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German Pages 252 [256] Year 1988
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Schleiermacher-Archiv Herausgegeben von Hermann Fischer und Hans-Joachim Birkner, Gerhard Ebeling, Heinz Kimmerle, Kurt-Victor Selge
BandS
Walter de Gruyter · Berlin · New York 1988
Günter Meckenstock
Deterministische Ethik und kritische Theologie Die Auseinandersetzung des frühen Schleiermacher mit Kant und Spinoza
1789-1794
Walter de Gruyter · Berlin · New York 1988
Als Habilitationsschrift auf Empfehlung der Theologischen Fakultät der Christian-AlbrechtsUniversität zu Kiel gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft
Gedruckt auf säurefreiem Papier (alterungsbeständig — pH 7, neutral)
ClP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Meckenstock, Günter: Deterministische Ethik und kritische Theologie : d. Auseinandersetzung d. frühen Schleiermacher mit Kant u. Spinoza 1789—1794 / Günter Meckenstock. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1988 (Schleiermacher-Archiv ; Bd. 5) Zugl.: Kiel, Univ., Habil.-Schr., 1988 ISBN 3-11-011155-1 NE: GT
1988 by Walter de Gruyter & Co., Berlin 30 Printed in Germany. Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen. Satz und Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin 30 Einband: Lüderitz & Bauer, Berlin 61
Vorwort Die folgende Abhandlung wurde am 9. Dezember 1985 von der Theologischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel als Habilitationsschrift für das Fachgebiet Systematische Theologie angenommen. Sie wird hier mit nur geringfügigen Veränderungen publiziert. Die Abhandlung ist aus meiner editorischen Arbeit an Schleiermachers Jugendschriften erwachsen. Quellenerschließung und Interpretationsbemühung ergänzten sich wechselseitig auf glückliche Weise. Mein Vorhaben gedieh unter den vorzüglichen Arbeitsbedingungen der SchleiermacherForschungsstelle Kiel. Das menschlich so angenehme und der Wissenschaft so förderliche Arbeitsklima wird durch deren Leiter Professor Dr. HansJoachim Birkner geprägt. Ihm bin ich von Herzen dankbar. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft danke ich für einen größeren Druckkostenzuschuß. Die Evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers beurlaubte mich großzügigerweise eine Reihe von Jahren für die Schleiermacher-Edition vom Pfarrdienst. Kiel, im Februar 1988 Günter Meckenstock
Inhaltsverzeichnis Vorwort
V
Einleitung I. SCHLEIERMACHERS KONZEPTION EINER
l DETERMINISTISCHEN
ETHIK IN SEINER AUSEINANDERSETZUNG MIT KANT
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1) Grundbegriffe einer deterministischen Ethik a) Der Begriff der reinen praktischen Vernunft („Über das höchste Gut" 1789) b) Der Begriff des sittlichen Gefühls („Notizen zu Kant: Kritik der praktischen Vernunft" 1789) c) Der Begriff der Freiheit („Freiheitsgespräch" 1789)
29 29
2) Grundlinien einer deterministischen Ethik („Über die Freiheit" 1790-1792) a) Die Grundlegung a) Der Begriff des Begehrungsvermögens ß) Die Funktionsweise des Begehrungsvermögens . . . b) Die Zurechnung a) Schleiermachers Begriff der Zurechnung ß) Der Kontext der Zurechnung ) Schleiermachers Begriff der Strafe c) Die Glückseligkeitsidee d) Das unmittelbare Freiheitsgefühl e) Die historische Genese des praktischen Determinismus £) Die Freiheit
52 53 53 57 64 65 73 82 84 90 102 116
II. SCHLEIERMACHERS VERSTÄNDNIS KRITISCHER THEOLOGIE IM KONTEXT SEINER AUSEINANDERSETZUNG MIT KANT
131
1) Die Krisis des religiösen Bewußtseins („An Cecilie" 1790)
35
42
132
VIII
Inhaltsverzeichnis
2) Die Destruktion der rationalen Theologie („Über das höchste Gut" 1789) 3) Die Individualisierung der Religion („Wissen, Glauben und Meinen" 1793; „Über die Freiheit" 1790-1792; „Über den Wert des Lebens" 1792/93) 4) Frömmigkeit und Tugend (Jugendpredigten 1790-1794)
148 156
168
III. SCHLEIERMACHERS MODIFIKATION SEINER DETERMINISTISCHEN ETHIK DURCH SEINE BEGEGNUNG MIT SPINOZA
1) Schleiermachers Bekanntwerden mit Spinoza 2) Der Begriff der Person („Spinozismus" 1793/94) 3) Der Begriff des Individuums („Spinozismus" 1793/94) IV. KRITISCHE UND KONSTRUKTIVE IMPULSE DER SPINOZASCHEN THEOLOGIE („KURZE DARSTELLUNG DES SPINOZISTISCHEN SYSTEMS" 1793/94) 1) Die Abhängigkeit der Theologie von der Kosmologie . . . 2) Der Spinozasche Gottesbegriff 3) Spinozas Impulse für eine Läuterung der Kantischen Theologie
181
185 189 194
201
202 205 213
Ausblick
219
Abkürzungsverzeichnis
235
Literaturverzeichnis
236
Personenregister
241
Sachregister
242
Einleitung Als 1799 Schleiermacher1 seine Schrift „Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern" anonym in Berlin erscheinen ließ2 und sich damit in der literarischen Welt einen wichtigen Platz eroberte, zog von Anfang an eine Stelle der zweiten Rede die Aufmerksamkeit auf sich: Schien doch in der Lobeserhebung Spinozas der Schlüssel für das Verständnis des gedanklichen Gehaltes der gesamten „Reden" gefunden zu sein, „Opfert mit mir ehrerbietig eine Loke den Manen des heiligen verstoßenen Spinosa! Ihn durchdrang der hohe Weltgeist, das Unendliche war sein Anfang und Ende, das Universum seine einzige und ewige Liebe, in heiliger Unschuld und tiefer Demuth spiegelte er sich in der ewigen Welt, und sah zu wie auch Er ihr liebenswürdigster Spiegel war; voller Religion war Er und voll heiligen Geistes; und darum steht Er auch da, allein und unerreicht, Meister in seiner Kunst, aber erhaben über die profane Zunft, ohne Jünger und ohne Bürgerrecht."3 Mit diesen Sätzen schließt Schleiermacher die Umrißzeichnung seiner Begriffsskizze, in der er die Religion von Moral und Metaphysik, von Praxis und Spekulation, von Kunst und Wissenschaft abhebt. Der Lobeserhebung Spinozas korrespondiert die verschlüsselte, aber leicht entschlüsselbare Verurteilung Fichtes. Schleiermacher sieht in Fichtes kritischem Idealismus, den er als Vollendung der Spekulation beurteilt, die Gefahr drohen, daß unsere Endlichkeit verabsolutiert und das Unendliche vernichtet werde. Der höhere Realismus, der diesem Verhängnis wehren könne, das sei die Sache Spinozas. Bei ihm kämen Spekulation und Religion, Wissenschaft und Sinn fürs Unendliche gleichermaßen zum Zuge.
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Zitatnachweise und Belegverweise ohne Angabe des Autors beziehen sich auf Friedrich Schleiermacher. Kritische Gesamtausgabe, edd. H.-J. Birkner/G. Ebeling/H. Fischer/H. Kimmerle/K.-V. Selge, Berlin/New York 1980 ff; hier Bd 1/2. Schriften aus der Berliner Zeit 1796-1799, ed. G. Meckenstock, Berlin/New York 1984, S. 185-326. Zur Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte vgl. KGA 1/2, LIII-LXXVIII. KGA 1/2, 213, 26-33
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Einleitung
Die verschiedensten Vermutungen und Verdächtigungen haben sich um diese Schlüsselstelle gerankt. Die Ausleger haben an ihr immer wieder ihr Können erprobt. Die Fragen, welches Gewicht dieser Stelle für die Gesamtinterpretation der „Reden" zugemessen werden müsse und was diese Stelle eigentlich zur Bestimmung des sachlichen Verhältnisses Schleiermachers zu Spinoza hergebe, welche inhaltlichen Übereinstimmungen und Unterscheidungen in diesem programmatischen Bezug beschlossen seien, die dann auch Licht auf die „Reden" würfen, diese Fragen sind wohl immer wieder aufgeworfen und angeschnitten, aber noch nicht befriedigend beantwortet worden. Doch noch an einer anderen Stelle wird Spinoza erwähnt, obwohl Schleiermacher mit Namensnennungen in den „Reden" sehr zurückhaltend ist. Und wieder kommt Spinoza in einen brisanten Kontext zu stehen: Mit der Ehrenrettung Spinozas profiliert Schleiermacher nämlich seinen Angriff auf den exklusiven Geltungsanspruch der personalistischen Theologie. Spinoza steht für die Neufassung des Gottesbegriffs. Für Schleiermacher ist der personalistische Gottesbegriff nicht konstitutiv für den Religionsbegriff. Die Religion, von ihm bestimmt als Anschauung und Gefühl des Universums4 bzw. als „Sinn und Geschmak fürs Unendliche"5, kann sich sowohl mit als auch ohne die personalistische Gottesvorstellung artikulieren. Spinoza ist das leuchtende Beispiel für eine unpersonalistische Äußerung des religiösen Sinnes. Denn indem Spinoza das Universum als Totalität erfasse, stehe er auf der obersten Entwicklungsstufe des religiösen Sinnes und vertrete dabei eine Sinnesrichtung, bei der die individualisierende Phantasie durch den alles verknüpfenden Verstand geleitet werde. „Sollte nicht Spinoza eben so weit über einem frommen Römer stehen, als Lukrez über einem Gözendiener? Aber das ist die alte Inkonsequenz, das ist das schwarze Zeichen der Unbildung, daß sie die am weitesten verwerfen, die auf einer Stufe mit ihnen stehen, nur auf einem ändern Punkt derselben! welche von diesen Anschauungen des Universums ein Mensch sich zueignet, das hängt ab von seinem Sinn fürs Universum, das ist der eigentliche Maßstab seiner Religiosität, ob er zu seiner Anschauung einen Gott hat, das hängt ab von der Richtung seiner Fantasie. In der Religion wird das Universum angeschaut, es wird gesezt als ursprünglich handelnd auf den Menschen. Hängt nun Eure Fantasie an dem Bewußtsein Eurer Freiheit so daß sie es nicht überwinden kann dasjenige was sie als ursprünglich wirkend denken soll anders als in der Form eines freien 4 5
Vgl. KGA 1/2, 211, 32-34 KGA 1/2, 212, 32
Einleitung
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Wesens zu denken; wohl, so wird sie den Geist des Universums personifiziren und Ihr werdet einen Gott haben; hängt sie am Verstande, so daß es Euch immer klar vor Augen steht, Freiheit habe nur Sinn im Einzelnen und fürs Einzelne; wohl, so werdet Ihr eine Welt haben und keinen Gott."6 Da die Artikulation des religiösen Sinnes von der Bestimmtheit der Einbildungkraft abhängig ist, die sich durch den Bezug auf das Freiheitsbewußtsein definiert, so gerät die Gottesvorstellung in das Kraftfeld der Freiheitsthematik. Die personalistische Gottesvorstellung verdankt sich der Ausweitung der Freiheitsvorstellung auf prinzipiell jede Wirkursache und alle Handlungsakte. Ist das naive Freiheitsgefühl uneingeschränkt herrschend, so bildet die Vorstellungskraft die angeschauten Handlungen des Universums nach diesem Muster und setzt die personalistische Gottesvorstellung in Kraft. Die welthaft-unpersonalistische Universumsvorstellung dagegen, für die beispielhaft Spinoza steht, ergibt sich aus der erkenntniskritischen Beschränkung der Freiheitsvorstellung auf ihre partikulare Gültigkeit. Ist der Verstand als Kontrollorgan eingesetzt und kritisch gegenüber der Einbildungskraft wirksam, so wird auch die Freiheitsvorstellung dieser kritischen Rationalität unterworfen. Schleiermacher verknüpft die Gottes- und die Freiheitsvorstellung so miteinander, daß die erstere als abhängig von der letzteren gedacht wird. Die genauere Bestimmung des Freiheitsbegriffs, die Schleiermacher hier allerdings nicht vornimmt, muß jeweils eine entsprechende Umbildung des Gottesbegriffs nach sich ziehen. Für die Artikulation des religiösen Sinnes erweist sich somit die Entwicklung einer stimmigen Freiheitskonzeption als höchst wichtig. Daß dieses Desiderat bedeutungsvolle Implikationen und Konsequenzen für die Theologie einschließt, hatte sich schon verschlüsselt in dem damals verbreiteten Vorwurf gegen Spinoza Ausdruck verschafft, dessen Determinismus führe zum Atheismus. Schleiermachers Verhältnis zu Spinoza ist noch immer eine unscharf abgebildete Region auf dem Meßtischblatt der Wissenschaft: Einige Linien und Umrisse sind zwar angedeutet, doch fügen sie sich zu keinem stimmigen Bild, und es fehlt noch immer die nötige Genauigkeit im Einzelnen.7 Der Rekurs auf Spinoza, auf seinen religiösen Sinn und seine deterministisch-rationalistische Freiheitskonzeption muß allerdings im Rahmen der „Reden" änigmatisch bleiben. Zu kurz und zu wenig argumentativ sind die beiden Stellen, als daß ihrer rhetorischen Auffälligkeit und ihrem 6
7
KGA 1/2, 245, 9-25 Vgl. die Skizze der gegenwärtigen kontroversen Diskussionslage bei Scholtz: Die Philosophie Schleiermachers, Darmstadt 1984, S. 82-85
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Einleitung
assoziativen Gewicht auch die gedankliche Prägnanz entspräche. Sie laden zum Rätselraten geradezu ein. Hat Schleiermacher seine „Reden" von Spinoza her konzipiert? Ist Schleiermacher wie Spinoza ein Vertreter des Determinismus? Liegt in der Abhängigkeit des Gottesbegriffs vom Freiheitsbegriff das Motiv für Schleiermacher, das Wesen der Religion neu zu bestimmen? Ist die Ehrenrettung Spinozas die Übernahme seiner gesamten Philosophie? Kant wird in den „Reden" keinmal namentlich erwähnt. Und doch ist er einer derjenigen, auf die Schleiermacher häufig Bezug nimmt. Kants im Rahmen der Transzendentalphilosophie durchgeführte Vernunftkritik hat die epochale Veränderung des philosophisch-theologischen Bewußtseins bewirkt, die die Voraussetzung für Schleiermachers „Reden" abgibt. Diese Vernunftkritik wird von Schleiermacher bei seiner Neukonzeption der Religion bejahend aufgenommen, zugleich aber weiterführend in ein anderes Licht gestellt. In den „Reden" konkurriert die Grundaffirmation mit der sie überlagernden Polemik. Dadurch bekommt Schleiermachers Verhältnis zu Kant etwas Schwimmendes. Es wird auf den ersten Blick nicht und auf den zweiten kaum ersichtlich, wieviel Schleiermacher der Kantischen Vernunftkritik verdankt. Die prononcierte Lobeserhebung Spinozas ist immer wieder als Absage an die Kantische und Fichtesche Transzendentalphilosophie verstanden worden. Zumindest ist aus dem Kontext der „Reden" leicht zu ersehen, daß Schleiermachers Verhältnis zu Spinoza mit dem zu Kant eng verknüpft ist. Dem Einfluß dieser beiden Philosophen auf Schleiermacher ist die Forschung verschiedentlich nachgegangen, besonders seitdem der frühe Schleiermacher mit seinen heterodox-häretischen Einsichten und Einstellungen das Interesse in besonderem Maße auf sich zog. Diese interpretative Zuwendung hat aber bis heute zu keinem allgemeingeltenden Ergebnis geführt. Das klassische Dokument zur Erforschung des frühen Schleiermacher ist der 1870 erschienene erste Band von Wilhelm Diltheys „Leben Schleiermachers". Dieses Werk ist Fragment geblieben, mehr als diesen ersten Band hat Dilthey nicht publiziert.8 Dilthey schildert die Entwicklung Schleiermachers, seinen persönlichen Werdegang und die Ausformung 8
Dilthey: Leben Schleiermachers, 1. [einziger] Bd, Berlin 1870; 2. Aufl. vermehrt um Stücke der Fortsetzung aus dem Nachlasse des Verfassers, ed. H. Mulert, Berlin/Leipzig 1922; 3. Aufl. auf Grund des Textes der 1. Aufl. von 1870 und der Zusätze aus dem Nachlaß, ed. M. Redeker, 2 Halbbde, Berlin 1970. Die von Dilthey nachgelassenen Manuskripte zur Darstellung des Schleiermacherschen Systems hat M. Redeker als 2. Bd des „Leben Schleiermachers" (2 Halbbde, Berlin 1966) herausgegeben.
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seiner Lebensansicht von seiner Kindheit bis zu seiner Übersiedlung nach Stolpe 1802. Eine große äußerliche und innerliche Zäsur setzt Dilthey ins Jahr 1796. Hier enden für ihn Schleiermachers durch Herrnhutische Frömmigkeit, Hallesche Aufklärung und besonders durch die Kant-Rezeption geprägten „Jungendjahre und erste Bildung"9 und hebt die „Fülle des Lebens"10 im Kreis der Frühromantiker an. Dilthey schreibt im strengen Sinne eine Biographie, die Entwicklungsgeschichte einer sich vollkommen individualisierenden Persönlichkeit, die sich in der Begegnung und Auseinandersetzung mit mannigfaltigen geistigen und sozialen Strömungen ihre sittlich-religiöse Welt aufbaut. Die Darstellung und Analyse der Schleiermacherschen Texte und der in diesen vorgetragenen wissenschaftlichen Konzeptionen haben für Dilthey kein eigenes Gewicht, sondern sind Bausteine für das Verstehen der Persönlichkeit. Das ist die Stärke und Schwäche dieses Werkes. Dilthey kann das ganze Spektrum der Schleiermacherschen Produktivität, die Mannigfaltigkeit der in sie eingehenden Anregungen und die Vielfalt der Weiterbildungen einfangen; doch alle Texte werden immer als Ausdruck dieser Persönlichkeit gelesen, die einzelnen Argumentationen nicht gesichtet und auf ihre Stringenz geprüft. Dilthey hat eine ausgeprägte Neigung zu umfassender Würdigung der großen geschichtlichen Prozesse, zur Inanspruchnahme der Hauptlinien der geschichtlichen Entwicklung. Er legt das Schwergewicht auf drei Leistungen Schleiermachers: auf sein vertieftes und befreites Verständnis der Frömmigkeit, auf seine Konzeption einer bildenden Ethik im Gegensatz zu Kants beschränkender Ethik und auf seine Begründung der Individualitätsidee. Schleiermacher ist der große Reformer in der nachreformatorischen Frömmigkeitsgeschichte, das sittliche Genie, das Leben und sittliches Ideal in Einklang bringt, die unverwechselbar ausgearbeitete Persönlichkeit. Diltheys Werk hat in zweierlei Hinsicht Geschichte gemacht, hat sich in zweierlei Hinsicht in den Rang einer klassischen Biographie erhoben. Zum einen sichert die völlig neuartige Konzeption, das methodische Vorgehen und der weitgreifende Interpretationsrahmen diesem Werk epochale Bedeutung: Es ist der Erstling einer lebensgeschichtlichen Philosophieauffassung, die Philosophie wesentlich als ideenmäßigen Ausdruck unmittelbarer Lebensbewegungen versteht und die sich selbst am besten in Gestalt einer Biographie darstellen kann. Im Nachvollzug vergangener Ideenproduktion eröffnet sich das Verständnis für die eigene Lebenswirk9 10
Dilthey: Leben I/l 3 , V Dilthey: Leben I/l 3 , VI
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Einleitung
lichkeit. Ideengehalte und Philosopheme bedürfen der Entschlüsselung. Sie werden angemessen nur verstanden, wenn sie als Ausdruck des Lebensprozesses verstanden werden. Sie sind Darstellungen des ursprünglichen Erlebens. Und Dilthey hält Schleiermacher für einen besonders geeigneten Gegenstand einer lebensphilosophisch orientierten Biographie. „Die Philosophie Kants kann völlig verstanden werden ohne nähere Beschäftigung mit seiner Person und seinem Leben; Schleiermachers Bedeutung, seine Weltansicht und seine Werke bedürfen zu ihrem gründlichen Verständnis biographischer Darstellung."11 So lautet der erste Satz des Diltheyschen „Leben Schleiermachers". Der erste Teilsatz beinhaltet zwar eine für das Konzept der Lebensphilosophie, seinen Erklärungs- und Verstehensanspruch schwer begreifliche Einschränkung, doch der zweite Teilsatz formuliert in aller Kürze die konzeptionelle These Diltheys. Diese These wird an Schleiermacher exemplarisch durchgeführt. Dilthey erweitert sie später zu einem umfassenden Konzept der verstehenden Psychologie als dem Herzstück der Lebensphilosophie. Zum ändern sind es Gehalt und Stil, die dieser Biographie ihren herausragenden Rang sichern. Dilthey schöpft aus einer ungewöhnlichen Fülle biographischen Materials sowohl bei Schleiermacher als auch bei den Anregern. Bei Schleiermacher wertet Dilthey nicht nur veröffentlichte und unveröffentlichte Briefe aus, sondern er macht in einem selbständig paginierten Anhang unter dem Titel „Denkmale der inneren Entwicklung Schleiermachers, erläutert durch kritische Untersuchungen" auch die wichtigsten nachgelassenen Jugendschriften auszugsweise bekannt.12 Auf dieser Quellensammlung fußte die weitere Forschung.13 Dilthey schafft es, den gesamten Kranz der die deutsche Geistesgeschichte des 18. Jahrhunderts prägenden Philosophen, Theologen, Dichter und Kritiker in die Biographie Schleiermachers hineinzuflechten. Ihren Beitrag zur Schleiermacherschen Lebenssicht, deren organisierendes Zentrum und deren Eigentümlichkeiten er dadurch profiliert, will er herausarbeiten. Das geht nicht anders als durch zum Teil sehr ausführliche Exkurse, die keinen direkten Bezug zur Schleiermacherschen Biographie haben, die aber nötig sind, damit Dilthey sein Gesamtbild, in das er die Schleiermachersche Persönlichkeit und deren Entwicklung im Geflecht ihrer verschiedenen Rezep11 12
13
Dilthey: Leben I/l3, XXXIII Die „Denkmale" sind nur der l. Aufl. als selbständig paginierter Anhang beigegeben. In der 2. und 3. Aufl. sind sie nicht abgedruckt. Schleiermachers Jugendschriften liegen jetzt vollständig ediert vor in KGA I/l. Jugendschriften 1787-1796, ed. G. Meckenstock, Berlin/New York 1983.
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tionen und Abgrenzungen einzeichnen will, nicht nur in Umrissen, sondern ziemlich ausgeführt entfalten kann. Diltheys genetische Methode gibt seinem Verständnis des Schleiermacherschen Ideenkosmos eine anschauliche geschichtliche Tiefenschärfe. Eine englischsprachige Abhandlung der jüngsten Zeit läßt in manchen Zügen den Geist Diltheys Wiederaufleben. Die Monographie „Schleiermacher's Early Philosophy of Life. Determinism, Freedom, and Phantasy" (Harvard 1982) von Albert Black well schildert unter den im Untertitel genannten Leitbegriffen die drei Stadien der Schleiermacherschen Entwicklung vom Ende seiner Hallenser Studienzeit 1789 bis zum Beginn seiner Hallenser Lehrtätigkeit 1804. Die Abfolge der drei Leitbegriffe hält Blackwell sowohl von der immanenten Begriffslogik als auch von der Schleiermacherschen Biographie her für die präziseste Erfassung der die Schleiermachersche Entwicklung prägenden Sachthemen und Einsichten, ohne daß Blackwell damit einen exklusiven Zugang zum Schleiermacherschen Lebensbild beanspruchte. Diese Monographie ist von der Sachlage her konzipiert, daß in der englischsprachigen Schleiermacher-Literatur seine frühe Entwicklung bisher keine eingehende Darstellung gefunden hat. Blackwell läßt sich außerdem in der Nachfolge Diltheys von der Überzeugung leiten, daß Schleiermachers Ideenproduktion angemessen nur in engster Korrelation mit seinem Leben und seiner geistig-sozialen Umgebung verstanden werden kann. Die Kombination von biographischer und analytischer Textbehandlung kennzeichnet deshalb den gesamten Untersuchungsgang dieser Monographie.14 Dabei liegt im ersten Teil (1789 — 1795) das Schwergewicht mehr auf dem analytischen15, im zweiten (1796-1799) und dritten (1800-1804) Teil mehr auf dem biographischen Duktus. Doch ist grundsätzlich die Verzahnung durchgehalten, allerdings nicht mit der wünschenswerten methodischen Strenge und Differenziertheit. Es ist sichtbar Blackwells Bestreben, in Anlehnung an Dilthey die gesamte individuelle und zeitgenössische Lebenswelt der Jahrhundert14 15
Vgl. Blackwell: Schleiermacher 3 Im ersten bis 1795 reichenden Teil legt Blackwell das Schwergewicht auf das umfangreiche Manuskript „Über die Freiheit", das er im Original eingesehen hat. Blackwell ist es weniger wichtig, die Schleiermachersche Argumentation im Detail nachzuzeichnen und zu erfassen, als vielmehr ihre großen Thesen in die damalige Diskussionslage einzupassen und von hier aus zu konturieren. So zieht er einerseits Aussagen von Autoren heran, die Schleiermacher nicht gekannt hat. Andererseits greift er weit voraus, um ex eventu seine Interpretation abzusichern. Er deutet dann von den Konsequenzen her. Dabei wird manchmal undeutlich, was Schleiermacher selbst damals gesagt hat und was er hätte sagen müssen.
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Einleitung
wende neu entstehen zu lassen. Er zitiert sehr ausführlich übersetzend aus den Quellen, die ja englischsprachig oft nicht verfügbar sind. Die erste Phase der Jugendentwicklung, der Ausarbeitung des Determinismus entwickelt er von der kritischen Abgrenzung gegen Kant her. Er geht dabei nicht näher auf die Hallesche Schulphilosophie ein. Auch die Auseinandersetzung mit Spinoza spielt keine herausragende Rolle. Seine Methode, Schleiermachersche Gedanken durch angeblich ähnliche Thesen anderer Autoren zu erhellen, ist deshalb problematisch, weil der jeweilige Kontext ausgeblendet wird. Abgesehen von Einzelfehlern führt die Farbigkeit und die Materialfülle eher zu einem leichten Verschwimmen, einem Undeutlichwerden der Konturen. Mit seiner imponierenden materialgesättigten Darstellung prägte Dilthey auf Dauer die weitere Forschung. Dabei sind Eigentümlichkeiten, die einen Vorbehalt geradezu herausfordern, unübersehbar. Seine Textbehandlung ist nämlich höchst ambivalent. Einerseits zieht er eine Vielzahl von Quellen heran, andererseits wertet er diese Quellen sehr eklektisch aus. Einerseits bringt er eine Vielzahl von Entwicklungsfaktoren ins Spiel, andererseits setzt er seinen lebensphilosophischen Interpretationsrahmen bei allen Einzeluntersuchungen sehr markant durch. Einerseits geht er bei allen Anregern Schleiermachers bis in die feineren Verästelungen der Gedankenbildung und der Denkmotive hinein, andererseits erörtert und würdigt er gar nicht die gedankliche Konsistenz der Texte, die Stringenz der Argumentation, sondern die Texte werden gleich auf ihre Botschaft hinsichtlich des zugrundeliegenden Lebensprozesses hin entschlüsselt. Dadurch gewinnt oft eine relativ textferne, bestimmten lebensphilosophischen Leitlinien folgende Interpretation die Oberhand. Die mangelnde Würdigung der Einzeltexte und der in ihnen vorgetragenen Argumente zeigt sich besonders bei seiner Darstellung der Schleiermacherschen Auseinandersetzung mit Kant, der er ja besondere Bedeutung zumißt. Dilthey entwickelt zwar zusammenhängend sein eigenes Verständnis von Kant; doch seine Darstellung Kants bezieht er nie ableitend im einzelnen auf Schleiermacher; deshalb bleibt trotz aller Ausführlichkeit unscharf, wo und wie Schleiermacher Kant rezipiert, wo er ihn aufnimmt und wie er weiterdenkt, wo er einhakt und wie er umbaut. Indem Schleiermachers Persönlichkeit, sein Lebens- und Bildungsprozeß im Vordergrund stehen, sind Diltheys Interpretationsprämissen, sein lebensphilosophisches Anliegen ziemlich ungebremst wirksam. Schleiermachers Argumente werden nicht für sich ernst genommen, sondern immer nur als Beiträge zum allgemeinen Lebensprozeß gewürdigt. Dadurch fließen manche Vorurteile in die Darstellung, aber auch in die Quellenedition
Einleitung
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ein.16 Abgesehen von Einzelfehlern dabei hat Dilthey bedauerlicherweise nicht das volle Nachlaßmaterial präsentiert, das gerade für die Beurteilung und das Verständnis des frühen Schleiermachers so wichtig ist. Er verstößt damit gegen seinen eigenen Ansatz.17 Schleiermacher ist zu offensichtlich der Vorläufer Diltheys, ist zu eindeutig Lebensphilosoph. Die große Leistungskraft des Diltheyschen Interpretationsverfahrens geht auf Kosten des Abstandes von ihrem Gegenstand. Nach den Ausführungen Diltheys bleiben mehrere Leitfragen offen: 1) Lassen sich die Schleiermacherschen Texte, wie so oft behauptet, nur im Konzext seines Lebens verstehen? Haben sie keine eigene argumentative Kraft? Sind sie von den Werken Kants und Fichtes so verschieden? Begreift man die Texte nur, wenn man Schleiermacher, das Genie der Sittlichkeit, als den Schreiber dabei sieht? 2) Welche Bedeutung und welches Gewicht hat Schleiermachers Auseinandersetzung mit Kant für die Herausbildung seiner eigenen Position? Wie hat er Kant gelesen? Was war ihm an Kant wichtig, dessen theoretische oder dessen praktische Untersuchungen? Was waren seine eigenen Verstehensvoraussetzungen, was seine Interessen, was seine Untersuchungsergebnisse? 3) Welche Bedeutung hat Spinoza für Schleiermacher? Kann man ihn als einen Spinozisten charakterisieren? Wie hat er Spinoza gelesen? In welchem Umfang und bei welchen Inhalten sind Spinozasche Gedanken in Schleiermachers Konzeption eingeflossen? Hat Jacobi neben Spinoza einen eigenständigen Einfluß auf Schleiermacher? Läßt sich Schleiermachers Frömmigkeitsauffassung als pantheistischer Mystizismus begreifen? Welches Anliegen ist bei seiner Neufassung des Religionsbegriffs maßgebend? Welches sind seine imaginären Gesprächspartner, auf die er seine „Reden" bezieht? 4) Wie hoch ist der Einfluß der Frühromantiker, besonders Friedrich Schlegels auf Schleiermacher zu veranschlagen? Kann Schleiermacher als Protagonist der Frühromantik verstanden werden? Liegt zwischen der Jugendphase und der Berliner Phase ein Bruch? Wie steht es überhaupt mit der Berechtigung der Periodisierung bei Schleiermacher? Gibt es große Wandlungen? 16
17
Vgl. Meckenstock: Diltheys Edition der Schleiermacherschen Jugendschriften, in: Internationaler Schleiermacherkongreß 1984, ed. K.-V. Selge, Berlin/New York 1985, Teilbd 2, S. 1229-1242 Diltheys Hermeneutik der Texte als Produkte des Lebensprozesses hätte eine lückenlose Erfassung der biographischen und literarischen Zeugnisse des jungen Schleiermacher erforderlich gemacht.
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Einleitung
5) Welche Bedeutung für seine Entwicklung hat seine Herrnhutische Jugendfrömmigkeit und welche die Hallesche Schulphilosophie? Zwei unabhängig voneinander und etwa gleichzeitig entstandene neuere Untersuchungen haben die letzte Leitfrage, von der aus sich auch bedeutsame Folgen für die Einschätzung der Kant- und Spinoza-Rezeption eröffnen, kontrovers beantwortet. Beiden gemeinsam ist eine Herabstufung des Kantischen Einflusses. Die erste legt das Hauptgewicht auf die Herrnhutische Frömmigkeit, die andere auf die Hallesche Schulphilosophie. Die Untersuchung „Christus im Leben Schleiermachers. Vom Herrnhuter zum Spinozisten" (Göttingen 1972) von Erwin Herbert Ulrich Quapp zielt auf eine Vertiefung des Verständnisses der Schleiermacherschen „Reden über die Religion", indem sie die Gesamtentwicklung Schleiermachers von 1778 bis 1796 unter dem Leitgesichtspunkt der Christologie zu erfassen versucht.18 Die These dieser Arbeit, die sich selbst als „historische Untersuchung"19 charakterisiert, ist die von der Zentralstellung der Christologie für das Schleiermachersche Denken. „Nur Vorurteile können den Blick dafür trüben, daß die Christologie das Hauptthema Schleiermachers gewesen ist."20 Aus der Kombination von Abzweckung und These ergibt sich Quapps methodisches Vorgehen, die biographischen Materialien, die Predigten und die frühen philosophischen und theologischen Manuskripte immer im Blick auf den Zielpunkt der „Reden" auszuwerten, „um die Gewichtigkeit einer Veränderung abmessen zu können durch das, was sie zu den Reden als Bauelement in Schleiermachers System einzutragen hatten."21 Die Christologie hält Quapp für die Konstante in Schleiermachers Entwicklung, der sich alle anderen Momente zuordnen lassen und die diese Momente integriert, so daß eine Darstellung der Christologie zugleich eine Darstellung der Gesamtentwicklung ist. „Die Beziehung zu Christus war nämlich über weite Strecken kein Teilaspekt der Theologie Schleiermachers, sondern ein Totalaspekt"22. Quapp will die Diltheysche Darstellung verbessern, d. h. präzisieren und korrigieren.23 Er will Schleiermacher in seine geistige Umwelt einzeichnen und die verschiedenen Abhängigkeiten genau festmachen. Dabei kommt er zu willkürlichen oder auch gewaltsamen Festlegungen bestimmter Traditionslinien, ihrem Wiedererkennen in bestimmten literarischen 18 19 20 21 22 23
Vgl. Quapp: Christus 5 Quapp: Christus 312 Quapp: Christus 313 Quapp: Christus 313 Quapp: Christus 312 Vgl. Quapp: Christus 19. 314-324
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Produkten. Manche Einzelaussagen sind widersprüchlich, etliche Details einfach falsch, manche Erschließungen gewagt, manche Kombinationen und Zuordnungen sehr konstruiert. Quapp ist in vielem unpräzise, bzw. er pflegt eine Scheinpräzision; so wenn er am Ende jedes Kapitels, das jeweils einem Lebensabschnitt gewidmet ist, vorausblickt auf die „Reden" und dabei verschiedene Eigenheiten und charakteristische Aussagen der „Reden" auf die gerade besprochenen Lebenserfahrungen bezieht. Sein diskontinuierliches Hin- und Herspringen, das gerade den Kontinuitätsbeweis erbringen soll, geht vielfach einher mit Ausblenden, willkürlichem Hervorheben, Zurechtstutzen. Viele seiner Formulierungen sind mißverständlich, so die beiden Bücherüberschriften „Schleiermachers Werden durch Christus 1778 — 1787. Vom Herrnhuter zum Aufklärer" und „Christi Werden durch Schleiermacher 1787 — 1796. Vom Aufklärer zum Spinozisten"24. Quapp hebt besonders die Prägung Schleiermachers durch das Herrnhutertum hervor. Er scheut dabei nicht vor Umbiegung oder auch Verneinung von Schleiermacherschen Selbstzeugnissen zurück. 25 Die Impulse, die Schleiermacher in Gnadenfrei, Niesky und Barby empfangen habe, wirkten latent durch alle Brüche und Umbildungen fort und schlügen sich z. B. im Anschauungs- und Gefühlsbegriff der „Reden" nieder.26 Quapp stützt sich stark auf die Abhandlung „Schleiermachers und C. G. von Brinkmanns Gang durch die Brüdergemeine", die Ernst Rudolph Meyer 1905 vorgelegt hat. Diese genaue Darstellung der Herrnhutischen Erziehung Schleiermachers 1783 —1787 ist ausgezeichnet gearbeitet und präsentiert eine ganze Anzahl neuer Quellen. Meyer geht der Frage nach, wann der Herrnhutische Einfluß des Elternhauses begann und wie er sich prägend auswirkte. Er zeichnet insofern auch ein wichtiges Stück der Schleiermacherschen Kindheitsgeschichte 1778 —1783.27 Die eigentliche Erziehung durch das Herrnhutertum in Gnadenfrei28, Niesky 29 und Barby 30 erfaßt er durch eine ins einzelne gehende Schilderung der Herrnhutischen Institutionen und Gebräuche, der Lehrer und Erzieher, der Lehrpläne und Mitschüler Schleiermachers. Er wertet dazu reiches Quel24 25 26 27 28
3)1
Quapp: Christus 7.9 Vgl. Quapp: Christus 64 Vgl. Quapp: Christus 93-97 Vgl. Meyer: Schleiermacher 1-19 Vgl. Meyer: Schleiermacher 59-73 Vgl. Meyer: Schleiermacher 74-158 Vgl. Meyer: Schleiermacher 159-244
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lenmaterial aus und kann so diese Lebensphase Schleiermachers nuanciert und anschaulich lebendig werden lassen.31 Einen zweiten Schwerpunkt bildet für Quapp die Spinoza-Rezeption Schleiermachers. Er sieht Schleiermacher ganz von Spinoza verschlungen. 32 Da Schleiermacher nicht so predigt, wie es sich für einen Spinozisten gehört, da er aber für Quapp so ganz Spinozist ist, unterstellt ihm Quapp homiletische Unredlichkeit, die von seinem Vater herstammen33, bzw. Akkomodation an den Gemeindeglauben34 sein soll. Quapp rühmt sich sehr gegenüber Dilthey, die Quellentexte selbst zur Sprache zu bringen35, während dieser nur textferne Interpretamente geliefert habe. Leider springt aber Quapp ziemlich willkürlich mit den Quellen um. Wo sie nicht in seine Interpretationslinie passen, werden sie dementiert oder umfrisiert. Und leider sind seine Einordnungen stark von äußerlichen Schematismen geprägt. Quapps eigener Verstehensrahmen ist prätentiös und verworren. In vielem trifft sein Vorwurf gegen Dilthey auf ihn selbst zu, nur daß er nicht textfern, sondern gedankenfern interpretiert. Er macht sich auf Begriffe so einen bestimmten Reim, und folglich muß es bei Schleiermacher auch so sein.36 Lobenswerterweise bereicherte Quapp die 31
32 33 34 35 36
Meyers Anliegen geht allerdings weiter. Er will nicht nur Schleiermachers Kindheitsbzw. Jugendentwicklung in ihren markanten Eigentümlichkeiten nachzeichnen, nicht nur die Verfassung und den Geist des damaligen Herrnhutertums und seiner wichtigen Repräsentanten schildern, nicht nur die Motive und den Verlauf von Schleiermachers Bruch mit dem Herrnhutertum erfassen; Meyer will auch die bleibenden Prägungen aufspüren, die in Schleiermachers Lebenswerk wirkmächtig eingesenkt sind. So kommt es, daß er in seiner Abhandlung oft weite Vorgriffe in spätere Lebens- und Arbeitsphasen Schleiermachers tut. Besonders auf die Reden „Über die Religion" geht er des öfteren ein. Bei dieser Art des Heranziehens späterer biographisch-brieflicher oder gedanklicher Äußerungen Schleiermachers werden oft Einzelheiten zu grell beleuchtet, werden Fernwirkungen offenkundiger oder latenter Art postuliert, werden Interpretationen bestimmter Gedankengänge für das Herrnhutertum in Anspruch genommen, ohne daß der jeweilige Kontext geprüft und mögliche Deutungsvarianten bedacht werden. Diese Verknüpfungen bekommen dadurch zum Teil etwas Willkürliches und Überzeichnetes. Meyer stellt Eindeutigkeiten fest, wo Vieldeutigkeit herrscht und der Deutungsmodus des Vermutens angemessen wäre. Er überschätzt insgesamt wohl die Bedeutung des Herrnhutertums Schleiermachers, indem er den tiefgreifenden Wandlungs- und Umarbeitungspozeß unterschätzt. Die bekannte und immer wieder zitierte Selbstkennzeichnung Schleiermachers als eines Herrnhuters „von einer höhern Ordnung" (Briefe l, 295) ist ja der Auslegung höchst bedürftig. Vgl. Quapp: Christus 229-263 Vgl. Quapp: Christus 246 Vgl. Quapp: Christus 247 Vgl. Quapp: Christus 316. 319 Vgl. Quapp: Christus 314
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Quellenbasis zum frühen Schleiermacher durch die Edition zweier Schleiermacherscher Manuskripte.37 Eine andere Gewichtung, eine markante neue Profilierung nimmt die kenntnisreiche und konzentrierte Untersuchung „Herkunft, Entfaltung und erste Gestalt des Systems der Wissenschaften bei Schleiermacher" (Güterloh 1974) von Eilert Herms vor. Diese Rekonstruktion der intellektuellen Entwicklungsgeschichte Schleiermachers von seiner Jugend bis zu seiner Halleschen Lehrtätigkeit 1804 mit einer markanten Zäsur durch die Jacobi-Rezeption 1793 legt entscheidendes Gewicht auf die Erhebung des geistigen Quellpunktes, des zentralen Einsichtspunktes Schleiermachers gerade im „NachVollzug des argumentativen Details"38. Und dabei kommt Herms zu völlig anderen Einschätzungen als Dilthey und die von ihm dominierte Schleiermacher-Forschung. Herms hebt zwei intellektuelle Wirkfaktoren besonders hervor, während er zwei andere eher ermäßigt. Er stuft Kant und Schlegel herab, während er Eberhard bzw. die Hallesche Schulphilosophie und Jacobi stark aufwertet. Er zielt mit seiner Darstellung auf die „Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre" (Berlin 1803) als der ersten Reifegestalt des wissenschaftlichen Denkens Schleiermachers. Herms läßt sich von dem einleuchtenden Anliegen leiten, die Voraussetzungen der Kant-Rezeption Schleiermachers genauer auszumachen. Hier steckt eine schwerwiegende implizite Kritik an Dilthey, der ja so verfährt und argumentiert, als habe Schleiermacher Kant so gelesen, wie Dilthey selbst Kant liest. Demgegenüber arbeitet Herms den Verstehenshorizont Schleiermachers heraus, indem er die Hallesche Schulphilosophie als die Denkgestalt aufweist, die Schleiermachers eigenes Denken vor der KantRezeption bestimmte und die deshalb seine Auseinandersetzung mit Kant vorprägte. Er verfährt dabei allerdings idealtypisch, indem er eine Periode reiner Eberhard-Rezeption annimmt, an die sich dann die Kant-Rezeption anschließt. Abgesehen von diesem sehr stark konstruktiven und nicht mit der biographischen Gemengelage rechnenden Verfahren, das Herms bei der Jacobi-/Spinoza-Rezeption wiederholt und das ihn zu einer Überbewertung Jacobis führt 39 , kommt bei Herms im Gegenzug zu Dilthey überhaupt die Kant-Rezeption etwas zu kurz. Er billigt zwar Kant in 37
In einem Anhang ediert Quapp Schleiermachers Manuskripte „Spinozismus" (329 — 373) und „Ueber dasjenige in Jakobis Briefen und Realismus, was den Spinoza nicht betritt und besonders über seine eigene Philosophie" (375 — 389).
38
Herms: Herkunft 17
39
Vgl. Herms: Herkunft 121. 136. 196. 200. 256. 261. 265 f
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seiner Gesamteinschätzung eine große Bedeutung zu40, doch weist er dies anders als bei Eberhard und Jacobi nicht durch Detailinterpretationen nach. Dadurch bekommt das Gesamtbild eine Schieflage. Das von Herms gezeichnete Entwicklungsbild Schleiermachers ist von bestechender Stringenz und idealtypischer Prägnanz, ganz im Gegensatz zu Quapp. Doch dürfte gerade diese Konsistenz im historischen Sinne eine Überzeichnung sein. Herms' imponierende Leistung ist weniger, als er selbst beansprucht, historischer Art 41 , sondern systematisch-konstruktiver Art. Angesichts der schmalen Quellenlage beim frühen Schleiermacher greift er häufig zum Mittel interpretatorischer Interpolationen. Er rechnet von bestimmten angeblich vorauszusetzenden Einsichten Schleiermachers hoch und vergleicht deren Konsequenzen mit Schleiermachers anderweitigen Aussagen.42 Die Übereinstimmung bucht er jeweils zu seinen Gunsten. Durch dieses Vorgehen kann er das Schweigen der Quellen in Reden verwandeln. Angesichts der schmalen Materialbasis ist aber unvermeidlich der Unsicherheitsfaktor groß. Nur eine Verbreiterung der Quellenbasis hätte da größere interpretatorische Wahrscheinlichkeit schaffen können. Doch dieser Mühe unterzog sich Herms nicht. Seine Zentralthese von Schleiermachers Theorie des unmittelbaren Realitätsbewußtseins43 bzw. von dem im unmittelbaren Realitätsbewußtsein erschlossenen unmittelbaren Selbstbewußtsein steht sowohl quellenmäßig als konzeptionell auf sandigem Grund. Mehrere Motive sind bei Herms leitend. Er will Schleiermacher aus dem Schlagschatten des Idealismusvorwurfs herausholen.44 Er will die Frage der Relevanz Schleiermachers auch für die gegenwärtige wissenschaftstheoretische Diskussion offenhalten. Er will Schleiermachers Eigenart gerade in der Abgrenzung gegen den Deutschen Idealismus schärfer profilieren. Er will die üblichen Periodisierungen der geistigen Biographie Schleiermachers aufbrechen. Er will die unverkennbare Kontinuität in der geistigen Entwicklung Schleiermachers präziser herausheben.45 Am problematischsten an dieser interpretatorischen Zentralthese ist abgesehen von ihrer sehr schmalen Quellenbasis die damit verknüpfte Aussage über den Zeitraum vor dieser Einsicht. Herms sieht Schleiermacher vor der Jacobi-Rezeption 1793 ganz im Banne der empirischen Psychologie, in deren Horizont allein er folglich 40 41 42 43 44 45
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
Herms: Herms: Herms: Herms: Herms: Herms:
Herkunft Herkunft Herkunft Herkunft Herkunft Herkunft
18. 265 16 185 u. ö. 224. 229. 235. 251 269 167
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auch die Schleiermachersche Auseinandersetzung mit Kant stellt.46 Sicherlich war Schleiermacher kein üblicher Kantianer, doch war er seit seiner Lektüre der „Critik der practischen Vernunft" um eine Verbesserung und Fortentwicklung der Vernunftkritik gerade auf ethischem Gebiet deshalb bemüht, weil er die Grundeinsicht und das Grundanliegen der Transzendentalphilosophie bejahte. Dieses grundsätzliche Bedenken gegen Herms ist mit einem anderen verbunden: er mißt der Erkenntnistheorie in seiner Darstellung zuviel Gewicht und zuviel Selbständigkeit bei, verglichen mit den bei Schleiermacher doch dominanten ethischen Erörterungen. Schleiermacher war kein ausschließlicher Anhänger der empirischen Psychologie Hallescher Provenienz, der dann im Zuge der Jacobi-Lektüre zum Theoretiker des unmittelbaren Realitätsbewußtseins wurde und mit dieser Theorie noch eine aus Spinoza herzuleitende metaphysische Theorie der Individualität verband. Er gehörte viel stärker auf die Seite der Transzendentalphilosophie, die sich von der Kantischen Vernunftkritik herschreibt. Die gleichzeitig entstandene Abhandlung „Schleiermachers Wissenschaftsbegriff. Eine Studie aufgrund seiner frühesten Abhandlungen" (Gütersloh 1973) von Fritz Weber kommt teilweise zu ähnlichen Ergebnissen wie Herms, allerdings weniger pointiert und differenziert. Weber überprüft anhand der Schleiermacherschen Jugendschriften von 1787 — 1796, wie sie ihm in Umfang und Textfassung damals vorgegeben waren47, die von Schleiermacher selbst inaugurierte Ausgangsthese, „ihn als Anhänger, wenn auch als selbständigen Anhänger Kants zu betrachten."48 Er geht von der Einsicht aus: Die Jugendschriften „beschäftigen sich alle mit ethischen Fragen (auch die Spinoza-Aufsätze bilden nur eine scheinbare Ausnahme), und sie stehen alle im Zeichen der Auseinandersetzung mit Kant."49 Weber will sein Vorgehen an einem Dilthey folgenden lebensphilosophischen Einsatz und an einer auf Erhellung der Denkstruktur und Aktualitätsgewinn zielenden Werkinterpretation orientieren.50 In der Durchführung läßt er die Werkinterpretation dominieren, aber im Sinne einer Bestandsaufnahme und Beschreibung der Standpunkte, die Schleiermacher auf bestimmten Themenfeldern eingenommen hat. Seine eigenen Erklärungen bewegen sich in den Bahnen eines instrumentalisierenden Psychologisierens.51 46
47 48 49 5)1 51
Herms behandelt im Sinne einer psychologischen Interpretation des Kritizismus auch den Freiheitsbegriff nur psychologisch (vgl. 95). Vgi. Weber: Wissenschaftsbegriff 19 Anm. l Weber: Wissenschaftsbegriff 74 Weber: Wissenschaftsbegriff 19 Vgl. Weber: Wissenschaftsbegriff 9f Vgl. z. B. Weber: Wissenschaftsbegriff 79. 87
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Nach knappen „Hinweisen aus Kindheit und frühester Jugend"52 untersucht Weber die Schleiermacherschen Jugendschriften im Vergleich mit Kant auf den Feldern von Ethik und Anthropologie sowie Erkenntnistheorie und Ontologie. Er kommt zum Ergebnis: „Schleiermacher übernimmt wohl Grundgedanken Kants: Autonomie der Sittlichkeit, moralisches Gesetz, Unterscheidung zwischen Ding an sich und Erscheinung, interpretiert sie aber in einer ganz unkantischen Weise, indem er sie in ein Denken einordnet, das in seiner Grundstruktur viel weniger mit dem Kantischen Kritizismus als mit dem vorkantischen Rationalismus, der Wolffischen Schulphilosophie verwandt ist. Die Nähe zu dieser Philosophie gerade in ihrem Gegensatz zu Kant zeigte sich an den verschiedensten Punkten: Schleiermacher versteht die Sittlichkeit im Sinne eines Ideals und leitet die sittliche Bestimmung des Menschen aus seinem natürlichen Wesen ab; er stellt anthropologisch Vernunft und Sinnlichkeit einander gegenüber und gibt der Vernunft die Aufgabe, sich über den Irrtum der Sinnlichkeit zu erheben; er verwendet erkenntnistheoretisch nicht reflektierte Vorstellungen und huldigt einem die Erfahrung hinter sich lassenden Wissenschafsbegriff."53 Anders als Herms behandelt Weber Jacobis Einfluß auf Schleiermacher gar nicht. Auch Spinozas weiterführende Impulse sind kein eigenständiges Thema für ihn. Weber beschreibt Schleiermachers spannungsreichen Standort im Kräftefeld von individuellem Bildungsideal der gefühlsbejahenden Vorromantik, rationalistischem Weltbild der älteren Aufklärung und Kantischem Kritizismus. So meint er die ermittelten Widersprüche aus einer sie in sich fassenden Einheit verstehen zu können. „Wir haben im Nebeneinander von mystischer Gefühlsbestimmtheit und ethisch geforderter Reflexion den Schlüssel zur Einheit von Schleiermachers Denken gefunden."54 Dieses Resultat beleuchtet Weber durch Ausblicke in das Werk des späteren Schleiermacher, um dann zum Thema „Die Grenzen der Wissenschaft"55 noch einmal Kontinuität und Modifikation des Schleiermacherschen Denkens in der Entwicklungslinie von den Jugendschriften zum Spätwerk anhand der Vermittlungsproblematik von Individuellem und Allgemeinem darzustellen. Weber zieht aus Einzelaussagen Schleiermachers weitreichende Konsequenzen, die durch die neuerschlossenen Quellen dementiert werden. Er folgt ausgiebig der Neigung, Entwicklungslinien über den behandelten 52 53 54 55
Vgl. Weber: Wissenschaftsbegriff 11-18 Weber: Wissenschaftsbegriff 74; vgl. auch 47f. 72f Weber: Wissenschaftsbegriff 99 Vgl. Weber: Wissenschaftsbegriff 116-143
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Zeitraum hinaus zu zeichnen und sich auch Sachgesichtspunkte von dort geben zu lassen. Dennoch bleibt seine Darstellung erstaunlich ungeschichtlich, weil er nur flächige Standpunktvergleiche vornimmt, nicht aber die jeweiligen Problemkonstellationen und weitertreibenden Denkmotive verfolgt. Sein Verfahren zeigt eine eigentümliche Gegenläufigkeit. Einerseits überbetont er um einer möglichst scharfen und präzisen Konturierung willen Einzelaussagen Schleiermachers. Dabei läßt er einen behutsamen Umgang mit den Quellen vermissen. So werden Einzelstellen mit mehr Bedeutung befrachtet, als sie im Kontext haben; und solche Einzelgedanken werden unstatthafterweiee als Merkmale für due schematisierte Gesamtsicht genommen.56 Andererseits zeigt Webers Darstellung einen Hang zur Reduktion ausgefächerter und nuancierter Argumentationen auf grob rubrizierende Weltbildaussagen.57 Schleiermachers Argumentation wird nicht detailliert nachgezeichnet und geprüft (dies war durch die damalige Quellenlage auch sehr erschwert), sondern es werden nur die Ergebnisse verglichen und bewertet. Die jüngst erschienene Untersuchung „Schleiermacher und die Frühromantik. Eine literaturgeschichtliche Studie zum romantischen Religionsverständnis und Menschenbild am Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland" (Weimar/Göttingen 1986) von Kurt Nowak thematisiert sehr kenntnisreich primär das frühromantische Werk Schleiermachers58, doch schildert sie auch in Gestalt einer „hinführenden Skizze"59 den Entwicklungsgang Schleiermachers bis 1797. Glänzend bündelt Nowak in seiner interdisziplinären Studie die Forschungstraditionen von Literatur-, Kirchen-, Profan-, Philosophie- und Theologiegeschichtsschreibung. So beginnt er einleitungsweise mit einem vorzüglichen Bericht über die Forschungsgeschichte zum jungen Schleiermacher und zur Romantik. In „einer Vermittlung von historischer, biografischer und systematisch-problemorientierter Betrachtung"60 will Nowak das Früh werk Schleiermachers erschließen. Die knappe Schilderung „Zum historisch-sozialen Hintergrund der Frühromantik"61 betont besonders die Bedeutung der Französischen Revolution. In seiner ausführlichen Skizze „Werdegang Schleiermachers bis zum Eintritt in den frühromantischen Kreis"62 stellt Nowak 56 57 58 59 60 61 62
Vgl. z. B. Weber: Wissenschaftsbegriff 36 Vgl. z. B. Weber: Wissenschaftsbegriff 89. 95 Vgl. Nowak: Schleiermacher 119-295 Nowak: Schleiermacher 87 Nowak: Schleiermacher 42 Vgl. Nowak: Schleiermacher 43-57 Vgl. Nowak: Schleiermacher 58-105
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sowohl die Lebensstadien als auch die literarischen Produktionen sowie den politischen Standort des jungen Schleiermacher dar. Aufgrund eigener Quellenstudien schildert er detailliert Schleiermachers Predigertätigkeit an der Berliner Charite. Wohl wegen seines primär frühromantischen Untersuchungsschwerpunktes nimmt Nowak leider keine ins einzelne gehende Darstellung und Prüfung der ihm vollständig vorliegenden philosophischen Jugendschriften mit ihren genauen Begriffsabgrenzungen und ausgefeilten Argumentationen vor. Er schließt sich in seiner Bestimmung des intellektuellen Standortes Schleiermachers weitgehend Herms an.63 Dessen Zuordnungen und Charakterisierungen geben den Interpretationsrahmen für seine Darstellung ab. So sieht er Schleiermachers kritisches Weiterdenken der Kantischen Behandlung der Freiheitsidee „auf eine naturalistischpsychologische Begründung des Sittengesetzes"64 hinzielen. Dementsprechend deutet Nowak auch die transzendentalphilosophischen Erörterungsgänge und „weitschweifigen philosophischen Deduktionen" im Sinne eines psychologisch-naturalistischen Empirismus, den er als Ertrag der Schleiermacherschen Kant-Kritik fixiert.65 Die vorliegende Untersuchung fußt auf dem ersten Band „Jugendschriften 1787 — 1796" der kritischen Schleiermacher-Gesamtausgabe. Das dort Ende 1983 erstmals vollständig vorgelegte Quellenmaterial, das vorher größtenteils nur auszugsweise oder beschreibungsweise von Wilhelm Dilthey bekanntgemacht worden oder sogar gänzlich unbekannt war, „gibt der Beschäftigung mit dem Denken des jungen Schleiermacher eine neue solide Basis"66. Bisher ist die Forschung zum jungen Schleiermacher zumeist interpolierend-konstruierend verfahren: da das Quellenmaterial nur spärlich und unzureichend vorlag, hat man die vielen Dunkelstellen entweder durch das Ausziehen biographischer oder systematisch-traditionsgeschichtlicher Linien zu erhellen gesucht. Doch diese Brückenschläge geschahen oft auf sandigem Untergrund. Durch die vollständige Edition der Schleiermacherschen Jugendschriften ist augenfällig geworden, „auf welch fragmentarischen Fundamenten die Forschung zum jungen Schleiermacher lange Jahre ruhte, indem sie sich vorbehaltlos den ,Denkmalen' anvertraute"67. 63 64 65 66 67
Vgl. Nowak: 67. 83. 85. 90f Nowak: Schleiermacher 74f Vgl. Nowak: Schleiermacher 78; Zitat ebd. Scholtz: Die Philosophie Schleiermachers VII Nowak: Die neue Schleiermacher-Ausgabe, in: Theologische Literaturzeitung 109 (Berlin 1984), Sp. 925
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Die gewählte Thematik der vorliegenden Untersuchung folgt dem gedanklichen Gefalle der Schleiermacherschen Jugendschriften. Der Untertitel „Die Auseinandersetzung des frühen Schleiermacher mit Kant und Spinoza 1789 — 1794" nennt diejenigen Autoren, die für den frühen Schleiermacher vorzüglich wichtig waren. Das Titelstichwort „Deterministische Ethik" gibt Schleiermachers primäre eigene Zielsetzung für diesen Zeitraum an.68 Seine Jugendschriften sind weitgehend Fragen der praktischen Philosophie gewidmet; theoretische Überlegungen69 sind ziemlich selten. Ersichtlich ist das besondere Anliegen Schleiermachers, die Grundlegung für eine deterministische Ethik überzeugend zu formulieren. Schleiermacher selbst bezeichnet sich als „Deterministen"70. Und er kennt die ganze Reihe von Einwürfen, die allen Erklärungen, die deterministisch geprägt scheinen, entgegengebracht werden. Dieser Herausforderung sucht er durch eine genaue und stimmige Begriffsbildung zu begegnen. Die thematische Hauptlinie der Jugendschriften ist also ethischer Art. 71 68
69
70
71
In seinem Brief vom 28. März 1801 an Friedrich Heinrich Christian Schwarz urteilte Schleiermacher rückblickend auf die Zeit seiner „inneren Gärung", daß „die Freiheit des Willens [. . .] der einzige Gegenstand war, an den ich denken konnte" (Schleiermachers Briefwechsel mit Friedrich Heinrich Christian Schwarz, edd. H. Mulert/H. Meisner, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 53, Stuttgart 1934, S. 265). Schleiermacher kennt sowohl das Begriffspaar praktisch/theoretisch als auch dasjenige praktisch/spekulativ. Zumeist gebraucht er theoretisch und spekulativ promiscue. Spekulativ kann allerdings an einigen Stellen auch dem Begriffspaar praktisch-theoretisch übergeordnet sein, indem damit die Vernunfttätigkeit auf der zweiten Reflexionsebene (Reflexion über die Reflexion) bezeichnet wird. Um der terminologischen Eindeutigkeit willen weise ich durchweg das Begriffspaar theoretisch/praktisch der ersten Reflexionsebene zu: theoretisch meint das vernünftige Bemühen um die gesetzmäßige Erklärung von Ist-Weltbeständen, meint die Reflexion auf die Prinzipien, die für die Natur im weitesten Sinne konstitutiv sind; praktisch dagegen bezeichnet das vernünftige Bemühen um die gesetzmäßige Erklärung von Soll-Tatbeständen, meint die Reflexion auf die Prinzipien, die für die Freiheit im weitesten Sinne konstitutiv sind. Mit dem Begriff der Spekulation kennzeichne ich demgegenüber diejenige Vernunfttätigkeit, die die auf der ersten Reflexionsstufe in theoretischer und praktischer Philosophie gewonnenen Kategorien und Gesetze noch einmal auf die Möglichkeit ihres Zustandekommens hin reflektiert, die somit ihre eigene erklärende Zuwendung zu Natur und Freiheit selbst nach ihren Bedingungen und Gesetzmäßigkeiten hin thematisiert und erneut zu begreifen sucht. Spekulation ist Begreifen des Begreifens, das sich selbst als Wissen wissende Wissen sowohl nach der methodisch-formellen als nach der inhaltlichen Seite. KGA I/l, 244, 12 Der häufig durcheinander gehende Gebrauch von „Ethik", „Moral" und „Sittlichkeit" (und ihrer Adjektive) führt zu mancher Verwirrung. Im folgenden werden diese drei Wörter zur Kennzeichnung dreier Erklärungsstufen verwendet. Der Begriff der „Sittlichkeit" ist der Ebene der Unmittelbarkeit zugeordnet: „ Sittlichkeit" meint demzufolge
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Das zweite Titelstichwort „Kritische Theologie" bezeichnet den Strang von Erörterungen, in denen Schleiermacher zumeist in enger Verknüpfung mit ethischen Überlegungen religiöse bzw. theologische Themen aufgreift und abhandelt. Auch wenn nur eins72 der insgesamt 19 Manuskripte sich primär mit einer religiösen Frage beschäftigt, gibt es durchaus eine theologische Nebenlinie. Die vielfältigen, allerdings eher beiläufigen Zeugnisse, wie Schleiermacher in diesem Lebensabschnitt theologische Themen anschneidet und abhandelt, inwieweit er Anleihen bei der dogmatischen Überlieferung macht oder diese Überlieferung kritisiert bzw. stillschweigend übernimmt oder übergeht, diese Zeugnisse stehen fast ausschließlich im Zusammenhang seiner Überlegungen zur Sittlichkeit. Nur durch diesen Kontext können sie angemessen gewürdigt werden. Indem sie als eine Nebenlinie untersucht werden, werden sie zwar herausgehoben, aber in ihrer Bedeutung und ihrer Aussagekraft nicht überzeichnet. Das Untersuchungsthema „Deterministische Ethik und kritische Theologie" verknüpft zwei Erörterungskomplexe von zweifellos unterschiedlichem Gewicht. Die Schleiermachers Denken beherrschende Thematik kommt neben einen allerdings wichtigen Seitenstrang seines Denkens zu stehen. Doch ist diese Nebenordnung gerade keine sachfremde Addition völlig voneinander abgetrennter Themenfelder, sondern in dieser Zuordnung spricht sich die sachliche Verknüpfung von Ethik und Theologie
72
den Vollzug lebenspraktischer Freiheitsakte einschließlich der damit verbundenen Impulse und Emotionen, bezeichnet das auf die Realisierung des Guten ausgehende Handeln in seinem aktuellen Vollzug inklusive der leitenden Motive; wenn von Sittlichkeit die Rede ist, so ist diese Unmittelbarlceit des Freiheitshandelns im Blick. Der Begriff der „Moral" ist der Ebene der Reflexion zugeordnet; in der „Moral" werden die Regeln und Maximen formuliert, die das Freiheitshandeln rational zu ordnen und zu leiten erlauben; hier wird das Verhältnis von Mitteln zu Zwecksetzungen bedacht; hier werden die Handlungsfolgen kalkuliert, werden Zwecke in eine Hierarchie gebracht, wird das Freiheitshandeln beobachtet und auf Regeln hin ausgewertet. Der Begriff der „Ethik" ist der Ebene der durchgeklärten wissenschaftlichen Reflexion der noch partikularen Moralsätze zugeordnet: die „Ethik" ermittelt die konstituierenden Freiheitsprinzipien und bringt die Handlungsmaximen in ein stimmiges System; sie ist die wissenschaftliche Erklärung, die die Kategorien zum Verständnis der Freiheitssphäre aufweist und grundsätzliche Rechenschaft über die Möglichkeit und das Ausüben des Freiheitshandelns gibt. Schleiermacher verwendet überwiegend das Wort „moralisch" für alle drei Erklärungsstufen. Den terminus „moralisches Gesetz" gebraucht er sowohl formal zur Kennzeichnung für jedes mögliche sittliches Handeln leitendes Gesetz als auch inhaltlich-qualifiziert für das die praktische Vernunft artikulierende Sittengesetz. Die folgende Untersuchung unterscheidet terminologisch zwischen dem formalen „Sittlichkeitsgesetz" und dem inhaltlich-qualifizierten „praktischen Vernunftgesetz". Vgl. Briefe „An Cecilie", KGA I/l, 191-212
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beim jungen Schleiermacher aus. Beide Themenkreise sind zudem dadurch verbunden, daß sie durch die Kantische Vernunftkritik mit einer epochal neuen Situation konfrontiert wurden und darauf nur mit der völligen Erneuerung ihres jeweiligen Erklärungsgefüges antworten können. Das gewählte Untersuchungsthema hat also nicht nur den Vorteil, den größten Teil der überlieferten Schleiermacherschen Jugendschriften zentral erschließen zu können, sondern zugleich Schleiermachers argumentativen Beitrag zu den neuzeitlichen Konstitutionsfragen ermitteln zu können. Von dieser Untersuchung führt auch eine Erklärungslinie zu den Sachproblemen, die Schleiermacher in den „Reden" durch den Namen Spinoza personifizierte. Die gewählte Thematik erlaubt die nahezu vollständige Erfassung der von Schleiermacher in seinen Jugendschriften abgehandelten Themen. Ausgeblendet werden nur die Studien zur antiken Philosophie: In seinen „Anmerkungen zu Aristoteles: Nikomachische Ethik 8 —9" 73 verarbeitete Schleiermacher noch während seiner Hallenser Studienzeit 1788 Anregungen seines philosophischen Lehrers Johann August Eberhard zu einem Anmerkungskommentar, den Eberhard selbst durchsah und zu dem er Verbesserungsvorschläge machte. Diese Anmerkungen ergänzte Schleiermacher 1789 in Drossen durch eine Übersetzung des entsprechenden Textteils der Nikomachischen Ethik.74 Ebenfalls in Drossen 1789 exzerpierte er den Anfang der Aristotelischen „Methaphysik"75 und machte sich dabei einige Anmerkungen. In seiner Berliner Schulamtskandidatenzeit 1793/94 fertigte Schleiermacher auf Grund äußerer Veranlassung die philologische Studie „Abschrift und textkritische Erörterung von Diogenes Laertius: De vitis philosophorum 2, 86 —93"76 und seine kurze fragmentarische Abhandlung „Philosophia politica Platonis et Aristotelis"77 an. In denselben Lebenszusammenhang gehört auch die Auftragsarbeit für die Kandidatenausbildung „Über den Geschichtsunterricht"78. Sieht man von der kurzen philologischen Diogenes Laertius-Studie ab, so beschäftigen sich seine Manuskripte zur antiken Philosophie vornehmlich mit Aristoteles. Dabei gehört nur das mit wenigen eigenen Bemerkungen durchsetzte Exzerpt der Aristotelischen „Metaphysik" der theoretischen Philosophie zu. Dieses Manuskript gewährt allerdings, außer daß es ein Interesse 73
74 75 76 77 78
Vgl. KG A I/l, 3-43 Vgl. KGA I/l, 47-80 Vgl. KGA I/l, 167-175 Vgl. KGA I/l, 475-485 Vgl. KGA I/l, 501-509 Vgl. KGA I/l, 489-497
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Schleiermachers für die Prinzipienlehre der theoretischen Philosophie dokumentiert, kaum genauere Aufschlüsse über seine eigenen Gedanken und Überlegungen. Kants Vernunftkritik wird hier bereits für das Verständnis der Aristotelischen Gedanken fruchtbar gemacht.79 Die anderen beiden philosophischen Manuskripte erörtern ethische Themen, und zwar Themen der materialen Ethik. In seinen frühen „Anmerkungen zur Nikomachischen Ethik" ist Kant noch nicht als Gesprächspartner präsent. Die Hallesche Schulphilosophie (Eberhard) gibt den Verständnisrahmen. Diese „Anmerkungen" lassen sich ihre Themen von Aristoteles geben, dessen Aussagen zur Freundschaftslehre sie zu präzisieren, zu korrigieren und auf die Konsequenzen hin auszuformulieren suchen. Schleiermachers Argumentation zielt, sich Distinktionen erarbeitend, auf phänomenologische Darstellung und Analyse moralischer Grundkonstellationen der Geselligkeit, besonders der Freundschaft. Der Gefühls- bzw. Empfindungsbegriff ist dabei höchst bedeutsam. Die „Anmerkungen" bleiben im Erörterungskreis der materialen Behandlung der praktischen Philosophie. Sie streifen wohl die Grundlegungsproblematik von Sittlichkeit, machen die Prinzipienfrage aber selbst nie zum Gegenstand. Auch Schleiermachers 1794 entstandenes lateinisches Manuskript „Philosophia politica Platonis et Aristotelis" beschäftigt sich mit einem Thema der materialen Ethik. Dieser Vergleich der Platonischen mit der Aristotelischen Rechts-, Staats- und Gesellschaftslehre ist nur hinsichtlich der je leitenden Grundbegriffe skizzenhaft ausgeführt. Die materiale Ethik wird nicht verlassen; die Grundlegung von Sittlichkeit im Sinne einer deterministischen Ethik wird nicht erörtert. Kant gehört hier in selbstverständlicher Weise zum Kontext der Überlegungen.80 Außer den zumeist kurzen Studien zur antiken Philosophie und der didaktischen Überlegung zur Konzeption des Geschichtsunterrichts wird in vorliegender Untersuchung nur noch die fragmentarische Abhandlung „Über den Stil"81 ausgeblendet, die Schleiermacher im Zusammenhang seiner Schlobittener Hauslehrerzeit wohl zu seiner eigenen Unterrichtsvorbereitung oder -nachbereitung schrieb. Alle diese Ausarbeitungen haben vom sachlichen Gewicht her eher marginalen Charakter. Für die Gliederung der vorliegenden Untersuchung sind durch die beiden Themenfelder Ethik und Theologie bereits die leitenden systematischen Gesichtspunkte ausgewiesen. Das nun publizierte Quellenmaterial wird in chronologischer Ordnung unter diesen beiden Gesichtspunkten 79 80
81
Vgl. KGA I/l, 169, 3-11 Vgl. KGA I/l, 502, 25 Vgl. KGA I/l, 359-361. 365-390
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gesichtet und ausgewertet, wobei die zeitliche und sachliche Dominanz der Kant-Rezeption und das Nachfolgen der Spinoza-Rezeption eine weitere Zweiteilung des Aufbaus an die Hand geben. Es wird also zunächst über Schleiermachers Auseinandersetzung mit Kant unter ethischem und theologischem Blickwinkel in jeweils chronologischer Ordnung und dann über seine Begegnung mit Spinoza unter denselben Aspekten zu handeln sein, bevor die so gewonnenen Einsichten zu einer speziellen Beleuchtung der „Reden" genutzt werden können. Dieses am Quellenmaterial orientierte Vorgehen wird die verschiedenen systematischen Gesichtspunkte nicht isolieren; es wird sie aus den Quellen selber rechtfertigen. Die Untersuchung will die Texte nicht aus der Biographie Schleiermachers ableiten. Sie will die Texte auch nicht in erster Linie durch den Aufweis von Traditions- oder Vergleichslinien erhellen, indem sie sie in die damalige philosophisch-theologische Diskussionslage einzeichnet. Sowohl in biographischer als auch in traditions- bzw. motivgeschichtlicher Hinsicht verhält sie sich sehr zurückhaltend. Wohl aber will sie ausführlich und detailliert die Argumentationen Schleiermachers nachvollziehen und auf ihre Stringenz hin prüfen. Sie will feststellen, wie weit das Quellenmaterial selber trägt, wie weit die Texte selber Aufschluß über sich geben, wie weit sie aus sich heraus interpretatorisch erschlossen werden können. Sie will von der Erfassung und Darstellung des nun vollständigen Quellenmaterials aus der Frage nach den Voraussetzungen, Wegen und Zielen des Schleiermacherschen Denkens nachgehen. Damit ist keiner hermetischen Interpretation das Wort geredet, sondern nur einer erstrangigen Beachtung der Quellen. Das Erkenntnisinteresse dieser Untersuchung, das weniger biographisch-genetischer als systematisch-argumentativer Art ist, wird sich im Durchgang durch die Schleiermacherschen Texte mittels einer präzisen Erklärungsleistung bewähren müssen.
I. Schleiermachers Konzeption einer deterministischen Ethik in seiner Auseinandersetzung mit Kant Schon während seiner Seminaristenzeit (September 1785 bis April 1787) im Herrnhutischen Barby an der Elbe war Schleiermacher auf Immanuel Kant aufmerksam geworden. Dort las er dessen „Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik" (Riga 1783) und wurde so mit der theoretischen Seite der transzendentalen Vernunftkritik bekannt. Diese frühzeitige Lektüre hat ihn offensichtlich für Kants kritisches Anliegen eingenommen und ihn nachhaltig von der traditionellen Metaphysik abrücken lassen. Die Kantische Kritik der theoretischen Vernunft empfahl sich schon dadurch der Schleiermacherschen Aufmerksamkeit, daß sie der metaphysischen Begriffsakrobatik Einhalt gebot, den moralisch-ethischen Fragen im Vernunfthaushalt eine größere Bedeutung zustellte und das religiöse Interesse aus den dogmatisch-metaphysischen Umklammerungen und Überformungen befreite. Schleiermacher scheint die Kantische Philosophie außerdem durch Rezensionen Kantischer Schriften in der „Allgemeinen Literatur-Zeitung" kennengelernt zu haben. Besonders sein Jugendfreund Samuel Okely hatte sich für Kant interessiert und an ihn angeschlossen. Ein Brief Okelys an Schleiermacher vom Winter 1786/87 läßt den Rückschluß zu, daß Schleiermacher ihm über die Rezension von Kants „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" (Riga 1785) in der „Allgemeinen Literatur-Zeitung" berichtet hatte. Ob Schleiermacher diese Kantische Schrift damals selbst gelesen hat, bleibt angesichts der strikten Bücherzensur in Barby eher zweifelhaft.1 Mit einer grundsätzlichen Bejahung des Anliegens der transzendentalen Vernunftkritik begann Schleiermacher wohl bereits seine Hallenser Studienzeit (April 1787 bis Mai 1789). Auch wenn er hier durch seinen
Vgl. KGA V/l, 49 (Brief Nr. 52, 47 f). Schleiermachers briefliche Bitte vom 4. April 1789 an Karl Gustav von Brinckmann, ihm Kants „Grundlegung" zuzuschicken (vgl. KGA V/l, Nr. 113, 7), verstärkt diesen Zweifel und deutet auf einen späteren Lektürezeitraum.
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verehrten akademischen Lehrer Johann August Eberhard bleibende Eindrücke der Leibniz-Wolffischen Schulphilosophie erhielt, so war doch diese Rezeption zumindest durch das Bewußtsein der widerstreitenden Kantischen Vernunftkritik aus dem Stand der philosphischen Unschuld herausgetreten. Die polare Motivkonstellation drückte dieser Rezeption von Anfang an ihren Stempel auf. So hörte Schleiermacher im Sommersemester 1787 Eberhards Vorlesung über Metaphysik, die vermutlich dem von Eberhard herausgegebenen Baumgartenschen Lehrbuch der Metaphysik 2 folgte, mit feineren Ohren und wohl einer gewissen reservatio mentalis. Seinem Vater, der ihm das Studium der Kantischen Philosophie ans Herz gelegt hatte, antwortete er am 14. August 1787: „Was die Kantische Philosophie betrifft die Sie mir zu studieren empfehlen, so habe ich von je her sehr günstige Meinungen von ihr gehabt, eben weil sie die Vernunft von den methaphysischen Wüsten zurük in die Felder, die ihr eigenthümlich gehören, zurükweist. Ich habe deswegen schon in Barby mit ein paar guten Freunden die prolegomena gelesen, aber freilich nur so viel davon verstanden, als man verstehen kann, ohne die Kritik der reinen Vernunft gelesen zu haben. Ob ich nun gleich, weil ich die Kritik nicht kriegen konnte, nicht im Stande gewesen bin während des Eberhard'schen Collegii die Wolfische Philosophie mit der Kantischen zu vergleichen, so soll doch solches in diesen Michaelis Ferien geschehen, und das mit desto beßerm Erfolg, da der Onkel dann selbst die Kantschen Schriften lesen will, um dieses in allem Betracht merkwürdige Phaenomenon aus der Quelle kennen zu lernen. So viel ich aber bis jetzt von Kant verstehe, so läßt er das Urtheil in Religionssachen ganz frei"3. Ob es damals zu dieser Lektüre gekommen ist, kann nicht festgestellt werden. Die erste Auflage der „Critik der reinen Vernunft" war damals nicht mehr erhältlich4, die zweite Auflage erschien im Sommer 1787. Die überkommenen Nachrichten von Schleiermachers literarischen Plänen und Unternehmungen während seiner Hallenser Studienzeit5 belegen, daß er sich hauptsächlich mit ethischen Themen beschäftigte. Dabei scheint ihn Eberhard auch in seiner Vorliebe für die antiken griechischen Philosophen durchaus unterstützt und gefördert zu haben. Die Hallesche Schulphilosophie wirkte in der Gestalt Eberhards dadurch auf die Entwicklung 2
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Baumgarten: Metaphysik, aus dem Lateinischen verdeutscht von G. F. Meier, ed. J. A. Eberhard, 2. Aufl., Halle 1783 KG A V/l, 92 (Brief Nr. 80, 35-48); Briefe l, 66. Zur Eberhardschen Metaphysik vorlesung vgl. auch Hallische Neue Gelehrte Zeitungen 22 (Halle 1787), S. 229. Vgl. KGA V/l, 76 (Brief Nr. 66, 27 f) und Kant: Ak 3, 555-558 Vgl. KGA l/l, XVII-XXI
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des Schleiermacherschen Wirklichkeitsverständnisses ein, daß sie das selbstverständliche geistige Umfeld der Themen und Materialien abgab. Sie prägte wohl am stärksten durch diese Indirektheit und Alltäglichkeit, durch ihre „klimatische Präsenz". Eberhards eigene Vollkommenheitsethik hat trotz ihrer rationalen Organisation und Präsentation einen starken Hang zur Erfahrung, zur Selbstbeobachtung und Fremdbeobachtung, zur Aufnahme und Verarbeitung konkreter Lebenssituationen, zum Bedenken lebensmäßig-alltäglicher Konflikte und Motivkonstellationen. Schleiermachers Neigung zu phänomenologischen Betrachtungen paradigmatischer sittlicher Situationen und Verhaltensweisen wurde auf diese Weise durchaus angeregt und durch das genauere Bekanntwerden mit der antiken Philosophie intensiviert. Mit seiner Hochschätzung der antiken Autoren blieb Schleiermacher sein Leben lang in der Halleschen Tradition. Während Schleiermacher zunächst an Einzelthemen der materialen Ethik interessiert war, trat mit Kants „Critik der practischen Vernunft" (Riga 1788) die Prinzipienfrage der Ethik unabweisbar in den Vordergrund: Wie ist Sittlichkeit möglich? Welche Prinzipien sind für jede Ethik grundlegend? Jetzt schlug ihn die ethische Seite der Transzendentalphilosphie in ihren Bann. Die Vernünftigkeit des Wollens und Handelns galt es im Licht des epochalen Themas der Freiheit zu begreifen. Schleiermacher wandte sich der Prinzipienfrage so zu, daß er einige Grundbegriffe der Kantischen Ethik untersuchte. Schleiermachers Erörterungen sind zumeist kritischer Art, doch nicht im Sinne einer grundsätzlichen Ablehnung und Bestreitung, sondern im Sinne einer Weiterentwicklung. Dieses Weiterdenken, das Schleiermacher in seiner Drossener Zeit intensiv fortsetzte6, sollte nicht nur eine konzeptionelle Verbesserung, sondern auch eine Präzisierung und Durchbildung der Kantischen Ethik bringen. Aus der Kritik an Kant kann nämlich keineswegs geschlossen werden, daß Schleiermacher den transzendentalen Ansatz insgesamt ablehnte. Vielmehr ist sie so zu verstehen, daß Schleiermacher sich dem Recht des Kantischen Anliegens nicht entziehen konnte, dabei aber nicht blind dafür war, daß Kant keineswegs schon die vollkommene Durchführung seines Programms geleistet hatte. Schleiermachers Bemühen galt also dem Weiterbauen an einer transzendental konzipierten Lehre von der Sittlichkeit und nicht der Repristination der alten Schulphilosophie, die auf Grund einiger Kantischer Argumente nur zu modifizieren wäre. Daß Schleiermacher allerdings bei seinem Weiterbauen sich auch auf Motive der Schulphilosophie stützte und sie für sein Unternehmen fruchtbar machte, ist unverkennbar. Das gilt besonders Vgl. KGA V/l, 184 (Brief Nr. 131, 79-95); Briefe l, 79
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für den Weg, den er einschlug, um die Dualität von Vernunft und Erfahrung zu vermitteln. Wie Kant, ja radikaler und konsequenter als Kant, will Schleiermacher die Reinheit und Erfahrungsunabhängigkeit der praktischen Vernunft und des von ihr aufgestellten höchsten Guts herausarbeiten und bewahren; aber er will diese reine Vernunft mit der Erfahrung vermitteln, ihre Wirksamkeit in der menschlichen Wirklichkeit, für die ja auch die Sinnlichkeit konstitutiv ist, begreiflich machen und nicht nur postulieren, den drohenden Dualismus von Phänomena- und Noumenawelt vermeiden; dazu bedient er sich des Begriffs der Lust bzw. des sittlichen Gefühls. Schleiermacher stuft die praktische Vernunft um ihrer Reinheit willen noch weiter zurück, er macht mit ihrer Transzendentalität ernst und billigt ihr nur noch eine vermittelte Wirksamkeit in der Sinnenwelt zu. Sie selbst kann nicht handeln, sie kann auch nicht direkt das Begehrungsvermögen bestimmen, sondern sie kann nur vermittelst des sittlichen Gefühls bestimmend auf das Begehrungsvermögen einwirken. Im Lust- bzw. Gefühlsbegriff werden von Schleiermacher das Freiheitsund das Kausalitätsprinzip miteinander verschränkt. Die allein Freiheit stiftende Vernunft greift vermittelst des sittlichen Gefühls in die vom Kausalitätsprinzip durchgängig beherrschte Sinnenwelt ein. Das Freiheitsprinzip der Vernunft setzt also die natürliche Kausalität nicht außer Kraft, sondern modifiziert sie gemäß ihrem Gesetz.
1) Grundbegriffe einer deterministischen Ethik Im Korpus der Schleiermacherschen Jugendschriften haben die ältesten uns erhaltenen eigenständigen Stücke den Charakter „philosophischer Rhapsodien"7. Sie erörtern in lockerer Form die ethischen Grundbegriffe des höchstens Guts, des sittlichen Gefühls und der Freiheit. Alle diese Begriffe entwickelt Schleiermacher in der direkten Auseinandersetzung mit der Kantischen Transzendentalphilosophie. In diesen rhapsodischen Abhandlungen zielt sein Bemühen darauf, den Rahmen für eine eigene, deterministisch-rational gepägte Ethik zu gewinnen. Die wesentlichen Motive, die für sein moralisches Denken leitend sind und die er mittels der differenzierten Orientierung an der Kantischen Philosophie in einer eigenen Ethik darzustellen und durchzuklären versucht, treten schon in diesen ersten Studien hervor. Diese Arbeitsphase mündet in das größere Werk „Über die Freiheit"8, in dem Schleiermacher seine deterministische Freiheitslehre systematisch entfaltet.
a) Der Begriff der reinen praktischen Vernunft („Über das höchste Gut" 1789) Schleiermachers Abhandlung „Über das höchste Gut"9, die wohl aus dem Ende seiner Hallenser Studienzeit stammt (Frühjahr 1789), will die Konsequenzen des Begriffs der reinen praktischen Vernunft für den Begriff des höchstens Guts entwickeln. Oder anders herum formuliert: mit Hilfe des Begriffs der reinen praktischen Vernunft, indem dieser als allein maßgebend für den Begriff des höchsten Guts in sein Richteramt, das es streng zu handhaben gilt, eingesetzt wird, sollen alle fremden empirischen, glückseligkeits- oder vollkommenheitsorientierten Merkmale aus dem Be7
KGA I/l, 219, 4; vgl. KGA I/l, 106, 37 Vgl. KGA I/l, 219-356 ' Vgl. KGA 1/1,83-125 8
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griff des höchsten Guts entfernt werden. Obwohl Schleiermacher das historisch-genetische Verfahren einschlagen will, um sämtlichen Verunreinigungen und Mißbildungen dieses reinen Vernunftbegriffs auf die Spur zu kommen10, so merkt der Leser doch schon bald, welches Interesse ihm wahrhaft am Herzen liegt: es geht ihm um die konsequente Durchführung der Kantischen Ethik. Im Zentralstück seiner Abhandlung 11 nutzt Schleiermacher die Kantischen Prinzipien, um den Kantischen Begriff des höchsten Guts zu kritisieren und als diesen Prinzipien unangemessen zu entlarven. Der Begriff des höchsten Guts ist als Spitzenbegriff der praktischen Vernunft ständig bedroht in seiner Vernünftigkeit durch die Vermischung mit dem Begriff Glückseligkeit, der selbst kein in sich stimmiger Begriff ist, sondern dessen Teile einander laufend beschränken und widersprechen. Die Vernunft kommt nach Schleiermacher bei dieser Sachlage nur durch die radikale Leitfrage nach der Einheit der Handlungsregeln zum Zuge, und diese Einheit der für menschliches Handeln maßgebenden Gesetze denkt sie im Begriff des höchsten Guts.12 Dieses Verfahren, das durch das Interesse der Vernunft gestützt wird, birgt allerdings die Gefahr, daß auch Elemente das Prädikat reiner Vernünftigkeit erhalten, die aus der Quelle der Glückseligkeit und sinnlichen Erfahrung stammen. Und genau das ist Schleiermachers Vorwurf gegen Kant: dieser sei seinen eigenen Maximen und Prinzipien untreu geworden und habe sein Verfahren der Vernunftkritik unsauber durchgeführt. Daß die Vernunftkritik, die ja wesentlich Verfahrenslehre ist, gerade beim Begriff des höchsten Guts ihr prinzipielles Recht habe, erhellt daraus, daß bei diesem Begriff das Mittel-Zweck-Schema außer Geltung gesetzt und die Wahrheit dieses Begriffs also nur durch die Richtigkeit des Verfahrens zu garantieren sei. „[. . .] es ist ja ein mit Recht allgemein angenommener Saz, daß man, um etwas gutes thun zu können d. h. um einen Theil des höchsten Guts wirklich zu machen niemals etwas thun dürfe was nicht gut ist, d. h. was nicht ein Theil des höchsten Guts ist. Wenn also diesem als Zwek nichts ungleichartiges als Mittel untergeordnet ist ja nicht einmal seyn darf, so kann es auch diesen Namen nicht mit Recht führen denn das hieße alle Begriffe verwirren, wenn man den Theil (und dem höchsten Gut sind nichts untergeordnet als seine Theile) ein Mittel zum Ganzen nennen wollte. Eben so wenig kann also das Sittengesez ein Mittel genannt werden 10
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Vgl. KGA I/l, 83, 10-20 Vg. KGA I/l, 91-106 Vgl. KGA I/l, 88, 6-22
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da es nichts anders enthält als die Form wonach allein das höchste Gut in seinen Theilen zu Stande gebracht werden kann. Wenn also das höchste Gut kein Zwek ist, was wird es denn seyn müßen? Nichts anders als der vollkomne Inbegrif alles deßen was nach gewißen Regeln in einer gewißen Verfahrensart nemlich der ungemischten rein rationalen zu erlangen möglich ist."13 Sollen die menschlichen Handlungen reinen Vernunftprinzipien unterworfen werden, so tritt als negative Bedingung das Vernunftgesetz der Konsequenz und als positive Bedingung das Vernunftgesetz der Allgemeinheit in Kraft. Beide Bedingungen werden vom Sittengesetz als dem Darstellungsprinzip der reinen praktischen Vernunft erfüllt. Dasselbe muß auch vom höchsten Gut gelten. Denn das höchste Gut als der gesamte Gegenstand der reinen praktischen Vernunft umfaßt die Totalität der sittlichen Akte, die nach reinen Vernunftprinzipien möglich sind. Schleiermachers Kritik am Kantischen Begriff des höchsten Guts richtet sich gegen drei Eigentümlichkeiten. Erstens habe Kant den Begriff des höchsten Guts aus einem regulativen in ein konstitutives Vernunftprinzip verwandelt; er sei hier also einem Schein zum Opfer gefallen, den er in der Kritik der reinen Vernunft mit so viel Sorgfalt und Umsicht beim spekulativen Gottesbegriff entdeckt hatte. H Er habe damit zu Unrecht aus dem möglichen Begriff des höchsten Guts, der menschlichen Handlungen als vernünftiges Leitbild dienen solle, einen notwendigen Begriff gemacht, der die Forderung der vollständigen Realisierung des höchsten Guts in sich schließe. Doch eine solche absolute Verwirklichungsforderung könne sinnvollerweise nur bei einem Subjekt erhoben werden, dessen einzige Triebfeder die Vernunft entweder ist oder sein kann. Bei Subjekten wie den Menschen, die auch noch andere Triebfedern ihres Begehrungsvermögens haben und bei denen die Vernunft mit ihrem Sittengesetz nur vermittelt zum Beweggrund werden kann, könne der Begriff des höchsten Guts nur regulative Bedeutung haben, indem er das Ziel der sittlichen Perfektibilität bestimme. Die Vernunft lasse es wegen ihrer Allgemeinheit völlig offen, wie weit man sich diesem Ziel nähern könne. Kant habe demnach den menschlichen Willen zu hoch eingeschätzt, indem er der Vernunft eine zu große Bestimmungskraft für diesen Willen zugemessen habe; er habe subjektive Elemente der Willensbestimmung, die die Vernunft repräsentieren, mit der Vernunft selbst identifiziert und durch diese 13
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KGA I/l, 90, 28-91, 2 Vgl. KGA I/l, 100, 32-101, 4
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Annäherung der Vernunft ans Begehrungsvermögen ein Bedürfnis desselben für ein Vernunfterfordernis ausgegeben. Zweitens wendet sich Schleiermacher gegen die Kantischen Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit15, auch wenn diese Verbindung in eine andere Welt gesetzt sei. Doch entweder seien im jenseitigen Weltzustand noch Elemente der Sinnlichkeit vorhanden, dann werde auch das naturgesetzliche Begehrungsvermögen noch andere Triebfedern als die Vernunftgebote haben und die Glückseligkeit also nicht allein vernunftbewirkt sein; oder der jenseitige Weltzustand sei ohne jegliche Sinnlichkeit, dann könne die aus dem naturgesetzlichen Begehrungsvermögen resultierende Glückseligkeit dort überhaupt nicht vorkommen und auch nicht zum höchsten Gut gehören.16 Allenfalls überschießende Spekulationen über die konkrete jenseitige Weltbeschaffenheit, die aber durch die Vernunftkritik endgültig abgeschnitten sind, könnten diese Widersprüche zu lösen versuchen. Die Kantische Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit, die sich in der Bestimmung der Sittlichkeit „als Werth der Person und deren Würdigkeit glücklich zu seyn"17 ausspricht, basiert auf der scheinbaren Notwendigkeit und Vernünftigkeit der Korrelation von Wohltun, Guthandeln und Wohlbefinden. Diese Notwendigkeit bestreitet Schleiermacher: Auch wenn die Moralität zu Recht sich als Würdigkeit der Glückseligkeit, d. h. als wahre Geschicklichkeit im rechten Gebrauch der Gegenstände des Begehrungsvermögens darstelle, so müsse keineswegs die Würdigkeit, die ja aus der sittlichen Gesinnung und dem daraus entspringenden persönlichen Wert herrühre, mit dem Besitz der Glückseligkeit wirklich verknüpft sein, weil das höchste Gut als reiner Vernunftbegriff allein auf die vernunftmäßige Gesinnung und den persönlichen Wert gehe, während die im Kantischen Begriff der Würdigkeit mitgedachten Güter und Handlungen auch von unverfügbaren Umständen abhingen.18 Die Notwendigkeit der Verbindung von Wohltun und Wohlbefinden könnte nur bei einem Wesen gedacht werden, dessen Wille allein von der Vernunft absolut bestimmt wäre und das in der Übereinstimmung mit den reinen Vernunftgesetzten dann eo ipso seinen vollkommenen Zustand und sein größtes Wohlbefinden hätte. Doch was hat dieses Wesen mit dem Menschen und dieses Wohlbefinden mit der sinnlich geprägten Glückseligkeit 15 16
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Vgl. KGA I/l, 101, 30-105, l Vgl. KGA I/l, 102, 7-16 Kant: KpV 199; Ak 5, 110, 34 Vgl. KGA I/l, 103, 17-104, 17
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zu tun? Schleiermacher faßt seine beiden ersten Kritikpunkte darin zusammen, „daß indem HErr Kant die subjektiven Bestimmungsgründe unseres Willens, die aus dem reinen Vernunftgesez abgeleitet werden mit demselben zu sehr identificirt, und die Vernunft dem Begehrungsvermögen über die Gebühr genähert hat, er es schwerlich hat vermeiden können auf der einen Seite unsern Willen mit einer höhern Gattung zu verwechseln, und auf der ändern dasjenige, was blos ein Bedürfniß des Begehrungsvermögens ist, nemlich die Glükseligkeit, für ein unnachlaßliches Erforderniß der Vernunft selbst zu halten"19. Drittens bestreitet Schleiermacher, daß eine Antinomie der reinen praktischen Vernunft zwischen Tugend und Glückseligkeit überhaupt vorliege.20 Denn der Begriff der Glückseligkeit, der ohne die Bedingung der Zeit in seinen Teilen überhaupt nicht widerspruchslos gedacht werden könne und der also ein sukzessives Ganzes meine, könne niemals als reiner Vernunftbegriff konzipiert werden. Dann könne er aber auch nicht als Teil des reinen Vernunftbegriffs des höchsten Guts gedacht werden, könne kein Bedürfnis der Vernunft artikulieren. Wie aber sollte die Vernunft in Widerstreit mit sich selbst geraten, wenn der eine vermeintliche Widerpart gar nicht zu ihr gehöre. Der Begriff der Glückseligkeit „ist für das sinnliche Begehrungsvermögen eben das, was das höchste Gut für die reine praktische und das aller realste Wesen für die reine theoretische Vernunft war nemlich die Totalität ihres Gegenstandes, wovon alles was diesem Vermögen vorkommt, als ein Theil muß abgeleitet werden können. Nur mit der Einschränkung, daß jene beiden in der Vernunft selbst und außer den Gegenständen ihrer Anwendung gegründet sind, daß sie gewiße Geseze dieser Anwendung erkennen, die Glükseligkeit aber ohne den mindesten Zusammenhang mit etwas anderem blos in sich selbst stehen bleibt"21. Die strenge Fassung des Begriffs der reinen praktischen Vernunft, die Schleiermacher kritisch in der Sichtung und Neukonzeption des Kantischen Begriffs des höchsten Gutes bewährt, bringt eine Präzisierung des Geltungsbereichs des praktischen Vernunftvermögens und eine Änderung der Modalbestimmung seiner Leitidee „Höchstes Gut". Durch diese radikale Transzendentalisierung der praktischen Vernunft bekommt die Frage ihrer Vermittlung in die empirischen Willensbestimmungen größte Bedeutung. 19 20 21
KGA I/l, 104, 32-105, l Vgl. KGA I/l, 96, 4-7 KGA I/l, 106, 8-16
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Der Begriff des sittlichen Gefühls ist sowohl für die Vermittlung von Vernunft und Begehrungsvermögen als auch für die Verhältnisbestimmung von Ethik und Glückseligkeitslehre leitend. Dadurch daß der Begriff der Glückseligkeit aus der reinen Ethik ausgeschieden ist, hat sich ja noch nicht die Frage erledigt, wie die Glückseligkeitslehre zu bestimmen und wie sie mit der reinen Ethik zu verknüpfen sei. Schleiermacher bestimmt die Glückseligkeitslehre primär asketisch als Vermeidungsstrategie von Unglückseligkeit. Sie ist eine Klugkeitslehre, durch die nicht positiv das Erlangen der Glückseligkeit mit Sicherheit herbeigeführt, sondern limitativ die Mäßigung oder Vermeidung von starken Empfindungen erreicht werden könne. Diese Klugheitsregeln zielen auf die Aufmerksamkeit und Einübung, um so den Einfluß des Zufalls auf die Intensität der Empfindungen zu beschränken, die Empfindungen gleichsam zu domestizieren und damit Unglückseligkeit zu verhindern. Durch die willentliche Kontrolle und Modifikation der Leidenschaften wird aber nicht nur Unglückseligkeit vermieden, sondern zugleich dem sittlichen Gefühl, dessen praktische Wirksamkeit durch den erschütternden Einfluß starker Empfindungen beeinträchtigt würde, Raum geschaffen. In dieser asketischen Aufgabe gegenüber den Leidenschaften sieht Schleiermacher die Verbindung der Glückseligkeitslehre zur Vernunftethik. „Sobald wir nemlich einsehn, daß das Sittengesez nicht anders als vermittelst des sich darauf beziehenden moralischen Gefühls auf unsern Willen wirksam seyn und denselben bestimmen kann, so wird es eine sich von selbst uns aufdringende Aufgabe, den praktischen Einfluß dieses Gefühls zu vermehren. Hiezu ist es unumgänglich nothwendig die entgegenstehenden Hinderniße wegzuräumen. Und nichts widerspricht dem Sittengefühl deßen Objekt in einer gewißen Entfernung von unsern Sinnen liegt und deßen unterscheidender Charakter daher eine leidenschaftlose Sanftmuth ist mehr als die heftigen stürmischen Bewegungen des Ansichziehns und Zurükstoßens die sich auf das unmittelbare sinnliche Interesse des Herzens beziehn. So fließen Sitten und Glükseligkeitslehre zusammen. Der nemliche Zustand des Empfindungs und Begehrungsvermögens der uns vor dem Erliegen unter dem Unglük sichert, eben dieser macht uns auch der seligen Einflüße des moralischen Sinnes deßen Herrschaft uns allein zufrieden machen kann in einem höheren Grad empfänglich."22 Zum Begriff des sittlichen Gefühls ist eine nähere Untersuchung erforderlich, die seine Leistung für die Vermittlung von Vernunft und Begehrungsvermögen verständlich macht.
22
KGA I/l, 124, 32-125, 7
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b) Der Begriff des sittlichen Gefühls („Notizen zu Kant: Kritik der praktischen Vernunft" 1789) Schleiermachers „Notizen" (1789) zu Kants Kritik der praktischen Vernunft, die bisher unbekannt waren, sind keine fortlaufenden Anmerkungen zur Kantischen Sittlichkeitslehre. Vielmehr sind diese Notizen thematisch orientiert; sie dürften deshalb auch nicht bei der ersten Lektüre des Kantischen Werkes, sondern eher bei einem vertiefenden Nach-Lesen entstanden sein. Alle diese Notizen drehen sich um den Begriff des sittlichen Gefühls und die Sachfrage, in welches Verhältnis die Begriffe des Begehrungsvermögens und der Lust zueinander gesetzt werden müssen. Die transzendentale Freiheit als das Vermögen zu spontaner Kausalität mag zwar für das noumenale Subjekt behauptet werden können (weder für die Behauptung noch für die Bestreitung gibt es ein Verifikationsoder Falsifikationsverfahren), doch sieht Schleiermacher in dieser Aussage keineswegs eine Berechtigung dazu, die Kategorie der Freiheit auf Handlungen anzuwenden, die ja allemal ihren Platz in der Sinnenwelt haben. Im Kantischen Sinn könne also von einer Freiheit der Handlungen nicht gesprochen werden. Solche „freien Handlungen" wären eine contradictio in adiecto. Gerade angesichts des phänomenalen und noumenalen Charakters eines vernünftigen Sinnenwesens wie des Menschen muß der Begriff der Freiheit über seine exklusiv transzendentale Bedeutung hinaus näher eingegrenzt und schärfer bestimmt werden. Deshalb untersucht Schleiermacher die Kantische Lehre vom Begehrungsvenmögen, wobei er besonderes Gewicht auf den Begriff der Lust und den des sittlichen Gefühls legt. Er will gegen Kant den Begriff der Lust in den Rang eines ethischen Grundbegriffs erheben. Schleiermacher weist nach, daß Kant bei seiner Definition der ethischen Grundbegriffe faktisch anders verfahrt, als er vorgibt. Bei Kant gehe der Begriff der Lust 23 wider seine Behauptung dem Begriff des Begehrungsvermögens voran. Löse man das „d. i." in der Kantischen Definition der Lust auf und ersetze die zweite Merkmalsbestimmung durch den damit 23
Vgl. Kant: „Lust ist die Vorstellung der Uebereinstimmung des Gegenstandes oder der Handlung mit den subjectiven Bedingungen des Lebens, d. i. mit dem Vermögen der Causalität einer Vorstellung in Ansehung der Wirklichkeit ihres Objects (oder der Bestimmung der Kräfte des Subjects zur Handlung es hervorzubringen)." (KpV 16; Ak 5, 9, 23 — 27; Sperrungen aufgehoben)
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gemeinten Begriff des Begehrungsvermögens24, so sei für Kant Lust die vorgestellte Übereinstimmung eines Gegenstandes mit dem Begehrungsvermögen. Und Schleiermacher schließt weiter: Diese Vorstellung der Übereinstimmung müsse verstanden werden als die Vorstellung, daß der Gegenstand zu der Klasse des Begehrenswerten gehöre; mithin sei Lust das Merkmal der begehrenswerten Gegenstände. Die Lust gehe also dem Begehren sowohl logisch (die Lust gibt das Merkmal, wodurch das Begehrungsvermögen allererst sein Objekt identifizieren kann) als auch empirisch voran (die Lust weist für die Bestimmung des Begehrungsvermögens den Begehrwert eines Gegenstandes aus). Wie durch den Begriff des Bewußtseins das subjektive Merkmal des Vorstellbaren angegeben wird, so bezeichnet der Begriff der Lust in subjektiver Hinsicht die Sphäre des Begehrbaren. Wichtig ist für Schleiermacher allerdings, daß man dem Begriff der Lust diese Allgemeinheit beläßt und nicht weitere Merkmale unterschiebt.25 Den Kantischen Einwand gegen den Begriff der Lust als eines ethischen Grundbegriffes26, damit verfalle die praktische Philosophie in ihrem Prinzip dem Empirismus, weil ihre Imperative von den klaren Vorstellungen erwarteter Lustgefühle abhängig seien und also nur hypothetische Gültigkeit hätten, hält Schleiermacher nicht für stichhaltig. Dieser Einwand beruhe auf einer Doppeldeutigkeit der Formulierung, das Prinzip sei empirisch, „wenn der Bestimmung des Begehrungsvermögens schlechthin das Gefühl der Lust zum Grunde gelegt"27 werde. Diese Aussage sei nur dann Indiz für den Empirismus der praktischen Philosophie, wenn sie so verstanden würde, daß die Regeln für den Willen nur im Blick auf ein zu erlangendes Gefühl der Lust bestimmt werden könnten. Die Handlungsmaximen ständen dann allein unter der Bedingung empirischer Glücksvorstellungen, und alles Handeln wäre selbst auf die Funktion festgelegt, die Mittel zum Lustgewinn bereitzustellen. Doch könne die obige Aussage auch so verstanden werden, daß ein Gefühl der Lust vorausgehen müsse, damit das Begehrungsvermögen zum faktischen Akt der Begehrensformulierung bestimmt werden könne. Das Begehrungsvermögen werde dann infolge des vorangehenden Lustgefühls, nicht aber gemäß und durch dieses 24
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Vgl. Kant: „Leben ist das Vermögen eines Wesens, nach Gesetzen des Begehrungsvermögens zu handeln. Das Begehrungsvermögen ist das Vermögen desselben, durch seine Vorstellungen Ursache von der Wirklichkeit der Gegenstände dieser Vorstellungen zu seyn." (KpV 16; Ak 5, 9, 19-22; Sperrungen aufgehoben) Vgl. KGA I/l, 130,2-19 Vgl. Kant: KpV 16; Ak 5, 9, 12-17 KGA I/l, 130, 22-131, l
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Lustgefühl bestimmt. Das Prinzip der Sittlichkeit und das daraus folgende Regelsystem bleibe danach von der Erfahrung unberührt, denn hinsichtlich seines Gehalts werde die Souveränität der das Prinzip aufsuchenden Vernunft nicht bestritten und hinsichtlich seiner Form werde die Sanktionierung seiner Verbindlichkeit sogar erleichtert, weil diese Sanktionierung durch ein „im reinen Selbstbewußtseyn"28 gegebenes, nur auf das Sittengesetz bezogenes Lustgefühl vollzogen werde. Schleiermachers Rekurs auf das reine Selbstbewußtsein ist hier so punktuell und doch so gewichtig, daß seine Argumentation dringend einer näheren Erläuterung bedürftig ist. Diese Ausführung bleibt er leider schuldig. Dagegen erläutert er weiter die entweder auf Verwechselung oder vermeintlicher Synthese basierende Doppeldeutigkeit der Kantischen Verhältnisbestimmung von Begehrungsvermögen und Lustgefühl. Das der Bestimmung des Begehrungsvermögens notwendig vorangehende Lustgefühl sei keineswegs selbst der einzig denkbare Zweck des Begehrens. Dieses Mißverständnis werde zwar nahegelegt durch die Kantische Beschreibung des Begehrungsvermögens als der Verwirklichung der Gegenstände von Vorstellungen, so daß zu dem begehrten Objekt, dessen Existenz allein kein zureichender Zweck, sondern nur Mittel für den von ihm ausgehenden Eindruck sein könne, jeweils noch ein Zweck, eben das Lustgefühl, hinzugedacht werde. Dieses Mißverständnis werde aber durch die Aufnahme des Lustbegriffs in die Definition des Begehrungsvermögens gerade abgeblockt: der begehrte Gegenstand rücke nicht in die Stelle des Mittels ein, das Lustgefühl sei nicht der verborgene und alles beherrschende Zweck. Denn das sittliche Lustgefühl, das sich am Sittengesetz bildet, tauge nicht zum Begehrzweck, weil der Vollzug der Handlung, d. h. die Verwirklichung des Gegenstandes die Lust an der moralischen Regel nicht erhöhe und weil dieses Gefühl entweder mit der Handlung vergehe oder auf ein anderes Begehrtes übergehe.29 Dadurch daß das Gefühl der Lust als dem Akt des Begehrens, als der Tätigkeit des Begehrungsvermögens faktisch vorangehend angenommen und der Begriff der Lust also aus der ethischen Grundlegung der Sittlichkeit nicht ausgesperrt wird, begegnet Schleiermacher wirkungsvoll der Gefahr, daß der Lustbegriff unkontrolliert auf Schleichwegen sich seinen Einfluß sichert, denn gerade das Kantische Beispiel zeigt, daß der Lustbegriff entgegen den expliziten Behauptungen oft in Undeutlichkeiten der Formulierung versteckt ist. 28 29
KGA I/l, 131, 16f Vgl. KGA I/l, 131, 31-34
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Schleiermacher untersucht die Konsistenz der Kantischen Deduktion30 des sittlichen Gefühls und kommt zu einem vernichtenden Ergebnis: Die Kantische Deduktion eines apriorischen, positiv antreibenden, durch Vernunft bewirkten Gefühls sei völlig unzulänglich; sie leiste keineswegs das, was sie leisten solle und müsse. Schleiermachers Kritik richtet sich sowohl gegen die interne Begriffserklärung als auch gegen die genetische Vermittlung. Bei der internen Begriffserklärung ergebe sich, auch wenn Kant unter Eigendünkel das praktisch antreibende, den Maximen gesetzgebend zugrunde liegende Gefühl der Selbstliebe und nicht nur die individuelle Selbstüberschätzung versteht31, für das sittliche Gefühl nur eine negative Bedeutung, denn die praktische Vernunft hemme ja nur die Kausalität des Eigendünkels.32 Der positive Aspekt bleibe völlig unklar33, auch wenn Kant das sittliche Gefühl durch die Achtung für das Sittengesetz näher so bestimmt, daß die moralische Idee, die den Eigendünkel niederschlägt, Achtung in uns hervorruft, insoweit deren Vorstellung unseren Willen bestimmt34. Diese Unklarheit resultiere einerseits aus der Selbstverständlichkeit, daß der durch eine Definitionsänderung zu einer Maxime gewordene Eigendünkel nur durch eine andere, hier die Maxime der vernünftigen Gesetzesliebe überwunden werden könne, demnach die Einführung des Begriffs der Achtung keinen Gedankenfortschritt, sondern nur eine analytische Verdeutlichung bringt. Diese Unklarheit ergebe sich andererseits aus dem Ungenügen der Kantischen Begriffserklärung von Achtung als der „Vorstellung eines Werthes"35. Das aus dieser Vorstellung fließende Gefühl sei nämlich beileibe nicht dasselbe wie das, das aus dem Niederschlagen meines Eigendünkels, meiner praktischen Selbstliebe entsteht. Der positiv genommene Grund der Demütigung könne eine durchaus negative Maxime sein, mit der gar keine positive Wertvorstellung verbunden sei. Schleiermacher bemängelt wiederholt, daß Kant die Achtung fürs Sittengesetz identifiziere mit dem positiv genommenen Grund für die 30 31 32
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Vgl. Kant: KpV 128-130; Ak 5, 72, 28-73, 37 Vgl. Kant: KpV 131; Ak 5, 74, 15-19 Vgl. KGA I/l, 132, 5-17 Vgl. KGA I/l, 132, 17-133, l Vgl. Kant: KpV 132; Ak 5, 74, 26-30 Die von Schleiermacher gerügte Definition (KGA I/l, 133, 1) ist so von Kant gar nicht gegeben worden, sondern Schleiermacher hat sie aus dem „Wörterbuch zum leichtern Gebrauch der Kantischen Schriften" (2. Aufl., Jena 1788, S. 23) von Carl Christian Erhard Schmid entlehnt. Mit dieser Definition arbeitet er als einer authentischen Kant-Äußerung.
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Demütigung. 36 Eine apriorische Einsicht gebe es nur in die negative Wirkung der Sittlichkeitsidee. Diese sei aber von der positiven Vorstellung eines durch diese Idee konstituierten neuen Wertes völlig verschieden. Und aus der negativen Wirkung der Sittlichkeitsidee könne kein Gefühl entstehen, das an deren positiver Wirkung orientiert sei. Schleiermacher hält nachdrücklich an der Verschiedenheit der doppelten Wirkung dieser Idee fest und fordert gemäß dieser Diastase eine selbständige Deduktion für das sittliche Gefühl, das sich auf die positive Ansicht des praktischen Vernunftgesetzes bezieht. Er billigt Kant zu, den negativ-limitativen Aspekt der Kausalität des praktischen Vernunftgesetzes transzendental korrekt deduziert zu haben. Dagegen bestreitet er die Kantische Einschätzung, Beseitigung eines Widerstandes und positive Wirksamkeit seien dasselbe. Schleiermachers Kritik der genetischen Vermittlung knüpft daran an, daß das sittliche Gefühl für Kant37 kein eigenständiges Genus von Gefühl ist, daß es also kein ursprüngliches Gefühl für das praktische Vernunftgesetz gibt. Wohl aber nimmt Kant eine unmittelbare Wirksamkeit des Gesetzes auf das Gefühl an.38 Hier sieht Schleiermacher einen weiteren Mangel der Kantischen Lehre. Die apriorische Einsicht, wie das sittliche Gefühl entsteht, könne Kant entgegen seinem Bemühen nicht sicherstellen, zumindest nicht für den positiven Aspekt dieses Gefühls. Zwar lasse sich a priori einsehen, daß die praktische Vernunft aufs Gefühl wirken müsse, doch sei diese Wirksamkeit nur als eine mittelbare begriffen, indem durch Vertilgung anderer entgegenstehender Ideen die Vernunft negativ im Gefühl das aufhebt, was jene Ideen bewirkt haben. Diese negative und mittelbare Wirkung der Vernunft führe weder auf ein eigentümliches besonderes Gefühl (die von Kant behauptete Einzigartigkeit des sittlichen Gefühls) noch auf eine positive antreibende Bestimmung dieser Vernunftursache, so daß Kants Deduktion nach ihrer affirmativen Seite hin versage: „Wie das positive a priori eingesehn werden kann ist noch eben so lehr als vorher, wie auch die Behauptung daß dieses Gefühl sich von allen ändern unterscheide."39 Kant räumt zwar ein, daß die negative Kausalität der Vernunft aufs Gefühl pathologisch ist40; und er nennt dieses Gefühl, das von der Vor36 17 18 39
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Vgl. KGA I/l, 132, 17-20. 134, 4-7 Vgl. Kant: KpV 132. 133; Ak 5, 75, 3-5. 13f Vgl. Kant: KpV 132; Ak 5, 74, 30-75, 2 KGA I / l , 133, 12-15 Vgl. Kant: KpV 133; Ak 5, 75, 6f
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Stellung des praktischen Vernunftgesetzes bewirkt ist und folglich auf das noumenale vernünftige Subjekt als seine intelligible Ursache bezogen werden muß, Demütigung41. Doch will Kant durch diese transzendentale Neufassung des Begriffs der Demütigung, indem er sie als „intellectuelle Verachtung"42 mit einer Rück Verweisung auf Intelligibles anwendet, obwohl sie nur die Niederschlagung des Eigendünkels, d. h. einen Zustand des pathologisch affizierten Selbst beschreibt, sein Eingeständnis, daß dieses Gefühl pathologisch sei, einschränken. Schleiermacher übertreibt seine Kritik an Kant, wenn er behauptet, Kant widerrufe seine erste Aussage, er nehme gleich das wieder zurück, was er gerade vorher gegeben habe. Denn bei der Charakterisierung dessen, wem dieses Gefühl eigen ist, spricht Kant von einem vernünftigen pathologisch bestimmbaren Subjekt. 43 Doch ist unbestreitbar, daß Kant sein erstes Eingeständnis in dieser Näherbestimmung einschränkt und daß er in seiner Tatbestandsbeschreibung und in seiner Subjektbeschreibung verschieden gewichtet. Allerdings ist diese Doppelgesichtigkeit des Begriffs Demütigung (entgegen Schleiermachers Urteil) bei Kant schon in der ersten Schilderung des Sachverhalts angedeutet. Schleiermachers „Notizen" untersuchen die Kantische „Critik der practischen Vernunft" fast ausschließlich unter der Leitfrage, wie Kant den Gefühlsbegriff entwickelt, einsetzt und rechtfertigt, d. h. ob Kant Freiheit und Erfahrung, vernünftiges Wollen und empirisches Handeln in ihrer Vermittlung überzeugend begreifen kann. Damit folgt Schleiermacher einer speziellen Fragehinsicht. Die große Zentralfrage seines frühen Denkens: wie ist Ethik möglich? war ihm durch den zeitgenössischen Diskussionsstand vertraut, wurde von dort gestellt. Ebenso vertraut und unmittelbar zustimmungsfähig war ihm die Kantische Antwort: Ethik ist nur möglich, wenn Freiheit möglich ist. Nicht bei dieser Grundidee, sondern bei der Frage der stringenten begrifflichen Erfassung der Vermittlungsaufgabe zwischen Empirie und Vernunft, Kausalität und Spontaneität hakt Schleiermacher ein. Seine bohrende Fragen gelten also einem speziellen Problem, das allerdings höchst konsequenzenreich und für jede ethische Denkbemühung unausweichlich ist. Völlig selbstverständlich ist ihm hier die Kompetenz des Gefühlsbegriffs für die geforderte Erklärungsleistung. Diese wirkmächtig sein weiteres Denken bestimmende selbstverständliche Hochschätzung des Gefühlbegriffs ist sowohl für das damit involvierend 41 42 43
Vgl. Kant: KpV 133; Ak 5, 75, 8-11 Kant: KpV 133; Ak 5, 75, 11 f Vgl. Kant: KpV 133; Ak 5, 75, 11
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angesprochene Problem als auch für die konzeptionelle Richtung der Problemlösung von großer Bedeutung. Woher Schleiermacher den Gefühlsbegriff übernommen hat, in welche Traditionslinie er damit einzustellen ist, darüber läßt das Quellenmaterial nur Vermutungen zu. In den „Notizen" taucht einmal der Name von Francis Hutcheson auf.44 Es ist durchaus wahrscheinlich, daß Bezüge auf die englisch-schottische Moralphilosophie der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts hier vorliegen. Kants polemische Wendung gegen den ethischen Grundbegriff des sittlichen Gefühls, dessen systematische Insuffizienz für die ethische Prinzipienlehre er zu erweisen suchte, war veranlaßt durch seine Kritik der englisch-schottischen Moralphilosophie, die sich grundlegend mit Hilfe dieses Begriffs artikulierte. Diese latente Frontstellung Kants entdeckte Schleiermacher, doch hat sein Hinweis auf Hutcheson, mit dem er seinen Aufweis von der Mangelhaftigkeit der Kantischen Einschränkung des Gefühlsbegriffs anreichert, nur erläuternde Bedeutung. Ob und wie weit sich dieses Wissen eigener Lektüre englisch-schottischer Ethiker verdankte, läßt sich anhand der Quellen nicht zweifelsfrei entscheiden. Vermutlich dürfte Schleiermacher damals nur berichtsweise eine sekundäre Kenntnis der englisch-schottischen Moralphilosophie gehabt haben. Schleiermachers „Notizen" tragen zu einer Erklärung des Begehrungsvermögens zweierlei bei. Zum einen weisen sie den Begriff der Lust als einen ethischen Grundbegriff aus, ohne den das Begehrungsvermögen auch nach der Seite vernunftgesetzlicher Willensakte unerklärlich bliebe. Schleiermacher kritisiert nicht nur Unstimmigkeiten und Gegenläufigkeiten im Kantischen Begriff der Lust, sondern er entwickelt in Umrissen einen eigenen Begriff, der die Ethik nicht dem Empirismus ausliefert, sondern gerade für eine an reiner praktischer Vernunft orientierte Ethik die subjektive Basis zu beschreiben erlaubt, durch die die Vermittlung des Vernunftgesetzes in den konkreten Willensakt allererst erklärlich wird. Der Begriff der Lust beschreibt von der subjektiven Seite das Möglichkeitspotential des Begehrungsvermögens und begreift gerade wegen seiner Allgemeinheit Erfahrungs- und Vernunftgegenstände in sich. Im Lustbegriff sucht Schleiermacher den sich ihm gefährlich öffnenden Graben von Vernunft und Empirie zu überbrücken. Bezeichnend ist, daß Schleiermacher sein Syntheseunternehmen allein durch einen subjektiven Begriff zustande bringt. Zum ändern formulieren die „Notizen" mit dem Begriff des sittlichen Gefühls eher eine Aufgabe, als daß sich auch schon die geforderte Lösung Vgl. KG A I/l, 134, 16
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böten. Schleiermacher deckt scharfsinnig Ungereimtheiten und Widersprüche des Kantischen Begriffs des sittlichen Gefühls auf; außerdem weist er nach, daß Kant nur für die eine Hälfte, nämlich für die negativ-limitative Wirksamkeit des sittlichen Gefühls, die nötige transzendentale Deduktion überzeugend erbracht hat. Doch die noch ausstehende andere Hälfte, die Schleiermacher zu Recht anmahnt und die er durch seine Fassung des Lustbegriffs schon teilweise vorbereitet hat, durch die auch allererst seine Konzeption der Verknüpfung von Vernunft und Begehrungsvermögen feste Konturen bekäme, bleibt als Merkzeichen für künftige Erklärungsbemühungen ungelöst stehen. Die „Notizen" artikulieren wichtige Änderungen im Gefüge der ethischen Grundbegriffe. Unverkennbar ist das Bemühen, die Funktionsweise des Begehrungsvermögens durchgängig nach dem Kausalitätsprinzip verständlich zu machen. Damit ergibt sich die Frage, wie dieses kausal bestimmte Begehrungsvermögen mit dem Postulat von Freiheit zusammengedacht werden kann; oder anders herum: welcher Freiheitsbegriff mit diesem Konzept des Begehrungsvermögens vereinbar ist. Dazu gilt es aufzuzeigen, welche Bedeutung die die Freiheitsidee formulierende Vernunft für das deterministisch konzipierte Begehrungs- und Handlungsvermögen hat, wie die Geltung der reinen praktischen Vernunft für das menschliche Handeln gedacht werden kann.
c) Der Begriff der Freiheit („Freiheitsgespräch" 1789) Schleiermachers Manuskript „Freiheitsgespräch" (1789), das erstmals als Quelle erschlossen worden ist, setzt den Erörterungsgang zweier uns verlorener Gespräche voraus, an die es allerdings nur bisweilen erinnernd zur Abkürzung und Ausrichtung des Gesprächsganges anknüpft. Die ersten beiden „Freiheitsgespräche" hatten offensichtlich die Freiheitsthematik von Denkfiguren und Grundbegriffen der Halleschen Schulphilosophie aus zu untersuchen begonnen.45 Das erhaltene dritte „Freiheitsgespräch" unternimmt es, die Eigenart und Haltbarkeit des Kantischen 45
Vgl. den theoretisch akzentuierten Vernunftbegriff (KGA I/l, 149, 32 f u n d 151, 30 f) und den vorstellungsorientierten Handlungsbegriff (KGA I/l, 146, 13 f u n d 148, 31 f). Die Freiheitsdefinition als die Gemäßheit der Handlungen zu den Vorstellungen hat Schleiermacher vermutlich von Eberhard übernommen (vgl. dessen Aufsatz „Ueber die Nothwendigkeit der freyen Handlungen des Menschen", Neue vermischte Schriften, Halle 1788, S. 170 f).
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Freiheitsbegriffs zu prüfen. Da bereden sich drei Männer: der besonnene, unparteiische, Tradition und Neuerung verbindende Sophron (= Schleiermacher), der lernbegierige Kleon und der entschiedene Kantianer Kritias. Sie erörtern die Frage, ob es eine Erklärung der Freiheit gebe, die die verschiedenen schon vorliegenden Definitionen in sich befasse und sich auf den gesamten Gegenstandsbereich der Freiheit anwenden lasse. ^ Da Kritias bald für längere Zeit aus dem Gespäch ausscheidet, bleibt es Sophron vorbehalten, seine Erklärung der Freiheit zu entwickeln und zu bewähren. Mit diesem Überlegungsgang will Schleiermacher in markanter Weise Hallesche Schulphilosophie und Kantische Vernunftkritik vermitteln und deren jeweilige praktische Grundbegriffe als verträglich nachweisen. Sophron wandelt die Kantische Erklärung, die transzendentale Freiheit sei das Vermögen zu einem selbstursprünglichen ersten Anfang einer bestimmten Kausalreihe von gesetzmäßig aufeinander folgenden Zustandsänderungen47, dadurch ab, daß er die Selbstursprünglichkeit nicht ontologisch, sondern funktional versteht. Nach Sophron beweist sich Freiheit darin, daß jeweils das erste Glied einer Handlungs- oder Zustande kette, welches das diese Reihe bestimmende Gesetz in Wirksamkeit setzt, diesem Gesetz selbst nicht unterworfen und folglich bezogen auf dieses Gesetz unbestimmt und unabhängig ist. Von Freiheit kann nach dieser Erklärung sinnvollerweise immer nur im Blick auf eine begrenzbare Menge von Zuständen, nicht aber auf den Gesamtzusammenhang gesprochen werden. Sophron führt diese funktional akzentuierte Erklärung der Freiheit dadurch näher aus, daß er sie durch eine gelingende Anwendung auf die Gegenstandsbereiche der bürgerlichen, der politischen, der äußeren und der inneren Freiheit bewährt. Die Begriffe der bürgerlichen und der politischen Freiheit lassen sich leicht als Anwendungsfälle der allgemeinen Erklärung dartun.48 Beim Begriff der äußeren Freiheit muß Sophrons Erklärung zwei Anforderungen erfüllen: 1) Die neue allgemeine Erklärung muß mit der schon im ersten „Gespräch" festgesetzten49 zusammenstimmen, wonach die Freiheit in der Gemäßheit der Handlungen zu den Vorstellungen besteht. 2) Dieses neue funktionale Verständnis der Freiheit muß sich mit der 46
47 48
49
Vgl. KGA I/l, 141, 8-10 Vgl. Kant: KrV B 476; Ak 3, 310, 16-20 Schleiermacher hat die Begriffsprägung von politischer und bürgerlicher Freiheit vermutlich von Eberhard übernommen (vgl. dessen Aufsatz „Ueber die Freyheit des Bürgers und die Principien der Regierungsformen", Vermischte Schriften, Bd l, Halle 1784, S. 1-28; hier 7-9). Vgl. KGA I/l, 146, 13 f u. 148, 31 f
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Behauptung von der allgemeinen Notwendigkeit der Handlungen vertragen. Der ersten Anforderung wird dadurch entsprochen, daß Sophron zeigt, daß bei dieser speziellen Definition gerade mit dem unerklärlichen verändernden Eingreifen des vorstellenden Begehrens oder Wollens in die Körperwelt gerechnet wird, während die auf diese Veränderung folgenden Glieder der Kausalkette durch das Naturgesetz der Bewegung bestimmt sind. Der zweiten Anforderung genügt Sophron dadurch, daß er den Funktionalaspekt als in beiden Erklärungen dominant nachweist: Im Begriff der äußeren Freiheit werde gerade der notwendig allseitig verknüpfte Gesamtzusammenhang der Dinge ausgeblendet und nur die Handlungsreihe vom ersten Mittel bis zur Erreichung des vorgesetzten Zwecks gedacht; von jeder äußeren causa efficiens werde dabei abstrahiert und nur auf die causa finalis geblickt; die Merkmale auch dieses Freiheitsbegriffs sind also durch den Funktionalaspekt erfaßt. Den verwickeltsten und in seinen Resultaten überraschendsten Erörterungsgang unternimmt Sophron zum Begriff der inneren Freiheit, nachdem er den der unbestimmten Freiheit nur beiläufig berührt hat. Am Begriff der inneren Freiheit scheint die Kantisch geprägte allgemeine Erklärung zu scheitern, wenn der vorgegebene Satz unbeschränkt Gültigkeit haben soll, daß die Vernunft das Vermögen der Zusammenhangseinsicht ist und demnach das vernünftige Festsetzen des Willens nach seinen Gründen und Folgen notwendig bestimmt sein muß.50 In der Kette vernünftiger Willensbestimmungen wäre dann kein erstes Glied isolierbar, weil das gerade der Vernünftigkeit dieser Willensbestimmung widerspräche. Diese Klippe ist für Sophron Anlaß zu einer grundsätzlichen Überlegung. Diese Schwierigkeit lasse sich nur durch die Erklärung beheben, „was für einen Einfluß eigentlich die Vernunft auf unsre Handlungen hat"51. Zu dieser Untersuchung bedient sich Sophron der Unterscheidung von deutlichen und klaren Vorstellungen.52 Die Deutlichkeit der Vorstellungen sieht er dadurch gekennzeichnet, daß das ursprüngliche Seelenvermögen, Vorstellungen zu produzieren, bei dieser Art von Vorstellungen allein aus sich selbst schöpft und daß es die äußeren Gegenstände allein zur Bezeichnung einzelner Akte benutzt. Die deutlichen Vorstellungen sind also nicht auf die Darstellung ihrer Objekte angewiesen. Sie gewinnen 50 51 52
Vgl. KGA I/l, 149, 31-36 KG A I/l, 150, 7 f Vgl. KGA I/l, 150, 18-20
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Evidenz allein von innen, aus ihrem vernünftigen Zusammenhang untereinander und verhalten sich zu den Objekten der sinnlichen Anschauung und der Einbildungskraft diastatisch. Je deutlicher eine Vorstellung ist, desto weniger hat der mit ihr verbundene zeichenhafte äußere Gegenstand Bedeutung für sie. Die deutlichen Vorstellungen genügen sich selbst und finden gerade keine volle Entsprechung in den Gegenständen (z. B. deutliche Vorstellung eines rechtwinkligen Dreiecks und dessen Zeichnung). Die auf Realisierung von Vorstellungen bedachten Handlungen haben demnach mit der vernünftigen Erzeugung deutlicher Vorstellungen nichts zu tun. Deutliche Vorstellungen haben keinerlei Realisierungstendenz. Demgegenüber meint Sophron mit klaren Vorstellungen die Vorstellungsart, die Lust oder Unlust bewirkt. Und zwar ist die Lust desto größer, je mehr Mannigfaltiges in der klaren Vorstellung verbunden wird und je inniger die Verknüpfung der Elemente ist. Empfindung der sinnlichen Anschauung und Produktivität der Einbildungskraft sind die Anreger und Steigerer dieser Vorstellungen. Das Vergnügen, das diese Vorstellungsart gewährt, wird durch die Wirklichkeit der Gegenstände vermehrt. Folglich sind die klaren Vorstellungen wesentlich auf die wirkliche Darstellung ihrer Inhalte aus. Während bei den deutlichen Vorstellungen gar kein Realisierungsbedürfnis vorliegt, ist für die klaren Vorstellungen gerade dieses Realisierungsbedürfnis charakteristisch. Da sich die Lebhaftigkeit der klaren Vorstellungen als abhängig von sinnlicher Empfindung und Einbildungskraft erweist, müssen die Freiheitshandlungen dieser Vorstellungsart zugeordnet werden. Die Freiheitshandlungen gehören nämlich per defmitionem zu den Handlungen, die einer Vorstellung den entsprechenden Gegenstand verschaffen. Demnach sind sie ausschließlich in die Klasse der klaren Vorstellungen einzuordnen, und die haben mit der Vernunfttätigkeit evidenter Zusammenordnung nichts zu tun. Dieser Satz gilt auch angesichts vernünftiger Regeln für sittliches Verhalten. Denn diese Regeln sind nicht die Triebfedern der sittlichen Handlungen, sondern nur Anleitungen für die Ausführung. Die Vernunft handelt nicht, sie stellt auch keine Motive für Handlungen bereit, sondern gibt nur Kriterien der Beurteilung an die Hand. Alle Vernunftregeln gehören zu den deutlichen Vorstellungen. Demgemäß kann durch sittliche Vernunftregeln deutlich vorgestellt werden, was gut sei, ohne daß dadurch irgendein Motiv entstände, auch gut zu handeln. Alle Handlungsmotive verdanken sich allein der Einbildungskraft, die mit der lustvollen Lebhaftigkeit der klaren Vorstellungen auch das Realisierungsbedürfnis hervorruft. Bedauerlicherweise unterläßt es Schleiermacher in diesem Gedankengang, die für seine Freiheitskonzeption grundlegende Unterschei-
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dung von klaren und deutlichen Vorstellungen transzendental zu deduzieren. Nicht nur scheint er noch mit anderen, hier nicht erörterten Vorstellungsarten zu rechnen53 und somit hilflos zu sein gegen den Vorwurf willkürlicher und unvollständiger Begriffsabgrenzungen, sondern auch bleibt völlig offen, wie sich das Vorstellungsvermögen zur Einbildungskraft und zum Empfindungsvermögen verhält, wie die Gegenstandswelt konstituiert ist und wieso diese Gegenstandswelt nur teilweise mit Lustgefühlen verbunden ist, wo doch Schleiermacher den Lustbegriff von der Sinnlichkeit entschränkt hat.54 Daß die Einbildungskraft und nicht die Vernunft der Bewegungsgrund der Sittlichkeit sei, untermauert Sophron mit einer genetischen Betrachtung der Tugend.55 Unsere Empfindungen sagen uns, was uns Vergnügen macht. Das menschliche Vergnügen ist nicht auf die Empfindungen beschränkt. Die Vernunft belehrt uns über Schönheit und vollendetes Vergnügen. Die Einbildungskraft, die, von Empfindungen angestoßen, ihre Bilder an diese anknüpft, vereinigt einerseits große Reihen von Empfindungen (dadurch überschreitet sie die Gegenwart auf Vergangenheit und Zukunft hin) und verbindet andererseits die Empfindungen mit der Vernunft, deren deutliche Vorstellungen uns über Schönheit und Harmonie unterrichten. Deshalb spürt die Einbildungskraft bei allen Empfindungen der Schönheit nach. Sie sucht, nach Anleitung der beurteilenden Vernunft immer vollkommenere Verbindungen zu schaffen. Die Vernunft entwirft ein sittliches Ideal, in welchem alle unsere entwickelten Kräfte und Neigungen sich in einer vollkommenen Harmonie befinden. So wird das höchste Vergnügen vorgestellt. Die Einbildungskraft strebt danach, dieses Urbild, das wir als einen bloßen Entwurf anschauen und dem gegenüber wir uns zerrissen und häßlich fühlen, dadurch mit den Empfindungen zu vereinigen, daß wir unseren wirklichen sittlichen Zustand als eine partielle Übereinstimmung und Erfüllung des Urbildes empfinden können. Das aus dieser partiellen Übereinstimmung fließende Vergnügen mobilisiert die Kräfte, die zur Arbeit an der Vervollkommnung unseres sittlichen Zustandes nötig sind. Der Abstand gegenüber dem Urbild, der jeweils neu festgestellt werden muß, wird dadurch nicht als niederschlagend, sondern als herausfordernd empfunden. Das Streben nach Vergnügen treibt uns bei aller Pflichterfüllung an. Es läßt uns die Empfindungen sittlicher Häßlichkeit meiden und weist der Tugend den Weg, indem es uns in 53 54 55
Vgl. KGA I/l, 150, 22 Vgl. KGA I/l, 130f Vgl. KGA I/l, 155, 32-158, 36
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unseren äußeren Handlungen Denkmäler unserer Besinnung machen heißt, die uns in der vergegenwärtigenden Erinnerung vergangener Vollkommenheit die sittliche Schönheit dauernd genießen lassen und die in diesem sich immer erneuernden Glücklichsein die Triebfeder zu gesteigerter Sittlichkeit darstellen. Gegenüber dem üblichen Sprachgebrauch, der unter Vergnügen den sinnlichen Genuß versteht, erweitert Sophron den Begriff des Vergnügens auch auf die sittlichen und intellektuellen Genüsse, indem er die Sittlichkeit ästhetisiert. Daß die Tugend um ihrer selbst und nicht um des Vergnügens willen geübt sein will, wird von Sophron so erläutert, daß Tugend wohl im Gegensatz zu den sinnlichen Neigungen stehen kann, zumindest nicht diesen Neigungen unterworfen sein darf, daß Tugend aber gerade im Genuß der sittlichen Vollkommenheit und in der Empfindung der sittlichen Lust ihre Erfüllung findet. Weil die erwartete Lust oder befürchtete Unlust in jedem Fall die Triebfeder des Begehrungsvermögens sind, gibt Sophron die Unterscheidung von oberem und unterem Begehrungsvermögen auf und spricht der Vernunft alle Kausalität auf die Handlungen ab. Das sittliche Vergnügen ist eine sinnliche Empfindung und tritt demgemäß im Begehrungsvermögen in Konkurrenz zu den sinnlichen Neigungen. Die Entscheidung für eine bestimmte Handlung fällt nach den naturkausalen Gesetzen des Begehrungsvermögens. Die Vernunft kann auf diese Entscheidung nur dadurch Einfluß haben, als es ein sittlichsinnliches Lustgefühl gibt, das durch die unsinnlichen Ideen der Vernunft hervorgerufen wird. Vernünftige Handlungen geschehen also der Vernunft gemäß, sind aber nicht durch die Vernunft bewirkt. Wird durch diese Ausweitung des Vergnügungsbegriffs, so wird man Schleiermacher fragen müssen, aber nicht seine grundlegende Unterscheidung von deutlichen und klaren Vorstellungen unterminiert? Wird man nicht auch den deutlichen Vorstellungen Vergnügen und also sinnliche Empfindungen zustellen müssen? Sophron verteidigt seine Ethik energisch gegen den Vorwurf „eines vollkomnen moralischen Empirismus"56. Er bedient sich des Vergleichs mit der Kantischen Kritik der praktischen Vernunft, um seine eigene Erklärung noch weiter zu präzisieren. Er hält in der Abgrenzung gegen den Kantischen Willensbegriff daran fest, daß die Vernunft unmittelbar in keiner Weise praktisch sein könne. Sie bringe keine Handlungen hervor, sondern gebe in der Bestimmung des Willens nur vernünftige Regeln für das Begehrungsvermögen, das allein durch das Streben nach Vergnügen 56
KGA I/l, 160, 27
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motiviert werde. Das Begehrungsvermögen unterliege keinen Freiheitsgesetzen, sondern nur Naturgesetzen. Welcher Art diese Naturgesetze sind, läßt Sophron hier offen. Ihm kommt es hier nur auf die Geltung der Kausalitätsidee an. Sophron weist gegen Kant dem sittlichen Gefühl eine wesentliche Vermittlungsfunktion für die Vernunft zu. Die Vernunft könne nur mittelbar durch das Lust- oder Unlustgefühl wirken, welches das Sittengesetz mittels der klaren Vorstellung beim Vergleich unseres sittlichen Zustandes mit dem sittlichen Ideal hervorbringe. Nicht die Achtung fürs Gesetz, sondern die Liebe zum sittlichen Wohlgefallen, zum Vergnügen an der Harmonie mit dem sittlichen Ideal sei das Motiv für sittliche Handlungen. Das sittliche Gefühl sei genauso wie alle anderen wesentlich von Lust oder Unlust begleitet. Da die Gesetze der Vernunft und die des naturhaften Begehrungsvermögens gänzlich heterogen seien, könnten Vernunft und Begehrungsvermögen im sittlichen Gefühl nur dann übereinkommen, wenn das Sittengesetz selbst lustvoll sei und das Erlangen dieses Vergnügens für das Begehrungsvermögen zur naturgesetzlich wirkmächtigen Aufgabe werde. Das sittliche Gefühl sei also sinnlich, habe aber einen unsinnlichen Gegenstand. Nur auf diese sinnliche Weise könne das Unsinnliche in der Sinnenwelt wirken. Damit redet Sophron aber keinem einfachen Empirismus das Wort, denn das unsinnliche Vernunftelement wird ja nicht verneint oder bedeutungslos gemacht, sondern nur die empirische Dimension des Transzendentalismus präzisiert. Weil das sittliche Gefühl nicht allein a priori durch die reine Vernunft bestimmt wird, sondern sehr wohl auch aposteriorische Elemente hat, das sittliche Gefühl also das Verbindungsglied zwischen Vernunft und Sinnenwelt ist, ist für Schleiermacher die Kantische Behauptung unhaltbar, daß die Vernunft den bedingenden ersten sinnlichen Anfang einer Erscheinungsreihe setze. Die sittliche Wirksamkeit der Vernunft besteht nur in der Ableitung anderer speziellerer Praxisregeln und in der Beurteilung und Modifikation schon vorhandener Maximen, die aus anderen Quellen gebildet worden sind. Weil die Wirksamkeit der Vernunft also auf die Ausbildung des moralischen Regelsystems eingeschränkt ist, dieses Regelsystem sich aber unter dem Einfluß der aposteriorischen Lebensumstände ändert (die Regeln müssen dem jeweiligen Stand der sittlichen Vervollkommnung angepaßt werden), so kann daraus kein intelligibler Charakter der Vernunft, der nach Kant in einem unveränderlichen Gesetz der Vernunftkausalität bestehen müßte, ermittelt werden. Hier ist allerdings wohl über Schleiermacher hinausgehend eine weitere Näherbestimmung nötig, weil die für Vernunft konstitutive Allgemeinheit ihrer
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Ideen und Regeln keineswegs die Annahme gestattet, die aposteriorischen Lebensumstände führten direkt zu Änderungen der Vernunftregeln. Die von der Vernunft aufgestellten Regeln bleiben ja immer in Gültigkeit. Nur die Applikation, über die die Urteilskraft entscheidet, adaptiert die Regeln an die jeweiligen Situationen. Die Intelligibilität der Vernunft, die Schleiermacher ja sonst gerade intendiert, läßt sich auch hier retten, wenn das Urteilsvermögen als Vermittlungsinstanz eingeführt wird, die die allgemeinen Vernunftregeln in konkrete Situationsregeln übersetzt. Sodann werden von Schleiermacher nicht nur die Funktion, sondern auch die Merkmale dieses sittlichen Gefühls anders bestimmt als von Kant. Das sittliche Gefühl steht nach Schleiermacher nicht allen natürlichen Neigungen verneinend bzw. einschränkend gegenüber. Da es sich vielmehr in jeder Situation und zu jeder Handlung neu bilde, schränke es jeweils einige Neigungen ein und unterstütze andere. Das sittliche Gefühl habe keine durchgängige feste Gestalt und Größe, die a priori von der Vernunft bestimmt wäre. Es sei in verschiedenen Lebensaltern, bei verschiedenen Menschen und in verschiedenen Handlungssituationen jeweils anders entwickelt und gestaltet. Es sei nämlich nicht nur von den deutlichen Vorstellungen der Vernunft abhängig (das spräche für eine Unwandelbarkeit des sittlichen Gefühls), sondern auch vom pathologischen Empfindungsvermögen, dessen natürliche Rezeptivität für die Affektion der sittlichklaren Vorstellung unterschiedlich ansprechbar ist. Man müßte hier auch noch an die unterschiedliche Kräftigkeit und Fertigkeit der Einbildungskraft erinnern, die ja dem sittlichen Gefühl durch die Applikation auf den jeweiligen Lebensakt erst seine Lebhaftigkeit und Farbigkeit zustellt. Schließlich befreit Schleiermacher den Zurechnungsbegriff von seiner Einschränkung, daß nur dort zugerechnet werden könne, wo das Gesollte auch gekonnt worden sei. Für Schleiermacher meint Zurechnung den Vergleich der tatsächlichen Bestimmung des Begehrungsvermögens, die durch die jeweilige Konstellation der subjektiven Bewegungsgründe verursacht ist, mit der geforderten Bestimmung, die in der deutlichen Vorstellung des praktischen Vernunftgesetzes vorgezeichnet ist. Das beurteilende Gewissen konstatiert Abstand oder Übereinstimmung, daraus entspringen Unlust oder Lust. Eine Zurechnung erfolgt also in jedem Fall. Sie erfolgt auch dann, wenn es zu einem Sollen kein Können gibt. Die Zurechnung wird dadurch nicht außer Kraft gesetzt, daß die Vernunft weder die Forderung der Sittlichkeit erfüllen kann, moralische Regeln für jeden Einzelfall aufzustellen, noch die Forderung der Sinnlichkeit, die gesamten Neigungen dauerhaft und in größter Intensität harmonisch zu befriedigen.
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Schleiermachers Freiheitskonzeption in seinem „Freiheitsgespräch" zeigt trotz mancher Abbreviaturen und Widerläufigkeiten eine markante Vermittlungsleistung. In ihr hat er die in den ersten beiden Untersuchungen zum höchsten Gut und zum sittlichen Gefühl offengelassenen Fragekreise in ein neues Licht gestellt. Er zielt auf eine Vereinigung Eberhardscher und Kantischer Anliegen. Schleiermacher hat die Bedeutung der Vernunft für das Begehren und Handeln dadurch präzisiert, daß er durch das Begriffspaar deutlicher bzw. klarer Vorstellungen die Vernunft aus der Motivationssphäre ausschließt. Die Vernunft ist ohne Realisierungsimpuls für die von ihr gebildeten deutlichen Vorstellungen. Schleiermacher bestimmt die Vernunft primär theoretisch als Evidenz vermögen. Sie ist das Vermögen der Zusammenhangseinsicht. Die Vernunft wird in praktischer Hinsicht hauptgewichtig als Beurteilungsvermögen beansprucht und eingesetzt. Ihre praktisch-gesetzgebende Bedeutung wird nur sekundär zur Geltung gebracht. Damit gewinnt der Schleiermachersche Vernunftbegriff hier nicht die wünschenswerte Differenziertheit. Sein theoretischer und praktischer Aspekt sind nicht genug unterschieden, genauer: sein praktischer Aspekt ist stark von seinem theoretischen her konzipiert. Zu dieser stark theoretischen Akzentuierung stimmt auch die von Eberhard übernommene Freiheitsdefinition als Gemäßheit der Handlungen zu den Vorstellungen. Welches sind die Schleiermacher leitenden Motive? Will er die Kantische Vernunftkritik so deuten, daß sie für die Hallesche Schulphilosophie konvenabel wird? Oder will er die Kantische Vernunftkritik konsequent machen, den Vernunftbegriff selbst von allen aposteriorischen Elementen reinigen und die Wirkweise dieser reinen Vernunft im kausalbestimmten Begehrungsvermögen erklären? Schleiermachers Selbstaussagen weisen in die zweite Richtung.57 Allerdings ist Schleiermachers Bemühen, zwischen Hallescher Schulphilosophie und Kantischer Vernunftkritik zu vermitteln, unverkennbar und höchst folgenreich. Im Gegensatz zu den ersten beiden Untersuchungen, die sich direkt mit Kant auseinandersetzen, wirkt sich im „Freiheitsgespräch" der Ansatz, den Schleiermacher von der Halleschen Schulphilosophie mit ihrem theoretisch orientierten Vernunftbegriff und ihrem vorstellungsorientierten Handlungsbegriff nimmt und den er als erschließbar für das Kantische Anliegen der Vernunftkritik erweisen will, prägend auf den gesamten Überlegungsgang aus. Von beiden Seiten handelt sich Schleiermacher Schwierigkeiten ein: von der Halleschen Schulphilosophie die Undeutlichkeiten im Vernunftbegriff, vom Kantischen Kritizismus das Vermittlungsproblem zwi57
Vgl. KGA I/l, 95, 21-96, 24 u. 160, 30-32
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sehen Vernunft und Begehrungsvermögen. Die radikal gefaßte Apriorität der Vernunft erschwert eher die Erklärung ihrer Wirkweise im Begehrungsvermögen und macht die Lösung der Vermittlungsfrage zwischen empirisch-kausaler Handlungswelt und vernünftig-autonomer Freiheitswelt noch dringender. Die reduktiv-theoretische Bestimmung der Vernunft als Regel vermögen58, die Schleiermacher aus der Schulphilosophie übernimmt, schneidet alle Erklärungsversuche in Richtung einer Selbstauslegung und Selbstvermittlung der Vernunft ab. Schleiermachers Erklärung hat ihr Zentrum im Begriff des sittlichen Gefühls, der selbst gleichsam schon das Kind beider Welten ist und der seinerseits eine Einbettung in einen stark ausgeweiteten Lust- bzw. Gefühlsbegriff verlangt. Das sittliche Gefühl vermittelt die Dualität von Vernunft und Empirie. „Das Vermögen nach vernünftigen Gründen zu handeln heißt nichts anders als das Vermögen durch ein Gefühl von Lust bestirnt zu werden welches durch die moralischen Ideen der Vernunft bewirkt."59 Die Einbildungskraft hat die Mittlerrolle zwischen Vernunft und Begehrungsvermögen. Zieht der Gefühls- bzw. Lustbegriff durch seine starke Ausweitung aber nicht den Verdacht einer Amphibolic auf sich? Wird durch diese Ausweitung nicht die Differenzierung anderer Begriffe konterkariert? Schleiermachers Konzeption ist gerade durch ihre große Vermittlungsleistung sehr verschieden deutbar: empiristisch, rationalistisch oder kritizistisch. Die Umrisse einer deterministischen Ethik hat Schleiermacher durch den Begriff der reinen praktischen Vernunft, des sittlichen Gefühls und der Freiheit gezeichnet. Diese Umrisse zeigen eine originelle Konzeption, die Neugierde weckt. Die Ausführung in durchgefeilter Begrifflichkeit steht freilich noch aus. Um sie bemüht sich Schleiermacher in seiner großangelegten systematischen Abhandlung „Über die Freiheit".
58 59
Vgl. KGA I/l, 149, 32f KGA I/l, 160, 14-16
2) Grundlinien einer deterministischen Ethik („Über die Freiheit" 1790-1792) Schleiermachers Abhandlung „Über die Freiheit" ist die umfangreichste, anspruchsvollste und wohl auch schwierigste Arbeit im Korpus seiner Jugendschriften. Diese Abhandlung, die Schleiermacher wahrscheinlich in den Mußestunden seiner Schlobittener Hauslehrerjahre niedergeschrieben und deren Fertigstellung er vermutlich zugunsten der Schrift „Über den Wert des Lebens"60 unterlassen hat, ist die detaillierte Darstellung einer deterministischen Willens- und Handlungserklärung. Sie ist leider Fragment geblieben.61 Doch schmälert dieser Umstand nicht den konzeptionellen Rang dieser Abhandlung, die Schleiermacher als eine präzisierende Erhellung der Kantischen Freiheitskonzeption versteht.62
60 61
62
Vgl. KGA I/l, 393-471 In vier großen „Abschnitten" erörtert Schleiermacher die Freiheitsthematik. Im ersten Abschnitt beschreibt Schleiermacher das Begehrungsvermögen sowohl hinsichtlich seiner Art im Kontext der anderen menschlichen Seelenvermögen als auch hinsichtlich seiner einzelnen Tätigkeiten. Der zweite Abschnitt dient der Sicherung der so gewonnenen deterministischen Willens- und Handlungserklärung gegen mögliche Einwürfe; dabei geht Schleiermacher ausführlich auf die Frage der sittlichen Zurechnung, auf die der göttlichen Gerechtigkeit angesichts der unterschiedlichen menschlichen Lebensumstände (Theodizeeproblem) und auf die des unmittelbaren Freiheitsgefühls ein. Im dritten Abschnitt bemüht sich Schleiermacher um eine historische Genese der Fehler der praktischen Philosophie. Der vierte Abschnitt schließlich sollte den Freiheitsbegriff auf eine unmißverständliche Weise erklären und diese Erklärung durch die Erprobung in den drei möglichen prädikativen Anwendungsfeldern bewähren. Hier hat Schleiermacher sein angegebenes Ziel nicht erreicht: der zweite Anwendungsfall ist kaum, der dritte gar nicht ausgearbeitet. Vgl. KGA I/l, 220, 4—8. In dieser Selbsteinschätzung sind mehrere Motive gebündelt. Zum einen teilt Schleiermacher die Grundeinsichten der Kantischen Transzendentalphilosophie. Zum anderen will er die Kantische Konzeption von einigen Selbstwidersprüchen, Inkonsequenzen und Halbheiten befreien. Ferner will er die Verbindung mit den tradierten Problemkonstellationen herstellen. Endlich will er die kritische Freiheitslehre in einer Sprach- und Argumentationsgestalt darstellen, die sich deutlich von der Kantischen unterscheidet und die die terminologische Schul- bzw. Parteibildung unterläuft.
Grundlinien
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a) Die Grundlegung Schleiermachers Verfahren nimmt seinen Ausgang von einer reflektiert ausformulierten praktischen Idee, entwickelt die Implikationen und Folgebestimmungen dieser Idee und untersucht, ob dies mit den faktischen Seelenabläufen zusammenstimmt.63 Auf diese Weise kann die Eigenständigkeit und Dominanz des praktischen Interesses gewahrt werden, ohne daß auf die Befriedigung des theoretischen Interesses Verzicht geleistet werden müßte.
a) Der Begriff des Begehrungsvermögens Schleiermacher geht bei seiner Begriffsbestimmung des Begehrungsvermögens von der Kantischen Definition aus: „Das Begehrungsvermögen ist das Vermögen desselben [sc.: eines Wesens], durch seine Vorstellungen Ursache von der Wirklichkeit der Gegenstände dieser Vorstellungen zu seyn."64 Das Mangelhafte der Kantischen Definition sieht Schleiermacher in der Begriffsvermischung von Begehren und Handeln. Das Begehren müsse so erklärt werden, daß das Handeln als ein eigener Lebensakt gesondert begriffen werde. Das Begehrungsvermögen selbst handele nicht65; es habe keine unmittelbare Wirksamkeit in der Sinnen weit; es könne deshalb auch nicht als Ursache der Realisierung von Vorstellungsgegenständen angesprochen werden, wie es Kant tut. Schleiermacher selbst unternimmt eine Begriffsbestimmung des Begehrungsvermögens, bei der er auf den Trieb als das allgemeinere Seelenvermögen zurückgeht. Von diesem Gattungsbegriff aus will er die besondere Art des Begehrungsvermögens bestimmen. Dabei hält er sich modifizierend an den Begriff des Triebes, wie er von Reinhold formuliert worden ist, der dadurch die realisierende Kraft abgrenzt vom Vorstellungsvermögen als dem Möglichkeitsgrund.66 Wie Schleiermacher den Trieb als die wesentliche Tätigkeit des Subjekts versteht, die Vorstellungen zu produzieren, so begreift er das Begehrungsvermögen als das Vermögen der Konkretisierung des allgemeinen Triebes auf ein einzelnes Triebobjekt. 63 64 65
66
Vgl. KGA I/l, 299f Kant: KpV 16; Ak 5, 9, 20-22; Sperrungen aufgehoben Wenn Schleiermacher selbst von solchen „Handlungen" (vgl. KGA I/l, 226, 8f) spricht, so kann das nur uneigentlich gemeint sein. Vgl. Reinhold: Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens, Prag/Jena 1789, S. 560 f
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Das Begehrungsvermögen ist für Schleiermacher demnach der Ort der Triebkonkretisierung; in ihm wird die Vermittlung von Allgemeinem und Besonderem in bezug auf den Trieb ermöglicht und vollzogen. Im Begehren legt sich der Trieb auf ein bestimmtes Objekt fest. Das Handeln ist dann ein weiterer, davon ganz unterschiedener Schritt, nämlich die Wirksamkeit des sinnlichen Vermögens entsprechend dieser Triebbestimmung. Im Hinblick auf diese physische Wirksamkeit des Handelns kann Schleiermacher das Begehren noch genauer durch die beiden niederen Begriffe des Beschließens und des Wünschens erklären. Beim Beschließen wird mit der Triebkonkretisierung des Begehrens zugleich die Bestimmung der physischen Wirksamkeit mitgedacht, während beim Wünschen diese Bestimmung ausdrücklich ausgeschlossen ist, weil das Handlungsvermögen als unzureichend gewußt wird. Beim Wünschen wird also der Überschritt vom Begehren zum Handeln blockiert, während er beim Beschließen mitgesetzt wird.67 Für die Schleiermachersche Beschreibung des Begehrungsvermögens ist noch eine andere Unterscheidung höchst wichtig: der Unterschied zwischen Willkür und Instinkt. Das Begehrungsvermögen ist Instinkt, wenn die Triebkonkretisierung nur durch einen Gegenstand, an dem sich der einzelne Trieb festmacht, erfolgen kann: Diese Singularität impliziert, daß das Begehren an die Erscheinung des Gegenstandes gekoppelt ist, daß die Tendenz zum Handeln sich unmittelbar an das Begehren anschließt und daß folglich die Dauer des Handelns an das Vorhandensein des Gegenstandes gebunden ist. Nach Schleiermacher ist diese Modifikation des Begehrungsvermögens ein Konstrukt, denn es sei kein Subjekt bekannt, das nur instinktiv begehre, ja auch keine Handlung, die nur instinktiv erfolge; aber dieses Konstrukt ist notwendig und nützlich, weil diese Begriffsbildung den komplementären Begriff der Willkür beleuchtet.68 Bei der Willkür erfolgt die Triebkonkretisierung, indem mehrere Gegenstände, die den Trieb bestimmen können, miteinander verglichen werden und einer gewählt wird. Hier besteht also ein zeitlicher Abstand zwischen dem Erscheinen des reizenden Gegenstandes und der Tendenz zum Handeln. Hier kann, auch wenn der reizende Gegenstand derselbe bleibt, die Triebbestimmung eine andere werden, wenn nämlich das Umfeld sich ändert. Begehren und Handeln treten deutlich auseinander. Die Bestimmung des Begehrungsvermögens ist bei der Willkür nur nach erfolgtem Vergleich möglich. „Das Objekt erscheint und das Begehrungs67 68
Vgl. KGA I/l, 223, 2-4 u. 224, 2-5 Vgl. KGA I/l, 224, 10-21
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vermögen gelüstet, aber die vollständige Bestimmung des Triebes wird noch aufgehalten durch das Bewußtseyn der Nothwendigkeit mehrere Bestimmungsgründe aufzunehmen, und erst wenn dieses geschehen ist begehrt es."69 Durch dieses Auseinandertreten von Gelüsten und Begehren ergibt sich das Bewußtsein der Wahlfreiheit. Schleiermacher nimmt hier die Freiheitsdefinition Jerusalems, Jochs und anderer Aufklärer auf, daß Freiheit in der Fähigkeit zum Handlungsaufschub bestehe.70 Durch den Begriff des Willens präzisiert Schleiermacher die Beschreibung des willkürlichen Begehrungsvermögens noch weiter. An dieser Stelle unterscheidet er zwischen menschlicher und tierischer Willkür. Das menschliche Begehren ist nämlich immer willkürlich; das tierische dagegen kann willkürlich sein, da es nur durch äußere Gegenstände bestimmt wird und es also vom Zufall abhängt, ob das tierische Begehrungsvermögen gerade durch mehrere Gegenstände oder nur durch einen zur Triebkonkretisierung gereizt wird.71 Das menschliche Begehrungsvermögen ist wesentlich Wille: „Wenn ein willkührliches Begehrungsvermögen in einem Subjekt mit einem Verstand verbunden ist, so bildet sich dieser allgemeine Begriffe von den gemeinschaftlichen Bestandtheilen einzelner Bestimmungen der Willkühr und durch Vergleichung mit ihrem Erfolg Urtheile über ihre Subordination welche als Regeln für künftige Fälle gedacht werden, das heißt Maximen, und ein Begehrungsvermögen für welches die Idee der Darstellung seiner Maximen in einzelnen Fällen ein Objekt des Triebes werden kann heißt ein Wille."12 Die Argumentation, durch die Schleiermacher den Satz „ein Wille ist notwendig immer willkürlich" erläutert, ist fragmentarisch und ungenau. Sie operiert verdeckt mit verschiedenen Bedeutungsaspekten der Allgemeinheit von Verstandessätzen. Im menschlichen Begehrungsvermögen wird jede überhaupt nur mögliche Triebkonkretisierung als unter allgemeinen praktischen Sätzen des Verstandes enthalten gedacht. Diese allgemeinen Sätze implizieren keinen Realisierungsimpuls. Sie werden zu motivierenden und leitenden Maximen erst dadurch, daß das Begehrungsvermögen durch einen Gegenstand gereizt und damit die Befolgung dieser 69
70
71 72
KGA I/l, 226, 9-12 Vgl. KGA I/l, 226, 14f. Dazu Joch: Über Belohnung und Strafe nach Türkischen Gesetzen, 2. Aufl., Bayreuth/Leipzig 1772, S. 278 f. Vielleicht ist Schleiermachers Kenntnis von dieser Definition durch Eberhard vermittelt: „Jerusalem setzt die Freiheit in das Vermögen eine Handlung zu suspendiren, bis man den Gegenstand auf allen Seiten bedächtig geprüft habe." (Neue vermischte Schriften 84) Vgl. KGA 1/1,227, 11-21 KGA 1/1,226, 21-28
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Sätze angeregt wird. Die Allgemeinheit der Sätze, unter die jeder reizende Gegenstand muß subsumiert werden können, erfordert eine Mehrzahl möglicher reizender Gegenstände. Diese Mehrzahl ist dadurch sichergestellt, daß in einem Willen für jede Situation die Idee der Darstellung der leitenden Maxime als möglicher Gegenstand des Begehrens mitgesetzt ist. Schleiermacher schließt seine allgemeine Beschreibung des Begehrungsvermögens mit einer kurzen Darstellung der praktischen Vernunft. 73 In diesem Begriff wird die Verbindung von Wille und Vernunft gedacht. Die praktische Vernunft, die das Prinzip des Willens ist, versucht die unendliche Aggregation der Maximen in eine systematische Einheit zu bringen. Da sie aber das System wegen der unendlichen Anzahl der Maximen durch Ausgrenzung niemals abschließen kann, muß sie sich auf die Bildung der organisierenden Idee dieses Systems einschränken. Die moralische Urteilskraft muß dann in jedem Einzelfall die aufgestellte Maxime auf ihre Verträglichkeit mit der organisierenden Idee vergleichen. So ist die moralische Urteilskraft bei jedem Akt des Begehrens immer wieder aufs neue gefordert. Neben diesem je aktuellen Erwägen der Sittlichkeit der Maximen läßt sich noch eine andere Vernunfttätigkeit beobachten. Die Vernunft entwirft nämlich entsprechend der organisierenden Idee und entsprechend den aus ihr hergeleiteten Regeln ein Ideal, in dem alle nur möglichen sittlichen Einzeltätigkeiten in ein Bild zusammengefaßt sind, und stellt diesem Ideal wie auch der Gesetzesidee Verbindlichkeit für das Begehren und Handeln zu. In seiner allgemeinen Beschreibung des Begehrungsvermögens ist es Schleiermacher gelungen, die Grundbegriffe seiner Freiheitskonzeption so zu entwickeln, daß sowohl die durchgängige Determination der Begehrakte als auch die Eigentümlichkeit sittlich-vernünftiger Willensbestimmung einsichtig wird. Das Nebeneinander von Verstand und Begehrungsvermögen wird allerdings nur anthropologisch-phänomenologisch eingeführt und nicht transzendental deduziert. Diese Deduktion ist als Aufgabe erkannt und auch ansatzweise durch den Rückgriff auf Reinholds Triebbegriff in Angriff genommen. In der vorliegenden Gedankenabbreviatur wird der Deduktionsgang nicht ersichtlich. Schleiermacher teilt hier offensichtlich und stützt sich auf Reinholds Begriff des Vorstellungsvermögens als dem grundlegenden Seelenvermögen, der die erforderliche spekulative Einheit der Kantischen Vernunftkritik erreichen soll. Schleiermacher wertet Reinholds Entwurf nur für seine Zwecke aus, ohne sich die Frage zu stellen, ob der Reinholdsche Grundbegriff der Vorstellung 73
Vgl. KGA I/l, 227, 32-228, 6
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angemessen die Gesamttätigkeit des vernünftigen Subjekts erfassen könne. Er meint wohl auf diese spekulativ-kritischen Überlegungen verzichten zu können, weil er das Schwergewicht seiner Erörterungen ganz auf die praktischen Interessen und Begriffe legen will und weil dafür der spekulativ-transzendentale Begründungsrahmen nur sekundäre Bedeutung hat.74
ß) Die Funktionsweise des Begehrungsvermögens Nachdem Schleiermacher die Art des Begehrungsvermögens im Zusammenhang der Seelenvermögen allgemein beschrieben hat, wendet er sich der Frage zu, wie das Begehrungsvermögen im einzelnen aufgebaut sei und funktioniere. Diese Frage erwächst für Schleiermacher aus dem praktischen Interesse, und ihre Antwort darf folglich auch nur in diesem praktischen Horizont gesucht werden. Eine Verwandlung in theoretische Fragen (z. B. in die, wie sich das Begehren zu anderen Naturkräften verhalte, oder in die, wie sich das Begehren von der Wirksamkeit physischer Kräfte unterscheide) führe nur zu einer völligen Verwirrung der Untersuchung. Auch die theoretische Frage nach der Kompatibilität der Funktionsgesetze des Begehrungsvermögens mit den allgemeinen Verstandesgesetzen für die Natur sei noch an theoretische Prämissen gebunden (Verhältnis Natur - Mensch) und sei für eine genaue Untersuchung nicht förderlich, die auf ein allgemeingeltendes Ergebnis abziele.75 Da der gesunde Menschenverstand und das innere Freiheitsgefühl wegen ihrer Widersprüchlichkeit und Wandelbarkeit von Schleiermacher als Bewahrheitungsinstanzen für die Untersuchung abgewiesen werden76, bleibt nur eine Untersuchung aus Prinzipien; diese darf sich aber allein an das praktische Interesse anschließen und muß alle spekulativen Vorentscheidungen und ontologischen Prämissen abwehren. Schleiermachers Anliegen ist deshalb die Erklärung der Funktionsweise77 des Begehrungsvermögens, wobei durch diese Erklärung die als notwendig vorausgesetzte sittliche Verbindlichkeit gerade anerkannt und sichergestellt werden soll. Der große 74
7=
76 77
Vgl. KGA I/l, 228, 7-9 Die begriffliche Unterscheidung zwischen allgemeingültigen und allgemeingeltenden Sätzen (vgl. KGA I/l, 219, 25 f) hat Schleiermacher von Reinhold übernommen (vgl. Versuch 71 f). Vgl. KGA I/l, 228, 16-20; vermutlich gegen Eberhard Schleiermachers Ausdruck „Handlungsweise" (KGA I/l, 229, 23) ist mißverständlich, weil in der intentio recta von einem Handeln des Begehrungsvermögens keine Rede sein kann.
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Gewinn einer solchen an der Verbindlichkeit sich orientierenden Leitfrage ist, daß von der inhaltlichen Bestimmung des Sittlichkeitsgesetzes abstrahiert wird und daß folglich die damit verbundenen mannigfaltigen Verwicklungen und Auseinandersetzungen auf die Seite gesetzt werden können. Der Begriff der sittlichen Verbindlichkeit ist ein reiner Relationsbegriff: Er gibt das Verhältnis des begehrenden und handelnden Subjekts zur Leitidee des Sittlichkeitsgesetzes an, wie auch immer dieses Gesetz inhaltlich formuliert sein mag.78 Und zwar zielt die Verbindlichkeit auf Übereinstimmung des einzelnen Aktes mit der Leitidee. Um den Verdacht auszuräumen, die Definition der Verbindlichkeit sei doch schon immer am reinen praktischen Vernunftgesetz orientiert und damit das Programm einer relational-strukturalen Definition konterkariert, bemüht sich Schleiermacher nachzuweisen, daß die Definition nicht allein für das Vernunftgesetz, sondern für die verschiedensten inhaltlichen Ausfüllungen der Gesetzesidee Gültigkeit hat. Im relational-strukturalen Begriff der Verbindlichkeit entdeckt Schleiermacher vier Merkmale, die für die Erklärung des Begehrungsvermögens wichtig sind. Erstens ergibt sich für das Verhältnis von Subjekt und Gesetz, daß das Sittlichkeitsgesetz nicht mit naturgesetzlicher Unausweichlichkeit und Absolutheit auf das Subjekt wirkt, daß das Begehrungsvermögen also kein vernünftiger Instinkt ist, der nur durch das Gesetz allein absolut bestimmbar wäre und bestimmt würde. Es kann sehr wohl vom Sittlichkeitsgesetz der Vernunft abstrahiert werden, und dann folgt, so urteilen wir, das Begehrungsvermögen anderen Antrieben, es ist vernunftlos. Daß dann überhaupt „nichts in der Sache dem Gesez gemäß geschehen würde"79, ist eine unzulässige Übertreibung Schleiermachers, denn zufällige Übereinstimmung eines Begehrens mit dem von der Vernunft Geforderten kann nicht ausgeschlossen werden. Der Ausdruck „dem Gesetz gemäß" ist mehrdeutig, weil sowohl auf das Motiv als auf das Resultat als auch den Vollzug des Begehrens geblickt werden kann. Schleiermacher weist im Leitsatz des empirischen Hedonismus, sich in seinen Maximen durch nichts als die sinnliche Augenblicksneigung bestimmen zu lassen, die formale Struktur der vernünftigen Gesetzhaftigkeit einer jeden praktischen Idee nach, die das Begehren und Handeln des Subjekts durchgängig reguliert.80 Bei seiner Synthesis der Maximen und ihrer jeweiligen Subordination setze der Hedonismus voraus, daß das Begehrungsvermögen von verschiedenen 78
Vgl. KGA I/l, 229, 31-35 und Eberhard: Sittenlehre 35f. 82 KGA I/l, 230, 4 eo Vgl. KGA I/l, 230, 30-231, 33
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Antrieben gereizt werde, daß die formulierte Leitidee keine unbedingte Herrschaft über das Begehrungsvermögen habe, daß im Widerstreit der Antriebe die situative Neigung durch das Bewußtsein dieser Leitidee sieghaft verstärkt werde. Die Unterscheidung von Legalität (Handlungserfolg) und Moralität (Gesinnung), die der reine Vernunftphilosoph, für den Schleiermacher hier sehr offen seine Sympathien zeigt, zur Kennzeichnung der verschiedenen Gesetzesgemäßheit des Subjekts benutzt, taucht beim Vertreter des Glückseligkeitslehre in der Gestalt von zufällig erhaltenem und planmäßig erworbenem Vergnügen auf. Zweitens muß nach der Verbindlichkeitsidee dem Sittlichkeitsgesetz eine hypothetische Kausalgesetzlichkeit für das Begehrungsvermögen zugeschrieben werden. Wenn die Vernunft der alleinige Bestimmungsgrund des Begehrungsvermögens wäre, ergäbe sich eine völlige Übereinstimmung von Begehrungsvermögen und Gesetz; Begehren und Handeln wären dem sittlich-vernünftigen Gesetz völlig gemäß. Dieses zweite Merkmal hat keine eigenständige Bedeutung, sondern zieht nur die Konsequenz des ersten Merkmals. Drittens schließt die Verbindlichkeitsidee eine Aussage über die moralischen Urteilsmaßstäbe ein. Wenn die Vernunft die Vollkommenheit oder den Wert des Subjekts beurteilt, hat sie allein ihr Sittlichkeitsgesetz zum Maßstab. Auch jedes empirische Sittlichkeitsgesetz hat den Status, eine hypothetische Herrschaft über das Begehrungsvermögen auszuüben, und an seine Befolgung knüpft sich die Wertschätzung von Personen und Handlungen. So wird der Egoist, der alle anderen Personen gemäß ihrem Nutzen für sich selbst wertet, dieses Prinzip auch bei den anderen unterstellen und ihren Wert (nicht ihren Nutzen) in die Befolgung dieses Prinzips setzen: ein Egoist wird nur einen Egoisten achten.81 Dasselbe gilt für den empirischen Hedonisten. Viertens rechnet die Vernunft nach der Verbindlichkeitsidee für jeden Einzelfall damit, daß ihre hypothetische Herrschaft über das Begehrungsvermögen sich gegen alle anderen Antriebe müsse durchsetzen können und daß folglich das Subjekt in jeder Situation dem praktischen Vernunftgesetz gemäß sich bestimmen könne. Dieses Gesetz hat ideale Notwendigkeit. Aber auch die Vertreter der verschiedenen empirischen Moralsysteme (Glückseligkeitssysteme) sind nach Schleiermacher von der durchgängigen Realisierungsmöglichkeit ihres jeweiligen Sittlichkeitsgesetzes in jedem Einzelfall überzeugt.82 Dies gilt auch, wenn für den äußerlichen Erfolg 81 82
Vgl. KGA I/l, 231, 33-232, 4 Vgl. KGA I/l, 232, 4-15
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des regelhaften Glückseligkeitsbegehrens nur eine Wahrscheinlichkeit angenommen wird, da die Bestimmung des Begehrungsvermögens notwendig in allen Einzelfallen dieser Leitidee gemäß sein muß. Dieser von Schleiermacher so präzisierte Begriff der Verbindlichkeit ist sowohl logisch als real möglich. Er ist logisch möglich, weil hinsichtlich der behaupteten Angemessenheit des Begehrens zum Gesetz kein Subjektbegriff einer Aufgabe denkbar ist, der nicht in einem am Gesetz orientierten Prädikatbegriff seine Auflösung fände. Er ist real möglich, weil für keinen Fall diese Auflösung nicht innerhalb der Leistungsgrenzen der menschlichen Seelenvermögen denkbar ist.83 Über diesen allgemeinen Möglichkeitserweis hinausgehend würde die Forderung, für jeden Einzelfall die Gründe der Möglichkeit angeben zu können, den Begriff der Verbindlichkeit gerade zersetzen. In jedem Einzelfall wäre die Gesetzesgemäßheit dann nämlich notwendig, und das höbe die Verbindlichkeit auf. Die Gründe für allgemeine Möglichkeit und konkrete Wirklichkeit müssen verschieden bestimmt werden. Deshalb gilt die allgemeine Möglichkeit von sittlichen Handlungen, zu denen wir verbunden sind, auch dann, wenn im Einzelfall keine die Realisierung tragenden Gründe vorhanden sind, wenn also dem allgemeinen Sollen ein konkretes Nicht-Können gegenübersteht. Wenn der von Schleiermacher entwickelte Begriff der Verbindlichkeit als allgemeingeltend angesehen werden kann, so muß die noch anstehende Frage nach der Funktionsweise des Begehrungsvermögens, mit der die Individualität des einzelnen Begehrens erklärt werden soll, so beantwortet werden, daß dabei die Idee der Verbindlichkeit in ihrer Realität für das Begehrungsvermögen bestätigt wird.84 Damit wäre dann zugleich die Frage beantwortet, ob die gesetzgebende Vernunft, die ihre Schlußsätze (genau wie der Verstand seine Regelurteile, die erst mittels der Anwendung aufs Begehrungsvermögen zu Maximen werden) völlig abstrakt bildet, praktisch sein könne, weil das nur durch die Idee der Verbindlichkeit möglich ist. Ließe sich keine Funktionsweise des Begehrungsvermögens ermitteln, die die Idee der Verbindlichkeit bestätigte, so wäre damit auch jegliche praktische Bedeutung der Vernunft verneint, sie mag weiterhin so viele Gesetze aufstellen, wie sie will. Damit der Idee der Verbindlichkeit Realität prädiziert werden kann, darf das menschliche Begehrungsvermögen nach Schleiermacher weder ein sinnlicher noch ein vernünftiger Instinkt sein, es muß vielmehr eine 83 84
Vgl. KGA I/l, 252, 28-38 Vgl. KGA I/l, 232, 15-18
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Willkür, genauer: ein Willen sein, da die Vernunftsätze nur mittels der Maximen in einzelnen Fällen Einfluß ausüben können. Dieser Wille muß absolut unbestimmt (weder gut noch böse) sein, d. h. jede überhaupt denkbare Bestimmung des Begehrungsvermögens muß als Maxime für ihn möglich sein, keine überhaupt formulierbare Maxime darf für das menschliche Begehrungsvermögen ausgeschlossen sein, weil sonst die Sinne oder die Vernunft in einigen Teilbereichen eine absolute Herrschaft erlangten; das widerspräche der Idee der Verbindlichkeit. Nach Schleiermacher kann das Begehrungsvermögen sich die Schlußsätze der gesetzgebenden Vernunft nur aneignen, wenn gerade die Sätze, die sich unmittelbar auf das Sittlichkeitsgesetz beziehen, zum Gegenstand eines Triebes werden und also ein Gefühl haben. Dieser Trieb, der allein die praktische Vernunft zu seinem Gegenstand und der ansonsten dieselben Eigenschaften wie jeder andere Trieb habe, repräsentiere die Vernunft im Begehrungsvermögen. Nur durch diesen repräsentierenden Trieb sei eine Vermittlung von Begehrungsvermögen und Vernunft möglich; an das Vorhandensein dieses Triebes sei also auch die Realität der Idee der Verbindlichkeit geknüpft. Unbestimmtheit des Willens und Vernunftaneignung im repräsentierenden Trieb sind demnach die beiden Eigenschaften des Begehrungsvermögens, die sich aus dem Realitätspostulat der Idee der sittlichen Verbindlichkeit ergeben.85 Wenn nun die Individualität des einzelnen Begehrakts beschrieben werden soll, so muß sie mit allen unmittelbar oder mittelbar aufgestellten Merkmalen des Begehrungsvermögens verträglich sein. Der einzelne Begehrakt besteht ja in einer Triebkonkretisierung; der Trieb wird für einen Zeitteil auf einen bestimmten Gegenstand so fixiert, daß das Handeln des physischen Vermögens dieser Triebbestimmung folgt. Die Leitfrage nimmt hier also die Gestalt an, wie es dazu kommen könne, daß in einem Zeitteil ein Bestimmungsgrund im Begehrungsvermögen alle anderen überwiege.86 Indem Schleiermacher die aufgestellten Merkmale des Begehrungsvermögens als Wahrheitsbedingungen zur Prüfung der verschiedenen Behauptungen nutzt, die die obige Frage aufzulösen vorgeben, kann er Zug um Zug alle Behauptungen bis auf eine ausschließen. Der Grund dafür, daß das Begehrungsvermögen in diesem konkreten Fall gerade so bestimmt wird, müsse allererst überhaupt erkennbar sein. Der Grund, warum in einem Zeitteil ein gewisser Antrieb im Begehrungsvermögen das Übergewicht erhält, müsse sodann in einem Gegenstand enthalten sein, dessen 85
86
Vgl. KGA I/l, 234, 11-14 Vgl. KGA I/l, 234, 24-26
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Vorstellung ihn als einen inneren ausweist, weil bei einem äußeren Eindruck, der notwendig unabänderlich sein müßte, dem Begehrungsvermögen der Charakter der Willkür verloren ginge und die allgemeine praktische Vernunft völlig anteillos bliebe. Dieser innere Gegenstand dürfe aber kein einzelner, individueller sein, er müsse dem allgemeinen Charakter des Subjekts entstammen. Der Grund des Übergewichts könne ferner nicht auf der Ebene der apriorischen, unveränderlichen Konstitutionsstruktur des Subjekts liegen, sondern in den allgemeinen Bestimmungen des Veränderlichen. Und hier könne man schließlich nicht beim Begehrungsvermögen stehenbleiben, sondern müsse aufs Vorstellungsvermögen zurückgehen, mit dem alle Seelenvermögen verknüpft sind. Das Übergewicht des einen Triebes über alle anderen in jedem Begehrakt gründet also auf dem jeweiligen Gesamtzustand des VorstellungsVermögens und der durch die gegenwärtigen Vorstellungen bestimmten Seelen vermögen.87 Dieses Resultat, daß die einzelnen Akte des Begehrungsvermögens im Gesamtzustand des Vorstellungsvermögens gegründet sind, wird von Schleiermacher dadurch beglaubigt, daß er nachweist, daß dieser Satz sowohl dem Begehrungsvermögen alle Merkmale zustellt, die für das praktische Verfahren konstitutiv sind (Willkür, Wille, sittliche Unbestimmtheit, Vernunfttrieb), als auch der Idee der Verbindlichkeit ihre Realität sichert.88 Aber nicht nur, daß das ermittelte Resultat der einzige Satz zu sein scheint, der alle aufgestellten Bedingungen für eine richtige Lösung des Problems erfüllt, dieser Satz stimmt auch mit den Urteilen des gewöhnlichen Menschenverstandes überein, der von einem praktischen Interesse geleitet ist. Dies gilt nach Schleiermacher in zweierlei Hinsicht. Zum einen weiß der gesunde Menschenverstand, daß er alle für sein praktisches Interesse so charakteristischen Untersuchungen und Betrachtungen der eigenen Seelenzustände und Seelenvermögen einstellen muß, wenn der durchgängige Zusammenhang von Begehrungsvermögen und Vorstellungsvermögen und überhaupt die durchgängige Verknüpfung aller Seelenvermögen bestritten wird. So können z. B. die verschiedenen mannigfaltigen Produktionen der Einbildungskraft nur erklärt werden, wenn man sie auf die jeweiligen Triebe des Begehrungsvermögens bezieht. Zum ändern kann ohne die Idee eines Wirkzusammenhangs zwischen Vorstellen und Handeln gar kein Einfluß auf die eigene Willensbildung bzw. auf diejenige anderer Personen angenommen werden. Alle Erziehungsbemühungen und alle echte Kommunikation wären eine Chimäre. Wie Schlei87 88
Vgl. KGA I/l, 237, 35-238, 2 Vgl. KGA I/l, 239, 26-32
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ermacher allerdings die Spannung zwischen den Bekundungen des gewöhnlichen Menschenverstandes und des gewöhnlichen Menschengefühls, d. h. zwischen tatsächlich immer vorgenommener Kausalverknüpfung und unmittelbarem Freiheitsgefühl auflösen kann, bleibt abzuwarten; dies ist ein wichtiges Thema im zweiten „Abschnitt" der Abhandlung. Rückblickend läßt sich feststellen, daß Schleiermacher seiner Erklärung der Funktionsweise des Begehrungsvermögens auf einleuchtende Weise die allgemeine Zustimmung sichern will. Er beginnt nämlich nicht damit, daß er diese Erklärung material entfaltet, sondern er stellt zunächst gleichsam das Wahrheitskriterium auf, dem jegliche Erklärung, die die Eigenart des konkreten Begehraktes erfassen will, genügen muß. Dieses Wahrheitskriterium entwickelt Schleiermacher mittels der Verbindlichkeitsidee, die er wegen ihrer wesentlichen Relationalität zu einer Strukturanalyse des Begehrungsvermögens nutzt. Eine überzeugende Erklärung des Begehrens muß mit diesen Strukturmerkmalen zusammenstimmen. Da die Verbindlichkeitsidee und somit auch die aus ihr gewonnene Strukturanalyse des Begehrungsvermögens den Rang allgemeingeltender Einsichten zu Recht beanspruchen können, kann die Erklärung, die diesem Wahrheitskriterium genügt, ebenfalls mit dem Prädikat von Allgemeingültigkeit versehen werden. Schleiermacher, der genau dies für seine Konzeption erreichen und als legitim erweisen will, faßt seine Strukturanalyse in die beiden Merkmale des Begehrungsvermögens zusammen, daß der Wille unbestimmt sei und daß die Aneignung der Vernunftsätze im repräsentierenden Trieb und dem damit verbundenen sittlichen Gefühl erfolge. Bei dieser Zuspitzung der aus der Untersuchung der Verbindlichkeitsidee gewonnenen Einsichten auf ein doppeltes Wahrheitskriterium bleibt allerdings dunkel, inwiefern der Trieb jeweils von einem Gefühl begleitet sein muß. Schleiermacher versäumt es, den Gefühlsbegriff transzendental zu legitimieren, der doch als Medium zwischen Vernunft und Begehrungsvermögen von größter Bedeutung ist, und die notwendige Verknüpfung von Gefühl und Trieb einsichtig zu machen. Mit Hilfe des doppelten Wahrheitskriteriums untersucht Schleiermacher die Erklärungen zum einzelnen Begehrakt. Er scheidet die Erklärungsversuche, die das Wahrheitskriterium nicht erfüllen, aus und erhält als Resultat die Erklärung, daß der einzelne Begehrakt seine jeweilige Bestimmtheit vom Gesamtzustand des Vorstellungsvermögens und der mit ihm durchgängig verknüpften anderen Seelenvermögen erhalte. Diese Schleiermachersche Erklärung zeichnet sich also dadurch aus, daß sie die Determination des einzelnen Begehraktes mit der absoluten Unbestimmtheit des Willens vereint, ja daß sie die konkrete Determiniertheit geradezu auf der völligen Willensfreiheit als ihrem Mög-
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lichkeitsgrund aufruhen läßt. Unzureichend an Schleiermachers Vorgehen ist allerdings, daß er nicht die prinzipielle Vollständigkeit der Erklärungsversuche nachweist, aus denen er seine Erklärung als die einzige herausfiltert, die dem Wahrheitskriterium genügt. Nur wenn er prinzipiell nachwiese, daß mit den von ihm besprochenen Erklärungsmöglichkeiten das Potential von Erklärungsmöglichkeiten überhaupt erschöpft ist, könnte er sicher sein, daß die von ihm gegebene Erklärung nicht nur faktisch, sondern prinzipiell die einzig mögliche und wahre ist. Schleiermacher versäumt es hier, eine vollständige Induktion aus Prinzipien zu leisten. Wie auch in vielen anderen Fällen begnügt er sich damit, seine eigene Erklärung gegenüber der Anzahl schon vorhandener Erklärungen zu entwickeln und zu rechtfertigen. Zudem ist nicht einleuchtend, daß er äußeren Vorstellungsgegenständen das Prädikat der Unabänderlichkeit zustellt und daraus einen anderen Rang der äußeren als der inneren Vorstellungsgegenstände für das Begehrungsvermögen herleitet. Insgesamt ist Schleiermachers Ansatz und Vorgehen trotz einiger spekulativer Unzulänglichkeiten einleuchtend und kann durchaus als eigenständiger Beitrag zur Präzisierung der Kantischen transzendentalen Freiheitskonzeption gewürdigt werden.
b) Die Zurechnung Nachdem Schleiermacher seine grundlegende Konzeption vom notwendigen Handlungszusammenhang entwickelt hat, sucht er diese in der Konfrontation mit drei wichtigen Einwürfen zu bewähren: Er untersucht in seinem zweiten „Abschnitt" die Zurechnungsidee, die Theodizeefrage und das unmittelbare Freiheitsgefühl.89 Er beginnt mit der Erörterung der Frage, ob der praktische Determinismus sich mit der sittlich geforderten Zurechnung der menschlichen Handlungen vertrage.90 Schleiermacher will hier die Harmonie seiner deterministischen Handlungslehre mit dem völlig unabhängig von ihr gegebenen Grundbegriff der Zurechnung aufzeigen und somit den Einwurf in eine Bestätigung umwandeln. Bei der Erörterung des Zurechnungseinwurfes wie auch bei derjenigen der anderen Einwürfe steht Schleiermachers Bemühen im Vordergrund, 99 90
Vgl. KGA I/l, 244-298 Vgl. KGA I/l, 244-271
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die praktischen Fragen und Behauptungen streng von den theoretischen zu trennen. Er hält alle Bildungen praktischer Begriffe für unzulässig, in denen bestimmte theoretische Ansichten schon in die Voraussetzungen eingegangen sind. Nicht auf Grund einer theoretischen Position darf ein praktischer Begriff gebildet und eine praktische Streitfrage entschieden werden, sondern umgekehrt dürfen (bezogen aufs Praktische) theoretische Behauptungen nur als Konsequenzen von autonomen praktischen Begriffsbestimmungen vorkommen. Praktische Begriffe müssen also zunächst immer darauf untersucht werden, ob sie alle sittlichen Anliegen in angemessener Weise formulieren; erst in zweiter Linie darf dann die Frage nach den Folgen für unsere theoretischen Ansichten gestellt werden. Schleiermachers ganzes Bemühen ist es also, die Autonomie der praktischen Vernunft rein herzustellen. Die praktische Philosophie muß dementsprechend sich von allen Fesseln und Vorurteilen der theoretischen befreien. In ihrem Erklärungsbemühen muß sie allein die authentische Darstellung des sittlichen Interesses im Auge haben. Insofern ist Schleiermacher ein strikter Verfechter des Kantischen Anliegens in der praktischen Philosophie: Praktische Fragen können nur in der Sphäre praktischer Begriffe gelöst werden. Für Schleiermacher ergibt sich daraus eine wichtige methodische Anweisung: Er muß bei den Einwürfen gegen seinen ethischen Determinismus die Begriffe, mittels derer sich die Einwürfe artikulieren, von allen theoretischen Zusätzen und Voraussetzungen säubern. Schleiermacher muß jeweils die reine Gestalt dieser praktischnotwendigen Begriffe herstellen, die ein wichtiges praktischen Anliegen aussprechen. Er muß dann jeweils zeigen, daß sein Determinismus zulänglich ist, auch dieses scheinbar ihm widerstreitende, aber praktisch unabweisbare Anliegen aufzunehmen und zu befriedigen. Sollte dies nicht gelingen, so muß sich ein Fehler entweder in die praktischen Grundsätze oder in die Systembildung eingeschlichen haben.
a) Schleiermachers Begriff der Zurechnung Schleiermacher, der seinen verästelten Untersuchungsgang wenig gliedert, spürt in einem ersten Schritt der immanenten Eigenart der Zurechnung nach.91 Der auf der Zurechnung basierende Einwurf gegen den Determinismus unterstellt, daß die Behauptung, die menschlichen Handlungen müßten aus ihrem Kausalzusammenhang erklärt werden und hätten also Vgl. KG A I/l, 244-255
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Notwendigkeitscharakter, unverträglich mit der sittlich geforderten Imputabilität der Handlungen sei. Wenn jede Handlung jeweils in der vorangehenden gründe und diese geschlossene Reihe hoch bis in die Kindheit reiche, wo dann die sittlichen Zustände von äußeren Faktoren abhängig würden, so sei die Möglichkeit jeglicher Zurechnung genommen und der sittlichen Beurteilung von Handlungen der Weg verstellt. Wenn die notwendige Handlungsreihe bis auf Zustände ohne alle Sittlichkeit zurückgeführt werden könne, so finde kein Lob und kein Tadel mehr statt, sondern nur Freude oder Bedauern über die Einrichtung der Lebensumstände durch die göttliche Weltregierung.92 Der Lebensanfang ohne Sittlichkeit verschlinge die Sittlichkeit des ganzen Lebens. Schleiermacher entwickelt zur Abwehr dieses Einwurfes zunächst den Begriff der Zurechnung so, daß er ihn von allen theoretischen Zusätzen befreit. Die übliche Definition der Zurechnung, wie Schleiermacher sie bei Eberhard vorgefunden hat93, daß nämlich jemandem die Urheberschaft für die Sittlichkeit einer Handlung zugeschrieben wird94, erweist sich in doppelter Hinsicht als mangelhaft. Denn bei dieser Definition ist zum einen die anstehende praktische Frage, ob Zurechnung und Determinismus miteinander verträglich seien, schon durch einen theoretischen Bestandteil entschieden. Wenn nämlich die Urheberschaft im Sinne einer freien Ursache verstanden wird (und das wird sie), so ist damit durch diesen theoretischen Begriff jeglichem praktischen Determinismus das Recht von vorneherein bestritten. Das Ergebnis der Untersuchung stehe also schon fest, bevor die Untersuchung richtig eröffnet sei.95 „Es ist aber in jener Erklärung noch ein Fehler, der wenn er auch vielleicht nur ein Fehler in der Diktion und in der Wahl des Ausdruks ist doch das Verstehen des Begriffes erschwert; wir können nemlich unter der Sittlichkeit einer Handlung nichts anders verstehn als ihr Verhältniß zum moralischen Gesez und dann kann man niemals sagen daß jemand der Urheber von der Sittlichkeit der Handlung."96 Die übliche Definition suggeriert also ein falsches Verständnis der Sittlichkeit. Ob Handlungen sittlich oder unsittlich sind, hängt allein von deren Verhältnis zum ewigen praktischen Vernunftgesetz ab. Die Sittlichkeit der Handlungen steht also wegen dieser unabänderlichen Verhältnisbestimmung vor dem aktuellen 92 93 94 95 96
Vgl. KGA I/l, 244, 30-245, 4 Vgl. Eberhard: Sittenlehre 69 Vgl. KGA 1/1,246, 26 f Vgl. KGA I/l, 246, 27-247, 10 KGA I/l, 247, 19-24
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Handlungsvollzug fest. Dann kann aber dem handelnden Subjekt auch keine Urheberschaft für die Sittlichkeit zugeschrieben werden. Allenfalls bei einer Glückseligkeitsphilosophie, wo die wahrscheinlichen Folgen einer Handlung durch Klugheitskalkulationen in die Stelle von Handlungsmotiven einrücken, könnte die obige Begriffserklärung hingehen, obwohl auch nicht im strengen Sinne, weil die erreichte Glückseligkeit von verschiedenen, dem handelnden Subjekt unverfügbaren Umständen abhängt; bei einer Moralitätsphilosophie ist sie aber völlig unsinnig. Und Schleiermacher selbst ist nicht an empirischer Glückseligkeit (andauernde Übereinstimmung des begehrenden Subjekts mit der äußeren lustspendenden Natur) oder an subjektiver Vollkommenheit (bestmögliche harmonische Entwicklung aller Seelenvermögen), sondern an Moralität (Übereinstimmung des Begehrungsvermögens mit dem praktischen Vernunftgesetz) orientiert. Schleiermachers eigene Definition der Zurechnung vermeidet durch strenge Funktionalisierung die beiden Fehler von theoretischer Verunreinigung und falscher Sittlichkeitsauffassung. In ihr wird dieser praktische Begriff aber auch ohne alle Gefühle und Empfindungen erklärt, die mit der Zurechnung gewöhnlich als Lob oder Tadel verbunden sind, ohne doch zu den Merkmalen dieses praktischen Begriffs zu gehören. Bei Abstraktion von allen Empfindungen erklärt Schleiermacher: „die Zurechnung ist das Urtheil wodurch wir die Sittlichkeit einer Handlung auf denjenigen der sie gethan hat übertragen so daß das Urtheil über die Handlung einen Theil unseres Urtheils über seinen Werth ausmacht."97 Durch diese relational-strukturale Definition wird sowohl der Tatbestand erfaßt, daß an die bewertende Zurechnung sich eine Prognose über das Verhalten des Handelnden in ähnlichen Fällen anschließt, als auch der andere, daß dem Handelnden nur der Teil der sittlichen Handlung zugerechnet wird, der wirklich seine eigene sittliche Tat ist, während der Anteil an Sittlichkeit, der durch Umstände und Zufälle sich von außen beigesellt hat, als von ihm nicht beeinflußter und auch so nicht wiederholbarer Erfolg auf seine Person nicht übertragen wird. Der Vorteil dieser Begriffserklärung, die Zurechnung als Urteil aufzufassen, in welchem die sittliche Einschätzung einer Handlung auf den Handelnden übertragen wird, und zwar so, daß die Wertschätzung seiner Person durch die sittliche Beurteilung der Handlung mitbestimmt wird, liegt darin, daß sie sich auch in allen den Fällen bewährt, wo die urteilenden Subjekte, die die Zurechnung bei sich und anderen vornehmen, sich von ganz unterschiedlichen sittlichen KGA 1/1,247,31-34
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Prinzipien und ganz verschiedenen Einschätzungen der Situationen und Handlungen leiten lassen. Die Kalkulationen, wie sittlich eine Handlung sei, mögen noch so verschieden sein, bei der zurechnenden Übertragung des Urteils auf die handelnde Person wird immer dasselbe Verfahren beobachtet.98 Schleiermacher widerlegt den auf der Zurechnung basierenden Einwurf gegen seinen Determinismus einerseits dadurch, daß er die Legitimität seiner funktionalen Definition von Zurechnung und ihre Verträglichkeit mit seiner deterministischen Willens- und Handlungslehre nachweist. Schleiermacher baut nämlich den Begriff der Zurechnung konsequent auf den der sittlichen Verbindlichkeit auf. Die beiden unterscheiden sich durch ihren Anwendungs- und Geltungsbereich. Der Begriff der Verbindlichkeit bezieht sich allgemein auf Handlungen überhaupt, der der Zurechnung auf einzelne Handlungen." Da dieser Begriff also nur eine Konkretisierung von jenem ist und seine Legitimität ganz aus jenem schöpft, so geht der Einwurf ins Leere, der dem praktischen Determinismus nur den Begriff der Zurechnung bestreitet, den Begriff der Verbindlichkeit aber unangetastet lassen will. Soll der Einwurf gegen den Determinismus, daß nach dessen Lehre von den notwendigen Entstehungsgründen der Handlungen jeweils ein Nicht-(anders)-Können einem Sollen gegenübersteht, weil die Gründe zur Verwirklichung des Sollens nicht verfügbar sind, diskutabel sein, so muß er sich auch gegen den Begriff der Verbindlichkeit richten. Dessen logische und reale Möglichkeit ist aber zur Genüge dargetan worden. Schleiermacher zeigt andererseits, daß in den drei Merkmalen seiner funktionalen Begriffserklärung von Zurechnung gar keine Aussage darüber impliziert ist, auf welche Weise das Zustandekommen der Handlungen verstanden werden muß. Dann aber löst sich der behauptete Widerspruch zwischen Zurechnung und erklärter Notwendigkeit der Handlungen mangels Beziehung in Nichts auf. Wenn es einen solchen Widerspruch gäbe, müßte er sich an einem der drei Definitionsmerkmale festmachen lassen. Zum ersten ist für die Bestimmung, ob und wie sittlich eine Handlung ist, nur die Vergleichsmöglichkeit mit dem Sittlichkeitsgesetz erforderlich, d. h. es muß die Untersuchung der Frage möglich sein, ob die aktuelle Handlung in einer ausschließlich vom Sittlichkeitsgesetz bestimmten Handlungsreihe Platz hätte und wie sie in dieser Reihe aussehen müßte. Zum zweiten wird durch die Übertragung der sittlichen Einschätzung der 98 99
Vgl. KGA I/l, 248, 15-249, 7 Vgl. KGA I/l, 252, 9-11
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Handlung auf den Handelnden nur geurteilt, ob dessen Begehrungsvermögen fähig ist, gemäß dem Sittlichkeitsgesetz bestimmt zu werden. Soll diese Bestimmung mit dem Bewußtsein des praktischen Vernunftgesetzes verknüpft sein, so muß im willkürlichen (regelorientierten) Begehrungsvermögen ein Trieb sein, der die praktische Vernunft repräsentiert. Bei der Übertragung wie bei der Sittlichkeitsberechnung wird also über das Zustandekommen der Handlungen gar nichts vorausgesetzt oder gemeint. Zum dritten (und auf dieses Merkmal richten die Gegner des Determinismus ihren Blick) wird bei der durch diese Übertragung dann mitgeprägten Wertschätzung der Person nur ein Urteil über die Fertigkeit der Person gefällt, den vorgesetzten Zweck zu erreichen, nämlich das Begehrungsvermögen gemäß dem Sittlichkeitsgesetz zu bestimmen. Indem aber von der festzustellenden Wirkung auf die Fertigkeit geschlossen wird, ist damit keine Aussage über die Entstehungsgründe dieser Wirkungen eingeschlossen. Der Wertbegriff ist für Schleiermacher ein funktional-relationaler Begriff; in ihm wird allein der vorgesetzte Zweck mit der aus den erbrachten Wirkungen erschlossenen Tauglichkeit zum Zweck verglichen. 10° Bei diesem Wertbegriff bleibt die Frage, wie diese Wirkungen zustande gekommen sind, außer Betracht. Er kann deshalb mit den verschiedensten Lehrmeinungen zusammengebracht werden. Wenn über den sittlichen Wert einer Person geurteilt wird, indem ihr eine Handlung mit bestimmter Sittlichkeit als ihre Wirkung zugerechnet wird, so kann das geschehen, ohne die Art des Wirkzusammenhangs theoretisch zu erklären. Demnach steht aber die deterministische Erklärung des Wirkzusammenhangs (das notwendige Zustandekommen der Handlungen) in keinerlei Widerspruch zur zurechnenden Wertschätzung. Das gilt auch für den personal sittlichen Wertbegriff. Besteht der Wert der sittlichen Person darin, Zweck an sich selbst und nicht Zweck für anderes zu sein, so läßt sich dieser Wert nur im Vergleich mit dem verbindlichen vernünftig-praktischen Gesetz ermitteln, d. h. durch den Vergleich des sittlichen Ist mit dem sittlichen Soll.101 Das kann aber nur dadurch geschehen, daß das Urteil über den Gesamtzustand durch das Sammeln aller möglichen Handlungsbewertungen, die ja als Schemata genommen bei gemeinsamen Ursachen auch Prognosen für jeweils ähnliche Fälle erlauben, gebildet wird. Der funktionale Begriff der Zurechnung stimmt also mit den praktischen Grundideen zusammen. Deren Konformität mit dem deterministischen Verständnis des Begeh100 101
Vgl. KGA 1/1,250, 11-15 Vgl. KGA I/l ,250, 25 f
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rungsvermögens hatte Schleiermacher schon erwiesen. So fallt der Einwarf also in sich zusammen. Schleiermacher kann auch erklären, warum dieser Einwurf immer wieder und mit solchem Erfolg erhoben wird. Zum einen kommen hier Gefühle von Lob und Tadel ins Spiel, die den klaren Blick für die Begriffsmerkmale und die damit verbundenen Implikationen trüben. Gefühl streitet gegen einen abstrakten Verstand. Zum ändern wird die zeitlose Verbindlichkeit des praktisch-sittlichen Vernunftgesetzes mit den raumzeitlichen Vorstellungen seiner konkreten Verwirklichung verwirrt. Wenn eine Handlung die geforderte sittliche Beschaffenheit nicht habe, weil die Gründe zu ihrer Hervorbringung nicht gegeben waren, die Konstellation der vorhandenen Bestimmungsgründe vielmehr eine unsittliche Handlung notwendig machte, so werde damit die Zurechnung nicht verhindert, denn die urteilende Vernunft, die weiß, daß die geforderte Handlung nicht nur an sich, sondern auch für diesen betreffenden Handelnden möglich ist, kümmere sich weder um die momentane Trieb- und Reizkonstellation noch um die Wahrnehmungsinhalte in der Zeitreihe.102 Genausowenig wie die allgemeine Notwendigkeit der Handlungen die Zurechnung verhindere, weil zwischen der theoretischen und praktischen Betrachtungsart gar kein Zusammenhang sei, so wenig leide die Legitimität der Zurechnung unter dem Rekurs auf die besonderen biographischen und sozialen Bedingungen, wodurch eine spezielle Handlung in ihrem notwendigen Zusammenhang aus den vorgegebenen Wirklichkeitsbestimmungen, die selbst zumeist zurechenbare Handlungen seien, erklärt wird. Die Vernunft lasse sich nämlich in ihrer sittlichen Forderung und Beurteilung nicht durch den Umstand täuschen, daß die Darstellung der Vernunftgesetze in der Reihe der Wahrnehmungen bestimmten Umbildungen und Hemmnissen unterliege.103 Schleiermacher führt allerdings die modifizierenden Wahrnehmungsbedingungen, die viele Betrachter so verwirren, nicht näher aus. Die von Schleiermacher behauptete Zeitlosigkeit der Vernunft bezeichnet eine Unscharfe in seinem Vernunftbegriff. Man.wird nämlich unterscheiden müssen zwischen der praktischen Vernunft, die das zeitlose, unabänderliche sittliche Gesetz gibt, und der praktischen Vernunft (besser: der Urteilskraft in praktisch-moralischen Fragen), die eine Applikation des Gesetzes auf die jeweilige Motivkonstellation im Begehrungsvermögen und auf die Situation in der Warnehmungsreihe vornimmt. Urteilskraft und gesetzgebende Vernunft haben nicht im selben Sinn Zeitlosigkeit. Die 102
m
Vgl. KGA I/l, 253, 13-23 Vgl. KGA I/l, 253, 23-27
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Urteilskraft hat ja ihren Ort im Schweben zwischen Zeitlosigkeit und Zeitreihe. Genau hier liegt eine Problemlinie der praktischen Philosophie, die Schleiermacher nicht genügend beachtet: die Urteilskraft, die ja gerade auch bei der Zurechnung ins Spiel kommt, wenn nämlich gesagt werden soll, wie weit die auf die Person übertragene Sittlichkeit der Handlung für die Wertschätzung der Person in Rechnung gestellt werden soll104, diese Urteilskraft in praktischen Fragen hat struktural und funktional andere Merkmale als die gesetzgebende Vernunft. Deshalb reicht hier Schleiermachers Reinigung der praktischen Probleme von allen theoretischen Einsprengseln und seine Abstraktion von allen inhaltlichen Bestimmungen bei der Bildung der praktischen Grundbegriffe nicht aus. Dadurch, daß Schleiermacher die Unterscheidung von Vernunft und Urteilskraft außer Acht läßt, kann er nicht alle Zweifel gegen den Determinismus erörtern und heben. Ein beunruhigender Rest bleibt zurück. Nachdem Schleiermacher den auf dem Zurechnungspostulat basierenden konzeptionellen Einwand gegen die Grundlehren des praktischen Determinismus gehoben zu haben meint, wendet er sich einem anwendungsbezogenen Einwurf zu. Dieser Einwand lautet: So wie die deterministische Ethik bei aller konzeptionellen und konstruktiven Stimmigkeit der praktischen Grundbegriffe zu einer Lähmung der sittlichen Kraft führe, so daß dieses deterministische System nur ein lebloses Gemachte sei, so würden bei der Anwendung des Zurechnungsbegriffs die Schwierigkeiten verdoppelt wiederkehren, die Schleiermacher bei dessen Legitimitätsnachweis überwunden habe.105 Zur Widerlegung dieses Einwandes untersucht Schleiermacher die Ausübung der Zurechnung nach deren drei Elementen. Er findet, daß diese Ausübung in allen drei Hinsichten durch den praktischen Determinismus befördert, keineswegs aber eingeschränkt oder verhindert werde. Erstens: Das Studium fremder Handlungen, das den Beurteilenden als unparteiischen Betrachter am besten mit den Sittlichkeitsgesetzen vertraut machen könne, auf die sich die menschlichen Handlungen in ihren konkreten mannigfaltigen Verhältnissen beziehen, ziele auf die Erkenntnis der sittlichen Beschaffenheit, die einer Handlung zukommt; diese die Verbindlichkeitsidee applizierende Beurteilung der Handlung hat mit dem Notwendigkeitscharakter der Handlung gar nichts zu tun. l06 104 105 106
Vgl. KG A I/l, 250, 29-34 Vgl. KGA I/l, 253, 38-254, 6 Vgl. KGA I/1, 254, 6-24
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Der zweite Schritt der Zurechnung, nämlich das Übertragen der festgestellten sittlichen Beschaffenheit der Handlung auf das Begehrungsvermögen, wobei durch das Sammeln und Vergleichen mehrerer solcher Urteile ein Charakterbild von den Fertigkeiten und Unzulänglichkeiten des Begehrungsvermögens entstehen soll, dieser zweite Schritt setze die Lehre vom notwendigen Zusammenhang der Handlungen geradezu voraus; der Schluß von Handlungsbeschaffenheiten auf das Begehrungsvermögen entbehre jeder Grundlage, wenn nicht zu Recht angenommen würde, daß den Handlungen gewisse Trieb- und Vorstellungskonstellationen zugrunde liegen, die, solange sie vorhanden sind, jeweils dieselbe Wirksamkeit haben, d. h. dieselben Handlungen hervorbringen. Auch das Charakterbild des Begehrungsvermögens könne nur mittels der Annahme entworfen werden, daß die sich gegenseitig befördernden oder behindernden Beschaffenheiten des Begehrungsvermögens gesetzmäßig die Wirksamkeit des Begehrungsvermögens bestimmen. Das Axiom der theoretischen Vernunft, daß gleiche Gründe gleiche Folgen haben, werde bei der Ausübung der Zurechnung ganz selbstverständlich in Anspruch genommen und gehandhabt.107 Den Zusammenhang von Determinismus und Zurechnungsausübung zeigt Schleiermacher ebenfalls für deren dritten Schritt, auf den ja die Gegner des praktischen Determinismus ihre Kritik konzentrieren. Das summarische Urteil über den sittlichen Wert einer Person, das die Größe der sittlichen Kraft in der Überwindung der sinnlichen aussage, könne gerade nur dadurch gefällt werden, daß alle Kräfte und Handlungen als ein Ganzes angesehen würden, deren gesetzmäßiger Zusammenhang auch Aussagen über noch unbekannte Teile erlaube. Nur die gesetzmäßige Wirksamkeit der Handlungsgründe gestatte sichere Aussagen über den sittlichen Charakter und künftiges Verhalten. So wird also der Notwendigkeitscharakter der Handlungen bei allen diesen immanenten Anwendungsschritten der Zurechnung bestätigt; diese Grundoperationen werden erst durch den praktischen Determinismus recht verständlich.108 Die Schleiermachersche Handlungslehre macht sich allerdings dadurch einer unzulässigen Vereinfachung schuldig, daß sie sowohl mit der unendlichen, unabschließbaren Reihe der zurechnenden Urteile als auch mit der unendlichen Reihe der Triebe und Handlungen so umgeht, als läge ein abgeschlossenes Ganzes vor. Gerade in dieser Verwandlung der unabschließbaren Vielheit in die Allheit liegt der Ermessensspielraum der 107 108
Vgl. KGA I/l, 254, 24-255, 12 Vgl. KGA I/l, 255, 12-33
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Urteilskraft beschlossen. Die dazu nötige Überschlagsrechnung der sittlichen Schwächen und Fertigkeiten kann zu durchaus verschiedenen Ergebnissen führen.
ß) Der Kontext der Zurechnung Schleiermacher wendet sich in einem zweiten Gang den mit der Zurechnung verknüpften Gefühlen und äußeren Handlungen zu, die er mit den Gefühlen vergleicht, die aus dem Notwendigkeitscharakter der Handlungen entspringen.109 Dabei kontrolliert er zunächst, ob in beiden Stücken die jeweiligen Gefühle aus den Begriffen rein und unvermischt abgeleitet worden sind, bevor er dann im Vergleich ihre Übereinstimmung oder Verschiedenheit feststellt. Selbst wenn Verschiedenheit das Resultat wäre, wäre damit der praktische Determinismus nicht desavouiert, vielmehr müßte nur das Transmissionsmedium ihrer Verträglichkeit gefunden werden, da ja die zugrundeliegenden Begriffe miteinander harmonieren. Da diese Empfindungen nicht a priori gegeben sind, sondern sich an bestimmte Urteile anschließen, so ist Schleiermachers Vermutung nicht von der Hand zu weisen, daß scheinbare Widersprüche auf fehlerhafte Zergliederungen zurückgehen. Die Gegner des praktischen Determinismus argumentieren, daß die an die Zurechnung sich anschließenden Gefühle des Lobs und Tadels, der Bewunderung und Verabscheuung nur möglich seien, wenn der Handelnde als die beharrliche Wirkursache der sittlichen Tat anzusprechen sei. Wenn dagegen die Handlung nur das notwendige Resultat aus dem Zusammentreffen von äußerem Eindruck und innerer Seelenlage sei, die wiederum von vorangegangenen Eindrücken und Zuständen und letztlich nur von Eindrücken abhängig sei, so gäbe es gar keinen selbständigen Täter, an dem sich diese Empfindungen festmachen ließen, sondern der vermeintliche Täter wäre völlig passiv — gleichsam ein Kleiderständer, dem die unterschiedlichsten Prunkgewänder oder Lumpenstücke umgehängt würden und der als Empfindungen nur Glücklichpreisung bzw. Neid einerseits oder Mitleid bzw. Ekel andererseits auf sich zöge. Der Handelnde hätte also gar keinen eigenen Anteil an der Handlung, und deshalb könnte die Empfindung von ihr auch nicht auf ihn übertragen werden. Der Handelnde wäre keine eigenständige Kraft, sondern nur ein Medium. So leicht sich Vgl. KG A I/l, 255-269
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das natürliche Gefühl an die Zurechnung anschmiege, so sperrig sei es gegenüber dem praktischen Determinismus.110 In diesem Einwurf sind, so entgegnet Schleiermacher, die der Zurechnung zugehörigen Gefühle nicht rein aus ihr abgeleitet, sondern die Begriffe von Ursache und Kraft zeigen an, daß sie mit den strittigen Meinungen über die Entstehungsgründe der Handlungen vermischt sind. Die aus der Zurechnung entspringenden Gefühle lassen sich aber sehr wohl auch rein darstellen. Dies zeigt Schleiermacher zunächst durch einen Seitenblick auf die zurechnenden Empfindungen über den Wert eines Künstlers, die aus der ästhetischen Beurteilung eines Kunstwerkes entstehen. m Schleiermacher vergleicht die sittlichen Empfindungen mit den ästhetischen und stellt bei diesen zurechnenden Gefühlen eine große Ähnlichkeit fest zwischen dem Verhältnis Tat —Täter und dem Verhältnis Kunstwerk —Künstler. In beiden Fällen entsprängen die Gefühle aus der Beurteilung des Produktes bzw. der Äußerung und würden dann auf den Urheber übertragen. Ein wichtiger Unterschied liege allein darin, daß sich das vernünftig bestimmte Begehrungsvermögen, wenn es idealisch vorgestellt werde, eindeutig personifizieren lasse, während das Ideal des Künstlers wegen der sachgerechten Mehrdeutigkeit keine Personifizierung zulasse. Die Kausalerklärung, daß der Künstler angesichts seiner Fertigkeiten, Begabungen, Ideen und seines Geschmacks gerade dieses Kunstwerk schaffen mußte, beeinträchtige die zurechnenden Empfindungen über den Wert des Künstlers in keiner Weise. Die Analogie zu den sittlichen Empfindungen sei allerdings ungültig, wenn beim Künstler .eine Vervollkommnung seiner Fertigkeiten und Geschmacksurteile so in Anschlag gebracht werde, daß in den zurechnenden Empfindungen durch Berücksichtigung der Entstehungsgründe teilweise die Absicht schon für die gelungene Ausführung genommen werde. Bei der sittlichen Zurechnung werde mit Entwicklung und Vervollkommnung gerade nicht gerechnet: „weil man von dem Sittengesez, welches in der Seele selbst liegt eine vollständige Kenntniß und ein richtiges und genaues Gefühl bei einem jeden vorauszusezen vollkommen berechtigt ist."112 Gemäß diesem wichtigen ethischen Axiom Schleiermachers müssen alle Entwicklungsvorstellungen aus dem Zurechnungsverfahren ausgeschlossen werden, damit sich die Entstehungsgründe nicht in die sittlichen zurechnenden Empfindungen einschleichen. Doch bleibt zu fragen, ob Schleiermacher, der ja mit einer 110 111 112
Vgl. KGA I/l, 256, 36-258, 10 Vgl. KGA I/l, 258, 18-259, 37 KGA I/l, 259, 34-37
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Entwicklung des sittlichen Bewußtseins rechnet, hier bei der Analyse der Zurechnung mit seiner methodischen Abstraktion nicht die Verknüpfung der sittlichen Grundideen außer acht läßt. Auch läßt sich sein ethisches Axiom nicht so einfach als psychologisches Argument handhaben. Eine sachgerechte Analyse der mit der Zurechnung verknüpften Empfindungen führt für Schleiermacher auf ein natürliches Gefühl, das mit der deterministischen Lehrmeinung von der notwendigen Totalität der Handlungsursachen widerspruchsfrei zusammenstimmt. Die Zurechnung bediene sich der Voraussetzung des Kausalzusammenhangs nur insoweit, als sie die Handlung als eine Wirkung des Begehrungsvermögens betrachte, d. h. als sie von der Handlung als einer Kraftäußerung auf den Seelenzustand zurückschließe; wie diese Kraftäußerung erklärt werden könne oder müsse, lasse sie dabei außer acht; sie beanspruche nur das Daß, nicht aber das Wie des Kausalnexus. Der erste Schritt der Zurechnung, die Berechnung der Sittlichkeit einer Handlung, sei einfach und unproblematisch. Erst der zweite Schritt, die Übertragung der Handlungssittlichkeit auf die Person, bringe die Komplikationen. Hier muß ein Bild von den Kraftfeldern und Motivkonstellationen der Seele gewonnen werden, damit nicht nur die jetzige Handlung aus der Wirkung der gerade reizenden Vorstellungen auf das Begehrungsvermögen verstanden werden, sondern auch aus der Konstellation der Bewegungsgründe das künftige Verhalten prognostiziert werden kann. Um die Sittlichkeit der Person zu bestimmen, ist also die Vorstellung des praktischen Vernunftgesetzes allein nicht hinreichend. Der sittliche Wert gewisser Zustände des Begehrungsvermögens läßt sich für Schleiermacher angemessen erst beurteilen, wenn das sachgerechte Bild des tatsächlichen Zustandes mit einem idealischen Begehrungsvermögen konfrontiert wird, wo der das praktische Vernunftgesetz repräsentierende Trieb sich den entgegenstehenden sinnlichen Neigungen als jeweils überlegen erweist. Durch den Vergleich der tatsächlichen Äußerungen der begehrenden und handelnden Person mit den vorgestellten Äußerungen des Ideals werde eine deutliche Einsicht in die Größe der sittlichen Kraft und in die Stärke der sinnlichen Neigungen gewonnen. Die Personifizierung des praktischen Vernunftgesetzes, bei der die dem Gesetz widerstrebenden sinnlichen Neigungen mit dem sie überwiegenden sittlichen Trieb zusammen vorgestellt werden, so daß das idealische Begehrungsvermögen die Kampfverfaßtheit des menschlichen Begehrungsvermögens abbildet, diese Personifizierung gibt den zurechnenden Empfindungen ihre große Lebhaftigkeit. Der Grad der Lebhaftigkeit korreliert nämlich mit den Anstrengungen der Urteilskraft, die inneren Verhältnisse der Person zu ermitteln und den gerade beanspruchten Teil des Vernunft-
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gesetzes zu personifizieren. „Die bloße Beurtheilung der Sittlichkeit einer Handlung gibt uns ein zwar sehr genau bezeichnetes sehr schnelles aber dennoch nicht starkes nicht lebhaftes Gefühl. Es ist ein augenblikliches Produkt der praktischen Urtheilskraft das ohne alle Vorbereitungen von selbst entsteht und wo die Seele gar keine Anstrengung gebraucht hat um es zu erlangen. Hingegen die Beurtheilung der Person, die eine genaue Betrachtung alles dessen erfodert, was die gegebene Handlung in der Seele voraussezt, muß nothwendig auch der Empfindung welche sie gegen die Person erzeugt einen hohen Grad der Lebhaftigkeit geben; denn diese Empfindung steht in einem genauen Verhältniß mit der Leichtigkeit, womit wir den Theil des moralischen Gesezes worauf es ankam personificirten und den innern Gang des Subjektes selbst vorstellen konnten. Je schwerer es uns geworden ist dies Gesez thätig zu denken; je mehr Kraft wir dem moralischen Trieb unseres Ideals haben geben müßen um aller vorhandenen Schwierigkeiten Herr zu werden, und je mehr Aufwand an Vorstellungskraft es unsre Seele gekostet hat dieses Begehrungsvermögen hervorzubringen, desto mehr Werth hat dieses Ideal in unsern Augen, desto mehr bewundern wir den, der einem solchen Gesez in diesem Zustand der Seele gemäß gehandelt hat, und den wir also als dieses Ideal selbst ansehn können."113 Lasse sich das Übergewicht des sittlichen Triebes leicht vorstellen und falle es umgekehrt schwer, ein Mißverhältnis zwischen dem idealischen und dem tatsächlichen Begehrungsvermögen zu denken, weil die zu überwindenden Hemmnisse gering seien oder die Forderung des praktischen Vernunftgesetzes sehr deutlich sei, so würden sich entsprechend die Empfindungen des Mißfallens oder des Abscheus einstellen. Auf diese Weise komme die moralische Bewunderung für oder der Abscheu vor einer Handlung auch dem Urheber derselben zu. Den Einwurf, seine Hypothese der idealischen Personifikation habe lediglich chimärische Allgemeingültigkeit und die Kompliziertheit der Empfindungsbildung widerstreite deren tatsächlicher Schnelligkeit, beantwortet Schleiermacher damit, daß er auf die Geläufigkeit und Selbstverständlichkeit dieser Operationen hinweist und daß er die Idealisierungselemente bei jeder Beurteilung vergangener oder künftiger Handlungen aufspürt. Kein Beurteilungsakt einer sittlichen Situation, wenn er genau analysiert werde, sei ohne die idealische Folie möglich, die das vergangene oder künftige Verhalten allererst wahrzunehmen und zu begreifen erlaube.114 113 114
KGA I/l, 261, 23-262, 2 Vgl. KGA I/l, 263, 39-264, 24
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Die zurechnenden Empfindungen fallen bei verschiedenen Menschen zu derselben Handlung und demselben Urheber derselben durchaus verschieden aus. Das resultiert nach Schleiermacher daraus, daß die zurechnenden Empfindungen einerseits von der eigenen sittlichen Beschaffenheit des Urteilenden und andererseits von seinem Vermögen, sich in die Situation und den sittlichen Zustand eines anderen hineinversetzen zu können, abhängig sind. Hat der Urteilende ein Begehrungsvermögen, in dem der sittliche Trieb stark ausgebildet ist, so wird eine gute Tat bei ihm nicht so viel Bewunderung auslösen als bei einem, der stärker im Kampf steht. Dasselbe gilt für Menschenkenntnis und Einfühlungsvermögen. Kann sich jemand schwer in andere hineinversetzen, d. h. ist sein empathisches Vermögen nicht durch genaue Beobachtung geweckt, so fallen seine Empfindungen entsprechend schwächer aus. Hier liegt eine Schwierigkeit, die Schleiermacher nur gestreift, aber nicht genug bedacht hat. Schleiermacher fordert zwar, die individuelle Anstrengung, sich das idealische Begehrungsvermögen vorzustellen und sich in andere Personen hineinzuversetzen, „nicht zu dem Maaß der sittlichen Kraft die zur Handlung erfodert wird und also zum Maaßstab der zurechnenden Empfindungen zu machen."115 Doch ist diese Forderung höchst unrealistisch und widerspricht gerade dem Verfahren, wie die Empfindungen sich nach Schleiermachers Ansicht an die zurechnenden Urteile anschließen. Da die zurechnenden Empfindungen auf die konkrete Existenz des Handelnden und des Urteilenden bezogen sind, so müssen hier auch die individuellen Unterschiede in Urteilskraft, Einbildungskraft und Situationsauffassung wirksam werden. Wenn man überhaupt geschichtliche Besonderheiten zugesteht, so sind individuelle Ausprägungen der zurechnenden Gefühle unvermeidlich, weil ja deren Lebhaftigkeitsgrad von den Mühen des Vorstellungsvermögens abhängig ist, dieses Vorstellungsvermögen aber in seiner konkreten Tätigkeit bei verschiedenen Menschen verschieden entwickelt ist. Der Vorzug der Schleiermacherschen Erklärungsart, die zurechnenden Gefühle sowohl von ihrem sittlichen Inhalt her durch ihre Koppelung an die sittlichen Urteile als auch von ihrem Lebhaftigkeitscharakter her verständlich zu machen und sie nicht nur der individuellen Besonderheit anheimzugeben, hat doch die Achillesferse, daß die Intensität der zurechnenden Empfindungen zum Gradmesser der Sittlichkeit gemacht werden kann. Schleiermachers Ablehnung dieser Auffassung ist leider nicht von der Angabe begleitet, wie die drohende individuelle Beliebigkeit dieser Empfindungen und damit deren sittliche 115
KGA I/l, 263, 27-29
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Bedeutungslosigkeit verhindert werden kann. Die für eine Handlung nötige sittliche Kraft 2u bemessen, kann allein das aus Begriffen gebildete Urteil leisten. Die sich daran anschließenden Empfindungen sind auf Grund der verschiedenen Begabungen und Erfahrungen unterschiedlich geprägt. Durch den Rückgang auf die Urteilskraft wird eine größere Objektivität erreicht. Doch auch diese Urteile haben nicht die Unveränderlichkeit, die das praktische Vernunftgesetz selbst auszeichnet. Die geschichtliche Besonderung wirkt sich auch hier, von Schleiermacher allerdings nicht diskutiert, latent aber folgenreich aus. Schleiermacher wendet sich dem Widerspruch zwischen praktisch und theoretisch veranlaß ten Gefühlsreihen zu. Die zurechnenden Gefühle entspringen allein aus dem moralischen Begriff der Zurechnung. Der UrsacheWirkung-Schematismus kommt nach Schleiermacher erst ins Spiel, wenn die durch einen sittlichen Zustand erregten Gefühle ungewöhnlich sind. Die geweckte Neugierde fragt, wie das Zustandekommen des sittlichen Zustandes erklärt werden kann, der dabei als Naturprodukt aufgefaßt und also einer theoretischen Betrachtung unterworfen wird. Aus dieser theoretischen Betrachtung ergeben sich dann die Gefühle, die zumeist dem praktischen Determinismus angelastet werden und die, weil sie die Handlungen naturalisieren und als zwangsläufige Naturprodukte sittlich vergleichgültigen, jeder sittlichen Verantwortung die Basis entziehen. Wie läßt sich dieser Widerspruch zwischen den zurechnenden und den kausal-determinierenden Gefühlen heben? Schleiermacher behauptet: „Dieser Widerspruch aber ist durch die Ueberzeugung gehoben, daß die zurechnenden Empfindungen voraussezen als ob das Subjekt die unabhängige ursprüngliche Ursach seines Zustandes sey."116 Diese Behauptung kann nicht überzeugen, denn die in die theoretische Philosophie hinüberwechselnde Als-ob-Voraussetzung sichert den zurechnenden Gefühlen allererst ihre Berechtigung; die mit der Zurechnung verwebte Überzeugung installiert folglich den Widerspruch statt ihn aufzuheben. Der Widerspruch ist jetzt nicht mehr ein Widerspruch zwischen praktischem Determinismus und „sittlicher Verantwortung", sondern einer innerhalb der deterministischen Ethik. Schleiermacher hat ja einerseits nachgewiesen, daß der Begriff der Zurechnung und die daran anknüpfenden zurechnenden Gefühle mit dem praktischen Determinismus harmonieren, andererseits legitimiert aber die deterministische Lehre von der Handlungsnotwendigkeit — theoretisch genommen — auch die kausal-determinierenden Gefühle. Schleiermacher verstößt hier gegen seine Grundforderung, theoretische und praktische 116
KGA I/l, 265, 3-6
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Philosophie scharf getrennt zu halten. Er gesteht hier der theoretischen Betrachtungsweise ein Recht zu, das er ihr sonst entschieden bestreitet und das den Widerspruch hervorruft. Schleiermachers Lösungsversuch für diesen Widerspruch, abgesehen von der obigen Versicherung, stützt sich auf zwei Feststellungen. Zum einen entstünden die verschiedenen Gefühle nicht zur selben Zeit, sondern sie gehörten immer verschiedenen Zeitabschnitten an. Zum ändern seien sie beide, selbst wenn man wegen eines sehr schnellen Wechsels der verschiedenen Gefühle den zeitlichen Unterschied verschwindend klein denke und also eine Mischung beider annähme, durchaus zu einem Gefühl zusammenstimmend denkbar. Bezeichnenderweise im Modus rhetorischer Fragen behauptet Schleiermacher die Widerspruchslosigkeit derjenigen Gefühle, die sich auf die sittlichen Zustände der Person beziehen und die durch Übereinstimmung oder Abweichung derselben vom regulativen Ideal geprägt sind, zu den anderen Gefühlen, die das Subjekt von seinen Zuständen abheben und die für die Zustandsreihe mit ihren Zeitbestimmungen die unterschiedlose Unterworfenheit der an sich gleichen Subjekte unter notwendig wirksame Gesetze ausdrücken. Während also die ersten Gefühle die sittliche Angemessenheit der Person widerspiegeln, beziehen sich die zweiten auf deren objektive Veränderlichkeit und ihre Verwobenheit in den determinierten Lauf der Dingwelt. Das natürliche Gefühl sei gerade durch die Vereinigung dieser beiden verschiedenen Gefühlsarten gekennzeichnet.117 Schleiermachers eindrucksvolle Beschreibungen und sorgfältige Beobachtungen, die seine Vereinigungsthese phänomenologisch untermauern sollen, können die Frage nach der Stimmigkeit der Argumentation nicht vergessen machen. Wie läßt sich ein solches abstraktes Subjekt abgesehen von allen seinen Zuständen überhaupt denken? Meint Schleiermacher denselben Gegenstand, wenn er die kausal-determinierenden Gefühle einmal auf das an-sich-seiende Subjekt und einmal auf die Veränderlichkeit der sittlichen Zustände bezieht? Worin besteht die Gleichheit, die alle Menschen für die kausale Betrachtungsweise haben? Müssen die zurechnende Übertragung des Zustandes (genauer: der Handlung) auf das Subjekt und die Abstraktion des Subjekts vom determinierten Zustand, die doch wohl immer nur eine methodisch-partikulare sein kann, nicht zu völlig verschiedenen Ergebnissen führen? Kann man legitimerweise in rhetorischer Frage die Widerspruchsfreiheit behaupten, wenn es doch keine einheitlichen Verfahren, die nur in entgegengesetzten Richtungen praktiVgl. KGA I/l, 265, 20-27
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ziert werden, sondern verschiedene Verfahren sind? Das Hauptproblem, wie Schleiermacher die Als-ob-Freiheit des sittlichen Sinnes mit der kausalen Notwendigkeit der theoretischen Erklärung vermitteln und nicht nur als abstrakte Größen miteinander vermischen will, bleibt unerörtert. Schleiermacher weicht damit der unabweisbaren Frage nach der Verknüpfung von theoretischer und praktischer Vernunft aus; er behauptet schlicht ihre Harmonie. Daß Schleiermacher zu dem Stilmittel der rhetorischen Frage seine Zuflucht nimmt, zeigt schon seine argumentative Schwäche an. Er bleibt den Nachweis für seine Behauptung hier schuldig. Er scheint das gemerkt zu haben. Deshalb hat er auf eine phänomenologische Stützung seiner Behauptung so viel Wert gelegt. Dabei geht er von der Beobachtung aus, daß der Gerechtigkeitssinn eine Modifikation gerade der extremen zurechnenden Empfindungen nahelegt. Die zurechnenden Empfindungen allein führen nach Schleiermacher nämlich zu kleinmütiger Selbsterniedrigung angesichts überlegener sittlicher Kraft anderer und zu stolzem, hartem Abscheu angesichts unbegreiflicher sittlicher Schwäche anderer. Diesen abträglichen Folgen der Alleinherrschaft der zurechnenden Gefühle versuchen zwei Auswege zu steuern, die Schleiermacher wegen ihrer theoretischen Inkonsequenz sehr leicht als Abwege erweist. Zum einen bringe die eigenmächtige Milderung der zurechnenden Gefühle gegenüber einem Übeltäter, die sich auf die Erwägung der Tatumstände und ihrer Notwendigkeit stütze, nur eine Verwirrung aller zurechnenden Gefühle, indem die Eigenständigkeit der Zurechnung und damit die Legitimität der Strafen verlorengehe. Zurechnung und Notwendigkeit werden hier in destruktiver Weise miteinander verschränkt. Zum ändern führe der Ausweg, die Gefühle gegen die Handlung von den Gefühlen gegen den Handelnden scharf zu trennen und in der ersten Hinsicht streng, in der zweiten milde zu sein, zur Unterbindung der zurechnenden Übertragung von der Handlung auf die Person und damit letztlich zu einer starken Einschränkung der Geltung des praktischen Vernunftgesetzes. „Alle diese Vorwürfe erspart man sich alle diese Unbequemlichkeiten und Widersprüche vermeidet man durch die der Natur der Sache gemäße Verbindung der Zurechnung mit der Nothwendigkeit, nur durch sie allein bekommt unser Gefühl diejenige Stimmung die nicht nur die Stimme unseres Herzens sondern auch die Zusammenhaltung der menschlichen Gesellschaft von uns fodert die aber bei jeder ändern Verbindung von Ideen ohne Inconsequenz unerreichbar ist."118 Die allein auf der Beurteilung der Handlung basierende Zurechnung KGA I/l, 267, 17-24
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wird von Schleiermacher durch den Kausalaspekt so ergänzt und modifiziert, daß das gegenüber der Handlung überschießende Personalitäts- und Sozialitätsmoment zur Geltung gebracht wird. Schleiermacher empfiehlt den praktischen Determinismus dadurch, daß dieser gesellschaftliche Stabilität verbürgt. Er führt hier eine Interpretation des Determinismus vor, die auf gesellschaftliche Erfordernisse abgestellt ist. Erstaunlicherweise verschafft sich im Kausalaspekt gerade die „Stimme unseres Herzens" und das Bedürfnis gesellschaftlicher Selbsterhaltung Gehör. Das unparteiischgenaue Zurechnungsurteil des praktischen Vernunftgesetzes verbindet sich für Schleiermacher mit einem erklärend-rekonstruierenden Urteil der Handlungsnotwendigkeit, das nicht in seinem Vorgehen, wohl aber in seinem Ergebnis dem Bedürfnis des Herzens nach Lebenszuversicht und Vertrauen, das also dem religiösen Bedürfnis nach handlungstranszendenter Personalität und Sozialität entspricht. Schleiermacher öffnet hier ein Fenster seiner bislang streng handlungsorientierten Ethik: gerade der Kausalaspekt bringt ein mildes Licht herein. Schleiermacher führt den phänomenologischen Nachweis für die lebensfördernd-kluge Wirkung des praktischen Determinismus, indem er die beiden Extreme des sittlichen Spektrums, den Helden und den Unhold, beispielhaft erläutert.119 Dabei bedient er sich gehäuft des Stilmittels der rhetorischen Frage. Während das vorbildliche Handeln des sittlichen Helden in der Zurechnung niederschlagende Gefühle hervorrufe, wandele die ethische Notwendigkeitslehre diese Gefühle dahin ab, daß bei aller Achtung vor dieser sittlichen Höhe der Held selbst in seinen ihm förderlichen Umständen doch als prinzipiell gleichartig angesehen und daß dadurch der Wille geweckt und genährt wird, ihm nachzustreben und ihm gleich zu werden. Umgekehrt bewahre die ethische Notwendigkeitslehre vor menschenverachtendem Stolz, wenn sie den Abscheu, den die Zurechnung angesichts der Untaten sittlicher Unholde einflöße, dadurch mildere, daß sie die unheilvolle Vorgeschichte der Untat mitzubedenken und die in der Zukunft beschlossenen Versuchungen der eigenen Lebensgeschichte antizipierend zu berücksichtigen lehre. Auch hier ist der Angelpunkt der Argumentation die prinzipielle Gleichartigkeit des Beurteilers und des Beurteilten. Diese Gleichartigkeit schließt den sittlichen Impuls ein, dem Unsittlichen alle Wege zu ebnen, die ihn aus seinem Zustand herausführen können. In beiden Beispielen, die Schleiermacher vorführt, sind dem praktischen Determinismus starke pädagogische Antriebe eigen: im Falle des sittlichen Helden wird die niederschlagende Wirkung, die der Beurteilte Vgl. KGA I/l, 267, 24-268, 40
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ausübt, in eine aufbauende Vorbildfunktion für den Beurteiler verwandelt; im Falle des sittlichen Unholds werden Abscheu, Verachtung und Stolz, die der Beurteiler verspürt, durch kluge Mäßigung in die Verpflichtung, dem Beurteilten sittlich auf die Füße zu helfen, umgeschmolzen.
) Schleiermachers Begriff der Strafe Den dritten und letzten Überlegungsgang zum Thema der Zurechnung widmet Schleiermacher dem Begriff der Strafe. 12° Er will seine Behauptung erweisen, daß ohne die ethische Notwendigkeitslehre die Strafen, die ja mittels einer willkürlichen Handlung auf eine sittliche Verfehlung ein sinnliches Übel folgen lassen, nicht als rechtmäßig gedacht werden können. 121 Genauer: Bei allen Lehrmeinungen, die der ethischen Notwendigkeitslehre gegenüberstehen, sei es logisch unmöglich, die Wirksamkeit der Strafen einzusehen. Schleiermacher argumentiert hier stark mit Denkfiguren und Motiven der Glückseligkeitslehre. Strafen werden ja in den Fällen angewendet, wo jemand nicht handelt, obwohl er dazu verbunden ist, oder wo jemand etwas tut, was untersagt ist. In beiden Fällen werde unterstellt, daß die sittliche Kraft zu gering sei, die sinnlichen Antriebe zu überwinden. Im privaten Bereich beständen die Strafen zumeist im Entzug des Wohlwollens (negatives Übel), im bürgerlichen dagegen würden elementare Rechte und Lebensäußerungen des Übeltäters beschnitten (positives Übel). Zur Rechtmäßigkeit dieser weitergehenden bürgerlichen Strafen gehöre deshalb die Einwilligung derjenigen, die die Gesellschaft konstituieren. Da die sittliche Kraft durch äußere Einwirkung nicht unmittelbar vergrößert werden könne, zielen die angedrohten Strafen darauf ab, durch die Aussicht auf sinnliche Übel den sinnlichen gesetzwidrigen Antrieben ein Gegengewicht zu schaffen, so daß die Gesetzesübertretung verhindert und der moralischen Überlegung mehr Freiraum geschaffen werde. Nur der praktische Determinismus garantiere die Wirksamkeit dieses Verfahrens. Hätte nämlich, wie der Indeterminismus behauptet, jede Handlung einen unabhängigen isolierten Grund, so ließe sich nur bei einfachen Handlungen (gemäß dem Motiv, Unangenehmes zu vermeiden), nicht aber bei zusammengesetzten Handlungen, wo positives Begehren mit vorgestellten Übeln um den Einfluß auf die Willensbestimmung ringt, ein Einfluß der Vorstellung des angedrohten 120 121
Vgl. KGA I/l, 269-271 Vgl. KGA I/l, 269, 6-14
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Übels auf die Willensbildung einsehen. Da aber einfache Handlungen nicht denkbar seien, so liefere allein die Notwendigkeitslehre eine stimmige Erklärung für die Strafenpraxis. Schleiermacher tritt dem Bemühen entgegen, die sittliche Un2ulässigkeit der Strafen gerade aus der logisch zwingenden Notwendigkeitslehre herleiten zu wollen. Der Gedankengang gegen den praktischen Determinismus, der sich deterministischer Gedankenmotive bedient, ist kurz folgender: „da der sittlich schlechte Zustand ebenfalls als ein durch äußere Ursache entstandenes Uebel, also als ein Unglük anzusehen sei, so sei es ja nur unverantwortliche Grausamkeit Unglük auf Unglük zu häufen und weil jemand ein Unglük erlitten hat ihm eben um deswillen noch ein anderes zuzufügen".122 Schleiermacher widerlegt diese Behauptung der sittlichen Unzulässigkeit von Strafen durch den Hinweis auf den Nutzen der Strafen. Da das sinnliche Übel der Strafe das größere Übel des gesetzwidrigen Handelns verhindere oder vermindere, so sei die Strafe zumutbar. Schleiermacher widerspricht also hier nicht explizit der Deutung einer bösen Handlung als eines Unglücks, sondern richtet den Blick auf den Verwendungs- und Nutzenzusammenhang der Strafen. Während er die Strafen im bürgerlichen Bereich hauptsächlich unter dem Gesichtspunkt sieht, wie eine Gesetzesübertretung verhindert werden kann, so zielt im privaten Bereich der Entzug des Wohlwollens mit pädagogischer Absicht darauf, das sittliche Gefühl des Übeltäters zu wecken und zu kräftigen, d. h. ihn zur Verbesserung seines sittlichen Zustandes anzustoßen. Die Strafe dürfe sich allerdings nur im Rahmen dessen bewegen, was die sittlichen Pflichten gegen jeden Menschen erlauben. Gerade die ethische Notwendigkeitslehre mildere die Strenge der zurechnenden Gefühle durch die Gefühle von Menschenliebe und Solidarität, die sich aus dem Gleichheitsgedanken ergäben. Damit werde keinem falschen Mitleid das Wort geredet, das den Schuldspruch und den gerechtfertigten Abscheu schwankend mache, sondern nur die sittliche Verpflichtung auch gegen einen Übeltäter eingeschärft. Ohne an der sittlichen Qualität einer Handlung etwas verwässern zu wollen, müsse die Strafe für den Gesetzesbrecher darauf abgestellt sein, ihn zu bessern. Schleiermacher denkt hauptsächlich an die vorbeugende Wirkung von Strafen. Durch die Androhung von Strafen sollen Gesetzesübertretungen verhindert werden. Für die Art und das Maß der Strafen nach vollzogener böser Handlung wird von ihm nur ziemlich unbestimmt der Nutzen dieser Strafen eingefordert. Wie dieses Ziel der sittlichen Besserung überhaupt KGA 1/1,270, 21-25
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erreicht werden kann, bleibt von ihm unerörtert. Auffallig ist auch hier, daß die ethische Notwendigkeitslehre gleichsam gegenüber der Strenge der Zurechnung das humane Element repräsentiert, daß durch die ethische Notwendigkeitslehre der Gleichheitsgedanke und die je individuelle Geschichte aufeinander bezogen werden sollen. Wie allerdings aus der Verkettung raumzeitlicher Zustände überhaupt Individualität erwachsen kann, eine Individualität, die nicht nur ein Punkt im raumzeitlichen Koordinatensystem ist, das kommt hier noch nicht in den Blick. Ein Rückblick auf Schleiermachers Darlegungen zum Zurechnungspostulat führt nicht nur vor Augen, daß die hier angesiedelten Einwände der Determinismusgegner in überzeugender Weise abgewiesen und in ihrer eigenen Stimmigkeit destruiert werden können, sondern daß Schleiermachers deterministische Ethik gerade durch diese Auseinandersetzungen in ihren Grundlinien deutlicher hervortritt. So wenig allerdings die gegnerischen Einwände stichhaltig sind und den praktischen Determinismus widerlegen, so wenig kann geurteilt werden, daß Schleiermachers eigene Konzeption ohne Brüche und Ungereimtheiten ist. So bleiben manche Behauptungen als reine Versicherungen ohne Begründungen stehen, so laufen zuweilen Schleiermachers Verfahren und seine Argumentation der von ihm intendierten strikten methodischen Trennung von praktischer und theoretischer Philosophie zuwider, so läßt er manche wichtigen Folgeprobleme in diesem Zusammenhang unerörtert. Insgesamt allerdings erweist Schleiermachers Konzeption ihre Überlegenheit gegenüber allen Einwänden, die das Zurechnungspostulat gegen die deterministische Ethik ins Feld führen; ja sie kann dieses Zurechnungspostulat allererst sichern und begreiflich machen, indem sie ihm einen notwendigen Platz unter den praktischen Vernunftideen zuweisen kann.
c) Die Glückseligkeitsidee Schleiermacher entwickelt Konsequenzen seiner deterministischen Erklärung der Zurechnungsidee in zwei Richtungen: zum einen (in einer radikalen Horizonterweiterung) für die Theodizeefrage123, zum ändern (in 123
Schleiermacher schreitet zunächst fort mit einem Dialog über die Themen Theodizee und Glückseligkeit (vgl. KGA I/l, 271—281). Die sich dabei ergebenden Überlegungen zur Theodizeefrage lasse ich hier weitgehend unberücksichtigt; sie werden an späterer Stelle ausführlich dargestellt und bedacht. Der Autor, der als der eine Dialogpartner
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einer phänomenologischen Absicherung) für das natürliche Freiheitsgefühl124. Beide Überlegungsgänge sollen nachweisen, daß der Zurechnungsbegriff der ethischen Notwendigkeitslehre mit wichtigen religiösen und empirischen Aussagen verträglich ist. Bei der Erörterung der Glückseligkeitsidee löst Schleiermacher in der Auseinandersetzung mit der Vollkommenheitsethik die Verknüpfung von Glückseligkeit und Tugend auf. Sein Dialogpartner Kleon argumentiert von den Vorstellungen aus, wie sie in den ethischen Vollkommenheitssystemen der Aufklärung (z. B. Eberhard) üblich sind.125 Danach wird ein größeres Maß an Vollkommenheit mit einem höheren Grad von Glückseligkeit korreliert. Im Gegensatz zu den naturalen Glückseligkeitssystemen (Epikuräer, Kyrenaiker u. a.) wird die Glückseligkeit aber nicht durch die kluge Einstellung auf die Gegebenheiten der Natur erreicht, sondern die Vollkommenheitssysteme lehren eine Entwicklung der Tugend, d. h. eine Verstärkung der individuellen sittlichen Kräfte, wobei die Glückseligkeit gleichsam als Belohnung auftritt und der Gottesbegriff als Garant dieser Korrelation figuriert. Glückseligkeit kann demnach durch Tugend verdient werden. Für die Vollkommenheitsethik besteht eine Verbindung nur zwischen der selbstmächtigen Tugend und einem wahren innerlichen Vergnügen, das sich als ein solches durch ewige Fortdauer erweist und die göttliche Weltregierung rechtfertigt. Das Band zwischen der Tugend und den naturalen Glückszuständen dagegen ist zerschnitten, indem dieses äußere Vergnügen als scheinbar und unwesentlich eingeschätzt wird; mit Kleons Worten: „was der Zufall wie man es nennt gibt und nimmt war nur äußerer wechselnder Schein der bald diesem bald jenem Fleken einen falschen trügenden Schimmer mittheilt; seines wahren Glüks und Unglüks war der Mensch so selbst Herr und Meister"126. Mit der kausalen Bindung der Tugend an äußere Zustände, wie sie der Determinismus vornimmt, gehe die Selbstmächtigkeit der Tugend verloren; ihrer Leistungsentwicklung würden Grenzen gesetzt, gegenüber seinem Freund Kleon die ethische Notwendigkeitslehre vertritt, stuft die Bedeutung dieses Dialogs dadurch selber herab, daß er ihn deutlich als einen Einschub, als eine Unterbrechung im systematisch fortschreitenden Erörterungsgang der Abhandlung kennzeichnet. Dabei muß es offen bleiben, ob die Arbeitspause, von der der Anfang dieses Dialogs spricht (vgl. KG A I/l, 271, 21 f), ein stilistisches Hilfsmittel ist, durch die der literarische Genuswechsel plausibel gemacht werden soll, oder ob sich darin eine wirkliche Pause in seinem Arbeitsprozeß (vielleicht die Übersiedlung nach Schlobitten im Herbst 1790 oder eine pädagogische Verpflichtung in Schlobitten 1791) spiegelt, die Schleiermacher literarisch fruchtbar macht. 124
Vgl. KGA I/l, 282-298
125
Vgl. z. B. Eberhard: Sittenlehre 8-26. 50-62 KGA I/l, 274, 11-14
126
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und das Postulat prinzipieller Gleichheit aller Menschen bekomme Risse. Die Belohnung der Tugend durch wahre Glückseligkeit und durch jenseitigen Ersatz für die Entbehrungen und den Mangel an zufälligen Glücksgütern im jetzigen Leben ist nach der Vollkommenheitsethik ein elementares menschliches Bedürfnis: daher resultieren die Zukunftsträume, die auch alles Rätselhafte und Unbegreifliche dieses Lebens erhellen wollen. Dieser Zusammenhang sittlicher verdienstvoller Leistungen und korrelierender Glückseligkeit wird durch die ethische Notwendigkeitslehre Schleiermachers in Frage gestellt. Entweder nämlich wird die Tugend ihres imputablen Verdienstcharakters beraubt (und dann gerät Gottes Gerechtigkeit in Zweifel) — oder die Korrelation von Tugend und Glückseligkeit muß gesprengt werden. Kleon argumentiert von der ersten Prämisse her. Er eröffnet den Dialog damit, daß er die ethische Notwendigkeitslehre in einer radikalen Ausweitung ihres Erklärungsbereiches auf das ganze Reich vernünftiger Wesen anwendet. Da im göttlichen Willen und Verstand nicht nur der natürliche, sondern auch der sittliche Ort jedes vernünftigen Geschöpfes durch die totale Interdependenz aller Zustände und Handlungen aufs genaueste vorherbestimmt seien, riefe der sittliche Held nicht nur Bewunderung und Glücklichpreisung, sondern auch Neid hervor — und eine Missetat nicht nur Verachtung, sondern auch Schadenfreude. Denn der Genuß der eigenen Tugend sei nicht mehr von den sittlichen Zuständen anderer Menschen unabhängig, sondern der eigene Vollkommenheitsgrad von dem größeren oder geringeren Vollkommenheitsgrad der anderen abhängig. Durch die göttliche Zuweisung auf einen bestimmten Ort im sittlichen Reich seien die Grenzen der sittlichen Entwicklung und damit auch die Grenzen des Tugendgenusses gesteckt. Kleon veranschaulicht die göttliche Vorherbestimmung durch das Bild einer Lotterie, in der den zustandslosen Seelen ihre Weltstelle und damit auch ihr sittliches Vergnügen zugelost wird.127 Diese Schwierigkeit, die sich aus der Kombination der Ideen göttlicher Präszienz und menschlicher Gleichheit ergibt und die die Theodizeefrage unabweisbar heraufführt, wird von Schleiermacher nur ironisch hin- und hergewendet und dann beiseite gelegt, indem er alle transzendierenden Zukunftsvorstellungen als Phantasieprodukte einschätzt. Schleiermacher begnügt sich mit der Wahrnehmung und Erklärung der Gegenwart, dieser Welt. Sollen aber doch Vermutungen über eine zukünftige jenseitige Welt angestellt werden, so müsse die Ewigkeitsvorstellung von den moralischen Begriffen her entwickelt, nicht aber dürfe umgekehrt von vorgefaßten Vgl. KG A I/1, 272, 16-273, 6
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oder überlieferten Ewigkeitsvorstellungen her über die moralischen Begriffe entschieden werden. Der Ewigkeitsbegriff, mit dem in diesem Dialog gearbeitet wird, ist zeitlich konzipiert, er kann deshalb mit dem offenen Zukunftsbegriff wechseln. Durch die Prolongation des sittlichen Reiches in andere Welten hinein, durch die Annahme mehrerer Existenzen für dasselbe sittliche Subjekt, dem so eine unendliche sittliche Perfektibilität eröffnet wird, kann Schleiermacher mit der Überzeugung, „daß wir am Ende alle bei einem gemeinschaftlichen Ziel zusammentreffen, und daß wir uns demselben alle — nur auf verschiedenen Wegen — nähern, selbst wenn wir uns davon zu entfernen scheinen"128, eine positive Antwort auf die Theodizeefrage geben. Den Einwurf, gerade die ethische Notwendigkeitslehre widerspreche der Vorstellung der Apokatastasis panton, weil ja die Wirkung nicht größer oder geringer ausfallen könne als ihre Ursache (dies liefe auf eine Festschreibung des sittlichen Anfangszustandes für alle Zeit hinaus), tut Schleiermacher mit dem Hinweis ab, daß die künftige Stärke des sittlichen Triebes nicht nur von der jetzigen Motivkonstellation, sondern auch von der Entwicklung der äußeren Verhältnisse abhängig sei. Für diese äußere Entwicklung müsse mit Gottes wohltätigem Plan gerechnet werden.129 Auf eine Erörterung des Hauptarguments der Gegenseite (Symmetrie von Ursache und Wirkung) läßt sich Schleiermacher gar nicht ein. Sein Versuch, dieses Argument durch Vermehrung der Gesichtspunkte zu unterlaufen, kann nicht überzeugen, weil er die Beziehung der beiden Determinanten nicht untersucht. Auch wenn die Vorstellung der Apokatastasis panton, daß schließlich alle das sittliche Endziel erreichen, akzeptiert wird, bleibt für alle, die Tugend und Glückseligkeit als verknüpft denken, der Einwand gegen die ethische Notwendigkeitslehre übrig, daß die, die von einem besseren Ort im sittlichen Reich aus ihre Wanderschaft der Vervollkommnung aufnehmen, eines höheren Maßes von Glückseligkeit teilhaftig werden, welches die Benachteiligten (die den Leidenschaften Unterworfenen) nie aufholen können.130 Schleiermacher fertigt diesen Einwand damit ab, daß er die Korrelation von Tugend und Glückseligkeit schlicht bestreitet. Zwar sei die Tugend eine eigentümliche Quelle des Vergnügens, der Glückseligkeit, doch bestimme sie keineswegs überwiegend deren Größe. Vielmehr richte sich der Grad des Vergnügens nach verschiedenen Charakteranlagen und Umständen. Schleiermacher resümiert, „daß die Größe unserer Tugend 128 129 130
KGA I/l, 276, 24-27 Vgl. KGA I/l, 276, 5-23 Vgl. KGA I/l, 277, 19-29
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nicht der natürlichen Maaßstab des Grades unserer Glükseligkeit ist"131. Für ihn darf die Glückseligkeit im Sinne des Tugendlohns auch nicht erzieherisch als Anreiz zur Tugendübung genutzt werden, weil die Glückseligkeit gerade in der inneren Schönheit der Tugendübung selbst besteht und nichts von außen Hinzukommendes ist. Die qualitative Besonderheit des Glücks, das die Tugend gewähre, führe den Tugendhaften dazu, keine Rechnungen über das jeweils gewonnene Vergnügen aufzumachen und selbst die vielleicht größere Summe anderen Glücks leidenschaftslos wahrzunehmen bzw. zuzugestehen. Das aus der Tugend entspringende Glück werbe für sich selbst und nehme den, der sittlich fühlen kann, schließlich gänzlich gefangen.132 Schleiermacher besteht darauf, daß das Herausgreifen und Gegeneinander-Ausspielen von Einzelphänomenen keine Aussagekraft gegen die Schönheit des Ganzen haben könne. Zwei Urteile sind für Schleiermacher maßgebend, um dieses Ganze zu beschreiben: Zum einen muß die allseitig gültige Mangelerfahrung als Verweis auf das transzendente Vernunftziel verstanden werden; die Feststellungen, daß die äußeren Güter ungleich verteilt, daß die Seelenvermögen unterschiedlich entwickelt und daß die sittlichen Kräfte verschieden weit ausgebildet sind, drängen alle auf eine Transzendierung dieses jetzigen Lebens und dieser Geschichte zugunsten eines Ziels, wo die Vollkommenheit allen Mangel und alle Ungleichheit ans Ende gebracht haben wird. Zum ändern gilt die Feststellung, „daß ein jeder in dieser Welt, seine Gesinnungen mögen seyn welche sie wollen, auf seine Art in einem jeden Zustand den er zu durchlaufen hat ein gleiches Maaß von Zufriedenheit Ruhe und Glük mit den ändern genießen kann"133; diese Gleichheit des Vergnügens und Glücksgenusses wird durch die Vervollkommnung der sittlichen Fertigkeiten unterstützt. Die Verknüpfung dieser beiden Urteile, d. h. dieses Miteinander von Ungleichheit und Gleichheit, von Mannigfaltigkeit und Einheit, von Verschiedenheit und Vollkommenheit führe gerade durch die Spannung in der Entwicklungslinie vom mangelhaften Jetzt-Zustand zum vollendeten Gottesreich auf die anbetende Betrachtung der göttlichen Liebe und Weisheit. Schleiermachers Anliegen ist also sowohl die Individualisierung des Lebens als auch die Theodizee, wobei die Theodizee von ihm wegen der behaupteten 131 132
133
KGA I/l, 279, 29f Vgl. KGA I/l, 280, 12-26 KGA I/l, 281, 9-12. Was heißt hier „kann"? Genießt er dasselbe Maß oder hat er die Möglichkeit des Genusses nur in der Hand, genießt es aber nicht?
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Identität der Glückszumessungen auf den Gesichtspunkt der sittlichen Perfektibilität konzentriert wird.134 Zieht man aus Schleiermachers Überlegungen zur Theodizeefrage seine ethischen Ausführungen zur Tugend- und Glückseligkeitsidee heraus, so begegnen Gedanken, die er schon in seiner Abhandlung „Über das höchste Gut" geäußert hatte. Schleiermacher dringt erneut auf eine strikte Trennung von Tugend und Glückseligkeit. Er greift besonders die Verknüpfung an, wie sie in den ethischen Vollkommenheitssystemen der Aufklärung vorgenommen wurde. Das Neue seiner Überlegungen ist in der Ausbildung des Geschichtsbegriffs zu sehen. Während Schleiermacher in seiner Abhandlung „Über das höchste Gut" die Inkonsequenz der Kantischen Verknüpfung dieser beiden ethischen Grundbegriffe enthüllte und alles Gewicht auf die Autonomie und Eigenwertigkeit der praktischen Vernunft legte, steht hier das Thema der individuellen Tugendaneignung und -entwicklung im Vordergrund. Während also die erste Abhandlung auf die Stimmigkeit und innere Konsequenz einer ethischen Konzeption zielt, gleichsam nur der Stringenz und Konsistenz eines ethischen Kalküls verpflichtet ist, richtet Schleiermacher hier — veranlaßt durch die religiöse Ausgangsfrage — seine Aufmerksamkeit vorzüglich auf die pädagogischmoralischen Folgen bestimmter ethischer Leitideen. Indem er die sittliche Verfaßtheit des Individuums mittels der Perfektibilitätsidee formuliert, rückt er die geschichtliche Dimension der die praktische Vernunft aneignenden und darstellenden Sittlichkeit ins Blickfeld. Der Geschichtsbegriff ist für das Verständnis sittlicher Individualität unverzichtbar. In ihm werden Mangelerfahrung und Tugendpostulat, persönliche Unterschiedenheit und prinzipielle Gleichheit zusammengedacht. Schleiermacher unterläßt es
134
Vgl. dazu: „Wenn Gott nicht umhin kann auch diejenigen, die in diesem eingeschränkten Zustand das Unglük hatten unter die Bothmäßigkeit des Lasters zu gerathen auf den Weg der Vollkommenheit zu leiten und mit den übrigen zu einem Ziel zu führen: warum wollen wir uns noch Dunkelheiten einbilden wo keine sind? warum wollen wir nicht vielmehr anbetend und in der ehrerbietigsten Entzükung die unendliche Weisheit und Liebe desjenigen Wesens erkennen welches uns und allen vernünftigen Gliedern seines Reichs, die sich bis zu dieser Betrachtung erheben können, ohne den wirklichen Schaden eines einzigen Individui den unübersehbar großen und lehrreichen Anblik verstatten wollte: wie sich unsre eigne Natur von der thierischen Rohigkeit des Kannibalen, der sich an dem Fleisch seiner Brüder weidet und von der schauderhaften Verderbtheit des ärgsten Bösewichts bis zu der erstaunenswürdigen Vollkommenheit des weisesten Sterblichen und bis zu der Gott ähnlichen Tugend eines Christus oder eines Sokrates ausdehnt." (KGA I/l, 281, 26-40)
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in diesem Zusammenhang (bedingt durch das Theodizeethema) allerdings, den Ort des Geschichtsbegriffs in seinem Konzept einer deterministischen Ethik systematisch genauer einzugrenzen.
d) Das unmittelbare Freiheitsgefühl Schleiermacher weist in der Auseinandersetzung mit den Einwürfen, die ihre Überzeugungskraft aus dem natürlichen unmittelbaren Freiheitsgefühl speisen, die Vereinbarkeit seines ethisch-deterministischen Zurechnungsbegriffs mit dem recht verstandenen sittlichen Freiheitsgefühl nach.135 Daß das sittliche Bewußtsein, um dessen vollständige Darstellung Schleiermacher ja bemüht ist, das Phänomen des Freiheitsgefühls kennt, ist unbestreitbar. Dieses Gefühl hat seinen Sitz im Leben dort, wo es um die Zurechnung der eigenen Handlungen geht. „Dieses Gefühl erwacht unausbleiblich in uns, so oft wir uns unsrer selbst als moralischer Wesen ausdrüklich bewust werden, sollte es also wol etwas andres seyn, als der Erfolg eines verstärkten Bewustseyns derjenigen Eigenthümlichkeit unseres Begehrungsvermögens, die uns der Moralität fähig macht?"136 Diese Charakterisierung des Freiheitsgefühls hat für Schleiermacher eine ausgezeichnete Bedeutung; sie ist gleichsam der neutrale Boden, auf dem sich die Gegner und Verfechter des ethisch-praktischen Determinismus treffen. Diese Charakterisierung kommt nämlich zweimal vor. An der eben zitierten Stelle eröffnet sie die Darstellung, die die Gegner des Determinismus sowohl affirmativ vom Wesen und sittlichen Nutzen des Freiheitsgefühls als auch ablehnend vom Wesen und sittlichen Schaden der ethischen Notwendigkeitslehre geben, die alles Freiheitsgefühl vernichte. An der zweiten Stelle137 unternimmt Schleiermacher von dieser Charakterisierung aus seine Widerlegung der vorgebrachten Einwürfe. Daß diese Charakterisierung an der Spitze zweier entgegengesetzter Satzreihen stehen kann, zeigt überdeutlich, daß sie auslegungs- und präzisierungsbedürftig ist. Schleiermachers Gebrauch und Handhabung dieser Definition zeigt überdies, daß sie auch sehr auslegungsfähig und geeignet ist, die vermeintlichen und tatsächlichen Widersprüche aufzuhellen. Das Vieldeutige der Formulierung steckt in der Wendung „Eigenthümlichkeit unseres Begehrungs05 136
137
Vgl. KGA I/l, 282-298 KGA I/l, 282, 17-21 Vgl. KGA I/l, 286, 27-29
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Vermögens"138; diese Wendung wird nämlich von den Gegnern und den Verfechtern des Determinismus inhaltlich völlig anders verstanden.139 Die Gegner des praktischen Determinismus berufen sich für ihre Beschreibung des Freiheitsgefühls auf die nüchterne Selbstanalyse, die gerade auch abgesehen von einem aktuellen täuschungsträchtigen Begehrakt zu dem Ergebnis führe, daß die Willenskraft des Selbst alle anderen Bewegungsgründe zu überwiegen jederzeit fähig sei. In keiner Kombination und Stärke könnten die sinnlichen Motive allein als hinreichend gedacht werden. Dieses Selbstgefühl, das jede Koalition mit der ethischen Notwendigkeitslehre schlankweg ablehne, beschäftige gern die Einbildungskraft damit, die freie Willenskraft in den schwierigsten Fällen als siegreich gegenüber den verschiedensten sinnlichen und sittlichen Motiven vorzustellen. So erfreue und stärke sich das Freiheitsgefühl im Triumph über jeden denkbaren Anreiz: Weder Sittlichkeit noch Sinnlichkeit können das Begehrungsvermögen zu einem bestimmten Begehrakt nötigen. Aber dieses lebhafte Selbstwertgefühl sei kein wirklichkeitsfernes Erzeugnis der Einbildungskraft, vielmehr komme ihm konstitutive Bedeutung für das sittliche Bewußtsein überhaupt zu. Das Freiheitsgefühl „ist die einzige Voraussezung unter der wir sittlich zu handeln beschließen oder uns als sittlich handelnd zu irgend einer Zeit denken können ja es ist das, worauf alle die Gefühle, die das moralische Bewustseyn ausmachen, und die uns zu allen Zeiten bei unsern Handlungen leiten, sich beziehn können."140 Unübersehbar ist bei dieser transzendentalen Inanspruchnahme des Freiheitsgefühls, daß diese Konstitutionsfunktion in Analogie zu der von Kant untersuchten transzendentalen Erkenntnisfunktion des „ich denke"141 be138
139
140
141
KGA I/l, 282, 20f u. 286, 28 f Schleiermacher beginnt deshalb jede Reihe mit einer Präzisierung dieser Wendung im jeweils spezifischen Sinne. In beiden Darstellungsgängen schließt sich daran jeweils eine dreiteilige Phänomenbeschreibung an, indem das Verhältnis beider Grundansichten zu sittlichen Handlungsbeständen der Gegenwart, der Vergangenheit und der Zukunft (Lebensplan) geschildert wird. Der erste Darstellungsgang, der die Argumente und Einschätzungen der Gegner des praktischen Determinismus präsentiert, ist in sich noch einmal gedoppelt. Zunächst bringt Schleiermacher das vor, was seine Gegner unter dem Freiheitsgefühl affirmativ begreifen, sodann wird diese Auffassung polemisch gegen die Notwendigkeitslehre angewandt. Bei dieser Doppelung schreitet Schleiermacher in beiden Teilreihen dieselben Gesichtspunkte ab. Zuerst wird beidesmal der Beglaubigungsgrund für die aufgestellten Sätze angeführt, sodann werden diese Sätze durch ihre phänomenologisch-sittlichen Konsequenzen bewährt und konkretisiert, wobei Schleiermacher sich von der Triplizität Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft als Gliederungsschema leiten läßt. KGA I/l, 283, 16-20 Vgl. Kant: KrV B 131-139; Ak 3, 108, 17-112, 33
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griffen ist. Diese Analogisierung des sittlichen „ich fühle mich frei" zum erkennenden „ich denke" wird von Schleiermacher leider nicht genauer erläutert. Er stellt hier wie auch in anderen Punkten die Auffassung der Determinismusgegner nur thetisch dar. Eine transzendentale Deduktion dieser Behauptung, das Freiheitsgefühl habe für jegliches sittliches Bewußtsein konstitutive Bedeutung und sei in allen sittlichen Akten gegenwärtig, wird noch nicht einmal ansatzweise unternommen. Stattdessen stellt Schleiermacher populär-erbauliche Betrachtungen an, die anhand einer grobrastrigen Phänomenologie des sittlichen Bewußtseins (dreifach gegliedert durch die Zeitreihe) den erzieherisch-unterstützenden Nutzen dieser willkür-orientierten Freiheitslehre erweisen sollen. In allen vorgeführten Fällen sei das sittliche Bewußtsein von dem Gefühl geprägt, daß jede vollzogene oder noch zu vollziehende Handlung auf keinerlei Nötigung zurückgeführt werden könne und daß durch diese immer neue Selbständigkeit die sittlichen Gefühle der Zufriedenheit oder Reue bzw. die auf sittliche Vervollkommnung abzielenden Lebenspläne ihre Berechtigung hätten. Diese affirmative Darstellung des Freiheitsgefühls ergänzen und vervollständigen die Determinismusgegner durch die spiegelbildliche polemische Darstellung der Notwendigkeitslehre, die deren sittlich-destruktive Folgen aufzeigen will. Dadurch soll der phänomenologische Nachweis erbracht werden, daß die ethische Notwendigkeitslehre das individuelle Potential sittlicher Antriebe schwäche und zu sittlicher Gleichgültigkeit und Untätigkeit führe.142 Die Notwendigkeitslehre lahme alle sittlichen Impulse, indem sie durch die behauptete Außenleitung der Eindrücke eine passiv-fatalistische Haltung fördere („es geschieht ja doch"), indem sie durch die behauptete alles bestimmende Wirksamkeit der Gesetze eine Identifizierung des handelnden Subjekts mit seinen Handlungen verhindere und indem sie die auf sittliche Vervollkommnung ausgehend Lebenspläne unsinnig mache („alles ist schon festgelegt"). Der praktische Determinismus unterstütze also eine unsittliche Unparteilichkeit: das Gute und Böse sind jeweils nicht das Meine. Das Subjekt sei nur Vollzugsinstanz im Gehäuse der selbstmächtigen Gesetzesvollzüge. Die dadurch verhinderte Zurechnung der Handlungen wirke auf den Deterministen, der sich inkonsequenterweise um sittliche Vervollkommnung bemühe, irritierend und lähmend; für den Unsittlichen werde so ein großes Potential von Entschuldigungen und Beruhigungen bereitgestellt. Vgl. KGA I/l, 284, 21-286, 5
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Schleiermachers eigene Beschreibung des unmittelbaren Freiheitsgefühls drängt zunächst auf eine systematische Näherbestimmung dieses Begriffs.143 Dabei fördert er eine Doppeldeutigkeit zutage. Zwei verschiedene Artikulationsmodi hält Schleiermacher für angemessen. Beide bezieht er auf die Grundmerkmale des Begehrungsvermögens, die Sittlichkeit allererst ermöglichen: auf Willkür und Willen. Demgemäß kann er das Freiheitsgefühl als Willkürgefühl und als Willensgefühl verstehen. Das Freiheitsgefühl ist für Schleiermacher erstens der erfahrungsmäßige Ausdruck der Willkür. Durch den Begriff der Willkür wird der Sachverhalt formuliert, daß das Begehrungsvermögen durch keines seiner Objekte allein absolut bestimmt werden kann.144 Dieses Willkürbewußtsein begleitet alles fiktive Begehren und alles Handeln. An ihm hat die Einbildungskraft besondere Freude. Das führt dazu, daß das Freiheitsgefühl in immer extremeren Phantasiesituationen ausgekostet wird. In diesen Phantasiesituationen kann sich die Willkür auch gegen den sittlichen Trieb richten. Das Vergnügen an diesen Spielen der Einbildungskraft besteht in der Vergegenwärtigung einer charakteristischen Eigenschaft des menschlichen Begehrungsvermögens, d. i. eines Grundakts des Lebens. „Wir wollen aber dadurch nicht eine Befreiung von aller Nothwendigkeit fühlen, denn diese läßt sich in gar keinem Beispiel darstellen und unsre Fiktion wäre also ein vergebliches Unternehmen, sondern nur eine Befreiung von der Nöthigung der Objekte und diese wird dargestellt indem wir unser Begehrungsvermögen durch eine Vorstellung bestimmen welche sich auf das bloße Selbstbewustseyn beziehe."145 Die Freude an der autonomen 143
144 145
Da die polemischen Behauptungen der Determinismusgegner unleugbar sich teilweise auf wahre Erfahrungen des inneren Sinnes stützen, verfolgt Schleiermacher zu ihrer Widerlegung das Verfahren, die Punkte, an denen das unmittelbare Freiheitsgefühl der ethischen Notwendigkeitslehre widerspricht, genau herauszuarbeiten und diese Punkte auf ihre Stimmigkeit mit der inneren Erfahrung hin zu untersuchen. Schleiermachers Verfahren zielt darauf, die Rechtfertigungsargumente der Gegner als Selbstwidersprüche zu entlarven und die Vereinbarkeit des Determinismus mit dem Freiheitsgefühl aufzuzeigen. Deshalb schickt Schleiermacher (etwas verdeckt) der Analyse der Einzelphänomene des Freiheitsgefühls eine Deduktion desselben voran. Diese Deduktion beginnt er mit der schon zitierten Charakteristik des Freiheitsgefühls, die er allerdings völlig anders als seine fiktiven Gegner einsetzt. Während die letzteren diese Charakteristik unmittelbar in den Zusammenhang antideterministischer Argumente einbringen und insoweit gleichsam das Begreifen durch die Erfahrung ersetzen, so daß die Auswertung der Erfahrung zugleich ihr polemischer Gebrauch ist, bestimmt Schleiermacher zunächst den Ort, an dem das Freiheitsgefühl seine begriffliche Artikulation findet. Vgl. KGA I/l, 286, 29-36 KGA I/l, 287, 22-27
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Bestimmung des Begehrungsvermögens und an der Unabhängigkeit von allen äußeren Antrieben ist groß, doch zumeist geschieht dieser Genuß des Selbstbewußtseins und diese Stärkung des Selbstgefühls nur in den Fiktionen der Einbildungskraft. Es sei kaum vorstellbar, daß jemand beim wirklichen Handeln nur deshalb nicht einer starken Außenreizung nachgebe, um sich selbst zu beweisen, daß sie ihn nicht nötigen könne und daß also seine Willkür das allein Entscheidende sei. Bei einzelnen Handlungen hat das Freiheitsgefühl seinen phänomenologischen Ort am Übergang vom Gelüsten zum Begehren, wenn nämlich das sittliche Subjekt sich nicht sogleich vom ersten Reiz bestimmen läßt, sondern seinem Begehren eine Phase des Überlegens und Abwägens vorschaltet, damit die Motiv- und Interessenlage richtig erfaßt und eine Einordnung dieser Situation in den größeren Zusammenhang vorgenommen werden kann. Dieses Freiheitsgefühl, das aus dem Prüfen und Modifizieren des momentanen Gelüstens entspringt, widerspräche aber nicht der Annahme eines Kausalnexus im Begehrungsvermögen, sondern es führe, indem es ja gerade mit dem Bewußtwerden der Handlungsmaximen und des Ideenzusammenhangs verbunden sei, auf die Vorstellung einer allseits wirksamen, jedoch in der Art ihrer Wirksamkeit undurchschaubaren Ideenfolge. Dieser subjektive Mangel an Einsicht in die Handlungsursachen erscheine, obwohl ihm objektiv das Vorhandensein von Ursachen korreliere, von denen aber nur die Wirkungen, nicht ihre Eigenarten und Verbindungen erkennbar seien, einem abgedunkelten Bewußtsein, das sich nur den Empfindungen überlasse, als gänzliche Abwesenheit jeglichen Bestimmungsgrundes. Dadurch daß also sowohl der die Richtung und den Grad des Begehrens prägende Anstoß der Außenreizung als auch die das Begehren durch Maximen steuernde Ideenfolge aus dem Bewußtsein ausgeblendet würden, könne sich an das Freiheitsgefühl die Empfindung einer völlig selbstmächtigen Willkür anlagern. Das Freiheitsgefühl weite sich dann fälschlich dazu aus, daß alle prägenden Einflüsse vorhergehender Zustände abgestritten würden. Das Freiheitsgefühl kann nach Schleiermacher zweitens artikuliert werden in bezug auf den Willen, d. i. auf die Eigenschaft des Begehrungsvermögens, in einzelnen Handlungen seine Maximen darstellen zu können.146 Während im Freiheitsgefühl als Willkürgefühl die Überlegenheit über alle stark affizierenden äußeren Objekte und die grundsätzliche Unabhängigkeit von allen nötigenden Eindrücken empfunden wird, bezieht sich das Freiheitsgefühl als Willensgefühl auf die vorgegebene Konstellation aller Vgl. KGA I/l, 289, 8-11
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Triebe und Vorstellungen. Dieses letztere Freiheitsgefühl drücke den erfahrungsmäßigen Sachverhalt aus, daß das Begehrungsvermögen entgegen dem Resultat aller vorhandenen Triebe allein durch den Trieb, die Maxime dar2ustellen, bestimmt werden könne. Die Wahrnehmung dieses Sachverhalts könne öfter als beim Willkürgefühl auf die Modifikation und Realisation einzelner Handlungen prägend wirksam sein. Das Willensgefühl müsse gewöhnlich eigens ins Bewußtsein gehoben werden, während das Willkürgefühl bei allen Begehrakten selbstverständlich präsent sei. In dem eher formalen Willenstrieb, der gegen alle material qualifizierten Triebe und gegen eine bereits hinreichend entschiedene Willkür siegreich zum Zuge gebracht werden könne, werde die sittliche Leistungsfähigkeit des Begehrungsvermögens zur Regelhaftigkeit ihrer Akte empfunden. Dabei könne sich bei einzelnen Handlungen die Täuschung einstellen, als sei in dieser Überlegenheit gegenüber jeglicher Triebkonstellation auch jede Annahme einer notwendigen Kausalverbindung widerlegt, während doch das Vermögen der Regelbildung und Regelexekution selbst sich gleichsam um einzelne Akte des Begehrens und Verabscheuens kristallisiere, die nur in die Vergessenheit abgesunken seien. Eine besondere Ausprägung des Willensgefühls, daß nämlich die vermeintliche Gleichmöglichkeit der sittlichen und antisittlichen Maximen empfunden werde147, d. h. die Täuschung über die Beliebigkeit der Maximenwahl ergebe sich aus der Abstraktheit der Situation. Da nicht nur die Entscheidung der Willkür und die Verfaßtheit des affizierten Gemüts, sondern auch der vorhandene Zustand des Begehrungsvermögens mit seinen lebensgeschichtlich gewachsenen Maximen beiseite gesetzt werde, so könne es der Einbildungskraft scheinen, als ob zu jeder bisher geltenden Maxime auch die entgegengesetzte in Geltung gesetzt werden könnte: Der Wille könne, durch nichts verursacht oder bestimmt, sowohl diese als auch jene Maxime darstellen. Doch erweise sich diese Neutralität des Willens bei näherem Zusehen nur als Realitätsferne des Begehrungsvermögens „an sich". Komme es zum Handeln, dann werde das Begehrungsvermögen entweder seinem Spieltrieb oder seinem Einheitsbedürfnis folgen, dann träten sofort alle beiseitegesetzten Maximen und Motivkonstellationen in ihre Rechte wieder ein. Die Reinigung, die Schleiermacher am Willensgefühl vornimmt, trifft allerdings nicht ganz den Kern des antideterministischen Einwurfes, der ja primär auf das formale Vermögen der Regelbildung, nicht aber phänomenologisch auf die materiale Aktualisierung dieses Vermögens abzielt. Vgl. KGA I/l, 290, 14-17
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Die Fähigkeit, schon gefällte Entscheidungen zu revidieren, nur weil sie dem Bewußtsein der Maximenfähigkeit des Willens und d. h. der Darstellung der strukturellen Eigenart des Willens nicht deutlich entsprechen, weist dem Willensgefühl in der Dimension prinzipieller Formalität seinen Ort an. Der Einwurf läßt sich deshalb durch die Erhellung der phänomenologischen Genese der Regelbildung nicht ausreichend widerlegen.148 Das unmittelbare Freiheitsgefühl, das als subjektive Triebfeder sittlicher Gesinnungen und Handlungen auftritt, wird von Schleiermacher phänomenologisch auf seine wahren Bestandteile hin untersucht. Seine methodischen Grundsätze und Kriterien zur Unterscheidung der wahren von den irrtümlich behaupteten Empfindungsbestandteilen formuliert er mittels der temporal-numerischen sowie der transzendentalen Totalitätsanforderung. Die wahren Empfindungsbestandteile müssen also in allen Fällen und zu allen Zeiten mit den ihnen korrelierenden Zuständen zur Einheit des Bewußtseins zusammenstimmen. Die wahren Empfindungen entspringen nämlich aus dem Bewußtsein der konstitutiven Seelenvermögen, die allererst diese Zustände ermöglichen. Da diese transzendentale Struktur des praktischen Vermögens von der ethischen Notwendigkeitslehre sachgerecht erfaßt werde, müsse auch eine Harmonie zwischen den wahren Freiheitsgefühlen und den aus der Notwendigkeitslehre sich ergebenden Empfindungen bestehen. Umgekehrt wiesen die irrigen Freiheitsgefühle sich dadurch aus, daß sie nur Empfindungen des Augenblicks seien und sich zur transzendentalen Erhellung des Daseins untauglich erwiesen. Sie vertrügen keine Prolongation über mehrere Zustände und könnten auch in keinen zerstörungsfreien Zusammenhang gebracht werden. Die irrigen Freiheitsgefühle, die der ethischen Notwendigkeitslehre widersprechen, trügen durch den ausschließlichen Augenblicksbezug den Keim der Selbstzerstörung und des ausgrenzenden Widerspruchs in sich. Weil allein die im sittlichen Trieb repräsentierte Vernunft und nicht das Freiheitsgefühl sittliche Motive bereitstellen kann, präzisiert Schleiermacher den antideterministischen Einwurf dahin, daß die Äußerung des sittlichen Triebes sich in den Situationen moralischer Selbstverständigung nur unter Voraussetzungen entfalten könne, die allein vom Freiheitsgefühl, nicht aber vom Notwendigkeitsgefühl erfüllt werden könnten.149 Schleiermacher hebt nun für jeden der drei Grundtypen moralischer Reflexion (auf gegenwärtige, vergangene und zukünftige Handlungen) die wahren Bestandteile des Freiheitsgefühls hervor und zeigt deren Verträglichkeit 148 149
Vgl. KGA 1/1,291, 11-35 Vgl. KGA I/l, 291, 35-292, 9
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mit der ethischen Notwendigkeitslehre. Schleiermacher leistet dabei allerdings weniger, als er will, weil er immer auf das falsche Freiheitsgefühl fixiert bleibt und deshalb keine selbständige Darstellung des wahren erreicht. Kennzeichnend für die moralische Selbstverständigung in einer gegenwärtigen Handlungssituation sei das Bewußtsein des Willkürgefühls und des Willengefühls, dazu der Auftrag des sittlichen Triebes an das Erkenntnisvermögen, die angemessene Darstellung für das praktische Vernunftgesetz zu finden. Dieser Impuls des sittlichen Triebes werde durch die Notwendigkeitslehre nicht beschränkt, vielmehr seine Befugnis legitimiert. Schleiermacher unternimmt in der Begründung seiner Behauptung allerdings eine petitio principii, denn was er nachweisen will (daß das Notwendigkeitsgefühl sittlich erbaulich und nicht niederschmetternd wirke), setzt er dadurch schon voraus, daß er meint, die aus den vergangenen Zuständen erwachsene moralische Selbstverständigung müsse als ein Zeichen von Vollkommenheit selbst schon Freude auslösen und „der mißverstandne Unmuth über das Joch der Notwendigkeit" könne eben „bei einem wolunterrichteten Anhänger derselben nicht"150 angenommen werden. Schleiermacher muß aber doch die Gegner des praktischen Determinismus und nicht seine Anhänger überzeugen! Er muß das Zusammenstimmen von Notwendigkeitsgefühl und wahrem Freiheitsgefühl nachweisen und nicht appellativ voraussetzen! Daß die moralische Selbstverständigung, die durch die vorangegangenen Zustände präformiert ist, bei anderen Zustandsdeterminanten und anderen Hintergrundserfüllungen zu anderen Ergebnissen führt, hat für die sittlich-erbauliche Funktion der ethischen Notwendigkeitslehre keinerlei Beweiskraft. Schleiermacher deutet seine Schwierigkeiten durch sein Eingeständnis an, daß bei diesem ersten Phänomentyp zumeist nur der Eindruck des gegenwärtigen Zustandes unverbunden leitend sei. Diese phänomenologisch gleichsam natürliche Konzentration auf die Gegenwart unter Abblendung von Vergangenheit und Zukunft begünstige die Isolation, die dem irrigen Freiheitsgefühl so günstig sei. Schleiermacher muß hier gegen die selbstverständliche Zeiterfahrung ankämpfen. Darin liegt eine Schwäche seiner Argumentation, die er nicht beheben kann. Die punktuelle Selbstverständigung unterstützt das irrige Freiheitsgefühl, das erst durch ein ausgedehntes und aufgesetztes Raisonnement zurechtgestutzt werden muß. Beim zweiten und dritten Fall dagegen hat es Schleiermacher viel leichter. Das für die Tiefendimension von Vergangenheit und Zukunft 150
KGA I/l, 293, 1-3
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offene moralische Urteil ist der Interpretation durch die Notwendigkeitslehre erschlossener.151 Auch bei der Betrachtung der Vergangenheit gilt für Schleiermacher der Grundsatz, daß immer nur der sittliche Trieb sittliche Empfindungen auslösen kann. Doch zerfalle bei dem irrigen isolierenden Freiheitsgefühl die sittliche Vergangenheit eines Subjekts im einzelnen Schritte, die unverbunden aufeinander folgen, die für die gegenwärtige Rückbesinnung ziemlich gleichgültig seien und auch keine sittlichen Vervollkommungsimpulse freisetzten, weil sittliche Entscheidungen dem irrigen Freiheitsgefühl jeweils als momentane unbegreifliche Konkretisierung und Realisierung des sittlichen Triebes erscheinen. Das mit der ethischen Notwendigkeitslehre korrelierende Freiheitsgefühl dagegen lege der Wirksamkeit des sittlichen Triebes nicht eine momentane Sympathie zugrunde, sondern knüpfe an den einen Zustand viele andere an und mache so in dieser integrierten sittlichen Entwicklungsgeschichte jeden Zustand wichtig und bedeutsam für die Ausbildung des sittlichen Triebes. Die Unveränderbarkeit des Geschehenen führe nicht zu Gleichgültigkeit, sondern zu Nüchternheit und Aufmerksamkeit im Betrachter, der sich sowohl der Beispielhaftigkeit als auch der andauernden (vielleicht latenten) Wirkmächtigkeit vergangener Zustände bewußt sei. Beim dritten Fall, dem Entwurf eines moralischen Lebensplans, der die sittliche Vervollkommnung zum Inhalt hat, muß nach Schleiermacher mit der Möglichkeit einer immer weitergehenden Stärkung des sittlichen Triebes und einer entsprechenden Erleichterung seiner Realisierung gerechnet werden. Dieses Bewußtsein unendlicher Perfektibilität führe schon jetzt zu einer Steigerung des sittlichen Gefühls, die nur dann illusorisch und gefährlich sei, wenn Entschluß zur Besserung und Ausführung als zusammenfallend vorgestellt würden. Genau dieser Illusion jedoch leiste das irrige Freiheitsgefühl Vorschub, das die einzelnen Zustände auseinanderreiße und für jeden Zustand neu und unvermittelt mit der Sympathie des sittlichen Triebes rechne. Das begünstige eine Sorglosigkeit und Vermessenheit, die von der andauernden Arbeit an der eigenen Besserung befreit zu sein glaube und meine, in jedem Augenblick das sittliche Motivpotential aktualisieren zu können, in jedem Augenblick das sittliche Leben gleichsam neu beginnen und dem sittlichen Trieb zur Herrschaft 151
Eine gewisse Unbestimmtheit und Schwankung kommt dadurch in Schleiermachers Argumentation, daß er zunächst das Freiheitsgefühl gegen das Notwendigkeitsgefühl, sodann aber das wahre gegen das irrige Freiheitsgefühl ins Feld führt, ohne dabei diesen Wechsel mitzubegreifen.
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verhelfen zu können. Entschluß und Ausführung würden hier jeweils unvermittelt kurzgeschlossen, alle Überlegungen zur Bereitstellung der Mittel und zur Entwicklung des Kräftehaushaltes würden als gleichgültig beiseite gelassen. Hier werde der Illusionscharakter und die Wirklichkeitsferne des irrigen Freiheitsgefühls mit ihren schlimmen Folgen für die sittliche Zukunftsplanung offensichtlich. Die Notwendigkeitslehre dagegen rufe bei den Zukunftsentwürfen Bescheidenheit, Behutsamkeit und Ausdauer wach. Die prinzipielle Unverfügbarkeit der Zukunft und die sittliche Bedeutsamkeit aller Glieder der Handlungsreihe beförderten das Streben nach Sittlichkeit des ganzen Lebens, da nur eine Stärkung des sittlichen Triebes insgesamt sich auch in den einzelnen Zuständen förderlich auswirke. Das Gelingen des sittlichen Entschlusses sei von vielen Determinanten abhängig, die gar nicht alle überblickbar seien und über die teilweise gar nicht verfügt werden könne. Deshalb sei die Notwendigkeitslehre eher zurückhaltend im Konstatieren von sittlichen Erfolgen; aber desto mehr feuere sie die stetige Arbeit an der Versittlichung an, weil sie keine wunderbar-sprunghafte Zunahme der sittlichen Leistungskraft zulasse und weil ohne die jetzige Intensivierung des sittlichen Gefühls die spätere Realisierung und gelungene Ausführung der Zukunftsentwürfe noch unwahrscheinlicher sei.152 Kennzeichnend für die ethische Notwendigkeitslehre Schleiermachers ist, daß sie das Augenmerk auf den Zusammenhang des Lebens richtet und daß sie demgemäß von der Vermittlungsthematik bestimmt ist. Es gibt für sie keinen absoluten Anfang, es gibt kein absolutes Ende, beide reihen sich immer wieder in größere Zusammenhänge ein. Die Notwendigkeitslehre rechnet immer mit einem Geflecht von Determinanten und Zustandsfolgen. Sie ist an Geschichte interessiert, die sich ja als Entwicklung mit festen Richtungslinien und nicht als richtungslose Folge von Sprüngen darstellt. Das von den Antideterministen behauptete Freiheitsgefühl beruht dagegen auf der Isolierung des Augenblicks; die Zeit zerfällt ihnen in beziehungslose Punkte, das sittliche Subjekt in ein Aggregat von Zuständen und Entscheidungen, die jeweils nur aus sich selbst zu verstehen sind. Da dieses irrige Freiheitsgefühl den Zusammenhang des Lebens zugunsten einzelner Augenblicke aufhebt und allerdings für diese Augenblicke sehr starke Impulse freisetzen kann, widerspricht es sich in seinen Äußerungen vielfach. Gerade darin zeigt sich seine Abstraktheit und Wirklichkeitsferne, auch wenn es die Evidenz der jeweiligen Gegenwart für sich hat. Vgl. KGA I/l, 294, 6-295, 32
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Die unbestreitbare Beobachtung, daß der praktische Determinismus das an Selbsttätigkeit orientierte Persönlichkeitsgefühl bei vielen Menschen vermindere, erklärt Schleiermacher aus einer Täuschung. Bei allen nichtsittlichen, d. h. nicht vom praktischen Vernunftgesetz her entscheidbaren Handlungen ist ja gerade das Gefühl von Selbsttätigkeit und Personalität je größer, je genauer der genetische Zusammenhang und die Bestimmungsgründe eingesehen werden. Erst die Einsicht, wie Empfindungen durch diese und jene Zustände und Wirkungen notwendig zustande gekommen sind, bringe die persönliche Aneignung der Faktizität. Der Kausalnexus sei der Modus der Aneignung; Notwendigkeitsbewußtsein bilde erst Personalität. Ganz anders scheint es bei den sittlichen Handlungen zu sein. Während die nichtsittlichen Handlungen nur auf einer Ebene betrachtet werden, nämlich als solche, die geschehen, kommt bei den sittlichen Handlungen eine zweite Ebene wesentlich hinzu: Sie sind nämlich auch solche, die geschehen sollen. Die Vereinigung dieser beiden Dimensionen der sittlichen Handlungen gehe zumeist nicht ohne Täuschungen und Verwechselungen ab, weil die Personalität bei den sittlichen Handlungen von der Idee des Sollens abhängig gemacht und die Dimension des kausalen Handlungsvollzuges gern ausgeblendet werde. Die sittliche Handlung „sei also geschehn so wie sie sollte oder so wie sie nicht sollte, so ist es uns immer widerlich zu sehn daß sie so geschehen mußte wie sie geschah, weil wir immer glauben daß dieses müßen der Befugniß des Sollens Eintrag thut. Wir verwechseln unvermerkt zwei ganz verschiedene Dinge den Grund warum die Handlung so geschehn ist mit der Idee um derentwillen sie hätte geschehn sollen"153. Da die Notwendigkeitsgefühle mit dem sittlichen Trieb vereinbar seien und da sie der besonderen Zweidimensionalität der sittlichen Handlungen Rechnung trügen, so würden sie, wenn die Einsichten und Überzeugungen der Notwendigkeitslehre erst einmal vollkommen vom Gefühl angeeignet worden seien, auch das Personalitätsgefühl nicht mehr vermindern. Damit sei ein einheitlicher Begriff von Selbsttätigkeit für alle Handlungen (sittliche und nichtsittliche) in Kraft gesetzt. Der praktische Determinismus könne also alle Handlungen nach demselben Verfahren begreifen.154 Neben diesem Rationalitätsgewinn hat der Determinismus noch ein weiteres wichtiges Argument für sich. Er kann nämlich erklären, daß und 153
154
KGA I/l, 297, 24—29. Schleiermachers Gedankengang ist hier etwas verworren, weil er zunächst der falschen Identifizierung von Person und Ideenwirksamkeit, dann aber sogleich der unterschiedlichen Beziehung der Idee bzw. der Ideenwirksamkeit auf die Subjektzustände gewidmet ist. Vgl. KGA 1/1,298, 7-11
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warum das Personalitätsgefühl mit der sich höher entwickelnden Sittlichkeit zunimmt, während konsequente Antideterministen mit seiner Abnahme rechnen müßten. Solange nämlich das sittliche Subjekt noch vom Kampf zwischen den verschiedenen Triebfedern geprägt ist, so scheinen nicht nur die einzelnen Handlungen, sondern auch die wechselnd starken Triebe von den bestimmenden Umständen abzuhängen, und das Subjekt hat keinen konstanten Charakter und ein geringes Persönlichkeitsgefühl. Diese permanente Kampfsituation bedeute für den Antideterministen ein hohes Persönlichkeitsgefühl. Festigt sich dagegen der sittliche Trieb so, daß er scheinbar selbstverständlich das Handlungsmotiv abgibt, dann wächst auch das Persönlichkeitsgefühl, weil nun das Subjekt nur gemäß den Umständen, nicht aber aufgrund der Umstände zu handeln scheint. Für das irrige Freiheitsgefühl müßte in diesem Fall das Persönlichkeitsgefühl abnehmen, denn zum einen wird der angeblich nicht wahrnehmbare Handlungsgrund wegen seiner beständigen Wirksamkeit unverkennbar und zum ändern erhält die große Durchsetzungskraft des sittlichen Triebes das Aussehen eines notwendigen Bestimmens. Je höher der Wirkungsgrad des sittlichen Triebes ist, desto mehr wird der Zusammenhang des Lebens bewußt, und diese Steigerung des Personalitätsbewußtseins könne nur durch den ethisch-praktischen Determinismus erklärt werden, der ja gerade diesem Zusammenhang verpflichtet ist. Schleiermacher kann das unmittelbare Freiheitsgefühl, das bei der Würdigung der eigenen sittlichen Handlungen eine so große Rolle spielt und das immer wieder gegen eine deterministische Ethik ins Feld geführt wird, überzeugend im Sinne seines praktischen Determinismus erklären. Durch Deduktion und Phänomenanalyse weist er nach, daß seine Ethik diesen Grundsachverhalt des sittlichen Bewußtseins affirmativ aufnehmen und würdigen kann, daß zugleich die polemische Wendung der Determinismusgegner auf Vieldeutigkeiten und Selbstmißverständnissen beruht. Allein in einigen Einzelheiten sind Schleiermachers Ausführungen ergänzungsbedürftig. So interpretiert er die Ansicht der Determinismusgegner im transzendentalen Sinne, unterläßt es aber, diese transzendentale Denkfigur näher auszuführen und zu begründen, unterläßt es auch, diese Denkfigur auf seine eigene Deduktion zu beziehen und beide als verträglich oder sich unterstützend nachzuweisen. So argumentiert er zuweilen zu sehr pro domo, unterläßt es, die Gegner zu überzeugen, sondern bestätigt mit einer petitio principii nur die schon beipflichtenden Parteigänger des praktischen Determinismus. Doch trotz dieser einzelnen Schwächen liefern Schleiermachers Ausführungen zum unmittelbaren Freiheitsgefühl einen eindrücklichen Beleg für die Rationalität und die große Erklärungskraft der deterministischen Ethik.
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e) Die historische Genese des praktischen Determinismus Schleiermacher geht in einer historischen Darstellung ausführlich den Gründen nach, warum der ethische Determinismus weder die auf Täuschungen beruhenden Einwürfe seiner Gegner stringent widerlegen noch den eigenen Ansatz zu einer bündigen Konzeption entwickeln konnte.155 Eine große Erschwernis sieht Schleiermacher darin, daß die Freiheitsthematik im Grenzgebiet von praktischer und theoretischer Philosophie angesiedelt ist: Erst wenn praktisches und theoretisches Interesse zusammenkommen und wenn auf beiden Seiten ein bestimmter Entwicklungsstand erreicht ist, kann überhaupt die Ausbildung des ethischen Determinismus in Angriff genommen werden. Denn die deterministischen Grundbegriffe, die rein praktischer Natur sind und als solche auch nur im praktischen Felde entstehen, bedürfen doch zu ihrer Deduktion eines ausgefeilten spekulativen Instrumentariums. Die sachgerechte und konzise Formulierung der deterministischen Idee, die von Anfang an gefühlsmäßig auf eine verworrene Art bei allem Handeln eine Rolle spielte, kann nur gelingen, wenn die praktische Vernunft sich von allen Fesseln frei gemacht und die theoretische ihr Gebiet kritisch gesichtet hat. Also erst mit der Kantischen Epochenwende sieht Schleiermacher alle Bedingungen erfüllt, die für eine überzeugende Darstellung des ethisch-praktischen Determinismus gegeben sein müssen. Schleiermacher, der diese spekulativ-kritische Hintergrundserfüllung der Kantischen Philosophie nie namhaft macht, aber von ihr aus seine Konzeption der Philosophiegeschichte entwirft, zeigt ausführlich die Hemmnisse auf, die einer bündigen Begriffsbildung im Wege standen. Da die Freiheitsthematik sowohl den faktisch-natürlichen Vollzug der Handlungen als auch die das Begehrungsvermögen bestimmenden Sollensgründe betrifft, verfolgt er historiographisch die herrschenden Problemstellungen auf beiden Feldern. Schleiermacher beginnt mit der antiken griechischen Philosophie156 und konstatiert, daß dort die anstehende Streifrage zwischen praktischem Determinismus und Äquilibrismus noch gar nicht formuliert wurde. Die antike Philosophie, die ihre Herkunft aus mythischen Phantasieprodukten nie abstreifen konnte, war auf dem theoretischen Felde durch zwei Fragenkreise, den der Veränderung der Naturdinge und den der Entstehung der Welt, in Anspruch genommen. Das Kausalitätsprinzip war kein Axiom 155 156
Vgl. KGA I/l, 299-329 Vgl. KGA I/l, 302, 8-307, 35
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dieser theoretischen Philosophie. Zweckgemäßheit oder zwecklose Zufälligkeit wurden hier als dominierende Gesichtspunkte in den Erklärungsversuchen herangezogen, aber nicht zu eigenständigen Theorien ausgebildet und schlugen sich in der jeweils herrschenden theologischen Idee des weisen Weltregierers oder des bloßen Ungefährs nieder. Diesen theoretischen transzendental-physikalischen Überlegungen, die alles Weltgeschehen mehr unter den Leitstern des Sollens als des Müssens stellten, wurden unverbunden die praktischen an die Seite gestellt. Da das Sittlichkeitsgesetz inhaltlich ganz verschieden bestimmt wurde, standen die Auseinandersetzungen darum und die Fragen der Übereinstimmung der einzelnen Handlungen mit dem Gesetz im Vordergrund. Die verschiedenen Gesetzesfassungen gründeten sich jeweils auf verschiedene Seiten der menschlichen Natur, und die an einzelnen Handlungen gemachten Beobachtungen dienten nur dazu, in diesem prinzipiellen Widerstreit die eine oder andere theoretische Annahme zu stützen. Widersprüche zwischen Gesetz und Handlung wurden entweder auf einen aktuellen Mangel an Prinzipienbewußtsein in überraschenden Situationen zurückgeführt, dem man dann durch distanzschaffende asketische Regeln abzuhelfen suchte, oder durch Bezug auf die ideologischen Weltprinzipien der theoretischen Philosophie erklärt, ohne daß eine echte Ursachenforschung durch die Disharmonie ausgelöst worden wäre.157 Die ethische Freiheitsthematik trat nach Schleiermacher in den Brennpunkt der philosophisch-theologischen Diskussion erst mit dem Christentum, genauer mit dem von Augustin geführten Streit um die göttliche Gnade. Schleiermachers Untersuchungsverfahren ist hier von einer selbstverständlichen, betont unauffälligen Distanz zur religiösen Seite des Streits. Er führt nur „philosophisch"158 die drei möglichen Bedeutungen der Augustinischen Behauptung in bezug auf den menschlichen Willen vor, ohne auf die theologischen Argumente einzugehen. Ihm sind allein die Aussagen wichtig, die hier über die Natur des menschlichen Begehrungsvermögens gemacht werden und die zwar die anstehende Streitfrage über den praktisch-ethischen Determinismus noch nicht formulieren, aber den Weg dahin bahnen. Sieht man von der ersten Deutungsmöglichkeit, daß alles Menschliche nie gut sei, ab, weil sie einen Sachstreit in einen bloßen Wortstreit verwandelt, so drängten die zweite und dritte Behauptungsbedeutung, die die Möglichkeit bzw. die Wirklichkeit bestreiten, den sittlichen Trieb im Begehrungsvermögen herrschend zu machen, zur Suche 157
158
Vgl. KG A I/l, 307, 15-28 KGA I/l, 307, 40-308, l
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nach Legitimationsinstanzen und führten zum Vergleich der praktischen Idee mit dem faktischen Handlungsablauf bzw. zur Untersuchung, wie sittliche Handlungen entstünden.159 Die christlichen Dogmatiker, die sich auf diesem Untersuchungsfeld durch eine Vielzahl beliebiger Mutmaßungen hervortaten, waren durch die Autorität der aus heterogenen Materialien zusammengebrachten Bibel viel zu gebunden, um zu angemessenen Ansichten zu gelangen, zumal da in der theoretischen Philosophie das Kausalitätsprinzip noch nicht formuliert war. Schleiermacher geht auf die theologisch-philosophische Entwicklung nach Augustin nur ziemlich kurz und vage ein. Ihm scheinen offensichtlich manche Kenntnisse zu fehlen; seine historische Darstellung läßt noch nicht einmal Umrisse erkennen; er rekonstruiert aus neuzeitlichen Diskussionslagen und systematischen Bedürfnissen interpolierend nur einige historische Orientierungspunkte. Dagegen stellt er die Hauptentwicklungslinien der neuzeitlichen Ethik und die jeweiligen internen Schwierigkeiten ausführlich dar. Aber auch hier steht nicht die historische Genauigkeit, sondern die Erhellung der Implikationen und Friktionen dieser ethischen Konzeptionen für ihn im Vordergrund. Schleiermacher verzichtet gänzlich darauf, seine historische Darstellung zu konkretisieren; er nennt keinen einzigen Namen. Sein ganzes Bemühen zielt auf Typisierung der Denkrichtungen, zielt darauf, die Problemkonstellationen und die weitertreibenden Interessenlagen und Denkmotive herauszuarbeiten. Wegen der starken Typisierung und des Übergewichts systematisicher Gesichtspunkte ist es allerdings für den Leser sehr schwer und teilweise auch unmöglich, die von Schleiermacher dargestellten ethischen Konzeptionstypen (Indifferentismus, Fatalismus, Äquilibrismus, Determinismus usw.) mit einzelnen ethischen Entwürfen zu identifizieren, bzw. diese Typen durch Bezug auf einzelne Konzeptionen zu individualisieren. Schleiermacher gibt keine historische Detailschilderung, sondern eine Rekonstruktion seiner eigenen Problemlage. Dazu wertet er wohl ein historisches Kompendien wissen für die historisch unscharfe, aber systematisch sehr genaue Erhellung der Knotenpunkte neuzeitlicher Ethikentwicklung aus. Schleiermacher mischt in seine historische Darstellung zugleich die Widerlegung der damals vorgetragenen Argumente, und zwar seine eigene Widerlegung, nicht die der damaligen Gegenpartei. Das zeigt, wie sehr er auch bei dieser historischen Darstellung von systematischem Interesse getrieben ist. Die historische Darstellung hat für ihn die Aufgabe, sowohl die für ihn selbst maßgebliche Problemlage genetisch verständlich zu machen als auch die 159
Vgl. KG A I/l, 308, 8-23
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Vollständigkeit der diskutierten Argumente und Gegenargumente sicherzustellen. Die Eigenart der biblischen Materialien sowie die Augustinische Behauptung der menschlichen Unfähigkeit zum Guten und der auch für den menschlichen Verstand geltenden Verderbnis brachten nach Schleiermacher eine Verlagerung des Interesses von der theoretischen zur praktischen Philosophie und in der letzteren den Zusammenbruch aller heidnischantiker Morallehren mit sich. Für die praktischen Maximen der Bibel sei die Offenbarung nicht nur als äußerer, sondern auch als innerer Erkenntnisgrund genommen worden. Durch diese folgenschwere Verwechselung, daß das Vorkommen dieser Maximen in der Offenbarung zum Erweis für ihre praktische Notwendigkeit als moralischer Gesetze genommen wurde, sei der Offenbarung die neue Legitimationsfunktion zugewachsen, die Verbindlichkeit dieser Maximen auszumachen: diese Maximen müßten befolgt werden - einfach deshalb, weil sie von Gott befohlen seien. Andere Erkenntniswege und die Deduktion ihrer praktischen Notwendigkeit aus einem ersten Grundsatz seien ausdrücklich abgeschnitten worden. „Dieser in der Theologie schon weit ältere Saz [erg.: vom Grund der Verbindlichkeit in den geoffenbarten Aussprüchen der Gottheit] ging auf eine sehr natürliche Weise damals zuerst in die eigentliche Philosophie über, als man anfieng das Naturrecht zu bearbeiten"160, wo die Verbindlichkeit der positiven Gesetze und die Befugnis irdischer Gesetzgeber durch den Rückbezug auf allgemeine im unhintergehbaren Grundakt der göttlichen Gesetzgebung gegründete Sätze gerechtfertigt wurden. Diese neue (christliche) Legitimationsstruktur, die durch die Positivität der göttlichen Gesetzgebung und den daraus folgenden Grundsatz, den göttlichen Willen erfüllen zu müssen, gekennzeichnet gewesen sei, habe große Veränderungen beim Zurechnungsbegriff ausgelöst. Bei den alten (heidnischen) Moralsystemen, die ihre Maximen auf einen ersten Grundsatz bezogen, sei eine differenzierte, gestaffelte Zurechnung normal gewesen, weil immer nur einzelne Handlungen und nicht das Gesamtsystem beurteilt wurden. Bei dem neuen, vom göttlichen Willen geprägten Moralsystem aber ließen sich nach Schleiermacher die Einzelsätze gar nicht aus einem ersten Grundsatz ableiten; vielmehr ermöglichte der Grundsatz, den göttlichen Willen zu erfüllen, nur eine kollektive Einheit der Einzelsätze, die inhaltlich anderswoher bestimmt werden mußten. Das bedeutete aber, daß mit jeder Einzelübertretung zugleich das Gesamtsystem angegriffen war, denn die Einzelsätze erhielten ihre Verbindlichkeit nur in der kollektiven KGA l / l , 309, 35-38
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Einheit. Das bedeutete weiter, daß in bezug auf die Zurechnung für die verschiedenen Übertretungen Gleichheit galt; und diese Gleichheit in der Zurechnung wurde auf die Gleichheit der göttlichen (zeitlichen oder ewigen) Strafe zurückgeführt. Die Idee der göttlichen Strafe erhielt also für dieses Moralsystem eine überragende Bedeutung, weil von ihr die Idee der Zurechnung abhängig war. Zudem war die Strafidee nach der Legitimationsstruktur dieses Moralsystems notwendig, weil die Gesetze bloß durch den Willen des göttlichen Gesetzgebers verbindlich waren und in dieser Positivität eine Absicherung durch Sanktionen forderten. Selbst für den Beginn der neuzeitlichen Freiheitsdiskussion nennt Schleiermacher keinen Namen. Doch da er das Entstehen des Indifferentismus an der Ausbildung der „Idee vom zureichenden Grunde und der darauf gebauten Nothwendigkeit"161 festmacht, so ist wohl für ihn dieser neuzeitliche Beginn mit der Leibnizschen Philosophie verbunden, die den Satz vom zureichenden Grund als allgemeingültiges Erkenntnisaxiom formulierte. Die Anwendung dieses Axioms auch in der praktischen Handlungslehre habe bald deren Widerspruch gegen die Lehre von der göttlichen Strafe offensichtlich gemacht. „Wenn die Handlungen nur Resultate sind, welche wenn alle dazu erforderlichen Data die nemlichen bleiben nur auf einerlei Weise ausfallen können, so wurde dadurch ganz von selbst die Befugniß aufgehoben, diese Handlungen mit einer Strafe zu belegen, welche an jenen Datis die sie eigentlich treffen sollte nicht vollzogen werden konnte."162 Die göttlichen Strafen seien zwar durch die beleidigte Gerechtigkeit des göttlichen Gesetzgebers und durch die (allerdings höchst unzuverlässige) Abschreckungswirkung, d. h. durch ihre Vorbeugewirkung lehrmäßig begründet worden. Doch treffe das Besserungsargument, das allein sie aus dem Widerspruch zur deterministischen Handlungslehre herausbringen könnte und durch das allein die menschlichen Strafhandlungen tatsächlich gerechtfertigt seien, nicht zu, weil bei der Ewigkeit der göttlichen Strafen keine auf die Strafe folgenden menschlichen Handlungen mehr denkbar seien. Zeitliche göttliche Strafen werden von Schleiermacher als lehrmäßige Inkonsequenzen eingestuft. Außerdem erkennt Schleiermacher bei ihnen nur dieselben Rechtfertigungsgründe wie bei den ewigen Strafen an, nicht aber das Besserungsargument, daß die Strafen nämlich die Data für künftige Handlungen verändernd mitbestimmen und somit als Erziehungs- und Besserungsmittel brauchbar seien. Hier macht sich Schleiermacher seine Argumentation zu leicht. Er müßte nämlich nach161
162
KGA I/l, 313, 6f KGA I/l, 311, 25-30
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weisen, daß zeitliche Strafen mit dem Gottesbegriff unmöglich zusammengedacht werden können, daß also eine zeitliche göttliche Strafe eine contradictio in adiecto sei. Nur dann griffe das Besserungsargument nicht und könnte es die Straflehre nicht stützen und retten. Schleiermachers Erörterung ist hier zu knapp, weil nur eine detaillierte Analyse des Gottesbegriffs die Berechtigung der Straflehre nachweisen oder widerlegen könnte. Die Kalamität des vorkritischen ethischen Determinismus sieht Schleiermacher darin, daß dessen Handlungslehre zwar im offenbaren Widerspruch zur Lehre von den göttlichen Strafen stand, daß der Determinismus aber diese Lehre, die für das gesamte Moralsystem unwidersprochen eine Grundlegungsfunktion hatte, nur dann als nichtig hätte abtun können, wenn er für die praktischen Ideen einen neuen Begründungsmodus erarbeitet hätte - und dazu war er unfähig. Der vorkritische ethische Determinismus speiste sich nämlich allein aus theoretischen Quellen; deshalb war er nicht in der Lage, die Verwerfungen, die durch den Import der neuen Idee im praktisch-philosophischen Felde entstanden waren, zu bereinigen. Diese Zwiespältigkeit, daß der Determinismus die Lehre von den göttlichen Strafen bloßstellte, zugleich aber wegen deren Systemfunktion an ihr festhalten mußte, prangerten die Gegner des Determinismus an, während seine Anhänger versuchten, sie durch Sophismen oder Schweigen zu bemänteln. Die Gegner des praktischen Determinismus insistierten darauf, daß der Determinismus mit seinem Angriff auf die Straflehre alle Sittlichkeit vernichte; deshalb dürfe der Satz vom zureichenden Grund auf die von praktischen Ideen geleiteten Handlungen nicht angewendet werden. Zur Verteidung und Rettung der angeblich bedrohten Moralität bildete sich der „Indifferentismus"163. Dessen Anhänger begnügten sich damit, seine Möglichkeit zu erweisen, weil das offensichtliche praktische Interesse es überflüssig mache, eigenständig die Notwendigkeit dieses Ansatzes nachzuweisen. Der Indifferentismus hatte also einen eingeschränkten Erklärungsanspruch; er war geboren aus der polemischen Frontstellung gegen den praktischen Determinismus und aus der apologetischen Anlehnung an das praktische Interesse. Während die Deterministen einen allgemein gehaltenen Fall der Willensbildung und des Entschlusses als veranschaulichendes und ihre Lehrmeinung vom zureichenden Handlungsgrund erläuterndes Beispiel schilderten, bedienten sich die Indifferentisten dieses methodischen Hilfsmittels zu dem viel weitreichenderen Zweck, KGA 1/1, 313, 9; Sperrung aufgehoben
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mittels dieses Beispiels auch gleich den nötigen Beweis zu führen. Sie argumentierten mit dem Möglichkeitsbewußtsein angesichts einer Handlungsentscheidung und dem dabei herrschenden Freiheitsgefühl: „Wenn irgend eine Handlung gegeben ist, so waren mir in dem Augenblik der That oder des Entschlußes alle denkbare Arten darüber zu beschließen und es liegt in keinem Theil der vergangenen Weltreihe ein zureichender Grund durch den eine dieser Arten mit Ausschluß aller übrigen nothwendig wäre bestimmt worden."164 Weil jedoch diese Vorstellung, daß der Wille in einer Entscheidungssituation reine Willkür sei, allzu offensichtlich der Art widerspricht, wie vergangene Handlungen beurteilt werden (in einer solchen Beurteilung soll ja gerade das Bedingungs- und Motivationsgeflecht offengelegt werden), so suchten die Indifferentisten ihre Behauptung, bei einer Willensbestimmung sei kein zureichender Grund vorhanden gewesen, dadurch zu beweisen, daß sie Spezialfälle heranzogen. Sie verwiesen besonders auf die völlig unwichtigen Handlungen, bei denen man sich eines Entscheidungsgrundes nicht bewußt ist und bei denen es letztlich gleichgültig ist, wie und ob sie geschehen. Diese Argumentation ruft Schleiermachers eigenen Widerspruch hervor.165 Sowohl bei den scheinbar absichtslosen Handlungen als auch bei den völlig unwichtigen könne jeweils bei genauerer Untersuchung ein zureichender Handlungsgrund nachgewiesen werden. Doch selbst wenn Handlungen vorgeführt werden könnten, wo die Bestimmungsgründe nicht wahrgenommen werden könnten, habe das keine Beweiskraft für den Indifferentismus, denn aus dem Nicht-Wahrnehmbar-Sein könne nicht auf das Nicht-Vorhanden-Sein geschlossen werden. Der Quantität nach verbiete sich wegen der Unendlichkeit der Erscheinungen ein apagogischer Beweis der indifferentistischen Behauptung. Der Qualität nach reiche der Kausalitätsbegriff in einen nichtempirischen Horizont hinein. Sehr wohl leiste die Voraussetzung, alles habe eine Ursache, gute hermeneutische und heuristische Dienste, nach Wahrscheinlichkeit die jeweils zugehörigen Erscheinungen im Ursachenzusammenhang aufzuspüren. Doch nicht nur basiere der Indifferentismus auf äußerst schwachen Argumenten, auch den von ihm intendierten Zweck erreiche er bei weitem nicht; im Gegenteil könne er weder die Sittlichkeit und die Lehre von den göttlichen Strafen je für sich noch die Verbindung beider stützen, wie er doch wollte und sollte. Während der Determinismus nur dann der Sittlichkeit abträglich sei, wenn diese als von göttlichen Strafen abhängig 164 165
KGA I/l, 313, 35-39 Vgl. KGA I/l, 314, 36-315, 25
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gedacht werde, könne beim Indifferentismus eigentlich weder gestraft (denn das Subjekt kann sich auf die Willensentscheidung weder hemmend noch befördernd vorbereiten) noch sittlich zugerechnet werden (denn über die Zugehörigkeit der Handlung zum sittlichen Subjekt läßt sich gar nichts genaues aussagen). Der Indifferentismus bewege sich deshalb in einem Erklärungsfeld größtmöglicher Unbestimmtheit und verdeckter Referenzen. Nehme man der indifferentistischen These: „die Handlungen entspringen unmittelbar aus unserm Willen"166 ihre Unbestimmtheit und versuche, sie zu einer stimmigen Lehre auszubauen, so führe sie entweder zur Lehre vom zureichenden Grund oder zu der vom bloßen Ungefähr. Und selbst an dem Punkt, wo der Indifferentismus dem Determinismus überlegen zu sein schien, d. h. bei der Verknüpfung von Straf- und Sittlichkeitslehre versagte der erstere: Die Lehre von der übernatürlichen Gnade hatte nämlich die Willensneutralität, d. h. die Gleichmöglichkeit sittlicher oder antisittlicher Maximen für die Willensbildung verneint; der Determinismus behauptete zwar diese Neutralität, stellte den Willen aber immer nur im Moment des alleinigen Bestimmtseins und unter der ausschließlichen Herrschaft eines Objekts dar; die indifferentistische Konzeption der Willensbildung mit ihrer gleichmöglichen Realisierung jeder Maxime trug dem ethischen Verlangen nach Willensneutralität Rechnung und legitimierte sich durch das täuschende Selbstgefühl. Doch bei genauerem Hinsehen erweise sich diese Konzeption als eine fatale Abstraktion. Zwar müsse dem Willen abgesehen von jeder konkreten Befindlichkeit diese Neutralität zukommen, doch wenn der Wille in einer bestimmten Zuständigkeit vorgestellt werde, so seien aus der Zahl der prinzipiell gleichmöglichen Handlungsmaximen einige gerade wirksam und die ihnen entgegenstehenden ausgeschlossen, d. h. so sei die prinzipielle Neutralität zugunsten einer konkreten Bestimmtheit aufgehoben, die auf jede neue Entschließung Einfluß nehme. Das Unternehmen des Indifferentismus, die Lehre von den göttlichen Strafen mit der Sittlichkeitsidee zu vereinigen, müsse folglich als gescheitert angesehen werden. Das Interesse des Indifferentismus galt der Versöhnung der moralischen und theologischen Ideen. Dies gelang ihm nicht. Seine Konzeption genügte zwar den moralischen Prädikaten der Gottesidee, widersprach aber den metaphysischen Prädikaten, die doch als untrennbar vereinigt mit den moralischen Prädikaten gedacht werden müssen. Der Indifferentismus stimmte nämlich mit der Lehre der göttlichen Präszienz nicht zusammen. Die Unbestimmtheit, Unergründlichkeit und Beliebigkeit der menschlichen 166
KGA 1/1,316, 10 f
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Willensbildungen und der von ihnen abhängigen Veränderungen der Körperwelt lassen sich nicht zusammendenken mit der höchst gewissen und nicht nur wahrscheinlichen ewigen göttlichen Vorsehung, die ja vor aller Erfahrung nur denkbar ist, wenn eine genaue Verbindung zwischen dem schon einmal Bestimmten und dem Unbestimmten (aber noch zu Bestimmenden) mittels des Kausalnexus besteht. Doch genau diesen Kausalnexus lehnte der Indifferentismus ab, der jeden Handlungszusammenhang bestritt und damit der theologischen Präszienz- bzw. Weisheitsidee den Boden entzog. Weil also die Gottheit nichts von der Wirklichkeit der Dinge wissen kann, bevor sie wirklich sind, verlor im Indifferentismus die sittlich wirksame Gottheit sozusagen die Welt. Deshalb machte der Indifferentismus eine neue vermittelnde Lehre der sittlichen Weltwirklichkeit nötig. Diese Lehre war der Fatalismus.167 Während der Indifferentismus an den moralischen Prädikaten der Gottesidee orientiert war, hielt sich der Fatalismus an die metaphysischen.168 Aus der damaligen Theologie ergab sich an eine Handlungstheorie ja die Anforderung, daß die Handlungen mit ihren willkürlichen Veränderungen der Körperwelt sowohl sich in die natürliche Weltordnung einpassen als auch untereinander ein von der Gottheit vorgedachtes Ganzes ausmachen sollten. Während der 167
168
Schleiermacher grenzt seinen Begriff des Fatalismus gegen übliche Mißdeutung ab. Er meint damit weder Materialismus noch Pantheismus. Diese beiden machen nicht nur Aussagen zum Vorstellungs- und Begehrungsvermögen, sondern darüber hinausgehend auch solche über die Substanz des Subjekts, die diesen Vermögen zugrunde liegt. Daß die Substanz als das Subjekt des Selbstbewußtseins sich mit ursächlicher Notwendigkeit in diesen Vermögen äußere und die Bestimmungen dieser Vermögen selbst dem Kausalnexus unterworfen seien, zeige einerseits die Affinität dieser Lehren zum Determinismus, beleuchte andererseits aber auch die überflüssige theoretische Ausweitung auf den Substanzbegriff. Die Kausalitätsidee, die für den Determinismus charakteristisch ist, werde auch in Materialismus und Pantheismus angenommen, allerdings mit der unerweislichen Näherbestimmung durch die Substanz des Subjekts. Der Materialismus, der diese Substanz durch Bewegungsgesetze dargestellt denkt, und auch der Pantheismus, der diese Substanz als Teil der allgemeinen Einen Substanz begreift, würden zu Unrecht in einem pejorativen Sinn als fatalistisch diffamiert. Schleiermachers Begriff des Fatalismus bezieht sich auf eine bestimmte Art der göttlichen Weltregierung, die zwischen der des bloßen Ungefähre und der der Allweisheit angesiedelt ist. Die moralische Idee des Ungefähre hätte aufgrund der weltverändernden Handlungsfolgen die Lehre von der weisen göttlichen Weltregierung auch für die Körperwelt unhaltbar gemacht; mithin wären die theologischen Ideen dann nicht nur in ihrem moralischen, sondern auch in ihrem physischen Anwendungsbereich destruiert. Für die Naturdinge lasse der Fatalismus aber die Vorstellung von der weisen göttlichen Weltregierung unangetastet.
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Indifferentismus169 vor dieser Anforderung kapitulieren mußte, erfüllte der Fatalismus sie dadurch, daß er unter Ausblendung alles Vorhergegangenen und aller Folgen für jede Handlung eine absolute Notwendigkeit behauptete. Werde die Idee des Fatums auf die Veränderungen des menschlichen Begehrungsvermögens angewendet, so seien diese Veränderungen der Idee eines Zwecks weder völlig unangemessen noch völlig angemessen, vielmehr geschehe „jedes einzelne Factum ohne Rüksicht auf das was vorhergegangen wäre und nachfolgen würde, und ohne daß es durch jenes schon von selbst gegeben wäre, und ohne daß es wiederum dieses in sich enthielte, ganz allein für sich betrachtet unabänderlich einem gewißen Zwek gemäß"170. Diese absolute Notwendigkeit (und Unmöglichkeit jedes Andersseins) gründe nicht in dem Kausalnexus einer Reihe, sondern in der absoluten Vorausbestimmung des göttlichen Willens, den der Fatalismus als Exekution des ewigen göttlichen Plans dachte. „Es mag vorhergegangen seyn was da wolle, so geschieht eine jede Handlung dennoch durch einen mystischen Actus des göttlichen Willens so wie es in der Idee des höchsten Wesens war."171 Der Fatalismus stimmte also mit dem Determinismus darin überein, daß die Handlung Notwendigkeitscharakter habe, unterschied sich von ihm aber in dessen Begründung. Mit dem Indifferentismus stimmte er darin überein, daß die Umstände und das Vorausgegangene keine Handlungsdeterminanten seien, unterschied sich aber von ihm durch die Unmöglichkeit des Andersseins der Handlung; weil die Handlung unmittelbar im göttlichen Willen gründe, könne sie nicht anders ausfallen, als sie ausfällt, auch wenn völlig andere Handlungen vorhergegangen wären und obwohl Umstände und Vorgeschichte die Willensbildung in keiner Weise prägten. „Wenn also nach dem reinen Aequilibrismus das Subjekt auf die Handlung 169
170 171
Schleiermacher nimmt mit dem Auftreten des Fatalismus eine Terminusänderung vor, ohne sie allerdings durchgängig zu beachten; er nennt den Indifferentismus jetzt Äquilibrismus. Er kann beide Termini promiscue gebrauchen, doch überwiegt die Verwendung Äquilibrismus. Während vor dem Auftreten des Fatalismus immer nur vom Indifferentismus die Rede ist, will Schleiermacher durch den Terminuswechsel wohl andeuten, daß die indifferentistische Konzeption, die trotz aller sachlicher Affinitäten sich dem Fatalismus entgegensetzt, im Zuge dieser Entgegensetzung sich selbst wandelt und der alte, allein vom Gegensatz gegen den Determinismus geprägte Indifferentismus mit diesem neuen, auch vom Gegensatz gegen den Fatalismus geprägten Indifferentismus, d. i. mit dem Äquilibrismus nicht identifiziert werden kann. Der Indifferentismus setzt also die beiden miteinander streitenden Kinder Fatalismus und Äquilibrismus aus sich heraus. KGA 1/1,321, 9-13 KGA 1/1,322, 11-13
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verfällt und nach dem Determinismus darauf gebracht wird, so ist es nach dem Fatalismus dazu unveränderlich bestimmt."172 Der Fatalismus ist nach Schleiermacher gar keine vollständige Handlungslehre, weil er nur das Verhältnis der Handlungen zur Gottheit (genauer zu deren metaphysischen Prädikaten), nicht aber das zur Verfaßtheit des Subjekts erläutert. Hinsichtlich des letzteren folge er der Lehre des Indifferentismus. Schleiermacher interpretiert deshalb den Fatalismus als eine Hilfstheorie des Indifferentismus, die diesen in Übereinstimmung mit den Anforderungen der metaphysischen Theologie bringt, dabei aber mit den Anforderungen der moralischen Prädikate der Gottesidee und mit den sittlichen Ideen kollidiert. Weil dieses Ungenügen des Fatalismus zu offensichtlich sei, habe der Indifferentismus diese unerbetenen Hilfsdienste immer abgelehnt. Der Indifferentismus werde nämlich dadurch kompromittiert, daß der Fatalismus zwar eine kleine Schwäche behebe, dafür aber einen viel größeren verborgenen Mangel ans Licht bringe und bloßstelle. Der Indifferentismus lasse nämlich die Antwort auf die Frage im Dunkeln, wie dem Subjekt die Handlungen, die von seiner sittlichen Verfaßtheit so völlig unabhängig seien, überhaupt zugehören könnten. Dagegen erläutere der Fatalismus diese Unabhängigkeit zum einen dadurch, daß der göttliche Wille wie ein Naturgesetz die Handlung unwiderstehlich von außen bewirke; diese die indifferentistische Freiheit interpretierende Handlungsfatalität vernichte also (auch bei Übereinstimmung der Handlung mit dem praktischen Vernunftgesetz) jede Sittlichkeit, weil keine Zurechnung stattfinde wegen der unendlichen von außen zwingenden Wirksamkeit Gottes. Zum ändern führe die Unabhängigkeit der Handlung von der Verfaßtheit des Subjekts dazu, daß die Gesinnung, d. i. das subjektive sittliche Motivati onsgefüge für jede einzelne Handlung irrelevant werde; die Gesinnungen als Ursachen der Handlungen würden zugunsten des fremdbewirkten Ergebnisses des Willensbildungsprozesses übergangen, somit der Verbindlichkeit des praktischen Vernunftgesetzes und der Zurechnung der Boden entzogen, weil keine moralische Wertschätzung der Person mehr stattfinden könne. Der Fatalismus, dem die Handlungen von außen bewirkt und von der Verfaßtheit des Subjekts abgelöst seien, bereite aller Sittlichkeit ein Ende. Daß der Indifferentismus sich von dieser unerbetenen Hilfe, die ihrer beider Mängel an der Stirne trug, scharf abgrenzte, findet Schleiermacher nur zu verständlich, doch könne alle verbale Distanzierung nicht die konzeptionellen Affinitäten verschleiern. KGA I/l, 322, 32-35
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Schleiermacher wendet sich in seiner Problemgeschichte zuletzt der vorkantischen Ethikreform der Popularaufklärung zu.173 Der theoretisch orientierte Determinismus machte hier die Widersprüche des theologischethischen Denkens, die durch die Bindung der sittlichen Verbindlichkeit an die Offenbarung bzw. an den göttlichen Willen entstanden, nicht für eine kritische Neugründung der praktischen Philosophie fruchtbar, die den entgegenstehenden Lehrmeinungen den Boden entzogen hätte. Die Verbindlichkeit sollte, so wurde in der Popularaufklärung die Vernunft beauftragt, nicht mehr extrahuman, sondern im Menschen mit allen seinen Vermögen, d. i. in seinem Bewußtsein gegründet sein. Die Vernunft wurde hier jedoch nicht als praktisches Vermögen, Gesetze zu geben, und in dieser Nomothetik als alleinige Herrin des Moralsystems in ihr angestammtes Recht gesetzt; sie wurde vielmehr nur wie im Gebiet der theoretischen Philosophie als Vermögen in Anspruch genommen, „den Zusammenhang der Dinge nach Principien einzusehn, und gar nur ein Gesez dessen Verbindlichkeit auf dem Interesse des Bewustseyns beruhte, und dessen systematische Richtigkeit aus jenem erkannten Zusammenhang der Dinge und aus den bestimmten Folgen einer jeden Handlung des Gemüths erweislich seyn sollte."174 Schleiermacher ordnet mit dieser Charakteristik unausgesprochen seinen Vernunftbegriff und seinen Argumentationsansatz seiner „Freiheitsgespräche" dieser überholten Ethikepoche zu. Während er dort noch die Vereinbarkeit des theoretisch dominierten mit dem praktisch-nomothetischen Vernunftbegriff zu erweisen suchte, führt ihn die Durchbildung der Ethik und des praktischen Vernunftbegriffs dazu, sein eigenes Vermittlungsbemühen als unstimmig abzutun und einen Trennungsstrich gegenüber seiner eigenen schulmäßigen Herkunft zu ziehen. Die Hallesche Schulphilosophie wird der Vergangenheit zugewiesen. Da nun das Interesse des Bewußtseins sowohl auf die Qualität der rezipierten Eindrücke als auch auf den Entwicklungsstand der eigenen Seelenkräfte gehen kann, so ergaben sich in der vorkantischen Ethikreform Glückseligkeitssysteme, die ihre Gesetzgebung am ersteren Interesse orientierten, und Vollkommenheitssysteme, die ihre Gesetzgebung vom letzteren Interesse leiten ließen. Die theoretische Vernunft wurde also fälschlich in den praktisch-philosophischen Bereich ausgeweitet und das sittliche Gefühl, das ja auf das ihm zugrunde liegende Vernunftgesetz hätte führen können, im umstrittenen Begriff des sittlichen Sinnes nur auf seine Eignung als Grundlagenbegriff der Ethik befragt. Durch diese Streitfrage 173 174
Vgl. KGA I/l, 325, 10-329, 10 KGA I/l, 326, 8-13
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wurde jedoch der an den Handlungsfolgen orientierte Legitimationszusammenhang gar nicht untersucht und somit auch keine Fragestellung gewonnen, die auf eine vernünftige Kritik geführt hätte. Der sich mit dem Glückseligkeitssystem bzw. dem Vollkommenheitssystem verbindende Determinismus begriff die Freiheit als das Vermögen, die Handlungen nach den Gesetzen zu bestimmen, die die Vernunft hinsichtlich des notwendigen Zusammenhangs der Dinge erkennt. Dieser Determinismus hatte für Schleiermacher zwei gewichtige Schwächen. Zum ersten mangele dem theoretisch strukturierten, nur subjektiven Moralgesetz die allgemeine Verbindlichkeit. Zum zweiten ergäben sich Deformationen des Zurechnungsbegriffs daraus, daß ein antreibendes sittliches Gefühl fehle, das allein auf die Realisierung des praktischen Vernunftgesetzes um seiner selbst willen und nicht auf eines seiner jeweilig wechselnden Einzelobjekte gerichtet sei, denn der sittliche Sinn werde nur als urteilend gedacht. Sowohl beim Glückseligkeits- als auch beim Vollkommenheitsgesetz widersprächen sich (abgesehen davon, daß beide eine außermoralische Beglaubigung des Moralgesetzes für nötig hielten) die Beglaubigung, die dem Inhalt, und die, die der Form des Gesetzes gelte. Das auf die lebenslange Maximierung des Angenehmen gerichtete Glückseligkeitssystem175 bringe statt eines antreibenden, auf die prinzipielle Gesetzesangemessenheit bezogenen Gefühls ein solches, bei dem entweder (unter inhaltlichem Aspekt) eine Verwechselung von Gesetz und Objekt des Gesetzes oder bei dem (unter formalem Aspekt) eine kontrasystematische Bevorzugung eines einzelnen Eindrucks, nämlich des Gesetzesgefühls, vorliege, der noch nicht einmal im Systemkanon des Angenehmen enthalten sei. Auch das Vollkommenheitssystem kenne allenfalls nur ein solches antreibendes sittliches Gefühl, das nicht zur intendierten Harmonie der Seelenkräfte, sondern zur Vorherrschaft von einigen derselben führen müßte; deshalb denke es das an der Form des Gesetzes anknüpfende sittliche Gefühl, dessen Vorhandensein ja nicht bestreitbar sei, als vor dem Gesetz vorhanden und nehme es als eine Neigung, die dem Harmoniesystem durch Einschränkung einzupassen sei. Hier endet Schleiermachers Problemgeschichte deterministischer Überlegungen in der Ethik. Er hat diese Geschichte bis an die Schwelle der 175
YR'· dazu: „[. . .] das Gesez, das diesem System zum Grunde liegt lautet gewöhnlich so: handle so, daß du nicht den gegenwärtigen Eindruk allein sondern die Annehmlichkeit der zu vermuthenden Eindrüke auf die Receptivität überhaupt im Auge habest, und dies Gesez hat seine Beglaubigung in dem als unvermeidlich angegebenen Bestreben nach dem möglichst angenehmen Zustand." (KGA I/l, 328, 21—26)
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neuen Epoche in der Ethik nachgezeichnet, die mit dem Unternehmen des Kritizismus anhebt. Schleiermacher ordnet sich selbst dieser neuen Epoche zu. Er hat in seiner Abhandlung die Schwelle überschritten und blickt distanziert auf die vorkantische Ethikreform zurück. Diese Ethikreform der Popularaufklärung und aufklärerischen Schulphilosophie hat für ihn nur noch die Bedeutung einer Vorgeschichte, eines gescheiterten mangelhaften Unternehmens, das für die neue Epoche die Folie liefert. Diese Einschätzung war nicht immer so. Schleiermachers „Freiheitsgespräch" war noch um eine Vermittlung der alten und der neuen Epoche bemüht, es war gleichsam auf der Schwelle angesiedelt. Dort hatte er sich noch darum bemüht, das schulmäßige theoretische Vernunftverständnis, wonach „die Vernunft in dem Vermögen besteht den Zusamenhang der Dinge einzusehn"176, über den Mittelbegriff der deutlichen Vorstellung auch für den praktischen nomothetischen Vernunftgebrauch als fruchtbar aufzuzeigen. Das „Freiheitsgespräch" erscheint janusköpfig, weil es von zwei gegenläufigen Motivsträngen geprägt ist. Besonders wenn man die verlorengegangenen beiden ersten „Freiheitsgespräche", die sich nur noch in Umrissen rekonstruieren lassen, hinzunimmt, so können diese drei „Freiheitsgespräche" als Versuch einer Synthese von Eberhard und Kant, von Hallescher Schulphilosophie und Kritizismus gelesen werden. Dabei kommt dem Sachverhalt vielleicht doch Zeichenwert zu, daß das Freiheitsthema dort zunächst von der Konzeption der Schulphilosophie her eingeführt und eingeleitet wird, um dann immer stärker in die Gedankenwelt des Kritizismus einzutauchen — trotz aller Einzelkorrekturen. Hier in der Abhandlung „Über die Freiheit" ist von einem Vermittlungsbemühen nichts mehr wahrzunehmen. Der Epochenwandel ist vollzogen. Die vorkantische Ethikreform gehört der Geschichte der Irrungen und Halbwahrheiten zu. Schleiermacher stellt sich selber auf die Seite der Kantischen Vernunftkritik. Es läßt sich nicht sicher ausmachen, ob Schleiermachers Problemgeschichte als Fragment einzustufen ist. Es muß unentschieden bleiben, ob Schleiermachers Darstellung der Glückseligkeitsund Vollkommenheitssysteme schon vollständig vorliegt oder weitere Ausführungen hierzu vorgesehen waren. Unbezweifelbar hätte die große Ethikreform des Kantischen Kritizismus die historische Rekonstruktion Schleiermachers erst zu ihrem Abschluß gebracht. Erst mit Kants Kritik der ethischen Tradition und seiner Grundlegung einer von der autonomen praktischen Vernunft her konzipierten Ethik hätte Schleiermacher seine eigene Ausgangsproblematik erreicht, erst dann wäre die historische Selbst76
KGA I/l, 149, 32 f u. 151, 30 f
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ableitung der Schleiermacherschen Untersuchung, die sich ja als eine Präzisierung und konsequente Ausbildung der Kantischen Ethik versteht, an ihr notwendiges Ziel gekommen. Doch könnte der Verzicht auf die Darstellung Kants durch zwei Motive veranlaßt gewesen sein: zum einen hatte Schleiermacher eine Standortbestimmung und Würdigung der Kantischen Leistung schon in anderen Manuskripten zumindest skizzenhaft unternommen; zum ändern kommt eine direkte und ausführliche Bezugnahme auf die Kantische Konzeption im folgenden vierten „Abschnitt" zum Zuge. Anders ausgedrückt: Kants Ethikkritik ist für Schleiermacher so präsent und wirkmächtig, daß sie sich nicht in eine historische Schilderung einordnen läßt. Die historische Rekonstruktion hat insofern einen hohen Stellenwert innerhalb der Gesamtuntersuchung, als Schleiermacher zum einen erklären will, warum die deterministische Ethikkonzeption trotz vieler natürlicher Beglaubigungsmomente sich nicht stimmig und überzeugend hat ausbilden und durchsetzen können, und er zum ändern einen Einblick in die Mannigfaltigkeit möglicher Mißverständnisse und kontroverser Interessenlagen geben will. Gerade durch seine Typisierung, die die möglichen Leserhoffnungen auf eine konkretere und differenziertere historische Schilderung willentlich enttäuscht, erreicht Schleiermacher eine einleuchtende Profilierung der historisch wichtigen Argumentationslagen deterministischer und antideterministischer Provenienz. Indem er die historische Tiefendimension gerade von seinem systematischen Interesse her erschließt und durch den Eintrag eigener Argumente in vergangene Debatten aus seinen konstruktiven Absichten keinen Hehl macht, bereichert er seine eigenen konzeptionellen Erwägungen um wichtige Argumentationsmotive. Trotz aller Typisierung gewinnt Schleiermachers Abhandlung durch diesen Rückblick mehr Anschaulichkeit und Eigencharakter.
f) Die Freiheit Schleiermacher beschäftigt sich in seinem vierten, Fragment gebliebenen „Abschnitt"177 mit den Verstehens- und Zustimmungshindernissen, die seiner Lehrmeinung aus solchen Ideen erwachsen, die aus anderen Bereichen in die praktische Philosophie hineinstrahlen und mit den praktiVgl. KGA I/l, 330-356
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sehen Ideen Koalitionen eingehen. Da alle diese Ideen hier mit der vielfachen Verwendung des Wortes „Freiheit" zu tun haben, muß Schleiermacher sein Vorgehen so einrichten, daß er gleichzeitig mehrere Zwecke erreicht. Er muß die einschlägigen Begriffe in eine gehörige Ordnung bringen; er muß den Gedanken angeben, der diese so geordneten Begriffe in ein Verhältnis zur deterministischen Lehrmeinung zu setzen und zu beurteilen erlaubt; er muß angesichts der Bedeutungsvielfalt und der mannigfaltigen theoretischen Kontexte eine präzise Worterklärung von „Freiheit" geben, um so Begriffsumfang und Begriffsmerkmale genau zu bestimmen und um dadurch dem Leser den Vergleich mit dem eigenen Begriff zu erlauben. Durch Worterklärungen können zwar keine strittigen Sachfragen gelöst werden; aber sie sind nötig, um angesichts der individuellen Konnotationen und der wechselnden Ideenverbindungen die Begriffe möglichst scharf zu fixieren und dadurch argumentativ überprüfbar zu machen. Schleiermacher schließt seine eigene Worterklärung modifizierend an die Kantische Definition der transzendentalen Freiheit an. Er will ja mit seiner allgemeinen Worterklärung den Gattungsbegriff bestimmen, um aus ihm die verschiedenen Artbegriffe als regelhafte Anwendungen abzuleiten. Um nicht denselben Weg zweimal gehen zu müssen (erst analytischreduktiv zum allen gemeinsamen Gattungsbegriff, dann synthetisch-deduktiv zu den spezifischen Art begriffen), nähert sich Schleiermacher ohne Analyse gleichsam im Sprung durch ein sehr grobes Merkmal dem Gattungsbegriff: „Jedem Begrif von Freiheit liegt immer die Abwesenheit einer Nöthigung zum Grunde entweder von dem was der Zeit nach vorhergegangen ist wenn der Gegenstand als in der Zeit gegeben gedacht wird oder von etwas dem Begrif nach vorher gedachten, in so fern der Gegenstand ausser allen Zeitverhältnissen vorgestellt wird."178 Schleiermacher folgt der Kantischen Lehrmeinung, daß der im reinen Verstand gegründete Notwendigkeitsbegriff rechtmäßig nur auf Gegenstände der sinnlichen Wahrnehmung, die die Kausalitätsidee auch erst ins Bewußtsein heben, angewendet werden dürfe. Dementsprechend orientiert Schleiermacher den Gattungsbegriff der Freiheit ganz allgemein am Geschehen von Dingen — ohne Rücksicht auf deren Beschaffenheit, deren Umstände, deren Verhältnisse. Für Schleiermacher gilt die allgemeinste Freiheitsaussage einem Etwas, das geschieht und bei dem jegliche Nötigung abwesend ist. 178
KGA I/l, 334, 23-27
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Schleiermacher adoptiert die Kantische Erklärung, Freiheit im transzendentalen Sinn „sei das Vermögen, eine Reihe von selbst anzufangen"179. Da die transzendentale Freiheit nur eine Art der Freiheit ist, deren Begriff mithin unter seinen Merkmalen auch ein solches hat, durch das sich diese Art von anderen Arten unterscheidet, deren Begriff folglich nicht unbesehen als Gattungsbegriff eingesetzt werden kann, geht Schleiermacher die drei Elemente dieses Kantischen Begriffs genau durch, um das Merkmal zu finden, das nur dem Artbegriff eigentümlich zukommt und das aus dem Gattungsbegriff auszuscheiden ist. Schleiermacher rechtfertigt in seiner Untersuchung für den Gattungsbegriff der Freiheit die beiden Merkmale „Reihe" (wegen der im Merkmal „Abwesenheit einer Nöthigung" mitgedachten Gesetzesidee) und „Anfang" (wegen der nur vektoralen Gültigkeit der Gesetzesidee), während er in dem Merkmal „von selbst" die unterscheidende Eigentümlichkeit des Artbegriffs „transzendentale Freiheit" erkennt. Mit diesem Merkmal wird für die transzendentale Freiheit jeglicher Zusammenhang des Subjekts der Freiheit, für das ja das Gesetz der Reihe a parte ante gerade nicht gilt, mit allen anderen Erscheinungen verneint, d. h. es wird die Reihe selbst verabsolutiert. Um für den Gattungsbegriff tauglich zu sein, muß dieses Merkmal nach Schleiermacher so reformuliert werden, daß nur der Zusammenhang dieser Reihe, d. h. die Wirksamkeit des Gesetzes dieser Reihe beim ersten Glied a parte ante negiert wird. Schleiermacher setzt für den Gattungsbegriff der Freiheit also unausgesprochen die Worterklärung fest: Freiheit ist das Vermögen, eine Reihe anzufangen! Diese Worterklärung stimmt genau mit der Erklärung überein, die Schleiermacher in seiner Abhandlung „Freiheitsgespräch" entwickelt und dort in den verschiedenen Anwendungsfeldern erfolgreich erprobt hatte. 18° Der Freiheitsbegriff hat direkt nur die Handlung zum Gegenstand, durch die die Reihe hervorgebracht wird, denn diese Handlung ist das erste Glied der Reihe. Der Freiheitsbegriff hat dann indirekt auch das Subjekt dieser Handlung zum Gegenstand, wenn das Subjekt als Vermögen mehrerer Handlungen gedacht wird. Dementsprechend stellt Schleiermacher die drei möglichen Freiheitsarten fest, die bei menschlichen Handlungen denkbar sind. Entweder bezieht sich die Freiheit nur auf die menschlichen Handlungen selbst unter dem fundierenden Aspekt ihrer Individualität: dann wird sie auf das Subjekt der Handlungen nur übertragen; oder die Freiheit bezieht sich auf das Subjekt der Handlungen: dann wird sie auf 179 180
KGA I/l, 335, 24 f; vgl. Kant: KrV B 561 f; Ak 3, 363, 8-364, 16 Vgl. oben S. 43 f
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die Handlungen selbst nur übertragen. Im letzteren Fall kann das Subjekt einerseits seinem Zustand nach, d. h. gemäß seinen Verhältnissen zu anderen Dingen als den äußeren Bedingungen für Grad und Richtung seiner handelnden Kraftäußerung, oder andererseits seinem Vermögen nach, d. h. gemäß dem Entwicklungsstand und der Eigenart der Funktionsleistungen als den inneren Möglichkeitsbedingungen bestimmter Handlungen, betrachtet werden. Jede dieser drei Freiheitsarten wollte Schleiermacher nacheinander erörtern, doch ist dieses Unterfangen Fragment geblieben. Schleiermacher beginnt mit der ersten Freibettsart, die dem Gattungsbegriff am nächsten ist, nämlich wo Handlungen Gegenstand der Freiheitsaussage sind.181 Er grenzt dieses Bedeutungsfeld ab. Diese „Hauptart"182 unterteilt Schleiermacher noch einmal in zwei Klassen.183 In der ersten Klasse wird von dem Begriff einer bloßen Handlung überhaupt ausgegangen; das Gesetz der Reihe, dem die freie Handlung nicht gehorcht, wird allein aus diesem reinen Handlungsbegriff gewonnen; dieses Gesetz ist das Kausalitätsgesetz, und die von ihm bestimmte Reihe muß als unendlich gedacht werden. In der zweiten Klasse hat der Handlungsbegriff bestimmte eigentümliche Merkmale; das Gesetz der Reihe, dem die freie Handlung selbst nicht unterworfen ist, beruht auf diesen individuellen Näherbestimmungen, die entweder ideal (in der Idee des Urteilszusammenhangs) oder real (in der Art des Geschehens) sein können.184 Die real inaugurierte Gesetzesformel legt sich in einer zufällig begrenzten Reihe, die ideal inaugurierte Gesetzesformel in einer geschlossenen, endlicherschöpfbaren Reihe aus. Schleiermacher untersucht die erste Klasse.185 Wird sein Gattungsbegriff der Freiheit auf Handlungen überhaupt angewendet, d. h. wird das Kausalitätsgesetz als Gesetz einer solchen Freiheitsreihe gedacht, so wird derjenige Freiheitsbegriff gewonnen, den der Indifferentismus konzipiert hat. Schleiermacher kann mit seiner Erklärung diesem Begriff genau seinen Ort im Begriffsfeld anweisen; er kann dessen Umfang und Struktur angeben. Doch dieser Begriff, wenn der Voraussetzung gemäß sein Geltungsbereich die menschlichen Handlungen sein sollen, müsse inhaltslos bleiben, ohne daß er deswegen ein nichtiger Begriff sei. Der große Mangel des Indifferentismus sei es, daß er einen zwar festgesetzten, aber inhaltlich 181 182
183 184 185
Vgl. KGA I/l, 339-355 KGA I/l, 345, 11 Schleiermacher nennt diese Klassen verwirrenderweise „Gattungen" (KGA I/l, 340, 4). Vgl. KGA I/l, 340, 23-341, 3 Vgl. KGA I/l, 341, 9-345, 10
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leeren Begriff auf menschliche Handlungen anwende, ihn also nicht inhaltlich leer lasse. Eine konsequente Anwendung dieser Freiheitsart auf menschliche Handlungen führe, weil ja mit einer Vielzahl menschlicher Handlungssubjekte gerechnet werden müsse, zu einem Selbstwiderspruch der Freiheitsidee. Die Unendlichkeit der Reihe, die dem Gesetz der Reihe allein angemessen sei, gehe nämlich durch die Subjektvielzahl verloren, ja mehr noch: Freiheit könne gar nicht mehr ausgesagt werden, weil gar keine Reihe zustande komme oder weil bestimmte innere Handlungen des Menschen auf sich selbst gar nicht dem Kausalitätsgesetz als dem Gesetz der Reihe unterlägen. Der indifferentistische Freiheitsbegriff paralysiere in seiner Anwendung auf menschliche Handlungen die Freiheitsidee. Schleiermachers Erklärung des Freiheitsbegriffs untermauert aus einer anderen Richtung noch einmal die schon erfolgte Widerlegung des Indifferentismus. Schleiermachers Erklärung selbst ist vor dieser illegitimen Grenzüberschreitung geschützt; sie läßt nämlich diese Freiheitsart für menschliche Handlungen inhaltslos. Der auf das reine Kausalitätsgesetz bezogene Freiheitsbegriff könne als inhaltlich gefüllter nur gedacht werden im Zusammenhang der kosmologischen Prädikate der Gottesidee. Diese Freiheitsart könne real nur von Einem Subjekt und von Einer Handlung, die eine unendliche Reihe erzeugt, prädiziert werden. Der Mensch könne mithin nicht Subjekt dieser Freiheitsart sein. Die qveite Klasse menschlicher Handlungen, die solche mit einschränkenden Näherbestimmungen umfaßt, unterteilt Schleiermacher danach, ob diese Näherbestimmungen auf einen realen oder auf einen idealen Zusammenhang der Handlungen hindeuten. Bei der ersten Unterklasse^*6, d. h. beim realen Handlungszusammenhang unterscheidet Schleiermacher zwar die Handlungen, die durch den inneren und äußeren Sinn wahrgenommen werden und also sowohl durch die gesetzmäßige Ideenfolge in der Zeit als durch die gesetzmäßige Bewegung im Raum charakterisiert sind, von denen, die nur durch den inneren Sinn wahrgenommen werden und also nur dem Gesetz der Ideenfolge gehorchen, doch handelt er nur den ersten Fall ab, während er den zweiten schlichtweg übergeht.187 Schleiermacher hat mit 186 187
Vgl. KGA I/l, 345, 22-349, 37 Diese Unterlassung wird dadurch etwas verdeckt, daß Schleiermacher den ersten Fall, d. h. den realen Handlungszusammenhang mit dupliziter Rezeption in zwei verschiedenen Richtungen liest und also hier zwei Spielarten bekommt. Doch ist das kein Ersatz für den fehlenden zweiten Fall, sondern nur eine weitergehende Ausdifferenzierung des ersten. Beim zweiten Fall, wo der reale Handlungszusammenhang nur dem Gesetz der Ideenfolge im inneren Sinn unterliegt, kommt es wohl deswegen zu der von Schleiermacher nicht ausgewiesenen Leerstelle, weil die Realitätskategorie hier problematisch ist.
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der konkreten Identifikation derjenigen Freiheitsidee, wo die Handlung a parte post vom raumzeitlichen Gesetz der Bewegung bestimmt und a parte ante nicht wie beim äquilibristischen Freiheitsbegriff überhaupt gesetzlos, sondern nur einem anderen Gesetz (dem der Ideenfolge) unterworfen ist, gar keine Mühe. Diese Freiheitsidee finde nämlich ihre selbstverständliche Anwendung in der Außenwirksamkeit der menschlichen Subjektivität. Das menschliche Begehrungsvermögen wirke auf die Körperwelt mittels der leiblichen Organe, die selbst dem Gesetz der Bewegung gehorchen. Die mechanisch-körperlichen Veränderungen, die mittels der Organwirksamkeit auf eine seelische Volition bezogen seien, können selbst nicht wieder als von einer körperlich-mechanischen Ursache außerhalb des Organs bewirkt gedacht werden, weil sonst mit dieser unendlichen mechanischen Reihe jegliche Verknüpfung der Körperwelt mit dem Begehrungsvermögen wegfiele. Diese Verknüpfung sei aber von allergrößter Bedeutung. Sie sei ein erstrangiges Postulat sowohl in sittlich-praktischer als auch in theoretischer Hinsicht. In sittlich-praktischer Hinsicht: weil nur durch die körperlich-mechanische Zwischenreihe die sittlichen Pflichten gegenüber den anderen sittlichen Wesen ausgeübt werden könnten, weil also mit dem Wegfall der körperlich-medialen Darstellung der sittlichen Intersubjektivität alle innere Sittlichkeit überhaupt wegfiele. In theoretischer Hinsicht: weil die Einheit der Erkenntnis, die Einheit der menschlichen Lebenswelt, die durch die (angesichts der Rezeptionsmodi unabweisbare) Unterscheidung zwischen den vom mechanischen Gesetz der Bewegung und den vom psychologischen Gesetz der Ideenfolge bestimmten Veränderungen bedroht sei, nur durch dieses Mittel des Übergangs von der einen Sphäre in die andere, wie es in dieser Freiheitsidee gedacht werde, gerettet werden könne.188
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Die Objekte des inneren Sinnes allein haben nämlich einen anderen Realitätsmodus als die, die auch vom äußeren Sinn rezipiert werden. Diese Überlegung läßt Schleiermacher ebenso ausfallen wie die Konsequenzen für diesen bestimmten Freiheitsbegriff. Der Einwurf, der bei der ersten, leergelassenen Klasse der Handlungsfreiheit die Anwendung auf menschliche Handlungen verhinderte, trifft nach Schleiermacher hier nicht zu: Bezüglich des Beginns kann das erste Glied der körperlichen Veränderungsreihe durchaus unsichtbar in Nervenreizungen liegen, und die Ausdehnung der Reihe kann durchaus durch Wechselwirkung der Subjekte begrenzt sein. Schleiermacher arbeitet also bewußt mit einem aufschlußreichen Wandel im Begriff der Reihe. In diesen Begriff lassen sich nämlich genauso sinnvoll das Merkmal der Endlichkeit als auch das der Unendlichkeit einzeichnen. Im ersten Fall werden die Veränderungen abstrakt genommen, und dann unterbrechen die dem Gesetz der Bewegung bzw. der Ideenfolge verpflichteten Reihen einander alternierend und lösen einander mit Freiheit wechselnd ab. Im zweiten Fall werden die Wechselwirkung der sittlichen Subjekte berücksichtigt sowie die Vielzahl der zugleich laufenden Reihen in einunddemselben Subjekt, und dann greifen die immer fortlaufenden Reihen wechselseitig mit Freiheit ineinander ein und durchdringen sich.
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Schleiermacher billigt dem anderen Typ eines realen Handlungszusammenhangs, wo nämlich eine dem Gesetz der Bewegung verpflichtete Veränderungsreihe aufhört und sich in eine dem Gesetz der Ideenfolge gehorchende Reihe frei fortpflanzt (hauptsächlich bei starken äußeren Eindrücken), zwar systematische Richtigkeit, aber nur eine untergeordnete Bedeutung zu. Dieser Freiheitstyp reizt ihn deshalb zu keiner ausführlichen Erörterung.189 Die %n>eite Unterklasse^ die nämlich bei den Näherbestimmungen der Handlungen auf einen idealen Zusammenhang derselben rekurriert, bezieht sich auf einzelne Handlungen und nicht auf einen Zustand bzw. ein Vermögen des Subjekts. Da ihr mithin grundsätzlich nur partikulare Bedeutung zukommen soll, könne bloß an eine Regel des Willens gedacht sein, die nur einem Teil aller sittlichen Handlungen das Gesetz gebe. Der ideale Zusammenhang der Näherbestimmungen dürfe nicht das Produkt der Phantasie sein, die nach eigenen Gesetzen Verknüpfungen ohne Realitätsgehalt und ohne Außenbedeutung herstelle, die also in ihrer immanenten Bilderwelt allein befangen bleibe, sondern er müsse das Werk des Verstandes sein, der seine Begriffe jeweils als in der Natur realisiert fordere und der den Erscheinungszusammenhang nach seinen eigenen Regeln einsehe. Diese Verstandesregeln für den idealen Zusammenhang der Näherbestimmungen, so grenzt Schleiermacher individualisierend ein, sollen nicht aus den allgemeinen Naturgesetzen, sondern aus den Willensregeln für das je besondere Subjekt stammen. „Diese Art der Freiheit bezieht sich also auf eine Reihe von Erscheinungen welche nur durch ihren Zusammenhang mit der Realisierung einer Regel des Willens als verbunden gedacht werden."190 Die diesem idealen Zusammenhang zugeschriebene Notwendigkeit, die für das verursachende Bestimmtsein bedingt gesollter sittlicher Handlungen aus einer ersten Willenshandlung charakteristisch ist, erweist Schleiermacher als eine psychologische Notwendigkeit. Diese Willensregeln seien nämlich im Widerstreit der Neigungen keineswegs unwiderstehlich wirkmächtig und brächten bei der Herrschaft eines dieser Gefühle keineswegs unvermeidliche Konsequenzen. Die Verwendung des Wortes Freiheit sei deshalb in diesem Bedeutungsfeld unangemessen. Sie beruhe auf einer Täuschung, die durch den doppelten Notwendigkeitsmodus veranlaßt sei. Schleiermacher erörtert diese Doppelung nicht; er gibt nicht die Merkmale an, durch die sich psychologische und kategorial-spekulative Notwendig189
190
Vgl. KGA I/l, 349, 13-37 KGA I/l, 350, 33-36
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keit unterscheiden. Offensichtlich stellt er der psychologischen Notwendigkeit die Prädikate materialer Aggregation, eingeschränkter Wirkmächtigkeit, komplex-wahrscheinlicher Gesetzhaftigkeit und individueller Gültigkeit zu. Schleiermacher sieht die Täuschung in zweifacher Hinsicht: die Willensregel könne auf die Erscheinungen, die zusammenhängend als Realisierungen dieser Willensregel gedacht werden, entweder als deren Grund oder als deren Folge bezogen sein. Im ersten Fall, wo eine Willenshandlung als gesetzgebender Anfang einer Reihe weiterer Handlungen verstanden werde, sei die Freiheit dieser ersten Handlung eine Fiktion: Im Widerstreit der Neigungen könne nämlich weder von einer echten Gesetzmäßigkeit der Reihe gesprochen werden, da kein Gefühl — auch das sittliche nicht — alleinwirksam sei, noch sei der Anfang a parte ante der in der Reihe geltenden psychologischen Notwendigkeit entnommen; außerdem verlange der Verstand für die Realisierung der Willensregel eine parallel laufende reale Reihe. Im zweiten Fall, wo die Realisierung der Willensregel die die Reihe abschließende Endursache der Reihe, d. h. ihr ideologisches Motiv sei und wo die erste auf diese Endursache unmittelbar bezogene Handlung als freier Reihenanfang verstanden werde, bestehe die Täuschung darin, daß das erste Glied der Reihe genauso wie die folgenden dem Gesetz der Reihe ausnahmslos unterworfen sei, weil das allgemeine Kausalitätsgesetz auch für die Endursache als antreibende Vorstellung eines künftigen Handlungsgegenstandes gültig sei. Das erste Glied der Reihe bekomme einen Ausnahmecharakter erst, wenn die folgenden Reihenglieder als Mittel zur Erlangung des in der ersten Handlung intendierten Zwecks betrachtet würden und wenn der Gesetzesbegriff der Reihe entsprechend formuliert werde.191 Mit dieser Rettungsaktion gehe allerdings der strenge Gesetzescharakter verloren, weil wegen des konkreten allseitigen Zusammenhangs der Veränderungsreihen der intendierte Zweck nicht mehr allein von der Reihe dieser in die Gesetzesformel aufgenommenen Mittel abhängig sei. Oder genauer: da die Mittel selbst nicht allein (wie abstrakt gedacht) durch ihren Bezug auf den Zweck necessitiert seien, sondern darüber hinaus auch noch an vielen anderen Bezügen teilhätten, werde das Gesetz der Reihe unscharf und vieldeutig. Die auf den idealen Zusammenhang rekurrierende Freiheitsidee ist demnach insgesamt leer und nichtig. Sie läßt sich in ihren bestimmten Merkmalen und in ihrer Struktur nicht scharf denken, sie ist allein in ihrem Vgl. KGA I/l, 353, 14-31
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Umfang bestimmbar. Die Verwendung des Wortes Freiheit für die Fälle, die diese Art der Freiheitsidee auszufüllen und anzuwenden scheinen, diene zumeist der moralischen Selbstentschuldigung und Selbstrechtfertigung, werde also als Mittel zur Verschleierung des sittlichen Tatbestandes eingesetzt. Alle diese Mißverständnisse, Verwirrungen und Mißbräuche rühren nach Schleiermacher daher, daß die vielfältigen Modifikationen in der zweiten Klasse der Handlungsfreiheit, wo sich die Freiheitsidee an die Näherbestimmungen der Handlungen anschließt, unter dem Namen der äußeren Freiheit völlig unrechtmäßig zusammengefaßt werden und damit die nötige Genauigkeit für die Anwendung, praktische Bewertung und spekulative Stimmigkeit der Freiheitsidee verlorengeht. Die methodisch kontrollierte Anwendung des Gattungsbegriffs, d. h. die von Regeln sicher geführte Herleitung aus der allgemeinen Erklärung schützt allein vor der Einebnung der sachgegebenen Unterschiede. Im Rückblick zeigen Schleiermachers systematische Überlegungen zur ersten Freiheitsart einen erstaunlichen Charakter und ein nicht überraschendes Ergebnis. Trotz aller Ausdifferenzierung der Merkmale und systematischen Unterschiede dominiert nämlich die eingehende Untersuchung der traditionellen Frage, wie das freie Begehrungs- und Handlungsvermögen des Menschen mit der realen Kausalkette der Weltveränderungen zusammengebracht und als in diese verändernd eingreifend gedacht werden könne. Die erste Freiheitsklasse bezüglich der Handlungen überhaupt muß für den Menschen leer bleiben, weil sie ihm nicht prädiziert werden kann; dieser Freiheitsbegriff kann allein Gott zum Subjekt haben. Die zweite Freiheitsklasse bezüglich der bestimmten Handlungen wird zwar von Schleiermacher ausführlich diskutiert und rubriziert, doch nur eine Rubrik ist ergiebig. Den mit dem idealen Handlungszusammenhang verknüpften Freiheitsbegriff sieht Schleiermacher in einer Täuschung begründet. Dieser Freiheitsbegriff wird zwar immer wieder gebildet und in Anspruch genommen, doch ist er nicht oder kaum sachhaltig, gehört also einer systematischen Leerstelle zu. Die Rahmenkonstruktion kann nicht materialiter durch Aufnahme von Erfahrungssachverhalten näherbestimmt werden. Der auf den realen Handlungszusammenhang bezogene Freiheitsbegriff ist für Schleiermacher wegen der Doppelung der Sinneswahrnehmung selbst gedoppelt. Die Freiheit, die einem bestimmten nur durch den inneren Sinn rezipierten realen Handlungszusammenhang prädiziert werden soll, läßt er einfach unerörtert, ohne diese Leerstelle eingegrenzt und als legitim nachgewiesen zu haben. Allein die Freiheit, die einem bestimmten durch den inneren und äußeren Sinn rezipierten Handlungszusammen-
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hang beigelegt werden soll, besteht die Prüfung; diesem Freiheitsbegriff kann Schleiermacher die erforderlichen Merkmale, das erforderliche Subjekt und das erforderliche Anwendungsfeld nachweisen. Auffällig am gesamten Verfahren Schleiermachers ist, daß er die Differenzierungsprinzipien seiner systematischen Rubriken nicht ausweist, daß er diese Rubriken selber nicht methodisch ableitet, sondern aus der philosophischen Tradition selbstverständlich aufnimmt und für seine dualen Konstruktionen auswählt. Dabei unterläßt er nicht nur, wie notwendig wäre, die vollständige Untersuchung aller ermittelten Begriffsfälle, sondern in der Begriffsdifferenzierung verfährt er auch nach anderen als den angegebenen Grundsätzen. Die erste Freiheitsart soll allein auf den Handlungsbegriff bezogen sein. Für die zweite Klasse, nämlich die Unterteilung der bestimmten Handlungen, verwendet Schleiermacher aber gar nicht speziellere Merkmale des Handlungsbegriffs, sondern trägt, indem er sich der Begriffspaare ideal/real und innerer Sinn/äußerer Sinn bedient, Merkmale des menschlichen Erkenntnisvermögens in die Untersuchung ein. Schon bei der Bereitstellung der Unterscheidungsbegriffe macht sich also die Verquickung von praktischer und theoretischer Sphäre ungewollt bemerkbar. Auch die auf den Handlungsbegriff konzentrierte Freiheitsart läßt sich nicht abgesehen von der Konstitution des Subjekts, dem diese Freiheit prädiziert werden soll, erörtern — und zwar nicht nur material bei der Ausfüllung der konstruierten Rubriken, sondern auch formal bei der Bereitstellung der Leitgesichtspunkte. Schleiermacher trägt wichtige Konstitutionsmerkmale menschlicher Subjektivität unkritisch in seinen Erörterungsrahmen ein. Sein Klassifizierungsverfahren macht den Eindruck deutlicher Unterscheidungen, sauber präparierter Rubriken, die jeweils einzeln abgehandelt werden können. Jedoch wird von ihm weder das Prinzip der Differenzierung angegeben und ausgewiesen, noch wird das Verbindende über ein äußerliches Neben- und Untereinander hinaus erkennbar gemacht. Seinem Klassifizierungsverfahren eignet bei aller formalen Klarheit und systematischen Übersichtlichkeit etwas SchematischÄußerliches. Handlungsfreiheit und Subjektfreiheit rücken ihm unter der Hand viel enger zusammen, als es nach seiner Einteilung zunächst den Anschein hatte. Schleiermacher untersucht sodann fragmentarisch die yveite Freibeitsart, die von einem Zustand des menschlichen Subjekts prädiziert wird.192 Er beginnt dabei wiederum mit einer Abgrenzung des Bedeutungsfeldes. Durch den Zustandsbegriff denkt er die gewisse Handlungen ermögliVgl. KGA I/l, 355, 7-356, 27
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chenden äußeren Bedingungen, die die Größe und die Richtung der wirkenden Subjektkräfte auf eine bestimmte Handlungsreihe festlegen. Dieser Zustandsbegriff kann für das menschliche Subjekt entweder durch die Naturdinge außer ihm oder durch andere sittliche Subjekte inhaltlich gefüllt werden. Da die Naturdinge, die das menschliche Handeln allerdings vielfältig prägen, beeinflussen und einschränken, zum einen allein mit dem menschlichen Körper unter denselben Gesetzen stehen, während sie auf die Seele nur zufällig durch komplexe Umstände wirken, und da sie zum ändern nicht den Willen, sondern allein das äußere Handlungsvermögen in Einzelheiten sporadisch affizieren, so bilden sie nach Schleiermacher bezüglich der Freiheit keinen Zustand, der eine ganze Handlungsreihe bestimmen könnte. Während also die Einschränkungen durch die Naturdinge für die Freiheitsidee nicht in Betracht kämen, seien die aus der sittlichen Wechselwirkung der Menschen entstehenden Einschränkungen gesetzgebend und reihenbildend. Die auf willkürlichen Handlungen beruhende Geselligkeit der Menschen (wechselseitige Beeinflussung der Willensbildung) stehe als Zustand unter besonderen Regeln als ihren Möglichkeitsbedingungen und könne samt ihren Konsequenzen nicht als zufällig betrachtet werden. Dieser gesellige Zustand führe auf die Idee der bürgerlichen Freiheit, wenn die Wirkungen der in einer Gemeinschaft geltenden Gesetze auf die Handlungen der zu dieser Gemeinschaft gehörenden Menschen bedacht würden. Dagegen stelle sich die Idee der politischen Freiheit ein, wenn das direkte Einwirken der Handlungen der zu einer Gemeinschaft gehörenden Menschen auf die Gesetze dieser Gemeinschaft bedacht werde. Damit werde der Veränderlichkeit der in einer Gemeinschaft geltenden Gesetze, die ja bei jeder qualitativen und quantitativen Veränderung der Gemeinschaft modifiziert werden müßten, in doppelter Hinsicht Rechnung getragen. Politische und bürgerliche Freiheit sind also die beiden Begriffsklassen, durch die Schleiermacher die vom Zustandsbegriff geprägte Subjektsfreiheit näher bestimmt.193 Hier bricht Schleiermachers Abhandlung „Über die Freiheit" ab. Über die Motive für den Abbruch können nur Vermutungen angestellt werden. Vielleicht waren dafür die sich hinziehenden und dann erfolglosen Bemühungen Schleiermachers verantwortlich, durch Vermittlung seines Freundes Heinrich Catel einen Leipziger Verleger zu finden.194 Vielleicht 193
194
Vgl. dazu auch die früheren Aussagen im „Freiheitsgespräch", KGA I/l, 143, 25 — 146, 8 Möglicherweise bezieht sich folgende Stelle aus Schleiermachers Brief vom 24. Mai 1792 an Heinrich Catel auf die große Freiheitsabhandlung: „ich wünschte ernstlich zu wissen,
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war Schleiermacher mit der stilistischen Ausarbeitung unzufrieden, mit der gattungsmäßigen Schwebelage zwischen rhapsodischer und systematischer Abhandlung. Vielleicht widerfuhr es ihm — nach seinen Übersetzungsplänen für die Nikomachische Ethik des Aristoteles — hier zum zweitenmal, daß er sein Untersuchungsfeld schließlich schon durch einen anderen Autor beackert fand, daß er seine eigenen Bemühungen schon von anderer Seite ans Ziel gebracht sehen mußte: Leonhard Creuzer veröffentlichte nämlich 1793 die Abhandlung „Skeptische Betrachtungen über die Freyheit des Willens", in der er in Anlehnung an die Kantische Kategorientafel eine umfassende systematische und historische Untersuchung des Freiheitsthemas vornahm. Schleiermacher war von dieser Abhandlung beeindruckt.195 Wichtiger als alle Rätseleien über den Verlauf des Weges, den Schleiermacher bis zu seinem Ziel noch hätte durchmessen müssen, ist an dieser Stelle ein Rückblick auf den gegangenen Weg. Hier sind die Wegstrecken leicht zu erkennen. Auf die grundlegende Skizze der Hauptbegriffe und Leitideen des praktisch-ethischen Determinismus folgte dessen Sicherung und Ausbau gegen die ihn bedrängenden und ihm widerstreitenden Einwände. Die historische Rekonstruktion seiner Genese und der ihm entgegenstehenden Moralsysteme sollte den konzeptionellen Hintergrund von Schleiermachers eigenem ethischen Entwurf beleuchten. Die systematische Ausfächerung des Freiheitsthemas aufgrund einer allgemein zustimmungsfähigen Worterklärung schließlich sollte das konzeptionelle Umfeld des praktischen Determinismus abstecken und den systematischen Legitimationserweis für diese ethische Konzeption mittels der Erhellung ihres Anwendungsfeldes erbringen. Bei allen Lücken in der Ausführung des Schleiermacherschen Planes und bei allen Ungereimtheiten in manchen Einzelüberlegungen besticht die Klarheit und Schärfe der Argumentation, besticht die Konsequenz,
195
ob Du mit einem von den besseren Leipziger Buchhändlern in Bekanntschaft bist, der sich damit befassen würde ein kleines philosophisches Werkchen von 16 bis 20 Bogen stark in Verlag zu nehmen; denn nachgrade werde ich mit meinen philosophischen Versuchen so weit kommen, daß ich die Unterhandlungen anfangen kann. Denke aber nicht, daß ich mich fürchte im preußischen druken zu lassen; fängst Du keinen, so will ich schon bei uns einen habhaft werden. Wäre die That so schnell als der Wille und schreiben so leicht als ausdenken, so würde auf diese Versuche bald etwas anders folgen; und Du kannst dem Buchhändler, wenn Du einen kennst immer zureden gut zu bezahlen, weil er dann noch ein paarmal von mir würde profitiren können." (KGA V/l, 249, Brief Nr. 179, 54-65) Vgl. Briefwechsel mit Schwarz 265
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mit der Schleiermacher seine ethisch-deterministische Konzeption, die die Eigenständigkeit und Unabhängigkeit praktischer Themen von allen theoretischen Vorentscheidungen und allen Eintragungen theoretischer Vorurteile herausstellt und die die Idee des praktischen Vernunftgesetzes mit der durchgängigen Gültigkeit der Kausalitätskategorie zu vermitteln sucht, auch im Detail ausführt. Dabei ist für ihn der Determinismus kein konzeptionelles Desiderat, das der Universalisierung der primär theoretischen Kausalitätsidee diente, um so der theoretischen Vernunft die Herrschaft auch über die praktische Sphäre zu gewinnen. Vielmehr artikuliert sich im Determinismus ein genuin praktisches Interesse. Aber die Selbstverständigung der Freiheit kommt nicht ohne Reflexionskategorien aus. Hier hätte die von Schleiermacher nicht geleistete spekulative Kritik der Kausalitätsidee ihren Ort. Hat Schleiermacher ein Recht, seine Abhandlung der Kantischen Freiheitskonzeption zuzuordnen? Zum einen sind trotz des Abstandes die mannigfachen Anleihen unübersehbar. Zum ändern — und das scheint mir noch wichtiger zu sein — will Schleiermacher gerade mit seiner strikten Konzentration der praktischen Fragen auf praktische Argumente, die zunächst ja den Kantischen Dualismus von Natur und Freiheit noch zu verschärfen und unüberbrückbar zu machen scheint, eine Grundschwierigkeit der Kantischen Konzeption lösen: Er will das Zerfallen des Vernunftvermögens in mehrere Geltungs- und Tätigkeitssphären verhindern. Die Konzentration auf praktische Argumente hat methodische Bedeutung, dient der Eindeutigkeit des Verfahrens und der Überprüfbarkeit seiner Ergebnisse. Durch diese methodische Konzentration will der Determinismus einen Stamm von spekulativ legitimierten Vernunftbegriffen allgemein durchsetzen. Die allein mit praktischen Argumenten traktierte praktische Vernunft verdankt sich mit der theoretischen denselben allgemeinen Ideen. Diese spekulative Ebene bleibt allerdings bei Schleiermacher unerörtert. Zwei Akzentverschiebungen der Schleiermacherschen Konzeption gegenüber der Kantischen Ethik sind noch notierenswert. Zum einen entzieht sich dieser ethische Determinismus der Klassifizierung in Glückseligkeitsund Vernunftsethik. Er ist keine reine Gesinnungsethik, auch keine auf die jeweiligen Materialien zugeschnittene Erfahrungsethik. Vielmehr nimmt er dadurch, daß er immer Vergangenheit und Zukunft, Gewordensein und Konsequenzen sittlicher Handlungen ins moralische Kalkül wesentlich mit einbezieht, daß er die kontinuierliche Entwicklung der sittlichen Welt betont, nicht nur die isolierte sittliche Handlung, sondern auch deren natürliche und soziale Rahmenbedingungen und die durch sie auf diesen Kontext ausgehenden Veränderungen in den Blick. Doch bleibt das
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die Gesinnung prägende Ideal des praktischen Vernunftgesetzes die treibende sittliche Kraft, der einzige sittliche Maßstab. Zum ändern hebt Schleiermacher die Kantische Diastase zwischen Vernunftgesetzen und Erfahrungsgesetzen, Sinnenwelt und Verstandeswelt auf. Er stuft das sittliche Gefühl als eines unter anderen antreibenden Gefühlen ein. Er billigt der praktischen Vernunft keine eigene direkte Wirksamkeit zu, sondern unterwirft sie wie jeden anderen Gegenstand des Begehrungsvermögens den Vermittlungs- und Abwägungsprozessen. Dadurch bekommt das von Schleiermacher nicht näher ins Kalkül gezogene Urteilsvermögen eine große Bedeutung. Die Perfektibilität und die Individualisierung des sittlichen Lebens sind wesentlich an die Ausbildung des moralischen Urteilsvermögens und der sich an dieses anschließenden Gefühle gewiesen.
II. Schleiermachers Verständnis kritischer Theologie im Kontext seiner Auseinandersetzung mit Kant Überblickt man das Korpus der Jugendschriften, die Schleiermacher zwischen dem Beginn seiner Hallenser Studienzeit 1787 und dem Beginn seiner Berliner Charite-Zeit 1796 verfaßt hat, so stellt man mit Verwunderung fest, daß sich in diesem Komplex keine theologisch-dogmatische Abhandlung findet.1 Das ist umso überraschender, als in diese Zeit sein viersemestriges Studium der Theologie, seine erste und zweite theologische Prüfung und seine Hilfspredigertätigkeit in Landsberg an der Warthe fällt. Und so dürfte es nicht fehlgegriffen sein, wenn dieses gänzliche Schweigen als ein Kennzeichen für Schleiermachers Interessenlage und für seine geringe Wertschätzung der Theologie gedeutet wird. Im Zuge seiner Vorbereitung auf das erste Examen im Winter 1789/90 klagte er brieflich gegenüber seinem Freund Karl Gustav von Brinckmann: „Du mußt wissen, daß ich jetzt ziemlich fleißig in den traurigen und finstern Abgründen der Theologie herumirre"2! Doch war für ihn der Pastorenberuf aufgrund seiner Herkunft, seiner familiären Beziehungen, seines Studiums und seiner eingeschränkten beruflich-sozialen Wahlmöglichkeiten die naheliegende Berufslaufbahn, die er nach einigem Liebäugeln mit dem Lehrerberuf schließlich auch betrat. Auch dem spezielleren metaphysisch-dogmatischen Thema der Gottesidee hat Schleiermacher keine eigene Abhandlung gewidmet. Wohl aber erörtert er an verschiedenen Stellen zumeist praktisch-philosophische Aspekte der Gotteslehre.
1 2
Vgl. KGA I/l, LXXXIII KGA V/l, 191 (Brief Nr. 134, 59 f); Briefe 4, 45
1) Die Krisis des religiösen Bewußtseins („An Cecilie" 1790) In Schleiermachers Briefen „An Cecilie" (1790) wird der Gottesbegriff im Zusammenhang der Frage nach der Unsterblichkeit der Seele thematisiert. Diese Abhandlung in Briefform trägt stark autobiographische Züge. Die religiöse Entwicklung des vom Autor geschilderten Hauptcharakters ist weitgehend Schleiermachers eigene krisenhafte Entwicklung von der Herrnhutischen Religiosität zu einer Vernunft und Herz vereinenden sittlich-kritischen Frömmigkeit. Die Briefe „An Cecilie" können also wie ein „Schlüsselroman" gelesen werden. Ausgangspunkt für Schleiermacher ist das Ärgernis, das jemand bei der Lektüre der beiden Gedichtbände seines Freundes Selmar alias Karl Gustav von Brinckmann3 nehmen könnte und das der erste Brief an Cecilie als wirklich erregt voraussetzt4. Das Anstößige, das Schleiermacher durch seine Abhandlung abzuarbeiten trachtet, ist die Leugnung der Unsterblichkeitshoffnung. Brinckmann dichtete in diesem „Meisterstük philosophischer Poesie aus der Feder eines so denkenden Kopfes"5 auch die Rhapsodie „Beruhigung"6. Darin kommt u. a. als Apostel der Sinnenlust und der Unmoral ein Spötter zu Wort, der auch die Unsterblichkeitshoffnung als illusionäres Vertröstungsmittel bestreitet. „Laß den frommen Wahn bethörten Schwachen, Daß Genuß durch Pflicht umgrenzet sei; Auf der Wollust leichtgebautem Nachen Segle kühn, von Vorurtheilen frei; Denn das Alter naht, die Kraft' ermatten. In der Adern Bach gerinnt das Blut, Und versiegen wird bei Abendschatten Bald auf ewig Deine Lebensflut."7 3 4 5
6 7
Vgl. [Brinckmann:] Gedichte von Selmar, 2 Bde, Leipzig 1789 Vgl. KGA I/l, 191, 9-192, 30 KGA I/l, 192, 12f Vgl. [Brinckmann:] Gedichte von Selmar 2, 398-412 [Brinckmann:] Gedichte von Selmar 2, 407
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Diesen Spötter weist Brinckmann zurecht. Doch er selbst funktionalisiert die Unsterblichkeitshoffnung, indem er ihre Unentbehrlichkeit allein in der Unterstützung der Tugend sieht. „Nur damit die Hoffnung jenes Lebens Unentbehrlich werde, winkt der Lohn Früher Edelthaten, nicht vergebens! Spät erst an der fernen Gottheit Thron. Dieser Glaube lehrt uns edel handeln, Und der Tugend unser Herz zu weihn, Nicht, um hier auf Blumen schon zu wandeln, Sondern nur des Glückes werth zu sein; Dieser Glaub' erleichtert sanften Seelen, Wo Entscheidung gilt, durch Einen Blick In die bessre Zukunft, oft das Wählen Zwischen Seelenruh' und Außenglück."8 Schleiermacher möchte Verständnis für solche Menschen vermitteln, die in allen ihren Bestrebungen und Gefühlen allein von Sittlichkeit und Wahrheit bestimmt sind und deren revolutionäre Auffassung der Unsterblichkeitsidee durch das Nachzeichnen ihrer persönlichen Genese erklärlich wird9. Der Briefeschreiber Schleiermacher stellt sich selber als den genauen, aufgeschlossenen, einfühlsamen Beobachter dieser Wandlungen dar, der aus einer gewissen Distanz, sozusagen unparteiisch, die Motive und Wege der „Revolutionäre" erkennen, beurteilen und darstellen kann. In dieser Haltung eines unparteiischen Beobachters, der auch die traditionelle Einstellung würdigt und schätzt, fällt es ihm leichter, für die neue Auffassung zu werben und sie mit der alten zu vermitteln, als wenn er sich gleichsam agitatorisch allein auf die Seite der neuen schlüge und die alte Auffassung polemisch anginge. Wem seine Sympathien gehören, läßt Schleiermacher nicht zweifelhaft; ebenso deutlich ist aber auch sein starkes Interesse an Vermittlung und Überzeugung, seine Abwendung von reiner Konfrontation. Schleiermacher zeichnet in einem klaren Licht seine eigene Kindheitsund Jugendentwicklung paradigmatisch nach. Ohne Verbitterung, aber mit Schärfe stellt er die von ihm persönlich erfahrene religiöse Krise dar und rechnet so schonungslos mit dem diese Krise provozierenden Herrnhutertum ab.10 8 9 10
[Brinckmann:] Gedichte von Selmar 2, 410 Vgl. KGA I/l, 192, 32-193, 10 Eine ebenso scharfe, aber ganz knappe Kritik an seiner Herrnhutischen Erziehung formulierte Schleiermacher in seinen 1 800 anonym publizierten „Monologen" (vgl. S. 54 u. 108; KGA 1/3, 23, 14 u. 44, 1-9).
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Kritische Theologie
Schleiermacher selbst ist der „Held"11, dessen Werdegang von der Kindheit zum Erwachsensein die Briefe „An Cecilie" verfolgen. Vernunftinteresse für wahres Denken und Herzensinteresse für sittliches Empfinden sind die kontinuierlichen Wesensmerkmale des Helden. Bei ihm gibt es die „Verbindung eines hohen Grades von Empfänglichkeit des Gefühls mit einem hohen Grad von Bewustseyn des Vernunftprincips"12. Ein ungewöhnlicher Mensch wie Schleiermacher, der sich nicht im Kreis der natürlichen Umstände und Vorfindlichkeiten behaglich einrichtet und mit allen natürlichen Einflüssen arrangiert, empfindet mit dem Erwachen seiner Reflexionskraft die übliche Erziehung als peinlich. „Seine Seele strebt nach Einheit in ihren Genüßen und Kenntnißen und dies Bestreben findet nirgends Nahrung."13 Die übliche Erziehung führt ihn nämlich nur durch die Darbietung von abgerissenen Einzelheiten und zerstückelten Kenntnissen in die Wissenschaften ein, ohne daß die Idee des Ganzen auch nur erahnbar wäre. Ebenso ruft diese Erziehung die schönen und geselligen Gefühle nur so in ihm wach, daß er sie vereinzelt empfindet und keine gesetzmäßige Wiederholung des Genusses erreichen kann; mit der daraus folgenden Mattigkeit kann er sich aber nicht einverstanden erklären und zufrieden geben. Aus diesem peinigendem Dilemma, daß er einerseits die Gegenstände seiner Beschäftigung anziehend findet und liebt und daß er sie andererseits ablehnen und zurückweisen möchte, weil sie sein Interesse für Ganzheit und Einheit in keiner Weise befriedigen, können ihn zwei Ordnungsmächte erlösen, die seine Sehnsucht nach Zusammenhang erfüllen: Tugend und Religion. Da allerdings die Tugend bei einer auf Gehorsam erpichten Erziehung wegen der Abhängigkeit des Willens sich nicht entwickeln kann14, scheint der Heranwachsende allein an die Religion gewiesen, um sein Einheitsbedürfnis zu stillen. „Hier sieht er einen Zwek seines Daseyns und einen Zusammenhang desselben mit der ganzen Welt; hier eine Richtschnur für alle seine Handlungen und für alle Thätigkeiten seines Erkenntniß und Empfindungsvermögens, hier eine Verbindung derselben welche nicht tief in ihren lezten Gründen aufgesucht werden darf sondern sich leicht und von selbst dem Verstand darbietet."15 In welcher Gestalt zeichnet Schleiermacher die Religion, der sich der Jugendliche mit ganzem Herzen hingibt und ihr manche Lebensfreuden 11
12 13
14
15
KGA I/l, 208, 17 KGA I/l, 200, 35-201, l KGA I/l, 195, 6f Vgl. dazu: „Die himmlische Blume der Tugend wächst nur in den ofnen Gärten der Freiheit nicht in den Treibhäusern des Gehorsams." (KGA I/l, 196, 12f) KGA I/l, 196, 18-23
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opfert? Es ist die Gestalt einer enthusiastischen und bornierten Schwärmerei; es ist die Gestalt des Herrnhutertums, wie sie in Schleiermachers jugendlichem Bildungsgang prägend wirksam geworden ist. Denn da der Jugendliche auf seiner Suche nach religiöser Sozialität die Art des Religionsinteresses allein aus der Kräftigkeit und Bestimmtheit der Frömmigkeitsäußerungen erschließen zu können meint und da diese Äußerungen bei der rigiden Konzentration auf wenige erlaubte Gestalten am heftigsten und eindrücklichsten sind, so wird der Jugendliche sich den unfreien Eiferern anschließen, die alle anderen über ihre engen religiösen Vorstellungen hinausgehenden Empfindungen ausgrenzen und als abweichlerisch stigmatisieren. Das Feld religiöser Erfahrungen verengt sich auf diese Weise auf einen schmalen Sektor schwärmerischer Erfahrungen und deren greller Äußerungen, wobei unduldsam bestimmte Normen heftig verteidigt werden. In solchen schwärmerischen Sozialitäten sind echte religiöse Erfahrungen unentwirrbar mit Meinungen und Verhaltensweisen vergangener Zeiten verflochten, so daß schließlich die Darstellungsweise religiöser Empfindungen für diese Empfindungen selbst genommen werden und die eigene Erfahrung durch eine ritualisierte Reproduktion vergangener Erfahrungen abgelöst wird. Diese religiöse Schwärmerei begünstigt Irrtümer, Fehlentwicklungen oder auch trägen Stillstand der theoretischen Vernunft; doch die Stimme der praktischen Vernunft und ihr Antrieb zur Tugend kann nie ganz zum Verstummen gebracht werden, darauf vertraut Schleiermacher. Auch die jugendlichen Eiferer „werden sich niemals durch das Gefühl allein bestimmen laßen, welches blos durch die Zuträglichkeit der Handlung als individuell für den gegenwärtigen Fall afficirt wird, sondern es wird immer etwas in ihnen seyn, was die Güte dieser Handlung als Regel für einen jeden Fall beurtheilt. So wird ohne es zu wollen die unbestimte Idee des göttlichen Willens der bestimmten Vernunftidee von Einheit der Grundsäze untergeordnet und es bildet sich nach und nach der reinste und wahrste Begrif von Tugend."16 Dieser Tugend begriff als Grundkeim eines vernünftigen Geisteslebens ist es nach Schleiermachers Überzeugungen auch, der die Selbstzerstörung des schwärmerischen Gemüts verhindert, denn er bringt in das dauernde Wechselspiel von Hochspannung und völliger Erschlaffung der religiösen Empfindsamkeit ein korrigierendes Moment von stetigem sittlichen Antrieb und konstanter Richtungsweisung. 16
KGA I/l, 198, 25-32
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Kritische Theologie
In seiner schwärmerischen Jugendphase geht der Held mit seiner ausgeprägten Neigung zu großen Empfindungen besonders auf solche Eindrücke aus, die sich mit anderen Gefühlen vergesellschaften lassen und die deshalb auf die Seelenbewegung langfristig stimulierend wirken. Im Gegensatz zu den Sinnesempfindungen ist dies bei den ästhetischen und sozialen Ideen der Fall. Allein diese auf Maximierung des Angenehmen gerichteten Ideen können den Jugendlichen wegen ihrer Unbestimmtheit und wegen der Heterogenität der erforderlichen Mittelhandlungen nicht befriedigen. Die Vernunft sucht deshalb ein ihr noch unbekanntes Gesetz, in dem sie sich als einheitlicher Bestimmungsgrund in allen Handlungen darstellt. Die Idee eines vernünftigen Sollensgesetzes ist noch nicht so weit formuliert, daß sie die Willensbestimmung prägen könnte, doch ist sie gefühlsmäßig bei dem fortlaufenden Vergleich aller Handlungen präsent. Diese Modifikation des Herzensinteresses durch das Vernunftinteresse kann sich nicht einstellen, wenn eines der beiden kombinierten Charaktermerkmale — Herz oder Vernunft — eindeutig dominant ist.17 Ein stark empfindendes Herz wird bei seiner ausgeprägten Sucht nach Sensationen hauptsächlich von der Phantasie geleitet und wird allein in immer neuen Inkonsequenzen momentane Erfüllung finden. Eine starke Vernunft wird trotz gut entwickelter und leicht gehandhabter sittlicher Urteilsfähigkeit auf die sittliche Handlung selbst kaum Einfluß haben, weil sie entgegenstehende Gefühle nicht überwinden kann; „dahingegen bei unserm Charakter wegen der Stärke der Empfindungen auch die Forderungen und Ideen der Vernunft ein Gefühl rege machen, welches an sich schon jedem ändern gleich kommt, und deßen Stärke noch dadurch vermehrt wird, daß es bei jeder Handlung ins Spiel kommt und also auf eine beständige aber immer neue Weise beschäftigt ist."18 17
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Das Thema des Umbruchs vom Schwärmertum zur vernünftigen Aufklärung bettet Schleiermacher in eine grobmaschige Typologie geistiger Entwicklungsschwerpunkte ein. Schleiermachers Dichotomic der menschlichen Seele in denkende Vernunft und empfindendes Herz eröffnet ihm eine Typologie, die sich aus unterschiedlichen Kombinationen beider Merkmale ergibt. Er untersucht sowohl die Modifikation des Herzensinteresses durch das Vernunftinteresse als auch die des Vernunftinteresses durch das Herzensinteresse. Beidesmal ist es eine unvollständige Dreier-Typologie, ausgewählt aus jeweils vier möglichen Typen: stark — schwach kombiniert mit Vernunft — Herz. Bei der Modifikation des Herzensinteresses durch das Vernunftinteresse läßt er den Typ „schwaches Herz mit schwacher Vernunft", bei der Modifikation des Vernunftinteresses durch das Herzensinteresse den Typ „schwache Vernunft mit starkem Herz" weg. Schleiermachers Auswahl ist jeweils daran orientiert, wie gut die Randcharaktere den eigentlich darzustellenden Hauptcharakter „starkes Herz mit starker Vernunft" illustrieren. KGA I/l, 202, 37-203, 3
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Nach der Modifikation des Herzensinteresses durch das Vernunftinteresse schildert Schleiermacher die Modifikation des Vernunftinteresses durch das Herzensinteresse.19 Bei seinem Helden „ist es der Vernunft nicht nur um eine Vereinigung ihrer Kenntniße sonderen vornemlich um die Verbindung derselben mit den Empfindungen und Handlungen zu thun; daher wird durchgängig jede blos theoretische Kenntniß den praktischen und denen, welche näher mit ihnen zusammenhängen nachgesezt, und also manche verabsäumt deren Verbindung mit jenen mehr groß als deutlich ist."20 Diese Charakteristik einer praktisch orientierten Vernunft ist so offen, daß sie sowohl auf den aufklärerisch-schulmäßigen als auch auf den Kantischen Vernunftbegriff hin konkretisiert werden kann. Diese Unbestimmtheit ist wohl von Schleiermacher beabsichtigt. Er will ja entwicklungsgeschichtlich die Konstitution des modernen Wahrheitsbewußtseins und nicht ein Einzelthema des Schulstreits beschreiben. Je mehr sich der junge Schwärmer bewußt wird, daß jeder praktische Grundsatz als ein verständig artikulierter Lehrsatz den grundlegenden Erkenntnisgesetzen bzw. den transzendentalen Möglichkeitsbedingungen alles Wissens nicht widersprechen darf21, desto mehr tut das seiner Schwärmerei Abbruch. Aber die Verfechter der Schwärmerei wissen zwei Eigentümlichkeiten sich zunutze zu machen, um dadurch dem Vernunftinteresse die sie bedrohende Spitze zu nehmen und es zu dämpfen. Zum einen bedienen sie sich in der Gestalt des Moderantismus des Arguments, daß sie, gestützt auf angeblich nötige Ideenunterscheidungen, die Vernunft keineswegs grundsätzlich bekämpfen, sondern ihr nur alle Anmaßungen und Grenzüberschreitungen untersagen wollten. Diese Sophismen der Schwärmer haben, weil das Herz des Jugendlichen auf ihrer Seite ist, eine dämpfendne Wirkung auf sein Vernunftinteresse. Zum ändern ist für die Schwärmerei ja gerade die 19
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Eine solche Modifikation findet weder bei einer schwachen noch bei einer starken Vernunft statt, wenn diese mit einem wenig empfindsamen und reizbaren Herzen verbunden ist. Die schwache Vernunft begnügt sich nämlich mit einzelnen Kenntnissen und punktueller Geschäftigkeit; die starke Vernunft mit ihrer Dominanz des theoretischen Interesses wird kaltblütig auch alle praktischen Sätze unter die Einheit ihrer Erkenntnisleistung bringen. Wohl aber gibt es eine solche Modifikation bei der Verbindung von starkem Vernunftinteresse mit starkem Herzensinteresse, um die es Schleiermacher zu tun ist. KGA I/l, 204, 2-7 Daß sich Schleiermacher der Kantischen Terminologie bedient, darf nicht überbewertet werden. Dieser Gedankengang setzt wohl für seine Formulierung die Bekanntschaft mit Kantischer Philosophie voraus; in seinem Aussagegehalt überschreitet er aber den allgemeinen Rahmen eines praktisch orientierten aufgeklärten Rationalismus mit psychologischem Interesse nicht und ist auf Kant bezogen unspezifisch.
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Nichtunterscheidung bzw. Verwechslung von Gefühlen und moralischer Erkenntnis wesentlich. Der Jugendliche meint also dank seines mangelnden Differenzierungsvermögens, über die Zweifel der theoretischen Vernunft ließe er moralische Erkenntnisse siegen, während er sich in Wahrheit von bestimmten Gefühlszuständen leiten läßt. „Sein Wolbefinden ist ihm das beste Zeugniß für die Richtigkeit der Grundsäze, die er angenommen hat; was er fühlt ist ihm, so fern es sich auf innre Verhältniße seiner Seele bezieht wahr, und seine Empfindungen und Gesichte über die himmlischen Regionen nimmt er zusamt den Beziehungen die er ihnen unterlegen muß um sie mit der meisten Harmonie unter einander zu verbinden, für ewige Wahrheit an."22 Sein Wahrheitsinteresse ist gerade trotz der Dämpfung des theoretischen Erkenntnistriebes völlig befriedigt. Sein kleiner Schatz moralischer Erkenntnisse macht ihn zu glücklich, als daß er ihn durch eine kritische Prüfung mittels äußerer, objektiver Instanzen gefährden oder auch vergrößern würde. Seine Vernunft ist vollauf innerlich damit beschäftigt, den kleinen Erkenntnisschatz immanent für die eigenen Handlungen, aber auch für die Darstellung im Kreis der Schwärmer immer mehr zu erschließen und fruchtbar zu machen. Kommt es doch einmal zu einer Sichtung der Bestandteile des Schatzes, so ist diese Musterung von dem Entzücken vorentschieden, in das ihn im voraus diese für dauerhaft gehaltenen Reichtümer versetzen. Dieses Entzücken ist die Dauerstimmung, bis die Erleuchtung der Vernunft das Wagnis der kritischen Prüfung unabweisbar macht. Der Aufbruch aus der Schwärmerei kann an vielen Punkten einsetzen und auf verschiedenen Wegen vorankommen. Zumeist erst das Erwachsenwerden mit den Sorgen und Geschäften des Alltags stimmt die Gefühle herab und dämpft mit der Pragmatik des gesunden Menschenverstandes den schwärmerischen religiösen Enthusiasmus. Schleiermacher sieht allerdings noch einen anderen Weg, um „aus den romantischen Gefilden der Schwärmerei oder den steifen Alleen der Rechtgläubigkeit"23 herauszukommen. Bei der Beschreibung dieses Weges hat er offensichtlich seinen eigenen Bruch mit dem Herrnhutertum und seinen Wechsel von Barby nach Halle vor Augen: „nur in dem Fall wird er ihn [sc. den Weg des Religionsenthusiasmus] zeitig genug verlaßen um auf einem ändern beträchtliche Fortschritte machen zu können, wenn seine Bestimmung für den Dienst der höheren Wissenschaften es nothwendig macht, den Spielraum der Vernunft zu erweitern, und ihn in das eigenthümliche Gebiet 22 23
KGAI/1, 205, 1-6 KGA I/l, 199, 13f
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derselben hineindringen zu laßen. Da erblikt er ein neues Land, deßen Vergleichung ihm über die wahre Beschaffenheit seines bisherigen Aufenthalts die Augen öfnet, und dessen fruchtbarer Gehalt ihm Schäze genug verspricht, um sich über die eingebildeten Schönheiten jener Gefilde zu trösten, welche zu verlaßen er sich gedrungen fühlt."24 Schleiermacher beantwortet die Frage nach dem Erleuchtungspunkt der Vernunft durch drei ganz knapp skizzierte Beispiele. Die Wunderfrage im weitesten Sinn ist dabei der Probierstein, an dem sich die Geister scheiden und an dem sich die Vernunft in ihrer kritischen Potenz profiliert. Erstens kann die Vernunft, die die Wahrheit eines Satzes an seine Begreiflichkeit gebunden sieht, einhaken bei der Unbegreiflichkeit von Bedingungen, die die Schwärmer als für die Glückseligkeit der Menschen notwendig behaupten; mit dieser Unbegreiflichkeit wird aber auch die Wahrheitsfähigkeit dieser schwärmerischen Behauptungen desavouiert. Dieses Beispiel, das im Sinne einer Selbstbestätigung der Vernunft die Bedeutsamkeit der Vernünftigkeit für das Begreifen herausstellt, bedarf der autobiographischen Konkretion. Bei seinem Ausscheiden aus dem Herrnhutischen Seminarium in Barby machte Schleiermacher seinem Vater gegenüber zwei solche unbegreiflichen Glückseligkeitsbedingungen namhaft: „Ich kann nicht glauben, daß der wahrer ewiger Gott war, der sich selbst nur den Menschensohn nannte; ich kann nicht glauben, daß sein Tod eine stellvertretende Versöhnung war, weil er es selbst nie ausdrücklich gesagt hat, und weil ich nicht glauben kann, daß sie nöthig gewesen, denn Gott könne die Menschen, die Er offenbar nicht zur Vollkommenheit, sondern nur zum Streben nach derselben geschaffen hat, unmöglich darum ewig strafen wollen, weil sie nicht vollkommen geworden sind."25 Zweitens kann die Vernunft über die Unbegreiflichkeit von Begebenheiten stolpern, die genauso unbegreifliche Lehrsätze legitimieren sollen; die Legitimationsfunktion von Wundern für uneinsichtige dogmatische Sätze greift die Wunderfrage von der Seite ihrer systemorganisierenden Bedeutung für alle Dogmatik kritisch auf; die Vernunft stößt sich daran, zwei Aussagen in ein Begründungsverhältnis zu bringen, die sowohl je für sich uneinsichtig sind als auch auf begreifliche Art gar nicht verknüpft werden können. Drittens kann sich die Vernunft an dem Selbstwiderspruch stoßen, den die Behauptung von Wundern in den Gottesbegriff hineinträgt; dieser immanente Widerspruch im Gottesbegriff, Gott „in einer individuellen 24 25
KGA I/l, 199, 23-32; vgl. Briefe l, 9-11 KGA V/l, 50 (Brief Nr. 53, 27-33); Briefe l, 42 f
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konkreten Thätigkeit zu denken welche seiner allgemeinen Thätigkeit in Erhaltung der Naturgesetze entgegen sei"26, macht die Vernunft auf die theologische Seite der Wunderfrage aufmerksam. Genausowenig wie Schleiermacher in seiner Briefabhandlung auf die Zweinaturenlehre oder die Satisfaktionstheorie eingeht, genausowenig behandelt er andere Lehrstücke der traditionellen christlichen Dogmatik oder Spezialansichten des Herrnhutertums. Gerade aufgrund seiner eigenen Frömmigkeitskrise, die sich an der Christologie entzündete, ist es auffällig und verwunderlich, daß er zur Illustration des Schwärmertums keinerlei christologische Aussagen anführt. Wie kann dieses Schweigen zur Christologie gedeutet werden? Zum einen wollte Schleiermacher seine Abhandlung wohl nicht durch spezifische Anstößigkeiten befrachten, die er in seinem Kontext gar nicht erläutern konnte und die deshalb als Beispiele ungeeignet waren, weil sie ohne ausführliche Argumentationen nur zu Aufregungen geführt hätten, die vom Hauptthema abgeführt hätten. Die Beispiele hätten dann ihren Erläuterungscharakter verloren, sich gegenüber der zu erläuternden Sache verselbständigt, ja das Hauptthema überdeckt und alle Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Es wäre dann über die Beispiele und nicht mehr über die zu verhandelnde Sache gestritten worden. Zum ändern wollte Schleiermacher seine Argumentation und seine Charakterzeichnung nicht zu sehr individualisieren, damit möglichst viele Leser sich in dieser Schilderung wiedererkennen können, damit diese Schilderung möglichst typisch wird. Für ihn hat die Krise des religiösen Bewußtseins ja nicht nur individuelle Bedeutung, vielmehr erkennt er in der individuellen Gestalt den Epochenbruch. Die idealtypische Genese der Krise läßt zwar die allgemeinen Bewußtseinsformationen und Argumentationen besser hervortreten, gibt dieser Schilderung aber auch eine gewisse Blässe. Die konstruktive Seite des Schleiermacherschen Vorhabens ist zu offensichtlich, als daß die Schilderung ganz überzeugen könnte. Schleiermachers Briefabhandlung bleibt zu sehr in der Schwebe zwischen persönlichem Erlebnis und Bekenntnis einerseits und argumentativer Darstellung andererseits. Das Herzensinteresse des jungen Schwärmers sieht Schleiermacher aber durch das Erwachen und den Aufbruch der Vernunft noch nicht gewonnen. Es wird vom vernünftigen Wahrheitsinteresse mehr verlangen als eine deutliche Darlegung von Vernunftsätzen und ihres Zusammenhangs mit den ersten Grundsätzen; es wird nicht nur die Aufdeckung der Widersprüche im theoretisch-dogmatischen Lehrgebäude der Schwärmerei, 26
KGA I/l, 206, 7-9
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sondern auch eine Widerlegung der angeblich praktischen Erkenntnis fordern, die sie der Vernunft entgegensetzt. D. h. das Herzensinteresse wird sich nur dann mit dem Vernunftinteresse einen und die Revolution der Denkart nur dann von der Empfindung aufrichtig unterstützt und auf Dauer abgesichert, wenn es gelingt, auch den Haushalt der Empfindungen nach einsichtigen Kriterien kritisch zu prüfen und alle Phantasieprodukte zu entfernen, die zu Unrecht den Anspruch auf praktische Erkenntnis erheben. In seiner Autobiographie von 179427 schreibt Schleiermacher über seine Seminaristenzeit in Barby (und rückblickend über Niesky): „Wir jagten immer noch vergeblich nach den übernatürlichen Gefühlen und dem, was in der Sprache jener Gesellschaft der Umgang mit Jesu hieß; die gewaltsamen Anstrengungen unserer Phantasie waren unfruchtbar und die freiwilligen Hülfsleistungen derselben zeigten sich immer als Betrug."28 Die theoretische Vernunftkritik hat also nur Erfolg, wenn sie von einer Kritik der sittlichen Empfindungen begleitet wird. Diese Kritik deckt durch eine überzeugende Erklärung des menschlichen Empfindungsvermögens, d. h. des Verfahrens der Seele hinsichtlich der Erzeugung und Bestimmung der Empfindungen die falschen und unechten Empfindungen auf. Das gesamte Aggregat von schwärmerischen Meinungen, Einstellungen, Lehrsätzen, Empfindungen und Handlungsanweisungen verliert nun die Weihe des Sakrosankten und wird „der strengen Besichtigung der profanen Vernunft"29 unterworfen. „Während dieser Untersuchung muß das Herz nothwendig in einem ängstlichen und gewaltsamen Zustand seyn; das bisherige Band aller seiner Gefühle ist zerrissen und ohne Stüze fällt nun dies große Ganze in lauter zerstreute unansehnliche Theile auseinander, von denen keiner mehr die Wirkung thun kann, die er in seiner vorherigen Verbindung hervorzubringen fähig war."30 In diesem Zwischenzustand, in dem einerseits das alte schwärmerische Lebenssystem zerbrochen ist und selbst, wenn es versucht werden sollte, nicht wieder zum Leben erweckt werden kann, weil seine Basis zerbröckelt ist, in dem also krampfhafte Repristinationsversuche zum baldigen Scheitern verurteilt sind, in dem andererseits das neue vernünftige Lebenssystem noch nicht aufgeführt und geordnet ist, wohl aber als Impuls schon kräftige Wirkungen entfaltet, entfremdet der Suchende sich seinen alten Freunden und verliert auch die Trostquelle der 27 28 29 30
Vgl. Briefe 1,3-15 Briefe l, 10 KGA I/l, 207, 2f KGA l/l, 207, 3-8
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Natur, die — statt wie bisher in lebendigem Zusammenhang mit der Gottheit stehend — ihm nun kalt die göttlichen Geheimnisse zu verschließen scheint. In dieser Zeit der Askese, wo neben den gewöhnlichen Alltagspflichten, die jetzt allein durch den reinen Tugendbegriff verbindlich sind, nur die kritischen Untersuchungen Platz haben, muß das Empfindungsvermögen eine erzwungene Ruhepause erdulden. Die bisher üblichen und wirksamen sittlichen Empfindungen sind sistiert. „Zum Glük kann dieser erzwungene Zustand der ganzen Seele nicht lange dauern, denn nur derjenige, der die Sache der Religion als einen Gegenstand gelehrter Verhandlungen ansieht wird bei der Untersuchung zerstreuter einzelner Theile beginnen und so das Resultat über das Ganze in eine unabsehliche Weite hinausrüken, unser Held hingegen wird mit leichter Mühe die ersten eigenthümlichen Grundsäze auffinden und sie mit den überall als rechtskräftig anerkannten Forderungen der Vernunft vergleichen, dann erst wird er sehn in wie fern jeder einzelne Saz als Folge mit in dem System jener Grundsäze enthalten ist, oder abgesondert aus einem eignen Gesichtspunkt betrachtet werden muß."31 Bei diesen biographisch auf 1786 zu datierenden Untersuchungen gewinnt der Held trotz der intellektuellen Isoliertheit Ergebnisse, die mit den Entdeckungen der damaligen Aufklärungsphilosophie konform sind.32 Diese Eigenentdeckungen, die durch die Fremdergebnisse berühmter Philosophen bestätigt werden, überführen das ahnende theoretische Vorurteil 31
32
KGA I/l, 208, 13-22 Vgl. dazu: „Bisher hatten wir uns in griechischen Versen getröstet und das war ein herrliches Solamen; nun aber wurde uns die Sache immer näher gelegt. Aber bald wendete sich das Blatt. Wir ruhten auf den Trophäen unsers allgemein verbreiteten philosophischen Ruhmes und fingen an zu philosophiren. Die Vermehrung der äußeren Freiheit schien auch unsere innere Fesseln zu lösen. Die elende Logik, die wir hörten, die eingeschränkte Lecture, die wir genossen, und das Beispiel einiger älteren Cameraden, welche den Freigeist spielten, war es gewiß nicht, was unsern Untersuchungsgeist weckte. Der Knoten des psychologischen Dramas war so fest geschürzt als möglich: er mußte anfangen sich zu lösen und er konnte sich nicht anders lösen, als wie es unseren inneren Verhältnissen gemäß war. Die Untersuchungen der neueren Theologen über das System, und der Philosophen über die menschliche Seele kamen uns nicht zu statten, denn wir hörten wol beiläufig, daß so etwas in der Welt geschah, aber den Inhalt davon konnten wir nur aus dem, was wir selbst entdeckten, errathen. Wir frevelten wol, indem wir uns durch meilenweite heimliche Gänge oder durch verbotene Correspondenz Bücher aus dem Index verschafften, aber es waren nur Wieland's Gedichte und Göthe's Werther, wonach wir lüstern waren — nur unser Empfinden wollten wir von außen nähren — was das Denken betraf, so waren wir zu sehr in Gährung und in Selbstbeobachtung über diese Gährung vertieft, als daß wir für etwas Anderes hätten empfänglich sein können." (Briefe l, l Of)
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gegen die Schwärmerei in ein evidentes Urteil. Ebenso hält ein Teil der religiösen Empfindungen der Revision nicht stand und erweist sich als fehlgeleitete Produktion der Phantasie ohne Wirklichkeitsgehalt. Diese Einsicht in die phantastische Haltlosigkeit mancher religiös-sittlicher Empfindungen33 erschüttert das Herz, das hierdurch einen Lebensverlust in der Vergangenheit und eine Lebensbedrohung in der Gegenwart konstatieren muß. Das schwärmerische Empfindungssystem ist als untauglich überführt, die für das Leben wesentlichen Auffassungen, Einstellungen, Urteile und Maximen bereitzustellen. Die Einsicht in das Illusionäre der Schwärmerei erregt Reue, die allein durch die Gewißheit der Reinheit des eigenen Wollens, der Unversehrtheit und Kräftigkeit des Wahrheits- und Herzensinteresses aufgefangen wird. Bei dieser Einsicht eint sich aber auch das Gefühlsinteresse mit dem Wahrheitsinteresse und unterstellt sich um der eigenen Erhaltung und Ordnung willen der parteilosen Wachsamkeit der prüfenden Vernunft.34 Schleiermacher liegt viel daran zu versichern und glaubhaft zu machen, daß bei diesem großen Umbruch des individuellen Lebenssystems, bei diesem grundlegenden Umschwung des Wahrheits- und Herzensinteresses die häufig zu beobachtende Revolutionsregel, daß man von einem Extrem ins andere, vom Dogmatismus in den Skeptizismus, von der religiösen Schwärmerei in die Religionsverachtung übergehe, keine Gültigkeit habe.35 Hinsichtlich des vernünftigen Wahrheitsinteresses vermeidet der Held sowohl den Abweg des Skeptizismus, daß nämlich die amorphe Pluralität der Wahrnehmungs- und Erfahrungssätze sich der synthetischen Reduktion auf wenige Grundsätze verschließe und demnach die vielen Wahrheiten nicht auf die Eine Wahrheit zurückzuführen seien, als auch den Abweg des Naturalismus, daß nämlich außerhalb des Feldes der Naturgesetzlichkeit keine Wahrheit der Erkenntnis festzustellen sei. Anders als der Skeptiker hält er an der Notwendigkeit der Einen Wahrheit fest, weil er seine eigene Vernunft bejaht; ihn erfüllt die Zuversicht, eine neue Systemgestalt gewinnen zu können. Anders als der Naturalist begrenzt er 33
34
35
Vgl. dazu: „Wenn man auf die vergangnen Zeiten zurüksieht, wenn man es sich gestehn muß daß die vermeinte Fakel der Gottheit ein falsches Irrlicht war, daß die seligsten Augenblike die man für auszeichnende Geschenke des Himmels hielt leicht der Grund des Verderbens hätten werden können und wenigstens als mißverstandne und verlerne Theile des Lebens anzusehen sind so schaudert man vor der Gefahr und nur das innere Bewustseyn eines reinen Willens kann der bittern Reue zuvorkommen." (KGA I/l, 209, 3-10) Vgl. KGA I/l, 209, 10-15 Vgl. KGA I/l, 209, 16-19. 209, 37-210, 12. 210, 22-37
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die Erkenntnisfähigkeit nicht auf die Naturtheorie der äußeren, quantitativ erfaßbaren Dinge, sondern entdeckt in der moralischen Untersuchung der Seele die ewige Wahrheit praktischer Gesetze. Hinsichtlich des Herzensinteresses und der religiösen Empfindungen zeigt der Held die gleiche Ausdauer und Geduld wie beim Wahrheitsinteresse. Anders als derjenige, der allein aus Sensationsdrang zur Schwärmerei kam und nun nach der Desillusionierung diesen Sensationsdrang allein durch das sinnliche Empfinden äußerer Dinge stillt, wendet sich der Held den eigenen vernünftigen Ideen zu, um sein Gefühlssystem umzubauen. Denn nur unter Aufsicht der Vernunft kann er die gesuchte Einheit der Empfindungen finden, die sich in allem Wechsel bewährt und die diese Mannigfaltigkeit zu ordnen erlaubt. „So muß also die Religion immer der wichtigste Gegenstand seines Nachdenkens und seines Selbstgenußes bleiben, und sein ganzer Charakter stekt ihm die Grenze daß er nur die Art über sie zu denken und zu empfinden verändern müße."36 Die Revision der Religionsauffassung kann sich allerdings nicht nur auf das Aufspüren einzelner Irrtümer und Ungereimtheiten, nicht nur auf das Durchmustern und Entdecken einzelner Unhaltbarkeiten und ungedeckter Phantasieprodukte beschränken; sondern zu einem gesicherten Neubau gehört auch die Prüfung der Selbstverständlichkeiten und der unbestrittenen Erkenntnisgründe. Dabei geht der Held von den praktischen Gesetzen aus, weil diese sowohl vom Schwärmertum als auch vom Vernunftglauben in ihrer Geltung unbestritten sind, weil diese im ganzen revolutionären Umbruch das Kontinuum darstellen und weil ihre Notwendigkeit sowohl vorher als nachher einleuchtete. „Aber es sei nun daß er den wahren Grund ihrer Verbindlichkeit einsieht oder sich noch über denselben täuscht, so stimmen in beiden Fällen Herz und Vernunft zusammen um ihn desto leichter zu überzeugen, daß jene beiden noch übrigen erhabnen Ideen von dem höchsten Wesen und der ewigen Dauer der menschlichen Seele unzertrennlich mit dieser Verbindlichkeit zusammenhängen."37 Bemerkenswerterweise wird nicht nur die Bestätigung der Vernunft, sondern auch die des Herzens zu diesen beiden Ideen eingeholt. Schleiermacher versteht die beiden Ideen im Sinne der Halleschen Aufklärungsphilosophie. Mit deren Lehren war er schon in Barby literarisch und persönlich durch in Halle studierende Freunde bekannt geworden. Für den gleichsam nach Halle blickenden Helden weist die Vernunft die vorgebrachten Einwände gegen die Gottes- und Unsterblichkeitsidee als nicht überzeugend und 36
37
KGA I/l, 210, 28-31 KGA 1/1,211,4-9
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stichhaltig ab. Die Vernunft hat hier also hauptsächlich eine Schutzfunktion; sie sichert die Möglichkeit dieser Ideen. Das Herz tut den affirmativen Überschritt. Eine rein immanente Tugendübung, eine allein diesseitige Verbindlichmachung der Sittlichkeit wäre eine traurige Angelegenheit und stellte die Grundaffirmation der Natur in Frage, wenn nicht der menschliche Geist auf Transzendenz angelegt wäre. Das Wesen des Menschen zerfiele, wenn nicht in der Gottesidee der Bürge für die Harmonie und Identität des Menschen mit sich selbst und mit der Welt gedacht und gefühlt würde. Die Gründung der praktischen Gesetze und ihrer Verbindlichkeit im Wesen der Vernunft kann, falls dies für nötig erachtet werden sollte, am besten von außen dadurch verstärkt werden, daß man die Verpflichtung des göttlichen Willens einschärft. Diese religiöse Gesinnung, die praktischen Gesetze als göttliche Gebote zu erfüllen, ist verbunden mit der religiösen Verpflichtung zur Eigenliebe: Die eigene Seele soll der himmlischen Glückseligkeit wert werden, indem die Seelenkräfte im göttlichen Sinne für das himmlische Dasein entwickelt werden. Diese vernünftigpraktische Religion soll in ihren Konsequenzen die beiden moralischen Postulate gleichsam äußerlich unterstützen und verstärken. Die Religion wird zugunsten der Sittlichkeit funktionalisiert und bekommt damit eine starke Tendenz zur Werkgerechtigkeit. Für den von Schleiermacher geschilderten Charakter führen geistigseelischer Umbruch und Revolution zu einem glücklichen Ende; „der Kampf der Seele endigt sich in die wärmste Anhänglichkeit an diese allgemeine Religion der besseren Menschheit; alle welken Kräfte des Geistes leben in diesem schönen Klima wieder auf; er singt Beruhigungen und kränzt mit froher Dankbarkeit die Büste eines jeden Weisen der durch Schriften oder Umgang zur glüklichen Vollendung der Katastrophe beigetragen hat."38 Die religiöse Krise mit ihrer Revolution der Einstellungen und Glaubenshaltungen ist beendigt, vorläufig allerdings nur, wie sich bald herausstellt. Nach durchstandener Katastrophe kann der geschilderte Charakter in aller Ruhe neue Kräfte schöpfen gerade durch die Täuschung, als sei seine Wanderung schon an ihr Ziel gekommen. Die autobiographischen Bezüge sind hier mit Händen zu greifen. Schleiermacher meisterte die „Katastrophe"39, indem er von Barby nach Halle im April 1787 übersiedelte und sein Theologie- und Philosophiestudium an der dortigen Universität aufnahm. Jetzt konnte er sich erleichtert und 38 39
KGA 1/1,211, 32-212, 3 KGA I/l, 212, 2
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entspannt im Felde der Halleschen Aufklärungsphilosophie ergehen. Johann August Eberhard wurde sein bevorzugter Lehrer, der ihn mit der von Christian Wolff herkommenden Schulphilosophie vertraut machte. Karl Gustav von Brinckmann war sein freundschaftlicher Gesprächspartner und literarischer Anreger. Nach den Kämpfen im Herrnhutischen Barby, in denen Schleiermacher die Zerrissenheit von Herz und Vernunft schmerzlich erfahren hatte, genoß er nun bei seinen Hallenser Studien den Einklang von Herz und Vernunft. Die aufklärerische Schulphilosophie hatte Wandlung und Versöhnung bewirkt. Doch waren hier auch schon die Keime für die neuen Auseinandersetzungen versteckt. Gegen Ende der Hallenser Studienzeit trat nämlich die Kantische Vernunftkritik bedeutungsvoll in den Gesichtskreis Schleiermachers. Eberhards literarische Auseinandersetzungen mit Kantischen Theoremen und Argumenten dürften Schleiermachers schon vorhandenes Interesse noch verstärkt haben. Das Erscheinen der „Critik der practischen Vernunft" (Riga 1788) wurde für ihn ein einschneidendes Ereignis. Die Kantische Vernunftkritik überzeugte ihn von manchem Unhaltbarem und Überflüssigem der Halleschen Schulphilosophie. Die am Schluß der Briefabhandlung aufgeworfene Frage, warum die erreichte Versöhnung nur ein zeitweiliger Ruhepunkt und nicht der Zielpunkt der Forschungen sei, bleibt unbeantwortet; das Manuskript bricht hier ab. Darüber, in welche Richtung Schleiermacher seinen Gedankengang fortgeführt hätte, läßt sich immerhin eine begründete Vermutung anstellen: Schleiermacher hätte wohl im Sinne der Vernunftkritik die Gottesidee und die Unsterblichkeitsidee einer kritischen Prüfung unterzogen. Dafür spricht die nicht mehr beantwortete weiterführende Leitfrage, warum der geschilderte Hauptcharakter nicht „so gut als so viele andere in dieser schöneren Gegend der Philosophie auf immer wohnen kann ohne in jene unfruchtbare und trostlose Provinzen derselben auszuwandern?"40 Schleiermacher wollte auf die Ausgangssituation zurücklenken, in der ja die Zweifel an der Unsterblichkeitsidee den Start der genetischen Untersuchung ausgelöst hatten. Die aus dem Blickwinkel der antikritischen Briefpartnerin gestellte Frage, warum die Harmonie, Ruhe und Schönheit der Schulphilosophie gegen die vermeintliche Trostlosigkeit und Unfruchtbarkeit der radikalen Vernunftkritik, warum die theoretische Gewißheit der Gottes- und Unsterblichkeitsidee gegen die stark eingeschränkte Gültigkeit derselben vertauscht werde, gibt das Schlußthema an: Schleierma40
KGA 1/1,212, 15-17
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chers Übergang von der Halleschen Schulphilosophie zur Transzendentalphilosophie. Dies hat er leider nicht ausgeführt. Dabei dürfte der Abbruch wohl kaum dadurch motiviert sein, daß dieser Prozeß noch nicht zu einem darstellbaren Ergebnis gekommen war. Schleiermacher stockte wohl eher, weil seine Stellung zu Kant von Anfang an eigentümlich gebrochen war. Seine Aufnahme der Kantischen Vernunftkritik erfolgte nämlich gerade auf dem Felde der praktischen Philosophie unter dem Vorzeichen ihrer Radikalisierung. Die Kantischen Denkmotive wurden so aufgenommen, daß sie einerseits mit schon vorhandenen adäquaten Motiven der Schulphilosophie vermittelt und daß sie andererseits zugleich in ihren Inkonsequenzen einer Kritik unterzogen wurden. Schleiermacher übernahm also nicht einfach die Kantische Vernunftkritik, sondern diese Übernahme erfolgte im Medium der Verbesserung und Berichtigung. Literarisch belegen läßt sich diese Einschätzung durch Schleiermachers Auseinandersetzung mit der Kantischen Postulatenlehre. Hier wird augenfällig, daß die Übernahme der Kantischen Vernunftkritik sich in ihrem Umprägen bewährt.
2) Die Destruktion der rationalen Theologie („Über das höchste Gut" 1789) Ein Nachlaßstück aus dem Frühjahr 1789 setzt uns in die glückliche Lage, den Prozeß der Aneignung und Fortbildung vernunftkritischer Einsichten und Denkmotive gleichsam in seinem Anfangsstadium beobachten zu können, und zwar in der Untersuchung eines ethischen Grundbegriffs. Dabei ist bemerkenswert, daß die Gottesidee gleich von Beginn an in besonderer Weise Gegenstand des Weiterdenkens und konzeptioneller Veränderungen ist. In seiner Abhandlung „Über das höchste Gut" hat Schleiermacher nämlich bei seiner „Umprägung"41 der Kantischen Ethik besonders deren Postulatenlehre angegriffen. Schleiermacher wagt diesen Angriff, obwohl er weiß, daß er sich damit des Verdachts des Atheismus aussetzt.42 Wichtiger als das Vermeiden dieses Verdachts ist es ihm in Verfolgung Kantischer Intentionen aber, die Reinheit des Vernunftbegriffs des höchsten Guts herzustellen und den bei Kant eingeschlichenen Begriff der Glückseligkeit herauszuoperieren, auch wenn der Glückseligkeitsbegriff durch seine Verknüpfung mit dem des höchsten Guts von Kant dazu gebraucht wird, den Gottes- und Unsterblichkeitsbegriff „nicht blos als problematisch sondern als nothwendig einzuführen, welches auf keine andre Weise bewerkstelligt werden konnte"43. Vermutungsweise formuliert Schleiermacher gleich das Resultat seiner Kritik: „Es scheint einmal gewiß zu seyn, daß unsere Vernunft das Daseyn eines höchsten Wesens und eine unendliche Dauer unserer Seel für sich niemals erweisen kann; wenigstens sehen wir nicht ab, wie sie jemals zu der Auflösung dieser Aufgabe sollte gelangen können"44. Auch Kant gebe seine Postulatenlehre nicht als einen Beweis aus. Außerdem seien diese beiden Begriffe in ethischer Hinsicht im System reiner Vernunftbegriffe nicht notwendig, denn die Verbindlichkeit des für alle Moralität funda-
41
42 43 44
KGA I/l, 97, 18 Vgl. KGA I/l, 97, 23-29 KGA I/l, 97, 24-26 KGA I/l, 97, 33-37
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mentalen praktischen Vernunftgesetzes (Sittengesetzes) stehe bereits fest „vor und ohne die Entscheidung der Frage ob es möglich sei das höchste Gut hervorzubringen, als wozu jene Begriff erfordert würden"45. Schleiermachers Untersuchung der Kantischen Postulatenlehre46 führt zu Umbildungen und Neukonzeptionen der zugehörigen Zentralbegriffe. Den Glückseligkeitsbegriff läßt Schleiermacher in seiner Kritik ausgesprochenermaßen unberücksichtigt, weil die Kantische Ableitung des Gottesund Unsterblichkeitsbegriffs auch so verstanden werden könne, daß man seiner nicht bedürfe. Schleiermachers Untersuchung gliedert sich in zwei Gedankengänge: Im ersten zeigt er, wie die Kantische Postulatenlehre korrekt aussehen müßte, wie also bei einem gereinigten Vernunftbegriff des höchsten Guts und unter Voraussetzung des praktischen Vernunftgesetzes die Kantischen Intentionen in einer konsequenten Konzeption der Postulatenlehre formuliert werden müßten. Im zweiten Gedankengang demontiert Schleiermacher dann aber gleich die von ihm selbst gebesserte Lehre, indem er in zwei Teilschritten nachweist, daß diese Postulatenlehre weder nützlich noch notwendig sei. Zunächst korrigiert Schleiermacher die Kantische Postulatenlehre dahingehend, daß die Möglichkeit der Unsterblichkeit an die Voraussetzung des Daseins Gottes gebunden sei, daß also diese beiden Begriffe so unauflöslich verknüpft seien, daß es gar nicht zweier Postulate bedurft hätte. Kants Ausführung zum Postulat von der Unsterblichkeit der Seele47 enthalte zugleich die Ableitung des Gottesbegriffs. Das Postulat der Unsterblichkeit schlösse das des Daseins Gottes als seine Voraussetzung mit ein. „Wenn nemlich der unendliche Progressus in der Sittlichkeit die Stelle der völligen Angemessenheit des Willens mit dem Gesez der praktischen Vernunft vertreten soll, so kann das"48 nur in einem Wesen gedacht werden, das von jeder äußeren und inneren Beschränkung durch die Sinnlichkeit frei ist und zugleich über eine höchste Urteilskraft verfügt, das also das höchste Wesen ist. Der Gedanke eines unendlichen sittlichen Fortschritts beinhaltet nach Schleiermacher erstens eine Unendlichkeit der Zeitreihe, die aber als Totalität gefaßt werden soll. Diese Totalisierung der unendlichen Zeitreihe könne bezogen werden nur auf „ein Wesen, dem die Zeitbestimmung nichts 45 46 47 48
KGA I/l, 98, 3-5 Vgl. KGA I/l, 98-101 Vgl. Kant: KpV 219-223; Ak 5, 122, 2-124, 3 KGA I/l, 98, 22-99, 3
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/j·/."49 Doch wie kann ein Wesen eine unendliche Zeitreihe synthetisieren, das gar keinen Bezug auf Zeit hat? Stimmt außerdem das erste Argument für ein zeittranszendentes Wesen, daß nämlich die Unendlichkeit des sittlichen Fortschreitens auch einschließe den Rückblick auf eine schon vergangene unendliche Reihe?50 Ist denn die in die Zukunft gehende Reihe allein nicht ebenfalls eine unendliche Reihe? An der Behauptung der rückwärtigen Zeitunendlichkeit hängt aber Schleiermachers negative These, daß sich der Gedanke des unendlichen Fortschreitens nicht in einem vernünftig-sinnlichen Bewußtsein realisieren lasse, weil ein solches Bewußtsein keine rückwärtige Unendlichkeit habe. Daran hängt auch Schleiermachers affirmative These eines zeittranszendenten Wesens. Das erste Argument leistet nicht, was es soll; es ist zu unscharf formuliert. Das zweite Argument für ein zeittranszendentes Wesen, daß nämlich die Angemessenheit des Willens sonst in einem einzelnen Glied der Zeitreihe liegen müsse, „welches wider die Voraussezung als das lezte angesehn werden könnte"51, kann allein die Beweislast nicht tragen; es verhindert nur negativ die Annahme einer zeitimmanenten Realisierung. Der Gedanke eines unendlichen sittlichen Fortschritts beinhaltet nach Schleiermacher zweitens eine Unendlichkeit von Realitäten, die als höchst benachbarte doch unterschieden sein müssen, die nicht als Kontinuum, sondern im Sinne eines diskontinuierlichen approximativen Fortschritts aufgefaßt werden müssen. Dieser Fortschritt, der auf das höchste Gut als sein Ziel bezogen ist, erfordert drittens ein höchstes Urteilsvermögen, das das höchste Gut mit seiner Totalität sittlicher Lebensakte uneingeschränkt auf einen Schlag erfassen kann. Der Gedanke des unendlichen sittlichen Fortschritts, der die praktische Vernünftigkeit des Willens stellvertritt, sei demnach nur durch den Bezug auf den vorauszusetzenden Gottesbegriff sinnvoll. Sodann bestreitet Schleiermacher52 die Legitimität der Kantischen Postulatenlehre, deren gedankliche Möglichkeit und systematische Annehmbarkeit er gerade durch seine Neuinterpretation erwiesen hat. Nachdem er seinen Gegner sozusagen erst einmal in Bestform gebracht hat, widerlegt er ihn nun durch einen Totalangriff. Im ersten Teilschritt bezweifelt er die Nützlichkeit der Postulatenlehre; „wenn wir nur einsähen, daß so unsere Begriffe von Gott und Unsterb49 50 51
52
KGA I/l, 99, 9f Vgl. KGA I/l, 99, 4f KGA I/l, 99, 6f Vgl. KGA I/l, 99, 21-101, 27
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lichkeit auf einem etwas festeren Grund ruhten als auf der natürlichen Illusion der spekulativen Vernunft. Aber das ist es woran wir noch zweifeln müßen."53 Schleiermacher widerlegt die Kantische Behauptung, daß durch die Postulatenlehre ein Erkenntnisgewinn zu erzielen sei. Er verwirft die Kantische These, daß die Unsterblichkeits- und die Gottesidee eine Beglaubigung durch die praktische Vernunft erhielten, daß also mit dieser neuen Legitimation der Schwebezustand beendet werde, in den diese Ideen durch das kritische Urteil der reinen Vernunft, daß sie theoretisch weder zu verifizieren noch zu falsifizieren seien, geraten waren. Der Kantischen Einschätzung, an dieser Stelle reiche die Erkenntniskraft der praktischen Vernunft weiter als die der theoretischen, widerspricht Schleiermacher entschieden — und er kann sich bei diesem Einspruch auf Kantische Sätze berufen. Kantische Behauptungen schmiedet Schleiermacher um in Argumente gegen Kant. Dieser begründe nämlich seine Behauptung, das höchste Gut ließe sich „nur in einer unendlichen Annäherung denken"54, mit dem Hinweis darauf, daß wir Menschen als endlich-vernünftige Wesen den Beschränkungen der Sinnlichkeit unterlägen und deshalb die Teile des höchsten Guts nur zeitlich aufeinanderfolgend hervorbringen könnten. Wenn aber dies gelte, daß auch im praktischen Gebrauch genauso wie im theoretischen die Ideen der Vernunft mit den Beschränkungen der Sinnlichkeit kollidieren und sich in dieser Kollision als überschwenglich erweisen, daß also diese auf überschwenglichen Ideen basierenden Vernunftbegriffe nur ein scheinbares unmittelbares Evidenzrecht beanspruchen können, dann bringe die reine Vernunft in ihrem praktischen Gebrauch auch keine Erweiterung unseres Erkenntnisfeldes, weil sie „nicht mit mehrerem Recht die Darstellung ihrer Ideen in unserm Gemüth, so fern es zur Sinnenwelt gehört, verlangen kann, als die Spekulation die Realisirung der ihrigen an den äußern Erscheinungen, über welche sie eben so wenig Gewalt hat."55 Da Kant bei der Frage der Realisierung des höchsten Guts eine notwendige Verknüpfung der praktischen Vernunftideen mit der Sinnenwelt voraussetzt und argumentativ in Anspruch nimmt, begibt er sich aller Möglichkeit, die Unsterblichkeits- und die Gottesidee durch die praktische Vernunft besser zu fundieren. Die praktische Vernunft kann überschwengliche Ideen ebensowenig legitimieren wie die theoretische. In seinem zweiten Teilschritt bestreitet Schleiermacher die Notwendigkeit der Kantischen Postulatenlehre. Diese Notwendigkeit gründet bei 53 54
55
KGA I/l, 99, 23-26 KGA I/l, 99, 27 KGA I/l, 99, 37-100, 2
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Kant in der Behauptung, das höchste Gut müsse in seiner Totalität realisiert werden. Diese Forderung ist, so meint Schleiermacher, aber sichtlich nicht auf ein endlich-vernünftiges Sinnenwesen wie den Menschen zugeschnitten, sondern auf ein sittliches Subjekt, das nicht den Bedingungen der Sinnlichkeit unterworfen und deshalb nicht der Mittelinstanzen zwischen Vernunft und Willen bedürftig ist. Denn: „Was ist das Sittengesez? Nichts anders als das Naturgesez welches die Vernunft für einen Willen entwerfen würde, welcher unmittelbar durch sie bestimmbar wäre. Und das höchste Gut? Ist der Inbegrif alles deßen, was dadurch gegeben werden kann."56 Das höchste Gut muß demnach als notwendig gedacht werden für einen (göttlichen) Willen, für den das Sittengesetz prinzipiell der ausschließliche Bestimmungsgrund ist. Es muß als vollständig realisierbar, d. h. als möglich gedacht werden bei einem (angelischen) Willen, bei dem das Sittengesetz der alleinige Bestimmungsgrund sein kann, auch wenn noch andere Triebfedern denkbar sind. Die vollständige Realisierung des höchsten Guts ist jedoch sicherlich unmöglich beim menschlichen Willen, in dem das Sittengesetz nie alleiniger Bestimmungsgrund ist, in dem es mit anderen Triebfedern immer streitet und in dem es gar nicht unmittelbarer Bestimmungsgrund sein kann, sondern sich im Medium subjektiver Bestimmungsgründe repräsentieren lassen muß. Demgemäß kann das unendliche sittliche Fortschreiten auch nur als diskontinuierlich gedacht werden. „Wie viel ein solches [sc. menschliches] Begehrungsvermögen von dem höchsten Gut realisiren will und kann, das wagt die Vernunft nicht zu bestimmen, das überläßt sie billig den Umständen, wodurch allein die Wirksamkeit aller subjektiven und nicht ausschließenden Triebfedern bestimmt werden kann. Übrigens ist das Darstellen ihrer Ideen überall nicht ihre Sache; sie faßt dieselben, bildet sie aus, bestätigt sie durch den Stempel der Allgemeinheit, den sie ihnen aufdrükt — aber das ist auch alles was sie zu thun hat so lange sie im praktischen so wol als im theoretischen Vermögen der Principien ist."57 Schleiermacher diagnostiziert den Kantischen Fehler in einer falschen Einschätzung der Prinzipienart: Kant habe den Begriff des höchsten Guts aus einem regulativen Prinzip, in dem der hervorgebrachte Gegenstand des Sittengesetzes als sinnvolle Utopie vorgestellt würde, in ein konstitutives verwandelt, in dem die Realisierung als notwendig gedacht würde. Gerade der Modusverwechslung, durch deren Aufdeckung Kant sein kritisches Geschäft bei der theoretischen Vernunft so überzeugend vor56 57
KGA I/l, 100, 7-11 KGA I/l, 100, 23-31
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angetrieben hatte, falle er beim praktischen Gebrauch der reinen Vernunft selbst zum Opfer. Auf diese modale Fehleinstufung führt Schleiermacher auch die schon erwähnten Ungereimtheiten der Kantischen Postulatenlehre, nämlich ihre Ungleichrangigkeit und die Abhängigkeit des ersten Postulats von der Wahrheit des zweiten zurück. 58 Als Resultat stellt Schleiermacher fest, daß die Gottes- und die Unsterblichkeitsidee durch die Postulatenlehre nichts gewinnen. Deshalb könne man sich der Postulatenlehre als einer unnützen Mühe überheben. Durch diese Reduktion schreibt Schleiermacher die Ergebnisse der Kantischen Kritik der theoretischen (reinen) Vernunft auch für die praktische Vernunft fest. Indem Kant die transzendentale Dialektik der reinen Vernunft aufdeckte, habe er das über diese Ideen Wißbare und Aussagbare ermittelt. Dies gelte auch für die praktische Vernunft. Die Ideen von Gott und Unsterblichkeit der Seele „mögen reale oder hypothetische Gewißheit haben, ja sie mögen sogar Wahrheit oder Täuschung seyn, so bleiben sie immer für uns Menschen in unserm dermaligen Zustand — in irgend einer von den unzähligen Gestalten die sie zu verschiednen Zeiten schon angenommen haben und will's Gott noch annehmen werden — unvermeidlich und als solche Data werden sie ihre Stellen in der Glükseligkeitslehre, um derentwillen sich eigentlich alle Menschen so gewaltig für sie interessiren, immerdar behalten, und die Vernunft wird sich des Geschäfts nicht erwehren können, sie in diejenige Form zu bringen welche der wahren Sittlichkeit am wenigsten nachtheilig und am meisten beförderlich ist."59 Schleiermacher stuft demnach mit seiner Destruktion der Kantischen Postulatenlehre die Gottesidee und die mit ihr verknüpfte und von ihr abhängige Unsterblichkeitsidee in ihrer sittlichen Bedeutung sehr stark herab. Er ordnet beide der Glückseligkeitsidee zu. Beide sind funktional mit der Glückseligkeitsidee verwoben, sind von ihr abhängig. Mit der Entscheidung über die Glückseligkeitsidee fällt auch die Entscheidung über die beiden anderen Ideen. Damit muß der Kantische Versuch einer ethischen Neugründung der rationalen Theologie als gescheitert angesehen werden. Eine sich selbst verstehende Ethik wird um der Selbständigkeit der vernünftigen Sittlichkeit willen jede funktionale Unterstützung durch Gottes- und Unsterblichkeitsidee zurückweisen. Damit sind beide Ideen aus einer reinen Vernunftethik verabschiedet. Mit der Abweisung der Glückseligkeitsidee verlieren sie ihren Beglaubigungsgrund und müssen sie aus den ethischen Grundideen ausgebucht werden. Ihre Verknüpfung 58 59
Vgl. KGA I/l, 100, 32-101, 9 KGA I/l, 101, 14-23
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mit der Glückseligkeitsidee sichert ihnen allerdings noch eine Restbedeutung, noch einen marginalen Geltungsstatus. Da die Glückseligkeitsidee trotz ihrer ethischen Ortlosigkeit und Bedeutungslosigkeit einen festen Platz im anthropologischen Prinzipiengefüge hat, behalten auch die Gottesidee und die Unsterblichkeitsidee in ihrem Gefolge eine bescheidene Bedeutung. Als Folgegedanken der Glückseligkeitsidee können sie aus dem humanen Motivhaushalt nicht getilgt werden. Deshalb hat die Vernunft die Aufgabe, ihre angemessene Gestalt zu prägen und ihre für die Sittlichkeit günstigste Einsatzstelle herauszufinden. Erkenntniskritisch hat Schleiermacher die Gottesidee aus dem Bestand intentionaler Aussagen ausgegliedert, weil sie weder verifikabel noch falsifikabel ist. Ethisch hat er die Gottesidee für die Prinzipien vernünftiger Praxis als überflüssig entschleiert, weil sie mit der Selbständigkeit der Sittlichkeit nicht verträglich ist und weil sie diese Praxis weder zu begründen noch zu prägen vermag. Durch seine Zustimmung zur Kantischen Kritik der theoretischen Vernunft hat er das Band zwischen Theologie und Metaphysik, zwischen Religion und intentionalem Denken in konstitutiver Hinsicht zerschnitten; durch seine Radikalisierung der Kantischen Kritik der praktischen Vernunft hat er auch die notwendig-allgemeine Beziehung zwischen Religion und Sittlichkeit aufgehoben. Schleiermacher hat mit der Destruktion der Kantischen Postulatenlehre die letzte Stütze einer rationalen Theologie im Sinne der traditionellen Metaphysik zerstört. Die Religion hat keinen Anteil am Reich des Wissens, weil die strenge Konzeption einer natürlichen Theologie, die von der Idee der Welt ideologisch oder kosmologisch zur Gottesidee übergeht, durch die Kantische Destruktion der entsprechenden Gottesbeweise als unmöglich erwiesen wurde. Kosmologische oder ideologisch gestützte Theologie haben nur den Status theoretischen Meinens. Die Kantische Deduktion des moralischen Glaubens, in der die Verknüpfung des Bewußtseins des praktischen Vernunftgesetzes mit dem des Glückseligkeitsstrebens angenommen wird, um daraus Gottesidee und Unsterblichkeitsidee als notwendige Postulate abzuleiten, weist Schleiermacher als unzureichend nach. Mit der Destruktion dieser Deduktion entzieht Schleiermacher religiösen Aussagen grundsätzlich den Status allgemeingültiger Aussagen, sondern weist sie der Klasse kontingenter Aussagen zu. Für Schleiermacher hat das Scheitern des Kantischen Begründungsversuchs prinzipielle Bedeutung. Er moniert nicht einen Einzelfehler in der Kantischen Argumentation, im Kantischen Verfahren, sondern er stellt diese Deduktion des moralischen Glaubens grundsätzlich als unzulänglich heraus. Mit dem Kantischen Scheitern sieht er grundsätzlich die kritische Schranke vor
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jeder Konzeption der rationalen Theologie aufgerichtet: Religiöse Wahrheiten gehören nicht in die Klasse konstitutiv-allgemeiner Selbstbewußtseinsakte. Zu diesem Ergebnis scheint eine Überlegung in Spannung zu stehen, die Schleiermacher an die Idee der transzendentalen Freiheit anknüpft und die auf den Erweis der Denkbarkeit des Gottesbegriffs hinausläuft. Schleiermacher entwickelt im Anschluß an Kant die transzendentale Idee der Freiheit als das Vermögen, eine Reihe von selbst anzufangen.60 Diese moralische Idee ist unabhängig von aller religiösen Begründung da. Sie ist rational darstellbar und entfaltbar. Aber sie ist so lange ein leergelassener Begriff, als kein ihr gemäßer Gegenstand aufgezeigt werden kann. 61 Der Mensch scheidet als angemessener Gegenstand dieses Begriffs aus; er kann die Idee der transzendentalen Freiheit nicht realisieren. „Der Mensch war deswegen unschiklich das Subjekt dieser Freiheit zu seyn, weil es 1) mehrere Individuen dieser Art gab deren Handlungen in Beziehung auf einander etwas sind was geschieht, und weil sie im Menschen geschehn auch diese Freiheit von sich prädiciren lassen müßten auf der ändern Seite aber wegen des gänzlichen Mangels einer Reihe ganz außerhalb des Gebiets der Freiheit liegen 2) weil es innere Handlungen eines jeden solchen Individui auf sich selbst gab mit denen es eben diese Bewandniß hatte."62 Genau hier tritt der Gottesbegriff ein. Er erfüllt die beiden Bedingungen, die an einen der Idee schicklichen Gegenstand zu stellen sind, nämlich daß erstens der Begriff dieses Gegenstands nur ein einziges Individuum zuläßt und daß zweitens bei diesem Individuum keine Handlung denkbar ist, die außerhalb des Freiheitsbereichs fällt (die also keinen Reihen-, sondern nur Tatsachen- und Geschehenscharakter hätte). Sei nun der Gottesbegriff als real erkannt oder sei er bloß hypothetisch gesetzt, sicher ist, daß er möglich ist und daß er die beiden Bedingungen erfüllt. Er allein kann der angemessene Gegenstand dieser Idee sein; bei ihm unterläge die Freiheit auch nicht dem Scheinkonflikt begrenzter bzw. sich gegenseitig begrenzender Reihen63, weil die von ihm angefangene Reihe und das diese Reihe bestimmende Gesetz unendlich sind.
60
61 62 63
Vgl. KGA I/l, 335, 15-25 Vgl. KGA 1/1,344, 14-18 KGA I/l, 344, 23-30 Vgl. KGA I/l, 342, 22-343, 24
3) Die Individualisierung der Religion („Wissen, Glauben und Meinen" 1793; „Über die Freiheit" 1790-1792; „Über den Wert des Lebens" 1792/93) Gottesidee und Unsterblichkeitsidee sind für Schleiermacher mit der Destruktion der rationalen Theologie nicht erledigt und dem Vergessen anheim gegeben. Sie sind ja mit der Glückseligkeitsidee wesentlich verknüpft und dadurch als anthropologische Grunddaten ausgewiesen. Als solche sind sie indirekt aber auch für die Ethik wichtig. Nur gehören sie nicht mehr zu den Konstituentien der Sittlichkeit, sondern das sittliche Interesse ist auf ihre Unterstützungsleistung gerichtet. Diesen Wandel der ethischen Bedeutung versucht Schleiermacher durch eine Zuordnung und Entfaltung der Religion im Rahmen der Individualitätsidee zu begreifen. Schleiermachers kritische Theologie zielt auf eine radikale Individualisierung der Religion. Etwas verdeckt durch Kantische Terminologie und Problemstellung kann das Briefdokument „Wissen, Glauben und Meinen" als Ausarbeitung zu dieser Näherbestimmung der Religion gelesen werden.64 Die Sachfrage 64
In einem undatierten Brief erläutert Schleiermacher unter Bezugnahme auf Kant seine Auffassung der Religion. „Wissen, Glauben und Meinen" hat der Editor Johannes Bauer diese Briefabhandlung genannt, die sich im nachgelassenen Briefwechsel Schleiermachers mit den Grafen Dohna fand. (Vgl. Ungedruckte Predigten Schleiermachers aus den Jahren 1820-1828, ed. J. Bauer, Leipzig 1909, S. 100-104) Sie stammt wohl aus Schleiermachers Schlobittener Hauslehrerzeit und dürfte an den in Königsberg studierenden Grafen Wilhelm zu Dohna gerichtet sein. Für die Datierung gibt es nur wenige und unscharfe Anhaltspunkte. Schleiermacher entwickelt die definitorischen Abgrenzungen von Wissen, Glauben und Meinen im engen Anschluß an Kants „Critik der reinen Vernunft" bzw. „Critik der Urtheilskraft". Bei seiner Erörterung der Frage: „was ist in der Religion Wissen? was ist in ihr Glauben? was ist in ihr bloßes Meinen?" (101) setzt er die von ihm in seinen ethischen Frühschriften vollzogene Destruktion der Kantischen Postulatenlehre und der Kantischen ethischen Theologie voraus. Sein Überlegungsgang hat thematische Berührungen mit Kants Religionsschrift „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft", die nach einer Teilpublikation 1792 zur Ostermesse 1793 erschien. Da es keine Hinweise auf eine literarische Abhängigkeit gibt, dürften Dohnas Anfragen die Schlei-
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und die Blickrichtung sind bei diesem Überlegungsgang anders als bei den ethischen Frühschriften: hier steht nicht die konsequente Durchbildung der Ethik und ihre Befreiung von theologischen Eintragungen im Mittelpunkt, sondern die Klärung des Wahrheitsstatus religiöser Aussagen. Schleiermachers Überlegungen zielen also auf eine Erklärung, die die faktisch immer schon vorhandenen religiösen Aussagen ins System der kritischen Vernunft zu integrieren und intern zu sichten erlaubt. Schleiermacher begreift die religiösen Aussagen, die alle ausnahmslos dem Wahrheitsanspruch von Wissenssätzen nicht Genüge tun, aber die nicht alle insgesamt dem Bereich des Meinens überantwortet werden können65, in Anlehnung an Kant66 als Glaubensäußerungen. „Glauben ist ein Fürwahrhalten aus subjektiven Gründen, da ich Existenz oder Eigenschaften eines Gegenstandes außer mir annehme nicht weil ich sie durch sich selbst oder mittelbar durch andere Objekte erkenne, sondern weil etwas in mir selbst ist oder seyn soll welches mit jenem in einem nothwendigen Verhältniß steht. Der Gegenstand oder die Idee dieses subjektiven Grundes ist nun das Interesse auf welchem der Glaube beruht."67 Religiöse Aussagen sind allerdings Darstellungen eines qualifizierten Glaubens. Schleiermacher verankert die Religion im unmittelbaren Selbstbewußtsein. Indem er hier transzendentale Erörterungen voraussetzt, knüpft er sie an das Prinzip der Subjektivität an. „Es giebt ein noch höheres Fürwahrhalten aus subjektiven Gründen, welches sich aber deswegen nicht auf ein äußeres Objekt, sondern auf das fürwahrhaltende Subjekt selbst bezieht. Dies ist das unmittelbare Selbstbewußtsein. Auf diesem muß immer das Interesse, welches den Grund des Glaubens enthält beruhn, und da dieses Selbstbewußtseyn doppelter Art ist, so wird es auch der Grund des Glaubens und also der Glaube selbst seyn. Ich bin mir entweder selbstbewußt meiner menschlichen Natur und dessen, was unmittelbar dazu gehört, und ein Glaube dessen Interesse hierin gegründet ist, ist ein notwendiger Glaube, den ich von jedem Menschen fodern kann; oder ich bin mir bewußt gewisser Modifikationen und eines gewissen ZuStandes der menschlichen Natur in meinem Individuo, und ein Glaube dessen Interesse sich
65 66 67
ermacherschen Äußerungen evoziert haben. Eine Eingrenzung des Entstehungszeitraums, für den sich 1792 als terminus ante quern non nahelegt, ist kaum möglich. Der enge terminologische Anschluß an Kant spricht für eine frühe Datierung. Dies Briefdokument ist jetzt abgedruckt in KGA V/l, 424-428 (Brief Nr. 326). Vgl. KGA V/l, 425f (Brief Nr. 326, 28-74); Ungedruckte Predigten 101 f Vgl. Kant: KrV B 848-859; Ak 3, 531, 26-538, 16 KGA V/l, 424 (Brief Nr. 326, 8-13); Ungedruckte Predigten 100
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bloß hierauf bezieht ist auch nur ein subjektiver Glaube im engern Sinn des Wortes."68 Schleiermacher ermäßigt im Gegensatz zu Kant die transzendentale Modalbestimmung so, daß die Religion keinen konstitutiven Charakter für die vernünftig-allgemeine Subjektivität hat, daß sie mithin kein notwendiger Glaube ist. Vielmehr ordnet Schleiermacher die Religion der Individualitätsidee zu. Die Religion ist subjektiver Glaube, d. h. Auslegung der geschichtlich-konkreten Kontingenz des individuellen Selbstbewußtseins. Und für dieses individuelle Selbstbewußtsein ist sowohl die Gottesidee als auch die Unsterblichkeitsidee sinnvoll. „Mir scheint aller Grund zum Glauben an die Religion in dem Bedürfniß zu liegen dem bei uns von innen so sehr angefochtnen Sittengesez eine äußere Stüze zu verschaffen"69. Die Gottesidee macht, indem sie die Wirklichkeit eines allein praktisch-vernünftig bestimmten Wesens aussagt, die Möglichkeit einer solchen Bestimmung des menschlichen Begehrungsvermögens vorstellbar und unterstützt damit die praktische Vernunft im dauernden Widerstreit mit den natürlichen Trieben. In der Gottesidee wird also die allgemeine notwendige Gesetzesidee der praktischen Vernunft gegen die individuellen, nicht notwendigen Widersprüche der sinnlichen Triebe autorisiert. Die Unsterblichkeitsidee sorgt angesichts der unzureichenden individuellen Realisierung des praktischen Vernunftgesetzes dafür, durch eine fortgesetzte Existenz den sittlichen Handlungsraum ins Unendliche auszudehnen und damit „zugleich den Widerspruch zwischen einem aller Zeitbestimmung widersprechenden Gesez und seiner Anwendung auf ein durch Zeit begränztes Daseyn"70 zu heben. Die Einflüsterungen des sinnlichen Bewußtseins, das seine natürliche Trägheit durch den Mangel an sittlicher Kraft bestätigt sieht, verlieren so ihr Gewicht. Schleiermacher akzeptiert nur diese funktional-instrumentale Begründung des subjektiven Glaubens, der mit diesen beiden religiösen Ideen eine wichtige Unterstützung für die Sittlichkeit leistet. Er lehnt die beiden anderen Begründungen, nämlich „daß es 1. kein Sittengesez geben könne, wenn es nicht einen Gesezgeber außer uns gäbe, und 2. keine Verbindlichkeit desselben ohne Belohnungen und Strafen"71, ausdrücklich ab, weil sie der systematischen Durchdringung des sittlichen Gefühls und der sittlichen Ideen, auf die sie rekurrieren, im Licht der kritischen Vernunft 68 69 70 71
KGA KGA KGA KGA
V/l, 424 (Brief V/l, 426 (Brief V/l, 427 (Brief V/l, 427 (Brief
Nr. Nr. Nr. Nr.
326, 14-27); Ungedruckte Predigten 100 f 326, 89-91); Ungedruckte Predigten 102 326, 112-114); Ungedruckte Predigten 103 326, 115-118); Ungedruckte Predigten 103
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nicht standhalten. Schleiermacher attestiert diesen beiden Begründungen eine geringere Reinheit und bemängelt damit die Aufnahme vernunftfremder Motive, die in ihnen wirksam sind. Die deutliche Entwicklung ihres Gehalts kann nur zu ihrer Verwerfung als religiöser Gründe führen. Schleiermacher stellt Vernunftreligion und Offenbarungsreligion gegenüber. „Wenn ich nun in meiner praktischen Vernunft Data genug finde jene Ideen auszuführen, so daß sie dem Zwek entsprechen, um dessentwillen ich sie annehme, so bleibe ich bei der Religion der reinen Vernunft stehn. Dabei findet ein sehr ehrerbietiges Urtheil über solche positive Religionen statt, welche der Moralität gemäß sind; ja auch eine gewiße Bestimmung, die ihnen gegeben wird; aber das geht verloren, daß ich eine derselben als unmittelbare übernatürliche Offenbarung annehme."72 Die Vernunftreligion bearbeitet die Ideen der praktischen Vernunft, sie ist in ihrem Ideengehalt auf Gottesidee und Unsterblichkeitsidee beschränkt, sie ist ganz dem praktischen Interesse verpflichtet, sie muß diese beiden Ideen deshalb auch so mit den Materialien der praktischen Vernunft entwickeln, daß der intendierte Unterstützungseffekt erreicht wird. Dieser Umriß der reinen Vernunftreligion bleibt sehr vage. Schleiermacher steckt nur das Gebiet ab und nennt das verpflichtende Ziel. Welche konkrete Gestalt diese Religion haben kann, bleibt im Dunkeln. Schleiermacher bezieht auch die Offenbarungsreligion, die selbstverständlich ebenfalls nur den Status eines subjektiven, individuellen Glaubens haben kann, streng auf die Sittlichkeit. Dadurch weist er von vorne herein alle willkürlich-irrationalen Deutungen und Inhalte ab. Die Möglichkeit einer Offenbarungsreligion verneint er keineswegs. Zu ihrer Annahme sind allerdings Bewußtseinskonstellationen erforderlich, die über das reine praktische Interesse hinausgehen. Schleiermacher führt nur zwei Motive für die Annahme einer geoffenbarten Religion an: „ich muß nämlich in meinem Bewußtseyn gelehrt werden, 1. daß ich für mich nicht im Stande sei das Sittengesez richtig zu erkennen, 2. daß ich für mich nicht im Stande sei einen solchen fortgesezten Zustand zu erlangen wie er zur Vermehrung meiner Sittlichkeit gehört, indem entweder ich nicht fähig bin ihn anzunehmen, oder das höchste Wesen welches ich angenommen nicht fähig ihn mir zu geben."73 Schleiermacher hält nur das erste Motiv für legitim. Das zweite führt er in seinem legitimen Teil, das zu überwindende Hindernis sei der Erkenntnismangel, auf das erste Motiv zurück: Offenbarungsreligion hat es demnach wesentlich mit der außerordentlichen Beleh72 73
KGA V/1, 427 (Brief Nr. 326, 124-130); Ungedruckte Predigten 103 KGA V/l, 427 (Brief Nr. 326, 131-138); Ungedruckte Predigten 103
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rung über das praktische Vernunftgesetz zu tun. Damit ist die Offenbarungsreligion so etwas wie vernünftig wünschenswerte Erklärung der Faktizität und Kontigenz des Auftretens geschichtlich konkreter praktischer Vernunft. Alle anderen Motive für Offenbarungsreligion, die sich auf die verschiedensten menschlichen Gebrechen beziehen und diesen abhelfen wollen, stehen mit dem praktischen Interesse in keinem notwendigen Zusammenhang und sind mit den daraus fließenden Lehren (z. B. „Opfer, stellvertretende Versöhnung"74) als Irrtümer abzutun oder dem Bereich des religiösen Meinens zuzuordnen.75 Die Individualisierung der Religion, die sich für Schleiermacher aus ihrer Anthropologisierung, d. h. ihrer Verknüpfung mit der Glückseligkeitsidee und ihrer Beschränkung auf die Unterstützung des sittlichen Interesses ergibt, erfährt ihre Bestätigung in Schleiermachers Behandlung des Theodizeeproblems. Schleiermacher entschlüsselt die Theodizeefrage nämlich zum einen rational als Artikulation kollidierender sittlicher und religiöser Einstellungen, als Schnittpunkt moralischer Begriffe und Postulate von unterschiedlicher Reichweite, als Bruchstelle sich widersprechender Deutungssysteme. Er behandelt die Theodizeefrage zum anderen phänomenal als die markante Bezeichnung einer Verwerfung in der sittlichen Lebenswelt, die aus der Zuordnung der anthropologischen Idee der Glückseligkeit zu den Anforderungen und Erfahrungen der vernünftigen Sittlichkeit resultiert. Wie der Zusammenhang von Tugend und Glückseligkeit gedacht werden und vor der Gerechtigkeitsforderung Bestand haben kann, das wird traditionell in der Gottesidee thematisiert. Deshalb ist die Gottesidee ein wichtiger Gegenstand, ein unverzichtbares Medium im Widerstreit der ethischen Konzeptionen. Verschiedene Beobachtungen, Postulate und sich daraus ergebende Deutungen der Beobachtungen bilden ein unentwirrbares Knäuel. Dieses Knäuel nun versucht Schleiermacher in seiner Abhandlung „Über die Freiheit" zu ordnen. Kann Gott gerecht, weise und gut sein, wenn die Erklärungsweise des deterministischen Lebenssystems 74 75
KGA V/l, 428 (Brief Nr. 326, 150); Ungedruckte Predigten 104 Vgl. dazu: „Meinen endlich kann sowol ein objektives als ein subjektives Fürwahrhalten seyn aber immer mit dem Bervußtseyn der Unzulänglichkeit der Gründe begleitet; im ersten Fall wenn die objektiven Gründe nicht hinreichen ein Erkenntniß welches sich als solches erweisen und mittheilen läßt zu begründen; im lezten, wenn das angenommene nicht in einem erweislich notwendigen Verhältniß mit dem Interesse steht, worauf ich es gründe." (KGA V/l, 425 (Brief Nr. 326, 28-34); Ungedruckte Predigten 101) Diesen Bereich religiösen Meinens in seiner Abgrenzung gegen den des Glaubens meint Schleiermacher aus seinen Grundsätzen entwickeln zu können, unterläßt aber diese Ausführungen.
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stimmt? Gott als Schöpfer und Regierer der sittlich-vernünftigen Welt, wie ist das zu verstehen? So, wie der ethische Indifferentist es meint, daß Gott die Tugend mit Glückseligkeit belohnt und das Laster straft? Oder so, wie der Indifferentist dem ethischen Deterministen unterstellt, daß Gott in einem willkürlichen Akt 76 jedem Menschen Tugend und Glückseligkeit von Anbeginn an zugemessen hat und damit den Leistungscharakter der Tugend aufgehoben hat? Wäre das zweite der Fall, so wäre damit aber zugleich die Ungerechtigkeit Gottes behauptet, „denn ursprüngliche Gleichheit muß doch immer der lezte Maaßstab über die Rechtmäßigkeit deßen seyn was an Menschen geschieht"77. Schleiermachers Erörterung der Theodizeefrage ist dadurch geprägt, daß er jeweils widersprechende polare Deutungen zu denselben ethischen Behauptungen miteinander konstrastiert und dadurch die Erklärungsleistung, Eigentümlichkeit und Konsistenz der beiden Deutungssysteme Indifferentismus und Determinismus gerade an ihrem gemeinsamen Fundus vorführt. Welches sind die Sachverhalte in der sittlichen Welt, die eine unterschiedliche Deutung erfahren? 1) Es gibt verschiedene Grade der Tugendübung bei den verschiedenen Menschen. Wie ist das zu deuten? Ist die Tugend das Verdienst des Einzelnen, das zu Bewunderung nötigt und dem die mit der Tugend verbundene Glückseligkeit des Rechttuns und Rechtwollens legitim zukommt? Oder ist die Tugend das Resultat der Stelle, die jeder Mensch im göttlichen Weltplan einnimmt, ein Produkt der Umstände und Verhältnisse, so daß der Tugendhaftere nicht bewundert, sondern wegen der willkürlichen Bevorzugung durch die göttliche Weltregierung zu Recht beneidet werden kann?78 76
77 78
Vgl. dazu: „Laßen Sie uns auf der Charte der Welt jede Stelle für eine Menschenseele — oder für jeden vernünftigen Geist, wenn sie alle diesem Gesez unterworfen sind mit einer Nummer bezeichnen. Laßen Sie dann einen blinden Knaben die unbeschriebnen Papiere die sehr treffend die Menschenseelen vor allen Zuständen darstellen ziehen und Sie haben die Art wie die höchste Weisheit mit ihren vernünftigen Geschöpfen verfährt. Jeder nehme nun seine Nummer ein und in dem Augenblik da er durch seine Geburt ihren Besiz antritt macht er sich anheischig die Grenzen seiner sittlichen Vollkommenheit nicht zu überschreiten die ihm in seinem eignen Besiz vorgezeichnet sind und auch nicht dieseits derselben zurükbleiben. Er muß wol! Die Stellen die da waren mußten alle ausgefüllt werden; gleichviel durch wen für den Schöpfer; aber auch für mich?" (KGA I/l, 272, 22-34) KGA I/l, 273, 26-28 Vgl. dazu: „An der Tugend hatten wir doch bisher noch ein Gut, das wir genießen konnten ohne daß es einem ändern in dem Grade abging in dem wir uns seiner erfreuten, auch diesen Vorzug haben Sie ihr genommen. Und was für ein moralisches Reich Gottes
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2) Es gibt eine sittliche Entwicklung des Einzelnen. Ist diese Entwicklung, d. h. die Zunahme bzw. Abnahme des mit der Tugend verbundenen wahren Glücks von jedem Einzelnen selbst allein abhängig?79 Oder ist Gott selbst „der eigentlichste Urheber meiner Fortschritte sowohl als meines Zurükbleibens in der Tugend?"80 Wird dann aber nicht die ungleiche Verteilung des Tugendglücks und die Verantwortung für Tugend und Laster Gott selbst angelastet? 3) Es gibt eine Theodizee. Liegt die Theodizee in der distributiven Gerechtigkeit Gottes (ewige Belohnung der Tugend und Verdammung des Lasters)? Der Ewigkeitsgedanke sorgt hier für die adäquate Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit und löst die für das jetzige Leben festzustellende Disharmonie befriedigend auf. Oder besteht die Theodizee „in einem einzigen Schluß worin die Weisheit und Güte Gottes den Obersaz und seine Allmacht und Vorsehung den Untersaz abgibt"81? Der Ewigkeitsgedanke wird hier durch die Vorstellung von der Wiedereinbringung aller näherbestimmt.82 4) Es gibt eine göttliche Weltregierung. Ist dies eine Makrotheorie, die keine Aussage über den Einzelfall enthält, sondern nur die Rahmengesetze festlegt? Oder ist dies eine Mikrotheorie, die gerade die Näherbestimmung für alle Einzelpersonen und alle ihre Handlungen im Blick hat?
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geben Sie uns nicht statt dessen? So wie der gesamte Inhalt der ganzen Zeitreihe im voraus bestirnt war in dem Verstand und dem Willen Gottes, so auch in demselben der irdischen Lauf eines jeden Menschen mit seinen allerkleinsten Begebenheiten aber mit diesem Lauf ist nun zugleich sein ganzer sittlicher Gang mit allen guten und bösen Handlungen, allen Fortschritten und Rükgängen gegeben." (KGA I/l, 272, 14—22) „In der größern Vollkommenheit des einen liegt die Ursach meiner Unvollkommenheit, und in der größern Unvollkommenheit des ändern die Ursach des Grades meiner Vollkommenheit. Daß alle bessern an einem bessern Plaz stehn, daher komt es daß ich mit meinem schlechten vorlieb nehmen muß; daß andre da sind die schlechteren auszufüllen überhebt mich des traurigen Schiksals, und ich sollte jene nicht beneiden und mich über das Unglük dieser nicht freun?" (KGA I/l, 272, 34-273, 3) Vgl. dazu: „Sonst gab es mir den sichersten Trost daß wahres Glük und wahres Vergnügen für diese Zeit und für die folgende nur allein mit der Tugend und mit ihr wesentlich verbunden sei; das löste mir alle Räthsel der Welt und es blieb mir keine Ungerechtigkeit in ihrer Regierung übrig: was der Zufall wie man es nennt gibt und nimmt war nur äußerer wechselnder Schein der bald diesem bald jenem Fleken einen falschen trügenden Schimmer mittheilt; seines wahren Glüks und Unglüks war der Mensch so selbst Herr und Meister". (KGA I/l, 274, 7-14) KGA I/l, 273, 4-6 KGA 1/1,275, 17 f Vgl. KGA I/l, 276, 24-28
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5) Es gibt ein Verhältnis zwischen Tugend und Glückseligkeit. Besteht hier ein Harmonisierungsbedürfnis, das durch entsprechende Annahmen über die Zukunft gestillt werden muß? Oder kann dieses Verhältnis vergleichgültigt werden, weil einerseits die Tugend keinen überwiegenden Einfluß auf die Glückseligkeit hat83 und weil andererseits die Glückseligkeit als Belohnung kein Motiv für die Tugend sein darf, die allein durch ihre immanente Schönheit gewinnen kann?84 6) Es gibt wegen der Vervollkommnung die Unsterblichkeit. Ist sie individuell zu denken, so daß die unterschiedlichen Vollkommenheitsgrade gegeneinander gemessen werden können und Anlaß zu Neid und Mißgunst in Ewigkeit geben? Oder ist sie sozial-generell zu denken, so daß das Erreichen des allen gemeinsamen Ziels und die Unterschiedlichkeit der Wege dahin Anlaß zu Freude über die Vielfalt des Lebens und die göttliche Weisheit geben?85 7) Gott kann man keine Parteilichkeit, Willkür, Ungerechtigkeit zustellen. Muß deshalb Gott von jedem direkten Einfluß auf die Ungleichheit der Güterverteilung und der Begabungen sowie von jedem direkten Einfluß auf das Laster freigestellt werden, und zwar so, daß die Ungleichheit als unwesentlich und vorübergehender Schein eingestuft und das Laster als in die eigene und alleinige Verantwortung des Menschen fallend aufgefaßt wird? Oder wird Gott auch mit den depravierten Welt- und Tugendzuständen zusammengedacht und zielt dann der Unsterblichkeitsglaube darauf, in der Entschränkung des Gesamtlebens eine solche heilsame Verkettung der Verhältnisse und Umstände bereitzustellen, daß eine gütige Leitung in die Vollkommenheit entsprechend der unendlichen göttlichen Liebe und Weisheit angenommen werden kann?86 8) Das Verhalten der anderen dient uns zur Belehrung. Ist diese Belehrung als anspornende Bewunderung des Tugendhafteren und hemmende Verachtung des Lasterhaften anthropologisch an der Jetzt-Zeit orientiert, wobei diese Art der moralischen Erbauung bei einer Verknüpfung mit der Gotteslehre eher für Verwirrung in der letzteren sorgen würde? Oder ist diese Belehrung theologisch am menschlichen Gesamtleben orientiert, indem sie die sittliche Entwicklung von der kannibalischen Rohheit und der bösartigen Lasterhaftigkeit „bis zu der erstaunenswürdigen Vollkom83 84
85 86
Vgl. KGA I/l, 278, 2-279, 30 Vgl. KGA I/l, 280, 12-24 Vgl. KGA I/l, 272, 1-276, 28 Vgl. KGA I/l, 281, 9-30
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menheit des weisesten Sterblichen und bis zu der Gott ähnlichen Tugend eines Christus oder eines Sokrates ausdehnt"?87 Im Determinismus und Indifferentismus wird ganz offensichtlich das Verhältnis von Gott und Mensch unterschiedlich gedacht. Beide nehmen an, daß sich Gott im praktischen Vernunftgesetz bekannt macht, daß dadurch der sittliche Trieb des Menschen angeregt wird und der Mensch zu Einheit und Wahrheit findet. Während aber beim Indifferentismus die menschliche Antwort auf die göttliche gebietende Aufforderung in jedem Moment des Lebens immer wieder völlig offen ist und die Sittlichkeit dieses Lebens gleichsam ohne geschichtliche und soziale Dimension gedacht wird, ist beim Determinismus diese Antwort durch Vergangenheit und Umstände präformiert. Im Indifferentismus wird die Gottesbeziehung des Menschen unmittelbar und individuell gedacht, im Determinismus vermittelt und generell. Für den Indifferentismus ist der einzelne Lebensakt jeweils punktuell auf Gott bezogen, der Determinismus blickt auf den Gesamtzusammenhang des Lebens (individuell und generell-sozial, diesseitig und jenseitig genommen), der durch die Gottesbeziehung geprägt und getragen ist. Die moralischen Prädikate des Gottesbegriffs lassen sich von den metaphysischen nicht trennen.88 Deshalb muß eine ethische Konzeption wie der Indifferentismus, die ihre ethischen Sätze auf bestimmte theologische Sätze stützt, ihre Hypothesen zu den moralischen Prädikaten des Gottesbegriffs so einrichten, daß auch die metaphysischen nicht desavouiert werden. Der Indifferentismus mit seiner Behauptung der Unbestimmtheit menschlicher Handlungen kommt mit der Lehre von der göttlichen Präscienz ins Gehege. Dem kann auch die Annahme eines göttlichen Vorherwissens im Wahrscheinlichkeitsmodus nicht abhelfen.89 Denn auch wenn man Gott ein anderes, nicht eingeschränktes Anschauungsvermögen zuschreibt, so können Zustandsfolgen nur durch kausale Bestimmungsverknüpfungen erkannt werden. Diese Konzeption läßt also den Gottesbegriff zerplatzen. Auch die Ausbesserungsmaßnahmen des Fatalismus und Äquilibrismus helfen da nichts. Die Streitigkeiten und internen Inkonsequenzen sowohl des Indifferentismus als auch des vorkritischen Determinismus resultierten aus der Verschränkung von Theologie und Ethik, resultierten daraus, daß be87 8B 89
KGA I/l, 281, 38-40 Vgl. KGA I/l, 318, 38-319, l Vgl. Mendelssohn: Ueber die Wahrscheinlichkeit, Gesammelte Schriften, Jubiläumsausgabe, Bd l, Stuttgart-Bad Cannstatt 1971, S. 512-514
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hauptet bzw. akzeptiert wurde, die Sittlichkeit sei in den göttlichen Geboten gegründet, die Ethik also abhängig von den moralischen Prädikaten des Gottesbegriffs, eine Leugnung göttlicher Gebote und Strafen brächte auch die Sittlichkeit zum Einsturz. Schleiermacher hält in der Nachfolge Kants die Unabhängigkeit der Sittlichkeit von der Religion für zureichend gesichert und gefestigt.90 Die phänomenologische Untersuchung der menschlichen Lebenswirklichkeit, die Schleiermacher in seiner Abhandlung „Über den Wert des Lebens" vornimmt, läßt ihn auf die Gottesidee stoßen im Zusammenhang der Gerechtigkeitsfrage, die zu ihrer Kehrseite das Theodizeeproblem hat. Werden Glückseligkeit und Übel einem weisen Weltregierer zugemessen, so will Schleiermacher diesem Regierer weder schmeicheln noch ihn als „hohen Gönner"91 behandeln. Die Weisheit des Weltregierers wird Schleiermacher keinesfalls daran hindern, die schlechten Seiten der Welt wahrzunehmen, zu benennen und zu bemängeln. Schleiermacher ist sich der parteilosen Gerechtigkeit des Schicksals gewiß: Bei allen Menschen ist die Summe des ihnen zugemessenen Lebensglücks dieselbe.92 Dieser Glaube an die Ausgewogenheit des Lebensschicksals, wenn man nur alle Elemente des Lebensglücks berücksichtige, mache alle Theodizeen überflüssig, weil gar keine Klage gegen die Gottheit wegen einer Benachteiligung der Tugendhaften bei der Verteilung der Glückseligkeit stattfinden könne. „Nie könnte in einer solchen Ausdehnung diese Wahrheit den Beifall der Menge finden; sie würden schreien, daß ein solcher Glaube die Gottheit schände, die edelsten Gefühle zur Gleichheit mit den niedrigsten Vergnügungen herabseze, und eine verstekte Vertheidigung einer thierischen Sinnlichkeit in sich enthalte."93 Schleiermacher, der den behaupteten Vorzug einzelner Charaktere, Begabungen und Glücksgüter als bloß scheinbar aufweist, stellt das sittliche und religiöse Vergnügen dem sinnlichen prinzipiell gleich, faßt das Gute 90 91 92
93
Vgl. KGA 1/1,318, 14-16 KGA 1/1,422, 18 f Vgl. dazu: „Gewiß hab ich nun alle Verschanzungen des Stolzes erstiegen, der sich ein Liebling des Schiksals zu seyn wähnt; alle seine Anmaßungen sind mir nichtig erschienen; seine Schanzen waren Täuschungen, und seine Waffen Vorurtheile; ich bin fest und sicher in der Ueberzeugung, daß so verschieden und ungleichartig auch die Bestandtheile der Glükseligkeit in verschiednen Zuständen des Menschen seyn mögen, doch keine Ungleichheit Statt finde in Absicht der höchsten Summe von Glükseligkeit, die jedem an seinem Ort zu erreichen möglich ist und der Summe von Uebeln welche ihm seine Lage nothwendig und unvermeidlich auflegt; die Gerechtigkeit des Schiksals ist mir gewiß." (KGA I/1, 458, 18-27) KGA I/l, 459, 9-13
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mit dem Angenehmen zusammen und bezieht alles in seine Rechnung ein. Gerade diese Gleichstellung verhindert ein sonst übliches Gieren nach Glückseligkeit und Klagen über Benachteiligungen der Tugendhaften. Sie macht auch die stoische Verachtung einzelner Vorzüge überflüssig, die doch das Herz durch das Gefühl allgemeiner Ungerechtigkeit vergiftet. Das sittliche Gefühl, das nach Schleiermacher die Tugend von der Glückseligkeit trennt und keine Verknüpfung im Sinne einer Belohnung zuläßt, kann die Frage, ob es einen Überschuß des Glücks über das Übel gibt, nicht beantworten. Bei einer göttlichen Weltregierung ist sich dieses sittliche Gefühl gewiß, daß das Gute das Böse überwiegt. Wie aber steht es mit der Glückseligkeit? Wird die Glückseligkeit für den eigentlichen Zweck des vernünftig ordnenden Weltregierers und für den ganzen Gegenstand der Teleologie gehalten, so muß der Überschuß des Angenehmen über das Unangenehme freilich „da seyn und die Grosse desselben wäre zugleich das Maaß, in wie fern die Gottheit ihre Absichten zu erreichen im Stande ist."94 Schleiermacher lehnt aber diese Glückseligkeitsteleologie entschieden ab. Dementsprechend kann der Gottesbegriff auch teleologisch nicht so gefaßt werden, daß Gott sich die Schaffung der Glückseligkeit zum Zweck gesetzt und als Pflicht auferlegt habe. Dadurch daß die Glückseligkeit von der Tugend völlig getrennt wird, kann ihr diese moralische und religiöse Spitzenstellung nicht mehr eingeräumt werden. Glückseligkeit ist kein Gegenstand eines göttlichen Zwecks. „Wenn sie also nur Mittel ist, wenn sie vielleicht auch das nicht einmal ist, wenn sie vielleicht nur uns als ein ganzes vereinigt erscheint, in dem Plan der Gottheit aber jeder einzelne Bestandtheil ohne Rüksicht auf diese Idee nach ganz ändern Beziehungen bestirnt würde, und das ist die Vermuthung die meinem sittlichen Gefühl am nächsten liegt, wie sollte es dann noch bestimmen wollen, daß der Begebenheiten welche einen Eindruk zur Glükseligkeit machen mehr seyn müßten, als derjenigen welche eine Verminderung derselben hervorbringen"95. Die angenehmen oder unangenehmen Eindrücke sind also für das sittliche Gefühl gleichgültig: Die Glücksgüter werden der göttlichen Weltregierung genommen und dem Zufall überstellt. Alle Klagen gegen einen ungerechten Weltregierer96 weist Schleiermacher als gegenstandslos ab. In dieser Hinsicht kann somit die ethische Abhandlung „Über den Wert des Lebens", die sich auf die 94 95 %
KGA I/l, 460, 27-29 KGA I/l, 460,31-38 Vgl. KGA I/I, 465, 23-25
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Unabhängigkeit von allen theologischen Postulaten beruft97, als gelungene Theodizee gelesen werden. Schleiermacher hat mit seiner Individualisierung der Religion sich ein bestimmtes Motivpotential erarbeitet, welches in seinen Jugend Schriften zwar nicht aktualisiert wird, welches aber zur jederzeitigen Aktualisierung bereitliegt. So wie nämlich aufgrund der Lockerung zwischen Sittlichkeit bzw. intentionalem Denken und Religion das sittliche bzw. erkennende Interesse sich jegliche Einmischung dogmatisch-religiöser Aussagen zu Recht verbitten kann, so kann das religiöse Interesse, wenn es einmal zur Formulierung hindrängt, dieselbe Selbständigkeit für sich beanspruchen. Schleiermachers Konzept läuft auf eine latente Emanzipation der Religion hinaus. Die Trennung von Sittlichkeit und Religion kann von jeder der beiden Seiten her vollzogen werden. In den Jugendschriften führt Schleiermacher nur die Selbständigkeit der Ethik unter Abwehr aller religiösen Einmischung aus. Hier dominiert eindeutig das sittliche Interesse. Dementsprechend wird die Kritik, die die Trennung zum Ergebnis hat, im Zuge ethischer Argumentationen entwickelt und durchgefüht. Aber ungewollt und unbeabsichtigt sieht sich auch die Religion, ohne daß Schleiermacher selbst es hier wahrnimmt, von ihren ethischen und metaphysischen Fesseln befreit. Die Indienstnahme der Religion durch Metaphysik und Ethik, die sich im Gewände einer funktionalen Begründung und Sicherung derselben verbirgt, wird in den Jugendschriften von Seiten der Metaphysik und Ethik her aufgelöst. Ohne daß das hier schon zum Tragen kommt, gewinnt damit aber auch die Religion eine Freiheit, die sich in einer Neukonzeption der Theologie artikulieren kann. 97
Das weite Auseinanderrücken von Religion und Sittlichkeit führt Schleiermacher dazu, daß er sich entschieden gegen alle Eintragungen und Einmischungen dogmatisch-religiöser Aussagen in ethische Untersuchungszusammenhänge verwahrt, die den ethischphänomenologischen Charakter seiner Untersuchung paralysieren würden. Er polemisiert gegen den Projektionscharakter bestimmter religiöser Lehren. Die allgemein, nicht persönlich gestellte Frage nach dem Sinn, Wert und Eigentlichen des menschlichen Lebens setze eine Idee von der Bestimmung des Menschen zu ihrer Beantwortung voraus. Diese Idee lasse sich nur durch Beobachtung gewinnen. Der Lebenswert könne erst anhand dieser Idee geprüft und bestimmt werden, nicht aber im voraus zur Formulierung dieser Idee festgesetzt werden. Hier könne sich dann die religiöse Projektion als Ausweichoperation einstellen. Diejenigen nämlich, die sich mit dem gefühlten Widerspruch zwischen Voraussetzung und Resultat nicht abfinden können, „gehn wolmeinend aus sich selbst heraus und suchen ihre Bestimmung in den Gesezen einer höchsten Intelligenz, von deren ganzem Wesen sie nur durch die vorgängige Idee von dem, was der Mensch seyn soll, einen Begrif haben können, und deren Geseze, wenn sie das Wesen selbst lieber unerforscht lassen wollten, sie auch nur aus einer Betrachtung der Zwekmässigkeit der Welt durch die Lage des Menschen darin ziehn können." (KGA I/l, 407, 3 — 9)
4) Frömmigkeit und Tugend (Jugendpredigten 1790 -1794) Schleiermachers erhaltene Jugendpredigten, die er vor dem Beginn seiner Landsberger Adjunktenzeit gehalten hat, zeichnen sich durch eine große Einheitlichkeit in Stil, Aufbau und Behandlung der Gegenstände aus. Die meisten dieser Predigten stammen aus seiner Hofmeisterzeit bei den Dohnas in Schlobitten (1790—1793); Schleiermacher hielt sie in einer der Dohnaschen Schloßkirchen zu Schlobitten, Karwinden oder Schlodien.98 Dazu kommen die Predigten, die Schleiermacher 1790 zu seinem ersten theologischen Examen" und 1794 zu seiner Ordination100 in Berlin vorgetragen hat. Während seiner Drossener Zeit 1789/90 hat Schleiermacher vermutlich überhaupt nicht101, während seiner Lehramtskandidatenzeit in Berlin 1793/94 wohl einmal102 gepredigt. Außer einer Psalmenpredigt gehen alle diese Predigten über neutestamentliche Texte, acht über Evangelientexte, sechs über Brieftexte. Bei den meisten dieser Predigten wird zunächst eine sittliche Grundsituation geschildert, werden Beobachtungen zu sittlichen Konflikten vorgestellt, werden Erfahrungen aus der Sphäre des sittlichen Lebens besprochen. Diese Schilderung wird dann ins Religiöse hinübergeführt, analoge Erfahrungen oder vertiefende Beobachtungen werden namhaft gemacht. Der dann verlesene Predigttext präzisiert den so geschürzten Problemknoten. Nach dieser Einleitung und nach der Textlesung beginnt die eigentliche Predigt mit der expliziten Problemformulierung und mit einer knappen Übersicht über den zu beschreitenden Erörterungsweg. Dieser Gang ist fast immer in zwei Schritte gegliedert, wobei im ersten Schritt zumeist das Thema in biblischer Sicht im Vordergrund steht, während im zweiten
98
99 100 101 102
Vgl. [Wedeke:] Bemerkungen auf einer Reise durch einen Theil Preussens, 2 Bde, Königsberg 1803; hier l, 64f. 99f Vgl. SW II/7, 42-53 Vgl. SW 11/7, 193-202 Vgl. KGA V/l, 162 (Brief Nr. 126, 87f); Briefe 4, 35 Vgl. SW II/7, 182-192
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Schritt die Applikation auf die aktuelle Lebenssituation der Hörer vollzogen wird. Ein erster Überblick über die überlieferten 15 Predigten belehrt über die unzweifelhafte Selbstverständlichkeit, mit der Schleiermacher Überlegungen zur Tugend, zum Guthandeln und Besserwerden in den Mittelpunkt seiner Predigten stellt. Die Frömmigkeit ordnet sich diesem Zentralthema ebenso selbstverständlich zu. Schleiermachers Predigten sind keineswegs nur sittliche Appelle, sie sind religiöse Reden mit eindeutiger Dominanz sittlicher Themen. Die sittliche Sphäre wird als das richtige Übungs- und Bewährungsfeld der Frömmigkeit gewußt. Der Erfassung und Schilderung sittlicher Phänomene gilt Schleiermachers Impetus. Hier ist er ganz präsent. Dagegen zeigt sich ein eigenartig indifferentes Verhältnis zu den Beständen traditioneller Dogmatik. Schleiermacher kann sich ihrer bedienen, ohne daß er auf ihre Reformulierung oder Kritik besonderes Gewicht legte. Diese Überlieferungsbestände werden von ihm übernommen und eingebaut, ohne daß merkliche Spuren des Aneignungsvorganges festzustellen wären. Sie werden ziemlich beliebig ausgewählt und eingebaut. Genausowenig Interesse hat für Schleiermacher die Bibelkritik. Zwar kann er zur Veranschaulichung der biblischen Lebenssituation oder auch zur Korrektur irgendwelcher Mißverständnisse durchaus sich historischer Schilderungen der biblischen Lebenswelt bedienen, so daß ihm nicht einfach ein völlig unhistorischer Umgang mit den Bibeltexten attestiert werden kann. Doch werden die Bibeltexte selbst in ihrem historischen Wahrheitsgehalt von ihm noch ganz fraglos als authentische historische Urkunden gelesen, bei denen alles das, was sie schildern, von dem sie berichten, auch genau so passiert ist. Evangelienkritik, literarkritische Probleme der neutestamentlichen Briefe, Überlieferungskritik — alles das ist Schleiermacher ganz fremd. Es ist ihm außerdem auch unwichtig. Die biblischen Texte sind für ihn religiöse Zeugnisse, die paradigmatische Situationen und Einstellungen zu diesen Situationen darstellen. Dementsprechend geht Schleiermacher ohne großen kritischen Apparat auf diese Texte ein und stellt sie ziemlich unbefangen in seine eigenen Überlegungslinien, selbst wenn er damit den Bibeltexten manchmal Gewalt antun muß. Auch wenn alle 15 Predigten jeweils einem Thema der sittlichen Sphäre verpflichtet sind und dieses Thema beschreibend, deutend und anregend erörtern, so werden doch die religiösen Aussagen und Überlegungen keineswegs ausschließlich zugunsten der Sittlichkeit funktionalisiert. Bei aller Dominanz des Sittlichen wahrt das Religiöse seine Unabhängigkeit und Selbständigkeit. Allerdings schafft sich die Frömmigkeit nicht eine eigene Lebensprovinz, die von den anderen strikt ausgegrenzt wäre, son-
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dern die Frömmigkeit realisiert sich gerade in der Sphäre der Sittlichkeit. Sie erbaut sich keine eigene Welt neben Natur und Sittlichkeit, ihr Leben geht nicht an diesen beiden Lebensgestalten vorbei, sondern sie überformt die Sittlichkeit in eigentümlicher Weise. Die Sittlichkeit wird ihr gleichsam zum Medium. Die enge Verklammerung von Frömmigkeit und Tugendübung geht nicht so zu Lasten der Frömmigkeit, daß diese nur noch die Dienerin der Tugend wäre. Die Frömmigkeit führt vielmehr der Tugendübung neue Kraftströme zu, sie erschließt ihr neue Quellen, die die Tugend besser speisen als die aus der autonomen Vernunft stammenden Motive. Die christliche Frömmigkeit gibt der Tugend auch ein eigenes Gesicht, insoweit die durch die Tradition aufbewahrten Besonderheiten der urchristlichen Lebenspraxis auf sie prägend einwirken. Weil die christliche Tugend stärker motiviert ist als die autonom-vernünftige, kann sie auch material über diese hinausgehen und die perfektible Tugendübung besser unterstützen. Wie sieht die Schleiermachersche Verknüpfung von Frömmigkeit und Tugendübung näher aus? Die an Jesus orientierte Frömmigkeit stillt zwei Grundbedürfnisse jedes Tugendliebenden. Sie befriedigt erstens den Wunsch nach einer festen und konkreten Anleitung darin, was und wie wir das Gute wollen und vollbringen können. Diese Befriedigung geschieht durch „ein durchgängig sicheres Vorbild im gi