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German Pages 192 Year 2008
Uta Brandes Sonja Stich Miriam Wender
Design durch Gebrauch Die alltägliche Metamorphose der Dinge
Birkhäuser Basel · Boston · Berlin
INHALT
Inhalt Vorwort BIRD
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Elastisches Design in der Forschung Design als Forschungsparadigma Design als transitorische Disziplin Die Dinge im Design Die Herstellung der Dinge durch den Gebrauch Forschungsrelevanz Streifzüge
5 7 8 9 10 13 14
Disziplinäre Annäherung Gebrauch und Umnutzung in der Literatur Designgeschichtlicher Abriss unter der Perspektive des Nutzens Kulturgeschichte des Dinggebrauchs Design-Publikationen Gebrauch und Nutzen in den Gesellschaftswissenschaften
17 19 19 20 23 25
Verwandte Findungsstrategien Kunst und Literatur Architektur Naturwissenschaften
27 29 30 31
Intentionales Umgestalten Design als Manifest Mangelgesellschaften DDR: Selbermachen mit Anleitung Nachkriegszeit: Stahlhelme zu Nachttöpfen «Dritte Welt»: Recycling von Wohlstandsmüll Ökologisches Design Bewusster Produktverzicht Kommerzielle Verwertung Heimwerker und Hobbybastler Aneignungsstrategien
33 35 41 42 43 44 45 48 49 49 50
Nicht Intentionales Design – empirisch gesehen Widersprüche im Objekt zwischen Designanspruch und Gebrauch Form und Funktion als Eigenarten der Benutzung Der Umgang mit den Bedeutungen Alltagsgebrauch – Designanspruch Privatraum Wohnung Öffentlicher Raum Neue Medien Personal Computer NID in der Computer-Software am Beispiel des Internet
53 55 55 56 58 60 74 89 89 96
Die Subjekte: Umnutzungsobjekte und -motive Methodisches Vorgehen Das Sample Räume Genderspezifische Umnutzungen innerhalb der Räume Umnutzungsobjekte Umnutzungen im Geschlechtervergleich Eigene NIDs und Lieblings-NIDs Umnutzungsmotive Präferenzen
103 105 106 108 108 112 112 115 115 115
INHALT
Umnutzungsmotive im Geschlechtervergleich Exemplarische Zielgruppendifferenzierung: Nationalität, Beruf, Alter Beispiel Nationalität Beispiel Beruf Beispiel Altersgruppen
116 117 117 118 118
Die Objekte Die einfachen Dinge Billig- und Wegwerfprodukte Multifunktionale Produkte Mediale Produkte Radio und Fernsehen Das Auto Architekturelemente: Wand, Boden, Treppe Die Wand: Informationsträger und Stütze Der Boden: Sitzalternative innen und außen Die Treppe: Sitz-, Spiel- und Sportplatz
121 124 126 132 136 137 138 142 142 144 144
Der Findungsprozess Produkteigenschaften: Form, Material, Wert und Verfügbarkeit Zeitfaktor: Lösungsdauer und dauerhafte Umnutzung Reversibilität: Rückkehrmöglichkeit in den Ursprungszustand Ein Beispiel: Regenschutz ohne Regenschirm Die Persönlichkeit: Pro- oder Contra-Typen
147 149 150 151 152 154
Nicht Intentionales Design im öffentlichen Raum Geplante Umwelt Urbane Passagiere Die Dinge im öffentlichen Raum Privatobjekte und Allgemeingut Umnutzungen: Sitzen, Informieren, Objektsicherung Sitzen Informieren Fahrräder anschließen Konstruktive und destruktive Umnutzung Aneignung Selbstbestimmtheit Public man – private woman?
155 157 158 158 159 160 160 164 166 166 168 168 170
Design zwischen Subjekt und Objekt Das Schöne und das Gute nach Platon Von der Idee zum Objekt: Design Vom Objekt zu der Idee: Nicht Intentionales Design
175 177 178 180
Design als angewandte Philosophie Die Bedeutung der Begriffe Autorität des Design – Autonomie im Gebrauch NID als Grundlage offener Gestaltung
181 183 184 184
Literaturverzeichnis Die Autorinnen Bildnachweise
186 190 191
VORWORT BIRD
Transit und Erfahrung als Perspektiven von Designforschung Auch in der Designforschung gilt inzwischen, was für andere Forschungsbereiche längst selbstverständlich ist: «the proof of the pudding is in the eating». Denn es reicht nicht mehr, sich bloß in allgemeinen oder auch spezifischen Metadiskussionen über Methoden oder gar über eine grundsätzliche Berechtigung von Designforschung zu ergehen. So wichtig nämlich irgendwann auch solche Diskussionen sein mögen, so sehr braucht es inzwischen die Publikation substanzieller Ergebnisse aus der Designforschung. Dass solche Ergebnisse und entsprechende Studien längst existieren und dass diese gewissermaßen en passant auch belegen, wie viel Eigenart und Radikalität Designforschung derweil entwickelt hat, beweist die hier nun publizierte Untersuchung mitsamt ihren theoretischen Reflexionen. Auffallend ist dabei insbesondere, dass hier durchaus diverse Forschungsmethoden der Sozialwissenschaften oder auch der Kulturwissenschaften genutzt und miteinander verwoben und dabei aus diesen Methoden heraus (übrigens: ohne diese ständig zu benennen) neue Dimensionen von Forschung entwickelt werden. Vor allem aber greift diese Studie eben jene Qualität von Design für die Forschung auf, transitorisch situative Kontexte zu analysieren, das Ineinander und das Dazwischen von Theorie und Praktik zu ergründen und die Geschichte der Dinge an und für sich und im Gebrauch als Kompetenz und als Qualität ernst zu nehmen. Das macht, dass diese Studie eine systematische Analyse des Verhältnisses von Entwurf und empirischem Gebrauch begründet und dabei Forschungstechniken und -möglichkeiten ebenso untersucht wie die Dimensionen von Entwurf im Rahmen von Alltagskultur. – Und noch etwas wird hier kenntlich: Verzichtet nämlich wird in dieser Studie auf die sonst allgemein verbreitete Annahme oder Unterstellung, man müsse und könne als Ergebnisse etwas vorlegen, was man im tradierten Sinn «Präzision» nennt. Stattdessen erörtert und erläutert diese Forschungsarbeit – quasi nebenbei – auch die Qualität von Unschärfe als essenzielles Mittel von Erkenntnis und von Designforschung. Wobei übrigens auch die Form der Darstellung nicht nur vermittelt, vielmehr Reflexion und Erkenntnis selber stiftet und erweitert. Nun: All dies und noch viel mehr bietet dieses so gelungene Beispiel von Designforschung in seinen Erwägungen, Erörterungen und Ergebnissen.
Board of International Research in Design, BIRD
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Elastisches Design in der Forschung
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ELASTISCHES DESIGN IN DER FORSCHUNG
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ELASTISCHES DESIGN IN DER FORSCHUNG
Design als Forschungsparadigma Dass im Design zum Teil heftige Definitions- und Bewertungskämpfe um theoretische und investigative Zugänge ausgetragen werden, hat noch keine sehr lange Tradition. Das Konzept einer Designwissenschaft wurde in der Etablierung des Design zu einem eigenständigen Fachgebiet, wenn überhaupt, bestenfalls zugunsten technisch-ingenieurwissenschaftlichen Wissens handhabbar gemacht, kulturgeschichtlich erklärt oder funktionalistisch ideologisiert. In vielen Fällen jedoch wurden (und werden teilweise noch) die Wissenschaften als ein der Gestaltung nicht Zugeschriebenes und schon gar nicht ihr Inhärentes verstanden. Design war, insbesondere in der deutschen Gestaltungstradition, «Entwurf» (ein Wort, das übrigens schwer in andere Sprachen zu übersetzen ist) und damit überwiegend praktisch gebunden. Auch wenn jeder Entwurf seine «Recherche» braucht, um zu einem realisierten Produkt, Zeichen oder zu einer Dienstleistung zu reifen, ist dies doch nicht als wissenschaftliche Untersuchung verstanden worden – und war ja auch anderen Herangehensweisen als denen der historisch tradierten wissenschaftlichen Forschungen verpflichtet. Kaum ein anderes an Hochschulen verankertes Fach sieht sich bezüglich seines Potenzials an Forschung mit einem so deutlichen Zweifel konfrontiert, ob es denn tatsächlich wissenschaftlich sein könnte – und diese Skepsis artikuliert sich nicht nur seitens «anerkannter» Wissenschaft und Forschung, sondern wird von manchen Designtätigen und -lehrenden reproduziert. Ein beliebter Begriff, der eigenen Disziplin Kompetenz in Sachen Wissenschaft und Forschung abzusprechen, ist der eilfertig-subalterne Verweis auf eine ominöse «Augenhöhe» mit den anderen Wissenschaften, die das Design noch nicht erreicht habe – und manchmal scheint als Unterton gleich die Vergeblichkeit eines solchen Bemühens mitzuschwingen. Eine andere, auch nicht ganz unproblematische Beurteilung der Wissenschaftlichkeit im Design bezieht sich auf Niklas Luhmanns Strategien zur Komplexitätsreduktion, um Design in diesem Kontext als das Modell für Komplexitätsreduktion anzubieten: «Komplexitätsreduktion ist – Design. Design besteht aus Selektionsmustern [...] Von Vereinfachung unterscheidet sich Design dadurch, dass es nicht Möglichkeiten negiert, vernichtet, sondern fallweise auswählt, dieses Mal diese, ein anderes Mal jene Möglichkeiten.»1 Fallweise auswählen ist immerhin besser als vernichten. Es bleibt jedoch die Gefahr der Kontingenz im Sinne nicht nur des Möglichen, sondern sehr wohl auch des Zufälligen, Beliebigen. Wolfgang Jonas dagegen hat Design als «unscharfen Begriff»2 ausgemacht. Und das ist gut so. Denn Design «lebt» von seinem Dazwischen: Theorie und – mit Michel de Certeau3 – «Praktik». Und in dieser «Unschärfe» des Dazwischen liegt ganz im Gegensatz zu den konventionellen Selbstdiskriminierungen einer platten «Augenhöhe» die Chance, die das Design vor den traditionellen Wissenschaften auszeichnet. Kurz gefasst: Die «klassischen» Wissenschaften schleppen während ihrer langen Geschichte geronnene Normen sogenannter «wissenschaftlicher Standards» als Last mit sich, während Designwissenschaft und
1
van den Boom, Holger: «Design als dritte Kultur», in: Öffnungszeiten. Papiere zur Designwissenschaft 21/2007 (FH Lübeck), S. 7.
2
Vgl. Brandes, Uta; Jonas, Wolfgang; Meyer Voggenreiter: «Zum Designforschungsbegriff in der DGTF, ein Annäherungsversuch aus 3 Richtungen», in: Design Report, H. 1/2, 2007.
3
Vgl. de Certeau, Michel: Kunst des Handelns, Berlin 1988.
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ELASTISCHES DESIGN IN DER FORSCHUNG
Designforschung mit ihrem wesentlich leichteren Gepäck der Moderne eine selbstbewusste und kritische Auseinandersetzung anzubieten haben, von der andere Bereiche sehr wohl lernen und ihren Forschungsbegriff überdenken können. Es muss als Chance des Design begriffen werden, wenn es unablässig zwischen Handlung (Praktik) auf der einen sowie Wissenschaft und Forschung auf der anderen Seite schwingt – zwischen anschaulicher Lebenswelt und traditioneller wissenschaftlicher Gedankenwelt, die sich dadurch aber auch beide verändern.
Design als transitorische Disziplin Halten wir also fest: Eine eigenständige Designtheorie und -forschung steckt noch in den Anfängen, auch wenn die Diskussionen, Schriften und Konferenzen zu dieser Frage in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen haben. Wo solche Anstrengungen unternommen werden, weichen Theorie- und Forschungsansätze sehr schnell auf andere Bereiche aus, beispielsweise auf die Ästhetik, die Kultur- und Sozialwissenschaften oder die Ökonomie, um nur einige zu nennen. Problematisch ist das insofern, als die Ergebnisse bisher überwiegend kontingente Desiderate hervorgebracht haben, Ansätze disparat bleiben und bestenfalls Versatzstücke bilden, die nicht miteinander vermittelt und aufeinander bezogen sind. Bei dem notwendigen Versuch, der Disziplin ein der entwickelten Moderne angemessenes Profil zu verleihen, das zugleich der Besonderheit des Design als eines transitorischen Bereichs zwischen Wissenschaft und «Handlung» Rechnung trägt, bleibt die Frage zu klären, ob Designtheorie und -forschung isoliert überhaupt existieren können. Womöglich, so lautet eine Hypothese, erwiese sich die Spezifik des Design gerade darin, einen Beitrag zu der Erforschung des Alltags, der Kultur, der Ökonomie insgesamt zu leisten, der das Gefüge der bestehenden Wissenschaften verändern, erweitern und qualifizieren könnte. Jene besondere Positionierung des Design als Transitorisches haben die Autorinnen in dieser Publikation als Chance begriffen, eine Reifikation des Empirischen vorzunehmen. Diesseits der Diskurse des Konstruktivismus haben sie das Empirische als eine erneute und andere Wahrnehmung im Sinne von «Erfahrungstatsachen» zum Zentrum ihrer Analyse gemacht, das unter der Präferenz metatheoretischer Methodologien aus dem Blick zu geraten drohte. Der Zugang zum Empirischen über präzise Beobachtung, Wahrnehmung und daraus geformte Thesen zur Herstellung und Verarbeitung von Gegenständen sowie zum Umgang mit ihnen mögen den Alltag neu erschließen und interpretieren lehren. «Da hilft nur Wahrnehmung als Passion, ein Körper-Denken, das als Denken gegen das Denken begonnen hat und sich nun auf die Spur all jener Effekte setzt, die durch die selbstmörderische Installation eines sitzenden Subjekts inzwischen entstanden sind.»4
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Kamper, Dietmar: «Entweder der Sinn oder die Sinne», in: Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland (Hg.): Der Sinn der Sinne, Bonn, Göttingen 1998, S. 16.
ELASTISCHES DESIGN IN DER FORSCHUNG
Die Dinge im Design Die Literatur über die Dinge – als physische Erscheinung und materiale Beschaffenheit, als Kategorie und als unabweisbarer Bezugspunkt für das Subjekt und als Gegenpol zu diesem – ist unüberschaubar vielfältig, da keine wissenschaftliche oder künstlerische Disziplin ohne die Auseinandersetzung mit den Objekten auskommt, die zugleich immer auch Bedingungen schaffen und stellen. «Ehedem hat der Mensch seinen Rhythmus den Gegenständen vorgezeichnet, heute dagegen sind es die Gegenstände in ihrer ununterbrochenen Bewegung, mit ihrem ungeordneten Erscheinen, in ihrem Drängen und Ersetzen, ohne je dauern zu können, die den Menschen ihren Rhythmus aufdrängen.»5 Es wäre daher alles andere als überraschend, wenn sich auch insbesondere das Design der Erforschung der Gegenstände widmete: gehören doch die Wahrnehmung und das Verständnis für die Gestaltung der Gegenstandswelt zu seinen originären Aufgaben. Die konjunktivische Formulierung allerdings verdeutlicht, dass es sich keineswegs so einfach verhält. Zum einen verengen die Geschichte der Gestaltung und die zum Teil erstaunlich konventionelle Designausbildung diese Disziplin immer noch weitgehend auf eine primär praxisorientierte Aktivität, die der Erlernung von technischen Fertigkeiten und der Sensibilisierung für ästhetische Formen dient. Sofern weitergehende Fragestellungen integriert werden, fokussieren diese in jüngerer Zeit insbesondere Wissenskategorien. Die Defizite in der Auseinandersetzung mit Designtheorie und -forschung werden unterstützt und verstärkt durch die Außenperspektive: die Erwartungen der Designverwerter und -anwender, insbesondere von Herstellern, des Handels sowie der Konsumentinnen und Konsumenten. Jedoch beginnen diese traditionellen Vorstellungen und Anforderungen allmählich sich aufzulösen. Und hier liegt die Chance für das Design. Es bedarf der Etablierung eines erweiterten Designbegriffs: der Ausweitung der Disziplin zu einer, die theoretische Auseinandersetzung und empirische Forschung sowie Organisations- und Vermittlungskompetenz ebenso umfasst wie die Hervorbringung des Entwurfs. Design kann und muss in die Lage versetzt werden, multidisziplinär zu agieren und der alltagskulturellen Analyse und Forschung aus der Perspektive des Gebrauchs und des Nutzens neue Impulse zu geben. Gert Selle und Jutta Boehe gehören bis heute zu den immer noch bemerkenswert wenigen, die unter der Kategorie des Gebrauchs einen interessanten Ansatz formulieren: «Zwischen den Strängen der kritischen, der funktionalistischen, der traditionalistischen, der zynischen und der nackten Designtheorien gibt es eine auffallende Gemeinsamkeit. Es ist die Negation des Gebrauchers als Subjekt. Das Defizit einer Wissenschaft oder Theorie von Gebrauch ist lange bekannt, ohne dass professionelle Mühen aufgewendet worden wären, die Lücke durch Forschungsarbeit und Anstrengungen des Denkens zu schließen. Um so beflissener springt als flinke Hilfswissenschaft die Marktanalyse ein und informiert über Kaufmotive und Konsumvorlieben.»6 Die bisher dem Gebrauch zugeordneten üblichen Funktionen könnten folgendermaßen zusammengefasst werden:
5
Baudrillard, Jean: Das System der Dinge, Frankfurt a.M., New York 1991, S. 198.
6
Selle, Gert; Boehe, Jutta: Leben mit den schönen Dingen. Anpassung und Eigensinn im Alltag des Wohnens, Hamburg 1986, S. 257.
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ELASTISCHES DESIGN IN DER FORSCHUNG
• persönlicher Ordnungsentwurf in der Sammlung der Dinge; • Aneignung als Akt der Verfügungsgewalt über sie; • Interaktionsmöglichkeiten in sozialen Zusammenhängen durch ihren Besitz; • Vergegenständlichung von Bedeutungen und Erinnerungen.
Die Herstellung der Dinge durch den Gebrauch «Non Intentional Design» oder «Nicht Intentionales Design» (NID) ist ein Begriff, der für dieses Projekt gefunden wurde und seit neuestem – wenn auch noch nicht in den allgemeinen so doch – in den wissenschaftlichen Sprachgebrauch eingegangen ist.7 Er bezeichnet die alltägliche Umgestaltung des Gestalteten. Jeder im Alltag gebrauchte Gegenstand, sofern er nicht als natürlicher vorhanden ist, wurde gestaltet und hergestellt. Für unsere Fragestellung gänzlich unerheblich sind Bestimmungen und Bewertungen ästhetischer und funktionaler Qualität, der Designhandschrift (anonyme oder personal gezeichnete Gestaltung), der Art der Herstellung, der Einsatzbereiche und -orte oder der technischen Komplexität. Präziser formuliert: Solche Erwägungen interessieren lediglich unter der Perspektive möglicher Nutzungen. «Jedes Produkt kann Assoziationen wecken, ob es bewusst gestaltet wurde oder nicht, denn es hängt allein von dem gesellschaftlichen und kulturellen sowie sozialen Zusammenhang ab, welche Assoziationen das Produkt hervorruft.»8 Daraus folgt, dass wir Gegenstände, seitdem wir sie uns aneignen, nicht nur in herkömmlichen, sondern auch in neuen Kontexten verwenden. Dieses Phänomen verweist auf ein ungemein breites Forschungsfeld, das weit in die Vergangenheit reicht – zurück bis zu den Anfängen der Dingkultur. Menschen begannen spätestens seit der Steinzeit, in der Natur vorgefundene Materialien mit dem Ziel der Verbesserung von Überlebensstrategien einzusetzen: Steine zum Feuermachen und zum Zerkleinern von für die Nahrung geeigneten harten Lebensmitteln, angespitzt als «Messer» zum Schaben, Trennen und Schneiden, Äste als Speere, Pfeile und Spieße etc. Insofern verbindet sich der Impuls zu Problemlösungen mit einer uralten Fähigkeit des Menschen, Gefundenes und Gegebenes für die eigenen Zwecke zu instrumentalisieren. Diese frühen Phasen der Menschheitsgeschichte fallen jedoch nicht in den Bereich unserer Untersuchung. Nicht Intentionales Design entsteht erst mit der und durch die Entfaltung einer Produktkultur, die sich seit der fortgeschrittenen Industrialisierung entwickelte, das heißt, seit Dinge als Waren in Serie und massenhaft hergestellt werden konnten, und in deren Verlauf sich ein eigenständiges, vom Kunsthandwerk abgetrenntes Berufsbild des Gestalters technischer Produkte herausbildete. Seither wird zunehmend deutlich, wie sehr die Produktdefinition und Produktbestimmung durch die DesignerInnen von denen der
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7
Vgl. Brandes, Uta: «Non Intentional Design», in: Erlhoff, Michael; Marshall, Tim. (Hg.): Wörterbuch Design. Begriffliche Perspektiven des Design, Basel, Boston, Berlin 2008, S. 291–293.
8
Friedländer, Uri: «Gedanken zum Thema ‹Produktsemantik›», in: VDID (Hg): Design und Identität, Düsseldorf 1991/1992, S. 55.
ELASTISCHES DESIGN IN DER FORSCHUNG
Wenn gerade kein Flaschenöffner zur Hand ist – ob auf offener Straße oder auf Partys – wird das Feuerzeug zum Flaschenöffner.
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ELASTISCHES DESIGN IN DER FORSCHUNG
NutzerInnen abweichen. «Ich behaupte: Sie [die Designer, die Verf.] wissen zuwenig über die Menschen, für die sie ihre Produkte entwerfen. Wie sie leben, was ihre wirklichen Wünsche sind und auch darüber, was sie sich keineswegs wünschen. Wie sollten sie auch, denn in ihrem Berufsleben haben sie keinen unmittelbaren Kontakt zu dem Käufer, sie können ihn nicht direkt beeinflussen. Zwischen ihnen und dem Menschen, der abwägt und kauft, stehen im schlimmsten Fall: die Entscheidungsstufen beim Hersteller, der Repräsentant des Herstellers, der Zentraleinkäufer des Großhändlers, der Zentraleinkäufer des Einzelhändlers, Schaufenster, Prospekte, Kataloge, Anzeigen, Zeitschriften und schließlich der Verkäufer.»9 Nicht Intentionales Design kann demnach auch nur in den Bereichen entstehen, in denen es gegen eine vorgegebene Intention verstößt beziehungsweise die vorgegebene in der Anwendung nicht eingelöst wird. Ein Stein zum Beispiel muss nicht neu gestaltet werden, wenn er nicht als Messer verwendet wird. Ein Messer hingegen, das nicht funktioniert – also nicht schneidet –, entzieht sich schneller seiner Daseinsberechtigung. Noch deutlicher bemerkbar macht sich dies seit der Entwicklung technisch komplexer Maschinen: Die verrostenden Maschinen in den nicht entwickelten Ländern sind stumme Zeugen dafür, was aus unseren diffizilen Produkten wird, wenn die Absicht des Design, Funktion und Bedienung dieser Apparate zu vermitteln, nicht eingelöst oder nicht verstanden wird. Eine weitere Verschärfung findet im Zeitalter der Mediatisierung und Technisierung statt, in dem der Umgang mit den Dingen abstrakter wird, immer mehr Zeit in Anspruch nimmt und sie schwerer zu durchschauen sind (Black-Box-Effekt), falsche Benutzung zu Frustration führen kann und sich zwischen unerfahrener und wissender Anwendung eine gesellschaftliche Kluft auftut. Die Kenntnis über menschliche Verhaltensformen in Bezug auf die Dinge vermittelt wichtige Erfahrungen. Während bei niederkomplexen Produkten die «falsche» Benutzung funktional sein kann oder dem Gegenstand sogar einen Mehrwert verleiht, sind die meisten High-Tech-Geräte dagegen nicht NID-tauglich. Die Neuschöpfung der Wortkonstellation «Nicht Intentionales Design» erschien uns, nach eingehender Überlegung, erst einmal als Beschreibung des zu untersuchenden Phänomens am ehesten zuzutreffen. Wobei «nicht intentional» nicht verwechselt werden darf mit «zufällig», «ohne Sinn» oder «ohne Zielsetzung» beziehungsweise «ohne Zielgerichtetheit». Sehr wohl erfolgen die Umgestaltungen aus dem Interesse, ein Problem zu lösen. Zwar kann der Wunsch nach Problemlösung unterschiedlichen Situationen und Motiven entspringen, er kann mehr oder weniger spontan, mehr oder weniger bewusst realisiert werden. Das verneinende Adjektiv «nicht intentional» ist aber, um die Semantik korrekt zu erschließen, unabdingbar auf das Subjekt verwiesen. Die Betonung des Subjekts bezeichnet die Tatsache, dass hier der Motivation nach kein Design entsteht, da der Impuls fehlt, etwas bewusst kreieren zu wollen. Nicht Intentionales Design ist nicht von Gestaltungswillen geprägt oder durchdrungen. Insofern liegen die Motive der Nutzenden, ein Ding zu anderen als den professionell implantierten Zwecken zu gebrauchen, in der Behebung eines momentanen oder kontinuierlichen Defizits. Andererseits ergibt die Analyse dieser Handlungen, wie der vorliegende Bericht demonstriert, dass der Gebrauch ein Potenzial birgt, mit dem der Begriff des
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Kremerskothen, Josef: «Wegzeichen für eine Zeit, in der die Phantasie wieder eine Chance haben wird», in: form 96, Frankfurt a.M. 1981, S. 8 ff.
ELASTISCHES DESIGN IN DER FORSCHUNG
Design eine Erweiterung und Neubestimmung erfährt, die Alltagskultur und deren Erforschung neue Dimensionen eröffnet. Nicht Intentionales Design widersetzt sich den Normen,10 gibt den scheinbar eindeutigen Dingen eine Vielfalt und Vielgestaltigkeit, impliziert Transformation, kombiniert mit kluger neuer Funktionalität. Es entsteht aus temporären Mangelsituationen, aus Bequemlichkeit, aus Spieltrieb. Es erspart Kosten und kann die Überfülle der Produktwelt reduzieren. Es ist häufig reversibel, oder das bereits verbrauchte Objekt wird einem endgültigen neuen Zweck zugeführt. NID beschreibt das, was Menschen ohne gestalterische Absicht, sozusagen unproblematisch und meist situativ, in Gang setzen, weil sie sich ein Problem vergegenwärtigen oder für sich Probleme lösen müssen oder wollen. Dabei schieben sich offenbar gedanklich Strukturen assoziativ ineinander, agieren gewissermaßen spontan, angeregt von den Rahmenbedingungen und Konstruktionen, die vorgegeben sind, und verlebendigen sich in permanenten oder gelegentlichen Regelverletzungen. Nicht Intentionales Design also untersucht die Herstellung von Funktion und Bedeutung der Dinge im und durch den Gebrauch. Es bezeichnet all jene Handhabungen, Prozesse und Umgangsweisen, in deren Verlauf Menschen durch kleinere oder größere Eingriffe ihr Lebens- und Arbeitsumfeld verändern. Die Tatsache, dass professionell und vorgeblich funktional gestaltete Produkte und Räume permanent umgestaltet, anders genutzt oder umgenutzt werden, verweist einerseits auf die mangelnde praktische und theoretische Wahrnehmung und Reflexion des Empirischen bei den Designprofessionellen, andererseits indiziert dies die gesellschaftliche Problematik der Grenzen oder Offenheit von Gestaltbarkeit überhaupt. «Nichteindeutigkeit, wenn sie nicht als Provokation aufgefasst wird, heißt, mit Blick aufs Design, Bedeutungsoffenheit der Formen. […] Designformen weisen von vornherein ein Repertoire von Bedeutungen auf.»11 Produkte und Orte, die unter Kriterien des professionellen Design und dessen Maßgabe für sinnvollen Gebrauch «zweckentfremdet», «missverstanden», «missbraucht» werden, enthalten ein großes Potenzial an Innovation und vielfältigen neuen, anderen, multifunktionalen Nutzungsmöglichkeiten. Die Analyse des Gebrauchs gestalteter Produkte ist auch deshalb so relevant, weil es die Nutzung ist, die Art des Umgangs mit den Dingen, in denen sich heute Unterschiede und kulturelle Vielfalt erweisen. Die Produkte selbst mögen zunehmend der Globalisierung anheimfallen, der Gebrauch dagegen schafft Differenz.
Forschungsrelevanz Die Metamorphose der Objekte durch ihren Gebrauch, die hier als Nicht Intentionales Design identifiziert wurde, eröffnet eine Reihe von forschungsrelevanten Fragen, aber auch Methoden, die in dieser Publikation miteinander verschmolzen wurden: Sie wollen durchaus als exemplarisch für Herangehensweisen in der Designforschung gelesen werden.
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Dazu passt, dass die Abkürzung «NID», rückwärts gelesen, «DIN» (Deutsche Industrie Norm) ergibt.
11
Scholz, Gudrun: «Wo bleibt der Designer? Über Identität und Pluralität», in: Hammer, Norbert; KutschinskiSchuster, Birgit (Hg.): Design und Identität, Düsseldorf 1991/92, S. 63.
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ELASTISCHES DESIGN IN DER FORSCHUNG
Ohne die jeweiligen methodologischen Annäherungen einzeln auszuweisen – prismatisch, hermeneutisch, beobachtend, analogisierend, fotografierend ... –, finden sie sich in den Formen der Aufbereitung des gesammelten, aufbereiteten und analysierten Materials. Wir begaben uns auf Spurensuche (Beobachtungsforschung) im ganz normalen Alltag der Menschen, wir beobachteten ihre Aktionen in öffentlichen Räumen, an Arbeitsplätzen, zu Hause, in der Freizeit; wir bauten Perspektivwechsel ein, näherten uns den Subjekten via deren Aktionen an; und umgekehrt untersuchten wir die Bedingungen der Dinge: ihre Eignung hinsichtlich des Umwandlungspotenzials, wobei wiederum erst Klugheit, Antizipation und dann die tatkräftige Handlung der Gebrauchenden die Umwandlung in Gang setzten. Wir gingen vom Kleinen, dem einzelnen Phänomen, zum Großen (gesellschaftliche Phantasie- und Kreativitätspotenziale), vom Dilettantischen in höchster Raffinesse zum professionellen Design in vorbewusster Ahnung; wir verknüpften Mikro- mit Makroanalysen; und wir banden visuell und theoretisch Interkulturalität ein; wir bestimmten, trotz qualitativer «Unschärfe», die Grenzen von NID zu aus anderen Motiven evozierten Prozessen des «Ausder-Not-eine-Tugend-Machen» oder den Umnutzungen in anderen Bereichen. Zusammengefasst: Wir haben die Normalität, gar Banalität, des ganz gemein-gewöhnlichen Alltags (im Doppelsinn der Wörter) ernst genommen, ihm (und den Menschen, die ihn leben) seine Würde zurückgegeben, indem wir seine Forschung als originäre Designforschung argumentieren. Im scheinbar Unwesentlichen liegt viel von dem, was die Wahrnehmung im und von Design ausmacht. So also offerieren wir qualitativ angelegte, auf der Designforschungs-Skala nach oben offene Zugangsweisen, die wiederum auf das Design im Entwurf und als Praktik einwirken – und, idealtypisch formuliert, diese sowie Forschung und Theorie produktiv verändern. Denn jede Fragestellung und erst recht jegliches erkenntnisleitende Interesse wirken auf den Gegenstand ein. Forschung ist ein dynamischer Prozess, der Lernprozesse hervorbringt, Erkenntnis fördert und Dinge in Bewegung setzt – wenn das denn zugelassen wird und nicht einer positivistischen Pseudo-Objektivität das ideologische Wort geredet wird. Sofern das glückt, möchten wir solche Art Designforschung, -begriff und Entwurf als elastische oder flüssige Gestaltung begriffen wissen.
Streifzüge Das vorliegende Buch wählt aus der enormen Materialfülle zum Thema Dinge und Subjekte diejenigen Publikationen heraus, die im eigentlichen Sinn für das Non-Intentional-DesignProjekt relevant sind. Kategorien wie zum Beispiel Gebrauch12, Nutzer13, partizipative Ge-
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12
«So kann ein Ding zu ganz anderen Zwecken gebraucht werden, als wofür es geplant und gestaltet wurde. Der Designer vermag den Gegenstand nur mit sehr allgemeinen Anmutungseigenschaften auszustatten; der Gebraucher nimmt ihm das Heft aus der Hand und gestaltet selbst [...]» – Selle, Gert; Boehe, Jutta: Leben mit den schönen Dingen. Anpassung und Eigensinn im Alltag des Wohnens, a.a.O., S. 50.
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«Bereits bei der Ideensuche deutet sich an, dass den Benutzerinteressen nicht in gleichem Maße wie den Herstellerinteressen Rechnung getragen wird. Der Benutzeralltag findet als Ideenquelle keine Beachtung.» – Wolf, Brigitte: Design für den Alltag, München 1983, S. 98.
ELASTISCHES DESIGN IN DER FORSCHUNG
staltung14, Bedeutungsoffenheit15, Rolle des Gegenstands16 finden sich in der – vor allem auf Design bezogenen – Literatur durchaus. Sie dienten uns zwar als wichtige Quellen, aber sie lassen Konsequenzen und Entwicklungsmöglichkeiten für eine andere Perspektive der Designforschung doch noch weitgehend vermissen. Es gibt immer noch erstaunlich wenig Ansätze, die das von uns als NID benannte Phänomen berühren. Mit einer Ausnahme tauchen erst in jüngster Zeit vereinzelt Arbeiten auf, die mit Begriffen wie «Intuition», «Umdenken», «Improvisation» hantieren und darin gewisse Qualitäten menschlicher Kreativität entdecken. Dabei ist allerdings auffällig, dass diese Publikationen eher strategisch orientiert sind oder praktische Auseinandersetzungen favorisieren. Den einzig theoretischen Ansatz formulierten Charles Jencks und Nathan Silver als «Adhocism» bereits in den 1970er Jahren: Das Improvisieren mit zufällig vorhandenen Gegenständen, dessen Ziel es sei, ein augenblicklich auftretendes Bedürfnis zu befriedigen. Jencks/Silver allerdings konnotieren den Adhocismus eindimensional: Sie binden sein Erscheinen an eine anarchische Art der «Selbstverwirklichung» des Subjekts im Umgang mit einer ansonsten entfremdeten Realität der Dinge und beschreiben diese Handlung als eine im täglichen Umgang mit den Gegenständen rare Aneignung, also als Ausnahme. Die Nutzenden, so behaupten Jencks/Silver, setzten sich mit ihrem beabsichtigten Missbrauch eines Gegenstandes deshalb bewusst über den intendierten, ihnen jedoch in diesem Moment fremd erscheinenden Gebrauch des Gegenstandes hinweg, um dadurch ein eigenes Bedürfnis zu befriedigen. Statt des fremden Wissens, das in jedem nicht selbst gefertigten Produkt steckt, würden eigenes Wissen und Können beim Gebrauch eines Objekts eingesetzt.17 Trotz des klugen Begriffs «Adhocism» ist dessen Begründung alles andere als stichhaltig. Denn beim Improvisieren gerät der «Selbstverwirklichungs»-Wunsch keineswegs zum Auslöser für die Zweckentfremdung – dieser würde ja eben gerade Intentionalität und dementsprechendes Hobbywerk-Bedürfnis voraussetzen. Und es ist ebenso falsch zu konstatieren, dass der «Adhocism» sich als Ausnahme finde. Im Gegenteil: Alle Menschen «missbrauchen» – wie wir empirisch und theoretisch noch weiter ausführen werden – jederzeit eine Unmenge von Dingen, Dienstleistungen, Zeichen und Medien. Der zweite Ansatz ist neueren Datums und entspringt jenem zuvor als strategisch identifizierten Kontext: Jane Fulton Suri ist Direktorin für «Human Factors» bei IDEO, einem der wichtigsten Designberatungsunternehmen weltweit. IDEO zeichnet sich vor anderen Trendund Zukunfts-Büros dadurch aus, dass deren Methodologie zur Erkundung des Alltags manchmal durchaus unkonventionelle, qualitativ-empirische Vorgehensweisen enthält.
14
«Partizipation kann in der modernen Welt nicht Design ohne Designer bedeuten. Es bedeutet auch nicht, dass der Designer als Ausführer nach dem Diktat der künftigen Nutzer arbeitet. […] Wir sollten uns also von dem Anspruch freimachen, von Anfang an bis ins letzte Detail alles festlegen zu wollen, alles bis zur Vollendung zu bringen […]. Wir ersticken im Fixfertigen.» – Schnaidt, Claude, zit. in: Jonas, Wolfgang: Design-System-Theorie, Essen 1994, S. 147.
15
Vgl. Scholz, Gudrun: Die Macht der Gegenstände. Designtheorie. 3 Essays, Berlin 1989, S. 42 f.
16
«[…] in der Praxis erweist sich der Gegenstand als Schnittpunkt unterschiedlicher wechselnder Rollen. Auf dieser Folie gesehen, ist der Gegenstand nicht in einer bestimmten Rolle festzuschreiben. Stattdessen kann der identische Gegenstand unterschiedliche Rollen übernehmen.» – ebd., S. 36.
17
Vgl. Jencks, Charles; Silver, Nathan: Adhocism. The Case of Improvisation, New York 1993.
15
ELASTISCHES DESIGN IN DER FORSCHUNG
Fulton Suri kompiliert in einem fast ausschließlich mit Fotos bestückten Büchlein «those intuitive ways we adapt, exploit, and react to things in our environment; things we do without really thinking».18 Was hier als «intuitives Design» gefasst wird, präsentiert einen recht wilden Mix von Verhaltensweisen und Gewohnheiten in der alltäglichen Kommunikation mit Dingen. Die Identifizierung dieser Interaktionen geschieht mittels fragender Verben: «reacting?», «responding?», «co-opting?», «exploiting? », «adapting?», «conforming?» und «signaling?»19 Einige Fotos könnten umstandslos in die hier vorliegende Analyse integriert werden beziehungsweise zeigen von der Aktivität her dieselben Gebrauchsumwandlungen, wie wir sie ebenfalls im Alltagsleben vorfanden (Sitzen auf Treppenstufen, Skateboard-Fahren auf kleinen Mauern oder Platzeinfassungen etc.). Aber auch Fulton Suris Interesse an solchen menschlichen Interaktionen fokussiert einen anderen als den NID-Aspekt: «Seeking inspiration from real life is a surprisingsly obvious idea, but it is easily overlooked when we become preoccupied by our professional roles, with their traditional domains and established processes. [...] But for people who regard themselves as tasked with problem solving or innovation, it is imperative to encourage and elevate the practice of observing everyday events.»20 Sie propagiert Aufmerksamkeit und hohe Wahrnehmungsfähigkeit im Alltagsleben, um im Verständnis für die «normalen», gewohnt-gewöhnlichen Aktionen der Menschen neue Einsichten und Problemlösungen für das Unternehmen zu gewinnen. Das Interesse entspringt also einer pragmatisch-instrumentellen Professionalität, um neueste Trends auszumachen – wenn auch mit tauglicheren, da qualitativ-experimentellen Mitteln als gemeinhin –, die dann wiederum in die Unternehmensarbeit gewinnbringend einfließen. Selbstverständlich ist das nicht verwerflich, aber es dient nicht der Weiterentwicklung von und der Sensibilisierung für Designforschung.
16
18
Fulton Suri, Jane & Ideo: Thoughtless Acts? Observations on Intuitive Design, San Francisco 2005, erster Innenumschlag.
19
Ebd.
20
Ebd., S. 178.
Disziplinäre Annäherung
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DISZIPLINÄRE ANNÄHERUNG
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DISZIPLINÄRE ANNÄHERUNG
Gebrauch und Umnutzung in der Literatur Das Thema Nicht Intentionales Design bietet viele Schnittstellen zwischen den einzelnen Wissenschafts- und Forschungsfeldern. Da es begrifflich und inhaltlich um Design geht, begannen wir hier mit der Literaturrecherche. Wegen der Neuschöpfung des Begriffs «NID» musste die Suche schrittweise das Gebiet eingrenzen. Hierfür dienten Design-Bücher unterschiedlicher Sujets, in denen die Thematik angeschnitten wird, als Quellen.
Designgeschichtlicher Abriss unter der Perspektive des Nutzens Das Berufsbild Design ist vergleichsweise jung. Dennoch gibt es in der maximal 150-jährigen Geschichte des professionellen Produktdesign unterschiedliche Ansätze und Definitionen, was Designer können und was Design leisten soll. Erste Ansätze zu einer theoretischen Auseinandersetzung mit der Formgebung entstanden im Bauhaus. Der soziale Aspekt der Lehre machte sich auch im Umgang mit den Nutzerinnen und Nutzern bemerkbar: Weg vom Muff des Biedermeiers sollten reduzierte, funktionale Formen nicht nur die Wohnungen, sondern auch den Geist befreien vom kleinkarierten, klassengeprägten Interieur. Die neuen Formen, gedacht als Vorläufer einer neuen Gesellschaft, waren jedoch nicht nur Helfer, sondern sollten vor allem erziehen. Qua Gestaltung wurden die Anwendungsmöglichkeiten beschränkt («Reduktion auf das Wesentliche») und lenkten den Gebrauch in vorgegebene Verhaltensweisen. Produkte wie die Teetasse von Josef Albers, die ein kippkübelartiges Trinken erforderte, sind ein Beispiel für den strengerzieherischen Impetus der Bauhaus-Meister. Der Mensch wurde hier in problematischer Weise in die Gestaltung miteinbezogen: als ausführendes Organ. Eine freie Nutzung oder sogar eine emotionale Besetzung der Gegenstände war nicht vorgesehen – neben den hohen Preisen gewiss einer der Gründe, weshalb sich viele Entwürfe aus dieser Zeit nicht durchsetzen konnten. Als Gegenpol zu diesem funktionalistischen Gestaltungsansatz, der an der Ulmer Hochschule für Gestaltung in den fünfziger und sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts streitbar, aber letztendlich doch fortgeführt wurde, möchten wir an dieser Stelle noch auf die DesignBewegungen rund um das «Neue Design»21 eingehen. Das italienische Design hatte in den 1960er Jahren die Design-Diskussion entscheidend vorangetrieben. Aus Unzufriedenheit, als Handlanger der Industrie Teil des Produktionsprozesses der Marktwirtschaft zu sein, entstand eine provokative Design-Kultur, die mehr als Statement denn als Gebrauchsgut zu verstehen ist. Auf der Suche nach verwertbaren, für eigene Ideen nutzbaren Materialien wurde man im industriellen Bereich oder auch im Alltag fündig. Erstmals schuf das Design hier nicht Entwürfe für die industrielle Fertigung, sondern schöpfte aus Vorhandenem der industriellen Fertigung, das in die eigenen Produkte einfloss.
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Vgl. Scholz, Gudrun: «Wo bleibt der Designer?», in: Hammer, Norbert; Kutschinski-Schuster, Birgit (Hg.): Design und Identität, a.a.O.
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Auch der Bezug zwischen Objekt und NutzerIn änderte sich. Einer der neuen Leitsätze lautete, emotionale Produkte zu entwerfen, die über den funktionalen Nutzen hinaus auch einen Mehrwert «für die Seele» brächten. Der Aneignungsprozess war damit durch die Gestaltung intendiert, auch wenn die sonst recht eigenwilligen Produkte wenig Spielraum ließen, anderweitig genutzt zu werden. Im Vergleich zum Bauhaus, in dem Design als erzieherische gesellschaftliche Maßnahme begriffen worden war, strebte das italienische Design danach, einen neuen, ungewohnten Umgang mit den Objekten erfahrbar zu machen. Abseits der Industrie entstanden auch in Deutschland Ansätze, die sich an die radikalen Konzepte des italienischen Design anlehnten. Nach der strengen, minimalistischen Produktkultur der Ulmer Hochschule entwickelte sich in den 1980er Jahren eine zwar nicht so freundliche, eher rauere, aber mindestens ebenso experimentelle Design-Bewegung, die aus anderen Bereichen entlehnte Materialien und Dinge in ihrem Unikat-Design verarbeitete.22 Und es fand Interaktion mit den Nutzern statt. Erst durch den Gebrauch sollte die Gestaltung abgeschlossen werden, sozusagen eine Aufforderung an die Laien zum Selbstdesign. Ein typisches Produkt dieser Gestaltungs-Intention ist «Sacco», der Sitzsack, der seine eigentliche Form und Funktion – als Sitz, Kissen, Liege – erst in der Anwendung erhält.
Kulturgeschichte des Dinggebrauchs Neben der Geschichte des Design spielt die Kulturgeschichte der Dinge eine wesentliche Rolle. Eng verknüpft mit ihrer Entwicklung ist auch der zugehörige wandlungsfähige Gebrauch ihrer selbst. Selle23 weist mehrmals darauf hin, dass die Dinge einem kulturgeschichtlichen Bedeutungswandel unterliegen. Denn Anwendungen sind erlernte soziale Verhaltensformen und reagieren somit auf gesellschaftliche Veränderungen. Viel wäre aus dieser Quelle über das Phänomen NID zu erfahren, könnte man auf eine wissenschaftlich dokumentierte Geschichte der Dinge zurückgreifen. Zwei Punkte bringen dieses Anliegen jedoch zum Scheitern: Zum einen ist eine Dinggeschichte für NID nur im Gebrauchskontext interessant, und der wird in den vorliegenden Schriften, Ausstellungen und Museen meist vernachlässigt. Auch wenn die Dinge sich aufgrund ihrer materiellen Beständigkeit nicht wandelten, kann sich dennoch der Umgang mit ihnen entscheidend verändern, selbst wenn dies nirgendwo dokumentiert wurde. Ein weiteres Problem ist die mangelhafte Betrachtung alltäglicher Dinge, wie Brock24 anmerkt. Ausschlaggebend ist dafür u.a. auch «die Trennung hochkultureller Kulturäußerungen gegen unsere Alltagskultur, die die Methoden zur
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22
Vgl. u.a.: HdK, Fachbereich 3 (Hg.): Kaufhaus des Ostens, Berlin 1984; Borngräber, Christian (Hg.): Berliner DesignHandbuch, Berlin 1987; Hauffe, Thomas: Fantasie und Härte. Das «Neue deutsche Design» der achtziger Jahre, Gießen 1994; Schepers, Wolfgang; Schneider-Esleben, Claudia (Hg.): Gefühlscollagen. Wohnen von Sinnen, Köln 1986; Albus, Volker; Borngräber, Christian: Design-Bilanz, Köln 1992; Albus, Volker; Winkler, Monika; Zeller, Ursula (Hg.): bewußt, einfach. Das Entstehen einer alternativen Produktkultur, Bonn 1998.
23
Vgl. Selle, Gert; Boehe, Jutta: Leben mit den schönen Dingen, a.a.O.; Selle, Gert: Siebensachen. Ein Buch über die Dinge, Frankfurt a.M. 1997.
24
Vgl. Brock, Bazon: «Zur Archäologie des Alltags», in: Friedl, Friedrich; Ohlhauser, Gerd: Das gewöhnliche Design. Dokumentation einer Ausstellung des Fachbereichs Gestaltung der Fachhochschule Darmstadt 1976, Köln 1979.
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Pierre Gatti, Cesare Paolini, Franco Teodoro, «Sacco», Zanotta, 1968/69 Das Sitzmöbel «Sacco» beispielsweise wurde als Prototyp des «Antidesign» gesehen, da es die Freiheit der Benutzer und Benutzerinnen im Umgang mit dem Möbel ausdrücklich zulässt, diverse Sitzhaltungen ermöglicht und gerade bei jüngeren Leuten zum Ausdruck lässigen «Herumlungerns» wurde und gleichzeitig ihre kritische Position gegenüber verkrusteten Gesellschaftsstrukturen symbolisierte. Das hohe Maß an Freiraum in der Benutzung ist für NID interessant, auch wenn der Sitzkomfort hier durch diese Option nicht besonders gefördert wird. [Vgl. Koening, Giovanni Klaus: «Tertium non datur, 1983», in: Möbel aus Italien. Produktion Technik Modernität, o.O., o.J.]
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Erfassung und Analyse auf den hochkulturellen Bereich konzentrieren».25 Somit verfügen wir über hervorragende Wissenschaften, die sich mit der Dokumentation und Analyse der Kunst und der Kultur beschäftigen; die Alltagskultur jedoch bleibt bis auf wenige Ausnahmen26 ausgespart. Auch Boehncke/Bergmann27 stellen fest, dass unseren alltäglichen Dingen in der allgemeinen Kulturgeschichte kein Platz eingeräumt wird. So findet man den Hinweis auf die Büroklammer – das kleine Ding, welches auf so geniale Art und Weise flexible Ordnungsstrukturen am Arbeitsplatz ermöglicht – weder in The Encyclopedia Americana28, noch in La grande encyclopédie Larousse29 und auch nicht in Brockhaus Enzyklopädie30 oder Meyers enzyklopädisches Lexikon31. Beispiele für neuere Abhandlungen exemplarischer Dinggeschichte sind Panatis Universalgeschichte der Dinge32 oder Boehnke/Bergmanns Die Galerie der kleinen Dinge33. Allerdings gehen diese Untersuchungen mehr auf geschichtliche, kulturelle und soziologische Gebrauchsumwandlungen als auf den zweckentfremdeten Einsatz der Dinge ein. Zwar ist in den letzten Jahren eine verstärkte Aufmerksamkeit gegenüber den Dingen zu beobachten, werden sie nun zu den Hauptakteuren mit Kultcharakter, wie in Sacks Alltagssachen34 oder in Cornfeld/Edwards Quintessenz35. Aber die Texte, insbesondere die, die sich hierbei mit der Umnutzung beschäftigen, schildern lediglich anekdotisch im Plauderstil den zweckentfremdeten Einsatz der Dinge um uns herum, ohne sich der Potenziale und Konsequenzen bewusst zu werden, die die Aneignung impliziert. Im Erfassen der Geschichte des Alltags sind auch private Sammelleidenschaften hilfreich: Hans Hollein präsentierte beispielsweise in seiner Ausstellung MAN transFORMS36 die Kulturgeschichte des Hammers als eines der einfachsten und ältesten Werkzeuge des Menschen, das aufgrund unterschiedlicher Anwendungen ständig neue Spezifikationen erfuhr. Das Prinzip Hammer wurde in immer neue Bereiche übertragen und schlug sich in den unterschiedlichsten Ausformungen nieder, wie etwa im Vorschlag-, Chirurgen- und Astronautenhammer.
22
25
Ebd., S. 23.
26
Vgl. Burckhardt, Jacob: Die Kunst der Betrachtung. Aufsätze und Vorträge, Köln 1997; Elias, Norbert: Über den Prozeß der Zivilisation, Frankfurt a.M. 1997; Simmel, Georg: Philosophische Kultur. Über das Abenteuer, die Geschlechter und die Krise der Moderne, Berlin 1998.
27
Vgl. Boehncke, Heiner; Bergmann, Klaus: Die Galerie der kleinen Dinge. Ein ABC mit 77 kurzen Kulturgeschichten alltäglicher Gegenstände vom Aschenbecher bis zum Zündholz, Zürich 1987.
28
Vgl. The Encyclopedia Americana, Danbury 1985.
29
Vgl. Mémo Larousse. Encyclopédie générale, visuelle et thématique, Paris 1990.
30
Vgl. Brockhaus Enzyklopädie, Mannheim 1986.
31
Vgl. Meyers enzyklopädisches Lexikon, Mannheim 1971.
32
Vgl. Panati, Charles: Universalgeschichte der ganz gewöhnlichen Dinge, Frankfurt a.M. 1994.
33
Vgl. Boehncke, Heiner; Bergmann, Klaus: Die Galerie der kleinen Dinge, a.a.O.
34
Vgl. Sack, Manfred: Alltagssachen. Eine Sammlung von allerlei notwendigen Gebrauchsgegenständen, Wien 1992.
35
Vgl. Cornfeld, Betty; Edwards, Owen: Quintessenz. Die schönen Dinge des Lebens, München 1987.
36
Vgl. Hollein, Hans: Design. MAN transFORMS. Konzepte einer Ausstellung, Wien 1989.
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Was all diese Passagen über die Umnutzung lehren, liegt auf der Hand: Das Phänomen NID ist die den Menschen ständig begleitende Fähigkeit, aus Vorhandenem Lösungen für auftretende Probleme zu entwickeln. Dass dieses Wissen um solche NIDs zum allgemeinen Kulturgut gehört und uns von Kindheit an begleitet, zeigen zum einen die fundierten Beispiele, auf die wir in der Kulturgeschichte stoßen: Nach Elias37 verwendete bereits der französische Adel die Gabel nicht nur zum Speisen, sondern auch zum Kratzen des Kopfes unter den Perücken. Zum anderen sind auch die willkürlichen Beispiele und Textstellen aus unserer Alltagswelt ein Beleg dieses Phänomens: Weil wir selbst diese Erfahrung schon oft gemacht haben, schmunzeln wir, wenn Sack38 von unseren unbeholfenen Versuchen berichtet, Briefe mit den Fingern oder dem Messer zu öffnen oder Büroklammern als Nervenberuhigungsmittel zu wilden Kunstwerken zu verbiegen. Obwohl keine Untersuchung zu diesem Thema existiert, Literatur äußerst selten diesen Bereich streift und auch keine Schule diese Handlungsweise lehrt, können wir davon ausgehen, es hier mit einem für Menschen spezifischen Verhalten zu tun zu haben, das wir als eine Fähigkeit kennen und schätzen lernen sollten.
Design-Publikationen Der Schwerpunkt der Fragestellungen in der Design-Literatur liegt nach wie vor eindeutig auf der Beschäftigung mit dem Produkt, seiner Semantik, Funktionalität sowie in der Beziehung Design – Designer. Designer und Designerinnen folgen immer noch dem Anspruch, so zu gestalten, dass die Art der Verwendung ihrer Objekte durch die Gestaltung vorgegeben oder zumindest nahegelegt wird. Die dahinterstehende Idee oder Intention wird mit Begriffen wie «Benutzerfreundlichkeit» erklärt: Der Designer ist also der «Freund» der Nutzenden und will ihnen helfen, die Dinge zu verstehen und so zu benutzen, wie sie, die Designer, sie konzipiert haben. Der Hauptteil der methodischen Literatur widmet sich diesen unterschiedlichen Gestaltungsansätzen – über die funktionalistische Tradition, den Emotionen miteinbeziehenden bis hin zum neobarocken Stil. Ausführlich werden die Gestaltungsideen der Designer vorgestellt, ökonomische und ökologische Produktionsabläufe erläutert, soziale Produktkonzeptionen wie etwa «Universal Design»39 vorgestellt sowie Marketingstrategien zur erfolgreichen Produkteinführung und Lösungen für eine ökologische Entsorgung dokumentiert. Nur ein Glied wird in dieser Produktionskette weitgehend vernachlässigt: der Produktgebrauch. Diverse Publikationen thematisieren die gestalterische Vielfalt der Dingfamilien (wie Stühle, industrielle Produkte oder ähnliches), doch Problematisierungen, wie und warum diese Produkte im Alltag genutzt werden, sucht man vergebens. Auf Hochglanzfotos im Studiolicht präsentieren sich die Gegenstände in einem sterilen Umfeld. Für die Gebraucherinnen ist hier genauso wenig Platz wie in den Begleittexten. Degradiert auf ihre Körpermaße findet man die Anwender allenfalls in ergonomischen Studien abgebildet, wie zum Beispiel in
37
Vgl. Elias, Norbert: Über den Prozeß der Zivilisation, a.a.O.
38
Vgl. Sack, Manfred: Alltagssachen. Eine Sammlung von allerlei notwendigen Gebrauchsgegenständen, a.a.O., S. 68 f.
39
Vgl. Coleman, Roger (Hg.): Design für die Zukunft. Wohnen und Leben ohne Barrieren, Köln 1997.
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einer Fotoreihe zum Gebrauch der «Frankfurter Küche»40, in der die Hausfrau tänzelnd und durchrationalisiert die Hausarbeit absolviert. Oder die Benutzer werden auf ihre Kaufkraft reduziert, erscheinen in Statistiken der Marktforschung, die jedoch keine Auskunft darüber geben, was nach dem Aneignungsprozess mit den Dingen und Menschen geschieht. Immer wieder wurde auf diese Defizite aufmerksam gemacht. Bereits in den 1980er Jahren fordert Wolf aufgrund des Tatbestands, dass 58 Prozent der neu eingeführten Produkte auf dem Markt «als Flops enden», Alltagsforschung nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten, die unser Verhalten im Umgang mit den Dingen analysiert und für das Produktdesign nutzbar macht.41 Auch Brock kritisiert den Design-Begriff, «der sich nur um das Objekt kümmert und nicht um die Beziehung zwischen Benutzer und Objekt».42 Selle fügt hinzu, «dass massenhaft Designgeschichte in anonymem Gestalten und Gebrauchen stattfindet, aber nicht wahrgenommen wird […]».43 Wenn der Alltag selbst solch eine Fundgrube für ständig stattfindende anonyme Gestaltung ist, stellt sich außerdem die Frage, «warum der funktionale Gestaltungswille ausgerechnet dort am selbstverständlichsten verwirklicht ist, wo die Designer am wenigsten eingegriffen haben»44, und warum dieses Wissen nicht genutzt wird. Es ist erstaunlich, dass trotz dieser Fragestellungen, die schon in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts gestellt wurden, bis heute immer noch keine qualitative Designforschung beziehungsweise Alltagsforschung im Bereich Design durch Gebrauch betrieben wird. Das Phänomen, das wir als «NID» bezeichnen, wurde zwar vereinzelt erkannt und von Flusser als «geradezu die menschliche»45 Fähigkeit benannt, dennoch hat sich niemand damit ausführlicher als in einem Nebensatz auseinandergesetzt.
40
24
Die Frankfurter Küche, 1925 von Grete Schütte-Lihotzky entworfen, ermöglichte rationale Hausarbeit auf kleinstem Raum. Angepasst an die engen Wohnverhältnisse der neuen Arbeitersiedlungen in den 1920er Jahren ähnelt sie durch ihre strikte, systematische Anordnung mehr einem Labor und gilt als Vorreiter der Einbauküche. Vgl. u.a. Lihotzky, Grete: «Rationalisierung im Haushalt», in: Das neue Frankfurt I, Frankfurt a.M. 1926/27; Taut, Bruno: Die neue Wohnung. Die Frau als Schöpferin, Leipzig 1924; Selle, Gert: Geschichte des Design in Deutschland, Frankfurt a.M., New York 1994; Deutsche Verlagsanstalt (Hg.): Geschichte des Wohnens 1918–1945 – Reform, Reaktion, Zerstörung, Stuttgart 1996.
41
Vgl. Wolf, Brigitte: Design für den Alltag, a.a.O., S. 100.
42
Brock, Bazon: «Zur Archäologie des Alltags», in: Friedl, Friedrich; Ohlhauser, Gerd: Das gewöhnliche Design, a.a.O., S. 24.
43
Selle, Gert: Siebensachen. Ein Buch über die Dinge, a.a.O., S. 205.
44
Friedl, Friedrich; Ohlhauser, Gerd: Das gewöhnliche Design, a.a.O., S. 11.
45
Flusser, Vilém: Dinge und Undinge. Phänomenologische Skizzen, München 1993, S. 17.
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Gebrauch und Nutzen in den Gesellschaftswissenschaften Ein großer Teil der Sozialpsychologie beschäftigt sich damit zu erforschen, wie die KäuferInnen mit den gestalteten Dingen umgehen. Dieses Interesse teilt sie erwartungsgemäß mit der Marktforschung. Um einen Einblick in das Nutzungsverhalten zu gewinnen, wurden umfangreiche Studien angelegt. Das Konzept der «sozialen Milieus» (in den 1980er Jahren vom Sinus-Institut, Heidelberg, entwickelt)46 unterscheidet die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland nach acht Gruppen mit unterschiedlichen Lebensstilen. Die Einteilung ist eng an den Einkommensverhältnissen der jeweiligen Gruppe orientiert. So gibt es zum Beispiel das «kleinbürgerliche Milieu», «das sich aus Rentnern, kleinen Angestellten und Selbstständigen mit kleinen bis mittleren Einkommen rekrutiert», oder das «technokratisch-liberale Milieu», «in welchem hohe und höchste Einkommen vorherrschen».47 Die Forscher stellten fest, dass vor allem innerhalb jener Gruppen, die über mehr Geld verfügen, der Umgang mit den sie umgebenden gestalteten Gegenständen freier zu werden begann. Und das sogenannte «alternative Milieu», das der oberen Mittelschicht zugeordnet wird, schätzt bis heute gern «Do-it-yourself»- und Second-Hand-Produkte, sofern damit zugleich auch noch Langlebigkeit und dementsprechend umweltbewusstes Verhalten einhergeht. Im direkten Gegensatz dazu das «traditionslose Arbeitermilieu», das der «Unterschicht» entstammt und versucht, durch die Objektwelt Anschluss an die Standards der Mittelschichten zu finden. (Heute allerdings «konkurrieren» Unter- und Mittelschicht häufiger um den gegenteiligen «Prekariats-Anschluss».) Eine Ausnahme bildet das «hedonistische Milieu», das sich aus Mitgliedern fast aller sozialen Schichten (ausgenommen obere Mittelschicht und Oberschicht) zusammensetzt und sehr viel Wert auf «Originalität und Experimentierfreude»48 legt. Eine Schlussfolgerung aus diesen Studien ist, dass die BesitzerInnen sich über ihre Objektidentifizierung nach außen als Mitglied einer bestimmten Gruppe zu erkennen geben (heute sprechen wir von «Communities») sowie sich gegenüber anderen Gruppen abgrenzen. Das Thema der Umnutzung von Gegenständen wird in der Untersuchung zwar angesprochen, wichtiger als das Nutzungsverhalten ist aber auch hier das Kaufverhalten der beobachteten Personen. Auch der «Generalist» Bazon Brock widmet sich der Beziehung zwischen Mensch und Ding. Es geht ihm im dritten Teil seiner Arbeitsbiografie49 vor allem darum zu vermitteln, dass man sich der Konsumwelt, in der man lebt, bewusst werden soll. Seine Analyse konzentriert sich überwiegend auf den Bereich des Wohnens. Im NID-Kontext ist seine These interessant, dass nicht nur der Benutzer über die Gegenstände bestimme, sondern die Dinge auch Einfluss auf das Verhalten der Benutzer nähmen. Die Frage, zu welchem Umgang mit Objekten die Menschen angeregt werden, bleibt jedoch unbeantwortet.
46
Vgl. HdK Berlin (Hg.): Objektalltag – Alltagsobjekte, Gestaltungsanalyse, Soziokultur, Geschichte, Berlin 1988.
47
Vgl. Sommer, Carlo Michael: «Der Lauf der Dinge. Aus der Sozialpsychologie der Alltagsobjekte», in: Daidalos H. 40/1991, S. 96 ff.
48
Ebd., S. 96 ff.
49
Vgl. Brock, Bazon: «Objektwelt und die Möglichkeit subjektiven Lebens: Begriff und Konzept des Sozio-Design», in: Brock, Bazon: Ästhetik als Vermittlung, Köln 1977.
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DISZIPLINÄRE ANNÄHERUNG
Die Beobachtungen aus den Bereichen Soziologie, Ethnologie, Design und Psychologie (unter anderen: Baudrillard50, Elias51, Breidenbach/Zukrigl52, Selle53, Jonas54, Heubach55, Schönhammer56) kommen zu dem übereinstimmenden Ergebnis, dass die Funktion von Objekten über den reinen Nutzwert hinausgeht, die Dinge vielmehr eine psychologische Funktion haben: nämlich die Identität ihres Besitzers oder ihrer Besitzerin zu repräsentieren und zu spiegeln. Zu dieser Thematik gehört auch das Phänomen der Aneignung von Gegenständen: Indem die Menschen die Objekte mit einer Bedeutung versehen, die über den reinen Nutzwert hinausgeht, nehmen sie sie in Besitz und besetzen sie auch emotional. Und für Baudrillard schließlich spielt der Begriff des «Symbols» eine Schlüsselrolle: Die Gegenstände symbolisieren den Körper, sie werden also anthropomorph erfahren und erlauben den Subjekten eine grenzenlose Identifikation.57
26
50
Vgl. Baudrillard, Jean: Das System der Dinge, a.a.O.
51
Vgl. Elias, Norbert: Über den Prozeß der Zivilisation, a.a.O.
52
Breidenbach, Joana; Zukrigl, Ina: Tanz der Kulturen. Kulturelle Identität in einer globalisierten Welt, München 1998.
53
Vgl. Selle, Gert; Boehe, Jutta: Leben mit den schönen Dingen, a.a.O.
54
Vgl. Jonas, Wolfgang: Design – System – Theorie, Essen 1994.
55
Vgl. Heubach, Friedrich W.: Das bedingte Leben. Theorie der psycho-logischen Gegenständlichkeit der Dinge, München 1996.
56
Vgl. Schönhammer, Rainer: «Vom Umgang mit den Dingen», in: Objekt und Prozess. 17. Designwissenschaftliches Kolloquium Burg Giebichenstein, Halle 1997.
57
Vgl. Baudrillard, Jean: Das System der Dinge, a.a.O.
Verwandte Findungsstrategien
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VERWANDTE FINDUNGSSTRATEGIEN
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VERWANDTE FINDUNGSSTRATEGIEN
Kunst und Literatur Literatur, Bildende Kunst und Musik, insbesondere der zwanziger sowie der späten fünfziger und der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts, entdeckten das Empirische des Alltags als Anregung und als Material für ästhetische Produktion. Abfall, Umherliegendes, Gefundenes, Alltagssprache und -geräusche, triviale Objekte wurden dem gewohnt-gewöhnlichen Kontext entrissen und in die Kunst integriert. So sehr die gesellschaftlichen Bedingungen und die mit ihnen zusammenhängenden jeweiligen Kunstbewegungen sich auch voneinander unterschieden haben mögen, so war ihnen doch die Emphase gemein, Kunst und Leben näher zusammenrücken, idealtypisch beide sogar miteinander verschmelzen zu wollen. Die verwendeten Alltagsgegenstände und -materialien wären unter dem Topos «objets trouvés» zu fassen. Kurt Schwitters «Merzkunst» als spezifische Form des Dadaismus etwa versammelte Straßenbahnfahrkarten, Etiketten, ausgerissene Zeitungs- und Reklameschnipsel, Dosen, Pappen und so weiter, um sie in Bildern, Reliefs, Skulpturen oder Bühnenbildern aufzuheben. «Das Kunstwerk entsteht durch Abwerten seiner Elemente. […] Das Material ist so unwesentlich wie ich selbst. Wesentlich ist das Formen. Weil das Material unwesentlich ist, nehme ich jedes beliebige Material, wenn es das Bild verlangt. Indem ich verschiedenartige Materialien gegeneinander abstimme, habe ich gegenüber der Nur-Ölmalerei ein Plus, da ich außer Farbe gegen Farbe, Linie gegen Linie, Form gegen Form usw. noch Material gegen Material, etwa Holz gegen Sackleinen, werte. Ich nenne die Weltanschauung, aus der die Art Kunstgestaltung wurde, ‹Merz›.»58 Marcel Duchamps Ready-mades erschütterten den Begriff der Kunst radikal. Zu der New Yorker Ausstellung der Society of Independent Artists reichte er 1917 ein Pissoirbecken ein, das er bei «Mott Works», einer Firma für sanitäre Anlagen, erworben hatte. Er signierte es mit dem Pseudonym «R. Mutt» und datierte es auf 1917 – sein Ausstellungsbeitrag wurde von der Jury für die damalige Ausstellung empört zurückgewiesen. Heute ist das – in den 1960er Jahren in mehreren Exemplaren rekonstruierte – Pissoir längst zum kostbaren musealen Relikt geworden. Während Schwitters die Gleichwertigkeit oder Gleich-Gültigkeit jeglichen Materials behauptete und somit das Alltägliche in die Kunst integrierte, ging Duchamp den umgekehrten Weg: Er nahm den alltäglichen Gegenstand, ohne ihm künstlerische Bearbeitung angedeihen zu lassen, und veränderte stattdessen den Bedeutungskontext durch Ortswechsel. Indem er ein triviales Objekt wie das Pissoir in das als Kunstbehausung längst akzeptierte und geadelte Museum platzierte, behauptete er es als Kunst. «Es ging vor allem um eine Infragestellung des künstlerischen Verhaltens, so wie die meisten Leute es verstanden. Um die Absurdität der herkömmlichen Technik, der traditionellen Vorstellungen ganz allgemein […].»59 Was Molderings bei Marcel Duchamp als «unterschiedslose Vermischung alles Existierenden, […] Verwirrung des Denkens durch die Auflösung aller festen Bestimmungen der
58
Schwitters, Kurt: «Merz», in: Ararat 19, Dezember 1920.
59
Zit. in: Molderings, Herbert: Marcel Duchamp, Frankfurt a.M. 1983, S. 99.
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VERWANDTE FINDUNGSSTRATEGIEN
Sprache (Wortspiele), der Dinge (Ready-mades), der Bilder (das ‹Große Glas›)»60 charakterisiert, findet sich bei den Décollagisten seit den 1950er Jahren in anderen Formen noch einmal. Hier sind es Plakatwände und Litfasssäulen im öffentlichen Raum, die «décollagiert» werden. Die «ganzheitlichen» Werbebotschaften des Alltags erscheinen durch die Handlung des Abreißens als zerrissene im künstlerischen Kontext wieder, werden zu Bildern, deren Wahrnehmung eine zeichenhafte ist, ohne dass ihnen etwas hinzugefügt wurde – im Gegenteil: ihnen sind Teile verlorengegangen. So wie in bestimmten wissenschaftlichen Diskursen die Konstruktion dekonstruiert wird, hat die Décollage die Collage der zwanziger Jahre dekonstruiert. Wurden damals disparate Teile aus zerrissenen Zusammenhängen in einem neuen, wenn auch widersprüchlichen Ganzen zusammengefügt, wird in den Décollagen eines Raymond Hains, Jacques Villeglé oder Mimmo Rotella das Ganze demontiert. Aus den zahlreichen literarischen Arbeiten, die die herkömmliche Grammatik zertrümmerten, die gewohnten Bedeutungen und die Sinnhaftigkeit destruierten, Dialekte und rüde Umgangssprache in die Poesie aufnahmen, sei hier nur auf die «Listengedichte» verwiesen, die im Kontext der «Konkreten Poesie» der 1960er Jahre entwickelt wurden. Wie in der Bildenden Kunst gerieten dem Alltag entnommene Serien in Form von Wortaneinanderreihungen allein durch die Behauptung und entsprechende Verschriftlichung zu einem Gedicht. Es konnte sich dabei um die Auflistung aus Telefonbüchern handeln, um die Abschrift von Einkaufszetteln, Inhaltsverzeichnissen oder sonstigen Aufstellungen. In der experimentellen Musik haben Komponisten und Künstler Lärm und Außengeräusche in die Komposition aufgenommen, den Zufall (der ja tatsächlich mathematischen Regeln unterliegt) als Abfolge von Ton oder Stille – und damit die Zeit – walten lassen oder die von uns auf Gegenständen statt auf Instrumenten erzeugten Töne zu Musik gestaltet. John Cage, Mauricio Kagel, La Monte Young sind stellvertretend für diese Musikbewegungen zu nennen.
Architektur Im Unterschied zu den vorher genannten Bereichen kann die Architektur in den ihr eigenen Strategien und Konstruktionen keine unmittelbaren Anknüpfungspunkte für das Projekt Nicht Intentionales Design liefern. Bauen ist aufgrund eines von Beginn an klar definierten Zwecks, seiner komplexen technischen Anforderungen und Größendimensionen per se aus den Vorstellungen von Gegebenem, Intuition, Alltagsmaterial und so weiter ausgeschlossen. Architektur als Architektur ist immer schon geplante, hochkomplexe, zielgerichtete Gestaltung. Ausnahmen, wie sie in der berühmten Publikation mit dem bezeichnenden Titel Architecture without Architects von Bernard Rudofsky61 zusammengetragen wurden, konzentrieren sich auf Kulturen, die nicht der Moderne angehören und insofern für die Analyse in diesem Projektrahmen nicht herangezogen werden; und jene Beispiele, in denen Amateure
30
60
Molderings, Herbert: Marcel Duchamp, a.a.O., S. 98.
61
Vgl. Rudofsky, Bernard: Architecture without Architects. A short introduction to non pedigreed architecture, New York 1964.
VERWANDTE FINDUNGSSTRATEGIEN
obsessiv skurrile Häuser kreierten (vgl. zum Beispiel den «Watts Tower» – erbaut aus Tausenden von Flaschen), fallen ebenso heraus, da in diesen Fällen eine klare Gestaltungsintention vorliegt, ein Plan, etwas zu erschaffen. So können wir festhalten: Architektur ist in ihrem Entstehungsprozess nicht geeignet, das Umfeld von NID zu konturieren. Allerdings muss bedacht werden, inwiefern die Umnutzung von zu einem anderen bestimmten Zweck gestalteten Innen- und Außenräumen die kategorialen Bestimmungen von NID erfüllt; wenn also Jugendliche etwa einen alten Bunker als Partyraum nutzen oder ihre Technopartys unter Brücken veranstalten, oder wenn ehemalige Kinderzimmer zu Werkstätten, Bügel- oder Abstellräumen werden, nachdem die Kinder ausgezogen sind. Diese räumlichen Umnutzungen fallen in einen Grenzbereich, da sie vermutlich in vielen Fällen dennoch die eine oder andere bewusste Umgestaltung erfahren. Ebenso verhält es sich mit den sozial problematischen Umständen, in denen Obdachlose sich mittels anderer als architektonischer Materialien und Bauweisen eine Art Verortung, einen abgegrenzten Raum, eine Schlafstätte zu sichern versuchen: die Einrichtung mit Pappkartons, unter einem Vordach, in einem Mauervorsprung oder unter einer Brücke entspricht zwar den Bedingungen, aus denen auch Nicht Intentionales Design entstehen kann: nämlich aus einer akuten Not- und Mangelsituation; allerdings ist hier der Hintergrund ein tatsächlich soziales Defizit, und das macht es zu einem weiteren NID-Grenzfall.
Naturwissenschaften Die Geschichte der Naturwissenschaften ist reich an Beispielen ungewöhnlicher Annäherungen, überraschender Intentionen, «unwissenschaftlicher» Methoden zum Verständnis der Naturphänomene, zur Aufdeckung von Regeln, Gesetzen und Theorien. Bei genauerer Betrachtung wird deutlich, dass die Findungsstrategien und vor allem die Erklärungen oder Darstellungsformen nicht allein durch wissenschaftlich-rationale Interessen geleitet sind. Die menschliche Erfassung von Wirklichkeit vollzieht sich durch eine merkwürdige Spannung zwischen den Sinneswahrnehmungen, den äußeren Eindrücken von etwas Gegebenem und den Ideen, den inneren Bildern, den Imaginationen und Projektionen, aus denen und mit deren Hilfe das Denken aufbricht. In der Wissenschaftsgeschichte spielen Intuition, Eingebung, «Aisthesis», aber auch Ästhetik und Eleganz eine nicht zu unterschätzende Rolle bei der Erkenntnis, Entdeckung und Formulierung von Regeln und Beweisen. 1725 etwa sprach der schottische Philosoph Francis Hutcheson ausdrücklich über die «Schönheit von Theoremen».62 Aus der Fülle der Beispiele von unkonventionellem, gleichsam unlogischem Erkenntnisgewinn63 soll hier exemplarisch nur eine Anekdote herausgegriffen werden, die über den dänischen Physiker Niels Bohr berichtet wird. Er war während einer Skitour mit befreundeten
62
Vgl. Hutcheson, Francis: An Inquiry Concerning Beauty, Order, Harmony, Design, Den Haag 1973.
63
Vgl. Chandrasekhar, Subrahmanyan: Truth and Beauty, Chicago 1987; Curtin, D.W. (Hg.): The Aesthetic Dimension of Science, New York 1982; Rentschler, Ingo; Herzberger, Barbara; Epstein, David (Hg.): Beauty and the Brain, Basel 1988.
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VERWANDTE FINDUNGSSTRATEGIEN
Wissenschaftlern abends in der Hütte mit dem Abwasch beschäftigt. «‹Jetzt weiß ich, wie Wissenschaft funktioniert›, soll er gerufen haben. ‹Es ist wie Spülen. Hier in dem Spülbecken habe ich schmutziges Geschirr, das in schmutzigem Wasser schwimmt und mit einem schmutzigen Lappen traktiert wird. Trotzdem sind die Teller und Tassen danach sauber. In der Wissenschaft beginne ich entsprechend mit unklaren Ideen, die ich in unklaren Experimenten teste, deren Ergebnis ich mit einer unklaren Sprache und ihrer undurchschaubaren Grammatik interpretiere. Trotzdem weiß ich, dass ich am Ende dieser Übung etwas mehr weiß als vorher.›»64 Was sich aus solchen Herangehensweisen in der naturwissenschaftlichen Forschung lernen lässt, ist die grundsätzlich neugierige Offenheit gegenüber allem, was geschehen könnte, auch wenn es unerwartet, ungeplant eintritt und abseits strenger experimenteller Versuchsanordnungen oder mathematischer Berechnungen liegt.
64
32
Zit. in: Fischer, Ernst Peter: Das Schöne und das Biest, München 1997, S. 140.
Intentionales Umgestalten
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INTENTIONALES UMGESTALTEN
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INTENTIONALES UMGESTALTEN
Bevor die eigentlichen NID-Nutzungen vorgestellt werden, sollen in diesem Kapitel vorab Situationen genannt werden, in denen Gegenstände umgenutzt werden, die jedoch nach unserer Definition nicht unter den Themenkomplex NID subsummiert werden können. An diesem Punkt ist es wichtig, noch einmal auf den Begriff selbst einzugehen: Nicht Intentionales Design bedeutet, Dinge spontan, aus einem momentanen Bedürfnis heraus, umzunutzen. Die Intentionen für diese Umnutzung sind weder gestalterischer, künstlerischer noch kommerzieller Natur. Auch der erzwungene oder bewusste Produktverzicht entspringt einer anderen Absicht. Die aufgeführten Parallelen und Differenzen sollen zeigen, dass NID sich in einem verwandten Umfeld zum intentionalen Umgestalten bewegt, welches zu einem späteren Zeitpunkt intensiv zu erforschen eine interessante Ergänzung dieser Publikation sein könnte.
Design als Manifest Umnutzungen im professionellen Design haben im Verlaufe der letzten etwa 50 Jahre vor den unterschiedlichsten Hintergründen stattgefunden. Vorreiter für die Methode des assoziativen Entwerfens ist Italien.65 Noch zu Zeiten des «Bel Design», wie sich das italienische Produktdesign in den 1950er und 1960er Jahren nannte (vergleichbar mit dem deutschen Ansatz der «Guten Form»), begannen die Gebrüder Castiglioni, Bereichsänderungen und Gebrauchsumstellungen in die eigenen Produkte zu integrieren und dabei auf vorhandene Prinzipien zurückzugreifen. Die Herangehensweise spiegelt die spielerische Entwurfsmethodik des Designer-Duos, das auch die damalige Industrie von seinen Ideen überzeugen konnte: Viele ihrer Produkte gehören heute zu den Design-Klassikern, zum Beispiel zwei Hocker von 1957, bei denen die Castiglionis Traktorsitz und Fahrradsattel zur Sitzfläche erhoben. Mit dem «Disegno radicale» der 1960er Pop-Jahre löste sich das Design erstmals von den Herstellerinteressen und erhob politische Ziele zum Programm. Nicht nur durch die Produkte, sondern auch in ihren Aussagen und Schriften strebte das Radikaldesign eine streitbare Auseinandersetzung mit der kapitalistischen Konsumgesellschaft an und propagierte ein Design, das stärker an den Wünschen der Menschen orientiert war und das konkrete Lösungen entwickeln sowie verstärkt die Dienstleistung miteinbeziehen sollte. Gleichzeitig wurde die Öffentlichkeit auf diese neue Bewegung des «Antidesign» aufmerksam gemacht.66 Hierzu schlossen sich Design-Gruppen wie «Superstudio»67, «Archizoom», «UFO», «999» und «Strum» zusammen, die mit ihren Konzepten neue Wege beschritten und den Grundstein für den intellektuellen Diskurs im Design legten.
65
Vgl. u.a. Grassi, Alfonso; Pansera, Anty: Atlante del Design Italiano 1940–1980, Mailand 1980; Gregotti Vittorio: Il disegno del prodotto industriale. Italia 1860–1980, Mailand 1982.
66
Vgl. Burckhardt, François: Design als Postulat am Beispiel Italiens, Berlin 1973.
67
Vgl. Pettena, Gianni: Superstudio. 1966–1982. Storie, figure, architettura, Florenz 1985.
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INTENTIONALES UMGESTALTEN
Alessandro Mendini, «Cetonia», Zanotta, 1984 Nach den «radikalen» Ideen beschäftigte sich Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre die Gruppe «Alchimia» mit der Aufwertung von banalen Gegenständen. Mit seiner Bemalung transformierte der Designer Alessandro Mendini Wohnrelikte aus den 1950er Jahren in zeitgemäße Designobjekte. [Vgl. Sato, Kazuko: Alchimia, Berlin 1988.]
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Italienische Provokationen Die Brüder Achille und Pier Giacomo Castiglioni entwarfen bereits in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts Möbel, die sie aus Teilen verschiedener Industrieprodukte zusammenfügten. Sie verstanden unter Design neuartige Kombinations- und Einsatzmöglichkeiten bestehender Dinge und verliehen damit den neuen Produkten einen sehr eigenen Objektcharakter. Auf die Frage, wie sie dieses Prinzip entwickelt haben, antworteten sie, es sei ja schon alles dagewesen, sie hätten nichts entworfen. [Vgl. Koening, Giovanni Klaus: «Tertium non datur, 1983», a.a.O.]
2
1
3 Achille und Pier Giacomo Castiglioni, Zanotta: 1 «Toio», Leuchte mit Autoscheinwerfer, 1962 2 «Sella», Hocker mit Fahrradsattel, 1957 3 «Mezzadro», Hocker mit Traktorsitz, 1957
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INTENTIONALES UMGESTALTEN
Auch im zeitgenössischen Design stößt man auf praktische und ironische Zweckentfremdungen von Alltagsobjekten.
1
2
3
4
6
5
1–3 Wyssem und Cécile Nochi, Eigenproduktion in limitierter Auflage, c/wn_product made in Lebanon, 2006: 1
«Naïve Waterbed in 1/4», Sofa mit Wasserflaschen
2
«Goodyear® riot shopping», Couchtisch mit Autoreifen
3
«Anticipation no explosive», Beistelltisch mit Straßenschild und «Holcim@ultralight concrete ideas», Sofa aus Zementsäcken
38
4
Isabel Hamm, «Flying Saucer», Servierteller, DIM, 2003
5
Alexis Georgacopoulos, «Garden Party», Flaschenkühler-Schubkarre, Prototyp für Veuve-Clicquot, 2007
6
Volker Albus, «Fritz», Kinderbett-Tablett, Prototyp für Nils Holger Moormann, 2004
INTENTIONALES UMGESTALTEN
In der zweiten Hälfte der siebziger Jahre folgte die Designgruppe «Alchimia»68, die mit ihrem Banaldesign die Trivialkultur zu einer neuen Hochkultur stilisierte.69 Alessandro Mendini, der geistige Vater dieser Richtung, setzte die konzeptuelle Dekoration alter Möbel um oder interpretierte Design-Klassiker neu, indem er sie mit Malereien, Dekoren, Kugeln und Fähnchen verzierte. Diese Bewegungen fanden ihren End- und Höhepunkt in der Anfang der 1980er Jahre gegründeten Gruppe «Memphis»70. Die Ideen des italienischen Design, das in all seinen Facetten von Bel Design bis Alchimia in der Ausstellung New Domestic Landscape71 im Museum of Modern Art in New York im Jahr 1972 präsentiert wurde, sorgten international für ein Umdenken im Design und für die endgültige Überwindung der Doktrin des Funktionalismus. Diese neuen Designansätze wurden erst ermöglicht durch die enge Zusammenarbeit mit handwerklichen Betrieben und mittelständischen Produktionsstätten, in denen die neuen Entwürfe in Kleinserien umgesetzt wurden. Auch der verstärkte Einsatz der Medien und des Marketing trug zur Verbreitung dieser neuen Gruppen bei. In Deutschland entstand in den 1980er Jahren eine eigene Antwort auf die italienischen Bewegungen, welche sich gleichzeitig auch von der deutschen Design-Tradition der «Guten Form» und dem seit den Lehren des Bauhaus und der Ulmer Hochschule für Gestaltung praktizierten Funktionalismus löste. Ausstellungen wie Gefühlscollagen – Wohnen von Sinnen in Düsseldorf und die Galerie «Möbel Perdu» machten auf das Neue Deutsche Design aufmerksam und verhalfen ihm zu einer Plattform, auf der es provokativ mit seinen alternativen Entwurfsmethoden den öffentlichen Diskurs suchte. Unterschiedlichste Alltagsgegenstände aus anderen Bereichen als denen des Wohnens wurden in Einrichtungsgegenstände transformiert. «Nach meiner Meisterprüfung wollte ich Abstand von diesen durchgeplanten Handlungen und habe mit einer Bildhauerin, Ulrike Holthöfer, zusammen zwei, drei Jahre lang spontan Möbel gebaut, hauptsächlich mit gefundenen Sachen. Wir wurden inspiriert von Dingen, die auf dem Wege lagen und die wir zu Gegenständen und Objekten verbunden haben.»72 Es entstanden Objekte, meist in eigener Kleinserie oder als Unikate gefertigt, die unter anderem triviale Alltagsmaterialien verwendeten, beispielsweise der «Consumer’s Rest Chair» von «Stiletto»: ein Einkaufswagen, der zu einem Fernsehsessel umgestaltet wurde; oder Entwürfe, die vermeintliche Abfallprodukte der Konsumgesellschaft integrierten, ein Ansatz, der insbesondere von der Gruppe «des-in» umgesetzt wurde, zum Beispiel mit ihrem «Reifensofa» aus Autoreifen von 1977. Designgruppen wie «Bellefast», «Kunstflug», «Ginbande», «Stiletto» oder «Pentagon» wiesen auf das neue Selbstbewusstsein des Design und dessen konzeptionellen Anspruch hin, der nicht die Fertigung von Industrieprodukten anstrebte, vielmehr eine kritische Befragung der Konsumgesellschaft. Die Designprodukte dienten dabei eher als Statements oder – wie das italienische Zauberwort dafür lautet – als «progetto». Das beinhaltete auch den Versuch, durch Irritation und Überzeichnung sowie durch Verwendung ungewöhnlicher
68
Vgl. Sato, Kazuko: Alchimia, Berlin 1988.
69
Vgl. Bürdek, Bernhard E.: Geschichte, Theorie und Praxis der Produktgestaltung, Köln 1991.
70
Vgl. Radice, Barbara: Memphis Design. Gesicht und Geschichte eines neuen Stils, München 1988.
71
Vgl. Museum of Modern Art: Italy – The New Domestic Landscape, New York 1972.
72
Kufus, Axel: «Material und Arbeit», in: Brandolini, Andreas: Kamingespräche. Designerinterviews und -monologe, Kassel 1994.
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Designer’s Block, Fuori Salone, Milano 2008 Viele junge Designer und Designerinnen lassen sich von bereits Bestehendem in ihren Entwürfen inspirieren. 1
2
3
4
5
6
7
8
1–3 Glasgow Caledonian University, Fachbereich Produktdesign: 1
40
Gordon Podmore, «Bicycle chair», Hocker mit Sattel, Pedalen und Autoreifen
2
Colin Bruce, «Pipe dreams», Hocker aus Heizungsrohren
3
Fred Birse, «Soft drinks ( number 257 )», Hocker aus leeren Getränketüten
4
Daniela Pais, «Phil», Müllsäckchen für Nähabfälle in Stofftierform
5
Marcella Foschi, «Cassette Wallets», Portemonnaie mit Musikkassetten
6
Mattia Frongia, «Handl Eggs with care», Leuchte mit Ei und Verpackung
7
Zpstudio, «Windy», Leuchte mit Abflussfrei-Saugglocke
8
Marcella Foschi, «Dressing Lamps», Leuchten zum Anziehen
INTENTIONALES UMGESTALTEN
Materialien und die Vorgabe neuer Handhabungen bewusst zu machen, dass gestaltete Dinge alles andere als natürlich, selbstverständlich und logisch sind und somit auch eine neue Gegenstandserfahrung zu vermitteln suchen.73 Der Einzug des Design in die Galerien und Museen zeigte eine in Deutschland erstmalig auftretende Nähe der Disziplin zur Kunst, was den Designern 1987 auch eine Einladung zur documenta, der weltweit renommiertesten Kunstausstellung, einbrachte. Ähnlich wie bereits Künstler sich in ihrer Kunst aus dem Fundus der Alltagsgegenstände bedienten, griffen nun auch die Designer bereits Existierendes auf, verfremdeten es, um ein neues Bewusstsein sowie eine neue Sinnlichkeit im Umgang damit zu schaffen. Somit begann auch in Deutschland – ausgelöst durch die Design-Bewegungen der 1980er Jahre – konzeptionelles Design, das in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung darüber hinaus zu Untersuchungen über Leben, Arbeiten und Wohnen führte. In ihrem Aufsatz «Wo bleibt der Designer? Über Identität und Pluralität»74 hat Gudrun Scholz die wichtigsten Intentionen des Neuen Design in Italien und Deutschland mit Beispielen zusammengestellt. Einige der folgenden Methoden sind auch für NID relevant: Den neuen Einsatz von Müllobjekten bezeichnet sie als «Kontextübertragung». Die «Radikalisierung des Alltags» bezieht sich vor allem auf Materialien. Radikalisierung ist hier nicht als Banalisierung, sondern als Ernstnehmen des Alltags zu verstehen, in dem Sinne, als es galt, sich kompromisslos aus dem Repertoire der Alltagsmaterialien zu bedienen. Unter «CutUp» werden neue Materialkombinationen und Collagen der Dinge zusammengefasst, in die auch historisch Zurückliegendes integriert werden kann. Zuletzt sei hier die «Hybrid-Bildung» aufgeführt, die entgegen der traditionellen Vorstellung gestalterischer Homogenität banale Objekte durch Hinzufügen fremder Elemente verändert. Auch wenn die Intention nicht der von NID entspricht, so ist hier doch die gleiche Assoziationsfähigkeit abzulesen: und zwar bezüglich sowohl des Einsatzes überhaupt als auch der neuartigen Kombination von vorhandenen Produkten, um sie in einen neuen Sinn- und Nutzungszusammenhang zu stellen. Die Gebrauchsfunktion dieser neuen Produkte tritt dabei allerdings aufgrund ihrer gesellschaftlichen Aussage in den Hintergrund.
Mangelgesellschaften Nach den verbreiteten westlichen Konsummaßstäben sind nicht entwickelte Gesellschaften oder Zeiten, in denen für große Teile der Bevölkerung Produkt- und Materialmangel vorherrschen, prädestiniert für die massenhafte Umnutzung von existierenden Gegenständen. Die Beispiele, die wir dafür anführen möchten, sind die folgenden drei: erstens die DDR, zweitens die Zeit nach den beiden Weltkriegen in Deutschland und drittens die Länder der Dritten Welt. Die jeweiligen Gründe für die Armut und auch deren Ausmaß in diesen Gesellschaften sind zwar sehr unterschiedlich. Aber für unseren Kontext ist das Faktum der Arbeit
73
Vgl. Brandes, Uta: Design ist keine Kunst. Kulturelle und technologische Implikationen der Formgebung, Regensburg 1998.
74
Scholz, Gudrun: «Wo bleibt der Designer? Über Identität und Pluralität», a.a.O.
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als Gemeinsamkeit von Bedeutung: In Deutschland litt nach den Weltkriegen und seit 1949 auch in der neu gegründeten DDR der größte Teil der Bevölkerung an Armut75 – und für die nicht entwickelten Länder gilt das heute stärker denn je.
DDR: Selbermachen mit Anleitung Je nachdem, welche Gegenstände und Materialien vorhanden sind, gibt es kollektive Muster der Umnutzung, die von so vielen Menschen praktiziert werden, dass die «falsche» Nutzung allgemeingültig und damit «richtig» wird. In der DDR existierten – neben persönlichen und individuellen Erfindungen – sogar Zeitschriften, die Tipps gaben, wie aus dem Vorhandenen das Fehlende hergestellt werden konnte. Der ostdeutsche Guter Rat für Haus und Kleid entstand unmittelbar nach dem Krieg, als im November 1945 die sowjetische Militärverwaltung einem kleinen Leipziger Verlag die Druckgenehmigung erteilte. Die Zeitschrift lieferte Schnittmuster für Kinderkleidung aus Uniformen, Anleitungen für «Kochkisten», stellte aber auch neue Konsumgüter vor und druckte die Anleitungen zum Nachbau ab.76 Der Übergang vom kriegsbedingten zum durch Planwirtschaft bedingten Mangel wurde auch publizistisch begleitet: 1967 erschien zum ersten Mal die Zeitschrift practic77. Sie ging aus der seit 1958 bestehenden Zeitschrift Modellbau und Basteln hervor, deren Schwerpunktthema Nachbauanleitungen für militärische und andere Maschinen gewesen war. practic konzentrierte sich auf zivile Alltagsgegenstände, für die Um- und Nachbau-Empfehlungen gegeben wurden. Den Erfolg der Zeitschrift machte der enge Kontakt zu den Leserinnen und Lesern aus, die durch eigene Vorschläge und Anregungen die Publikation mitgestalteten. So wurden zum Beispiel vielfältige Variationen zum Thema Trockenhaube illustriert. Ein Leser stellte seine Erfindung vor, die aus einem Fotostativ, einer Plastiktüte, einem Fön und einem Gummiring bestand. Die Weiterentwicklung dieser Trockenhaube wurde einige Jahre später von einem anderen Leser eingereicht: Um den Nachteil zu beheben, dass bei «herkömmlichen» Plastiktüten-Trockenhauben nur die äußeren Haare getrocknet wurden, fügte er einen Plastikeimer hinzu, der für eine bessere Verteilung der heißen Luft sorgte. Weitere interessante Beispiele sind der Handmixer aus einem Elektrorasierer, Alu-Backformen als Reflektoren, ein Ventilator aus einem Tee-Ei oder eine Nachttischlampe für Kinder, die man aus einem Badeentchen und einer Seifenschale herstellen konnte. Aber auch für komplexe elektrische und elektronische Geräte wie Radios, Minitonbandgeräte, Mischpulte und Fernsteuersender wurden Bauanleitungen eingesandt. Die Intentionen der Heimwerker in der DDR waren – neben dem Wunsch nach hobbyistischer Freizeitgestaltung – primär die Behebung des akuten Mangels an funktionstüchtigen und praktischen Gebrauchsgütern.
42
75
Wobei dies für die ehemalige DDR zu differenzieren ist: Seit den 1960er Jahren verschwand die existenzielle Armut, beschränkte sich auf mangelnde Produktvielfalt beziehungsweise auf das Fehlen von bestimmten Produktgruppen und Materialien.
76
Vgl. Krössin, Dominique: «Wie mache ich‘s mir selbst?», in: Neue Gesellschaft für Bildende Kunst (Hg.): Wunderwirtschaft. DDR-Konsumkultur in den sechziger Jahren, Köln, Weimar, Wien 1996, S. 160–165.
77
Ebd., S. 161 ff.
INTENTIONALES UMGESTALTEN
«Auslösend für das große Bastelinteresse in der DDR waren letztlich Mängel und Engpässe in der Versorgung, geschluderte Produkte und die Disfunktionalität einiger Geräte. Die Heimwerker halfen nach, wo in der Produktion die Motivation und Energie gefehlt hatten. Sie wurden zu Lückenbüßern einer unzureichend durchdachten Konsumgüterproduktion. Improvisation, Nutzung von Ersatzstoffen, die Umnutzung des Ausgangsmaterials und das Funktionstüchtigmachen von Geräten – quasi Recyclingvorgänge wie aus dem ökologischen Bilderbuch – charakterisierten das Tun und Treiben der Bastler.»78 Die Zeitschrift practic hatte selbstverständlich auch eine politisch-ideologische Zielsetzung, nämlich die Durchsetzung der «wissenschaftlich-technischen Revolution», aber dieser Ansatz geriet schnell in den Hintergrund und wurde durch die Verbreitung vorindustrieller handwerklicher Fähigkeiten ersetzt, die klassisches Basiswissen für den Heimwerker sind. Obwohl die Leser der practic die dort vorgestellten Bauanleitungen wahrscheinlich eher aufgrund der persönlichen Mangelsituationen denn aus ideologischen Gründen befolgten, kann die Basteltätigkeit der DDR-Bürger nicht als nicht-intentional bezeichnet werden. Allein die Tatsache, dass die Umnutzungen nach Anleitung vorgenommen wurden, schließt eine aus einer momentanen Notsituation heraus entstehende Zweckentfremdung aus. Der zweite Grund, warum wir hier diese Umnutzungen nicht dem Phänomen NID zuordnen können, ist aber der, dass in einer Gesellschaft, in der allgemein wenig vorhanden ist, dieser Mangel ständig präsent ist. Deshalb ist die Abhilfe auch ein bewusster Vorgang; das Umnutzen oder Wiederverwerten von existierenden Gegenständen geschieht überlegt, schafft etwas Neues oder überhaupt etwas. Diese Art der erfinderischen Bastelkultur wäre wahrscheinlich nicht entstanden, hätte es vorgefertigte Produkte gegeben, die den gleichen Zweck erfüllt hätten. Nachkriegszeit: Stahlhelme zu Nachttöpfen Die Gebrauchsumwandlungen der Westdeutschen in der Nachkriegszeit sollen aus den gleichen Gründen vom Themenkomplex NID getrennt werden. Hier war der allgemeine Mangel an Alltagsgütern auf eine deutlich kürzere Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg beschränkt.1989 zeigte das Werkbund-Archiv eine Ausstellung mit dem Titel Blasse Dinge79, in der anlässlich des vierzigjährigen Bestehens der Bundesrepublik Deutschland Gegenstände des täglichen Gebrauchs aus den Jahren 1945–1949 ausgestellt waren. Viele solcher Objekte waren aus umfunktioniertem Kriegsmaterial hergestellt worden: Kerzenständer aus Gasmasken, Blumenvasen aus Zünderbüchsen, auch ein Trichter aus einer zerschnittenen Panzerfaust war zu sehen. Die Ausstellung zeigte ebenfalls Güter, die aus dem eingeschmolzenen und neu verarbeiteten Metall aus der Rüstungsproduktion realisiert worden waren. Vor allem Aluminium, ein teurer, wegen seines geringen Gewichts hauptsächlich in der Flugzeug- und Motorenherstellung eingesetzter Rohstoff, war nach dem Krieg im Überfluss vorhanden und
78
Ebd., S. 162.
79
Vgl. Werkbund-Archiv (Hg.): Blasse Dinge, Werkbund und Waren 1945–1949, Berlin 1989.
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wurde gern zu Kochtöpfen verarbeitet. Eine Auffälligkeit, auf die Siepmann80 in seinem Vorwort zum Ausstellungskatalog hinweist, ist die ornamentale Verzierung der Gegenstände; in unserem Zusammenhang ein weiterer Hinweis darauf, dass es sich bei der Umwandlung um sehr bewusste Vorgänge handelte. Diese Ornamentierung war möglicherweise Zeichen eines Aneignungsprozesses: «Verschönerung» eines ehemals martialischen Dinges. Das kapitalistische Wirtschaftswunder und die damit einhergehende ausreichende Versorgung mit Konsumgütern in Westdeutschland setzten der Improvisationstätigkeit der Bundesbürger ein – im Vergleich zur DDR – relativ schnelles Ende.
«Dritte Welt»: Recycling von Wohlstandsmüll In Ländern, deren Bewohner über Jahre oder Jahrzehnte mit dem Mangel oder der Nichtexistenz an Gütern leben müssen, trifft man auf die Umnutzung von Produkten aus den Industriegesellschaften zu Alltagsobjekten. Beispiele dieser Art der Produktumwandlung wurden im Rahmen einer Ausstellung über das Material Gummi gezeigt: die Wiederverwendung von gebrauchten Autoreifen.81 In Marokko, Haiti oder auf den Philippinen finden sich überall Handwerksbetriebe, die Reifengummi zu unterschiedlichen Gebrauchsgegenständen herstellen. Die Verarbeitung geschieht mit Werkzeugen und Techniken, die auch für die Lederverarbeitung verwendet werden; das Rohmaterial, obwohl bereits gebraucht, wird nicht als Müll aufgefasst, sondern als nützlich und verwertbar. Die Handwerker kaufen es billig von Kfz-Werkstätten. Produziert werden daraus zum Beispiel Eimer, Krüge, Taschen und Schuhe. Da sich die GummiProdukte in vielen Fällen als funktionaler und haltbarer erwiesen haben als die aus den üblichen Materialien geschaffenen Objekte, sind die Gummi-Verwerter zu einer ernsthaften Konkurrenz für die traditionellen Berufe der Töpfer, Korbflechter und Lederhandwerker geworden. Krüge aus Ton, mit denen Wasser vom Brunnen nach Hause transportiert wird, sind schwerer und zerbrechlicher als Gummi-Krüge; Hufbeschläge aus Gummi bieten auf glatten Asphaltstraßen mehr Halt für die Tiere als Eisenbeschläge. Die Gummi-Handwerker haben sich aber nicht nur gegen die traditionellen Produkte, sondern auch gegen die industrielle Konkurrenz der Plastikprodukte durchgesetzt. Sie können ihre Waren sogar zu einem deutlich höheren Preis verkaufen. Die Einstellung, in Abfall brauchbare und wiederverwertbare Rohstoffe für Neues zu sehen, ist zweifellos eine Denkweise, die der des NID ähnelt. Obwohl von den Autoren des oben genannten Artikels auch die ökologische Komponente der Wiederverwertung von Gummi betont wird, entspringt diese Entwicklung offensichtlich jedoch keinem ökologischen Bewusstsein und auch keiner spontanen Handlung, sondern der technologischen Entwicklung eines ganzen Handwerkszweiges.
44
80
Vgl. Siepmann, Eckhard: «Alltagsgegenstände 1945–1959», in: Blasse Dinge, Werkbund und Waren 1945–1949, a.a.O.
81
Vgl. Giersch, Ulrich; Kubisch, Ulrich: «Das zweite Leben der Gummibereifung. Reifenrecycling durch handwerkliche Umnutzung», in: Gummi. Die elastische Faszination, Berlin 1995.
INTENTIONALES UMGESTALTEN
Ein Beispiel für einen kompletten Funktions- und Bedeutungstransfer von Konsumgütern ist die Verwendung von Coca Cola in verschiedenen Ländern. In Russland benutzt man das Getränk, um Falten zu glätten; in Haiti wird es in Voodoo-Zeremonien eingesetzt, um Tote zum Leben zu erwecken; in Mexico hilft Coke, mit Gott Verbindung aufzunehmen, auf der japanischen Insel Süd-Ryukyu werden Coca Cola-Flaschen wegen ihrer bauchigen Form als Glückssymbole verehrt und haben die Keramikfiguren schwangerer Frauen ersetzt, die früher auf den Altären standen.82 Im Kontext von NID eröffnen diese Beispiele eine weitere Dimension der Gebrauchsumwandlung: Was geschieht mit einem Gegenstand, der aus seinem ursprünglichen kulturellen Kontext herausgenommen und in einem fremden Umfeld zu Zwecken benutzt wird, die zunächst «falsch» erscheinen? Wir müssen streng bleiben: Wie bei dem Autoreifen-Beispiel handelt es sich bei den Transformationen westlicher Profangegenstände zu sakralen Reliquien in außereuropäischen Kulturen um einen bewussten, «kreativen» Vorgang – und damit nicht um NID. Ebenso verhält es sich mit dem umgekehrten Vorgang, wenn in Europa afrikanische Kultfiguren als Schmuck oder Brieföffner benutzt werden.
Ökologisches Design Die Idee des ökologischen Design tauchte bereits im Bauhaus, beim Werkbund und in der Ulmer Hochschule für Gestaltung auf. Nach der Energiekrise Anfang der 1970er Jahre erhielten die damit einhergehenden Gestaltungsanforderungen durch den Bericht des «Club of Rome» erstmalig auch gesellschaftliche Notwendigkeit. Es entstand der Begriff «Öko-Design» (Eco-Design), der nicht nur Materialeinsparungen und Recycling-Konzepte impliziert, sondern auch die Langlebigkeit und Mehrfachnutzung vorhandener Produkte propagiert. Zusätzlich wird die Öffentlichkeit genutzt, um das Konsumverhalten der Industriegesellschaften in Frage zu stellen. Dies hat sich mittlerweile durch die akute Debatte über die Klimaerwärmung noch verschärft, und die Dimensionen ökologischer Zerstörung oder Verantwortung – je nach Perspektive – sind ins Bewusstsein großer Teile der Öffentlichkeit vorgedrungen. Aber kehren wir zurück in die 1970er Jahre: Die Gruppe «des-in» wollte mit ihrem «Recycling-Design», als sie Abfallprodukte (Autoreifen) für ihr Reifensofa verwendeten, keinen neuen Verkaufsschlager erzeugen, sondern provozieren und zum Umdenken anregen. Insgesamt verfolgte das «Avantgarde-Design» der damaligen Zeit immer auch ökologische Aspekte: Der Einsatz von unbehandelten Materialien wie Stahl, Gummi und Holz schont Ressourcen im Produktionsprozess und regt zur Nachahmung an. Industrie-Materialien, rostender Stahl und Äste sind dadurch salonfähig geworden, und immer mehr Menschen folgten Axel Kufus’ Devise, sich von den Dingen auf dem Schrottplatz zu eigenen Entwürfen inspirieren zu lassen und diese einer neuen Verwendung zuzuführen.83
82
Vgl. Breidenbach, Joana; Zukrigl, Ina: Tanz der Kulturen. Kulturelle Identität in einer globalisierten Welt, a.a.O.
83
Kufus, Axel: «Material und Arbeit», in: Brandolini, Andreas: Kamingespräche. a.a.O., S. 121.
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2
1
3
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Müll als Inspiration Das Berliner Label «Rafinesse & Tristesse» stellt Hocker und Kinderküchen und -waschbecken aus alten Olivendosen her. Was andere Menschen als Müll wegwerfen, ist für sie Quelle der Inspiration. Es entstehen handgefertigte Unikate unter Verwendung von möglichst vielen Recycling-Produkten (wie Dosen für Puppen-Kochtöpfe, Dosendeckel als Herdplatten etc.) – und das kommt auch der Umwelt zugute.
4
5
In dem Projekt A.R.M. (All Recycled Material) stellt die Künstlerin Barbara Caveng Möbel und Produkte aus Sperrmüll her. Sie will hiermit auf die zunehmende Armut in der Überflussgesellschaft aufmerksam machen und Weggeworfenem beispielhaft neues Leben geben. Jörg Jelden vom Hamburger Trendbüro nennt diese neue Welle der RecyclingMöbel «Upgrade»-Gesellschaft. Das Motto «Aus alt mach neu» gewinnt wieder an Bedeutung, denn nach der Wegwerfgesellschaft der 1980er und 1990er Jahre suchen Menschen nach einem Mehrwert, einer Geschichte und Einzigartigkeit der Produkte. [Vgl. Lucia Jay von Seldeneck: «Umgemöbelt», in: Der Tagesspiegel, 06.04.2008, http://www.rafinesse-tristesse.com, http://www.a-r-m.net.]
Petra Schultz, Karin Yilmaz-Egger und Katrin Gaberell, Möbel aus Olivendosen, Rafinesse & Tristesse, 2006 1/3 «Frizzle Sizzle», Kinderküchenherd 2
«Tin Tuffet», Hocker
Barbara Caveng: E.T.A.T., Garderobe aus Polsterfederkern und gefundener Holzplatte, A.R.M., 2007 4
Fundgrube Sperrmüll
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Das alte Polsterkissen
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Die «neue» Garderobe «E.T.A.T.»
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Inzwischen zählen Produktverzicht und das Aufwerten bereits bestehender Lösungen zu den selbstverständlichen Grundgedanken des ökologischen Design. Friedrich Schmidt-Bleek und Ursula Tischner stellten bereits 1995 unter den Stichworten von «Multifunktionalität» und «Möglichkeiten des Mehrfach- und (Langzeit-)Nutzens» die Frage nach der «Potenz der Produkte, Nutzen zu stiften».84 Als Beispiel wird der vielfältige Einsatz der Sicherheitsnadel angeführt, die vorrangig Verbindungen zwischen dünnen Materialien schafft, aber auch als Dietrich Schlösser ohne Schlüssel öffnet. Doch Nutzen stiften nicht allein Dinge, sondern auch Dienstleistungen. Unterschiedliche Prinzipien zum «Gemeinsam-Nutzen» wie Leasing, Sharing und Pooling lassen die Produkte flexibel von einer Person zur anderen wandern und stellen einen neuen Tauschhandel vor, in dem nachbarschaftliche Hilfeleistungen als Tauschwährung genutzt werden. Ähnlich wie bei NID geht es im ökologischen Design verstärkt darum, Nutzen zu gestalten, auch wenn die Intentionen und Ausgangsbedingungen sich voneinander unterscheiden. Umgekehrt ist NID per se ressourcenschonend und kann daher durchaus als ökologisches Handeln eingestuft werden.
Bewusster Produktverzicht Die Einschränkung der Dingwelt muss jedoch nicht notwendig aus ökologischen Gründen oder Mangel erfolgen. Auch der bewusste Produktverzicht lehrt einen Umgang mit den Dingen, in denen vielfach NID-Lösungen enthalten sind. Ob als Protesthaltung gegen die Konsumwelt, aus einer asketischen Lebenshaltung, die religiös begründet ist oder als Ausdruck einer nomadisierenden Lebensweise: Bei all diesen Geisteshaltungen sind die umgebenden Produkte sorgsam ausgewählt und dementsprechend mannigfaltig in ihrem Gebrauch. Matratzen werden zu Sitz-, Schlaf-, Ruhe- und Essplätzen; Töpfe werden zu Tellern, aus denen man zugleich isst, oder zu Schüsseln, in denen man Pudding anrührt und Salat anmacht. Gerade in dieser Beschränkung der Gegenstände wird deutlich, wie sehr wir uns normalerweise daran gewöhnt haben, für jede Funktion ein eigenes Produkt zu Hand zu haben. Bazon Brock hat darauf aufmerksam gemacht, dass insbesondere bei Jugendlichen diese Einstellung anzutreffen ist. «Es gibt doch viele junge Leute, die ganz ohne Möbel auskommen; die ihre Kleider an einer Schnur aufhängen, die keine Betten mehr haben, sondern teppichbelegte Schlafpodeste, die aber genauso gut als Sitzplatz dienen; und das alles nicht aus nackter Not, sondern weil sie es nicht anders wollen. […] Ganz klar ist jedenfalls, dass man durch das Ausräumen der Gegenstandswelt in seiner Orientierungsfähigkeit geschwächt wird. Das erste Beispiel dafür ist, dass die meisten jungen Menschen den Raum leerschaufeln, freischaufeln, weil sie sich befreien wollen von einer Gegenstandswelt, auf deren Strukturierung und Ordnung sie aktiv noch keinen Einfluss haben können.»85
48
84
Vgl. Schmidt-Bleek, Friedrich; Tischner, Ursula: Produktentwicklung. Nutzen gestalten – Natur schonen, Schriftenreihe des Wirtschaftsförderungsinstituts, Bd. 270, Wien 1995.
85
Brock, Bazon: Ästhetik als Vermittlung, a.a.O., S. 416.
INTENTIONALES UMGESTALTEN
Der Unterschied zum NID-Phänomen besteht in der bewussten Provokation von NID-«geladenen» Situationen: Die Umnutzung wird hier als gewolltes Lebensprinzip eingesetzt und als solches nach außen getragen. Während viele der sonst entstehenden NIDs eher unbemerkt, unreflektiert, manchmal heimlich stattfinden, zum Beispiel, wenn Brieföffner zum Nagelreinigen benutzt werden, ist bei absichtlichem Produktverzicht die Zweckentfremdung ein Mittel, den eigenen Lebensstil zu demonstrieren. Dennoch dürfte sich gerade diese Haltung als wahre Fundgrube für NID-Nutzungen entpuppen und sicher auch den einen oder anderen kommerziellen Entwurf inspiriert haben.
Kommerzielle Verwertung In allen größeren Städten gibt es Design-Läden, die Produkte aus Entwicklungsländern verkaufen.86 Diese Objekte sind originär nicht intentional, wurden indes später kommerzialisiert. Auffällig ist, dass sie größtenteils entweder aus Mangelgesellschaften oder aus dem Kontext der Kunst beziehungsweise des «Statement-Design» stammen. Durch die Übertragung in das Umfeld von Design-Shops haben sie ihr Armuts- beziehungsweise Manifestimage komplett verloren. Deshalb stört sich bei Objekten, die aus Resten der Zivilisationsgesellschaft hergestellt wurden, wie zum Beispiel Körben aus Kabelresten, auch niemand an den meist sehr hohen Preisen. Es findet eine Bedeutungsverschiebung statt. Ein Gegenstand wurde aus einem konkreten Mangel heraus entworfen und die Idee später in eine Wohlstandsgesellschaft importiert. Hier hat der Gegenstand nicht mehr den Zweck, den Mangel zu beseitigen, für den er entworfen wurde, sondern er wird zur Befriedigung eines ganz anderen Bedürfnisses, dem nach Authentizität, eingesetzt. Ob die Gegenstände tatsächlich aus der Mangelgesellschaft stammen (wo sie herzukommen scheinen) oder ob sie in großen Mengen hier produziert wurden, scheint dann keine Rolle mehr zu spielen. Andere Objekte imitieren das Designverständnis der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts, werden in den Design-Shops jedoch nicht als Einzelstücke, sondern «von der Stange» verkauft. So gibt es zum Beispiel einen Getränkekasten, der mit Hilfe eines geformten Bleches zum Hocker oder zur Leiter wird, und ein Teelicht mutiert mit einer einfachen Drahtkonstruktion zum Wand-Kandelaber.
Heimwerker und Hobbybastler Hobbyist, Heimwerker, Bastler – unterschiedliche Bezeichnungen für Menschen, meist männlich, die Dinge eigenhändig herstellen, reparieren oder optimieren. «‹Heimwerker› war ursprünglich der Warenname für einen Werkzeug-Set, bestehend aus einer elektrischen Bohrmaschine und einigen als Grundausstattung anzusprechenden Zubehörteilen. Das Ganze zumeist in einem Karton verpackt, auf dem sich früher diese
86
Zum Beispiel: «Handle with Care» und «O.K.-Versand».
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Bezeichnung in der Regel aufgedruckt fand. Heute gilt sie im populären Sprachgebrauch auch für das Subjekt, das sich dieses Werkzeuges im Rahmen eines Hobbys bedient; und als ‹Heimwerken› abgewandelt, wird sie auch auf diese Hobbytätigkeit selber angewandt.»87 Ist «Heimwerken» eine nicht intentionale Tätigkeit? Schon die Tatsache, dass dieses Tun neben einem speziellen Namen sogar einen eigens dafür vorgesehenen Versorgungszweig, den Baumarkt, hervorgebracht hat, legt die Vermutung nahe, es könne sich beim Heimwerker nicht um einen «NIDler» handeln. Dennoch soll diese Freizeitbeschäftigung hier kurz untersucht werden. Die Heimwerker haben sich in den 1960er Jahren in Deutschland als eigene Konsumentengruppe etabliert, deren Bedarf an Werkzeugen, Spezialmaschinen und Materialien später von den Baumärkten gedeckt wurde. In der DDR hatte das Do-it-yourself aufgrund von Versorgungsengpässen wahrscheinlich eine größere Bedeutung als in der BRD, aber die Motivation, die die Menschen an die Werkbänke trieb, war in beiden Teilen des Landes dieselbe: die Bestätigung durch erfolgreiches Schaffen und Reparieren, der Ansatz eines autarken Lebens. Friedrich W. Heubach hat die Tätigkeit aus psychologischer Sicht betrachtet und festgestellt, dass die Intention des Heimwerkers nicht etwa die finanzielle Ersparnis oder das Herstellen nützlicher Objekte sei, sondern das Wichtigste am Heimwerken sei die Arbeit selbst. Der Heimwerker erlebt sich während seiner Aktivität als tätiger, Verbindungen herstellender Mensch. Im Produkt spiegelt sich der Bastler wider, und da die Objekte meist nicht vollendet werden, bleiben sie in einer Abhängigkeitsbeziehung ihrem Schöpfer verhaftet und repräsentieren seine Individualität. Mehrere der oben genannten Aspekte erhärten also die These, dass Heimwerken keine NID-Tätigkeit ist: Der bewusste Gang in die Heimwerker-Abteilung des Baumarktes, um Material zu kaufen, das damit verbundene Zugehörigkeitsgefühl zu einer Gruppe und vor allem die Relevanz der psychologischen Seite der Tätigkeit, die die praktische offensichtlich überwiegt, weisen den Heimwerker als kreativen, intentionalen Hobbykünstler aus.
Aneignungsstrategien Dinge können nicht nur in ihrer Materialität, sondern auch in ihrer Bedeutung verändert und erweitert werden: In Togo gibt es den Kult um die Wassergöttin Mami Wata. Sie wird in Form einer hölzernen Meerjungfrau mit eindeutig europäischen Gesichtszügen und langem glattem Haar verehrt. Die Figur trägt westliche Kleidung, Sonnenbrille und Modeschmuck und hält einen Autospiegel in der Hand. Um sie herum sind Puderdosen, Parfumflakons, Softdrinks, Kerzen und Süßigkeiten aufgebaut. Bei Festen zu Ehren der Gottheit werden westliche Speisen verzehrt, und es wird zu Walzermusik getanzt. Dieses Beispiel der Integration westlicher Konsum- und Kulturgüter in das Alltagsleben außereuropäischer Kulturen wird von den
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Heubach, Friedrich W.: Das bedingte Leben. Theorie der psycho-logischen Gegenständlichkeit der Dinge, a.a.O., S. 141.
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Ethnologinnen Breidenbach und Zukrigl88 im Zusammenhang mit der Frage nach Authentizität in einer globalisierten Gesellschaft genannt. Die Holzfigur wurde zwar als Objekt nicht verändert, aber die Bedeutung hat sich durch die Übertragung in einen anderen Kulturkreis gewandelt. Ein Begriff, der sowohl in der soziologischen als auch in der psychologischen Forschung für diese Art des Objektgebrauchs verwendet wird, ist der Terminus der «Aneignung». Sich Objekte anzueignen, sie mit einer persönlichen Bedeutung zu versehen, scheint ein tief verwurzeltes Bedürfnis des Menschen zu sein. «Wenn der ‹Eingeborene› sich auf eine Uhr oder einen Kugelschreiber stürzt, nur weil es ein ‹westliches› Erzeugnis ist, so empfinden wir das als absurd und komisch, denn er gebraucht diese Dinge gar nicht, sondern nimmt sie nur mit Eifer in Besitz, auf kindische Weise und in der Vorstellung der Macht. Der Gegenstand hat hier keine Funktion, sondern eine Tugend, eine Eigenschaft: Er wird zu einem Symbolzeichen.»89 Auch innerhalb eines Kulturkreises finden permanent Aneignungsvorgänge statt. Geschenke stellen eine Beziehung zwischen Schenkenden und Beschenkten her, Andenken, Erinnerungsstücke schlagen eine Brücke in die Vergangenheit, Glücksbringer und Talismane besitzen eine Kraft, die das Objekt zu einem symbolischen macht. Jeder Gegenstand, zumal, wenn er der Massenproduktion entstammt, muss den Prozess der Aneignung durchlaufen, bevor er zum Besitz wird. Objektiv verändert dieser Vorgang den Gegenstand nicht, und die Aneignung vollzieht sich selten bewusst. Aneignung ist in unserem Kontext eine zentrale Kategorie, weil sie den Implikationen von NID nahe ist. «So kann ein Ding zu ganz anderen Zwecken gebraucht werden, als wofür es geplant und gestaltet wurde. Der Designer vermag den Gegenstand nur mit sehr allgemeinen Anmutungseigenschaften auszustatten; der Gebraucher nimmt ihm das Heft aus der Hand und gestaltet selbst, insoweit jeder Gebrauch teilweise selbstbestimmte Ordnungsprinzipien, Deutungslinien und Erfahrungsdimensionen schafft oder sich darauf bezieht. Hinter allen sozialen Normen und dem je gültigen zivilisatorischen Deutungsmodell der Dinge dehnen sich zahllose Varianten des persönlichen Wertempfindens, der Gebrauchsökonomie und -ästhetik aus, die kein Designer je gedacht haben kann oder denken könnte, es würde ihn nur verwirren.»90 Obwohl Selle und Boehe in diesem Satz keine bahnbrechende Entdeckung formulieren, sprechen sie doch etwas aus, das vielen, wenn nicht sogar den meisten professionellen Designerkreativen gar nicht bewusst zu sein scheint: Sie können sich noch so viele Gedanken über die Anwendungsmöglichkeiten der gestalteten Objekte machen, sie mit ausgeklügelten Interfaces ausstatten, ihnen intelligente Gebrauchsanleitungen beilegen – in dem Moment, in dem der Gegenstand verkauft wird, ist er ihrem Einfluss entzogen und häufig sogar den Vorstellungen, was mit dem gestalteten Objekt überhaupt geschieht, wie es genutzt wird. Erstaunlicherweise scheint das vielen Designern gar nicht wichtig zu sein. Es existieren zwar einige Untersuchungen darüber, wie Konsumgüter genutzt werden, vor allem im
88
Vgl. Breidenbach, Joana; Zukrigl, Ina: Tanz der Kulturen. Kulturelle Identität in einer globalisierten Welt, a.a.O.
89
Baudrillard, Jean: Das System der Dinge, a.a.O., S. 106.
90
Selle, Gert; Boehe, Jutta: Leben mit den schönen Dingen. Anpassung und Eigensinn im Alltag des Wohnens, a.a.O., S. 50.
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Bereich der Wohnungseinrichtung, aber hier liegt das Hauptinteresse auf soziologischen Schlussfolgerungen. Die Untersuchung von Selle und Boehe aus dem Jahr 1986 bietet Einblick in die Thematik:91 Die Autoren untersuchen die Beziehungen, die Menschen zu den Gegenständen in ihren Wohnungen aufbauen. Anhand von Fallbeispielen erforschen sie das «Aneignungsverhalten» einer bestimmten Gruppe von Menschen (Mittelschicht, zwischen 40 und 50 Jahren). Dazu wurden die Wohnungen fotografiert und Interviews geführt, in denen die BewohnerInnen erklären, welche Dinge sie besitzen und warum und wie sie damit umgehen. Basierend auf drei ausgewählten Fallbeispielen wird das Verhalten interpretiert. Jeder Gegenstand hat sowohl eine geschichtliche als auch eine soziale Komponente. Die Geschichtlichkeit äußert sich darin, dass den Dingen des alltäglichen Lebens eine Gebrauchsanweisung innewohnt, die frühere Generationen im Umgang mit diesen Dingen aufgestellt haben und an die man sich heute noch weitgehend hält. «Sozial» bedeutet in diesem Zusammenhang, sich an gewisse Normen und Verhaltensregeln im Umgang mit den Dingen zu halten, die von der Gesellschaft oder von den Kreisen, innerhalb derer man sich bewegt, formuliert wurden. Zum Beispiel benutzt man das Messer bei Tisch zum Schneiden und nicht dazu, den Nachbarn zu pieksen. Innerhalb dieses Rahmens gibt es jedoch einen Freiraum, der genutzt wird. Die Autoren nennen es «Aneignungsverhalten» oder «Eigensinn». Es gibt individuelle Methoden, mit denen Massenprodukte angeeignet werden. Dadurch, dass sie auf spezifische, «eigensinnige» Art gebraucht werden, erhalten die Dinge einen zusätzlichen Wert für ihre Besitzer. In dieser Untersuchung wird nicht von einer Umfunktionierung der Gegenstände gesprochen, sondern davon, dass die Dinge zum Beispiel in eine Familientradition gestellt oder mehrfach repariert werden oder dass sie durch ein bestimmtes Arrangement mit Bedeutung aufgeladen werden. Die Autoren betonen wiederholt, dass es eine Diskrepanz gibt zwischen den Vorstellungen, die Designer von ihren Entwürfen haben, und dem Verhalten der Benutzerinnen (und umgekehrt). Sie weisen auch ausdrücklich darauf hin, dass die Designtheorie es bisher (1983) versäumt habe, den Zwischenraum zwischen Entwurf und Gebrauch zu untersuchen. – Das allerdings hat sich seit der immer noch klugen Untersuchung zu verändern begonnen.
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Ebd.
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Widersprüche im Objekt zwischen Designanspruch und Gebrauch
Form und Funktion als Eigenarten der Benutzung Als Einstieg in die Bildbeispiele von Nicht Intentionalem Design möchten wir einen kurzen Überblick über relevante Designansätze zum Objekt und der Umsetzung der Intentionen im Gebrauch darstellen. Zwei Parameter werden immer wieder zitiert, anhand derer sich die Eigenart eines Objektes ablesen lässt: die Form und die Funktion des Gegenstandes. Während die Funktion dem Objekt sozusagen «Vernunft» verleiht und darüber sein Dasein rechtfertigt, verkörpert die Form diese im Sosein des Objekts. Die enge Beziehung zwischen beiden hat erstmals die Aussage «form follows function» betont. Hier herrscht die Funktion über die Form; sie bestimmt, wie ein Ding auszusehen hat. Bezogen auf NID stellen wir allerdings fest, dass spätestens im Gebrauch ähnliche Formen für denselben Zweck verwendet werden, selbst wenn sie nicht für dieselbe Funktion geschaffen wurden. So öffnen wir Briefe mit dem Messer und könnten umgekehrt notfalls auch mit einem Brieföffner Brote schmieren. Bei diesem improvisierten Verhalten suchen wir nicht vordergründig nach einer Funktion, sondern nach einer Form, die unserer Erfahrung mit jener, die den Zweck bisher erfüllt hat, am nächsten kommt. Auf diese Umkehr des Verhältnisses von Form und Funktion macht van den Boom aufmerksam: «Bei Wittgenstein treffen wir jedoch auf einen logisch erweiterten Formbegriff: Die Form eines Gegenstandes ist die Möglichkeit seines Vorkommens in Sachverhalten; die Form ist die Summe seiner Vorkommensmöglichkeiten in Sachverhalten. Wir sind weiter gegangen und behaupteten: Die Form eines Gegenstandes ist die Summe seiner Vorkommensmöglichkeiten in Lebensformen. […] Dann gilt: Die Form eines Gegenstandes ist die Summe seiner Vorkommensmöglichkeiten in Benutzungen. Damit gilt nicht mehr: form follows function, sondern eher: form follows use.»92 «Use», also Nutzung, bindet die Nutzenden in eine spezifische Art der Objektbeziehung zwischen Form und Funktion ein. In dem Moment, wo der Gebrauch mit berücksichtigt wird, scheinen sich die gewohnten Bedingungen von Form und Funktion aufzulösen. Denn «man kann – im Prinzip – alles zu allem benutzen, mehr oder weniger gut. Die Benutzung ist nicht, wie die dedizierte Funktion, eine Entelechie des Dinges. Wer etwas zweckentfremdet benutzt, hat einen anderen Zweck als den durch die standardisierte Funktion erreichbaren gewählt.»93 Die Form folgt nicht der Funktion, sondern dieser Art der Benutzung! «[…] Benutzungen kann man nicht vorausplanen, strikt entwerfen, in einem gewissen Sinne! Denn das Um-zu ist frei!»94
92
van den Boom, Holger: Betrifft: Design. Unterwegs zur Designwissenschaft in fünf Gedankengängen, Braunschweig 1994, S. 107.
93
Ebd., S. 107 f.
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Ebd., S. 108 f.
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Die Schlussfolgerungen, die van den Boom daraus zieht, verweisen auf die zwei Ausgangspositionen, Objekt und Subjekt, von denen aus das Phänomen NID betrachtet werden kann. «Benutzungen gibt es nur da, wo Alternativen sind. Benutzung impliziert Wahl: Entweder ist es ein besonderes Mittel zum erkennbaren Zweck oder es liegt ein ausgezeichneter Zweck vor. 1) verschiedene Mittel für denselben Zweck: Benutze x (und nicht y) 2) dasselbe Ding für verschiedene Zwecke (Multifunktionalität): Benutze x (um z zu erreichen).»95 Während bei Punkt 1) aus einer Intention unterschiedliche Lösungsmöglichkeiten herangezogen werden, also die Nutzerseite im Zentrum steht, wird unter Punkt 2) zusammengefasst, welche Benutzungsmöglichkeiten uns die Objekte selbst anbieten. Diese Einteilung in die Subjekt- und Objekt-Perspektive stellt auch ein spannendes Feld für weitere Untersuchungen im Bereich NID dar.
Der Umgang mit den Bedeutungen Der Semiotik und Semantik wird mittlerweile auch von Seiten des Design große Aufmerksamkeit entgegengebracht.96 Hierbei geht es um die Interpretationsfähigkeit, aus vorhandenen Formen die vorgesehenen, damit verbundenen Funktionen und Bedienungen abzulesen. Gerda Smets, die an der TU Delft das Fachgebiet «Formtheorie» lehrt, ergänzt die Form-Funktion-Definition durch den Aspekt der Wahrnehmung. «Nach der neuen Theorie der Form sehen wir nicht Formen, sondern Verhaltensbedeutungen.»97 Erstrebenswert nach der Semiotik sind hierbei die Eindeutigkeit der Formen und die sich daraus ergebenden Verhaltensbedeutungen. So ist die leichte Erkennbarkeit der Dinge das höchste Ziel des semiotischen Design-Prinzips. Abweichung davon wird als Informationsverlust erlebt. Nicht eingelöste Gestaltungsintentionen und das daraus resultierende Fehlverhalten des Subjekts werden hier als negativ eingestuft und sollen verhindert werden. Wenn die Objekte nicht klar erkennbar sind, haben laut dieser Theorieansätze das Design und die Gestaltenden versagt. Mit dem Einzug neuer technischer Geräte in das Büro und den Privatraum wurde an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach in den 1970er Jahren der Begriff «Anzeichenfunktion» geprägt. Da die neuen High-Tech-Produkte ihre eigentliche Funktion verhüllen, müssen durch die Gestaltung künstliche Anzeichen geschaffen werden, anhand derer Nutzen und Gebrauch erkennbar werden. Im Gegensatz zu diesen strikte Prinzipien der Gestaltung festschreibenden Forderungen sehen wir in der Eindeutigkeit oder Mehrdeutigkeit der Produktsemantik einerseits
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95
Ebd., S. 109.
96
Vgl. dazu zum Beispiel formdiskurs. Zeitschrift für Design und Theorie, H. 3, II/1997. Diese Nummer widmete sich dem Thema: Über Sprache, Gegenstände und Design.
97
Smets, Gerda: «Neue Experimente zur Wahrnehmung und Gestaltung von Gebrauchsgegenständen», in: Hammer, Norbert; Kutschinski-Schuster, Birgit (Hg.): Design und Identität, a.a.O., S. 42.
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eine Herausforderung für das Design, sich stattdessen mit Fragen der offenen Gestaltung zu beschäftigen, und andererseits eine vorzügliche Möglichkeit, aus eben jenen Gründen vielseitige Nutzungen zu entdecken. Die einfachen Gegenstände, deren ursprüngliche Funktion alle sofort erkennen, eignen sich besonders gut für das breite Feld der Umnutzungen, also der semiotischen und semantischen Fehlleistungen. Wir erleben dennoch diese Eigenschaft nicht als störend oder verwirrend, sondern als Bereicherung und Zusatznutzen. Diese unsachgemäßen Anwendungen sind kein Ergebnis von Hilflosigkeit, sondern das Resultat unseres (Er-)Findungsreichtums im Umgang mit den Dingen. Wenn Dinge im Sinne von NID zweckentfremdet werden, dann nicht, weil ihre ursprüngliche Funktion nicht erkannt wird, sondern weil der Mensch in der Lage ist, darüber hinaus in ihnen abstrakte oder offene Formen zu sehen. Dennoch vergisst man noch lange nicht, wofür die Dinge normalerweise dienen. Das heißt, man verwendet das Messer nicht deshalb zum Briefe öffnen, weil man nicht erkennt, wofür es sonst gut sein soll, und dieses für seine eigentliche Funktion gehalten wird, sondern weil das Messer mit einem Muster im Kopf zur Lösung des Problems übereinstimmt und sich zur Bewältigung des Problems anbietet. Es ist zu vermuten, dass das Wissen über den ursprünglichen Zweck eines Dinges und das Verstehen seiner Funktion – also klare semiotische Vorgaben – uns das Umnutzen erleichtern. So nämlich ist das Risiko gering, durch Zweckentfremdung unbeabsichtigt etwas zu zerstören. Denn von Dingen, die wir nicht kennen, scheinen wir lieber die Finger zu lassen. Der Respekt, mit dem wir der High-Tech-Welt begegnen, bestärkt den Verdacht, dass das «ordnungsgerechte» Bedienen hier über dem kreativen Eigeneinsatz steht. Dies bestätigen die vorhandenen Berührungsängste bei Technikunkundigen, die sich nur unter großer Anspannung und äußerster Vorsicht der neuen Technik nähern. Allein der hohe Wiederbeschaffungspreis und eventuell peinliche Situationen, in denen der «Missbrauch», also die zu Zerstörung führende Fehlbedienung legitimiert werden muss, sind Anlass genug, vorschriftsmäßig vorzugehen.98 Auch sonst geht man mit NID-Umnutzungen, die fehlschlugen, nicht unbedingt hausieren. Zugeben zu müssen, das Handy als Hammer benutzt und es damit zerstört zu haben, zeugt nicht von selbstbestimmtem, klugem Umgang mit den Dingen, sondern von eigenem Unwissen und Inkompetenz. So reicht der Anspruch der Semiotik nicht aus, die Bedienfunktionen allein durch die Gestaltung dieser Industrieprodukte verständlich zu machen. Daher flattern uns beim Neukauf Betriebsanleitungen ins Haus, die – in nicht gerade verständlicher Form – Funktion und Anwendung erläutern und gleichzeitig davor warnen, anders als beschrieben und vorgesehen mit den Dingen umzugehen. Insofern ist es paradox, wenn ausgerechnet der Computerhersteller Apple im dazugehörigen Handbuch empfiehlt, bei Problemen mit dem Diskettenauswurf eine Büroklammer zu Hilfe zu nehmen. Vollkommen gewöhnlich ist der Hinweis von Kameraherstellern, zum Batteriewechsel das entsprechende Kamerafach mit einer Münze zu öffnen; derselbe Rat findet sich bei Elektrogeräten (Rasierapparat, Fön etc.), deren Stromspannung von 220 auf
98
Dass dennoch auch im Kontext der Neuen Medien Umnutzungen im Sinne von NID stattfinden, wird in Kapitel «Neue Medien» dargestellt.
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110 Volt oder umgekehrt umgestellt werden kann. Und für Telefon-, Anrufbeantworter- und Faxanlagen sind Kugelschreiber zur Bedienung von Miniknöpfen und -schaltflächen unumgänglich. Obwohl also die Produzenten vom nicht intentionalen Gebrauch der High-TechGeräte abraten, empfehlen sie, Alltagsdinge zweckentfremdet zu verwenden, um bestimmte Funktionen abrufen zu können.
Alltagsgebrauch – Designanspruch Das Umnutzen von Alltagsgegenständen kommt in fast jedem Lebensbereich vor. Wir finden zweckentfremdete Dinge in der Wohnung, im Büro, auf der Straße. Beginnt man, sich mit dem Thema zu beschäftigen, kann der Blick sich kaum noch irgendwohin wenden, ohne NID zu entdecken. In jedem Büro existiert der obligatorische Becher, in dem Stifte aufbewahrt werden. In jeder Wohnung wird mindestens ein Stuhl nicht (nur) als Sitzgelegenheit, sondern (auch) als Ablage, Garderobe und Leiter benutzt. Wer hat noch nicht seine Pflanzen in Ermangelung einer Gießkanne aus einer Wasserflasche gegossen? Auf der Straße stehen Fahrräder, die an Straßenlaternen angeschlossen oder deren Sattel mit Hilfe von Plastiktüten vor Regen geschützt werden. Vor den Geschäften werden Waren auf Stühlen, Tischen und Pappkartons präsentiert. Erschöpfte Fußgänger ruhen sich auf Treppenstufen oder Blumenkästen aus. All das ist Nicht Intentionales Design. Um einen Einblick in die große Bandbreite der Anwendungsmöglichkeiten ganz normaler Alltagsgegenstände zu geben, haben wir eine Auswahl an Bildern zusammengestellt, die aus unterschiedlichen Lebensbereichen stammen und verdeutlichen, wie präsent das Phänomen NID im täglichen Leben ist. Die Fotos sind in die drei Bereiche Wohnen, Arbeiten und Öffentlicher Raum gegliedert und entstammen unterschiedlichen Kulturkreisen; der Schwerpunkt aber liegt auf europäischen Beispielen. Wie erwähnt, gibt es die vielfältigsten Gründe dafür, Dinge zu verändern, unter denen ein sehr verbreiteter die Armut ist. Diese Fotos sollen aber deutlich machen, dass die Fähigkeit, Gegenstände aus ihrer ursprünglichen Funktion zu lösen, aus vielfältigsten Motivationen entstehen kann und keinesfalls allein daraus resultiert, aus der Not eine Tugend machen zu müssen.
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Die Büroklammer
«...
Mannigfaltig lässt sich die Büroklammer auch zweckentfremden: zum provisorischen Schlüsselbund, zum Kosmetikutensil, zur Reinigung der Fingernägel oder – zurechtgebogen – zum kleinen Universalwerkzeug. Kinder hängen mehrere Klammern aneinander und erhalten so Armbänder und Halsketten. Größere Kinder verwandeln die Klammern in Munition, die sie mit Gummiringen, die sie ebenfalls in Büros finden können, abfeuern. […] Gebraucht werden die Büroklammern nicht zuletzt als Nervenberuhigungsmittel, vergleichbar den Spielkettchen im Orient. Nach anstrengenden Konferenzen oder wichtigen Telefongesprächen liegen sie auf Tischen und in Aschenbechern – arg verknäult und verbogen.
...»
Boehncke, Heiner; Bergmann, Klaus (Hg.): Die Galerie der kleinen Dinge. Ein ABC mit 77 kurzen Kulturgeschichten alltäglicher Gegenstände vom Aschenbecher bis zum Zündholz, Zürich 1987, S. 34/35.
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Privatraum Wohnung Die Wohnung ist der Bereich, in dem sich die Wünsche und Sehnsüchte der Menschen am ungehindertsten ausdrücken lassen. Hierhin zieht man sich zurück und hat die Freiheit, nach eigenen Vorlieben zu gestalten, wenn auch ökonomische Ressourcen und das soziale Umfeld die so gern behauptete Individualität einschränken. Gleichzeitig ist dieser Raum privat. Ungestört und unbeobachtet von der Öffentlichkeit entscheidet man, wem Einblick in den eigenen Rückzugsraum gewährt wird und wie intim. Diesen Ort der Entspannung nutzen wir, um uns zu erholen und uns die Freizeit in den eigenen vier Wänden so bequem und angenehm wie möglich zu machen. Dabei entstehen gerade nach dem Einzug in eine neue Wohnung häufig Behelfslösungen, NIDs. Aus Erfahrung aber wissen wir, dass viele dieser ersten Notlösungen noch über Jahre – bis hin zum nächsten Umzug – Bestand haben, ob aus Bequemlichkeit oder weil man sie über die Jahre schätzen gelernt und sich an diese Provisorien gewöhnt hat. So vereinen sich im Privatraum zwei Aspekte: Zum einen nutzen wir diesen, um unserer Persönlichkeit Ausdruck zu verleihen. Zum anderen sind wir hier geschützt und ungestört, können schalten und walten, wie es uns beliebt. Hier ist erlaubt, was wir uns zugestehen. Peinlichkeiten gibt es nicht. Dies zeichnet sich auch in den mannigfaltigen NID-Anwendungen ab. Innerhalb der Wohnung gibt es wiederum differente Bereiche, die unterschiedliche Zwecke erfüllen müssen. Während in Küche und Badezimmer häufig mehr Wert auf Funktionalität gelegt wird, dient das Wohnzimmer eher der Entspannung oder der Repräsentation. Deshalb unterscheiden sich auch die Arten der Funktionsumwandlungen in den verschiedenen Räumen. In Arbeitsbereichen wie der Küche geht es, statt um ästhetische Anmutung, eher um die Rationalisierung des Arbeitsprozesses und möglichst übersichtliche und platzsparende Methoden für die Aufbewahrung von Geräten und Zutaten. Ästhetik, Repräsentation oder Demonstration der Gesinnung spielen im Wohnzimmer eine größere Rolle.
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Die Küche Mit den achtziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts haben Industriemöbel in den Privatraum Einzug gehalten. Stahlmöbel und Industriegüter sind salonfähig geworden. Diese Alternativen erfreuen sich nicht nur bei Designbewussten, sondern gerade auch bei jungen Leuten wegen ihrer günstigen Preise großer Beliebtheit. Verwendet werden Aluregale, Laborgläser und Flaschen sowie Metalldosen zur Konservierung von Lebensmitteln, Straßentonnen als Mülleimer, Lochbleche, Haken und Stangen zur Aufbewahrung, Werkbänke als Esstische, Schneidematten als Käsebretter und vieles mehr.
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1 Kellerregal als Küchenablage 2 Alurohr als Papierrollenhalter 3 Fleischerhaken als Küchenhaken 2
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Küchenutensilien und Alltagsnotizen Aufgrund der Vielzahl von Lebensmitteln und Küchenutensilien ist der Bedarf an Abstellflächen und Aufbewahrungsbehältern in der Küche hoch. Noch die kleinsten Winkel werden genutzt, um Dinge zu lagern oder anzubringen. Waschbecken und Fensterbank werden zum Kühlschrank umfunktioniert. Auch Platz für alltagspraktische Notizen und Nachrichten gehört unbedingt dazu, und offenbar empfiehlt sich die Küche als zentraler Praxisraum den meisten Menschen am besten für diese Art des Sich-Erinnerns.
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1 Heizung als Küchenregal 2 Weinkrug als Spülbürstenhalter 3 Übertopf als Sammelbehälter für Blumentöpfe und -untersetzer 4 Blumenkörbe als Sammelbehälter für Küchenfolien 5 Boiler als Magnetwand 6 Waschbecken als Kühlschrank 7 Waschbecken als Partymülleimer 6
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3 Geschmacksneutral und abwaschbar Hygienische Eigenschaften sind bei NIDs rund um das Essen besonders wichtig. 1 Glas als Besteckkasten 2 Eierkocher als Gewürzgläser 3 Marmeladengläser als Gewürzgläser 4 Wäscheklammern als Tütenverschluss 4
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Das Bad
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Im Bad finden zahlreiche Umnutzungen statt, die häufig temporär beginnen, sich jedoch mit der Zeit zu dauerhaften NIDs entwickeln. Hierzu zählen diverse Becher und Gläser als Zahnputzglas, alle sich in der Nähe der Toilette befindlichen, spritzsicheren Ablageflächen für Klopapier wie Spülkästen, Fensterbrett, Heizung oder Klobürstengriff. Handtücher werden über der Duschstange, über Heizungen und Heizungsknäufen oder an Spülkastenschrauben und Fenstergriffen getrocknet, und in der Dusche werden Shampoo und Duschgel auf der Armatur oder dem Wannenrand abgestellt. Auch für die Aufbewahrung von Kosmetikartikeln verwendet Frau gerne Behälter wie Körbe, Blumentöpfe und Gläser.
1 Nutellaglas als Zahnputzglas 2 Heizungsknauf als Haken 3 Armatur als Ablage für Shampoo 4 Heizung als Klopapierhalter 5 Klobürste als Klopapierhalter 1
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Stauraum und Aufbewahrung – privates Recycling Um die uns umgebenden Dinge zu ordnen, zu lagern oder zu verstauen, benötigen wir übersichtliche Strukturen. Gefäße und Behälter jeglicher Art helfen, unser eigenes Ordnungssystem aufzubauen. Entleerte Schachteln, Dosen, Gläser, Kisten und Tüten werden in Zweitnutzung für verschiedene Utensilien, Lebensmittel und Kleidungsstücke verwendet. Eingebaute Tresore benutzen wir als Schrankraum, aus Backsteinen und Brettern wird ein Bücherregal, eine gespannte Kette dient als Kleiderstange.
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Der Umnutzung von Verpackungsmaterialien kommt ein besonderer Stellenwert zu. Das ist nicht erstaunlich, schließlich dienten diese Produkte auch vorher dazu, Waren in übersichtlichen und kaufbaren Einheiten zusammenzufassen, den Inhalt sicher zu verpacken oder sauber aufzubewahren.
1 Weinkiste als Sammelbehälter für Bürosachen 2 Plastiktüten als Kleidersäcke 3 Zigarrenkiste und Schuhkartons als Sammelbehälter für Münzen, Briefe etc. 4 Schuhkartons als Schubladenunterteiler 5 Gewürzgurkenglas als Sammelbehälter für Münzen 6 Kandisglas als Bonbonglas 7 Blumentopf als Sammelbehälter für Kabel 7
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Die Garderobe – Alle für eines Die Jacke oder den Mantel abzulegen ist meist eine der ersten Handlungen, wenn man vom Außen- in den Innenraum kommt. Doch nicht immer befindet sich in Eingangsnähe eine Garderobe. So greift man zum Stuhl, Spiegel, Sofa oder auch zum Bügelbrett, um das Kleidungsstück knautschfrei aufzuhängen. Die gewohnte Geste, Kleidung aufzuhängen, kann durch mehrere Gegenstände erfüllt werden.
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Auch für nasse Kleidung gibt es Alternativen zu den konventionellen Produkten: Den Wäschetrockner können Mikrowelle oder Heizung ersetzen, die Wäscheleine zum Beispiel das Balkongeländer oder ein Regal – möglichst im Freien.
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Bügelbrett als Garderobe
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Bügelbrett als Garderobe
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Stuhl als Garderobe
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Spiegel als Garderobe
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Teppich als Hutständer
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Mikrowelle als Wäschetrockner
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Heizung als Wäschetrockner
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Balkongeländer als Wäscheständer
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Regal als Wäscheständer
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Armaturen als Wäscheständer
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1 Stuhl als Garderobe 2 Stuhl als Garderobenablage 3 Stuhl als Bücherregal 4 Stuhl als Fernsehtisch 2
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Der Stuhl – Einer für alles Der Stuhl ist exemplarisch für die Nutzungs-Vielfalt eines einzigen Gegenstandes. Denn neben seiner vorgegebenen Sitzfunktion gebrauchen wir ihn für diverse andere Zwecke. Die Lehne eignet sich hervorragend zum Aufhängen von Jacken oder zum Trocknen von Handtüchern, die Sitzfläche wird zum Tritt, um höhergelegenes zu erreichen, die Stuhlbeine fungieren als Sportgerät bei gymnastischen Übungen.
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Unter Betrachtung all dieser Umwandlungen und Nebenfunktionen stellt sich die Frage, wie häufig wir die Alltagsdinge überhaupt in ihrem ursprünglichen Gestaltungskontext verwenden beziehungsweise wie hoch der Prozentsatz der Umnutzung ist. Die Wahrnehmung der Gegenstände unter der Perspektive ihrer Multifunktionalität erhärtet die Vermutung, dass einfache, niederkomplexe Objekte sich dafür besonders gut eignen.
5 Stuhl als Spielzeugregal 6 Stuhl als Nachttisch 7 Stuhl als Nachttisch 7
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Arbeitsplatz Büro Der eigene Arbeitsplatz im Büro ist oft der einzige Ort, an dem persönlich auf die Raumgestaltung und Dinganordnung Einfluss genommen werden kann. In diesem ansonsten recht anonymen und durchstrukturierten Umfeld finden sich daher die meisten NID-Anwendungen um und auf dem Schreibtisch wieder. In Bechern, Gläsern und Tassen werden Stifte und anderer Bürobedarf aufbewahrt, Bildschirme verwandeln sich zu Pinnwänden, die man mit Haftnotizen, Postkarten und Zettelchen beklebt. Daneben gibt es zahlreiche temporäre Umnutzungen wie beispielsweise das Verwenden von Büchern oder Stiften als Lineal, Stifte und Scheren werden als Brieföffner und Brieföffner zum Reinigen der Fingernägel etc. benutzt. 6
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1 Werbemüllcontainer als Visitenkartenbox, Blumentöpfe als Stiftebecher 2 Tischkante als Cutter 3 Wäscheleine als Notizbrett 4 Wäscheleine als Terminkalender 5 Becher als Stiftehalter 6 Monitor als Buchstütze und Nippesregal 7 Selbstgemachte Diskettenbox als Stiftebecher 8 Hardware als Briefablage 9 Hardware als Papierablage 7
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Öffentlicher Raum Die Straße ist sowohl der Ort der Fortbewegung als auch – vor allem in den Städten – der Ort der Waren- und Selbstpräsentation. In vielen Ländern gibt es weitaus mehr unterschiedliche Fortbewegungsmittel als in Deutschland; aber auch hier, wo neben den Autos fast nur Fahrräder oder Motorräder zu sehen sind, hat der Veränderungsdrang der Menschen noch genügend Möglichkeiten, sich zu entfalten. Die Verkehrsmittel werden als Präsentationsflächen benutzt oder – im Fall von Fahrrädern – mit Aufbauten versehen, die den Transport von Waren erleichtern. Um die Fahrräder vor Diebstahl oder Regen zu bewahren, werden sie überall angebunden und mit Einkaufstüten geschützt. Geschäftsleute bedienen sich auch in Deutschland, wo es eigentlich für jeden nur erdenklichen Zweck ein spezifisches Produkt gibt, oft ganz ungewöhnlicher Gegenstände, um ihre Waren auszustellen: Kleiderbügel werden vor dem Geschäft an ein herunterhängendes Stromkabel gehängt, Bücher auf Biertischen und Bänken präsentiert, und auch hier dienen wieder Behälter aller Art zur Aufbewahrung von Waren, die dort gar nicht hineingehören. Die Möblierung des öffentlichen Raumes (Public Design) ist, so scheint es, entweder nicht ausreichend vorhanden, oder sie erfüllt nicht den gewünschten Zweck. So sieht man im Sommer viel mehr Menschen, die auf Treppen, Blumenkästen, Absperrungen oder sogar auf dem Boden sitzen, als auf Bänken. Blumenkästen werden aber nicht nur als Sitzgelegenheit, sondern ebenfalls zur Präsentation von Waren benutzt, in Fußgängerzonen zum Beispiel von Schmuckhändlern. Laternenpfähle eignen sich hervorragend, um Fahrräder daran anzuschließen, aber auch, um Plakate oder Aufkleber anzubringen.
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Baustelle Perspektivwechsel: Während im Privatbereich Dinge und Materialien aus dem öffentlichen Raum und von Baustellen in Einrichtungsgegenstände transformiert werden, sucht man im öffentlichen Raum nach Formen, die den bekannten Gegenständen in der Wohnung formal ähneln. Hier wird Baumaterial als Garderobe benutzt, um die Kleidung nicht auf den Boden werfen zu müssen.
1 Baumaterial als Helmständer 2 Armierungsstahl als Garderobe 3 Baustellenabsperrung als Garderobe 4 Verschalungswand als Schuhschrank 1
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Hauswand als Warenständer
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Stromkabel als Kleiderstange
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Bierkisten als Flaschendisplay
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Bierbank als Büchertisch
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Europalette als Bilderrahmendisplay
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Obstkisten als Blumendisplay
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Warenpräsentation Wenn Waren außerhalb von Geschäftsräumen verkauft werden, wird häufig auf Provisorien zurückgegriffen, um sie zu präsentieren.
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Nähmaschinentisch als Hutständer
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Obstkorb als Partylichtdisplay
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Obstkiste als Warendisplay
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Schuhkartons als Schuhständer
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Tapeziertisch als Büchertisch
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Schuhkartons als Schuhständer
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Tuch als Gürtel- und Zauberwürfel-
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Absperrung als Regenschirmstand
stand 3–4 Pappkarton, Brett und Tuch als Brillenstand 3
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Markt und fliegende Händler Marktstände werden innerhalb eines Tages auf- und wieder abgebaut. Fliegende Händler, die oft illegal arbeiten, müssen hingegen in Minutenschnelle ihre Ware feilbieten und verschwinden lassen. Die nötige Flexibilität wird durch Improvisation erreicht.
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Bananenkartons als Warentisch
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Obstkisten als Warentisch
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Bananenkartons als Spielzeugdisplay
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Plakatierung Die billige Alternative zu kommerziellen Plakatwänden sind «Stadtmöbel» wie Abfalleimer und Laternenpfähle an exponierten Orten.
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1 Schaufenster als Plakatwand 2 Briefkasten als Plakatwand 3 Hauswand als Plakatwand 4 Laternenpfahl als Plakatwand 5 Laternenpfahl als Kleinanzeigentafel 6 Fensterverkleidung als Plakatwand 7 Baustellenzaun als Plakatwand 8 Mülleimer als Plakatwand 7
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Sitzen Wenn im öffentlichen Raum nicht genügend Bänke vorhanden sind, weichen mittlerweile nicht mehr allein junge Menschen auf alternative Sitzgelegenheiten aus.
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Treppenstufen als Sitz
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Denkmal als Sitz
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Strohballen als Sitz
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Grünabsperrung als Sitz
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Absperrung als Sitz
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Absperrung als Sitz
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Bordstein als Sitz
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Treppenstufen als Sitz
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Geländer als Sitz
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Sockel als Sitz
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Tempelmauern als Sitz
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Schaufensterstufe als Sitz
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Gastronomie Der Bierdeckel soll die herunterlaufende Flüssigkeit aufsaugen und liegt deshalb unter jedem Bierglas. So bietet er sich als Werbefläche an, ist aber auch bestens dazu geeignet, die Rechnung darauf zu notieren. Ein Fass hat Tischhöhe und signalisiert den Vorbeigehenden, um welche Art Restaurant es sich handelt.
1 Bierdeckel als Kellnerblock 2 Boot als Tisch 3 Fass als Tisch 1
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4 Unterwegs auf dem Zweirad Fahrräder und motorisierte Zweiräder sind praktische Fortbewegungsmittel in der Stadt, denn man kommt ohne Parkplatzsuche und Stau schnell ans Ziel. Nachteil ist das eingeschränkte Platzangebot für Gepäck und Mitfahrer, so dass viele Funktionsteile dementsprechend umgenutzt werden, oft auch unter Inkaufnahme von verkehrswidrigen Umständen wie beim Mitnehmen von Personen auf Fahrradstangen und Lenker oder – in Italien gesichtet – beim Mopedfahren einer dreiköpfigen Familie plus Hund im Fußraum.
1 Sofakissen als Fahrradsitzkissen 2 Fahrradlenker zum Tütentransport 3 Tasche zum Hundetransport auf Rad 4 Postkiste als Gepäckträger 5 Vespa zum Hundetransport 5
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Postzustellung Bei fehlendem oder unzugänglichem Briefkasten sucht der Briefträger nach passenden Alternativen, um die Post sichtbar und sicher zu hinterlegen. Für persönliche Nachrichten hat sich das Durchschieben unter der Tür durchgesetzt.
1 Haustürgitter als Briefkasten 2 Türschlitz als Briefkasten 3 Haustürgitter als Briefkasten 3
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Abfallentsorgung Wenn kein Papierkorb in der Nähe ist, wird einfach der nächste Behälter benutzt, der einem solchen ähnelt.
1 Fahrradkorb als Abfalleimer 2 Fahrradkorb als Abfalleimer 3 Zeitungsbox als Abfalleimer 4 Einkaufswagen als Abfalleimer
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Personal Computer
«...
Es gehört allerdings auch zum Wesen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts, Wissen überflüssig zu machen. Diese sonderbare Eigenschaft beruht u.a. darauf, dass Wissen in Gegenständen verkörpert ist, die nicht nur verwendet werden können, ohne dieses Wissen auch noch im Kopf zu haben, sondern auch zu ganz anderen Zwecken als denen, für die sie ursprünglich einmal hergestellt wurden. Man denke etwa an den Personal Computer, der längst überwiegend zu anderen Zwecken als dem Rechnen eingesetzt wird und ohne, dass der Benutzer das in ihm verkörperte Wissen, etwa über Schaltkreise, selbst besitzen müsste. Die ‹Zweckentfremdung› im Sinne einer nachträglichen Entdeckung neuer Zwecke ist daher ein wesentliches Merkmal des Fortschritts. Renn, Jürgen: Verehrte An- und Abwesende, Rede über die historischen Verbindungen zwischen Physik und Massenmedien zur Enthüllung einer Gedenktafel am Gebäude des ARD-Hauptstadtstudios Berlin 16.04.1999.
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...»
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Neue Medien «In Anbetracht der Tatsache, wie sehr der Computer in unsere Alltagswelt vorgedrungen ist, bin ich erstaunt, dass sich dennoch sowohl in der Hard- als auch in der Software keine Design-Kultur dazu entwickelt hat.»99 Neue Medien – darunter fallen alle Anwendungen, die mithilfe eines Computers abgerufen und genutzt werden können. Wir untersuchen hier exemplarisch aufkommende NIDs im Bereich der Hardware als materielle Manifestation dieser neuen Medien in unserem Lebensumfeld und der Software als virtuellem Datenraum mit seinen eigenen Strukturen und Gesetzmäßigkeiten. Der Bereich der Hardware wird beispielhaft am Personal Computer analysiert, und die Recherche des digitalen Raums beschränken wir auf das Internet.
Personal Computer Im Laufe seines vergleichsweise kurzen Produktlebens hat der Personal Computer so viele Funktionen in sich vereint, dass die Frage nach zusätzlichen nicht intentionierten Einsatzmöglichkeiten absurd erscheinen mag. Seine mannigfaltige Multifunktionalität bringt so manchen User zum Verzweifeln, und wohl niemand wird die Programmpalette des Computers komplett ausschöpfen. Dennoch nimmt das Verschmelzen des PC mit den Funktionen anderer High-Tech-Geräte stetig zu: Ursprünglich als Arbeitsmedium entwickelt, beinhalten Computer gleiche oder ähnliche mediale Möglichkeiten wie beispielsweise der Fernseher, die HiFi-Anlage oder das Telefon. Dementsprechend ist es inzwischen möglich, über den Rechner fernzusehen, Radio und Audio-CDs zu hören und zu telefonieren. Diese Art der Multifunktionalität, die durch die Komplexität der Produkte ermöglicht wird, ist überwiegend von Home-Anwendern und «Freaks» entdeckt und umgesetzt worden. Erforderliche Programmlösungen basier(t)en häufig auf Shareware und Erweiterungskarten. Die Industrie kam dieser Entwicklung erst langsam nach. 1995 revolutionierte die israelische Firma Vocaltec die Welt der Telekommunikation mit dem von ihr entwickelten Windows-Programm Internet Phone. Außer der Software benötigte man lediglich einen PC, eine Soundkarte, ein Mikrofon und einen Internetanschluss, um zum Ortstarif weltweit zu telefonieren. Fünf Jahre später ist das Produkt verkaufsfertig und wird trotz lauter Kritik der Telefongesellschaften und der Internetnutzer eingeführt (letztere fürchten durch diese Zweckentfremdung eine Überlastung des Netzes). Damit fällt der Startschuss für das VoIP (Voice over Internet Protocol) und alle ihr folgenden InternetTelefonprogramme und -Dienste.100 Mit dieser Ausstattung versehen, mutiert der PC vielerorts zum Billig-Telefon und ersetzt in vielen öffentlichen Telefon-Cafés den traditionellen Apparat.
99
Müller, Boris, Student des Royal College of Art, London, eingeladen zu «Youngblood Special», Vortrag auf der Profile Intermedia, Bremen 06.12.1998.
100
Vgl. Borchers, Detlef: «Telefonieren übers Internet wird salonfähig», Online-Artikel aus Die Zeit, Nr. 34 1996, http://www.zeit.de/1996/34/iphone.txt.19960816.xml 1996.
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Mit Kopfhörer, Mikrofon, Internetzugang und entsprechender Software verwandelt sich der Computer zum Telefon.
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Ein weiteres Beispiel zweckentfremdeter Hardware finden wir beim kleinen Bruder des PC, beim iPod von Apple. Nach seiner fünfjährigen Entstehungsgeschichte haben diverse Firmen Lösungen gefunden, was man mit dem kultigen Music-Player außer Musikhören noch anfangen kann. Ob als Sprach- oder Reiseführer, Kochbuch, Notizblock, als Drink- oder Weinlexikon bis hin zum religiösen Nachschlagewerk beispielsweise der Bibel oder des Korans. In Verbindung mit einem im Schuh untergebrachten Sensor und einem kabellosen Adapter wird er sogar zum Personal Trainer, der den Joggenden während des Laufens entsprechende Daten ansagt und diese auch noch aufzeichnet.101 In Bezug auf die Hardware selbst stoßen wir in der Literatur auf diverse technische Handbücher sowie einige Designpublikationen. Der Großteil beschäftigt sich mit dem Entwerfen einer ansprechenden Verpackung, der Integration und dem Verstecken der Hardware am Arbeitsplatz und im Privatraum. Über Neunutzungen wird hier jedoch wenig berichtet.102 Benutzerstudien widmen sich eher dem Blackbox-Phänomen, das den Gestaltenden freie Hand im Entwerfen der äußeren Hülle lässt. Interessant ist hierbei, dass nicht die eigentliche Funktion, sondern die Benutzung durch das Design vermittelt werden soll. Ein nicht gerade leichtes Unterfangen, denn schon das Einschalten und somit das Auffinden des Power-Schalters entpuppt sich oft als nervenaufreibend. Bei so viel funktionsbedingter Problematik ist es nachvollziehbar – aber dennoch ein Versäumnis –, dass dem anarchischen Feld der Umnutzungen von professioneller Seite wenig Aufmerksamkeit gewidmet wird. Dabei übersehen die Computer-Hersteller mit ihren kühlen, technisch anmutenden Modellen einen weiteren Aspekt: Durch den stundenlangen Gebrauch entsteht oft eine enge, fast innige Beziehung des Users zu seinem Computer. Ein Affekt, dem die PCs durch ihr Äußeres nicht gerecht werden. Vernachlässigt von der Industrie, bildet sich eine neue Gruppe von Anwendern, die «Modder», die ähnlich wie Auto-Fans, ihrem PC durch eigenen kreativen Einsatz eine persönliche Hülle verpassen.103 Sie verändern das triste Hellgrau mit poppiger Sprühfarbe, lassen den Computer mit Neonröhren in neuem Licht erscheinen, ersetzen Teile des Gehäuses mit Glasscheiben für neue Einblicke, statten Lüfter mit Lichtern aus und ersinnen neue Lochmuster für die Luftlöcher. Ein Trend, den inzwischen auch die Zulieferer-Firmen erkannt haben und den Markt mit entsprechenden Produkten versorgen. Doch der wahre Modder ist immer auf der Suche nach eigenen innovativen Verpackungen für die enthüllte Technik. Je ausgefallener, desto besser. Case-Con104 (Case Construction) nennt sich diese neue Disziplin, die Computer in Blumentöpfen, Feuerlöschern, Autoreifen,
101
Vgl. Wildermann, Gregor: «Intelligente Zweckentfremdungen», Online-Artikel aus Spiegel online, http://www. spiegel.de/netzwelt/tech/0,1518,443726,00.html 21.10.2006.
102
Ausgenommen einige Publikationen über subversive Aktionen, die aus neuen medialen Zusammenschlüssen hervorgegangen sind, die sich allerdings mit den Formen des Gebrauchs weniger als mit der Deskription inhaltlicher Aktionen beschäftigen. Vgl. u.a. Agentur Bilwet: Bewegungslehre. Botschaften aus einer autonomen Wirklichkeit, Berlin 1991; autonome a.f.r.i.c.a. gruppe; Blisset, Luther; Brünzels, Sonja (Hg.): Handbuch der Kommunikationsguerilla, Berlin 1997; Dery, Mark: «Culture Jamming, Hacking, Slashing and Sniping in the Empire of Signs», in: Open Magazin Pamphlet Series, Nr. 25, 1993.
103
Vgl. Schröder, Martin; Henne, Jurji und Neuman, Bastian: PC-Modding, Bonn 2004.
104
Vgl. Kolwitz, Kai: «Der PC in der Palme», Online-Artikel aus netzeitung.de, http://www.netzeitung.de/internet/437501.html 04.09.2006.
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Bierkästen und Whiskeyflaschen105 einpackt. Zwar lässt sich dieses Phänomen eher der persönlichen Bastel-Leidenschaft und Selbstdarstellung zuordnen, dennoch werden hier Alltagsgegenstände zweckentfremdet eingesetzt, um originelle Lösungen zu erzeugen. Nicht nur beim Aufmotzen der Hardware stoßen wir auf NIDs, auch die äußere Hülle selbst lässt sich zusätzlich nutzen: Bildschirme werden als Pinnwand für «Post Its», wichtige Notizen, Fotos oder Postkarten verwendet. Da sie einen Großteil unserer visuellen Aufmerksamkeit am Arbeitsplatz in Anspruch nehmen, scheint sich ihr Gehäuse hervorragend als Präsentationsfläche für alles zu eignen, was wir im Blick haben möchten. So umrahmen diese papiernen Infos unsere virtuelle Arbeitswelt, weisen uns darauf hin oder erinnern uns an die Dinge, die außerhalb, in der realen Welt, auf uns warten. Ähnliches gilt in Maßen für die Computer selbst und die Tastaturen, die insbesondere beim Zwei-Finger-Suchsystem immer wieder einen Augenblick unserer Aufmerksamkeit erhaschen. Die Standfestigkeit der Monitore und Rechner macht sie zu beliebten Bücher- oder CD-Stützen. Da sie ohnehin recht platzintensiv den Schreibtisch besetzen, werden kleinere Lücken und Flächen unter und neben ihnen als Stauraum genutzt. Als Blickpunkt werden Monitore auch zu anderen Zwecken eingesetzt, und zwar nicht mehr, um dem Anwender Informationen zu übermitteln, sondern um fremde Blicke auf sich zu ziehen. Bereits bekannt aus der früheren Fernsehwelt ist die Leuchtkraft der Bildröhre. Das bläuliche Flimmern ergibt auf Partys ein vorzügliches Stroboskop-Licht, das einfach durch das Zur-Wand-Drehen und Einschalten der Mattscheibe erzeugt wird. Computer-Bildschirme hingegen haben den Vorteil, dass hier die Lichtinformation selbst gesteuert werden kann. So schmückten auf einer Privatparty zwei Monitore mit Bildschirmschonern das Buffet, die, rot und grün leuchtend, passend zur Götterspeise, einen guten Appetit wünschten. Auch im öffentlichen Raum werden Computer-Monitore immer mehr zur werblichen Informationsvermittlung, als dynamische Plakatwand, eingesetzt. Plasma-Anwendungen in U-Bahnhaltestellen berieseln uns mit Wetter- und allgemeinen Kurznachrichten oder bewerben Produkte und Lokalitäten aus der Umgebung. Im Einzelhandel informieren sie uns nicht nur über Geschäftszeiten, sondern auch über aktuelle Angebote und Produktneuheiten, und erklären uns, wie wir solche einsetzen können. Mit ein bisschen Einfallsreichtum erreicht man mit eigenen Mitteln das gleiche Ziel: Bei einem Ladenumbau eines kleinen Kölner Geschäfts in guter Lauflage machte zwar noch kein Ladenschild, dafür aber ein Bildschirmschoner auf die baldige Geschäftseröffnung aufmerksam. Der Vorteil liegt auf der Hand: Die angebotenen Inhalte können nach eigenen Vorstellungen gestaltet werden, lassen aufgrund der zeitlichen Abfolge Platz für Dramaturgie und Informationsfülle und können jederzeit geändert werden – und in diesem Fall kann der Monitor nach Abschluss der Renovierung wieder an seinen alten Arbeitsplatz in gewohnter Funktion zurückkehren. Interessant im Sinne von NID wird die Hardware auch, wenn sie als Technikschrott entsorgt werden muss. Dann erhalten Monitorgehäuse ein ganz neues Eigenleben und dienen als Altäre der neuen Welt, die Dinge aus der alten preisen. Erleuchtet, mit persönlichen
105
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Vgl. Rehbinder, Julian: «Der Computer in der Whisky-Flasche», Online-Artikel aus MSN Computer und Technik, http://tech.de.msn.com/home/computer_article.aspx?cp-documentid=1085507 18.10.2006.
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1–2 Der Case Modder Christoph Szczepinski hat seinen PC in einem Blumentopf versteckt, weil seiner Frau die anwachsende Unterhaltungselektronik im Wohnzimmer zu viel wurde. Erst auf der Rückseite gibt die Palme ihr elektronisches Geheimnis preis. Eine einfache Plastikschüssel im Inneren verhindert, dass das Gießwasser auf den PC durchsickert.
3–5 Wettbewerbsbeiträge des seit 2006 jährlich stattfindenden IFA CaseCon Championship. Die PC-Eigenkreationen sind voll funktionsfähig.
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Utensilien dekoriert oder schlichtweg als Bücherregal oder Papierkorb106 genutzt – dem Einfallsreichtum ist nach der Entkernung keine Grenze gesetzt. Was alles aus entsorgten Computer-Komponenten entstehen kann, präsentierte der Recycling-Wettbewerb «Mach flott den Schrott» von der Computerzeitschrift c’t des HeiseVerlags auf der Cebit 2005. Neben der Kategorie Kunst bietet die Kategorie Funktion eine Vielzahl an Umwandlungen mit NID-Potenzial, beispielsweise eine Pentium-Heizplatte, ein CD-Solarkocher oder ein Teestöfchen aus BNC T-Stücken aus der Sparte Küchengeräte, ein Scrabble aus Tastaturtasten unter Sport & Spielzeug, eine Vogelscheuche aus in Ästen aufgehängten CDs oder der P(T)ower-Briefkasten für die Rubrik Haus und Garten. «Wir hatten den Tower samt Innereien schon zur Entsorgung vor die Tür gestellt, als ein Prospektverteiler ein Bündel Flyer auf den Deckel gelegt hat. Und da wir [als EDV-Systemhaus mit Werkstatt, die Verf.] wirklich viel Post (Fachzeitschriften, Kataloge, Drucksachen bis A3 Format) haben, kam dann auch gleich die Idee.»107 Schade, dass der Verlag für die Preisvergabe auf einen hohen eigenen Bastelanteil Wert legte und einfachen Lösungen wie der alten Netzwerkkarte als Türstopper oder dem Permanentmagnet aus einem Festplattenmotor als Zettelhalter am Kühlschrank schon in der Ausschreibung keine Chancen einräumte. Zwar fallen die aufgezählten Beispiele nicht unter die spontanen NIDs, dennoch stoßen wir hier auf die für das Phänomen typische Assoziationsfähigkeit, Computer-Komponenten gelöst von ihrer eigentlichen Funktion zu betrachten und ihnen durch Zweckentfremdung neues Leben einzuhauchen. Existenzieller und exotischer geht es hingegen in Thailand zu. Dort «… nehmen die Marktfrauen einen Akku aus ihrem Moped und speisen daraus einen Computerlüfter. Auf ein/zwei Luftschaufeln ist ein senkrecht stehender Draht verankert und an dessen anderem Ende befindet sich eine Hühnerfeder. Diese dreht sich dann in einem Kreis von etwa 15 Zentimeter Durchmesser über den Waren, und vertreibt höchst effektiv die Fliegen. Nach Marktende bauen sie den Akku wieder ins Moped ein und fahren los, und das lädt den Akku wieder auf.»108 Die große Problematik der Entsorgung109 fordert auch die Industrie, über eine Neunutzung der Technik nachzudenken. In Form von Wettbewerben sucht man nach kreativem Potenzial aus dem Alltag, das Lösungen hierfür entwickelt hat. Neben den traditionellen Recycling-Methoden der Rohstoffe verfügen in der Tat einige Bauteile auch nach dem Erlöschen ihrer ursprünglichen Funktion über nützliche Eigenschaften und visuelle Reize, die es zu
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106
Helge: Papierkorb aus Monitorgehäuse: «kein Witz: Ich nutze das Gehäuse eines alten Monitors als Papierkorb. Das Gehäuse steht so da, dass der Bildschirm – wenn er noch drin wäre – vertikal nach oben schaut. Das sieht sogar einigermassen dekorativ aus», in: Re: Zweckentfremdung von Computerbauteilen, Wer-weiß-was, Antwortschreiben ans Online-Expertenforum «Mathematik und Physik», http://www.wer-weiss-was.de/theme50/ article2648932.html 08.01.2005.
107
Zajonc, Ralf-Stefan: «Herr Würz»: Wettbewerbsbeitrag P(T)ower-Briefkasten, Recycling-Wettbewerb «Mach flott den Schrott» der Zeitschrift c’t, Heise Zeitschriften Verlag Hannover, http://www.heise.de/ct/machflott/ projekte/55776 2005.
108
Liesen, Hannes: Re: Zweckentfremdung von Computerbauteilen, Wer-weiß-was, Antwortschreiben ans Online-Expertenforum «Mathematik und Physik», http://www.wer-weiss-was.de/theme50/article2648932.html 08.01.2005.
109
Vgl. Schlögl, Markus: Recycling von Elektro- und Elektronikschrott, Würzburg 1995.
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Der P(T)ower-Briefkasten ist aus einem ausrangierten PC-Tower entstanden und dient nun als Firmenbriefkasten des EDV-Systemhauses Zajonc + Partner aus Breisach.
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konservieren lohnt. So werden Platinen als Schreibunterlagen umfunktioniert oder aus recyceltem Monitorglas Trinkgläser in einer interessant grau-blauen Färbung hergestellt, wie der schwedische Designer Torsstenson zeigt. Dennoch verfügt die Computer-Hardware, verglichen mit einfachen Dingen wie Stuhl, Glas und Messer, über geringere NID-Einsatzmöglichkeiten. Ob dies in ihrer hochkomplexen Struktur selbst zu begründen ist oder ob ihr noch recht junges Alter dabei eine Rolle spielt, und dementsprechend auch die damit verbundenen Dingbeziehungen, wird die Zukunft zeigen. Schließlich sind unsere Erfahrung und der Umgang mit den Dingen über Jahrhunderte gereift und übermittelt worden, eine Zeitspanne, der der PC nicht einmal eine Generation entgegenzusetzen hat (dass eine Rechner-Generation maximal ein Jahr beträgt und Websites trotz der Kürze ihrer Entwicklung bereits mehrere Generationen hinter sich haben, spielt hierbei keine Rolle).
NID in der Computer-Software am Beispiel des Internet Das Internet ist ein ausgezeichnetes Beispiel für NID. Kaum ein Medium verfügt über so anarchische Strukturen und über so viele Möglichkeiten der Eigengestaltung wie das weltweite Datennetz. Die günstigen Produktionskosten und geringen Programmierkenntnisse, die für die Verbreitung eigener Inhalte im Internet erforderlich sind, haben dazu beigetragen, dass der ursprüngliche Zweck des Internet längst überholt ist. Entwickelt wurde es in den 1950er Jahren, während des Kalten Krieges von der amerikanischen Raumfahrtorganisation ARPA, die damit ein wissenschaftliches Forschungsnetz ins Leben rufen wollte, das durch seine dezentrale Struktur selbst im atomaren Ernstfall funktionsfähig bliebe. Das Vorhaben glückte, aber heute – fast 50 Jahre später und 15 Jahre nach der Entwicklung des WWW – wird das Internet von allen möglichen Menschen zu allen möglichen Zwecken genutzt. Die Wissenschaft spielt dabei eine zunehmend geringere Rolle. Denn mittlerweile haben vor allem private Interessensgruppen und kommerzielle Anbieter das Internet für sich entdeckt. Und wenn wirklich einmal partielle Teile des weltweiten Datennetzes lahmgelegt werden oder ausfallen, haben wir inzwischen alle ein Problem.110 Zwei Dienste des Internet haben sich auch im nicht professionellen Bereich durchgesetzt. Einige der NID-Phänomene, die sich zum einen in der E-Mail und zum anderen im WorldWideWeb finden, möchten wir hier vorstellen. Doch zuvor bedarf es eines kleinen technischen Exkurses über die Funktionsweise des Internet: Die Programmiersprachen sind plattformübergreifend angelegt und verwenden demgemäß im Code lediglich ASCII-Text. Der Umgang mit reinen Textzeichen führte nicht nur bei den Nutzern, sondern auch bei den Programmiererinnen zu recht eigenwilligen Vorgehensweisen und Anwendungen. Ähnlich wie bei den einfachen Dingen des Alltags scheint auch hier die Reduktion der Mittel den Einfallsreichtum im Umgang mit diesen zu steigern.
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Vgl. Dubach, René: «Internetausfall nach 90 Min. gravierend», in: Infoweek online, http://www.infoweek.ch/news/ nw_single.cfm?news_Id=16238&sid=0 18.07.2007.
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E-Mail Zu Beginn waren die Möglichkeiten der elektronischen Post auf reinen ASCII-Text beschränkt. Weder Sonderzeichen noch Formatierungen der Schrift waren damals möglich. Nun mag man anmerken, dass auch dem traditionellen Brief erst einmal nicht mehr Möglichkeiten als die Schrift selbst zur Verfügung stehen. Dennoch lässt sich allein aus der persönlichen Handschrift einiges an zusätzlichen Informationen über die Person herauslesen, zum Beispiel, ob diese in Eile, bei guter oder schlechter Verfassung schrieb, welcher Altersgruppe sie angehört, und häufig kann sogar das Geschlecht erkannt werden. Als Kompensation dieses elektronischen Brief-Defizits haben E-Mails eine ganz eigene «Briefkultur» entwickelt: Um den immer gleichen Tastaturkürzeln dennoch persönlichen Charakter zu geben, wurden «Smileys» erfunden, auch «Emoticons» genannt. Mit diesen um 90 Grad gekippten Strichgesichtern lassen sich digital Gesten und Gefühle mitteilen, die bei der Online-Kommunikation den Gesichtsausdruck und den Tonfall ersetzen. Freude, Trauer, Ironie und Ärger lassen sich so viel besser und schneller vermitteln als über lange Sätze. Textzeichen wie Doppelpunkt, Komma und Klammern bilden die Grundlage der getippten Stimmungsmacher. Eine erste Sammlung stellte David Sanderson 1997 in Smileys mit über 650 Beispielen zusammen. Das Buch hat inzwischen Kultcharakter und wird als Bibel der c-logie gehandelt, bezeichnet sich Sanderson im Untertitel doch auch selbst als «Noah Webster of Smileys»111. Inzwischen hat die Industrie jedoch nachgeholt: Die Internet-Telefonie-Software Skype verwendet eine breite Palette animierter Smileys, die beim programminternen Chat dem User eine große Auswahl an Stimmungs- und Aktions-Icons bietet. Auch die Handy-Entwickler integrieren inzwischen den Einsatz von Smiley-Symbolen in ihre Schreib-Software, inklusive eines Revertierungs-Moduls in Buchstaben-Code, das bei älteren Mobiltelefonen die Smileys im herkömmlichen Letternbild darstellt. Und für alle, denen die traditionellen Smileys nicht ausreichen, bietet das Internet selbst inzwischen eine reichhaltige Auswahl an Tausenden bereits fertigen Smiley-Grafiken zu jeglichen Themen, die einfach mit ihren entsprechenden Internet-Links in eigene E-Mails oder Chat-Beiträge kopiert werden können.112 Generell gilt im Internet die Norm, sich so kurz wie möglich zu fassen: Abkürzungen aus Buchstabenlauten und Anfangsbuchstaben, die «Akronyme», machen E-Mail-Schreiben ökonomischer und ersparen lästiges Tastentippen. So verbirgt sich beispielsweise hinter «CUL8R» der Gruß «See You Later», und «2 QT 2 B STR8» meint «too cute to be straight». Zahlen werden in diesem Zusammenhang nicht als Ziffer, sondern in ihrer Phonetik der englischen Sprache eingesetzt (wie übrigens der gesamte Gruß englisch artikuliert werden muss). Nicht immer sind die Akronyme so leicht zu entschlüsseln, ihre Bedeutungen gehören aber zum Allgemeinwissen der Netzkultur. Hinter diesen Abkürzungen verbirgt sich eine eigene Sprache. Auch ohne Akronyme sehen Mitteilungen per E-Mail oft recht kryptisch aus. Kurze, im Telegrammstil verfasste Sätze ohne Punkt und Komma in einer sehr eigenwilligen Auslegung
111
Vgl. Sanderson, David W.: Smileys – Over 650, compiled by David Sanderson, the «Noah Webster of Smileys», Sebastopol 1997.
112
Siehe weitere Beispiele z.B. auf den Internetseiten www.smileygarden.de, www.mysmilie.de, www.SweetIM.com, www.incredimail.com.
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1 ASCII-Art besteht aus reinen Textzeichen, mit denen Bilder erstellt werden. Andreas Freise gehörte mit seiner website http://www.ascii-art.de zu den «Gurus» dieser Kunst. 2 Das Internetmagazin Planet aus den 1990er Jahren bedankte sich bei seinen neuen Abonnenten mit einem Smiley-T-Shirt. 3 Angelehnt an die ASCII-Smileys verwenden heute viele Programme wie Skype programmspezifische Smileys zum Ausdruck der eigenen Stimmung.
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der Rechtschreibung geben so manches Rätsel auf. Die Orthografie wird hier zum Spielball der persönlichen Möglichkeiten und Bewertungsmaßstäbe. Zwar haben inzwischen fast alle E-Mail-Programme eine Rechtschreibkorrektur integriert, die dezent die orthografischen Ausreißer unterstreicht, doch meist werden diese Verbesserungsvorschläge einfach ignoriert – sei es aus Zeitnot, aus Gleichgültigkeit oder aus Bewahrung des persönlichen E-MailStils. «E-Mailer» mit etwas mehr Muße nutzen die verfügbaren Buchstaben und Zahlen zur Erschaffung ganzer Bilder und Grafiken, die sogenannte ASCII-Art113. Je nach Form, Richtung und Schwarzwert werden die Buchstaben in diese digitalen Zeichnungen eingesetzt, ungeachtet ihres Lautes oder möglicher Wörter, die dabei entstehen können. Das Beispiel der E-Mail zeigt, dass sich hier ein eigener, zum Teil kollektiv verbreiteter Umgang mit Lettern und Sprache herausbildet, der nicht als bewusste Kunstform begriffen wird, sondern anonym entsteht, angewendet und übernommen wird, ohne dass je von professioneller Seite gestaltend in diesen Bereich eingegriffen wird. WorldWideWeb-Anwendung Insgesamt scheinen die Strukturen des Internet dafür geeignet, sich fremder, aber öffentlich verfügbarer Ideen und Inhalte zu bedienen und diese für die eigenen Zwecke einzusetzen. Das Verhalten im WWW verweist auf diesen Tatbestand: Durch die Struktur und Interpretation des HTML-Quellcodes ist der Zugang zu allen Informationen im Internet offen. Texte und Bilder liegen digital vor, können frei auf die eigene Platte kopiert und weiterverwendet werden. (Dieser Vorteil rief jedoch aufgrund der zahlreichen Copyright-Verletzungen auch diverse Probleme hervor und forderte eine Neuregelung der Rechtslage.) Die Hypertextstruktur ermöglicht den NutzerInnen einen nicht linearen Zugang zur Information, der zu unvorhersehbaren Sprüngen und Wechseln zwischen den einzelnen Seiten und Angeboten führt. Alle können deshalb sehr flexibel und frei mit den Informationen umgehen, sich diese sogar nach eigenen Angaben anzeigen lassen. Im Internet bestimmen die Anwender die Schrift und die Schriftgröße, die Farben, ob Bilder angezeigt werden sollen oder nicht und ob die eigenen Vorgaben durch die der Web-Designerinnen überschrieben werden dürfen. Das WorldWideWeb wird nicht nur als Quelle für Informationen, sondern auch als Kommunikationsmedium genutzt. In Talkforen und Chatrooms können die Nutzer über bestimmte Themen diskutieren. Dennoch trifft man immer wieder auf sogenannte «Ausreißer», die beliebige Inhalte einbringen und solche Foren als narzisstische Präsentationsplattformen begreifen. Der unbeschränkte Zugang zu den Diskussionsplätzen erschwert es, diese Zweckentfremdung zu kontrollieren und zu unterbinden. Lediglich die «Netiquette», der Ehrenkodex des sonst anarchisch strukturierten Internet, gibt vor, nicht gegen die ungeschriebenen Regeln der Online-Gemeinde zu handeln. Ein unangenehmes Beispiel für die Nichtbeachtung der Netiquette sind «Spams» (unerwünschte Werbebotschaften), die über Newsgroups, Talkrunden oder per E-Mail verteilt werden. Selbst auf geschützten Seiten ist man vor solch unerwünschtem Eindringen nicht sicher. Unter Hackern gilt es als
113
Vgl. Tamás, Polgár: Freax the Art Album, Winnenden 2006, sowie weitere Beispiele z.B. auf den Internetseiten www.ascii-art.de, www.gedichte-oase.de:80/zeichenbilder.php, www.chris.com/ascii.
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Sport, fremde Seiten zu knacken und durch eingebrachte eigene Botschaften, Sprüche und Bilder auf die Sicherheitslöcher dieser Seiten aufmerksam zu machen. Doch leider sind nicht alle Störenfriede so harmlos. Zunehmend lesen wir vom Missbrauch des weltweiten Datennetzes, oft wird es zum Brennpunkt gesellschaftlicher Diskussionen. Die Internetkriminalität hat inzwischen weite Kreise gezogen.114 «Beispiele hierfür sind Filesharing, Internetbetrug, Computerbetrug, Phishing, Kreditkartenbetrug, Scheckkartenbetrug, Spionage, verbotene Pornographie, Identitätsdiebstahl, Anbahnung zur Verführung Minderjähriger über Chatrooms, Computervirusverbreitung, Verbreitung von Raubkopien, Scams und Cyberterrorismus sowie Äußerungsdelikte wie Volksverhetzung oder Beleidigung.»115 Auch die Freude über die kostengünstige Telefon-Alternative wird von den ersten Missbrauchsfällen überschattet: Kriminelle haben nun die neue Art des Telefonierens für sich entdeckt. Sie hören Gespräche mit sensiblen Informationen ab und fordern beispielsweise per E-Mail dazu auf, Bankdaten an ein gefälschtes Bank-Telefon weiterzugeben. Außerdem fälschen sie mit Caller ID Spoofing ihre Anruferidentität, bedienen sich einer beliebigen Telefonnummer, die als die des Anrufenden angezeigt wird und verfremden ihre Stimme, die sie mittels Software sogar weiblich oder männlich werden lassen können. Weniger schädlich, aber dennoch unangenehm sind die Spits (Spam over Internet Telephony), die zwar noch nicht in Deutschland, wohl aber in den USA die VoIP-er [Voice over Internet Protocol, hier die sogenannten Internettelefonierer] nachts aus dem Schlaf klingeln, um dann vom Band vermeintliche Lottogewinne zu verkünden oder illegale Software und Produkte zur Penisvergrößerung anzupreisen.116 Im Geschlechterkontext bietet das Internet weitere Möglichkeiten:117 sogenannte «Avatare» ermöglichen es, in neue Persönlichkeiten zu schlüpfen und als diese in virtuellen Räumen zu kommunizieren. Hierbei wandeln sich die Netzpersonen nicht nur in Helden des eigenen, sondern auch des anderen Geschlechts. Selbst in normalen Chatkreisen ist man nie sicher, ob das Gegenüber – zudem unter falschem Namen – zumindest dem Geschlecht entspricht, das zu sein es vorgibt. Insbesondere am Anfang der Netzgeschichte, die überwiegend männlich besetzt war, versuchten viele Männer, im Schutze der Anonymität als vermeintliche Frauen mehr Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. In diesem Fall werden Namen und Angaben zum Geschlecht, Alter und so weiter zweckentfremdet eingesetzt, um beispielsweise schnellere Antworten auf die eigenen Fragen zu erhalten, mehr Gesprächspartner im Online-Talk um sich zu versammeln; aber auch, um das heimliche Begehren, ein anderer/eine andere sein zu wollen, zu befriedigen oder um sexistischen Zumutungen zu
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Vgl. Krüger, Alfred: Angriffe aus dem Netz (TELEPOLIS) – Die neue Szene des digitalen Verbrechens, Hannover 2006; Alexander, Thor: Das große Sicherheitsbuch – So schützen Sie Ihren Computer und Ihre Privatsphäre im Internet, Berlin 2005; Ahmia, Tarik: «Tatort Cyberspace, Internet-Kriminalität und Online-Terrorismus», OnlineArtikel aus Das Parlament Nr. 34–35, http://www.das-parlament.de/2006/34-35/thema/029.html 21.08.2006; Bundesministerium des Innern: «Internetkriminalität», Online-Artikel von der Website http://www.bmi.bund.de/ cln_012/nn_122688/sid_2DACFE953F755198BF9E00FBCC5E51E6/Internet/Content/Themen/Kriminalitaet/ DatenundFakten/Internetkriminalitaet__Id__94087__de.html 06.04.2004.
115
Wikipedia, «Internetkriminalität», http://de.wikipedia.org/wiki/Internetkriminalit%C3%A4t 01.10.2007.
116
Vgl. Hottelet, Ulrich: «Cyber-Räuber am Draht», Online-Artikel aus Die Zeit, Nr. 29, http://www.zeit.de/2006/29/ Voice-over-IP 2006.
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Vgl. Turkle, Sherry: Leben im Netz. Identität in Zeiten des Internet, Reinbek bei Hamburg 1998.
NICHT INTENTIONALES DESIGN – EMPIRISCH GESEHEN
entgehen (meist Grund für Frauen, sich als Männer auszugeben) – oder umgekehrt: diese als erotischen Reiz empfundene Erfahrung zu machen (meist bei Männern, die als Frauen auftreten). So oder so: Es ist eine aufregende und gefahrlose Erfahrung, (fiktives) Geschlecht zu performieren. Website-Produktion Immer, wenn sich neue Technologien entwickeln, hinken Gestaltung und Produktionstechnik hinterher. Das galt auch für die Pionierzeiten des WorldWideWeb. Am Anfang gab es noch keine Software, die intuitives Web-Design ermöglichte.118 Zum Layouten diente «QuarkXPress» mit den wichtigen Zusätzen, das «Papierformat» der Länge nach über mindestens zwei Bildschirmlängen zu ziehen und die für den Druck typischen Millimeter in Punkten anzugeben. Sowohl im Layout als auch in der Bildverarbeitung ist «Photoshop» nach wie vor unerlässlich. Neben Screen-Layouts wurden hier die WWW-Farben als Paletten angelegt und Bilder in die netztypischen Bildformate Jpeg oder Gif konvertiert. (Inzwischen hat das Programm diverse Zusatz-Features für das Web-Publishing integriert.) Ein genialer Nebeneffekt dieser neuen Bild- und auch Seitenformate – wie das PDF-Format von Adobe – ist, dass explodierende Dateigrößen von Bild- und Textdokumenten auf einen Bruchteil ihrer Originalgröße schrumpfen. Da HTML selbst aus reinen Textzeichen besteht, bot sich für die Programmierung jede beliebige, einfache Textverarbeitung an, die ASCII-Code erzeugt, wie beispielsweise «SimpleText». Auch wenn heutzutage eine Vielzahl an Webeditoren und Internet-Bildbearbeitungsprogrammen auf dem Markt vertreten sind, kann man sich theoretisch nach wie vor mit der vorhandenen Software behelfen, solange man textbasierte Programmiersprachen wie HTML, DHTML und Javascript verwendet. Allerdings wird dies in der Praxis wohl niemand mehr tun, da das Volumen der Internet-Programmiersprachen stetig wächst, und es zu mühselig wäre, das komplette Repertoire im Kopf zu haben. Auch das Testen der Seiten geht problemlos von zu Hause aus, indem die erstellte Website von der eigenen Festplatte über den Browser aufgerufen wird. Nicht nur in den Programmen, auch in der Programmierung selbst war die kreative Umnutzung des Codes gefragt. Da HTML von Technikern und nicht von Designern entwickelt wurde, fand Gestaltung in dieser Programmiersprache kaum statt. Vor der Entwicklung von Javascript und Cascading Style Sheets waren die Möglichkeiten sehr begrenzt, was sicherlich auch mit dem mangelnden gestalterischen Vokabular, über das die Informatiker verfügten, zusammenhing. Die eingeschränkten Möglichkeiten, Schrift darzustellen, führten dazu, die für die Anmutung der Website wichtigen Schriften wie Überschriften, Navigationstexte und Logoschriften als Bild einzubinden. Ähnlich verhielt es sich mit den Tabellen. Ursprünglich entwickelt, um komplexe Tabellensachverhalte darzustellen, wie beispielsweise das Periodensystem, entdeckten die Webdesignerinnen bald, dass die grauen Ränder der Tabellen sich auch ausschalten lassen, und somit konnte erstmalig frei layoutet werden. Seitdem konnten Elemente wie Bilder und Textblöcke auch nebeneinander angeordnet werden, Spaltensatz und ein pixelgenaues Definieren der Gestaltungsfläche wurden möglich. Da angelegter Leer-
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Vgl. Siegel, David: Web Site Design. Killer Web Sites, München 1998.
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NICHT INTENTIONALES DESIGN – EMPIRISCH GESEHEN
raum – also leere Tabellenfelder – nicht von allen Browsern unterstützt wurde, setzte man transparente Bilder oder Buchstaben in der Farbe der Hintergründe als Platzhalter ein, die so nicht mehr ignoriert werden konnten. Frames (Rahmen), die zur getrennten Darstellung von mehreren Seiten in einem Browserfenster dienen, ermöglichen zum einen die Verknüpfung fremder Inhalte mit den eigenen in dem eigenen Browserfenster. Zum anderen wurden sie auch zu rein dekorativen Zwecken eingesetzt, wie eine der ersten Versionen der Website des Möbelunternehmens Vitra beispielhaft vorführte: Durch Frames wurde hier ein eigenes Farbraster aufgebaut. All diese Beispiele zeigen, dass in der Anfangszeit des WWW massenhaft Zweckentfremdungen von Programmen und Programmcodes stattfanden, denn ohne dieses Improvisationstalent wären zahlreiche Websites nicht denkbar oder zumindest gestalterisch sehr trist gewesen. Gleichzeitig ist das Internet ein gutes Beispiel für die Durchsetzung anonymer Umnutzungen, denn viele der hier vorgestellten Lösungen wurden von irgendwem (und gleichzeitig von vielen anderen) entdeckt, dann von anderen kopiert, bis sie sich als eine allgemein verbreitete Gebrauchsumwandlung durchsetzten – und darin vergleichbar dem Umgestalten der Gegenstände sind. Auch wenn wir es hier mit einem vergleichsweise neuen Medium zu tun haben, so zeigt sich doch, dass der Umgang mit diesem auf vertraute Verhaltensmuster zurückgreift – ein weiteres Zeichen dafür, dass NID als menschliche Fähigkeit nicht nur in unserem Produktkontext, sondern auch im Sprachzusammenhang und in virtuellen Räumen Anwendung findet.
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Die Subjekte: Umnutzungsobjekte und -motive
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DIE SUBJEKTE: UMNUTZUNGSOBJEKTE UND -MOTIVE
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DIE SUBJEKTE: UMNUTZUNGSOBJEKTE UND -MOTIVE
Die Umnutzung von Gegenständen ist zweifellos sowohl mit kulturellen, klimatischen und finanziellen als auch mit individuellen Voraussetzungen eng verknüpft. Weil diese Studie primär die alltäglichen Umnutzungen in technisierten, reichen Gesellschaften zum Thema hat, soll noch einmal daran erinnert werden, dass die Menschen, deren Umnutzungsverhalten hier reflektiert wird, weder in der sogenannten «Dritten Welt» leben, noch unter anders bedingtem existenziellem Mangel leiden. Wir beschäftigen uns also mit der Frage, wie und warum Menschen, die in der Lage wären, sich für jeden Bedarf eigens dafür gefertigte Gegenstände zu kaufen, dennoch häufig – bewusst oder unbewusst – Gegenstände fremdnutzen.
Methodisches Vorgehen Wir haben einen Fragebogen erstellt, um zu erfahren, welche Gegenstände von Menschen innerhalb ihrer Wohnungen umgenutzt werden. Der Fragebogen wurde per E-Mail an ungefähr 250 Personen verschickt, mehrheitlich an Studierende des Kölner Fachbereichs Design. Das heißt, die Gruppe der Befragten ist schon aufgrund ihres Studiums mit Fragen der Gestaltung vertraut und dementsprechend, so hoffen wir, in der Lage, nicht nur über ihr Umnutzungsverhalten, sondern auch über ihre Motivationen Auskunft zu geben. Durch das Sample ergibt sich neben dem studienbedingten Interesse an Designfragen auch ein Altersdurchschnitt, der demografisch nicht repräsentativ ist. Mit der Auswahl haben wir uns bewusst auf eine Gruppe beschränkt, die sensibilisierter als der Durchschnitt sein dürfte, was den Umgang mit gestalteten Dingen betrifft. Der Fragebogen ist so aufgebaut, dass, nach Wohnräumen geordnet, zweckentfremdete Gegenstände angegeben werden sollten. Weil wir in Pretests die Erfahrung gemacht hatten, dass es für viele problematisch ist, ihr NID-Verhalten als solches überhaupt zu erkennen, haben wir als Hilfestellung Vorschläge vorgegeben: Geordnet nach Räumen sind für die jeweiligen Orte typische Gegenstände und Funktionen aufgelistet. Zusätzlich wurde Platz für sogenannte «eigene NIDs» gelassen, so dass die Befragten weitere Gegenstände und deren Umnutzungen auflisten konnten. Weil uns nicht nur die NIDs, sondern auch die Motive für die jeweiligen Umnutzungen interessierten, befindet sich neben jedem Feld eine vorgegebene Liste mit möglichen Motiven (Platzmangel, Bequemlichkeit, Sparsamkeit, Überzeugung, Kreativität, Ökologie, Individualität, Mobilität), von denen das jeweils ausschlaggebende ausgewählt werden sollte. Abschließend haben wir nach dem «Lieblings-NID» und möglichen Anmerkungen gefragt. Besonders wichtig war uns der Geschlechtervergleich. An jeweils 125 Frauen und Männer wurde der Fragebogen verschickt; davon haben 16 Frauen und 14 Männer geantwortet. Die Rücklaufquote insgesamt beträgt demnach 12 % (Frauen: 12,8 % ; Männer: 11,2%). Dies ist bezüglich der Anzahl der Angeschriebenen kein repräsentatives Ergebnis, aber dennoch sind 30 ausgefüllte Fragebogen ausreichend, um für unser Thema relevante Schlussfolgerungen zu ziehen.
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DIE SUBJEKTE: UMNUTZUNGSOBJEKTE UND -MOTIVE
Das Sample Wenn wir die Befragung unter dem Aspekt des Geschlechterverhältnisses auswerten, so sollen vorab einige Einschränkungen, Problematisierungen und Ambivalenzen formuliert werden. Das Sample ist, wie bereits erwähnt, in zweifacher Hinsicht besonders. Es setzt sich aus jungen Frauen und Männern zusammen (etwa im Alter von Anfang zwanzig bis Anfang dreißig), die entweder studieren oder ihr Studium vor kurzem abgeschlossen haben. Es handelt sich also um gut ausgebildete Personen, die aufgrund ihres Alters zukunftsorientiert denken und handeln, andererseits aber in den meisten Fällen über noch nicht viel Geld verfügen. Insofern sind sie zweifellos einem Typus zuzuordnen, der «modern» und improvisationsfähig lebt. Die Offenheit einer noch nicht etablierten Lebensform – hinsichtlich des Umgangs mit Dingen – bedeutet Zwang und Intention zugleich; wobei nicht zu entscheiden ist, was in welchem Maße jeweils ausschlaggebend ist. Der potenzielle Zwang ergibt sich aus ökonomischen Restriktionen, die Intention besteht häufig in dem sozialen Impetus, sich den gängigen Konsumkonventionen zu entziehen. Verstärkt wird die Facette des Unkonventionellen, aber auch des direkteren und bewussteren Umgangs mit der Gegenstandswelt durch die professionelle Perspektive: Angehende oder fertig ausgebildete Designerinnen und Designer haben eine differenziertere Sicht auf den und eine erhöhte Wahrnehmungsfähigkeit gegenüber dem Bereich der Objekte, weil sie die Dinge nicht nur gebrauchen, sondern auch gestalten – primär als Beruf, nicht als Hobby. Dass das Sample unter diesen Kriterien zusammengestellt wurde, hat Vor- und Nachteile – die Vorteile überwiegen jedoch unseres Erachtens eindeutig. Die Beobachtung, unsere Befragung bezöge sich auf eine sehr spezielle Gruppe, ist zwar de facto richtig, aber die Konsequenz, dass die Aussagen deswegen nicht übertragbar seien beziehungsweise Tendenzen nicht benannt werden könnten, ist nicht stichhaltig. Die von uns bewusst vorgenommene Einschränkung erhöht gleichzeitig die zu erwartende Qualität der Antworten, da es jener besonderen Sensibilität als Objektkompetenz bedarf, um ein Verständnis für die – ungewohnten – Fragen zu entwickeln. Außerdem handelt es sich um eine Explorationsstudie, die sich überhaupt erstmalig diesem Themenbereich, auch empirisch, nähert. Schließlich könnte umgekehrt angeführt werden, dass die Befragung junger Designer und Designerinnen, die täglich konzeptionell und reflektiert mit der Gestaltung von Dingen beschäftigt sind, schwieriger ist, da diese Gruppe aufgrund ihrer Professionalität womöglich zu reflektiert und zu wenig «unkontrolliert» ist, Nicht Intentionales Design hervorzubringen. Die Auswertung der Fragebögen hingegen bestätigt, dass einerseits die professionelle Sensibilität Voraussetzung für die Akzeptanz und das Verständnis der Fragestellung war, andererseits jene Professionalität die «Erfindung» von NIDs in keiner Weise behindert. Die Fragen wurden in Bezug auf die Geschlechterproblematik bewusst neutral formuliert. Denn die Erfahrungen, die wir im Kontext anderer geschlechterspezifischer Erhebungen untermauern konnten, erhellen eine eigenartige Ambivalenz gegenüber der Kategorie Geschlecht: Je expliziter das Geschlecht in den Befragungen thematisiert wird, desto stärker gestaltet sich der Widerstand, diesem einen Einfluss in der Wirklichkeit zuzugestehen. Dass die Negation der Bedeutung von Geschlecht theoretisch und empirisch nicht haltbar ist, wurde durch zahlreiche Statistiken, Untersuchungen und Gender Studies belegt und
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DIE SUBJEKTE: UMNUTZUNGSOBJEKTE UND -MOTIVE
braucht deshalb hier nicht weiter ausgeführt zu werden. Interessanter ist die Ergründung der Motive, die – bei direkter Thematisierung – zu einer Rationalisierung oder, bestenfalls, Marginalisierung des Topos Geschlecht führen. In unseren Studien wurde eine übliche Abwehr in der Hypostasierung des Individuellen deutlich, insbesondere, wenn es um Fragen zur Arbeitsmarkt- und Berufssituation ging, die sich unter folgender Aussage zusammenfassen lassen: Die Chancen, Kompetenzen und Kooperationsformen seien, statt vom Geschlecht, viel eher von individuellen Dispositionen abhängig; insofern gäbe es keine Präferenzen oder Nachteile aufgrund des Geschlechts, sondern Verhalten und Handeln der jeweiligen Person seien ausschlaggebend. Die Motive für diese «allgemein-menschlichen» Aussagen sind allerdings nach Geschlecht und Alter zu differenzieren: Da Männer in der Regel nicht mit Benachteiligungen wegen ihres Geschlechts konfrontiert sind, ist ihr Vorstellungsvermögen vor diesem Hintergrund begrenzt und die Möglichkeit einer solchen Erfahrung selten präsent. Bei jüngeren Frauen setzt sich ein anderes Ablehnungsraster durch. Sie sind gerade dabei, sich von gesellschaftlich als geschlechtstypisch rubrifizierten Ausbildungen und Berufen zu lösen und wollen geschlechtsunabhängig reüssieren und sich etablieren. In einer solchen Situation begegnen sie Fragen, welche potenziell auf eine Diskriminierung des weiblichen Geschlechts hinweisen könnten, mit deutlichem Misstrauen oder bewerten sie als überkommen, eher der Generation ihrer Mütter zugehörig. Sie wollen sich, so ist zu vermuten (und zu verstehen), den Elan und das Bestreben, ihren Weg zu machen und sich auch als Frauen durchzusetzen, nicht nehmen lassen. Sie sind oder wähnen sich selbstbewusst und stark genug, ihr Leben und ihre berufliche Situation ohne Berücksichtigung des Geschlechts meistern zu können und möchten deshalb nicht fortlaufend darauf «zurückgeworfen» werden. Dies gilt in besonderem Maße für unser Sample: angehende oder fertig ausgebildete Designerinnen, die sich für einen modernen Beruf und innerhalb dessen für eine Ausbildung entschieden haben, die jene tradierten Spezialisierungen überwunden hat, die mit einer deutlichen Geschlechterzueignung verbunden sind (sogenannte hausarbeitsnahe und mit Dekor sowie Accessoire imaginierte «weibliche» Domänen wie etwa Objekt-, Textil-, Mode-, Schmuckdesign, versus technische «männliche» Segmente: Industrie- und Fahrzeugdesign beispielsweise). Andererseits werden diese Frauen in unserer Gesellschaft sowohl in ihrem täglichen Leben als auch in ihrem zukünftigen Berufsalltag mit geschlechtsspezifischen Situationen und Benachteiligungen konfrontiert und wissen daher sehr wohl Differenzen, Hierarchien und Bewertungen, die mit dem Geschlecht verbunden sind, zu benennen, wenn die Geschlechterproblematik implizit oder im Kontext anderer Fragen bzw. persönlicher Erfahrungen angesprochen wird. Unsere Fragen zum Thema NID konnten diese zu erwartenden Ambivalenzen umgehen, weil die Geschlechterdebatte in der Fragebogenkonstruktion nicht zum Gegenstand erhoben werden musste, ohne dadurch methodische Komplikationen aufzuwerfen. Selbstverständlich wurde im Rahmen üblicher demografischer Daten auch die Geschlechtszugehörigkeit erhoben, sie tauchte aber in anderen Zusammenhängen nicht wieder auf. Die einmalige Erfassung des Geschlechts reichte aus, mögliche Differenzen zwischen den Geschlechtern im Hinblick auf Quantität, Lokalität, Inhalt und Form der NID-Praxis zu analysieren.
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DIE SUBJEKTE: UMNUTZUNGSOBJEKTE UND -MOTIVE
Räume Für die Küche wurden die meisten NIDs ausgemacht. Von den 30 Antwortbögen enthalten im Schnitt 54,3 % Angaben zu Umnutzungen in der Küche, die sich folgendermaßen aufschlüsseln: 60 % der Befragten benutzen NIDs anstelle von Topflappen, ebenfalls 60 % für die Aufbewahrung von Vorräten, 57 % als Vase, jeweils 53 % gaben Alternativen für Aschenbecher und Kerzenhalter an und 43 % für den Mülleimer. Der Arbeitsraum folgt an zweiter Stelle in der Rangfolge der quantitativen Umnutzungen: Zum Öffnen von Briefen verwenden 60 % aller Befragten etwas anderes als den Brieföffner, jeweils 60 % nutzen NIDs für die Aufbewahrung ihrer Stifte und Notizen, 37 % als Buchstütze und 10 % als Regal. Im Schnitt ergibt das 46,8 % Umnutzungen im Arbeitsraum. Mit durchschnittlich ebenso vielen (46,6 %) Umnutzungen folgt das Schlafzimmer. 60 % gaben an, dort NIDs als Nachttisch zu nutzen, 57 % für die Kleider-Aufbewahrung und immerhin 23 % als Bett. Man kann vermuten, dass Küche und Schlafzimmer deshalb Orte mit hohem NID-Gehalt sind, weil sie innerhalb der Wohnung einen besonders privaten Charakter haben. Die Bewohnerinnen fühlen sich dort möglicherweise freier im Umgang mit den Dingen als in den Räumen, die häufiger von Fremden betreten werden, wie der Flur. Dort findet sich die niedrigste NID-Quote mit nur 18,5 %. Der Arbeitsraum ist in unserem Sample der am intensivsten genutzte Raum, da es sich bei der Mehrzahl der Befragten um Designstudierende handelt, die über kein separates Büro verfügen, sondern zu Hause arbeiten. So erklärt sich vermutlich auch die hohe Zahl der dort vorgenommenen Umnutzungen.
Genderspezifische Umnutzungen innerhalb der Räume Zunächst fällt auf, dass die Fragebögen von den Frauen ausführlicher beantwortet wurden als von den Männern. Sie haben insgesamt mehr Umnutzungen angegeben und auch mehr Motive für diese genannt. Vergleicht man die Räume, innerhalb derer Umnutzungen angegeben wurden, zeigt sich folgendes Verhältnis: In der Küche (Frauen: 58,6 % / Männer: 50 %), im Wohnzimmer (Frauen: 37,8 % / Männer: 28,8 %) und im Schlafzimmer (Frauen: 50,6 % / Männer: 42,6 %) hält sich die prozentuale Anzahl der Umnutzungen bei beiden Geschlechtern ungefähr die Waage, wenn man berücksichtigt, dass Männer die Fragebögen weniger ausführlich ausgefüllt haben. Obwohl sich nur zwei Frauen mehr als Männer an der Umfrage beteiligten, übertrifft die Zahl der von ihnen angegebenen NIDs die der Männer um 82. (Von insgesamt 478 NIDs wurden 280 Umnutzungen von Frauen genannt und «nur» 198 von Männern.). Im Arbeitsraum (Frauen: 46,4 % / Männer: 47 %) und im Flur (Frauen: 19 % / Männer: 18 %) sind die Prozentzahlen der angegebenen Umnutzungen vergleichbar, in diesen Räumen lässt die detailliertere Beantwortung der Fragebögen insgesamt seitens der Frauen allerdings vermuten, dass Männer hier vergleichsweise häufiger Umnutzungen vornehmen als Frauen. Das Arbeitszimmer befindet sich in der Reihenfolge der als Ort für Umnutzung genannten Räume bei den Männern schon an zweiter Stelle direkt hinter der Küche, bei den Frauen erst an fünfter Stelle – hinter dem Bad. Hier bieten sich zwei alternative Interpretationsmöglichkeiten an, die schwer zu unterscheiden sind: Womöglich spielt der Arbeitsbereich – entsprechend dem traditionellen gesellschaftlichen Geschlechterbild – tatsächlich
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DIE SUBJEKTE: UMNUTZUNGSOBJEKTE UND -MOTIVE
«Mir fällt ein, dass sich in 90 % aller Badezimmer der Putzlappen in dem u-förmigen Knick der Abwasserleitung unter dem Waschbecken befindet – gut?» [Mann 13 aus NID-Umfrage] 109
DIE SUBJEKTE: UMNUTZUNGSOBJEKTE UND -MOTIVE
für die Männer eine wichtigere Rolle als für die Frauen, obwohl alle von uns Befragten entweder studieren oder berufstätig sind. Möglicherweise unterscheidet sich nicht so sehr die Intensität der Arbeit als vielmehr die Bedeutung, die ihr zugesprochen wird. In diesem Fall identifizieren sich Männer immer noch stärker mit dieser Domäne und fühlen sich dort heimischer als Frauen. Eine andere Möglichkeit ist, dass Frauen den Arbeitsbereich stärker von der Privatsphäre trennen und ihn – besonders als Designerinnen – professioneller gestalten und deshalb diesen Bereich von Umnutzungen im Sinne von NID relativ frei halten. Interessant ist auch die Aufschlüsselung des Ergebnisses nach Gegenständen: Im Arbeitsraum gaben die Frauen häufiger als die Männer Umnutzungen für Stifte-Aufbewahrung, zum Briefe öffnen und für Notizen an, die Männer nannten mehr NIDs für das Regal. Stifte ablegen, Briefe öffnen und Notizen machen sind Tätigkeiten, die wenig Platz beanspruchen. Regale hingegen sind sperriger. Die Vermutung liegt nahe, dass die Arbeitsplätze der Männer raumgreifender sind als die der Frauen. Bestätigt wird dies durch unsere zusätzlichen Beobachtungen in verschiedenen Wohnungen In zwei Räumen zeigen sich eindeutige Unterschiede bezüglich der prozentualen Umnutzung: Im Badezimmer (Frauen: 48,5 % / Männer: 34 %) und auf dem Balkon beziehungsweise im Garten (Frauen: 56,3 % / Männer: 26 %) haben die Frauen deutlich mehr NIDs angegeben als die Männer. Die hohe Zahl der von den Frauen vorgenommenen NIDs im Badezimmer mag sich aus der größeren Produktpalette, die es für sie in diesem Bereich gibt, herleiten. Vermutlich wird dieser Raum von ihnen auch zeitintensiver genutzt als von Männern. Dass Frauen mehr NID-Tricks gegen Ungeziefer kennen und darüber hinaus insgesamt eine größere Anzahl NIDs für Balkon und Garten angaben, weist darauf hin, dass sich in ihrem Wohnumfeld mehr Pflanzen befinden und sie vertrauter im Umgang mit ihnen sind. In den übrigen Räumen lohnt es sich, zwischen den einzelnen Gegenständen zu unterscheiden. Für Topflappen, die Vorratshaltung sowie für Aschenbecher, Vasen und Müllbehälter in der Küche wurden von den weiblichen Befragten mehr NIDs angegeben; bei Kerzenhaltern dagegen ist das Ergebnis ausgeglichener. Im Schlafzimmer haben die Frauen bei Kleiderschrank, Bett und Nachttisch mehr NIDs genannt als die Männer, unter Berücksichtigung der höheren Anzahl der von Frauen zurückgeschickten Fragebögen ist allerdings die Umnutzung von Gegenständen als Bett mit 4 von 16 (Frauen) und 3 von 14 (Männer) vergleichbar. Im Wohnraum ist die Prozentzahl der für die Aufbewahrung von Gegenständen angegebenen Umnutzungen bei beiden Geschlechtern identisch; für Regal und Lampe gaben die Männer mehr NIDs an, für Vorhänge und Sitzgelegenheiten die Frauen. Hier kann vermutet werden, dass die letztgenannten Gegenstände von Frauen intensiver genutzt und gestaltet werden, weil sie eher dekorative Zwecke erfüllen als Regale und Lampen, die wiederum stärker der technischen Sphäre angehören. Demnach setzen Frauen NIDs im Wohnbereich bevorzugt dazu ein, mehr Wohnatmosphäre und Gemütlichkeit zu erzeugen, während die hier beschriebenen NIDs von Männern auf ihre, oft als typisch männlich bezeichnete, Bastelleidenschaft und Heimwerkermentalität verweisen. Heubach analysiert das dem Heimwerker inhärente Phänomen des «ewigen Bastelns»: «in ihm wird das Sich-ins-Werk-Setzen gewissermaßen zu einer unendlichen Verfassung zu verselbständigen versucht.»119 119
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Heubach, Friedrich: Das bedingte Leben. Theorie der psycho-logischen Gegenständlichkeit der Dinge, a.a.O., S. 144.
DIE SUBJEKTE: UMNUTZUNGSOBJEKTE UND -MOTIVE
«Das Motiv ist bei mir meist, dass es schnell geht. (Benutze zum Beispiel T-Shirt statt Topflappen, weil ich Topflappen nicht suchen will, sind sowieso in der Wäsche).» [Frau 02 aus NID-Umfrage] 111
DIE SUBJEKTE: UMNUTZUNGSOBJEKTE UND -MOTIVE
Umnutzungsobjekte Im Überblick über alle angegebenen NIDs kristallisieren sich deutliche Spitzenreiter heraus: Stühle werden unabhängig von Raum und Geschlecht sehr oft für andere Zwecke genutzt als zum Sitzen; für die Aufbewahrung von Gegenständen aller Art benutzen viele der Befragten NIDs, und Brieföffner verwendet so gut wie niemand, stattdessen werden Finger, Stifte oder andere längliche Gegenstände eingesetzt.
Umnutzungen im Geschlechtervergleich Im Gesamtüberblick werden von 28 vorgeschlagenen Umnutzungen 19 häufiger von Frauen vorgenommen, 2 in gleichem Maße von beiden Geschlechtern und nur 6 häufiger von Männern, wobei unter diesen 6 eine, das Regal, doppelt vorkommt. Die Gegenstände, bei denen die männlichen Befragten quantitativ die Nase vorn haben, sind: Buchstütze, Lampe, Regal in Wohn- und Arbeitsraum und Garderobe. Am deutlichsten stellt sich der Unterschied bei den Regalen dar. Schaut man sich nun die konkreten Dinge an, die als Alternative angegeben wurden, zeigt sich, dass von den Männern hauptsächlich Zink-Kellerregale und Kisten beziehungsweise Kartons genannt wurden. Die ausgefalleneren Alternativen wurden allerdings von Frauen angegeben (Kabelrollen, Steine und Bretter und ein «selbstgebautes» Regal – ohne weiterführende Erklärung). Alternativen für industriell vorgegebene Lampen wurden von jeweils 4 Männern und Frauen angegeben. Prozentual liegen also wieder die Männer vorn, von denen allerdings einer die Frage falsch verstanden zu haben scheint: Er gab «IKEA» an. Die anderen Nennungen: «Dachrinne», «Glühbirne» und «Schreibtischlampe an Gitarren-Verstärker». Von den 4 Frauen nannten zwei die «Glühbirne», eine gab «Scheinwerfer» an, und die vierte hat sich ihre Lampe selber geschweißt. Hier sind die NIDs der Männer ungewöhnlicher, die Frauen haben eher auf einfache Lösungen zurückgegriffen. Ebenso verhält es sich mit den Alternativen für die Garderobe. Jeweils 4 Vertreter beider Geschlechter benutzen Alternativen zur Standard-Garderobe. Bei den Männern sind das: ein Weinregal, ein Regal, Bügel, die in einen Ordner eingehängt werden, und ein Stahlseil. Bei den Frauen: eine Gastherme, ein Handtuchhalter, Nägel und ein Bügelbrett. Obwohl auch hier die Gesamtzahl der Nennungen zu niedrig ist, um allgemeine Schlüsse zu ziehen, kann man dennoch konstatieren, dass die Alternativlösungen der Männer wiederum komplexer – oder vielleicht nur komplizierter – sind als die der Frauen. Denn sowohl Stahlseile als auch das Weinregal müssen zuerst montiert werden, bevor sie benutzt werden können. Die NIDs der Frauen sind im Gegensatz dazu einfacher. Das Bügelbrett und die Gastherme befinden sich vermutlich ohnehin im Flur und werden temporär als Garderobe zweckentfremdet, Nägel sind schnell in die Wand geschlagen, und der Handtuchhalter ist relativ einfach an der Wand zu befestigen. Die Garderobe scheint dementsprechend der einzige von uns vorgegebene Gegenstand zu sein, mit dessen Gestaltung Männer durchschnittlich mehr Zeit verbringen als Frauen.
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DIE SUBJEKTE: UMNUTZUNGSOBJEKTE UND -MOTIVE
«Ausstattung ist nicht nur eine Frage des Geldes, sondern auch des Geschmacks und der Lebenseinstellung. Buchstützen sind bieder, Zahnputzbecher spießig!» [Mann 06 aus NID-Umfrage] 113
DIE SUBJEKTE: UMNUTZUNGSOBJEKTE UND -MOTIVE
«Nutzt und benutzt man überwiegend unbewusst, wenn etwas gebraucht wird, z.B. Duschvorhangstange zum Handtuchtrocknen, Zeitung als Fliegenklatsche etc.» [Frau 07 aus NID-Umfrage] 114
DIE SUBJEKTE: UMNUTZUNGSOBJEKTE UND -MOTIVE
Eigene NIDs und Lieblings-NIDs Sieht man sich die in der Rubrik «Eigene NIDs» und «Lieblings-NIDs» genannten Zweckentfremdungen im Detail an, gewinnt man den Eindruck, dass die Frauen bei der Gestaltung ihrer Wohnung mehr Wert auf ästhetisch ansprechende Lösungen legen als die Männer. Während diese relativ häufig angaben, Kisten oder Kartons als Verpackung oder Stauraum zu nutzen, kommen Kartons in Frauenwohnungen seltener vor. Auch NIDs wie «Balkon als Müllhalde» oder «Bad als Abstellkammer» wurden von Männern aufgezählt. Die Lichterkette, die anstelle einer Glühbirne benutzt wird, und das «dekorative Schultertuch» als Sonnenschutz sind hingegen Frauen-NIDs. Die Frauen haben auch deutlich mehr Gebrauchsumwandlungen angegeben, die mit der Körper- und Haarpflege in Zusammenhang stehen. So zum Beispiel «Körperöl als Badezusatz», «Nivea als Haargel», «Stift als Haarnadel», «Haargummi aus Strümpfen», «Blumentopf für Wimperntusche und Haarbürste», «Schmuck in Kaffeetasse» und «Spiegel zum Aufhängen von Halsketten». «Stuhl als Leiter», «Stuhl als Ablage», «Flasche als Hammer» und «Büro- oder Wäscheklammer als Tütenverschluss» sind die absoluten Spitzenreiter beider Geschlechter bei den eigenen NIDs.
Umnutzungsmotive Die Frage nach den Motivationen für Umnutzungen bewegt sich an der Schnittstelle zwischen Design, Psychologie und Soziologie. In einem designorientierten Kontext scheint es daher sinnvoll, sich zu Beginn auf die sichtbaren Erscheinungen zu konzentrieren und die Interpretation der Nutzung zunächst offen zu lassen. Bewusste Umnutzungen wurden bereits ausgeschlossen. Sie gehören nicht dem Untersuchungsfeld NID an, das sich bekanntlich mit den alltäglichen nicht intentionalen Zweckentfremdungen beschäftigt. Bei jenen Umnutzungen jedoch, die unbewusst geschehen, in dem Sinne, dass die Menschen, die sie vornehmen, ihr Tun für «normal» und gebräuchlich halten, sind die Motive verdeckt, eben weil sie den Menschen, die NIDs schaffen, nicht mehr bewusst sind. Außerdem haben sich viele Arten der Umnutzung im Alltäglichen schon so etabliert, dass die Zweckentfremdung als «richtiger» Gebrauch empfunden wird. So zum Beispiel, wenn ein Stuhl als Ablage für Gegenstände benutzt wird.
Präferenzen NID bewegt sich also in einem Spannungsfeld zwischen bewusstem und unbewusstem Handeln, und es ist dem zweckentfremdeten Gegenstand selten anzusehen, aus welchen Gründen er umgenutzt wurde. Sogar die Person selbst, die den Gegenstand zweckentfremdet hat, ist oft nicht in der Lage, im Nachhinein zu analysieren, aus welchem Grund sie es getan hat. Die Auswertung des Fragebogens bestätigt diese Problematik. Denn offensichtlich konnten viele der Befragten ihre Motive nicht eindeutig festlegen. Das zeigt sich daran, dass von einigen Befragten die Motivspalte nicht ausgefüllt wurde. Die Mehrzahl (29 %)
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derjenigen, die Motive auswählten, gab an, Dinge aus «Platzmangel» umzunutzen, fast ebenso viele (23 %) entschieden sich für «Bequemlichkeit», gefolgt von den Motiven «Sparsamkeit» (17 %), «Überzeugung» (9 %), «Kreativität» (6,7 %), «Individualität» (6 %), «Ökologie» (5,6 %) und an letzter Stelle «Mobilität» (4 %). Die häufige Nennung der Motivation «Platzmangel» lässt sich aus dem Sample begründen, da es sich größtenteils um junge Leute handelt, die aus finanziellen Gründen meist nur ein Zimmer bewohnen und deshalb über relativ wenig Platz verfügen. Aus demselben Grund erklärt sich vermutlich auch das am dritthäufigsten genannte Motiv «Sparsamkeit». Der «Bequemlichkeit», mit 23 % an zweiter Stelle, kommt somit eine entscheidende Bedeutung zu. Denn geht man davon aus, dass die befragte Gruppe in Zukunft über ausreichend Raum und Geld verfügen wird und damit die Motive «Platzmangel» und «Sparsamkeit» weniger wichtig werden, bleibt von den drei meistgenannten nur noch die Bequemlichkeit übrig. Dies deckt sich mit den zahlreichen Gesprächen, die wir geführt haben: Als Grund für Umnutzungen wurde immer wieder angegeben, man habe den jeweils «richtigen» Gegenstand gerade nicht zur Hand gehabt. Man kann also vermuten, dass Bequemlichkeit in der Tendenz ein Hauptmotiv generell für NIDs in entwickelten Gesellschaften ist. Obwohl wir mit dem von uns im Fragebogen vorgegebenen Begriff «Bequemlichkeit» – um dies einmal selbstkritisch anzumerken – nicht ganz glücklich waren, da er eine möglicherweise negative Konnotation von Antriebslosigkeit oder Schwerfälligkeit bis hin zu Faulheit hat, wurde er dennoch sehr oft angegeben. Das zeigt zum einen, dass trotzdem viele Menschen es auf sich genommen haben, als faul zu gelten – denn dafür ist «bequem» der neutralere Ausdruck – und bereit sind, zu ihrer «Faulheit» zu stehen. Zum anderen gehen wir davon aus, dass sie hinter dem Wort dessen eigentliche Bedeutung erkannt haben – und zwar den Aspekt der Mühelosigkeit und Leichtigkeit oder Einfachheit, kurz: dass hier der Weg des geringsten Aufwands gemeint war und dieser von ihnen prämiert wurde.
Umnutzungsmotive im Geschlechtervergleich Die Hierarchie der Motive ist bei Frauen und Männern ähnlich. An erster Stelle steht bei den Männern «Platzmangel», gefolgt von «Bequemlichkeit», «Sparsamkeit», «Überzeugung», «Individualität», «Kreativität», «Ökologie» und «Mobilität». Bei den Frauen ist die Reihenfolge an der Spitze vertauscht: «Bequemlichkeit» vor «Platzmangel», an dritter Stelle steht ebenfalls «Sparsamkeit», dann «Kreativität», «Überzeugung», «Ökologie», «Individualität» und an letzter Stelle wie bei den Männern «Mobilität». Auffällige Unterschiede gibt es also nicht, allerdings scheint der ökologische Aspekt bei den Frauen eine geringfügig größere Bedeutung zu haben, ebenso die «Kreativität». Das Motiv «Individualität» wurde von den Männern zwar prozentual seltener angegeben als von den Frauen, aber es steht in der männlichen Rangfolge auf Platz fünf, bei den Frauen erst an siebter Stelle. «Überzeugung» und «Individualität» sind demnach für Männer wichtigere Motive, Gegenstände umzunutzen. Beide verweisen auf ein weniger spontanes Verhalten im Umgang mit den Dingen als das Motiv «Bequemlichkeit», welches bei den Frauen eine etwas größere Bedeutung hat. Man kann vermuten, dass Männer durchschnittlich mehr Zeit mit der Veränderung ihrer Dingwelt verbringen als Frauen und diese wiederum spontaner in und mit ihr agieren.
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DIE SUBJEKTE: UMNUTZUNGSOBJEKTE UND -MOTIVE
Bezieht man alle oben genannten und interpretierten Faktoren in eine abschließende Beurteilung der genderspezifischen Unterschiede ein, kann eindeutig festgestellt werden, dass Frauen sowohl insgesamt als auch im Detail mehr Umnutzungen in ihren Wohnungen vornehmen. Sie setzen sich also offenbar insgesamt intensiver mit ihrem Wohnumfeld auseinander und investieren mehr Zeit in dessen Gestaltung. Dies kann als ein Hinweis an das Design und die Industrie gewertet werden, Frauen als sehr wichtige Zielgruppe für Inneneinrichtung zu betrachten.
Exemplarische Zielgruppendifferenzierung: Nationalität, Beruf, Alter Es gibt bestimmte Gruppierungen, denen man die Nutzer- und Umnutzerinnen zuordnen kann. Je nachdem, in welchem sozialen und kulturellen Umfeld sie sich bewegen, gibt es spezifische – tradierte – NIDs, von denen einige im Folgenden aufgezeigt werden sollen.
Beispiel Nationalität Benutzung und Umnutzung von Dingen differieren gemäß ihrer Bedeutung und Wertschätzung in den unterschiedlichen Kulturen. Wobei das nicht nur für deutlich voneinander abweichende Gesellschaften gilt. Man muss gar nicht weit reisen, um Beispiele dafür zu finden: Ist das Auto in Deutschland ein Kultgegenstand mit fast heiliger Aura, so wird es in den romanischen Ländern eher als Gebrauchsobjekt gesehen. Zu erkennen ist das unter anderem am unterschiedlichen Parkverhalten in Deutschland und Italien. Während man hier peinlich darauf achtet, das vor oder hinter einem parkende Auto nicht zu touchieren, ist es in Italien üblich, die Handbremse nicht festzustellen und den Gang nicht einzulegen, damit das Auto mühelos von anderen nach vorne oder hinten bewegt werden kann. In Deutschland hat das Auto einen viel privateren Charakter als in Italien. Dort kommuniziert man mit den anderen Verkehrsteilnehmern durch Hupen, Rufen bei geöffnetem Fenster oder bestimmtem Fahrverhalten. In Deutschland fährt man – auch aufgrund des schlechteren Wetters – eher mit geschlossenen Fenstern und beschäftigt sich intensiver mit den Dingen im Auto, zum Beispiel mit der Musikanlage, die möglicherweise an einen CD-Wechsler im Kofferraum angeschlossen ist, oder mit dem Navigationssystem. Diese unterschiedliche Bedeutung des Autos hat auch andere Umnutzungen zur Folge. Weil ein kleiner Kratzer oder eine Delle in Italien anders als in Deutschland als unproblematisch erachtet wird, sieht man dort häufiger Menschen an die Motorhauben ihrer oder fremder Autos gelehnt. Auch für den Transport von sperrigen Gegenständen wird dort eher einmal der Personenwagen eingesetzt (mit geöffnetem Schiebedach oder Kofferraum) als in Deutschland.
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DIE SUBJEKTE: UMNUTZUNGSOBJEKTE UND -MOTIVE
Beispiel Beruf In einigen Berufszweigen haben sich Umnutzungen etabliert, die dieselben Menschen außerhalb ihres Arbeitsumfeldes nicht vornehmen. So ist es zum Beispiel in der Gastronomie üblich, für die Reinigung von Aschenbechern Malerpinsel zu benutzen. Dennoch würden kein Kellner und keine Kellnerin auf die Idee kommen, zu Hause dasselbe zu tun. Denn die Umnutzung des Pinsels als Reinigungsinstrument dient in der Gastronomie, wo sehr viele Aschenbecher mehrmals täglich gesäubert werden müssen, der Zeitersparnis. Im Privathaushalt sind in der Regel weniger Aschenbecher in Benutzung. Auch in anderen Berufen gibt es «vererbte» Gebrauchsumwandlungen, die nur innerhalb des jeweiligen beruflichen Umfeldes anzutreffen sind. Musikerinnen und Musiker etwa sind große Gebrauchsumwandler: Unter Violinistinnen ist es verbreitet, ein Taschentuch zwischen Instrument und Kinn zu klemmen, um das Kinn zu schützen, Schlagzeuger benutzen oft Pullover und Stoffe zum Dämmen ihres Instruments, Gitarristen verwenden Münzen, wenn sie gerade kein Plektron zur Hand haben. Auch in den Handwerksberufen gibt es verbreitete Gebrauchsumwandlungen. So zeichnen Schneider und Schneiderinnen Schnittmuster auf Zeitungen und benutzen Seife zum Aufzeichnen der Schnitte. Köchinnen und Köche entsteinen Kirschen mit einer Haarklammer und fixieren Rouladen mit Zahnstochern, Zahnstocher halten auch die Olive im Martini. Von Schreinern weiß man, dass sie den Zollstock benutzen, um Bierflaschen zu öffnen, und ein Messer, um den Bleistift zu spitzen. Architektinnen verwerten alte Kartons als Modellbaumaterial und Wattebäusche, um Kreide gleichmäßig auf den Plänen zu verteilen. Gärtnerinnen und Landwirte nehmen Feinstrumpfhosen zum Anbinden von Ästen, ertränken Schnecken in mit Bier gefüllten Joghurtbechern und bauen Vogelscheuchen aus abgelegter Kleidung, Stroh und Alufolie.
Beispiel Altersgruppen Auch das Alter spielt eine Rolle für die unterschiedlichen Arten der Umnutzungen. Für kleine Kinder stellt die Form das primäre Kriterium für den Nutzen von Gegenständen dar. Ein Tisch eignet sich zum Beispiel hervorragend als Haus, weil er ebenso wie dieses ein Dach hat, sobald man darunter kriecht. Und ein Wäschekorb kann die Funktion eines Bootes übernehmen, weil die Form übereinstimmt. So werden Dosen und Töpfe zu Trommeln, Kochlöffel zu Trommelschlegeln, Joghurtbecher zum Telefon und das Bett zum Trampolin. Ältere Kinder basteln sich häufig Spielzeug aus Materialien, die ihre Eltern ausrangiert haben oder die sie finden. Damit wird sowohl einem Mangel entgegengewirkt als auch die eigene Geschicklichkeit im Vergleich zu der anderer Kinder getestet Ab einem bestimmten Alter, etwa mit Schuleintritt, ändert sich das Verhältnis zu den Dingen grundlegend. Der Prestigewert tritt nun häufig in den Vordergrund. Jetzt wird durch die Umnutzung entweder die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe, eine Einstellung oder Meinung ausgedrückt. Bei Jugendlichen gibt es immer wieder Moden, die häufig die Umnutzung bestimmter Dinge beinhalten. So gab es etwa die Moden, lange Jeans abzuschneiden und als kurze zu tragen, Sicherheitsnadeln als Ohrringe zu tragen, die Haare mit Speisefarben zu färben oder mit einem Bleistift hochzustecken, die Kleidung mit «Domestos» stellenweise zu entfärben, Bänder aus Stopfgarn zu flechten und ums Handgelenk
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DIE SUBJEKTE: UMNUTZUNGSOBJEKTE UND -MOTIVE
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6 1 Abfalleimer als Fußballtorbegrenzung 2 Faltkiste als Kinderboot 3 Decke als Rotkäppchenkostüm 4 Zeitung als Spritzschutz
5 Hundehalsbänder als Ketten 6 Kleinteile als Rucksackdekoration zur Selbstdarstellung 7 Ausweisband als Schlüssel- und Feuerzeughalter
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DIE SUBJEKTE: UMNUTZUNGSOBJEKTE UND -MOTIVE
zu binden, alle möglichen Schachteln als Federmäppchen zu benutzen statt gekaufte zu verwenden oder Einstellungen und Mitteilungen auf Hosen, Rucksäcke und Schuhe zu schreiben. Sicher spielt auch der Geldmangel in diesem Alter eine Rolle, denn die meisten Jugendlichen sind noch vom Taschengeld ihrer Eltern abhängig. Später, nach Abschluss der Schule, beginnt die Lebensphase, in der berufsspezifisch, geschlechtsspezifisch und kulturell bedingte Umnutzungen vor altersbedingten Zweckentfremdungen ausschlaggebend werden. Erst ältere Menschen, die nicht mehr berufstätig sind, verwenden wieder häufiger Dinge auf eine nicht intendierte Art. Oft deshalb, weil es für ihre Bedürfnisse zu wenig adäquat gestaltete Gegenstände gibt oder weil sie aufgrund ihrer Erlebnisse in der Nachkriegs-Mangelzeit an das Aufheben und Wiederverwerten von Dingen gewöhnt sind. Vielleicht haben sie aber auch durch ihre Lebenserfahrung eine gelassenere Einstellung gegenüber der Dingwelt entwickelt und pflegen deshalb einen freieren Umgang damit. So dient manchen der Einkaufswagen als Krücke, die Lupe als Brille, der Fernseher als Gesprächspartner.
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Die Objekte
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DIE OBJEKTE
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DIE OBJEKTE
Nach der Betrachtung der NID-Anwender möchten wir nun die Eignung der Produkte für Nicht Intentionales Design untersuchen. Hierbei gilt es herauszufinden, welche Art von Objekten mehr und welche weniger stark umgenutzt werden. Dafür haben wir eine Unterteilung der Dinge in Produktgruppen vorgenommen, die Gemeinsamkeiten in ihrer Eignung für unseren Forschungsgegenstand aufweisen. Bei der Untersuchung der Objekte ist zu beachten, dass es nicht ausreicht, wenn wir uns ausschließlich ihrer Form und Funktion zuwenden, denn diese sind immer auch im Wechselspiel mit den Benutzenden zu sehen. «Man erkannte nämlich, dass in den Objekten selber das Wesentliche nicht steckt; dass die Objekte selber und für sich nichts sind, solange sie nicht in ihrer Beziehung zu Menschen gesehen werden, die mit ihnen umgehen.»120 Das Erkennen und Bewerten von Objekten sowie die Schaffung neuer Dinge haben ihren Ursprung nicht immer in Überlegungen und kreativen Eigenleistungen. Oft kopieren wir bereits Gesehenes oder wenden Erlerntes an. Das gilt nicht nur für den Umgang mit Produkten, sondern auch für deren Umnutzungen. «Von Freiheit im Gegenstandsgebrauch kann überhaupt keine Rede sein. […] Das Verhältnis gleicht einer Altehe ohne Aussicht auf befreiende Scheidung: Ohne die Hilfe und den Widerstand der Dinge könnten wir nicht leben, ohne uns würde der Bestand der Dinge für sinnlos gelten müssen. […] Sie gestalten das Brauchen durch ihr kulturelles Vorgegebensein, sie werden von den individuellen und kollektiven Bedürfnissen provoziert und assimiliert.»121 Die Dinge verändern sich mit dem Menschen. Neu entdeckte Materialien, Techniken und Kenntnisse verbessern bereits Geschaffenes oder erfordern neue Produkte. Die Bedürfnisse schlagen sich immer auch in der Produktwelt nieder. Eine ausschließliche Betrachtung der Objekte reicht für das Erfassen ihrer Bedeutung nicht aus. Mit diesem Trugschluss konfrontieren uns beispielsweise die kulturgeschichtlichen Museen, wenn wir durch die vitrinengefüllten Räume wandern. Ohne erklärende Texte und Abbildungen, die Anwendungen und Wert der Gegenstände erläutern, stehen wir fragend vor ihnen. Das fehlende Wissen um ihre Verwendung lässt uns die Sachen erst mal nutzlos erscheinen. «Denn von der einstigen Nähe oder Ferne von Mensch und Ding ist im Museum wenig wahrzunehmen, auch nicht, wie sich das Verhältnis zwischen Personen und Sachen im Laufe der Jahrhunderte gewandelt hat, mit welchen Blicken und Gesten die Dinge gemessen wurden. [...] Denn etwas ins Museum bringen heißt, ‹etwas aus dem Kontext nehmen, in einen neuen Zusammenhang bringen und dadurch den Realitätsgrad eines Objekts entscheidend verändern.›» 122 Leichter fällt es uns, den Nutzen der Gegenstände zu erschließen, wenn ähnliche Formen für die gleiche Funktion nach wie vor in unserem kulturellen Umfeld vorhanden sind. Messer und Waffen aus der Steinzeit, Kochgeschirr, antike Krüge, Schmuckstücke und Münzen (er-)kennen wir aus unserer eigenen Produkterfahrung. (Bei alten Werkzeugen für ein überholtes oder vergessenes Handwerk hingegen fällt uns die Zuordnung schwerer oder entzieht sich gänzlich einem erkennbaren Gebrauchswert.)
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Brock, Bazon: «Zur Archäologie des Alltags», in: Friedl, Friedrich; Ohlhauser, Gerd: Das gewöhnliche Design, a.a.O., S. 24.
121
Selle, Gert: Siebensachen. Ein Buch über die Dinge, a.a.O., S. 19 f.
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Ebd., S. 53. Selle zitiert hier Eva Sturm (1990).
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DIE OBJEKTE
Mit diesen Dingen scheinen wir in enger Beziehung zu stehen, ihr Gebrauch ist uns durch die Jahrtausende erhalten geblieben. Lediglich die Form und Handhabung haben sich mit unserer Evolution gewandelt, «wie mit der Geste des Trinkens unendlich viele Variationen der Form des Geräts verbunden sind, die auf irgendeine Urform des irdenen Gefäßes zurückgeht, schließlich auf die Hohlform der schöpfenden Hand».123 Die Assoziationsfähigkeit, Gegenstände anderer Epochen einer Nutzung zuzuordnen und die Abstraktionsleistung, trotz Material- und Formabweichungen, selbst aus Bruchstücken und Scherben noch den Gebrauchswert ablesen zu können, sind Grundvoraussetzungen für das Phänomen NID. Denn so, wie die Objekte den Entwicklungsprozess vorwärts durchliefen, könnten wir jederzeit im Gebrauch auf ihre Vorformen zurückgreifen, um das damit verbundene Bedürfnis zu befriedigen.
Die einfachen Dinge Der sich aus diesen Überlegungen ergebenden Produktkategorie der einfachen Dinge steht meist ein Grundbedürfnis gegenüber, das zur Lebenserhaltung notwendig ist. Schalen, Becher und Gläser zum Trinken, Messer zum Teilen und Schneiden von Nahrung oder als Werkzeug zur Trennung von Materialien, Sitz- und Liegeflächen zum Ausruhen, Stell- und Ablageflächen sowie Ordnungs- und Staubehälter zur Anordnung und zum Verstauen des Besitzes zählen dazu. Seitdem der Mensch über Eigentum verfügt, ist er mit diesen Dingen vertraut, im vorgegebenen und freien Umgang mit ihnen erprobt und erfahren. Umnutzungen im Sinne von NID sind bei diesen Gegenständen so selbstverständlich, dass wir diese oft gar nicht mehr wahrnehmen. Ein Stuhl, über dessen Rückenlehne wir Handtücher trocknen, auf ihm stehend die Glühbirne auswechseln, an den wir Jacken und Taschen hängen, erscheint kaum würdig, als Gegenstand eines Forschungsprojektes untersucht zu werden, wie sich oft bei der Erläuterung des Begriffes NID gegenüber Außenstehenden zeigte. Erst wenn ausgefallenere, unbekannte Umnutzungen als Beispiele genannt wurden, wie das Verwenden von Waschmaschinenbullaugen als Salatschüssel oder Auflaufform, reagierten die Angesprochenen interessiert. Dementsprechend zählten auch zu den eigenen spontan genannten NIDs viel mehr individuelle Umnutzungen, die meist verbunden waren mit kreativer Eigenleistung, seltener kollektive. Das hat zur Folge, dass wir in Hinblick auf den Umgang mit den Grundformen nicht nur deren ursprüngliche Anwendung, sondern auch die Umnutzungen als selbstverständliche zugehörige Funktionen werten. Selbst wenn Dinge nur für ein Grundbedürfnis geschaffen wurden, so haben sie sich doch im Laufe der Zeit zu multifunktionalen Objekten entwickelt, die für uns mehr als nur ein Nutzungspotenzial beinhalten. Für uns ist ein Stuhl nicht mehr nur ein Stuhl, sondern auch ein Tritthocker, Wäscheständer, eine Garderobe oder Turnstange und ein Regal. Dabei funktioniert diese Mehrfachnutzung am besten bei dem Archetyp des Stuhls mit einer stabilen Sitzfläche, Rückenlehne und vier Beinen. Rollfüße, Armlehnen, dekorative Elemente oder ergonomische Formen sowie High-Tech-Accessoires schränken die Multifunktionalität bereits erheblich ein.
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Ebd., S. 76.
DIE OBJEKTE
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Alternative Ablageflächen für Bücher 1 Heizung als Buchablage 2 Sofa als Bücherregal 3 Weinkiste als Bücherregal 4 Stuhl als Buchablage
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DIE OBJEKTE
Billig- und Wegwerfprodukte Eine weitere Produktgruppe ist für das Phänomen NID untersuchenswert: die Billigprodukte, mit denen nicht zuletzt Ketten den Markt überschwemmen. Bei einem günstigen Preis ist die Bereitschaft zum Kauf weitaus größer. Viele Schnäppchen wandern unter der Prämisse in den Einkaufskorb, Störendes oder noch nicht Perfektes an den Produkten zu ergänzen oder zu verändern, bis sie den eigenen Vorstellungen entsprechen. Sollte das Experiment der Umwandlung fehlschlagen oder der Kompromiss irgendwann ausgesorgt haben, kann das Produkt bedenkenlos entsorgt werden, schließlich hat es ja «nichts» gekostet. Der günstige Erstehungswert lässt uns rücksichtsloser mit den Dingen umgehen: Für Tusch- und Zahnputzgläser, Waschschüsseln, Putzlappen und Ähnliches greifen wir meist auf Billigprodukte zurück, denn Großmutters Sammeltassen als Pinselbecher für nicht mehr ausspülbare Lacke zu verwenden, käme einer Dummheit gleich. «Dass beispielsweise Wegwerfmöbel in bestimmten gesellschaftlichen Gruppen acht Jahre lang in Mode waren, liegt daran, dass diese Möbel von ihrer materiellen Gestalt her für die Zerstörung oder für eine bis zur Zerstörung gehende Aneignung geradezu prädestiniert sind. Sie erleichtern die Durchsetzung der eigenen Aneignungsabsicht, weil sie nämlich billig sind. Also auch einfach wieder ersetzt werden können.»124 Während das Umnutzen von preiswerten Artikeln uns mit einer gewissen Genugtuung erfüllt, wenn wir dieser wertlosen Dinge Herr werden und ihnen einen Sinn verleihen, gelten bestehende Werte als erhaltenswert, erleben wir den Verlust dieser als schmerzlich. Bei Billigprodukten wird die Macht über die Dinge von uns ausgeübt, teure Sachen diktieren uns den respektvollen Umgang mit ihnen. Die Freiheit im Gebrauch und damit auch für NIDAnwendungen wird dadurch stark eingeschränkt. Nicht nur neues Günstiges, auch altes Ausrangiertes, das genauso für einen geringen Preis zu erstehen ist, birgt ein ähnliches Umnutzungspotenzial. Denn was für die einen bereits zum alten Eisen zählt, ist für manch andere immer noch verwertbar. Alten Sachen einen neuen Nutzen zuzuteilen ist für viele passionierte Lebensart. Diese Leute werden nicht nur auf Dachböden und in Kellern fündig, sondern auch am Wochenende auf dem Flohmarkt. Gerade der abgelebte, geschichtsträchtige Charakter dieser Second-Hand-Artikel macht für viele den Reiz aus. Und oft wird schon beim Erstehen überlegt, was aus den Relikten vergangener Tage noch zu machen sei, denn selten werden diese ihrem ursprünglichen Zweck gemäß eingesetzt. Alte Milchkannen beherbergen von nun an Regenschirme oder Trockenblumen, Wagenräder dienen als Lampenschirme, alte Kommoden werden zum HiFi-Sideboard, aus Omas Bluse wird ein modernes Sonnentop, und der alte Armeerucksack wird zum Schulranzen umfunktioniert. Man möbelt auf und um, ergänzt, ändert und erneuert, bis man stolz zeigen kann, was man aus dem Wegwerfobjekt gemacht hat. Der Sperrmüll ist eine andere Fundgrube, die die Phantasie und Kreativität noch mehr herausfordert. Hier sind oft Bruchstücke, kaputte oder unvollständige Güter zu ergattern, die nur durch noch aufwendigere Eingriffe zu neuem Leben zu erwecken sind. Ob die Wiederverwertung von Second-Hand-Artikeln noch zum Phänomen NID zählt – oder bereits unter den von uns abgegrenzten Bereich der geplanten Umnutzung zur
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Brock, Bazon: Zur Archäologie des Alltags, a.a.O., S. 30 f.
DIE OBJEKTE
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2 Provisorien – Helfer in der Not Die folgenden Anwendungen zählen zu den temporären NIDs. Aus einer Situation heraus werden Lösungen entwickelt, die für kurze Zeit einen Zweck erfüllen. Pappbecher und leere Flaschen oder Getränkedosen werden als Aschenbecher verwendet, Handtücher zur Salatschleuder oder zum Topflappen, der Gummihammer zerkleinert Eis, und mit Tee- und Kaffeekannen gießt man Blumen.
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Auch Einwegverpackungen lassen sich vielseitig einsetzen, wie verschiedene Beispiele zeigen: die Weinflasche als Kerzenständer oder Blumenvase, das leere Konservenglas als Farbdose beziehungsweise zur Aufbewahrung von Knöpfen, Münzen, Stiften, Schrauben oder sonstigen Kleinteilen.
1 Wasserflaschen als Blumenvasen 2 Colaflasche als Blumenvase 3 Pappbecher als Aschenbecher 4 Weinflasche als Kerzenständer 5 Wegwerfgläser als Schraubenbehälter 6 Joghurtglas als Lackdose 5
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DIE OBJEKTE
Die Flasche
«...
Was nun jene leeren Flaschen betrifft, welche aufgehoben wurden, um für Zwecke verwendet zu werden, welche von ihren Erzeugern nicht beabsichtigt waren, zum Beispiel als Kerzenständer, Blumentöpfe oder Aschenbecher, so sind solche Flaschen Zeugen einer menschlichen Fähigkeit, welche verdient, geradezu die menschliche genannt zu werden. Die Fähigkeit nämlich, von den Dingen Abstand zu nehmen und sie von vorher nicht eingenommenen Standpunkten aus zu sehen. Die Flaschen kommen ins Haus, nicht nur mit einer sichtbaren Aufschrift, die ihren Inhalt benennt, sondern auch mit einer unsichtbaren, die in Befehlsform angibt, wie Flaschen angesehen und gehandhabt werden sollen. Alle Dinge in unserer Umgebung sind mit solchen Imperativen versehen, und es ist vor allem in diesem Sinn, in dem sie uns bedingen. Aber wir können unter einer ganz bestimmten Anstrengung, die man vielleicht die ‹phänomenologische› nennen könnte, von diesem unsichtbaren Imperativ absehen, und dann erscheint uns die Flasche als das, was sie ist, nicht als das, was sie sein soll. Eine so durch uns von ihrem Wert befreite Flasche kann dann von uns anders bewertet werden, zum Beispiel eben als Kerzenständer. Flusser, Vilém: Dinge und Undinge. Phänomenologische Skizzen, München 1993, S. 17.
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...»
DIE OBJEKTE
kreativen Selbstverwirklichung fällt – bleibt fraglich. Die Trennung fällt hier insofern schwerer, die Übergänge erscheinen fließender, als dem Objekt selbst nicht immer anzusehen ist, aus welchem Motiv heraus es zweckentfremdet wurde. Ist die alte Mörser-Zuckerdose nur deshalb eine solche, weil keine andere zur Hand war – oder wurde sie eigens für diesen Einsatz erstanden? Zumindest dann, wenn kreative Bastelmentalität im Umwandlungsprozess eine Rolle spielte, wäre diese NID-Umnutzung eher dem Schaffensdrang der Heimwerker vergleichbar, nur dass diesmal nicht aus Halbzeugen, sondern aus bestehenden Teilen Neues entsteht. Außerdem spielt hier die asketische Geisteshaltung eine Rolle, die bewusst auf das Anschaffen neuer Produkte verzichtet. Wir unterscheiden diese Umnutzungen von denen, die wir zu den spontanen Umwandlungen im Gebrauch zählen. Dieses Verhalten ist in den entwickelten Industriegesellschaften insbesondere bei alternativen Randgruppen anzutreffen. Ihr Vorgehen, sich mit umgenutzten Einzelstücken vom allgemeinen Dingkonformismus abzuheben und sich über günstige Alternativen zum kommerziellen Produktkonsum zu freuen, ist in anderen Ländern aus Not an der Tagesordnung. «Der einheimischen Bevölkerung war, wie bei fast allen modernen Importgütern, in der Regel zunächst nur das zugänglich, was von den Kolonialherren als irreparabel und unbrauchbar angesehen wurde. Altmetall und Reifengummi wurden rasch als neue vielfältig verwendbare Materialien erkannt und genutzt. […] Als Abfall oder Müll sind diese Materialien in den Entwicklungsländern niemals aufgefasst worden. Von Beginn an wurden sie als nützlich und verwertbar betrachtet.»125 Dass jedoch auch bei uns nicht jeder Müll gleich weggeworfen wird, soll der folgende Abschnitt zeigen: Einweg- oder Wegwerfprodukte werden nur für einen ganz bestimmten Zweck zum einmaligen Gebrauch produziert. Dennoch stolpert man über sie in den unterschiedlichsten Anwendungen: Alte Granini-Flaschen werden bemalt als Blumenvasen dekoriert, in Einmachschraubgläsern werden Lebensmittel wie Kaffee, Salz oder Gewürze aufbewahrt, in ihnen wird Marmelade eingekocht, und Schrauben, Nähgarn oder ähnliche Kleinutensilien werden darin aufgehoben. Für alte Filmdosen gibt es inzwischen Sammelstellen bei Fotofachgeschäften, die diese zum Beispiel an Kindergärten weiterleiten, wo sie als beliebtes Bastelmaterial eingesetzt werden. Leere Getränkedosen erleben als Aschenbecher oder Kickerdose ein Fortleben, und Flaschen dienen als Blumenvase, Kerzenständer, zum Blumengießen oder, geköpft, als Waffe sowie abschreckender Mauerbelag gegen unerwünschte Eindringlinge. Mit Bierdeckeln baut man Kartenhäuser, sie sind Merkblatt für die zu zahlende Zeche und, genauso wie leere Zigarettenschachteln, ein hervorragender Notizzettel für den Austausch von Telefonnummern und Wegbeschreibungen. Aber was macht das große Umnutzungspotenzial dieser Gegenstände aus, die doch eigentlich nur ihren Zweck erfüllen und dann entsorgt werden sollen? Gerade weil sie nach dieser Funktion bereits ihren Dienst getan haben, stehen sie uns wieder frei zur Verfügung. Denn bevor sie weggeworfen werden, können wir sie ebensogut einem anderen, neuen Gebrauch zuführen. Aus ihrer eigentlichen Daseinsberechtigung entlassen, können wir mit ihnen tun und lassen, wonach uns der Sinn steht. Die Umnutzung kann dabei ohne Bedenken oder schlechtes Gewissen auch zur Zerstörung des Gegenstandes führen, denn dieser ist ja ohnehin bereits auf dem Weg zur Deponie. Wir erleiden dadurch weder einen Funk-
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Giersch, Ulrich; Kubisch, Ulrich: Gummi. Die elastische Faszination, a.a.O., S. 348 f.
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DIE OBJEKTE
Die Plastiktüte
«...
So dient die Plastiktüte als Schutz für das Gipsbein bei Regenwetter, Schutz für die Frisur bei Regen, Schutz für den Hut (!), Schutzhaube gegen Frost für Rosen, zum Trockenhalten des Fahrrad-Sattels, wenn das Rad bei Regen ‹parkt›, als Turnbeutel für Sportschuhe, Frischhalteverpackung für Verpflegung bei Reisen und Ausflügen, Unterlage zum Sitzen auf Parkbänken, als Rodelschlitten (im langen Schneewinter 1978/1979 war das Rodeln per Plastiktüte in Norddeutschland für Kinder und Halbwüchsige der letzte Hit), als WasserholBeutel auf Campingplätzen, Gießkanne zum Wassertragen, als ‹rote Fahne› zur Sicherung von herausragenden Frachten bei Autos, als ‹Luftsack› zum Anzeigen der Windstärke und Windrichtung usw. usw. Dass man eine Plastiktüte zusammengefaltet in der Manteltasche und damit griffbereit für den nächsten Spontankauf aufbewahren kann, sei immerhin erwähnt. Denn, so sagt die Branche: ‹Plastiktüten sind keine Einweg-Verpackungen.›
form, Zeitschrift für Gestaltung, 89/1980, S. 24 ff.
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...»
DIE OBJEKTE
tions- noch einen Wertverlust, das Ding muss deshalb nicht repariert oder ersetzt werden. Im Gegenteil: Durch die Wiederverwendung verlängern wir seine Existenz, durchbrechen den Kreislauf der Müllzufuhr und geben ihm einen neuen persönlichen Wert, der ihn sogar gänzlich vor dem Papierkorb bewahren kann. «Darum werden Flaschen aufgehoben: um umgeformt zu werden und zu neuen Zwecken, zum Beispiel als Aschenbecher, verwendet zu werden. Umgeformte leere Flaschen sind Zeugen der fortschreitenden Verwandlung der Formen, also Methode, wie der Mensch das Sein bezwingt, um zu werden, wie es sein soll. Das nämlich heißt Theorie: nicht beschauliches Ansehen von ausgestellten Formen, sondern tätiges Verwandeln aufgehobener Formen. Und der Sinn des Lebens ist: fortschreitend und fortschrittlich Formen aufzuheben und umzuwandeln. Also Dialektik von Theorie und Praxis. Und das ist Engagement: permanent revolutionäres Umwandeln aufgehobener Flaschen.»126 Flussers Bezeichnung des Phänomens als Lebenssinn bestätigt, wie sehr der freie Umgang mit aufbewahrten Formen nicht nur Gewohnheit, sondern sogar Bedürfnis geworden ist. Auch der Prozess des Wegwerfens selbst bietet Gelegenheit für NIDs. Zahlreiche Verpackungen wie Dosen, Becher, Plastiktüten und Pappkartons erleben ihren einzigen verpackungspostumen Einsatz als Sammelkiste für leere Flaschen und Altpapier, als Mülltüte oder Aschenbecher. Alte Pappen dienen kurzfristig als Schneideunterlage für das Zerkleinern anderer zu entsorgender Kartons, und mit Plastiktüten wird das Altglas zum Container transportiert, wo sie im Recycling-Behälter landen. Überspitzt gesagt zeigt sich dieses gleiche Verhalten gegenüber aufgehobenen Abfallobjekten auch in vielen gesellschaftlich anerkannten Sammelleidenschaften – ob leere Parfumflacons, Bierflaschen oder Tomatenmarkdosen, Telefonkarten oder Briefmarken. All diese Gegenstände haben ihre eigentliche Funktion bereits erfüllt und erleben nun, dem ursprünglichen Gebrauchskontext entzogen, eine gänzlich neue Wertschätzung, zum Teil sogar erhebliche Wertsteigerung. Dann kehrt sich der Umgang mit ihnen ins Gegenteil: Alte Briefmarken werden mit Pinzette und Stoffhandschuhen angefasst, in dicken Alben hinter Pergamentpapier sorgfältig verstaut. Spätestens in diesem Moment haben sie einen neuen Platz eingenommen und werden für weitere, andere NID-Anwendungen wertlos. Präsentiert auf Auktionen oder ausgestellt in Museen rücken die Wegwerfprodukte auf diesem Weg ins Rampenlicht, werden nun auch für die Gesellschaft in unterschiedlicher Hinsicht interessant. Einige der Sammelleidenschaften führen zu einem kulturwissenschaftlichen Rückblick auf ihre ursprüngliche Funktion und schlagen somit auch den Bogen zum Thema NID. Die Ausstellung zur damaligen Neueröffnung des Haus Industrieform Essen Plastiktüten, Gebrauchskultur im Straßenbild, beispielsweise, stellte neben 450 Plastiktüten allerlei Wissenswertes rund um die Tragetasche vor, wobei auch ihre Umnutzung thematisiert wurde. Selbst wenn diese Beobachtungen noch keiner Untersuchung gleichkommen, so zeigen sie dennoch erste Ansätze, dieses Phänomen öffentlich zu diskutieren. Die Industrie setzt den Mehrwert der Verpackungen oftmals auch werbestrategisch ein, um die eigenen Produkte besser zu verkaufen. Hierbei wird die Zweckentfremdung zum Verkaufsargument erhoben: Joghurt gibt es inzwischen in verschließbaren, tiefkühlgeeigneten Kunststoffbechern, Kuchen wird in einer wiederverwendbaren Backform aus
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Flusser, Vilém: Dinge und Undinge. Phänomenologische Skizzen, a.a.O., S. 25.
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DIE OBJEKTE
Glas angeboten und Senf oder Schokocreme in dekorierten Trinkgläsern präsentiert. Dieser Ansatz funktioniert insofern, als – wie bereits erwähnt – Umnutzungen mit Verpackungen ohnehin stattfinden und diese von den Nutzenden dementsprechend auch angenommen werden. Süßwarenhersteller wie Keks- und Bonbonproduzenten verpacken ihre Ware in besonders dekorierten Metalldosen, wie zum Beispiel die Nürnberger Lebkuchen oder Fudge von «Quality Street». Zu schade zum Wegwerfen wird in diesen bunten oder geprägten Dosen später alles Mögliche verstaut oder aufbewahrt. Wenn das Kind zum Kunden wird, ist die Verpackung meist mehr als nur schützendes Drumherum mit Lagerqualitäten. Auf den Innenseiten der Kartonagen sind Spiele und Figuren zum Ausschneiden gedruckt, Bonbons werden in Kunststoffspazierstöcke und Ähnliches eingefüllt, sogar Süßigkeiten selbst werden in Formen von Armbanduhren und Ketten hergestellt, die vor dem Verzehr als Schmuckstück getragen werden können. «Ferrero» bewirbt die Überraschungseier nicht nur als süße Leckerei, sondern auch mit Überraschungsspaß und Spielfreude, die in der Süßigkeit steckt. Das Ei, in einer dünnen Alufolie verpackt, ist wiederum Verpackung für ein rundes Plastikei, in dem ein Spielzeug steckt, wobei diese kleine Plastikdose zugleich als Teil des in ihr befindlichen Spielzeuges genutzt und ohnehin auch für andere Dinge zur Aufbewahrung verwendet werden kann. Das Prinzip der russischen Steckpüppchen «Matrjoschka» wird hier für den Verkauf von Schokolade vermarktet. Und mehr noch: Durch die Strategie der ständig wechselnden Figuren und Spiele wird gleichzeitig die Sammelleidenschaft geweckt: Inzwischen werden diese Pfennigprodukte unter Liebhabern zu recht happigen Preisen gehandelt. Neben der Zweitverwertung für den Alltag statten die Firmen ihre Verpackungen auch mit Wertmarken aus und nutzen so das oben beschriebene Sammlertum nicht nur bei Produkten für die junge Käuferschaft. Knibbelbilder aus Flaschenverschlüssen, Etiketten und Verpackungen mit ausschneidbaren Wertmarken und Ähnliches können in Bonushefte oder auf Sammelposter geklebt werden und versprechen je nach Anzahl oder Vollständigkeit der Rabattmarken eine Belohnung für die Treue der Kundschaft. Diese zwei Beispiele zeigen das Wissen um die Wiederverwendung von Wegwerfprodukten und den wirtschaftlichen Einsatz dieser Kenntnisse. Das Phänomen der Umnutzung, das in wissenschaftlichen Untersuchungen bislang noch kaum behandelt worden ist, findet in der Praxis der Konsumwelt bereits erfolgreich Anwendung. Auch wenn diese vorgegebene Mehrfachnutzung nicht mehr als NID zu verstehen ist, so sind viele dieser Ideen aus dem täglichen Leben kopiert oder durch dort gesehene Umwandlungen angeregt worden: ein Kreislauf oder Wechselspiel, in dem Gebrauchsumwandlungen des Alltags die Industrie inspirieren und die durch die Industrie vorgegebenen Zweckentfremdungen wieder neues Potenzial für nicht vorgesehene Umnutzungen bergen.
Multifunktionale Produkte Multifunktionalität hat sich zu einem feststehenden Begriff im Design-Kontext etabliert. Man versteht darunter die Einlösung des Anspruches, ein Objekt mit mehr als nur einer Funktion auszustatten, die von den Anwenderinnen alle wahlweise genutzt werden können. Nach diesem Prinzip entstanden Küchenmaschinen, die Mixer und Hacker oder Waffeleisen
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DIE OBJEKTE
und Toaster in einem sind, Büromöbel, die als Tisch, Schrank und Stuhl dienen, oder Verwandlungsobjekte, die mal für diese, mal für jene Funktion einsetzbar sind. Das Prinzip des «All-in-one» kann auf jede Produktgruppe angewendet werden. Vorausgesetzt, das Produkt ist bereits so komplex, dass eine spontane Umnutzung (und damit benutzerinitiierte Multifunktionalität) nicht mehr gegeben (oder gewollt) ist. Unter dem Deckmantel der variablen Nutzungsmöglichkeiten entsteht eine vorgegebene, stringente Anleitung, wie mit der Mehrfachnutzung dieses Gegenstandes zu verfahren sei. Wirkliche Freiheit im Umgang mit dem Ding ist nicht vorgesehen. Im Gegenteil: Die geplante Vereinigung von mehr als nur einer Funktion in einem Gegenstand macht die Dinge inflexibel für eigene Umnutzungen. Platzsparende Multimöbel werden doch meist nur in einer Funktion verwendet und benötigen für diese aufgrund des Wandlungspotenzials oft mehr Platz als das ursprüngliche Möbel. Auch kann man sich des Eindrucks des Provisorischen nicht erwehren, den sie vermitteln. Das Bettsofa zum Beispiel ist zwar als Gästebett eine praktische Erfindung – doch befragt man die Anwenderinnen, die täglich auf diese Schlafstätte angewiesen sind, erfährt man, dass die Schlafcouch aus Bequemlichkeit meist Bett bleibt, weil man des ewigen Bettenbauens müde sei. Das durch das Provisorium entstellte Zimmer – denn Bettsofas stehen meist in der Mitte des Raumes und beanspruchen weitere Ablageflächen für ihre Tagesauflagen, Kissen und Armlehnen – wird mit der Standard-Ausrede, noch nicht zum Bettenmachen gekommen zu sein, entschuldigt. In diesem Zustand stößt man auf und stolpert man über das sonst nicht diesen Platz beanspruchende Objekt und ärgert sich zusätzlich darüber, dass der Schlafkomfort auf diesem Behelfsbett längst nicht dem entspricht, den man bei konventionellen Betten gewohnt ist. Das Beispiel des Schlafsofas veranschaulicht, wie problematisch solche Multifunktionsmöbel sein können. Es stellt sich die Frage, ob wir diese wirklich benötigen. Nach der Feststellung, dass sie aufgrund der oben genannten Nachteile für dauerhafte Mehrfachnutzung wenig taugen, könnten wir alternativ im Fall eines Falles immer noch auf richtige NIDs zurückgreifen: Auch das normale Bett wäre mit einer Tagesdecke und ein paar Kissen zur gemütlichen Sitzecke umgestaltet, und ein bequemes Sofa kann für eine Nacht auch mal als Schlafplatz dienen, wenn es nicht ohnehin bereits zur Mittagszeit zu einem solchen umfunktioniert wird. Selbst unsere Einstellung gegenüber dem Objekt ist in diesem Fall eine andere, positive. Von umgenutzten Dingen erwarten wir keine perfekte Funktionsweise. Der Ärger gegenüber mangelhaften Multifunktionsobjekten, die uns mit diesem Argument zum Kauf bewogen haben, ist im Vergleich sehr viel größer. Während wir auf diese mit Unmut und Enttäuschung reagieren, freuen wir uns bei unseren Gebrauchsumwandlungen über die eigene Lösung und die Vielseitigkeit der Dinge. Im Gegensatz dazu, dass die Beziehung zu den Objekten bei den Multimöbeln oft in Unzufriedenheit und Ablehnung umschlägt, schätzen wir unsere umgenutzten Dinge um so mehr, wenn sie uns über ihre eigentliche Funktion hinaus einen Mehrwert liefern. Viele Lieblingsstücke sind aus genau diesem Zusatznutzen zu solchen geworden, wie etwa die Lieblingstasse, aus der nicht nur Tee und Kaffee getrunken, sondern auch Säfte und Wasser, Müsli gegessen und Suppen gelöffelt werden. Ähnlich verhält es sich mit den modernen alles könnenden Küchenmaschinen. Oft überwiegen hier störende Merkmale, weswegen sie die meiste Zeit ihr Dasein im hinteren Schrankbereich fristen. Ausgestattet mit umfangreichen Bedienungsanleitungen und nicht zuzuordnendem Zubehör verwirren sie ihre Besitzer, denn vor der Arbeitserleichterung
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DIE OBJEKTE
erfordern sie ein ausführliches Studium, bevor die kostspielige Küchenhilfe zum Einsatz kommt. (Diesen Punkt verschweigt die Werbung für solche Gerätschaften, wenn sie uns strahlende Hausfrauen und -männer präsentiert, die nun knopfdrückend vollautomatisiert ihre Küchenarbeit verrichten.) Nach der fachgerechten Montage, für die neben der Zeit auch eine Stellfläche und ein Stromanschluss benötigt wird, kann dann wirklich leichter geschnitten, gerührt, geknetet und geraspelt werden. Doch nach der verrichteten Leistung ist der Umgang mit dem Gerät noch nicht beendet: Sämtliche Teile müssen für die Reinigung wieder demontiert, im Anschluss gesäubert und sorgfältig verstaut werden. Die Erleichterung, die im Vergleich zum Arbeiten mit dem Schneebesen, der Raspel oder den bloßen Händen entsteht, wird durch einen erheblichen Mehraufwand an Vor- und Nachbereitung des Arbeitsvorganges wieder zunichte gemacht. Daher erscheint es wenig verwunderlich, dass Menschen, die über mehrere technische Haushaltsgeräte verfügen, oft auf die einfacheren, günstigeren Apparate zurückgreifen. Hierzu ein kleiner Exkurs in die Küche einer zum Thema befragten Person: Trotz Vorhandenseins einer hochkomplexen Küchenmaschine verwendet sie zum Fertigen von Kuchenteig und Ähnlichem doch meist den einfachen elektrischen Rührbesen. Dafür ist kein aufwendiger Auf- und Abbau erforderlich, und auch die Bedienung lässt sich nach längerem Nichtgebrauch einfach erinnern: Es gibt nur einen Einschaltknopf mit drei Geschwindigkeiten. Einige Male jedoch erschien der Einsatz des neuen Gerätes angebracht: Kürzlich diente es zum Cocktail-Mixen für die Herstellung von Crushed Ice und das Verrühren von Limonen-Sirup mit Rum. Eine nicht vorgesehene Anwendung und ein Fehler, wie sich später herausstellte, den sie teuer bezahlte, denn das Technikwunder verklebte an unerreichbaren Stellen im Inneren so sehr, dass es sich nicht mehr bedienen ließ. Umnutzungen solcher Maschinen enden oft in diesen oder ähnlichen Erfahrungen, was sicher auch den vorschriftsgemäßen, «gehorsamen» Umgang mit ihnen unterstützt. Hammer und Handtuch, die man für das Zerschlagen von Eis verwenden kann, verzeihen diese Zweckentfremdung, ohne Schaden davonzutragen, und auch Glas und Löffel zum Umrühren und Anrichten des Mojito werden danach nicht unbrauchbar. In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, wie geschickt die Industrie unser Bedürfnis nach Arbeitserleichterung nutzt, um ihre aufwendigen, teuren und anfälligen Produkte zu verkaufen. Während wir sonst durchaus in der Lage sind, die Aussagen der Werbung schnell zu entlarven, sind wir in unserem «Technikglauben» weitaus unkritischer. Insbesondere Männer lassen sich von solchen «Wunderwerken» überzeugen – als Geschenk für die Frau zum Ausgleich für die sonst versäumte männliche Unterstützung bei der Hausarbeit. Abschließend lässt sich festhalten, dass diese multifunktionalen Objekte, die augenscheinlich der Arbeitserleichterung dienen, nicht nur im Kontext der Umnutzungen, sondern auch in der alltäglichen Anwendung als wenig nützlich gelten. Das Ergebnis solcher Anschaffungen hat Manfred Sack treffend zusammengefasst: «Es gibt Gebrauchsgegenstände, die man hat, aber vergisst, weil man sie nicht gebraucht. Die Arbeit, die zu verrichten oder zu erleichtern sie doch erfunden worden sind, lässt sich ja auch ohne sie erledigen, wie schlecht, wie grob, wie verdrussvoll auch immer.»127 Wirkliche Arbeitserleichterung erreicht
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Sack, Manfred: Alltagssachen. Eine Sammlung von allerlei notwendigen Gebrauchsgegenständen, a.a.O., S. 68.
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man oft besser durch einfachere und günstigere Abhilfen: Das Schärfen eines Messers kann beispielsweise mehrmals täglich Körperenergie einsparen, ohne auf technisches Gerät zurückgreifen zu müssen. Neben dem platzsparenden und dem arbeitserleichternden Prinzip gibt es noch eine dritte Gruppe multifunktionaler Objekte, die für das Phänomen NID relevant ist: Reiseprodukte. Sachen für unterwegs sind möglichst klein, leicht zu transportieren, robust und haben oft den Anspruch, gleich mehrere Bedürfnisse auf einmal zu erfüllen. So gibt es Regenkleidung, die auch Tasche, Zelt, Fahrrad- oder Rucksackponcho sein kann, Alu-CampingGeschirr mit einem Griff für alles, wobei der Deckel auch als Teller oder Pfanne einsetzbar ist. Doch das Paradebeispiel ist das Schweizer Taschenmesser, mit dem man durch seine vielfältigen Werkzeuge niemals in Verlegenheit gerät. Dieses Multifunktions-Tool nimmt uns durch seine mannigfaltigen Einsatzmöglichkeiten so manche NID-Leistung ab. Nun müssen keine Messerspitzen und Schlüsselbärte mehr zu Schraubenziehern umfunktioniert werden, das Brechen und Belegen von Broten mit den Händen wird auch im Freien elegant gelöst (wer es mag, kann danach sogar mit dem integrierten Zahnstocher die Zähne reinigen). Je nach Ausstattung ergänzt um Korkenzieher, Dosenöffner, Säge und Nagelfeile ist man für jede Situation gerüstet. Anders als das Multimöbel und die High-Tech-Küchenmaschine löst dieses Allzweckwerkzeug auch ein, was es verspricht. Das bestätigt zugleich der immense Verkaufserfolg, der das Schweizer Taschenmesser seit Jahren zu einem weltweiten Exportschlager macht. Der Unmut über die zum Teil minderwertigen und schlecht bedienbaren Einzelelemente wird durch die Dankbarkeit für das schlichte Vorhandensein dieser Dinge wieder wettgemacht. Auch das Mitführen aller Gegenstände (Funktionsteile), die man vielleicht diesmal nicht oder sogar niemals braucht, empfindet man nicht als belastend, vermittelt einem das komplette Messer doch ein Gefühl von Omnipotenz. Für Umnutzungen bietet das Schweizer Taschenmesser wie die meisten dieser Outdoor-Produkte dennoch Spielraum, wie zum Beispiel zum Öffnen von Briefen mit einem der Messer oder zum Beschweren von Papieren mit dem ganzen Objekt. Außerdem «liegt einem das ‹Schweizer Offiziersmesser› als haptisches Ding gut in der Hand, auch wenn es nichts zum Schneiden gibt und man damit bloß in der Tasche spielt».128 Nach dem Vergleich zwischen der Multifunktionalität der Grundformen und den intendiert multifunktional gestalteten Produkten erscheint eine Erweiterung des Gegenstand-Begriffes sinnvoll. Van den Boom formulierte hierzu: «Das Objekt kann zugleich diese Funktion und jene haben. Man sieht es dabei aber je als etwas anderes an! In einer Gegebenheitsweise sind nicht beide Hinsichten möglich.»129 Dieses Verständnis des Terminus, der gleichermaßen die ungeplante und geplante multifunktionale Anwendung mit einschließt, ist auch für unsere Untersuchung zutreffend. Um Objekte als multifunktional zu erkennen, benötigen wir keinen künstlichen Mehrwert. Auch so sehen wir in den Dingen mehr als nur ihre ursprüngliche Funktion.
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Selle, Gert: Siebensachen. Ein Buch über die Dinge, a.a.O., S. 216.
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van den Boom, Holger: Betrifft: Design. Unterwegs zur Designwissenschaft in fünf Gedankengängen, a.a.O., S. 38.
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Mediale Produkte Die letzte Objektgruppe, die hier betrachtet werden soll, ist die der medialen Produkte, welche in ihrer Funktion immaterielle Dienste beinhalten. Ihre Funktionsweise ist von außen nicht mehr ersichtlich, sie gleichen einer Blackbox, meist aus schwarzem Kunststoff, die die unterschiedlichen Anwendungen verbirgt. Die Tauglichkeit für NID beschränkt sich, bezogen auf den materiellen Gegenstand, auf wenige Beispiele. Denn diese Art von Umnutzungen ist für solche Produkte nicht vorgesehen und entspricht selten den hierfür notwendigen Anforderungen für Gebrauchsumwandlungen. Das liegt zum einen daran, dass ihr Wert sie zu schützenswerten Kostbarkeiten macht (vgl. den vorherigen Abschnitt über Wegwerfprodukte), und zum anderen wir mit ihrer Form und Funktion nicht so vertraut und erfahren sind wie beispielsweise mit den Grundformen. Und das erschwert die Möglichkeit der Umnutzung. Flusser schrieb zu diesen Apparaten: «Manche Dinge in meiner Umgebung sind mir nicht ganz geheuer. Sei es, weil ich mich ihrer zu bedienen scheine, aber in Wirklichkeit weiß, dass ich sie bediene. Sei es, weil diese Dinge mir offensichtlich zur Verfügung stehen und mir auch offensichtlich zur Verfügung gestellt wurden und weil ich auch tatsächlich über solche Dinge verfüge, ohne dabei mehr als eine sehr verschwommene Kenntnis von ihrer Funktion zu haben.»130 Allein das vorschriftsgemäße Bedienen dieser Geräte erfordert oft so viel Aufmerksamkeit und Anstrengung, dass Gedanken zur Umnutzung derselben einem gar nicht mehr in den Sinn kommen. «Der Benutzer wird zu einer Ausstülpung, einem Anhängsel des Apparats, der ihn dirigiert, indem er alles für ihn tut und ihm den Rest, der noch zu tun ist, vorschreibt.»131 Froh darüber, sie ihre gedachten Funktionen ausführen zu sehen, tauchen Ideen zur Umwandlung gar nicht auf. Eingeschaltet, in Betrieb, ist eine Zweckentfremdung schwer vorstellbar. Abgestellt – «tot» – hingegen ist es schon einfacher, mit diesen schwarzen Kisten etwas anzustellen, die sperrig unsere Wohnungen besetzen. Dann werden HiFi-Boxen zu Blumenständern oder Stellflächen für Telefone, Lampen und Kerzenständer. Man stapelt und schachtelt rund um diese High-Tech-Kisten, die mal Buchstütze sind, mal Ablage für CDs, DVDs und ähnliches oder die selbst zu buntgemixten Techniktürmen übereinander gestapelt werden – schließlich reicht es, wenn ein Platz durch sie besetzt wird. Schade nur, dass empfindliche Materialien oder Lüftungsschlitze auf den Oberseiten die Mehrfachnutzung einschränken. Der zweite Aspekt, der im Zusammenhang mit diesen High-Tech-Produkten, insbesondere den Medien, für NID von Interesse ist, sind die Funktionen, die diese Apparate beinhalten, ihre immateriellen, nicht greifbaren Dienste. Im Informationszeitalter sind wir umgeben von visuellen und akustischen Quellen, die uns durch Bildschirme, Lichtsignale und Boxen ihre Nachrichten senden. Bei der Untersuchung des Phänomens NID dürfen wir uns bei dieser Produktgruppe nicht nur auf das Objekt selbst konzentrieren, sondern müssen auch die von ihm ausgeübten medialen Wirkungen und Funktionen einbeziehen.
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Flusser, Vilém: Dinge und Undinge. Phänomenologische Skizzen, a.a.O., S. 7.
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Selle, Gert: Siebensachen. Ein Buch über die Dinge, a.a.O., S. 259.
DIE OBJEKTE
Radio und Fernsehen Das Radio als Gegenstand selbst bietet wenig Möglichkeiten für Umnutzungen, doch im Gebrauch verbindet jeder etwas anderes damit. Die Übertragung der menschlichen Stimme verleitet beispielsweise viele Menschen dazu, in einen Dialog mit dem Apparat zu treten. Selbst wenn es kein Gegenüber gibt, das die gesprochenen Worte und Sätze kommentieren kann, und jene Leute normalerweise keine Selbstgespräche führen, werden viele zum Mitreden, Mitsingen oder Mittanzen animiert. Das Gefühl der Gemeinsamkeit, mit anderen Zuhörenden das Gehörte zu teilen, und dennoch dabei allein zu sein, oft geschützt im Privatraum, evoziert offenbar diese Handlungen. Das Radio begleitet uns zu den intimsten Zeiten und Orten unseres Tages: Wir lauschen ihm morgens beim Aufwachen, wenn der Radiowecker uns mit dem gerade Gesendeten überrascht, im Bad bei der Morgentoilette, in der Küche beim Frühstück, im Auto auf dem Weg zur Arbeit. Die Moderatoren unserer Radiokernzeiten kennen wir inzwischen persönlich – oder haben zumindest den Eindruck, das zu tun. Die Kleiderwahl richten wir nach dem Wetterbericht aus, und der erstgehörte Song verfolgt uns als Ohrwurm den ganzen Tag. Das Radio wird zum Teil unseres Lebens, den wir schmerzlich vermissen, wenn wir ihn entbehren müssen, wie zum Beispiel im Urlaub, wo wir aufgrund der fremden Sprache nicht verstehen, was sich dort im Radio abspielt, und uns alles so fremd vorkommt. Andererseits hat gerade diese weltweite Kommunikationsübertragung beim Radiohören auch ihren Reiz: Sich über UKW in andere Länder einzuschalten und unbekannten Sprachen zu lauschen, ist wie eine akustische Reise um die Welt. Für viele wird das Radio auch zum Sprachtrainer beim Erlernen einer neuen Sprache. Doch die Sendemöglichkeiten des Radios – und somit auch sein immaterielles NID-Potenzial – gehen noch viel weiter: Es gibt Menschen, die meinen, über bestimmte Frequenzen Kontakt zu Außerirdischen aufnehmen zu können, selbst die Verbindung zum Reich der Toten soll darüber möglich sein. Radiohören ist so beliebt, weil es gleichzeitig andere Aktivitäten ermöglicht. Wir nutzen es nebenbei, während wir etwas anderes tun, und gerade das macht es so flexibel für den Gebrauch. Fragt man die Menschen, warum sie Radio hören, erhält man neben den naheliegenden Antworten, stets informiert zu sein oder Musik zu hören, auch individuellere Statements: zum Beispiel, um beim Autofahren wach zu bleiben, sich von monotoner Arbeit abzulenken und diese so interessanter zu gestalten, sich nach einem stressigen Tag zu entspannen oder sich abzulenken von den eigenen Problemen. Das Radio wird für eigene Interessen genutzt, wobei das Programm keine sehr große Rolle spielen mag. Die Inspiration kommt von außen – doch was das Gehörte auslöst, wozu das Radio anregen oder genutzt werden kann, ist sehr unterschiedlich. Als NID-verwandt kann hier der freie Umgang mit dem Gehörten bezeichnet werden. Schnelllebigkeit und Vergänglichkeit der gehörten Information führten zu einer weiteren Eigenmaßnahme der Benutzer: Mit der Erfindung des Tonbandgerätes konnte das Gehörte aus dem Radio auch aufgezeichnet werden. Nun wurde Musik nach eigenen Vorstellungen gemixt und zusammengefügt, und das, ohne die Songs im Plattengeschäft kaufen zu müssen. Allerdings wurde diese Form der «Raubkopien» nicht von allen Radiosendern unterstützt: Viele Moderatoren machten es sich zur Gewohnheit, Lieder entweder nicht auszuspielen oder dazwischenzureden, um die Herkunft solcher Kopien zu entlarven oder diese zu unterbinden.
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Durch die einfache Technik ist der Bau von Radios leicht nachzuahmen: Mit einer Spule und einem Stück Draht können aus den unterschiedlichsten Dingen Radios entstehen – ebenfalls ein interessanter Aspekt für NID. Selbst das Senden ist vergleichsweise unkompliziert: Bereits Schüler sind in der Lage, mit einfachem Equipment auf freien Frequenzen Piratensender ins Leben zu rufen. Allerdings dürfen sie sich dabei nicht erwischen lassen, denn im Vergleich zum Internet, das allen die freie Meinungsverbreitung gestattet, werden die verfügbaren Rundfunkfrequenzen von den Rundfunkanstalten verwaltet und ihr Missbrauch ist strafbar. Vieles, was für das Radio gilt, lässt sich auch beim Fernsehen feststellen. Allerdings macht die sehr viel komplexere Technik den Nachbau und das eigene Senden ohne professionelle Hilfe unmöglich. Für die Nutzenden gibt es jedoch durchaus Parallelen. Obwohl Fernsehen eigentlich auch das Zuschauen erfordert und dadurch zusätzliche Aktivitäten im Vergleich zum Radio erheblich eingeschränkt werden, schalten viele Menschen ihre TV-Geräte nur als akustischen Hintergrund ein. Besonders alleinlebenden Menschen vermittelt dies das Gefühl, nicht einsam zu sein. Für sie führt der erste Weg nach Betreten der Wohnung häufig direkt zum Einschaltknopf des Fernsehers. Begleitet von der Akustik, hin und wieder einen flüchtigen Blick auf den Bildschirm werfend, gehen sie nun ihren Tätigkeiten nach, ohne ernsthaft ein Programm zu verfolgen. Bei der Betrachtung der inhaltlichen Komponenten von Radio und Fernsehen ist es schwierig, von Umgestaltung im Sinne von NID zu sprechen. Spannend ist jedoch, dass hinter den materiellen Umwandlungen, für die sich diese Geräte als eher undankbar erwiesen haben, ihre medialen Funktionen ein weites Spektrum an Einsatzbereichen zur Verfügung stellen, die durch die Benutzenden entdeckt und nicht durch die Entwickler vorgesehen wurden. Auch der virtuelle Raum bietet mit seinen Gerätschaften Umnutzungsmöglichkeiten, wie wir bereits im Kapitel «Neue Medien» (Seite 89 ff.) analysiert haben.
Das Auto Neben der medialen Informationsvermittlung zeichnet ein weiteres Merkmal unsere Gesellschaft aus: Nicht nur durch Kabel und Sendestrahlen kommt sich die Welt näher, auch die Zunahme des Verkehrsaufkommens und die Entwicklung zahlreicher motorisierter Transportmittel zum Überbrücken räumlicher Distanzen prägen das Bild unserer Umwelt und stehen für ein Höchstmaß an Mobilität. Daher haben wir als letztes Beispiel technischer Produkte den Individualverkehr ausgewählt: das Auto. Die häufige Benutzung, die etwa 50-jährige Geschichte des Autos als Massentransportmittel und das große Aufkommen dieses Verkehrsmittels lassen vermuten, bei diesem Objekt fündig zu werden und auf Gebrauchsumwandlungen zu stoßen. Ursprünglich entwickelt, um Menschen und Lasten zu transportieren, sind hier neue, individuelle Einsatzmöglichkeiten entstanden. Schon lange wird das Auto nicht mehr nur dazu benutzt, von A nach B zu kommen. Diesem praktischen Motiv haben sich emotionale und seelische Intentionen beigesellt: Viele brausen heutzutage einfach so, ohne festes Ziel, durch die Straßen, weil ihnen dies ein Gefühl von Freiheit vermittelt. Andere beruhigen sich nach Streit oder Ärger mit dem monotonen Dahingleiten auf der Landstraße. Beobachtet
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man die Gesten und Gesichter der Lenkenden im Stadtverkehr oder auf der Autobahn, wird schnell deutlich, dass Autofahren auch ein emotionales Ventil für aufgestaute Gefühle ist, die sich hier, geschützt durch das Wageninnere und die Geschwindigkeit, entladen können. Ob das Einhalten von Verkehrsregeln erzwungen wird oder andere Verkehrsteilnehmer durch das Übertreten derselben «penetriert» werden: In beiden Fällen dient das Auto als Machtinstrument, um andere Menschen zu behindern, abzudrängen, zu überholen, zu schneiden und ähnliches. Die Doppeldeutigkeit dieser Worte legt bereits die Vermutung nahe, dass insbesondere diejenigen Menschen – meistens Männer – zu diesem Verhalten neigen, die sonst keine Gelegenheit (oder Fähigkeit) haben, solche Bedürfnisse anders auszuleben. Autofahren ist aber nicht nur Schauplatz eigener Potenzdemonstrationen, es hat sich auch zur Arena des Geschlechterkampfes entwickelt. Ausrufe wie «Frau am Steuer, das wird teuer!», «Typisch Frau!» kennt wohl jede Autofahrerin, wenn sie entweder selbst fährt oder als Beifahrerin mit einem Mann im Wageninneren sitzt. Frauen, die nach Männermeinung gut fahren, sind eine seltene, ungewöhnliche und übertrieben lobend zu erwähnende Spezies, denn meist bestimmen Kritik, Nörgelei und gute Ratschläge den Beifahrer-Fahrerinnen-Dialog. Männer verteidigen eine ihrer letzten so geglaubten «Technikdomänen» verbal bis aufs Messer. Dass diese Kritik willkürlich, launenhaft und wenig sachlich geführt wird, weiß jede Frau aus eigener Erfahrung. Und dies, obwohl Frauen laut Statistik weniger schwere Unfälle verursachen, wie jüngst eine Studie der Autoversicherungen erneut bestätigte. Wenn sich die Geschlechter im Verkehr begegnen, insbesondere Paare gemeinsam im Auto sitzen, wird es immer noch häufig zur «Beziehungskiste», in der auf engstem Raum gemeckert und gestritten wird, ohne eine Möglichkeit des Aussteigens. Sollte das Thema des geschlechtsspezifischen Fahrstils sich einmal erschöpft haben, bietet die Fortbewegung im Fahrzeug viele weitere Anlässe zur Diskussion, wie zum Beispiel die Wegfindung und Orientierung beim Schilder- und Kartenlesen, das Rauchen oder Öffnen von Fenstern und so weiter. Hinsichtlich unseres Themas sind diese Beobachtungen insofern relevant, als es bei solchen Anwendungen darum geht, mit dem Auto Macht auszuüben, andere zu bedrohen, beim riskanten Fahren ein Spiel aus Imponiergehabe und Einschüchterei zu beginnen, das sogar tödlich enden kann. Genauso wie bei Radio und Fernsehen wurde bei der Entwicklung des Autos lediglich die Fahrfunktion festgelegt. Wie diese genutzt wird, bleibt dem individuellen Gebrauch überlassen. Doch nicht nur im Streit kommen sich die Geschlechter im Auto näher. Der bewegliche Privatraum macht es gleichzeitig zur Spielwiese für Liebende. Immer dann, wenn das Heim für den Austausch von Zärtlichkeiten tabu ist, bietet der Rücksitz des Wagens eine willkommene Alternative. Hier wird das Auto nicht als Fahrzeug, sondern im ruhenden Zustand benutzt. Eine Möglichkeit, die sich auch das Autokino zunutze macht. Das Freiluftkino bietet bewirtschaftete Stellplätze, auf denen im Winter sogar Standheizungen ausgegeben werden. Auch das professionelle Gewerbe bedient sich des vierrädrigen Untersatzes, wenn es seine Dienste anbietet. Aber Autositze werden nicht nur zum Beischlaf zweckentfremdet. Genauso gut kann das Auto als günstiger Schlafplatz auf der Durchreise eingesetzt werden, wenn die Hotelsuche zu aufwendig oder kostspielig erscheint. All diese Umnutzungen werden erst möglich, weil das Auto neben dem Fahrzeug auch einen geschlossenen, abschließbaren Raum offeriert. Das Auto vermittelt uns an jedem Ort der Welt das Gefühl von Eigenheim, Privatraum und Intimität. Ein mobiler Rückzugsort, der
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1 Autositze als Garderobe 2 Auto als Schlafplatz 3 Ausrangierter Autoreifen als Fender 4 Ausrangierter Traktor als Spielplatz 5 Transporter als Laden 6 Autoreifen als Cart-Bahn-Begrenzung 5
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in der Großstadt Lärm und fremde Menschen abwehrt und in der freien Natur gegen Wetter und wilde Tiere Schutz bietet. Autotypen wie der Wohnwagen oder das Wohnmobil greifen diese Idee auf und sind im Endeffekt das kommerzielle Produkt eines umgebauten Kleinbusses, der als fahrbare Schlafstätte genutzt wurde und von vielen Globetrottern auch heute noch so umfunktioniert wird. Des Deutschen liebstes Kind eröffnet weitere Einsatzmöglichkeiten: Als Rennwagen in Autorennen wird es zum anerkannten Sportinstrument oder bei inoffiziellen Straßenrennen zum Freizeitobjekt privaten Kräftemessens. Der Rundum-Blick verwandelt es mit dem richtigen Führer in ein Sightseeing-Gefährt, beklebt und angemalt wird es zum mobilen Werbe- und Informationsträger, und geparkt benutzt man es als Sitzplatz und Abstellfläche im öffentlichen Raum. Auch Gewaltverbrecher missbrauchen das Auto für ihre Zwecke: Als Mordwerkzeug wird es manipuliert, mit Bomben präpariert, oder Lebensmüde benutzen es zum Selbstmord. Nach abgelaufener Fahrtüchtigkeit erfreuen sich Kinder auf Spielplätzen an von Technik befreiten Automobilen, um schon einmal das Steuer in der Hand zu haben. Alle, die ihre vierrädrigen «Kameraden» nach vollbrachter Fahrleistung nicht gänzlich verschrotten möchten, können immerhin Einzelteile retten: Es werden beispielsweise Autositze ausgebaut und als originelle Sessel in die Wohnungen gestellt, mit Radkappen und Nummernschildern die Wand geschmückt sowie ganze Karosserien enthauptet und zum Bett umgebaut. Der mannigfaltige Einsatz und die vielseitigen Umnutzungen veranschaulichen, was wir bereits bei anderen häufig gebrauchten Dingen beobachten konnten: Die ständige Nutzung des Autos wird begleitet von diversen neuen Anwendungen, die im täglichen Umgang mit ihm entstehen. Insbesondere Männer sind hier erfinderisch, schließlich ist das Auto eines ihrer beliebtesten Gesprächsthemen, wichtiger Bestandteil ihrer Freizeit, Identifikationsobjekt und Statussymbol. Zusammenfassend betrachtet fällt auf, dass NID in allen Objektgruppen vertreten ist, wenn auch in unterschiedlicher Form und Häufigkeit. Im Vergleich zu den einfachen Dingen, Billig- und Wegwerfprodukten, die ein breites Potenzial an Umnutzungen eröffnen, blockieren intentionierte Multiobjekte diese eher. Wir können festhalten, dass mit zunehmender Komplexität der Gegenstände die Möglichkeiten für Zweckentfremdungen abnehmen. Das trifft insbesondere auf die «Technikwunder» unserer Gesellschaft zu. Die HighTech-Produkte führen uns in eine neue Welt des nicht intentionalen Gebrauchs. Demnach lassen sich auch Aktivitäten, wie zum Beispiel das Autofahren, oder mediale Übertragungen, wie Radio- und Fernsehsendungen, für eigene Absichten einsetzen. Je stärker sich dabei die Anwendung im immateriellen Raum abspielt, desto abstrahierter ist der Grad der Umnutzung. Denn wenn nicht mehr das Ding selbst gebraucht wird, sondern dieses als Mittel zur Erfüllung einer immateriellen Funktion eingesetzt wird – also Medium ist –, ereignet sich auch ein Großteil der nicht intendierten Einsätze in diesem Bereich. Während die Objekte Fernseher und Computer selbst wenig Möglichkeiten zum Umnutzen bereitstellen, geschehen jedoch bei der Aktivität Fernsehen oder Nutzen des Computers diverse nicht vorgesehene Handlungen. Die Quantität und Qualität von Umnutzungen wären somit je nach Produkt dann am besten zu diversifizieren, wenn wir nicht nur seine äußere Gestalt, sondern auch seine Funktionalitäten mit berücksichtigen.
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Architekturelemente: Wand, Boden, Treppe Wir haben bereits festgestellt, dass in der Architektur wegen der Planung, die für die Erstellung von Gebäuden erforderlich ist, wenig Raum für Nicht Intentionales Design bleibt. Anders verhält es sich hingegen mit den einzelnen Bestandteilen der Architektur, die deswegen hier noch einmal genauer untersucht werden sollen. Interessant ist hierbei, dass Häuser eine Schnittstelle zwischen Innen und Außen bilden und zwischen öffentlichem und privatem Raum stehen. Ähnlich wie bei den Produkten verfügen wir frei über einzelne Architekturelemente. Doch im Gegensatz zu jenen erfüllen diese ihre vorgesehene Funktion schon direkt nach dem «Produktionsabschluss» – also mit der Fertigstellung des Häuserbaus: Wände halten das Haus zusammen, Türen lassen Menschen, Fenster lassen Luft und Licht hinein, Treppen verbinden Stockwerke, und Decken oder Böden trennen diese voneinander. Fest platziert, sind sie im Gegensatz zu Produkten auf einen Ort festgelegt. Doch gerade diese stabile Unverrückbarkeit macht sie für bestimmte zusätzliche Anwendungen so geeignet.
Die Wand: Informationsträger und Stütze Immer wieder findet man an Wänden angebrachte Informationen, die dort jederzeit sichtbar sind. Die verschiedenen im Haus verfügbaren vertikalen Flächen haben sich jeweils zu besonderen Informationsträgern entwickelt. Türen, Blickpunkte beim Hineingehen in oder Heraustreten aus dem Zimmer, sind gespickt mit Einkaufszetteln, Terminen, wichtigen Adressen und Telefonnummern oder Stadtplänen. Tür-Innenseiten werden mit persönlichen Dingen beklebt. Fotowände, Postkartensammlungen, Aufkleber und auch Poster werden hier platziert. Der abwaschbare Lack ermöglicht das Anbringen mit Tesafilm, so dass Veraltetes einfach ausgetauscht und ersetzt werden kann. Alles an den Wänden selbst Befestigte verbleibt meist dauerhafter, denn schon mit Nadeln angepinnte Papiere hinterlassen ihre Spuren in Form kleiner Löcher und nachträglicher, heller Flecken. Trotzdem finden auf Büro- oder Küchenwänden Ansichtskarten und kluge Sprüche wahllos nebeneinander Platz. In repräsentativen Räumen hingegen scheidet die spontane Nutzung der Wandfläche für persönliche Notizen eher aus. Hier beschränkt man sich auf das überlegte Anbringen von Wandschmuck. Da dieser allerdings genau für diesen Zweck angefertigt wird, zählt er nicht mehr zu der Kategorie NID. Dass sich auch Außenwände zur Informationsübermittlung eignen, hat die Wirtschaft längst entdeckt und nutzt diese für großflächige Werbeanzeigen. Auch Gerüste und Tunnelwände werden beklebt und zu restaurierende Fassaden werbewirksam mit riesigen Planen verhängt. Und wenn die Stadt über zu wenig freie Außenflächen verfügt, stellt sie extra Plakatwände auf – für unsere Untersuchung ein gutes Beispiel für die kommerzielle Umsetzung eines Umnutzungs-Bedürfnisses, dass mit den Litfaßsäulen auf eine bereits 150-jährige Tradition zurückblickt. Doch nicht nur geschäftsfördernde sondern auch private Mitteilungen werden heute überall in Form von Zetteln und Plakaten im öffentlichen Raum angebracht, ob auf beklebten Papierkörben, Laternenpfählen oder ähnlichem. Auch im Privatraum findet man Pinnwände und schwarze Bretter, deren Begriffe noch Auskunft darüber geben, wo diese Dinge ihren Ursprung haben.
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Der Stromkasten wird überklebt zur Marktwerbung.
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Auf der Wand angebrachte Informationen also sind für alle sichtbar, die diesen Ort passieren. Neben dieser Umnutzung eignen sich Mauern hervorragend als Abstellwände, zum Beispiel für Fahrräder, Bügelbretter und Wäscheständer. Einige Produkte greifen dieses Prinzip des An-die-Wand-Lehnens auf und ersparen sich damit weitere Standbeine oder sonstige statische Elemente. In den 1980er Jahren noch Avantgarde, bietet selbst IKEA inzwischen Regale und Lampen an, die sich erst durch das Anlehnen an die Wand stabilisieren. Auch dem Menschen bietet die Wand beim Sitzen eine Rückenlehne oder aufrecht eine Stehhilfe, Kinder machen Handstand gegen die Wand, und Frauen dehnen ihre Beinmuskulatur an ihr. Wände tragen also nicht nur das Haus, wir verwenden sie auch für unsere Bedürfnisse und Produkte als Stütze. Die zweite Gattung umnutzbarer Wandflächen sind Fenster. Sie ermöglichen es, innen dekorierte Ware außen zu präsentieren. Das Schaufenster ist heutzutage fester Begriff und Bestandteil der Einkaufsstraße und zählt somit nicht mehr zu den NIDs des herkömmlichen Fensters. Doch auch Privatleute nutzen zur Dekoration des Innen- und Außenraums ihre Fensterflächen. Wenn Kinder mit Fingerfarben bunte Bilder auf die Scheiben malen oder zur Weihnachtszeit Sterne aufkleben, bekommt die Transparenz des Glases eine andere Bedeutung. Dieses Loch in der Wand, das ursprünglich für Helligkeit und Frischluft sorgte, wird zur Lichtwand der besonderen Art, die entweder, wie erwähnt, dekorativ nutzbar ist oder bis vor Kurzem praktisch mithilfe des einfallenden Tageslichtes beim Durchpausen von Motiven oder Betrachten von noch ungerahmten Dias teure Leuchttische ersetzte.
Der Boden: Sitzalternative innen und außen Auf dem Boden zu stehen und zu gehen ist normal; sich auf den Boden zu setzen, kommt in unserer Kultur schon seltener vor. Man scheut den Schmutz sowie die unbequeme Haltung. Trotzdem entpuppt sich der Boden sowohl innen als auch außen immer wieder als Sitzalternative. Gerade Jugendliche schätzen diese legere Art des Sich-Niederlassens. Man denke an das von den Eltern verteufelte Erledigen der Hausaufgaben auf dem Fußboden oder gedenke der Teestunden, die junge Mädchen auf diversen Teppichen veranstalten. Selbst ganze Abendessen zelebrieren junge Menschen par terre, weil häufig schlicht und einfach zu wenig Stühle für die geladenen Gäste vorhanden sind. Dann wird eine auf Pappkartons aufgebockte Tischplatte zur Tafel, an der mindestens zehn Leute Platz finden. Auch vor der Tür setzen sich Menschen nicht nur ins frische Gras. Schulhöfe beispielsweise verwandeln sich an schönen Sommertagen in richtige Liegewiesen, von denen die Schüler und Schülerinnen meist schwer wegzubewegen sind, weswegen die eine oder andere Unterrichtsstunde nach draußen verlagert wird, der Pausenhof also zum Klassenzimmer umfunktioniert wird.
Die Treppe: Sitz-, Spiel- und Sportplatz Bequemer als den planen Untergrund empfinden wir Treppenstufen zum Sitzen. Nicht nur so populäre Beispiele wie die Spanische Treppe in Rom oder die Domtreppen in Köln zeigen,
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3 1 Der Boden als Sitzplatz ist für Kinder selbstverständlich … 2 für Erwachsene eher ungewöhnlich. 3 Treppe als Ess-, Kommunikations- und Sitzplatz
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wie selbstverständlich wir auf diesen Stufen Platz nehmen. Schon das griechische Theater erreichte durch die kreisförmige Anordnung von Sitzstufen platzsparenden Sitzkomfort und eine optimale Sicht auf die Bühne. Auch Skateboard-, Mountainbike- und Rollerblade-Begeisterte haben das rhythmische Auf und Ab öffentlicher Treppen für sich entdeckt und demonstrieren ihre Fahrkünste an diesem städtischen «Hindernis»: eine weitaus beeindruckendere Freizeitbeschäftigung als das unter Kindern weit verbreitete «Schnick-Schnack-Schnuck-Spiel» oder die Umwandlung mit Teppich bezogener Treppen in Rutschbahnen. Ist die Etagentreppe im Haus unumgänglich, entpuppt sich diese als ein beliebter Platz für das Hinterlassen von Nachrichten, und das anstrengende Hoch- und Heruntergehen verleitet dazu, nach oben oder unten zu befördernde Gegenstände auf dem Treppenabsatz zu lagern, bis der nächste Weg in diese Richtung unvermeidlich wird. Die Liste der zusätzlichen Verwendungen von Architekturelementen ließe sich endlos fortsetzen. Im Vergleich zu anderen NIDs wird hier allerdings die herkömmliche Funktionsweise nicht beeinträchtigt. Betrachtet man die Dinge, die meist erst durch die Tätigkeit des Menschen ihre Funktion erhalten, sind die Architekturelemente im Gegensatz dazu bereits «selbsttragend». Denn auch ohne aktive Beteiligung erfüllen sie ihren Zweck. Wir müssen nichts (mehr) tun, damit die Wand trägt, der Boden liegt und das Fenster Licht hereinlässt. Aktiv nutzen wir sie meist erst, wenn wir anfangen, sie umzunutzen. Erst dann sehen wir sie als Dinge an, wird aus irgendeiner Wand «die Wand», bauen wir einen persönlichen Bezug auf. Mit der über die Baufunktion hinausgehenden Nutzung befreien wir Wand, Boden und Treppe aus ihrem Standard-Dasein, das sie sonst namenlos bestreiten. Wie bei den einfachen Grundformen, die wir aus Erfahrung mit mehreren als nur einer Funktion belegen und diese parallel nutzen, verfahren wir entsprechend bei Architekturelementen. Auch diese existieren schon so lange, dass sich weitere Anwendungen im Umgang mit ihnen etabliert haben, wie das Beispiel des Sitzens auf Treppenstufen zeigt. Auffällig ist schon jetzt, dass Unterschiede in der Umnutzung von privatem und öffentlichem Raum auftreten: Ein Laternenpfahl zum Beispiel transformiert sich in seinem öffentlichen Umfeld zum Fahrradständer, zur Plakatwand und zur Stehhilfe – eine Multifunktionalität, mit der die Stehlampe im Wohnzimmer nicht mithalten kann. Die Wand, die zu Hause mit Bildern geschmückt ist, wird draußen mit Graffiti verunstaltet oder von Hunden – wenn nicht gar von Männern – als Urinal missbraucht. Die Böden, die zu Hause blank geputzt und gewienert oft nicht einmal das Betreten mit Schuhen gestatten, benutzt man im öffentlichen Raum als Mülleimer, wenn man sorglos Abfall fallen lässt oder als Aschenbecher, wenn man Zigaretten austritt. So führt die Verlagerung von individuellem zu gemeinschaftlichem Eigentum nicht nur zu vielfältigen, von vielen Menschen gleichzeitig oder nacheinander verwendeten Zweckentfremdungen, sondern auch zu einem teilweise sorgloseren bis zerstörerischen Umgang mit den Dingen.
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DER FINDUNGSPROZESS
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Produkteigenschaften: Form, Material, Wert und Verfügbarkeit Nachdem wir bestimmte Objektgruppen und Orte der Umnutzungen betrachtet und festgestellt haben, dass das Phänomen NID unseren gesamten Alltag durchzieht und eine überall und auf alles angewandte Fähigkeit ist, wollen wir nun den Prozess, der zur Schaffung Nicht Intentionalen Designs führt, genauer untersuchen. Wir haben bereits darauf hingewiesen, dass bei NID unsere Assoziationsfähigkeit eine entscheidende Rolle spielt, mit der wir in der Lage sind, Eigenschaften der Gegenstände losgelöst von ihrer eigentlichen Funktion zu sehen, um diese für nicht intentionale Zwecke einsetzen zu können. Zu den primären Produkteigenschaften, nach denen wir die Brauchbarkeit für den NID-Einsatz bewerten, zählen die Form und das Material. Die spitze Form der Nadel beispielsweise eröffnet ein breites Feld der Anwendungen. Insbesondere das Charakteristikum des feinen Stechens ermöglicht den vielfältigen Einsatz: Neben der Heftung von Stoff benutzt man die Nadel zum Anpinnen von Postern, kann man damit Dornen aus der Haut entfernen, Ohrlöcher stechen oder Duschköpfe reinigen. Der Formtypus ist meist das erste Selektionskriterium, das wir zum Finden des passenden NID festlegen. Häufig gibt es allerdings mehrere Produkte, die über die gleiche Form verfügen. Bei der Suche nach einem Gefäß können wir beispielsweise auf Gläser, Tassen, Dosen, Becher, Schüsseln und Schalen zurückgreifen. Wenn wir uns hinsichtlich Volumen und Inhalt für eine geeignete Form entschieden haben, bleiben immer noch zahlreiche Behälter zur Auswahl, die wir verwenden können. Das Kriterium der Form allein ist somit nicht ausreichend, um das am besten für die Umnutzung geeignete Produkt ausfindig zu machen. Weitere Objekteigenschaften müssen hinzugezogen werden, um das «optimale» NID auszuwählen. Als zweites spielt die Materialeigenschaft eine entscheidende Rolle: Obwohl Marmeladengläser und Joghurtbecher über eine ähnliche Form verfügen, werden Erstere häufiger nach dem Verzehr für die Vorratsaufbewahrung nicht intentional gebraucht. Denn Glas wird haptisch und optisch als hochwertiger bewertet, hat eine höhere Dichte und fällt nicht so leicht um. Neu befüllt erkennt man durch die Transparenz dennoch den Inhalt, was beispielsweise für die Aufbewahrung von Gewürzen vorteilhaft ist. Die glatte Oberfläche ermöglicht eine hygienische Säuberung, und Glas ist wasserdicht, so dass das Füllgut entweder vor Feuchtigkeit geschützt wird oder selbst flüssig sein kann. Materialspezifik und Verschließbarkeit verleihen dem Marmeladenglas mehrere Pluspunkte für die Gebrauchsumwandlung im Vergleich zu ähnlichen Behältnissen aus anderen Materialien. Nach einer Eingrenzung auf Form und Material wird man jedoch feststellen, dass selbst dann noch mehrere Alternativen möglich sind: Trink- und Senfglas beispielsweise verfügen beide über nahezu identische Form- und Materialcharakteristika, dennoch würde man für das Tuschwasser der Kinder das gespülte billige Senfglas bevorzugen, um so eventueller Unbrauchbarkeit als Trinkglas durch verbleibende Farbreste nach der Umnutzung vorzubeugen. Als drittes können daher auch sekundäre Merkmale wie der Wert und die Entbehrlichkeit für oder gegen eine NID-Anwendung ausschlaggebend sein. Wenn die Umnutzung das Ding beispielsweise beschädigt, wird man sich mit Billigprodukten oder Wegwerfartikeln behelfen, etwa zum Mischen von Lacken oder Reinigen der Pinsel. Bei einem Zahnputzglas hingegen, das durch seine Zurschaustellung auch optischen Anforderungen genügen muss, wird eher ein hochwertiges Glas bevorzugt werden.
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Doch nicht immer können wir auf einen solch breiten Fundus an Möglichkeiten zurückgreifen. Im Hotelzimmer beispielsweise trinken wir den am Urlaubsort erstandenen Wein aus dem Plastikbecher, der eigentlich zum Mundspülen beim Zähneputzen vorgesehen ist. Das tun wir nicht, weil es uns besonders passend erscheint, sondern weil kein anderes Produkt für diesen Zweck vorhanden ist. Die Verfügbarkeit der Dinge ist somit das vierte und letzte Kriterium, das aus den Idealvorstellungen ein konkretes NID entstehen lässt. Nachdem wir theoretisch festgelegt haben, über welche Eigenschaften das benötigte Ding verfügen muss, fällt letzten Endes die Verfügbarkeit die Entscheidung darüber, welches Produkt tatsächlich zweckentfremdet wird. Dabei gilt: Je mehr Merkmale des Gegenstandes mit unseren Anforderungen übereinstimmen, desto optimaler bewerten wir diese Umnutzungslösung.
Zeitfaktor: Lösungsdauer und dauerhafte Umnutzung Zusätzlich zu den Gegenstandseigenschaften bestimmt die Zeit, die bei der Findung zur Verfügung steht, die Auswahl des NID. Typisch für die Entstehung von NIDs ist die sofortige Lösung eines Problems. Meist entstehen NIDs, wenn wir keine Zeit haben, uns den fehlenden, vorgesehenen Gegenstand zu organisieren, aber dringend Abhilfe benötigen. Dann werden Handtücher zu Aufnehmern für Wasserpfützen in Bad und Küche, Messer zum Hammer oder Schraubenzieher; mit Schlüsseln werden Briefe geöffnet und mit TShirt-Zipfeln Brillen geputzt. Spontaneität und Zeitdruck sind wichtige Kriterien für die Schaffung vieler NIDs. Andererseits bedürfen einige Missstände gar keiner direkten Lösung, wenn sie nicht zwingend in diesem Moment erforderlich ist. Viele nicht intentionale Anwendungen im Wohnbereich entwickeln wir durch ständige Beschäftigung mit Lösungsmöglichkeiten, bis wir auf etwas Geeignetes stoßen. Regale aus Kartons oder Brettern und Backsteinen, Lattenroste aus Europaletten, Lampenschirme aus alten Wagenrädern oder Blumentöpfen: All diese Beispiele sind keine spontanen, sondern geplante Umnutzungen, Resultate der Übereinstimmung unseres gedanklichen Suchmusters mit einem Gegenstand. Der im Hinterkopf ablaufende Prozess funktioniert nach dem gleichen Prinzip wie bei der momentbedingten Zweckentfremdung: Wir suchen nach Objekten, die mit unserer Lösungsmatrix übereinstimmen, ob als spontaner Brillenreiniger oder als preisgünstige Alternative zu herkömmlichen Möbeln. Immer halten wir Ausschau nach bestimmten Eigenschaften und Funktionen, die durch das Ding eingelöst werden müssen. Dabei scheint der Nutzungszeitraum von NIDs proportional mit dem zur Verfügung stehenden Findungszeitraum zu wachsen. Je mehr Zeit wir in die Findung investieren, desto dauerhafter setzen wir das Objekt als NID ein. Und mit zunehmender zur Verfügung stehender Lösungszeit wachsen auch unsere Anforderungen an die Umnutzung. Der Anspruch, die Funktion nahezu vollkommen durch das zweckentfremdete Ding zu erfüllen, steigt. Der andere Weg zu dauerhaften Umnutzungen ist der Tatbestand, dass der spontan eingesetzte Gegenstand seine neue Funktion ausreichend bis zufriedenstellend erfüllt und es hierfür keines neuen Produktes mehr bedarf. Dann ist nicht die Planung für das geglückte permanente Umnutzen verantwortlich, sondern die positive Erfahrung, die wir mit dem
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zweckentfremdeten Objekt gesammelt haben. Sowohl der Lattenrost aus Europaletten als auch der Trinkbecher für Stifte können daher als dauerhafte NID-Anwendungen bestehen.
Reversibilität: Rückkehrmöglichkeit in den Ursprungszustand Bei der Beschäftigung mit der Dauer von NIDs muss auch die Rückführbarkeit in ihre ursprüngliche Funktion beachtet werden. Die Überlegung, ob und inwieweit das Produkt für die Nutzung als NID verändert werden muss – und danach womöglich gänzlich unbrauchbar für seinen herkömmlichen Zweck geworden ist –, dient als Auswahlkriterium und bestimmt die Dauer des NID-Einsatzes. Zur Erläuterung haben wir hierfür die unterschiedlichen Zeitund Änderungsstufen der NIDs zusammengefasst. Zu unterscheiden sind Dinge, die nur für einen kurzen Zeitraum zweckentfremdet werden und solche, die dauerhaft umgenutzt werden. Die ersten werden in ihrer Form und Materialität nicht verändert; die zweiten sind zu unterscheiden in diejenigen Gegenstände, die nach der Umnutzung nicht mehr für ihren ursprünglichen Zweck zu gebrauchen sind, und diejenigen, deren Umnutzung wieder rückgängig gemacht werden kann. Beispiele für Gegenstände aus dem Privatraum, die temporär umgenutzt werden, aber zugleich ihre ursprüngliche Bestimmung beibehalten, sind Stühle, die kurz als Ablage oder Leiter verwendet werden, und Bücher, die zum Pressen von Papier oder Pflanzen genutzt werden. Im öffentlichen Raum geschehen die meisten Umnutzungen ohnehin nur temporär, weil sich die meisten Menschen dort nur zeitweise aufhalten und weil der öffentliche Raum von vielen genutzt wird, so dass eine dauerhafte Umfunktionierung durch eine Person für viele andere von Nachteil wäre. Im städtischen Raum finden die meisten Umnutzungen statt, um Sitzgelegenheiten zu schaffen. Geländer, Treppen oder Blumenkästen werden als Sitze genutzt, aber in ihrer ursprünglichen Funktion nicht dauerhaft oder überhaupt nicht eingeschränkt. Für die temporäre Umnutzung ohne eingreifende Änderungen stehen uns demnach vorhandene Objekte im öffentlichen und privaten Umfeld zur Verfügung. Dauerhafte Umnutzungen, die theoretisch reversibel wären, weil die Ursprungsfunktion nicht unmöglich gemacht wurde, finden sich vor allem im Haushalt. Beispiele hierfür sind das Trinkglas, das als Zahnbecher dient, und die Keksdose, die zum Aufbewahren von Briefen genutzt wird. Da in diesem Fall zumindest für den Zeitraum der Umnutzung das Produkt nicht mehr in seiner offiziellen Funktion eingesetzt werden kann, muss bei einer solchen Zweckentfremdung erst die Entbehrlichkeit für die Dauer der Umnutzung geprüft werden. Irreversible dauerhafte Umnutzungen werden im Haushalt, Garten und Beruf oft an kleinen und relativ wertlosen Gegenständen vorgenommen. Beispiele hierfür sind: der Lack im Marmeladenglas, ein Marmeladenglas mit Loch im Deckel für Schrauben oder die auseinandergeschnittene Plastikflasche als Wespenfalle. Demgemäß taugen sie für diese Art des NID nur, wenn wir sie in ihrem Herkunftszweck gar nicht mehr einsetzen oder einsetzen möchten. Im öffentlichen Raum jedoch gilt die Zerstörung durch Umnutzung als strafbar und wird als Vandalismus bezeichnet.
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Ein Beispiel: Regenschutz ohne Regenschirm Unsere Suchstrategien, vermittels NIDs aus der Not eine Tugend zu machen, sind mannigfaltig und nicht auf einen Gegenstand festgelegt. Nicht das fixierte, sondern das flexible Denken im Umgang mit den Dingen ermöglicht den zweckentfremdeten Einsatz. Für NID-Lösungen spielen mehrere Faktoren eine Rolle, und zwar die Form- und Materialeigenschaften, der Wert und die Verfügbarkeit sowie der Lösungszeitraum und die Rückführungsmöglichkeiten in den Ursprungszustand. Diese Thesen möchten wir an einem typischen NID-Beispiel veranschaulichen: Wenn es regnet und kein Regenschirm greifbar ist, sucht man nach einer Alternative, um Kopf und Kleidung zu bedecken und sich vor Nässe zu schützen. Gedanklich stellt man folgende Eigenschaften zusammen, die die Notlösung haben sollte: • wasserabweisend oder dicht, zumindest für die Zeit der Anwendung • dünn und großflächig für eine möglichst komplette Abdeckung des Körpers • leicht, damit die Person beim Spannen über Kopf und Körper nicht zu schnell ermüdet • sofort verfügbar Zu diesen abstrakten Vorgaben ergänzt das Gehirn bereits gesehene oder schon angewendete Umnutzungen, die diesem Zweck entsprachen, wie: • • • •
über den Kopf gespannte Jacken auseinandergefaltete Zeitungen Plastiktüten Taschen
Überrascht der Regen auf offener Straße, sind die Möglichkeiten eines mitgeführten, einsetzbaren Wetterschutzes beschränkt. Auch die Überlegungen, ob das unerwünschte Nass die temporäre Abwehr zerstört, also das wasserempfindliche Jackett ruiniert oder die ungelesene Zeitung in einen Klumpen nasses Papier verwandelt, werden ausschlaggebend für die Wahl sein. Etwas anders verhält es sich, wenn schon vor Verlassen des Hauses der Gang durch den Regen ohne Schirm geplant wird. Hier bleibt mehr Zeit, sich zu überlegen, wie man trocken durch den Regen kommt. Außerdem befindet sich in Innenräumen ein größerer Fundus an Objekten zur vorübergehenden Regenabwehr. Je nach Situation wird man sich nun mit dem einen oder anderen gerade greifbaren Produkt behelfen, das diesen Vorgaben am ehesten entspricht. Und führt man gar kein geeignetes Accessoire mit sich, bleibt immer noch die Alternative, unter feststehenden Regendächern unterzuschlüpfen und den Schauer abzuwarten oder von Dach zu Dach zu sprinten, um den nassen Weg möglichst stark zu reduzieren. Beliebte Regenwarteplätze – die NIDAlternative zum umgenutzten, transportablen Wetterschutz – sind Bäume, Markisen, Galerien, Mauervorsprünge, Hauseingänge und Bushaltestellen.
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1 Häuserdach als Regenschutz 2 Baseballmütze als Regenschutz 3 Häuserdach als Regenschutz
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Die Persönlichkeit: Pro- oder Contra-Typen Betrachten wir die Lösungsmöglichkeiten, gibt es bis auf die Tatsache, dass sie alle Schutz gegen Regen gewähren, wenig Übereinstimmungen. Ob und für welchen Weg der Umnutzung man sich entscheidet, hängt nicht zuletzt auch von der Persönlichkeit ab. Dem einen ist es vielleicht peinlich, sich in der Öffentlichkeit mit Plastiktüten oder Zeitungen über dem Kopf zu zeigen, so dass er nasses Haar beim hastigen Laufen durch den Regen in Kauf nimmt oder sich lieber ein paar Minuten unterstellt. Eine andere möchte unter keinen Umständen ihre Frisur zerstören und verzichtet dafür gerne auf die Jacke, die bis zum Wolkenbruch den Körper gegen Wind und Wetter wappnete. Auch die eigene Kreativität und die persönliche Wertung von NID-Lösungen sind individuell verschieden. Für die einen entsteht die Garderobe aus dem Nagel an der Wand, dem Stuhl in der Diele oder dem Türknauf an der Abstellkammer, den anderen fallen diese Lösungen entweder nicht ein oder sie erscheinen zu provisorisch, als dass sie akzeptiert werden könnten. Der Einzug in eine neue Wohnung eröffnet ein aufschlussreiches Feld für unsere Untersuchungen. Während bei vielen Menschen der noch unfertige Zustand des Wohnraums und damit verbundene Notlösungen in der Ausstattung zum Umzug dazugehören, die Einrichtung im Prozess, nach und nach entsteht, haben andere bereits am ersten Tag im neuen Zuhause alles bedacht und ziehen in eine fertige Wohnung ein, die weniger Raum für NIDs lässt. Die Nutzung und das Leben mit NIDs werden sehr unterschiedlich erlebt und bewertet. Charakter, Erziehung, gesellschaftliches und kulturelles Umfeld prägen die NID-Nutzung und bestimmen, ob NIDs als praktische Bereicherung oder notgedrungenes Mittel zum Zweck erfahren werden.
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Nicht Intentionales Design im öffentlichen Raum
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Während die Wohnung der Ort des Individuums und der Familie ist, leben im öffentlichen städtischen Raum alle Leute mit ihren vielfältigen Bedürfnissen zusammen. Hannah Arendt132, die in ihrer politischen Theorie eindringlich auf die Bedeutung der Öffentlichkeit für eine funktionierende Gesellschaft hinweist, legt dar, dass der öffentliche Raum im Zusammenleben der Menschen, indem er diese gleichzeitig trennt und verbindet, Gemeinschaft herstellt und Identität schafft. Dieselbe Funktion, die die Öffentlichkeit als Ganzes hat, muss auch jeder einzelne Gegenstand in ihr erfüllen: Die Objekte im öffentlichen Raum tragen wesentlich mit dazu bei, den Menschen aus der Subjektivität der Privatsphäre herauszuhelfen, weil sie Projektionsflächen für unterschiedliche Wahrnehmungen der einzelnen Personen bieten. Die Gegenstände des öffentlichen Raumes schaffen Interaktion, indem sie vielfältige Perspektiven der Betrachtung ermöglichen. Diese Überlegung soll hier aufgenommen und folgendermaßen erweitert werden: Die Dinge im öffentlichen Raum bieten nicht nur vielfältige Varianten der Betrachtung, sondern auch zahlreiche Möglichkeiten der Benutzung. Gegenstände gibt es im öffentlichen ebenso wie im privaten Raum. Es stellt sich die Frage, ob die Nutzung an den verschiedenen Orten sich voneinander unterscheidet. Die Diskrepanz zwischen der von einem Gestalter oder einer Gestalterin intendierten Benutzung eines Gegenstandes und der tatsächlichen Nutzung tritt sowohl im privaten als auch im öffentlichen Raum auf. Die Unterschiede in der Beschaffenheit der Gegenstände sowie im Verhalten der Menschen im öffentlichen beziehungsweise privaten Raum geben Anlass zu der Vermutung, dass es ebenfalls Unterschiede hinsichtlich der Umnutzungen gibt, je nachdem, ob es sich um den Außen- oder Innenraum handelt: Die Dinge, mit denen man sich in der Wohnung umgibt, werden größtenteils bewusst ausgewählt und zur Erfüllung eines bestimmten Zweckes angeschafft. Die Gegenstände, auf die man außerhalb der eigenen Wohnung trifft, sind oft nicht mehr als das, was ihr Name buchstäblich ausdrückt: Sie «stehen entgegen». Entweder, weil sie nicht gebraucht werden, tatsächlich im Weg stehen, oder weil sie nicht den eigenen ästhetischen, emotionalen oder funktionalen Anforderungen entsprechen. Schon mit den Dingen, die für die eigene Wohnung ausgewählt wurden, geht man oft auf eine Art und Weise um, die in ihrer Gestaltung nicht intendiert war. Da nun der öffentliche Raum vollgestellt ist mit Gegenständen, die selten den Bedürfnissen aller entsprechen, mit denen diese aber trotzdem leben müssen, wenn sie sich dort aufhalten, kann man annehmen, dass auch dort zahlreiche Umnutzungen vorkommen.
Geplante Umwelt Die alltägliche Umgestaltung des Gestalteten durch den Gebrauch ist nicht an den Ort gebunden, sie geschieht überall dort, wo Menschen und Dinge aufeinandertreffen. Im öffentlichen Raum findet Zweckentfremdung statt, wenn die dort vorhandenen Gegenstände auf eine Art genutzt werden, die von städtischer Seite nicht intendiert ist. Die Dinge des öffentlichen Raumes, Wohnhäuser, Bürogebäude, Museen, Schulen, Straßen, Brücken,
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Vgl: Arendt, Hannah: Vita activa oder vom tätigen Leben, München 1967.
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Tiefgaragen, Grünflächen, außerdem Mülleimer, Altglascontainer, Straßenschilder, Straßenlampen, Geländer, Absperrungen, Bänke, Blumenkästen sowie der Raum selbst werden professionell gestaltet, um Interaktion zu ermöglichen und Gemeinschaft zu organisieren. Diverse Disziplinen wie die Architektur, das Design und die Stadtplanung widmen sich dieser Problemstellung. Bei der Planung gilt es, verschiedene Interessen zu berücksichtigen, die sich teilweise sogar widersprechen. Die Gruppe der Bürgerinnen und Bürger ist nicht homogen: Sie setzt sich zusammen aus jungen und alten Menschen, Frauen und Männern, Menschen mit unterschiedlichem Einkommen und unterschiedlichem kulturellem Hintergrund. Zu verschiedenen Tageszeiten und in verschiedenen Stadtteilen bestehen unterschiedliche Interessen: Zum Beispiel braucht eine Mutter, die halbtags erwerbstätig ist, morgens eine schnelle Verkehrsverbindung von ihrer Wohnung zum Arbeitsplatz, nachmittags einen Spielplatz für ihr Kind und abends Theater oder Kino. Mit zunehmender Tendenz wirkt neben der Stadtplanung auch der Einzelhandel an der Gestaltung des öffentlichen Raumes mit: durch Warenpräsentationen, die immer häufiger vom Laden auf die Straße ausgedehnt werden, und durch Ladenbeschriftungen. Restaurants markieren ihren Bereich auf dem Bürgersteig durch Blumenkübel, Sonnenschirme oder Zäune. Auch nimmt der Einfluss der Geschäftsleute auf die öffentliche Stadtmöblierung zu. In Köln gibt es zum Beispiel eine Interessensgemeinschaft der Geschäfte rund um die Domplatte. Sie setzen sich mit einigem Erfolg dafür ein, dass die Platte für Skaten und Pflasterbemalung sowie für Obdachlose unattraktiv wird.
Urbane Passagiere Welche Rolle spielen die Bürgerinnen und Bürger in dieser gestalteten Umwelt? Nutzen sie nur das Vorgefundene oder gestalten sie den öffentlichen Raum mit? Wir gehen davon aus, dass sie mitgestalten, und zwar, indem sie das Vorgefundene umgestalten beziehungsweise umnutzen. Zwei Beispiele sollen das verdeutlichen: Ein Mülleimer, der aufgestellt wurde, um Abfall hinein zu werfen, wird mit der Ankündigung des nächsten Treffens einer Bürgerinitiative beklebt. Diese nutzt den Mülleimer also nicht für ihren Müll, sondern als Informationsfläche. Ein zweites Beispiel, das auch häufig zu beobachten ist, sind Treppenstufen oder Blumenkübel, deren ursprüngliche Bestimmungen die Überwindung eines Höhenunterschiedes beziehungsweise die Begrünung des Stadtraumes sind, die jedoch als Sitzgelegenheiten genutzt werden. Auch hier greifen die Menschen temporär in die Gestaltung des öffentlichen Raumes ein, indem sie einer vorhandenen Infrastruktur eine eigene, von der Planung nicht beabsichtigte, Nutzung zuführen.
Die Dinge im öffentlichen Raum Die Stadtplanung ist dafür zuständig, das komplexe Gebilde Stadt zu organisieren. Dabei geht es darum, für die Bedürfnisse der Menschen räumliche und gegenständliche Entsprechungen zu finden.
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Die meisten der Gegenstände des öffentlichen Raumes sind statisch an einen Ort gebunden, entweder, weil sie zu schwer zum Transport sind, wie zum Beispiel Blumenkübel, oder, weil sie zum Schutz vor Diebstahl und Veränderung im Boden fixiert sind. In der Sprache der Stadtplanung heißen diese immobilen Gegenstände dennoch «Möbel», in Anlehnung an die Sofas, Stühle, Tische und Schränke, mit denen Wohnungen eingerichtet werden. Sie entsprechen nicht nur in der Bezeichnung ihrer Gesamtheit, sondern auch in den einzelnen Objekten auffällig den Möbeln, die für den Innenraum gestaltet werden: Das Sofa findet sein Gegenstück in der Sitzbank, Mülleimer und Blumenkästen gibt es in der Wohnung ebenso wie im Außenraum, auch auf Steh- und Hängelampen muss man im öffentlichen Raum nicht verzichten. Sogar Schränke gibt es dort wie Strom- und Schaltkästen (die allerdings abgeschlossen und nur bestimmten Menschen zugänglich sind) und – für alle gegen ein kleines Entgelt zu öffnen – Boulevardzeitungs-, Getränke- und Kaugummiautomaten. Ausführung und Anmutung der Objekte sind selbstverständlich robuster als die für den geschützten Innenraum. Man könnte öffentliche Stadträume zweifellos besser gestalten, als das in den meisten deutschen Städten der Fall ist. Auch der sehr schnelle und teilweise unbedachte Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg hat oft eine nutzungsgerechte Stadtplanung verhindert. Erstaunlicherweise funktionieren diese Städte dennoch. Sowohl Ortsansässige als auch Touristen und Touristinnen halten sich im öffentlichen Raum auf und nutzen die städtische Infrastruktur, ohne sie zu demontieren oder durch Eigenes zu ersetzen. Man sollte einmal die Phantasie schweifen lassen und sich vorstellen, was geschehen würde, wenn alle versuchten, den öffentlichen Raum, der ja ebenso wie die Wohnung Lebensraum ist, nach den eigenen Vorstellungen zu gestalten. Diese Eingriffe sind selbstverständlich verboten oder auf kontrollierbare Orte und Zeiten beschränkt. Wenn Wände bemalt werden, gilt das als Vandalismus, sofern es nicht angemeldet und ausdrücklich erlaubt wurde. Das Aufstellen von eigenen Möbeln in der Öffentlichkeit soll nur zu bestimmten Sperrmüll-Terminen stattfinden. Bis auf wenige Ausnahmen lassen die Menschen also ihren Taten- und Gestaltungsdrang durch die Verbote bremsen, ohne an ihrer Ohnmacht zu verzweifeln oder aus der Stadt abzuwandern. Warum? Die zugrundeliegende These ist, wie oben bereits erwähnt, dass jedes gestaltete Objekt Möglichkeiten der Benutzung in sich trägt, die von der in der Gestaltung intendierten Nutzung abweichen. Die ästhetische Qualität der Dinge spielt dabei keine Rolle. Diese Offenheit der Interpretation bietet also offensichtlich für die meisten Leute eine ausreichende Möglichkeit der aktiven Mitgestaltung. Dass allerdings die Möglichkeiten des Design, Objekte für den öffentlichen Raum zu schaffen, die die multioptionale Nutzung ausdrücklich zulassen, längst nicht ausgeschöpft sind, ist ebenso evident.
Privatobjekte und Allgemeingut Die Gegenstände, die im öffentlichen Raum benutzt und umgenutzt werden, gehören zwei Gruppen an: Die Dinge, die dort zur Erfüllung eines bestimmten Zweckes oder zur Verschönerung aufgestellt wurden, gehören zum Inventar des Stadtraumes und sind öffentliches Eigentum. Aber auch Privateigentum wird außerhalb der eigenen vier Wände benutzt. Menschen tragen oder schieben Dinge mit sich herum, die zu ihrem persönlichen Besitz zählen
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wie Regenschirme, Kinderwagen, Fahrräder. Ein Kinderwagen kann zum Transport von schweren Einkäufen verwendet werden, ein Regenschirm als Spazierstock. Beide Gegenstände kommen auch in der Karnevalszeit zum Einsatz, wenn der Kinderwagen das Bierfässchen transportiert und der Regenschirm zum Fangen der Bonbons oder als Schutzschild gegen dieselben benutzt wird. Hier soll allerdings schwerpunktmäßig die Umnutzung der im öffentlichen Raum vorgefundenen «Möbel» wie Blumenkübel, Parkuhren, Straßenlaternen, Straßenschilder, Abfallkörbe, Sitzbänke, Reklametafeln, Litfaßsäulen oder Telefonzellen betrachtet werden.
Umnutzungen: Sitzen, Informieren, Objektsicherung Die häufigsten Umnutzungs-Aktivitäten an «Stadtmöbeln», die für einen anderen Zweck gestaltet wurden, sind das Sitzen, die Verbreitung von gedruckten oder geschriebenen Informationen und das Abstellen von Fahrrädern. Für jede der drei genannten Tätigkeiten gibt es eigens gestaltete Gegenstände: Sitzbänke, Plakatwände und Fahrradständer. Aber diese reichen offenbar entweder quantitativ nicht aus, oder sie sind so schlecht gestaltet, dass man lieber auf Alternativen ausweicht. Diese Alternativen sollen nun, getrennt nach den drei Tätigkeiten, dargestellt werden.
Sitzen Das Sitzen im öffentlichen Raum ist eine Tätigkeit, durch die eine Person deutlicher als zum Beispiel durch Gehen oder Fahren demonstriert, dass sie sich dort aufhält. Das Gehen und Fahren findet meistens statt, um von einem Ort zum anderen zu gelangen. In diesem Fall ist der öffentliche Raum Passage, Durchgangsraum. Wenn das Gehen zum Flanieren wird, also die Geschwindigkeit verringert und eventuell ein Weg mehrmals nacheinander abgeschritten wird, kann die Straße zum Präsentationsraum werden. Die Gründe dafür, dass man sich «auf offener Straße» hinsetzt, können unterschiedliche sein: naheliegend ist, dass man müde ist und sich ausruht, manchmal setzt man sich auch, weil man etwas in Ruhe betrachten, eine Situation auf sich wirken lassen möchte, weil man die Sonne genießt oder auf jemanden wartet. Verbreitet ist auch das Sitzen in Gruppen zum Zweck der Kommunikation. Dann gibt es natürlich noch die beliebte Tätigkeit des Sitzens in den Außenbereichen gastronomischer Betriebe zwecks Nahrungsaufnahme. (Davon soll hier jedoch nicht gesprochen werden, da es sich bei diesen Orten um privat bewirtschafteten Raum handelt, auch wenn er sich im öffentlichen Raum befindet.) Für das Sitzen im städtischen Raum hat die Stadtplanung Sitzbänke an Stellen aufgestellt, die aufgrund von empirischen Studien oder durch Nachdenken für Orte gehalten wurden, an denen Menschen gerne sitzen. Oft stehen Bänke in Parks oder Gegenden mit einer schönen Aussicht. Außerdem dort, wo gewartet wird, zum Beispiel an Bus- und Bahnhaltestellen. Manchmal trifft man aber auch auf Bänke, die wirken, als habe sie jemand dort einfach fallen gelassen. Dieser Gedanke drängt sich zum Beispiel bei einer von uns gesichteten Bank auf, die so aufgestellt wurde, dass man es sich auf ihr nach Überquerung einer
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In Wartesituationen suchen die Menschen nach Sitzmöglichkeiten, wie hier beim Warten auf die Weserfähre: 1 Müllcontainer als Sitzplatz 2 Poller als Sitzplatz 3 Anker als Sitzplatz
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Schnellstraße mit Blick auf eben diese bequem machen kann, um darüber nachzudenken, wie man lebend wieder auf die gegenüberliegende Straßenseite gelangt. Es gibt auch Orte in der Stadt, an denen das Sitzen ausdrücklich unerwünscht ist. Das ist vor allem dort der Fall, wo sich Obdachlose, Junkies oder Jugendliche über längere Zeiträume hinweg aufhalten, wie zum Beispiel in der Nähe von Bahnhöfen oder auf bestimmten Plätzen. Dort sind bewusst keine Bänke aufgestellt, oder sie sind so gestaltet, dass es unmöglich ist, sich darauf auszustrecken. Dort, aber auch an Orten, wo Sitzbänke vorhanden sind, sitzen viele Menschen auf anderen Dingen, zum Beispiel auf Treppenstufen, Blumenkästen, Absperrungen, Verteilerkästen. Dass die eigentliche Funktion dieser Gegenstände nicht erkannt wird, ist unwahrscheinlich, da die Dinge im öffentlichen Raum sehr niederkomplex sind. Jeder kann einen Blumenkasten von einer Sitzbank unterscheiden, es liegt also nicht an der mangelnden Anzeichenfunktion. Unseres Erachtens gibt es zwei Gründe dafür, dass Menschen auf Gegenständen sitzen, die keine Bänke sind: Der erste ist tatsächlich ein Mangel an eigens gestalteten Sitzmöglichkeiten; der Wunsch zu sitzen stellt sich oft dort ein, wo gerade keine Bank steht. Der zweite Grund ist die schon mehrmals erwähnte Eigenschaft gestalteter Gegenstände, unterschiedliche Arten der Anwendung zu ermöglichen; oder, anders ausgedrückt, die Eigenschaft der Menschen, in gestalteten Gegenständen mehrere Arten der Nutzung zu erkennen. Gemeinsam sind allen Objekten, die kurzfristig zu Sitzgelegenheiten umfunktioniert werden, eine bestimmte Höhe, die ungefähr der gewohnten entspricht, Stabilität und Sauberkeit. Eine angenehme Sitzhöhe bieten die meisten Absperrungen, die ja an menschliche Proportionen angelehnt sind, damit man sie weder unter- noch überschreitet. Auch kann bei diesen Absperrungen vermutet werden, dass sie stabil sind, da sie andernfalls ihren ursprünglichen Zweck nicht erfüllen würden. Aufgrund der oft geringen Tiefe, die ja bei Absperrungen im Gegensatz zu Sitzgelegenheiten ausreicht, sind sie zwar etwas unbequemer als Bänke, bieten aber auch weniger Fläche, auf denen sich Schmutz ansammeln könnte. Wenn sie nicht allzu niedrig sind, muss man auch nicht befürchten, dass zuvor Hunde ihr Bein daran gehoben haben. Praktischerweise sind solche Absperrungen oft genau an den Orten angebracht, wo bewusst keine Bänke stehen. Am Nahverkehrsknotenpunkt Neumarkt in der Kölner Innenstadt zum Beispiel erklären sich sowohl das Fehlen von Bänken als auch die aufgestellten Barrieren durch die Anwesenheit von Junkies und auch Dealern, die sich dort regelmäßig und lange aufhalten. Der Neumarkt ist aber auch ein zentraler Ort für den Tourismus. Deshalb werden jene dort von städtischer Seite aus nicht gerne gesehen und wird durch Gestaltung beziehungsweise Nichtgestaltung versucht, sie zu vertreiben, was durch Verbote nicht zu erreichen ist. Dort lässt sich beobachten, wie die Absperrungen um die Baumscheiben ihren Zweck als Sitzgelegenheiten perfekt erfüllen. Ebenfalls verfügen viele Blumenkästen und -kübel über die richtige Sitzhöhe und werden als temporäre Sitzgelegenheit zweckentfremdet. Ein entscheidender Mangel dieser «Möbel» ist jedoch, dass sie in den seltensten Fällen sauber sind. Die Erde, die für das Wachstum der Pflanzen nötig ist, befindet sich manchmal auch auf den Rändern. Außerdem werden Blumenkästen von einigen als Müllplatz umgenutzt. Dennoch sieht man sie relativ oft in der Funktion einer Bank, vor allem in Gegenden, die regelmäßig gepflegt werden, wie zum Beispiel Fußgängerzonen.
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Liegen und Schlafen in der Öffentlichkeit: 1 Parkbank als Bett 2 Werkstatt-Tisch als Bett 3 Fahrrad als Bett 4 Mailänder Domdach als Bett
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Nahezu perfekt, besonders, wenn sich Gruppen setzen möchten, sind Treppen – man denke an die Spanische Treppe in Rom. Aufgrund der unterschiedlichen Sitzhöhen durch die einzelnen Stufen lassen sie viele Variationen der Gruppierung zu; Treppen sind außerdem stabil und einigermaßen sauber.
Informieren Die Verbreitung von geschriebener oder gedruckter Information findet man im öffentlichen Raum primär in Form von Plakaten und handgeschriebenen Zetteln mit Angeboten, Suchanzeigen oder Ankündigungen jeglicher Art sowie Graffitis. Für das Anbringen von Plakaten gibt es Plakatwände und Litfaßsäulen, die allerdings ausschließlich kommerziell genutzt werden. Für die meisten Privatpersonen würde die Höhe der Miete in keinem Verhältnis stehen zu den Vorteilen, die sie sich durch die Verbreitung ihrer Botschaft erhoffen. Im Unterschied zum nicht intentionalen Sitzen ist also eine intentionale Nutzung der vorgesehenen Werbeflächen aufgrund des Preises, den man für diese Nutzung zahlen muss, für die meisten Menschen nicht möglich. Welches sind nun die Alternativflächen? Auffällig ist, dass sie sich unterscheiden, je nachdem, ob die schriftliche Aussage gesprayt wird oder auf einem Stück Papier steht. Das Sprayen, auch von Graffitis, wird als kriminelle Handlung aufgefasst, vor allem dann, wenn Privateigentum, zum Beispiel eine Hauswand oder ein Eisenbahnwaggon, als Untergrund dient. Weil dies irreversibel oder zumindest sehr schwer wieder rückgängig zu machen ist, wird auch von städtischer Seite versucht, es zu unterbinden. Für die Denunziation von Personen, die Züge der Verkehrsbetriebe mit Graffiti versehen, bieten viele Städte und Transportunternehmen sogar eine Belohnung. Deswegen kann man davon ausgehen, dass jemand, der ein Graffiti anbringt, sich bewusst ist, eine kriminelle Handlung zu begehen. Da Sprayen mit Risiko und Graffitis mit erheblichem finanziellem und zeitlichem Aufwand verbunden sind und die Kreativen dem Ergebnis ästhetischen Wert beimessen, werden vermutlich als Untergrund oft Flächen gewählt, die der erbrachten Leistung gerecht werden. Kurz: Die Handlung ist so bedeutsam, dass auch die besprühte Fläche exklusiv sein muss. Von Menschen dagegen, die ihre Informationen, Wünsche oder Ankündigungen mit Hilfe von Zetteln oder Plakaten verbreiten, werden gern Wertstoffcontainer genutzt; ebenso Laternen- oder andere Pfähle, sofern der Zettel klein genug ist, und öffentliche Mülleimer. Weiter unten auf der Beliebtheitsskala rangieren Verteilerkästen, vielleicht, weil deren Bekleben bei Strafe verboten ist, und Privateigentum wie Briefkästen, Telefonzellen und Boulevardzeitungsautomaten. Dass man dort selten Zettel sieht, liegt wahrscheinlich daran, dass sie regelmäßig entfernt werden. Auch Autos, die sich formal gut zum Bekleben eignen würden, werden nicht genutzt, da man sich damit beim Besitzer, der in diesem Fall auch der Adressat der Botschaft wäre, äußerst unbeliebt machen würde. Zettel zwischen Scheibenwischer und Windschutzscheibe zu klemmen, ist jedoch inzwischen eine recht verbreitete Form der Werbung. Die Analyse ergibt, dass die Auswahl ex negativo erfolgt: Jede glatte Fläche, deren Bekleben nicht ausdrücklich verboten ist, wird zu diesem Zweck umgenutzt.
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Fahrräder anschließen Das Abschließen von Fahrrädern ist mit dem Sitzen vergleichbar, da auch zu diesem Zweck im öffentlichen Raum spezielle Möbel aufgestellt wurden. Fahrradständer gibt es in den unterschiedlichsten Varianten. Einige erlauben das Abschließen nur am Vorderrad, bei anderen muss man das Rad aufbocken oder einhängen. Schlichtere Modelle erlauben mehrere Positionen, aufwendige oft nur eine. Mit der Entwicklung von immer neuen Fahrradmodellen, die teilweise sehr wertvoll sind, und der wachsenden Zahl von Fahrraddiebstählen werden auch die Fahrradständer immer komplexer und aufwendiger. Waren sie noch vor einigen Jahren relativ unauffällig und manchmal kaum von Pollern zu unterscheiden, sieht man heute immer häufiger riesenhafte Gestelle, die zum Teil oben noch mit Reklametafeln versehen sind. Diese Objekte könnten ein Beispiel für eine Art Non Intentional Design sein, das inzwischen kommerzialisiert wurde. Wenn trotzdem viele Radfahrer und Radfahrerinnen ihre Vehikel nicht in den dafür vorgesehenen Ständern parken, liegt das sehr oft an deren Disfunktionalität. Die Schwächen, die einige der Modelle haben, wurden oben schon angedeutet. Es kommt hinzu, dass manchmal zu befürchten ist, das Vorderrad zu verbiegen. Oder es gibt keine Möglichkeit, Rahmen und Vorderrad gemeinsam anzuschließen. Der Boykott dieser Gestelle lässt sich also auf schlechtes Design zurückführen. Doch zum Anschließen von Rädern bietet der öffentliche Raum genug Alternativen. Besonders beliebt als Fahrradständer sind wieder diverse Absperrungen, aber auch Straßenschilder, Ampeln, Straßenlampen, Parkuhren – also alle vertikal angebrachten Stangen, die eine gewisse Höhe erreichen.
Konstruktive und destruktive Umnutzung Die Art der Umnutzung im öffentlichen Raum muss aber nicht immer konstruktiv sein. Es gibt auch destruktive Umnutzungen, deren Ziel es ist, einen Gegenstand entweder zu zerstören oder ihm zumindest eine eigene Prägung zu geben. Im Vergleich zum privaten Raum, wo ein solches Vorgehen jedem Menschen zusteht, wird eine zerstörerische Umnutzung im öffentlichen Raum als Straftat gewertet und geahndet. Konstruktive Umnutzung verleiht den Dingen einen Zusatznutzen, der die ursprüngliche Nutzung zeitweilig erschweren oder vereiteln kann, jedoch nie unwiderruflich aufhebt. Neben den oben genannten Beispielen zählen dazu auch das Pflastermalen und die Bestückung von Baumscheiben mit Blumen oder Gartenzwergen. Ein charmantes Beispiel war eine Röhre mit dem Umfang eines Straßenschildpfahles auf der Aachener Straße in Köln, deren offensichtliche Nutzlosigkeit jemanden dazu animiert hat, ihrer Existenz einen Sinn zu geben, indem oben ein Weihnachtsbaum hineingesteckt wurde, der lange Zeit diese Straße schmückte. Unter die Kategorie destruktiven Umnutzungsverhaltens zählen wir, was gemeinhin Vandalismus genannt wird, und zwar in den Fällen, in denen die ursprüngliche Nutzung danach nicht mehr möglich ist. Sowie das Urinieren an öffentliche Gebäude oder Pflanzen, das anderen Bewohnern den Aufenthalt in dieser Gegend zeitweilig unmöglich macht
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1 Geländer einer U-Bahnhaltestelle als Fahrradständer 2 Palme als Fahrradständer 3 Baumabsperrung als Fahrradständer 4 Straßenschildpfahl als Fahrradständer
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und zu Schäden an Mauerwerk oder Grünzeug führen kann. Es gibt zwei Arten von Dingen im öffentlichen Raum, die gern zerstört werden: Gegenstände, deren Existenz überflüssig erscheint oder nicht verstanden wird, und Gegenstände, die autoritär versuchen, nur eine Art der Nutzung zuzulassen. Kunstwerke im öffentlichen Raum sind Beispiele für die erste Gruppe. Sie werden sehr oft dergestalt bemalt oder verändert, dass eine deutliche Aggression erkennbar wird. Vermutlich können die Menschen, die auf diese Weise Hand anlegen, mit den Objekten nichts anfangen und erkennen ihre Daseinsberechtigung deshalb nicht an. Durch Zerstörung wird diese ablehnende Haltung ausgedrückt. Beispiele für autoritäre Gestaltung, die ebenfalls abgelehnt wird, sind Bänke mit Abtrennungen zwischen den einzelnen Sitzen, so dass man dort nur in einer Position sitzen und auf keinen Fall liegen kann, und Müllbehälter, deren Öffnung so verkleinert wurde, dass Abfall nur bis zu einer bestimmten Größe hineingeworfen werden kann. Beide Designansätze haben mit Sicherheit einen Sinn: Es soll verhindert werden, dass Obdachlose auf den Bänken schlafen oder Menschen ihren Hausmüll in öffentliche Mülleimer entleeren, um die Abfallgebühren zu sparen. Doch die autoritären Lösungen reizen zu Widerspruch.
Aneignung Ein Motiv für die eigensinnige Benutzung von Gegenständen ist zweifellos der Wunsch der Menschen, sich den jeweiligen Gegenstand anzueignen. Besonders dann, wenn es sich um industrielle Massenware handelt, entsteht das Bedürfnis, den Dingen eine eigene Prägung zu geben. Genau das geschieht, wenn Menschen Dinge auf nicht-intentionale Art benutzen. Im öffentlichen Raum, wo viele Menschen dieselben Dinge benutzen, kann der Wunsch entstehen, sich durch individuelle Nutzung des Vorhandenen das Allgemeingut anzueignen. Indem eine Person etwas auf eigene Art interpretiert, zeigt sie sich und anderen, dass sie auch in dieser Sphäre Einfluss hat, dass sie mitgestaltet. Je auffälliger und dauerhafter die Umnutzungsmaßnahme, desto größer ist vielleicht auch das Bedürfnis nach Aneignung. Deutlich wird das anhand des Verhaltens von Jugendlichen in der Öffentlichkeit. Die einschneidendsten Umnutzungsmaßnahme, die oft schon an Zerstörung grenzen, werden im öffentlichen Raum von Jugendlichen vorgenommen.
Selbstbestimmtheit Der urbane öffentliche Raum bietet wenig Freiraum. So gut wie jeder Schritt und jede Handlung werden reglementiert: Die Stellen, an denen man sein Auto oder Fahrrad abstellen kann, die Wege, auf denen man sich bewegen kann und so weiter, sind vorgegeben. Die eigensinnige Art der Nutzung ist in diesem Zusammenhang ein Ausdruck von persönlicher Freiheit und eine Rebellion gegen Reglementierung. Die bewusste oder unbewusste Negation vorgegebener Verhaltensregeln demonstriert selbstbestimmtes Verhalten, das, ebenso wie die Aneignung, im Rahmen der eigenen Wohnung eher möglich ist als in der Öffentlichkeit. Dennoch suchen Menschen nach Möglichkeiten, die ein selbstbestimmtes Handeln in der Öffentlichkeit zulassen, ohne andere damit einzuschränken. Ein Beispiel für solch eine sanfte Rebellion ist, wenn
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1 Mauer als Graffiti-Leinwand 2 Ladenjalousien als Graffiti-Leinwand 3 Stromkästen als Graffiti-Leinwand 4 Garagentor als Graffiti-Leinwand
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Menschen vorgegebene, gepflasterte Wege ignorieren und stattdessen auf eigenen Pfaden wandeln. Diese weiten sich dann oft zu sogenannten «Trampelpfaden» aus, anhand derer man gut erkennen kann, wo viele Menschen gehen. Der Vorschlag einiger kluger Köpfe aus der Stadtplanung, bei neuangelegten Flächen solche Trampelpfade erst einmal entstehen zu lassen, um diese daraufhin durch befestigte Wege zu ersetzen, ist ein gutes Beispiel für eine sinnvolle Einbeziehung nicht intentionaler Nutzung in den professionellen Gestaltungsprozess. Die Umnutzung von Gegenständen ist offensichtlich auch im öffentlichen Raum alltägliche Realität. Eine konstruktive und reversible Umnutzung von öffentlichem Eigentum ist allerdings sowohl für die städtischen Kassen als auch für die Bürgerinnen und Bürger angenehmer als eine destruktive und irreversible. Deshalb sollten sich die Verantwortlichen darüber Gedanken machen, wie sie den öffentlichen Raum so gestalten, dass die Gegenstände mit zusätzlichen Funktionen versehen werden können, anstatt dass sie dazu verführen, Ziel von Gewaltanwendung zu werden.
Public man – private woman? Die Einteilung des Lebensraumes in öffentliche und private Bereiche wird in der Stadtplanung, Architektur und Soziologie immer wieder diskutiert, wobei dem öffentlichen Raum besonderes Interesse hinsichtlich der Nutzung durch die verschiedenen Personengruppen zukommt. Die Häufigkeit und die Art des Auftretens der Menschen in der Öffentlichkeit gelten als Barometer für die Befindlichkeit derselben und damit auch für die Funktionalität des Systems Stadt. Eine elementare Funktion, die diesem System innewohnt, ist die der Kommunikation mit Fremden. «Der Umgang mit dem Fremden, den die Stadt verlangt, ist konstitutionelle Bedingung für das politische und gesellschaftliche Subjekt. Hierin erzieht die Stadt zur Toleranz und hierin liegt der zivilisatorische Rang der Urbanität.»133 Das Agieren in der städtischen Öffentlichkeit ist die Urform des öffentlichen Auftretens überhaupt und somit auch Bedingung für politische Öffentlichkeit und Medien-Öffentlichkeit. Die griechische Bezeichnung für die Stadt, «polis», weist auch etymologisch auf die enge Beziehung zwischen Stadt und Politik hin. Das Haus oder die Wohnung ist historisch und aktuell größtenteils immer noch der Handlungsraum der Frauen. Sie halten sich dort durchschnittlich länger auf als Männer und sind dementsprechend auch stärker für die Gestaltung dieser Sphäre verantwortlich. Demgegenüber war der öffentliche Raum lange Zeit ausschließlich Männern vorbehalten, Frauen waren dort unerwünscht. In einigen Ländern ist dies heute noch der Fall, und die Tendenz zu männlicher Dominanz in der Öffentlichkeit ist auch in Deutschland immer noch zu beobachten. Die geschlechterspezifische Trennung der Bereiche Privatheit und Öffentlichkeit und die damit einhergehende Gegenüberstellung von Familie und Gesellschaft ist ein
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Herterich, Frank: «Urbanität und städtische Öffentlichkeit», in: Prigge, Walter (Hg.): Die Materialität des Städtischen, Basel, Boston 1987, S. 218.
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Konzept des 19. Jahrhunderts. Dieses Konzept als «überzeitliche Universalie»134 vorauszusetzen, wird von feministischen Soziologinnen kritisiert, da dies zu einer Zementierung der Zuschreibung führt und so den Zugang von Frauen zur Öffentlichkeit, und damit auch zur Politik, erschwert.135 Wie wirksam die räumliche Trennung der Geschlechter jedoch heute noch ist, zeigt sich unter anderem auch darin, dass die Verantwortlichen für die Gestaltung des öffentlichen Raumes immer noch hauptsächlich Männer sind. Berufe, die sich mit der Gestaltung des öffentlichen Raumes beschäftigen, wie zum Beispiel die Architektur und die Stadtplanung, werden sehr viel häufiger von Männern als von Frauen ausgeübt. Männer sind also entscheidender an der Planung und Gestaltung des öffentlichen Raumes beteiligt als Frauen. Früher haben sie ihn ausschließlich für die Nutzung durch ihr eigenes Geschlecht gestaltet, heute werden auch die (vermeintlichen) Interessen von Frauen mitberücksichtigt. Der Großteil der Stadtgestaltung stammt aber noch aus einer Zeit, in der Männer auch als Nutzer tonangebend waren. Und auch heute noch bleibt fraglich, ob die derzeitigen (männlichen) Planer die Interessen von Frauen überhaupt nachvollziehen können. Es drängt sich die Vermutung auf, dass viele Frauen, deren Präsenz in der Öffentlichkeit immer mehr zunimmt, mit der vorgefundenen Gestaltung nichts anfangen können und sie deswegen für ihre Zwecke umnutzen. Dies lässt vermuten, dass Gebrauchsumwandlungen im öffentlichen Raum häufiger von Frauen als von Männern ausgeübt werden. Das gleiche gilt zum Beispiel auch für Kinder, die ja ebensowenig in die Stadtplanung miteinbezogen werden, und für Menschen, die aus anderen Ländern nach Deutschland gezogen sind und aufgrund ihrer Herkunft vielleicht ganz andere Wünsche an die Gestaltung haben. Bezogen auf die beiden letzten Gruppen bestätigen zwei Beobachtungen diese Vermutung: häufig sieht man Kinder, die in der Stadt, außerhalb von Spiel- oder Sportplätzen, Fußball spielen. Als Tore werden Fahrradständer, Straßenlaternen oder Bänke benutzt. Die zweite Beobachtung kann man in Stadtteilen machen, wo viele Menschen wohnen, die einen Teil ihres Lebens in der Türkei verbracht haben. Diese älteren türkischen Männer (und Frauen) vermissen offenbar die gewohnten Bänke vor ihren Häusern und setzen sich stattdessen auf improvisierte Sitzgelegenheiten wie Grün-Absperrungen und niedrige Trennmauern, um ihre nachbarschaftliche Kommunikation zu pflegen. Doch zurück zu geschlechterspezifischen Bedürfnissen im öffentlichen Raum. Es soll dargelegt werden, warum der öffentliche Raum bezüglich einer Untersuchung nach Geschlecht interessant sein kann. Die erste These lautet also, dass der öffentliche Raum primär von Männern gestaltet wurde, häufig, ohne dabei die Bedürfnisse von Frauen zu berücksichtigen. Den Frauen bliebe demnach nichts anderes übrig, als das Vorhandene ihren Bedürfnissen entsprechend umzunutzen. Eine zweite These basiert auf derselben Voraussetzung, der Trennung zwischen männlich dominiertem öffentlichem Raum und weiblich dominiertem Privatraum, führt aber zu einer entgegengesetzten Schlussfolgerung: Die Umnutzung von Vorgefundenem wird stärker von Personen ausgeführt, die sich wohl- , beziehungsweise am richtigen Ort, «zu Hause»
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Hausen, Karin: «Öffentlichkeit und Privatheit», in: Journal für Geschichte, Heft 1, 1989, S. 23.
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Vgl. Köhler, Gabriele, «Städtische Öffentlichkeit und Stadtkultur», in: Dörhöfer, Kerstin (Hg.): Stadt-Land-Frau, Soziologische Analysen, feministische Planungsansätze, Freiburg i.Br. 1990.
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fühlen. Wenn sich also Männer durch die jahrhundertelange Vorherrschaft in der Öffentlichkeit in dieser Sphäre heimischer fühlen als Frauen – sind es dann nicht eben diese Männer, die diesen Bereich stärker nutzen – und dementsprechend auch umnutzen? Bestärkt wird diese These durch verschiedene, von Maria Spitthöver zusammengetragene Untersuchungen, die belegen, dass die unterschiedlichen Bereiche des öffentlichen Raumes, wie Straßen, Plätze, Grünflächen und Sportplätze, überproportional intensiver von Männern als von Frauen genutzt werden.136 Dies bezieht sich sowohl auf die zeitliche Nutzung als auch auf die Beanspruchung von Raum. Mit Hilfe von Statistiken zur Pkw-Nutzung legt Spitthöver dar, dass die Straßen stärker von Männern als von Frauen genutzt werden. Das erklärt sich aus der Tatsache, dass mehr Männer als Frauen ein Auto besitzen und Frauen, wenn sie ein Auto haben, meistens kleinere Modelle fahren. Dass der Aufsatz aus dem Jahr 1990 immer noch aktuell ist, zeigt eine Anekdote aus dem «Smart-Center»: Ein Ehepaar, das mit einem Saab gekommen war, informierte sich über die Vorzüge des Kleinwagens «Smart», den sie sich eventuell als Zweitwagen zulegen wollten. Der Ehemann reagierte enthusiastisch auf die Vorführung der Verkäuferin, während seine Frau eher zurückhaltend war. Schließlich gab sie zu bedenken, dass es problematisch sei, ihre beiden Kinder und Einkäufe in dem Zweisitzer unterzubringen. Die Verkäuferin sagte daraufhin, das Konzept des «Smart» sei, dass sie mit den Kindern und Einkäufen den Saab nähme und ihr Mann mit dem «Smart» zur Arbeit fahre. Plötzlich war ihr Mann überhaupt nicht mehr begeistert, und das Paar verabschiedete sich sehr schnell. Wenn Männer den öffentlichen Raum häufiger, länger und raumgreifender nutzen, liegt die Vermutung nahe, dass sich das statistisch auch auf die Zahl der Umnutzungen auswirkt. Aber nicht nur die Quantität der Nutzung, sondern auch die Qualität lässt auf eine immer noch herrschende männliche Dominanz im Straßenverkehr schließen. Im Sommer beispielsweise wird abends auf vielen Einkaufsstraßen flaniert. Oft beobachtet man dort folgendes Bild: Auf den Bürgersteigen spazieren Fußgänger, meist in geschlechtshomogenen Gruppen, und auf der Straße führen junge Männer ihre Autos vor, indem sie immer wieder im Kreis fahren und dabei laut Musik hören, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Dieses Verhalten, das eine demonstrative Nutzung der Straße beinhaltet, ist bei Frauen selten zu beobachten. Ein weiteres Beispiel ist das Parkverhalten auf mehrspurigen Einkaufsstraßen. Oft wird hier in zwei Reihen geparkt, was dann problematisch wird, wenn jemand, der näher am Bürgersteig steht, wegfahren möchte, jedoch von einem anderen Auto, das zwischen ihm und der Straße parkt, blockiert wird. Meistens sind die Fahrer der Wagen in der zweiten Reihe Ladeninhaber oder -inhaberinnen, die die Situation von ihrem Geschäft aus beobachten oder zumindest durch Hupen herbeigerufen werden können. Manchmal kommt es jedoch vor, dass jemand einen anderen Wagen zuparkt und dann einkaufen geht, so dass die Fahrerin oder der Fahrer des zugeparkten Autos warten muss, bis die Einkäufe erledigt wurden. Selten wird auf eine Frau gewartet. Die Beobachtung der Personen, die Umnutzungen vornehmen, ist schwieriger als die der Gegenstände, die umgenutzt werden. Das liegt in der Natur der Sache: Das Ergebnis ei-
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Vgl: Spitthöver, Maria: «Frauen und Freiraum», in: Dörhöfer, Kerstin (Hg.): Stadt-Land-Frau, a.a.O.
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ner Zweckentfremdung ist längere Zeit sichtbar als die Aktion der Zweckentfremdung selbst. Eine empirische Untersuchung über längere Zeit könnte sicherlich eine wichtige Ergänzung der oben genannten Thesen darstellen. Hier müssen wir uns auf Vermutungen und einige Beobachtungen beschränken. Von den drei im voranstehenden Kapitel beschriebenen Tätigkeiten der Umnutzung: Sitzen, Informieren und Anschließen eines Fahrrades, ist nicht einmal die letztgenannte einfach hinsichtlich geschlechtsspezifischer Unterschiede oder Gemeinsamkeiten zu untersuchen. Damen- und Herrenräder sind zwar leicht voneinander zu unterscheiden. Allerdings kann man nicht mehr davon ausgehen, dass Herrenräder ausschließlich von Männern benutzt werden. Gerade Mountainbikes, die einen Großteil der Räder ausmachen, werden oft auch von Frauen gefahren. Die kurzzeitige Beobachtung führt insofern zu keinem besonders aufschlussreichen Ergebnis: Damen- und Herrenräder werden gleichmäßig im städtischen Raum verteilt. Fahrradständer, wenn sie benutzt werden, ungefähr in gleicher Zahl für beide Modelle. Auch die Alternativen, wie Absperrungen und Straßenschilder, werden für beide gleichermaßen benutzt. Das Sitzen auf nicht dafür vorgesehenen Gegenständen ist jedoch eindeutig häufiger bei Männern als bei Frauen zu beobachten. Das ist eine Bestätigung der These, dass Männer sich in der Öffentlichkeit heimischer fühlen und dementsprechend auch länger und demonstrativer aufhalten. Frauen dagegen nutzen die Straße eher als Passage, um von einem Ort an den anderen zu gelangen. Eine Ausnahme bildet das Sitzverhalten von Gruppen: Hier sind es meist Frauen oder häufiger noch Mädchen, die zusammensitzen, während Männer eher allein Platz nehmen. Das Anbringen von Zetteln, Plakaten oder Graffitis kommt wahrscheinlich auch geschlechtsspezifisch unterschiedlich oft vor, genaue Ergebnisse können aber erst durch längere Beobachtung erreicht werden. Auch in diesem Fall vermuten wir allerdings, dass die Selbstverständlichkeit, mit der Männer sich im Gegensatz zu Frauen im öffentlichen Raum bewegen, dazu führt, sich auch stärker an der buchstäblichen Beschreibung der Stadt zu beteiligen. Zusammenfassend kann also über das Interesse an der Beobachtung von Gebrauchsumwandlungen im öffentlichen Raum unter der Perspektive des Geschlechterverhältnisses festgehalten werden: • Die seit dem 19. Jahrhundert vorherrschende Trennung zwischen Öffentlichkeit als männliche und Privatheit als weibliche Aktionssphäre gibt Anlass zu der Vermutung, dass die beiden Geschlechter sich im öffentlichen Raum different verhalten, da sie unterschiedlich mit den vorgegebenen Parametern umgehen. • Im öffentlichen Raum gibt es Bereiche, die von allen genutzt werden, und solche, die Privateigentum sind, beziehungsweise als solches angesehen werden. Kann es sein, dass Gebrauchsumwandlungen, die im eher privaten öffentlichen Raum stattfinden, häufiger von Frauen vorgenommen werden als von Männern, da dieser Bereich der Privatsphäre (oft auch räumlich) näher ist? Als Beispiel sei hier die häufig anzutreffende Gestaltung von Baumscheiben mit Hilfe von Blumen, Gartenzwergen und entsprechenden Hinweisschildern («kein Hundeklo!») genannt. • In der Öffentlichkeit wird also sowohl Allgemeingut, das zur Ausstattung des Raumes dient, genutzt als auch Privateigentum, das ursprünglich der privaten Sphäre ent-
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stammt. Unsere Vermutung ist, dass beide Gegenstandsgruppen von beiden Geschlechtern unterschiedlich häufig und intensiv umgenutzt werden, da erstere ja dem öffentlichen Raum angehören, also meistens Männer für ihr Dasein und ihre Gestaltung verantwortlich sind, und die privaten Dinge der weiblich dominierten Sphäre entstammen.
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Es wurde deutlich, dass die Verbindung zwischen gestaltetem Gegenstand und seiner Nutzung viel enger ist, als viele Designerinnen und Designer denken. Gerade die unbewussten Umnutzungen zeigen, dass Menschen zu den Dingen, die sie umgeben, eine intuitive Verbindung haben, die durch das offensichtliche Dazwischentreten des Designs gestört, aber auch für eine sinnvolle Gestaltung genutzt werden kann. Um noch einmal auf das Beispiel des Stuhles zurückzukommen: Ein Stuhl, dessen Lehne so gestaltet ist, dass es unmöglich ist, eine Jacke darüber zu hängen (beispielsweise der Caféhausstuhl «Costes» von Philippe Starck), wird womöglich zum Ärgernis. Warum das Design nicht zwischen die nutzende Person und den Gegenstand treten darf und wie Gestaltungen dem entgegenwirken können, soll nun auf der Grundlage eines philosophischen Modells gezeigt werden. Wir werden Platons Modell der Ideenlehre als Konstruktion zu Hilfe nehmen, um zu zeigen, wie sich die Beziehung zwischen Gestaltung, Objekt und Nutzung darstellt. Die philosophische Intention Platons spielt bei dieser Gegenüberstellung keine Rolle
Das Schöne und das Gute nach Platon Platons Ideenlehre ist ein grundlegendes Modell seiner gesamten Philosophie.137 Der Begriff der Idee hat im Folgenden eine zentrale Bedeutung. Weil er jedoch im platonischen Sinne benutzt wird und nicht in seiner heutigen Bedeutung, soll dieser Unterschied einleitend deutlich gemacht werden: Platon bezeichnet mit «Idee» das Wesen und die Ursache der Dinge. Alles, was existiert, beruht auf Ideen oder Urbildern, an denen es teilhat. Heute wird der Begriff «Idee» dagegen als individueller Besitz verwendet. Jemand hat eine Idee, das heißt, sie oder er besitzt sie. Für professionelles Design sind Ideen Kapital. Diese Ideen müssen – sofern man sie verkaufen möchte – schnellstens geschützt werden, damit sie nicht gestohlen werden. Ist eine Idee erst einmal geschützt, hat niemand anderes das Recht, sie zu verwenden. Im heutigen Sprachgebrauch ist eine Idee also subjektiv. Für Platon sind Ideen aber das Wirklichste und Objektivste überhaupt. Sie sind kein individuelles Gut, sondern existieren unabhängig von den Menschen. Sie sind ewig und unveränderlich. Alles, was dagegen in Raum und Zeit existiert und durch die Sinne erfahren werden kann, ist veränderlich und vergänglich. Die wahre Wirklichkeit liegt also außerhalb von Raum und Zeit und muss durch etwas anderes erkannt werden als durch sinnliche Wahrnehmung. Die wahre Wirklichkeit sind nach Platon die Ideen. Das Raumzeitliche, die sogenannte Erscheinungswelt, ist keine Wirklichkeit, sondern nur in dem Umfang wirklich, wie sie an den Ideen teilhat. Die einzige Verbindung, die der Mensch zu den Ideen hat, besteht darin, veränderliche und vergängliche Abbilder von ihnen zu schaffen. Für Platon wären also Designerinnen und Designer Menschen, deren Beruf es ist, möglichst gute Abbilder von den universellen Ideen zu gestalten.
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Vgl. Ferber, Rafael; Sloterdijk, Peter (Hg.): Platon, München 1998; Hügli, Anton; Lübcke, Poul (Hg.): Philosophielexikon, Reinbek bei Hamburg 1991.
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Sie haben dementsprechend keine Ideen, sondern die Fähigkeit, Ideen zu konkretisieren und sie in Produkte umzusetzen. Die platonische Hierarchisierung des Schönen und Guten kann innerhalb des Themenkomplexes NID als Modell gesehen werden, verschiedene Gegenstände hinsichtlich ihrer Nähe beziehungsweise Distanz zu den ihnen zugrunde liegenden Ideen zu bestimmen. Denn die schönen, also funktionstüchtigen Dinge sind transparenter im Hinblick auf die in ihnen wirksame Idee. Vergleicht man Gegenstände, die von vielen Personen auf nicht intentionale Weise benutzt werden, mit solchen, die selten oder gar nicht umgenutzt werden, fällt auf, dass hier tatsächlich eine Hierarchie besteht. Auf oberster Stufe, also am häufigsten «zweckentfremdet», werden Dinge mit niedrigem Komplexitätsgrad, zum Beispiel Kisten, Gläser, Stühle oder der Fußboden. Ganz unten stehen die hochkomplexen Dinge, wie elektrische oder gar elektronische Geräte.138 Analog zu Platons Modell kann die Hierarchie im NID-Kontext eine bewertende Funktion haben. Die häufig genannten, niedrigkomplexen Dinge stehen dem Urbild, der Idee, näher als die selten genannten, komplexen und sind deshalb unter dem Blickwinkel des NID schöner oder besser als jene.
Von der Idee zum Objekt: Design Designerinnen und Designer sind also nach der philosophischen Terminologie diejenigen Menschen, die in einem zielgerichteten, bewussten Vorgang die Idee von etwas Seiendem verwirklichen und Phänomene schaffen, die mit den Sinnen wahrnehmbar sind. Diese Phänomene sind die gestalteten Objekte. Empirisch lässt sich diese Definition anhand eines Beispiels aus der Befragung zeigen: die Automatte, die als Badematte genutzt wird. Im Design-Prozess wird die Idee – «etwas, das zwischen den Füßen und dem Boden liegt» – in ein Phänomen verwandelt: eine Badematte, ein Teppich oder eine Automatte. In einem zweckgerichteten, intentionalen Vorgang wird die Idee zu einem Gegenstand verwirklicht. Dabei sind Essenz und Akzidenzien beteiligt. Die Essenz ist das Flache, Ausgedehnte, Biegsame der Matte, unverzichtbare Eigenschaften für den Gegenstand «Matte». Die verschiedenen möglichen Materialien, gewebter Stoff für die Badematte, geknüpfter Stoff für einen Teppich, Gummi für eine Automatte sind Akzidenzien der Gegenstände. Im Fall der Badematte sind die Akzidenzien neben den verschiedenen Materialien auch die unterschiedlichen Größen der Matten. Bei anderen Gegenständen können die Akzidenzien andere sein.
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Dies stimmt mit den Ergebnissen unserer schriftlichen Befragung überein, in der hochkomplexe Dinge von keiner Person als NID-tauglich benannt werden. Vgl. dazu das Kap. «Die Subjekte: Umnutzungsobjekte und -motive».
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Die Automatte kann ohne Weiteres die Funktion einer Badematte übernehmen.
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Vom Objekt zu der Idee: Nicht Intentionales Design Im Produktdesign entscheidet man sich also für bestimmte Akzidenzien, um aus Ideen Phänomene zu machen. Entgegengesetzt dazu wählen die Menschen bei der Schaffung von NIDs unterschiedliche Phänomene (Objekte) mit gegebenen Akzidenzien, weil sie die Idee dahinter erkennen. Sie durchschauen die Produkte. Nach Abzug der Akzidenzien (Material, Größe) erkennen sie in der Badematte, Automatte oder dem Teppich die Idee – «etwas, das zwischen den Füßen und dem Boden liegt». Benötigen sie nun etwas, das zwischen den Füßen und dem Boden liegen soll, können sie auf einen der drei möglichen Gegenstände zurückgreifen. Wer eine Automatte oder einen Teppich als Badematte benutzt, hat aus einer Vielzahl existierender Gegenstände (Phänomene) mit unterschiedlichen Akzidenzien einen ausgewählt, weil er oder sie ihn darin erkannt hat. Das Zurückgreifen auf eine Automatte, um sie als Badematte zu benutzen, ist deshalb ein typisches Beispiel für Non Intentional Design. Denn die Handlung ist zwar intentional und zielgerichtet, andererseits entsteht jedoch kein Design, wenn die Automatte als «Badematte» benutzt wird, sondern NID. Die Voraussetzung für einen Gegenstand, um ein Designobjekt zu sein, besteht darin, dass er zielgerichtet aus einer Idee zu einem Phänomen verwirklicht wurde, dass also aus einer unendlichen Vielzahl möglicher Akzidenzien eine oder mehrere ausgewählt wurden, um sie in Verbindung mit der Essenz zu einem Gegenstand zu machen. Man muss also unterscheiden zwischen nicht intentionaler Handlung und Nicht Intentionalem Design. Die Handlung, die NID schafft, ist sehr wohl intentional, also bewusst und zielgerichtet, das Ergebnis der «Veränderung» ist jedoch Nicht Intentionales Design, weil es nicht die Verdinglichung einer Idee intendiert, also kein Design ist. Stattdessen wird ein bereits existierendes Design benutzt, weil die Idee dahinter erkannt wurde.
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Die Bedeutung der Begriffe In der Design-Disziplin wird aus einer Idee ein Produkt geschaffen. Je weniger komplex das Produkt ist, desto näher befindet es sich in der Hierarchie an der ursprünglichen Idee, dem Urbild. Nach Platon wäre demnach der konkrete Stuhl das Abbild des Urbildes «etwas, auf dem man sitzen kann». Ein anderes Abbild sind zum Beispiel der Sessel und die Sitzbank im öffentlichen Raum. Zusätzlich gibt es aber noch viele andere Gegenstände, die aus dem (spontanen) Bedürfnis zu sitzen Abbilder der Idee «etwas, auf dem man sitzen kann» sind: der Badewannenrand, die Kante eines Blumenkastens im öffentlichen Raum, eine Treppe. Menschen wählen aus den vorhandenen Abbildern die jeweils passenden aus, um der Idee des Urbildes näher zu sein. Die Welt der Produkte bietet ihnen dazu zahlreiche Möglichkeiten. Für die Produktwelt bedeutet das, dass die Benennung der Gegenstände eine entscheidende Rolle für den Umgang mit ihnen spielt. Jeder Gegenstand hat seinen Namen, der ihm bei der Gestaltung gegeben wurde. Diejenigen, die diese Gegenstände erwerben, um sie zu benutzen, übernehmen die Bezeichnungen, selbst wenn sie bestimmte Dinge überwiegend in einer anderen Funktion benutzen. Jemand, der einen Stuhl besitzt, den er ausschließlich als Ablage für Kleidung benutzt, nennt den Gegenstand trotzdem immer noch «Stuhl» anstatt «Kleiderständer». Man kann annehmen, dass Menschen, die über ihren als Kleiderständer benutzten Stuhl zu anderen Menschen vom «Stuhl» sprechen, zuvor einen unbewussten Übersetzungsvorgang abgeschlossen haben, um eine Kommunikation über den Gegenstand zu ermöglichen. Auch wenn diese Menschen alleine sind und sich gedanklich mit dem Gegenstand beschäftigen, zum Beispiel in dem Moment, in dem sie ihre Kleider darauf werfen, werden sie an ihn vermutlich ebenfalls als Stuhl denken, also übersetzen. Eine weitere Voraussetzung für die NID-Fähigkeit ist demnach, Begriffe von Gegenständen zu abstrahieren. Bestimmte Gegenstände werden im Laufe ihrer Nutzung umbenannt. Prädestiniert sind dafür Dinge, die aus einem entfernten Kontext stammen und wenig Bezug zur aktuellen Situation haben. Sei es, dass sie sehr alt sind, vielleicht sogar ein Gegenstand-Typ, der heute nicht mehr produziert wird, oder dass sie aus einem fremden kulturellen Umfeld stammen. Es gibt Dinge, deren zweckentfremdete Nutzung im Laufe der Zeit «vererbt» wird. Ein Beispiel dafür ist die Nutzung von Milchkannen als Schirmständer. Milchkannen werden heute nicht mehr gebraucht, da wir unsere Milch abgepackt im Supermarkt kaufen. Es existieren aber immer noch zahlreiche Milchkannen aus der Zeit, in der sie benutzt wurden. Deren Benutzung als Schirmständer ist in ländlichen Gegenden weit verbreitet. Interessanterweise werden die Kannen, obwohl jeder sie als solche erkennt, dennoch als «Schirmständer» bezeichnet. Der veränderte Gebrauch hat mit der Zeit auch eine Änderung der Bezeichnung verursacht. Jeder Gegenstand hat also in jedem Moment zwei Bedeutungen; diejenige, die ihm bei der Gestaltung gegeben wurde, und diejenige, die er durch die momentane Benutzung erhält. Die erste bleibt ständig gleich, die zweite kann sich ändern. Ein Stuhl kann StuhlKleiderständer und im nächsten Moment Stuhl-Leiter oder auch Stuhl-Stuhl sein.
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Autorität des Design – Autonomie im Gebrauch Sowohl bei der Benutzung als auch bei der Gestaltung sollte sich die Einstellung zu den Produkten und deren Benutzung ändern. Für ein besseres Leben mit der Produktwelt ist es für beide Seiten wichtig, die Autorität des professionellen Design und die Benennung der von ihm gestalteten Produkte zu hinterfragen. Bei der Benutzung entsteht so ein selbstbestimmter Umgang mit der vorhandenen Produktwelt und für das Design ein besseres Verständnis der Nutzungsmöglichkeiten und daraus folgend das Wissen, wie sinnvolle Produkte beschaffen sein sollten. NID als Nutzungsverhalten kann der Schlüssel zu einer richtigen, das heißt nützlichen Einstellung sein: Die Befragung und zahlreiche persönliche Gespräche haben gezeigt, dass die Menschen nicht nur die Fähigkeit, sondern geradezu das Bedürfnis haben, Dinge umzunutzen. Die Schwierigkeit der Befragten, überhaupt zu erkennen, dass sie NID schaffen und erst recht, ihr Umnutzungsverhalten durch konkrete Motive zu begründen, hat außerdem bewiesen, dass NID kein bewusstes Gestalten ist. Es ist für die Menschen selbstverständlich, sich der vorhandenen Welt – heute besteht diese zu einem großen Teil aus Produkten – zu bedienen, um ihr Leben zu organisieren. Es zeigt sich also, dass NID als Potenzial bei allen vorhanden ist. Platon würde sagen, dass jeder Mensch fähig ist, die Ideen hinter den Produkten zu erkennen, die Produkte zu durchschauen. Dieser Satz ist der Schlüssel zu offenem Design, einer Gestaltung, die die Idee, die dahinter steht, erkennen lässt. Das hört sich banal an, ist aber noch lange keine Selbstverständlichkeit. Viele Dinge sind so gestaltet, dass das Urbild, die Idee, verschleiert ist. Oft deshalb, weil im Design-Prozess die Ursprungsidee verloren geht und eine andere Idee umgesetzt wird.
NID als Grundlage offener Gestaltung Die Bedeutung von NID für die professionelle Produktgestaltung ist sehr groß. Durch die Beschäftigung mit dem Nutzungsverhalten unter Zuhilfenahme der Ideenlehre Platons als Konstruktion ist deutlich geworden, dass jeder Gegenstand aus zwei Perspektiven betrachtet werden muss: aus dem Blickwinkel der Gestaltung und dem der Benutzung; und sie stehen sich gegenüber. Design verfolgt mit der Gestaltung eines Produktes den Weg vom Abstrakten zum Konkreten, von der «Idee» zum Produkt. Bei der Benutzung beschreitet man den umgekehrten Weg: Ihr Ziel ist eine Idee, unterwegs findet man Produkte, die benutzt werden können, um der Idee näher zu kommen. Wenn bei der Produktgestaltung beachtet wird, dass sich die zukünftige Benutzung in entgegengesetzter Richtung bewegt, wird voraussichtlich qualitatives – und das heißt: offenes – Design geschaffen. Denn der Rückweg von der konkreten Gestaltung zur ursprünglichen Idee darf nicht verstellt werden, um bei der Benutzung einen autonomen Umgang mit der Produktwelt zu ermöglichen. Selbst wenn ein Produkt aufgrund seiner Komplexität oder seines sehr spezialisierten Einsatzbereiches ungeeignet zur Umnutzung ist, wird – sofern die Idee dahinter erkennbar ist – die Gestaltung honoriert und das Produkt gekauft werden. Dabei gilt: Je mehr Stufen vom Produkt zur Ursprungsidee zurückverfolgt werden können, desto NID-tauglicher ist der Gegenstand. Den gegenteiligen Effekt werden Produkte erzielen, die die Autonomie in der Benutzung einschränken und dadurch entweder autoritär wirken oder den Menschen ver-
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DESIGN ALS ANGEWANDTE PHILOSOPHIE
mitteln, ihnen würde ein Erkennen der Idee im Hintergrund nicht zugetraut werden. Diese Dinge können sich für kurze Zeit erfolgreich auf dem Markt halten, aber sie sind abhängig von Moden und als Produkte an sich nicht tauglich. Unter diese Gruppe von schlecht gestalteten Produkten gehören zum Beispiel niederkomplexe Gegenstände, deren Nutzungsmöglichkeiten durch die Applikation von «erklärendem» Dekor radikal eingeschränkt werden. Ein Becher, auf dem «Kaffee» geschrieben steht, wird wahrscheinlich nicht als Zahnputzbecher benutzt werden. Besonders für den öffentlichen Raum, der von vielen genutzt wird, gilt, dass dieser nicht autoritär gestaltet sein sollte. Das Angebot an alle Menschen, den öffentlichen Raum zu nutzen, beinhaltet, ihnen die Möglichkeit eigener Interpretationen bezüglich der Nutzung zuzugestehen. Dies muss durch die Gestaltung der Gegenstände demonstriert werden. Ein Begriff, der ausdrückt, wie eine derartige Gestaltung beschaffen sein sollte, ist der der Elastizität. Elastische Gestaltung gibt einen Rahmen vor, in dem das Objekt kommuniziert, dass es sinnvoll und nützlich ist. Innerhalb des Rahmens ermöglicht es allerdings viele Möglichkeiten der Interpretation. Elastisch gestaltete Objekte schlagen eine Art der Nutzung vor, aber sie befehlen nicht. Beides ist wichtig. Die wichtigste Vokabel bei der Gestaltung der Öffentlichkeit bleibt «Raum»: Raum für eigene Interpretationen, Raum für das Denken und Raum für Bewegung, Begegnung und Kommunikation. Die Mannigfaltigkeit der dargestellten Umnutzungen im privaten und öffentlichen Raum bestätigen, dass NIDs im menschlichen Verhalten bei Problemlösungen auf eine lange Geschichte zurückblicken und gleichzeitig bei der Nutzung neuer Produkt-Gruppen ständig weitere Umnutzungen entwickelt werden. Umgekehrt beeinflussen NID-Ideen die Form professioneller Gestaltung. Dieses Wissen scheint jedoch heutzutage in der Produktentwicklung verlorengegangen zu sein. Intendierte Multifunktionalität, Semiotik und seitenlange Gebrauchsanweisungen zeigen, dass NID im Design weder als Quelle der Erkenntnis – also theoretisch – noch in der Gestaltung – also praktisch – eine Rolle spielt. Die logische Schlussfolgerung ist für uns der Versuch, die Kenntnis um diese menschliche Fähigkeit auch auf die professionelle Ebene zu übertragen – damit das erlangte Wissen in die Gestaltung der zukünftigen Produktwelt einfließen und konkret nutzbar gemacht werden kann. Dabei geht es nicht darum, Dinge deshalb einfach zu gestalten, weil wir nicht in der Lage wären, komplex zu denken, sondern weil in der «Einfachheit» das Komplexe enthalten ist und vor allem, weil die Einbeziehung von NID in den Designprozess die Wahrnehmung für das Empirische des Alltags schärft und diese Wahrnehmung der Disziplin Design zu einer (Selbst-)Reflexion führt, die das Konzept einer offenen Gestaltung überhaupt denk- und machbar werden lässt. NID als Methode verändert den Blickwinkel, aus dem die Gegenstandswelt betrachtet und bewertet wird und stellt somit eine Bereicherung der Wahrnehmung dar. Auch unter ökologischen Gesichtspunkten sind NID-reiche Produkte interessant, da sie helfen, die Produktquantität zu reduzieren. Gleichzeitig wächst durch die Freude am vielfältigen Einsatz die persönliche Bindung zu ihnen, was ihre Lebensdauer verlängert und wiederum zur Schonung der Ressourcen beiträgt. Nicht zuletzt mögen solche Produkte Ärger ersparen, gerade weil sie für Zweckentfremdungen taugen. Wer kennt nicht den Groll über einen Stuhl, der beim Heraufsteigen wegrollen kann oder dessen zartes Korbgeflecht unter dem eigenen Körpergewicht beim Auswechseln einer Glühbirne durchzubrechen droht. Es lohnt sich also, NID in die Produktentwicklung einzubeziehen – aus ökonomischen, ökologischen, kulturellen und psychosozialen Gründen.
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Die Autorinnen
Uta Brandes Professorin an der Köln International School of Design. Studium Anglistik, Sport, Politische Wissenschaften, Soziologie, Psychologie. Beruflichen Stationen u.a: Wissenschaftliche Mitarbeiterin Universität Hannover; stellvertretende Leiterin eines Frauenforschungsinstituts, Hannover; Leitende Ministerialrätin, Wiesbaden; Direktorin des «Forums» der Bundeskunsthalle, Bonn; Aufbau des Schweizer Design Center; Autorin; Gründungsmitglied und Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Designtheorie und -forschung; Gastdozenturen an Designhochschulen in Deutschland, Japan, Hong Kong, China, Australien, USA.
Sonja Stich Selbstständige Designerin im Bereich Grafikdesign und Ausstellungskonzeption, arbeitet für Kunden aus den Bereichen Kultur und Verlagswesen. Wissenschaftliche Studien zu designtheroretischen Themen, davor tätig als Konzepterin bei «frogdesign», Studium Kunstgeschichte, Italienisch und Design in Münster und Köln, Aufbaustudium Kulturmanagement. Sie lebt mit ihrer Familie in Bonn.
Miriam Wender Designerin, arbeitet als Art Director bei der Mailänder Neue-MedienAgentur «Infokiosk», davor Online-Redakteurin für die italienische DesignZeitschrift Domus, Gründungsmitglied von «Apex-Netzwerk», Agentur für Neue Medien in Köln und Geschäftsführerin der «Design Exchange GmbH», dem ersten europäischen Design-Netzwerk im Internet. Sie hat zwei Kinder und lebt in Mailand.
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Bildnachweise
Auftaktbilder der Kapitel: S. 6: S. 18: S. 28: S. 34: S. 54: S. 104: S. 122: S. 148: S. 156: S. 176: S. 182:
Martì Guixé, «Cau», Leuchte mit Baulampe, Installation Fuori Salone «Comfort & Light» für Danese, Mailand, 2008 Calamobio, Modernisierung und Aufwertung von 1950er-Kommode durch künstlerische Gestaltung der Oberfläche, Alessandro Mendini, Zanotta, 1985/1988 Andrea Brabetz, «Dioniso’s Ear», Skulptur mit Zeitungspapier, Ausstellung roccart ‘04, Pietrasanta, 2004 Matali Crasset, «Bebox», Schmuckkasten mit Bürstenborsten, DIM – Die imaginäre Manufaktur, 2000 Schlüssel als Brieföffner Zeitungspapier zum Ausstopfen von nassen Schuhen Weckglas als Vase Barbara Caveng, «Schirmherrschaft», Regenschirme aus Plastiktüten, 2008 Pappkarton als Lampenschirm Plastiktüte als Lätzchen Plastiktüte als Mülltüte
Wir danken folgenden Firmen und Personen für die freundliche Genehmigung, ihre Abbildungen zu verwenden: Albus, Volker, Frankfurt: S. 38 (Abb. 6) A.R.M. (All Recycled Material), Berlin (Fotograf: Christian Reister): S. 47 (Abb. 4–6), S. 148 Crasset, Matali, Paris, Frankreich: S. 34 Denzer, Maja, Barcelona: S. 127 (Abb. 1) Flos, Bovezzo, Italien: S. 37 (Abb. 1) Förster, Peggy, Köln: S. 64 (Abb. 2) Foschi, Marcella, Cesena, Italien: S. 40 (Abb. 8) Freise, Andreas, Nordstemmen: S. 98 (Abb. 1) Frongia, Mattia, Florenz, Italien: S. 40 (Abb. 6) Georgacopoulos, Alexis, Lausanne, Schweiz: S. 38 (Abb. 5) Hamm, Isabel, Köln: S. 38 (Abb. 4) IFA CaseCon Championship, Berlin, http://ifa.dcmm.de: S. 93 (Abb. 3–5) Nochi, Cécile und Wyssem, Beirut, Libanon: S. 38 (Abb. 1–3) Rafinesse & Tristesse, Berlin und Bern: S. 46 (Abb. 1–3) Szczepinski, Christoph, Kassel: S. 93 (Abb. 1–2) Zajonc + Partner GmbH, Breisach am Rhein: S. 95 Zander, Daniel, Köln: S. 63 (Abb. 6), 64 (Abb. 1, 3), 65 (Abb. 3–5), 68 (Abb. 2), 69 (Abb. 6), 70 (Abb. 1, 3, 4), 71 (Abb. 6), 72 (Abb. 2, 4, 5), 73 (Abb. 7), 76 (Abb. 3, 5), 77 (Abb. 11), 82 (Abb. 5), 85 (Abb. 2), 86 (Abb. 1–2), 87 (Abb. 1), 104, 114, 125 (Abb. 1, 3), 127 (Abb. 3–6), 165 (Abb. 2, 3), 172 (Abb. 3) Zanotta SPA, Nova Milanese, Italien: S. 18, 21, 36, 37 (Abb. 2, 3) Zpstudio, Florenz, Italien, http://www.zpstudio.it: S. 40 (Abb. 7) Nicht gesondert aufgeführte Copyrights liegen bei den Autorinnen Uta Brandes, Sonja Stich, Miriam Wender.
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Design: Sonja Stich, Miriam Wender Design Konzept BIRD: Christian Riis Ruggaber, Formal Schriften: Akkurat, Arnhem Lektorat: Karoline Mueller-Stahl, Leipzig
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