Deutsche Texte des Mittelalters zwischen Handschriftennähe und Rekonstruktion: Berliner Fachtagung 1.-3. April 2004 3484295236, 9783484295230

Der Band dokumentiert die auf der Berliner Editionstagung von 2004 lebhaft diskutierten Fragen des Verhältnisses von Übe

232 89 12MB

German Pages 336 [340] Year 2005

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Table of contents :
Martin J. Schubert, Vorwort 1
Karl Stackmann, Der Takt, die besonderen Neigungen und Überlegungen des Herausgebers: Zur Erinnerung an Roethes Konzept für die "Deutschen Texte des Mittelalters" 7
Karin Schneider, Paläographie und Kodikologie als Eingang zur Literatur des Mittelalters 21
Hans-Jochen Schiewer, Fassung, Bearbeitung, Version und Edition 35
Georg Steer, Überlieferungsgerechte Edition 51
Christian Kiening, Die Altdeutsche Textbibliothek 67
Wolfgang Haubrichs, Die Edition althochdeutscher (theodisker) Texte zwischen Überlieferungstreue und Rekonstruktion 95
Ricarda Bauschke, Die Edition von Herborts von Fritzlar "Liet von Troye": Vorüberlegungen zum Projekt einer Neuausgabe 119
Thomas Bein, Walther edieren – zwischen Handschriftennähe und Rekonstruktion 133
Michael Stolz, Texte des Mittelalters im Zeitalter der elektronischen Reproduzierbarkeit: Erfahrungen und Perspektiven 143
Franz-Josef Holznagel, Vorüberlegungen zu einer neuen "Freidank"-Ausgabe 159
Beate Kellner und Peter Strohschneider, Wartburgkriege: Eine Projektbeschreibung 173
Martin J. Schubert, Ideal und Pragmatik: Entscheidungsspielräume des Editors 203
Volker Honemann und Gunhild Roth, Mittelalterliche Autographen und Textgenese: Am Beispiel von Peter Eschenloers "Geschichte der Stadt Breslau" 217
Klaus Ridder, Martin Przybilski und Martina Schüler, Neuedition und Kommentierung der vorreformatorischen Nürnberger Fastnachtspiele 237
Kurt Gärtner, Zur lexikographischen Erschließung einer Edition durch den Editor 257
Rudolf Bentzinger, Historienbibeln als Gebrauchsliteratur: Edition mit Quellenerschließung und Dokumentation rezeptionsbezogener Varianz 269
Dagmar Neuendorff, Autorenwörterbuch oder Glossare zu Teilsammlungen? Zur Lexikographie deutscher Predigten Bertholds von Regensburg 287
Martin J. Schubert, Die "Deutschen Texte des Mittelalters" und das "Handschriftenarchiv" seit 1904: Zur Institutionsgeschichte 297
Ute Recker-Hamm, Das Digitale Mittelhochdeutsche Textarchiv 311
Margarete Springeth, Auf der Suche nach Begriffen und Motiven: Die Mittelhochdeutsche Begriffsdatenbank (MHDBDB) an der Universität Salzburg 317
Jürgen Wolf, Handschriftenarchiv online 325
Anschriften 329
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Deutsche Texte des Mittelalters zwischen Handschriftennähe und Rekonstruktion: Berliner Fachtagung 1.-3. April 2004
 3484295236, 9783484295230

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B E I H E F T E

ZU

editio H e r a u s g e g e b e n v o n WINFRIED WOESLER

B a n d 23

Deutsche Texte des Mittelalters zwischen Handschriftennähe und Rekonstruktion Berliner Fachtagung 1.-3. April 2004

Herausgegeben von Martin J. Schubert

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2005

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-29523-6

ISSN 0939-5946

© Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2005 Ein Unternehmen der K. G. Saur Verlag GmbH, München http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Laupp & Göbel GmbH, Nehren Einband: Industriebuchbinderei Nadele, Nehren

Inhalt

Vorwort

1

Karl Stackmann Der Takt, die besonderen Neigungen und Überlegungen des Herausgebers. Zur Erinnerung an Roethes Konzept für die ,Deutschen Texte des Mittelalters' . . . 7 Karin

Schneider

Paläographie und Kodikologie als Eingang zur Literatur des Mittelalters . .

21

Hans-Jochen Schiewer Fassung, Bearbeitung, Version und Edition

35

Georg Steer Überlieferungsgerechte Edition

51

Christian Kiening Die Altdeutsche Textbibliothek

67

Wolfgang Haubrichs Die Edition althochdeutscher (theodisker) Texte zwischen Überlieferungstreue und Rekonstruktion

95

Ricarda Bauschke Die Edition von Herborts von Fritzlar Liet von Troye. Vorüberlegungen zum Projekt einer Neuausgabe

119

Thomas Bein Walther edieren - zwischen Handschriftennähe und Rekonstruktion

133

Michael Stolz Texte des Mittelalters im Zeitalter der elektronischen Reproduzierbarkeit. Erfahrungen und Perspektiven

143

Franz-Josef Holznagel Vorüberlegungen zu einer neuen Freidank-Ausgabe

159

Beate Kellner, Peter Strohschneider Wartburgkriege. Eine Projektbeschreibung

173

VI

Inhalt

Martin J. Schubert Ideal und Pragmatik. Entscheidungsspielräume des Editors

203

Volker Honemann, Gunhild Roth Mittelalterliche Autographen und Textgenese. Am Beispiel von Peter Eschenloers Geschichte der Stadt Breslau

217

Klaus Ridder, Martin Przybilski, Martina Schuler Neuedition und Kommentierung der vorreformatorischen Nürnberger Fastnachtspiele

237

Kurt Gärtner Zur lexikographischen Erschließung einer Edition durch den Editor

257

Rudolf Bentzinger Historienbibeln als Gebrauchsliteratur. Edition mit Quellenerschließung und Dokumentation rezeptionsbezogener Varianz

269

Dagmar Neuendorff Autorenwörterbuch oder Glossare zu Teilsammlungen? Zur Lexikographie deutscher Predigten Bertholds von Regensburg

287

Martin J. Schubert Die .Deutschen Texte des Mittelalters' und das ,Handschriftenarchiv' seit 1904. Zur Institutionsgeschichte

297

Ute Recker-Hamm Das Digitale Mittelhochdeutsche Textarchiv

311

Margarete Springeth Auf der Suche nach Begriffen und Motiven. Die Mittelhochdeutsche Begriffsdatenbank (MHDBDB) an der Universität Salzburg

317

Jürgen Wolf Handschriftenarchiv online

325

Anschriften

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Vorwort

In der mediävistischen Editionswissenschaft der letzten Jahre wird das Verhältnis von Überlieferung und Edition immer wieder lebhaft diskutiert, wobei vor allem die mediale Funktion der mittelalterlichen Handschriften als Überlieferungsträger herausgestellt wurde. Diese Diskussionen setzen die im Lauf des 20. Jahrhunderts vollzogene Entwicklung fort, welche die traditionelle, auf die Rekonstruktion eines Originals gerichtete textkritische Edition durch neue Editionsmodelle wie die überlieferungsgeschichtlichen und überlieferungskritischen erweiterte. Weitere wichtige Anstöße sind dem Einbezug der neuen Medien und neuer elektronischer Editionswerkzeuge zu danken. Für die editorische Praxis stellt sich zusehends die Notwendigkeit einer nach Gattungen und Überlieferungsbefunden gestuften Nutzung von Editionstypen, die sich auf der Skala zwischen diplomatischem Handschriftenabdruck und kritischem Text einordnen. Da eine auf Editionen der Handschriftenzeit konzentrierte Tagung seit der Veranstaltung „Methoden und Probleme der Edition mittelalterlicher deutscher Texte" (Bamberg 1991) nicht mehr stattgefunden hat, entschloss sich die Arbeitsstelle ,Deutsche Texte des Mittelalters' der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW) in Kooperation mit der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition zur Ausrichtung der Internationalen Tagung „Die Edition deutscher Texte des Mittelalters zwischen Handschriftennähe und Rekonstruktion". Vom 1. bis 3. April 2004 versammelten sich rund 200 Wissenschaftler im Leibnizsaal der BBAW am Gendarmenmarkt, um 22 Vorträge und Präsentationen engagiert zu diskutieren. Die von den Mitarbeitern der Arbeitsstelle und ihrem Projektleiter Kurt Gärtner erstellte Einladung sah vor, die aktuelle Diskussion zum Verhältnis von Überlieferung und Edition aufzugreifen, die Relevanz der neuen Impulse für die zukünftige Editionspraxis zu erörtern sowie Rück- und Vorschau auf die Entwicklung altgermanistischer Editionspraxis zu halten. Aktueller Anlass der Tagung - und damit ein Teil der Rückschau - war das 100jährige Jubiläum der Editionsreihe .Deutsche Texte des Mittelalters' (DTM) und des mit ihr verbundenen Handschriftenarchivs der ehemaligen Preußischen Akademie, die beide in der Arbeitsstelle der BBAW fortgeführt werden. Einige Beiträger haben sich in verschiedener Weise von diesem Anlass inspirieren lassen.

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Vorwort

Die Tagung wurde eröffnet durch Christoph Markschies, Sekretär der Geisteswissenschaftlichen Klasse der BBAW, der die Pole ,Handschriftennähe' und rekonstruierter Text' als Skylla und Charybdis der editorischen Reise umschrieb, sowie durch Grußworte der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition durch ihren Vorsitzenden Winfried Woesler und den Vorsitzenden der Mittelalterkommission Thomas Bein. Den Rahmen bildeten fünf Hauptvorträge, welche diesen Band einleiten: der Eröffnungsvortrag Karl Stackmanns, der öffentliche Abendvortrag von Karin Schneider sowie die Beiträge von Hans-Jochen Schiewer, Georg Steer und Christian Kiening. Die weiteren Beiträge, die sich in der Regel mit Editionsprojekten beschäftigen, sind nach diesen chronologisch geordnet; daran schließen Beiträge zum editorischen Beiwerk an sowie die Präsentationen von elektronischen Ressourcen, welche komplementär zu Bucheditionen genutzt werden können. Karl Stackmann überblickt anhand der Reihe DTM ein Jahrhundert altgermanistischer Editionsarbeit. Vor dem Hintergrund des Reihenprofils hebt er auf den Spielraum des Editors ab, der in der Formulierung Gustav Roethes durch „Takt und besondere Neigungen" bestimmt sei. Stackmann führt dies an der Frage der Normalisierung aus: Er plädiert im Anschluss an Joachim Heinzle bei Werken der Klassiker um 1200 für eine Umsetzung in normiertes Mittelhochdeutsch; bei anderen Werken zieht er es vor, die graphematische und morphologische Varianz in begrenztem Umfang auszugleichen und so anzudeuten, dass der Text hinter die Überlieferung zurückführt. Auf den Aspekt .Handschriftennähe' konzentriert sich Karin Schneider; sie zeigt, wie die paläographische Untersuchung durch Datierung und Lokalisierung literaturhistorische Vermutungen wesentlich modifizieren oder gar korrigieren kann. Beispiele sind die aufgrund der Befunde neu anzusetzenden Datierungen Hartwigs von dem Hage (Mitte 13. Jahrhundert) und des ,Kreuzigers' von Johannes von Frankenstein (vor der Mitte des 14. Jahrhunderts). Der begrifflichen Klärung widmet sich Hans-Jochen Schiewer, der sich für die Untersuchung varianter Textfassungen in vormoderner Textualität von hierarchisierenden Überlegungen löst, wobei er selbst den Begriff der Bearbeitung' zurückstellt. Die Gleichwertigkeit von Fassungen begründet er durch „überlieferungs- und literaturgeschichtliche Relevanz" und exemplifiziert diese am Armen Heinrich. Georg Steer führt anhand von Beispielen vor allem aus Predigt- und Fachliteratur den Begriff der „überlieferungsgerechten" Edition ein. Er steht nicht für eine neue Editionsmethode, sondern für die gründliche Erforschung der Überlieferungsgänge als wesentliche Grundlage der Entscheidung für ein bestimmtes Editionsmodell, das die Überlieferung in ihrer Vielfalt am treffendsten abbildet. In einem eingehenden Rückblick verfolgt Christian Kiening, der heutige Herausgeber der .Altdeutschen Textbibliothek', die Geschichte dieser Reihe unter dem Aspekt ihrer wissenschaftsprägenden Rolle, wobei die Entwicklung des Reihenkonzepts anhand von Textauswahl und Methodenwandel vorgeführt wird.

Vorwort

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Ein Teil der Beiträge konzentriert sich, wie derjenige Schiewers, auf Begriffsklärung und Definition. Für die Überlieferung in althochdeutscher Zeit, welche den besonderen Status volkssprachlicher Schriftlichkeit spiegelt, entwirft Wolfgang Haubrichs eine Typologie von Überlieferungsformen. Er unterscheidet die textautonome Überlieferung, welche weitgehend allein den Haupttext einer Handschrift bilden kann (Heliand, Otfrid), von Formen der Vergesellschaftung mit anderen Texten: korrelierte Überlieferung bildet den Teil eines Textensembles, wobei subordinierte Überlieferung Anlagerungen, etwa volkssprachlicher Glossen, bezeichnet. Gunhild Roth und Volker Honemann entfalten die Bedeutung des Autographs in verschiedenen mittelalterlichen Epochen und entwickeln anhand einer umfangreichen Liste von im Verfasserlexikon nachgewiesenen Autographen Kriterien zur Identifizierung. Am Beispiel des spätmittelalterlichen Breslauer Stadtschreibers Peter Eschenloer wird gezeigt, wie in der Handschrift erkennbare Korrekturschichten Texteingriffe durch den Autor selbst wiedergeben. Mehrere Beiträge setzen bei einzelnen Editionsprojekten an. Ricarda Bauschke legt Prinzipien einer Neuausgabe von Herborts von Fritzlar Liet von Troye dar. In Absetzung von Frommanns diplomatischem Abdruck entwirft sie eine behutsam normalisierte Textausgabe, die weder den hessischen Dialekt Herborts forciert wiederherstellt noch die dialektgeprägte Schreibsprache aufgibt. Beate Kellner und Peter Strohschneider erschließen das Feld der Wartburgkrieg-Überlieferung, in dem bereits Konsistenz und Geschlossenheit der Einzeltexte sowie der Einzelüberlieferung häufig fraglich bleiben. Die Erschließung der vorhandenen Textfelder und ihrer „unscharfen Ränder" wird mithilfe synoptischer Textfassungen und vor allem eines mehrschichtigen Kommentars geleistet, der die jeweilige handschriftenspezifische Sinnkonstitution vergleichbar macht. Im Beitrag von Martin Schubert werden Spielräume des Editors anhand von Beispielen aus den Neueditionen des Elisabethlebens von Johannes Rothe und der Bücher I und II des Passionais diskutiert. In unterschiedlichem Umfang werden die neuen digitalen Editionsformen einbezogen. Michael Stolz wendet den Benjaminschen Begriff der .Reproduzierbarkeit' auf das elektronische Faksimile an. Die von ihm vorgestellten Texte des Nibelungenliedes (nach dem St. Galler Codex 857) und des Parzivals bieten in elektronischer Form vielfältige Materialien: Handschriftenabbildungen und Lesartenapparate werden mit einem oder mehreren Leithandschriftentexten verknüpft, welche zentrale Textzustände dokumentieren sollen. Vor dem Hintergrund der editorischen Erschließung von Walthers Gedichten entwirft Thomas Bein Anforderungen an künftige Autor-Editionen. Diese sollten sowohl in Papierais auch in Digitalform vorliegen und mehrere Editionsstufen umfassen, vom handschriftennahen Text bis zur Studienausgabe. Für die spezifische Problematik von Freidanks Bescheidenheit, die in vielfältigen Kontexten und Umfangen bis herab zum vereinzelten Zweizeiler überliefert ist, entwirft Franz-Josef Holznagel eine geteilte Publikation, in der eine Datenbank mit Referenzsystemen die Va-

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Vorwort

rianz erfasst, während synoptische Wiedergaben prominenter Zeugen sowie ein Lesetext aufgrund einer Leithandschrift die allgemeine Benutzbarkeit gewährleisten. Die von Klaus Ridder, Martin Przybilski und Martina Schuler präsentierte Neuedition der vorreformatori sehen Nürnberger Fastnachtspiele zielt ebenfalls auf eine printmediale und digitale Präsentation. Ein handschriftennaher Lesetext wird durch Lese- und Verständnishilfen sowie durch ein mehrstufiges Kommentierungssystem erschlossen. Die elektronische Edition soll zusätzlich Faksimiles, Parallelstellen sowie Verlinkungen über Kommentare und Register anbieten. Den editorischen Rahmentexten als wesentlichem Teil der editorischen Aufgabe sind drei Beiträge gewidmet. Kurt Gärtner erörtert die verschiedenen Formen lexikographischer Erschließung durch den Editor vom Wortformenindex bis zum semasiologisch differenzierten Wörterbuch. Er überblickt anhand der Reihe DTM die unterschiedlich tiefe Erschließung durch begleitende Glossare und weist die Wichtigkeit einer lexikographisch ausgereiften Bearbeitung für Texterschließung, Textverständnis und Sprachstadienlexikographie nach. Rudolf Bentzinger entwickelt am Beispiel der Erfurter Historienbibel die Problematik der Quellenerschließung beim Rückgriff auf weit verbreitete Quellen (Vulgata, Historia scholastica), die in den Quellenapparaten nachzuweisen sind. Dagmar Neuendorff führt am Beispiel der Berthold von Regensburg zugeschriebenen Predigten aus, wie sich der differenzierte Textbegriff auf die Glossargestaltung auswirkt: wenn nicht mehr von einem rekonstruierten Autortext ausgegangen wird, sondern von angelagerten Teilsammlungen, dann wäre das Autorenwörterbuch obsolet; es ist durch Glossare der jeweiligen Sammlungen zu ersetzen. Anlässlich des Jubiläums war im Tagungsprogramm ein historischer Abriss der institutionellen Geschichte der DTM-Arbeitsstelle abgedruckt. Auf den Wunsch von Teilnehmern, die Interesse an Verbreitung des unpublizierten Materials äußerten, kommt dieser Überblick, um Nachweise ergänzt und überarbeitet, in diesem Band zum Abdruck. Beschlossen wurde die Tagung durch Vorstellungen von elektronischen Ressourcen, welche Texte und Handschriften im Internet zugänglich machen: das .Digitale Mittelhochdeutsche Textarchiv' (Ute Recker-Hamm) bietet Volltexte aus Editionen; die .Mittelhochdeutsche Begriffsdatenbank' (Margarete Springeth) ermöglicht den Zugriff auf lemmatisierte Editionstexte; das ,Handschriftenarchiv online' (Jürgen Wolf) präsentiert Digitalisate von Handschriftenbeschreibungen. Um den Benutzern einen raschen Zugang zu ermöglichen, stehen diese Projektvorstellungen am Ende des Bandes. In der intensiven und ergebnisreichen Diskussion der Tagung standen zwei Aspekte wiederholt im Vordergrund: Zum einen wurde stets die Solidität philologischer Arbeit eingefordert, die eingehende lexikographische, sprachhistorische und kommentierende Erschließung einer jeden Ausgabe sowie die nur äußerst behutsame Lösung vom Überlieferungszeugen durch Konjektur und

Vorwort

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Emendation. Zum anderen wurde energisch die Öffnung zum Publikum, beispielsweise durch Kommentar und Übersetzung, verlangt. Die vorgelegten Projektbeiträge belegen in vielfältiger Hinsicht, wie zwischen philologischer Akribie und Öffnung zum Publikum sowie den Verpflichtungen zur Treue gegenüber der variantenreichen Überlieferung einerseits und zur Herstellung eines lesbaren, linearen Texts andererseits vermittelt werden kann. Die Nutzung der elektronischen Medien wurde allgemein als hilfreich angesehen, aber nicht zum editorischen Allheilmittel verklärt. Die editorische Stellungnahme, die sich im fortlaufend rezipierbaren Text offenbart, wurde mehrheitlich für vorrangig gehalten. Die Durchführung der Tagung wäre nicht möglich gewesen ohne die mannigfaltige Unterstützung von vielen Seiten. Zu danken ist zuerst für die Förderung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die für die Durchführung entscheidend war. Die Ausrichtung wurde erheblich beflügelt durch großzügige Unterstützung, namentlich durch die Dr. Leuchte Immobilien und Beteiligungen, durch die Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, den Akademie Verlag Berlin, die Edition Helga Lengenfelder, den Erich Schmidt Verlag, Brepols Publishers, den Georg Olms Verlag und den Peter Lang Verlag. Verwaltung und Konferenzdienst der Akademie sorgten für einen perfekten Rahmen; den reibungslosen Ablauf gewährleisteten die Mitarbeiter der Arbeitsstelle: Annegret Haase, Ingrid Stahl, Evelyn Hanisch, Anett Brüsemeister, Jürgen Wolf, Nicolai Pahne, Christoph Kilian und Ronny Schulz. Ihnen allen sei herzlich gedankt. Die Veröffentlichung der Beiträge in einer einschlägigen Reihe kam zustande aufgrund der Bereitschaft Winfried Woeslers, den Band in die Beihefte zu editio aufzunehmen, und der verlegerischen Betreuung durch Birgitta Zeller und Cornelia Saier vom Max Niemeyer Verlag. Bei der Herausgabe konnte ich auf die freundliche Unterstützung von Winfried Woesler, Kurt Gärtner, Annegret Haase und Jürgen Wolf bauen. Ihnen und den Beiträgern danke ich für die fruchtbare Zusammenarbeit. Während der Tagung erreichte uns die bedauerliche Nachricht, dass Hans-Hugo Steinhoff in Paderborn gerade an diesem 1. April 2004 verstorben war. Auf die traurige Mitteilung hin erhoben sich die Anwesenden und ehrten das Gedenken des Verstorbenen in einer Schweigeminute. Hans-Hugo Steinhoff war Mitglied des Gründungsrektorats der Universität Paderborn und dort Professor für mittelalterliche deutsche Literatur. Sein Lebenswerk war die vollständige, übersetzte und kommentierte Ausgabe des ProsaLancelot in der Bibliothek Deutscher Klassiker, die eine vielfältige Wirkung auch über die Fachgrenzen hinaus entfaltet hat. Für die ,Deutschen Texte des Mittelalters' hat er gemeinsam mit Klaudia Wegge das Namen- und Figurenregister zum Lancelot erstellt (Bd. 80, 1997). Seine wissenschaftlichen und wissenschaftspolitischen Verdienste können hier nicht ausreichend gewürdigt werden. Zahlreiche der Anwesenden hatten eng mit ihm zusammengearbeitet; viele

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Vorwort

Teilnehmer trugen sich in eine bereitgestellte Kondolenzliste ein. Wie aus vielen Gesprächen deutlich wurde, erinnern sich alle, die Hans-Hugo Steinhoff kannten, an ihn als einen außergewöhnlichen Lehrer und Kollegen; besonders betont wurden seine herausragende Integrität, seine Bescheidenheit und die Zurücknahme der eigenen Person. Er wurde auf dem Thuner Parkfriedhof in Berlin-Lichterfelde beigesetzt. Es ist ein bleibendes Anliegen, ihm auch an dieser Stelle ein würdiges Angedenken zu bewahren. Berlin, im Juli 2005 Martin J. Schubert

Karl

Stackmann

Der Takt, die besonderen Neigungen und Überlegungen des Herausgebers Zur Erinnerung an Roethes Konzept für die .Deutschen Texte des Mittelalters' Es ist ein gutes Jahr her, dass mich Herr Schubert fragte, ob ich nicht etwas zu einer kleinen Veranstaltung anlässlich des 100jährigen Jubiläums der .Deutschen Texte des Mittelalters' beitragen könnte. Ich habe spontan ja gesagt, denn ich bin dieser Textreihe seit fast einem halben Jahrhundert als Herausgeber verbunden, bin wohl auch einer der ältesten, wo nicht der älteste der noch lebenden Mitarbeiter. Wenn ich allerdings jetzt sehe, welche Dimensionen die ,kleine Veranstaltung' angenommen hat und wie sehr aktuelle Fragestellungen das Programm bestimmen, zu denen ich wenig beitragen kann, zweifle ich, ob ich mit meiner Zusage gut beraten war. Ich hätte mich wohl besser an die Spruchweisheit gehalten, die da sagt: ,Altes klappert, Neues klingt, Altes schleichet, Junges springt'.

1. Zur Vor- und Frühgeschichte der .Deutschen Texte' Die .Deutschen Texte' waren für Roethe seine „glückhafteste Schöpfung", so sagt es sein Schüler Arthur Hübner. 1 Ich will eine Würdigung des Konzepts versuchen. Dabei beziehe ich auch die Umstände ein, unter denen die Verwirklichung möglich wurde. Sie gehören mit ins Bild, wenn man Roethes Handeln im Zusammenhang mit der Fachgeschichte betrachten will, das aber halte ich für selbstverständlich. Am Anfang stand eine Willenserklärung des Kaisers. Aus Anlass des Akademiejubiläums im Jahre 1900 verfügte er eine Erhöhung der Mitgliederzahl. Die Philosophisch-Historische Klasse erhielt drei zusätzliche Stellen „vorzugsweise für Deutsche Sprachforschung". Zur Begründung sagte der Kaiser in seiner Ansprache beim Festakt: Mich „leitet [...] der Gedanke, dass die deutsche Sprachforschung [...] in der Hauptstadt des jetzt geeinten Deutschen Reiches besonderer Pflege bedarf". 2 1

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Arthur Hübner: Gustav Roethe als wissenschaftlicher Organisator. In: Α. H.: Kleine Schriften zur deutschen Philologie. Hrsg. von Hermann Kunisch und Ulrich Pretzel. Berlin 1940, S. 5 2 - 6 4 ; spez. S. 55. Rede seiner Majestät des Kaisers und Königs. In: Die Zweihundertjahrfeier der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1900, S. 19-21. - Der Erlass, mit dem eine Erhöhung der „Zahl der Stellen für ordentliche Mitglieder in jeder Klasse von sieben-

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Karl Stackmann

Die Akademie reagierte nicht sogleich. Ihr Zögern wird dadurch bedingt gewesen sein, dass sich der Gesundheitszustand des 78jährigen Karl Weinhold zunehmend verschlechterte. Nach seinem Tod am 18. Januar 1901 wurde Gustav Roethe 1902 als Nachfolger an die Universität berufen. Ein Jahr später trat er als ordentliches Mitglied in die Akademie ein, die kurz vorher schon Konrad Burdach kooptiert hatte. 3 Jetzt wurde sie in Sachen Sprachforschung tätig. Mit der Deutschen Kommission schuf sie eine Institution, der sie die Zuständigkeit für die Ausführung des kaiserlichen Auftrags übertragen konnte. Grundlage der Beschlussfassung über die Einrichtung der Kommission war ein gemeinsamer Antrag von Burdach, Roethe und Erich Schmidt. Bei der Planung der Kommissionsarbeit und der Formulierung des Antrags hatte Roethe die Hauptlast zu tragen. So jedenfalls sieht er selbst es in einem Brief an seinen Schwager Edward Schröder vom 27. 8. 1903.4 Der Antrag nennt einleitend zwei große Aufgaben „aus dem Kreise der deutschen Philologie", denen sich die Kommission im Auftrag der Akademie widmen wolle: „eine Geschichte der neuhochdeutschen Sprache" und einen „Thesaurus linguae Germanicae großen Stils". Die Realisierung werde schrittweise erfolgen. Den Anfang sollten mehrere große Projekte machen, die das Ziel von verschiedenen Seiten her angingen. Eines davon waren die .Deutschen Texte'. Zur Erläuterung heißt es in dem Antrag, die „Sprachgeschichte und lexikalische Arbeit" bedürften genau „wie die literar- und geistesgeschichtliche Forschung zuverlässiger Publicationen und einer umfassenden Übersicht über das vorhandene Material". Man wolle daher „in erheblichem Umfange für schnelle Publication sprachlich und literarisch wichtiger ungedruckter deutscher Texte des Mittelalters und der frühneuhochdeutschen Zeit [...] sorgen". 5 Die Kommission wurde in der Klassensitzung vom 14. Mai 1903 eingesetzt, Roethe beim Beginn der Arbeiten zu ihrem Vorsitzenden gewählt. 6 In dem schon erwähnten Brief an Schröder beklagt er sich über vielerlei Schwierigkeiten bei den Vorbereitungen. Sie beruhten darauf, dass Burdach sich zurückgesetzt fühlte und deshalb aufs Mäkeln und Intrigieren verlegte. Die Missstimmung endete mit einer strikten Abgrenzung der Aufgaben. Roethe erhielt die alleinige Zuständigkeit für die ,Deutschen Texte'.

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undzwanzig auf dreißig" verfügt wurde, wird in einem Schreiben des Ministers der geistlichen, Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten an die Akademie zitiert, das als Nr. 58 abgedruckt ist, in: Dokumente zur Geschichte der Berliner Akademie der Wissenschaften von 1700 bis 1990. Hrsg. von Werner Hartkopf und Gert Wangermann. Berlin 1991. Burdach hatte eine vollbesoldete Akademieprofessur erhalten und war infolgedessen ohne ein Universitätsamt. R.-Schr. 3103. Zu den verwendeten Siglen siehe S. 20. ABBAW, Best. PAW II-VIII,16, Bl. 6 r -9 r ; Entwurf, unterzeichnet: „Burdach. Roethe. ESchmidt". ABBAW, Best. PAW II-VIII, 16, Bl. Iff; R.-Schr. 3103.

Der Takt, die besonderen Neigungen und Überlegungen

des

Herausgebers

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Im .Generalbericht' vom 29. 6. 1905 stellte er das Programm der Kommission der Öffentlichkeit vor. 7 Außer den .Deutschen Texten' umfasste es das Handschriftenarchiv, die Wieland-Ausgabe und Burdachs Forschungen über die ostmitteldeutsche Kultur, Literatur und Sprache im 14. und 15. Jahrhundert sowie über die Frühgeschichte des deutschen Humanismus zwischen 1300 und 1450. Angesichts dieser Liste und in Kenntnis der Vorgeschichte fragt man sich, wie die Absichten der Kommission mit der Forderung des Kaisers nach einer Verstärkung der Sprachforschung zu vereinbaren sein sollten. Zwar erscheinen die Stichworte „Thesaurus" und „Geschichte der neuhochdeutschen Schriftsprache" in ihren Einlassungen. Aber von der Inventarisierung mittelalterlicher Handschriften, der Edition aller möglicher spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Texte, Untersuchungen zur Bildungsgeschichte des 14. Jahrhunderts, zum böhmischen Frühhumanismus, zum Ostmitteldeutschen des ausgehenden Mittelalters bis zu einer sprachwissenschaftlich fundierten historischen Darstellung des Neuhochdeutschen oder gar einem nationalen Großwörterbuch ist ein weiter Weg. Das dürfte man auch um 1900 so gesehen haben. Und decken denn überhaupt die von der Kommission anvisierten Endziele die vom Kaiser geforderte .Sprachforschung' ab? Roethe half sich in dieser prekären Lage mit einer Präambel, in der er auf Voten der Akademie aus dem Jubiläumsjahr zurückgriff. In einer Eingabe an den preußischen Kultusminister 8 hatte sie damals festgestellt, man müsse bei der vom Kaiser gewünschten Stärkung der Sprachforschung von „dem weiten Umfange" ausgehen, „den Jacob Grimm der deutschen Sprachwissenschaft gegeben" habe. Sie sei „die Wissenschaft vom deutschen Leben" und habe „die Lebensäußerungen unseres Volksgeistes [...] zu erforschen". Das nimmt Roethe auf und zitiert dann ausgiebig aus dem Bericht an den Minister, auch aus der an den Kaiser gerichteten Dankadresse. 9 Was man da liest, klingt, als sei bereits 1900 ins Auge gefasst worden, was die Deutsche Kommission dann 1903 auszuführen begann. In einem für unseren Zusammenhang wesentlichen Punkt wird das auch sehr deutlich. Schon damals wurde auf die Notwendigkeit hingewiesen, die Texte „wichtiger Schriftsteller, vom Frühneuhochdeutschen an bis zu sehr hervorragenden Prosaikern und Dichtern des 18. Jahrhunderts" in zuverlässigen Ausgaben vorzulegen, die „einst einem umfassenden deutschen Wörterbuch dienen" sollten. Als ihr Ziel benennt die Akademie die Schaffung von ,Denkmälern der deutschen Litteratur', die nach ihrem Wunsche „allgemach den Monumenta Germaniae historica freundnachbarlich [...] zur Seite treten"

7

8

9

Sitzungsberichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften 1905, 1. Halbband, S. 694-707. ABBAW, Best. PAW 11-1,8, Bl. 17 r -20 v . Es handelt sich um das Begleitschreiben zu der Dankadresse an den Kaiser. - Kultusminister' hier abkürzend gebraucht; der amtliche Titel ist in Anm. 2 nachzulesen. ABBAW, Best. PAW 11-1,8, Bl. 13 r -15 v . Die Zitate im Generalbericht (Anm. 7), S. 6 9 4 - 6 9 6 .

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Karl Stackmann

sollten. 10 Damit ist zwar nicht dasselbe gemeint wie mit den ,Deutschen Texten', aber hier zeigt sich doch der Zusammenhang eines konkreten Arbeitsvorhabens mit der früheren Planung. Im übrigen sind die Beziehungen sehr viel lockerer. Schon zwischen dem, was die Absichtserklärung in der Einleitung zum .Generalbericht' an Älterem aufnimmt, und dem tatsächlichen Programm der Kommission ist der Abstand beträchtlich. Er wird noch um einiges größer, wenn man die Äußerungen der Akademie aus dem Jahre 1900 zur Gänze heranzieht. Damals spielte die Verstärkung der „Alterthumskunde" durch die Einbeziehung der Keltologie in die kaiserliche Förderung eine nicht unerhebliche Rolle." Vor allem aber: Der Nachdruck lag ganz entschieden auf Arbeiten zur deutschen Grammatik sowie auf der Lexikographie der Hochsprache und der Mundarten. Von einer solchen Akzentsetzung kann bei den Projekten der Kommission wahrlich nicht die Rede sein. Die Akademie mag sich zu ihrer aus heutiger Sicht recht eigenwillig anmutenden Auslegung des kaiserlichen Auftrags durch Althoff ermutigt gefühlt haben. Er soll, wie Roethe gerüchteweise erfahren hat und im Frühjahr 1900 an Schröder weitergibt, geraten haben, die drei beim Bekanntwerden der kaiserlichen Absichten neu gewährten Stellen einfach mit Weinhold, Erich Schmidt und dem Rechtshistoriker Heinrich Brunner zu besetzen, 12 also mit drei bereits der Akademie angehörenden Gelehrten, von denen nur Weinhold als Sprachwissenschaftler gelten konnte. Die drei neuen Stellen hätten dann für andere Zwecke zur Verfügung gestanden. Friedrich Kluge hat in seiner Streit- und Schmähschrift von 1913 der Deutschen Kommission im allgemeinen und deren Mitgliedern Burdach, Roethe, Schröder im besonderen vorgeworfen, sie hätten sich mit der Ausgestaltung des Programms über den kaiserlichen Willen hinweggesetzt und ganz andere Interessen als diejenigen der Sprachwissenschaft gefördert. 13 Wir werden ihm heute in der Sache nicht einfach Unrecht geben, müssen dabei aber bedenken, dass er alles andere als ein unvoreingenommener Zeuge ist. Eigentlich sollte er selbst beim Ausbau der Sprachwissenschaft in Berlin mitwirken. 14 Zu den Projekten, 10 11 12 13

14

Dankadresse (Anm. 9), Bl. 14v. Dankadresse (Anm. 9), Bl. 14r. Schreiben an den Minister (Anm. 8), Bl. 20 r . R.-Schr. 2616 vom 1. 4. 1900. Friedrich Kluge: Zur Nachfolge Erich Schmidts. Akademische Zeit- und Streitfragen. Freiburg i. B. 1913. - Zur Wirkung auf die Angegriffenen vgl. R.-Schr. 4433-4452, insbesondere 4444. - Hermann Paul sprang Kluge bei, vgl. Literarisches Zentralblatt 65, 1914, Sp. 338f. Indizien für diese Annahme liefert die Vorgeschichte der ,Seemannssprache' (s. Anm. 15). Zu erinnern ist auch an Kluges Mitwirken bei den Bemühungen um eine Überführung des Grimmschen Wörterbuchs in eine staatliche Finanzierung, vgl. dazu Karl Stackmann: Das Deutsche Wörterbuch als Akademieunternehmen. In: Die Wissenschaften in der Akademie. Vorträge beim Jubiläumskolloquium der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen im Juni 2000. Hrsg. von Rudolf Smend und Hans-Heinrich Voigt. Göttingen 2002 (Abhandlungen der Ak. d. W., Phil.-hist. Klasse, 3. Folge, Bd. 247), S. 247-319; spez. S. 258f. Die Rolle Kluges in

Der Takt, die besonderen Neigungen und Überlegungen des

Herausgebers

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die dem Kaiser in Verbindung mit dem Jubiläum vorgestellt wurden, gehörte als ein besonders dringendes, weil von der Flottenbegeisterung der Zeit getragen, ein Wörterbuch der Seemannssprache. Mit der Ausarbeitung betraute der preußische Kultusminister Friedrich Kluge. Die Akademie, von der Deutschen Kommission beraten, distanzierte sich mehrmals von dem Unternehmen, dem sie ursprünglich zugestimmt haben dürfte.15 Man geht wohl kaum fehl in der Vermutung, dass es sich dabei um ein bewusstes Abstandnehmen von der zeitgenössischen, durch die Junggrammatiker repräsentierten Sprachwissenschaft handelt. Roethe und seine Parteigänger verstanden sich als Wahrer einer Tradition, die sie auf die Grimms und Lachmann zurückführten. In ihren Augen war eine allzuständige Philologie Garantin für die Einheit des Faches. Sie erlaubte es nicht, Sprache grundsätzlich von Literatur, Bildung, Kultur und deren Geschichte zu trennen. Für uns heute mag das je nach persönlicher Einstellung ein anachronistisches Sich-Stemmen gegen die fortschreitende Spezialisierung oder ein weitsichtiges Festhalten an einem auf die Dauer nur als Einheit überlebensfähigen Ganzen sein, das ist hier nicht weiter zu verfolgen. Es gibt mir aber Gelegenheit anzumerken, dass die Berliner diskutable Gründe für ihr Vorgehen hatten.

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der Hochschulpolitik und den innerfachlichen Auseinandersetzungen der Germanistik in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg bedürfte einer eigenen Untersuchung. Seemannssprache. Wortgeschichtliches Handbuch deutscher Schifferausdrücke älterer und neuerer Zeit, auf Veranlassung des Königlich Preußischen Ministeriums der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten herausgegeben von Friedrich Kluge, Halle 1911. Kluge beruft sich im Vorwort auf den „Auftrag" des Ministeriums und die „Unterstützung", die er von dort erfahren habe. - Die Akademie wurde zweimal um eine gutachterliche Äußerung zu den von Kluge vorgelegten Arbeitsproben gebeten (vgl. dazu die Sitzungsprotokolle der Phil.-hist. Klasse ABBAW, Best. PAW I I - V , 161 vom 25. 6. 1903 und vom 30. 7. 1903; ferner das Protokoll der Plenarsitzung ABBAW, Best. PAW I I - V , 82 vom 29. 11. 1906, Nr. 3). - 1911 teilte Kluge der Akademie „unter Vorlegung einer Probe" mit, „dass das Werk ,Seemannssprache' an dessen Ausführung" sie „früher selbst gedacht habe, jetzt vollendet vorliege." (ABBAW, Best. PAW I I - V , 164, Protokoll der Plenarsitzung vom 16.3. 1911; am Rande ist notiert: „H. Schmidt hat an Herrn Kluge geschrieben"). - Über die Vorgeschichte und die Hintergründe der negativen Beurteilung lässt sich dem Briefwechsel Roethe-Schröder der Jahre 1902 und 1903 einiges entnehmen. Dabei muss man wissen, dass 1903 nicht nur die Berliner, sondern auch die Göttinger Akademie um eine Stellungnahme gebeten wurde: R.-Schr. 2954 (Althoffs Interesse an Kluge); 3092; 3097; 3104 (Althoff hat das Göttinger Gutachten als „nicht unparteiisch und ,für seine Zwecke unbrauchbar' bei Seite geschoben."); 3107 (Althoff ist „um günstige Gutachten über Kluges Seemannssprache" bemüht. Möglicherweise ist dies der Grund dafür, dass Burdach die Verabschiedung des Gutachtens von Erich Schmidt und Roethe durch allerlei Einwände aufgehalten hat).

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2. Roethes Konzept in der praktischen Anwendung Roethe sah die Unternehmungen der Kommission unter dem ,,Gedanke[n] der organisierten akademischen Arbeit". 16 Dementsprechend gab er den .Deutschen Texten' Regeln, die eine möglichst große Einheitlichkeit im Vorgehen der Editoren und im Erscheinungsbild der Editionen sicherstellen sollten. Sie wurden im Vorspann zum 1. Band gedruckt. 17 Kerngedanke war die Ergänzung der kritischen Ausgabe durch einen Ausgabentyp, der den Zugang zu neuen Quellen beschleunigen konnte. Grundsätzlich sollte nur eine einzige „möglichst gute und alte Handschrift wiedergegeben werden". Eingriffe in den Wortlaut sollten lediglich erlaubt sein, soweit es für die Sicherung der Lesbarkeit unerlässlich war. Von dieser Einschränkung der Herausgeberpflichten erhoffte sich Roethe eine raschere Abwicklung der Editionsverfahren. Dieser Effekt trat auch ein, bis der erste Weltkrieg eine Unterbrechung erzwang. Mehr will ich über diesen ersten Teil des Konzepts nicht sagen und mich dem andern zuwenden, der bei den Diskussionen über die ,Deutschen Texte' gern übersehen wird. Roethe war sich augenscheinlich der Schwierigkeiten bewusst, die sich bei allzu starrer Handhabung der Regeln ergeben mussten. Sie konnten sich lähmend auswirken, wenn es galt, den Besonderheiten eines Einzelfalls Rechnung zu tragen. Also fügte er eine Generalklausel hinzu: „Diese Grundsätze lassen dem Takt, den besonderen Neigungen und Überlegungen des einzelnen Herausgebers einen erheblichen Spielraum. [...] Ängstliche Gleichmäßigkeit hätte den Wert der einzelnen Publikation beeinträchtigen müssen, deren jede [...] ihre besonderen Aufgaben stellt". Der akademische Leiter, also er selbst, werde aber darauf zu achten haben, dass „unter der gesunden Verschiedenheit der einzelnen Editionen nicht die Einheitlichkeit des Ganzen leide". - ,Takt' verstehe ich als Respekt vor der Überlieferung; besondere Neigungen' als Vorliebe für 16

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Gustav Roethe: Die Deutsche Kommission der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften. Ihre Vorgeschichte, ihre Arbeiten und Ziele. In: Neue Jahrbücher für das Klassische Altertum, Geschichte und deutsche Literatur und für Pädagogik 31 (Neue Jbb. f. das Klass. Altertum, Gesch. u. dt. Lit. 16), 1913, S. 37-74; spez. S. 44. Friedrich von Schwaben. Hrsg. von Max Hermann Jellinek. Berlin 1904 (DTM 1), S. V-VII. - Die Deutschen Texte werden im folgenden lediglich mit der Bandzahl zitiert. Die Bezeichnung der herausgebenden Institution hat mehrfach gewechselt: Bd. 1-25; 28 Königlich Preussische Akademie der Wissenschaften Bd. 26/27; 2 9 - 4 1 Preussische Akademie der Wissenschaften Bd. 42-54/4; 5 5 - 6 2 ; 6 4 - 6 5 / 1 f.; 67/68 Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin Bd. 54/5; 54/6 Akademie der Wissenschaften der DDR. Zentralinstitut für Sprachwissenschaft Bd. 63; 66; 6 9 - 7 6 Hrsg. im Auftrage der Akademie der Wissenschaften der DDR vom Zentralinstitut für Sprachwissenschaft Bd. 77 Akademie der Wissenschaften Berlin Bd. 78 noch nicht erschienen. Bd. 79ff. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften

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bestimmte wissenschaftliche Positionen; ,Überlegungen' als Voraussetzung für ein iudicium, das Bestand haben kann. Mit dieser Gewährung von Freiräumen lud Roethe sich allerlei Lasten und Ärger auf, wie ihm bald klar wurde. Anfang August 1904, wenige Wochen nach Auslieferung des ersten Bandes, äußerte er sich darüber in einem Brief an Schröder sehr offenherzig. 18 Er halte sich weitgehend zurück, schreibt er, greife nur bei „Misverständnissen oder ganz überflüssigen Abweichungen von der Hs. energischer ein". Trotzdem machten ihm die Korrekturen und die dazugehörige Korrespondenz „grenzenlose Mühe", ohne dass er „von den Ergebnissen [...] grade sehr befriedigt wäre". Manches, was eigentlich anders sein sollte, habe er stehen lassen. „Von strengster Handschriftentreue über das praktisch Wünschenswerte hinaus bis zu der Neigung, bei jedem kleinsten Anstoß in die Hs. hereinzudoctern, alle Spielarten" kämen vor. Beispiele für die Auswirkungen des Prinzips,Freiheit bei Wahrung der Gleichmäßigkeit' lassen sich unschwer finden. Ich erinnere etwa an zwei entgegengesetzte Fälle aus der Frühzeit. Singer erklärt in der Einleitung zu Band 7 (Heinrich von Neustadt), er habe sich streng an die Regeln gehalten und nur „offenbare Schreib- oder Lesefehler der Schreiber" gebessert - und auch das nur, soweit nicht die Parallelüberlieferung zeigte, dass ein Fehler schon in der gemeinsamen Vorlage stand. Der sei stehen geblieben, „auch wenn er der größte Unsinn war". Das Richtige sei in solchen Fällen dem Lesartenapparat zu entnehmen. Das Gegenstück liefert Vetter in seiner Tauler-Ausgabe (Bd. 11). Sie ist „ein Abdruck nach einer Anzahl alter Handschriften". Zum Abgehen von der Regel, dass nur eine Handschrift zugrunde gelegt werden sollte, hat ihn Roethe selbst, einem Ratschlag Philipp Strauchs folgend, veranlasst (S. I). Denn die ursprünglich geplante diplomatische Wiedergabe der Engelberger Handschrift hätte keinen befriedigenden Text ergeben. Hier schließt sich der Fall des ,Märterbuchs' an. Der Herausgeber Gierach hatte 1912 mit Roethe eine noch wesentlich größere Abweichung vom Prinzip der einen Handschrift vereinbart. Die Ausgabe sollte „ein vollständiges Verzeichnis der Lesarten" bringen. Es konnte, als der Band schließlich 16 Jahre später erschien (Bd. 32), aus Kostengründen nur in stark reduzierter Form gedruckt werden. Bewirkte Roethe in diesen beiden Fällen ein Abgehen von der Grundregel in Richtung auf eine kritische Ausgabe, so verhielt er sich beim .Wilhelm von Österreich' des Johanns von Würzburg (Bd. 3) gerade umgekehrt. Herausgeber war Ernst Regel, Gymnasialprofessor in Halle. Er wollte ursprünglich die von seinem Onkel unvollendet hinterlassene kritische Ausgabe abschließen und beim Stuttgarter Literarischen Verein publizieren. Als sich dieser Plan zerschlug, ging er auf das Angebot einer Übernahme in die ,Deutschen Texte' ein, musste sich 18

R.-Schr. 3259 vom 4. oder 5. 8. 1904.

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aber Roethes Forderung beugen und das Manuskript auf einen Abdruck der Gothaer Handschrift umstellen. In der Einleitung bemerkt er dazu mit unüberhörbarer Bitterkeit, die Arbeit des Onkels habe „die wesentliche Grundlage" der Ausgabe gebildet (S. VII), auch wenn das Ganze nach Roethes Weisung umgeformt worden sei.19 Von der Intensität der redaktionellen Mitarbeit Roethes legen die Lesartenapparate der unter seiner Regie gedruckten Bände Zeugnis ab. Nach fast zwei Jahrzehnten war er die sich ständig wiederholende Plage gründlich leid. In einem Brief vom November 1922 beklagt er sich, dass ihn die Deutsche Kommission viel zuviel Zeit kostet, „zumal die Deutschen Texte, die abzuschütteln [...] schwer ist, weil die maßlos zeitraubende und im gewöhnlichen Sinne hervorragend ,undankbare' Arbeit der entscheidenden Correcturen doch von keinem Andern übernommen wird: wer kann denn heute so viel unbezahlte Arbeit dieser Art leisten?"20 Er hat die Leitung denn auch bis zu seinem Tode am 17. 9. 1926 beibehalten. Schaut man auf das bis dahin Erreichte zurück, dann muss man gestehen, dass seiner Schöpfung ein nicht geringer Erfolg beschieden war. Zu seinen Lebzeiten waren 31 Bände erschienen, die ersten 26 in den elf Jahren von 1904 bis 1915. Nachfolger Roethes in der Akademie und in der Leitung der ,Deutschen Texte' wurde Arthur Hübner. Er behielt Roethes Konzept bei, druckte auch im Vorspann zu Band 38 (Johannes Rothe) die Regeln in überarbeiteter Fassung ab, freilich ohne den Schlussabsatz über die Freiheiten der Herausgeber. Trotzdem wird man davon ausgehen dürfen, dass er an der liberalen Handhabung festhalten, ja sie weiter ausdehnen wollte. Das lässt sich Niewöhners Einleitung zum ersten Band der Teichner-Ausgabe (Bd. 44) vom Jahre 1953 entnehmen. Er befasst sich dort mit der Eine-Handschrift-Regel und kritisiert, dass sie sich „als ein Hemmschuh" erwiesen habe, „sobald andere - und womöglich gar bessere Überlieferungszeugen auftauchten", vor allem aber führe sie dazu, „daß eine Unsumme von Arbeit und Kenntnissen" eines Herausgebers „unweigerlich und man kann ruhig [...] sagen unwiederbringlich mit ihm zu Grabe getragen" werde. Doch darin, so Niewöhner, bahne sich eine Besserung an. Arthur Hübner habe mit seinem ,Rennewart' (Bd. 39) „einen großen Schritt über einen bloßen Handschriftenabdruck in der Richtung auf eine kritische Textausgabe hin gemacht". Mit ihm habe er, Niewöhner, noch vor dem Kriege eine auf die Teichner-Überlieferung passende Regelung verabredet. Sie gestatte ihm, „an sich brauchbare Lesungen" seiner Leithandschrift gegen bessere Lesungen der Parallelhandschriften auszutauschen. Damit verharre er auf der Mitte des Weges zur streng 19

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Roethe sah sich genötigt, das von Regel eingereichte Manuskript zur Änderung zurückzugeben: „er hatte ein sonderbares Mittelstück zwischen ,krit.' Text u. Hs.-Abdruck gemacht" (R.-Schr. 3200 vom 14. 3. 1904). R.-Schr. 4869.

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kritischen Ausgabe. Die nahe Zukunft werde aber auch solche Ausgaben im Rahmen der ,Deutschen Texte' bringen. 21 Tatsächlich erschien zwei Jahre später der erste Band von Werner Wolfs Jüngerem Titurel' mit einem kritisch hergestellten Text der Gruppe I, zu dem auch noch der synoptische Abdruck einer Handschrift der Gruppe II geboten wurde (Bd. 45). Nach weiteren zwei Jahren folgte dann mit Rosenfelds Wilhelm von Wenden' (Bd. 49) sogar ein Text im normalisierten Mittelhochdeutsch. Werner Simon, in dem 1952 gegründeten .Institut für deutsche Sprache und Literatur' verantwortlich für die .Deutschen Texte', fügte ein erklärendes Nachwort hinzu: Es handele sich um ein Entgegenkommen gegenüber dem Herausgeber, der seine Ausgabe ursprünglich für eine andere Reihe gefertigt habe. Aber wenn das auch ein einmaliger Sonderfall sei, würden sich die ,Deutschen Texte' doch von nun an „grundsätzlich, besonders wenn es sich um Ausgaben aus dem späten und dem frühen vorklassischen Mittelhochdeutsch handelt, um die beste Form der Darbietung des Textes" bemühen, „die einmal den handschriftlichen Befund [...] so genau erkennen lassen soll, wie es der Abdruck der jeweils besten Handschrift bisher [...] tat, die aber andererseits [...] vorsichtig zu dem vorzudringen sucht, was der Autor gemeint [...] hat". 22 So wurde außer beim Jüngeren Titurel' auch 1959 bei Mügeln verfahren (Bd. 50-52). 1964 kam mit der Veldeke-Ausgabe (Bd. 58) ein sehr gewagter Versuch hinzu. Frings und Schieb brachten in Synopse die mitteldeutsche Gothaer Handschrift und einen rekonstruierten, ins Altlimburgische transponierten kritischen Text. Die Kritik hat dem Mut der Herausgeber Respekt gezollt, aber doch starke Zweifel geäußert, ob es eine solche Fassung je gegeben hat. 23 Heute ist man mit Hans Fromm überzeugt, dass alle drei bisherigen Versuche der Transformierung des überlieferten Textes in eine der Heimatmundart Veldekes entsprechende autornahe Fassung als gescheitert angesehen werden müssen. 24 Ein Gleiches gilt für die von Theodor Frings zusammen mit Elisabeth Linke veranstaltete „Rückübersetzung" von ,Morant und Galie' in eine „kölnische Idealsprache" der Zeit um 1200 (Bd. 69; S. VII). 25 Genug der Einzelheiten. Hans Fromm hat in seinem Beitrag zur Festschrift des Verlags Niemeyer vom Jahre 1995 auch ein zusammenfassendes Urteil über die ,Deutschen Texte' abgegeben, 26 auf das ich an dieser Stelle eingehen möchte. 21 22 23

24

25 26

S. XCVIIIf. S. XXXIf. Werner Schröder, in: Ndd. Jb. 88, 1965, S. 185-189. - Rudolf Schützeichel, in: AfdA 78, 1967, S. 83-90. Heinrich von Veldeke, Eneasroman. Hrsg. von Hans Fromm. Frankfurt/M. 1992 (Bibliothek d. Mittelalters 4), S. 745. Peter Ganz, in: PBB 100, 1978, S. 316-325. - Hartmut Beckers, in: AfdA 91, 1980, S. 6 2 - 7 3 . Hans Fromm: Zur Geschichte der Textkritik und Edition mittelhochdeutscher Texte. In: Beiträge zur Methodengeschichte der neueren Philologien. Hrsg. von Robert Harsch-Niemeyer. Tübingen 1995, S. 63-90; spez. S. 77-79.

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Für ihn bedeutet das Jahr 1904 mit der Veröffentlichung des ersten Bandes „einen tiefen Einschnitt in der Methodengeschichte" des Faches. Roethe führte „ein modifiziertes Leithandschriftenprinzip" ein, „insofern die Überlieferung auf eine als qualitätvoll erkannte Handschrift bezogen wird". Mit dem Verzicht auf eine „Gesamtkollation" habe er dem Herausgeber Freiheiten eingeräumt, die „in der Folgezeit viele nicht wahrnehmen" wollten. Sie suchten „wieder die Annäherung an Lachmanns Prinzipien", vielleicht weil „Roethe in seinem heute überraschend lesenswerten Vorwort [zu Band 1] eine Begründung für den neuen Editionstyp anbot, für den wissenschaftsgeschichtlich die Stunde noch nicht gekommen war. Die Stichwörter nehmen verschiedene Gesichtspunkte vorweg, die viel später zur Begründung der überlieferungskritischen Edition vorgebracht wurden". Damit soll doch wohl gesagt sein: Hätte man die neu geschaffenen Freiheiten konsequent genutzt, dann wäre womöglich die überlieferungskritische Methode aus dem Geist der .Deutschen Texte' hervorgegangen. Dem mag so sein, ich möchte aber doch eine andere Deutung vorschlagen: Roethes Verdienst liegt in der energischen Stärkung liberaler Tendenzen im Editionswesen. Denn das ist doch sein Grundgedanke: der Editor soll unter Beachtung etwaiger Zeitoder anderer Vorgaben die Anlage der Ausgabe selbst bestimmen - und natürlich auch selbst verantworten. Im Fall der .Deutschen Texte' hieß das: Er musste eine Balance suchen zwischen dem Wunsch der Akademie nach Vereinfachung des Verfahrens sowie den besonderen Erfordernissen des einzelnen Textes und seiner Überlieferung. Schon Roethe selbst nutzte, wie wir gesehen haben, in Wahrnehmung seiner Pflichten als verantwortlicher Leiter die Freiheiten, die ihm sein Konzept bot, sie wurden nur nach seinem Tode weiter gefasst. Bei der ,Minneburg' (Bd. 43), die Fromm als Beispiel für die von ihm kritisierte „Art der Annäherung an die klassische Textkritik" heranzieht, war mit einem einfachen Handschriftenabdruck nichts auszurichten. Die Rekonstruktion eines halbwegs verständlichen Textes dieses im schweren dunklen Stil gehaltenen Gedichts war nur unter Auswertung der gesamten, ohnehin schmalen Überlieferung möglich. Für ein überlieferungskritisches Verfahren hätte es sich denkbar schlecht geeignet. Denn das ist, folgt man Kurt Ruh, nur am Platze, wenn ein Gebrauchstext mit reicher und offener Überlieferung zur Bearbeitung ansteht. 27 Fragt man, ob unter den .Deutschen Texten' einer ist, der für eine Edition nach dem überlieferungskritischen Verfahren in Frage gekommen wäre, dann wird man am ehesten auf die ,Weltchronik' Rudolfs von Ems verfallen. Aber diesen Titel nennen, bedeutet zugleich einräumen, dass Ehrismann für seine 1915 erschienene Ausgabe (Bd. 20) weder die technischen noch die organisatorischen Hilfen zur Hand hatte, die eine überlieferungskritische - in der Terminologie 27

Kurt Ruh: Votum für eine überlieferungskritische Editionspraxis. In: Probleme der Edition mittel- und neulateinischer Texte. Hrsg. von Ludwig Hödl und Dieter Wuttke. Boppard 1978, S. 3 5 - 4 0 ; spez. S. 35. Vgl. auch Anm. 36.

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Steers: textgeschichtliche 28 - Edition erfordert hätte. Die Bedingungen dafür schuf erst das letzte Viertel des vorigen Jahrhunderts. Dieser neue Ausgabentypus hat bisher auf die .Deutschen Texte' keinen Einfluss gehabt. Das mag man bedauern, sollte es aber auch nicht überbewerten. Denn es handelt sich um eine Art des Edierens unter mehreren. Daneben haben die in den ,Deutschen Texten' praktizierten Verfahren ihre Berechtigung, auch diejenigen, die auf die Rekonstruktion autornaher Fassungen abzielen. Man kann sie nicht in Bausch und Bogen abqualifizieren, nur weil im Augenblick die Rezeptionsforschung dominiert.

3. Mögliche Lehren aus den Erfahrungen mit Roethes Konzept An dieser Stelle verlasse ich die ,Deutschen Texte' und frage abschließend, ob sich denn ihrer Geschichte etwas als Maxime für unser Verhalten als Editoren entnehmen lässt. Wenn es nach mir ginge, sollte das der Leitsatz sein, wonach der Takt, die besonderen Neigungen und Überlegungen des Herausgebers das Ausgabenziel maßgeblich bestimmen. Gabriele Schieb - nach Werner Simon Leiterin der ,Deutschen Texte' - hatte Ähnliches im Sinn, wenn sie sagte: „Über hundert Jahre von wissenschaftlichen Editoren an den überlieferten Texten gesammelte Erfahrungen haben dazu geführt, daß wir heute nicht einseitig diesen oder jenen Ausgabentyp als den entscheidenden und einzig richtigen hervorheben". Vielmehr solle ihn der Herausgeber dem Gegenstand entsprechend wählen. 29 So verfahren die Editoren in unserem Fach auch, seit die Zwänge der sogenannten Lachmannschen Methode gefallen sind. In meinen Augen ist das ein nicht genug zu begrüßender Fortschritt. Ich möchte nicht, dass man, was die Bestimmung des Editionsziels angeht, nach einem neuen, alle Editoren einschließenden und verpflichtenden Konsens sucht. Natürlich sollen im Formalen, etwa bei der Gestaltung der Lesartenapparate, bestimmte Standards eingehalten werden, und natürlich muss die von Joachim Heinzle geforderte und begonnene Klärung der Grundbegriffe erfolgen, „die das historisch-philologische Operationsfeld der mediävistischen Editorik abstecken und so etwas wie die elementare Logik dieses Feldes erkennen lassen." 30 Im übrigen aber sollte der Editor nach seiner Einsicht entscheiden können, dies auch und gerade bei der Festlegung der Sprachform für seine Texte. Damit bin ich beim Problem der Normalisierung hoch- und spätmittelalterlicher deutscher Texte. Nirgends gehen die Meinungen weiter auseinander als in diesem Punkt. Zwei Extrempositionen sind zu verzeichnen. Die eine wird von 28

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Georg Steer: Textgeschichtliche Edition. In: Überlieferungsgeschichtliche Prosaforschung. Hrsg. von Kurt Ruh. Tübingen 1985 (TTG 19), S. 37-52. Gabriele Schieb: Editionsprobleme altdeutscher Texte. In: PBB (Halle) 89, 1967, S. 4 0 4 - 4 3 0 , spez. S. 408. Joachim Heinzle: Zur Logik mediävistischer Editionen. Einige Grundbegriffe. In: editio 17, 2003, S. 1-15; spez. S. 2f.

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den Anhängern einer konsequenten Umsetzung in das Normalmittelhochdeutsche eingenommen, an der Spitze von Karl Lachmann. In seinem ,Parzival' verwendet er die mittelhochdeutsche ,Orthographie', die er und seine germanistischen Mitstreiter „in den letzten jähren fest gestellt haben". Denn „die Orthographie einer einzelnen handschrift" würde „nur ein verworrenes bild der spräche" des Dichters geben, und das wäre störend für das „vergnügen" des Lesers. 31 - Moriz Haupt erklärte im 1. Band der ZfdA, der bloße Handschriftenabdruck sei selbst bei Unikaten nur eine „beschönigung der arbeitsscheu". 32 - Als prominenter Anhänger einer solchen Normalisierung aus neuerer Zeit ist etwa Josef Quint zu nennen. Nach seiner Meinung würde die Wiedergabe der Eckhartschen Schriften in der Schreibweise der jeweils besten Handschrift „allenfalls philologischen Sonderwünschen zum Zwecke peripherischer rein germanistischer Spezialforschung" dienen. Gefordert sei aber eine „dem dringenden Bedürfnis der Philosophen, Theologen und Kulturhistoriker" entsprechende Ausgabe, „die das Ideengut des großen Mystikers in möglichst ursprünglichem Wortlaut darbietet". 33 Heute käme wohl kaum noch jemand auf den Gedanken, Prosatexte des 14. Jahrhunderts in ,klassisches' Mittelhochdeutsch umzusetzen. Aber auch heute wird seiner Verwendung die Berechtigung nicht einfach abgesprochen. Beispielsweise wählt Heidrun Alex für ihre Boppe-Ausgabe das .Normalmittelhochdeutsche' als Schreibform, weil Boppe „formal und inhaltlich in der Tradition der klassischen Dichtung steht", und seine Sprache „weitgehend der mittelhochdeutschen höfischen Dichtersprache entspricht". 34 Joachim Heinzle schlägt vor, das Normalmittelhochdeutsche anzuwenden, soweit es sich um „Dichtungen der Zeit um 1200 und die in ihrer Tradition stehenden Werke" handelt, für die sie von Anfang an bestimmt war. Das ist eine Lösung, auf die man sich müsste einigen können. 35 Nun das andere Extrem. Der sicherlich bedeutendste Verfechter einer strikten Bindung an das Schriftbild einer Leithandschrift in unserer Gegenwart ist Kurt Ruh. In einer überlieferungskritischen Edition soll nach seiner Meinung „ein .historischer', d. h. nachweisbar gelesener Text" geboten und so dargestellt werden, „daß er das gesamte Rezeptionsfeld des Denkmals zu erschließen vermag." Die Schreibweise der zugrundegelegten Handschrift muss „unabdingbar bewahrt bleiben", und zwar „im Hinblick auf die Bedürfnisse der Sprachwissenschaftler". Ohne den Namen zu nennen, wendet sich Ruh gegen Quint und seine Entscheidung für die Normalisierung der Eckhart-Texte: „Das [...] Prinzip der ,Lesbarkeit' eines Textes [...] übersieht, wie schnell sich die Gewöhnung auch an 31 32 33

34 35

Wolfram von Eschenbach. Hrsg. von Karl Lachmann. 6. Aufl. Berlin 1926, S. VII. ZfdA 1, 1841, S. V. Meister Eckharts Predigten. Hrsg. von Josef Quint. Bd. 1. Stuttgart 1958 (Meister Eckhart: Die deutschen und lateinischen Werke, Die deutschen Werke 1), S. XXII. Der Spruchdichter Boppe. Hrsg. von Heidrun Alex. Tübingen 1998 (Hermaea NF 82), S. 18. Heinzle 2003 (Anm. 30), S. 6.

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ungewohnte Druckbilder vollzieht. Der Graphienhorror vieler Editoren scheint [...] auf der nachhaltigen Bindung an Praxis und Ideal unserer klassischen Ausgaben zu beruhen." 36 Die Ruhsche Lösung wird heute bevorzugt, soweit es nicht um Texte der klassischen mittelhochdeutschen Dichtung geht. Jedoch sind auch Kompromisse versucht worden. Ich verweise dafür auf zwei Fälle, in denen ich selbst die Verantwortung trage: - Heinrich von Mügeln (DTM Bd. 50-52; 84): Synopse von Handschriftenabdruck und zurückhaltend, durch vorsichtige Eingriffe in die Leithandschrift vereinheitlichtem kritischem Text; - Frauenlob (hrsg. von K. St. und Karl Bertau, Göttingen 1981): Eingriffe in die verschiedenen Leithandschriften zur Erzielung eines im ganzen einheitlichen Erscheinungsbildes der Texte. Nachweis der nicht pauschal in der Einleitung behandelten Fälle in einem eigenen Lesartenapparat. Mein Verfahren ist gewissermaßen komplementär zu dem von Hans Fromm in der de Boor-Festschrift von 1971 vorgeschlagenen. 37 Er nimmt prinzipiell den gleichen Standpunkt ein wie Heinzle, empfiehlt aber in Fällen, wo eine rigorose Durchsetzung des .klassischen' Mittelhochdeutschen nicht zu rechtfertigen wäre, obwohl eine Nähe zur klassischen Dichtung besteht, Elemente aus der Schreibweise der Leithandschrift beizubehalten, die bei strenger Anwendung der Regeln getilgt werden müssten. Ich hingegen bleibe bei Texten, die der klassischen Dichtung allenfalls noch lose verbunden sind, weitgehend bei der Schreibweise einer Leithandschrift, dämpfe aber im Interesse einer Leseerleichterung die graphematische und morphologische Varianz und gebe auf diese Weise zu erkennen, dass der kritische Text hinter die Überlieferung zurückführt. Solche auf die Besonderheit des einzelnen Falles angelegten Vorgehensweisen sollten unanstößig sein. Denn ich denke, man kann Joachim Heinzles Begründung für die Wahl der Schreibnorm in seinem ,Willehalm' verallgemeinern: Wer als Editor den Bedürfnissen des Literarhistorikers genügen will, sollte sich darauf konzentrieren, den ,Aussagesinn' seines Textes so klar wie möglich herauszuarbeiten. 38 Die Schreibweise hat dem gegenüber nur dienenden Charakter. 36

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38

Ruh 1978 (Anm. 27), S. 36f. - In der Diskussion zu meinem Vortrag wies Volker Honemann darauf hin, dass Kurt Ruh an der normalisierten Schreibweise des .Helmbrecht' (ATB 11) nichts geändert und auch den in der Einleitung zur 8. Auflage angedeuteten Plan einer Umarbeitung nicht weiter verfolgt hat. Er dürfte daher einer Lösung des Normalisierungsproblems in der von Heinzle vorgeschlagenen Art nicht grundsätzlich ablehnend gegenübergestanden haben. Hans Fromm: Stemma und Schreibnorm. In: Mediaevalia litteraria. Hrsg. von Ursula Hennig und Herbert Kolb. München 1971, S. 193-210; spez. S. 208f. Auf Einzelheiten seiner wohlüberlegt differenzierten Darstellung gehe ich nicht näher ein. Es genügt der Hinweis auf das Prinzipielle, soweit es hier von Belang ist. Wolfram von Eschenbach: Willehalm. Hrsg. von Joachim Heinzle. Frankfurt/M. 1991 (Bibliothek des Mittelalters 9), S. 804.

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Sie kann jeweils so gewählt werden, dass das Erscheinungsbild des kritischen Textes von dem des handschriftlich überlieferten deutlich absticht. Dieses Verhalten bedeutet natürlich ein Beiseitesetzen von möglichen Interessen der Sprachwissenschaft. Aber sind diese Interessen an unseren Handschriften wirklich so groß, wie es das Ruhsche Argument unterstellt? Es mag für den einen oder anderen Sonderfall zutreffen, im allgemeinen werden aber die Vertreter von Sprachgeschichte und historischer Grammatik geeignetere, weil genauer lokalisierte und datierte Quellen zur Hand haben. Als Editoren literarischer Texte kommen wir den Bedürfnissen der Sprachwissenschaftler vermutlich besser durch die Registrierung sprachhistorisch wichtiger Befunde in unseren Handschriftenbeschreibungen entgegen als durch die - notwendig unvollkommene Nachbildung eines handschriftlich überlieferten Textes im Druck. Heute könnten auch Anhänger der New Philology im Namen der Manuscript Culture reine Handschriftenabdrucke fordern. Dagegen wäre nichts einzuwenden, es müsste nur darauf aufmerksam gemacht werden, dass schon die Einführung einer modernen Interpunktion eine Verfremdung (und damit einen entscheidenden Schritt weg von der Handschriftentreue) bedeuten würde. Summa summarum: In unserem Editionswesen sollten ganz im Sinne von Roethes Konzeption für die .Deutschen Texte' Takt, Neigungen und Überlegungen des Herausgebers das letzte Wort haben, selbst wenn ihn das nötigen würde, gegen dieses oder jenes gerade aktuelle Interesse zu verstoßen. Das mag zu Lösungen führen, die in prinzipiellen Fragen untereinander differieren. Der Literarhistoriker als Adressat kann davon nur Vorteil haben. Wenn er seine Gegenstände aus verschiedenen Perspektiven gezeigt bekommt, schärft das sein Bewusstsein für den Anteil des Editors am Zustandekommen seines Bildes von vergangener Literatur und Kultur. 39

Siglen ABBAW, Best. PAW - Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Bestand der preußischen Akademie der Wissenschaften. Auf die Sigle folgt die Signatur. R.-Schr. - Regesten zum Briefwechsel zwischen Gustav Roethe und Edward Schröder. Bearbeitet von Dorothea Ruprecht und Karl Stackmann. 2 Bde. Göttingen 2 0 0 0 (Abh. d. Ak. d. Wiss., Phil.-hist. Klasse, 3. Folge, Bd. 237).

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Erweiterte und überarbeitete Fassung des Vortrags, der im Rahmen der Jubiläums-Veranstaltung gehalten wurde. Für die Beschaffung von Auskünften aus der Berlin-Brandenburgischen Akademie habe ich den Herren Wolfgang Knobloch und Martin Schubert, vor allem aber Frau Annegret Haase zu danken. Nur mit ihrer dreier Hilfe konnte ich das Faktengerüst für den 1. Teil zusammenbekommen. Zum Normalisierungsproblem in der Mügeln-Ausgabe vgl. jetzt: Karl Stackmann: Philologische Untersuchungen zur Ausgabe der Kleineren Dichtungen Heinrichs von Mügeln. Göttingen 2004, S. 1 3 9 - 1 9 8 .

Karin

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Paläographie und Kodikologie als Eingang zur Literatur des Mittelalters

Als vor einem Jahrhundert die 1903 neu begründete Deutsche Kommission in der Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin den Beschluss fasste, sämtliche erhaltenen deutschsprachigen literarischen Handschriften des Mittelalters zu inventarisieren, kam damit ein seinerzeit bahnbrechendes Projekt in Gang, dessen Ziel es war, als Grundvoraussetzung zur Erforschung der deutschen Sprache und Literatur eine vollständige Übersicht über die vorhandenen Quellen zu schaffen. Das Ergebnis war das bekannte Berliner Handschriftenarchiv, 1 das zur Zeit eine neue Aufwertung und Nutzbarmachung erfährt. 2 Dieses 1904 angelaufene Unternehmen war symptomatisch für ein neues Interesse an der mittelalterlichen Handschrift als einem historischen, aus der Vergangenheit überkommenen Objekt; einem Interesse, das seit dem Ende des 19. Jahrhunderts nicht nur in Deutschland, 3 sondern international zu beobachten ist. Neben Gustav Roethe war vor allem Konrad Burdach der eigentliche Initiator des Handschriftenarchivs. Aus seinen verschiedenen Publikationen 4 geht die neue Einstellung deutlich hervor, dass nämlich mittelalterliche Handschriften nicht vorrangig, wie in vorangegangener Zeit, als Mittel des Herausgebers zur Herstellung eines guten Textes benutzt oder verworfen werden dürften, sondern dass sie als eigenständige „litterarische Individuen" 5 zu sehen seien. Burdach hat mit seiner Forderung, „für jede einzelne Handschrift Zeit und Ort und Anlaß ihrer Entstehung zu enthüllen", 6 das angestrebte, wenn auch nicht immer erreich1

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Tilo Brandis: Das Handschriftenarchiv der Deutschen Kommission der Akademie der Wissenschaften zu Berlin. In: ZfdA 123, 1994, S. 119-129. Jürgen Wolf: Handschriftenarchiv online. In: ZfdA 131, 2002, S. 547-550, sowie in diesem Band S. 3 2 5 - 3 2 8 . In Berlin erschienen zwischen 1893 und 1905 die ausführlichen Kataloge der lateinischen Handschriften der Kgl. Bibliothek von Valentin Rose, die am Anfang moderner wissenschaftlicher Handschriftenerschließung stehen und die möglicherweise auch auf die Initiatoren des deutschen Handschriftenarchivs anregend gewirkt haben. Konrad Burdach: Die pfälzischen Wittelsbacher und die Handschriften der Palatina. In: Centralblatt für Bibliothekswesen (im folgenden zitiert: ZfB) 5, 1888, S. 111-133; ders.: Zur Kenntnis altdeutscher Handschriften und zur Geschichte altdeutscher Litteratur und Kunst. I. Ein Verzeichnis altdeutscher Handschriften. In: ZfB 8, 1891, S. 1-8; ders.: Die Inventarisierung älterer deutscher Handschriften. In: ZfB 21, 1904, S. 183-187. Burdach 1904 (Anm. 4), S. 186. Burdach 1888 (Anm. 4), S. 131; Brandis 1994 (Anm. 1), S. 122.

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bare Endziel paläographischer und kodikologischer Forschung zutreffend formuliert. Gewiss hatte eine Handschrift zur Zeit ihrer Entstehung in erster Linie die Funktion, einen oder mehrere Texte aufzuzeichnen, zu verbreiten, sie einem bestimmten Interessenten oder Interessentenkreis zugänglich zu machen, ihm mit dem Codex eventuell auch ein wertvolles Prestigeobjekt zu verschaffen. Dem Literarhistoriker heutiger Zeit kommt es in vielen Fällen - vor allem bei ungeklärten Autoren- oder Abfassungsdaten und nachfolgender Rezeptionsgeschichte - darauf an, zu rekonstruieren, wann, wo, für wen und in welcher Gestalt ein bestimmter, ihn interessierender Text aufgezeichnet wurde. Die Überlieferungsträger, die mittelalterlichen Codices enthalten viele offene oder versteckte Hinweise zur Lösung solcher Fragen, die mit Hilfe von Paläographie und Kodikologie aufgedeckt und interpretiert werden können. Paläographie verhilft zur Entzifferung und zur zeitlichen Einordnung einer Schrift. Sie gründet auf der Tatsache, dass sich Schrift im Lauf der Jahrhunderte verändert, ähnlich den sich wandelnden Erscheinungsformen der bildenden Künste. Die unterschiedlichen Schriftarten bilden sich in ihren Anfängen heraus, haben ihre Blütezeiten und Endphasen und werden schließlich durch neu aufkommende Formen überlagert und abgelöst. Diese lebendige Entwicklung sucht die Paläographie, die Bernhard Bischoff zu recht „eine Kunst des Sehens und der Einfühlung" nannte, 7 nachzuvollziehen; sie beobachtet die sich verändernden Formen und ordnet sie in eine Schriftgeschichte ein. Der Terminus ,Kodikologie' ist erst um die Mitte des 20. Jahrhunderts neu eingeführt worden 8 für eine Disziplin, die großenteils mit dem früher als ,Handschriftenkunde' bezeichneten Fach zusammenfällt. 9 Kodikologie befasst sich mit der materiellen Beschaffenheit eines Codex und untersucht seinen handwerklichen Entstehungsprozess: den Beschreibstoff, die Zusammensetzung aus Lagen, die Liniierung der Blätter, das Layout der Texte, die Ausstattung, den Einband; darüber hinaus sucht die Handschriftenkunde auch die Hersteller, die Schreiber, Auftraggeber und Besitzer im Lauf der nachfolgenden Geschichte einer Handschrift zu erfassen. Forschungsgegenstand der Kodikologie ist demnach eigentlich die archäologische Untersuchung des Codex als Objekt; sie zieht aus der 7

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Bernhard Bischoff: Paläographie des römischen Altertums und des abendländischen Mittelalters. 2., überarbeitete Aufl. Berlin 1986 (Grundlagen der Germanistik 24), S. 19. Zuerst von Francois Masai: Paleographie et codicologie. In: Scriptorium 4, 1950, S. 279-293, hier S. 290f.; vgl. dazu Denis Muzerelle: Le progres en codicologie. In: Rationalisierung der Buchherstellung im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Hrsg. von Peter Rück. Marburg 1994 (Elementa diplomatica 2), S. 3 3 - 4 0 , hier S. 34. Literatur zur Geschichte der Handschriftenkunde ist zusammengestellt von Bernd Michael: Juristische Handschriften aus der Sicht des Handschriftenbeschreibers. In: Juristische Buchproduktion im Mittelalter. Hrsg. von Vincenzo Colli. Frankfurt/M. 2002, S. 3 9 - 6 8 , hier bes. S. 46 und Anm. 13.

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Summe von Einzelbeobachtungen Schlüsse über bestimmte zeitliche und regionale Produktionsgewohnheiten und führt so letztlich zu einer Geschichte der Buchkultur. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit mittelalterlichen Schriften reicht weit zurück. Erste Abhandlungen zur Paläographie oder Diplomatik, 10 wie sie zunächst genannt wurde, sollten zu Ende des 17. Jahrhunderts dazu dienen, die Authentizität alter Urkunden anhand ihrer Schrift zu überprüfen. Auch in der Folgezeit konzentrierte sich die Paläographie fast ausschließlich auf lateinische Codices des frühen und hohen Mittelalters, während die spätmittelalterlichen gotischen und gar volkssprachlichen Schriften bis weit ins 20. Jahrhundert hinein weitgehend ausgegrenzt blieben. Den Vertretern der Gründergeneration der Germanistik und ihren Nachfolgern ging es in den Jahren der romantischen Mittelalter-Renaissance weniger um die Handschriften an sich als in erster Linie um die lange Zeit vergessenen und wiederentdeckten deutschen Texte, zu deren Edition ihnen die Codices als eine Art Steinbruch dienten." So bewegte sich Lachmann mit seiner bekannten textkritischen Methode eher von der einzelnen Handschrift als Individuum weg, denn Codices mit fehlerhaften, bearbeiteten oder interpolierten Textabschriften waren für ihn ohne Interesse. Benecke, Schmeller und vor allem Jacob Grimm sahen die handschriftlichen Texte vorrangig als Sprachdenkmäler, die entsprechend ausgewertet wurden. Zur Erschließung der deutschsprachigen Codices selbst hatten Paläographie und gar Kodikologie bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts einen sehr geringen Stellenwert. Von dieser Sichtweise, die mittelalterliche Handschrift vor allem der Lesarten oder der sprachlichen Eigenheiten ihres Textes wegen zu nutzen, setzte sich Burdach entschieden ab mit seinem anfangs erwähnten Aufruf, für jeden Codex Zeit, Ort und Anlass seiner Entstehung zu enthüllen. 12 Eine wesentliche Voraussetzung für den Aufschwung von Paläographie und Kodikologie war der technische Fortschritt. Die Erfindung und Entwicklung der fotografischen Reproduktionsmöglichkeiten hat der Paläographie seit dem Ende

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A m Anfang steht Jean Mabillons ,De re diplomatica'. Paris 1681; die Bezeichnung .Paläographie' führte 1708 der Benediktiner Bernard de Montfaucon mit seiner .Palaeographia graeca' ein. - Zur Geschichte der lateinischen Paläographie vgl. Bischoff 1986 (Anm. 7), S. 17-19; Johanne Autenrieth: Die Münchener Schule. Ludwig Traube - Paul Lehmann Bernhard Bischoff. Ein Beitrag zur paläographischen Forschung in Deutschland seit d e m Ende des letzten Jahrhunderts. In: Un secolo di paleografia e diplomatica. Hrsg. von Armando Petrucci und Alessandro Pratesi. Rom 1988, S. 1 0 1 - 1 3 0 .

11

Ingeborg Glier: Schatzkammer, Steinbruch, historisches Objekt. Aspekte der handschriftlichen Überlieferung als Zugang zum Textverständnis. In: Grundlagen des Verstehens mittelalterlicher Literatur. Literarische Texte und ihr historischer Erkenntniswert. Hrsg. von Gerhard Hahn und Hedda Ragotzky. Stuttgart 1992, S. 1 - 1 6 . Vgl. Anm. 6.

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des 19. Jahrhunderts eigentlich erst die Forschungsmittel zur Verfügung gestellt.13 Für den modernen Herausgeber ist die Erstellung einer Textedition ohne Fotos, Mikrofilm und Handschriftenautopsie kaum mehr denkbar; den Editoren des 19. Jahrhunderts war die Benutzung der Überlieferungsträger nicht immer möglich. Wenn nicht auf umständlichen Handschriftenreisen die Codices selbst eingesehen werden konnten, hatte man sich mit Abschriften zu begnügen, die reichlich im Umlauf waren und die heute noch zahlreich in den Handschriftensammlungen aufbewahrt werden. Manche der ganz frühen Texteditionen basieren auf solchen Abschriften, nicht auf den Handschriften selbst. Für seine erste Ausgabe der Lieder Wolframs benutzte Karl Lachmann nach eigener Aussage 14 die Weingartner Liederhandschrift (Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek HB XIII 1) in einer Abschrift, die ihm Ludwig Uhland geschenkt hatte. Von der Niederrheinischen Liederhandschrift (Leipzig, UB Rep. Π fol. 70a) ist eine Abschrift von der Hand Johann Christoph Gottscheds erhalten, die von der Hagen und Büsching 1812 als Vorlage für die Texte in ihrem .Literarischen Grundriß' benutzten. 15 Noch vor kurzem war nicht absehbar, welche fast unbegrenzten Möglichkeiten die Einführung der EDV auch für die Handschriftenbenutzung eröffnen würde. Seit wenigen Jahren erst sind Handschriftendatenbanken, Handschriftenabbildungen und vollständige Faksimiles im Internet abrufbar, und damit stehen wir wohl erst am Anfang einer Entwicklung. 16 Ein neues Interesse nicht nur an den überlieferten Texten, sondern auch am Äußeren der Codices, also an kodikologischen Gegebenheiten setzte mit der systematischen Katalogisierung der erhaltenen Handschriftenbestände ein, die seit 1960, gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft, in den deutschen Bibliotheken durchgeführt wird. Die hierfür verbindlichen Richtlinien haben in vielen Punkten ihr Vorbild in den Vorschriften, die 1904 für die Beschreibungen des Berliner Handschriftenarchivs erlassen worden waren. 17 In die13

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So schon Ludwig Traube in seiner letzten Münchner Vorlesung im Wintersemester 1904/05 (L. Traube, Vorlesungen und Abhandlungen 1: Zur Paläographie und Handschriftenkunde. Hrsg. von Paul Lehmann. München 1909); vgl. auch Denis Muzerelle: Un siecle de paleographie latine en France. In: Un secolo di paleografia (Anm. 10), S. 131-158, hier S. 131 f. Wolfram von Eschenbach. Hrsg. von Karl Lachmann. 7. Aufl. neu bearb. von Eduard Hartl. Berlin 1952, S. X (Vorrede Lachmanns von 1833). Günter Schmeisky: Die Lyrikhandschriften m (Berlin mgq 795) und η (Leipzig Rep. II fol. 70a). Zur mittel- und niederdeutschen Sangverslyrik-Überlieferung. Göppingen 1978 (GAG 243), S. 257f. Dazu vgl. Michael 2002 (Anm. 9), S. 52f. mit Anm. 30-32. Über neue Handschriftendatenbanken und Faksimiles informieren ζ. B. die ZfdA (unter: Mittelalter-Philologie im Internet) oder die Gazette du livre medieval (unter: Sur internet). Richtlinien Handschriftenkatalogisierung. 5. Aufl. Bonn-Bad Godesberg, Deutsche Forschungsgemeinschaft 1992, mit einem Verzeichnis der bis 1991 erschienenen Katalogbände S. 6 3 - 9 3 . Die unveröffentlichten Grundsätze von 1904 sind im Internet unter http://dtm.bbaw.de/HSA/Index-Dokumente.htm zugänglich.

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sen modernen Katalogen wird zumeist die äußere Beschaffenheit eines jeden Codex mit einer Erschließungstiefe verzeichnet, die in den älteren Katalogen nicht zu finden ist, die zumeist eher Bestandsverzeichnisse zur schnellen Orientierung mit rudimentären Grunddaten waren. Trotz weitgehender Erschließung der handschriftlichen Bestände sieht sich der Herausgeber eines mittelalterlichen Textes oder der Verfasser einer Überlieferungsstudie noch häufig genug mit undatierten und unlokalisierten Handschriften zudem meist unbekannter Provenienz konfrontiert, die zahllos in den Sammlungen überwiegen, und er steht vor der Aufgabe, ihren ursprünglichen Entstehungszeitpunkt und -räum zu bestimmen und sie an ihrem ehemaligen ,Sitz im Leben' wieder einzuordnen. Ohne Kenntnisse von Paläographie und Handschriftenkunde wird er hier kaum zu stichfesten Ergebnissen kommen. 18 Zur Lokalisierung vor allem von Handschriften des 14. und 15. Jahrhunderts hilft zwar die Paläographie in den wenigsten Fällen weiter; für deutschsprachige Handschriften ist die Schreibsprache zur Eingrenzung des Entstehungsraums wesentlich aussagekräftiger. Dagegen ist der Nutzen paläographischer Datierungen von Handschriften für die Literaturgeschichte unbestritten. Wie ausschlaggebend die Schriftdatierung einer einzigen oder ältesten Handschrift sein kann, um die Lebenszeit eines nur dem Namen nach bekannten Autors oder die Abfassungszeit eines Textes einzugrenzen, lässt sich am Beispiel der Reimpaardichtung Der Kreuziger des Johannes von Frankenstein belegen. 19 Von diesem Passionsgedicht ist ein einziger Überlieferungsträger bekannt, die Wiener Handschrift 2691. Der Verfasser nennt sich zwar namentlich, ist aber urkundlich nicht belegbar. Als Vorlage und Quelle diente ihm eine lateinische, handschriftlich reich überlieferte Passionserzählung, die in einigen Handschriften dem Matthäus von Krakau zugeschrieben wird. Dieser ist erst 1410 verstorben; demnach wäre die Lebenszeit des Johannes von Frankenstein mindestens im späten 14. Jahrhundert anzusetzen. Nun endet die oben erwähnte Wiener Handschrift auf dem letzten Blatt 114v abrupt mit dem gereimten Abfassungsdatum des Autors: zu welicher zeit geschehen dis sei, ich main daz tichten, des wil ich euch verrichten: ez waz in den jaren, di ergangen waren

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19

Dazu vgl. Gerhardt Powitz: Was vermag Paläographie? In: Urkundensprachen im germanisch-romanischen Grenzgebiet. Hrsg. von Kurt Gärtner und Günter Holtus. Mainz 1997 (Trierer historische Forschungen 35), S. 223-251; Johan Peter Gumbert: Writing and dating Some general remarks. In: Scriptorium 54, 2000, S. 5 - 8 . Hedwig Heger: Johannes von Frankenstein. In: 2 VL 4, 1983, Sp. 5 9 6 - 5 9 9 ; Fritz Peter Knapp: Die Literatur in der Zeit der frühen Habsburger bis zum Tod Albrechts II. 1358. Graz 1999 (Geschichte der Literatur in Österreich von den Anfängen bis zur Gegenwart 2,1), S. l l l f .

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nach Christ gepurd besundert tausent und dreu hundert.

Dieser Schluss wirkt in einer sorgfältigen Pergamenthandschrift schon rein optisch unvollständig; auch würde man üblicherweise wenigstens eine Schlussformel, etwa ein Gebet erwarten, das wohl auf einem jetzt verlorenen folgenden Blatt gestanden hätte. Das Datum ist zunächst auf diese Handschrift, nicht auf die Abfassung der Dichtung bezogen worden und als 1300 in den Wiener Katalog der datierten Handschriften eingegangen.20 Doch ist inzwischen aufgefallen, dass weder Schrift noch Buchschmuck zum Jahr 1300 passen. Letzterer wird neuerdings kurz vor die Mitte des 14. Jahrhunderts datiert,21 und auch die Texthand, von der die unvollständige Datierung stammt, ist um die Mitte des 14. Jahrhunderts zu datieren, deutlicher noch die extrem kalligraphische Textura des Textanfangs unter der Autorenminiatur.22 Auffällig sind hier die /-Punkte (Z. 4 mir, Ζ. 11 wil), die erst im zweiten Viertel des 14. Jahrhunderts aufkommen und kaum vor den 40er Jahren im bairisch-österreichischen Raum häufiger werden, aber dann immer noch neben den herkömmlichen Strichen oder Häkchen gebraucht werden (letzte Z. mir). Auch die rechteckigen Umbrechungen von b, d oder ο auf der Zeile (Z. 4 darumb, lone) sind in süddeutschen Schriften noch um die Jahrhundertmitte selten und erscheinen erst gegen Ende des 14. und im frühen 15. Jahrhundert häufig als Merkmal kalligraphischer Schriften. Vor allem das dreibogige ζ (Ζ. 8 daz), das hier einmal neben der gängigen geschwänzten und durchgestrichenen Form erscheint, lässt sich in frühen Beispielen erst kurz vor der Jahrhundertmitte belegen.23 Aus der exakteren Datierung der Schrift des Codex um die Jahrhundertmitte ergibt sich für die Literaturgeschichte zweierlei: dass Johannes von Frankensteins Dichtung nicht nach der Jahrhundertmitte entstanden sein kann, und außerdem, dass Matthäus von Krakau als Verfasser der lateinischen Vorlage entfällt, die zwangsläufig ebenfalls vor der Mitte des 14. Jahrhunderts entstanden sein muss. Für die Entstehungszeit eines undatierten Werks ist der älteste erhaltene Überlieferungsträger ausschlaggebend. Nicht selten haben von solchen frühen Text20

21

22 23

Franz Unterkircher: Die datierten Handschriften der Österreichischen Nationalbibliothek bis zum Jahr 1400. Wien 1969 (Katalog der datierten Handschriften in lateinischer Schrift in Österreich I), S. 55 und Abb. 60; so auch bei Otto Mazal: Beobachtungen zu österreichischen Buchschriften des 14. Jahrhunderts. In: Codices manuscripti 16,9, 1992, S. 1-16, hier S. 6 und Abb. 5. Andreas Fingernagel und Martin Roland: Mitteleuropäische Schulen L (ca. 1250-1350). Wien 1997 (Die illuminierten Handschriften und Inkunabeln der Österreichischen Nationalbibliothek 10). Textband Kat. 140, S. 335f.; Tafelband Abb. 431-433. Bl. Γ , Abb. 431 bei Fingernagel/Roland 1997 (Anm. 21). Ζ. B. in Clm 16021, datiert 1344, einer lateinischen Predigthandschrift aus dem ostbayerischen, eventuell Passauer Raum.

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zeugen nur kleinste Fragmente die Zerstörung überlebt, deren möglichst exakte Datierung von besonderem Gewicht ist. Ein solcher Fall liegt vor für das Reimpaargedicht Von den sieben Tagzeiten der Passion eines nicht eindeutig nachweisbaren Hartwig von dem Hage, der sich im Akrostichon der Einleitung nennt. Als Entstehungszeit galt bisher aus sprachlichen und stilistischen Gründen das späte 13. Jahrhundert, 24 wenn auch die einzige vollständige Überlieferung erst 1348 in der Münchner Handschrift Cgm 717 (Bl. 33 r -49 v ) aufgezeichnet wurde, die als älteste datierte rein deutschsprachige Papierhandschrift bekannt geworden ist;25 sie enthält, in Kanzleikursive geschrieben, eine Sammlung geistlicher und weltlicher Texte in Vers und Prosa in bunter Mischung und stammt der Schreibsprache nach aus dem ostschwäbischen, wohl Augsburger Raum. Zu Cgm 717 und einer stark kürzenden Bearbeitung des Gedichts 26 konnte bei der Erschließung der deutschen Fragmente der Bayerischen Staatsbibliothek ein wesentlich älteres Pergamentbruchstück aus eben dieser Dichtung identifiziert werden, das ihre Entstehung im 13. Jahrhundert bestätigt (Abb. I). 27 Das zu Buchbindezwecken mit Textverlust beschnittene Doppelblatt, das zweitinnere einer Lage, stammt aus einer kleinformatigen Handschrift und ist einspaltig mit je 19 abgesetzten Versen pro Seite beschrieben; die Versanfänge sind nach südwestdeutschem Usus sämtlich mit Majuskeln in eine Zusatzspalte vorgerückt, je ein Reimpaar ist zu Versende mit abwechselnd roten und blauen Zackenlinien zusammengeklammert; 28 der Text wird durch abwechselnd rote und blaue zweizeilige Abschnittsinitialen unterteilt. Der sorgfältigen Ausführung entspricht die gleichmäßige Textualis auf gutem kalligraphischem Niveau. Zu ihrer Datierung fällt ins Gewicht, dass ihr die um die Mitte des 13. Jahrhunderts aufkommenden neuen Schriftmerkmale völlig fehlen: die horizontalen Zierstriche auf benachbarten Oberschäften U, lb ebenso wie jegliche Bogenverbindungen; als herkömmliche ältere Formen sind herauszuheben: das einbogige runde 24

Wolfgang Schmitz: Die Dichtungen des Hartwig von dem Hage. Untersuchungen und Edition. Göppingen 1976 (GAG 193); dazu Rez. von Nigel F. Palmer in: PBB 101, 1979, S. 126-130; Wolfgang Schmitz, Hartwig von dem Hage. In: 2 VL 3, 1981, Sp. 535f.

25

Vgl. Christoph Gerhardt und Nigel F. Palmer: Das Münchner Gedicht von den 15 Zeichen vor dem Jüngsten Gericht. Nach der Handschrift der Bayerischen Staatsbibliothek Cgm 717. Berlin 2002 (Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit 41), zur Handschrift besonders S. 33-50, mit Abb. und weiterer Literatur.

26

Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum Hs. 1740, 40 r -72 r , bairisch, ebenfalls um die Mitte des 14. Jh.s. Cgm 5249/54; vgl. Die deutschen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek München. Die mittelalterlichen Fragmente Cgm 5 2 4 9 - 5 2 5 0 . Beschrieben von Karin Schneider mit vier Beschreibungen von Elisabeth Wunderle. Wiesbaden 2005 (Catalogus V,8), S. 97. Das Fragment enthält die Verse 9 4 1 - 9 7 8 und 1059-1092, davon einige unvollständig.

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Beispiele für diese im 13. und bis um die Mitte des 14. Jh.s nicht seltenen Reimpaarverklammerungen vgl. Karin Schneider: Paläographie und Handschriftenkunde für Germanisten. Tübingen 1999 (Sammlung kurzer Grammatiken germanischer Dialekte, B. Ergänzungsreihe Nr. 8), S. 133f.

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Abb. 1: Hartwig von dem Hage: Die sieben Tagzeiten der Passion. Bayerische Staatsbibliothek München Cgm 5249/54: Ostschwaben, 3. Viertel des 13. Jahrhunderts. l r V. 941-959, 2V V. 1078-1092.

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a, dem der übergreifende Schaft ganz fehlt; der weit unter die Zeile reichende, mit einem Strich nach links unten endende offene g-Unterbogen; das teilweise noch ganz deutlich aus vv zusammengesetzte w; auslautendes e endet in einer hakenförmigen Zunge; ζ hat die im Südwesten übliche Kurzform; auch für die Majuskeln werden noch die älteren einfachen Formen verwendet. Neben üblichem ligiertem ce erscheint einmal die alte de-Ligatur (2r Genade). Es sind dies alles Kriterien, die eine Datierung kaum später als in das dritte Viertel des 13. Jahrhunderts erlauben. Der Schrifttyp ist tatsächlich gut vergleichbar etwa den wohl geringfügig älteren schwäbischen Fragmenten F von Priester Wernhers Maria (Augsburg, SuStB fragm. germ. 9). 29 Die Schreibsprache des Münchner Hartwig-Fragments weist mit völlig fehlender Diphthongierung von ΐ, ü und iu, der Wiedergabe des α-Umlauts als ae, der Diphthonge uo und üe als u, u und vor allem von ou, öu durch αν, άν in den ostschwäbischen Raum. 30 Für die Literaturgeschichte ist aus dem Befund des neuentdeckten Fragments festzuhalten, dass Hartwig von dem Hage das Gedicht wohl kaum lange nach der Mitte des 13. Jahrhunderts verfasste; da die beiden ältesten Überlieferungsträger aus dem ostschwäbischen Raum stammen, scheint auch seine Zugehörigkeit zu einer Familie de Hage aus dem Salzburger Raum 31 zumindestens überprüfenswert. Im allgemeinen ist es unproblematisch, nur das Jahrhundert zu bestimmen, in dem eine Schrift entstanden sein kann; das ist seit den Anfängen der Germanistik und während des ganzen 19. Jahrhunderts meist für ausreichend erachtet worden und hat den Vorteil einer nur sehr geringen Fehlerquote. Der Trend geht aber heute zu einer exakteren Datierung der Überlieferungsträger. Solange eine Schriftart, wie die Textualis des 13. und der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts in den oben besprochenen Beispielen, sich kontinuierlich verändert und weiterentwickelt, ergeben sich aus dieser Weiterbewegung Anhaltspunkte für eine genauere zeitliche Einordnung. Dagegen ist es schwierig bis ζ. T. unmöglich, manche Schriftarten in ihren Endphasen auf paläographischem Weg zu datieren, wenn die Entwicklung ihren Höhepunkt überschritten hat und stagniert, wenn die Schrift zu einer erlernbaren, konservativen Kalligraphie geworden ist. Sie enthält dann kaum mehr neue, für die Datierung relevante Merkmale, sondern ihre Schreiber schöpfen je nach Gewohnheit, Vorliebe oder auch beeinflusst durch ihre Vorlage aus einem Fundus vorhandener Formen, die schon lange Zeit in Gebrauch waren. Die Schwierigkeit genauerer Einordnung gilt vor allem für die Textura auf hohem kalligraphischem Niveau seit etwa der Mitte des 14. und bis 29

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Karin Schneider: Gotische Schriften in deutscher Sprache. I. Vom späten 12. Jahrhundert bis um 1300. Wiesbaden 1987, S. 186-188 und Abb. 108. Zur Schreibung au, au für ou vgl. Bruno Boesch: Untersuchungen zur alemannischen Urkundensprache im 13. Jahrhundert. Bem 1946, S. 116; Wolfgang Kleiber, Konrad Kunze und Heinrich Löffler: Historischer südwestdeutscher Sprachatlas. Bern, München 1979, Textband S. 167, Atlas Karte 75. So bei Schmitz 1981 (Anm. 24), Sp. 535.

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weit ins 15. Jahrhundert hinein, und zwar in Pergamenthandschriften, während Papiercodices über ihre Wasserzeichen meist recht exakt datierbar sind. So wie in diesen Fällen ein kodikologisches Element weiterhelfen kann, ist es sinnvoll, für die auf paläographischem Weg allein nicht datierbaren Codices die Verbindung zu anderen Disziplinen zu suchen. Der Kunsthistoriker kommt bei der zeitlichen Einordnung des handschriftlichen Buchschmucks in vielen Fällen zu sehr viel genaueren Ergebnissen als der Paläograph, zudem ist ihm über stilistische Vergleiche häufig die Lokalisierung möglich. Derzeit werden große Bestände illuminierter Handschriften in kunsthistorischen Spezialkatalogen erschlossen, sowohl einzelner Sammlungen ζ. B. in Wien, München, Berlin wie auch im ,Katalog der deutschsprachigen illustrierten Handschriften des Mittelalters', 32 der nach Stoffgruppen vorgeht. Vielfach wird in solchen Spezialkatalogen allerdings der Buchschmuck einer Handschrift zwar in Verbindung mit ihrem Text, aber ganz isoliert von ihrer Schrift behandelt;33 ideal wären interdisziplinäre Arbeiten, wie sie ζ. B. in Kommentaren zu Faksimile-Editionen üblich geworden sind, in denen Spezialisten verschiedener Disziplinen sämtliche Aspekte eines Codex berücksichtigen. Den Nutzen, den eine solche Zusammenarbeit bringen kann, demonstriert das folgende Beispiel. Es geht um eine süddeutsche Handschriftenproduktionsstätte der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts, die offenbar auf die Herstellung deutschsprachiger, meist illuminierter gereimter Weltchroniken spezialisiert war. Die dort kopierten Texte, häufig Kompilationen aus unterschiedlichen Weltchroniken, sind bereits identifiziert und in ihrer Überlieferung dargestellt worden; 34 ihr Buchschmuck ist als zusammengehörig erkannt und verschiedenen Buchmalern ein und desselben Ateliers zugeordnet worden, die zwischen 1360 und 1380 im bairisch-österreichischen Raum tätig waren. 35 Bei der Spezialisierung auf Text einerseits und Buchschmuck andererseits fehlt allerdings in dieser Literatur die Feststellung und der Vergleich der Schreiberhände, und es ist nicht beachtet worden, dass in mindestens drei dieser Chronikhandschriften der gleiche Schreiber tätig war, entweder allein oder in Zusammenarbeit mit anderen: in einer Weltchronikkompilation aus Christherre-Chronik und Jans Enikel,

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33 34 35

Begonnen von Hella Frühmorgen-Voss, fortgeführt von Norbert H. Ott, hrsg. von der Kommission für Deutsche Literatur des Mittelalters der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. München 1986ff. Vgl. dazu Michael 2002 (Anm. 9), S. 46 und 50. Ralf Plate: Die Überlieferung der Christherre-Chronik. Diss, (masch.) Trier 1996. Jöm-Uwe Günther: Die illustrierten mittelhochdeutschen Weltchronikhandschriften in Versen. München 1993 (Tuduv-Studien, Reihe Kunstgeschichte, Bd. 48); Martin Roland: Illustrierte Weltchroniken bis in die zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts. Diss. Wien 1992; ders. in: Mitteleuropäische Schulen II (ca. 1350-1410). Wien 2002 (Die illuminierten Handschriften und Inkunabeln der Österreichischen Nationalbibliothek 11), zu Katalognr. 20.

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Cgm 5;36 in einer Weltchronik des Heinrich von München mit Partien aus der Christherre-Chronik, New York, Pierpont Morgan Library Cod. 769;37 ganz von seiner Hand stammt die Weltchronik des Jans Enikel in Regensburg, Fürst Thum und Taxis Hofbibliothek Ms. perg. ΠΙ.38 In der sehr sorgfältigen, völlig gleichmäßigen und schwer genau datierbaren Textualis des professionellen Schreibers fallen einige charakteristische und individuelle Buchstabenformen auf, vor allem ein extrem kurzes, in die Mittelzone integriertes g und ein eigentümlich geformtes anlautendes z, das mit doppelt geschwungenem Ansatz beginnt und ebenfalls kurz und rund auf die Zeile hochgezogen ist. Der Hand dieses gleichen Schreibers konnten nun in der Bayerischen Staatsbibliothek fragmentarische Blätter zugeordnet werden, die aus einem großformatigen Pergamentcodex des Oberbayerischen Landrechts und des Münchner Stadtrechts stammen,39 und zwar sind hier die Nachtragsartikel zum Stadtrecht überliefert, die ihm erst im Jahr 1365 zugefügt wurden.40 Daraus ist zwar nicht zwingend zu schließen, dass der Schreiber oder die Buchmalerwerkstatt im Raum München ansässig gewesen wäre; auch der Auftraggeber dieser wertvollen und aufwendigen Pergamenthandschrift ist nicht unbedingt nach München zu lokalisieren, jedenfalls aber in den südbayerischen Raum,41 und für die schwierig einzuschätzende Schrift ergibt sich mit dem Terminus ante quem non 1365 des Stadtrechtsfragments ein Anhaltspunkt, der gleichzeitig den kunsthistorischen Ansatz für die Weltchroniken ,um 1360-1380' bestätigt. Auch die Archivalienkunde hält wertvolles Vergleichsmaterial zur Datierung spätmittelalterlicher literarischer Handschriften bereit. Von der Sprachgeschichte wird solches präzise datiertes und lokalisiertes Quellenmaterial schon des län-

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Roland 1992 (Anm. 35), S. 82ff.; Günther 1993 (Anm. 35), S. 209-219; Roland 2002 (Anm. 35), S. 106-108, Fig. 29, 33, 34; Abb. in: Deutsche Weltchroniken des Mittelalters. München 1996 (Ausstellungskatalog Bayerische Staatsbibliothek München, Schatzkammer), Nr. 9. Günther 1993 (Anm. 35), S. 277-285; Roland 2002 (Anm. 35), S. 106. Günther 1993 (Anm. 35), S. 315-323; Roland 2002 (Anm. 35), S. 106, Fig. 28, 32, 36. Cgm 5250/37a (Oberbayerisches Landrecht) und Cgm 5250/38 (Münchner Stadtrecht). Vgl. Ulrich-Dieter Oppitz: Deutsche Rechtsbücher des Mittelalters. Band III/2: Abbildungen der Fragmente. Köln, Wien 1992, Hs. 1098a, S. 1694-1697 (Abb. von Bl. l r - 2 v ) . Pius Dirr: Denkmäler des Münchner Stadtrechtes I. München 1934 (Bayerische Rechtsquellen 1), S. 93*f. Das Münchner Stadtrecht galt zunächst nur als Münchner Sonderrecht, später aber auch in einigen anderen bayerischen (Landsberg, Ingolstadt, Aibling, Wasserburg) und Tiroler Orten (Kufstein, Kitzbühel), vgl. Dirr 1934 (Anm. 40), S. 92*. Wesentlich einfacher als das fragmentarisch erhaltene Stadtrecht wirkt das offizielle städtische Exemplar (München, StA, ,Liber rufus') in einfacher älterer Kursive, 1365 von der Hand des Münchner Gerichtsschreibers Perbinus Taentzel, vgl. Dirr 1934 (Anm. 40), S. 96* und Tafel 7.

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geren ausgeschöpft, 42 und dass Verwaltungsschrifttum von den gleichen Schreibern angefertigt wurde wie literarische Handschriften, konnte ζ. B. vor einigen Jahren Rudolf Gamper nachweisen mit der Entdeckung, dass einer der Schreiber der Manessischen Liederhandschrift auch den Zürcher Richtebrief, eine städtische Gesetzsammlung von 1301/04, kopiert hatte. 43 Archivalien in Buchform aus dem 14. und 15. Jahrhundert, Urbare, Kopialbücher, Register aller Art haben meist den unschätzbaren Vorteil exakter Datierung und Lokalisierung; und sie haben, wenn sie für hochgestellte Auftraggeber verfertigt worden sind, den Rang kostbarer Zimelien. Es sind für paläographische Forschungen, die auch für die Literaturgeschichte Erkenntnisse bringen können, noch relativ selten genutzte, weil außerhalb der historischen Forschung oft wenig bekannte Quellen, deren Schreiber und Buchmaler durchaus auch in der literarischen Buchproduktion tätig waren. Das trifft ζ. B. für die Ottheinrichbibel zu, ein reich illuminiertes deutsches Neues Testament, das in der Qualität seiner Ausführung der viel bekannteren und um etwa 30 Jahre älteren, vor 1402 entstandenen Wenzelsbibel des Alten Testaments vergleichbar ist. Der Text der Ottheinrichbibel ist in einer späten Textura aufgezeichnet, die zu reiner rückwärts gewandter Kalligraphie erstarrt und daher schwer datierbar ist. Ihren Namen hat die Prachthandschrift von ihrem späteren Besitzer, dem bekannten bibliophilen Pfalzgrafen Ottheinrich, der ihren unvollständig gebliebenen Buchschmuck im Stil seiner Zeit vollenden ließ. Ein erster Teil des heute in acht Teilbände zerlegten Riesencodex 44 erschien kürzlich als Faksimile, und im Kommentarband 45 konnten in kunsthistorischer, kodikologischer und germanistischer Zusammenarbeit viele der bisher ungeklärten Fragen zu Alter und Provenienz der Handschrift zum größten Teil beantwortet werden. Der ursprüngliche Buchschmuck ist mehreren eng voneinander abhängigen Meistern einer Regensburger Künstlergruppe um 1430/35 zuzuschreiben; der Bibeltext gründet auf einer viel älteren Bibelverdeutschung, der ,Augsburger Bibel', die nur in dieser Handschrift in einer neuen eigenen Bearbeitung vorliegt; 42

43

44

45

So basiert der Historische südwestdeutsche Sprachatlas (Anm. 30) auf Urbaren; vgl. Jan W. J. Burgers: Aspekte der diplomatischen Methode. In: Skripta, Schreiblandschaften und Standardisierungstendenzen. Urkundensprachen im Grenzbereich von Germania und Romania im 13. und 14. Jahrhundert. Hrsg. von Kurt Gärtner u. a. Trier 2001 (Trierer historische Forschungen 47), S. 9 - 3 6 . Rudolf Gamper: Der Zürcher Richtebrief von 1301/1304. Eine Abschrift im Auftrag von Rüdiger Manesse. In: Zentralbibliothek Zürich. Alte und neue Schätze. Hrsg. von Alfred Cattani u. a. Zürich 1993, S. 18-21, 147-151 mit Abbildungen. Cgm 8 0 1 0 / 1 - 2 der Bayerischen Staatsbibliothek München, enthaltend Matthäus 1,1 - Lukas 5,26; Faksimile Luzern 2002. Band 7: Cgm 8010/7; die Bände 3 - 6 und 8 heute in Heidelberg, Kurpfälzisches Museum Hs. 2 8 / 3 - 6 und 8. Die Ottheinrich-Bibel. Kommentar zur Faksimile-Ausgabe der Handschrift Cgm 8010/1.2 der Bayerischen Staatsbibliothek München. Mit Beiträgen von Brigitte Gullath, Jeffrey Hamburger, Karin Schneider, Robert Suckale. Luzern 2002.

Paläographie

und Kodikologie

als Eingang zur Literatur

des

Mittelalters

33

als Auftraggeber des Codex gewann Herzog Ludwig VII. ,der Bärtige' von Bayern-Ingolstadt an Wahrscheinlichkeit. Doch ist die eigentliche eindeutige Zuordnung der Bibel an den Hof dieses Fürsten erst nach Erscheinen des Faksimiles dem Ingolstädter Historiker Theodor Straub gelungen, der den Schreiber der Bibel im Ingolstädter Schenkungskopialbuch Ludwigs VII. v. J. 1438 wiedererkannte, 46 einem mit kunstvollen Initialen ausgestatteten großformatigen Archivale auf Pergament; 47 und es ist zu hoffen, dass sich anhand des Ingolstädter Archivs noch mehr zu dem hervorragenden Kalligraphen eruieren lässt, der vermutlich in herzoglichen Diensten stand und demnach sowohl archivalische als literarische deutsche Prachthandschriften für seinen Auftraggeber schrieb. 48 Die Entstehung der kostbaren Bibelhandschrift als herzogliche Auftragsarbeit lässt eventuell auch Rückschlüsse auf die Redaktion der hier vorliegenden Bibelübersetzung zu. Mit solchen Rückführungen von bisher isoliert gesehenen Handschriften in ihre Entstehungszeit und ihr ursprüngliches Umfeld auf dem Weg über ihre Schrift stehen wir wohl erst am Anfang. Auch wenn man den enormen Prozentsatz heute verlorener mittelalterlicher Handschriften berücksichtigt 49 und die durch fehlende Zwischenglieder riesigen Lücken einkalkuliert, dürfte es doch in Zukunft mit fortschreitender Forschung und zunehmend leichter zugänglichem Vergleichsmaterial häufiger möglich werden, zahlreiche Codices an ihren ursprünglichen Platz in Zeit, Raum und Zusammenhang wieder zurückzuführen, wo sie seinerzeit entstanden sind. Auf der Basis gesicherter Erkenntnisse über die Entstehung einzelner Überlieferungsträger wird sich damit auch in noch ungeklärte Fragen der Literaturwissenschaft mehr Licht bringen lassen.

46 47

48

49

Mündliche Mitteilung an die Handschriftenabteilung der Bayerischen Staatsbibliothek. Theodor Straub: Die Hausstiftung der Wittelsbacher in Ingolstadt. In: Sammelblatt des Historischen Vereins Ingolstadt 87, 1978, S. 2 0 - 4 4 ; ders.: Herzog Ludwig der Bärtige. In: Bayern-Ingolstadt, Bayern-Landshut 1 3 9 2 - 1 5 0 6 . Glanz und Elend einer Teilung. Ausstellungskatalog. Ingolstadt 1992, S. 2 7 - 4 0 , stark verkleinerte Teilabb. S. 295, Kat. Nr. 69; zu Herzog Ludwig dem Bärtigen mit weiterer Literatur vgl. auch Werner Paravicini: Deutsche Adelskultur und der Westen im späten Mittelalter. Eine Spurensuche am Beispiel der Wittelsbacher. In: Deutschland und der Westen Europas im Mittelalter. Hrsg. von Joachim Ehlers. Stuttgart 2002 (Vorträge und Forschungen, hrsg. v o m Konstanzer Arbeitskreis für mittelalterliche Geschichte, Bd. 56), S. 4 5 7 - 5 0 6 , hier ab S. 477. Von seiner Hand stammt auch eine illuminierte Armenbibel und ein deutscher Psalter, Heidelberg, U B cpg 148, wohl ebenfalls für den Herzog und vielleicht als Ergänzung zum Neuen Testament hergestellt. Zu den unterschiedlichen Berechnungen der mutmaßlichen Verluste mittelalterlicher Handschriften vgl. U w e Neddermeyer: Von der Handschrift zum gedruckten Buch. Schriftlichkeit und Leseinteresse im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Wiesbaden 1998 (Buchwissenschaftliche Beiträge aus dem Deutschen Bucharchiv München, Bd. 61), Textband S. 7 2 - 8 5 .

Hans-Jochen

Schiewer

Fassung, Bearbeitung, Version und Edition

Die Edition

- Königsweg

der Philologie?

D i e s e n Titel w ä h l t e Karl S t a c k m a n n

für sein Grundsatzreferat a u f der l e g e n d ä r e n ' B a m b e r g e r E d i t o r e n t a g u n g 1 9 9 1 . 1 Er e r ö f f n e t e d a m i t als e i n e r der ersten d i e A u s e i n a n d e r s e t z u n g m i t d e r s o g e n a n n ten , N e w P h i l o l o g y ' , d i e s i c h mit d e m b e r ü h m t e n Speculum-Heft

d e s Jahres

1 9 9 0 ihre e i g e n e P r o g r a m m s c h r i f t g e g e b e n hatte und i m R ü c k b e z u g auf Cerq u i g l i n i s Eloge

de la Variante

( 1 9 8 9 ) mittelalterliche Literatur als e i n e n unabläs-

s i g e n P r o z e s s der a u t o r u n a b h ä n g i g e n W i e d e r - und N e u v e r s c h r i f t l i c h u n g

ver-

steht. 2 D i e R o l l e d e s A u t o r s u n d der Status der v o r m o d e r n e n Textualität rückten d a m i t e r s t m a l s ins Z e n t r u m e i n e r t h e o r i e g e l e i t e t e n D e b a t t e , d i e s i c h m i t e i n e r a n t h r o p o l o g i s c h e n b z w . k u l t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e n A u s r i c h t u n g der g e r m a n i s t i s c h e n M e d i ä v i s t i k überschnitt und verband. 3 Z u g l e i c h s a h e n s i c h d i e Vertreter der E d i t i o n s w i s s e n s c h a f t und der p r a x i s n a h e n , aber t h e o r i e f e r n e n ü b e r l i e f e r u n g s g e s c h i c h t l i c h e n M e t h o d e in der D e f e n s i v e , 4 nicht v o l l k o m m e n zu U n r e c h t , d e n n 1

2

3

4

Karl Stackmann: Die Edition - Königsweg der Philologie? In: Methoden und Probleme der Edition mittelalterlicher deutscher Texte. Bamberger Fachtagung 26.-29. Juni 1991. Plenumsreferate. Hrsg. von Rolf Bergmann und Kurt Gärtner. Tübingen 1993 (Beihefte zu editio 4), S. 1-18. Speculum 65, 1990, S. 1-108; Stackmann 1993 (Anm. 1), S. 5-13; Freimut Löser: Postmodernes Mittelalter? ,New Philology' und ,Überlieferungsgeschichte'. In: Kulturen des Manuskriptzeitalters. Ergebnisse der Amerikanisch-Deutschen Arbeitstagung an der GeorgAugust-Universität Göttingen vom 17. bis 19. Oktober 2002. Hrsg. von Arthur Groos und Hans-Jochen Schiewer. Göttingen 2004 (Transatlantische Studien zu Mittelalter und Früher Neuzeit 1), S. 215-236. Stellvertretend verweise ich auf Christian Kiening: Zwischen Körper und Schrift. Texte vor dem Zeitalter der Literatur. Frankfurt/M. 2003 (Fischer Taschenbuch 15951), insbes. S. 7-31; Jan-Dirk Müller: Neue Altgermanistik. In: Jahrbuch der deutschen Schiller-Gesellschaft 39, 1995, S. 445-453; ders.: Aufführung - Autor - Werk. Zu einigen blinden Stellen gegenwärtiger Diskussion. In: Mittelalterliche Literatur und Kunst im Spannungsfeld von Hof und Kloster. Ergebnisse der Berliner Tagung, 9.-11. Oktober 1997. Hrsg. von Nigel F. Palmer und Hans-Jochen Schiewer. Tübingen 1999, S. 149-166; Peter Strohschneider: Textualität der mittelalterlichen Literatur: Eine Problemskizze am Beispiel des .Wartburgkrieges'. In: Mittelalter. Hrsg. von Jan-Dirk Müller und Horst Wenzel. Stuttgart 1999, S. 19-41, insbes. S. 40f. Eine erste Bilanz bietet der Sammelband Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 11001450. Hrsg. von Ursula Peters. Stuttgart, Weimar 2001 (Germanistische Symposien Berichtsbände 22), vgl. dazu die Renzension von Burkhard Hasebrink. In: Arbitrium 22, 2004, S. 9-16. Werner Williams-Krapp: Die überlieferungsgeschichtliche Methode. In: IASL 25, 2000, S. 1-21.

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die fundamentalen Ergebnisse und Konsequenzen für den mittelalterlichen Literaturbegriff und für das Verständnis mittelalterlicher Textualität, die diese Forschungsrichtung hervorgebracht hat, wurden von der romanischen und angelsächsischen Forschung kaum zur Kenntnis genommen. Anders im deutschsprachigen Raum: Joachim Bumke nutzte beide Ansätze, um zu zeigen, dass auch der Textstatus beim höfischen Roman und der Heldenepik (Nibelungenlied) prekär ist und gleichwertige Fassungen eines Textes sowie Bearbeitungen nebeneinander stehen und den hermeneutischen Wert der verfügbaren Klassiker-Editionen relativieren.5 Entscheidendes Ergebnis der zum Teil aufgeregten Debatten ist, dass nun sehr bewusst theoriegeleitet und auf breiter Front an einer Beschreibung des Status vor- und frühmoderner Textualität gearbeitet wird.6 In diesem Beitrag geht es nun um eine Schärfung des terminologischen Instrumentariums und verbunden damit um die Diskussion von Parametern, die uns jenseits einer autorbezogenen und rekonstruierenden Editionspraxis Argumente liefern, um die überlieferungsgeschichtliche Gleichwertigkeit und literaturwissenschaftliche Relevanz bestimmter Textzustände zu begründen. Meine Ausführungen sind der skizzierten Debatte in vielfältiger Weise verpflichtet, ohne dass ich im Einzelfall filigrane Nachweisketten konstruiere. Ich konzentriere mich auf den Bereich der höfischen Epik. Die notwendige Relationierung, Problematisierung, Differenzierung im gesamten Spektrum der volkssprachlichen Textsorten kann nicht Gegenstand dieses Diskussionsbeitrags sein. Einleitend werde ich mich mit der Bedeutung von Textgeschichte und Stemma bei der Definition von ,Fassung' und .Bearbeitung' beschäftigen. Ein knapper Exkurs zum auktorialen Selbstverständnis der Autoren höfischer Epik soll die methodischen Einsichten am Material absichern. Als Fallbeispiel nutze ich dann die Werke Hartmanns von Aue, allen voran den Armen Heinrich.

5

6

Joachim Bumke: Der unfeste Text. Überlegungen zur Überlieferungsgeschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert. In: .Aufführung' und .Schrift' im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Jan-Dirk Müller. Stuttgart, Weimar 1996 (Germanistische Symposien Berichtsbände 17), S. 118-129; ders.: Die vier Fassungen der .Nibelungenklage'. Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert. Berlin, New York 1996 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 8). Ich verweise beispielhaft auf das Internationale Doktorandenkolleg (IDK) der LudwigMaximilians-Universität München im Elitenetzwerk Bayern „Textualität in der Vormoderne" und die Göttinger Forschernachwuchsgruppe „Stimme - Zeichen - Schrift in Mittelalter und Früher Neuzeit" unter der Leitung von Albrecht Hausmann.

Fassung, Bearbeitung, Version und Edition

37

Fassung, Bearbeitung, Version und Werk Bodo Plachta definiert im Reallexikon Fassungen als „Vollendete oder nicht vollendete Ausführungen eines (Kunst-)Werks, die voneinander abweichen". 7 Selbstdefinierte Aufgabe des Reallexikons ist es, „einen historisch gestützten Gebrauchsvorschlag dafür" zu geben, „mit welchen begrifflichen Merkmalen und mit welchem Begriffsumfang der betreffende Terminus in der gegenwärtigen Literaturwissenschaft sinnvollerweise zu verwenden ist und wie er sich ggf. zu seinem terminologischen Feld verhält". 8 Die Definition Plachtas enthält zu diesem Zweck einen weiteren fachsprachlichen Begriff, nämlich den Terminus ,Werk\ der zur .Fassung' die übergeordnete Kategorie bildet: (Text-)Fassungen sind unterschiedliche Ausführungen eines insgesamt als identisch wahrgenommenen Werks. Sie können auf den Autor, aber auch auf fremde Personen zurückgehen. Fassungen können sich voneinander durch Wortlaut, Form und Intention unterscheiden. Sie sind durch partielle ,Textidentität' aufeinander beziehbar und durch ,Textvarianz' voneinander unterschieden. 9

Plachta argumentiert auf der Basis eines dynamischen Werkbegriffs, der polyphon ist und unter dem Oberbegriff eine Vielzahl konkreter, autorisierter und unautorisierter Texte zulässt und der aus der Perspektive des vor- und frühmodernen Literaturbetriebs angemessen zu sein scheint. Deduktiv auf die profane Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts gewendet, werden wir mit dem bekannten und jüngst viel diskutierten Tableau von Problemen und Fragen konfrontiert: Wie sieht ein historisch determinierter Werk- und Autorbegriff aus, wie verhält sich der Text- zum Werkbegriff, welche Relationen werden für das Verhältnis Autor und Text/Werk zugrundegelegt? Die klassische Textkritik für den Bereich Antike/Mittelalter musste von der Prämisse ausgehen, dass der Ausgangspunkt der Überlieferung e i η weitgehend fehlerfreies Original war, da sonst die stemmatologische Textkonstitution bei kopialer Überlieferung nicht funktioniert. Die Diskussionen um den Wert dieses editorischen Modells und dessen notwendige Modifikation werden seit Stackmanns Aufsatz .Mittelalterliche Texte als Aufgabe' aus dem Jahre 1964 mit unterschiedlicher Intensität geführt. 10 Mit der monumentalen ,Streitvorlage' von Joachim Bumke im Jahre 1996, seinem Buch über ,Die vier Fassungen der Nibelungenklage', trat die terminologische Debatte in ein entscheidendes Stadi7

8 9 10

Bodo Plachta: Fassung. In: Reallexikon der Deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Hrsg. von Klaus Weimar. Bd. 1. Berlin, New York 1997, S. 567. Ebd., S. VIII. Ebd., S. 567. Karl Stackmann: Mittelalterliche Texte als Aufgabe (1964). In: K. St.: Mittelalterliche Texte als Aufgabe. Kleine Schriften I. Hrsg. von Jens Haustein. Göttingen 1997, S. 1-25.

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um ein." Plachta (Reallexikon) und Bumke blieben aufgrund der Koinzidenz der Erscheinungsdaten voneinander unbeeinflusst, aber die Begriffe .Fassung' und .Bearbeitung' dürften eigentlich seither nicht mehr unbedacht benutzt werden; sie haben endgültig ihre Unschuld verloren. Spätestens seit 1996 sind aus .weichen' .harte' Begriffe geworden, über deren Bedeutung und Nutzen bei Verwendung jeder Rechenschaft abzulegen hat. Im Kern geht es dabei um die Prämissen editorischen und literaturwissenschaftlichen Arbeitens, um den Wert stemmatologischer Beobachtungen und den Status von Texten in der Vormoderne. Zur Erinnerung gebe ich die Definition von .Fassung'/,Bearbeitung' nach Bumke: Von Fassungen spreche ich, wenn 1. ein Epos in mehreren V e r s i o n e n vorliegt, die in solchem Ausmaß w ö r t l i c h übereinstimmen, daß man von ein und demselben Werk sprechen kann, die sich jedoch im Textbestand und/oder in der Textfolge und/oder in den Formulierungen so stark unterscheiden, daß die Unterschiede nicht zufällig entstanden sein können, vielmehr in ihnen ein unterschiedlicher Formulierungs- und Gestaltungwille sichtbar wird; und wenn 2. das Verhältnis, in dem diese V e r s i o n e n zueinander stehen, sich einer stemmatologischen Bestimmung widersetzt, also kein Abhängigkeitsverhältnis im Sinne der klassischen Textkritik vorliegt, womit zugleich ausgeschlossen wird, daß die eine V e r s i o n als B e a r b e i t u n g der anderen definiert werden kann; vielmehr muß aus dem Überlieferungsbefund zu erkennen sein, daß es sich um „gleichwertige P a r a l l e l v e r s i o n e n " handelt. (Hervorhebungen vom Verf.)12 Unter einer B e a r b e i t u n g verstehe ich eine Textfassung, die eine andere Version desselben Textes voraussetzt und sich diesem gegenüber d e u t l i c h a l s s e k u n d ä r zu erkennen gibt. (Hervorhebungen vom Verf.)13

,Version' ist der Oberbegriff für .Fassung' und .Bearbeitung'. Bumke argumentiert auf einer stemmatologischen Grundlage - siehe das gesperrte . u n d ' - , so dass es im eigentlichen Sinne nicht um ,Fassungen' geht, sondern um .Parallelfassungen', d. h. stemmatologisch gleichwertige Fassungen und Sekundärfassungen (= Bearbeitungen). Die Argumentationsrichtung bleibt dabei vertikal, denn die so definierten .Fassungen' werden mit „Handschriftenklassen" gleichgesetzt, deren Verhältnis zum Archetypus/Original „nicht genau bestimmt werden kann". 14 Fassungskonstituierende Varianz zeichnet sich durch „Merkmale der Originalität" aus, 15 obwohl die .Fassung' nicht an den Autor gebunden bleibt. 16

11 12 13 14 15 16

Bumke 1996 (Anm. 5). Ebd., S. 32. Ebd., S. 45. Ebd., S. 31. Ebd., S. 46. Ebd., S. 45.

Fassung, Bearbeitung,

Version und Edition

39

Daraus ergeben sich Konsequenzen: (1.) Das intuitive Argument, dass etwas ζ. B. hartmannisch oder nicht hartmannisch sei, verliert damit jede Relevanz. So lange eine Lesart aus sprachlichen, lexikalischen und reimgrammatischen Gründen als gleichwertig angesehen werden kann, hat sie zu gelten. (2.) Bumke hält am punktuellen Ausgangspunkt der Überlieferung fest, d. h. jede Fassung geht schon auf eine andere Version zurück, sozusagen einen ,Muttertext', der Ausgangspunkt aller Überlieferung ist (ζ. B. das „Passauer" Nibelungenlied - „textgeschichtlich die unsicherste Größe"). 17 Da aber die Pluralität der mit Mitteln der klassischen Textkritik erstellten bzw. erstellbaren Fassungen nicht mehr hintergehbar ist, ergibt sich der Zwang, mit koexistierenden Parallelfassungen zu arbeiten. Die entscheidende Differenz zwischen Fassung und Bearbeitung ist damit die Möglichkeit, eine vorausgehende Version stemmatologisch nicht nur anzusetzen, sondern auch rekonstruieren zu können. Systematisch geht aber auch die Fassung stets auf eine vorgängige Version zurück, nur fehlt uns für die mittelalterliche Literatur aufgrund mangelnder überlieferungsgeschichtlicher, performativer und biographischer Daten und Dokumente die Möglichkeit, diesen Teil der Werkgeschichte auf einem Zeitpfeil abzubilden und zu bewerten, d. h. wir können in aller Regel weder „die Genese eines Textes von den einzelnen Vorstufen bis zu dem vom Autor als endgültig deklarierten Text" noch die autorunabhängige Entstehung von Fassungen verfolgen. 1 8 Die Plausibilisierung dieses Modells erfolgt durch Spezifika des mittelalterlichen Literaturbetriebs, die das stemmatologische Konzept stören. Die performanzbedingten Gegebenheiten des säkularen mittelalterlichen Literaturbetriebs setzen stemmatologische Argumente außer Kraft, weil wir mit auktorialen, semiauktorialen bzw. redaktionellen Textänderungen rechnen müssen, die nicht ausschließlich und lückenlos auf kontinuierlicher Schriftlichkeit und Vertikalität beruhen müssen. Auf einer auktorialen bzw. semiauktorialen horizontalen Ebene entstehen Parallelfassungen, deren editorische Relevanz und werkgeschichtliche Bedeutung dann auch zu einer Aufgabe literatur- und nicht nur editionswissenschaftlicher Arbeit werden. 19 Allerdings führt das Festhalten Bumkes am stemmatologischen, d. h. vertikalen Prinzip zu einer labilen Gleich17 18

19

Ebd., S. 5 6 0 - 5 6 7 , Zitat S. 561. Kurt Gärtner: Stemma. In: Reallexikon der Deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Hrsg. von Klaus Weimar. Bd. 3. Berlin, New York 2003, S. 5 0 6 f „ hier S. 506. Joachim Heinzle (Zur Logik mediävistischer Editionen. Einige Grundbegriffe. In: editio 17, 2003, S. 1 - 1 5 ) spricht in diesem Zusammenhang von „diskursiver Varianz" (S. 1 2 - 1 5 ) und betont als Konsequenz zu recht: „Edieren heißt interpretieren" (S. 15). In Auseinandersetzung mit Bumke schlägt Albrecht Hausmann (Mittelalterliche Überlieferung als Interpretationsaufgabe. ,Laudines Kniefall' und das Problem des .ganzen Textes'. In: Peters 2001 [Anm. 3], S. 7 2 - 9 5 ) am Beispiel von Hartmanns ,Iwein' vor, einen „Kerntextbestand" zu definieren, der Ausgangspunkt der Interpretation ist, die dann unter Heranziehung der Fassungsvarianz zu modifizieren wäre (S. 8 6 - 9 3 ) .

40

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Schiewer

Wertigkeit der Fassungen. Der überlieferungsgeschichtliche Zufall entscheidet über den Status: Ein neuer Handschriftenfund kann morgen aus der Fassung von heute eine Bearbeitung machen. Diese Situation ist unbefriedigend, denn die einmal erkannte Gleichwertigkeit einer Fassung sollte in ihrer textlichen Relevanz nicht vom überlieferungsgeschichtlichen Zufall abhängen. Deshalb darf das Kriterium der Gleichwertigkeit nicht zusätzlich zum „Formulierungs- und Gestaltungswille[n]" stemmatisch begründet werden, wenn wir die Autorbindung der Fassungen mit Bumke und Plachta aufgeben und - zumindest für die mittelalterlichen Verhältnisse - nur noch als formales Kriterium der textimmanenten Zuweisung gelten lassen (ζ. B. Autornennung im Text), auch wenn Dritte am Werk weitergearbeitet haben. Ich plädiere daher zur Konstituierung einer stabilen Gleichwertigkeit für die Einführung neuer Parameter zur Bewertung der editorischen und literaturgeschichtlichen bzw. -wissenschaftlichen Bedeutung der überlieferten Versionen eines Textes. Diese Parameter nenne ich ,überlieferungsgeschichtliche und literaturgeschichtliche Relevanz', 20 d. h. es werden ein quantitativer und ein qualitativer Parameter eingeführt, die es erlauben, die literarische Bedeutung eines vormodernen Textes von den Parametern ,Original/Archetypus' und ,Autor/Autorisierung' abzukoppeln, ohne diese Parameter prinzipiell für die Argumentation aufzugeben. Systematisch ergibt sich daraus die Notwendigkeit, die wertende bzw. hierarchisierende Kategorisierung ,(Parallel-)Fassung' versus Bearbeitung' aufzugeben und stets nur noch von Fassungen zu sprechen. Das editorische und literaturwissenschaftliche Interesse hat sich dann auf die je anderen Kohärenzstrukturen der Fassungstexte zu konzentrieren, die aus der Summe der fassungskonstituierenden Varianten entsteht. Zugleich stellt sich die Frage, ob es dabei stets notwendig ist, die Summe der Fassungsvarianz zu dokumentieren, denn eine linguistische und an traditionellen Methoden der Textkritik orientierte quantitative Beschreibung der Varianz zwischen Texten reicht allein nicht aus, um die je eigenen semantischen Relationen einer Fassung, d. h. deren Neufokussierung oder Fokusverschiebung auf der Ebene der Textkohärenz zu erfassen (semantische, kulturelle, literarische ,Frames'). 21 Dazu bedarf es eines hermeneutischen Sprungs, denn auch Fassungen sind nicht in ihrer Genese 20

21

Albrecht Hausmann (Reinmar der Alte als Autor. Untersuchungen zur Überlieferung und zur programmatischen Identität. Tübingen, Basel 1999, S. 36-39) arbeitet mit dem Parameter .historische Relevanz'. Meine Parameter will ich nicht im Sinne Hausmanns verstanden wissen, der .historische Relevanz' einerseits an einen quantitativen Aspekt der Überlieferung und andererseits an ein textanalytisch gebundenes Werk- und damit Autorprofil bindet, das dann wieder mit der Bezeugungsdichte korreliert wird. Bumke 1996 (Anm. 5), S. 397-455 entwirft ein „Modell für die Beschreibung variierender Epenüberlieferung" anhand der AVage-Fassungen *B und *C, das in seiner Systematik und Vollständigkeit beeindruckt, aber den quantitativ-ganzheitlichen Aspekt in den Mittelpunkt rückt, ohne zu einer qualitativen Aussage zu kommen.

Fassung, Bearbeitung,

Version und Edition

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beobachtbar und als ,Original/Archetypus' überliefert. Wir müssen daher nach einem Maßstab für die Beurteilung von fassungskonstituierenden Merkmalen auf der Ebene der Textkohärenz suchen.22 Diese Bestimmung kann sich nur in einem hermeneutischen Prozess vollziehen, der sich auf kohärenzstiftende Varianz stützt, die das Textprofil - zumindest partiell - umgestaltet. Die Zwischenbilanz sieht folgendermaßen aus: - Fassungen zeichnen sich durch thematisch-semantische Veränderungen auf der Ebene der Textkohärenz aus, die zu Neufokussierungen bzw. Fokusverschiebungen führen. - Gleichwertigkeit der Fassungen darf nicht an einen labilen textgeschichtlichen Parameter gebunden werden, sondern muss stabil definiert werden, und zwar mit den Parametern der ,überlieferungsgeschichtlichen Relevanz' und der .literaturgeschichtlichen Relevanz'. - Der stemmatische Rang und die Autorisierung einer Fassung können unter den Gegebenheiten vormoderner Textualität kein ausschließliches Kriterium der Gleichwertigkeit sein.

Partizipation Exemplarisch soll nun überprüft werden, ob das theoretisch gewonnene Werkund Fassungsverständnis eine Stütze im Selbstverständnis der Autoren der höfischen Literatur findet. Als Beispiel wähle ich die Quellen- und Vorlagendebatte im Prolog zum Tristan Gottfrieds von Straßburg: Ich weiz

wol,

ir ist vil

die von Tristande und ist ir doch

gewesen,

haben

gelesen.

ich diu geliche

und schepfe

miniu

daz mir ir iegeliches von disem so wirbe

gelesen;

niht vil

die von im rehte Tuon aber

gewesen,

hant

mcere ich anders,

wort

nuo dar

zuo,

sage missehage, danne

ich

sol.

( V . 1 3 1 - 3 9 ; H e r v o r h e b u n g e n v o m Verf.) 2 3

Der Tristan-Stoff ist das mcere und jede neue Wiedererzählung ist ein sage.24 Das mcere ist im Fortgang von Gottfrieds Quellendebatte weder ein mythischer Stoffkern noch eine mündliche Erzählung, sondern ein buoch: 22 23

24

Echtheitsfragen sind dabei irrelevant. Gottfried von Straßburg: Tristan und Isold. Hrsg. von Friedrich Ranke. 11. Aufl. Dublin, Zürich 1967. Monika Schausten (Erzählwelten der Tristangeschichte im hohen Mittelalter. Untersuchungen zu den deutschsprachigen Tristanfassungen des 12. und 13. Jahrhunderts. München 1999 [Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 2 4 ] ) spricht ohne expliziten Bezug auf den Prolog vom Phänomen der ,Mehrfacherzählung' des Tristanstoffes (S. 12,

42

Hans-Jochen Schiewer Als der (Thomas von Britanje) von Tristande seit, die rihte und die warheit begunde ich sere suochen in beider hande buochen waischen und latinen und begunde mich des pinen, daz ich in siner rihte rihte dise tihte. sus treip ich manege suoche, unz ich an eime buoche alle sine jehe gelas, wie dirre aventiure was. (V. 155-66, Hervorhebungen vom Verf.)

Das buoch, das die aventiure (= Stoff) überliefert, ist der Ausgangspunkt allen Erzählens über Tristan. D i e einzelnen konkreten Erzählungen heißen sage, tihte oder jehe. Sie lassen sich als .Fassungen' eines kodifizierten Stoffkerns verstehen. Ein ähnliches Modell bieten die Verschriftlichungstopoi in der Klage und im Herzog Ernst an. 25 Auch dort ist der Ausgangspunkt allen Erzählens eine kodifizierte Urquelle. Chretien hingegen dreht dieses entstehungsgeschichtliche Modell um und macht episodische Erzählungen in mündlicher Überlieferung zum Ausgangspunkt seines Erzählens über Artus. 26 Beiden Modellen gemeinsam ist die Vorstellung einer Arbeit am Stoff mit je unterschiedlicher Meisterschaft mit dem Ziel der Überbietung.

25

26

S. 38-46). Franz Josef Worstbrock fasst das Problem grundsätzlicher mit dem Verfahren des ,Wiedererzählens', das konstitutiv für die Erzählpraxis der höfischen Literatur ist, vgl. F. J. W.: Wiedererzählen und Übersetzen. In: Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze. Hrsg. von Walter Haug. Tübingen 1999, S. 128-142. Die Nibelungenklage. Mhd. Text nach der Ausg. von Karl Bartsch. Einf., nhd. Übers, u. Kommentar von Elisabeth Lienert. Paderborn u. a. 2000 (Schöninghs mediävistische Editionen 5), V. 4295-4317: Von Pazowe der biscof Pilgerin / durh liebe der neven sin / hiez scriben ditze mcere, / wie ez ergangen wcere, / in latinischen buochstaben, / daz manzfiir war solde haben, / swerz dar näh erfunde, / von der alrersten stunde, / wie ez sih huob und ouh began, / und wie ez ende gewan, / umbe der guoten knehte not, / und wie si alle gelogen tot. / daz hiez er allez schriben. / ern liez es niht beliben, / wand im seit der videlcere / diu kuntlichen mcere, / wie ez ergie und gescach; / wand erz horte unde sach, / er unde manec ander man. / daz mcere prieven dö began / sin schriber, meister Kuonrät. / getihtet man ez sit hat / dicke in tiuscher zungen. - Herzog Ernst (A, B, F, G). Hrsg. von Karl Bartsch. Wien 1869, V. 4467-4476: ist aber hie dehein man / der dise rede welle hän / vür ein lügenlichez were, / der kome hin ze Babenberc: / da vindet ers ein ende / an alle missewende / von dem meister derz getihtet hat. / ze latine ez noch geschriben stät: / da von ez äne valschen list / ein vil wärez liet ist. Chretien de Troyes: Erec et Enite/Erec und Enide. Altfranzösisch/Deutsch. Übers, und hrsg. von Albert Gier. Stuttgart 1987, V. 8-18.

Fassung, Bearbeitung,

Version und Edition

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Das historische Modell des Erzählens profaner Stoffe um 1200 ist Arbeit an einem kodifiziert oder oral vorgegebenen Material bzw. Stoff, die in konkurrierende ,Fassungen' mündet: Jede ,Fassung' kann dabei wieder Ausgangspunkt der Weiterarbeit werden, im Falle Gottfrieds die des Thomas d'Angleterre. Verläuft dieser Prozess autorisiert, im Binnenraum einer Volkssprache, und binden sich Fassungen an (Autor-)namen, reden wir nach gängiger literaturwissenschaftlicher Lesart von neuen Werken, verläuft er anonym, reden wir gemeinhin von .Fassungen' 27 oder .Versionen'. 28 Diese Bemerkungen führen über den literatur- und editionswissenschaftlichen Fassungsbegriff hinaus, und zwar mit dem Ziel, ein Bewusstsein für die Dynamik des Erzählens und für die Arbeit an einem Stoff auch im Bewusstsein der mittelalterlichen Erzähler aufzuzeigen, so dass die Überlegungen zum Fassungsbegriff und die Konsequenzen für die textgeschichtliche und editorische Behandlung vor- und frühmoderner Literatur von dieser Seite eine zusätzliche Rechtfertigung erfahren. Demgegenüber gibt es auch ein auktoriales Bewusstsein, wie unlängst Klaus Grubmüller feststellte, 29 das auf Sicherung des Wortlauts und der Form zielt bzw. die Lizenzen für Eingriffe definiert. Jedoch zeigt Grubmüllers Belegmaterial, dass Autorschaft eine diskursspezifische Qualität hat, denn in seinen Belegen werden wir vergeblich nach der weltlichen höfischen Literatur bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts suchen. Anders gewendet: Ein dynamischer Werkbegriff ist nicht konstitutiv für die volkssprachliche Literatur des Mittelalters schlechthin, sondern bedarf noch einmal einer textsortenspezifischen Differenzierung. Nach der Lesart der Gottfried-Stelle begreift sich das Autorsubjekt der höfischen Epik als Partizipant an einem narrativen Kontinuum, das im Rückgriff auf Vorlagen und in Absetzung von vorgängigen Entwürfen am Stoff weiterarbeitet. Diese Weiterarbeit scheint bis in die performative Situation der Werkpräsentation hineinzureichen, wenn wir ζ. B. Hartmanns Inszenierungen von Dialogen mit dem Publikum nicht nur als rhetorisches Stilmittel begreifen, sondern auch als mögliche Praxis: Nü swic, lieber Hartman: ob ich ez errateΡ30 Das Performative ist mithin integrales Moment der Schriftlichkeit höfischer Epik, und zwar jenseits vordergründiger .spielmänni27 28

29

30

Ortnit und Wolfdietrich. Hrsg. von Edward Haymes. Göppingen 1984 (Litterae 86), S. 7. Joachim Heinzle: Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit. Bd. U/2: Wandlungen und Neuansätze im 13. Jahrhundert ( 1 2 2 0 / 3 0 - 1 2 8 0 / 9 0 ) . 2., durchges. Aufl. Tübingen 1994, S. 126. Klaus Grubmüller: Verändern und Bewahren. Zum Bewußtsein vom Text im deutschen Mittelalter. In: Peters 2001 (Anm. 3), S. 8 - 3 3 . Grubmüllers Fazit lautete: „Die Figur des Autors konstituiert sich in der Sorge um den richtigen Text: in Erfüllung der Kunstregeln und in der inhaltlichen, zumal dogmatischen Korrektheit. Diese Sorge kann zur Freigabe des Textes führen, aber auch zur Übernahme der Verantwortung für den Text und damit zur Forderung nach Bewahrung. In diesem (nicht in einem genieästhetischen Sinne) gibt es auch im Mittelalter .emphatische Autorschaft'." (S. 32f.) Hartmann von Aue: Erec. Hrsg. von Albert Leitzmann [...]. 6. Aufl. bes. von Christoph Cormeau und Kurt Gärtner. Tübingen 1985 (ATB 39), V. 7493 f.

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Hans-Jochen

Schiewer

scher' Trankforderungen, und dynamisiert die Textgeschichte. Die überlieferungs- und literaturgeschichtliche Relevanz dieser Dynamik ist das hermeneutische Problem, und dessen Beschreibung muss in Kenntnis der Überlieferung und Textgeschichte den editorischen Entscheidungen vorausgehen. Die Rückführung performativer Varianz in Schrift kann durch Marginalie, Streichung und Ersatz erfolgen. Die Abbildung mehrer Textzustände, die auch die Qualität von Fassungen erreichen können, in einer einzigen Handschrift kann als ein Gegenmodell zum stemmatischen Purismus der klassischen Textkritik, die ein weitgehend fehlerfreies Original zum Ausgangspunkt der Textgeschichte macht, gedacht werden. Entsprechend annotierte Codices, die den Verlauf der Fassungsgenese dokumentieren, fehlen für den Bereich des höfischen Romans; Indizien sprechen aber dafür, dass mit solchen Prozessen zu rechnen ist: - Heinrich von Veldeke bezeugt im Epilog seines Eneasromans (V. 13436-456), dass er um 1174 den unvollendeten Text anlässlich einer Hochzeit (vermutlich in Kleve) präsentierte. - Wolframs Titurel-Fragmente dokumentieren die gleichzeitige Arbeit an weit auseinanderliegenden Textpassagen der geplanten Erzählung (Herrschaftsübergabe an Frimutel; Brackenseilepisode), die sekundär hätten verbunden werden müssen. - Die wenigen frühen deutschsprachigen Autographe (Schwarzwälder Predigten, Elsbeth von Oye: Offenbarungen) - allerdings aus dem geistlichen Bereich - untermauern diese Vermutung, denn sie zeigen, dass auf autographer bzw. semiautographer Ebene grammatisch und satzlogisch sinnvolle Texte verändert werden.31

Fassung oder Bearbeitung am Beispiel des Armen

Heinrich

Im Bewusstsein der Besonderheit jedes Falles wähle ich mit dem Armen Heinrich Hartmanns von Aue ein Beispiel, bei dem exemplarische Qualität und Überschaubarkeit eine heuristisch günstige Verbindung eingehen. Der Arme Heinrich ist in sechs Handschriften überliefert, von denen drei einen vollständigen Text überliefern (A, Ba, Bb) und das Fragment Ε zumindest Anfang und Schluss, so

31

Zur Theorie der Marginalie vgl. demnächst meinen Beitrag: Performative Varianz vs. usuelle Varianz. Das Verhältnis von .Fassung' und .Werk' in der Vormoderne. Vorläufig verweise ich auf das Beispiel der Schwarzwälder Predigten und Elsbeths von Oye Offenbarungen, vgl. Hans-Jochen Schiewer: Die Schwarzwälder Predigten. Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte der Sonntags- und Heiligenpredigten. Tübingen 1996 (MTU 105), S. 5 2 - 6 3 , Abb. 2a-c, 3 und 4 sowie Wolfram Schneider-Lastin: Das Handexemplar einer mittelalterlichen Autorin. Zur Edition der Offenbarungen Elsbeths von Oye. In: editio 8, 1994, S. 53-70.

Fassung, Bearbeitung,

Version und Edition

45

dass der ,gesamte Text' dieses Fragments makrostrukturell erkennbar bleibt. 32 Die Handschriften Ba und Bb repräsentieren eine Textstufe B*, da Bb direkte Abschrift von Ba ist.33 Alle drei überlieferungsgeschichtlich greifbaren »Gesamttexte' unterscheiden sich signifikant im Versbestand und in der Weise, wie der Schluss erzählt wird. Ε fehlt zudem der Prolog mit Autornennung, ohne dass dies in der vorliegenden Überlieferung auf mechanischen Textverlust zurückführbar ist: In diesem Fall ist die Autorbindung verlorengegangen. 34 Das Ergebnis des überlieferungsgeschichtlichen Überblicks zeigt, dass es keinen textus receptus im Mittelalter, sondern nur je unikal überlieferte Fassungen gab. Forschungsgeschichtlich hat sich durch die editorische Entscheidung für Handschrift Α ein textus receptus entwickelt, der durch die ATB-Ausgabe vertreten wird und dank der Neuausgabe von Kurt Gärtner eine mustergültige textund überlieferungsgeschichtliche Transparenz besitzt. Diese Transparenz ändert noch nichts an dem Status des textus receptus, der nach wie vor durch den Lesetext der ATB-Ausgabe vertreten wird, d. h. durch die im Versbestand angereicherte Handschrift A. Gleichzeitig setzt die Neubearbeitung die Tradition fort, alles ,Echte' in den Lesetext aufzunehmen, aus welcher Handschrift es auch komme. Ich zitiere Gärtner aus dem Vorwort seiner Ausgabe: Berücksichtigt sind erstmals die von Karin Schneider und mir in den Benediktbeurer Bruchstücken (Hs. E) identifizierten und noch unveröffentlichten weiteren Teile aus dem ,Armen Heinrich' [...]. Das sicher Lesbare und das Erschließbare zeigen jetzt, daß ihre textkritische Bedeutung nicht hoch genug einzuschätzen ist. Der neue kritische Text umfaßt daher insgesamt 24 Verse mehr als der alte.35

Vor diesem Hintergrund ist die Problematik offenkundig, denn einerseits muss nach dem Status der in B* und Ε überlieferten Texte gefragt werden und andererseits nach dem Grund dafür, welche Argumente es gibt, den Α-Text mit sogenannten ,echten' Versen aus der gesamten Überlieferung anzureichern. Die Antwort ist so einfach wie nach dem heutigen Forschungsstand prekär: Die editorische Prämisse setzt ein Original an, das aus der gesamten Überlieferung zu erschließen ist und daher alles sprachlich, formal und lexikalisch .Echte' in den kritischen Editionstext aufnimmt. Diese Prämisse muss der Kritik unterzogen werden und nicht die Frage, ob die neuen Plusverse hartmannisch sind oder nicht. 36 Dazu hat Gärtner das Nötige gesagt: Inhaltliche Gründe kön32

Hartmann von Aue: Der arme Heinrich. Hrsg. von Hermann Paul. 17., durchges. Aufl. besorgt von Kurt Gärtner. Tübingen 2001 (ATB 3), S. X I - X X Handschriften, S. XXI Verskonkordanz der Überlieferungszeugen.

33

Ebd., S. XXII. Ebd., S. XXVIf. Vgl. Literatur zu Ε ebd., S. XX. Gärtner 2001 (Anm. 32), S. I. Werner Schröder: Der Arme Heinrich in der Hand von Märenschreibern. Stuttgart 1997 (Sitzungsberichte der Wissenschaftlichen Gesellschaft der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main XXXV, 1).

34 35 36

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Hans-Jochen Schiewer

nen kein Argument sein, wenn Vers und Reim fehlerlos sind. 37 Allerdings muss angesichts der text- und überlieferungsgeschichtlichen Situation des Armen Heinrich gefragt werden, ob alle fehlerlosen Verse und Reime der Gesamtüberlieferung (A, B*, C, D, E) e i n e n Gesamttext nach Α bzw. in diesem Fall e i n Werk konstituieren, denn B* lässt Gärtner als ,Fassung' im Sinne Bumkes nicht gelten, sondern nur als Bearbeitung'. 3 8 Jedenfalls folgert Gärtner aus den Plusversen der Fragmente C, D und E, dass Α lückenhaft ist, ohne dass es zwingende stemmatologische Argumente dafür gibt. 39 Konsequenz daraus ist eine Vermehrung des Textbestands von Α um 42 Verse, deren Wert für das Textverständnis zu prüfen ist. Ich stelle einige Beispiele vor (Plustext durch Pluszeichen markiert): 1. V. 126a-b (E/B) mit Kontext (V. 124-27): nü sehet wie genceme er e der Werlte ware, er wart nü als unmcere, + ze heuwe wart sin grüenez gras, + der e der Werlte venre was, daz in niemen gerne sach 2. V. 652a-d (C) mit Kontext (V. 651-54): daz din vater unde ich gerne leben, daz ist durch dich. + waz solde uns lip unde guot, + waz solde uns werblicher muot, + swenne wir dtn enbceren ? + dune suit uns niht beswceren. ja soltü, liebe tohter min, unser beider vreude sin [...] 3. V. 654a-b (B) mit Kontext (V. 653-56) ja soltü, liebe tohter min, unser beider vreude sin, + unser liebe äne leide, + unser liehtiu ougenweide, unsers Itbes wiinne, ein bluome in dinem künne [...] 4. V. 662a-d (BC) mit Kontext (V. 660-63): du muost von gotes hulden iemer sin gescheiden;

37

38 39

Kurt Gärtner: Überlieferung und textus receptus. Zur Neuausgabe des Armen Heinrich Hartmanns von Aue. In: editio 17, 2003, S. 89-99, insbes. S. 98f. mit Verweis auf eigene Inkonsequenzen. Ebd., S. 99. Schröder 1997 (Anm. 36), S. 27.

Fassung, Bearbeitung,

Version und

Edition

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daz koufest an uns beiden. + wiltü uns, tohter, wesen guot, + so soltu rede und den muot + durch unsers herren hulde län, + diu ich von dir vernomen hän. Muoter, ich getrüwe dir [...]

Der Blick auf die Textstellen zeigt, dass es keine inhaltlich zwingenden Gründe gibt, sie einem Gesamttext A* zu unterstellen. 40 Es sind Lesarten, die gleichwertig sind, aber nicht gleichzeitig gewesen sein müssen, d. h. sie sind auch als Fassungsvarianz klassifizierbar, die sich diachron oder performativ entfaltet haben kann. Bei aller Transparenz auf die Überlieferungsgeschichte hin suggeriert die Aufnahme aber die Zugehörigkeit zu e i n e m ursprünglichen Gesamttext. Die philologische oder editorische Gleichwertigkeit der Lesarten bedeutet also noch nicht, dass es sich um eine historische Gleichzeitigkeit handeln muss. Editorische Konsequenz muss sein, dass die Textkohärenz von A, die in der überlieferten Form autor- bzw. entstehungsnah sein kann, erhalten bleibt und die mögliche Ungleichzeitigkeit des Gleichwertigen durch Parallelführung der Texte zum Ausdruck gebracht wird. Alles weitere ist dann Aufgabe literaturwissenschaftlicher Arbeit am polyphonen Text.

Die sogenannte B e a r b e i t u n g ' in B* In der uns als authentisch geltenden A-Version des Armen Heinrich geht am Schluss der religiöse Faden der Erzählung verloren. Die Schlussformel: Do besäzen si geliche / daz ewige riche (V. 1515f.) geht über die erwartbaren lebensendlichen Topoi aus christlicher Sicht nicht hinaus. Eine analoge Formulierung beschließt auch Hartmanns ersten Artusroman, den Erec (V. 10125-29). Soll das das Ende einer dominant religiös geprägten Erzählung sein, die gerade aus dem Kontrast von glänzendem Weltleben und göttlicher Prüfung bei Heinrich und irdischer Qual und paradiesischer Jenseitslust bei der Meierstochter lebt? Es ist ein überraschendes Ende, wenn wir bedenken, wie stark der Kontrast zwischen diesseitigem und jenseitigem Leben präsentiert wird. Es ist ein Ende, das gegen die Publikumserwartung verstößt. Dieses Ende scheint keinem vorgängigen literarischen Modell verpflichtet zu sein. Genau in diesem Punkt ist die B*-Version von einer höheren Text- bzw. Modellkonformität, indem sie unmittelbar auf die Eheschließung Heinrichs mit der Meierstochter eine 40

Weitere Stellen sind V. 8 5 2 a - b (Β), V. 9 8 0 a - b (Β), V. 1 1 3 0 a - b (Β/Ε), V. 1280a-d (D), V. 1284a-b (D/B), V. 1332a-d (B/D) + 8 weitere Verse in Β, V. 1 3 6 4 a - f (D/E), V. 1386a-h (B/E) und V. 1410a-b (B/E).

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Hans-Jochen

Schiewer

,Moniage' folgen lässt, die den Vollzug der Ehe verhindert (V. 1513a-m): Die Meierstochter wird einem Kloster übergeben, und Heinrich selbst wird Domherr. Kurt Gärtner schreibt: „B überliefert eine tiefgreifende Bearbeitung des ursprünglichen Werkes". 41 Als Begründung verweist er auf bestimmte Eigenheiten dieser Version im formalen und lexikalischen Bereich: 42 - B* hat Spaltenreime. Es entstehen sekundäre Dreireime. - In B* wird Hartmannsches herre im Reim konsequent in here verwandelt und das entsprechende Reimwort geändert (ζ. B. 365f., 427f., 491 f. u. ö.) - Der neue Schluss nach V. 1513 gilt ebenfalls als sekundär. Es ist im Sinne der Terminologie Bumkes eine Bearbeitung', wie Gärtner formuliert hat.43 Zugleich gilt aber auch: „Freilich sind nicht alle Plusverse von Β gegenüber A sekundär, und auch sonst kann Β gegenüber Α den ursprünglichen Wortlaut bewahrt haben." 44 Bestätigt wird dieser Befund ζ. B. durch gemeinsame Lesarten von Β und E, die als autornah gelten. 45 Trotzdem gilt Β als „tiefgreifende Bearbeitung des ursprünglichen Werks". Betrachten wir aber die in der Tat .tiefgreifenden' Veränderungen in B*, die Gierach noch als mnemotische Niederschrift, also „aus dem Gedächtnis" erklären wollte, genauer, 46 haben sie mit den sekundären Kriterien nichts zu tun.47 Das gilt: - für das Alter der Meierstochter. Schon Lachmann war angesichts des Alters der Meierstochter ratlos (V. 303): Acht oder Zwölf; - für die Umstellungen, die ihre Opferbereitschaft von der der Familie abgrenzen und aufwerten (V. 267ff.); - für die systematische Veränderung der Quellenberufung (V. 301, 356); - für die Verstärkung der erotischen Komponente (V. 1002ff.); - für die Rücknahme der Standesdifferenz (V. 296; 1168ff., 1175f.); - für die zusätzlich betonte Eile ins Paradies (V. 1192ff.; 1204ff.);

41 42 43 44 45

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47

Gärtner 2001 (Anm. 32), S. XXII. Ebd., S. XXIVf. Gärtner 2003 (Anm. 37), S. 99. Gärtner 2001 (Anm. 32), S. XXV. Gesa Bonath: Überlegungen zum ursprünglichen Versbestand des ,Armen Heinrich'. In: ZfdA 99, 1970, S. 2 0 0 - 2 0 8 , hier S. 200: „Wie schon die Fragmente C und D überliefert auch Ε Verse, die nur in Β bezeugt sind"; S. 202: „Wie bei den Β und C gemeinsamen und in C allein überlieferten Versen handelt es sich um Verse [B und E], die im Zusammenhang entbehrlich sind. Ihre Entbehrlichkeit ist jedoch kein Argument gegen ihre Echtheit [...]"; S. 206: „Die Fehlerhaftigkeit der Verse, die Β allein überliefert, ist - wie gesagt - kein Argument gegen ihre Ursprünglichkeit [...]". Erich Gierach: Untersuchungen zum Armen Heinrich. In: ZfdA 54, 1913, S. 5 0 3 - 5 6 8 , hier S. 563. Hans-Jochen Schiewer: Acht oder Zwölf. Die Rolle der Meierstochter im ,Armen Heinrich' Hartmanns von Aue. In: Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. Festschrift für Volker Mertens zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Matthias Meyer und Hans-Jochen Schiewer. Tübingen 2002, S. 6 4 9 - 6 6 7 .

Fassung, Bearbeitung,

Version und Edition

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-

und auch für die Verschiebung ganzer Textblöcke über mehr als hundert Verse im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung mit den Eltern (V. 827ff.). 48 Die Veränderungen lassen sich stemmatisch nicht als sekundär erweisen, denn bis auf Α gibt es in der Regel keine Parallelüberlieferung. Fazit dieses Durchgangs durch B* ist, dass wir textarchäologisch argumentieren müssen, um den Status der Textfassung B* unter den gegebenen überlieferungs- und textgeschichtlichen Kenntnissen bestimmen zu können. Kurt Gärtner hat recht, wenn er im Bereich der Spaltenreime und der Reimgrammatik sekundäre Bearbeitungsspuren sieht. Diese Elemente betreffen aber nicht zentrale inhaltliche Veränderungen in B* und denunzieren diese damit nicht als sekundär. Wir müssen also davon ausgehen, dass sich in B* mehrere textgeschichtliche Schichten überlagern, deren jüngste den Reimgebrauch betrifft. Andere Schichten sind davon nicht zwingend betroffen, sondern gehören einem älteren Textzustand an, dessen Ursprünglichkeit nicht zur Diskussion steht. Zweifellos liegt in B* aber eine Fassung vor, die angesichts der Überlieferungs· und Textgeschichte gegenüber Α von gleicher ,überlieferungsgeschichtlicher und literaturgeschichtlicher Relevanz' ist. Editorische Konsequenz dieser Einsicht muss sein, dass B* statusgleich wie Α behandelt wird und eine sprachlich vergleichbar anspruchsvolle Edition wie Α erfährt und damit dem bisherigen textus receptus auf gleicher Augenhöhe gegenübergestellt wird.

Fazit -

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Fassungen müssen vom Konzept der stemmatologischen Gleichwertigkeit abgekoppelt werden, denn die Bindung an ein Stemma ist labil und den Zufälligkeiten der Überlieferungsgeschichte ausgesetzt. Gleichwertigkeit von Fassungen muss sich über die Parameter der überlieferungsgeschichtlichen und literaturgeschichtlichen Relevanz definieren. Diese Parameter besitzen eine höhere Stabilität als das Stemma. Die Ablösung der Fassung vom Autor zwingt zu einer Dispensierung des Autorsubjekts als Hierarchisierungskategorie und Authentisierungskategorie für Fassungen. Entscheidend ist die Beschreibung von Veränderungen auf der Ebene der Textkohärenz zwischen Fassungen, und zwar mit dem Ziel, Neufokussierungen bzw. Fokusverschiebungen transparent zu machen. Die Summe der Fassungen konstituiert dann das Werk. Die Zweidimensionalität der .kanonischen' Textausgabe wird durch die Fassungen dreidimensional. Diese Fassungen sind text- und literaturgeschichtlich äquivalent zu behandeln, denn zur dynamischen volkssprachigen Textualität der Vormoderne gehört auch, dass der Autor keine Authentisierungsinstanz, sondern Versangaben beziehen sich auf den B-Text der Ausgabe von Heinrich Mettke, Leipzig 1986; zur Verschiebung der Textblöcke vgl. die Tabelle bei Schiewer 2002 (Anm. 47), S. 666f.

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Hans-Jochen

Schiewer

eine Autorisierungs- und Auratisierungsinstanz ist. Das philologische Bemühen um den einen Autortext Hartmanns, Wolframs, Gottfrieds etc. ist zwar berechtigt, wird aber der Polyphonie vormoderner Textualität nicht gerecht. Es wäre verfehlt und anmaßend, aus diesem Befund editorische Empfehlungen abzuleiten. Gewiss ist nur, dass wir uns in der Regel nicht mehr mit dem einen Text eines Werkes zufriedengeben können und dass wir andererseits nicht alle Texte eines Werkes haben und kennen wollen.

Georg Steer

Überlieferungsgerechte Edition

Vorbemerkung Wenn man nach der Aufgabe, nach dem Gegenstand und nach der Funktion einer Edition fragt und sich vergegenwärtigt, wie die drei großen Editionsreihen der Altgermanistik, die ,Altdeutsche Textbibliothek', die .Deutschen Texte des Mittelalters' und die Reihe ,Texte und Textgeschichte' diese Aufgaben eingelöst haben, welche Texte sie der Edition für würdig hielten und für welches Leserund Wissenschaftspublikum sie tätig waren, erscheinen Editionen als eine eigene Gattung der Wissenschaftsliteratur. In einer Edition vollzieht sich die erste wissenschaftliche Beschäftigung mit Literatur, genauer mit den Quellen der Literatur, den Handschriften und deren Überlieferung. Als Eigenbereich der Literaturwissenschaft verstanden, steht sie mit ihrem eigenen Aufgabenbereich neben dem großen Aufgabenfeld der Textinterpretation und neben allen Darstellungsunternehmungen von Literatur in geschichtlicher Perspektive. Der Editor, so scheint es, ist in seinem Bereich sehr souverän: er bestimmt, was und wie er letztlich die Texte ediert. Aber ist das wirklich so? Er ist abhängig und macht sich abhängig von den eigenen Vorgaben seiner Edition. Ein Beispiel ist die Meister Eckhart-Edition Josef Quints. 1 Sie will für alle Eckhartinteressenten lesbare Texte präsentieren, für Philosophen, für Theologen und für Germanisten. Deshalb wählt Quint das Normalmittelhochdeutsche als Sprachform des edierten Textes, nicht die Sprache einer Leithandschrift und nicht eine Rekonstruktion der Sprache Eckharts, die nicht erhalten ist. Zweitens: Quint geht von einem bestimmten Überlieferungsbild aus. Die erhaltenen Textzeugen der Predigten Eckharts versteht er als Hörernachschriften. Eine dritte Festlegung: Gegenstand der Edition soll der ursprüngliche Predigttext Eckharts sein, obwohl die erhaltenen Handschriften nur bedingt als Textzeugen verstanden werden können, weil sie Hörernachschriften des ursprünglichen Predigtwortes sind. Nach diesen vom Editor festgelegten Annahmen und Editionszielen können die Predigttexte Eckharts nur mittels der sog. ,divinatorischen Methode' erschlossen und rekonstruiert werden. Meister Eckhart. Die deutschen und lateinischen Werke. Die deutschen Werke. Hrsg. und übersetzt von Josef Quint. 4 Bde. Stuttgart 1958-1976.

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Georg Steer

Zum Autortext zurück gibt es aber generell noch einen anderen Weg. Wer den Flusslauf kennt, findet leichter zu seiner Quelle, zum Ursprungstext zurück. Wählt man jedoch nicht mehr den Autortext zum Gegenstand der Edition, also nicht mehr die Quelle allein, sondern auch den Flusslauf, also alle überlieferten Handschriften mit ihren unterschiedlichsten Textausformungen, dann gewinnen die sog. Textzeugen den Charakter von Überlieferungszeugen. Eine Edition mit dieser Gegenstandsbeschreibung ist dann nicht mehr eine Autortext-Edition, sondern eine Überlieferungstext-Edition. Im Rahmen dieses Verständnisses von Edition, von Aufgabe, Funktion und Gegenstand der Edition ist zu überlegen, welchen Einfluss die verfügbare, die noch erhaltene Überlieferung eines Textes auf die Anlage seiner Edition hat.

I. Eine Homoioteleuton-Lücke in Meister Eckharts Predigt 1042 - und zwar in der Fassung B, nicht in der Primär-Fassung A - gab Anlass zu einer grundsätzlichen Diskussion darüber, ob Sekundärfassungen von Predigten Meister Eckharts in die Kritische Ausgabe seiner deutschen Werke aufgenommen werden dürften. Der fragliche Satz lautet in A: Diu würkende Vernunft enmac niht geben, daz si niht enhät, noch si enmac niht zwei bilde mit einander gehaben.3 In Β ist der Satz gekürzt. Es ist die Aussage unterdrückt, dass die Vernunft nicht geben könne, was sie nicht hat. 4 Durch Augensprung bei enmac oder durch absichtliche Weglassung ist im Vergleich zu Α ein fehlerhafter Text entstanden. Und Fehler dieser Art gibt es in der Fassung Β mehrere, insgesamt 19. Aber Β setzt sich nicht nur mit ihren Archetyp-Fehlern von Α ab, die Fassung zeigt selbst eine planvoll durchgeführte Redigierung des Α-Textes. Sie verkürzt die Darstellung der Lehre vom wirkenden, möglichen und leidenden Intellekt auf das allerknappste, sie formuliert die Bibelzitate der Predigt neu aus, und sie setzt auch neue Akzente in vielen Satzaussagen. So heißt die Aufforderung Eckharts läz got mit dir würken und in dir, swaz er wil5 in B: läz got in dir würken und mit dir sinen willen habend Eine erste Frage war zu klären: Soll die Fassung Β mit einem klar erkennbaren Textprofil in einzelne Wort- und Satzvarianten zer2

3 4

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Meister Eckharts Predigten. Hrsg. und übersetzt von Georg Steer unter Mitarbeit von Wolfgang Klimanek und Freimut Löser. Vierter Band, Teilband IV, 1. Stuttgart 2003 (Meister Eckhart. Die deutschen und lateinischen Werke. Die deutschen Werke IV, 1 = DW IV, 1). DW IV, 1 (Anm. 2), S. 589, Z. 249-252. DW IV, 1 (Anm. 2), S. 589, Z. 249-252: Diu würkende Vernunft enmac niht zwei bilde mit einander gehaben. DW IV,1 (Anm. 2), S. 600, Z. 410-413: Dir ist not vor allen dingen, daz du dich nihtes anenemest, sunder läz dich alzemäle und läz got mit dir würken und in dir, swaz er wil. DW IV,1 (Anm. 2), S. 600, Z. 410-413: Daz ist dir not vor allen dingen, daz du dich nihtes anenemest, sunder läz dich alzemäle und läz got in dir würken und mit dir sinen willen haben.

Überlieferungsgerechte

Edition

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schnipselt und diese dann im Variantenapparat unten mitgeteilt werden? Der Kontext einer jeden einzelnen Stelle ginge dabei verloren. Der Modus der Variantenanschreibung herkömmlicher textkritischer Ausgaben vermag eine Textvarianz vom Umfang einer ganzen Fassung im Variantenapparat nicht darzustellen. Als Variante des Textes Α aber lässt sie sich bequem in einer eigenen Textspalte neben diesen stellen - so geschehen bei der Edition der Predigt 104 in Band DW IV, 1 der Stuttgarter Eckhartausgabe. Die Spaltenlösung tut der Forderung Genüge, in der Ausgabe den einen intendierten autornahen Text zu bieten, und zugleich schafft sie auch Raum für Mitteilungen abweichender Leseformen des Textes in den erhaltenen Handschriften. Damit die Varianten nicht als textkritische Varianten missverstanden werden, sind sie von der Lesart des Primärtextes durch einen Alternativstrich geschieden und nicht durch das Lemmazeichen eckige Klammer (]). Trotz des Zugeständnisses, Autortexte im Überlieferungskontext editorisch darzubieten, bleibt die generelle Forderung aufrecht zu halten: in eine Edition sollten nur die tatsächlich echten Schriften eines Autors Eingang finden dürfen. Für die Predigt 104 mag es angehen, der Ursprungsfassung Α die redigierte Fassung Β zuzugesellen, da sie rezeptionsgeschichtlich bedeutsam ist. Sie hat Martin Luther im Augsburger Taulerdruck als vermeintliche Taulerpredigt gelesen und er hat sie zudem auch noch mit Randglossen versehen: Β ist also ein Dokument der Begegnung Luthers mit einer Predigt Meister Eckharts, wenn auch nicht in ihrer originalen Form. 7 Es gibt noch einen weiteren Grund, warum man die Aufnahme der B-Fassung in die Eckhart-Ausgabe tolerieren kann. Bis zum Jahre 1987 konnten die Herausgeber der lateinischen Werke voller Stolz auf ihre edierten Schriften Eckharts verweisen, die sie auf der Grundlage höchst verlässlicher Textzeugen kritisch erstellten. Varianten der Überlieferung, Varianten von unechten Fassungen konnten großzügig verschmäht werden. Dass auch in der lateinischen Eckhartphilologie, die es nur mit insgesamt 14 Textzeugen zu tun hat, die Bäume nicht in den Himmel wachsen, dafür hat ein spektakulärer Handschriftenfund gesorgt. Konrad Weiß, der Herausgeber des ersten Bandes der Stuttgarter Eckhartausgabe, 8 hatte als Erster erkannt, dass in der ältesten lateinischen Eckharthandschrift, in der Erfurter Handschrift 181 (E), die früheste Redaktion der ,Expositio libri Genesis' als eines Teiles des ,Opus tripartitum' vorliegt und dass eine spätere beträchtlich erweiterte Fassung, ebenfalls von der Hand Eckharts stammend, in 7

8

Vgl. Johannes Ficker: Zu den Bemerkungen Luthers in Taulers Sermones (Augsburg 1508). In: Theologische Studien und Kritiken 107, N. F. II, 1936, S. 4 6 - 6 4 und D W IV, 1 (Anm. 2), S. 543f. Magistri Echardi Prologi in Opus tripartitum. Expositio libri Genesis. Expositio libri Exodi secundum recensionem codicis Amploniani Fol. 181 [E]. Eingeleitet und hrsg. von Konrad Weiß. Stuttgart 1964 (Meister Eckhart. D i e deutschen und lateinischen Werke. Die lateinischen Werke. 1. Band = LW I), S. 1 - 1 0 4 .

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den Handschriften aus Kues (C) und Trier (T) bewahrt wird. In den Handschriften C und Τ sahen Konrad Weiß und Josef Koch einen Textzustand des Genesiskommentars erreicht, den sie als .Ausgabe letzter Hand' betrachteten und den sie mit ihrer Ausgabe der CT-Version zu dokumentieren beabsichtigten.9 Die Auffindung einer neuen ,Opus tripartitum'-Handschrift in Oxford 1985 durch Loris Sturlese und seine neuerliche Überprüfung der gesamten Überlieferung haben ergeben, dass dem nicht so ist.10 Von Eckharts Hauptwerk hat es mindestens drei voneinander zu unterscheidende Autorfassungen gegeben. Der frühest greifbare Textzustand ist in der Erfurter Handschrift Ε konserviert. Er wurde von Konrad Weiß als „Rezension E" in der Ausgabe diplomatisch abgedruckt.11 Eckhart musste von seinem Handexemplar, das durch Ergänzungen und Korrekturen zunehmend unübersichtlich geworden war, so Loris Sturlese, eine Abschrift machen lassen, an der er als seinem zweiten Original weiterarbeiten konnte. Den Textzustand dieses Zweitoriginals spiegeln die Handschriften C und T, doch nicht vollkommen. C und Τ müssen von einer Vorlage abstammen, die nicht das Zweitoriginal Eckharts war, sondern eine verlorengegangene Abschrift davon. Sturlese nennt diese W. Ein dritter Textzustand ist erreicht in der Fassung Z. Ihr einziger Textzeuge ist die Oxforder Handschrift L. „Die Lesarten, bei denen Oxford L von CT abweicht, reichen fast an die tausend", hat Sturlese beobachtet.12 Wie sind diese zu erklären? Zum einen als Änderungen durch W, zur Hauptsache aber durch die redaktionelle Tätigkeit des CT-Bearbeiters. Dieser hat in der Intention gearbeitet, vermutlich in Köln und nach Eckharts Tod, von Eckharts Werk eine .Ausgabe letzter Hand' herzustellen. Die Stellung, die bisher der CT-Rezension zugesprochen wurde, nimmt jetzt L ein. Als die editorische Konsequenz folgt aus der neuen Sicht der Überlieferung: Das ,Opus tripartitum' muss neu ediert werden, nach L in Synopse zum CT-Text. Zwei Lieferungen sind

9

10

11 12

Vgl. dazu ausführlich Georg Steer: Die Schriften Meister Eckharts in den Handschriften des Mittelalters. In: Die Präsenz des Mittelalters in seinen Handschriften. Ergebnisse der Berliner Tagung in der Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz, 6.-8. April 2000. Hrsg. von Hans-Jochen Schiewer und Karl Stackmann. Tübingen 2002, S. 209-302, hier S. 219-222. Loris Sturlese: Die Kölner Eckhartisten. Das Studium generale der deutschen Dominikaner und die Verurteilung der Thesen Meister Eckharts. In: Die Kölner Universität im Mittelalter. Geistige Wurzeln und soziale Wirklichkeit. Hrsg. von Albert Zimmermann. Berlin, New York 1989 (Miscellanea Mediaevalia 20), S. 192-211; ders.: Zur Stemmatik der offenen Tradition. Überlegungen zur Edition der drei Fassungen von Meister Eckharts „Opus tripartitum". In: editio 6, 1992, S. 2 6 - 4 2 ; ders.: Meister Eckhart in der Bibliotheca Amploniana. Neues zur Datierung des „Opus tripartitum". In: Die Bibliotheca Amploniana. Hrsg. und für den Druck besorgt von Andreas Speer. Berlin, New York 1995 (Miscellanea Mediaevalia 23), S. 4 3 4 - 4 4 6 . LW I (Anm. 8), S. 35-101. Sturlese 1992 (Anm. 10), S. 29.

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bereits erschienen. 13 Den Genesiskommentar können wir heute in drei Fassungen lesen, in der Frühfassung nach E, in der Spätfassung nach L und in der redigierten Fassung nach CT. Die synoptische Wiedergabe von CT und L entspricht in der Editionsmethodik genau der Doppeledition der Predigt 104 nach Fassung A und B: originaler Text und bearbeiteter Text stehen lesbar nebeneinander. Die Geschichte der Eckhart-Edition ist lehrreich. Ein neuer Handschriftenfund kann die editorischen Grundannahmen eines Editionsunternehmens bis in den Grund erschüttern, auch dann wenn diese sich auf gründlichste Analysen aller bis zum Zeitpunkt einer Edition bekannten Textzeugen stützen. Die extreme Gefährdung des Editionsansatzes durch die Gunst oder Ungunst der Überlieferung ist durch den Editionsansatz selbst bedingt. Die ernüchternde Erkenntnis stellt sich ein: Allseits befriedigend können Texte von Autoren nur dann ediert werden, wenn sie im Autograph erhalten sind, und das sind sie nur in wenigen Fällen.

II. Die meisten Texte, die uns heute noch interessieren und die wir lesen möchten, sind uns nur in Abschriften aus zweiter und dritter Hand erhalten. Nun muss nicht jede Abschrift eine schlechte Abschrift sein. Eine oder mehrere Handschriften mögen sich erhalten haben - gerade bei Texten mit hoher und höchster Überlieferungsbezeugung, die der Qualität eines Autographs nicht nachstehen. Von solchen Überlegungen aus wurde in einem Projekt der Würzburger Forschergruppe der Versuch unternommen, die ,Rechtssumme' Bruder Bertholds, vor 1350 geschaffen und dem andächtigen Ritter Hans von Auer gewidmet, aus 125 bekannten Überlieferungszeugen zu edieren. 14 Doch eine Handschrift mit dem Wortlaut Bruder Bertholds wollte sich nicht finden. Redaktionen des Textes erschlossen sich bei der Überlieferungsanalyse, sieben an der Zahl, unter ihnen die Α-Fassung mit 7 Handschriften und 4 Drucken, die B-Fassung mit 56 Hand-

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14

Magistri Echardi Prologi in Opus tripertitum et Expositio libri Genesis secundum recensionem Cod. Oxoniensis Bodleiani Laud misc. 222 (L). Adiectae sunt recensiones Cod. Amploniani Fol. 181 (E) ac Codd. Cusani 21 et Treverensis 7 2 / 1 0 5 6 (CT) denuo recognitae. Hrsg. von Loris Sturlese (Meister Eckhart. Die deutschen und lateinischen Werke. Die lateinischen Werke. 1,2: Prologi in Opus tripartitum et Expositio libri Gensis [Recensio L]), 1.-2. Lieferung (S. 1-128), Stuttgart 1987; 3 . - 4 . Lieferung (S. 1 2 9 - 2 5 6 ) , Stuttgart 1992. Die ,Rechtssumme' Bruder Bertholds. Eine deutsche abecedarische Bearbeitung der ,Summa Confessorum' des Johannes von Freiburg. Synoptische Edition der Fassungen Β, Α und C. Hrsg. von Georg Steer und Wolfgang Klimanek, Daniela Kuhlmann, Freimut Löser, KarlHeiner Südekum. Band I - I V . Tübingen 1987; Band V I - V I I Quellenkommentar. Hrsg. von Marlies Hamm und Helgard Ulmschneider. Tübingen 1991 (TTG 11-14, 16f.).

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Schriften und 8 Drucken und die C-Fassung mit 23 Handschriften, nicht aber die Urfassung Bertholds. Sie ist nicht erhalten; sie scheint auch nicht verbreitet gewesen zu sein. Sie kann folglich nicht ediert werden. Gewirkt aber hat sie, doch nicht so, wie wir uns das vorstellen, um sie mit unseren präparierten Methoden edieren zu können. Wie weit entfernen sich die Redaktionen A, B, C, Cy von Bertholds ursprünglichem Text? Sind sie noch Bertholds Text? Könnte Berthold in ihnen noch seinen Text erkennen? Die ,Rechtssumme', so wie sie Berthold geschaffen hat, will nicht eine literarische Individualität beanspruchen, wie dies ein Werk der poetischen Literatur kann. Bertholds puoch ist eine Schrift, die darauf angelegt ist, das Verhalten der Menschen zu beeinflussen. Sie weist an, wie das menschliche Leben kirchlich-christlich zu gestalten und auf das Endziel des Menschen, die ewige Seligkeit hin, auszurichten sei. Lehre vermittelt sie, nicht eine eigene, sondern die ihrer Quelle, der ,Summa Confessorum' des Kanonisten Johannes von Freiburg. In der Summa ist der recht sin der heiligen lerer enthalten. Diesen will Berthold vermitteln mit der gleichen Verbindlichkeit und Autorität wie die Johannes-Summe selbst. Die auctoritas des „rechten Sinnes" ist ihm die Norm, nach der er sein Werk gestaltet und nach der sich auch alle Abschreiber und literarischen Vermittler seines Werkes richten müssen. Berthold erwartet, daz si niht dar zu noch von setzen dann daz not ist ze tun,

auf daz der recht sin der heiligen lerer niht gefelschet werd in disem puch.15 Berthold gestattet Überarbeitungen. Dass durch die Mitwirkung anderer die ,Rechtssumme' ihre Identität verlieren könnte, befürchtet er nicht. Es hieße dem Autorwillen Bertholds zuwiderhandeln, wollte man die Redaktionen der .Rechtssumme' als Fremdredigierungen und als Verunreinigungen des ursprünglichen Textes beiseite tun. Sie sind als die historischen Wirkformen seines Textes anzuerkennen und auch zu edieren. Wenn man aus dem Beispiel der ,Rechtssumme'-Edition eine Lehre ziehen darf, dann ist es die: eine Edition soll nicht bloß dem Text des einen Autors gerecht werden, sondern auch den Texten von dessen Überlieferung. Horst Fuhrmann hat für die Edition eines „lebendigen Textes" und ein solcher ist die ,Rechtssumme' - die Forderung aufgestellt, dass in ihr „der Urtext ebenso greifbar" sein müsste „wie seine später zu Einfluß gelangte Überlieferung". 16 In die ,Rechtssumme'-Fassungen ist der Urtext Bertholds eingegangen. Er kann mittels Vergleich der Fassungen aus diesen erschlossen wer-

15 16

.Rechtssumme' (Anm. 14) I, S. 130,80-83. Horst Fuhrmann: Überlegungen eines Editors. In: Probleme der Edition mittel- und neulateinischer Texte. Kolloquium der Deutschen Forschungsgemeinschaft Bonn 26.-28. Februar 1973. Hrsg. von Ludwig Hödl und Dieter Wuttke. Boppard 1978, S. 1-34, hier S. 30; vgl. auch Georg Steer: Textgeschichtliche Edition. In: Überlieferungsgeschichtliche Prosaforschung. Beiträge der Würzburger Forschergruppe zur Methode und Auswertung. Hrsg. von Kurt Ruh. Tübingen 1985 (TTG 19), S. 37-52.

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den, allerdings nur punktuell. Dies zu versuchen wäre eine Aufgabe für sich, eine reizvolle sogar, die aber im Ergebnis nur ein Konstrukt sein könnte, ohne Anspruch, mit Bertholds Original identisch zu sein.

III. Aus der Kenntnis der Überlieferungsgeschichte eines Textes können die Prinzipien gewonnen werden, nach denen er ediert werden kann. Dies lehrt das Beispiel der ,Rechtssumme'. Das Beispiel des ,Deutschen Lucidarius' 17 könnte lehren, dass dessen Überlieferungsvorgänge andere und günstigere seien als die der ,Rechtssumme' und dass wegen der ebenfalls beträchtlichen Anzahl an erhaltenen Handschriften ein Zugang zum Autortext leichter gefunden werden könne. Die als gesichert geltenden Entstehungsumstände nährten diese Hoffnung. Als Verfasser gelten die Kapläne Heinrichs des Löwen. Entstanden ist das Werk noch am Ende des 12. Jahrhunderts in Braunschweig und erhalten in 94 Handschriften und 89 Drucken, die weit in die Neuzeit hinein ausstrahlten. 18 Der Sonderforschungsbereich 226 der Universitäten Würzburg und Eichstätt 19 gab sich zunächst dieser Hoffnung hin und glaubte, schnell einen sicheren Autortext vorlegen zu können - der Lucidarius-Text ist im Vergleich zur ,Rechtssumme' recht kurz. Doch der Sonderforschungsbereich hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht, das heißt ohne die Überlieferung. Diese wollte keineswegs die Sicherheit über die Entstehung und die Herkunft des ,Deutschen Lucidarius' bestätigen. Folgendes Überlieferungsbild zeichnete sich nach und nach ab, abgelesen an der kompletten Kollation aller erhaltenen Handschriften einschließlich der Fragmente: Die beiden Prologe, der Heinrich-Prolog (Α-Prolog) und der anonyme B-Prolog, ordnen sich zwei verschiedenen Fassungen des Textes zu, wobei die eine als primäre und die andere als sekundäre, redigierte Fassung

17

Der deutsche ,Lucidarius'. Band 1. Kritischer Text nach den Handschriften. Hrsg. von Dagmar Gottschall und Georg Steer. Tübingen 1994 (TTG 35); Marlies Hamm: Der deutsche .Lucidarius'. Band 3. Kommentar. Tübingen 2 0 0 2 (TTG 37). Der deutsche .Lucidarius'. Band 2. Die Fassung der frühen Drucke und die Redaktion des Jakob Cammerlander. Hrsg. von Marlies Hamm, Georg Steer und Heidemarie Vogl unter Verwendung der Vorarbeiten von Monika Kasper-Schlottner und Daniela Kuhlmann. Tübingen (im Druck, TTG 36). Vgl. dazu kritisch Werner Schröder: Textkritisch oder überlieferungskritisch. Zur Edition des deutschen .Lucidarius'. Stuttgart 1995 (Sitzungsber. der wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt a. M. 32,1), S. 9 - 4 2 .

18

Vgl. Georg Steer: .Lucidarius'. In: 2 VL 5, 1985, Sp. 9 3 9 - 9 4 7 . Forschungsprogramm des Sonderforschungsbereichs 226. In: Wissensorganisierende und wissensvermittelnde Literatur im Mittelalter. Perspektiven ihrer Erforschung. Kolloquium 5.-7. Dezember 1985. Hrsg. von Norbert Richard Wolf. Wiesbaden 1987 (Wissensliteratur im Mittelalter 1), S. 9 - 2 2 , hier S. 14.

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erkannt werden mussten. 20 Kurioserweise wird der angeblich primäre und ursprüngliche Α-Prolog, der Heinrich-Prolog, im Zusammenhang mit der Sekundärfassung überliefert und - noch erstaunlicher - nur von 8 Handschriften. Der Fassung mit dem B-Prolog, der bisher als sekundär und stümperhaft angesehen wurde, ordnen sich alle sonstigen Handschriften zu. Der Überraschungen nicht genug. Die A-Prolog-Fassung, ohne Zweifel textlich verändert, was sich leicht durch den Vergleich mit den lateinischen Quellen des ,Lucidarius' feststellen ließ, hat nur zwei von den insgesamt drei Büchern des ,Lucidarius'. Zudem kürzt sie auch den Text der zwei erhaltenen Bücher beträchtlich ein. Aber auch die B-Prolog-Fassung kann mit Überraschungen aufwarten. Es gibt von ihr zwei verschiedene Ausformungen, eine Version χ und eine Version y. Die Version y hat gegenüber χ sieben markante Textzusätze, die vom Autor stammen. Wie sind diese verschiedenen Textzustände zu erklären? Zunächst ist die Annahme naheliegend, dass der anonyme Verfasser (oder waren es zwei?) sein Werk in der x-Fassung, der kürzeren, als abgeschlossen ansah und zur Abschrift und Verbreitung freigab. Von dieser Textform, der Textform des Ur-Lucidarius leiten sich die x-Handschriften her. Es sind insgesamt sieben, unter ihnen freilich die ältesten. Von der Textform y mit ihren sieben Textzusätzen leiten sich die yHandschriften her, die alle von einer Archetyp-Handschrift abhängig sind und die 29 charakteristische individuelle Lesarten zeigen, die sich nicht in der x-Version finden. Es ist aber auch noch eine andere Erklärung des Überlieferungs- und Textbefundes möglich, und sie hat wahrscheinlich die Wahrheit auf ihrer Seite. Es lässt sich nämlich nicht sicher ermitteln, ob der anonyme Autor einen ersten von ihm geschaffenen Text, den x-Text, dem zunächst die sieben Dialogabschnitte von y fehlten, um eben diese Partien erweiterte, oder ob er nicht doch einen einheitlichen Text in einem Wurf geschaffen hat, also eine Ursprungsfassung y mit den sieben Zusatzstücken, die der x-Redaktor nachträglich sekundär verändert und eingekürzt hat. Die Überlieferung zeigt auch im Bereich der Einzelhandschriften unscharfe Konturen. Es gibt nur eine einzige Handschrift, die 20

Georg Steer: Der deutsche .Lucidarius' - ein Auftragswerk Heinrichs des Löwen? In: DVjSchr 64, 1990, S. 1-25; Walter Haug: Der ,Lucidarius'-Prolog Α in seinem theoriegeschichtlichen Kontext und die Entstehung des Prosaromans. In: Walter Haug: Literaturtheorie im deutschen Mittelalter von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts. 2., überarbeitete und erweiterte Aufl. Darmstadt 1992, S. 241-258; Georg Steer: Literatur am Braunschweiger Hof Heinrichs des Löwen. In: Die Weifen und ihr Braunschweiger Hof im hohen Mittelalter. Hrsg. von Bernd Schneidmüller. Wiesbaden 1995 (Wolfenbütteler MittelalterStudien 7), S. 347-375; ders.: Der Α-Prolog des deutschen ,Lucidarius' - das Werk eines mitteldeutschen Bearbeiters des 13. Jahrhunderts. Eine Replik. In: DVjSchr 69, 1995, S. 6 3 4 - 6 6 5 ; Joachim Bumke: Heinrich der Löwe und der Lucidarius-Prolog. In: DVjSchr 69, 1995, S. 6 0 3 - 6 3 3 ; Marlies Hamm: Wer war Herzog Heinrich? Der .Lucidarius' und die Entstehung des Α-Prologes. In: ZfdA 131, 2002, S. 2 9 0 - 3 0 7 ; Christa Bertelsmeier-Kierst: Fern von Braunschweig und fern von herzogen heinriche? Zum A-Prolog des „Lucidarius". In: ZfdPh 122, 2003, S. 2 0 - 4 7 .

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Züricher Handschrift A 173 (Z2), die den ,Lucidarius'-Text lückenlos überliefert. Doch sie entstammt der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts und zeigt alle Merkmale des Schwäbischen. Die älteste Handschrift G ö l , auf die Zeit um 1200 zu datieren, ist nur als Fragment erhalten. Sie ordnet sich dem x-Text zu und bewahrt nicht den Text einer präredaktionellen Stufe, wie Marlies Dittrich meinte. 21 Die Leithandschrift Β1, der Heidlauf 22 folgt und der sich auch die neue Ausgabe anvertrauen muss, weil es keine bessere gibt, hat 20 größere Textlücken. Zudem erlaubt das sog. Berliner Fragment, 23 der älteste Überlieferungszeuge des APrologs, wegen seiner Kürze keine eindeutige Zuordnung. Die ersten Prologzeilen scheinen zu verraten, dass der Schreiber beide Prologe kannte. Wie ist dieser Überlieferung editorisch gerecht zu werden? Da weder der ursprüngliche Text des Autors noch die Überlieferung und vor allem nicht die frühen Textzustände sicher zu rekonstruieren sind, muss sich die Edition bescheiden. Sie muss sich darauf beschränken, das Überlieferte zu edieren. Durch Kursivdruck werden die Zusatzdialogpartien, vom x-Text her gesehen, im edierten Text sichtbar abgehoben. Die sonstigen Textabweichungen von y verzeichnet der Variantenapparat. Es ist gar keine Frage, dass neben der x/y-Fassung, die die Ursprungsfassung sein dürfte, auch in Synopse - jetzt in Fernsynopse - die Fassung mit dem Α-Prolog und die Fassung der Augsburger Drucke, die einen neuen Prolog entwerfen, ediert wird.

IV. Das Beispiel ,Lucidarius' kann vor Augen führen, dass nicht der Editor und auch nicht seine noch so leistungsfähige Methode bestimmen, was ediert werden kann, sondern einzig die Überlieferung. Dies bestätigt auch ein viertes Beispiel: das ,Buch der Natur' (BdN) Konrads von Megenberg. 24 Der Pariser Magister und Rektor der Stephanschule in Wien hat es 1348/50 verfasst. Die Überlieferung ist wiederum opulent: 125 Handschriften und sechs Drucke gibt es. 25 Im Unterschied zu den überlieferten Texten der ,Rechtssumme' und des ,Lucidarius' gefallen die Abschriften des BdN außerordentlich. Die Schreiber suchen den 21

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Marlies Dittrich: Zur ältesten Überlieferung des deutschen Lucidarius. In: ZfdA 77, 1940, S. 218-255. Lucidarius. Aus der Berliner Handschrift hrsg. von Felix Heidlauf. Berlin 1915 (DTM 28), Neudruck: Dublin, Zürich 1970. Ludwig Denecke: Berliner Bruchstück der .Lucidarius'-Reimvorrede A. In: ZfdA 118, 1989, S. 224-227. Konrad von Megenberg: Das ,Buch der Natur'. Band 2. Kritischer Text nach den Handschriften. Hrsg. von Robert Luff und Georg Steer. Tübingen 2003 (TTG 54). Gerold Hayer: Konrad von Megenberg ,Das Buch der Natur'. Untersuchungen zu seiner Textund Überlieferungsgeschichte. Tübingen 1998 (MTU 110). Vgl. dazu die Rezension von Helgard Ulmschneider in: ZfdA 130, 2001, S. 2 2 5 - 2 3 6 .

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Text zu bewahren, nicht zu verändern. Sie haben vor ihm Respekt. Und mit Respekt will der Autor Konrad auch sein ,Buch der Natur' behandelt wissen. Im Epilog sagt er: Daz ist daz devtsch von Megenberch.26 Trotzdem hat es ein Anonymus gewagt, eine Raubausgabe von Konrads ,Naturbuch' zu machen. 27 Den Prolog ersetzt er durch eine Übersetzung des ,Athanasianischen Glaubensbekenntnisses'. Darauf lässt er eine knapp formulierte .Engellehre' folgen und im Anschluss daran eine ,Seelenlehre', die sich als eine Übersetzung der Kapitel Π - V I des zweiten Buches der Enzyklopädie ,De proprietatibus rerum' des Bartholomäus Anglicus zu erkennen gibt. 28 Grundlage seiner Bearbeitung ist ihm eine Handschrift des Überlieferungszweiges W. Als Hauptintention seiner Bearbeitung lässt sich eindeutig Kürzung des Textes erkennen. Er streicht Beispiele, Erklärungen, Vergleiche, ändert Zahlen- und Ortsangaben, nimmt die Anreden an den Leser zurück, beseitigt die meisten Hinweise auf die lateinischen Vorlagen sowie alle Hinweise auf das Latein, und er tilgt vor allem die Selbstnennungen Konrads von Megenberg. Sein Plagiat widmet er 1358 dem österreichischen Herzog Rudolf IV. Überliefert aber wird auch diese Fremdfassung unter Konrads Namen. Sie ist eine Neuauflage von Konrads ,Naturbuch': „Konrad von Megenberg aus zweiter Hand" sozusagen. 29 Daneben bleibt die Frage spannend: Gibt es eine Handschrift oder eine andere Fassung, die Konrads ursprünglichem Text näher kommt als diese „Widmungsfassung" an Rudolf IV. von Österreich? Nur die Überlieferung gibt die Antwort. Aus den kollationierten Handschriften und ihrer Auswertung ergibt sich: keine einzige Handschrift ist so gut, dass sie als Ersatzautograph respektiert werden könnte. Franz Pfeiffer, der das ,Buch der Natur' als erster 1861 herausgegeben hat, 30 sah im Cgm 38 die „älteste [Handschrift], und wohl eine der ältesten überhaupt" (S. XLVIII) und er hielt sie zudem für „die beste" (S. IL), ohne dies freilich näher zu begründen. Die „beste" heißt wohl, dass der Text Konrads im Cgm 38 so gut wie frei von Beschädigungen und Redigierungen erhalten ist. Das ist aber nur eine pia opinio. 26 27

2lt

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30

Luff/Steer 2003 (Anm. 24), S. 529,13. Diese Fassung bezeichnet und beschreibt Gerold Hayer (Anm. 25), S. 108-146, als „Widmungsfassung", als „von Konrad überarbeitete Fassung des BdN" (S. 108). Vgl. dazu auch Dagmar Gottschall: Konrad von Megenbergs Buch von den natürlichen Dingen. Ein Dokument deutschsprachiger Albertus Magnus-Rezeption im 14. Jahrhundert. Leiden, Boston 2004 (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 83), S. 17-19. Siehe Konrad von Megenberg: Von der sei. Eine Übertragung aus dem Liber de proprietatibus rerum des Bartholomäus Anglicus. Hrsg. von Georg Steer. München 1966 (Kleine deutsche Prosadenkmäler des Mittelalters 2). Walter Buckl: Megenberg aus zweiter Hand. Überlieferungsgeschichtliche Studien zur Redaktion Β des Buchs von den natürlichen Dingen. Hildesheim, Zürich, New York 1993 (Germanistische Texte und Studien 42). Konrad von Megenberg: Das Buch der Natur. Die erste Naturgeschichte in deutscher Sprache. Hrsg. von Franz Pfeiffer. Stuttgart 1861, Nachdrucke: Hildesheim, Zürich, New York 1971 und 1994.

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Die Kollationshefte sprechen eine andere Sprache. Alle erhaltenen Handschriften ohne jegliche Ausnahme stammen von einer einzigen, jedoch verlorengegangenen Einzelhandschrift ab, der Eva, der Urmutter des gesamten Geschlechtes der ,Buch der Natur'-Handschriften also, der der Makel der Erbsünde in Gestalt von 86 Fehlern, von Archetypfehlern anhaftet. An diesen 86 Stellen ist in allen Handschriften der Text Konrads gestört oder zerstört oder verloren oder redigiert. Eine an den Gegebenheiten der Überlieferung orientierte Edition vermerkt diesen Tatbestand und weist auf die Textmängel hin. Beseitigen kann sie sie nicht, denn sie kennt den Text Konrads an diesen Stellen nicht. Was sie kann ist lediglich, den von allen Handschriften bezeugten Archetyptext nach einer Leithandschrift lesbar darzustellen. An all den Stellen, an denen die Leithandschrift nicht dem durch alle übrigen Handschriften gesicherten Archetyptext folgt, weicht sie von ihr ab und liest den Text nach einer zweiten Leithandschrift. Der Variantenapparat dokumentiert, über welche Vermittlungsstufen der Archetyptext zum Text der Leithandschrift gelangt ist. Der Text der Leithandschrift, des Cgm 38, ist abzüglich aller individuellen Reproduktionsschwächen und überlieferungsgeschichtlichen Veränderungen autornah - zu bestimmen wie nah, ist eine Aufgabe für sich. Ein begleitender Kommentar oder eine entstehungsgeschichtliche Abhandlung, die die überlieferungskritische Edition ergänzt, kann sie zu lösen versuchen. Es ist nicht die Aufgabe der Edition, das Verhältnis des Textes zu seinem Autor zu klären; wohl aber ist es ihre Aufgabe, die Texte als überlieferte, d. h. in ihrer historischen Existenzform so darzubieten, dass dieses Verhältnis bestmöglich geklärt werden kann.

V. Es fällt offensichtlich leichter, die Texte der Prosa in ihrer historischen Existenzform in Einzelhandschriften und Fassungen wahrzunehmen als die Texte der Dichtung. Das (Euvre Walthers von der Vogelweide ist zwar nach seinen Handschriften publiziert, aber die Texte selbst sind nach ihrer handschriftlichen Gestalt und ihrem überlieferungs- und textgeschichtlichen Zusammenhang bisher noch nicht editorisch dargestellt worden. Die Waltherforschung bemüht sich allerdings seit Lachmanns Zeiten, immer wieder neue Ausgaben vorzulegen und mit immer neuen Versuchen Walthers Lieder und Sprüche in ihrem Urtext zu ergründen. In den Jahren 1994 bis 1998 sind insgesamt vier Editionen 31 unab31

Walther von der Vogelweide: Werke. Gesamtausgabe. Hrsg., übersetzt und kommentiert von Günther Schweikle. Band 1. Spruchlyrik. Stuttgart 1994 ( R U B 819), Band 2. Liedlyrik. Stuttgart 1998 ( R U B 820); Deutsche Lyrik des frühen und hohen Mittelalters. Edition der Texte und Kommentare von Ingrid Kasten, Übersetzungen von Margherita Kuhn. Frankfurt/M. 1995 (Bibliothek deutscher Klassiker 129); diese Ausgabe enthält insgesamt 57 Lieder und Töne. Walther von der Vogelweide: Gedichte. 11. Auflage auf der Grundlage der

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hängig voneinander erschienen. Doch in der Frage nach einer authentischen Textgestalt können die vier Editoren zu keinem Konsens finden. Günther Schweikle folgt am strengsten einer Leithandschrift, der Handschrift C, doch keineswegs konsequent, wie die Ausgabe des Wiener Hoftons zeigt. Kasten und Cormeau edieren nach einem modifizierten Leithandschriftenprinzip. Ranawake dagegen pflegt ein eklektizistisch-rekonstruierendes Verfahren, zuweilen gegen die Textzeugen. Lässt die Überlieferung ihr Vorgehen zu? Die Editoren wissen, dass die überlieferten Texte Walthers von der Vogelweide mehr darstellen als reine Lesezeugnisse späterer Epochen und dass sie in der tradierten textlichen Gestalt auch ältere Schichten enthalten, die ein Stück an ihren Autor heranführen. Sie wissen auch, dass die erhaltenen Lesetexte an Lyrik interessierter Sammler und Leser des späten 13. sowie des 14. und 15. Jahrhunderts Spuren mündlichen Vortrags enthalten, dass in jeder Handschrift in ihrer Eigenschaft als Rezeptionszeuge ein eigenes Waltherbild ausgeprägt ist, dass auf der Ebene der Sekundärrezeption, auf der die Texte verschriftlicht und kodifiziert wurden, literarische wie gedächtnisvermittelte Beeinflussungen stattgefunden haben, dass die Abhängigkeits- und Beeinflussungsverhältnisse der Überlieferungszeugen, nicht zu vergessen die anzunehmenden nur unsicher rekonstruierbaren Zwischenstufen verlorengegangener Vortragshefte und Handschriften ganz ungünstig in einem Stemma verdeutlicht werden können und dass sich mithin der vermutete Urtext letztlich im Dunstkreis der Varianz, in ihrer dreifachen Erscheinungsform von Wort-, Fassungs- und Korpusvarianz verflüchtigt. Den Editoren ist auch bekannt, dass die Materialbasis, auf der sie ihre Editionen errichten müssen, erschreckend dünn ist. Für das Preislied L 56,14 sind lediglich fünf Überlieferungszeugen vorhanden: A, C, E, das Wolfenbütteler Fragment Uxx und die Sonderüberlieferung von 7 Zeilen der ersten Strophe im Cgm 44 (L). Die überlieferungsgeschichtliche Sondierung lässt drei Versionen des Liedes erkennen: Version A, Version C und Version EUXX. An Vorstufen sind zwei zu rekonstruieren: *BC und *EU. Über die Genese der erhaltenen Texte lassen sich allerdings keinerlei Aussagen treffen. Insbesondere ist die Fixierung eines Archetyps für das Preislied oder die Zuweisung der festgestellten Versionen an den Autor, an einen Sammler oder an einen Nachsänger schlechterdings unmöglich. Möglich ist jedoch die Veröffentlichung des gesamten handschriftlichen Überlieferungsmaterials in einer Edition sui generis, die die Texte Walthers so präsentiert, wie sie überliefert sind, nicht bloß transkribiert oder faksimiliert, sondern in ihren erschließbaren

Ausgabe von Hermann Paul hrsg. von Silvia Ranawake, mit einem Melodienanhang von Horst Brunner. Teil 1. Der Spruchdichter. Tübingen 1997 (ATB 19); Walther von der Vogelweide: Leich, Lieder, Sangsprüche. 14., völlig neubearbeitete Auflage der Ausgabe Karl Lachmanns mit Beiträgen von Thomas Bein und Horst Brunner hrsg. von Christoph Cormeau. Berlin, New York 1996 (der Text der Lieder liegt seit 1998 auch auf Datenträger vor, bearbeitet von Jean L. C. Putmans, Göppingen 1998).

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überlieferungsgeschichtlichen Bedingtheiten und Zusammenhängen. Angeregt durch die Mitarbeit an den ,Lucidarius'- und ,Buch der Natur'-Editionen hat Robert Luff in seiner Eichstätter Habilitationsschrift fünf Lieder Walthers nach den Anforderungen der Überlieferungsgerechtheit modellhaft ediert. 32 Würde dieses Modell auf das gesamte Werk Walthers übertragen, verfügte das Fach neben den bereits bestehenden Ausgaben auch über eine texthistorisch genaue Walther-Ausgabe.

VI. Eine Edition, die den Vorgaben der Überlieferung gerecht werden will, präferiert keineswegs nur Texte mit massenhafter Überlieferung. Die vorgestellten Beispiele zeigen auch, dass es Einzelhandschriften sind, in denen jene Textzustände fixiert sind, die eine Edition dokumentiert. Solche Handschriften sind das Autograph, die Reinschrift des Autographs, die Handschrift des Archetyps der Autorfassung sowie die Handschrift des Archetyps einer jeden Einzelfassung und schließlich noch die Einzelhandschrift als solche. Auch bei einer Einfachüberlieferung kommt eine Edition nicht ohne eine wie auch immer geartete Vorstellung der Entstehung eines Textes und seiner Überlieferung aus. Der Eckhartforschung ist seit 1967 ein Fragment im Nürnberger Nationalmuseum (Hs. 18537) bekannt, das eine deutsche Predigt Meister Eckharts zu bewahren scheint. Kurt Ruh hat es als erster analysiert und glaubt in ihm ein einzigartiges Zeugnis der Überlieferung eckhartscher Predigten sehen zu dürfen: es gehöre noch, nach paläographischen Kriterien zu urteilen, der Zeit um 1300 an, und es müsse wegen der Deformationen seiner Texttradierung als eine „Höreraufnahme" verstanden werden. Als eine solche hat Ruh den Text 1982 ediert. 33 Anders beurteilt Josef Quint das Fragment. Nach ihm handelt es sich um einen „von einem verständnislosen Kompilator aus verschiedenen Anleihen oder Exzerpten zusammengestückelten Text". 34 Eine neuerliche Prüfung hat erkennen lassen, dass der tatsächlich, aber hauptsächlich durch äußerliche Beeinflussung stark verstümmelte Text das Mittelstück einer von Eckhart selbst verfassten Predigt mit dem Schrifttext „Laetare sterilis, quae non paris" ist. Freilich, eine letzte Klarheit ist nicht zu gewinnen, weil das erhaltene Textstück der Predigt nur sehr kurz ist. Ediert wurde es, mit der Begründung seiner Echtheit, im IV. Band der Eckhartausgabe, in diplomatischem Abdruck wie in einer Umschrift ins Normalmittel32

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Robert Luff: Überlieferung - Rezeption - Gattung. Versuch einer Neubewertung von Varianzund Interferenztexten Walthers von der Vogelweide. Habilitationsschrift eingereicht an der Sprach- und Literaturwissenschaftlichen Fakultät der Katholischen Universität EichstättIngolstadt im Dezember 2002. Kurt Ruh: Fragment einer unbekannten Predigt von Meister Eckhart aus dem frühen 14. Jahrhundert. In: ZfdA 111, 1982, S. 2 1 9 - 2 2 5 . Ebd. S. 224.

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hochdeutsche. 35 Ein zweites Beispiel: Nur in einer einzigen Handschrift, der Soester Handschrift 33, ist Eckharts sog. ,Rechtfertigungsschrift' erhalten. Ihr erster Herausgeber Augustinus Daniels (1923) verstand sie als „Aktenstück aus dem bekannten Inquisitionsprozeß gegen den Mystiker". 36 Der zweite Herausgeber 37 kommt zu einer ganz anderen Deutung der Handschrift. Auch für ihn sind die Soester Textstücke ein „notarielles Verhandlungsprotokoll", aber in einer falschen Anordnung. Diese seien das Ergebnis einer mechanischen Abschreibearbeit von in Unordnung geratenen Einzelzetteln, die sich auf dem Tisch der Inquisitoren befanden. Eine erneute Autopsie durch den dritten Herausgeber Loris Sturlese, in der der ganze Kodex, die Schreiberhände, die Textschichten, die Anlage der Handschrift genauestens untersucht wurden, förderte Sensationelles zutage. Die sog. ,Rechtfertigungsschrift' kommt nicht aus der Gerichtsstube, ist kein notarielles Dokument, es ist die von Eckhart selbst angefertigte .Verteidigungsschrift', die „direkt aus der Zelle Eckharts f...] gekommen ist".38 Zu dieser neuen Einsicht hat die Entdeckung eines Homoioteleuton-Fehlers in dem erschlossenen Articuli-Rotulus, der Eckhart zur Stellungnahme vorgelegt wurde, geführt. Sturleses Edition, verbunden mit einer Faksimile-Edition einschließlich einer akribischen Transkription, ist das Muster einer überlieferungsgerechten Edition. Die Faksimile-Edition versteht er „als Mittel zum Studium der handschriftlichen Quelle und zur Überprüfung der hier vorgelegten kritischen Edition". 39 Es kann einem niemand verdenken, wenn man diese Ausgabe als Vorbild für eine neue Walther-Ausgabe verstehen möchte.

VII. Es sind nur wenige Texte, deren Entstehungs-, Überlieferungs- und Textgeschichte ich kenne. 40 Für ihre Edition war nicht irgend eine Editionsmethode wichtig, sondern einzig die Kenntnis der Überlieferungsgeschichte und die Ab35 36

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38

39 40

DW IV, 1 (Anm. 2), S. 2 4 6 - 2 6 1 . Augustinus Daniels O. S. B.: Eine lateinische Rechtfertigungsschrift des Meister Eckhart mit einem Geleitwort von Clemens Bäumker. Münster i. W. 1923 (Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters XXIII,5), S. XVI. Gabriel Thery: Edition critique des pieces relatives au proces d'Eckhart contenues dans le ms. 33b de la bibliotheque de Soest. In: Archives d'histoire doctrinale et litteraire du Moyen Age 1, 1926/27, S. 129-268, hier S. 255. Magistri Echardi Responsio ad articulos sibi impositos de scriptis et dictis suis. Hrsg. und kommentiert von Loris Sturlese. Stuttgart 2000 (LW V.5-8), S. 271. Ebd. S. 401. Die überlieferungsgeschichtliche Literaturforschung hat vor allem durch Falk Eisermann eine methodische Weiterentwicklung erfahren, weil er, stärker als bisher geschehen, auch die Textinhalte und deren Veränderungen im Überlieferungsprozess beachtet: ,Stimulus amoris'. Inhalt, lateinische Überlieferung, deutsche Übersetzungen, Rezeption. Tübingen 2001 (MTU 118). Vgl. auch Georg Steer: Die Wahrnehmung der Variante. Meister Eckharts ,Armutspre-

Überlieferungsgerechte

Edition

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sieht, den Text, besser die Texte, in der ganzen Breite der Überlieferung, soweit sie bekannt ist, editorisch zur Darstellung zu bringen. Überlieferungsgerechte Edition ist nicht eine weitere, neue Editionsmethode. Sie präferiert eine Sicht von Literatur, die mehr möchte als nur den Autortext; sie will die historische Lebendigkeit der Texte, wie sie die Handschriften bewahren, soweit sie sie noch bewahren, sichern. Die Sehnsucht nach solchen Textausgaben hat Josef Quint schon 1958 zu artikulieren verstanden, als er die Üppigkeit seiner Variantenapparate zu den deutschen Predigten Eckharts zu rechtfertigen versuchte. Er hat sie leider nicht erfüllen können, weil er für überlieferungsgeschichtliche Untersuchungen keine Zeit hatte: „Im übrigen [...] ist der Apparat vollständig. Er enthält auch einen großen Teil sichtlich verderbter Varianten, die in ihrer Verderbtheit für die Beurteilung des gesamten Überlieferungsbefundes und des kritischen Textes irgendwie von Belang sein könnten und vor allem für die Erkenntnis der Abhängigkeits- und Verwandtschaftsverhältnisse innerhalb der handschriftlichen Überlieferung wichtige Fingerzeige zu liefern vermöchten. Mit der Lieferung dieses Apparates dürfte eine der dringendsten, wenn nicht die dringendste Forderung, die alle Eckhartforscher seit Jahrzehnten an die Germanistik gestellt haben, endlich ihre Erfüllung finden. Denn dieser Apparat setzt jeden Forscher in den Stand, den kritischen Text an der handschriftlichen Überlieferung genau zu prüfen und sich ein eigenes Urteil zu bilden". 41

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digt' nach dem Rebdorfer Codex egm 455. In: Studien zur deutschen Sprache und Literatur. Festschrift für Konrad Kunze zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Vaclav Bok, Ulla Williams und Werner Williams-Krapp. Hamburg 2004, S. 81-113. Meister Eckharts Predigten. Herausgegeben und übersetzt von Josef Quint. Erster Band (Meister Eckhart. Die deutschen und lateinischen Werke [wie Anm. 1] I), Stuttgart 1958, S. XXVI.

Christian

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Die Altdeutsche Textbibliothek

I.

Editionsreihen historischer Texte sind Institutionen, die zur Formierung von Wissenschaftsstrukturen wie zur Ausbildung von Wahrnehmungskonventionen beitragen. Sie steuern die Wahrnehmung von Texten als geschichtlichen und verleihen zugleich den Formen der Vergegenwärtigung des Geschichtlichen Dauer. Schon der Umgang mit dem einzelnen Text wird bestimmt durch die (ihrerseits historisch spezifische) Form der Darbietung, also die Präsentation der Überlieferung, die Anlage der Edition, die Anordnung des Textes und der Paratexte, die Gestaltung des Schriftbilds, des Layouts usw. Die Editionsreihe verleiht diesen Formen der Darbietung einen Rahmen, der zwischen dem als konkrete Entität vorliegenden Einzeltext und dem in einer Zeit verfügbaren textuellen Ensemble vermittelt. Dieser Rahmen hat mehr als nur nominellen Charakter, er setzt Standards und Normen, die bis in das kulturelle Imaginäre hineinreichen. Anders als wissenschaftliche Monographienreihen verkörpern Editionsreihen nicht nur epochenspezifisch oder thematisch orientierte Paradigmen wissenschaftlicher Forschung, sondern in gewissem Sinne Bedingungen von deren Möglichkeit. Im Falle der Altdeutschen Textbibliothek kommen zwei weitere Momente hinzu: die Verknüpfung wissenschaftlicher Forschung mit akademischer Lehre und die kontinuierliche Arbeit am Text. Das Überschreiten der engeren Fachwissenschaft begründet jenen prekären Status der Edition, der in der jüngeren Diskussion um eine neue oder materielle Philologie wieder ins Zentrum gerückt ist.1 Wenn Editionen nicht primär auf Vergegenwärtigung des historischen Objekts, sondern auch auf dessen Zugänglichkeit zielen, setzen sie sich von vornVgl. zuletzt Karl Stackmann: Autor - Überlieferung - Editor. In: Das Mittelalter und die Germanisten. Zur neueren Methodengeschichte der Germanischen Philologie. Hrsg. von Eckart Conrad Lutz. Freiburg/Schweiz 1998 (Scrinium Friburgense 11), S. 11-32; Akten des X. Internationalen Germanistenkongresses Wien 2000. Zeitenwende - Die Germanistik auf dem Weg vom 20. ins 21. Jahrhundert. Hrsg. von Peter Wiesinger. Bd. 5 Mediävistik und Neue Philologie. Betreut von Peter Strohschneider, Ingrid Bennewitz und Werner Röcke. Bern u. a. 2002; Peter Strohschneider: Innovative Philologie? In: www.germanistik2001.de. Vortrage des Erlanger Germanistentages. Bd. 2. Hrsg. von Hartmut Kugler u. a. Bielefeld 2002, S. 901-924.

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herein dem Spannungsfeld zwischen theoretischen Prämissen und pragmatischen Entscheidungen aus. Wenn sie zugleich die editorische Arbeit als prinzipiell unabschließbare erscheinen lassen, machen sie wiederum die Reihe selbst zum Erscheinungsort wissenschaftlicher Sinnbildung. Durch das Prinzip der Neuauflagen und Neubearbeitungen akkumuliert die Altdeutsche Textbibliothek nicht nur Texte, sie unterwirft auch die Prämissen von deren Aufbereitung je neu dem Prozess wissenschaftlicher Erkenntnis. Neue und revidierte Editionen stehen nebeneinander, und eben diese Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen charakterisiert den Status des einzelnen Textes, der durch den Kontext der Reihe im jeweils historisch Spezifischen seiner Gestalt auch das wissenschaftshistorisch Spezifische seiner Rekonstruktion mittransportiert - und dieses Prinzip wiederum generationenübergreifend transportiert. Die Altdeutsche Textbibliothek hat mehr als nur einigen Generationen von Studenten und Wissenschaftlern eine Basis für Lehre und Forschung geboten. Über 125 Jahre hinweg und unter der Ägide von nur vier jeweils alleinverantwortlichen Herausgebern bzw. Redakteuren (1881-1921: Hermann Paul, 1921— 1951: Georg Baesecke, 1951-1978: Hugo Kuhn, 1978-2004: Burghart Wachinger) verschrieb sie sich einem steten Prozess der Selbsterneuerung, der sie vor Abbruch oder Versiegen bewahrte. Ihre die Diskontinuitäten überwölbende Kontinuität basiert auf dem Prinzip der Pluralität: unterschiedliche Formen der Edition, unterschiedliche Arten der Einleitung, des Satzes, der Apparat- und Anmerkungsgestaltung - gemäß den unterschiedlichen Gegebenheiten der Texte und den unterschiedlichen Herangehensweisen der Editoren. Das Ergebnis sind gelegentlich Extreme und Kuriosa wie ein 200-seitiges Glossar zu einem 90seitigen Text (ATB 50: Ahd. Benediktinerregel) oder eine dreißigseitige Inhaltsangabe zu einer Teiledition (ATB 102: Fuetrer, Lannzilet), kühne Herstellungsversuche am Rande der Neudichtung (ATB 45: Moriz von Craun) oder einseitige Formvorstellungen (Langzeilen - ATB 66: Ava, ATB 67: Physiologus). Auch sie aber tragen bei zu einem repräsentativen Bild editorischer Praktiken und Haltungen im wissenschaftsgeschichtlichen Wandel, über denen eine Grundfrage nie ganz verlorenging: die Frage nach der Lesbarmachung von Texten angesichts historischer Distanz. Sie durchzieht eine Geschichte, gekennzeichnet von vielfältigen Kontingenzen, persönlichen Beziehungen, individuellen Vorlieben oder Abneigungen, in der sich gerade die Kombination von gezielt vergebenen und anderweitig entstandenen Editionsprojekten als produktiv erwies. Es muss jeden, der die Herausgeberschaft einer solchen Reihe übernimmt, reizen, den Bedingungen ihres Bestehens nachzuspüren. Da aber die Geschichte der Altdeutschen Textbibliothek bislang noch nicht einmal in Ansätzen geschrieben ist, kann das Ziel dieses Beitrags nur ein bescheidenes sein. Ich werde einige Aspekte einer solchen Geschichte im Hinblick auf Entstehung, Textauswahl und Editionsprinzipien zusammentragen und die gegenwärtige Position der Textbibliothek vor diesem Hintergrund zu bestimmen versuchen.

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II. Die Anfänge der Altdeutschen Textbibliothek liegen im Jahre 1879. Der 33-jährige Hermann Paul, 1874 in der Nachfolge Ernst Martins als außerordentlicher Professor der Deutschen Sprache und Literatur nach Freiburg/Br. berufen und 1877 zum Ordinarius ernannt, spielt mit dem Gedanken, eine Sammlung zentraler alt- und mittelhochdeutscher Texte zu begründen.2 Er liegt damit durchaus im Trend der Zeit. Im Zuge der akademischen und wissenschaftlichen Institutionalisierung der Germanistik einerseits, der nationalen historischen Selbstvergewisserung andererseits intensivierten sich die Verbindungen zwischen Universität und Schule und mehrten sich die Versuche, Publikationsforen zu schaffen, mit denen breitere Kreise Zugang zu den älteren Texten finden sollten. Neben den Zeitschriften waren dies vor allem Editionsreihen: die Deutschen Classiker des Mittelalters (Leipzig: Brockhaus), 1864 von Franz Pfeiffer begründet und dann von Karl Bartsch übernommen, oder auch die Germanistische Handbibliothek (Halle: Verlag der Buchhandlung des Waisenhauses), 1869 von Julius Zacher ins Leben gerufen. Beide wollten den recht hermetischen Meistereditionen von Lachmann und Grimm zugänglichere Editionen zur Seite stellen. 3 Die Handbibliothek war „zunächst bestimmt für das wissenschaftliche Bedürfniss des Ler-

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Zu Paul s. dessen eigenen Lebensabriss: Mein Leben. In: PBB 46, 1922, S. 495-500 (Henne/Kilian [s. u.], S. 3-6); aus neuerer Zeit: Eveline Einhauser: Die Junggrammatiker. Ein Problem für die Sprachgeschichtsschreibung. Trier 1989, S. 11-16; Marga Reis: Hermann Paul. In: PBB 100, 1978, S. 159-204; Magdalena Bonk: Deutsche Philologie in München. Zur Geschichte des Faches und seiner Vertreter an der Ludwig-Maximilians-Universität vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Berlin 1995 (Ludovica Maximilianea 16), S. 160-181; Germanistik als Kulturwissenschaft. Hermann Paul. 150. Geburtstag und 100 Jahre Deutsches Wörterbuch. Erinnerungsblätter und Notizen zu Leben und Werk. Hrsg. von Armin Burkhardt und Helmut Henne. Braunschweig 1997; Hermann Paul: Sprachtheorie, Sprachgeschichte, Philologie. Reden, Abhandlungen und Biographie. Hrsg. von Helmut Henne und Jörg Kilian. Tübingen 1998 (Reihe Germanistische Linguistik 200); Ulrike Haß-Zumkehr: Art. Paul. In: Neue Deutsche Biographie. Bd. 20. Berlin 2000, S. 115f.; dies.: Hermann Paul (1846-1921). In: Wissenschaftsgeschichte der Germanistik in Porträts. Hrsg. von Christoph König, Hans-Harald Müller und Werner Röcke. Berlin, New York 2000, S. 95-106; dies.: Art. Paul. In: Internationales Germanisten-Lexikon 1800-1950. Hrsg. von Christoph König. Bd. 2. Berlin, New York 2003, S. 1371-1373. Walther von der Vogelweide. Hrsg. von Franz Pfeiffer. Leipzig 1864 (Deutsche Classiker des Mittelalters 1), S. X: Aufgabe der Reihe sei es, „zu billigen Preisen und in ansprechender Ausstattung der deutschen Lesewelt eine Auswahl der schönsten mittelhochdeutschen Dichtungen in commentierten, mit allen zum Verständnis dienenden Mitteln versehenen Ausgaben darzubieten". Vgl. am Beispiel Walthers Silvia Ranawake: Für Studierende und Laien. WaltherEditionen aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Waither von der Vogelweide. Textkritik und Edition. Hrsg. von Thomas Bein. Berlin, New York 1999, S. 13-31.

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nenden", doch hatte auch sie durchaus gelehrten Charakter; Pauls auf erschwingliche Ausgaben zielendes Unternehmen wurde dadurch nicht obsolet. 4 Paul war zunächst vielleicht mit d e m Verlag der Buchhandlung des Waisenhauses (in der M a x N i e m e y e r den Buchhandel erlerate) im Gespräch, hatte aber durchaus auch N i e m e y e r i m Blick, dem er zu d i e s e m Zeitpunkt schon vielfach verbunden war: 5 durch die 1872 gegründeten Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, durch die erste germanistische Publikation der jungen Verlagsbuchhandlung 6 und durch die kritische Ausgabe v o n Hartmanns Gregorius.1 Er beriet sich mit Friedrich Zarncke, d e m Lehrer und väterlichen Freund aus den Leipziger Studienjahren, der mit großem Interesse reagierte und klare Vorschläge zur Durchführung machte: Eine Sammlung billiger textausgaben, gut geleitet, wäre gewiß ein Segen für unsere mhd. Studien, schon um die so verderblich wirkenden Pfeiffer-Bartschischen Eselsbrücken zu entfernen, zu denen ihrer Billigkeit wegen doch mancher Student zu greifen gezwungen ist. Wollten Sie also sich der Sache annehmen und ihr Ihren Namen leihen, so wäre es gewiß dankenswert, und schließlich auch für Sie vielleicht nicht ohne Bedeutung. Die jungen Leute, durch die Sie das Nöthige könnten besorgen lassen, würden Sie leicht zusammenbringen, aus eigener Kenntniß u. aus zuverlässigen Empfehlungen, die Ihnen Braune und ich bieten könnten. Bei der Ausführung wird Alles darauf ankommen, eine anständige Mitte zu halten zwischen lockerer Arbeit und zwischen zu weit gehenden Ansprüchen an Erschöpfung des Stoffes. Die Rücksichten auf Niemeyer verkenne ich nicht, u. Sie werden sich mit ihm freundschaftlich auseinandersetzen müssen. Aber, lieber Freund, der Gedanke, der Plan, ist einmal da u. für Niemeyer verloren. Denn unmöglich können Sie nach dem Vorplanen nun N. zu einem Concurrenzunternehmen veranlassen.

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Julius Zacher, Ernst Höpfner: Prospectus [zum Erscheinen der Zeitschrift für deutsche Philologie] vom Mai 1868; Faksimile in: Werner Besch, Hartmut Steinecke: Zur Geschichte der Zeitschrift für deutsche Philologie. In: Zeitschrift für deutsche Philologie. Register zu den Bänden 1-100. Berlin 1988, S. 19-33, hier S. 20-23, Zitat S. 21: die Absicht, „eine Reihe von commentierten Ausgaben wichtiger a l t d e u t s c h e r S p r a c h d e n k m ä l e r zu veröffentlichen, welche, von erprobten Gelehrten bearbeitet, gedrängte litterarische Einleitungen, berichtigte Texte, erklärende, technische und kritische Anmerkungen und einen zweckdienlichen kritischen Apparat darbieten sollen. Zunächst bestimmt für das wissenschaftliche Bedürfniss der Lehrenden, sollen sie, soweit es die Natur der Sache erlaubt, durch ihren wissenschaftlichen Charakter auch dem Fachmann noch angenehm und durch ihre Fassung auch dem Laien noch zugänglich und verständlich zu werden suchen." Manche der Ausgaben wurden ab 1882 preiswerter in der ebenfalls im Verlag der Buchhandlung des Waisenhauses (Halle) erscheinenden Sammlung germanistischer Hilfsmittel für den praktischen Studienzweck aufgelegt, doch kam die Reihe wie schon die Handbibliothek über einige Nummern nicht hinaus. Vgl. Wilhelm Braune: Max Niemeyer t- In: PBB 37, 1913, S. 341-347. Hermann Paul: Gab es eine mittelhochdeutsche Schriftsprache? Halle/S. 1872, 21873. Gregorius von Hartmann von Aue. Hrsg. von Hermann Paul. Halle/S. 1873, 21876.

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Wenn Sie Anmerkungen beigeben wollen, so verändern Sie freilich den Character des Unternehmens, schieben die Ausführung hinaus u. bieten Gelegenheit zu kleinen Schwächen, die die Bosheit zu großen Sünden aufbeuschen könnte. Ich würde einstweilen das mhd Publikum einmal probieren lassen wie weit es kommt mit unseren jetzigen lexikalischen Hilfsmitteln: durch L.s Taschenwörterbuch ist für den ersten Anlauf genügt, u. die beiden großen Lexica geben doch schon in sehr vielen schwierigen Stellen ausreichend Auskunft.8 Doch es gibt Probleme in der Abstimmung zwischen Herausgeber und Verlag. Das Projekt droht zu scheitern. Am Ende des Jahres drückt Zarncke in einem Brief sein Bedauern über die wohl nicht zustande kommende Reihe aus: Ich kann es Ihnen schließlich nicht verdenken, wenn Sie das sichere Theil erwählt u. sich auf den Amtweg nicht eingelassen haben. Besonders die Schwierigkeiten mit Niemeyer verkenne ich nicht. Aber nahe geht es mir doch. Schon sah ich im Geiste eine Reihe von 40-50 Bänden, wie die Teubnersche Classiker-Bibliothek, auf meinem Bücherbord stehen, als Titel: Paul's Sammlung B.I .... n„ schon darin eine Textausgabe des Otfried, die uns nöthig ist wie das liebe Brot, eine neue Ausgabe der .Denkmäler', die Genesis, Aue etc. etc. Wir werden nun lange auf eine solche Sammlung warten müssen, denn wer es jetzt noch in die Hand nehmen sollte, weiß ich nicht.9 Paul gibt noch nicht auf. Anfang 1880 spricht er jüngere Kollegen wegen der Betreuung einzelner Bände an,10 bleibt aber skeptisch gegenüber dem Ganzen. Als Wilhelm Braune, der Freund und Mitherausgeber der Beiträge, dem Zarncke von dem Projekt erzählt hat, brieflich anfragt, wie es mit „dem plane einer mhd. textbibliothek" stünde,11 legt er ihm die Schwierigkeiten dar - es geht vor allem um Honorarvorstellungen, Auflagenhöhen und Ladenpreise: Ob aus der textsammlung etwas werden wird, ist mir neuerdings wider zweifelhaft geworden. Das unternehmen an sich ist sehr angezeigt, und ich würde mich sehr gern darauf stürzen, wenn die sache etwa so stünde, dass ich das geschäft mit Niemeyer machen könnte. Zu Horwitz kann ich kein rechtes vertrauen fassen. Jedenfalls zeigt er in seiner correspondenz, dass er gar keine ahnung von den Verhältnissen hat, und was schlimmer ist, dass er auch schwer zu belehren ist. Er hat mir zuletzt geschrieben, dass er nur zurecht kommen könne, wenn das honorar für die späteren auflagen erheblich niedriger gestellt werden würde als ich es für die erste proponiert habe, und behauptet, dass das allgemeiner usus sei, was nach meinen erfahrungen nicht richtig ist. Bei

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Brief Friedrich Zarnckes an Hermann Paul vom 8. 11. 1879; München, Universitätsbibliothek, Nachlass Hermann Paul (im folgenden abgekürzt: NHP). Brief Friedrich Zarnckes an Hermann Paul vom 10. 12. 1879 (NHP). So den 27-jährigen Barend Symons aus Groningen wegen der Kudrun; Brief Symons' an Hermann Paul vom 17. 1. 1880 (NHP). Brief Wilhelm Braunes an Hermann Paul vom 25. 1. 1880; Gerhard W. Baur: Aus der Frühzeit der Beiträge. Briefe der Herausgeber 1870-1885. In: PBB 100, 1978, S. 337-368, hier S. 353.

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dieser berechnung setzt er aber nun einen enorm billigen ladenpreis an, bei dem er jedenfalls wenn die sache abgemacht wäre, nicht stehen bleiben würde, wiewol ich ihm schon einmal ausführlich auseinandergesetzt habe, dass er durchaus nicht so weit herunterzugehen brauche um jeder concurrenz trotzen zu können, und rechnet dabei mit einem absatz, an den gar nicht zu denken ist. Ich habe Zarncke gebeten, mir einmal sein gutachten über die honorarforderung zu schreiben. Wenn ich von ihm antwort habe, werde ich von Horwitz eine definitive erklärung verlangen, und wenn das nichts fruchtet mich auf nichts weiter einlassen.12 In der Tat wird aus den Verhandlungen mit Horwitz nichts, Niemeyer hingegen scheint rasch entschlossen zugegriffen zu haben. Im Februar schon weiß Braune vom Verleger selbst, dass Paul diesem „die textbibliothek zuwenden" wolle. 13 Im März schreibt Symons an Paul, dass anscheinend „das nähere über die textsammlung zwischen Ihnen und Niemeyer in Halle verabredet" wurde. 14 Im April meldet Paul Zarncke den Stand der Planung: Braune wird Ihnen mitgeteilt haben, dass ich mit Niemeyer Verabredungen über die textausgaben getroffen habe. An mitarbeitern fehlt es vorläufig noch etwas. Vogt hat mir für die gedichte aus der Übergangszeit, Lehfeld für ausgewählte werke Konrads von Würzburg, Behaghel für den Heliand zugesagt, alle drei aber wollen noch fürs erste nicht anfangen. Auch Milchsack, den ich auf der riickreise in Wolfenbüttel besucht habe, behauptet für die nächsten jähre vollauf zu tun zu haben.15 Der rührige Herausgeber macht sich an die Walther-Ausgabe, die als erster Band der Reihe erscheinen soll, 16 und stellt Überlegungen an zum Namen der Reihe. Den Zuschlag erhält die Bezeichnung Altdeutsche Textbibliothek, denn, wie Braune schreibt: .Altdeutsch ist doch immerhin ein bequemer weiter begriff, unter dem man auch alts., ja auch mnd. etc. mit begreifen kann. Ich wüsste wenigstens keinen besseren." 17

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Brief Hermann Pauls an Wilhelm Braune 27. 1. 1880; es handelt sich um das im Abdruck (Baur, ebd., S. 355f.) ausgelassene Stück. Für Übermittlung einer Abschrift des Textes danke ich Gerhard W. Baur (Freiburg); das Original ist seit einiger Zeit nicht mehr aufzufinden, vgl. Einhauser 1989 (Anm. 2), S. 323f. Brief Wilhelm Braunes an Hermann Paul vom 23. 2. 1880 (NHP). Brief Barend Symons' an Hermann Paul vom 30. 3. 1880 (NHP). Brief Hermann Pauls an Friedrich Zarncke vom 30. 4. 1880; Leipzig, Universitätsbibliothek, Nachlass Friedrich Zarncke. Brief Hermann Pauls an Friedrich Zarncke vom 12. 11. 1880 (Leipzig, Universitätsbibliothek, Nachlass Friedrich Zarncke): „Ich hoffe wenigstens, daß ich am Ende des Semesters die Waltherausgabe der Hauptsache nach fertig haben werde, so, wie ich sie mir eigentlich wünschen möchte, freilich nicht. Aber man muß einmal einen Anfang mit der Textbibliothek machen, und wenn ich nicht selbst Hand an lege, so kommt, glaube ich, nichts zu Stande". Brief Wilhelm Braunes an Hermann Paul vom 29. 8. 1881 (NHP).

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Im Oktober 1881 verfasst Paul - zur gleichen Zeit wie die Vorrede der Walther-Ausgabe - einen Prospekt der Sammlung, den Niemeyer in 20.000 Exemplaren drucken und den wichtigsten Fachorganen schicken lässt.18 Hier der Text nach der handschriftlichen Vorlage Pauls im Nachlass: Prospect. Unter dem Titel Altdeutsche Textbibliothek - erscheint im verlage von Max Niemeyer in Halle 7S und unter der redaction des unterzeichneten eine Sammlung der wichtigsten deutschen literaturdenkmäler des mittelalters in wohlfeilen textausgaben. Zweck der Sammlung ist es, die betreffenden werke, die zum teil nur in kostspieligen kritischen ausgaben oder in commentierten ausgaben vorliegen, möglichst leicht zugänglich zu machen für jedermann, der ein interesse daran hat, zugänglich zu machen. Sic werden Dem sorgfältig revidierten texte wird eine einleitung beigegeben werden, die in knapper form über die literargeschichtliche Stellung des denkmals, die Überlieferung und die bisherige behandlung desselben orientiert, ausserdem eine rechenschaft über das vom herausgeber befolgte kritische verfahren. Die wenigen niederdeutschen und althochdeutschen werke, welche aufgenommen werden, sollen mit einem kurzen wörterbuche versehen werden, von den mittelhochdeutschen nur diejenigen, die auf schulen gelesen werden, da für die übrigen seit dem erscheinen des mittelhochdeutschen taschenwörterbuchs von Lexer kaum noch ein bedürfniss vorhanden ist. Weitere beigaben zur erläuterung sind nicht prinzipiell ausgeschlossen, jedoch nur, soweit dadurch der umfang [Uber der Zeile: der ausgabe] nicht zu erheblich vergrössert wird. Der preis wird von der verlagshandlung so billig als möglich gestellt werden. Er wird für jeden band besonders berechnet werden nach massgabe des umfangs und der absatzfähigkeit. Es ist unmöglich schon jetzt ein vollständiges Verzeichnis der aufzunehmenden werke zu geben. Es ist unsere absieht allmählich womöglich alles zu liefern, was ein interesse bietet ausserhalb des speciellen fachkreises ein interesse beanspruchen darf. Doch wird die ausdehnung des Unternehmens zum teil von der teilnähme abhangen, die dasselbe bei dem publikum findet. Eröffnet wird die Sammlung mit einer von dem unterzeichneten besorgten ausgabe der gedichte Walthers von der Vogelweide, die gleichzeitig mit diesem prospekt ausgegeben wird. Ferner sind bisher in angriff genommen: Heliand, herausgegeben von Otto Behaghel. Otfrids evangelienbuch, herausg. von Rudolf Kögel. Rudolf Kögel. Kleinere geistliche dichtungen des XI und XII jahrh., herausg. von Friedrich Vogt. Reinhard Fuchs, herausgeb. von Karl Reissenberger Kudrun, herausg. von Barend Symons. Die werke Hartmanns von Aue, herausg. von H. Paul.

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Brief Max Niemeyers an Hermann Paul vom 18. 11. 1881 (NHP).

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Christian Kiening Tristan, herausg. v o n H. Paul. Meier Helmbrecht, herausg. von Wilhelm Braune. Ausgewählte werke Konrads von Würzburg, hcrausg. von Richard Lchfcld. Reineke Vos, herausg. von Prien. Freiburg VBr. Oktober 1881. H. Paul.

Der erste Band, die Walther-Ausgabe, erscheint wenig später mit auf 1882 vordatierter Jahreszahl und erfreut - nach Braunes Worten, der schon im September die ersten sechs Aushängebögen zugeschickt bekam - durch das „nette und saubere aussehen" sowie die recht ordentliche „ausstattung".19 Was Umschlag und Titelblatt anging, orientierte Paul sich an den seit 1876 von Braune ebenfalls bei Niemeyer herausgegebenen Neudrucke[n] deutscher Litteraturwerke des XVI. und XVII. Jahrhunderts, die ebenfalls auf ein weites Publikum zielen.20 In beiden Fällen lautet das Stichwort: „zugänglich machen". Doch dieses „Zugänglich-Machen" geschieht auf unterschiedliche Weise. Während die Hefte der Neudrucke, in rasender Geschwindigkeit aufeinander folgend, sich wesentlich durch ihren zeitlichen Rahmen und ihren Charakter als Wiederabdrucke definieren, müssen sich Corpus und Charakter der Textbibliothek erst konstituieren.21 Die Basis der einzelnen Bände bilden nicht selten textkritische Untersuchungen der Herausgeber, von denen damit aber auch der Fortgang der Reihe wesentlich abhängt. Nicht alles, was zunächst angekündigt wird, lässt sich auch realisieren. Noch in der handschriftlichen Version des Prospekts hat Paul zwei Titel (Kleinere Dichtungen und Werke Konrads) gestrichen. Sie werden erst einige Jahre bzw. Jahrzehnte später unter anderer Herausgeberschaft das Licht der Welt er-

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Brief Wilhelm Braunes an Hermann Paul vom 11. 9. 1881 (NHP); gerügt wird allerdings die abgenützte Schrifttype, die der Walther-Ausgabe „teilw. ein unsauberes verwaschenes aussehen" gäbe (Brief Wilhelm Braunes an Hermann Paul vom 29. 4. 1882); auch Symons stellt im Hinblick auf die Kudrun fest: „die abgenutzten Typen der ersten Auflage waren eine Qual für die Augen" (Brief Barend Symons' an Hermann Paul vom 15. 12. 1904; NHP). Aus dem Umschlag der ersten Hefte: „Die ,Neudrucke deutscher Litteraturwerke des XVI. und XVII. Jahrhunderts' sollen eine Anzahl wichtiger Erscheinungen aus der prosaischen und poetischen Litteratur jener Periode durch genaue Abdrücke der meist sehr seltenen OriginalAusgaben den weitesten Kreisen der Litteraturfreunde wieder zugänglich machen. Die Erreichung dieses Zweckes glaubt die Verlagsbuchhandlung zu fördern, indem sie jedes Stück zu dem billigen Preise von 60 Pf. einzeln abgiebt. Umfänglichere Werke werden in doppelten oder mehrfachen Heften zur Ausgabe gelangen. Die Redaktion der Sammlung, welche ununterbrochen fortgesetzt wird, hat Professor Dr. Wilhelm B r a u n e in Leipzig übernommen." Noch 1885 stellte Eduard Sievers Paul eine Beowulf-Ausgabe für die Textbibliothek in Aussicht; vgl. seinen Brief an Hermann Paul vom 2. 1. 1885 (NHP).

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blicken. 22 Auch Helmbrecht und Evangelienbuch brauchen neue Anläufe: der eine erscheint 1902 (als Nr. 11), betreut von Friedrich Panzer, der die Ausgabe zunächst unabhängig von der Textbibliothek vorbereitet hatte, das andere, 1882 von Oskar Erdmann in der Germanistischen Handbibliothek publiziert (Bd. 5), wird erst 1957 in die ATB übernommen (als Nr. 49). Eine Ausgabe des Gottfriedschen Tristan, zu der sich Paul durch seine textkritische Habilitationsschrift von 1872 berufen fühlte, 23 kam niemals zustande. Als der Verleger 1903 nachfragte, verwies Paul ihn auf Marold, der eine kritische Ausgabe vorbereitete, die 1906 erschien, aber nicht den Weg in die Textbibliothek fand. 24 Schon der erste Vorblick auf die zu erwartenden Titel lässt also jene Spannung von Plan und Ausführung erkennen, die die Altdeutsche Textbibliothek lange prägen und an der man durch die auf der Rückseite abgedruckten Vorschauen bis zum Zweiten Weltkrieg festhalten wird. 25 Die Vorschauen bestätigen retrospektiv die Schwierigkeiten bei der Edition mancher Texte: so bei Freidank, den erst Albert Waag und dann Friedrich Neumann übernommen hatte, ohne dass es zu einer Ausgabe gekommen wäre. Sie bestätigen aber auch den langen Atem der Textbibliothek: so im Falle des Herzog Ernst D, dessen Ausgabe durch Hans-Friedrich Rosenfeld, im Manuskript fertiggestellt, zuerst 1931 angekündigt wurde, aus verschiedenen Gründen aber erst 1991, sechzig Jahre später, erscheinen konnte. 26 Es waren nicht zuletzt die - den Neudrucken fehlenden Vorschauen, die den programmatischen, planvollen Aspekt der Reihe zur Geltung brachten. Programm war die Reihe für Hermann Paul allemal. Zwar ging es ihm wie bei der zur gleichen Zeit in Angriff genommenen Mittelhochdeutschen Grammatik (die wiederum Braune in eine neugegründete Reihe aufnahm) um Hilfsmittel für den akademischen Unterricht; er wollte die mittelhochdeutschen Stu-

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Kleinere deutsche Gedichte des XI. und XII. Jahrhunderts. Hrsg. von Albert Waag. Halle/S. 1890, 2. umgearbeitete Aufl. 1916 (ATB 10); Konrad von Würzburg: Engelhard. Hrsg. von Paul Gereke. Halle/S. 1912 (ATB 17); Konrad von Würzburg: Die Legenden. Hrsg. von Paul Gereke. 1. Bd. Silvester, 2. Bd. Alexius, 3. Bd. Pantaleon. Halle/S. 1925, 1926, 1927 (ATB 19-21). Hermann Paul: Zur kritik und erklärung von Gottfrieds Tristan. In: Germania 17, 1872, S. 385-407. Briefe Max Niemeyers an Hermann Paul vom 16. und 20. 11. 1903 (NHP); der dazwischen liegende Brief Pauls ist nicht erhalten. Die Quote von ca. 50 Prozent bei der Realisierung der jeweils angekündigten Bände (meist ca. 10) wird dabei relativ konstant bleiben. Ankündigung seit ATB 28 (Wolfdietrich, 1. Heft: Der echte Teil des Wolfdietrich der Ambraser Handschrift [Wolfdietrich A]. Hrsg. von Hermann Schneider. Halle/S. 1931); Herzog Ernst D (wahrscheinlich von Ulrich von Etzenbach). Hrsg. von Hans-Friedrich Rosenfeld. Tübingen 1991 (ATB 104).

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dien fördern, die zumal in Freiburg einen schweren Stand hatten.27 Auch dürfte ihm die Aufbesserung seines zu dieser Zeit eher kargen Professorengehalts willkommen gewesen sein.28 Doch den größeren Kontext bildete die Methodisierung von wissenschaftlicher Forschung w i e universitärem Studium. Darauf zielten die Prinzipien der Sprachgeschichte (1880), der von Sievers übernommene Grundriss der Germanischen Philologie (1. Auflage 1891-96) und noch die fünf Bände der Deutsche[n] Grammatik (1916-20) sowie die späte Abhandlung Über auf gäbe und methode der geschichtswissenschaft (1920). Der Anspruch auf Methodisierung verband sich mit wissenschaftspolitischen Grenzziehungen, die vor allem in Pauls ersten Jahrzehnten - vor dem Ruf nach München - auch darauf zielten, die Konkurrenz abzuqualifizieren. Die Konkurrenz, das ist die Lachmann-Schule in Berlin, der die Junggrammatiker in der Verehrung des germanistischen Gründerheros nicht folgen wollen. Nur am Rande geht es noch um den Nibelungenstreit. Viel eher geht es um Methoden- und Stilfragen, um Profilierung und Positionierung in einer sich ausdifferenzierenden Wissenschaft. 29 27

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Hermann Paul: Mittelhochdeutsche Grammatik. Halle/S. 1881 (Sammlung kurzgefaßter germanischer Grammatiken 2); zur Reihe vgl. den Brief Wilhelm Braunes an Hermann Paul vom 25. 1. 1880: „Das [Pauls und Braunes Arbeiten an einer mittelhochdeutschen bzw. einer gotischen Grammatik] trifft sich so herrlich zusammen, dass ich notgedrungen wider etwas .gründen muss'"; Baur 1978 (Anm. 11), S. 354. Paul plante seinerseits eine Reihe mit Abdrucken früher Grammatiken; vgl. den Brief von Gustav Roethe an Paul bezüglich Helbers Syllabierbüchlein (Sebastian Helbers Teutsches Syllabierbüchlein (1593). Hrsg. von Gustav Roethe. Freiburg/Br., Tübingen 1882) vom 29. 1. 1882: „Ihr freundliches Anerbieten hat mich erfreut und ich sage Ihnen meinen Dank dafür. Ich bin gerne bereit, unter den mitgeteilten Bedingungen die Ausgabe des Syllabierbüchleins zu übernehmen. Ich darf nun wohl hoffen, in Bälde von Ihnen nähere Auskunft zu erhalten, in welcher Weise die Ausgaben der geplanten Sammlung eingerichtet sein sollen und bis zu welchem Zeitpunct Sie die Arbeit vollendet zu sehen wünschen." - Die Klagen über die Freiburger Situation durchziehen Pauls Briefe, vgl. etwa diejenigen an Friedrich Kluge vom 30.4. und 12. 11. 1880 (Leipzig, UB, Nachlass Kluge). Bei den Ausgaben der Textbibliothek war durchaus auch an die Schule gedacht; vgl. den Brief Wilhelm Braunes an Hermann Paul vom 29. 4. 1882: „Die Spekulation auf die schule mit der Waltherausgabe wird schwinden, seitdem durch den neuesten gymnasialerlas des preussischen cultusministers das lesen mhd. texte auf schulen verboten ist" (NHP). Das Verbot ließ sich nicht lange halten: 1892 nahm „Preußen den altdeutschen Unterricht wieder in die gymnasialen Lehrpläne a u f ; vgl. Eine Wissenschaft etabliert sich, 1810-1870. Hrsg. von Johannes Janota. Tübingen 1980 (Deutsche Texte 53 = Wissenschaftsgeschichte der Germanistik 3), S. 59. Paul hatte 1883 als Ordinarius in Freiburg ein Jahresgehalt von 3200 Mark; vgl. Brief Wilhelm Braunes an Hermann Paul vom 4. 7. 1883 (Henne/Kilian 1998 [Anm. 2], S. 52). An Redaktionshonoraren bekam er für die Textbibliothek für das abgelaufene Jahr 1885 100 Mark, für 1887 390 Mark; vgl. Briefe Max Niemeyers an Hermann Paul vom 19. 1. 1886 und 10. 1. 1888 (NHP). Rainer Kolk: Berlin oder Leipzig? Eine Studie zur sozialen Organisation der Germanistik im .Nibelungenstreit'. Tübingen 1990 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 30). Vielfältige Einblicke in die Entwicklung des Streits gewährt der umfangreiche Briefwechsel zwischen Roethe und Schröder; vgl. Regesten zum Briefwechsel zwischen Gustav Roethe

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Paul polemisiert gegen Scherers Sprachgeschichte, der er das Fehlen einer „konsequenten Durchführung" bescheinigt und deren Verfasser - obschon ebenso auf Methodisierung insistierend wie Paul selbst - er dem „modernen großstädtischen Leben" ergeben sieht.30 Er macht in den Beiträgen Front gegen Burdachs biographisierende Walther-Studien und bietet sogar in Anmerkungen zum Gregorius Grundsätzliches gegen Roedigers metrische Untersuchungen auf.31 In seinem 1919 verfassten Lebensabriss erwähnt er den früh entstandenen „gegensatz zu manchen anschauungen Lachmanns, die damals noch vielen als unumstößliche dogmen galten; ferner zu den gleichfalls weite kreise beeinflussenden, durch geistreichigkeit imponierenden, aber oft der soliden grundlagen entbehrenden hypothesen W. Scherers."32 Die Junggrammatiker stilisierten sich als Rebellen im Geiste systematischer Wissenschaft und fachlicher Neuorientierung. In diesem Geiste wandte sich Paul gegen die induktive Methode Lachmanns und seiner Schüler, gegen die popularisierende Neigung Scherers und gegen die wissenschaftspolitisch dominierende

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und Edward Schröder, bearbeitet von Dorothea Ruprecht und Karl Stackmann. 2 Teilbde. Göttingen 2000 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Phil.-hist. Kl. 3. Folge 237), dort auch die Einleitung von Stackmann S. 33-39. Grundriss. Bd. I, S. 123 und 102. Zu den (auch politischen) Implikationen des Gegensatzes zwischen Paul und Scherer Hans Fromm: Wilhelm Braune. In: PBB 100, 1978, S. 4 - 3 9 ; wieder in: Hans Fromm: Arbeiten zur deutschen Literatur des Mittelalters. Tübingen 1989, S. 367-397, hier S. 382-385; exemplarische Analyse bei Einhauser 1989 (Anm. 2), S. 61-83; zu den gegenseitigen Ungerechtigkeiten Karl Stackmann: Edward Schröder an Hermann Paul. Ein Brief aus .Feindesland'. In: Sprache im Leben der Zeit. Beiträge zu Theorie, Analyse und Kritik der deutschen Sprache in Vergangenheit und Gegenwart. Hrsg. von Armin Burkhardt und Dieter Cherubim. Tübingen 2001, S. 4 7 7 - 4 8 6 . Zu Scherer Jürgen Sternsdorff: Wissenschaftskonstitution und Reichsgründung. Die Entwicklung der Germanistik bei Wilhelm Scherer. Eine Biographie nach unveröffentlichten Quellen. Frankfurt/M. 1979; Kolk 1990 (Anm. 29), S. 53-75. An Wilhelm Braune schickte er am 19.7. 1881 einen Zettel mit einer ergänzenden handschriftlichen Anmerkung zur Neuauflage des Gregorius (NHP 1.12: Materialien zu Hartmann von Aue): „Leider muss ich fürchten, dass diese meine bemerkungen für manche germanisten gänzlich unverständlich bleiben. Findet es doch z. b. Rödiger in einer der neuesten nummern der Berliner Literaturzeitung seltsam, dass Vogt in seiner ausgabe des Salomon und Markolf (1881 sp. 1039) ein wort wie mantl nicht schlechthin für einsilbig gelten lassen will, und meint, dan könne man auch ein wort wie heim für zweisilbig erklären. Man kann sich dann nicht wundern, dass es dem selben Rödiger an der betreffenden stelle sehr so leicht wird zu demonstrieren, dass man vinde die kilnegin und nicht vindö die k. betonen müsse, weil de eine unbetonte und die eine betonte silbe sei. Bei solcher Ignorierung der aller der resultate der lautphysiologie wird es freilich der Lachmannschen schule nicht schwer fallen sich noch weiter in dem glücklichen wahne zu erhalten, als sei sie allein zu metrischen dingen kompetent. Denjenigen, welchen dieser wahn noch nicht zu lieb geworden ist, möchte ich doch raten, sich wenigstens erst einmal die einschlägigen partien in Sievers Phonetik (vgl. besonders S. 29ff. 156ff. 172-186. 191 ff.) anzusehen, bevor er in diesen fragen mitspricht." Paul 1922 (Anm. 2), S. 496; Henne/Kilian 1998 (Anm. 2), S. 4.

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Berliner Schule. Seinerseits entwickelte er das Ziel einer Prinzipienwissenschaft, orientiert an den Naturwissenschaften und der als allgemeine Verhaltenswissenschaft aufgefassten Psychologie. Um einer neuen Strenge zum Durchbruch zu verhelfen, war er aber zugleich gezwungen, neue Publikationsforen aufzubauen und neue Netzwerke zu bilden. Zarnckes Hinweise auf die „zuverlässigen Empfehlungen" und auf die ,Bedeutung', welche die Reihe auch für Paul besäße, bringen dies zum Ausdruck. So wie Paul 1882 in schwieriger Situation den Fortbestand der Beiträge zu sichern versuchte durch einen „höheren masstab" und einen „engen kreis von mitarbeitern [...], auf die man sich verlassen kann",33 so dachte er bei der Textbibliothek von vornherein an die jüngeren Kollegen der eigenen Generation und Denkweise. Barend Symons, der die Kudrun herausgab, hatte ebenfalls in Leipzig bei Zarncke studiert. Seine Befürwortung einer Reihe, die Ausgaben böte, welche „nicht mit der Berliner schere zugeschnitten sind",34 dürfte Paul aus der Seele gesprochen haben. Albert Leitzmann, der noch als Student im vierten Semester die Lehrgedichte und später dann die WolframAusgabe sowie Pauls Hartmann-Ausgaben betreute, war ebenso wie Albert Waag, der die Kleineren Gedichte edierte, ein Schüler Pauls, Paul Gereke, der die Konrad-Ausgabe übernahm, Pauls Neffe. 35 Sie alle stellten sich in den Dienst einer Sache, die zunächst klare Züge einer Klassikerbibliothek trug, wie schon Zarncke erkannte. Kriterium der Aufnahme war gemäß dem Paulschen Prospekt die literaturgeschichtliche Stellung eines Textes sowie das ihm entgegengebrachte, die engere Fachwissenschaft übersteigende Interesse. Man begann fast mit den gleichen Bänden wie die Deutschen Classiker des Mittelalters, Walther, Hartmann und Kudrun, wobei vor allem der Walther-Band als Nummer 1 programmatischen Charakter besaß, setzten doch sowohl die Classiker wie die Handbibliothek ebenfalls mit Walther ein. Der Hinweis im Prospekt auf die ,kostspieligen kritischen' Ausgaben einerseits, die .kommentierten' andererseits dürfte nicht zuletzt diesen Konkurrenten gelten: Die Walther-Ausgabe von Wilmanns kostete 10 Mark, die von Paul gerade mal 1,80.36 Während die Classiker, „mit allen zum Verständnis dienenden Mitteln"

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Genannt werden Sievers, Kluge, Vogt und Symons; Brief Hermann Pauls an Wilhelm Braune vom 17. 10. 1882; Baur 1978 (Anm. 11), S. 360; zur Geschichte der Beiträge Fromm 1989 (Anm. 30); Helmut Henne: Germanische und deutsche Philologie im Zeichen der Junggrammatiker. In: Beiträge zur Methodengeschichte der neueren Philologien. Zum 125jährigen Bestehen des Max Niemeyer Verlages. Hrsg. von Robert Harsch-Niemeyer. Tübingen 1995, S. 1-30. Brief Barend Symons' an Hermann Paul vom 17. 1. 1880 (NHP). Zu Leitzmann vgl. Ulrich Joost: Rastlos nach ungedruckten Quellen der deutschen Geistesgeschichte spürend. Albert Leitzmann, Philologe und Literaturhistoriker. In: Brüder Grimm Gedenken. Hrsg. von Berthold Friemel. Bd. 14. Stuttgart 2001, S. 4 6 - 7 9 ; ders.: Art. Leitzmann. In: König 2003 (Anm. 2). Bd. 2, S. 1070-1073. Ranawake 1999 (Anm. 3), S. 23.

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versehen, nicht unbedingt zu einlässlicherer wissenschaftlicher Auseinandersetzung aufforderten, wollte die Textbibliothek gerade die Selbständigkeit im Umgang mit philologisch anspruchsvollen Ausgaben fördern. Zarncke wandte sich, indem er Zachers abschätziges Wort von den „Pfeiffer-Bartschischen Eselsbrücken" aufgriff, sogar gegen den Freund, dem er in der Opposition zu den Berliner Lachmannianern lange verbunden war.37 Bartsch seinerseits hatte ein Jahrzehnt früher den Unterschied zwischen der Germanistischen Handbibliothek und den Deutschen Classikern so benannt, dass erstere „Kenntnisse beim Leser" voraussetze und damit „primär den Studenten im Auge" habe, während letztere „jedem Gebildeten" Verständnishilfen böten.38 Von der methodisch-didaktischen Abgrenzung abgesehen, hatte Paul gegenüber den Deutschen Classikern von vornherein Weiterungen im Blick: Die althochdeutsche Literatur ist vertreten durch den Heliand, die frühmittelhochdeutsche durch König Rother und die Kleineren Gedichte, die Blütezeit wird zusätzlich durch Reinhart Fuchs und Meier Helmbrecht profiliert, für die Folgezeit ist der ebenfalls noch klassikerhafte Konrad von Würzburg vorgesehen. Weder der Fachwelt noch Paul selbst erscheint, rückblickend betrachtet, die Begründung und Betreuung der Reihe als herausragende Leistung. Zu weitgespannt ist das wissenschaftliche Werk des Freiburger, dann Münchner Ordinarius und zu sehr aufs Grundsätzliche hin orientiert, als dass die editorische Pragmatik das Zentrum bilden könnte.39 Doch die Textbibliothek begleitet Pauls Lebensweg als eines der erfolgreichen Projekte, mit denen er die Ausrichtung der Germanistik über die eigene Lebenszeit hinaus beeinflusste, den Umgang mit Sprachphänomenen wie den Zugang zu älteren Texten prägte. Daran konnte auch die Gegnerschaft der Lachmannianer nichts ändern. Edward Schröder schmähte Waags Kleinere Gedichte als „das frechste unwissendste und gewissenloseste Machwerk, das die ganze deutsche Philologie aufzuweisen hat", sorgte dafür, dass die Ausgabe mehrfach verrissen wurde, und bezeichnete die Reihe im ganzen als „schludrig",

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Julius Zacher hatte Pfeiffers Walther-Ausgabe als für Universität und Schule unbrauchbares Buch bezeichnet, das „den ganz unschätzbaren sittlichen Wert der Arbeit völlig verkennt und missachtet, indem es unter jene gemeinschädlichen Eselsbrücken gehört, welche nur die Trägheit und Denkfaulheit der Schüler stärken"; in: Neue Jahrbücher für Philologie und Pädagogik 11, 1865, S. 4 4 9 - 4 6 5 , hier S . 4 6 3 f . ; Ranawake 1999 (Anm. 3), S. 20f. Zu den wachsenden Spannungen zwischen Zarncke und Bartsch, die indes nicht zum Bruch führten, Walter Koller: Das Ende einer wunderbaren Freundschaft. Der Briefwechsel Holtzmann Pfeiffer - Zarncke - Bartsch. In: ZfdA 127, 1998, S. 247-270, hier S. 266. Kolk 1990 (Anm. 29), S. 33 nach Karl Bartsch, Rez. Wilhelm Wilmans (Hg.): Walther. In: Neue Jahrbücher für Philologie und Pädagogik 39, 1869, S. 4 0 7 - 4 2 0 , hier S. 407. Paul selbst erwähnt im Grundriss (Bd. I, S. 108) zwar die Neudrucke, nicht aber die Textbibliothek.

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ohne ihr doch etwas entgegensetzen zu können.40 Gustav Roethe hatte mit seinen 1904 begründeten, auf das Spätmittelalter und das Leithandschriftenprinzip konzentrierten Deutsche[n] Texte[n] des Mittelalters von vornherein die Wissenschaft im Auge. 41 So konnte Carl von Kraus 1921 in seinem Nachruf auf Paul feststellen: „die Ausgaben, die wegen ihrer Handlichkeit meist eine hohe Zahl von Auflagen erreicht haben, empfehlen sich durch die mit den Jahren wachsende Ruhe, mit der zwischen entgegenstehenden Meinungen und Vorschlägen der Vorgänger eine Entscheidung getroffen wird."42 Allerdings führte der in rascher folgenden Auflagen und steigenden Auflagenhöhen greifbare Erfolg der Altdeutschen Textbibliothek zu keiner Expansion. Zehn Bände kamen zwischen 1882 und 1890 heraus; nur sieben weitere Neuausgaben folgten in den nächsten 33 Jahren. Pauls Energien waren zunächst durch die Herausgabe des Grundrisses gebunden43 und 40

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Zum ,Fall Waag' der Brief Schröders an Roethe vom 5. 6. 1890; Regesten 2000 (Anm. 29), Nr. 603, Bd. 1, S. 256 et pass.; zwei Monate später (4.8. 1890) stellt Schröder fest: „Die Schuld trifft allein Paul, der ihn [Waag] immer und immer wieder ermutigt und angestachelt hat." (Regesten, Nr. 649, Bd. 1, S. 279). Grundsätzlicher mit der Frage einer Editionsreihe befassen sich der Brief Roethes vom 23. 10. 1893 und der Antwortbrief Schröders vom folgenden Tag (Regesten, Nr. 1464f., Bd. 1, S. 573f.): Roethe übermittelt auf Wunsch Heynes einen Brief des Leipziger Verlegers Hirzel, der „jetzt, da Sievers die Bibl. des Waisenhauses mehr beeinflusst als gut ist, da Paul mit seinen und seiner Leute kleinen Ausgaben die Universitäten überschwemmt, gerne ein Gegenwicht hätte". Er selbst sieht keinen rechten Anlass und keine guten Möglichkeiten „für die Gründung einer neuen geschlossnen .Bibliothek'", und auch Schröder hält, obwohl an der Idee interessiert, den „Zeitpunct für ein derartiges Unternehmen, für eine Editionen-Serie mit einem wenn auch lockeren Programm" für „unbedingt verpasst": „So unerfreulich es ist, dass die Niemeyerschen Ausgaben mit ihrer schludrigen Mache [...] den Markt beherrschen, es ist keine lohnende Aufgabe, neben sie und das was der Verlag von Reimer und dem Waisenhaus besseres bieten, eine neue Serie, womöglich in lebhaftem Tempo, treten zu lassen." Er schlägt gleichwohl vor, dass, wenn der Verlag „der altdeutschen Philologie treu bleiben will", er gute Editionen „in gleichmäßiger einfacher Ausstattung" herausbringen und vielleicht sogar mit einem Übertitel Hirzeis Altdeutsche Bibliothek versehen könnte. Vorwort von Roethe zu: Friedrich von Schwaben. Hrsg. von Max Hermann Jellinek. Berlin 1904 (DTM 1), S. V; vgl. auch den Beitrag von Karl Stackmann in diesem Band. Carl von Kraus: Hermann Paul t- In: Münchner Neueste Nachrichten. 3. 1. 1922. Morgenausgabe, S. 1 f.; Wiederabdruck bei Henne/Kilian 1998 (Anm. 2), S. 15-23, hier S. 21. Die einzige Ausgabe, die keine Neuauflage erlebte, war die des König Rother. Zu fragwürdig war die Übertragung des handschriftlichen Textes in ein normalisiertes Mittelhochdeutsch schon 1884. Das parallele Erscheinen der Editionen von Frings/Kuhnt und de Vries 1922 machte zwar das Bedürfnis nach einer benutzelfreundlichen Edition nicht hinfällig, brachte aber die Bemühungen um eine solche zunächst einmal zum Erliegen. Nachdem eine in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts beabsichtigte Neuausgabe des Textes für die ATB (durch Michael Curschmann) nicht zustande kam, machte erst die zweisprachige Ausgabe bei Reclam (2000) diesen wieder zugänglich. In seinem Lebensabriss 1922 (Anm. 2), S. 497 (Henne/Kilian, S. 5) stellt er fest: „Von meinen eigenen planen wurde ich etwas abgezogen dadurch, daß ich an stelle von E. Sievers die

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richteten sich dann, nach der Übernahme des Münchner Ordinariats (1893), verstärkt auf die neuhochdeutsche Sprachgeschichte. Dazu kamen allgemeine Stockungen der Verlagsproduktion in der Kriegs- und Nachkriegszeit. Nach 1912 erschienen bis Mitte der zwanziger Jahre außer einer umgearbeiteten Auflage der Kleineren deutschen Gedichte durch Waag, der im Vorwort seinem Patriotismus Ausdruck verschaffte, 44 nur die Gedichte Walthers in fünfter Auflage. Ihre Betreuung beschäftigte den seit 1913 fast völlig erblindeten Paul - wie aus dem Briefwechsel mit Hermann Niemeyer hervorgeht - bis kurz vor seinem Tod (1921). Von einer Nachfolgeregelung wird hingegen nichts greifbar. Die Entscheidung, dem Roethe-Schüler Georg Baesecke die Leitung der Textbibliothek anzuvertrauen, geht wohl nicht auf Paul zurück.45 Er dürfte eher an Leitzmann gedacht haben, mit dessen Namen die Reihe zu diesem Zeitpunkt am stärksten verbunden war, der aber als Jenaer Extraordinarius keine gute Position hatte.46 So fiel die Wahl des Verlags wohl nicht zuletzt aus pragmatischen Gründen auf Baesecke, der ein Semester bei Braune in Heidelberg studiert hatte und 1921 auf ein Ordinariat in Halle, dem Verlagsort, gewechselt war.47

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leitung des von der Trübnerschen Verlagsbuchhandlung unternommenen Grundrisses der germanischen philologie übernahm." Kleinere Deutsche Gedichte des XI. und XII. Jahrhunderts. Hrsg. von Albert Waag. 2., umgearbeitete Auflage. Halle/S. 1916, S. VIII: „Für unser Volk aber habe ich den Wunsch, dass das Büchlein in der neuen Form, die in einer ernsten, aber doch so großen Zeit die endgültige Gestalt bekommen hat, an seinem bescheidenen Teil dazu beitragen möge, dem Deutschtum durch Versenkung in den Mutterboden der Vergangenheit immer neue Kräfte für eine große Zukunft zuzuführen! In österreichischen Landen, in Steiermark und Kärnten vor allem, sind die meisten dieser Gedichte aufgezeichnet worden: möge die Wiederveröffentlichung in jetziger Zeit ein Sinnbild dafür sein, wie alt und eng die Geistesgemeinschaft ist zwischen Ostreich und Westreich, die einen gemeinsamen Schutzwall um sich errichtet haben und Schulter an Schulter den deutschen Gedanken siegreich in die Welt hinaustragen!" Ähnliche Gedanken werden in der gleichen Zeit auch für den Ackermann des Johannes von Tepl laut; vgl. Christian Kiening: Schicksalsdichtung. Der böhmische Ackermann in der Moderne. In: Germanoslavica. Zeitschrift für germano-slawische Studien VI (XI), 1999, S. 1-30. Zumindest gehörte Baesecke nicht zu den etwa 400 Briefpartnern Pauls. Leitzmann wurde erst 1923 zum persönlichen und 1930 zum verbeamteten Ordinarius ernannt; vgl. die Angaben in Anm. 35. Die Verbindung zwischen der Textbibliothek und Leitzmann wird aus einem Brief Edward Schröders an Gustav Roethe vom 12. 8. 1925 deutlich, in dem er „aus Konzession an den sehr braven Verleger [Hermann Niemeyer]" eine Einreihung seiner Eulenspiegel-Ausgabe in die „Leitzmannsche Sammlung" ankündigt; Regesten 2000 (Anm. 29), Nr. 4924, Bd. 2, S. 867. Baesecke veröffentlichte ein eigenes Gedicht (Hannchen und Maria. Göttingen 1899), das von Braune im Braunschweigischen Magazin 5, 1899, S. 200, besprochen wurde; er brachte als Bd. 182 der Neudrucke Fischarts Glückhaftes Schiff von Zürich heraus (Halle/S. 1901) und publizierte seit 1910 eine Reihe von Aufsätzen in den Beiträgen; zur Braune-Festschrift steuerte er den Beitrag Cupa bei (Aufsätze zur Sprach- und Literaturgeschichte. Dortmund 1920, S. 401 f.). Zu Leben und Werk vgl. Gertraud Wüstling: Georg Baesecke. Verzeichnis seiner sämtlichen Veröffentlichungen. Leipzig 1952 (Schriften zum Bibliotheks- und Bücherei-

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Mit Baesecke erhielt die Textbibliothek ein neues Gesicht. Er hatte sich bis dahin mit seinen Ausgaben des Münchner und Wiener Oswald, seiner Einführung ins Althochdeutsche, seinem Forschungsbericht über Deutsche Philologie und seinem kleinen Studienführer einen Namen gemacht. An philologischer Kompetenz, methodischer Strenge und Weite des Blicks stand er Paul nicht nach. Doch sein Verständnis von Literatur war im ganzen ein anderes. Paul hatte in der Einleitung zum Grundriss Philologie auf historischer Sprachwissenschaft gegründet: Die Sprache, so stellte er mit Herder fest, „ist der Stoff, aus welchem der Dichter und Schriftsteller sein Werk gestaltet, und eine Kenntnis der Natur dieses Stoffes ist notwendig, um seine Arbeit zu würdigen" (S. 6). In einem undatierten Vorlesungsmanuskript zur althochdeutschen Literaturgeschichte verstand er Literatur als die zur Veröffentlichung bestimmte oder gebrachte „Gesamtheit der schriftlichen Aufzeichnungen" eines Volkes.48 Baesecke hingegen hatte konsequent die Gesamtheit des Überlieferten im Blick und suchte die frühen Ansätze volkssprachiger Schriftlichkeit weniger von der Sprachgeschichte als von einer alle verfügbaren Kontexte berücksichtigenden Kulturgeschichte her zu beleuchten. 49 Für die Altdeutsche Textbibliothek bedeutet dies eine Ausweitung in verschiedene Richtungen. Einerseits werden Prosatexte des späten Mittelalters in handschriftengetreuen Editionen aufgenommen: die Schriften aus der Gottesfreund-Literatur und die Grisardis, herausgegeben von Baeseckes Amtsvorgänger in Halle Philipp Strauch, 50 die ostdeutsche Apostelgeschichte, herausgegeben von Baeseckes langjährigem Königsberger Kollegen Walther Ziesemer. 51 Andererseits hält das Althochdeutsche in höherem Maße Einzug in die Reihe: das nunmehr als deutscher Abrogans' bezeichnete Keronische Wörterbuch bringt Baesecke selbst heraus, 52 die Werke Notkers werden von den amerikanischen Germanisten Edward Sehrt und Taylor Starck betreut. 53 Der Charakter der Reihe wesen in Sachsen-Anhalt 5); Theodor Bogel: Art. Baesecke. In: Neue Deutsche Biographie. Bd. 1. Berlin 1953, S. 529f.; Art. Baesecke. In: König 2003 (Anm. 2), Bd. 1, S. 7 3 - 7 5 . 48 49

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München, UB, 4° Cod. ms. 1070, f. 1; Bonk 1995 (Anm. 2), S. 177. Georg Baesecke: Vor- und Frühgeschichte des deutschen Schrifttums. 2 Bde. Halle/S. 1 9 4 0 - 1 9 5 3 . Schriften aus der Gottesfreund-Literatur. 1. Heft: Sieben bisher unveröffentlichte Traktate und Lektionen; 2. Heft: Merswins Vier anfangende Jahre. Des Gottesfreundes Fünfmannenbuch (Die sogenannten Autographa); 3. Heft: Merswins Neun-Felsen-Buch (Das sogenannte Autograph). Hrsg. von Philipp Strauch. Halle/S. 1927 (ATB 22, 23, 27); Die Grisardis des Erhart Grosz. Nach der Breslauer Handschrift hrsg. von Philipp Strauch. Halle/S. 1931 (ATB 29). Eine ostdeutsche Apostelgeschichte des 14. Jahrhunderts (aus dem Königsberger Staatsarchiv A 191). Hrsg. von Walther Ziesemer. Halle/S. 1927 (ATB 24). Der deutsche Abrogans. Text *ab,. Hrsg. von Georg Baesecke. Halle/S. 1931 (ATB 30). Den Auftakt macht: Notkers des Deutschen Werke. Nach den Handschriften neu herausge-

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als einer repräsentativen Sammlung mittelhochdeutscher Literatur bleibt bewahrt: Es kommt zu den üblichen Neuauflagen der Klassiker und dabei auch erstmals zu dem, was die Textbibliothek in der Folgezeit immer wieder kennen wird - der Neubearbeitung einer Ausgabe unter veränderten textkritischen und editorischen Prämissen. Baesecke präsentiert den in erster und zweiter Auflage von Karl Reissenberger verantworteten Reinhart Fuchs in einer handschriftennäheren Edition und verklammert den Text zugleich stärker mit dem nunmehr von Albert Leitzmann betreuten Reineke de Vos: beiden wird eine längere literaturgeschichtliche Einleitung des Romanisten Karl Voretzsch vorangestellt. 54 Darüber hinaus realisiert Baesecke Ausgaben, die, wie die Altdeutsche Genesis oder Hartmanns Erec, schon in der Anfangszeit der Textbibliothek im Gespräch waren oder die, wie Priester Wernhers Maria, im gleichen Verlag und Jahr in einer großen und einer kleinen Ausgabe erscheinen. 55 Alles in allem ein beträchtlicher Zuwachs für die Textbibliothek, die in 15 Jahren 22 neue Nummern sieht, von denen allerdings die wenigsten in späterer Zeit Neuauflagen erleben: zu spezifisch waren in manchen Fällen die Texte, zu problematisch in anderen die Editionsprinzipien. Zudem sorgten die zeitgeschichtlichen Umstände dafür, dass zwischen 1939 und 1953 kaum mehr als die Klassikerausgaben präsent blieben. 56 Als an einen planvollen weiteren Ausbau wieder zu denken war, so nicht mehr am gleichen Ort. Nachdem sich die Bedingungen der Verlagsarbeit in der sowjetischen Besatzungszone verschlechtert hatten und das geisteswissenschaftlich orientierte Verlagsprogramm auf wachsende Schwierigkeiten stieß, verließ Hermann Niemeyer 1949 Halle ohne Genehmigung und unter Zurücklassung allen Besitzes, um als „Max Niemeyer Verlag Tübingen" neu anzufangen. 57 Auch diesmal kam es nicht zu einer geordneten Nachfolgeregelung, sondern zu einer durch Umzug des Verlags und Tod des Redakteurs erzwungenen. In Halle druckte man zwar noch eine Weile weiter: zunächst als „Max Niemeyer Verlag Halle", dann als „VEB Max

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geben von Ε. H. Sehrt und Taylor Starck. 1. Bd. 1. Heft: Boethius, De Consolatione Philosophiae I und II, Halle/S. 1933. Heinrichs des Glichezares Reinhart Fuchs. Hrsg. von Georg Baesecke, mit einem Beitrag von Karl Voretzsch. Halle/S. 1925 (ATB 7); Reinke de Vos. Nach der Ausgabe von Friedrich Prien neu hrsg. von Albert Leitzmann. Mit einer Einleitung von Karl Voretzsch. Halle/S. 1925 (ATB 8). Priester Wernhers Maria. Bruchstücke und Umarbeitungen. Hrsg. von Carl Wesle. Halle/S. 1927 (ATB 26). Die sechste Auflage von Walther erschien 1945, die siebente 1950; die achte Auflage des Gregorius 1948; die achte Auflage des Armen Heinrich 1941, die neunte 1949; die sechste Auflage von Heliand und Genesis 1948. Robert Harsch-Niemeyer: Chronik des Max Niemeyer Verlages. In: ders. 1995 (Anm. 33), S. 235-251, hier S. 239.

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Niemeyer".58 Auf diese Weise wurde mit zwei Teilbänden die Ausgabe von Notkers Psalter zu Ende gebracht59 und ein Nachdruck der Leitzmannschen Zsrec-Ausgabe veranstaltet.60 Eine jahrzehntelange Doppelführung blieb der Textbibliothek anders als den Beiträgen erspart. Einen eigenen Redakteur gab es im Osten nicht. Nur einige der klassischen Titel wurden, als der Name Niemeyer nicht mehr verwendet werden durfte, im Leipziger Bibliographischen Institut weiterbetreut.61 Im Westen übernahm die Betreuung Hugo Kuhn, der seit 1944 als Privatdozent, seit 1947 als außerordentlicher Professor in Tübingen wirkte auch hier spielte die räumliche Nähe zwischen Verlag und Redakteur eine Rolle. Programmatische Worte fielen in dieser Situation nicht, doch eine programmatische Ausgabe machte den Beginn: das erste Bändchen von Walthers Liedern, publiziert 1955 von Friedrich Maurer im Gefolge einer vorangegangenen Monographie und versehen mit der Nummer 43, die zur gleichen Zeit in Halle auch noch der letzte Notker-Band bekam.62 Ein Zeichen im mehrfachen Sinne: Zeichen des Übergangs und des Neubeginns gleichermaßen. Mit Walther hatte Paul die Reihe in Halle eröffnet, mit Walther gab Kuhn in Tübingen den Startschuss für eine produktive Entwicklung, die nach seinem Tod 1978 Burghart Wachinger bruchlos fortsetzen konnte. In den folgenden fünfzig Jahren wuchs die ATB63 um 58

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1952 erschienen drei Titel, auf denen der schon am 1.5. 1951 eingetretene Tod Baeseckes nicht vermerkt ist: Notkers des Deutschen Werke. Nach den Handschriften neu hrsg. von E. H. Sehrt und Taylor Starck. 3. Bd., 1. Tl.: Der Psalter. Psalmus I-L. Hrsg. von Ε. H. Sehrt. Halle/S. 1952 (ATB 40); Das Benediktbeurer Passionsspiel. Das St. Galler Passionsspiel. Nach den Handschriften hrsg. von Eduard Hartl. Halle/S. 1952 (ATB 41); Das mittelhochdeutsche Gedicht vom Fuchs Reinhart nach den Casseler Bruchstücken und der Heidelberger Hs. Cod. pal. germ. 341. Hrsg. von Georg Baesecke, 2. Auflage besorgt von Ingeborg Schröbler. Halle/S. 1952 (ATB 7). Notkers des Deutschen Werke. Nach den Handschriften neu hrsg. von Ε. H. Sehrt und Taylor Starck. 3. Bd., 2. Tl.: Der Psalter. Psalmus LI-C. Hrsg. von Ε. H. Sehrt; 3. Bd., 3. Tl.: Der Psalter. Psalmus C I - C L nebst Cantica und Katechetischen Stücken. Hrsg. von Ε. H. Sehrt. Halle/S. 1953, 1955 (ATB 42, 43). Erec von Hartmann von Aue. Hrsg. von Albert Leitzmann, 2., neu durchgesehene, Auflage mit Vorwort von Willi Steinberg. Halle/S. 1960 (ATB 39). Im Vorwort (XLVI S.) stammen tatsächlich nur die Seiten XIII—XXIII von Steinberg. Der Arme Heinrich erschien in der Fortführung der Paul-Leitzmannschen Ausgabe durch Heinz Mettke 1966 noch als Band 3 der Altdeutschen Textbibliothek (VEB Max Niemeyer Verlag), 1974 dann als BI-Textausgabe (VEB Bibliographisches Institut) mit Abdruck der einzelnen Handschriften. Auf der Waagschen Ausgabe der Kleineren deutschen Gedichte basiert die gleichnamige Neuausgabe durch Hans Joachim Gernentz (ebd. 1982). Zur Situation vgl. Rudolf Bentzinger: Wege, Umwege und Auswege der Mediävistik in DeutschlandOst. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik 25, 1993, S. 8-22, hier S. 13. Walther von der Vogelweide: Die Lieder. Unter Beifügung erhaltener und erschlossener Melodien neu hrsg. von Friedrich Maurer. 1. Bändchen: Die religiösen und politischen Lieder; 2. Bändchen. Die Liebeslieder. Tübingen 1955, 1956 (ATB 43, 47). Die Abkürzung begegnet anscheinend häufiger erst in dieser Zeit im Gefolge der vom Verlag auf den Rücken gesetzten Bezeichnung.

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fast die doppelte Zahl der Titel als in den siebzig Jahren zuvor, wozu die spezifische Situation der DTM das Ihre beitrug. 64 So wie der neue auf Konjektural- und Formkritik vertrauende Walther sich neben den seinerseits an Lachmann/von Kraus angeglichenen alten setzte und diesen nicht ersetzte, so erscheint das zunächst unter Kuhn und dann unter Wachinger gestaltete Programm aus heutiger Sicht weniger als Paradigmawechsel denn als Entfaltung jener sich weitenden Forschungsperspektive, die sich bereits im Übergang von Paul zu Baesecke andeutete. Fortgesetzt wurde im Rahmen der auch sonst verstärkten Bemühungen die Aufnahme nachklassischer und spätmittelalterlicher Texte, ohne dass aber das Grundprinzip der Reihe literaturgeschichtliche Relevanz und akademische Brauchbarkeit - preisgegeben worden wäre. Während die Texte des späten Mittelalters [seit 1963: und der frühen Neuzeit] der pragmatischen und geistlichen Literatur Raum boten, blieb die Textbibliothek eher der weltlichen verpflichtet: Stricker, Kleindichtung, Rudolf von Ems, Müncher Oswald, Salman und Morolf, Herzog Ernst D, Füetrer, aus dem Bereich der Lyrik: Neidhart und Oswald von Wolkenstein. Mit der erstmaligen kritischen Ausgabe der größeren Reimpaarsprüche und strophischen Lieder Rosenplüts wurde eine der empfindlichsten Lücken der spätmittelalterlichen Literaturgeschichte geschlossen. 65 Daneben behielt aber auch das Althochdeutsche seinen Platz: Benediktinerregel, Reichenauer Denkmäler, Isidor und vor allem die Notker-Ausgabe, mit der Kuhn, unterstützt durch ein eigens gegründetes Kuratorium, den Mut besaß, das größte Editionsprojekt der Altdeutschen Textbibliothek, von dem Mitte der Fünfziger Jahre die Consolatio philosophiae, De Nuptiis Philologiae et Mercurii und der Psalter fertig vorlagen, nicht einfach zu einem Abschluss zu bringen, sondern auf der Basis neuerer Editionsprinzipien neu anzugehen: Die nunmehr von James C. King und Petrus W. Tax betreuten Bände sind diplomatische Wiedergaben, in denen zugleich durch Beigabe des neu erarbeiteten Notker latinus „die Frage nach den lateinischen Quellen von Notkers Erweiterungen und Erläuterungen aufs neue gestellt und womöglich anhand der Notker zugänglichen St. Galler Handschriften zu beantworten gesucht wird." 66 Während hier Edition und Editionsreihe in engstem Verhältnis zueinander stehen, wurde in anderen Fällen das Prinzip wiederbelebt, anderweitig bewährte Ausgaben in schmälerer Form zu übernehmen: Wolframs Willehalm aus der Bibliothek deutscher Klassiker und die Kudrun aus den Deutschen Klassikern

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Vgl. den Beitrag von Martin Schubert in diesem Band S. 2 9 7 - 3 1 0 . Hans Rosenplüt: Reimpaarsprüche und Lieder. Hrsg. von Jörn Reichel. Tübingen 1990 (ATB 105). Notker der Deutsche: Boethius' Bearbeitung der ,Categoriae' des Aristoteles. Hrsg. von James C. King. Tübingen 1972 (ATB 73 = Die Werke Notkers des Deutschen. Neue Ausgabe 5), unpaginierte Vorrede.

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des Mittelalters - was wie eine späte Korrektur von Pauls etwas zu rigoroser Trennung zwischen den im Kern doch verwandten Textreihen anmutet. In beiden Fällen wurden für die übernommenen Ausgaben neue Nummern vergeben: ein Signal, dass mit ihnen nicht einfach traditionsreiche ATB-Bände ersetzt, sondern neue Traditionen begründet werden sollten, ein Zeichen auch für die eingangs von mir betonte doppelte Geschichtlichkeit der Reihe. Nicht nur nimmt diese einem gewandelten Verständnis mittelalterlicher Textualität entsprechend - von bereits publizierten Texten andere Fassungen in ihr Programm auf. Sie macht auch ihre eigenen älteren Ausgaben als Fassungen kenntlich, die teilweise fortgeschrieben werden können, teilweise aber auch in ihrer eigenen Historizität neben neuere Ausgaben zu stellen sind.67

IV. Der Blick auf die Geschichte der Altdeutschen Textbibliothek gleitet fast zwangsläufig auf die in ihr geübten Editionsprinzipien über. Ich greife noch einmal auf Paul zurück. In seinem Prospekt spricht er von „sorgfältig revidierten texte[n]" und von einer „rechenschaft über das vom herausgeber befolgte kritische verfahren". Der Begriff der Revision betrifft das Verhältnis der Ausgaben zu ihren Vorgängern. Diese sollen nicht abgelöst werden, vielmehr Wege zu ihnen gebahnt werden. Die großen Ausgaben sind in ihrer Existenz vorausgesetzt. Man verzeichnet Abweichungen von ihnen, will aber nicht (ausdrücklich) mit ihnen konkurrieren. Man verweist auf anderweitig erschienene textkritische Untersuchungen, die überhaupt erst die Art der editorischen Behandlung des vorliegenden Textes genauer zu erkennen geben. Doch all dies hat durchaus Methode. Statt aufwendige kritische Texte, behandelt nach Verfahren, deren Prämissen teilweise fragwürdig geworden sind, bietet man handschriftennahe, von Ballast befreite, dafür in ihrer Konstitution reflektierte Texte. Auch der Begriff der Rechenschaft markiert in diesem Sinne eine Positionsbestimmung im philologischen Diskurs. Hervorgehoben wird die Darlegung des editorischen Prinzips, die bekanntlich in den älteren Ausgaben keine große Rolle spielte. Auch die publikumswirksam ,frisch' präsentierten Texte stehen damit im Kontext philologischer Kritik. Ihr Aufbruch zu methodischem Neuland wird durch den Bezug auf germanistische Traditionsbildung abgesichert. Paul selbst hat dies für Walther demonstriert. Seine Ausgabe wird durch die bekannt knappe und prägnante Vorrede eingeleitet: 67

So im Falle des Mauritius von Craün oder des Eckenliedes. Eine Revision aufgrund der Wiederentdeckung einer Handschrift erfolgte bei Strickers Daniel von dem blühenden Tal. Hrsg. von Michael Resler. Tübingen 1983; 2. neubearbeitete Auflage hrsg. von dems. Ebd. 1995 (ATB 92).

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Dem zwecke der Sammlung entsprechend, die mit diesem bände eröffnet wird, bin ich lediglich bestrebt gewesen die gedichte Walthers durch eine möglichst billige und handliche ausgabe leicht zugänglich zu machen. Ich mache nicht den anspruch, damit etwas wesentliches für die kritik und erklärung geleistet zu haben. Meine arbeit hat hauptsächlich darin bestanden, aus der masse der aufgestellten Vermutungen das wenige sichere oder wenigstens plausible herauszusuchen. Bei der herstellung des textes habe ich mich enger an die handschriftliche Überlieferung angeschlossen als irgend alle früheren herausgeber. Ich will damit nicht [am Rand hinzugefiigt: in allen fällen] die richtigkeit derselben als zweifellos hinstellen, aber ich meine, dass wir immer auf festerem boden bleiben, wenn wir eine überlieferte lesart, die uns einiges bedenken erregt stehen lassen, als wenn wir sie durch eine conjectur ersetzen, die willkürlich aus verschiedenen möglichkeiten ausgewählt ist. Am wenigsten habe ich da, wo der sinn keinen anstoss erregt, unerwiesenen metrischen Voraussetzungen zu liebe ändern mögen. In der beseitigung orthographischer und dialektischer eigenheiten der handschriften bin ich weiter gegangen als Lachmann, um das verständniss des textes, der auch von anfängern gebraucht werden soll, nicht unnöthig zu erschweren. Im übrigen lege ich auf die von mir gewählte Schreibweise kein besonderes gewicht, da ich sehr wol weiss, wie wenig wir im stände sind ein abbild von der wirklichen spräche des dichters zu geben. 68

So lakonisch er formuliert ist, der Anspruch ist von nicht geringer Sprengkraft.69 Paul emanzipiert sich nicht nur, was Überlieferungsnähe, Chronologie, Reihenfolge und Metrik angeht, stärker von Lachmann als die meisten Herausgeber. Er bringt auch grundsätzliche Probleme auf den Punkt: das der Konjekturalkritik ebenso wie das der Autornähe und das des Leithandschriftenprinzips. Methodenbewusstsein schließt bei ihm Erkenntnisskepsis ein, und die Rücksicht auf den Anfänger ist in diesem Zusammenhang ein willkommenes Moment, mit der Situation des Editors zwischen der Skylla vermeintlicher Rekonstruktionssicherheit und der Charybdis zweifelhaften Überlieferungsvertrauens pragmatisch umzugehen. An Pragmatismus fehlte es Paul trotz seiner oft wissenschaftspolitisch rigorosen Haltung nicht. Während er in der Leipziger Probevorlesung (s. Anm. 6) vehement der Existenz einer mittelhochdeutschen Schriftsprache entgegentrat, scheute er sich nicht, in seinen Ausgaben ein klassisches Mittelhochdeutsch herzustellen - aber eines, das nun nicht in seiner Lautung beanspruchen kann, authentisches Dichterwort zu sein. In der zweiten Auflage der Mittelhochdeutschen Grammatik heißt es: „Aus rücksicht auf das nächste praktische bedürfniss habe ich mich, wo die dialektischen Verschiedenheiten nicht ausdrücklich her-

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* Die Gedichte Walthers von der Vogel weide. Hrsg. von Hermann Paul. Halle 1882 (ATB 1), S. III. Die Wiedergabe folgt der handschriftlichen Druckvorlage Pauls im Nachlass, Abteilung 1. 14. Zum Kontext s. Ranawake 1999 (Anm. 3). 69 Vgl. Hans-Joachim Behr: Der Editor mittelhochdeutscher Texte. In: Burkhardt/Henne 1997 (Anm. 2), S. 28-34.

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vorgehoben werden mussten, möglichst an die allerdings auf der annahme einer gemeinsprache basierten geregelte Schreibweise unserer kritischen ausgaben angeschlossen."70 Es zeichnet sich hier jene Ausdifferenzierung von Funktionszusammenhängen ab, die für die Germanistik der Zeit vor und nach 1900 charakteristisch ist und der wiederum argumentative Differenzierungen entsprechen, jenseits schlichter Entweder-oder-Logik. Schon in der Einleitung zur großen Ausgabe des Gregorius hatte Paul gezeigt, wie genau die Annahme, bestimmte Handschriften seien verwandt, geprüft werden muss, wie sehr aber auch die einseitige Bevorzugung einer Handschrift „das richtige verfehlen wird" (S. νΠΙ). Konsequenz ist jene beständige Weiterarbeit an der Edition, die sich in den verschiedenen Auflagen des Gregorius, des neben dem Armen Heinrich erfolgreichsten Titels der Altdeutschen Textbibliothek, niederschlägt. Konsequenz ist aber auch das Wechselspiel von Annäherung und Entfernung hinsichtlich des überlieferten Wortlauts, das sich vielen Bänden der Textbibliothek sowie deren verschiedenen Auflagen ablesen lässt. Die unter der Ägide Pauls publizierten Ausgaben klassischer Texte haben trotz aller Distanz zu Lachmann rekonstruierenden Charakter. Ihre Handschriftennähe ist eine relative. Ziel bleibt ein der Entstehungszeit nahekommender Text und dies auch dort, wo unikale Überlieferung vorliegt wie im Falle der Kudrun. Wenn hier Konjekturen des Herausgebers durch Kursivierung markiert werden, deutet sich ein Verfahren an, das in der Textbibliothek lange brauchen wird, um sich einzubürgern. Was sich allerdings schon früh manifestiert, ist das Bemühen um Angemessenheit gegenüber der historischen Situation und der Überlieferungslage. Wo sie aus dem Blick gerät, kommt es zu Fehlgriffen, die den kritischen Rezensenten nicht entgehen. Während im Falle der Kudrun angesichts der späten Handschrift die Transponierung in ein Mittelhochdeutsch des 13. Jahrhunderts akzeptabler Notbehelf ist, weil so ein Text in seinen möglichen (literar)historischen Kontexten gesehen werden kann, muss das gleiche Verfahren anderswo zu Anachronismen führen (so im Falle des König Rother) oder historisch zweifelhaft bleiben (so im Falle des Orendel). Die Suche nach Angemessenheit bedingt es auch, Lösungen für spezifische Gegebenheiten zu entwickeln. Reissenberger konstituiert den Text des Reinhart Fuchs in der Abwägung von Ρ und K, teilt aber auch den vollständigen Wortlaut der fragmentarischen alten Handschrift S unter dem Haupttext mit; Baesecke macht daraus in seiner Neubearbeitung eine synoptische Gegenüberstellung. Für Reinke de Vos folgt Prien bis ins Graphische (Frakturlettern) hinein dem Druck und legt damit eine Ausgabe vor, die ihrem Charakter nach eher den Neudrucken entspricht. In der Folgezeit gab es in der Altdeutschen Textbibliothek alle Arten von Editionen: bereinigte Handschriftenabdrucke, handschriftennahe, aber normalisierte Texte, kritische Texte mit und ohne handschriftenbezogene Beigaben. Ge70

Hermann Paul: Mhd.e Grammatik. Halle/S. 2 1884, S. 4; Henne 1995 (Anm. 33), S. 3.

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nerell zu beobachten ist der nähere Anschluss an die Überlieferung, die manchmal zum ersten Mal überhaupt wieder in originaler Form zur Kenntnis genommen wurde. Manche der frühen Ausgaben stützten sich ja auf moderne Abschriften der Handschriften bzw. auf die vorliegenden kritischen Editionen und ergänzende Lesartenangaben. Hier waren Revisionen nötig. Zugleich blieb das Prinzip der Benutzerorientierung und der historischen Differenzierung gültig - weshalb man die Judith aus der Vorauer Handschrift in einem kritischen Text, die Deutschordens-Judith aus der Stuttgarter Handschrift in einem handschriftennahen Abdruck lesen kann.71 Unter Hugo Kuhn und Burghart Wachinger kamen überlieferungs- und textgeschichtlich aufwendige Editionen hinzu: Konrad von Heimesfurt zum Beispiel mit 100-seitiger Einleitung, ausführlichem Variantenapparat, Anmerkungen und Namensverzeichnis. 72 Außerdem experimentellere Formen: die Gegenüberstellung von diplomatischem Abdruck und kühnem Herstellungsversuch samt textkritischem Beiheft im Falle des Moriz von Craun,73 der vierfache Paralleldruck in einer Klappausgabe im Falle von Eilharts Tristant74 oder jüngst die Präsentation sämtlicher Fassungen eines Textes im Falle des Eckenliedes75 und die Kombination aus einem neben der Zeile und einem am Fußende der Seite piazierten Apparat im Falle von Heinrichs Crdne.16 Nicht alle Experimente erwiesen sich längerfristig als fruchtbar: Beim Moriz von Craun war die Spannweite zwischen überliefertem und hergestelltem Text so groß, dass das Bedürfnis nach einer lesbaren Ausgabe, die sich vorsichtiger einer älteren Überlieferungsstufe annähert, lebendig blieb.77 Diese Vorsicht wurde in unterschiedlichen Nuancen gehandhabt, doch kann man wohl sagen, dass der Optimismus, mit dem John A.

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Die jüngere Judith aus der Vorauer Handschrift, kritisch hrsg. von Hiltgunt Monecke. Tübingen 1964 (ATB 61); Judith. Aus der Stuttgarter Handschrift HB XIII 11. 2. Auflage besorgt von Hans-Georg Richert nach der Ausgabe von Rudolf Palgen. Tübingen 1969 (ATB 18). Konrad von Heimesfurt: „Unser vrouwen hinvart" und „Diu urstende". Mit Verwendung der Vorarbeiten von Werner Fechter. Hrsg. von Kurt Gärtner und Werner J. Hoffmann. Tübingen 1989 (ATB 99). Moriz von Craun. Unter Mitwirkung von Karl Stackmann und Wolfgang Bachofer im Verein mit Erich Henschel und Richard Kienast hrsg. von Ulrich Pretzel. Tübingen 1956 (ATB 45). Eilhart von Oberg: Tristrant. Synoptischer Druck der ergänzten Fragmente mit der gesamten Parallelüberlieferung. Hrsg. von Hadumod Bußmann. Tübingen 1969 (ATB 70). Das Eckenlied. Sämtliche Fassungen hrsg. von Francis B. Brevart. 3 Tie. Tübingen 1999 (ATB 111). Heinrich von dem Türlin: Die Krone (Verse 1-12281). Nach der Handschrift 2779 der Österreichischen Nationalbibliothek nach Vorarbeiten von Alfred Ebenbauer, Klaus Zatloukal und Horst P. Pütz, hrsg. von Fritz Peter Knapp und Manuela Niesner. Tübingen 2000 (ATB 112). Auch hier erhielt die Neuausgabe eine neue Nummer: Mauritius von Craün. Hrsg. von Heimo Reinitzer. Tübingen 2000 (ATB 113).

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Asher im Falle des Guoten Gerhart nachweislich bessere Lesarten der Handschrift Β bestimmen zu können glaubte,78 im ganzen abgenommen hat. Bei den .klassischen' Titeln erwiesen sich die kritischen Texte aufgrund ihrer Ausgewogenheit als brauchbar, auch wenn die Transparenz der Überlieferung zu verbessern war und die Idee der Autornähe oder die Transponierung in eine ältere Sprachstufe an Überzeugungskraft verlor.79 Nicht selten kam es zu einer Dialektik von Entfernung und Wiederannäherung hinsichtlich der ersten Auflagen der Edition. Während die von Leitzmann betreuten Auflagen der Paulschen Ausgabe sich sukzessive von den Prinzipien des Lehrers wegbewegten, kehrten die letzten Bearbeiter eher wieder zu Paul zurück: so Silvia Ranawake bei Walther, wo von der sechsten Auflage an ja sogar der Text an die von Carl von Kraus gestaltete Lachmannausgabe angeglichen worden war, und so auch Burghart Wachinger beim Gregorius.8Ü Im Falle des Armen Heinrich blieb der kritische Text relativ konstant, trugen aber Einleitung und Apparat, gespeist aus der Umstellung der ATB-Ausgabe auf eine handschriftengenaue Ausgabe durch Heinz Mettke in der DDR, der Überlieferungslage ausführlich Rechnung. Im Falle des Erec wurde der von Leitzmann 1939 für die Textbibliothek erarbeitete kritische Text nach der Ambraser Handschrift durch einen diplomatischen Abdruck der Fragmente ergänzt. Für Heliand und Genesis unternahm Burkhard Taeger eine vollständige Nachkollation, die „zu einer nicht unerheblichen Steigerung der Genauigkeit im einzelnen, und zu größerer Konsequenz im ganzen" führte, ohne dass aber wesentliche Änderungen am Text nötig gewesen wären.81

V. Stärkere Veränderung erlebten in der Regel, abgesehen von den Einleitungen, die Apparate, sei es dass sie überhaupt erst eingeführt, sei es dass sie konsequent auf die Überlieferung bezogen wurden. In der Walther-Ausgabe hatte Paul für eine Diskussion spezifischer Stellen und Aspekte der Lieder auf seine im glei78

Der guote Gerhart von Rudolf vom Ems. Hrsg. von John A. Asher. 2., revidierte Auflage. Tübingen 1971 (ATB 56), S. IXf.

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Vgl. etwa Ruhs Aussage, in: Wernher der Gartenaere: Helmbrecht. Hrsg. von Friedrich Panzer und Kurt Ruh, 9. Auflage. Tübingen 1974 (ATB 11), S. VII: „Dem Versuch, aus nur zwei Zeugen, die dem 15. und beginnenden 16. Jahrhundert angehören, einen Text des 13. Jahrhunderts, wenn auch nur in vorsichtiger Annäherung, zurückzugewinnen, stehe ich heute sehr skeptisch gegenüber."

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Walther von der Vogelweide: Gedichte. 11. Auflage auf der Grundlage der Ausgabe von Hermann Paul hrsg. von Silvia Ranawake, mit einem Melodieanhang von Horst Brunner. Tl. 1: Der Spruchdichter, Tübingen 1997 (ATB 1); Hartmann von Aue: Gregorius. Nach der Ausgabe von Hermann Paul hrsg. von Burghart Wachinger. 14. Auflage. Tübingen 2 0 0 4 (ATB 2). Heliand und Genesis. Hrsg. von Otto Behaghel. 9. Auflage bearbeitet von Burkhard Taeger. Tübingen 1984 (ATB 4).

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chen Jahr in den Beiträgen erschienene Abhandlung verwiesen. 82 Dem Armen Heinrich hatte er ein Verzeichnis der Abweichungen gegenüber der Hauptschen Ausgabe beigegeben, dem Gregorius ein ebensolches im Hinblick auf seine eigene große Ausgabe. Auch im Falle Wolframs beschränkte sich Leitzmann auf umfängliche Listen - was hier angesichts des Fehlens von Einleitungen noch mehr ins Auge sticht; das geplante Zusatzheft mit den nötigen philologischen, historischen und literaturgeschichtlichen Erläuterungen kam nie zustande. Doch schon die Ausgabe des Reinhart Fuchs von 1886 (ATB 7) nutzte die überschaubare Überlieferungssituation, in einem Apparat die Lesarten der Handschriften und die Abweichungen des Grimmschen Textes zu bringen - ein Verfahren, das auch in der Folgezeit zahlreiche Ausgaben praktizierten. Gelegentlich kam es zu einer Vermischung der Apparattypen. Die Kudrun-Ausgabe von Symons verzeichnete die Lesarten der Handschrift und die Urheber von Besserungsvorschlägen, gab aber auch Hinweise zum Verständnis des Textes, die dem „zwecke der ausgabe gemäss" die Absicht haben, „den lernenden zu selbständigem weiterstudium anzuregen. Sie erläutern schwierige stellen, weisen auf fragen der höheren kritik hin und suchen durch den hinweis auf parallelstellen das Verhältnis der Kudrun zu verwanten dichtungen zu verdeutlichen" (S. 42). Damit ist die Frage nach der Bedeutung kommentierender Anmerkungen für die Textbibliothek aufgeworfen. Sie spielte von Anfang an eine Rolle, schon deshalb, weil man sich zwar von den Deutschen Classiker[n] des Mittelalters mit ihren teilweise ausführlichen Stellenerklärungen absetzen und doch auf ein weniger vertrautes Publikum Rücksicht nehmen wollte. Zarnckes Votum in dieser Sache war eher negativ: Er riet Paul, man solle zunächst einmal von Anmerkungen absehen, um das Erscheinen der Bände nicht zu verzögern und sich nicht beckmesserischer Kritik auszusetzen. Paul hielt dann in seinem Prospekt fest, dass „beigaben zur erläuterung" zwar „nicht grundsätzlich ausgeschlossen" seien, aber nicht zur Erhöhung des Preises führen sollten. Für althochdeutsche, mittelniederdeutsche und in der Schule gebrauchte mittelhochdeutsche Texte stellte er die Hinzufügung kleiner Wörterbücher in Aussicht. Dazu kam es im Falle des Reinke de Vos wie später der Gandersheimer Reimchronik oder des Köker,m während bei den althochdeutschen Texten wenn überhaupt althochdeutsch-lateinische Glossare beigegeben wurden. Als Beispiele eines mittelhochdeutschen Textes mit Wörterbuch blieben Pauls Walther und Panzers Helmbrecht eher die Ausnahme.

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Hermann Paul: Zu Walther von der Vogelweide. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 8, 1882, S. 161-209 (hier auch auf S. 171-181 die Auseinandersetzung mit Burdach). Die Gandersheimer Reimchronik des Priesters Eberhard. Hrsg. von Ludwig Wolff. Halle/S. 1927 (ATB 25); Hermann Bote: Der Köker. Mittelniederdeutsches Lehrgedicht aus dem Anfang des 16. Jahrhunderts. Hrsg. von Gerhard Cordes. Tübingen 1963 (ATB 60).

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Pauls Ausgabe bot auch historische Anmerkungen vor allem zu den politischen Liedern, die ihre Nützlichkeit behielten, weshalb Silvia Ranawake sie bei ihrer Neubearbeitung der Ausgabe „auf den neuesten Stand gebracht, ergänzt und um Worterklärungen und eine Variantenauswahl erweitert" hat.84 In etwas anderer Weise stellt Burghart Wachinger für die 15. Auflage des Gregorius dem textkritischen Apparat einen erklärenden Apparat zur Seite, der das sprachliche Verständnis des Textes erleichtert. Er zielt nicht darauf, grammatische und lexikographische Hilfsmittel zu ersetzen, wohl aber Bedeutungsnuancen aufzuschlüsseln und zur Hartmannschen Syntax hinzuführen - was nicht zuletzt deshalb praktische Bedeutung besitzt, weil im akademischen Unterricht die mittelhochdeutsche Syntax bekanntlich regelmäßig zu kurz kommt. Während sachlich, inhaltlich und historisch kommentierende Anmerkungen stark an den jeweiligen Forschungsstand gebunden sind und zur Aufschwellung tendieren, sind die sprachlichen zweckgebundener und behalten länger ihren Wert. Auf diese Weise bleibt aber auch der Umgang mit den Texten in der Altdeutschen Textbibliothek auf jenes „ausserhalb des speziellen fachkreises" liegende Interesse bezogen, von dem Hermann Paul ausging. Eine Rückkehr zu den Anfängen, unmöglich ohnehin, ist damit nicht verbunden. Die Situation der Altgermanistik hat sich institutionell und strukturell gewandelt. Der Ausweitung des Textbegriffs und der Pluralisierung von Editionsmodellen stehen veränderte akademische Gegebenheiten gegenüber: wachsende Distanz zum Modell der Nationalphilologien seitens der Literaturwissenschaft, abnehmende Vertrautheit mit älteren Sprachstufen seitens der Studierenden, sich verändernde Fächeridentitäten in neuen modularisierten konsekutiven Studiengängen - sie alle haben einerseits selektive Lektüre, andererseits Übersetzungen und zweisprachige Textausgaben befördert. Die Ausweitung des mechanischen und elektronischen Kopierens sowie knappe Handlungsspielräume der Wissenschaftsverlage tragen das Ihre dazu bei, editorische Wagnisse bei kleiner Auflage zu halten. Auch die Altdeutsche Textbibliothek hat hier keinen leichten Stand. Ihre Ausgaben müssen sich behaupten gegen billigere und bequemer zu benutzende Konkurrenten. Ihre Mittlerstellung zwischen Fachwissenschaft und Seminarbetrieb ist eine fragile. Dass die beschriebenen Entwicklungen mit neuerlichen Kanonisierungseffekten einhergehen, macht die Sache nur scheinbar leichter: Die ATB hat sich von der reinen Klassikerbibliothek zu weit entfernt, als dass sie sich einfach wieder auf den ,Kern' konzentrieren könnte, sie hat andererseits die Idee eines solchen ,Kerns' nie preisgegeben. Indem sie die Öffnungen des Fachs für neue Texte und Texterschließungen begleitete, zog sie die Gefahr der Beliebigkeit jener der Beschränktheit vor und fand gerade darin ihre spezifische Historizität. Auch für die Zukunft wird ihr nichts anderes übrig bleiben, als dem Diktat der wissenschaftsinstitutionellen und -ökonomischen Ge84

Walther von der Vogelweide 1882 (Anm. 68), S. X.

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gebenheiten die Vielfalt des editorisch Möglichen entgegenzustellen und dabei Augenmaß für die Balance von akademischem Studium und fachwissenschaftlicher Diskussion zu wahren. Das heißt: neben die auf sich wandelnde Studienbedingungen reagierenden Ausgaben der ,Klassiker' werden immer wieder auch solche treten, die wenig im Seminar gelesen werden, und gelegentlich auch solche, die vor allem der Forschung dienen. Nur diese Mischung hält in meinen Augen dem Anspruch stand, wissenschaftliche Erkenntnis sowohl zu vermehren wie zu vermitteln.

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Die Edition althochdeutscher (theodisker) Texte zwischen Überlieferungstreue und Rekonstruktion

Beginnen wir mit einer kultur- und literaturgeschichtlichen Perspektive: Die Kultur des karolingischen Imperium, des karolingischen Frühmittelalters ist fundamental geprägt von Mehrsprachigkeit, von der gestaffelten Instrumentalisierung seiner leitenden Sprachen, des Lateins und seiner Nachfolgesprachen, der linguae romanae rusticae, und den theodisken Sprachen, die uns die romantische Philologie Althochdeutsch, Altniederdeutsch oder Altsächsisch zu nennen gelehrt hat, die aber doch darin nur die komplexe, aber durchaus aufeinander bezogene Sprachenvielfalt und Mehrsprachigkeit der gentes der Franken, Alemannen, Baiern und Thüringer auffängt.' Ganze Domänen, wie die des sacrum und die der eruditio, waren vom Latein gefüllt, in anderen bedeutenden Domänen aber wie der des Rechts, der Verhandlung, der patrimonialen Memoria der Herkunfts- und Heldensagen, der Wirtschaft und des Alltags dominierten die Volkssprachen. Drei Beispiele aus vielen möglichen mögen genügen, um diese Behauptung zu illustrieren: In den Koblenzer Verhandlungen des Jahres 860, die zu einem Friedensvertrag führten, sprachen der Ostfranke Ludwig der Deutsche und der lotharingische König Lothar II. im Angesicht der Großen des Gesamtreichs die lingua theodisca, der Westfranke Karl der Kahle sowohl in Theodisk als auch in der Sprache seines Volkes. Noch 948, auf der Synode von Ingelheim, verhandelten Otto I. und Ludwig IV. aus dem Westreich in teutisca lingua; sogar Michel Banniard: Genäse culturelle de l'Europe. Ve-VIIIe siecle. Paris 1989; ders.: Viva Voce. Communication ecrite et communication orale du IVe sifecle en Occident Latin. Paris 1992; ders.: Die Franken zwischen Spätlatein und Altfranzösisch. In: Die Franken - Wegbereiter Europas. Hrsg. von Alfried Wieczorek, Patrick Perin u. a. 1. Bd. Mainz 1996, S. 5 7 4 578; ders.: Germanophonie, latinophonie et accfes ä la Schriftlichkeit. In: Akkulturation. Probleme einer germanisch-romanischen Kultursynthese in Spätantike und frühem Mittelalter. Hrsg. von Dieter Hägermann, Wolfgang Haubrichs und Jörg Jarnut. Berlin, New York 2004, S. 3 4 0 - 3 5 8 ; Wolfgang Haubrichs: Sprache und Sprachzeugnisse der merowingischen Franken. In: Die Franken (wie oben), Bd. 1, S. 5 5 9 - 5 7 3 . Die Einsicht in die Mehrsprachigkeit des karolingischen Europas und die Funktionsvielfalt der in ihm vertretenen komplementären Sprachen ist Basis der literaturgeschichtlichen Darstellung in: Wolfgang Haubrichs: Die Anfänge. Versuche volkssprachiger Schriftlichkeit im frühen Mittelalter. 2. Aufl. Tübingen 1995 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit, Bd. I, 1), S. 21-29. Vgl. ferner Emst Hellgardt: Zur Mehrsprachigkeit im Karolingerreich. In: PBB 118, 1996, S. 1-48.

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päpstliche, natürlich in Latein geschriebene Briefe „verdeutschte" man den Königen. 2 Und als man im späteren 9. Jahrhundert in der Nähe von Sens ein Gesprächsbüchlein über frühfeudale Alltagskommunikation anlegte, die sog. Altdeutschen' oder .Pariser Gespräche', da setzte man auf die eine Seite Sätze in stark romanisiertem Latein und auf die andere Seite Sätze in einem romanisch eingefärbten Theodisk. 3 Das mag genügen, um daran zu erinnern, dass die lateinische Kultur der litterati, die uns überwiegend überliefert ist, ihrerseits in einem Meer von volkssprachiger Kommunikation schwamm. Die Kultur der Karolingerzeit war eine sich in mehreren Sprachen ausdrückende Kultur. Der Sprung der Volkssprachen in die Schriftlichkeit war möglich, wenn auch nicht selbstverständlich. Er wurde - wie übrigens auch im angelsächsischen Bereich - gewagt, so dass man von der karolingischen Literatur, vor allem im östlichen Teil des Imperium, als einer Literatur in mehreren Sprachen reden kann. So konnte es kommen, dass die bei weitem umfangreichsten und anspruchsvollsten Werke der Karolingerzeit, das altsächsische Bibelepos des ,Heliand' und der ,Liber Evangeliorum' des Otfrid von Weißenburg in lingua theodisca geschrieben wurden. Und erst recht die trümmerhaft überlieferten Texte der gentilen Sagenüberlieferung wurden (mit Ausnahme des späten ,Waltharius')4 in der Volkssprache niedergeschrieben, 5 2

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Reinhard Schneider: Schriftlichkeit und Mündlichkeit im Bereich der Kapitularien. In: Recht und Schrift im Mittelalter. Hrsg. von Peter Classen. Sigmaringen 1977, S. 257-280. Haubrichs 1995 (Anm. 1), S. 152-156. Vgl. Wolfgang Haubrichs, Max Pfister: „In Francia fui". Studien zu den romanisch-germanischen Interferenzen und zur Grundsprache der althochdeutschen .Pariser (Altdeutschen) Gespräche' nebst einer Edition des Textes. Mainz, Stuttgart 1989 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Geistes- und Sozialwissenschaftliche Klasse, Nr. 6); Thomas Klein: Zur Sprache der Pariser Gespräche. In: Theodisca. Beiträge zur althochdeutschen und altniederdeutschen Sprache und Literatur in der Kultur des frühen Mittelalters. Hrsg. von Wolfgang Haubrichs, Ernst Hellgardt u. a. Berlin, New York 2000, S. 3859. Dem Versuch von Roberta Gusmani, die Pariser Gespräche als authentisches Zeugnis für die Bewahrung einer Affrikata-Zwischenstufe in einem westfränkischen Dialekt um 900 zu interpretieren, stellen sich schwere Bedenken entgegen, die an anderer Stelle näher auszuführen sind. Vgl. zuletzt Roberto Gusmani: Graphematische Überlegungen zur hochdeutschen Lautverschiebung. In: Entstehung des Deutschen. Festschrift für Heinrich Tiefenbach. Hrsg. von Albrecht Greule, Eckhard Meineke und Christiane Thim-Mabrey. Heidelberg 2004, S. 143-152. Zur an Hand der Personennamen ablesbaren volkssprachigen Grundlage des ,Waltharius' vgl. Norbert Wagner: Zu den Personennamen im ,Waltharius'. Zwischen Textkritik und Namenkunde. In: Gedächtnisbuch für Elfriede Stutz. Hrsg. von Karl-Friedrich Kraft u. a. Heidelberg 1992, S. 109-125. Vgl. zum Aspekt des Umgangs mit den oralen Stoffen des frühen Mittelalters in der sich ausbildenden Schriftkultur Haubrichs 1995 (Anm. 1), S. 80-135; ders.: Ein Held für viele Zwecke. Dietrich von Bern und sein Widerpart in den Heldensagenzeugnissen des frühen Mittelalters. In: Haubrichs/Hellgardt u. a. 2000 (Anm. 3), S. 330-363; ders.: Helden und Historie. Vom Umgang mit der mündlichen Vorzeitdichtung an der Wende zum 2. Jahrtau-

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wenn sie denn geschrieben wurden, wie uns der in memorialer Intention unternommene Sammelversuch Karls des Großen der barbara et antiquissima carmina, der „volkssprachigen und altehrwürdigen Lieder, in denen die Taten und Kriege der alten Könige besungen wurden," verrät,6 dann die Fuldaer Aufzeichnung des ,Hildebrandsliedes',7 wahrscheinlich auch die XII carmina Theotiscae linguae formatae des Reichenauer Bibliothekskatalogs,8 und schließlich die 893 vom Erzbischof Fulco von Reims zitierten libri teutonici, die vom schlimmen Gotenkönig Ermanarich handelten.9 Man kann in der Karolingerzeit in der Tat von einem ersten Versuch sprechen, Volkssprache, vor allem theodiske Volkssprache in die Schriftlichkeit zu überführen, nur führte dieser Versuch nicht wie der des 12. Jahrhunderts zu einer Emanzipation der Volkssprachen und damit der allmählichen Etablierung eines eigenen literarischen Systems, sondern umgekehrt geradezu zu einer Integration volkssprachiger Schriftlichkeit in das lateinisch-christliche Literatursystem, so dass volkssprachige Bibelepik 10 lateinischspätantiker Bibelepik, heroische gentile Überlieferung aber der lateinischen Aufzeichnung gentiler Rechtstraditionen an die Seite treten konnte.11 Daraus

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send. In: Aufbruch ins zweite Jahrtausend. Innovation und Kontinuität in der Mitte des Mittelalters. Hrsg. von Achim Hubel und Bernd Schneidmüller. Ostfildern 2004, S. 205-226. Die früher, vor allem von Gerd Meissburger, aber unter Einsatz problematischer Quellenanalyse, mit Skepsis betrachtete Sammlung der volkssprachigen „uralten" Lieder über die Taten und Kriege der alten Könige im Auftrag Karls wird trotz der weiterbestehenden Unsicherheiten über den konkreten Inhalt heute nicht mehr grundsätzlich bezweifelt: Vgl. Wolfgang Haubrichs: Veterum regum actus et bella. Zur sog. Heldenliedersammlung Karls des Großen. In: Aspekte der Germanistik. Festschrift für Hans-Friedrich Rosenfeld. Hrsg. von Walter Tauber. Göppingen 1989, S. 17-46; Haubrichs 1995 (Anm. 1), S. l l l f . ; Ludwig Rübekeil: Heldenliederbuch Karls des Großen. In: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 14, Berlin, New York 1999, S. 282-283. Vgl. Rosemarie Lühr: Studien zur Sprache des ,Hildebrandliedes'. Frankfurt/M. 1981. Klaus Düwel: Art. Hildebrandslied. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Begründet von Wolfgang Stammler, fortgeführt von Karl Langosch. Hrsg. von Kurt Ruh [ab Bd. 9 von Burghart Wachinger]. 2., völlig neu bearb. Aufl. Bd. 1-11. Berlin, New York 1978-2004; Bd. 3, Sp. 1240-1256; Haubrichs 1995 (Anm. 1), S. 116-127; Elvira Glaser: Art. Hildebrandslied. In: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 14, Berlin, New York 1999, S. 556-561. Bernhard Bischoff: Paläographische Fragen deutscher Denkmäler der Karolingerzeit. In: Frühmittelalterliche Studien 5, 1971, S. 101-134, hier S. 134; Haubrichs 1995 (Anm. 1), S. 80. Flodoardi Historia Remensis ecclesiae. Hrsg. von Georg Waitz. In: MGH Scriptores, Bd. 13, Hannover 1898, Nachdruck 1981, S. 563f.; Haubrichs 2000 (Anm. 5), S. 340f. Vgl. Dieter Kartschoke: Bibeldichtung. Studien zur Geschichte der epischen Bibelparaphrase von Juvencus bis Otfrid von Weißenburg. München 1975; Haubrichs 1995 (Anm. 1), S. 260-323. Vgl. zum gleichzeitig im 9. Jahrhundert sich konkretisierenden Horizont eines heroic age Wolfgang Haubrichs: „Heroische Zeiten?" Wanderungen von Heldennamen und Heldensagen zwischen den germanischen gentes des frühen Mittelalters. In: Circolazione di uomini, di idee e di testi nel Medioevo germanico. Hrsg. von Franco de Vivo. Cassino 2002, S. 77-99. Neu

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erklärt sich der mehrfach bereits formulierte Eindruck, dass theodiske Texte des frühen Mittelalters kaum eigene Traditionen begründeten, sondern singular aus lateinischer Umgebung hervorwuchsen.12 So ist es auch zu erklären, dass es bei der Überlieferung in lingua theodisca zu sehr komplexen und differenten, in vielfältigen ,Lebenssitzen' angesiedelten Wechselbeziehungen zwischen Latein und Volkssprache kommt, denen etwa Rolf Bergmann 2001 für einen Teilaspekt unter dem Titel „Volkssprachig-lateinische Mischtexte und Textensemble" einen wichtigen Bamberger Kongress gewidmet hat.13 In überlieferungssystematischer Hinsicht, die das Verhältnis Latein-Theodisk stets mitbedenken, aber doch auch über diesen Aspekt hinausdenken muss, scheinen sich mir für die Karolingerzeit mehrere Überlieferungstypen abzuzeichnen, die durchaus verschiedene Behandlung in Edition und Rekonstruktion verlangen: 1) Texte, die in werkbezogener Überlieferung den Haupttext einer Handschrift (oder eines großen Teils) darstellen und damit den Werkhandschriften lateinischer Überlieferung wie Vergil-Hss., Prudentius-Hss., Augustin-Hss., Bibel-Hss. zur Seite treten. Beispiele hierfür wären etwa: das Corpus des sog. Isidor-Übersetzers,14 die Fuldaer Tatian-Übersetzung,15 das altsächsische ,Heliand'-Epos16 und die poetische Evangelienharmonie des Otfrid von Weißen-

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in: Namenwelten. Orts- und Personennamen in historischer Sicht. Hrsg. von Astrid van Nahl, Leunart Elmerik und Stefan Brink. Berlin, New York 2004, S. 513-534. Vgl. ζ. B. Max Wehrli: Gattungsgeschichtliche Betrachtungen zum Ludwigslied. In: Philologia deutsch. Festschrift Walter Henzen, Hrsg. von Werner Kohlschmidt und Paul Zinsli. Bern 1965, S. 9-20; Brian Murdoch: Introduction. In: German Literature of the Early Middle Ages. Hrsg. von Brian Murdoch. Rochester/NY 2004, S. 17-20. Volkssprachig-lateinische Mischtexte und Textensembles in der althochdeutschen, altsächsischen und altenglischen Überlieferung. Hrsg. von Rolf Bergmann. Heidelberg 2003. Vgl. auch die Arbeiten in dem Sammelband Latein und Volkssprache im deutschen Mittelalter 1100-1500. Hrsg. von Nikolaus Henkel und Nigel F. Palmer. Tübingen 1992. Klaus Matzel: Art. Althochdeutscher Isidor und Monsee-Wiener Fragmente. In: Verfasserlexikon (Anm. 7) 1, Sp. 296-303; Wolfgang Haubrichs: Volkssprache und volkssprachige Literaturen im lotharingischen Zwischenreich (9.-11. Jh.). In: Lotharingia - eine europäische Kernlandschaft um das Jahr 1000. Hrsg. von Hans-Walter Herrmann und Reinhard Schneider. Saarbrücken 1995, S. 181-244, hier S. 222-224; Elke Kretz: Auf den Spuren des althochdeutschen Isidor. Studien zur Pariser Handschrift, den Monseer Fragmenten und zum Codex Junius 25. Mit einer Neuedition des Glossars Je. Heidelberg 2002; dies.: Hear saget fona gotspelle. Zur äußeren und inneren Kohärenz einer lateinisch-althochdeutschen Sammelhandschrift. In: Bergmann 2003 (Anm. 13), S. 175-186. Achim Masser: Art. ,Tatian'. In: Verfasserlexikon (Anm. 7) 9, Sp. 620-628; Die lateinischalthochdeutsche Tatianbilingue Stiftsbibliothek St. Gallen Cod. 56. Hrsg. von Achim Masser. Göttingen 1994. Heliand und Genesis. Hrsg. von Otto Behaghel und Burkhard Taeger. Tübingen 1996. Vgl. auch Haubrichs 1995 (Anm. 1), S. 272-292; ders.: Ludwig der Deutsche und die volkssprachige Literatur. In: Ludwig der Deutsche und seine Zeit. Hrsg. von Wilfried Hartmann. Darmstadt 2004, S. 203-232, hier S. 214-225.

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burg. 17 Sie zeichnen sich durchweg durch planvolle skripturale Anlage, durch sorgfältige Ausführung und durch Praefationen, Widmungen und/oder Subscriptionen aus (auch das Isidor-Corpus enthält eine solche, leider nur fragmentarisch überliefert). Prototyp ist gewiss die Otfrid-Überlieferung mit ihren ausführlich begründenden und um Genehmigung bittenden Schreiben an den zuständigen Erzbischof, mit den Widmungen an den König (Abb. 1), an einen befreundeten Bischof und an verbrüderte Mönche aus St. Gallen, mit Akrosticha und Telesticha, Schmuckadressen in Majuskeln etc. 18 buchkünstlerisch gestaltet. In solchen Fällen kann man vielleicht nicht stets von einem Autorwillen, aber doch von einem Werkwillen, als legitimierender, auf Publikum gerichteter Instanz sprechen. Die Praefatio des ,Heliand' und Otfrid behandeln und besprechen die Publikationsform des Werks, Otfrid - in der Widmung an König Ludwig den Deutschen - bittet gar um Weiterverbreitung. 19 Ich möchte in diesen Fällen von t e x t a u t o n o m e r (werkbezogener) Überlieferung reden. Ihr scheint mir eine sowohl das Werk erschließende kritische Rekonstruktion als auch eine Nachzeichnung der Rezeption in der Überlieferung angemessen, wie dies für Otfrid durch Wolfgang Kleiber und Ernst Hellgardt geschieht. 20 2) Der häufigste Überlieferungstyp, den man in der volkssprachigen Texttradierung des frühen Mittelalters antreffen kann, ist aber jener, den ich k o r r e l i e r t e Überlieferung nennen möchte. Bei diesem Typ steht der volkssprachige Text in Korrelation, in Mitüberlieferung zu einem anderen Haupttext oder in Korrelation zu anderen Texten eines Ensembles, wobei wir in vielen Fällen das Motiv der Korrelation oder Mitüberlieferung nicht mehr oder nur mühsam und über Indizien erschließen können, wie etwa beim altbairischen Psalm 138, der sorgfältig geplant und geschrieben in das Freisinger für Bischof Waldo von Freising (883-906) verfasste Formelbuch des St. Galler Mönchs Notker Balbulus ( | 9 1 2 ) einkopiert wurde und inhaltliche Bezüge zur Synode von Tribur von 895 aufweist, wo Bischof Waldo Führer der bairischen Bischöfe war. 21 17

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Vgl. jetzt die große überlieferungsorientierte Neuausgabe mit ihrem ersten Teil: Otfrid von Weißenburg, Evangelienbuch. Hrsg. von Wolfgang Kleiber und Ernst Hellgardt. Band I: Edition nach dem Wiener Codex 2687. Hrsg. von Wolfgang Kleiber. 2 Teile. Tübingen 2004; ferner W. Schröder: Art. Otfrid von Weißenburg. In: Verfasserlexikon (Anm. 7) 7, Sp. 172— 193; Haubrichs 1995 (Anm. 1), S. 292-312. Vgl. Chiara Staiti: Otfrid von Weißenburg e la biografia impossibile di Ludovico il Germanico. In: Scripturus vitam. Lateinische Biographie von der Antike bis in die Gegenwart. Festgabe für Walter Berschin. Hrsg. von Dorothea Walz. Heidelberg 2002, S. 7 5 5 - 7 6 8 . Vgl. dazu Chiara Staiti: Das Evangelienbuch Otfrids von Weißenburg und Ludwig der Deutsche. In: Hartmann 2004 (Anm. 16), S. 233-254, hier S. 253. Vgl. Anm. 17. David R. McLintock: Art. Psalm 138. In: Verfasserlexikon (Anm. 7) 7, Sp. 8 7 6 - 8 7 8 ; Wolfgang Haubrichs: Arcana Regum. Der althochdeutsche 138. Psalm und die Synode zu Tribur (895). In: Architectura Poetica. Festschrift für Johannes Rathofer. Hrsg. von Ulrich Ernst und Bernhard Sowinski. Köln, Wien 1990, S. 67-106, hier S. 90-106.

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Man wird bei dem Typus korrelierter Überlieferung tunlichst zwei doch recht unterschiedlich zu bewertende Erscheinungsformen annehmen wollen: 2a) Texte, die in ein Textensemble eingebettet sind, wie der ,Wessobrunner Schöpfungshymnus', der - zusammen mit einem Gebet - unter dem Titel ,De Poeta' um 814 im Bereich von Augsburg unter einer Reihe von Exzerpten aus biblisch-exegetischen und gelehrten Stücken aufscheint; 22 wie die ,Straßburger Eide', die vom westfränkischen, königsnahen Geschichtsschreiber Nidhard in seine Chronik des Bürgerkriegs der Söhne Ludwigs des Frommen aufgenommen wurden; 23 oder wie das ,Altsächsische Taufgelöbnis', das sich in einem dem Kreis um den Bonifatius-Schüler Lull, Erzbischof von Mainz, zuzuordnenden libellus findet, zusammen mit auf die Situation der fränkischen Kirche und die Heidenmission bezüglichen Texten wie den Beschlüssen der Synode von Estinnes (744), dem Gebetsbund von Attigny (762), dem ,Indiculus superstitionum', einem auf den Norden bezüglichen Aberglaubenverzeichnis etc.;24 wie ,De Heinrico', jenes aus der späten Ottonenzeit stammende theodisk-lateinische Memorialgedicht innerhalb der ,Cambridger Liedersammlung'. 25 In allen diesen Fällen ist eine funktionsgeschichtlich ausgerichtete, an der konkreten Überlieferungskorrelation ausgerichtete Textedition zu fordern. Das ist aber nur in einem Falle geschehen (,Cambridger Liedersammlung'). Was man sich ansonsten an Erkenntnismöglichkeiten entgehen lässt, kann man symptomatisch am Schicksal des sog. ,Weißenburger Katechismus' aus einer Sammelhandschrift (Cod. Weiss. 91) mit Weißenburger Bibliotheksheimat ablesen. Die Editionen des darin in einem Textensemble enthaltenen ,Katechis-

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Hans-Hugo Steinhoff: Art. Wessobrunner Gebet. In: Verfasserlexikon (Anm. 7) 10, Sp. 9 6 1 965; Haubrichs 1995 (Anm. 1), S. 340-343; Ute Schwab: Zum ,Wessobrunner Gebet'. In: Romanobarbarica 10, 1988/89, S. 383-427; dies.: Glossen zu einem neuen mediaevistischen Handbuch. In: Studi Medievali, 3 a Serie 35, 1994, S. 321-365, hier S. 3 4 0 - 3 4 3 . Nithardi Historiae III, 5. In: Quellen zur karolingischen Reichsgeschichte, Bd 1. Hrsg. von Reinhold Rau. Darmstadt 1966, S. 4 3 8 - 4 4 0 . Vgl. Ruth Schmidt-Wiegand: Art. Straßburger Eide. In: Verfasserlexikon (Anm. 7) 9, Sp. 377-380; Haubrichs 1995 (Anm. 1), S. 156; Kurt Gärtner, Günter Holtus: Die erste deutsch-französische .Parallelurkunde'. Zur Überlieferung und Sprache der Straßburger Eide. In: Beiträge zum Sprachkontakt und zu den Urkundensprachen zwischen Maas und Rhein. Hrsg. von Kurt Gärtner und Günter Holtus. Trier 1995, S. 11-40. Chiara Staiti: ,Indiculus' und .Gelöbnis'. Altsächsisches im Kontext der Überlieferung. Nebst einer Edition einiger Texte des Cod. Vat. Pal. lat. 77. In: Bergmann 2003 (Anm. 13), S. 3 3 1 384. Vgl. speziell zum ,Indiculus' Holger Homann: Der Indiculus superstitionum et paganianum und verwandte Denkmäler. Göttingen 1965. Die Cambridger Lieder. Hrsg. von Karl Strecker. Berlin 1955, S. 55-59; The Cambridge Songs (Carmina Cantabrigensia). Hrsg. von Jan M. Ziolkowski. New York, London 1994. Vgl. Haubrichs 1995 (Anm. 1), S. 147-151; Murdoch 2004 (Anm. 12), S. 177-179; zuletzt Jens Schneider: Latein und Althochdeutsch in der Cambridger Liedersammlung: De Heinrico, Clericus et Nonna. In: Bergmann 2003 (Anm. 13), S. 297-314.

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mus' (auch das eine anachronistische Fehltitulierung) 26 haben in Missachtung des Überlieferungsbefundes (Beispiel in Abb. 2) feinsäuberlich die althochdeutschen, genauer rheinfränkischen Übersetzungen des Vaterunser, des Sündenverzeichnisses, des apostolischen und athanasianischen Credos und des .Gloria in excelsis deo' herauspräpariert, die davor und danach sich zu einem Ensemble von lat. Credo- und Paternosterauslegungen fügenden Texte aber weggelassen, geschweige denn haben sie die restlichen, in dem ursprünglich selbständigen libellus enthaltenen Texte analysiert. Erst diese ergeben aber zusammen mit den übrigen schon bald zusammengebundenen, zum Teil ebenfalls Credo- und Paternosterauslegungen, zum Teil einen Uber episcopalis, ein Pontifikale, enthaltenden libelli den Hinweis auf ein bischöfliches Buch, zusammen mit anderen Einträgen wiederum Indizien, die für Worms als Entstehungsort sprechen und für einen Wormser Bischof des frühen 9. Jahrhunderts, der zugleich Abt von Weißenburg war, als ersten Besitzer und Nutzer. Das engere Ensemble aber, in dem die althochdeutschen Texte standen, und das in bewusst ausgespartem Raum zwischen Registern der Paulusbriefe und der Homilien Gregors eingetragen wurde, umfasst Stücke wie Fragen an einen Priester über Amt, Messe und Taufe, die vermuten lassen, dass es sich bei der ganzen, volkssprachig durchsetzten Textserie um Vorlagen für die bischöfliche, u. a. auf die Fähigkeit zu Verständnis und volkssprachiger Lehre gerichtete Examination von Priestern handelte, wie sie die karolingische Kapitular- und Synodalgesetzgebung so intensiv vom episcopus forderte. 27 Das Textensemble des ,Weißenburger Katechismus' ist zweifellos ein sehr komplexer Casus. Aber wer würde bezweifeln, dass sich die Funktionsgeschichte des 881 zur Feier des Normannensieges des westfränkischen Königs Ludwigs III. gedichteten Rithmus teutonicus, des ,Ludwigsliedes', nur verstehen lässt aus der überlieferungsgeschichtlichen Vergesellschaftung (Abb. 3) mit dem altfranzösischen Eulalia-Lied (von gleicher Hand geschrieben), mit einem lat. Hymnus auf diese Heilige und anderen lateinischen Hymnen in einer entstehungszeitnahen Handschrift? 28 Und dennoch sind diese auch historisch so be26

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An .Katechismus' als Gattung religiöser Gebrauchsliteratur lässt sich vor dem 16. Jahrhundert nicht denken. Elias von Steinmeyer: Die kleineren althochdeutschen Sprachdenkmäler. Berlin 1916, S. 2 9 - 3 8 Nr. VI. Vgl. Wolfgang Haubrichs: Das althochdeutsch-lateinische Textensemble des Cod. Weiss. 91 (.Weißenburger Katechismus') und das Bistum Worms im frühen 9. Jahrhundert. In: Bergmann 2003 (Anm. 13), S. 131-173. Steinmeyer 1916 (Anm. 27), S. 137-144, 382 [Lit.]; Haubrichs 1995 (Anm. 14), S. 2 2 9 - 2 3 7 mit Darbietung der Überlieferung auf Tafel 4 1 - 4 7 ; Murdoch 2004 (Anm. 12), S. 1 3 0 - 1 3 4 [Lit.]. Die dort gegebene Angabe zur Schriftheimat St. Amand lässt sich nicht aufrecht erhalten, die Titulierung von Ludwig III. von Westfranken als „a French king" ist problematisch, da eigentlich anachronistisch, und verkennt den ,Sitz im Leben' des Preisliedes an einem von zweisprachigen Großen, die teilweise aus dem Rheinlande kamen, dominierten Königshof.

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deutsamen Texte feierlich einzeln begraben worden in ihren nationalphilologischen Editionssarkophagen; eine kritische Ensembleedition steht aus. 2b) Neben die eingebettete Überlieferung stellt sich für die volkssprachigen Texte eine Überlieferung, die diesen Texten eine Existenz am Rande, ad marginem, auf Vorsatzblättern oder am Ende einer Handschrift zuweist, an den Limites also, weshalb ich diese Überlieferungsart limitan nennen möchte. Typisch für diese Überlieferung ist, dass sie oft fragmentarische Texte hinterlässt ich verweise auf .Hildebrandslied',29 ,Muspilli' 30 und ,Georgslied' 31 (Abb. 4) - , dass sie in vielen Fällen (aber nicht notwendigerweise) in Bezug auf den Haupttext wie zufällig korreliert wirkt, was natürlich manchmal den Einfallsreichtum der Überlieferungsinterpreten reizt.32 Aber was hat das in Fulda auf Schutzblättern einer Bibelhandschrift notierte ,Hildebrandslied' mit den Salomo zugeschriebenen Werken des ,Liber Sapientiae' und des ,Ecclesiasticus', des Predigers, zu tun? Auf Grund welcher Eigenschaften stellte man das poetische Bibelstück ,Christus und die Samariterin', die alemannische Ballade, im 10. Jahrhundert auf der Reichenau auf dem Restplatz einer Seite hinter die ,Lorscher Annalen'? Was hat das auf leeren Seiten und Halbseiten einer Handschrift von „einer des Bücherschreibens ungewohnten Hand"33 eingetragene bairische Endzeitgedicht des ,Muspilli' mit dem Haupttext, 29 30

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Vgl. o. Anm. 7. Hans-Hugo Steinhoff: Art. Muspilli. In: Verfasserlexikon (Anm. 7) 6, Sp. 821-828; Haubrichs 1995 (Anm. 1), S. 319-323, 383 [Lit.]; Murdoch 2004 (Anm. 12), S. 164-167 [Christopher Wells], 194f. [Lit.]. Wolfgang Haubrichs: Georgslied und Georgslegende im frühen Mittelalter. Text und Rekonstruktion. Königstein/Taunus 1979; ders.: Die alemannische Herzogsfamilie des 10. Jahrhunderts als Rezipient von Otfrids Evangelienbuch? Das Spendenverzeichnis im Codex Heidelberg Palatinus lat. 52. In: Festschrift für Eduard Hlawitschka. Hrsg. von Karl Rudolf Schnith und Roland Pauler. Kallmünz/Oberpfalz 1993, S. 165-211; Haubrichs 1995 (Anm. 1), S. 335-342, 380 [Lit.]; ders.: Variantenlob - Variantenfluch? Aspekte der Textüberlieferung der Georgslegende im Mittelalter. In: Zur Überlieferung, Kritik und Edition alter und neuer Texte. Hrsg. von Kurt Gärtner und Hans-Henrik Krummacher. Mainz, Stuttgart 2000 (Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Abh. der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse Nr. 2), S. 143-159; Rudolf Schützeichel: Codex Pal. lat. 52. Studien zur Heidelberger Otfridhandschrift, zum Kicila-Vers und zum Georgslied. Göttingen 1982 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Philologisch-Historische Klasse, 3. Folge, Nr. 130); dazu W. Haubrichs, Rez. in: Anzeiger für Deutsches Altertum 96, 1985, S. 9-19; Murdoch 2004 (Anm. 12), S. 171-174 [Christopher Wells], 195f. [Lit.]. Ein plakatives Beispiel ist die nicht auszurottende, aber in keiner Weise von der Überlieferung gedeckte Überzeugung, dass das Georgslied von einem Schreiber namens Wisolf, der auch seine Signatur hinterlassen habe, geschrieben worden sei, der mit dem Stoßseufzer ihn[e kan] ... Nequeo die weitere Abschrift des schwierigen Textes verweigert habe. Vgl. Wolfgang Haubrichs: Nequeo Vuisolf. Ein Beitrag zur Mythenkritik der Altgermanistik. In: Sprachspiel und Lachkultur. Beiträge zur Literatur und Sprachgeschichte. Hrsg. von Angela Bader u. a. Stuttgart 1994, S. 28-42. Bischoff 1971 (Anm. 8), S. 122f.

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dem pseudoaugustinischen ,Sermo de symbolo contra Judaeos' zu tun, außer dass auch das Symbolum, das Glaubensbekenntnis, von der Wiederkunft Christi zum Jüngsten Gericht spricht? Freilich gibt es auch Fälle sinnvoll korrelierter limitaner Überlieferung, so wenn das nach 880 in Metz geschriebene, und zwar lateinisch und deutsch eingetragene ,Rheinfränkische Gebet' zusammen mit einem einschlägigen, aber von anderer Hand niedergeschriebenen Hieronymus-Brief auf das ursprünglich leere Vorsatzblatt eines Bußbücher und kirchenrechtliche Texte umfassenden Codex gestellt wurde (Abb. 5).34 Auch im Gebet geht es um die in der Buße zu empfangende, von der gratia Dei gespendete Befreiung von Sünde: Got, thir eigenhaf ist, thaz io genathih bist, intfaa gebet unsar, thes bethutjun wir sar, thaz uns, thio ketinun bindent thero sundun, thinero mildo genad intbinde haldo. („Gott, es ist dir wesenseigen, dass du stets gnädig bist: empfange unser Gebet, wir bedürfen dessen so sehr, auf dass uns, die wir in den Ketten der Sünden gefesselt sind, die Gnade deiner Barmherzigkeit rasch erlöse.")

Funktionsgeschichtlich anders, aber überlieferungsgeschichtlich vergleichbar ist es, wenn auf der ursprünglich leeren ersten Seite eines im 9. Jh. in Fulda zu liturgisch-praktischen Zwecken hergestellten Messbuchs das sog. ,Merseburger Gebet', das Bruchstück eines zentralen Gebets der Opfermesse, das der Priester nach der eucharistisehen Wandlung spricht, in Latein und althochdeutscher Übersetzung aufgeschrieben wurde. 35 Wie soll man nun diese limitanen Texte überlieferungsgetreu edieren? Einerseits sind sie eng an den Haupttext gebunden, beziehen gewissermaßen aus ihm ihre Funktion, andererseits würde man mit dem Verlangen nach Ko-Edition des gesamten Haupttextes wohl schnell an die Grenzen des Zumutbaren stoßen. Vielleicht wäre eine die Bezüge verdeutlichende, „taktvoll" gehandhabte Auswahl aus dem Haupttext für die Edition nebst ausführlicher Beschreibung und Kommentierung - versteht sich - zu empfehlen. 3) Bemerkenswert ist bei den soeben behandelten Gebeten auch die funktionale „Kopräsenz zweisprachiger Textensembles" - ich gebrauche damit eine

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Steinmeyer 1916 (Anm. 27), S. 92-93, Nr. XVIII. Vgl. Haubrichs 1995 (Anm. 1), S. 2 9 9 - 3 0 0 ; Murdoch 2004 (Anm. 12), S. 169. Achim Masser: Art. .Merseburger Gebetbruchstück'. In: Verfasserlexikon (Anm. 7) 6, Sp. 4 0 9 - 4 1 0 ; Haubrichs 1995 (Anm. 1), S. 242. Vgl. auch Volker Honemann: Zum Verständnis von Text und Bild der .Fuldaer Beichte'. In: Deutsche Literatur und Sprache von 1 0 5 0 1200. Festschrift Ursula Hennig. Hrsg. von Annegret Fiebig und Hans-Jochen Schiewer. Berlin 1995, S. 111-125.

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glückliche Prägung von Nikolaus Henkel36 - , wie sie im Grunde auch bei den überlieferungstypologisch viel gewichtigeren Produktionen der althochdeutschen Isidor-Gruppe und der lateinisch-althochdeutschen Evangelienharmonie des ,Tatian' zu beobachten war, in denen Latein und Deutsch sich in aufeinander bezogenen Kolumnen gegenüberstehen. Konstitutiv ist diese Zweistimmig- oder Zweischriftigkeit für einen dritten Überlieferungstyp volkssprachiger Texte oder Wörter, den ich s u b o r d i n i e r t e Überlieferung nennen möchte. Hiermit sind zunächst Glossen und Glossierungen gemeint, die sich in oft komplexen Schichten bedeutsamen Haupttexten klassischer Autoren, den Canones, vielgelesenen Viten usw. anlagern und auch als solche schulmäßig weitergegeben wurden, selten kontextual, etwa ad marginem notiert, sondern durchweg geplant, überwiegend zwischen den Zeilen. Diese dem Haupttext völlig subordinierte, aber hochfrequente volkssprachige Überlieferung hat in der letzten Zeit durch die Bemühungen von Elvira Glaser,37 Rolf Bergmann,38 Nikolaus Henkel39 und anderen endlich die ihr gebührende bildungs- und kulturgeschichtliche Aufmerksamkeit gefunden, so dass ich mich darauf beschränken kann, den letztgenannten zu zitieren, der im Hinblick auf die Funktion der Glossen formuliert hat: „Im Konzert der sonstigen, auf der Buchseite um den Text gelagerten Erschließungsinstrumente sind die Glossen in Volkssprache nicht Übersetzungshilfen" (ich würde sagen: nicht nur Übersetzungshilfen), „sondern zielen, wie der übrige lateinischsprachige Apparat, ausschließlich auf die Erarbeitung des Textverständnisses" des glossierten Werks in seiner „originalen, das heißt lateinischen Gestalt". Kulturhistorisch „und speziell bildungsgeschichtlich verfährt dieser 36

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39

Nikolaus Henkel: Synoptische Kopräsenz zweisprachiger Textensembles im deutschen Mittelalter. Überlegungen zu Funktion und Gebrauch. In: Bergmann 2003 (Anm. 13), S. 1-25. Vgl. ferner Nikolaus Henkel: Die althochdeutschen Interlinearversionen. Zum sprach- und literarhistorischen Zeugniswert einer Quellengruppe. In: Wolfram-Studien 14, 1996, S. 4 6 - 7 2 ; Christoph März: Von der Interlinea zur Linea. Überlegungen zur Teleologie althochdeutschen Übersetzens. Ebd., S. 7 3 - 8 6 ; Stephan Müller: Die Schrift zwischen den Zeilen. Philologischer Befund und theoretische Aspekte einer deutschen ,Zwischen-Schrift' am Beispiel der Windberger Interlinearversion zum Psalter. In: Bergmann 2003 (Anm. 13), S. 315-329. Ζ. B. Elvira Glaser: Glossierungsverfahren früher Freisinger Textglossierung. Versuch einer Einordnung. In: Teoria e pratica della traduzione nel medioevo germanico. Hrsg. von Maria V. Molinari u. a. Padua 1994, S. 181-205; dies.: Frühe Griffelglossierung aus Freising. Ein Beitrag zu den Anfängen althochdeutscher Schriftlichkeit. Göttingen 1996. Ζ. B. Rolf Bergmann: Die althochdeutsche Glossenüberlieferung des 8. Jahrhunderts (Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Philologisch-Historische Klasse 1983, Nr. 1); Mittelalterliche volkssprachige Glossen. Hrsg. von Rolf Bergmann, Elvira Glaser und Claudine Moulin-Fankhänel. Heidelberg 2001. Ζ. B. Henkel 1996 und 2003 (Anm. 36); ders.: Deutsche Glossen. Zum Stellenwert der Volkssprache bei der Erschließung lateinischer Klassiker. In: Haubrichs/Hellgardt u. a. 2000 (Anm. 3), S. 3 8 7 - 4 1 3 ; ders.: Verkürzte Glossen. Technik und Funktion innerhalb der lateinischen und deutschsprachigen Glossierungspraxis des frühen und hohen Mittelalters. In: Bergmann/Glaser/Moulin-Fankhänel 2001 (Anm. 38), S. 4 2 0 - 4 5 1 .

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Texte

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Ansatz insofern, als er die bei der Anlage der Handschrift zugrunde liegenden Verfahrensschritte des Umgangs mit Schriftlichkeit zu rekonstruieren sucht." 40 Das können die bisherigen, durchweg von sprachgeschichtlichem und lexikologischem Interesse geleiteten Glosseneditionen nicht leisten. Die logische Konsequenz des berechtigten Neuansatzes zur Erschließung subordinierter Überlieferung wäre die Ko-Edition von Haupttext und sowohl lateinischer als auch volkssprachiger Glossierung. 41 Doch sind die vertikalen Bezüge zwischen Text und Glossierung so sehr an die skripturale Anlage der Handschrift gebunden (vgl. ζ. B. Abb. 6: Trierer Prudentius mit lateinischen und mittelfränkischen Glossen), 42 dass im Grunde eine typographische Edition überhaupt versagen muss und nur ein Faksimile (ob fotografisch oder elektronisch) den Intentionen des Ansatzes gerecht würde. Hier schließen die Intentionen die Rekonstruktion überhaupt aus, da alles auf die Überlieferung ankommt; allerdings kommt jene zur Hintertür wieder herein, da Glossierungen sich ja häufiger zu Familien zusammenschließen, deren Spitzenahn in rekonstruktiver Arbeit nachzugehen sich durchaus lohnen kann. 43 Etwas anders stellt sich die Editionsfrage bei Interlinearversionen dar, wie sie zum Studium von institutionellen Basistexten (in Klöstern etwa der Benediktinerregel, der Psalmen und Hymnen) in karolingischer Zeit eingesetzt wurden. Auch wenn eine Interlinearversion dieser Zeit keinen durchgängig horizontal kohärenten, also ohne rekonstruktive Akte lesbaren Text ausbildet, sondern wie die Glossierung stets auf die Lemmata des Basistextes vertikal bezogen bleibt, führt die streckenweise außerordentlich dichte bis lückenlose, von einheitlicher Konzeption gesteuerte Übersetzung dazu, dass der Eindruck eines einheitlichen, Basistext und Interlinearversion umfassenden Werks entsteht, das eine eigene, die vertikalen und die horizontalen Bindungen der Texte repräsentierende und die „skripturale Anlage" nachzeichnende Edition verdient, wie sie Nikolaus Henkel ansatzweise für die sog. ,Murbacher (eigentlich Reichenauer) Hymnen'

40 41

42 43

Henkel 2003 (Anm. 36), S. 6f. Vgl. dazu ζ. B. Alexander Schwarz: Glossen als Texte. In: PBB (Tübingen) 99, 1977, S. 25-36; Ernst Hellgardt: Die lateinischen und althochdeutschen Vergilglossen des clm 18059. Plädoyer für eine neue Art der Glossenlektüre. In: Stand und Aufgaben der deutschen Dialektlexikographie. Hrsg. von Ernst Bremer und Reiner Hildebrandt. Berlin, New York 1996; S. 7 3 - 8 8 ; Haubrichs 1995 (Anm. 1), S. 185-195; Ira Natalie Schimpf: Das Bibelglossar der Handschrift Rom, Pal. lat. 288. Edition des Bibelglossars mit Übersetzung. Heidelberg 2004. Vgl. Haubrichs 1995 (Anm. 14), S. 208 [Lit.] mit Tafel 35. Vgl. als prototypischen Fall die Rekonstruktion des Bibelglossars Μ durch E. Steinmeyer in: Elias Steinmeyer, Eduard Sievers: Die althochdeutschen Glossen. Bd. 1-5. Berlin 1879-1922, hier Bd. 5, S. 4 0 8 - 4 7 2 .

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Wolfgang

Haubrichs

vorlegte44 und Achim Masser45 für die im Bodenseeraum entstandene Interlinearversion der Benediktinerregel des frühen 9. Jahrhunderts realisierte. Aus der Bodenseegegend stammt auch ein für Mönchsklöster bestimmtes, um 816 wahrscheinlich durch den Abtbischof Heito von Basel und Reichenau verfasstes Statutenwerk, in dem für die Novizen angeordnet wird, dass sie nacheinander Psalmen, Hymnen und Benedikts Regel lernen und verstehen lernen sollen - wenn es nottut dadurch, dass ζ. B. die Regel, wenn sie für die Rezitation aus dem Gedächtnis gelernt wird, „den Lernenden von dazu eigens bestimmten Kennern der Schreibkunst, Grammatik und Stilistik übersetzt werden soll".46 Dieser zu wenig beachtete Text gibt mir auch den Mut dazu, in einem gewissen Gegensatz zur neueren Tendenz der Forschung an einer auch horizontalen Dimension der Interlinearversionen festzuhalten; zum Beispiel sind die von Henkel ausgewählten Strophen der Murbacher Hymnen mit ihren fast ganz auf die Flexionsmorpheme wie -ta, -bes, -ter, -te etc. beschränkten Übersetzungsangaben in der HymnenInterlinearversion durchaus die Ausnahme und konnten selbstverständlich beim Vortrag der dictatores ordinati (wie die Statuten formulieren) von diesen erfahrenen Lehrern leicht zum Text vervollständigt werden. In dieser Ansicht einer nicht nur auf Verständnis des Wortlauts, sondern auch des hohen Stils der im feierlichen Offizium jede Nacht, jeden Tag zu singenden Hymnen gerichteten hermeneutischen Bemühung der Übersetzung bestärkt mich auch deren nicht vom bloßen Wortsinn des lateinischen Lemmas, sondern von der Stillage provozierte häufigere Wahl von archaischem und hohem Wortschatz aus Rechtssprache und Dichtung wie nötnunft für lat. fraus ,Raub', wie sigowalto ,Siegmächtiger' und sigesnemo ,Siegnehmer' für victor ,Sieger', wie ortfrumo .Wirker des Anfangs' für creator ,Schöpfer' und vieles mehr, was zuerst Stefan

44

Henkel 1996 (Anm. 36), S. 68-71. Die von N. Henkel zu Recht kritisierte Referenzedition war: Drei Reichenauer Denkmäler der altalemannischen Frühzeit. Hrsg. von Ursula Daab. Tübingen 1963 (Altdeutsche Textbibliothek 57), hier S. 29-76. Zur Diskussion um die Dimensionalität der Übersetzungstechnik der ,Murbacher Hymnen' vgl. ferner Nikolaus Henkel: Deutsche Übersetzungen lateinischer Schultexte. Ihre Verbreitung und Funktion im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. München 1988 (MTU 90), S. 67-73; Andreas Kraß: Spielräume mittelalterlichen Übersetzens. Zu Bearbeitungen der Mariensequenz ,Stabat mater dolorosa'. In: Wolfram-Studien 14, 1996, S. 87-108, hier S. 8 9 - 9 1 ; Müller 2003 (Anm. 36), S. 315-317.

45

Die lateinisch-althochdeutsche Benediktinerregel Stiftsbibliothek St. Gallen Cod. 916. Hrsg. von Achim Masser. Göttingen 1997; ders.: Kommentar zur lateinisch-althochdeutschen Benediktinerregel des Cod. 916 der Stiftsbibliothek St. Gallen. Göttingen 2002. Vgl. Wolfgang Haubrichs: Das monastische Studienprogramm der .Statuta Murbacensia' und die altalamannischen Interlinearversionen. In: Sprache - Literatur - Kultur. Studien zu ihrer Geschichte im deutschen Süden und Westen. Hrsg. von Albrecht Greule und U w e Ruberg. Stuttgart 1989, S. 237-261; Haubrichs 1995 (Anm. 1), S. 195-211.

46

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Sonderegger sah, 47 aber sich noch systematisch erweitern ließe. 48 Spricht das jetzt nicht doch für eine auch rekonstruktive, den ,Sitz im Leben' dieser Interlinearversionen, den auf den Lebens- und Handlungszusammenhang der Mönche, das officium Dei bezogenen Vortrag des dictator mitreflektierende Edition? Ich schließe mit einigen Bemerkungen zu Not und Pflicht der Rekonstruktion bei theodisken Texten des frühen Mittelalters. Dass werkbezogene Überlieferung meines Erachtens die Pflicht zur Rekonstruktion des Werks mit einschließt, habe ich schon gesagt. Aber auch sonst kann einem angesichts des Zustandes mancher althochdeutscher Texte der Glaube an die alleinseligmachende Treue zur Überlieferung schnell vergehen. Nehmen wir zuerst einen einfachen Fall wie den des ,Trierer Teufelsspruchs' (Abb. 7), 49 der im 11. Jahrhundert in limitaner Überlieferung, d. h. am unteren Ende eines Blattes mitten in ausgedehnte ,Adnotationes in quatuor evangelia', einer Handschrift aus dem Trierer Kloster St. Eucharius, deutlich mit einem Strich abgetrennt eingetragen wurde, in einer Geheimschrift, welche die Vokale - allerdings keineswegs konsequent - durch den darauffolgenden Buchstaben im Alphabet ersetzte. Es wird wohl schnell Einigkeit darüber zu erzielen sein, dass eine Edition die Arkanschrift zu repräsentieren, aber auch aufzulösen hat. Doch alsbald entdeckt man nach der Auflösung, dass der Schreiber offensichtlich - dafür zeugen die falschen Worttrennungen - den Text nicht mehr verstanden hat: nxvukllkh ' bidbn · dfnr khc hbn · crkst/

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47

Stefan Sonderegger: Althochdeutsch auf der Reichenau. In: Die Abtei Reichenau. Hrsg. von Helmut Maurer. Sigmaringen 1974, S. 6 9 - 8 2 , hier S. 77-80. 4 * Vgl. demnächst Wolfgang Haubrichs: Die Missionierung der Wörter. Vorbonifatianische und nachbonifatianische Strukturen der theodisken Kirchensprachen. In: Bonifatius - Leben und Nachwirken (754-2004). Die Gestaltung des christlichen Europa im Frühmittelalter. Hrsg. von Franz Feiten u. a. [im Druck]. 49 Steinmeyer 1916 (Anm. 27), S. 399, Nr. LXXX; Rudolf Schützeichel: Zu einem althochdeutschen Denkmal aus Trier. In: Zeitschrift für Deutsches Altertum 94, 1965, S. 237-243; Haubrichs 1995 (Anm. 1), S. 419; ders. 1995 (Anm. 14), S. 227; Hans-Hugo Steinhoff: Art. Trierer Teufelssprüche. In: Verfasserlexikon (Anm. 7) 9, Sp. 1058f.; Murdoch 2004 (Anm. 12), S. 168.

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Erst eine Rekonstruktion, in diesem Fall nicht schwer, erbringt eine lesbare Textfassung: Nu will ih bidan den rihchan crist, the mannelihches chenist [wf], ther den diuvel gibant in sinen namon will ih gan, nu wil ih then vreidon slahan mit ten colbon. („Nun will ich den mächtigen Christus, der jedes Menschen Heil ist, der den Teufel fesselte, bitten, in seinem Namen will ich gehn, ich will nun den Abtrünnigen mit dem Knüppel schlagen.")

Um sie zu verstehen, benötigt diese Überlieferung eines Exorzistenspruchs zweifellos eine Rekonstruktion, jedoch sollte man ebenso, was die Editoren nicht taten, um der Dokumentation der Textzerstörung in der Rezeption willen die Zwischenstufe in die Edition miteinbeziehen. Komplizierter liegt der Fall bei einem der im Frühmittelalter nicht seltenen „Codices semisepulti", der „halbbegrabenen Handschriften", wie man treffend sagt, die uns das Leben schwer machen. Hier handelt es sich um das fragmentarisch am Ende der Heidelberger Otfrid-Handschrift (Abb. 4), also in limitaner Überlieferung, im frühen 11. Jahrhundert eingeschriebene althochdeutsche .Georgslied', nach Erhaltungszustand, Orthographie und Sprache „eines der verzweifeltsten Stücke der ahd. Literatur", wie man auch gesagt hat. Der in Abb. 8 dargebotene, nach Zeilen gegliederte diplomatische Abdruck zweier Strophen mag das Verzweifelte dieser Überlieferung belegen.50 Wie soll man damit umgehen? Die älteren Editionen verfolgten durchweg ein zweistufiges Verfahren: diplomatischer Abdruck und eine auf Einzelfallkorrekturen (und manchmal den legendarischen Erzählstoff) gestützte, mehr oder minder weitgehende, mehr oder minder behutsame Rekonstruktion. Erst Rudolf Schützeichel und der Vortragende selbst suchten die erste Stufe der Rekonstruktion auf eine exakte Analyse von Schreibbrauch, Orthographie und Sprache zu stützen.51 Wir trafen uns ziemlich unabhängig voneinander in der Auffassung, dass wir es mit einer fehlergesättigten Überlieferung zu tun haben. Doch haben wir völlig verschiedene Schlussfolgerungen daraus gezogen: Schützeichel hat keine diplomatische Edition geboten, dafür jedoch eine ergänzte Version, in der er Lücken des Textes beseitigte, aber offensichtlich als Fehler erkannte Formen wie farm statt fram, ehidenen statt heidenen, psanr statt spran, welche der den Text, ja die Worte, die er schrieb, nicht mehr verstehende letzte Schreiber produzierte, stehen ließ und nur in den Anmerkungen Auflösungshinweise gab. So 50 51

Vgl. Haubrichs 1979 (Anm. 31), S. 6 6 - 7 1 ; 82; 3 7 0 - 3 7 3 . Vgl. Anm. 31.

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entstand ein gemischter, teils überlieferungstreuer, teils konjizierter Text, dessen Lesbarkeit dahinsteht. Meines Erachtens musste man aber den Weg einer methodisch kontrollierten Fehleranalyse gehen, und über die Schritt für Schritt dokumentierten typischen Fehler des völlig inkompetenten Schreibers zu einem „korrigierten Text" vordringen, der einigermaßen der Vorlage entsprach und auch die erkennbare Versform wiederherzustellen suchte (Abb. 9). Dieser Text ist lesbar. Ob man weitergehen sollte, wie ich es damals getan habe, vielleicht in jugendlicher Freude am hermeneutischen Experiment, und wenn ja, für wen, darüber bin ich mir selbst heute noch nicht so ganz im Klaren. Dieser rekonstruierte Text, eine dritte Stufe der Edition sozusagen, war der Versuch, die auf der zweiten Stufe erkannten Prinzipien des Schreibsystems und der sprachlichen Organisation zu systematisieren und konsequent anzuwenden, dazu die strophische Form des Liedes samt Refrainzeilen, über die aber weitgehend Einigkeit besteht, in den Text einzubringen. 52 Herausgekommen ist eine Textform (Abb. 10), bei der mir von Anfang bewusst war, dass sie vermutlich in dieser Konsequenz nie existiert hat, die aber die Struktur des Liedes, in manchem dem besser überlieferten althochdeutschen Isidor vergleichbar, deutlich, vielleicht überdeutlich hervortreten lässt. Ein solcher Text scheint mir wie eine rekonstruierte Sprachform einer selbst nicht überlieferten Sprache interessant für die Fachkollegen und auch geeignet, dem interessierten Laien eine Vorstellung, aber auch nur eine Vorstellung von der poetischen Form eines Kunstwerks zu geben. Ob dies ein kluges Ziel ist oder ein zu verwerfendes, ob dieses Drei-StufenModell überhaupt ein Weg ist, um mit solch verzweifelten Überlieferungen umzugehen, muss ich dem Urteil der Kritik überlassen. Gegangen werden sollte der Weg jedenfalls.

52

Dazu vgl. Haubrichs 1979 (Anm. 31), S. 151-164; ders.: Heiligenfest und Heiligenlied im frühen Mittelalter. Zur Genese mündlicher und literarischer Formen in einer Kontaktzone laikaler und klerikaler Kultur. In: Feste und Feiern im Mittelalter. Paderborner Symposium des Mediävistenverbandes. Hrsg. von Detlef Altenburg u. a. Sigmaringen 1991, S. 133-144, hier S. 139f.; Murdoch 2004 (Anm. 12), S. 173f.

110

Wolfgang Haubrichs

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Abb. 1: Otfrid von Weißenburg, Evangelienbuch, Cod. 2687 der Österreichischen Nationalbibliothek Wien (Weißenburger Handschrift um 863/71), Blatt l r : Widmung des Werks an den König Ludwig den Deutschen.

Die Edition althochdeutscher (theodisker) Texte

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114

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Die Edition althochdeutscher (theodisker) Texte

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116

Wolfgang

38 39

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46

Abb. 8: ,Georgslied', Diplomatischer Abdruck, Zeile 3 8 - 4 9 , vgl. A n m . 50.

Haubrichs

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Die Edition althochdeutscher

(theodisker)

Texte

88. (huff her stuont) shik Gorio dar 89. huus spran der uuahe s(har) 90. (den do) ten man 91. huf hiez er stanten 92. er hiezc en dare cimo khaen 93. hiez en shar spreken 94. do segita her ihobel h(e)iz 95. ih bet namon ge loubet hez 96. quhat so uuar(en) fer lorene 97. demo tiufele al pe trogene 98. daz c(u)nt uns selbo 99. see gorio 100. do gien er ze dero kamero 101.ze dero chuninginno 102. peghon er shie Iheren 103. begonta sh 'im es hören

104 .eiessandria 105.« uuas dogeiika 106. shi hilta sar uuoletuon 107. den hiro shanc spentfon) 108. si spentota iro triso dar 109. daz hü ft sa manec ihar 110. fon euuon uncin euuon 111. sho'se engnadhon 112. daz er digita selbo 113. hero See Gorio

Abb. 9: ,Georgslied', korrigierter Text, Vers 88-113.

VIII 1 fHuffherstuont) shik GORIO dhar . huuzs spran dher uhahe s(har) . 2 (dhen dhojten man . huf(f) hiezs er stanten . 3 er hiezc en dhare cimo ghaen . hiezc en shar spreken . 4 dho shegita her: ihobel heizs . ih bet namon, gelhoubet hezs . 5 quhat sho uharin ferlhorene . dhemo dhiufele al betrogene . R1 dhazs c(u)nt uns shelbo . (hero) S(an)C(t)E GORIO . IX 1 2 3 4 5 6 R1

Dho ghien er ce dhero kamero . ce dhero cuninginno . beghon er shie Iheren . beghonta shi 'm ezs hören . eiessandria . shi uhas dhogelika . shi hilta shar uholedhuon . dhen hiro shanc spentfon) . shi spentota iro treso dhar . dhazs hilft sha manec ihar . fhon euhon uncin euhon . sho'se en gnadhon . dhazs erdhigita shelbo . hero S(an)C(t)E GORIO .

Abb. 10: ,Georgslied', Textrekonstruktion, Strophe VIII-IX.

Ricarda Bauschke Die Edition von Herborts von Fritzlar Liet von Troye Vorüberlegungen zum Projekt einer Neuausgabe

Herbort v o n Fritzlar u n d s e i n e Trojadichtung h a b e n auf d i e P h i l o l o g e n s e l t e n e i n e n p o s i t i v e n R e i z a u s g e ü b t ; selbst H e r m a n n M e n h a r d t , der s i c h e i n g e h e n d m i t d e m Liet

von

Troye

b e s c h ä f t i g t hat u n d als erster H e r b o r t s S p r a c h w i t z ,

seine

f e i n e Ironie u n d s e i n e n drastischen H u m o r erkennt, 1 w e i s t Herbort e i n e n hinteren R a n g in der literarischen L a n d s c h a f t zu: Herbort von Fritzlar ist kein stern erster große am h i m m e l der mhd. litteratur [...]. im Stil und in der höfischen bildung steht er hinter den großen meistern zurück, dennoch verdienen dichter und werk schon deshalb weitere forschung, weil sie zu d e m kränze gehören, den der landgraf Hermann von Thüringen d e m deutschen vaterlande g e w u n den hat. 2 D i e aus d e m Jahr 1 9 2 8 s t a m m e n d e E i n s c h ä t z u n g f o r m u l i e r t nicht e t w a e i n e S o n d e r p o s i t i o n , s o n d e r n bringt d i e a l l g e m e i n e B e u r t e i l u n g v o n A u t o r und W e r k z u m A u s d r u c k . 3 A n ihr krankt die H e r b o r t - F o r s c h u n g b i s z u m h e u t i g e n Tage. Z w a r e x i s t i e r e n m i t t l e r w e i l e e i n e R e i h e v o n P u b l i k a t i o n e n , d i e Herborts Erzählleistung w ü r d i g e n ; 4 sein Trojaroman w i r d nicht m e h r allein v o r d e m H o r i z o n t 1

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Hermann Menhardt: Herbortstudien. In: ZfdA 65, 1928, S. 225-254; 66, 1929, S. 173-200; 77, 1940, S. 256-264. Menhardt 1928 (Anm. 1), S. 225. Für Wilhelm Reuß gilt Herbort sogar nur als drittklassiger Dichter. Vgl. Wilhelm Reuß: Die dichterische Persönlichkeit Herborts von Fritzlar. Dissertation Gießen 1986, hier S. 5. Entscheidende neue Einsichten in Herborts brevitas-Konzept als Aktualisierung schulrhetorischer Traditionen vermittelt Hans Fromm: Herbort von Fritslar. Ein Plädoyer. In: PBB 115, 1993, S. 244-278. Reinhard Hahn erläutert das kriegerische Motivreservoir Herborts im Spiegel antiker Kampfdarstellungen; vgl. Reinhard Hahn: Zur Kriegsdarstellung in Herborts von Fritzlar Liet von Troye. In: Spannungen und Konflikte menschlichen Zusammenlebens in der deutschen Literatur des Mittelalters. Bristoler Colloquium 1993. Hrsg. von Kurt Gärtner, Ingrid Kasten und Frank Shaw. Tübingen 1996, S. 102-122. Ricarda Bauschke interpretiert Herborts Erzählweise als interdiskursive Kritik an der idealisierenden höfischen Literatur; vgl. Ricarda Bauschke: Geschichtsmodellierung als literarisches Spiel. Zum Verhältnis von gelehrtem Diskurs und Geschichtswahrheit in Herborts Liet von Troye. In: Eine Epoche im Umbruch. Volkssprachliche Literalität 1200-1300. Cambridger Symposium 2001. Hrsg. von Christa Bertelsmeier-Kierst, Christopher Young unter Mitarbeit von Bettina Bildhauer. Tübingen 2003, S. 155-174; dies.: Strategien des Erzählens bei Herbort von Fritzlar. Verfahren interdiskursiver Sinnkonstitution im Liet von Troye. In: Wolfram-Studien XVIII, 2004,

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zeitgenössischer höfischer Literatur gemessen und abgewertet;5 die Tradition lateinischer Trojadichtungen und überhaupt der schulrhetorische Diskurs rücken als Referenzsysteme zum Verständnis des Liet von Troye in den Vordergrund;6 doch ist die Philologie dem Werk noch immer eines schuldig geblieben: Es fehlt eine angemessene Edition, die das Forschen erleichtert und Herborts Trojaroman für den breiteren akademischen Unterricht zugänglich macht. Die erste und bisher einzige Ausgabe des Liet von Troye datiert in das Jahr 1837 und ist von Karl Frommann hergestellt worden.7 Frommann druckt diplomatisch (zum Teil mit Lesefehlern gegenüber der Handschrift) das einzige vollständige und damals auch einzige bekannte Manuskript des Herbortschen Trojaromans ab. Der 1333 in Würzburg entstandene, heute in Heidelberg aufbewahrte Kodex (Cpg 368; Sigle H), eine für die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts typische Leseausgabe, tradiert das Werk im Verbund mit Veldekes Eneide, als deren Vorgeschichte der Herbort-Text rezipiert worden ist.8 Schon Frommann selbst distanziert sich von seiner Edition, wenn er sie als „erstlingsfrucht meiner jugendlichen Studien"9 bezeichnet. Defizitär ist ihm seine Ausgabe vor allem deshalb erschienen, weil er aufgrund der damals noch unikalen Überlieferung

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S. 347-365; dies.: Herbort von Fritzlar, Liet von Troye. Antikerezeption als Diskursmontage und Literaturkritik. Habilitationsschrift Berlin [steht kurz vor dem Abschluss]. Die Monographie enthält einen umfangreichen Überblick zur Herbort-Forschung. Durch die ganz unterschiedlichen Perspektivierungen gelingt es, das Liet von Troye jeweils in Teilbereichen aufzuwerten. So zeigt etwa Rüdiger Schnell die Bedeutung volkssprachlicher Minnekasuistik für Herborts Gestaltung der Jason-Medea-Minne, Dietrich Huschenbett reklamiert die heimische Literaturtradition für einzelne Darstellungselemente (Natureingang, locus amoenus u. a.), und Volker Mertens interpretiert das Liet von Troye im Spiegel der Heldendichtung; vgl. Rüdiger Schnell: Andreas Capellanus, Heinrich von Morungen und Herbort von Fritslar. In: ZfdA 104, 1975, S. 131-151; Dietrich Huschenbett: Zur deutschen Literaturtradition in Herborts von Fritzlar Liet von Troye. In: Die deutsche Trojaliteratur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Materialien und Untersuchungen. Hrsg. von Horst Brunner. Wiesbaden 1990 (Wissensliteratur im Mittelalter 3), S. 303-324; Volker Mertens: Herborts von Fritzlar Liet von Troie - ein Anti-Heldenlied? In: Jahrbücher der Reineke-Gesellschaft 2, 1992, S. 151-171. Es ist das Verdienst von Franz Josef Worstbrock, als erster die lateinische Trojatradition für Herborts Erzählkonzept fruchtbar gemacht und vor diesem Horizont Herborts Sonderwege beschrieben zu haben; seine Publikation markiert einen Wendepunkt in der Herbort-Forschung. Vgl. Franz Josef Worstbrock: Zur Tradition des Trojastoffes und seiner Gestaltung bei Herbort von Fritzlar. In: ZfdA 92, 1963, S. 248-274. Herbort's von Fritslar liet von Troye. Hrsg. von Karl Frommann. Quedlinburg, Leipzig 1837 (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur von der ältesten bis auf die neuere Zeit 5). Informationen zur Würzburg-Heidelberger Handschrift bei Peter Jörg Becker: Handschriften und Frühdrucke mittelhochdeutscher Epen. Eneide, Tristrant, Tristan, Erec, Iwein, Parzival, Willehalm, Jüngerer Titurel, Nibelungenlied und ihre Reproduktion und Rezeption im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Wiesbaden 1977, S. 21f. Frommann 1837 (Anm. 7), Zitat S. 215.

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des Liet von Troye keine kritische Edition hat anfertigen können, wie es den Gepflogenheiten des 19. Jahrhunderts entsprochen hätte. 10 Herborts Trojaroman erscheint also als nicht normalisierter Text ohne Interpunktion. Dadurch werden zwar einige mundartliche Färbungen von Herborts Sprache konserviert, und syntaktische Besonderheiten wie Apokoinukonstruktionen bleiben in jedem Fall präsent, doch ist die Attraktivität des Werkes für literaturwissenschaftliche Untersuchungen nicht befördert worden. Zudem erschweren unaufgelöste Abbreviaturen und eine uneinheitliche Graphie die Lektüre. In Ermangelung einer Neuausgabe wurde die Frommann-Edition 1966 bei Rodopi nachgedruckt, doch scheint es heute, fast 170 Jahre nach der Erstausgabe, mehr als geboten, Herborts Liet von Troye ein zweites Mal zu edieren. Entsprechende grundlegende Arbeiten haben Joachim Bumke und Thomas Klein geleistet: es existiert neben den Transkriptionen, einem kompletten Wortindex sowie Beschreibungen der Sprache Herborts bereits ein vollständig normalisierter Text. Auf diesen Vorarbeiten und Vorgaben kann ein neues Editionsprojekt aufbauen. 11 Diskussionsbedarf besteht allerdings noch immer in der Frage, welcher Grad an Normalisierung auf der einen Seite nötig, auf der anderen Seite vertretbar ist, um einen flüssig lesbaren Text zu erhalten, der dennoch Herborts Sprache widerspiegelt. Da ein erneuter diplomatischer Abdruck, der lediglich Frommanns Lesefehler korrigierte, Abbreviaturen auflöste und Interpunktion einfügte, die Bereitschaft, das Liet von Troye im akademischen Unterricht zu behandeln, kaum steigern dürfte, eine rekonstruierende Ausgabe aber angesichts der Entwicklung in der Editionsphilologie keinesfalls mehr zeitgemäß wäre, 12 ist ein Mittelweg einzuschlagen. Dass solche Gratwanderungen immer ein undankbares Geschäft sind, versteht sich von selbst. Ganz grundsätzlich ist für eine neue Edition von einer neuen Materialsituation auszugehen. Es sind nach dem Erscheinen der Frommann-Ausgabe drei Fragmente von Herborts Liet von Troye aufgefunden worden, die verschiedene Überlieferungsstränge repräsentieren. Da sich die in den Fragmenten tradierten Verse nicht überschneiden, sondern ganz unterschiedliche Passagen des Trojaromans enthalten, können sie jeweils nur mit der vollständigen Handschrift Η

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Vgl. Frommann 1837 (Anm. 7), Zitat S. VII: „Nicht unbekannt mit den höher gestellten anforderungen, welche unsere tage mit recht an den herausgeber eines Sprachdenkmals deutscher vorzeit überhaupt und insbesondere eines poetischen machen, trug ich lange bedenken, mit vorliegendem bloß diplomatischen abdrucke eines mittelhochdeutschen gedichtes hervorzutreten. Allein es wäre allzugewagt, ja unmöglich, auf den grund einer einzigen und nur mittelmäßig guten handschrift eine vollständige kritische ausgabe veranstalten zu wollen [...]."

"

Ich danke Thomas Klein und ganz besonders Joachim Bumke, dass sie mir ihr gesamtes Material überlassen und die Edition von Herborts Liet von Troye anvertraut haben. Die schon von Frommann geäußerten Bedenken bzw. Gründe, die gegen eine kritische Ausgabe sprechen (vgl. Anm. 10), bleiben ohnehin aktuell.

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verglichen werden. Die Berliner Herbortfragmente (SBB-PK, mgf 920; Sigle B) rücken näher als die Würzburg-Heidelberger Handschrift an die Entstehungszeit des Liet von Troye heran: einzelne Kennzeichen der Schrift lassen eine Datierung auf um 1300 zu. Der überlieferte Text entspricht den Versen 13017-13290 sowie 14379-14641 in Frommanns Ausgabe. Bekanntgemacht werden die Fragmente 1877 von Philipp Strauch,13 und Edward Schröder beschreibt sie 1909 genauer.14 Eine erste Edition mit eingehender Untersuchung von Β unternimmt jedoch erst 1990 Joachim Bumke.15 Die Fragmente aus dem schwedischen Skokloster (Schlossbibliothek, Cod. PB munk 4; Sigle S) bieten Text aus den Versen 77358510; sie stehen mit ihrer mitteldeutschen, am ehesten ins Hessische verweisenden Schreibsprache Herbort wohl räumlich am nächsten und könnten bereits kurz nach Mitte des 13. Jahrhunderts, eventuell auch etwas später, geschrieben sein. Publiziert hat sie 1917 Hjalmar Psilander;16 seine Priorisierung von S gegenüber Η hat jedoch eine so vehemente Kritik von Edward Schröder17 hervorgerufen, dass sich niemand mehr eingehend mit den Textzeugen beschäftigt hat, bis sie 1991 Joachim Bumke erneut untersucht.18 Erst 1990 sind die Bruchstücke aus dem tschechischen Krumau entdeckt worden (Staatliches Regionalarchiv Wittingau, Buchrücken eines Konvoluts mit der Signatur VII-7; Sigle K), die Hildegard Bokovä, Vaclav Bok und Kurt Gärtner 1996 edieren und beschreiben.19 Κ ist wohl der älteste Zeuge von Herborts Werk; denn die Einrichtung der Handschrift und die Schrift sprechen für eine Datierung um die Mitte des 13. Jahrhunderts. Überliefert wird bruchstückhafter Text aus den Versen 799959, 1256, 1365-1401 und 1532-1565. Die eher spärliche Tradierung ist in der Vergangenheit gern als Argument angeführt worden, um die Geringschätzung von Herborts Trojaroman in der Nachfolge Menhardts und anderer fortzuschreiben, wobei offenkundig ignoriert

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Philipp Strauch: Ein Herbortfragment. In: ZfdA 21, 1877, S. 203-206. Edward Schröder: Zur Überlieferung des Herbort von Fritzlar. In: Nachrichten von der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, Philosophisch-historische Klasse, 1909, Heft 1, S. 92-102. Joachim Bumke: Untersuchungen zu den Epenhandschriften des 13. Jahrhunderts. Die Berliner Herbortfragmente. In: ZfdA 119, 1990, S. 4 0 4 - 4 3 4 . Hjalmar Psilander: Ett fragment af den tyska Trojasagen i det Wrangelska biblioteket pä Skokloster. Uppsala 1917 (Uppsala Universitets Arsskrift 7). Edward Schröder: Beiträge zur Textkritik Herborts von Fritzlar. In: Nachrichten von der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, Philosophisch-historische Klasse, 1918, Heft 1, S. 72-99. Joachim Bumke: Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte der höfischen Epik im 13. Jahrhundert. Die Herbort-Fragmente aus Skokloster. Mit einem Exkurs zur Textkritik der höfischen Romane. In: ZfdA 120, 1991, S. 257-304. Hildegard Bokovä, Vaclav Bok und Kurt Gärtner: Neue Herbortfragmente aus Krumau. In: PBB 118, 1996, S. 333-357.

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wird, dass prominente Werke der höfischen Zeit (wie etwa Hartmanns Erec20) sogar schlechter überliefert sind als das Liet von Troye; und schon ein kurzer Blick auf die Herbortfragmente zeigt ein positiveres Bild. Im Gegensatz zur Würzburg-Heidelberger Handschrift ist das Berliner Manuskript offenbar nicht als Lesebuch, sondern als Vortragshandschrift konzipiert: zahlreiche Doppelvirgel gliedern den Text syntaktisch und erleichtern das Vorlesen, wogegen Pergament sparende Abbreviaturzeichen, die beim Vortrag behindern, fehlen. 21 Herborts Trojaroman muss also um 1300 noch derart oft einem Publikum zu Gehör gebracht worden sein, dass es sinnvoll erschien, den finanziellen und zeitlichen Aufwand für die Herstellung einer Vortragshandschrift aufzubringen. - Trotz der unterschiedlichen Gebrauchsfunktion bezeugen, so die Einschätzung von Joachim Bumke, Η und Β gemeinsam eine Textfassung von Herborts Dichtung, die „um 1300 in Ostfranken und dem angrenzenden mitteldeutschen Gebiet bekannt war". 22 Die Fragmente S und Κ machen die Situation komplex. Bumkes ausführlicher Vergleich der Fragmente aus Skokloster mit der Würzburg-Heidelberger Handschrift 23 lässt erkennen, dass in S deutlich kürzer erzählt wird; auf das Gesamtwerk hochgerechnet, ergibt sich ein Unterschied von ca. 1000 Versen. Die Art, wie im Vergleich mit Η Verse fehlen und syntaktische Anschlüsse neu hergestellt werden, weist S als Sekundärfassung, also als Bearbeitung der BH-Version aus, und zwar im Sinne einer Textverbesserung. 24 Dabei wird trotz des wenigen überlieferten Materials erkennbar, dass die S-Fassung einen eigenen, von BH abzugrenzenden Aussagewillen besitzt. Das Liet von Troye ist somit recht bald nach seiner Entstehung redigiert und optimiert worden, wobei der Bearbeiter, der aufgrund des Sprachgebrauchs auch gut Herbort selbst gewesen sein könnte, einen Zugang zur altfranzösischen Vorlage besessen haben muss, der durch Η nicht repräsentiert wird. 25 Dass Herborts Trojaroman nicht lange nach seiner Abfassung bereits in zwei Fassungen existierte, wird durch Κ bestätigt; denn auch die Krumauer Fragmente zeugen von der für S charakteristischen Kürzungstendenz. 26 Interessanterweise hat die Kurzfassung die Langfassung aber nicht ersetzt, denn diese wird in der vollständigen Würzburg-Heidelberger Handschrift aus dem 14. Jahrhundert repräsentiert.

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Hartmann von Aue: Erec. Hrsg. von Albert Leitzmann, fortgeführt von Ludwig Wolff. 6. Aufl. besorgt von Christoph Cormeau und Kurt Gärtner. Tübingen 1985 (ATB 39). Weiterführende Literaturhinweise zur Überlieferungsproblematik bietet die Bibliographie, S. XLI. Hierüber handelt ausführlich Bumke 1990 (Anm. 15), S. 414ff. Ebd., S. 422. Bumke 1991 (Anm. 18). Die entsprechenden Beispiele bietet ders. (ebd.). Siehe dazu unten. So das Ergebnis der Untersuchung von Bokovä/Bok/Gärtner 1996 (Anm. 19), Zitat S. 334: „Der Text der neuen Fragmente [...] weist eine Reihe von geschickten Kürzungen auf und dürfte daher als früher Zeuge für die in S überlieferte Fassung angesehen werden."

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Auf das Liet von Troye wirft die Existenz einer Kurzfassung in doppelter Weise ein positives Licht. Zum einen ist festzuhalten, dass das Werk im Rezeptionsprozess ein ähnliches Schicksal erfährt wie die meisten Erzähltexte der klassischen Zeit. Peter Strohschneider und Nikolaus Henkel27 haben vorgeführt, dass Reduktion auf die reine Handlung, Konzentration des plot und „De-Rhetorisierung"28 - im Sinne eines Verzichts auf ausschmückende amplificatio - Bearbeitungsverfahren sind, die auch in der Überlieferung der Werke Hartmanns, Wolframs, Gottfrieds und anderer Anwendung finden. Herborts Trojaroman, dem neuzeitliche Philologen gern unterstellen, schon die Primärrezeption habe ihn abgelehnt,29 nimmt also in der Überlieferung der höfischen Epik keine Sonderposition ein; vielmehr ist auch das Liet von Troye in einer Kurzfassung vertreten. Zum anderen muss die von Herbort bereits selbst praktizierte brevitas neu beurteilt werden. Im Gegensatz zur allgemeinen Tendenz, altfranzösische Vorlagen amplifizierend zu adaptieren, aemulatio also anhand einer dilatatio materiae zu betreiben,30 kürzt Herbort seine Quelle, den Roman de Troie des Benoit de SteMaure, um gut ein Drittel. Er bearbeitet dabei die Vorlage unter den Vorzeichen einer Epideixislehre, die Wertungen mit Hilfe des Darstellungsmodus vornimmt, das heißt, er praktiziert die abbreviatio, um einem christlichen Publikum einen stets problematisch bleibenden, da paganen Stoff überhaupt vermitteln zu können;31 zugleich aktualisiert er Aspekte des historiographischen Diskurses, um die Wahrheit des Berichteten zu verbürgen.32 Da Herbort mit seiner Quellenaneignung hier von dem sonst üblichen Verfahren, eine altfranzösische Vorlage für ein deutschsprachiges Publikum zu transformieren, abweicht, ist seine brevitas in der Forschung traditionell ein Grund für seine Negativbeurteilung gewe-

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Peter Strohschneider: Höfische Romane in Kurzfassungen. Stichworte zu einem unbeachteten Aufgabenfeld. In: ZfdA 120, 1991, S. 4 1 9 - 4 3 9 ; Nikolaus Henkel: Kurzfassungen höfischer Erzähldichtung im 13./14. Jahrhundert. Überlegungen zum Verhältnis von Textgeschichte und literarischer Interessenbildung. In: Literarische Interessenbildung im Mittelalter. DFG-Symposion 1991. Hrsg. von Joachim Heinzle. Stuttgart, Weimar 1993 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 14), S. 39-59. So die Formulierung von Nikolaus Henkel 1993 (Anm. 27), S. 42. Für das Liet von Troye ist der Begriff gleichwohl irreführend, da Herbort eine Rhetorisierung im Sinne der abbreviatio vornimmt. Vgl. hierzu Fromm 1993 (Anm. 4). Darüber ausführlich im Forschungsbericht von Bauschke (Anm. 4). Das Phänomen bespricht grundlegend Franz Josef Worstbrock: Dilatatio materiae. Zur Poetik des Erec Hartmanns von Aue. In: Frühmittelalterliche Studien 19, 1985, S. 1-30. Siehe Bauschke 2004 (Anm. 4). Bauschke 2003 (Anm. 4); dies. 2004 (Anm. 4). Die rhetorischen Verfahren der brevitas, welche Herbort verwendet, stellt neben Fromm 1993 (Anm. 4) auch Schmid zusammen; Elisabeth Schmid: Ein Trojanischer Krieg gegen die Langeweile. In: Mediävistische Komparatistik. Festschrift für Franz Josef Worstbrock zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Wolfgang Harms, Jan-Dirk Müller in Verbindung mit Susanne Köbele, Bruno Quast. Stuttgart, Leipzig 1997, S. 199-218.

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sen.33 Wenn nun aber jene brevitas in der Kurzfassung, welche die Fragmente S und Κ repräsentieren, noch forciert wird, haben die unmittelbaren Zeitgenossen den abbreviatorischen Stil Herborts offenbar nicht grundsätzlich als problematisch empfunden. Vielmehr scheint das Gegenteil der Fall zu sein: Auch die gegenüber Benoit stark verknappende Langfassung des Liet von Troye ist immer noch mehr als eine reine summa facti und hat weiteres Kürzungspotential besessen. Nimmt man im Sinne einer Heuristik der Textinterpretation auch die Primärrezeption ernst, so kann Herborts brevitas damit künftig keinesfalls als Argument für eine Abwertung herhalten. Aus dem Überlieferungsbefund ergeben sich wichtige Konsequenzen für die Neuausgabe von Herborts Trojaroman. Da allein die Würzburg-Heidelberger Handschrift das Liet von Troye vollständig überliefert, muss sie die Editionsgrundlage bilden. Um nicht nur einen korrigierten Text nach Frommann zu reproduzieren, scheint ein diplomatischer Abdruck nicht sinnvoll. Zudem hat Joachim Heinzle mit einleuchtenden Argumenten auf die Unlesbarkeit von reinen Reproduktionen hingewiesen; sie bieten keine operationalisierbare Grundlage für den Literaturwissenschaftler und können nicht als Editionen im qualifizierten Sinne gelten.34 Für den Abdruck des Liet von Troye empfiehlt sich stattdessen: Schaft-s und Rund-s erscheinen grundsätzlich als Rund-s, u-v und i-j werden nach ihrem Lautwert getrennt, Abbreviaturen werden aufgelöst; es wird interpungiert. Wichtige Argumente sprechen zudem für eine moderate Normalisierung. Zeigt Handschrift Η einen gewissen Variationsreichtum in der Schreibung, so zeugen die älteren Berliner und die Krumauer Fragmente von dem Bemühen um eine geregelte Graphie und um eine Schreibsprache, die durch den Gebrauch oberdeutscher Formen in die Nähe zum rekonstruierten Mittelhochdeutsch der frühen Altgermanistik rückt. In Fragment Β erscheint etwa die labiale Affrikata immer als pf, nie als ph; für anlautend Ikl steht vor Vokal k, vor Konsonant fast durchgängig c; anlautendes /// wird vor allen Vokalen außer u stets mit ν wiedergegeben, vor u steht i m m e r / vor Konsonant in der R e g e l / 3 5 In den Krumauer Bruchstücken wird die Auslautverhärtung bei mhd. Idl immer durch t bezeichnet; für den Umlaut des langen läl steht die Ligatur ce; der Diphthong mhd. luol, für den die Würzburg-Heidelberger Handschrift md. u schreibt, erscheint in Fragment Κ regelmäßig als v, er wird also markiert; das Fragment Κ bezeichnet bisweilen Langvokale durch Zirkumflexe.36 33

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Henkel 1993 (Anm. 27) wendet den Aspekt positiv und bemerkt, dass sich Herbort, indem er das Prinzip der brevitas aktualisiert, in die Tradition lateinisch-historischer Dichtung stellt und damit ein eher geistliches Publikum bedient. Letztlich grenzt aber auch er dadurch das Liet von Troye aus dem Kreis höfisch-weltlicher Erzähldichtung aus. Joachim Heinzle: Zur Logik mediävistischer Editionen. Einige Grundbegriffe. In: editio 17, 2003, S. 1-15. Zahlreiche Beispiele liefert Bumke 1990 (Anm. 15). Die Darstellung folgt den Beobachtungen von Bokovä/Bok/Gärtner 1996 (Anm. 19), bes. S. 346.

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Dennoch ist davon abzuraten, all diese Momente als Normalisierungskoordinaten einfach auf den Abdruck von Handschrift Η zu übertragen. Würden lange Vokale stets abweichend vom Gebrauch in der Würzburg-Heidelberger Handschrift mit den üblichen Graphemen wiedergegeben, also mit Zirkumflex bzw. «-Ligatur und iu, so zerstörte dies in Fällen wie sere : waere (V. 7937f.) anstelle von sere : were - den md. Reim. Demgegenüber bietet eine Kennzeichnung von Langvokalen durch Zirkumflexe (sere statt sere, V. 7937) aber gerade im akademischen Unterricht eine wertvolle Lesehilfe. Für die Bezeichnung der Umlaute scheint es problematisch, eine einheitliche Lösung zu wählen; denn Herbort reimt umgelautetes δ, ο auf umlautloses, schcene (Subst.) : lone (V. 8465f.), sowie umgelautetes ä, α auf umlautloses, mäge : trage (V. 17954f.).37 Für den Abdruck scheint also schöne : löne bzw. mäge : träge geboten. Andererseits lässt sich beobachten, dass Herbort im Reim iu (ί-Umlaut von ü) und ü streng unterscheidet: das im Mitteldeutschen stets ü geschriebene iu reimt nie auf umlautloses ü, sondern immer nur mit sich selbst oder dem alten /«-Diphthong; entsprechend reimt umzulautendes u nie auf altes umlautloses u, sondern wiederum nur mit sich selbst oder altem iu oder auch ü (< üe)?* In diesem Fall wäre eine Normalisierung eventuell vertretbar, weil sie die Lektüre erleichterte: gebiuwe : riuwe (V. 2233f.), fürste : türste (V. 10297f.).39 Grundsätzlich könnten ebenso die Diphthonge als ie, üe und uo (wie es dem in Fragment Κ praktizierten Verfahren entspräche40) graphisch umgesetzt werden, weil sie in Herborts Reimen und in der mundartlichen Entwicklung von ü und ΐ geschieden werden. Zu bedenken ist dabei jedoch, dass diese Normalisierungen die mitteldeutsche Monophthongierung und den Schreibgebrauch der Würzburg-Heidelberger Handschrift ignorierten und darum immer fragwürdig bleiben. Ebenso wirft die Bezeichnung der Auslautverhärtung Probleme auf. In Β stehen auslautend b und g neben ρ und c, also lib neben Ιΐρ oder sluog neben sluoc. Der Verzicht auf eine graphische Umsetzung der Auslautverhärtung betrifft etwa die Hälfte der Fälle und ist ein Charakteristikum des Mitteldeutschen.41 Sowohl eine Normalisierung hin auf das ,Normalmittelhochdeutsche' als auch eine konsequente Anpassung an den mitteldeutschen Schreibgebrauch verschleierten den handschriftlichen Befund. So wie eine Normalisierung, die das Konstrukt einer einheitlichen, oberdeutsch gefärbten Dichtersprache postuliert, im Einzelfall unbefriedigend bleiben wird, muss aber zugleich vor einer zwanghaften Forcierung des Mitteldeutschen gewarnt werden. Wie Joachim Bumke gezeigt hat, ist Herborts hessisch37

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Über die Sprache Herborts handelt grundlegend Walther Brachmann: Zum Reimgebrauch Herborts von Fritzlar. Halle/S. 1907, hier § 2, § 4. Brachmann 1907 (Anm. 37), § 5, § 6. Die Reimbindungen ü : iu, die sich auf den Plural vriunde beschränken, bespricht Brachmann 1907 (Anm. 37), § 7. Vgl. Bokovä/Bok/Gärtner 1996 (Anm. 19), hier S. 346. Bumke 1990 (Anm. 15), S. 409.

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mitteldeutscher Dialekt in den Berliner Fragmenten wenig ausgeprägt;42 es fehlen vielmehr typische mitteldeutsche Kennzeichen. Der Text nach Β bietet ein weitgehend dialektfreies Mittelhochdeutsch auf der Grundlage des ostfränkischsüdmitteldeutschen Konsonantismus,43 so dass sich im Rezeptionsprozess des Liet von Troye eine Tendenz hin zu einem überregional verständlichen Mittelhochdeutsch abzeichnet. Was in der Erstrezeption von Herborts Trojaroman dem Schreiber an sprachlicher Anpassung sinnvoll erschienen und möglich gewesen ist, kann für die Edition also nicht ganz falsch sein. Um den Apparat zu entlasten, sollen vereinheitlichende Eingriffe im Vorwort generell besprochen werden. Vertretbar scheinen einzelne der oben erläuterten Normalisierungen gegenüber den Schreibgewohnheiten von Handschrift Η auch deshalb, weil sie Entsprechungen in den älteren Textzeugnissen Β und Κ besitzen, die modifizierte Schreibung der Ausgabe sich somit durchaus im Rahmen der Herbort-Überlieferung bewegte.44 Zudem ist es nicht einzusehen, warum der zufällig in der Würzburg-Heidelberger Handschrift überlieferte spätere Usus, der auf einen einzelnen Schreiber zurückgeht, zur absoluten Norm gesetzt werden soll,45 wenn schon die frühe Überlieferung in Β und in Κ von einem Vereinheitlichungswillen zeugt, der auf geregelte Graphie und ein überregional verständliches Mittelhochdeutsch zielt. Diese Vorgehensweise bietet vor allem für den Literaturwissenschaftler einen entscheidenden Vorteil: Der Text wird leichter rezipierbar und rückt in seinem Erscheinungsbild näher an die Ausgaben anderer Erzähltexte der höfischen Zeit heran. Damit würde das Liet von Troye aus seiner Sonderrolle befreit und könnte unmittelbarer mit zeitgenössischen Werken verglichen werden.46 Eine strikte Normalisierung hin auf ein ,Normalmittelhochdeutsch', wie es in der frühen Altgermanistik praktiziert wurde, ist allerdings nicht angebracht. So wie Hartmann von Aue selbst in traditionellen Ausgaben Lachmannscher Provenienz als Alemanne erkennbar bleibt, sollte auch Herborts Sprache mitteldeutsche Züge beibehalten; denn sonst suggerierte der Textabdruck eine sprachliche Vergleichbarkeit mit oberdeutschen Autoren, die nicht vorhanden gewesen ist.

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Ebd., S. 408. Bumke 1990 (Anm. 15), S. 406. Das Argument stammt von ebd., Zitat S. 422: „Gleichzeitig könnte die geregelte Orthographie in Β die Grundlage für eine gemäßigte Vereinheitlichung des Schriftbildes bilden. Das hätte den Vorteil der besseren Lesbarkeit und würde doch im Rahmen der Herbortüberlieferung bleiben." Das Urteil von Frommann 1837 (Anm. 7). es handele sich bei der Würzburg-Heidelberger Handschrift nur um ein mittelmäßig gutes Manuskript (vgl. Zitat Anm. 10), revidiert Bumke 1990 (Anm. 15), Zitat S. 422: „Andererseits bestätigt der Vergleich mit B, daß Η im ganzen eine gute Handschrift ist, die von der Stammhandschrift der BH-Fassung nur in Einzelheiten abweicht." Dieses Votum knüpft an die Bestandsaufnahme von Heinzle 2003 (Anm. 34), bes. S. 6, an.

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Entsprechend muss kumen oder vernumen nicht durch komen bzw. vernomen ersetzt werden. Ohnehin scheint es problematisch, Eigenarten, die in mehreren Mundarten vorkommen, also zum Beispiel auch das Alemannische oder das Oberdeutsche betreffen, zugunsten dialektneutraler Normalisierungen zu unterdrücken: so sollte auch für Herbort quam nicht kam weichen; statt wanne, danne, swanne können die handschriftlich belegten wenne, denne, swenne abgedruckt werden. Die flüssige Lektüre behindert solch eine mundartliche Färbung sicher nicht, sie sensibilisiert jedoch für die besondere Sprache Herborts. Die Entscheidung, wieviel an dialektalen Eigenarten im Abdruck verträglich ist und wieviel durch Normalisierung nivelliert werden soll, welche Einzelfälle dies jeweils betrifft und welche davon ausgenommen werden, bleibt gleichwohl immer eine Gratwanderung. Ebenso heikel ist die Frage nach der Wiedergabe handschriftlicher Varianz, etwa ob genade (3. Sg. Präs. Konj. 13100B, 3. Sg. Prät. 14594B) neben gnade, lib (14040H) neben Up (s. o.) abgedruckt wird. Das heterogene Erscheinungsbild könnte die Lektüre stören, doch verständniserschwerend wirken sich die nicht normalisierten Formen wohl kaum aus. Da die Überlieferung recht schmal ist, liegt es nahe, alle drei Fragmente an den entsprechenden Stellen synoptisch abzudrucken. Dabei ist für die einzelnen Bruchstücke unterschiedlich vorzugehen. 1. Die Berliner Herbortfragmente repräsentieren dieselbe Fassung wie die vollständige Würzburg-Heidelberger Handschrift47 und weisen ein ähnliches Verhältnis von mitteldeutschen und dialektneutralen Merkmalen auf. Im Sinne der Vergleichbarkeit ist es daher sinnvoll, Β nach den für Η entworfenen Richtlinien moderat zu normalisieren und in der angepassten Form neben dem Haupttext erscheinen zu lassen, jedoch mit besonders ausführlicher Erläuterung im Apparat. Würde Β diplomatisch abgedruckt, wo der Text nach Η normalisiert erscheint, täuschten die Abweichungen gegenüber dem Schreibgebrauch von H, die dann aufträten, über die fassungshafte Zusammengehörigkeit der beiden Textzeugen hinweg. Die normalisierenden Vereinheitlichungen in Η und Β müssen also aufeinander abgestimmt sein. 2. Das Fragment aus Skokloster zeigt gegenüber Η und Β einen weiterreichenden, konsequent durchgeführten mitteldeutschen Einschlag: /-Schreibung in den Nebensilben, zuo für zer, f-lose Formen wie rittirschaf, bodeschaf, ο für e in wir wollin usw.48 Diese stärkere dialektale Färbung gegenüber der BH-Version sollte auch in der Textgestalt zum Ausdruck kommen, also nicht einer Normalisierung zum Opfer fallen. Ein solcher Abdruck von S vermittelte nicht nur einen Eindruck von Herborts möglichem Sprachstand, sondern zeigte im Vergleich mit Η und Β auch den dialektalen Variationsreichtum im handschriftlichen Rezeptionsprozess. 3. Für das Krumauer Fragment scheint allein ein diplomatischer Abdruck sinnvoll; zu rudimentär ist die Überlieferung zahlreicher Verse. Für 47 48

So urteilt überzeugend Bumke 1990 (Anm. 15), S. 422. Vgl. grundlegend Bumke 1991 (Anm. 18), S. 260f.

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vorsichtige Ergänzungsvorschläge ist ähnlich vorzugehen, wie Christoph Cormeau und Kurt Gärtner es in der ATB-Ausgabe von Hartmanns Erec in bezug auf die Wolfenbütteler Fragmente praktizieren. 49 - Grundsätzlich anders wäre zu verfahren, lägen statt der drei Bruchstücke die vollständigen Handschriften vor. In diesem Fall müssten vielleicht zwei Fassungen synoptisch abgedruckt werden: BH und SK.50 Schon wenige Beispiele können den Fassungscharakter von BH auf der einen und S (mit K 51 ) auf der anderen Seite, welchen Bumke umfassend herausgearbeitet hat,52 demonstrieren. So kommt der Text nach Fragment S mit weniger Versen aus: Handschrift Η 7798 Hector lief im ze vüezen nä. vil snellichen [er] lief, 7800 starke er im nach rief „Kere, helt, kere!"

Fragment S Hector lief ze vüezin nä.

„Kere, helit, kere!"

Die Erzählerfigur tritt in S zurück, und Hectors Eile wird nicht allein inhaltlich, sondern vor allem mit Hilfe der andersartigen Diktion vermittelt. Dabei kann der knappere Darstellungsstil auch zu Variationen im Textsinn führen: Handschrift Η 7935 daz ir bluot nider gdz und in daz mer schöz also starke und also sere, 7938 als ez ouch ein wazzer were, daz da rünne unde vliizze

Fragment S daz ir bluot niedir goz und in daz mere schoz so starke unde so sere, als iz ouwic wazzir were.

7940 und in daz mer schüzze. Im Text nach S wird die Information des gegenüber Handschrift Η ,getilgten' Reimpaares in dem verbleibenden Vers aufgefangen: als iz ouwic wazzir were (V. 7938). - Der eigenständige Rückgriff auf die altfranzösische Vorlage, von dem Fragment S zeugt, zeigt sich u. a. in Vers 8184, wo Η beide nein unde ja formuliert, S jedoch unde lachedin dar nä bietet, offensichtlich motiviert durch den Benoit-Vers 13134: Li un s'iraissent, I'autre en rient.53 49 50

Cormeau/Gärtner 1985 (Anm. 20). Dann wäre allerdings auch die Frage nach dem Grad der Normalisierung grundsätzlich neu zu diskutieren, zeigt doch das Krumauer Fragment weniger mitteldeutsche Eigenarten als der Text aus Skokloster, so dass Κ sprachlich eher an BH heranrückt. Die stemmatologische Zusammengehörigkeit von S und Κ vermuten Bokovä/Bok/Gärtner 1996 (Anm. 19), S. 334; siehe auch das oben in Anm. 26 abgedruckte Zitat. Bumke 1991 (Anm. 18). Die nachfolgenden Beispiele bringt bereits Bumke. Zitiert nach: Le Roman de Troie par Benott de Sainte-Maure. Publie d'apres tous les manuscrits connus par Leopold Constans. 6 Bde. Paris 1904-1912. Nachdruck New York, London 1968. - Bumke 1991 (Anm. 18), hier S. 273-276, macht anhand weiterer Beispiele die j e ganz eigenen Bezugnahmen von Η und S auf den Benoit-Text plausibel.

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Ricarda Bauschke

Kann das Berliner Fragment durchaus benutzt werden, um Fehler in der Würzburg-Heidelberger Handschrift zu verbessern, etwa wenn ein Reimwort fehlt54 oder der falsche Kasus gesetzt ist, und kann darüber hinaus der kritische Vergleich von Η und Β für mögliche Versehen in Η grundsätzlich sensibilisieren (nämlich für die zahlreichen Verse, wo Β als Kontrollmöglichkeit ausfällt),55 so ist - abgesehen von der methodischen Fragwürdigkeit solch einer Vorgehensweise - davor zu warnen, den Text der Würzburg-Heidelberger Handschrift mit Hilfe des Fragmentes aus Skokloster .korrigieren' zu wollen; zu deutlich ist der andere Aussagewille, durch den S als eigene Fassung hervortritt. Abschließend bleibt festzuhalten, dass sich die Neuedition des Liet von Troye nicht auf einen mit Interpunktion versehenen diplomatischen Handschriftenabdruck beschränken sollte, wie er in der Editionsphilologie der jüngsten Zeit gern propagiert wird.56 Gerade um der bisherigen Situation entgegenzuwirken, in der Herborts Dichtungsweise noch immer als Sonderphänomen ausgegrenzt wird, braucht es eine lesefreundliche Bereitstellung des Textes, die den Vergleich mit zeitgenössischen Romanen erleichtert. Den Trend zu einer größeren Handschriftennähe, der grundsätzlich zu begrüßen ist, hat der erste Liet von Troye-Herausgeber Frommann mit seinem diplomatischen Abdruck gleichsam vorweggenommen, so dass jetzt im speziellen Fall Herborts ein Nachholbedarf an einer zumindest moderat normalisierten Ausgabe besteht. Auf diesen Editionstyp zu verzichten, hieße, für das Liet von Troye eine wichtige Station zu überspringen, und dies würde sich erneut nachteilig auf die Rezeptionsbereitschaft auswirken. Warum sprachlich aufbereitete Ausgaben forschungsgeschichtlich unverzichtbar sind, hat Joachim Heinzle ganz allgemein erläutert: Richtig ist aber auch, daß die mhd. Überlieferung erst durch die Etablierung des ,Normalmittelhochdeutschen' für die Sprach- und Literaturwissenschaft operationalisierbar geworden ist. Sie war das Vehikel des philologischen Fortschritts, von dem wir bis auf den heutigen Tag zehren. Wenn ich dafür plädiere, das System zu gebrauchen, dann ist das ein Plädoyer für eine Rückbesinnung auf seine operative Nützlichkeit. 57

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Das V. 13267 fehlende nider (Achilles sluoc in dar nider) ergänzt bereits Frommann; die Konjektur wird nun durch Β bestätigt, vgl. Bumke 1990 (Anm. 15), hier S. 418. Dieses Potential hat Bumke (ebd.) erkannt, Zitat S. 422: „Für einen künftigen Herausgeber von Herborts Text ergibt sich daraus die Devise, Η zu folgen, soweit das vertretbar erscheint, im einzelnen jedoch auf Fehler der Art gefasst zu sein, wie sie der Vergleich mit Β zu Tage gefördert hat, und darüber hinaus das Augenmerk auf Textverderbnisse zu richten, die bereits vor der Fassung Β Η entstanden sind." Das Projekt einer neuen Walther-Edition nach allen Handschriften, wie es Müller u. a. inserieren, ist inzwischen wieder verworfen worden; vgl. Ulrich Müller in Zusammenarbeit mit Ingrid Bennewitz, Elke Huber, Franz Viktor Spechtler, Margarete Springeth: Brauchen wir eine neue Walther-Ausgabe? In: Walther von der Vogelweide. Textkritik und Edition. Hrsg. von Thomas Bein. Berlin, New York 1999, S. 248-273. Heinzle 2003 (Anm. 34), Zitat S. 6.

Herborts von Fritzlar Liet von Troye

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Konkret auf den Herbortschen Trojaroman übertragen, lässt sich daraus ableiten, dass nicht zuletzt wegen des von anderen Editionen abweichenden Erscheinungsbildes das Liet von Troye lange Zeit im Schatten gestanden hat. Hinter der Kritik an Herborts Stil, der als schwer zugänglich oder sogar ,langweilig' gilt,58 verbirgt sich wohl eigentlich ein Unbehagen gegenüber der vorhandenen Ausgabe: Die Mühe der Lektüre eines Textes, wie Frommann ihn bietet, wird dem literarischen Werk selbst als abwertendes Merkmal zugeschrieben; dies hat zumindest die Erfahrung im akademischen Unterricht gezeigt. Wenn also bisweilen der Wunsch geäußert wird, es solle erneut eine handschriftennahe Ausgabe hergestellt werden (und das hieße: ein korrigierter Frommann-Text),59 so bleibt dennoch das Bedürfnis bestehen, auch für das Liet von Troye eine Edition zu schaffen, die den Ausgaben der kanonisierten Erzählwerke der höfischen Zeit vergleichbar ist. Es böte sich dadurch die Chance, den von der Forschung noch immer vernachlässigten Trojaroman stärker in den Blickpunkt des Interesses zu rücken. Für Veldekes Eneide hat die Ausgabe durch Ludwig Ettmüller gezeigt, dass normalisierende Anpassung und Auszeichnung dialektaler Eigenarten einander nicht ausschließen müssen. 60 Für das Liet von Troye könnte eine entsprechende Richtung eingeschlagen werden. Editorische Experimente jedoch dürfte Herbort kaum mehr vertragen.

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So zuletzt Schmid 1997 (Anm. 32). Obwohl die Forschungsgeschichte gezeigt hat, dass das von Frommann vorgelegte Experiment einer Erstausgabe mit diplomatischem Abdruck für das Liet von Troye gescheitert ist, sind auf der Tagung in Einzelgesprächen entsprechende Vorstellungen zum Ausdruck gebracht worden. Heinrich von Veldeke. Hrsg. von Ludwig Ettmüller. Leipzig 1852 (Dichtungen des deutschen Mittelalters 8).

Thomas Bein

Walther edieren - zwischen Handschriftennähe und Rekonstruktion

I. In der SPIEGEL-Ausgabe 10/2004 wurde die online-Enzyklopädie ,Wikipedia' vorgestellt. 1 Ihren Namen hat diese Enzyklopädie vom Software-Architekten Ward Cunningham, der das hawaiianische Wort wiki, das .schnell' bedeutet, an die Stelle des griechischen egkyklios (,kreisförmig', .allgemein') setzte. 2 Aus einer .allgemeinen Lehre' (Enzyklo - pädie) wird also die ,schnelle Lehre'. Das Besondere dieses Internetnachschlagewerkes ist, dass alle Artikel .offene Texte' im tiefen Sinne des Wortes sind. Jeder, der über einen Internetanschluss verfügt, kann ad hoc einen Artikel beisteuern, jeder kann aber auch in jedem Text, der bereits online verfügbar ist, verbessern, kann Passagen streichen, hinzufügen, kann also redaktionell eingreifen, man könnte auch sagen: er kann permanent textkritisch tätig sein. Und in der nächsten Minute schon, nach nur einem Mausklick auf den ,Sichern'-Button steht der Welt der neue Text zur Verfügung. So kurios und vielleicht auch unseriös eine solche Internetplattform auch erscheint oder ist - sie erinnert doch stark an unser textkritisches Geschäft - in zweifacher Hinsicht: Zum einen mag die Textgenese vieler mittelalterlicher Texte ähnlich vonstatten gegangen sein. Jemand (ein Autor) entlässt einen Text mündlich oder schriftlich in die Welt, und dieser Akt hat Konsequenzen: Der Autor selbst kann seinen Text beständig ändern, er muss aber auch damit rechnen, dass sich andere seines Textes bemächtigen und ihn verändern und gar unter neuem Autornamen erneut in die Welt entlassen. So kann es noch lange fortgehen. Auf diese Weise entstehen Varianten und Versionen und Fassungen - wie bei Wikipedia. Es gibt allerdings einen großen Unterschied, nämlich die Dokumentation der Textgenese betreffend. Während bei Wikipedia die einzelnen Bearbeitungsstufen, die ein Text durchläuft, peinlich genau auf einem gigantischen Server gespeichert werden und man als Benutzer Schritt für Schritt bis zum Urtext die Genese zurückverfolgen kann - die sogenannte .history' - , ist dies für den Mediävisten leider so gut wie niemals möglich. ' 2

WIKIPEDIA - Die freie Enzyklopädie. http://de.wikipedia.org/wiki/Hauptseite (April 2004). So Manfred Dworschak in: DER SPIEGEL 10, 2004, S. 175.

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Dessen ungeachtet vermag Wikipedia aber noch in einer zweiten Hinsicht den Textkritiker und Editor zum Nachdenken anzuregen: Wäre etwas .Wikipediamäßiges' nicht die Edition der Zukunft? Wäre dies nicht die konsequente Fortsetzung und Umsetzung dessen, was seit den späten 1970er Jahren manche progressive Editoren mit dem Schlagwort des ,Arbeitstextes' in Gang gebracht hatten? Der Editor legt nichts mehr fest, sondern stellt Material, Bausteine her - aus denen sich der Benutzer seinen ,eigenen' Text - erneut - herstellt. Das Vermerken von Präsumtivvarianten, das editorische Aufbereiten von gleichberechtigten Textfassungen usw. sollte ja dem Ziel dienen, dem Literarhistoriker eine Textwelt zu präsentieren, die vom Editor nicht schon weit reichend vorstrukturiert wurde. Dieses Ziel konnte allerdings noch kaum erreicht werden, was am Printmedium liegt - es ist zu unflexibel. Das elektronische Medium aber eröffnet andere Möglichkeiten, Möglichkeiten, die die Editionswissenschaft nicht in eine Krise stürzen, aber doch nötigen, sich neu zu definieren und zu positionieren. Auf der Innsbrucker Tagung ,Was ist Textkritik' (der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition, Februar 2004) wurde in vielen Beiträgen der Begriff der .Dokumentation' verwendet: Edition oder Dokumentation? Edition und Dokumentation? Edition als Dokumentation? Sowohl Neugermanisten als auch Altgermanisten, sowohl Musikhistoriker als auch Philosophen stimmten ungeachtet vieler objektbedingter Differenzen darin überein, dass der Anteil von Materialdokumentationen in neueren Editionen erheblich zunehme. Damit in Zusammenhang standen Diskussionen darüber, welchen Status die Dokumentationen hätten und für wen sie da sein sollten und ob der Editor einen allmählichen Wandel zum Dokumentator durchmachte und ob es das ehrwürdige iudicium textkritischer Arbeit bald nicht mehr geben würde oder geben sollte. 3

II. Welchen Weg sollen künftige Walther-Ausgaben gehen? Diese Frage stelle ich mir nun schon längere Zeit, zumal Christoph Cormeaus 14. Auflage etwa 2006 ab verkauft sein wird und ich eine 15. Auflage für den Verlag Walter de Gruyter vorbereite. Kein mittelalterlicher Dichter hat derart viele und substantiell unterschiedliche editorische Bemühungen erfahren wie Walther. Nimmt man Melchior Goldast (1611) als Beginn 4 und setzt mit dem ersten Band der Paul-Bearbeitung 3

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Vgl. zu diesem Themenkomplex ζ. B. Martin Stingelin: Dokumentation statt Edition? Text, Entstehung und Wirkungsgeschichte von Friedrich Dürrenmatts ,Die Physiker' - multimedial aufbereitet. In: Text. Kritische Beiträge 8, 2003, S. 145-151. Replicatio pro Sac. Caes. et Reg. Francorum Maiestate, illustrissimisque Imperii Ordinibus, adversus Iacobi Gretseri Iesuitae e Societate Loyolitarum, crimina laesae Maiestatis, rebel-

Walther edieren

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durch Silvia Ranawake (1997) 5 einen vorläufigen Endpunkt, dann liegen vier Jahrhunderte Arbeit am Walther-Text hinter uns. Mit guten Gründen kann man freilich den eigentlichen Anfang mit Karl Lachmann (1827) 6 ansetzen - und immer noch sind es bald zwei Jahrhunderte, in denen es sehr viele und sehr unterschiedliche editorische Bemühungen um Walther gegeben hat. Reduziert man die fast kaum noch überschaubare Menge an Ausgaben auf diejenigen, die schul- und traditionsbildend geworden sind, dann bleiben, wie ich meine, die folgenden Editionen bzw. Editionstraditionen übrig: 7 a) Karl Lachmann (1827/1843) - Carl von Kraus (1936)/Hugo Kuhn (1966) Christoph Cormeau (1996) b) Wilhelm Wilmanns (1869) - Wilhelm Wilmanns/Victor Michels (1924) c) Friedrich Maurer (1955) d) Hermann Paul (1882) - Hermann Paul/Albert Leitzmann (1945) - Hermann Paul/Silvia Ranawake (1997) e) [Friedrich Heinrich von der Hagen (1838)] Günther Schweikle (1994/1998) 8 Drei Editionen aus dieser Gruppe bestimmen derzeit unser literaturwissenschaftliches und -historiographisches Geschäft: Die Ausgaben von Cormeau, Paul/Ranawake und Schweikle. 9 Eine jede Edition geht mit der recht komplexen Walther-Überlieferung anders um und steht dabei in einer je anderen philologischen Tradition. In früherer Zeit war der Glaube groß, aufgrund genauen Vergleichs der Handschriften und einer Erarbeitung einer Fehlertypologie einen archetypischen, autornahen Text rekonstruieren zu können. Lachmann ließ den handschriftlichen Texten, wie er sagte, eine „kritische behandlung" zuteil werden 10 - wie sich

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lionis & falsi; extemporaliter & populariter instituta a Melchiore Goldasto Haiminsfeldio. Hanoviae 1611. Walther von der Vogelweide. Gedichte. 11. Auflage auf der Grundlage der Ausgabe von Hermann Paul. Hrsg. von Silvia Ranawake mit einem Melodieanhang von Horst Brunner. Teil 1: Der Spruchdichter. Tübingen 1997. Die Gedichte Walthers von der Vogelweide. Hrsg. von Karl Lachmann. Berlin 1827. - Für die weitere Tradition maßgebend ist die zweite Auflage: Die Gedichte Walthers von der Vogelweide. Zweite Ausgabe. Von Karl Lachmann. Berlin 1843. Vgl. zur Editionsgeschichte auch Thomas Bein: „die ächte lesart". In: Text. Kritische Beiträge 9, 2004 („Textkonstitution"), S. 47-63. Schweikle und von der Hagen stehen freilich nicht in einem Traditionszusammenhang, wie er sich etwa bei Paul/Leitzmann oder Paul/Ranawake darstellt. Dennoch scheint es mir wichtig, von der Hagen aufgrund seiner für seine Zeit erfreulich handschriftennahen Editionspraxis zu erwähnen. Walther von der Vogelweide. Leich, Lieder, Sangsprüche. 14., völlig neubearbeitete Auflage der Ausgabe Karl Lachmanns mit Beiträgen von Thomas Bein und Horst Brunner. Hrsg. von Christoph Cormeau. Berlin 1996; Paul/Ranawake 1997 (Anm. 5); Walther von der Vogelweide. Werke. Gesamtausgabe. Band 1. Spruchlyrik. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Hrsg., übersetzt und kommentiert von Günther Schweikle. Stuttgart 1994; Band 2. Liedlyrik [...]. Stuttgart 1998. Vorworte der Ausgaben 1827, S. XI; 1843, S. XIV.

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Thomas Bein

heute zeigt, war es noch eine behutsame Behandlung. Carl von Kraus ging weitaus rigoroser zu Werke. In seinen Walther-Untersuchungen hat er das Ziel formuliert, „den echten Wortlaut zurückzugewinnen". 11 Freilich wusste er, dass dies nicht in letzter Konsequenz zu erreichen war, aber er wollte mit allen ihm zur Verfügung stehenden philologischen Mitteln diesem Ziel doch näher kommen. In den meisten Fällen war sein philologisches Werkzeug die, wie er es nannte, „genaue Erklärung der Gedichte". 12 Es ist freilich unstrittig, dass sich Textkritik und Interpretation gegenseitig bedingen, allerdings ist der Anteil der Interpretation bei von Kraus so hoch, dass Hugo Kuhn sich veranlasst sah, von Kraus einen „Künstler der Philologie" 13 zu nennen. Kuhn schon wollte die zu weit gehenden Rekonstruktionen zurücknehmen, Cormeau hat dann bekanntlich die Ausgabe grundlegend revidiert und den Status des von ihm hergestellten Textes wie folgt beschrieben: der „Text, der der Kritik aus diesen Quellen erreichbar ist, [ist] nicht das authentische Werk Walthers nach neuzeitlichen Begriffen, sondern das Abbild des (Euvres in der Rezeption". 14 Dennoch hat Cormeau eine auf einen Autor hin konzipierte Ausgabe vorgelegt; er hat mittels seines modifizierten Leithandschriftenprinzips versucht, einen Text herzustellen - sagen wir ruhig: zu rekonstruieren - , den er dem Dichter Walther zutraute. Er hat manche Doppel- oder gar Dreifachfassungen keineswegs gleichberechtigt behandelt, und sein iudicium, welcher Fassung der Vorrang zu gewähren sei, war letztlich geleitet von intersubjektiv nicht leicht vermittelbaren Vor-Urteilen und Vorstellungen vom Autor Walther. Noch im 19. Jahrhundert war Hermann Paul, der mit seiner Walther-Ausgabe die ATB-Reihe begründete, 15 andere Wege als Lachmann und seine Schüler gegangen. Mit Manipulationen zwecks Rekonstruktion eines verlorenen Textzustandes war er sehr zurückhaltend. In seiner Zeit hatte Pauls Ausgabe einen progressiven Charakter: unkonventionell und nicht blindlings an scheinbar unantastbare Vorgaben anknüpfend. Bekanntlich wurde Pauls Ausgabe 1945 von Albert Leitzmann „völlig mit Lachmanns zehnter, von Kraus gänzlich umgearbeiteter ausgabe von 1936 übereinstimmend gestaltet", was Silvia Ranawake derzeit wieder rückgängig macht, weil, wie sie schreibt, „Pauls behutsamer Umgang mit der Überlieferung den heutigen Anforderungen näher als die Ausgabe von Carl von Kraus" komme. 16 11

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Carl von Kraus: Walther von der Vogelweide. Untersuchungen. 2., unveränderte Auflage Berlin 1966, S. IX. Ebd., S. XIII. Vorwort zur 12. Ausgabe, zitiert nach: Die Gedichte Walthers von der Vogelweide. Hrsg. von Karl Lachmann. 13., aufgrund der 10. von Carl von Kraus bearbeiteten Ausgabe neu herausgegeben von Hugo Kuhn. Berlin 1965, S. XV. Cormeau 1996 (Anm. 9), S. XIX. Vgl. den Beitrag von Christian Kiening in diesem Band. Beide Zitate: Paul/Ranawake 1997 (Anm. 5), S. X.

Walther edieren

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Vom grundsätzlichen Anspruch her noch anders und radikaler ging Günther Schweikle an seine Walther-Ausgabe heran, die, wie er schreibt, „mutmaßlich seit langem die erste [ist], die nicht auf Lachmanns kanonisch gewordener Edition (bzw. den von Carl von Kraus verbesserten' Auflagen) aufbaut, sondern unabhängig von dieser die Texte wieder unmittelbar aus den Handschriften gewinnt." Schweikle wendet sich gegen jede Form rekonstruierender Textkritik; er will, wie er es nennt, einen „genuin mittelalterlichen Text" präsentieren und stützt sich im wesentlichen auf die Manessesche Liederhandschrift C.17 Freilich aber bearbeitet auch er den Wortlaut von C: er verbessert offenkundige Fehler' und normalisiert Lautung und Graphie, sodass man am Ende die Rede vom ,genuin mittelalterlichen Text' durchaus in Frage stellen darf.

III. Soweit in aller Kürze 18 die wesentlichen editorischen Zugriffe. Wer hat Recht? Wie soll es weitergehen? Ich kann im Folgenden keine schnelle Lösung dieser Frage anbieten, sondern will einige denkbare Wege skizzieren. Zunächst sei auf ein grundsätzliches Problem aufmerksam gemacht, nämlich auf die Bedeutung von edierten Texten für unsere literarhistoriographische Arbeit. Meines Erachtens öffnet sich hier ein Problemfeld, das in den nächsten Jahren verstärkt einer Analyse unterzogen werden muss. Daraus dürften sich dann editionswissenschaftliche Konsequenzen ergeben. Denn: Alle Editoren müssen sich zunächst mit den handschriftlich überlieferten Texten befassen. Unterschiedlich intensiv ist beim editorischen Geschäft der Anteil der Textrekonstruktion. Bei von Kraus war er sehr hoch, bei Lachmann geringer, bei Cormeau noch geringer; Paul und Schweikle wollten so eng wie möglich bei den Handschriften bleiben. Während Lachmann und von Kraus zweifellos eine Edition erarbeiteten, die am Ende möglichst nahe an dem sein sollte, was der Autor Walther einstmals erdichtet hatte, hielten sich Cormeau und besonders Paul/Ranawake und Schweikle mit solchen Ansprüchen zurück. Die Überlieferung steht bei ihnen im Vordergrund, Begriffe wie .Original', ,Urtext' usw. werden nicht mehr verwendet. Dennoch: Die Editoren sagen nicht, welchen Status ihre Editionen für den Literarhistoriker haben sollen oder haben können. Und der Editionsbenutzer verwendet die Ausgaben (auch die Schweikies! auch die Ranawakes!) in aller Regel doch mit der Absicht, etwas über den Dichter Walther und sein Schaffen im späten 12. und beginnenden 13. Jahrhundert auszusa17

Schweikle 1994 (Anm. 9), S. 7. Ausführlicher Thomas Bein: „echt kritisch": Zwei Jahrhunderte Klassiker-Geschichte. Zum Wandel des Textkritik-Begriffs in der Walther von der Vogelweide-Philologie. In: editio 18, 2004, S. 69-88.

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gen. Ich kenne jedenfalls keine Arbeit, die etwa die Texte in der SchweikleAusgabe als .genuine Texte' des 14. Jahrhunderts untersuchte. Es tut sich eine merkwürdige Kluft auf: Auf der einen Seite gibt es weitgehend Konsens darüber, dass beim editorischen Geschäft die Überlieferung einen äußerst hohen Stellenwert einzunehmen habe, auf der anderen Seite aber spielen für den Textinterpreten oder den Literarhistoriker diese editorischen Skrupel kaum eine Rolle. Etwas überspitzt formuliert könnte man - unter Verwendung von Cormeaus Worten - sagen: Der moderne Editor beschränkt sich darauf, das Abbild eines CEuvres in der Rezeption zu präsentieren, den Literarhistoriker aber interessiert bislang nicht oder kaum das Abbild des (Euvres, sondern das (Euvre - und ungeachtet aller .methodischer Fortschritte' in der Editionswissenschaft liest er das Abbild, als sei es das (Euvre selbst. Der Grund für dieses Missverhältnis ist wohl in Folgendem begründet: Wiewohl wir über mittelalterliche Autoren biographisch so gut wie nichts wissen, können oder wollen wir doch von der Text-Instanz ,Autor' nicht ablassen. Zu Recht: Texte haben ihre Urheber, und es ist legitim und wichtig, diese Urheber und ihren kulturellen Raum historisch zu perspektivieren. Wie in jeder historischen Disziplin ist dies auch hier ohne Rekonstruktion nicht möglich. Und solange der Historiker offen sagt, was er tut und wie hoch sein Anteil an der Rekonstruktion ist, ist dagegen nichts einzuwenden. Mit Blick auf Walther meine ich, dass wir auch gar nicht darum herumkommen, letztlich einen Werkkomplex anzuvisieren, der im späten 12. und frühen 13. Jahrhundert Teil eines Literaturbetriebs war. Wir könnten sonst nichts über die Genese des deutschen Minnesangs aussagen, und noch weniger würden wir den politischen Sangsprüchen gerecht, die ja in der Regel nur in einem ganz eng begrenzten Zeitfenster Sinn und Zweck hatten. Ich meine also: Die Idee einer,Autor-Edition' ist, mit allen Einschränkungen, die der Begriff mittlerweile abnötigt, nicht obsolet geworden. Sie muss sich allerdings anders präsentieren, als es bislang noch meistens der Fall ist. Die genannten Editionen (Cormeau, Schweikle, Ranawake) versuchen, im statischen Buch-Medium etwas zu harmonisieren, was nicht zu harmonisieren ist. Sie wollen die Überlieferung sehr ernst nehmen und sie gleichzeitig doch ein bisschen wenigstens - überwinden. Welchen Status das Ergebnis dieses Tuns eigentlich hat, wird kaum gesagt oder vielleicht gar nicht gewusst. Ich glaube, wir müssen die editorischen Arbeiten stärker als bisher differenzieren und segmentieren, um in der Editionspran's adäquat auf die editionsf/ieoretischen Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte reagieren zu können. Das lässt sich nicht mehr mit und in einem Buch erledigen, sondern eine solche Ausgabe muss hybrid sein, digital (vor allem für die Forschung) und papieren (vor allem für die Lehre), und sie muss mehrere Editionsstufen upifassen.

Walther edieren

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Ein solches (Groß-)Projekt könnte etwa folgendermaßen aussehen (wichtige Anregungen verdanke ich Andrea Hofmeister und ihrer Konzeption einer d y namischen Edition' 19 ): Stufe 1: Handschriften-Faksimile (Editionsbasis; Kontrollmaterial; Ermöglichung paläographischer Studien) Stufe 2: Diplomatische Transkription (Hilfsmaterial; Ermöglichung sprachgeschichtlicher Studien) Stufe 3: Leicht normalisierte Handschriften-Editionen (Ermöglichung rezeptionsgeschichtlicher und lexikographischer Studien) Stufe 4: Autororientierte (= vorsichtig rekonstruierende) Edition ,Kritische' Edition handschriftlicher Überlieferungsstränge (mit vorsichtigen Fehlerkorrekturen) Fassungseditionen, gegebenenfalls mit Kommentaren zu denkbaren Textgenesen. (Ermöglichung der Erforschung literaturgeschichtlicher Zusammenhänge: Geschichte eines Autoroeuvres, Geschichte literarischer Gattungen und Subgattungen; Erforschung von Textvarianz) Stufe 5: Studienausgabe für den akademischen Unterricht (ggfls. mit Kommentar und lexikalischen Erschließungshilfen) Es gibt inzwischen einige (aber noch wenige) ,Muster' für hybride Editionen. Ich nenne Andrea Hofmeister in Graz; Michael Stolz in Basel (Parzival-Projekt), auch in der Neugermanistik und Philosophie gibt es Beispiele, an denen man sich orientieren kann. 20 Freilich: Großprojekte sind eines, mittelfristige pragmatische Lösungen (die sich zunehmend an den immer knapper werdenden Forschungsfreiräumen im universitären Alltagsgeschäft zu orientieren haben) ein anderes. Für die 15. Auflage der Cormeau-Ausgabe habe ich vor, an der vierten Stufe (,Kritische Edition') weiterzuarbeiten: Grundsätzlich scheint mir der Weg, den Cormeau eingeschlagen hat, nach wie vor tragfähig zu sein. Es wird allerdings sein editorisches Grundprinzip, das Leithandschriften- bzw. Leithandschriftenstrangprinzip, noch konsequenter durchgeführt werden. In einer erweiterten Einleitung wird ferner noch deutlicher der Status umschrieben, den die Texte einnehmen. Und zumindest in sehr umstrittenen Fällen werden editorische Entscheidungen durch kurze Kommentare nachvollziehbarer gemacht.

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Vgl. Die Schriften des Brixner Dommesners Veit Feichter (ca. 1510-1560). Hrsg. von Andrea Hofmeister-Winter. Bd. 1: Das Brixner Dommesnerbuch. Mit elektronischer Rohtextversion und digitalem Vollfaksimile auf CD-ROM. Im Auftrag der Stadt Brixen hrsg. von A. H.-W. Innsbruck 2001. Hofmeister differenziert folgendermaßen: Faksimile, Deskriptive Transliteration als Basisstufe der Edition, Graphetisch reduzierter Abdruck (für sprachwissenschaftliche Zwecke), Typographisch standardisierte Lesefassung. Vgl. mit vielen Hinweisen: Autor - Autorisation - Authentizität. Hrsg. von Thomas Bein, Rüdiger Nutt-Kofoth und Bodo Plachta. Tübingen 2004 (Beihefte zu editio 21).

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Größere Veränderungen im .kritischen Textteil' nötigt schließlich eine andere Einschätzung handschriftlicher Textfassungen ab. Cormeau war sich des Problems zwar bewusst, aber er war kein Freund von synoptischen Fassungseditionen, weil er grundsätzlich doch die Herstellung .primärer' Textstufen im Sinn hatte bzw. nicht selten deutliche Entscheidungen für die eine und gegen die andere Fassung eines Liedes getroffen hatte. Durch Verwendung eines größeren Zeilendurchschusses zwischen Strophen hatte er deutlich machen wollen, dass die eine oder andere Strophe in der Überlieferung nicht in der Ordnung erscheint, die die Edition bietet. In der Praxis hat sich allerdings gezeigt, dass dieses Mittel nicht das geeignete gewesen ist. Studierende (und sicher auch andere Benutzer) nehmen das größere Spatium selten wahr; überdies suggeriert eine fortlaufende Nummerierung immer einen kohärenten Zusammenhang. Hier müssen - besonders im Printmedium - andere Darstellungsformen gefunden werden. Man könnte an einen längeren waagerechten Strich denken, der zwar nicht ,schön' sein mag, aber doch für den Benutzer ein deutliches Signal setzen würde. Auch ist über das Problem des Durchnummerierens neu nachzudenken; zu erwägen ist in solchen Fällen eine Indizierung der römischen Strophennummern mit einer Handschriftensigle, um deutlich zu machen, dass diese Strophe zwar an fünfter Stelle steht, aber nur in einer bestimmten Handschrift, die nicht Basishandschrift des edierten Liedes ist. Im Falle von Ton 86 (L. 114,23) etwa könnte dies wie folgt ausschauen: 86 Der rife tet...

jjCEUx U n s h ä t d e r w i n t e r

jjjceux Versümt ich disen ... IVUx Ez was an einer ... V Ux Diu guote ...

Eine solche Lösung ist besonders dann geboten, wenn die Textabweichungen zwischen den Handschriften gering sind. Eine Synopse würde wenig effizient sein, doch muss in der Präsentation des Textes deutlich gemacht werden, wie die Strophenkomplexe überliefert worden sind, d. h. was in der Überlieferung zusammen gehört. Anders muss mit Fällen umgegangen werden, in denen aufgrund der Textvarianz und/oder der Strophenfolge- und -bestandsvarianz der Sinn einer Fassung in größerem Maße tangiert wird. Nur hier halte ich es in einem Ausgabentyp, wie ihn Cormeau darstellt, für sinnvoll, mit Textsynopsen bzw. Mehrfacheditionen eines Tones zu arbeiten. Der Editor sollte den Benutzer einer solchen Edition nicht mit belanglosen Varianten .zuschütten', sondern er sollte nach einer Analyse und Deutung der Varianz nur die Fälle umfangreich dokumentieren, die von

Walther edieren

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hermeneutischem Belang sind, sodass der Blick der Benutzer möglichst konzise auf genau diejenigen Varianzfälle gelenkt wird, die ,der Rede wert' sind, wo sich ζ. B. durch lexikalische Variationen ein minnetheoretisches Begriffsspektrum verändert oder wo aufgrund von Plus-/Minusstrophen Pointen variieren oder einzelne Liedfassungen in eine ganz andere Richtung gehen. 21 Solche Fassungen werden gar nicht so häufig über Textvarianz begründet; semantisch bedeutender sind Varianzen im Bereich des Strophenbestandes und der -folge. Im Falle Walthers sind es nach meiner Einschätzung etwa 2 0 - 3 0 Töne, die in ihren Überlieferungen eine Variabilität (auf Text- und Strophenebene) aufweisen, der editorisch anders als bisher begegnet werden muss (darunter in jedem Fall die Töne 7, 15, 18, 19, 21, 23/23a, 27, 29, 30, 31, 32, 34, 40, 43, 44, 49/49a, 51). Zum einen ist dies dann geboten zu tun, wenn über das textgenetische Verhältnis von Fassungen (früher - später) nichts Genaues ausgesagt werden kann, zum anderen aber auch dann, wenn es hinreichende Gründe gibt, aus der Überlieferungslage und den Textbefunden eine bestimmte Textgenese annehmen zu können. In beiden Fällen sollte der Benutzer in der Edition selbst durch kurze kommentierende Hinweise auf interpretatorische Konsequenzen hingewiesen werden, sodass er mit den Fassungen nicht allein gelassen wird. Ein Beispiel: 22 Die Weingartner Liederhandschrift Β und die Große Heidelberger Liederhandschrift C überliefern Ton 15 (L. 39,1) als eine zweistrophige Fassung (Strophen I und II). Mit nur zwei kleinen Ausnahmen stimmen beide Handschriften im Wortlaut (mit differierender Graphie) völlig überein. Die Würzburger Liederhandschrift Ε überliefert eine fünfstrophige Fassung mit anderer Reihenfolge: III, IV, II, I, V, die außerdem auch eine Reihe von Textvarianten zu den beiden parallel auch in BC überlieferten Strophen aufweist. Die Carmina Burana-Hs. Μ tradiert inmitten eines lateinischen, thematisch ähnlichen Liedkontextes die Str. 135a, im gleichen Ton wie Carm. Bur. 135 angelegt und überdies auch große metrische Ähnlichkeiten mit den deutschen BCE-Strophen aufweisend.

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Es liegt auf der Hand, dass insbesondere die (Minne-)Lieddichtung unter einer solchen Perspektive zu untersuchen ist. Die überlieferten Strophenkomplexe der Sangspruchdichtung sind bekanntlich nur bedingt als liedhafte Einheiten zu rezipieren - in welcher Zusammenstellung sie einstmals zum Vortrag kamen, ist heute kaum noch rekonstruierbar. Die anhaltenden Diskussionen zum prominenten Fall des ,Reichstons' (2) zeigen das deutlich, noch schwieriger wird es bei den sehr umfangreichen Tönen 11 oder 12. Synoptische Fassungseditionen sind indes auch hier nicht ausgeschlossen (der dreistrophige ,Reichston' böte sich durchaus an) - entscheidend wird das Ergebnis von Einzelfallanalysen sein. Vgl. dazu sehr viel ausführlicher Thomas Bein: uns hat der winter geschadet Uber al (Walther L. 39,1, Cormeau 15): Über Textfassungen, Textgenesen und literaturwissenschaftliche Konsequenzen. In: Magister et amicus. Festschrift für Kurt Gärtner zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Vaclav Bok und Frank Shaw. [Wien] 2003, S. 579-599.

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Thomas Bein

Da nicht nur die BC-Fassung, sondern auch die E-Version und der M-Text einen guten Sinn ergeben, sollten sie gleichberechtigt nebeneinander ediert werden. Nur auf diese Weise können die Fassungsvarianz adäquat wahrgenommen und weitergehende Überlegungen, die literarhistorische Beurteilung der Fassungen betreffend, angestellt werden. Für eine überlieferungsgeschichtliche Beurteilung der Ε-Fassung spielt in diesem Fall weniger die Textvarianz eine Rolle als vielmehr die Metrikvarianz. Die parallel überlieferten Strophen BC I/II und Ε ΠΙ/IV weisen ein weitgehend daktylisches Versmaß auf. Die nur in Ε überlieferten Strophen Ε I, II, V sowie die M-Strophe sind kaum daktylisch zu realisieren, auch die Hebungsanzahl differiert. Der Status der Fassung Ε mag sich daher einer Kontamination zweier formal und thematisch ähnlicher, aber rhythmisch differierender Lieder verdanken: a) *BC I/II *E ΠΙ/IV b) *E I, Π, V Die Liedstufen a) und b) können beide auf Walther zurückgehen; die fünfstrophige Kontamination in Ε ist eher sekundären Sammelprozessen zuzuschreiben. Mit den letzten Bemerkungen habe ich freilich den editorischen Raum schon ein Stück weit verlassen. Ob man sie teilen mag, steht dahin. Mir wichtiger ist, dass die Edition die Möglichkeit eröffnen muss, solche Überlegungen anzustellen, ja mehr noch, dass sie den Benutzer geradezu nötigen muss, über die Gründe für solche weitreichenden Textdifferenzen nachzudenken.

Michael

Stolz

Texte des Mittelalters im Zeitalter der elektronischen Reproduzierbarkeit Erfahrungen und Perspektiven

Die Reproduzierbarkeit kultureller Objekte erweist sich angesichts jüngerer medientechnischer Entwicklungen gleichermaßen als Chance wie als Herausforderung. Im Bereich der Geisteswissenschaften gilt dies nicht nur für Disziplinen wie die Kunstgeschichte, sondern auch für die Philologien, die sich - zumindest nach traditionellem Verständnis - mit der Pflege von Texten, mit Edition und Interpretation schriftlich oder anderweitig konservierter Sprachquellen beschäftigen. Für die Philologien ist die Herausforderung gar eine doppelte, da durch die neuen elektronischen Möglichkeiten nicht nur der philologische Objektbereich der Text sondern auch die Verfahren wissenschaftlicher Aufbereitung und Darstellbarkeit auf vielfältige Weise in Bewegung geraten sind. Was ist ein Text? Wie verhält er sich zu seinen kulturellen, d. h. textlichen und außertextlichen, Umfeldern? Was ist Textkritik? Welche Rahmenbedingungen schafft die philologische Aufbereitung bei der Wahrnehmung von Texten? Welche Maßstäbe setzt eine Editionswissenschaft, die im Spannungsfeld von Quellennähe und Rekonstruktion den Blick auf Texte - zumal solche entfernter Epochen - maßgeblich steuert? Diese grundlegenden Fragen wurden im Zuge der medientechnischen Veränderungen nicht einfacher, eher schwieriger. Sie bilden - nicht nur in der Germanistik - zunehmend den Ausgangspunkt wissenschaftlicher Tagungen und Sammelbände. 1 Die elektronische Reproduzierbarkeit mittelalterlicher Texte bietet sich in diesem Zusammenhang als vielversprechendes Mittel an, da sie bei der Gratwanderung zwischen Quellennähe und Rekonstruktion flexiblere Möglichkeiten zu Vgl. unter philologischer Perspektive die Beiträge der Tagung ,Was ist Textkritik? Zur Geschichte und Relevanz eines Zentralbegriffs in der Editionswissenschaft. Internationale österreichisch-deutsche Tagung der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition' (Universität Innsbruck 25.-28. 2. 2004) in: editio 18, 2004, und 19, 2005; unter medientechnischer Perspektive: Digital technology and philological disciplines. Hrsg. von Andrea Bozzi, Laura Cignoni und Jean-Louis Lebrave. Pisa, Roma 2004 (Linguistica Computazionale 20/21), darin bes. die Beiträge zu textkritischen Fragen von Andrea Bozzi, Maria Sofia Corradini (S. 4 9 - 6 6 ) , Ivan Horvath (S. 245-258) und Claus Huitfeld (S. 259-275); unter mediävistischer Perspektive: Text und Text in lateinischer und volkssprachiger Überlieferung des Mittelalters. Freiburger Colloquium der Wolfram von Eschenbach-Gesellschaft 2004. Hrsg. von Wolfgang Haubrichs, Eckart C. Lutz und Klaus Ridder. Berlin 2006 (Wolfram-Studien 19).

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Michael Stolz

bieten scheint als konventionelle Printeditionen. Die Medialität des Zeitalters vor Gutenberg mit der Medialität des Zeitalters nach Gutenberg in Zusammenhang zu bringen, war eine jener Verheißungen, mit der die an der Materialität und Varianz mittelalterlicher Handschriften orientierte ,New Philology' in den neunziger Jahren des letzten Jahnhunderts auftrat.2 Wir sind diesen Weg im Rahmen eines an der Universität Basel angesiedelten Projekts gegangen, wohl wissend, dass wir uns damit auf ein Experiment mit allen Hoffnungen und Fährnissen, die zu einem solchen Pionierunternehmen gehören, einlassen. Ziel unserer Arbeit ist die elektronische Edition repräsentativer Abschnitte aus Wolframs ,Parzival' in einer Darstellungsform, die das handschriftliche Erscheinungsbild der erhaltenen Textzeugen ebenso sichtbar macht wie deren Gruppierungen in einer komplexen Überlieferungsgeschichte.3 Da wir mitten in unserer Arbeit an der Texttradition des ,Parzival' stehen, soll der vorliegende Beitrag Anlass geben zu einer vorläufigen Zwischenbilanz über den Umgang mit elektronischen Editionen. Orientierung in der Anfangsphase des Projekts boten uns Unternehmungen im angelsächsischen Raum: eine an der Princeton University begonnene Internet-Edition von Chretiens .Lancelot'-Roman4 und ein an englischen Universitäten entwickeltes Projekt zu Chaucers .Canterbury Tales'.5 Hier fanden wir editorische Standards vor, die wir übernehmen oder unseren Bedürfnissen entsprechend abwandeln konnten: Transkriptionsverfahren etwa, die in international gebräuchliche Auszeichnungssprachen wie TEI überführbar 2

3

4

5

Vgl. mit der weiteren einschlägigen Literatur Jürgen Wolf: New Philology/Textkritik. In: Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue Theoriekonzepte. Hrsg. von Claudia Benthien und Hans Rudolf Velten. Reinbek 2002 (rowohlts enzyklopädie), S. 175-195. Vgl. Michael Stolz: Wolframs ,Parzival' als unfester Text. Möglichkeiten einer überlieferungsgeschichtlichen Ausgabe im Spannungsfeld traditioneller Textkritik und elektronischer Darstellung. In: Wolfram von Eschenbach - Bilanzen und Perspektiven. Eichstätter Colloquium 2000. Hrsg. von Wolfgang Haubrichs, Eckart C. Lutz und Klaus Ridder. Berlin 2002 (Wolfram-Studien 17), S. 294-321; erweitert und mit einer elektronischen Editionsprobe unter dem Titel: Wolfram von Eschenbach, ,Parzival'. Eine elektronische Teiledition als Voraussetzung einer neuen kritischen Ausgabe. In: Mediaevistik und Neue Medien. Hrsg. von Klaus van Eickels, Ruth Weichselbaumer und Ingrid Bennewitz. Ostfildern 2004, S. 91-103. Dazu die Projekt-Homepage: http://www.parzival.unibas.ch. Vgl. die Beiträge in CEuvres & critiques 27, 2002, Heft 1: Chretien de Troyes, Le Chevalier de la Charrette (Lancelot). Le ,Projet Charrette' et le renouvellement de la critique philologique des textes; K. Sarah-Jane Murray: Medieval Scribes, Modern Scholars. Reading ,Le Chevalier de la Charrette' in the Twenty-First Century. In: Literatur und Literaturwissenschaft auf dem Weg zu den neuen Medien. Eine Standortbestimmung. Hrsg. von Michael Stolz, OnlinePublikation: http://www.germanistik.ch. Dazu die Projekt-Homepage: http://www.princeton.edu/~lancelot. Vgl. zuletzt Peter Robinson: The History, Discoveries, and Aims of the Canterbury Tales Project. In: The Chaucer Review 38, 2003, Heft 2, S. 126-139. Dazu die Projekt-Homepage: http://www.cta.dmu.ac.uk/projects/ctp.

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sind, aber auch Verknüpfungsmuster (sog. Hypertext-Links) zwischen einzelnen Komponenten einer elektronischen Edition. Auf diese Weise vermochten wir ein Editionsmodell zu erarbeiten, in dem sich die Benutzer zwischen einem kritischen Text, dem zugehörigen Variantenapparat, den Transkriptionen einzelner Textzeugen und deren Digitalfaksimiles relativ frei bewegen können. Für die dazu notwendigen Kollationen nutzten (und nutzen) wir das Computerprogramm Collate, das im Rahmen des englischen .Canterbury Tales'-Projekts speziell für volkssprachige Texte mit reicher Überlieferung entwickelt worden ist. 6 Als Basistext, an dem wir die Kollationen ausrichteten, diente uns eine normalisierte Version der St. Galler Epenhandschrift (Stiftsbibliothek, Cod. 857). Dieses wohl um 1260 in einer alpenländisehen Schreibwerkstatt angefertigte Manuskript stellt sowohl für die Literatur- wie für die Kunstgeschichte ein einzigartiges Quellenzeugnis dar. 7 Es überliefert bekanntlich neben dem ,Parzival' das ,Nibelungenlied' und die ,Klage', Strickers ,Karl' und Wolframs ,Willehalm' sowie geistliche Kleinepen: Konrads von Fußesbrunnen .Kindheit Jesu' und Konrads von Heimesfurt,Unser vrouwen hinvart'. An der Herstellung der Handschrift waren sieben Schreiber beteiligt. Eine führende Rolle nahm offenbar der so genannte Schreiber III ein, von dem Teile des ,Nibelungenlieds', der gesamte Willehalm' und fast der ganze ,Parzival'-Text stammen. Die Mundarten der Schreiber deuten darauf hin, dass sich das Skriptorium im südöstlichen alemannischen oder im südwestlichen bairischen Sprachraum, vielleicht in Südtirol, befand. 8 Die Technik der Prachtinitialen lässt die Beteiligung von Angehörigen einer norditalienischen Malschule erkennen. 9

6

7

8 9

Vgl. Peter M. W. Robinson: Collate. A Program for Interactive Collation of Large Textual Traditions. In: Research in Humanities Computing 3. Selected Papers from the ALLC/ACH Conference, Tempe (Arizona), March 1991. Hrsg. von Don Ross und Dan Brink. Oxford 1994, S. 32-45. Vgl. zuletzt, jeweils mit weiterer Literatur, Joachim Heinzle: ,St. Galler Handschrift 857'. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Begründet v. Wolfgang Stammler, fortgeführt v. Karl Langosch. Hrsg. von Kurt Ruh [ab Bd. 9 v. Burghart Wachinger]. 2., völlig neu bearb. Aufl. Bd. 1-11. Berlin, New York 1978-2004, Bd. 11, 2004, Sp. 4 8 1 - 4 8 5 ; Michael Stolz: Der Codex Sangallensis 857 - Konturen einer bedeutenden mittelhochdeutschen Epenhandschrift. In: Die St. Galler Nibelungenhandschrift (Cod. Sang. 857): Parzival, Nibelungenlied, Klage, Karl der Große, Willehalm. Faksimile des Codex 857 der Stiftsbibliothek St. Gallen und zugehöriger Fragmente. CD-Rom mit einem Begleitheft. Hrsg. von der Stiftsbibliothek St. Gallen und dem Basler Parzival-Projekt. Zweite, erweiterte Auflage. St. Gallen 2005 (Codices Electronici Sangallenses 1), S. 9 - 6 0 . Vgl. den Forschungsüberblick bei Stolz 2005 (Anm. 7), S. 3 3 - 4 1 . Dazu unten, S. 150-153.

146 Stittsbibtiothek S». Gallen, C o d e x 857

Michael Stolz STARtseite

EINFÜHRUfäC

INITIALEN

MATERIALIEN

A b b . 1: I n t e r f a c e d e r C D - R O M zur St. G a l l e r E p e n h a n d s c h r i f t .

Im Kontakt mit der Stiftsbibliothek ergab sich die Möglichkeit zu einer CDROM-Edition des St. Galler Cod. 857, deren erste Auflage im Dezember 2003 zur Eröffnung der Karlsruher Ausstellung ,Das Nibelungenlied und seine Welt' erschien, auf der alle bedeutenden Handschriften dieses Epos gezeigt wurden. 10 Bei der Arbeit an dem Datenträger versuchten wir, Erfahrungen aus dem elektronischen Editionsprojekt umzusetzen und den besonderen Bedürfnissen eines Handschriftenfaksimiles anzupassen: Die CD-ROM enthält Farbaufnahmen der Handschriftenseiten in drei verschiedenen Größen. Es besteht die Möglichkeit, virtuell in den Seiten zu blättern, aber auch einzelne Seiten, einzelne Werke, Werkabschnitte oder bestimmte Verse anzuspringen. Angaben zu Seitenzahlen und Vers- bzw. Strophenabschnitten, zu Schreiberhänden und Lagenstrukturen sowie Kurzinformationen zu den einzelnen Werken gestatten den Benutzern eine rasche Orientierung (vgl. Abb. 1). Als zusätzliche Komponenten 10

Vgl. zur Karlsruher Ausstellung den Katalogband: „Uns ist in alten Mären...". Das Nibelungenlied und seine Welt. Hrsg. von der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe und dem Badischen Landesmuseum Karlsruhe. Darmstadt 2003, und den wissenschaftlichen Begleitband: Die Nibelungen. Sage - Epos - Mythos. Hrsg. von Joachim Heinzle, Klaus Klein und Ute Obhof. Wiesbaden 2003. Zur CD-ROM-Edition (erhältlich über die Stiftsbibliothek St. Gallen: http://www.stiftsbibliothek.ch) die Angabe in Anm. 7.

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sind eine wissenschaftliche Einführung, Großaufnahmen der Initialen und Synopsen mit den Transkriptionen des ,Nibelungenlieds' und der ,Klage' eingebaut. Eine Besonderheit stellt die Aufnahme von Fragmenten dar: von Handschriftenteilen, die sich aufgrund der bewegten Geschichte des Codex heute in auswärtigen Bibliotheken (der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin und der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe) befinden, 11 aber auch von gesonderten Bruchstücken mit Ausschnitten des ,Parzival' und des .Nibelungenlieds', die mit hoher Wahrscheinlichkeit zur selben Schreibwerkstatt gehören. 12 Das elektronische Medium ermöglicht mithin die virtuelle Rekonstruktion einer heute auf verschiedene Bibliotheken verteilten Handschrift. Ja mehr: ansatzweise wird sogar jenes bislang nicht exakt lokalisierbare Skriptorium greifbar, in dem der St. Galler Codex angefertigt wurde. Die Vorteile einer elektronischen Ausgabe werden hier deutlich: Die Handschrift kann in Detailansichten und zugleich integral, ja in den Umrissen ihres mutmaßlichen Umfelds dargestellt werden. Die beigegebenen Informationen gestatten es den Benutzern, nach eigenen Bedürfnissen an dem Material zu arbeiten, sei es unter kodikologischen, paläographischen, überlieferungsgeschichtlichen oder literaturwissenschaftlichen Gesichtspunkten. So haben wir, zumal für jene Texte, zu denen keine Transkription beigegeben ist, auf entsprechende Ausgaben und Übersetzungen verwiesen. Angestrebt ist hier also eine flexible Nutzung des elektronisch verfügbar gemachten Manuskripts - dies unter gezieltem Einbezug gedruckter Medien, etwa in Gestalt gängiger Texteditionen. Der entscheidende Vorzug dieses Verfahrens ist, dass die Handschrift ihren Weg zu den Lesern findet, ohne dass sich diese in weit entlegene Bibliotheken zu begeben brauchen. Manche Mediävisten freilich werden genau diesen Aspekt als ambivalent empfinden. Mit Walter Benjamin mag man den Verlust einer ,Aura' konstatieren, der mit der technischen Reproduzierbarkeit eines Kunstwerks, wie es der St. Galler Codex zweifellos darstellt, einhergeht: ,Aura', das ist nach Benjamin die einmalige „Erscheinung einer Ferne, so nah das sein mag, was sie hervorruft". 13 "

12

13

Die erhaltenen Teile der ,Kindheit Jesu' Konrads von Fußesbrunnen in der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin (mgf 1021), das Blatt aus Konrads von Heimesfurt .Unser vrouwen hinvart' in der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe (Cod. Κ 2037). Zu Einzelheiten vgl. Stolz 2005 (Anm. 7), S. 13-18, 29f. (mit weiterer Literatur). Das ,Parzival'-Fragment befindet sich in der Österreichischen Nationalbibliothek Wien (Cod. 13070), das .Nibelungenlied'-Fragment in der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin (Fragm. 44). Dazu Stolz 2005 (Anm. 7), S. 18f., 5 6 - 6 2 (mit weiterer Literatur). Diesen Wortlaut hat die in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelte Definition in: Das Passagen-Werk. Hrsg. von Rolf Tiedemann. 2 Bde. Frankfurt/M. 1983, Bd. 1, S. 560. Vgl. auch die Definition als „einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag" in: Kleine Geschichte der Photographie (1931), abgedruckt in: Walter Benjamin, Medienästhetische Schriften. Mit einem Nachwort von Detlev Schöttker. Frankfurt/M. 2002, S. 3 0 0 - 3 2 4 , hier S. 309, und in: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936/39), abgedruckt ebd., S. 351-383, hier S. 357. Vgl. zu Benjamins ,Aura'-Begriff auch

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Diese einmalige Erscheinung aber ist in der virtuellen Präsenz am Computerbildschirm recht eigentlich verloren. Was bereits Karl Lachmann an der St. Galler Handschrift so besonders gerühmt hatte -„die edle geschmackvolle pracht der vergoldeten anfangsbuchstaben und gemahlten ersten zeilen der bücher, die einfache Schönheit und das mass der freien sicheren züge, de(n) milde(n) glänz der tinte und des pergaments" 14 - diese Eigenarten sind im Moment der Aufnahme, in welcher der Photograph die Seiten auf ein Speichermedium bannt, ein für alle mal technisch festgelegt. Das ganze aus dem Zusammenspiel wechselnder Lichteinwirkungen, feiner Schattierungen und der Materialbeschaffenheit des Pergaments erwachsende Ambiente, kurz: jenes authentische Erlebnis einer zeitlich entfernten Manufaktur, das überzeugte Mediävisten - zugestandenermaßen oder nicht - an ihrer Arbeit so besonders schätzen, bleibt ausgeschlossen. 15 Genau diese Erlebnismöglichkeit aber dürfte sich im Zuge der technischen Neuerungen drastisch verringern, denn die elektronische Reproduzierbarkeit, so ist anzunehmen, wird seitens der öffentlichen oder privaten Besitzer den Zugang zu den handschriftlichen Originalen eher verstellen als befördern - dies mit dem berechtigten Argument der Schonung wertvoller Kulturgüter. 16 Was damit ausfällt, ist, um mit Benjamin zu sprechen, „das Hier und Jetzt des Kunstwerks - sein einmaliges Dasein an dem Orte, an dem es sich befindet." 17 Was entfällt, sind aber auch Gewohnheiten und Praktiken, die mit der Benutzung von Originalhandschriften verbunden sind - das Eingebettetsein in Rituale, wie sie Benjamin dem Wesen der Aura zugeschrieben hat: Man denke an das Vereinbaren eines Nutzungstermins, den verbürgten Nachweis wissenschaftlichen Interesses, die Reise zum Objekt oder die - an manchen Orten per Gong- oder Glockenschlag - bemessene Zeit für die Autopsie.

14 15

16

17

Josef Fürnkäs: Aura. In: Benjamins Begriffe. Hrsg. von Michael Opitz und Erdmut Wizisla. 2 Bde. Frankfurt/M. 2000, Bd. 1, S. 95-146. Die Aktualität von Benjamins Medientheorie im digitalen Zeitalter wird reflektiert in dem Sammelband: Mapping Benjamin. The work of art in the digital age. Hrsg. von Hans Ulrich Gumbrecht und Michael Marrinan. Stanford 2003 (Writing science). Wolfram von Eschenbach. Hrsg. von Karl Lachmann. Berlin 1833, Vorrede S. XXXIV. Diesen Aspekt behandelt - am Beispiel gedruckter Faksimiles - auch Hubert Herkommer: Reproduziertes Mittelalter. Die faksimilierte Handschrift zwischen Wissenschaft und Geschäft. In: Basler Jahrbuch für historische Musikpraxis 27, 2003, S. 63-78. Dort erfolgt der Hinweis, „dass das mittelalterliche Buch ohne das geringste Zutun der Technik längst seine ehemalige Aura eingebüßt hat. Denn seit langem ist es aus seinen angestammten Traditionsräumen ausgewandert: aus dem Chor der Klosterkirche [...], aus der festlichen höfischen Gesellschaft oder aus der Ratsbibliothek der Patrizier, für immer emigriert in die dunklen Räume der Bibliotheken" (S. 78). Vgl. dazu die differenzierten, Chancen und Grenzen der Haltbarkeit elektronischer Datenträger einschließenden Überlegungen von Yola de Lusenet: Keeping things that work. Preservation aspects of digitization. In: Bozzi u. a. 2004 (Anm. 1), S. 145-161. Benjamin 1936/39 (Anm. 13), S. 354.

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Es ist bezeichnend, dass nicht nur professionelle Spezialisten, sondern auch die Masse mittelalterbegeisterter Ausstellungsbesucher an solchen Ritualen teilhaben wollen. Der Medientheroretiker Vilem Flusser hat in diesem Zusammenhang den Begriff der „Mischtransportmethode" geprägt: Kunstobjekte, wie ζ. B. Handschriften, werden zu einem Sammelplatz - etwa dem Karlsruher Schloss transportiert, nur damit anschließend auch die Betrachter der Objekte an diesen Ort transportiert' werden können. 18 Die Digitalisierung von Handschriften ermöglicht es dagegen, dass die darin enthaltenen Informationen vervielfältigt und individuell an lokal unbeweglich bleibende Empfänger vermittelt werden. 19 Für die große Mehrheit der Benutzer erlaubt es dieses Verfahren, einen genaueren Einblick in die Handschriften zu gewinnen, als dies bei der Ausstellung in einer Vitrine je möglich wäre. Der Schutz hinter Panzerglas machte aus den in Karlsruhe ausgestellten ,Nibelungenlied'-Handschriften bestenfalls reliquienartige Kultobjekte, die von der Menge bestaunt werden konnten. Als Träger eines komplexen, großflächig zusammenhängenden Zeichengewebes mit Text- und Bildelementen waren sie nur sehr eingeschränkt wahrnehmbar. Die viel beschworene Aura handschriftlicher Originale scheint also in einer Ausstellungsvitrine beinahe noch mehr zerstört als in einer Digitalausgabe. Mitunter konnten wir die eigenwillige Differenz zwischen der Originalhandschrift und ihrer elektronischen Kopie bei der Arbeit an dem Datenträger selbst erleben. Es gab Phasen, in denen wir die ab Digitalfaksimile hergestellten Transkriptionen sowie die Angaben zur Blattzählung, zu den Schreiberhänden und zur Lagenstruktur in St. Gallen vor Ort überprüften. Das Hauptaugenmerk galt dabei dem elektronischen Abbild, während der Codex wie ein Referenzwerk neben dem Bildschirm lag, um bei auftretenden Zweifelsfällen und Problemen punktuell konsultiert zu werden. Dabei wurde uns bewusst, dass mittelalterliche Schreiber und Illuminatoren im Umgang mit ihren Vorlagen wohl ähnlich verfuhren, wenn es galt, bestimmte Specifica - etwa Rubrizierungen oder Initialen - vor Fertigstellung ihrer Arbeit nachzutragen. Hier zeigt sich, dass die Umsetzung einer mittelalterlichen Handschrift in ein elektronisches Medium letztlich in einer Traditionsreihe steht, die bis zum Herstellungsprozess des Manuskripts zurückreicht. Auch einschneidende Phasen in der Geschichte des Codex zeigten dabei ihre nachhaltige Präsenz, erwiesen sich doch die Resultate von Eingriffen aus der Zeit um 1800 wie die fehlerhafte Paginierung durch einen St. Galler Bibliothekar 20 oder die entfremdeten Blätter als besonders heikel beim Arrangement der elektronischen Anzeige. 18

19

20

Vgl. Vilem Flusser: Bilder in den Neuen Medien. In: ders.: Medienkultur. Hrsg. von Stefan Bollmann. 3. Aufl. Frankfurt/M. 2002, S. 83-88, hier S. 83. Vgl. ebd., S. 84. Ähnlich betont Herkommer 2003 (Anm. 15), dass ohne (gedruckte) Faksimiles „die Möglichkeit, diese untergegangene Welt zu betreten, nur einer winzigen Elite von Bibliothekaren und Wissenschaftlern vorbehalten" bliebe (S. 78). Vgl. Stolz 2005 (Anm. 7), S. 23.

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Dass eine Handschrift mehr ist als blosser Textträger, wurde dabei wieder und wieder deutlich. Der St. Galler Codex offenbarte sich als ein in seiner Zusammenstellung und materiellen Gestalt einzigartiges Artefakt, dessen Herstellung offenbar von einem ganz bestimmten Habitus geprägt war. Aus Ordnungs- und Einrichtungsverfahren der Handschrift lassen sich Mutmaßungen anstellen über die Intentionen bei der Textzusammenstellung, 21 aber auch über bestimmte Vorgänge im Skriptorium - etwa die mehrfachen Schreiberwechsel am Beginn des Nibelungenlieds 22 - bis hin zu Eigenart und Temperament der einzelnen Scriptores. Das Eingebettetsein der Anfertigung in lebensweltliche Kontexte ist hier unübersehbar.

Abb. 2: St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 857, Initiale S. 376.

Es zeigt sich besonders klar auch im Initialstil des Manuskripts, der sich in liturgischen Handschriften aus oberitalienischen Werkstätten (Padua, Venedig) wiederfindet. Der Codex muss in diesem Umfeld illuminiert worden sein, wobei mit Wandermalern zu rechnen ist, die den an byzantinischen Mustern orientier21

22

Vgl. zur „Annahme eines ,heilsgeschichtlichen Programms'" die Ausführungen bei Stolz 2005 (Anm. 7), S. 21 f. Vgl. ebd., S. 31.

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ten Stil bis in die Alpenregion trugen. 23 Die Ornamentinitialen haben einen farbigen, verzierten Buchstabenkörper und sind auf einem hochpolierten Blattgoldgrund aufgetragen; das mitunter durch Palmetten und Akanthusblätter verzierte innere Feld ist mit leuchtenden Deckfarben ausgemalt. Berühmt ist die ,belebte' Initiale am Beginn des .Nibelungenlieds'; sie zeigt eine Figur, die mit der linken Hand den aus der antiken Rhetorik bekannten Gestus des Redeanfangs vollzieht (S. 291 ).24 Gelegentlich ist auch ein goldfarbiger Buchstabenkörper auf farbigen Grund gemalt, so etwa in einer weiteren Initiale des .Nibelungenlieds', die ein Brustbild (eines Klerikers?) enthält (S. 376, vgl. Abb. 2).

Abb. 3: N e w York, Pierpont Morgan Library, M s . Μ 8 1 9 , B l . 71 v .

23

24

Vgl. ebd., S. 4 8 - 5 4 , sowie [Parole dipinte.] La miniatura a Padova dal Medioevo al Settecento. Catalogo della mostra (Padova, 21 marzo - 27 giugno 1999). A cura di Giovanna Baldissin Molli, Giordana Canova Mariani e Federica Toniolo. Modena 1999, S. 4 7 - 7 1 . Vgl. Joachim Heinzle: Das Nibelungenlied. Eine Einführung. Überarbeitete Neuausgabe. Frankfurt/M. 1994, S. 11 Of.

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D a s s s i c h v e r g l e i c h b a r e Initialen a u c h in a l t f r a n z ö s i s c h e n Trobador-Handschriften d e s o b e r i t a l i e n i s c h e n R a u m s f i n d e n , b e l e g t der B l i c k in e i n e h e u t e in N e w York a u f b e w a h r t e H a n d s c h r i f t (Pierpont M o r g a n Library, M s . Μ 8 1 9 , B l . 7 Γ , v g l . A b b . 3). 2 5 D i e Initiale zeigt ein Paar am Feuer und leitet das Oeuvre des Richart de Berbezill ein. M i t ihren ausladenden B l u m e n o r n a m e n t e n , d e m Goldgrund und d e m charakteristischen Schärpenmotiv i m Rahmen ist sie e n g mit j e n e n des St. Galler C o d e x verwandt. D a d i e .belebten' Initialen der Trobador-Handschriften in der R e g e l das lyrische (Euvre einzelner Autoren einleiten, ist nicht a u s z u s c h l i e ß e n , dass auch j e n e a m B e g i n n d e s . N i b e l u n g e n l i e d s ' als Portrait d e s (in d i e s e m Fall a n o n y m e n ) 25

Vgl. zur Handschrift Meta Harrsen und Georg K. Boyce: Italian Manuscripts in the Pierpont Morgan Library. New York 1953, S. 9f. Zu weiteren illuminierten Handschriften desselben Typs Joseph Anglade: Les Miniatures des Chansonniers proven^aux. In: Romania 50, 1924, S. 593-604; d'Arco Silvio Avalle: La letteratura medievale in lingua d'oc nella sua tradizione manoscritta. Problemi di critica testuale. Torino 1961 (Studi e ricerche 16), überarbeitete Neuauflage: I manoscritti della letteratura in lingua d'oc. Nuova edizione a cura di Lino Leonardi. Torino 1993 (Piccola biblioteca Einaudi 572), hier S. 23-106; deutsche Übersetzung: Überlieferungsgeschichte der altprovenzalischen Literatur. In: Geschichte der Textüberlieferung der antiken und mittelalterlichen Literatur. 2 Bde. Zürich 1961/1964, Bd. 2: Überlieferungsgeschichte der mittelalterlichen Literatur, S. 261-318, hier S. 273-309; Angelica Rieger: Ins e.l cor port, donna, vostra faisso. Image et imaginaire de la femme ä travers l'enluminure dans les Chansonniers de troubadours. In: Cahiers de civilisation medievale 28, 1985, S. 385-415; Silvia Huot: From Song to Book. The Poetics of Writing in Old French Lyric and Lyrical Narrative Poetry. Ithaca, London 1987, S. 53-64; Maria Luisa Meneghetti: II pubblico dei trovatori. La ricezione della poesia cortese fino al XIV secolo. Zweite Auflage. Torino 1992, S. 245-276; Corrado Bologna: Tradizione e fortuna dei classici italiani. 2 Bde. Torino 1993 (Piccola biblioteca Einaudi 603/604), Bd. 1: Dalle origini al Tasso, bes. S. 16-48; William Doremus Paden: Manuscripts. In: A Handbook of the Troubadours. Hrsg. von F. R. P. Akehurst und Judith M. Davis. Berkeley, Los Angeles, London 1995, S. 307333, und Appendix 4 „The chansonniers", S. 303-305; Antonella Lombardi und Maria Careri: „Intavulare". Tavole di canzonieri romanzi. I. Canzonieri provenzali. 1. Biblioteca Apostolica Vaticana, Cittä del Vaticano 1998 (Studi e testi 387); William E. Burgwinkle: The Chansonniers as Books. In: The Troubadours. An introduction. Hrsg. von Simon Gaunt und Sarah Kay. Cambridge 1999, S. 246-262; Maddalena Signorini: Riflessioni paleografiche sui canzonieri provenzali veneti. In: Critica del testo 2, 1999, S. 837-859; Laura Kendrick: L'image du troubadour comme auteur dans les chansonniers. In: Auetor et auctoritas. Invention et conformisme dans l'ecriture medievale. Actes du colloque tenu ä l'Universite de Versailles - Saint-Quentin-en-Yvelines (14-16 juin 1999) reunis sous la direction de Michel Zimmermann. Paris 2001 (Memoires et documents de l'ficole des chartes 59), S. 507-519; Walter Meliga: „Intavulare". Tavole di canzonieri romanzi. I. Canzonieri provenzali. 2. Bibliothfeque Nationale de France I (fr. 854), Κ (fr. 12473), Modena 2001; Ursula Peters: Ordnungsfunktion - Textillustration - Autorkonstruktion. Zu den Bildern der romanischen und deutschen Liederhandschriften. In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 130, 2001, S. 392-430; dies.: Digitus argumentalis. Autorbilder als Signatur von LehrAuctoritas in der mittelalterlichen Lied-Überlieferung. In: Manus loquens. Medium der Geste - Gesten der Medien. Hrsg. von Matthias Bickenbach, Annina Klappert und Hedwig Pompe. Köln 2003 (Mediologie 7), S. 31-65.

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Reproduzierbarkeit

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Dichters intendiert ist.26 Über die Illustrierung wird hier ein überregionaler, europäischer Traditionszusammenhang volkssprachiger Dichtung offenkundig, in den sich die St. Galler Epenhandschrift mit ihrem Buchschmuck einreiht. Die eingehende Beschäftigung mit der Handschrift anlässlich der elektronischen Faksimilierung hatte eine eigenwillige Auswirkung auf unsere Projektarbeit: Je intensiver wir uns mit dem St. Galler Codex als singulärem Artefakt auseinandersetzten, desto mehr wurden wir uns auch seiner textlichen Eigenarten bewusst und desto suspekter wurde er uns als Basistext der elektronischen Parzival-Edition. So ergaben etwa von den Projektmitarbeitern durchgeführte Nachforschungen, dass in der St. Galler Handschrift bestimmte Anspielungen auf Lokalitäten aus der fränkischen Heimat Wolframs von Eschenbach sowohl im Text des ,Parzival' (184,22-26: Trüdingen) wie in jenem des ,Willehalm' (295,15f.: Nördlingen) getilgt sind - Eingriffe, die von der Überlieferung beider Texte sonst so gut wie gar nicht mitgetragen werden. 27 Das Misstrauen wurde gestützt durch die textkritischen Vorbehalte, die bereits Karl Lachmann gegenüber dem St. Galler Codex hegte - dies obwohl er ihn seiner Parzival-Ausgabe von 1833 als Leithandschrift zugrunde gelegt hatte. In der Vorrede gestand Lachmann ein, dass die durch den Sangallensis vertretene Überlieferungsklasse *D „von gleichem werth" 28 gegenüber einem zweiten Überlieferungszweig - *G - sei, für den ihm der Münchner Cgm 19 aus der Mitte des 13. Jahrhunderts als Führungshandschrift diente. 29 Die Fortsetzung textkritischer Untersuchungen ergab, teilweise in Bestätigung älterer Forschungsansätze, dass sich neben *D und *G eine dritte Handschriftengruppe profiliert. 30 Wir kamen deshalb von der am St. Galler Codex als 26 27

28 29

30

So Heinzle 1994 (Anm. 24), S. 110. Vgl. dazu demnächst Robert Schöller: In Trüdingen und anderswo. Varianz in Parzival 184,1185,20. In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 135, 2006 (im Druck). Wolfram von Eschenbach. Hrsg. von Karl Lachmann (Anm. 14), S. XVIII. Vgl. zu dieser Handschrift Thomas Klein: Die Parzivalhandschrift Cgm 19 und ihr Umkreis. In: Probleme der Parzival-Philologie. Marburger Kolloquium 1990. Hrsg. von Joachim Heinzle, L. Peter Johnson und Gisela Vollmann-Profe. Berlin 1992 (Wolfram-Studien 12), S. 3 2 - 6 6 ; Elisabeth Klemm: Die illuminierten Handschriften des 13. Jahrhunderts deutscher Herkunft in der Bayerischen Staatsbibliothek. Text- und Tafelband. Wiesbaden 1998 (Katalog der illuminierten Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek in München 4), S. 2 1 7 - 2 1 9 . Vgl. zur älteren Forschung Eduard Hartl: Die Textgeschichte des Wolframschen Parzival. Die jüngeren *G-Handschriften. 1. Abteilung: Die Wiener Mischhandschriftengruppe *W (Gn G s C C 1 ). Berlin, Leipzig 1928 (Germanisch und Deutsch 1). Im Hinblick auf die durch das Liverpooler Fragment (Liverpool Museum. Ms. Μ 8951) repräsentierte Fassung bezeichnet Nigel F. Palmer die Gruppe als δ 1 . Vgl. ders.: Zum Liverpooler Fragment von Wolframs ,Parzival'. In: Studien zu Wolfram von Eschenbach. Festschrift für Werner Schröder zum 75. Geburtstag. Hrsg. von Kurt Gärtner und Joachim Heinzle. Tübingen 1989, S. 151-181, hier S. 156. Sabine Rolle: Bruchstücke. Untersuchungen zur überlieferungsgeschichtlichen Einordnung einiger Fragmente von Wolframs Parzival. Erlangen, Jena 2001 (Erlanger Studien 123) bezeichnet eine entsprechende Gruppe als *B (S. 2 6 - 2 8 ) .

154

Michael

Stolz

Basistext orientierten Editionsform ab und erarbeiteten ein Paralleltext-Konzept, das abschließend anhand eines Ausschnitts aus dem 16. Buch des ,Parzival' vorgestellt werden soll. D o i n o G t L M Q R U V V ' V V Z

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Ό 795.20 si w&ir.en kennzeichnen Literaturhinweise) und mit den vorhergesehenen Querverweisen auch dort, wo diese ins Leere zu führen scheinen. Das in der Probe noch ausgelassene Feld .InterprH' wird vor allem Hinweise zu der in der vorliegenden Projektbeschreibung skizzierten Interpretation bieten.

201

Wartburgkriege

k 38

Die fraw erschrack und gab doch rat, sie sprach: „trut son, du hast daz von der hosten juden art, du bist gnaturt alz der gelitterat, der sine kint bewart.

[76 Γ]

5 der würt gesanges nymmer lut tAqualis Appolitam ir heben und ir blehenf er wirt nit heftig, bald mit sinem trut, die wyl die winde wewen. wann aber die zwen irs oberschalles werden in getan, 10 (ir nature ist manigfalt, sie ist von böser art), und ein stürme wirt uß gelan mit zwein süßen genden winden uff die rechte fart, so hebt der edel vogel wyder an sin kusches leben. 15 sich, junger man, den rat hat dir die muter din gegeben." 1. nach der D-Initiale ist er hey gestrichen, danach steht ie. 3. du bist] über der Zeile nachgetragen. 5. der] Uber der 2Zeile "f" vogel. 11. ein] undeutliche Korrektur am e. 16. gegeben] gege.

8 wewen] zu mhd. waejen swv. ,wehen'. 9 in getan] zu mhd. intuon an. ν. ,einfangen, einsperren'; übermäßige Getöse der beiden eingestellt wird.'

gemeint: ,Wenn das

202

Beate Kellner, Peter Strohschneider

C 73/k 38 InhA

Die Mutter des Meisters erklärt ihrem Sohn, dass er von Natur aus dem galidrot gleiche, der seine Kinder beschütze (erster Stollen). Solange die Winde Auster und Boreas (Südund Nordwind) aktiv seien, liebkost dieser Vogel nicht seine Gattin/seine Kinder (zweiter Stollen). Wenn aber mit dem Zephiras (dem Westwind) die süße Zeit beginne, tragen diese Vögel ihre Kinder aus und leben voller Glück (Abgesang). TextG Die Strophe hat offenbar in beiden Handschriften im Laufe der Überlieferung Schaden genommen, s. besonders das fehlende Reimwort in C 73,10 und SprachE zu k 9-12. I k Der Schreiber hat zunächst den Anfang der folgenden Strophe (Der heyden ... k 39,1) aufgeschrieben, dann aber seinen Irrtum bemerkt. 5 k Der interlineare Eintrag soll anscheinend den Benutzer darauf hinweisen, worauf sich der bezieht: / (= scilicet) vogel. Si. 10. volget C] volge git. SprachE 2 C der Vers ist ohne Auftakt zu lesen, wenn man nicht vor sun wie in k trut ergänzen will. 3 galidrot in C steht apo koinou zu genaturt (v. 3) und bewart (v. 4); in k ist gelitterat als unverstandene Entstellung des Vogelnamens anzusehen. 7 brut, zu mhd. brut ,Braut', oder mit md. Monophthongierung (: lut, v. 5) zu mhd. bruot ,Brut, Gelege, Nachkommen', was im Hinblick auf die in C, v. 13 genannten kuchel die kohärentere Lesart wäre. 9 - 1 2 In k ist die Syntax unklar und der Sinn wahrscheinlich vom Schreiber selbst missverstanden; insbesondere ist der intendierte (in C ausgeführte) Gegensatz von stürmischen, bösartigen Winden (v. 9f.) und sanften Winden (v. 11 f., hier aber: stürme) nicht mehr ersichtlich. 10 C Es fehlt das Reimwort auf zit (v. 12); Simrock war offenbar der Meinung, in der Hs. stünde volget mit , konjiziert aber zu daz reht mir volge git. SachE 3 Galidrot!gelitterat: Name in k völlig entstellt; der biblische Charadrius - Lv 11,19; Dt 14,18 - (Goldregenpfeifer; Lesarten des Namens sind Caladris, Caladrius ) ist in Antike und Mittelalter wegen seiner wundersamen Heilkräfte bekannt cKädär: Art. Charadrius>; vgl. auch Boppe 1,5, dazu Bulang: Rede 3-5; möglicherweise ist hier auch der Galander (Calandria), gemeint, ein kleiner, lerchenähnlicher Vogel, der hoch fliegen kann und jeden mit seinem süßen Gesang erfreut und auf die ewige Seligkeit weist . Gerhardt: Lesarten 128-135 versucht den Nachweis einer vom .Jüngeren Titurel' ausgehenden Vermengung verschiedener Tiernamen (gamaniol/gamalion - ga(m)bilun - galadrot - chalcidrius/galadrius), wobei er den galidrot im Horizont der Proprietäten des galadrot aus dem Jüngeren Titurel' deutet und auf den Eisvogel der naturkundlichen Tradition hinweist, der wie der galidrot die Zeit der Windstille zum Brüten nutzt; vgl. bereits Rausch: Methoden 168-200; Lecouteux: Monstres 175f. 212; s. InterprH. 6 Auster, Boreas: griech. Namen für den Süd- und Nordwind (Boreas ist die griech. Entsprechung zum lat. Aquilo)·, in k sind die Namen entstellt: Aqualis und Appolitam; in C 67,9f./k 32,9f. werden vier Winde genannt: Zephiras, Aquilan, Auster: griech. bzw. lat. Namen für den West-, Nord- und Südwind. Polus gehört als Bezeichnung der Pole der Erd- und Himmelsachsen nicht in diese Reihe. Es fehlt der Ostwind Eurus. In k heißen die Winde Bilius, Saffian, Bonius und Dripporitus (wahrscheinlich laienhafte Verballhornungen der unbekannten lat./griech. Namen). II f. Aquilo[n], Zepfirus (= Zephyrus) lat. Namen für den Nord- und Westwind. Es fehlt (wie in C 67,9f./k 32,9f.) der Ostwind. Gerhardt: Lesarten 126 vermutet diesen hinter Appolitam (k 38,6), was er mit dem griech. apeliotes von ,Sonnenaufgang' in Verbindung bringt.

Martin J. Schubert

Ideal und Pragmatik Entscheidungsspielräume des Editors

Die Edition ist die hergebrachte Domäne der Philologie, und kaum jemand vertraut mehr als der Editor auf „die Macht der Philologie". Gerade diesen Titel gab Hans Ulrich Gumbrecht einem Essayband,' in dem er allerdings weniger auf die normierende Wirkung angewandter philologischer Praxis abhob als auf die inhärente, über Selbstrechtfertigung erhabene Kraft des philologischen Erlebnisses. Ohne diesem Band hier im einzelnen gerecht werden zu können,2 sei kurz auf zwei ungemein anregende Aspekte des Essays verwiesen. Zum einen besticht der geradezu ethnologische Blick einer abstrakten Außenschau, deren nötige Distanzierung ein Editionspraktiker kaum hätte aufbringen können, zum anderen die dem Praktiker durchaus naheliegende Anerkennung der leidenschaftlichen Hingabe an die sinnlich erfahrbaren Objekte der Vergangenheit. Als Beleg für letzteres stehe Gumbrechts Explikation der Materialität von Textzeugen, hier am Sonderfall des Fragments: „Wir können das Fragment in seiner materiellen Präsenz berühren, streicheln und vielleicht sogar essen".3 Das Apercu, mit dem Gumbrecht in ganz andere Diskursräume vorstößt, diene hier nur als Anregung.4 Gumbrecht bringt in überspitzter Weise gleich meh-

'

2

3

4

Hans Ulrich Gumbrecht: Die Macht der Philologie. Über einen verborgenen Impuls im wissenschaftlichen Umgang mit Texten. Aus dem Amerikanischen von Joachim Schulte. Frankfurt/M. 2003. Titel der Originalausgabe: The Powers of Philology. Illinois University 2002. Im folgenden wird der Band nur eklektisch genutzt; dabei lasse ich mich weit mehr vom Vorgehen als vom Inhalt des Bandes anregen. Gumbrecht 2003 (Anm. 1), S. 31 f. Ein vorbereitender Text führte diese Haltung Imperativisch im Titel: Hans Ulrich Gumbrecht: Eat Your Fragment! About Imagination and the Restitution of Texts. In: Collecting Fragments - Fragmente sammeln. Hrsg. von Glenn Most. Göttingen 1997, S. 315-327. Ein eigener Essay könnte sich mit der philologischen Überprüfung der Darstellung des kulturwissenschaftlichen Hintergrundes beschäftigen. Gumbrecht 2003 (Anm. 1), S. 39 verweist auf Stephen Banns „durch eine Fülle von Belegen untermauerte Feststellung der .Existenz eines oralen Begehrens als Modell der Aneignung von Objekten und Fragmenten'", vgl. Stephen Bann: The Inventions of History. Essays on the Representation of the Past. Manchester, New York 1990, bes. S. 100-121 (Zitat S. 114). Aber in Banns phantasiereichem Überblick sind die Belege dünn: Er führt besonders den englischen Sammler Bryan Faussett an, der in den 1760er Jahren einmal eine Einladung zum Essen und eine neu erworbene Mumie im gleichen Brief erwähnt sowie angesichts einer vorgeblich antiken Büste ein Spei-

204

Martin J. Schubert

rere Antagonismen zusammen. Zum einen bekundet er die materielle Präsenz des Überlieferungszeugen in seiner durchaus brüchigen und vergänglichen Existenz; als Gegenpol hierzu muss das gedacht werden, was der Philologe aus dem Fragment zu machen versteht: eine Edition, welche die Handschrift in Graden der Ableitung vertreten kann, der aber just die brüchige Materialität abgeht. Zum anderen verdichtet Gumbrecht den Widerstreit zwischen Euphorie und Objektivierung, der jedem engagierten wissenschaftlichen Arbeiten zu Grunde liegen muss. Die angesprochene Verschmelzung des Wissenschaftlers mit seinem Untersuchungsgegenstand steht der Forderung nach Objektivität entgegen. 5 Diesen Widerstreit von Euphorie und Objektivierung nehme ich zum Anlass, von der Pragmatik als der ausgleichenden Macht zu sprechen: nämlich der Orientierung auf das Nützliche, der Zielbindung der eingesetzten Mittel. 6 Pragmatik vermittelt zwischen dem Idealen und dem Realisierbaren. Der Aspekt dieses notwendigen Ausgleichs kann als Schlüssel zur Betrachtung der Forschungsgeschichte dienen. Die strenge Dichotomie des Tagungsthemas setzt Rekonstruktion und Handschriftennähe als Gegensätze an. Zu vergessen ist dabei nicht, dass beide zugleich unerreichbare Idealformen sind, ins Unendliche strebende Zielpunkte einer Skala, auf der sich jede Edition einordnen muss. Eine gesicherte identische Rekonstruktion des Verlorenen ist ebenso unmöglich wie perfekte Handschriftennähe, denn auch bei höchster Treue zur Handschrift wird die Edition mit ihr nicht zur Deckung gelangen, sondern Merkmale tilgen. 7 Abstrahiert wird nicht allein von der Materialität, der Identität, der historischen Aura oder, um im angesprochenen Bild zu bleiben, dem mentalen Nährwert, sondern von konkreten, untersuchungsrelevanten Details - da der Stufung von Editionstypen eine Stufung von Desideraten jener Forscher gegenübersteht, die betreten feststellen, bestimmte Fragen seien nur zu klären anhand eines zeichengenauen Abdrucks, eines Faksimiles, anhand des Originals. Wenn der Editor aber abstrahiert, dann konstruiert und rekonstruiert er notwendigerweise, auch wenn er nicht mehr auf die Rekonstruierbarkeit eines Urseopfer assoziiert (S. 114), ferner die Verwendung von Speisemetaphern durch Nietzsche, Gilbert A'Beckett (19. Jh.) und Walter Scott für die Tätigkeit von Sammlern und Archäologen (S. 115, 121) - A'Beckett und Nietzsche übrigens in (spöttischer?) Außenschau, Scott in ironischer Selbstdarstellung. 5

6

7

Vgl. Gumbrecht 2 0 0 3 (Anm. 1), S. 42f., der einräumt, „daß zwischen einem geforderten (und nötigen) Gestus der Rationalität und der Spontaneität' unserer Imagination ein grundlegendes Verhältnis der Heterogenität besteht." Auch Gumbrecht 2003 (Anm. 1), S. 5 9 spricht von der „Pragmatik der Textedition", allerdings erwägt er, ob diese nicht als „.Widerstand gegen Theorie' etikettiert und kritisiert werden muß." Im gleichen Sinne äußert sich Gustav Roethe im Vorwort zum ersten Band der Reihe DTM: [...] „als auch der peinlichste Handschriftenabdruck immer noch in gemessener Entfernung vom Original bleibt." Friedrich von Schwaben. Aus der Stuttgarter Handschrift hrsg. von Max Hermann Jellinek. Berlin 1904 (DTM 1), S. V - V I I , hier S. VI.

Ideal und

Pragmatik

205

textes über einen strengen Regelsatz, etwa durch Stemma und Rezensionsformel, vertraut. Für das aufgegebene Ideal des rekonstruierbaren Urtextes rücken andere Konstrukte nach; der Editor wird in seiner Arbeit das nach Möglichkeit Erreichbare anstreben, seien es kritische Fassungstexte, Querschnitte durch die Überlieferung oder repräsentative Einzeltexte. 8 An welcher Stelle er den gordischen Knoten von mutmaßlichem Urtext, Fassungstext, pluraler Überlieferung, Einzelüberlieferung und benutzernahem, aber fiktivem Gebrauchstext zerschlägt, richtet sich letztlich nach den spezifischen Überlieferungsbedingungen einer Gattung und des jeweiligen Textes; darüber hinaus spielen aber auch ganz weltliche Gründe eine Rolle wie die Wendung zum Publikum, der Verlagsvertrag, die geplante Erscheinungsweise und nicht zuletzt die Laufzeit der genehmigten Projekte sowie der Bearbeiter, sprich ihre Lebensspanne. Ein offener Blick für diese Aspekte kennzeichnet die Abwendung vom rekonstruierten Urtext, welche die Reihe ,Deutsche Texte des Mittelalters' (DTM) seit einhundert Jahren überwiegend prägt. Natürlich sind einige weitere Beweggründe anzusetzen, etwa die Einsicht, dass der Urtext meist unwiederbringlich verloren ist, oder das vorrangige Interesse an einer lebendigen und komplexen Überlieferung. Die Wendung zum einzelnen Überlieferungsträger als singulärem kulturhistorischem Ereignis, wie sie in der ,New Philology' herausgestellt wurde, 9 klingt bereits deutlich mit, wenn Konrad Burdach 1904, im Gründungsjahr der Reihe, festhält: Neuerdings haben freilich auch manche unserer Editoren den Handschriften an und für sich eingehendere Aufmerksamkeit geschenkt und auch die Quellen der Textüberlieferung als selbständige Erscheinungen genauer zu würdigen gesucht. Und je mehr in der germanistischen Editionstechnik das sogenannte »konservative Verfahren', der möglichst strenge Anschluss an handschriftliche Ueberlieferung, um sich griff, je mehr die freie Tätigkeit der philologischen Kritik, zumal der .höheren Kritik', eingeengt und vielfach durch die Angstmeierei eines förmlichen K u l t u s d e r H a n d s c h r i f t ersetzt ward, desto mehr hätte in der Wertschätzung auch der Herausgeber die Bedeutung der einzelnen Manuskripte steigen, desto mehr hätten die Manuskripte als eigenartige Individualitäten in ihrer Totalität [...] Anspruch auf Beachtung gewinnen müssen. 10

8

9

Stellvertretend für verschiedene Richtungen können hier stehen: die Reihe ,Texte und Textgeschichte', die Reihe DTM, die kritische Fassungsedition in: Die .Nibelungenklage'. Synoptische Ausgabe aller vier Fassungen. Hrsg. von Joachim Bumke. Berlin 1999. Siehe die Beiträge in: Philologie als Textwissenschaft. Alte und neue Horizonte. Hrsg. von Helmut Tervooren und Horst Wenzel. ZfdPh 116, 1997, Sonderheft. Konrad Burdach: Die Inventarisierung älterer deutscher Handschriften. In: ZfB 21, 1904, S. 183-187, hier S. 185f. Hervorhebung im Original.

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In den Gründungsdokumenten der Reihe wird die Wendung zum einzelnen Textzeugen gleich mehrfach gerechtfertigt. Eine wesentliche Rolle spielt die Abschließbarkeit der Projekte; die dafür nötige Schleunigkeit wird wiederholt betont." Dorothea Ruprecht und Karl Stackmann haben darauf hingewiesen, dass die Abdrucke angenommener .guter' Handschriften von vornherein als Grundlage für zukünftige kritische Editionen gerechtfertigt wurden. 12 Angesichts des wissenschaftlichen Zeitgeistes war ein Hochhalten der kritischen Edition sicherlich opportun, wenn auch bei den meisten Projekten bewusst gewesen sein dürfte, dass nach den Abdrucken auf lange Sicht nicht mit weiteren Ausgaben dieser Texte zu rechnen sein dürfte. So hebt Roethe nach dem Anlaufen des Projektes, in der Einleitung zum ersten Band der Reihe, den Eigenwert von Handschriftenabdrucken wesentlich offensiver heraus als noch in der Projektierungsphase. 13 Es wäre lohnend, etwa Roethes Verhältnis zu Handschriftennähe und Rekonstruktion weiter nachzugehen. 14 Dass seine Einstellung zum bloßen Handschriftenabdruck auch nach Installation der Reihe differenziert blieb, belegt eine Rede von 1923, in der er das Ziel der Philologie erläutert: w i e d e r Porträtmaler, d e r B i l d h a u e r seiner P f l i c h t zur Treue v ö l l i g g e n ü g t , o h n e j e d e s W ä r z c h e n n a c h z u p i n s e l n , j e d e s Z u f a l l s b l ä s c h e n n a c h z u m e i ß e l n , s o sucht d i e p h i l o l o g i s c h e K u n s t d i e Wahrheit, nicht d i e W i r k l i c h k e i t . 1 5

Mit dem Ansetzen der „Wahrheit" als Zielpunkt ist vollends die Verlagerung auf einen editionsphilosophischen Diskurs vollzogen. Die „Wirklichkeit" der Überlieferungslage wird dabei stillschweigend degradiert; Roethe wendet sich Immanenzen zu, deren Auffindung mehr auf Divination beruhen muss. 16 In seiner wissenschaftlichen Fährte sind also beide Aspekte belegt: transzendente Inspiration und überschaubare Abschließbarkeit als Bedingung von Projekten. Dem Aspekt der Abschließbarkeit soll hier nachgegangen werden, indem die Entscheidungsspielräume von Editoren betrachtet werden, eine Lösung aus meh11

12

13

Roethe 1904 (Anm. 7) betont mehrfach den Aspekt der Schleunigkeit: S. V: „in rascher Folge", VI: „im Interesse des schnellen Fortgangs [...] von kritischen Ausgaben grundsätzlich abgesehen", VII: „darf ein schneller Fortgang dieser Ausgaben in Aussicht gestellt werden." Dorothea Ruprecht und Karl Stackmann: Rezension zu Jörg Judersleben: Philologie als Nationalpädagogik. Gustav Roethe zwischen Wissenschaft und Politik (Berliner Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte 3). Frankfurt/M. u. a. 2000. In: ZfdA 130, 2001, S. 4 8 6 - 4 9 1 , hier S. 489. Siehe das Zitat im Beitrag zur Institutionsgeschichte, hier S. 299.

14

Vgl. hierzu, vor allem zu Roethes Reinmar von Zweter-Edition meinen Beitrag: Third maker under Jove. Edition als Produktion am Beispiel Gustav Roethes. In: Produktion und Kontext. Beiträge der Internationalen Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition. Hrsg. von Η. Τ. M. van Vliet. Tübingen 1999 (Beihefte zu editio 13), S. 13-22.

15

Gustav Roethe: Wege der deutschen Philologie. In: ders.: Deutsche Reden. Hrsg. von Julius Petersen. Leipzig o. J. [1927], S. 4 3 9 - 4 5 6 , hier S. 447. Vgl. bereits zu Roethes Frühzeit: Schubert 1999 (Anm. 14), S. 21f.

16

Ideal und

Pragmatik

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reren konkurrierenden Lösungen zu wählen. Dazu werden mit Bedacht diskutable Entscheidungen angeführt, wie sie sich aus der laufenden Editionsarbeit an den Neuausgaben des Passionais und des Elisabethlebens von Johannes Rothe ergeben haben.17

I. Bestimmung der Textgrenzen Eine ursprüngliche Aufgabe des Editors ist die Bestimmung seines Textes.18 Damit sei hier einmal nicht die literaturwissenschaftliche Zuordnung gemeint, sondern die .Definition' im ursprünglichen Sinne: die Herauslösung eines gemeinten Einzeltextes aus einem durch Handschriften mäandernden Textkontinuum. Die Herauslösung einzelner ,Texte' etwa aus Sammelhandschriften ist nicht möglich ohne einen markanten Werkbegriff, der partiell altertümlich anmuten mag. Wie sehr eine Abgrenzung aufgrund formaler Merkmale die zeitgenössische Wahrnehmung von Texten als Werkeinheit (oder zumindest als „Schreibeinheit") verfehlen kann, hat Joachim Bumke anhand von Nibelungenlied und Nibelungenklage eindrucksvoll belegt.19 Die stets gemeinsame Überlieferung der beiden ,Texte' sowie das Bemühen der Schreiber, an der ,Werkfuge' das Schriftbild einander anzugleichen, weisen deutlich darauf hin, dass die formal geschiedenen Teile als gemeinsames Werk wahrgenommen wurden. Einem solchen Umstand könnte eine gemeinsame Edition Rechnung tragen, wenn nicht andere Gründe entgegenstehen. Johannes Rothes Elisabethleben bietet in einem Teil der Überlieferung vergleichbare Kombinationen. Das Werk, wie wir es wahrnehmen und ediert haben, beginnt markant mit einem historiographischen Prolog, endet aber recht offen mit einer Reihe von chronikalischen Notizen,20 die zwar mit dem Bericht vom Tod der letzten Mitglieder der Landgrafenfamilie einen historischen Bogen zu schließen vermögen, aber durch die knappe Versifizierung und nicht weiter aus-

17

18

19

20

Passional. Neuausgabe der Bücher 1 und 2 nach der Berliner Handschrift Ms. germ. fol. 778. Hrsg. von Annegret Haase, Martin J. Schubert und Jürgen Wolf, in Vorbereitung; inzwischen erschienen: Johannes Rothes Elisabethleben. Aufgrund des Nachlasses von Helmut Lomnitzer hrsg. von Martin J. Schubert und Annegret Haase. Berlin 2005 (DTM 85). In Anlehnung an Gumbrechts Imperativ „Eat your fragment" (siehe Anm. 3) hießen die folgenden Teile in der Vortragsfassung „Kreise den Text ein", „Wähle mit Umsicht eine Leithandschrift", „Abstrahiere von der Handschrift", „Korrigiere zurückhaltend" und „Verwirre den Leser". Joachim Bumke: Die vier Fassungen der .Nibelungenklage'. Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert. Berlin, New York 1996 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 8), S. 237-253, Zitat S. 237. Schubert/Haase 2005 (Anm. 17), v. 4125-4172.

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geführte Ausgestaltung ein solches Anliegen zumindest nicht explizit machen. Der Schluss hat bereits die Schreiber zur Fortsetzung gereizt. 21 Mit einer Initiale, die den sonstigen Kapiteleinsätzen entspricht, ist in unserer Leithandschrift (C = Coburg, Landesbibliothek, Ms. Cas. 102) und in zwei weiteren Handschriften die Prosa-Lebensbeschreibung der Guda, einer Dienerin der Elisabeth, angeschlossen. Der Nutzer des Codex fand hier also eine Werkeinheit vor. Trotz des Übergangs von Vers zu Prosa dürfte für ihn die thematische Einheit eine Form der Zusammengehörigkeit aufgewiesen haben. Bei der Entscheidung, ob die Guda-Geschichte mit ediert werden soll, half der Umstand, dass die Leithandschrift offensichtlich den Archetyp dieser Vergesellschaftung belegt: die Guda ist von einer zwar ähnlichen, aber deutlich zweiten Hand eingetragen. Dieser Hinweis auf eine nicht ursprüngliche Zusammenfügung - der durch diejenigen Handschriften verstärkt wird, welche die Guda-Legende nicht enthalten - war letztlich der Anlass, das Textende in der Leithandschrift an der Stelle des Handwechsels zu bestimmen. 22 Auch für das Projekt einer Neuausgabe des Passionais war zunächst eine Festlegung der Textgrenzen nötig. Gemeinhin wird unter Passional ein Gesamtwerk verstanden, das in drei „Bücher" gegliedert ist, welche ein separates Marienleben (Buch 1), ein Apostelbuch (Buch 2) und ein umfangreiches Legendär (Buch 3) umfassen. 23 Die Einheit dieser Werkgruppe wird aufgrund der wechselseitigen Ergänzung, der Verbreitungsräume und des mutmaßlich gleichen Verfassers angesetzt. Bislang liegen Buch 1 und 2, bekannt als das Alte Passional, nur in Hahns Abdruck vor, der einer verkürzten Handschrift folgte und nicht einmal eine Interpunktion bot; Buch 3 ist in Köpkes Ausgabe zugänglich. 24 Allein schon diese Sachlage sprach dafür, die Neuedition auf die rund 40.000 Verse und über 70 Textzeugen von Buch 1 und 2 zu begrenzen und nicht eine Gesamtausgabe mit rund 110.000 Versen anzusteuern. Die entscheidende Rechtfertigung für eine solche Eingrenzung bot die Überlieferung, denn sie ist deutlich getrennt: Buch 1 und 2 können eine Überlieferungseinheit bilden; Buch 3 ist deutlich separiert. Gemeinsame Überlieferung

21

22

23 24

Darauf weist auch der formale Abschluss durch ein verifiziertes Gebet (Alfo hat ditt buch hie eyn ende ...) in der Fassung der Handschrift München, BSB, Cgm 718; siehe ebd. Μ v. 4172a-h. Dass die Guda-Legende, trotz ihres Interesses für die Elisabeth-Hagiographie, auch nicht in einem Anhang abgedruckt wurde, ist wiederum aus der Abschließbarkeit des Projekts begründet. Eine separate Publikation ist geplant. Siehe Hans-Georg Richert: Art. Passional. In: 2 VL 7, 1989, Sp. 332-340. Das alte Passional. Hrsg. von Karl August Hahn. Frankfurt/M. 1845; Das Passional. Eine Legenden-Sammlung des dreizehnten Jahrhunderts zum ersten Male hrsg. und mit einem Glossar versehen von Friedrich Karl Köpke. Quedlinburg 1852. Nachdruck Amsterdam 1966.

Ideal und Pragmatik

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gibt es nur in exzerpierenden Sammelhandschriften, die Ausschnitte beider „Teile" verwerten. Daher wird im Projekt jeder dieser „Teile" als ein Werk aufgefasst, die separat ediert werden können.25 Nur scheinbar wird in den beiden besprochenen Fällen mit verschiedenem Maß gemessen. Es mag auffallen, dass einmal eine intendierte thematische Zusammengehörigkeit, die formale Grenzen übergreift, gegen die Leithandschrift aufgelöst wird (Elisabethleben), einmal die formale und inhaltliche Einheit unter Berufung auf die Handschriften getrennt wird (Passional). Dass dabei jeweils eine Segmentierung in kleinere edierbare Teile entstand, ist zufällig und nicht etwa Folge verinnerlichten Sparzwanges. Die Grundlage beider Entscheidungen liegt im angewandten Werkbegriff, der durchaus auf einen überlieferungshistorischen Kern zielt (Elisabethleben), der auch durch separate Überlieferung als intentional abgeschlossen markiert sein kann (Passional).

II. Wahl der Leithandschrift Beim Leithandschriftenprinzip ist die Auswahl der mutmaßlich geeignetsten Handschrift die wesentliche Aufgabe des Editors, die er aufgrund seiner Kenntnis und Bewertung der Überlieferungslage vornehmen muss. Der Vorbehalt, der diese Entscheidung stets gefährdet, ist angesichts der Möglichkeit fortschreitender Kenntnisse sowie revidierter Bewertungen offenbar. 26 Gerade die Überlieferung erfolgreicher religiöser Gebrauchstexte - zumal wenn sie auf einen engen zeitlichen und gar noch geographischen Raum begrenzt ist - kann gegenüber der Bemühung um eine stemmatische Verortung ausgesprochen resistent sein. Beim Projekt Elisabethleben war es nötig, die Verwandtschaften der Textzeugen ausführlich zu erörtern.27 Zunächst fanden sich Reihen von markanten Übereinstimmungen in verschiedenen Gruppen von Handschriften; diese Gemeinsamkeiten sind in Abbildung 1 durch Einkreisung bezeichnet. 25

Die Interrelationen von Passional Buch 1/2, Passional Buch 3 und dem ebenfalls dem gleichen Verfasser zugeschlagenen Väterbuch sollen im Lauf des Projekts weiter untersucht werden; vgl. meine Beiträge: Das .Passional' und der Deutsche Orden. Verbreitungs- und Tradierungsanalyse anläßlich der DTM-Neuedition. In: Deutschsprachige Literatur des Mittelalters im östlichen Europa. Forschungsstand und Forschungsperspektiven. Heidelberger Tagung vom 7. bis 11. Oktober 2003. Hrsg. von Dietrich Schmidtke und Ralf G. Päsler. Heidelberg (im Druck); Die neue Edition des Alten Passionais. Zur Reimsprache. In: Mittelalterliche Literatur und Kultur im Deutschordensstaat in Preußen: Leben und Nachleben. Hrsg. von Jaroslav Wenta und Sieglinde Hartmann. Thorn (im Druck).

26

Ein Beispiel bietet die Ausgabe: Der sogenannte St. Georgener Prediger. Aus der Freiburger und der Karlsruher Handschrift hrsg. von Karl Rieder. Berlin 1908 (DTM 10). Die neue Bewertung der Überlieferungslage führt zu der Einschätzung, dass eine ungeeignete Handschrift zugrunde liegt, siehe Kurt-Otto Seidel: ,Die St. Georgener Predigten'. Untersuchungen zur Überlieferungs- und Textgeschichte. Tübingen 2003 (MTU 121). Seidel bereitet derzeit eine Neuausgabe aufgrund des revidierten Befunds vor. Siehe Schubert/Haase 2005 (Anm. 17), S. LI-LXII.

27

210

Abb. 1: B e z ü g e zwischen Handschriften von Rothes Elisabethleben,

Martin J. Schubert

vgl. Anm. 28.

Hierbei fällt auf, dass einige Übereinstimmungen fassungsübergreifend sind: Handschrift M,28 im Textbestand und im Prolog deutlich verschieden, repräsentiert eindeutig eine separate Fassung. Die Anzahl von Übereinstimmungen ist bei einander nahestehenden Handschriften höher, Μ teilt in den parallelen Partien also mehr markante Übereinstimmungen mit Η und A. Die Reihe entspräche der untersten Ebene eines Stemmas - wenn nicht die Verteilung weiterer Bezüge eine Rekonstruktion von oberen Ebenen unmöglich machte. Nicht zu vernachlässigende Bindungen durchschlagen kometenhaft die gesamte Reihe: so die von CK, LSA, LK, SM und CKM.29 Das sich ergebende Problem kann nach konventioneller Textkritik allein durch das Allheilmittel vielfältig angenommener Kontaminationen30 oder durch eine Neubewertung (und Eliminierung) konstatierter Bindefehler aufgelöst werden. Löst man sich von der Darstellung über ein von Kontaminationslinien verunstaltetes Stemma und der dadurch vorgetäuschten Mechanik der Textrekonstruktion, dann drängen sich allein Bilder auf, die auch nicht hilfreicher sind - etwa das eines großen Tisches, um den alle Schreiber sitzen und sich die Lesarten zuspielen. Für eine Rekonstruktion eines ursprünglichen Textes ist die Überlieferung des Elisabethlebens nicht geeignet. Um der Überlieferungslage in überschaubarer Weise gerecht zu werden, bietet die Edition die Exponenten der oben dargestell28

29

30

Die verwendeten Siglen sind: C - Coburg, Landesbibliothek, Ms. Cas. 102; G - Erfurt/Gotha, UFB - FB Gotha, Chart. Β 52; L - Leipzig, UB, Ms 0287°; S - Erfurt/Gotha, UFB - FB Gotha, Chart. Β 180; Κ - Kassel, MuLB, 4° Ms. Hass. 3; A - Erfurt/Gotha, UFB - FB Gotha, Chart. A 195; Η - Hamburg, SUB, Cod. hist. 313 4°; Μ - München, BSB, Cgm 718. Siehe im einzelnen Schubert/Haase 2005 (Anm. 17), S. LVII-LX. Mit der erst nach dem Vortrag entdeckten Handschrift Ε (Eger/Cheb, Bibliothek des Franziskanerkonvents, Schrank 11, ohne Signatur) werden die Verhältnisse nicht durchsichtiger; siehe ebd. S. LIXf. Ebd. S. LXI: „Nach konventioneller Textkritik müßte man zumindest bei den Handschriften GSFKA, wohl auch bei Η von Kontamination ausgehen." Zum Allheilmittel der Kontamination siehe Joachim Heinzle: Zur Logik mediävistischer Editionen. Einige Grundbegriffe. In: editio 17, 2003, S. 1-15, hier S. 2.

Ideal und Pragmatik

211

ten Reihe: Handschrift C, als die Urschrift des Überlieferungszweiges mit der größten Verbreitung, bildet die Grundlage für den Editionstext; Handschrift Μ wird als Vertreter der zweiten Fassung im Handschriftenabdruck synoptisch beigegeben. Die Edition steht damit gleich zwei Handschriften nahe und versagt sich auf dieser Ebene eine Rekonstruktion.

III. Lösung von der Handschrift Sich von der Handschrift zu lösen ist für den Editor ein mühsamer Prozess, da Edieren einer Tilgung der medialen Mehrdeutigkeiten entspricht. Auch wenn einer der oben erwähnten Editionstypen gewählt ist und in der Wiedergabe Handschriftennähe angestrebt ist, können beispielsweise Widerstände auftauchen gegen das für Editionen gemeinhin für notwendig erachtete Prinzip des linearen Textes. Die Handschrift kann durch Marginalien, Glossen, Korrekturen verschiedene Bearbeitungszustände spiegeln, welche den singulären kulturhistorischen Moment der einzelnen Handschrift unterstreichen und die daher in der Edition erhalten werden müssen. Die Überlagerung von Textzuständen ist schwer abzubilden: Welche Spuren und Veränderungen verdienen die Aufnahme in den Editionstext; welche können im Apparat begraben werden? In der derzeitigen Praxis der DTM-Arbeitsstelle suchen wir die Lösung dieses Problems in der Intention der Niederschrift, indem Sofortkorrekturen nach Möglichkeit von späteren Einträgen getrennt werden. Eine Korrektur vom Schreiber selbst gehört in den Text, während das Korrigierte - soweit erkennbar - sowie Korrekturen von anderen Händen als weitere Textschichten im Apparat angegeben werden, die als vorgängig und nachträglich zu markieren sind. Die pragmatische Regel dafür, was in den Text gesetzt wird, lautet verkürzt „letzter Wille des ersten Schreibers" - die natürlich nicht formalistisch gehandhabt werden soll, sondern am jeweiligen Befund zu prüfen ist. Ist der Text in eine lineare Ordnung gebracht, stellt sich die Aufgabe der Umsetzung der Buchstaben in ein modernes Schriftsystem, wobei verschiedene Nutzer der Edition ein verschiedenes Erhalten handschriftennaher Merkmale wünschen - etwa für sprachhistorische oder schrifthistorische Untersuchungen. Das Prinzip, dass letztlich die Buchstaben eins zu eins modernen Schriftzeichen gegenüberstehen, wird durch zum Teil umfangreiche Detailfragen relativiert etwa zur Wiedergabe des Schaft-s, welches nicht allein ein mediävistisch anmutendes Schriftbild garantiert, sondern zudem auch Hinweise auf die Behandlung der Wortfuge bei Komposita geben könnte. 31 Der Editor muss abwägen, ob 31

Siehe vor allem Karin Kranich-Hotbauer: s/f - ein Fall für die Normalisierung? Ein Beitrag zur Edition spätmittelalterlicher Gebrauchstexte. In: De consolatione philologiae. Studies in Honor of Evelyn S. Firchow. Hrsg. von Anna Grotans, Heinrich Beck und Anton Schwöb. Göppingen 2000, Bd. 1, S. 217-230. Vgl. die kritischen Einstellungen von Norbert Richard

212

Martin J. Schubert

der Aufwand der Erfassung den je möglichen Nutzen übersteigt - hier und bei vielen weiteren Merkmalen des Schriftbildes, die relevant sein mögen, aber nicht komplett wiedergegeben werden können. Verschiedene Buchstabenformen, Zierstriche, Änderungen der Laufweite am Zeilenende und vieles mehr sollten, soweit sie auffällig sind, in der Handschriftenbeschreibung berücksichtigt werden, während der Text von ihnen verschont bleibe. 32 Die strittigste Frage bei der Lösung von der Handschrift ist jedenfalls die der Normalisierungen. Der Trend neigt offenkundig zu großer Handschriftennähe (wie sie die Reihe DTM von Anfang an prägt), was Eberhard Neilmann bereits zu der polemischen Frage bewegte: „Müssen unsere Ausgaben umso komplizierter werden, je mehr die Mittelhochdeutschkenntnisse der Studierenden zurückgehen?"33 Joachim Heinzle hat überzeugend das Dilemma aufgezeigt, das sich bei der Reproduktion einer historischen, aber beiläufigen Schreibart sowie einem von Fehlern korrigierten, rekonstruierten Text ergibt, und daraus die Notwendigkeit einer ,normalmittelhochdeutschen' Normalisierung abgeleitet; er konzediert zugleich, dass dieses Verfahren nur auf die Dichtungen um 1200 und die in ihrer Tradition stehenden anwendbar ist, und verweist auf die „operative Nützlichkeit" der Normalisierung, also auf ein pragmatisches Argument.34 Unabhängig von der Frage, ob der Anteil von Menschen mit guten Mittelhochdeutschkenntnissen an der Gesamtbevölkerung in den letzten hundert Jahren gesunken ist, dürfte Einvernehmen bestehen, dass unabhängig vom jeweiligen Verfahren höchster Wert auf die Verständlichkeit des Editionstextes zu legen

32

33

34

Wolf: Die Abhängigkeit des Sprachhistorikers vom Editor. In: Editionsberichte zur mittelalterlichen deutschen Literatur. Beiträge der Bamberger Tagung „Methoden und Probleme der Edition mittelalterlicher deutscher Texte" 26.-29. Juni 1991. Hrsg. von Anton Schwöb unter Mitarbeit von Rolf Bergmann u. a. Göppingen 1994, S. 347-352, hier S. 351; Keith Busby: The Politics of Textual Criticism. In: Towards a Synthesis? Essays on the New Philology. Hrsg. von Keith Busby. Amsterdam, Atlanta/Ga. 1993 (Faux titre 68), S. 29-45, hier S. 42. Jedes Frageinteresse zu bedienen ist ohnehin unmöglich, wenn nicht überflüssig: „Wer heute an überlieferungsgeschichtlichen Problemen arbeitet, kann sich mit beliebig genauen Kenntnissen auch noch über die nebensächlichsten Details versorgen," so Karl Stackmann: Neue Philologie? In: Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche. Hrsg. von Joachim Heinzle. Frankfurt, Leipzig 1994, S. 398-427, hier S. 423. Vgl. aber die detaillierten Aufnahmen etwa bei Wernfried Hofmeister: Die Edition als .offenes Buch'. Chancen und Risiken einer Transponierungs-Synopse, exemplarisch dargestellt an der Dichtung „Von des todes gehugede" des sog. Heinrich von Melk. In: Produktion und Kontext. Beiträge der Internationalen Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition. Hrsg. von Η. Τ. M. van Vliet. Tübingen 1999 (Beihefte zu editio 13), S. 23-39. Eberhard Nellmann: Rez. Heinrich von dem Türlin: Die Krone [...]. Hrsg. von Fritz Peter Knapp und Manuela Niesner (ATB 112), Tübingen 2000. In: ZfdA 132, 2003, S. 511-517, hier S. 512. Heinzle 2003 (Anm. 30), S. 5f., Zitat S. 6. Die wesentlichen Argumente sind die Befreiung des Textes von der partikulären Prägung durch einzelne Schreiber, die Verknüpfbarkeit mit Wörterbuch und Grammatik, die Vergleichbarkeit mit anderen Texten.

Ideal und

Pragmatik

213

ist. Für einen spätmittelalterlichen Text wie Johannes Rothes Elisabethleben fehlen uns bislang Regulierungskonventionen;35 die Verständlichkeit muss hier über Kommentare und Übersetzungshilfen hergestellt werden. Beim Passional, das an der Reimsprache der Klassiker orientiert36 und graphematisch sehr einheitlich überliefert ist, wäre bereits durch eine Einfügung von Längezeichen nahezu ein ,Normalmittelhochdeutsch' simulierbar. Ohne in dieser Frage verfrühte Festlegungen zu treffen, ist deutlich, dass eine Entscheidung über weitergehende Normalisierung nicht nur optisch eine Nähe zu den Klassikern andeutet, sondern aufgrund der operativen Nützlichkeit - an der Kanonisierung des Einzeltextes mitwirkt. Für die Wirkungsaussichten der Edition sollte der Editor diese Dimension seiner Entscheidung im Auge behalten.

IV. Zurückhaltende Korrektur Einigkeit dürfte zwischen den Vertretern verschiedener editorischer Konzepte darin bestehen, dass nicht jede handschriftliche Absonderlichkeit verdient, in den Editionstext gesetzt zu werden. Korrekturen sind nötig; ihre Voraussetzungen sind jedenfalls ein differenzierter Fehlerbegriff sowie editorische Zurückhaltung. Dennoch öffnet die Folge der Einzelfallentscheidungen immer wieder Spielräume, so dass ihre Ergebnisse disparat wirken können. Im Elisabethleben bildet ein Zusatzvers einen markanten Bindefehler der Handschriftengruppe um die Leithandschrift.37 Als einziger Dreireim im Werk ist dieser Vers merklich isoliert; darüber hinaus ist er, und das wiegt schwerer, syntaktisch unabhängig, inhaltlich belanglos und im Kontext unsinnig. Dass wir diesen Vers nicht in den Editionstext aufnehmen und so von der Leithandschrift abweichen, kann als Rekonstruktionsversuch bezeichnet werden, denn alles weist darauf hin, dass der Vers sekundär ist. Jenseits jeder überlieferungsgeschichtlichen Erklärung aber ist der Grund schlicht der, dass wir diesen Text dem Benutzer nicht zumuten wollen. An anderer Stelle hingegen weicht die editorische Entscheidung sowohl von der Leithandschrift als auch von dem (inhaltlich) besseren Text ab. Landgraf Ludwig überträgt seinen Brüdern die Sorge um das Land; dazu gehört das Vorgehen gegen einen Burgherren, der ein Kloster schädigt: Her bat sy, dij Eyttersborg zcu brechin, / Dye dem closter da by tatin gebrechin / An yrer narunge sere 35

36

37

Heinzle verweist ebd. S. 6 auf die ungelöste, dringliche Frage, solche Konventionen für Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit zu entwickeln. Siehe hierzu zusammenfassend meinen Beitrag: Die neue Edition des Alten Passionais (im Druck, wie Anm. 25). Nach C lautet die Verheißung für den Sieger im Wartburgkrieg: [...] 265 Der erkreig da von die ere / 266 Das her der beste under on were / 266a Und nam sich des nicht an sere. Der Zusatzvers 266a, den drei weitere Handschriften teilen, stimmt mit v. 298 überein; er kann also auf einem Augensprung beruhen.

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Martin J.

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machte (ν. 2230-2232 nach C). Der Text -m closter da by tatin steht auf Rasur, die Schrift zeigt hier minimale Unterschiede. Der getilgte Text ist nicht zu erkennen, aber parallele Handschriften weisen darauf, dass hier zunächst den von Reynhardisborn gestanden hat (woran der Verweis yrer narunge im folgenden Vers besser anschließt). Zur Entstehung der Rasur lässt sich also mutmaßen: Zunächst stand in der Handschrift, dass der Herr der Ettersburg das Kloster Reinhardsbrunn schädigte. Eine zweite Hand empfand diesen Text als fehlerhaft und bemühte sich bei der Korrektur, den Duktus der Handschrift nachzuahmen. Der Eingriff dürfte auf textexternes Wissen zurückgehen, denn die Reinhardsbrunner Annalen bezeugen, dass das gleichnamige Kloster Ettersburg (also das closter da by) beeinträchtigt wurde. 38 Die Entscheidung, in die Edition den gelöschten Text aufzunehmen, ließe sich, da eine zweite Hand eingegriffen hat, durch den Verweis auf die Absicht des ersten Schreibers rechtfertigen. Da der gelöschte Text nicht zu entziffern ist, handelt es sich aber in jedem Fall um eine Rekonstruktion - bei der sogar ein inhaltlicher Fehler wiederhergestellt wurde. Aber diesen Fehler halten wir für ursprünglich; die ihn repräsentierende Lesart gehört also in den edierten Text, wenn man diesen nicht idealisieren will (also gewissermaßen das ediert, was Rothe geschrieben hätte, wenn er besser aufgepasst hätte). Die vorgestellten Entscheidungen mögen nachvollziehbar, vielleicht geradezu selbstverständlich erscheinen. Doch schon diese kleinen Beispiele führen in verschiedene Ebenen der angenommenen Textgeschichte. 39 Es handelt sich jeweils um Rekonstruktionen, in einem Fall des Leithandschriftentextes, im anderen des Vorlagentextes; Leitschnur sind Begründungen, die notwendig mit Begriffen wie „primär" und „sekundär" operieren. Die Edition richtet sich immer auf eine Ebene, die nicht sichtbar ist; sie greift aber nicht über mehrere Ebenen hinweg. Damit führen die rekonstruierenden Eingriffe nie zu einem ,Autortext', sondern immer nur zu einem auf vorgängige Überlieferungsstufen hin abgewandelten Leithandschriftentext. Die Beispiele deuten also an, dass die Absicht, eine Leithandschrift nicht mit all ihren Unzulänglichkeiten abzudrucken, in einen zwangsläufig mehrschichtigen Raum führen kann und damit Spielräume eröffnet. In abwägender Weise einzugreifen, ohne die exakte Restituierung einer bestimmten überlieferungshistorischen Textstufe vorzugeben, ist hier die pragmatische Entscheidung.

38 39

Annales Reinhardsbrunnenses. Hrsg. von Franz X. Wegele. Jena 1854, 2 0 0 , 2 4 - 2 0 1 , 4 . Vgl. Albrecht Hausmann: Mittelalterliche Überlieferung als Interpretationsaufgabe. „Laudines Kniefall" und das Problem des „ganzen Textes". In: Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1 1 5 0 - 1 4 5 0 . Hrsg. von Ursula Peters. Stuttgart, Weimar 2001 (Germanistische Symposion. Berichtsbände 23), S. 7 2 - 9 5 , bes. S. 8 0 - 8 6 , der die verschiedenen Ebenen scheidet und vorschlägt, sie in Editionen zu markieren, um sie als Hintergrund des Interpretationsprozesses durchgängig nutzen zu können.

Ideal und

Pragmatik

215

V. Systematische Irritation Zwischen den vielfältigen Anliegen, welche Benutzer an Editionen herantragen, gibt es keinen perfekten Ausgleich. Im Zentrum der Bemühungen um den edierten Text, der gedruckt werden soll, steht sicherlich die Aufbereitung für die vorrangige Nutzung, die bei Schrifttexten vorgesehene, von vorn nach hinten fortschreitende Leserezeption. 40 Damit sind im Grunde die Erlösungsverheißungen vernetzter elektronischer Ressourcen, den linearen Text im Hypertext aufzulösen, obsolet, denn der Leser benötigt den linearen Text. Für alle anderen Benutzer, welche neue, über die Glossare und Verzeichnisse hinausgehende Daten aus dem Text erheben wollen, bieten natürlich in digitalen Medien publizierte Transkriptionen die bessere Grundlage. Daher werden bei den DTM ab Band 85 die Transkriptionen elektronisch vorgehalten und auf Anfrage zur Verfügung gestellt. Hierdurch könnten einige Frageinteressen aus der Druckausgabe ausgelagert werden: Damit öffnet sich die Tür für weitergehende Normalisierung, zunächst etwa für eine beträchtliche Reduzierung der graphematischen Varianz. Für eine zukünftige zweigeteilte, aus Druckausgabe und digital publizierten Materialien bestehende Edition ist diese Option stets mitzudenken. Es eröffnen sich also im Lauf der Entwicklung neue Möglichkeiten, welche neue Entscheidungen verlangen. Oben wurden Beispiele gegeben, wie Editoren versuchen, im genannten Widerstreit von Euphorie und Objektivierung zwar nicht subjektiv zu entscheiden, sondern gewissermaßen gesteuert objektiv. Dahinter steht die Überzeugung, dass wer eine Edition beginnt, nicht mehr neutral ist.41 Die Richtschnur seiner Arbeit kann nicht in missverständlichen generalisierten Findemechanismen liegen, die etwa die Wiederherstellung eines ,Autortextes' verheißen, sondern nur in der Kette von Einzelfallentscheidungen. Natürlich sind hiermit philologische Entscheidungen nicht der Beliebigkeit anheimgestellt. Über ihre differenzierte und verantwortete Ausführung entscheidet der „Takt des Editors". 42 Diesen Begriff benutzt, völlig zu Recht, nicht nur Gustav Roethe in der von Stackmann erläuterten Weise, sondern auch Hans Ulrich Gumbrecht für die Grenze, die verhindert, dass philologische Entscheidungen dem persönlichen Geschmack überantwortet werden. 43

40

41

42 43

Für die Leser gilt unwidersprochen die Maxime des Königs im Befehl an das Weiße Kaninchen: ,„Begin at the beginning,' the King said gravely, ,and go on till you come to the end: then stop.'" Lewis Carroll: Alice in Wonderland. ebooks@Adelaide 2004, 12. Kapitel. Vgl. Winfried Woesler: Der Editor und ,sein' Autor. In: editio 17, 2003, S. 5 0 - 6 6 , hier S. 50: „Eine wissenschaftliche Edition ist nicht nur objektiv." Siehe den Beitrag von Karl Stackmann in diesem Band, S. 7-20. Gumbrecht 2003 (Anm. 1), S. 60; vgl. S. 61, 64, 68. Den Begriff übernimmt er von Sally Humphreys (mündlich 1996, siehe ebd. S. 51).

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Martin J. Schubert

Die zahlreichen Einzelentscheidungen machen die Edition in keinem Fall übersichtlicher als es ein fester Regelsatz täte. Aber sie ermöglichen ein Abwägen (wenn nicht gar Lavieren) zwischen den vielfältigen Interessen, die an die Edition herangebracht werden. Die Edition kann nicht einschichtig sein, und ihre Aufgabe ist es, die durchaus irritierende Brüchigkeit des vorgelegten Textes, seinen Kompositcharakter deutlich zu machen. Damit dient sie dem gleichen Ziel der Irritation, das Karl Stackmann 1964 gefordert hat: Die Ausgabe soll „ein höchstes Maß an Unsicherheit erzeugen, die Aufmerksamkeit dafür wachhalten, daß der gebotene Text die Wirklichkeit eines lebenden Textes nur unvollkommen abbildet".44 Dass dem ohne Vorbehalt zuzustimmen ist, belegt auch Hans Ulrich Gumbrecht, der vierzig Jahre später nahezu den gleichen Gedanken ausdrückt: „Je höher die philologische Qualität einer Edition, als desto desorientierender und komplexer wird sich das von ihr geprägte Lesen [...] erweisen." 45

44

45

Karl Stackmann: Mittelalterliche Texte als Aufgabe. In: Festschrift für Jost Trier. Hrsg. von William Foerste und Karl Heinz Borck. Köln, Graz 1964, S. 240-267, hier S. 267; Wiederabdruck in: ders.: Mittelalterliche Texte als Aufgabe. Kleine Schriften 1. Hrsg. von Jens Haustein. Göttingen 1997, S. 1-25, hier S. 25. Diese Unsicherheit kann natürlich auf verschiedenen Wegen erzeugt werden, etwa durch unübersichtliche Druckeinteilung oder Unmengen von Sonderzeichen. Sie sollte sich aber beim Versuch, eine komplexe Überlieferung aus der Edition zu verstehen, ohnehin einstellen, wenn die Komplexität nicht in der Edition getilgt ist. Gumbrecht 2003 (Anm. 1), S. 135.

Volker Honemann, Gunhild Roth

Mittelalterliche Autographen und Textgenese Am Beispiel von Peter Eschenloers Geschichte

der Stadt

Breslau

I. Zur Bedeutung von Autographen Ziel des hier vorgelegten Beitrages ist ein Plädoyer für eine intensive und systematische Beschäftigung mit den mittelalterlichen deutschen Autographen. Gemeint sind mit diesem ambigen Begriff hier Textzeugen literarischer Werke, die vom Autor des Textes selbst geschrieben oder zumindest, unter Hinterlassung autographischer Elemente, von ihm - im Anschluss an s e i n Diktat - durchkorrigiert worden sind.1 Eine derartige Erforschung gibt es heute noch nicht, was, wie wir meinen, der Genauigkeit und Differenziertheit der heutigen Vorstellungen von der Eigenart des mittelalterlichen Textes wie von dessen Entstehung zum Schaden gereicht: Die autographische Überlieferung eines Textes vermittelt eine besonders genaue Vorstellung von der Genese desselben, also von der Arbeitsweise des Autors, und damit davon, wie der uns vorliegende Text aus dem Gehirn des Autors auf das Pergament oder Papier gelangt ist. Im vergangenen Jahrzehnt ist das mittelalterliche Autograph in der Germanistik am Rande von Forschungsdiskussionen, die unter ganz anderen Vorzeichen geführt wurden, mehrfach in den Blick geraten. Zu nennen sind hier zunächst die Diskussionen über die Thesen der ,New Philology' und die über den ,Tod des Autors'; letztere führten etwa in dem großen Aufsatz von Rüdiger Schnell von 1998 zur Beschäftigung mit Äußerungen mittelalterlicher Autoren, die sich gegen Veränderungen ihrer Texte verwahren, und zu der Feststellung, dass „Autographe bzw. vom Autor besorgte Werkausgaben"2 sich kaum mit der vielfach propagierten Vorstellung von einer geradezu absoluten Varianz mittelalterlicher Texte vereinen lassen. Überlegungen, wie sie Schnell hier anstellte, hat Klaus Grubmüller 2001 in einem wichtigen Aufsatz unter dem Titel Verändern und Bewahren. Zum Bewußtsein vom Text im deutschen Mittelalter fortgeführt, in dem er eine beträchtliche Zahl von Textpassagen aus sehr unterschiedlichen Bereichen der Li1

2

Knapper formuliert Hoffmann für das frühere Mittelalter: „Unter einem Autograph verstehen wir ein Pergament, auf das ein Autor seinen eigenen Text mit eigener Hand geschrieben hat." Siehe Hartmut Hoffmann: Autographa des früheren Mittelalters. In: DA 57, 2001, S. 1 - 6 2 , hier S. 2. Rüdiger Schnell: ,Autor' und .Werk' im deutschen Mittelalter. Forschungskritik und Forschungsperspektiven. In: Wolfram-Studien 15, 1998, S. 12-73, hier S. 58.

218

Volker Honemann, Gunhild Roth

teratur interpretierte, in denen Autoren sich über ihr Verhältnis zu den von ihnen geschaffenen Texten aussprechen. Grubmüllers Fazit: - „Es gibt eine nicht geringe Zahl von Autoren, denen die Behandlung ihrer Werke im Zuge von deren Weitergabe und Verbreitung nicht gleichgültig ist"; - „Veränderung und Veränderlichkeit des Autortextes werden nicht als selbstverständlich hingenommen." - Schreibereingriffe, die „auf Unaufmerksamkeit, Unkenntnis oder Willkür beruhen", werden „nirgendwo akzeptiert." - „Deutlich im Vordergrund steht die Sorge der Autoren um die Bewahrung oder auch nachträgliche Herstellung einer korrekten Kunst- und Sprachform," und schließlich: - „Die Figur des Autors konstituiert sich in der Sorge um den richtigen Text: in der Erfüllung der Kunstregeln und in der inhaltlichen, zumal dogmatischen Korrektheit." 3 Indirekt ist damit die Frage angesprochen, wie sich denn des Autors ,Sorge um seinen Text' materialisiert, d. h.: ob sie zur Konsequenz hat, dass er die Herstellung dieses Textes selbst ,in die Hand nimmt' oder diese genau überwacht und am Ende darauf hin überprüft, ob sie dem von ihm intendierten genau entspricht. Damit aber ist die autographische (Erst-)Fassung, die .Niederschrift' ins Spiel gebracht. Ihrer hat sich jüngst Jürgen Wolf in einem Aufsatz mit dem Titel Das „fürsorgliche" Skriptorium angenommen. 4 Wolf behandelt unter dem Rubrum „Der .fürsorgliche Autor'" „Manuskripte [...], die unter der unmittelbaren Regie des Auftraggebers oder sogar unter der Regie des Autors angefertigt wurden." - Die Formulierung setzt, vom Kontext des Aufsatzes her verständlich, voraus, dass der Autor sein Werk in der Regel n i c h t s e l b s t niederschreibt, sondern dass ihm dafür die Dienste eines Skriptoriums zur Verfügung stehen. Wolf spricht dann im folgenden von „recht zahlreich in Autographen erhaltenen [...], fast ausschließlich lateinischen" Texten „aus dem 9. bis 13. Jahrhundert" und stellt dazu fest, dass sie „erkennen [lassen], wie intensiv [lateinische] Autoren ihre Werke in die Überlieferung begleiteten, und sie zeigen zugleich, wie labil die Textgebilde in der Hand des Autors oder autornaher Kreise sein konnten: Viele Texte wurden redigiert, gebessert oder kommentiert (correctio), andere umgearbeitet, sogar völlig neu gestaltet oder im Auftrag des Autors bzw. von ihm selbst mit kunstvollen Gliederungselementen, Bildern und anderen aufwendigen Accessoires versehen." 5 3

4

5

Klaus Grubmüller: Verändern und Bewahren. Zum Bewußtsein vom Text im deutschen Mittelalter. In: Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150-1450. Hrsg. von Ursula Peters (Germanistische Symposien. Berichtsbände, Bd. XXIII), Stuttgart, Weimar 2001, S. 8-33, hier S. 31 f. Jürgen Wolf: Das „fürsorgliche" Skriptorium. In: Der Schreiber im Mittelalter. Hrsg. von Martin J. Schubert (Das Mittelalter Bd. 7, 2002, H. 2), S. 92-109, hier S. 9 6 - 9 8 : „Der .fürsorgliche' Autor". Wolf 2002 (Anm. 4), S. 96.

Mittelalterliche

Autographen

und Textgenese

219

Fasst man diese Positionen der germanistischen Forschung zusammen, so wird sich sagen lassen, dass sie zwar Annäherungen an das Thema .autographische Textüberlieferung' bieten, aber auch nicht mehr. Als wichtigstes Ergebnis wird man festhalten dürfen, dass die Überlieferung, denkt man an Grubmüllers Feststellungen, sehr deutliche Hinweise auf den Typus eines Autors bietet, dem die Sicherung der von ihm erarbeiteten Textgestalt - sei es durch autographische Niederschrift oder kontrolliertes Diktat - ein sehr wichtiges Anliegen war. Weiter führt ein Ausblick auf die Forschung außerhalb des Bezirks der germanistischen Mediävistik, und hier besonders den der mittellateinischen Philologie. Sie hat mit Paul Lehmanns Arbeit Autographe und Originale namhafter lateinischer Schriftsteller des Mittelalters von 1920 eine noch heute unüberholte Pionierstudie aufzuweisen, und mit dem vor kurzem erschienenen großen Aufsatz von Hartmut Hoffmann zu den Autographa des früheren Mittelalters eine in ihrer Gründlichkeit und Umsicht respektheischende Forschungsleistung. 6 Vor kurzem hat sich dann Christel Meier in einer weit ausgreifenden Arbeit unter dem Titel Ecce auctor mit der bildlichen Darstellung literarischer Urheberschaft im Mittelalter beschäftigt und dabei auch den „Autor als Schreiber seines Werks" in den Blick genommen. 7 Ganz besonders zu nennen ist jedoch ein Aufsatz von Monique-Cecile Garand mit dem Titel Auteurs latins et autographes des Xle et Xlle siecles von 1981 .K Garand hat sich editorisch mit Guibert von Nogent auseinandergesetzt und eines seiner Werke in einer neuen Reihe des Brepols-Verlages ediert, die speziell Texten mit autographischer Überlieferung gewidmet ist.9 Der Aufsatz bietet eine Reihe wichtiger Beobachtungen und Thesen, auf die im folgenden kurz einzugehen ist. Garand stellt - für ihren Zeitraum - zunächst die These auf, dass die Technik des Schreibens und die „habitudes de redaction du temps" im Widerspruch dazu standen, dass ein Autor zu seinem eigenen Kopisten wurde (S. 79). Warum, so könnte man mit Garand zugespitzt fragen, sollte ein Autor seine Zeit mit Schrei6

7

8

9

Paul Lehmann: Autographe und Originale namhafter Schriftsteller des Mittelalters. In: Zs. des deutschen Vereins für Buchwesen und Schrifttum 3, 1920, S. 6 - 1 6 ; wieder in: ders.: Erforschung des Mittelalters I. Stuttgart 1959, S. 3 5 9 - 3 8 1 . Hoffmann 2001 (Anm. 1); einzeln behandelt werden Victor von Capua, Willibrord, Bonifatius, Paulus Diaconus, Alkuin, Hrabanus Maurus, Bruun-Candidus, Walahfrid Strabo, Johannes Scotus, Hinkmar von Reims, Notker Balbulus, Liudprand von Cremona und Richer von Saint-Remi; S. 5 9 - 6 1 auch ein Ausblick in das hohe Mittelalter. Christel Meier: Ecce auctor. Beiträge zur Ikonographie literarischer Urheberschaft im Mittelalter. In: Frühmittelalterliche Studien 34, 2001, S. 3 3 8 - 3 9 2 (und Tafeln XXII-XLIV), hier S. 347-351. „Bilder aktueller theologischer Autoren" - wie etwa des Rupert von Deutz „etablieren eine hohe Wertschätzung des neuen, gelehrten Autors [...]" (S. 348). Monique-Cecile Garand: Auteurs latins et autographes des Xle et X l l e siecles. In: Scrittura e Civiltä 5, 1981, S. 77-110. Monique-Cecile Garand: Guibert de Nogent et ses Secretaires. Turnholti 1995 (CC, Autographa II).

220

Volker Honemann, Gunhild Roth

ben vertun, wenn ihm die Dienste eines persönlich zugeordneten Schreibers oder die eines Skriptoriums zur Verfügung standen? War es für die Intellektuellen der Zeit nicht viel angemessener, ihre Texte zu diktieren? Wenn man dies konzediert und der Verfasserin darin zustimmt, dass die spezifische Art geistiger Arbeit und insbesondere Textverfertigung, wie sie die ,Mönchstheologie' des 11. und 12. Jahrhunderts entwickelte und praktizierte, in scharfer Opposition zu dem mühsamen, höchste Disziplin verlangenden Malen von Buchstaben, der „execution fractionnee des lettres" (S. 79) stand, dann stellt sich gleichwohl die Frage, ob Autoren, wie etwa der heilige Bernhard, ihre umfangreichen und komplexen Werke vollständig ,aus dem Kopf' in ein formal wie inhaltlich weitestgehend ,fertiges', von einem professionellen und spezialisierten Schreiber erstelltes Original verwandeln konnten. Oder bedurften auch die diktierenden Autoren dazu als Gedächtnisstütze' der Entwürfe, Notizen oder vorläufigen Fassungen auf Wachstafeln oder Pergamentresten? Zugleich ist zu vermuten, dass auch die Art der Schrift für unsere Fragestellung von Bedeutung ist. Eine kurrent zu schreibende Schrift, wie etwa die spätmittelalterlichen Bastardschriften, und eine Buchkultur, die neben dem ästhetisch anspruchsvollen Codex auch die schlichte ,Gebrauchshandschrift' kennen gelernt hatte, dürften dem Autor weit weniger Widerstand gegen die Anfertigung eines Autographs seines Textes geleistet haben als die früheren, ,malend' zu erstellenden Buchschriften. Kann dies (zusammen mit der leichteren Verfügbarkeit eines weit billigeren Beschreibstoffes), zumindest teilweise erklären, warum die Zahl autographischer Textzeugen im Spätmittelalter deutlich ansteigt? Hatte Karl Lachmann vielleicht eine derartige, scharfe Opposition zwischen dem Autor und dem Schreiber von dessen Werk im Sinne, als er die Romane der mittelhochdeutschen Blütezeit als Werke bezeichnete, „von denen es niemahls autographa gegeben hat"? 10 Doch zurück zum Aufsatz von Monique-Cecile Garand. Im Zuge ihrer Beschäftigung mit der Frage, wie man denn eine Handschrift als Autograph bestimmen könne (worauf wir noch zurückkommen), charakterisiert sie mehrere autographische „Entwurfshandschriften", so ζ. B. die bekannte Bamberger Unikalüberlieferung der Chronik des Richer von Saint-Remi, die Pariser Gottfried von Viterbo-Handschriften und den Dresdener Codex der Chronik des Thietmar 10

Wolfram von Eschenbach. Sechste Ausgabe von Karl Lachmann. Berlin 1926, S. VI. - Der Satz ist m. E. in seiner Radikalität nicht haltbar, siehe dazu Volker Honemann: Autographische Überlieferung mittelalterlicher deutscher Literatur. In: Scrinium Berolinense. Tilo Brandis zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Peter Jörg Becker u. a. 2. Bd. Berlin 2000, S. 821-827, hier S. 824 mit Anm. 22 und 23 unter Verweis auf die neueren Forschungen, vor allem Bumkes, zu gleichwertigen Parallelversionen höfischer Epen. Sie könnten letztlich auf m e h r e r e Autographen (oder Originale) ein und desselben Werkes zurückgehen. Wichtig scheint mir dabei, dass man die Überlieferung der höfischen Epik - gerade angesichts der ausgeprägten Verschiedenheit der sie hervorbringenden Autorentypen - nicht „über einen Kamm schert".

Mittelalterliche Autographen und Textgenese

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von Merseburg - alles bekannte, von der Forschung vielfach untersuchte Codices. Weniger Beachtung haben bisher die autographischen Eingriffe und Zusätze gefunden, die der Zisterzienser Wilhelm von Saint-Thierry seinen im Skriptorium von Signy erstellten Texten angedeihen ließ. Diese und weitere Beispiele (wie etwa das des Lambert von Saint-Omer und des Robert de Torigni) führen Garand zu der Frage nach der sozialen Stellung ihrer Autoren und nach der Art der von ihnen geschaffenen Werke: es sind fast ausnahmslos bescheidene Kleriker, in der Regel mit engen Verbindungen zu Kanzlei und/oder Skriptorium. Was sie schreiben, gehört mit wenigen Ausnahmen dem Feld der Historia an; gleichzeitig fehlen Theologie und Philosophie fast völlig. Liegt das, wie Garand vermutet, daran, dass der Historiograph seinen Text aus einer ungeheuren Fülle von Fakten komponiert, die in einer bestimmten Reihenfolge sofort (eben in einer Entwurfshandschrift) aufgezeichnet werden müssen, damit er sie nicht vergisst, während den Theologen beim Entwickeln seiner komplizierten Gedankengänge das Schreiben ablenken würde? Das aber setzt - weil wir ja schließlich eine Vielzahl derartiger Werke aus dem 12. Jahrhundert besitzen - voraus, dass der oral produzierende Autor über ein Höchstmaß an Formulierungsfähigkeit und Konzentration verfügte, das es ihm ermöglichte, dem Schreiber ein Diktat zu liefern, das einen weitestgehend .fertigen', wir würden sagen: ,druckreifen' Text hervorbrachte. Interessanterweise haben die Autoren, und besonders die Schreiber-Autoren des 12. Jahrhunderts, wie Garand feststellt, diese Problematik selbst reflektiert, oder die unter ihrer Mitwirkung entstandenen Überlieferungsträger lassen sie erkennen. Ordericus Vitalis, der Verfasser der berühmten Historia ecclesiastica, beklagt sich mehrfach über die Überlastung, die für ihn entstehe, weil er selbst Fakten recherchieren u n d auch noch schreiben müsse." Guibert von Nogent hingegen rühmt als einer der ersten die Vorzüge einer eigenhändigen Niederschrift des eigenen, im Entstehen begriffenen Werkes: Wenn ich mein Werk (,das meinige') mit eigener Hand niederschrieb, und dabei zwischendurch das Geschriebene revidierte, dann war mir nichts leichter, als das Vergessene nachzutragen, und ich brauchte den Tadel meines Sekretärs für die kleinste Unterbrechung des Diktats nicht zu fürchten und konnte skrupulös auf die Eleganz des Stils achten, weil ich mich nur um mich selbst kümmern musste. Denn ich sammle

"

Garand 1981 (Anm. 8), S. 96 mit Anm. 42, siehe weiter S. 88 und 101-104. In eine ähnliche Richtung geht eine Bemerkung des heiligen Augustinus am Anfang seiner Soliloquia. Hier spricht die Ratio zu Augustinus: „Ergo scribendum est. Sed quid agis, quod valetudo tua scribendi laborem recusat? Nec ista dictari debent; nam solitudinem meram desiderant." Darauf antwortet Augustinus: „Verum dicis. Itaque prorsus nescio quid agam." Augustinus, Soliloquia 1.1 c. 1, PL 32, Sp. 869. - Siehe hierzu: Eligius Dekkers OSB: Les autographes des Pferes latins. In: Colligere Fragmenta. Festschrift Alban Dold zum 70. Geburtstag am 7. 7. 1952. Beuren 1952, S. 126-139, hier S. 126.

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viel leichter in meinem Geiste das, was ich sagen will, allein mit mir selbst, und ich muss weniger erröten über meine Langsamkeit, einen Gedanken zu formulieren.12 Fügt man hierzu eine Äußerung des heiligen Ambrosius, derzufolge man beim Niederschreiben des eigenen Textes mit den Augen den Inhalt dessen erwägen könne, was man schreibe, 13 dann wird deutlich, dass mit Guibert eine neue, positive Einschätzung des Schreibens sichtbar wird; positiv ist sie deshalb, weil das Selbst-Schreiben im Gegensatz zum Diktieren eine Verfertigung der Gedanken beim Schreiben, frei von den Zwängen der Diktier-Situation, ermöglicht. Wilhelm von Saint-Thierry hat sich hierzu nicht theoretisch geäußert, aber die in Signy entstandenen frühen Niederschriften seiner Werke lassen das gleiche erkennen: Niemals zufrieden mit dem, was er dem Schreiber diktiert hatte, korrigiert er, fügt kleinere Passagen hinzu, ersetzt bestimmte Formulierungen durch passendere Ausdrücke, ja fügt, im Falle seiner Erklärung des Römerbriefes, einen Entwurf von seiner Hand dem von ihm diktierten Text hinzu. 14 Es entwickelt sich so, mit Autoren wie Guibert, Wilhelm und Ordericus, der Typ des „auteur-ecrivain" (Garand S. 101), des Schreiber-Autors. Überblickt man die verschiedenen F o r m e n , die die autographische Handschrift im 11. und 12. Jahrhundert annimmt, dann wird ein weiteres deutlich: Das Autograph kann in sehr unterschiedlichen .Zuständen' verfertigt worden und auf uns gekommen sein. Von daher ist es notwendig, eine Typologie des mittelalterlichen Autographs zu entwickeln, angefangen von einzelnen Notizen eines Autors über das Arbeitsmanuskript (ζ. B. eine ,Kladde') bis hin zu der von ihm selbst niedergeschriebenen oder diktierten editio princeps. Eine solche Typolo-

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Garand 1981 (Anm. 8), S. 96 mit Anm. 43: „Dum enim mea manu propria scriptitarem et crebro contuitu inter scribendum eadem dicta reviserem, facillimum mihi erat omissa retexere, et dum notarii mea fastidia nulla ex mora revereor, verborum curialitati secure michimet ipsi morosus intendo. Tanto enim liberius ad animam dicenda recolligo quanto minus pro circumspicienda sententia dictandi lentitudinem michi soli vacuus erubesco." Siehe PL 156, Sp. 340; handschriftliche Grundlage (nach Garand ebd.) Paris, Β. N„ cod. lat. 2502, f. 2r. Siehe hierzu auch Dekkers 1952 (Anm. 11), S. 133 mit Anm. 53 (Die Vita sancti Ambrosii auctore Paulino hebt als Besonderheit hervor, dass Ambrosius seine Werke selbst niederschrieb). Das Zitat stammt aus Brief 47 des Ambrosius (siehe PL 16, Sp. 1199f.), wiedergegeben bei Dekkers S. 134. Siehe hierzu Jean-Marie Dechanet: Un recueil singulier d'opuscules de Guillaume de StThierry: Charleville 114. In: Scriptorium 6, 1952, S. 196-213 und besonders Guillaume de Saint-Thierry: Lettre aux Freres du Mont-Dieu. Introduction, Texte critique, Traduction et Notes par Jean Dechanet o. s. b. Paris 1975 (Sources Chretiennes N° 223), S. 4 2 - 4 4 mit Verweis auf weitere Arbeiten Dechanets, kurze Beschreibung der einschlägigen Handschrift (Charleville, Bibliothöque municipale Ms. 114, mit Korrekturen von Wilhelms Hand) bei Volker Honemann: Die ,Epistola ad fratres de Monte Dei' des Wilhelm von Saint-Thierry. Lateinische Überlieferung und mittelalterliche Übersetzungen. München 1978 (MTU 61), S. 21f.

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gie existiert im einzelnen bisher nicht; sie würde eine einigermaßen umfangreiche Erfassung des Materials voraussetzen, die nur an den Originalen selbst vorgenommen werden kann; besonders hier ist jeder ,Fall' ein besonderer. Die Vielfalt der Formen ist beträchtlich: So unterscheiden sich etwa die von Guibert selbst geschriebenen Passagen seiner Werke von denen, die seine Sekretäre zu Pergament brachten, dadurch, dass sie in bezug auf Worttrennung und Seitenlayout ganz ,unprofessionell' gefertigt sind. Bei anderen Autoren kommen Wortersatz oder die Hinzufügung ganzer Textteile, aber auch die Durchstreichung ganzer Partien vor, so dass man mitunter über zwei autographische Versionen ein und desselben Textes verfügt. Der Annalista Saxo etwa schreibt zwar soigniert, verunklärt aber das vorgesehene Layout durch Zusatzzeilen und zusätzliche kleine Blätter, wobei die Zusätze um so umfangreicher werden, je mehr er sich der Darstellung seiner eigenen Lebenszeit nähert. Gregorio de Catino, Historiograph seines Klosters Farfa, produziert über beinahe vier Jahrzehnte hinweg autographisch professionelle' Manuskripte seiner Werke, während Richer von Saint-Remi einen eigenhändigen Entwurf seines Textes hinterlässt, von dem er angenommen haben dürfte, dass er von einem Schreiber in eine editio princeps verwandelt werden würde. Andere Autographen kommen diesem Ziel sehr nahe. So vergleicht sich das Autograph der Historia ecclesiastica des Ordericus mit den „besten Produkten der Skriptorien seiner Zeit", Ordericus hat, so Garand, „versucht, sein Produkt so sehr zu entpersönlichen, wie nur möglich." 15 Man könnte nun fragen, was all dies die germanistische Mediävistik angeht. Warum ist eine Erforschung der mittelalterlichen Autographen so wichtig; was lehrt sie uns, was wir auf anderem Wege nicht erkennen oder ermitteln könnten? Darauf lassen sich mehrere Antworten geben: 1. Die Ermittlung einer Handschrift als Autograph gestattet es, den ursprünglichen, die Intention des Autors genauestens wiedergebenden Text kennenzulernen und zu edieren. Das ist, allen Vorstellungen von Mouvance, Intertextualität und textgeschichtlicher Entwicklung zum trotz, nichts gerade Kleines. Dabei dürfen wir freilich nicht regelmäßig ein .einschichtiges', in sich völlig eindeutiges Produkt erwarten, sondern häufiger, vor allem im Falle spätmittelalterlicher Autographen, ein .mehrschichtiges', das - weil es ζ. B. Textbesserungen des Autors selbst aufweist - stellenweise oder sogar in toto m e h r e r e Autortexte bietet. Die Überlieferung von Otlohs von St. Emmeram Liber de temptatione cuiusdam monachi16 und Christoph Fasbenders Edition des Autographs von Ja-

15 16

Garand 1981 (Anm. 8), S. 103, dort S. 97-102 auch zu den weiteren hier genannten Autoren. Honemann 2000 (Anm. 10), S. 824 und allgemein Paul Gerhard Schmidt: Otloh von St. Emmeram als Korrektor seiner Mitarbeiter. In: La collaboration dans la production de l'ecrit medieval. Hrsg. von Herrad Spilling. Paris 2003 (Materiaux pour l'histoire publies par l'ecole des chartes 4), S. 225-230, hier besonders S. 228f.

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kobs von Paradies De apparitionibus animarum separatarum zeigen ebenso wie die bereits erwähnte Tradierung mehrerer Werke des Wilhelm von Saint-Thierry, was wir meinen. 17 2. Damit verbunden ist, dass eine Interpretation des Autographs in aller Regel Aufschlüsse über die spezifische Arbeitsweise eines Autors ermöglicht. Wir können uns damit gewissermaßen in den Kopf des Autors hinein denken und ihm bei der Verfertigung seines Textes zusehen. Das wiederum ermöglicht es beispielsweise, ihm Abweichungen von sonst durch ihn beobachteten Prinzipien, ja sogar stehengebliebene Fehler nachzuweisen. Für die literaturwissenschaftliche Interpretation des Textes ist dies, gleichgültig wie man zu der Frage steht, ob ein Autor über seinen Text in vollem Maße verfügt, von hoher Bedeutung. 18 Das unten gegebene Beispiel, die Chronik des Peter Eschenloer, zeigt, welche Überlegungen ein Chronist bei der Herstellung der (End-)Fassung seines Werkes anstellt. 3. Im Falle von mehr- oder vielfacher Überlieferung (die im Spätmittelalter ja die Regel ist) erlaubt die Kenntnis eines an der Spitze derselben stehenden Autographs eine weit genauere Einschätzung der auf dieses folgenden Textüberlieferung, weil sich die Veränderungen, die ein Text im Laufe seiner Geschichte erlebt, sehr viel genauer und richtiger erkennen lassen, als wenn wir über dessen Ursprung letztlich keine präzisen Informationen haben. 4. Daraus ergibt sich aber - und dies scheint uns ein zentraler Punkt zu sein die Möglichkeit, derartige Erkenntnisse (siehe 3.) auch auf a n d e r e Texte bzw. die Beurteilung von deren textgeschichtlicher Entwicklung zu übertragen. Konkret: Wenn wir erst einmal über eine differenzierte Typologie der Erscheinungsformen des hochmittelalterlichen Autographs und über genaue Vorstellungen darüber verfügen, wie sich der von einem Autograph ausgehende überlieferte Text im Laufe seiner Geschichte verändert hat, dann sind auch in Fällen, wo uns

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18

Christoph Fasbender: Von der Wiederkehr der Seelen Verstorbener. Untersuchungen zu Überlieferung und Rezeption eines Erfolgstextes Jakobs von Paradies. Mit einem Abdruck des Autographs. Heidelberg 2001 (Jenaer Germanistische Forschungen NF 12), hier S. 21-31 und die Textausgabe S. 32-100; S. 20 Abbildung von f. 180·^ und S. 101 Abbildung von f. 186 v des Autographs. Zur Spezifik des mittelalterlichen Autorenkonzepts siehe Georg Jäger: Autor. In: Literaturlexikon. Hrsg. von Walter Killy, hier Bd. 13. Hrsg. von Volker Meid. München 1992, S. 6 6 - 7 1 , hier S. 66. Die reiche diesbezügliche Literatur ist bei Meier 2001 (Anm. 7), S. 3 3 8 - 3 4 0 zusammengestellt und erörtert; siehe weiterhin die bei Wolf 2002 (Anm. 4), S. 94 in Anm. 9 genannte Literatur. Weiterhin Schnell 1998 (Anm. 2), S. 24 mit Anm. 42 sowie ders.: Was ist neu an der ,New Philology'? Zum Diskussionsstand in der germanistischen Mediävistik. In: Alte und neue Philologie. Hrsg. von Martin-Dietrich Gleßgen und Franz Lebsanft. Tübingen 1997 (Beihefte zu editio 8), S. 61-95, hier S. 66f. und S. 85. Siehe neuestens den die Vorstellungen vom Autor im Mittelalter weit voranbringenden Aufsatz von Christel Meier: Autorschaft im 12. Jahrhundert. Persönliche Identität und Rollenkonstrukt. In: Unverwechselbarkeit. Persönliche Identität und Identifikation in der vormodernen Gesellschaft. Hrsg. von Peter von Moos. Weimar, Wien 2004, S. 207-266; s. auch ebd. S. 444f.

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k e i n Autograph erhalten ist, genauere Aussagen darüber möglich, wie dieses, d. h. das vom Autor produzierte Original des Textes ausgesehen hat. Dies gilt auch für den Fall der diktierenden' Autoren, in denen kein Autograph im strengen Sinn des Wortes existierte. Insgesamt wird man deshalb sagen dürfen, dass eine Erforschung der mittelalterlichen Autographen eine sehr viel präzisere, ja gichtigere' Vorstellung sowohl von der Textproduktion wie von der mittelalterlichen Textrezeption und auch von ,Autorschaft im Mittelalter' ermöglichen wird. 19 Zwei Fragen stellen sich abschließend: Gibt es hinreichend viele Autographen deutscher Texte des Mittelalters für derartige Untersuchungen, und zweitens: wie identifiziert man ein Autograph, mit Garands Worten: „Comment peut-on etre sur?" 1. Für die erste Frage ist auf einen Aufsatz in der Festschrift für Tilo Brandis aus dem Jahre 2000 und auf eine Datenbank zu verweisen, die im wesentlichen die in den ersten 10 Bänden des Verfasserlexikons als Autographen bezeichneten Handschriften verzeichnet; es sind etwas mehr als 400 Handschriften von ca. 280 Autoren. 20 Dies ist natürlich noch eine unsichere Basis, weil für die meisten der Texte Untersuchungen darüber, ob es sich tatsächlich um autographische Überlieferung handelt, fehlen. Einen ersten Eindruck von dem zu Erwartenden kann sie jedoch vermitteln. Prominente Urheber von Autographen ihrer Werke sind beispielsweise Otfrid von Weißenburg und Rather von Verona im 9. und 10. Jahrhundert, Otloh von St. Emmeram im 11. und Metellus von Tegernsee im 12. Jahrhundert, Albertus Magnus und der ,Schwarzwälder Prediger' im 13. Jahrhundert, Elsbeth von Oye, Rulman Merswin und Hans Mair im 14. Jahrhundert. Für das 15. Jahrhundert ist mit den Werken der Beheim, Folz (die

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Hängt beispielsweise der Umstand, dass Autoren wie der hl. Bernhard praktisch nie direkt und genau zitieren, damit zusammen, dass sie diktierten, und gilt dies für die Autoren der ,Mönchstheologie' des 12. Jahrhunderts insgesamt? Ist die veränderte Arbeitsweise der Autoren der Scholastik des 13. Jahrhunderts und vieler Autoren des späteren Mittelalters, die präzise zitieren, auch dadurch zustande gekommen, dass sie über Exemplare der von ihnen verarbeiteten Quellen in Gestalt von ,Handapparaten' verfügten? Die Kompilations-Verfahren, wie sie die neuere Forschung beschrieben hat, setzen die Verfügbarkeit von Quellen voraus. Deutlich sichtbar ist eine solche Arbeitsweise bei einem Autor wie dem Einbecker Scholaster Dietrich Engelhus, der ein und denselben Wissensbestand in unterschiedliche Präsentationsformen gießt, ζ. B. die der Enzyklopädie (Engelhus' Promptus) und die des Wörterbuches (Vocabularius quadriidiomaticus), das auch Verbindungen zum Psalmenkommentar des Engelhus aufweist, der seinerseits mit dessen Sterbekunst verbunden ist, siehe Volker Honemann: Zu den Quellen des ,Promptus'. In: Dietrich Engelhus. Beiträge zu Leben und Werk. Hrsg. von Volker Honemann. Köln, Weimar, Wien 1991 (Mitteldeutsche Forschungen 104), S. 2 0 3 - 2 3 6 und Christine Wulf: Zum Psalmenkommentar des Dietrich Engelhus. Überlieferung, Datierung, Werkzusammenhang, Methode. In: ebd. S. 4 9 - 6 5 , besonders S. 5 2 - 5 5 .

2(1

Honemann 2000 (Anm. 10) und http://www.uni-muenster.de/Fruehmittelalter/Projekte/Autographen/Datenbank.html.

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beiden Haupthandschriften sind Teilautographen) und Johann von Soest auch Dichtung in deutscher Sprache als Autograph verfügbar, daneben eine sehr große Zahl von Chroniken (hier bestätigt sich die oben zitierte These von Garand auch für das Spätmittelalter) sowie geistliche Texte (wie etwa die des Erhart Groß 21 ). - Im Anhang verzeichnen wir die im ,Verfasserlexikon' genannten, durch autographische Überlieferung ihrer Werke ausgezeichneten Autoren. 2. Wie erkennt man ein Autograph als solches? Kurz gefasst, gelten folgende Kriterien: a) Ein Textzeuge weist einen Vermerk auf, aus dem hervorgeht, dass der Autor des Textes diesen selbst geschrieben hat. (Schwierigkeiten bereitet hierbei nicht selten die Unscharfe mittelalterlicher Terminologien: ,scriptum' kann sowohl .geschrieben' als auch ,verfasst' bedeuten. 22 ) b) Ein Textzeuge trägt eine Angabe, dass der Urheber eines Textes diesen diktiert und dann eigenhändig durchkorrigiert hat; auch hier bereitet die Terminologie mitunter Probleme. 23 c) Textzeugen sind in einer Schrift geschrieben, die man aus anderen Codices als Hand eines Autors ermitteln kann; dabei stellt sich das Problem, dass ein Autor natürlich auch ,bloß' als Schreiber, als Kopist des Werkes eines anderen Autors auftreten kann. d) Ein Textzeuge, der aus der Entstehungszeit eines Werkes stammt, weist Zufügungen, Tilgungen oder Korrekturen auf, die inhaltlich nur vom Autor des Werkes stammen können und deshalb von seiner Hand stammen müssen. Ein Beispiel hierfür soll den Beitrag beschließen.

II. Das Beispiel Peter Eschenloer Von dem Breslauer Stadtschreiber Peter Eschenloer, 24 der von 1455-1481 amtierte, wissen wir, dass er, wohl zwischen 1463 und 1472, eine lateinische Historia Wratislaviensis schuf, die bis zum Zweiten Weltkrieg autographisch im Codex R 591 der Breslauer Stadtbibliothek überliefert war; Hermann Markgraf hat sie nach diesem Autograph ediert. Erhalten geblieben ist davon anscheinend nur das Faksimile einer Seite. 25 21

22

23 24

25

Vgl. Hans-Hugo Steinhoff: Groß, Erhart. In: 2 VL 3, 1981, Sp. 273-278. Autographisch überliefert ist ζ. B. das ,Laiendoctrinal', siehe dazu demnächst die Dissertation von Heike Bierschwale (Münster). Siehe zu den Terminologien Wilhelm Wattenbach: Das Schriftwesen im Mittelalter. 3. Aufl. Leipzig 1896, S. 261 ff. Wattenbach 1896 (Anm. 22), S. 317-344. Zu ihm und seinen Chroniken siehe Peter Eschenloer: Geschichte der Stadt Breslau. Hrsg. und eingeleitet von Gunhild Roth. Münster u. a. 2003 (Quellen und Darstellungen zur schlesischen Geschichte 29/1-2), Einleitung S. 25-66. Historia Wratislaviensis [...] von Mag. Peter Eschenloer. Hrsg. von Hermann Markgraf. Bres-

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Wohl von 1466 bis 1479 arbeitete Eschenloer seine lateinische Chronik um zu einer deutschen Geschichte der Stadt Breslau, der wichtigsten schlesischen Chronik des Mittelalters überhaupt. Der ersten vollständigen Edition des Werkes liegt eine autornahe Handschrift, der Codex IV F 151a der Universitätsbibliothek Breslau zugrunde. Man hat ihn früher für ein Autograph Eschenloers gehalten, doch zeigt ein Vergleich der Schriften mit der von Eschenloers eigenhändiger lateinischer Chronik, dass dies wenig wahrscheinlich ist, vgl. die Abbildungen 1 und 2.26 Auch sind leider nahezu alle Urkunden, die laut Angaben in der Politischen Korrespondenz Breslaus von Eschenloers Hand stammen sollten, kriegsbedingt verloren gegangen. Die Breslauer Stadtbücher vermerken ebenfalls nicht, dass Peter Eschenloer sie eigenhändig geschrieben hätte. Heute ist lediglich ein Konzept27 erhalten, das aus seiner Amtszeit stammt und von ihm geschrieben worden sein soll - die Ähnlichkeit der Hand mit der aus der Historia Wratislaviensis fällt allerdings ins Auge (vgl. Abb. 3) - und so erscheint es ziemlich sicher, dass die Geschichte der Stadt Breslau in der Breslauer Handschrift IV F 151a nicht ebenfalls von ihm stammen kann.28 Sehr wahrscheinlich ist hingegen, dass Eschenloer den Text der Handschrift eigenhändig durchkorrigiert hat: An einer ganzen Reihe von Stellen hat er Besserungen angebracht, die unseres Erachtens nur vom Autor der Chronik stammen können.29 lau 1872 (Scriptores Rerum Silesiacarum 7). Zahlreiche der inserierten Schriftstücke (ζ. B. Urkunden) stammen von anderen Händen, Eschenloer hat dann nur die Überschriften zu diesen Dokumenten selbst geschrieben, siehe ebd. S. XXVI-XXVIII zu dem komplizierten Befund, den man am besten als Teilautograph bezeichnet. - Abbildung von fol. 450" der Handschrift nach Albert Chroust: Monumenta Paläographica. Denkmäler der Schreibkunst des Mittelalters, hier III. Reihe, XV. Lfg., T. 3 (= T. 623 des Gesamtwerks), auch bei Roth 2003 (Anm. 24), S. 90. 26

Zu den Argumenten vgl. Roth 2003 (Anm. 24), S. 88-93. Zu den „Originalen von Eschenloers Hand" vgl. Gunhild Roth: Zwischen Pflicht und Kür. Der Stadtschreiber Peter Eschenloer als Botschafter, Übersetzer und Chronist. Mit drei Anhängen zu Gesandten, Prokuratoren und Boten des Breslauer Rates. In: Stadt, Kanzlei und Kultur im Übergang zur Frühen Neuzeit. City Culture and Urban Chanceries in an Era of Change. Hrsg. von Rudolf Suntrup und Jan Veenstra. Frankfurt/M. u. a. 2004 (Medieval to Early Modern Culture/Kultureller Wandel vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit 4), S. 15-46, bes. S. 21-23 und 32.

27

Wroclaw, Archiwum Panstwowe, Dok. m. Wroclawia, sygn. 5389: 1478 Sep. 17: Rat an Herzog Konrad den Weißen, vgl. Politische Correspondenz Breslaus im Zeitalter des Königs Matthias Corvinus. Erste Abteilung. 1469-1479. Hrsg. von Berthold Kronthal und Heinrich Wendt. Breslau 1893 (Scriptores Rerum Silesiacarum 13), Nr. 312, S. 265 (Regest). Mit großer Wahrscheinlichkeit ebenfalls von Eschenloers Hand dürfte eine weitere Handschrift der UB Breslau, R 591a stammen; vgl. zu der Handschrift Roth 2004 (Anm. 26), S. 44-46. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt jetzt auch Vaclav Bok für die Prager Handschrift von Eschenloers Übersetzung der Historia Bohemica des Aeneas Silvius Piccolomini, vgl. dazu Aeneas Silvius Piccolomini: Historia Bohemica. Hrsg. von Joseph Hejnic und Hans Rothe, Band 2: Die frühneuhochdeutsche Übersetzung (1463) des Breslauer Stadtschreibers Peter Eschenloer. Hrsg. von Vaclav Bok. Köln, Weimar, Wien 2005 (Bausteine zur slavischen Philologie und Kulturgeschichte NF Reihe B: Editionen Bd. 20,2), S. 35-40.

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Am deutlichsten ist hier die Korrektur einer für Januar 1470 eingeordneten Mitteilung über die Absetzung des Hauptmanns Ulrich von Hasenburg; der Passus wird durchgestrichen und am Rande vermerkt: „hic erraui quia hoc est actum anno etc. LXXJ isto mense, ut loco suo habetur"30 (vgl. Abb. 4). Ähnlich persönlich' fällt eine Notiz aus, die wohl kein anderer als Eschenloer am Fuß der Seite 408 (siehe Edition S. 635) nachgetragen hat und in der er beklagt, dass in Breslau jede Zeche ihr eigenes Siegel und ihren eigenen Schreiber habe (vgl. Abb. 5). An einer anderen, inhaltlich sehr brisanten Stelle - es geht um die Vermutung, einige Breslauer Ratsherren wollten die Stadt dem Ketzerkönig Georg von Podiebrad übergeben - werden die Namen der beiden Ratsherren sehr gründlich getilgt und der Kontext verändert (vgl. Abb. 6). Inhaltlich ähnlich ist eine Stelle, in der Eschenloer davon handelt, dass von Seiten der Gemeine und der Predigermönche bewusst ein diesbezüglicher Verdacht gegen den Rat geschürt worden sei. In einer Randglosse hatte Eschenloer selbst, wie wir meinen, diese Beschuldigung noch präzisiert und die Ratsherren Friedrich Reichart, Anthonius Hornung und Valentin Hawnolt angegriffen; das mag ihm später als zu gefährlich erschienen sein, weshalb er den Passus wieder strich (vgl. Abb. 7). Weitere Beispiele einer Selbstzensur finden sich durch die Streichung einer ziemlich bösartigen Bemerkung darüber, dass ein Fürst keine Witwe heiraten solle - der Passus wird erst zugefügt, dann aber wieder gestrichen31 und der 32 Entschärfung von Aussagen über die Unbotmäßigkeit der Breslauer, über Herzog Wilhelm von Sachsen und die Verlobung seiner Tochter mit dem Sohn Georgs von Podiebrad33 und anderes mehr.34 Die Hand, die diese Nachträge bzw. Korrekturen schreibt, ist stets die gleiche, und nur der Autor, Peter Eschenloer, konnte Formulierungen wie „hic erraui" verwenden. Weil er außerdem als Angestellter der Stadt ein sehr lebhaftes Interesse am Erhalt seiner Position und seiner körperlichen Unversehrtheit haben musste,35 tilgte er Formulierungen, die ihm hätten gefährlich werden können. 30 31 32 33 34

35

Siehe Roth 2003 (Anm. 24), S. 93 (Erläuterung) mit S. 800, Anm. 1 (Text). Roth 2003 (Anm. 24), S. 9 8 9 , 9 - 1 2 mit Anm. 4 (Handschrift S. 714). Roth 2003 (Anm. 24), S. 4 4 3 , 1 6 - 2 0 mit Anm. 3 - 8 (Handschrift S. 242). Roth 2003 (Anm. 24), S. 255,1-14 mit Anm. 2 - 4 (Handschrift S. 75). Diese sowie die anderen gestrichenen Passagen werden auch nicht in die Abschrift, die für den Rat bestimmte Prachthandschrift, heute Wroclaw, Archiwum Pafistwowe, a. m. Ε 14, übernommen; dort erscheint jeweils die korrigierte Fassung. - Siehe insgesamt die Übersicht bei Roth 2003 (Anm. 24), S. 92f. und den Apparat der Textausgabe, besonders zu den Seiten 232, 271, 353, 357, 374f„ 378, 415, 460, 533, 577, 614, 672, 713 und 715 der Handschrift. (Die Seitenzählung der Handschrift erscheint innerhalb des Editionstextes in eckigen Klammern.) Vgl. auch Eschenloers Ergänzung über seine Haltung gegenüber den „Ketzern", mit der er sich gegen die heftigen Anfeindungen und Angriffe gegen ihn verwahrt; Roth 2003 (Anm. 24), S. 568,29-569,5 mit Anm. 2.

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Deshalb sind wir der Überzeugung, dass diese Nachtrags- und Korrekturhand diejenige Peter Eschenloers selbst ist, und dass seine Chronik in der Handschrift IV F 151a in einer von ihm autorisierten, zu geringen Teilen von seiner Hand stammenden Form vorliegt. Das Beispiel Eschenloer zeigt (ähnlich wie etwa das bereits erwähnte des Otloh von St. Emmeram), dass die Beschäftigung mit mittelalterlichen Autographen eine ebenso diffizile, mitunter geradezu kriminalistischen Spürsinn erfordernde wie auch reizvolle und für das Verständnis mittelalterlicher Texte geradezu zentrale Aufgabe ist. Ein Forschungsprojekt, das für die deutsche Literatur des Mittelalters autographische Überlieferung an herausgehobenen Beispielen untersuchte, ist sehr zu wünschen; es würde unsere Kenntnisse bezüglich der Genese und Eigenart mittelalterlicher Texte entschieden vermehren.

III. Anhang: Verzeichnis mittelalterlicher deutscher Autoren, von denen Werke autographisch überliefert sind Das folgende Verzeichnis schöpft ohne weitere Nachweise die Angaben des .Verfasserlexikons' (Bd. 1, 1978 - Bd. 10, 1999 sowie Bd. 11, Lfg. 1-4, 2000-2003) aus; diesem folgt auch die Ansetzung der Autoren im Alphabet. Dubia sind mit (?) gekennzeichnet. Dass der Forschungsstand zu der Frage, ob es sich tatsächlich um Autographen handelt, zu den einzelnen Autoren sehr unterschiedlich ist und die folgenden Angaben deshalb nur erste, oft unsichere Hinweise, keinesfalls aber Nachweise bieten können, versteht sich von selbst. Bei Autoren, die mehrere Werke verfassten, bezieht sich die Angabe in der Regel auf einzelne Texte. Adalbert Rankonis de Ericinio - Adalbert von Magdeburg (?) - Alantsee, Ambrosius - Albert von Dießen - Albert von Oberaltaich - Albertus Magnus - Albrecht von Eyb - Andreas von Regensburg - Annalista Saxo - Arnold von Berge und Nienburg - Amold von St. Emmeram - Arnoldi, Heinrich, von Alfeld - Arnpeck, Veit - Auer, Magdalena - Augustin von Hammerstetten Balduin von Ninove - Bebo von Bamberg - Beck, Heinrich - Beheim, Michel - Berchtold von Kremsmünster - Bernhard von Kraiburg - Bernold von St. Blasien - Blarerin, Justina - Christan von Lilienfeld - Deichsler, Heinrich - Dionysius der Kartäuser - Dolnstein, Paul Ebendorfer, Thomas - Eber, Valentin - Ebran, Hans, von Wildenberg - Edlibach, Gerold Eghenvelder, Liebhard - Ekhardi, Walter - Ekkehard IV. von St. Gallen - Ellenbog, Ulrich Elsbeth von Oye - Erhardus - Erlung von Würzburg - Etzen, Hermann Fabri, Felix - Fabri, Johannes - Folz, Hans - Frauenburg, Johannes - Frutolf von Michelsberg Fuller, Heinrich, von Hagenau Gerhoch von Reichersberg - Gerstenberg, Wigand - Gert van der Schüren - Gessel, Leonhard - Glasberger, Nikolaus - Goswin von Marienberg - Gottfried von Viterbo - Gottschalk von Aachen - Grill, Nikolaus - Groß, Erhart - Grünenberg, Konrad - Gundelfingen, Heinrich - Gundelfinger, Matthias Haasenwein, Hans - Hagen, Johannes - Haller, Heinrich - Hammenstede, Berthold - Harghe, Johannes - Hartwic von St. Emmeram - Hauser, Johannes - Heinrich von Beeck - Heinrich von Dissen - Heinrich von Pfalzpaint - Hemmerli, Felix - Hermann von Niederaltaich - Hermann von St. Gallen - Heynlin, Johannes, de Lapide - Hierszmann, Hans - Himmel, Johannes, von Weits Hinderbach, Johannes - Holzapfler, Augustinus

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Volker Honemann, Gunhild Roth

Jakob von Paradies - Jakob von Soest - Jodocus Berthold von Ziegenhals - Johann von Gelnhausen - Johann von Paltz - Johann von Seghen - Johann von Soest - Johann von Viktring Johannes de Werdea - Johannes von Dambach - Johannes von Haren - Johannes von Winterthur Jordan von Quedlinburg - Jos von Pfullendorf - Justinger, Konrad Kastner, Heinrich - Keck, Johannes - Kemli, Gallus - Kiburger, Eulogius - Knab, Erhard, von Zwiefalten - Knebel, Johannes - Kölner, Friedrich - Konrad von Bondorf - Konrad von Geisenfeld - Konrad von Heinrichau - Konrad von Weinsberg - Kraus, Johannes - Kreckwitz, Georg Kule, Hinrik - Kurfi, Johannes - Kydrer, Wolfgang - Kyeser, Konrad Lambert von Lüttich - Lampert von Hersfeld - Lange, Hinrik - Lankmann, Niklas, von Falkenstein - Leküchner, Hans - Levold von Northof (?) - Liebhard von Prüfening - Lochmair, Michael - Lochner, Hans - Luder, Peter - Ludwig V., Pfalzgraf bei Rhein - Ludwig von Diesbach Ludwig von Eyb d. J. zum Hartenstein Mair, Hans, von Nördlingen - Matthias von Kemnat - Meisterlin, Sigismund - Menger, Konrad Merswin, Rulman - Messinger - Metellus von Tegernsee - Metlinger, Bartholomäus - Meyer, Johannes - Minner, Hans - Muffel, Nikolaus - Müller, Peter Naker, Liborius - Nigri, Petrus - Niklas von Wyle - Nikolaus von Dinkelsbühl - Nikolaus von Jeroschin - Nikolaus von Kosel - Nikolaus von Kues - Nolt, Heinrich - Nuhn, Johannes Ödenhofer, Thomas - Ortenburger Prognostiker - Ortlieb von Zwiefalten - Otfrid von Weißenburg - Otloh von St. Emmeram - Overstolz, Werner - Päsdorfer, Konrad - Paternoster, Hieronymus - Peter von Andlau - Peter von Haselbach - Peter von Molsheim - Peter von Pulkau Peuger, Lienhart - Peuntner, Thomas - Pfinzing, Jörg - Pflaundorfer, Heinz - Pirckheimer, Hans Pluntsch (Plunk), Tilemann - Purchard von Reichenau - Purgoldt, Johannes - Putsch, Ulrich Raber, Vigil (?) - Radendorfer, Jörg - Rather von Verona und Lüttich - Regiomontanus, Johannes - Regula, Lichtenthaler Schreibmeisterin - Rieter, Sebald - Rietmüller, Heinrich - Rode, Johannes, von Trier - Rolevinck, Werner - Rorbach, Bernhard - Rorbach, Job - Rot, Hans und Peter Rotenpeck, Hieronymus - Röthaw, Johannes - Rutgerus de Tremonia Sampach, Agnes - Schedel, Hartmann (?) - Schedel, Hermann - Schelling, Konrad - Schenck, Johann, von Würzburg - Schilling, Diebold, d.Ä. von Bern - Schilling, Diebold, von Luzern Schiphower, Johannes - Schlitpacher, Johannes - Schönmerlin, Ludwig - Schreck, Konrad, von Aschaffenburg - Schulmeister, Nikolaus - Schumann, Johannes (?) - Schürstab, Erasmus, d. J. Schwarz, Ulrich - Sentlinger, Heinz - Siegfried von Balnhausen - Siegmund von Königgrätz Sigebert von Gembloux - Sintram, Johannes - Sloesgin, Johann - Sommer, Pankraz - Spechtshart, Hugo, von Reutlingen - Sperrer, Hans, gen. Brüglinger - Spies, Johannes - Spittendorf, Markus - Staind(e)l, Johann - Steinhöwel, Heinrich - Stocker, Johannes (?) - Stöcklin, Ulrich Stoll, Hans - Stolle, Konrad - Stoß, Peter - Straub, Nikolaus - Streitel, Hieronymus - Streler, Johannes - Strobel, Georg - Stromer, Ulman - Stuler, Jörg (?) - Suderman(n), Hil(de)brant Suho, Albert, gen. Kuel - Sunder, Friedrich - Swende, Valentin (?) Theodericus von Echternach - Thietmar von Merseburg - Thiodericus von Deutz - Treitzsauerwein, Marx - Tröster, Johannes - Tschachtlan, Bendicht - Tucher, Anton - Tücher, Katharina Twinger, Jakob, von Königshofen Unrest, Jakob - Vend, Johannes - Vener, Job - Vicko von Geldersen - Vinzenz von Aggsbach Virdung, Johann - Volradi, Jakob - Vorster, Johannes - Wagner, Johannes (?) - Walcher, Wolfgang - Waldau, Hieronymus (?) - Waldauf, Hieronymus, von Waldenstein - Walram von Siegburg - Walther, Marx - Wann, Paulus - Wassenberch, Johann - Weiler, Jodocus (?) - Wenck, Johannes - Weriand von Saldenhofen - Wernher, Adam, von Themar - Winand von Steeg - Winithar Winthager, Wölfgang - Wintnauer, Rudolf - Wolfgang von Steyr - Wolfger von Prüfening Bruder Wolfhart - Zayner, Andreas. Mönch Albert - Baumgartner, Wolfgang - Christoph von Thein - Döbringer, Hanko - Konrad von Gelnhausen - Kremerin, Magdalena - Otloh von St. Emmeram - Polster, Georg.

231

Mittelalterliche Autographen und Textgenese

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Abb. 1: ehem. Breslau, UB, R 591, fol. 450 v (aus Chroust, vgl. Anm. 25).

232

Volker Honemann, Gunhild Roth

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Abb. 2: Wroclaw, BU, IV F 151a, fol. 9 (aus Chroust, vgl. Anm. 25).

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Abb. 3: Wroclaw, Archiwum Panstwowe, Dok. m. Wrodawia, sygn. 5389 (vgl. Anm. 27).

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Abb. 4: Wroclaw, BU, Cod. IV F 15la, S. 548 (Ausschnitt).

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Abb. 5: Ebd., IV F 151a, S. 408 (Ausschnitt).

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