, wenn er trotzdem für die Stadt etwas leisten könnte, durch seine unscheinbare Stellung daran gehindert.694

Es lässt sich hier deutlich das Bemühen um eine genaue Wiedergabe der sprachlichen Struktur des Ausgangstextes beobachten. Vor allem die Wortstellung und Satzstruktur werden sehr präzise nachgebildet, wie z. B. in der Wiedergabe von καὶ ὄνοµα µὲν διὰ τὸ µὴ ἐς ὀλίγους ἀλλ᾿ ἐς πλείονας οἰκεῖν δηµοκρατία κέκληται (»Mit Namen heißt sie, weil die Staatsverwaltung nicht auf wenige, sondern auf die Mehrheit ausgerichtet ist, Demokratie«). Bei näherer Betrachtung zeigen sich allerdings an einigen Stellen kleinere Abweichungen vom griechischen Text. Auch hier erweist sich der Vergleich mit der Übersetzung von Otto Regenbogen als aufschlussreich, um das besondere Profil der Übersetzung Vretskas zu bestimmen. Zunächst einmal gibt Vretska, anders als Regenbogen, die grammatikalische Struktur des ersten Satzes nicht genau wieder. Ähnlich wie Landmann kehrt er nämlich die hierarchische Struktur von χρώµεθα γὰρ πολιτείᾳ οὐ ζηλούσῃ τοὺς τῶν πέλας νόµους um, indem er das Prädikat des Hauptsatzes (χρώµεθα) mit einem Relativsatz (»die wir haben«) wiedergibt, während er das Dativobjekt πολιτείᾳ οὐ ζηλούσῃ als Hauptsatz (»Die Staatsverfassung [...] richtet sich nicht nach«) übersetzt. Außerdem berücksichtigt er nicht die Variation von τῶν πέλας ... τινὶ ... ἑτέρους, insofern er diese drei Ausdrücke im Deutschen nicht durch drei verschiedene Formulierungen wiedergibt (»Die Staatsverfassung, die wir haben, richtet sich nicht nach den Gesetzen anderer, viel eher sind wir selbst für manchen ein Vorbild, als daß wir andere nachahmten«). Im Folgenden bildet Vretska die sprachliche Struktur aber sehr genau, teilweise geradezu sprachmimetisch nach. Besonders eindrucksvoll ist in dieser Hinsicht seine Wiedergabe von µέτεστι δὲ κατὰ µὲν τοὺς νόµους πρὸς τὰ ἴδια διάφορα πᾶσι τὸ ἴσον: Die Sperrung von µέτεστι ... πᾶσι stellt er durch die Sperrung von »Es haben [...] alle« dar, die beiden Präpositionalphrasen κατὰ µὲν τοὺς νόµους und πρὸς τὰ ἴδια διάφορα gibt er analog wieder (»nach den Gesetzen in den persönlichen Angelegenheiten«), am Satzende schließlich wählt er eine den griechischen Text nachzeichnende Wortfolge (»alle das gleiche Recht« für πᾶσι τὸ ἴσον). Ein Merkmal der Übersetzung Vretskas, das sich hier an seiner Wiedergabe des Begriffs µέρος beobachten lässt, ist die Hinzufügung von erläuternden Zusätzen in Klammern. Offenbar versucht er so, einerseits dem knappen Wortlaut des _____________ 694 Vretska (1966a), 162.

220 Deutsche Thukydidesübersetzungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts griechischen Textes Rechnung zu tragen, andererseits aber die Verständlichkeit der Übersetzung zu gewährleisten. Pathologie des Krieges (3, 82, 4 f.) καὶ τὴν εἰωθυῖαν ἀξίωσιν τῶν ὀνοµάτων ἐς τὰ ἔργα ἀντήλλαξαν τῇ δικαιώσει. τόλµα µὲν γὰρ ἀλόγιστος ἀνδρεία φιλέταιρος ἐνοµίσθη, µέλλησις δὲ προµηθὴς δειλία εὐπρεπής, τὸ δὲ σῶφρον τοῦ ἀνάνδρου πρόσχηµα, καὶ τὸ πρὸς ἅπαν ξυνετὸν ἐπὶ πᾶν ἀργόν· τὸ δ᾿ ἐµπλήκτως ὀξὺ ἀνδρὸς µοίρᾳ προσετέθη, ἀσφαλείᾳ δὲ τὸ ἐπιβουλεύσασθαι ἀποτροπῆς πρόφασις εὔλογος. καὶ ὁ µὲν χαλεπαίνων πιστὸς αἰεί, ὁ δ᾿ ἀντιλέγων αὐτῷ ὕποπτος. ἐπιβουλεύσας δέ τις τυχὼν ξυνετὸς καὶ ὑπονοήσας ἔτι δεινότερος· προβουλεύσας δὲ ὅπως µηδὲν αὐτῶν δεήσει, τῆς τε ἑταιρίας διαλυτὴς καὶ τοὺς ἐναντίους ἐκπεπληγµένος. ἁπλῶς δὲ ὁ φθάσας τὸν µέλλοντα κακόν τι δρᾶν ἐπῃνεῖτο, καὶ ὁ ἐπικελεύσας τὸν µὴ διανοούµενον.

Auch änderten sie die gewohnten Bezeichnungen für die Dinge nach ihrem Belieben. Unüberlegte Tollkühnheit galt für aufopfernde Tapferkeit, vorausdenkendes Zaudern für aufgeputzte Feigheit, Besonnenheit für den Deckmantel der Ängstlichkeit, alles bedenkende Klugheit für alles lähmende Trägheit; wildes Draufgängertum hielt man für Mannesart, vorsichtig wägendes Weiterberaten wurde als schönklingender Vorwand der Ablehnung angesehen. Wer schalt und zürnte, war immer zuverlässig, wer widersprach, eben dadurch verdächtig. Gelang jemandem ein Anschlag, so galt er für verständig, durchschaute er einen rechtzeitig, für noch tüchtiger; wer aber seine Maßnahmen schon im voraus so bedachte, daß er weder das eine noch das andere brauchte, von dem hieß es, er zersetze den Bund und zittere vor den Feinden. Kurzum, wer mit bösem Tun einem andern, der erst plante, zuvorkam, erntete Lob, und erst recht, wer einen andern, der gar nicht daran dachte, dazu anhielt.695

In seiner Wiedergabe von τὴν ... ἀξίωσιν τῶν ὀνοµάτων weicht Vretska von den meisten früheren Übersetzungen ab, indem er den Ausdruck mit »Bezeichnungen« wiedergibt. Damit verkürzt er zwar die griechische Formulierung und erfasst somit nicht genau die Bedeutung des Begriffs ἀξίωσις, doch ist seine Übersetzung vom Sinn her – anders als die gängige Übersetzung mit »Bedeutung« – durchaus angemessen. In seiner Wiedergabe von τῇ δικαιώσει folgt Vretska andererseits der konventionellen Deutung, die von Regenbogen durch seine Übersetzung _____________ 695 Vretska (1966a), 233 f.

Helmuth Vretska

221

(»Und die gewohnte Geltung der Bezeichnungen für das, was man tat, verkehrten sie in ihrer Wertung«) in Frage gestellt worden war.696 Wie in den zuvor betrachteten Beispielen orientiert sich Vretska auch hier überwiegend an der sprachlichen Struktur des Ausgangstextes. Etwas freier ist aber seine Übersetzung von καὶ τὸ πρὸς ἅπαν ξυνετὸν ἐπὶ πᾶν ἀργόν mit »alles bedenkende Klugheit für alles lähmende Trägheit«. Durch die Gegenüberstellung zweier Nominalphrasen, die ein Nomen und ein attributives Partizip umfassen, lehnt sich Vretska jedoch an den Formulierungen des Thukydides an, der in den ersten Beispielen dieses Abschnitts jeweils zwei Nominalphrasen, bestehend aus Nomen und Adjektiv, einander gegenüberstellt. Vretskas Übersetzung entspricht also stilistisch tendenziell dem Ausgangstext und wirkt insofern durchaus »thukydideisch«. In der Wiedergabe einzelner Ausdrücke lassen sich hier, wie im ersten Beispiel, einige problematische Übersetzungen konstatieren. Beispielsweise gibt Vretska φιλέταιρος mit »aufopfernd« nur ungenau wieder. Mit dem Begriff des »Aufopferns« führt er nämlich einen allenfalls implizit im griechischen Text angelegten Aspekt ein und bringt andererseits den entscheidenden Bezug zu den Hetairien nicht zum Ausdruck. So wird ein falsches Verständnis möglich, indem der Leser den Begriff etwa im Sinne eines Sichaufopferns für die Gemeinschaft verstehen könnte. Etwas unglücklich ist auch die Wiedergabe von µέλλησις mit »Zaudern«, denn es handelt sich bei der Bezeichnung µέλλησις ... προµηθὴς ja um die »alte« Bezeichnung für das Verhalten, das, nachdem sich die Wertmaßstäbe verkehrt haben, als Feigheit mit schöner Außenseite (δειλία εὐπρεπής) bezeichnet wird. Wie aus den übrigen Beispielen deutlich hervorgeht, werden hier stets positive gegen negative Bewertungen ausgetauscht und umgekehrt. Auch im Falle von µέλλησις δὲ προµηθὴς δειλία εὐπρεπής handelt es sich offenkundig um den Austausch einer positiven gegen eine negative Bewertung; eine angemessene Übersetzung von µέλλησις wäre an dieser Stelle also das neutrale »Zögern«, das in Verbindung mit »vorausdenkend« eine positiv besetzte Formulierung ergäbe. Indem Vretska µέλλησις nun aber mit dem negativ besetzten »Zaudern« wiedergibt, wird die Umkehrung der Bewertung in diesem Fall in der Übersetzung nicht deutlich. Schließlich ist noch darauf hinzuweisen, dass Vretska in seiner Übersetzung von τῆς τε ἑταιρίας διαλυτὴς καὶ τοὺς ἐναντίους ἐκπεπληγµένος (»von dem hieß es, er zersetze den Bund und zittere vor den Feinden«) Landmanns Übersetzung (»von dem hieß es, er zersetze den Bund und zittere vor den Gegnern«) fast wörtlich übernimmt.

_____________ 696 Vgl. Kap. 8.2.

222 Deutsche Thukydidesübersetzungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Melierdialog (5, 89) Ἡµεῖς τοίνυν οὔτε αὐτοὶ µετ᾿ ὀνοµάτων καλῶν, ὡς ἢ δικαίως τὸν Μῆδον καταλύσαντες ἄρχοµεν ἢ ἀδικούµενοι νῦν ἐπεξερχόµεθα, λόγων µῆκος ἄπιστον παρέξοµεν, οὔθ᾿ ὑµᾶς ἀξιοῦµεν ἢ ὅτι Λακεδαιµονίων ἄποικοι ὄντες οὐ ξυνεστρατεύσατε ἢ ὡς ἡµᾶς οὐδὲν ἠδικήκατε λέγοντας οἴεσθαι πείσειν, τὰ δυνατὰ δ᾿ ἐξ ὧν ἑκάτεροι ἀληθῶς φρονοῦµεν διαπράσσεσθαι, ἐπισταµένους πρὸς εἰδότας ὅτι δίκαια µὲν ἐν τῷ ἀνθρωπείῳ λόγῳ ἀπὸ τῆς ἴσης ἀνάγκης κρίνεται, δυνατὰ δὲ οἱ προύχοντες πράσσουσι καὶ οἱ ἀσθενεῖς ξυγχωροῦσιν.

Nun gut, wir selbst wollen nun nicht mit schönklingenden Worten – wie etwa: zu Recht bestehe unsere Herrschaft nach unserem Sieg über die Perser, oder: wir wollten erlittenes Unrecht jetzt rächen – eine langatmige und deshalb unglaubwürdige Rede vortragen. Aber auch ihr, das fordern wir, dürft nicht glauben, uns durch solche Ausführungen zu überzeugen: als Pflanzvolk der Spartaner hättet ihr euch nicht am Krieg (auf unserer Seite) beteiligen können, oder: ihr hättet uns kein Unrecht zugefügt. Nein, im Rahmen des von uns als wahr Erkannten sucht das Mögliche zu erreichen, da ihr ebenso gut wie wir wißt, daß Recht im menschlichen Verkehr nur bei gleichem Kräfteverhältnis zur Geltung kommt, die Stärkeren aber alles in ihrer Macht Stehende durchsetzen und die Schwachen sich fügen.697

Vretska gibt die stark hierarchisierte Satzstruktur des Ausgangstextes nicht wieder, sondern spaltet die Periode in drei Sätze bzw. Satzgefüge auf. Doch zeigt sich, wie in den zuvor betrachteten Beispielen, auch hier deutlich das Bemühen darum, die Abfolge der Wörter bzw. Satzkonstituenten entsprechend dem Ausgangstext wiederzugeben. So wird beispielsweise die Sperrung des Subjekts und Prädikats des ersten Hauptsatzes Ἡµεῖς τοίνυν οὔτε αὐτοὶ µετ᾿ ὀνοµάτων καλῶν, ὡς ἢ δικαίως τὸν Μῆδον καταλύσαντες ἄρχοµεν ἢ ἀδικούµενοι νῦν ἐπεξερχόµεθα, λόγων µῆκος ἄπιστον παρέξοµεν in modifizierter Form nachgebildet: »Nun gut, wir selbst wollen nun nicht mit schönklingenden Worten – wie etwa, zu Recht bestehe unsere Herrschaft nach unserem Sieg über die Perser, oder, wir wollten erlittenes Unrecht jetzt rächen – eine langatmige und deshalb unglaubwürdige Rede vortragen«. Auch die Wortfolge ὑµᾶς ἀξιοῦµεν wird von Vretska nachgebildet, indem er seine Übersetzung von ἀξιοῦµεν parenthetisch einschiebt: »Aber auch ihr, das fordern wir, dürft nicht glauben«. Hier zeigt sich, dass Vretska primär um die Nachbildung der Wortfolge bemüht ist, während er in der Wiedergabe der grammatikalischen Struktur freier verfährt. Denn er gibt den AcI nicht, wie in deutschsprachigen Übersetzungen sonst üblich, mit einem Nebensatz wieder, sondern mit einem Hauptsatz. _____________ 697 Vretska (1966a), 268 f.

Deutsche Thukydidesübersetzungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts 223

In der Wiedergabe einzelner Ausdrücke lassen sich hier, wie in den vorangehenden Beispielen, kleinere Abweichungen feststellen. So wählt Vretska für λόγων µῆκος ἄπιστον die sprachlich etwas freiere Übersetzung »eine langatmige und deshalb unglaubwürdige Rede«. Vretska expliziert also den in dem Wort µῆκος implizit enthaltenen Aspekt der übermäßigen Länge. Außerdem versucht er, das logische Verhältnis zwischen den beiden Begriffen µῆκος und ἄπιστον durch das Wort »deshalb« zu verdeutlichen. Ein kausales Verhältnis, wie es Vretska hier zugrundelegt, ist zwar denkbar, doch scheint es plausibler anzunehmen, dass hier ein konzessives Verhältnis impliziert ist, wie Regenbogen es in der von ihm gewählten Übersetzung »lange Reden [...], die doch keinen Glauben finden« zum Ausdruck bringt. Der Vergleich mit der Übersetzung Regenbogens lässt dann auch im Folgenden einige kleinere Abweichungen vom griechischen Text in der Übertragung Vretskas deutlich werden. So berücksichtigt Vretska nicht die Anfangsstellung von τὰ δυνατά in der Infinitivkonstruktion τὰ δυνατὰ δ᾿ ἐξ ὧν ἑκάτεροι ἀληθῶς φρονοῦµεν διαπράσσεσθαι und in dem Nebensatz δυνατὰ δὲ οἱ προύχοντες πράσσουσι καί οἱ ἀσθενεῖς ξυγχωροῦσιν. Außerdem gibt er diesen Begriff an beiden Stellen jeweils unterschiedlich wieder, nämlich einmal mit »das Mögliche«, das andere Mal mit »alles in ihrer Macht Stehende«, und lässt somit die Rekurrenz von δυνατά unberücksichtigt. Regenbogen hingegen hatte δυνατά in beiden Fällen mit »das mögliche« wiedergegeben und dabei auch die Anfangsstellung bewahrt bzw. den Ausdruck so weit wie möglich nach vorne gezogen. Auch in der Übersetzung der Präpositionalphrase ἀπὸ τῆς ἴσης ἀνάγκης unterscheiden sich Regenbogen und Vretska von einander: Während Regenbogen sie präzise mit »auf Grund gleichen Zwanges« übersetzt, wählt Vretska mit »bei gleichem Kräfteverhältnis« eine eher assimilierende Übersetzung. *** Deutsche Thukydidesübersetzungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts In den beiden zuletzt betrachteten Übersetzungen von Georg Peter Landmann und Helmuth Vretska lässt sich eine ähnliche Tendenz beobachten. Beide Übersetzer sind nämlich offenkundig darum bemüht, die Sprache des Thukydides im Deutschen in wesentlichen Aspekten nachzubilden, nehmen aber zugleich aus Rücksicht auf die vermeintlichen Bedürfnisse ihres Lesepublikums bestimmte Anpassungen an deutsche Sprachnormen vor. Bei Landmann steht dabei die Nachschöpfung des Thukydideischen Stils im Vordergrund,698 wobei die genaue Nachbildung der grammatikalischen Strukturen und die adäquate Wiedergabe einzelner Ausdrücke zuweilen in den Hintergrund treten. Man kann seine Übersetzung in dieser Hinsicht mit derjenigen von Hieronymus Müller aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vergleichen, in der sich ebenfalls sowohl das Bemühen um Stilmimesis als auch eine Bereitschaft zu Zugeständnissen an den Leser _____________ 698 Zusätzliche Belege für das Bemühen Landmanns um die Nachbildung des Thukydideischen Stils finden sich in den Rezensionen von Luschnat (1961) und Eberhardt (1961), 329–340.

224 Deutsche Thukydidesübersetzungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Übersetzung beobachten ließen.699 Demgegenüber erweist sich die Übersetzung Vretskas meist als genauer. Zwar werden die grammatikalischen Strukturen, insbesondere die komplexen Perioden, von Vretska ebenfalls nicht konsequent nachgebildet, doch zeigt er in der Nachbildung der Wort- bzw. Gedankenfolge eine bemerkenswerte Genauigkeit, die einen sehr guten Eindruck von der Sprachgestalt des Originals vermittelt. Es liegt nahe, hier den Einfluss des »dokumentarischen Übersetzens« Wolfgang Schadewaldts zu vermuten, der gerade darauf bestanden hatte, die Folge der Vorstellungen bzw. die Wortfolge zu bewahren. Wie der Vergleich mit der Übersetzung von Otto Regenbogen zeigt, bleibt Vretska jedoch hinter den Möglichkeiten der Sprachmimesis, die das Deutsche bietet, deutlich zurück, auch in der Wiedergabe einzelner Ausdrücke verfährt er weniger genau. Somit ergibt sich der Befund, dass Regenbogens Übersetzung, die noch vor Ende des Zweiten Weltkriegs fertiggestellt wurde, am ehesten das von Schadewaldt später ausformulierte Konzept des »dokumentarischen Übersetzens« verwirklicht hat. Den Übersetzungen von Landmann und Vretska steht diejenige von Josef Feix diametral gegenüber. Da Feix sich an der Übersetzung Maximilian Jacobis vom Anfang des 19. Jahrhunderts anlehnt bzw. diese an einigen Stellen geradezu plagiiert, kann man hier nur bedingt von einer Übersetzungsmethode bzw. einem Übersetzungsstil sprechen. Dort, wo Feix eigenständige Übersetzungslösungen präsentiert, zeigt er sich jedenfalls konsequent um eine möglichst starke Vereinfachung der sprachlichen Strukturen und um eine fast vollständige Nivellierung des Thukydideischen Stils bemüht. Dabei wird die Sinnstruktur des griechischen Textes allerdings vielfach nicht angemessen berücksichtigt. Um das Bild zu vervollständigen, muss schließlich noch erwähnt werden, dass die beiden Übersetzungen von August Horneffer und Theodor Braun, die beide von einer stark assimilierenden Tendenz geprägt sind,700 in den Jahren 1957 und 1961 neu aufgelegt wurden. Die Thukydidesübersetzungen, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erschienen sind, weisen somit eine extreme Heterogenität auf, sowohl was ihre philologische Genauigkeit als auch was die jeweils zugrundegelegte Übersetzungsmethode anbelangt.

_____________ 699 Zur Übersetzung Müllers s. oben Kap. 5.3. 700 Zu den Übersetzungen von Horneffer und Braun s. oben Kap. 7.1 und 7.2.

10 Zusammenfassung und Fazit Die zuletzt behandelten Übersetzungen von Landmann und Vretska zeigten in ihrem Bemühen um die sprachlich-stilistische Form des Originals eine deutliche Konvergenz. Demnach, so scheint es, hätte sich also tendenziell die Auffassung durchgesetzt, dass sowohl der Inhalt als auch die sprachliche Form in der Übersetzung darzustellen seien. Doch sollte man sich vor der Annahme hüten, damit sei eine Entwicklung zu einem Abschluss gelangt. Blickt man zurück auf den Anfang der behandelten Übersetzungsgeschichte und vergegenwärtigt sich noch einmal die anonyme Thukydidesübersetzung von 1757, so zeigt sich eindrucksvoll, welch radikale Veränderungen die deutsche Übersetzungskultur seit der Mitte des 18. Jahrhunderts durchlaufen hat. Die Entwicklung verlief innerhalb dieses Zeitraums von 200 Jahren jedoch alles andere als konstant und geradlinig. Dabei wird der vielleicht bedeutendste Fortschritt ganz zu Anfang mit den Übersetzungen von Johann David Heilmann (1760) und Johann Jacob Reiske (1761) erzielt, die gegenüber der anonymen Übersetzung von 1757 eine bereits sprunghafte Niveausteigerung bedeuten. In der Thukydidesübersetzung von Heilmann wird das in der frühen Aufklärung maßgebliche Übersetzungsprinzip der Assimilierung an die Zielsprache musterhaft umgesetzt. Er ist offenbar in erster Linie darum bemüht, einen für zeitgenössische Leser ansprechenden deutschen Text zu produzieren, der den Sinn angemessen wiedergibt. Dabei nimmt er zahlreiche stilistische Veränderungen vor, die seiner Übersetzung einen gegenüber dem Original ganz anderen Charakter verleihen. Vor allem die für Thukydides typische Unregelmäßigkeit und Asymmetrie werden von ihm konsequent überspielt, aber auch die sprachliche Knappheit des griechischen Textes wird in seiner Übersetzung nicht angestrebt. Nur vereinzelt zeigt Heilmann, z. B. in der Periodenbildung oder in der Gestaltung einzelner Redefiguren, stilmimetische Ansätze. Ein konsequent stilmimetisches Übersetzungsverfahren wäre in der Übersetzungskultur des 18. Jahrhunderts jedoch undenkbar gewesen. Nicht nur deren zielsprachliche Ausrichtung, sondern auch die Inkompatibilität des zu jener Zeit herrschenden Stilideals der Reinheit und Deutlichkeit mit dem »dunklen« Stil des Thukydides standen dem entgegen. Das Thukydideische Geschichtswerk konnte um die Mitte des 18. Jahrhunderts also nur in einer stark veränderten Form dem Lesepublikum dargeboten werden. Die nur ein Jahr später erschienene Übersetzung der Thukydideischen Reden von Johann Jacob Reiske könnte sich in ihrer sprachlichen Gestalt kaum stärker von derjenigen Heilmanns unterscheiden. Reiske, der unter den in dieser Arbeit

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behandelten Übersetzern als der bedeutendste Philologe gelten muss, hat, was auf den ersten Blick paradox erscheint, die bei weitem freieste deutschsprachige Thukydidesübersetzung verfasst. Aufgrund seiner paraphrasierenden, sich an vielen Stellen weit vom griechischen Text entfernenden Übersetzungsweise, ist eine zusammenfassende Beurteilung schwierig. Doch scheint die philologische Akribie, mit der Reiske sich sein Verständnis des Thukydides erarbeitet hat, allenthalben durch, auch dort, wo sich seine Übersetzung in ihrer sprachlichen Struktur völlig vom Ausgangstext löst. Seine Übersetzung macht somit deutlich, dass philologische Genauigkeit in der Erfassung der Sprach- und Sinnstrukturen des Ausgangstextes sich nicht zwangsläufig in einer sprach- oder stilmimetischen Übersetzung niederschlagen muss. Es handelt sich hier um eine radikale Transstilisierung, die den komplizierten und sich von der Alltagssprache durch vielfältige Besonderheiten abhebenden Stil des Thukydides vollständig ausradiert und stattdessen einen kolloquialen, bisweilen umgangssprachlichen Ton anschlägt. Der Grund für diese stilistische Transformation liegt in Reiskes vehementer Ablehnung des Thukydideischen Stils begründet, dessen vermeintliche Mängel er in seiner Übersetzung gewissermaßen zu beseitigen versucht. Seine Übersetzung erscheint geradezu als Versuch, das Original zu verbessern. Als weiterer Faktor kommt die starke schriftstellerische Persönlichkeit Reiskes hinzu, die die auktoriale Stimme des Thukydides verdrängt. Sowohl Heilmann als auch Reiske gehören noch einer Entwicklungsstufe der deutschen Übersetzungskultur an, in der die sprachliche Nachbildung des Ausgangstextes nur bis zu einem gewissen Grade zulässig war, in der vielmehr die Anpassung an die deutschen Sprachnormen als wesentliches Qualitätsmerkmal galt. Um 1800 vollzieht sich dann allerdings ein tiefgreifender Wandel, der sich sowohl in den übersetzungstheoretischen Schriften Schlegels, Schleiermachers und Humboldts als auch in verschiedenen Übersetzungen aus dem Griechischen, insbesondere in der überarbeiteten Odysseeübersetzung von Voß aus dem Jahre 1793 und der Platonübersetzung Schleiermachers, manifestiert. Die Veränderungen in der Übersetzungskultur um 1800, durch die die geltenden Übersetzungsnormen nachhaltig verschoben wurden, haben sich auch in den danach erschienenen Thukydidesübersetzungen deutlich niedergeschlagen. Die übersetzerische Freiheit, wie sie für die Übersetzungen des 18. Jahrhunderts charakteristisch gewesen war, wird später nie wieder in gleichem Maße angestrebt. Seit dem frühen 19. Jahrhundert sehen sich Übersetzer des Thukydides offenbar verpflichtet, die sprachliche Struktur des Ausgangstextes zumindest annäherungsweise wiederzugeben. Selbst diejenigen Übersetzer, die sich Anfang des 20. Jahrhunderts wieder mehr vom Ausgangstext lösen, orientieren sich doch stärker an der sprachlichen Form des griechischen Textes, als dies bei den Übersetzern des 18. Jahrhunderts der Fall gewesen war. Angesichts des fundamentalen Wandels der Übersetzungsnormen um 1800 erscheint es überraschend, dass die Übersetzung Johann David Heilmanns aus dem Jahre 1760, die noch den Prinzipien der Übersetzungstheorie der frühen Aufklärung verpflichtet war, doch weiterhin ihren Platz behielt und sogar noch

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bis ins 20. Jahrhundert hinein mehrfach nachgedruckt wurde. Die zweite Auflage erschien 1808, die dritte 1823, zu einer Zeit also, da sich der übersetzungstheoretische Paradigmenwechsel bereits vollzogen hatte. Für die Langlebigkeit der Übersetzung Heilmanns scheinen verschiedene Faktoren eine Rolle gespielt zu haben: Zum einen war sie, für eine Übersetzung des 18. Jahrhunderts, relativ nah am Ausgangstext; zum anderen hatte sie sich aufgrund ihrer Alleinstellung – Reiske hatte ja nur die Reden übersetzt – bereits als die »klassische« Thukydidesübersetzung etabliert. Außerdem könnte bei der wiederholt getroffenen Entscheidung, Heilmanns Übersetzung neu aufzulegen, die Auffassung eine Rolle gespielt haben, dass der Stil des Thukydides aufgrund seiner Schwierigkeit nur in stark assimilierter Form von einem breiteren Publikum rezipierbar sei. Jedenfalls macht die Langlebigkeit seiner Übersetzung deutlich, dass die Veränderungen, die sich um 1800 in der deutschen Übersetzungskultur vollzogen, nicht einen Bruch, sondern eine Verschiebung darstellen. Die dominierende Stellung der Heilmann’schen Übersetzung dürfte auch erklären, warum aus der für die deutsche Übersetzungskultur so fruchtbaren Zeit um 1800, die u. a. den Voß’schen Homer und den Platon Schleiermachers hervorgebracht hat, für Thukydides keine entsprechende Übersetzungsleistung vorliegt. Wie eine Thukydidesübersetzung, die sich an dem neuen Paradigma orientierte, hätte aussehen können, lässt sich jedoch anhand der Übersetzungsproben Gabriel Gottfried Bredows (1808) immerhin erahnen, die den Neuauflagen der Heilmann’schen Übersetzung beigegeben waren und in denen sich der Verfasser deutlich an dem sprachmimetischen Verfahren seines Eutiner Kollegen Johann Heinrich Voß orientierte. Das sprachmimetische Übersetzen konnte sich allerdings – so einflussreich die Übersetzungen von Voß und Schleiermacher auch waren – letztlich nicht als maßgebliches Paradigma durchsetzen. Zwar zeigen, wie gesagt, die Thukydidesübersetzungen des 19. Jahrhunderts im Vergleich zu denen des 18. Jahrhunderts durchweg eine stärkere Orientierung am Ausgangstext, doch lässt sich sehr bald, nämlich bereits im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts eine Abschwächung dieses Übersetzungsideals verzeichnen. Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts verlieren Übersetzungsnormen überhaupt an Verbindlichkeit und Bedeutung. Dies lässt sich gut daran zeigen, welche Übersetzungen in »Reclams Universalbibliothek« während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wieder abgedruckt wurden. Aufgrund ihrer weiten Verbreitung kann diese Reihe ja als eine Art Abbild der deutschen Übersetzungskultur des 19. Jahrhunderts betrachtet werden.701 Auf der einen Seite wurden hier die Homerübersetzungen von Voß sowie zahlreiche der Platonübersetzungen Schleiermachers neu aufgelegt, also Übersetzungen, die sich am sprachmimetischen Übersetzungsparadigma orientierten. Für Thukydides griff der ReclamVerlag dagegen auf die Übersetzung Heilmanns zurück. Es standen also Überset_____________ 701 Vgl. in diesem Zusammenhang die Angaben bei Irmscher (1967), 280 zu den Absatzzahlen der im Reclam-Verlag erschienenen Übersetzungen antiker Literatur.

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zungen nebeneinander, denen völlig verschiedene Prinzipien zugrunde lagen. Hier zeigt sich, dass die Wunschvorstellung Schleiermachers, der ein Übersetzen von ganzen Literatursystemen ins Auge gefasst hatte, nicht ansatzweise realisiert wurde. Denn Ziel dieses Entwurfs war es gerade gewesen, dass die Übersetzungen in ihrer sprachlichen und stilistischen Gestalt ein ähnliches Verhältnis zueinander aufweisen sollten wie die Ausgangstexte.702 Eine Rückwendung zur Thukydidesübersetzung des 18. Jahrhunderts findet sich auch in dem erstmals 1891 publizierten Aufsatz »Was ist Übersetzen?« von Wilamowitz, in dem er sich zwar hauptsächlich mit der Übersetzung antiker Dichtung beschäftigt, ergänzend aber an einer Stelle Reiskes Thukydidesübersetzung als positives Beispiel der Übersetzung antiker Prosa anführt. Die klassischen deutschen Übersetzungen von Voß und Schleiermacher werden hingegen verworfen, die übersetzungstheoretischen Entwürfe des frühen 19. Jahrhunderts überhaupt als Irrweg abgetan. Stattdessen fordert Wilamowitz ein »metempsychotisches« Übersetzen, das sich sprachlich völlig vom Ausgangstext lösen solle. Die folgenden, bereits aus dem 20. Jahrhundert stammenden Thukydidesübersetzungen von August Horneffer (1912), Theodor Braun (1917) und Heinrich Weinstock (1938) praktizieren in Fortsetzung der eingetretenen Entwicklung ein zielsprachenorientiertes Übersetzungsverfahren. Dabei erinnert die Übersetzung Brauns in gewisser Hinsicht sogar an die Übersetzung Reiskes. Wie dieser senkt Braun die Stilhöhe ab, indem er ein umgangssprachliches Vokabular und umgangssprachliche Ausdrucksweisen verwendet. Doch zeigt er nicht im Ansatz die für Reiske bei aller Freiheit in der Übersetzung gleichwohl fassbare philologische Akribie der Texterschließung; im Gegenteil erweist sich sein Übersetzungsverfahren als willkürlich und vielfach geradezu als sinnentstellend. Ein zentrales Argument, das in der Kritik am sprachmimetischen Übersetzen im 19. und frühen 20. Jahrhundert vorgetragen wurde, bestand darin, dass solche Übersetzungen den Bedürfnissen der Leser nicht gerecht würden; Wilamowitz behauptete gar, sie würden zu einer generellen Abneigung gegenüber antiker Literatur führen.703 Nun belegen allerdings die Langlebigkeit der Übersetzungen von Voß und Schleiermacher wie auch die anhaltende Wertschätzung der Homerund Tragödienübersetzungen Schadewaldts, dass sprachmimetische bzw. dokumentarische Übersetzungen durchaus nicht zwangsläufig auf Ablehnung bei einem breiteren Publikum stoßen. Beruht die Vorstellung, man müsse antike Texte herrschenden Sprachnormen anpassen, also womöglich auf einer Unterschätzung des Zielpublikums? Das führt zu der Frage, ob das Andersartige, »Fremde« antiker Literatur nicht auch in der Übersetzung einen wesentlichen Aspekt ihrer potentiellen Faszination ausmacht. Jedenfalls erscheint die Annahme keineswegs zwingend, dass das vielfach – nicht nur im Bereich der Thukydidesübersetzung – anzutreffende Bemühen um eine möglichst adressatengerechte, »zeitgemäße« Übersetzung, durch die der antike Text jedoch oft trivialisiert wird, der Vermitt_____________ 702 Vgl. Schleiermacher (1813). 703 Wilamowitz-Moellendorff (1925), 8 f. verwendet sogar den Ausdruck »verekeln«.

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lung der betreffenden Werke tatsächlich förderlich ist. In mehreren Thukydidesübersetzungen, um zu diesen zurückzukehren, ließ sich zudem beobachten, dass der idiosynkratische Stil des Thukydides nicht nur nivelliert, sondern geradezu transformiert wird, indem zielsprachliche Redensarten sowie kolloquiale Ausdrücke verwendet werden, die dann dem Text der Übersetzung eine ganz andere stilistische Färbung verleihen, ja dem Stil des Thukydides diametral entgegenstehen. Besonders markante Beispiele für diese immer wieder zu beobachtende Tendenz bieten die Übersetzungen von Johann Jacob Reiske, Theodor Braun und Heinrich Weinstock. Es zeigt sich hier eine gewisse Paradoxie des zielsprachlichen Übersetzens: Der – letztlich aus Antikebewunderung geborene – Wunsch, die antiken Texte »lebendig« zu vermitteln, führt dazu, dass diese verformt oder gar verfälscht werden. Doch geht in assimilierenden Übersetzungen sehr viel mehr verloren als nur die sprachlich-stilistische Gestalt der antiken Originale. Denn das »Umgießen« eines gedanklichen Inhalts in eine andere sprachliche Form lässt sich – wie bereits Schleiermacher und Humboldt nachdrücklich betonten – außer im Falle von trivialen Inhalten oder rein informativen Texten nicht bewerkstelligen, ohne dass eben auch der Inhalt selbst verändert wird. In der Tat erscheint keine der zielsprachlichen Übersetzungen des Thukydides, sofern man die Vermittlung des Textsinns als wesentliches Kriterium der Übersetzungsqualität betrachtet, wirklich befriedigend. Selbst ein Philologe vom Range Reiskes, der sich im Vertrauen auf seine Fähigkeiten besonders große Lizenzen einräumte, transformiert an vielen Stellen regelrecht den Sinn. Dass es im Deutschen aber tatsächlich möglich ist, die sprachliche Gestalt und damit verbunden die Sinnstruktur des Thukydideischen Geschichtswerks zu bewahren, ohne dass sich der Text dadurch der Lektüre versperren würde, belegt die Übersetzung Otto Regenbogens (1949), der einen konsequent sprachmimetischen Ansatz verfolgt. Durch ein sehr genaues, jedoch nie starres Nachzeichnen der griechischen Sprachform gelingt es Regenbogen, Sinnstrukturen und -potentiale des griechischen Textes in ihrer Komplexität und Mehrdeutigkeit für den Leser nachvollziehbar zu machen. Zudem wird die Bedeutung vieler Stellen, deren Sinn in anderen Übersetzungen nur vage fassbar wird oder sogar gänzlich verloren geht, von Regenbogen in aller Schärfe herausgearbeitet. Es gelingt ihm dabei sogar, den Leser mit ganz ähnlichen Verständnis- und Interpretationsbarrieren zu konfrontieren, wie sie sich im griechischen Text finden. Damit knüpft er an eine Forderung an, die Humboldt in der Einleitung zu seiner Übersetzung des Agamemnon von 1816 aufgestellt hatte, dass man nämlich »nicht verlangen [dürfe], dass das, was in der Ursprache erhaben, riesenhaft und ungewöhnlich ist, in der Uebertragung leicht und augenblicklich fasslich seyn solle«. Die knappen Äußerungen Regenbogens im Nachwort zu seiner Thukydidesübersetzung weisen denn auch deutliche Parallelen zu den Formulierungen Humboldts auf. Regenbogen hat also – fast eineinhalb Jahrhunderte später – als erster Thukydidesübersetzer die durch den Wandel der Übersetzungsnormen um 1800 möglich gewordene Genauigkeit in der Wiedergabe des griechischen Textes konsequent realisiert.

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Seine Übersetzung des Thukydides ist somit ein besonders eindrucksvolles Zeugnis für die langfristige Wirkung des von Voß und Schleiermacher begründeten sprachmimetischen Übersetzens. Dass es so lange gedauert hat, bis eine derartige, höchsten Ansprüchen genügende Übersetzung des Thukydides – die leider eine Teilübersetzung geblieben ist – zustande kommen konnte, belegt die immensen Schwierigkeiten des Unterfangens: Der »Stil der Unsterblichkeit«, um Nietzsches zu Anfang dieser Arbeit zitierten Aphorismus noch einmal aufzugreifen, widersetzt sich nicht nur dem unmittelbaren Verständnis, sondern auch der Übersetzung. Wie kaum ein anderes Prosawerk zeigt das Thukydideische Geschichtswerk die Grenzen der Übersetzbarkeit auf. Die Geschichte deutscher Thukydidesübersetzungen macht deutlich, dass sich Übersetzungstheorie und Übersetzungspraxis weitgehend parallel zueinander entwickelt haben. Doch hat sich im Laufe dieser Arbeit andererseits auch gezeigt, dass das Verhältnis von Theorie zu Praxis im Detail durchaus nicht unkompliziert ist. Deutlich wurde dies zunächst an den drei Übersetzungen, die zwischen 1757 und 1761 veröffentlicht wurden. Sowohl in den übersetzungskonzeptionellen Äußerungen ihrer Verfasser als auch in dem praktizierten übersetzerischen Verfahren zeigen alle drei den Einfluss der Übersetzungstheorie Gottscheds, die um die Mitte des 18. Jahrhunderts dominant war. Doch haben sie diese jeweils ganz unterschiedlich umgesetzt, indem sie die Kriterien unterschiedlich gewichteten. Noch komplizierter verhält sich die Situation im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts. Bereits in den Übersetzungsproben Bredows von 1808 zeigt sich eine konsequente Anwendung der sprachmimetischen Übersetzungskonzeption, also noch bevor die maßgeblichen theoretischen Äußerungen von Schleiermacher (1813) und Humboldt (1816) überhaupt vorlagen. Bredow war offenkundig von der impliziten Theorie vorausgehender Übersetzungspraxis beeinflusst: Die Homerübersetzung von Voß war 1793, Schleiermachers Platonübersetzungen waren seit 1804 erschienen. Die Thukydidesübersetzung Otto Regenbogens schließlich nimmt das von Schadewaldt in den 1950er Jahren formulierte Konzept des »dokumentarischen« Übersetzens, das seinerseits aus der Arbeit an der Übersetzung griechischer Dichtung entstand, gleichsam vorweg. Übersetzungstheorie und Übersetzungspraxis haben sich also, wie diese Beispiele zeigen, in einem komplexen wechselseitigen Prozess gegenseitig befruchtet. Der Vielzahl und Vielfalt der Thukydidesübersetzungen, die auf der Grundlage unterschiedlicher Paradigmen seit dem 18. Jahrhundert erschienen sind, wohnt, wie bei aller im einzelnen geübten Kritik festzustellen ist, doch insofern ein Nutzen inne, als durch sie dem Rezipienten ein Angebot bereitgestellt ist, das ihn zur Orientierung und zur kritischen Reflexion über unterschiedliche Übersetzungsmodi anhält. Bereits Schleiermacher hatte in seiner Vision einer deutschen Übersetzungskultur auf den Aspekt der Komplementarität von Übersetzungen hingewiesen und explizit eingeräumt, dass verschiedene Übersetzungen ein und desselben Werkes wünschenswert seien, da sie das Original gleichsam von vielen Seiten beleuchten.

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Stellenregister Aristophanes Pl. 919

15 (Anm. 60)

Aristoteles Pol. 1270a 18

15 (Anm. 60)

Dionys von Halikarnass De Thuc. 29 17 Comp. 21 f. 91 (Anm. 290) Homer Il. 2, 440 4, 352 7, 330 8, 531 11, 836 17, 721 18, 304 19, 237 Thukydides 1, 1

1, 21, 1 1, 22, 4 1, 23, 3 2, 37, 1

181 (Anm. 574) 181 (Anm. 574) 181 (Anm. 574) 181 (Anm. 574) 181 (Anm. 574) 181 (Anm. 574) 181 (Anm. 574) 181 (Anm. 574)

9–12, 35–37, 45– 47, 72 f., 80–82, 95 f., 101–103, 107–109, 121 f., 126–128, 134– 136, 151–153, 160 f., 177 f., 201–204, 209 f., 217 f. 2 2, 133 108 (Anm. 361) 13–15 , 38 f., 47– 49, 57–59, 73 f., 83, 96–98, 103 f., 109 f., 122 f.,

2, 37, 2 2, 42, 4 3, 82–84 3, 82, 2 3, 82, 4 f.

3, 82, 6 5, 81, 2 5, 89

8, 38, 3 8, 53, 3

8, 97, 2

128 f., 136 f., 153 f., 161 f., 179 f., 189–192, 204 f., 210 f., 218–220 162 f. 137 16 (m. Anm. 63), 173 40, 164 f. 16–18, 39–41, 49–51, 59–61, 74 f., 84 f., 98 f., 110 f., 123 f., 129–131, 137– 139, 154–156, 165 f., 180–182, 192–194, 205 f., 212 f., 220 f. 194 14 (Anm. 58) 18–20, 41 f., 51 f., 61–63, 76 f., 85 f., 112 f., 182 f., 194–196, 213–215, 222 f. 14 (Anm. 58), 191 (Anm. 614) 14 f. (Anm. 58, 59), 191 (Anm. 614) 14 (Anm. 58)

Personenregister d’Ablancourt, Nicolas Perrot 37–40, 42 (m. Anm. 158), 143 Aischines 105 (Anm. 354) Aischylos 91, 116 Alkibiades 173 f., 175 (Anm. 558, 559) Antimachos von Kolophon 91 (Anm. 290) Antiphon 91 (Anm. 290) Apollonios Rhodios 93 Aristophanes 105, 116, 166 Aristoteles 4

Demosthenes 30, 56 (Anm. 196), 68, 105 (Anm. 353, 354), 145, 188 Diodor 133 Dionys von Halikarnass 17, 87 (m. Anm. 276), 91, 132 Dionysios Periegetes 78 Droysen, Johann Gustav 117

Baeumler, Alfred 171 (m. Anm. 539) Baumgarten, Siegmund Jacob 43 (m. Anm. 160), 67 (m. Anm. 221) Bodmer, Johann Jakob 28 f., 67 (Anm. 217) Boeckh, August 117 f. (m. Anm. 386) Böhme, Gottfried 118–125, 131, 135 f., 194, 196 Boner, Hieronymus 4, 5 (Anm. 23), 21, 42 (Anm. 158) Borchardt, Rudolf 151 (m. Anm. 497) Braun, Theodor 141, 158–168, 176, 181, 188, 224, 228 f. Bredow, Gabriel Gottfried 78–87, 89, 96 f., 99, 102, 104, 121, 135, 227, 230 Breitinger, Johann Jakob 28 f. (m. Anm. 105, 107), 67 (Anm. 217) Bruni, Leonardo 4 (m. Anm. 16–18)

Feix, Josef 201–207, 216, 224 Förster-Nietzsche, Elisabeth 146 Fraenkel, Eduard 169 f. (m. Anm. 529), 176, 186 f. Friedrich der Große 25 Fuhrmann, Manfred 200

Campe, Johann Christian Friedrich 118, 125–131, 135 f., 194 Cervantes Saavedra, Miguel de 105 Chrysoloras, Manuel 4 (Anm. 16) Cicero 24, 29 f., 35, 93, 132, 150, 216 (Anm. 688) Creuzer, Georg Friedrich 87

Haupt, Moriz 118, 142 Heilmann, Johann David 21, 43–52, 58, 61, 64–68, 71–79, 80 (Anm. 264), 81– 87, 89, 93, 95–97, 99, 106, 108, 113, 136, 141, 158, 161, 166 f., 190 f., 194, 225–227 Herder, Johann Gottfried 67 f. (m. Anm. 218, 222), 80, 143 (Anm. 456) Hermann, Gottfried 118 Herodian 93

Dacier, Anne 33 (Anm. 135) Dante Alighieri 209

Empedokles 91 (Anm. 290) Enzensberger, Hans Magnus 206 f. Euripides 105, 142, 216

Gail, Jean-Baptiste 80 (Anm. 264) George, Stefan 209 (m. Anm. 671) Goethe, Johann Wolfgang von 70 (m. Anm. 239, 240), 145 (Anm. 467), 150 (Anm. 495), 188 Goldhagen, Johann Eustachius 43, 64 Gottsched, Johann Christoph 21–35, 43– 45, 52, 54–56 (m. Anm. 187, 188, 193), 63–67, 100, 188, 230 Grillo, Friedrich 67 (m. Anm. 220) Guarini, Giovanni Battista 105

252

Personenregister

Herodot 2 (Anm. 5), 30 f., 43, 64, 70 (m. Anm. 242), 150, 158, 167 (Anm. 524), 185, 187 (Anm. 595), 201 Heumann, Christoph August 29 Heyne, Christian Gottlob 43 (Anm. 159), 105 Hitler, Adolf 172 f. Hölderlin, Friedrich 207 Homer 33 (Anm. 135), 68 f., 86, 100, 113, 116 f., 143 f., 171, 181, 187, 199, 227 f., 230 Horaz 21 f. Horneffer, August 141, 146–158, 160, 165, 168 f., 181, 186, 188, 224, 228 Horneffer, Ernst 146–151, 157, 169, 186 Humboldt, Wilhelm von 91–94, 100, 107, 113, 117, 171, 189, 226, 229 f. Jacobi, Carl Wigand Maximilian 70–78, 81 f., 84–87, 96 f., 106, 108, 136, 194, 202–206, 224 Jacobi, Friedrich Heinrich 70 Jacobs, Friedrich 105 (m. Anm. 353) Jaeger, Werner 170 f. (m. Anm. 534, 537), 186 (Anm. 588) Junckherrott, Johann Jacob 29 (Anm. 112) Kaltwasser, Johann Friedrich Salomon 79 (m. Anm. 260) Klein, Heinrich Wilhelm Friedrich 89, 99–105, 109 f., 113 f., 122, 136, 196 Krieck, Ernst 171 (m. Anm. 539) Landmann, Georg Peter 208–216, 218 f., 221, 223–225 Lessing, Gotthold Ephraim 25, 32 (Anm. 124), 53 (Anm. 182) Livius 201 Longos 67 (Anm. 220) Lukrez 185 Luther, Martin 199 Milton, John 28 Mommsen, Theodor 116 Mommsen, Tycho 116 f. (m. Anm. 377) Morgenstern, Christian 217 (Anm. 689)

Müller, Hieronymus 89, 105–115, 117, 122, 135, 194–196, 223 Müller, Johannes von 208 (m. Anm. 664) Niccoli, Niccolò 4 (m. Anm. 18) Nietzsche, Friedrich 1 (m. Anm. 1), 2 (Anm. 6), 146 (m. Anm. 471), 172, 175 (Anm. 559), 230 Nikolaus V. 4 Oertel, Eucharius Ferdinand Christian 99–101 Osiander, Christian Nathanael 89, 93–99, 103–105, 113 f., 125, 136, 141, 194 Ovid 116 Pellico, Silvio 105 Perikles 13, 30, 59, 128, 137, 161, 163, 172 f., 175 (Anm. 559) Petron 201 Pindar 91 (Anm. 290), 116 (Anm. 377) Platon 4, 30, 69 (m. Anm. 236), 105 (m. Anm. 348), 113, 115, 143 f., 150, 171, 173 (Anm. 552), 177, 187 (Anm. 595), 199, 201, 226 f., 230 Plutarch 4, 78 f. (m. Anm. 260), 125, 200 Polybios 125 Quintilian

132

Raumer, Friedrich von 105 (m. Anm. 354) Regenbogen, Otto 170, 185–197, 201, 213–216, 219 f., 223 f., 229 f. Reiske, Johann Jacob 21, 31, 53–63, 65– 68, 79, 84, 87, 95, 113, 145, 158 f., 166 f., 189 f., 193 f., 225–229 Rinner, Werner 216 (m. Anm. 687) Sallust 177 (m. Anm. 567) Schadewaldt, Wolfgang 145 (Anm. 467), 199 (m. Anm. 630, 631), 200 (m. Anm. 638, 642), 224, 228, 230 Schäfer, Karl 115–117 (m. Anm. 370), 134 Schlegel, August Wilhelm 69, 79, 187 (Anm. 592), 226

Personenregister Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 29, 69, 79, 89–91 (m. Anm. 278, 279), 94, 100, 105–107 (m. Anm. 348), 111, 113, 115, 117 f. (m. Anm. 386), 120, 134, 142–144, 149, 158, 168, 196, 199, 226–230 Schopenhauer, Arthur 143 (Anm. 456) Schwab, Gustav Benjamin 94 (m. Anm. 308) Seneca 185, 201 Sophokles 177 (m. Anm. 568) Strasburger, Gisela 150 (m. Anm. 494) Tacitus 1 (m. Anm. 1), 78, 99, 150, 208 (m. Anm. 664), 216 Tafel, Gottlieb Lukas Friedrich 94 (m. Anm. 307) Theophrast 150 Valla, Lorenzo 4 (m. Anm. 20, 21), 5, 21 Velleius Paterculus 105 (Anm. 353) Venzky, Georg 25–29 (m. Anm. 94–96), 34, 43, 45, 55, 63–67

253

Vergil 69, 93, 187 Von der Mühll, Peter 208 Voß, Johann Heinrich 68 f. (m. Anm. 227, 232, 233), 78–81, 84, 86 f., 96, 103, 105 f., 113, 115–117, 124 (m. Anm. 407), 134, 142–144, 158, 168, 196, 226–228, 230 Vretska, Helmuth 216–225 Wahrmund, Adolf 118, 132–139, 194 Weinstock, Heinrich 170–185, 194 (m. Anm. 622), 201, 216, 228 f. Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von 53 (Anm. 182), 141–147, 149, 151, 158, 168–170, 176, 187, 196, 228 Wilhelm II. 144 Winckelmann, Johann Joachim 31, 53 (Anm. 182) Wolf, Friedrich August 78, 105, 117 (Anm. 386) Xenophon 4, 30 f., 67 (Anm. 220), 93, 209, 216 (m. Anm. 687)

Sachregister Alliteration 86 altsprachlicher Unterricht 114, 117, 143, 148, 169 f., 186 (m. Anm. 589) Amplifizierung 50, 61, 63 Anachronismus 139 »Antike Kultur: Meisterwerke des Altertums in deutscher Sprache« 149 Antikebild 30 (Anm. 116), 31, 157 Antithese 3, 33, 55, 58, 85, 129, 137, 162, 179, 208 archaische Dichtung 200 Artemis (Verlag) 208 Assimilierung, assimilierendes Übersetzen 7, 23, 81, 96, 100 f., 106, 110, 114, 120, 127, 134, 139, 141, 154, 176, 184, 206, 210, 223 f., 225, 227, 229 Aufklärung 21, 47, 55, 57, 63, 66, 80, 91, 93, 115, 141, 151, 176, 225 f. Ausgangssprache, ausgangssprachlich 27, 67, 116, 120 f., 124, 127, 131, 168, 218 ausgangstextorientiertes Übersetzen 71, 101, 215 Auswahlübersetzung 79, 186, 201, 216 belles infidèles 143 (m. Anm. 454) Bibel, Bibelübersetzung 28, 29 (Anm. 112), 199 »Bibliothek der Alten Welt« 208 Bildungswesen 114, 144 (m. Anm. 458), 169, 171 Brachylogie 50, 131, 156, 159, 181 Deutsche Rundschau 167 Dichtung 1, 5, 21, 28 (Anm. 107), 91 (Anm. 290), 116, 120, 144, 187 f., 200, 228, 230 dokumentarisches Übersetzen 199 f. (m. Anm. 631), 224, 228, 230 Dolmetschen 24, 89

»Dritter Humanismus« 170 f. (m. Anm. 535, 542), 172 (Anm. 544), 186 Dunkelheit, dunkel 3, 26 f. (m. Anm. 99), 32 f. (m. Anm. 127), 45, 56, 65 f., 79, 92 f., 99 f., 120 Engelmann (Verlag) 118 europäische Übersetzungsgeschichte 4 Explikation, explizierendes Übersetzen 7, 11, 46, 58 f., 61 f., 77, 86, 129, 152, 156 Fleischmann (Verlag) 99 Form 2 f., 44, 57, 67, 71, 73, 79, 86, 115, 120, 129, 133, 142, 145 f., 149–152, 157, 159 (m. Anm. 509), 175 f., 182 f., 185, 187 (m. Anm. 592), 218, 225– 227, 229 –, innere 150 f., 156 f., 175 freie Übersetzung 26, 63, 86, 155, 214 Fremdheit, fremd 7, 23, 27, 29, 35, 65, 79 f., 90–92, 94, 100, 106, 115 f., 148, 158, 166, 177 (Anm. 565), 228 Gewandmetaphorik 176 Goldmann (Verlag) 201, 206 f. (m. Anm. 658) Gräzismus, Gräzisieren 56, 115 f. »Griechische und römische Dichter und Prosaiker in neuen Uebersetzungen« 93 f., 125 hellenistische Dichtung 200 Humanismus, humanistisch 143 f. (m. Anm. 459), 147, 169–171 (m. Anm. 542), 176, 186 f. (m. Anm. 592) hybrider Übersetzungsstil 91 Insel (Verlag) 158 (m. Anm. 505)

256 interpretierendes Übersetzen 193

Sachregister 59, 61, 66,

Kanon, kanonisch 30, 171, 207 Klassische Philologie 5, 116 (Anm. 377), 132, 141 f. (m. Anm. 446), 146, 170 f. (m. Anm. 533), 185, 199 (Anm. 630), 201, 208, 216 Kohärenz, Textkohärenz 7, 151, 157, 194, 196 Kolloquialismus, kolloquial 61, 63, 66, 139, 163, 166, 226, 229 Kommentar 119 f., 122–125, 167, 191, 193 Komödie 166, 200 Kompositum 84, 86, 155 f. Konstruktionswechsel 3, 112, 208 Kontamination 80 Krais und Hoffmann (Verlag) 118, 133 Kröner (Verlag) 174 (m. Anm. 556) Kunstprosa 5, 120, 159, 176, 200 »Langenscheidt’sche Bibliothek sämtlicher griechischen und römischen Klassiker« 141 (m. Anm. 445) lateinische Thukydidesübersetzungen 4 f. (m. Anm. 22), 21, 42 (m. Anm. 158) Mehrdeutigkeit 196, 229 Metapher, metaphorisch 1 (Anm. 1), 24 (Anm. 88), 50, 57, 64, 75, 91 f., 142, 143 (Anm. 456), 176, 181 Metempsychose 142 f. (m. Anm. 456), 176, 187, 228 Metrik 69, 91, 94 Metzler (Verlag) 93, 118, 125, 141 Mittelübersetzung 37, 42 Modernisierung, Modernisieren 7, 182 f. Mündlichkeit, mündlich 1, 2 (m. Anm. 5), 3 (Anm. 7), 159 nachbildendes Übersetzen 33, 44 Nachschöpfung 223 Nationalsozialismus 170 (Anm. 534), 172–174, 175 (Anm. 559), 177 (Anm. 569), 184 f. (m. Anm. 578, 581) Neologismus 101 Neuauflagen 141, 227

Nominalstil 17 Nominalphrase 77, 165, 179, 190, 206, 212, 221 Orthographie 35 (Anm. 145), 54 (Anm. 188) Parallelismus 214 Paraphrase, paraphrasierendes Übersetzen 5, 22, 36, 40, 60, 65, 74, 87, 90, 123, 201, 207, 226 Paratext 100 (Anm. 332), 174, 200 Partikel 10–12 (m. Anm. 43), 19, 47, 96, 128 f., 154, 179, 181, 190, 196, 210 f., 218 Partizip, Partizipialkonstruktion, Partizipialphrase 12 f. (m. Anm. 45), 47 f., 51 f., 58, 73, 75, 81 f. 84–86, 96, 102 f., 108 f., 111, 122, 124 (m. Anm. 407), 127, 135 f., 152, 156, 159, 161 f., 178, 180, 190, 195, 203 f., 214, 221 Personifizierung 109, 162, 211 phonetisch, lautlich 86, 213 Plagiat 206, 224 Pleonasmus, pleonastisch 40, 61, 63, 86, 154 Prosa 1, 9, 22, 93 f., 100, 119 f., 125, 144, 150, 187 f. (m. Anm. 595), 200, 209, 228, 230 Publikum 2, 70 (Anm. 242), 78, 94 (m. Anm. 309), 106, 114, 117, 125, 131, 134, 139, 141, 145, 167 f., 174 (Anm. 556), 206, 208, 223, 225, 227 f. Ragoczysche Buchhandlung 105 Reclam (Verlag) 141, 207, 216, 227 (m. Anm. 701) »Reclams Universalbibliothek« 141 (m. Anm. 444), 227 Redensart 23 f. (m. Anm. 88), 27, 43 (m. Anm. 166), 52, 65, 139, 167 (Anm. 523), 200, 229 Rekurrenz 7, 41, 46, 50, 73, 82, 102, 154–156, 183, 194, 214, 223 Retardierung 3 (Anm. 7), 196 Rezeption 1, 4 (Anm. 15), 8, 21, 68 (Anm. 228), 114, 133, 167, 207

Sachregister Rhetorik, rhetorisch 22 (m. Anm. 79), 32 (Anm. 124), 55, 63, 91 (Anm. 290), 159 (Anm. 509), 173, 176 Rigorismus, rigoroser Übersetzungsstil 106, 113, 115 »Sammlung der Griechischen und Römischen Klassiker« 99 f. »Neue Sammlung der merkwürdigsten Reisegeschichten« 33 (m. Anm. 135) Schriftlichkeit 1, 2 (Anm. 5), 37, 152 Semantik, semantisch 7, 36, 66, 75 f., 103, 109, 130, 136, 152, 155, 212 Siebenjähriger Krieg 21 Sprachmimesis, sprachmimetisch 5, 44, 68 f., 81 f., 85–87, 90 f., 96, 99 f., 102, 104, 106, 108 f., 111, 113–117, 120, 123 f., 127, 134 f., 141–144, 151 f., 158, 160, 168, 178, 194–196, 213, 215, 219, 224, 227–230 Sprachverunreinigung 115 Stilmimesis, stilmimetisch 7, 50, 79, 98, 100, 110 f., 156, 188, 208, 223, 225 f. Stilregister 7, 64 Syntax, syntaktisch 19, 24, 51, 159 Teubner (Verlag) 119, 125 Thukydideischer Stil 2 (Anm. 6), 6, 12, 31, 33, 39, 44, 54, 56, 65, 71, 82, 86 f., 95, 102, 113 f., 119, 129, 131–133, 136, 157, 159, 176, 183, 185, 190, 208, 210, 215, 223 f. (m. Anm. 698), 226 Tragödie, Tragödienübersetzung 143, 145, 171, 187, 200, 228 Transfer 89 Transformation 5–7, 226 transponierende Übersetzung 106 Transstilisierung 7 (m. Anm. 29), 226 Travestie 142 Treue 44 f., 64, 68, 71, 73, 76, 79, 87, 92 (m. Anm. 294), 94, 99–102, 106–108, 113 f., 116, 125, 131, 141, 143, 145, 188, 196 f., 208 übersetzerischer »Mittelweg« 94, 101, 114, 126 (m. Anm. 417), 131 Übersetzungsgeschichte 4 f., 105, 225

257

Übersetzungsmethode 8, 57, 68, 69 (Anm. 232), 81, 86, 92, 94, 101, 106, 115, 158, 166, 176, 178, 199, 216, 224 Übersetzungsnorm 5–7, 21, 29 f., 79, 113, 226 f. 229 Übersetzungsprinzip 22, 28, 30, 43, 45 f., 64, 68, 79, 87, 91 f., 96, 100, 115, 119, 196, 225 Übersetzungsreihen 94 (m. Anm. 309), 125, 141, 149, 150 (Anm. 495) Übersetzungstheorie 5 f., 21, 26 (Anm. 96), 28 (m. Anm. 105), 29 (Anm. 114), 30, 34, 46, 57, 64, 66, 67 (Anm. 218, 222), 80, 89 (m. Anm. 278), 90, 91 (Anm. 291), 94, 113–115, 117, (m. Anm. 385), 118 (Anm. 391), 119 f., 134, 142, 145 (Anm. 468), 151, 168, 170, 186 (Anm. 591), 199, 226– 228, 230. Umformung 27 (m. Anm. 102), 93, 151 Unübersetzbarkeit 187 Verdeutschung, verdeutschendes Übersetzen 134, 154, 158, 187 f. Verfremdung, verfremdendes Übersetzen 29, 106 f., 111, 113, 134 Verstehensprozess 90, 129, 196 Vorrede, Vorwort 25, 33, 44 (m. Anm. 169), 54 (m. Anm. 188), 56 (Anm. 196), 57 (Anm. 199), 61, 64–66 (m. Anm. 215), 70 (m. Anm. 242), 74, 79, 87, 99–101 (m. Anm. 336), 106– 108, 119, 134, 139, 142 f., 145, 150, 158, 161, 166, 176 Voßische Manier 69 Wörtlichkeit, wörtliche Übersetzung 23 f., 27 (m. Anm. 99), 29 (Anm. 112), 43, 55, 63, 66, 86, 100–102, 104, 110, 196 Wortstellung 3, 7, 29, 52, 69, 86, 91, 109, 124, 196, 208, 214, 219 Zielsprache 25, 80, 91, 114, 164, 196, 225 zielsprachenorientiertes Übersetzen 44, 106, 135, 228

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Sachregister

zweisprachige Ausgabe 118 f., 142, 144, 216 (Anm. 687)